Springer-Lehrbuch
Werner Müller · Stephan Frings
Tier- und Humanphysiologie Eine Einführung 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage
1C
Professor Dr. Werner Müller Professor Dr. Stephan Frings Universität Heidelberg Institut für Zoologie Im Neuenheimer Feld 230 69120 Heidelberg
[email protected] [email protected]
ISBN 978-3-642-00461-2 e-ISBN 978-3-642-00462-9 DOI 10.1007/978-3-642-00462-9 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1998, 2004, 2007, 2009 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf : WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Vorwort zur 4. Auflage
Bei der Konzeption der 4. Auflage dieses Lehrbuchs hatten wir wieder in erster Linie den Studenten des Bachelor- und Masterstudienganges und des Lehramtes Biologie im Blick; doch auch der Lehrer am Gymnasium, der Wissenschaftsjournalist und jeder, der sich über die Organe seines Körpers und über tierische Sonderleistungen informieren will, kann hier Neues in verständlicher Darstellung erfahren. Wir haben das bewährte Konzept eines einführendes Lehrbuchs beibehalten: Lesbarkeit, klare Sprache, einsichtige Illustrationen und noch verkraftbare Stofffülle blieben vorrangiges Ziel. Doch erwartet der Leser auch, dass bei jedem Teilgebiet der neueste Stand des Wissens wiedergegeben wird, und wir wollten hin und wieder auch auf neue, spannende Hypothesen und Umstrittenes eingehen. Das ließ sich nicht erreichen, ohne dass gegenüber den vorigen Ausgaben in der Summe einige Seiten Text hinzukamen. Wir danken allen, die uns mit Hinweisen zu Verbesserungen geholfen haben, unserem angestrebten Ziel möglichst nahe zu kommen. Unser besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Jochen Schirmer, Physikalisch-Chemisches Institut der Uni Heidelberg, für die hilfreichen Hinweise zu Kap. 1 (Thermodynamik) und Herrn Prof. Dr. Gerhard von der Emde, Neuroethologie/Sensorische Ökologie, Uni Bonn, für seine Hinweise zu Kap. 21 (Elektrische Fische, Magnetfeldrezeption). Auch haben wir Frau Stefanie Wolf und Herrn Claus-Dieter Bachem vom Springer-Verlag Heidelberg zu danken, die hilfsbereit die Produktion des Buches betreuten. Schließlich danken wir dem Verlag, das Einfügen von 32 Farbtafeln ermöglicht zu haben. Heidelberg im Frühjahr 2009
Prof. Dr. Werner A. Müller Prof. Dr. Stephan Frings
Inhaltsverzeichnis
1 1.1 1.2 Box 1.1 1.3 1.4 Box 1.2
Energie und Leben Energie, von der Sonne gespendet, speist alles Leben . . . . . . . . . . . Stoffrecycling und Energieflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 3
Energetik (Thermodynamik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
Energienutzung in lebenden Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entropie und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 12
Entropie und Verteilungswahrscheinlichkeit von unabhängigen Teilchen in einem geschlossenen Raum . . . . . .
14
1.5 1.6
Die „freie Energie G“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebewesen als offene Systeme und der Fähigkeit zur Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Wirkungsgrade und ihre ökonomischen und ökologischen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
18 21 26 30
Energieumsetzung und Energiehaushalt
2.1
Grundlegende Prozesse des zentralen Energiestoffwechsels der Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Start im Cytosol: die Glykolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Citratcyclus, Atmungskette und ATP-Großproduktion . . . . . . . . . . . 2.4 Die verschiedenen Energiespeicher und ihr besonderer Nutzen . . . 2.5 Energieumsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
31 38 41 44 46 53
Molekulare Motoren, Pumpen und Transportsysteme
3.1 Molekulare Motoren und intrazellulärer Transport . . . . . . . . . . . . . 3.2 Passage und Transport von Substanzen durch Membranen . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55 60 70
Farbtafeln 1-8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
T1
VIII Inhaltsverzeichnis
4
Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
4.1 4.2 4.3
Was die Nahrung enthalten sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wozu Vitamine notwendig sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tierische kontra pflanzliche Kost: Was ist Wissenschaft, was außerwissenschaftliche Einstellung? . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Körpergrundarchitektur eines Lebewesens spiegelt seine Strategie wider, sich die lebensnotwendige Nahrung zu beschaffen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Das Einschleusen und der Transport der Nahrung . . . . . . . . 4.6 Der Verdauungstrakt als Fließbandstraße mit funktioneller Gliederung: ein kurzer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Die Salzsäure des Magens sterilisiert die Nahrung und denaturiert Proteine; die Produktion der Salzsäure erfordert eine millionenfache Konzentrierung . . . . . . . . . . . . 4.8 Schutz vor Selbstverdauung und Regelung der Verdauungsprozesse und Arbeitsabläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Enzyme und sonstige Hilfsmittel zur Erschließung der Nahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10 Resorption und Abtransport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11 Regelung der Nahrungsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
71 73 80
83 84 86
90 90 92 102 103 105
Die Leber und die zentrale interne Grundversorgung
5.1
Die Leber als Versorgungs-, Handels- und Entsorgungszentrale des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Erste Hauptfunktion der Leber ist die Bereitstellung des Blutzuckers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 „Blutfette“ und andere Lipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Regelung der Abgabe und Aufnahme von Blutzucker und Blutfetten über die Hormone Insulin und Glucagon . . . . . . . 5.5 Blutproteine und Hormone als Produkte der Leber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Cholesterin, seine Abkömmlinge und der entero-hepatische Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Exkretorische und Entgiftungsfunktionen der Leber . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 6.1 6.2 6.3 Box 6.1
107 109 110 113 116 117 119 123
Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere Stickstoffentsorgung und extrarenale Exkretion . . . . . . . . . . . Die expliziten Exkretionsorgane der Lehrbücher . . . . . . . . . . Die Niere des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125 130 132
Physikalisches und Medizintechnisches zum Thema Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138
Inhaltsverzeichnis
6.4 Die Regelung der Nierenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte
7.1 7.2
Entsorgung gealteter Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angeborene Abwehrsysteme auf der Basis eines in der Evolution erworbenen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Das lernfähige Immunsystem der Vertebraten . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Das Generieren von Vielfalt bei der Erzeugung der Antigenerkennenden Rezeptoren und der Antikörper . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Funktionen der Antikörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 T-Zellen, MHC und Antigenpräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Verstärkereffekte und langanhaltende Immunität . . . . . . . . . . . . . . 7.8 Lernen von „Selbst oder Fremd“ und Immuntoleranz . . . . . . . . . . 7.9 Entzündungen, Allergien und hemmender Einfluss von Stresshormonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.10 Aus der Praxis des Labors: monoklonale Antikörper und Immunfluoreszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 8.1 8.2
151 155
157 157 163 165 170 171 180 181 185 186 187
Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane Was „Atmung“ meinen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diffusion und Konvektion der Atemgase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189 189
Zur Physik der Atemgase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
190
Hämoglobin, Myoglobin und andere Sauerstoffspeicher . . . . . . . . Funktion der Erythrocyten bei der Beseitigung des Kohlendioxids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Atemorgane und ihre Ventilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Atem- und sonstige Probleme beim Tauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Atemnöte und Höhenkrankheit im Gebirge . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
196
Box 8.1 8.3 8.4
9 9.1
Box 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
201 202 207 212 214
Der Kreislauf Verteilerflüssigkeiten vermitteln zwischen Außenwelt und Innenwelt und dienen als Spediteure im Körper . . . . . . . . . . . . . .
217
Ein wenig Strömungsphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
218
Einkreissystem der Fische versus Zweikreissystem der Säuger . . . . Im Zentrum steht das Herz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Steuerung der Blutströme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Blutdruck“ und der weite Weg durch den Körper . . . . . . . . . . . .
219 221 224 226
IX
X
Inhaltsverzeichnis
9.6 9.7
Blutgerinnung, oder wie man Blutgefäße abdichtet . . . . . . . . . . . . Wasserkreislauf zwischen Blutkapillaren und Gewebe und das Lymphdrainagesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
230 231 233
Das vegetative Nervensystem
10.1
Regelkreis-Automaten und ihre Kontrolle durch das autonome, vegetative Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Das autonome, vegetative Nervensystem als Regel- und Steuerzentrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Regelkreise für Atmung, Kreislauf, Blutdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Neurovegetative Steuerung durch Sympathicus und Parasympathikus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Thermoregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
235 240 244 247 251 257
Hormonale Steuerung
11.1
Hormonale versus neuronale Signalübermittlung – Eigentümlichkeiten, Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Koppelung von Zentralnervensystem und Hormonsystem . . . . . . . 11.3 Das Hormonsystem des Menschen I: Das HypothalamusHypophysensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Das Hormonsystem des Menschen II: Periphere Hormonquellen (ohne Gonaden) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Das Hormonsystem des Menschen III: Die Steuerung der Sexualentwicklung, des Menstruationszyklus und der Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6 Hormonsystem der Metamorphose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7 Genregulatorische und andere Funktionen der Steroidhormone und von Thyroxin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
259 265 266 274
283 291 296 298
Signaltransduktion und Signalpropagation
12.1
Signaltransduktion: Die Umcodierung einer externen Botschaft in zellinterne Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Wichtige Transduktionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Signalpropagation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 13.1 13.2 13.3 13.4
301 303 310 312
Biorhythmik I: Circadiane Rhythmen und innere Uhren Circadiane Rhythmik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die molekulare Grundkonstruktion der circadianen Uhr . . . . . . . Zentraluhren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafen und Wachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313 316 319 325
Inhaltsverzeichnis
13.5 Stoppuhren und Taktgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14 14.1
326 326
Bioelektrische Signale Wie eine elektrische Membranspannung entsteht . . . . . . . . . . . . . .
329
Ein Minimum an Elektrophysik und Elektrotechnik aus der Sicht des Physiologen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
330
Gibbs-Donnan-Gleichgewicht und Nernst-Gleichung . . . . . . . . . . .
341
14.2 Ionenkanäle zur Veränderung einer Membranspannung . . . . . . . . 14.3 Fernleitung von Information über Aktionspotentiale . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
344 349 355
Farbtafeln 9-16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
T11
Box 14.1
Box 14.2
15
Synapsen: Transmission und Verarbeitung von Information
15.1 15.2
Gap junctions als elektrische Synapsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemische Synapsen: Informationsübertragung mittels Transmitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Konkrete Transmitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 Auffangen des Transmitters an der postsynaptischen Membran und Reaktion der Empfängerzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 Die Synapse als Ort der Datenverarbeitung und der Integration verschiedener Stimuli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16 16.1 16.2 16.3 16.4 16.5
357 358 360 363 366 371
Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe Die Arbeitsweise einer Muskelfaser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Muskel als Organ: Kooperative Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . Steuerung der Motorik über Dehnungssensoren . . . . . . . . . . . . . . Funktionelle Spezialisierung und Energiequellen . . . . . . . . . . . . . . Das Herz: sein Schrittmacher und sein EKG . . . . . . . . . . . . . . . . .
373 382 385 388 391
Box 16.1
Wie man fliegt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
392
Box 16.2
Das EKG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
398
16.6 Die elektrischen Organe der elektrischen Fische . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
400 401
XI
XII
Inhaltsverzeichnis
17 17.1 17.2 17.3 Box 17.1
Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung Von der Physik bis zur Psyche: Reiz, Erregung, Wahrnehmung . . . Prinzipien der Codierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychophysische Korrelate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403 408 414
Die Anfänge der Psychophysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
17.4
Somatosensorik: die durch Mechano-, Thermo- und Nozirezeptoren der Haut vermittelte Sensibilität unseres Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.5 Mentale Perzeption: konstruierte Welt und Erfahrung unseres eigenen Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
417 418 419
Mechanische Sinne I: Strömungs-, Bewegungs-, Gleichgewichtssinne – und manche mehr
18.1 18.2
Vielfalt der mechanischen Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechanische Sinne zur Kontrolle des Körpers und zur Detektion von Objekten in Dunkelheit und Stille . . . . . . . . . 18.3 Vielfalt mechanosensorischer Messgeräte am Beispiel der Sensillen der Insekten und anderer wirbelloser Tiere . . . . . . . 18.4 Schwerkraftmesser und Gleichgewichtssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.5 Die erstaunliche Nesselzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.6 „Haar“-Sinneszellen und Neuromasten der Wirbeltiere . . . . . . . . . 18.7 Das Labyrinth des Innenohrs: Dreh- und Schwerkraft- und Gleichgewichtssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.8 Einfluss der Dreh- und Gleichgewichtssinne auf das Sehen . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Farbtafeln 17-24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
421 422 423 426 428 431 434 438 440 T21
19
Das Gehör
Box 19.1
Zur Physik und Biophysik von Schall, Ton und Hören . . . . . . . .
443
Unser Gehör: seine Bedeutung und unglaubliche Empfindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2 Schwierige Untersuchungen, Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3 Die Übertragung des Schalls ins Innenohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4 Tonhöhen-Unterscheidung (Frequenzanalyse) . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5 Zur Perzeption: Tonotopie und Lokalisation einer Schallquelle . . . 19.6 Hören und Ultraschallortung bei Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
449 450 450 457 462 465 471
19.1
Inhaltsverzeichnis
20 20.1 20.2 20.3 20.4
Chemische Sinne Bedeutung und erste Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Geruchsinn des Riechepithels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Vomeronasale Organ VNO (Jacobson-Organ) . . . . . . . . . . . . . Der Geschmackssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
473 475 480 482
Geschmack gefunden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
488
20.5 Geruch- und Geschmacksinn bei Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
490 492
Box 20.1
21
Wahrnehmung elektrischer und magnetischer Felder; Infrarotortung
21.1 Elektrorezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2 Orientierung im Magnetfeld der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.3 Infrarotortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
495 498 502 504
Farbtafeln 25-32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
T31
22
Der Sehsinn
Box 22.1
Zur Physik des Lichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
505
Der Primärvorgang: vom Licht bis zum Rezeptorpotential . . . . . . Abbildung: Vorbedingung für Muster- und Bewegungssehen . . . .
507 512
Zur Psychophysik der Farben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
518
22.1 22.2 Box 22.2 22.3 22.4 22.5 22.6 Box 22.3
Farbensehen und erste Verarbeitung optischer Information in der Retina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenverarbeitung in der Retina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstaunliche Vielfalt der Lichtsinnesorgane, Aspekte der Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt mit anderen Augen sehen: das Insektenauge . . . . . . . . .
524 527 532 538
Polarisiertes Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
540
Zusammenfassung des Kapitels 22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
545
23 23.1 Box 23.1
Zur Funktion des Gehirns: Die Sehwelt Vom Auge zur gesehenen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
547
Untersuchungsmethoden der klassischen und neueren Neurobiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
549
XIII
XIV Inhaltsverzeichnis
23.2
Wahrnehmungspsychologie: von den Daten bis zum Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
557
Geist und Seele – nichts als Chemie und Physik? . . . . . . . . . . . .
561
Zusammenfassung des Kapitels 23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
564
Box 23.2
24 24.1 24.2
Lernen, Gedächtnis, prägende Erfahrung Gedächtnisformen, Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen und weitere Einteilungsweisen von Gedächtnis . . . . . . . . .
567 568
Formen des Lernens aus der Sicht des Verhaltensforschers . . . . .
571
24.3 Mechanismen von Lernen und Gedächtnisbildung . . . . . . . . . . . . . 24.4 Entwicklungsprägende Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
572 576 578
Box 24.1
25 25.1 25.2 25.3 25.4 25.5
Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation Selbsterzeugte Lichtsignale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemische Signale: Pheromone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Staat der Bienen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orientierung und Tanzsprache der Bienen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fernorientierung und Navigation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
579 582 585 587 591
Glossar der Verhaltensforschung zum Thema Orientierung . . . .
593
Zusammenfassung des Kapitels 25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
598
Box 25.1
26 26.1 26.2
Biorhythmik II: Jahres-, Mond-, Gezeitenrhythmen Jahresrhythmen (circannuale Periodik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mond- und Gezeitenrhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
599 602
Geophysikalisches zu Mond- und Gezeitenrhythmen, nebst einer Empfehlung für Exkursionen ins Watt . . . . . . . . . . . .
603
26.3 Zu den inneren, physiologischen Ursachen der Langzeitcyclen . . . Zusammenfassung des Kapitels 26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
608 609
Box 26.1
27 27.1 27.2 27.3
Ökophysiologie: Anpassungen an extreme und wechselnde Lebensräume Leben und Überleben in der Kälte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anpassung an extreme Hitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anpassungen an Sauerstoffarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
611 617 619
Inhaltsverzeichnis
27.4 27.5 27.6
In der Tiefsee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wechsel von Salzwasser zu Süßwasser und umgekehrt . . . . . . . . . Wechsel von Land zu Wasser und umgekehrt: Beispiel Amphibien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.7 Wechsel der Lebensweise: freier Vagabund oder sesshaft . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels 27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
623 625
Anhang: Maßeinheiten und einige Standardwerte der Physiologie . . . . . . . .
631
Referenzen und weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
635
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
653
628 628 630
XV
1
Energie und Leben
1.1 Energie, von der Sonne gespendet, speist alles Leben 1.1.1 Sonnenenergie wird von Pflanzen konzentriert und in Form chemischer Energie gespeichert; dabei erwirtschaften die Pflanzen einen Überschuss Wir konzipieren ein ideales, ökologisch verträgliches Kraftwerk (Abb. 1.1): Es gehöre dem Konzern „Grüne Pflanze“ und sei zweigeteilt. Ein erstes Teilkraftwerk, wir nennen es Chloroplast, bezieht Energie aus dem zwar strahlenden, doch fernen Kernfusionsreaktor Sonne, und führt sie in transportfähige und speicherbare Form über. Dieses erste Teilkraftwerk verbraucht keinen materiellen Kraftstoff, es stellt vielmehr solchen Kraftstoff her. Das zweite Teilkraftwerk, es heiße Mitochondrium, setzt aus dem biologisch synthetisierten Kraftstoff die gespeicherte Energie in arbeitsfähiger Form wieder frei. Lebenserhaltend ist das erste Kraftwerk: Auf lange Sicht erhält das erste Kraftwerk das Leben auf der Erde aufrecht: Flächige Solarmodule der Chloroplasten, die mit Chlorophyll bestückten Membranen der Thylakoide, sammeln Energie, die von der Sonne in Form elektromagnetischer Strahlung (Photonen) geliefert wird. Der in den Solarmodulen (Light-harvesting Complex) erzeugte Strom treibt einen Generator (Elektronentransportsystem in den Membranen der Chloroplasten) an. Mit dem vom Generator erzeugten Strom werden Akkus der Marken NADPH und ATP geladen und es wird eine Pumpe (Calvin-Cyclus) betrieben. Die Pumpe saugt energiearme, niedermolekulare und leicht verfügbare Materialien an: Wasser (H2O) über die Wurzeln und Kohlendioxid (CO2) aus der Luft über die Spaltöffnungen des Blattes. Diese Materialien werden hoch gepumpt; d. h. sie werden in energiereiche
Kohlenhydrate überführt. Kohlenhydrate, insbesondere Stärke, bestehend aus langen Ketten aneinander gereihter Glucose- (Traubenzucker-) Moleküle, sind der Kraftstoff. Bei seiner Synthese wird als Abfallprodukt Sauerstoff (O2) frei, der über einen Kamin (Spaltöffnungen) in die Luft entlassen wird. Für eine erste summarische Bilanz, die die Einzelheiten des komplexen Vorgangs (photosynthetische Wasserspaltung, CO2-Fixierung im Calvin-Cyclus) außer Betracht lässt, erzeugt die Photosynthese = Assimilation aus 6 H 2 O + 6 CO 2 + h ⋅ v → C6 H12 O6 (Glucose) + 6 O2 ;
(1.1)
allgemein: ) nMolH2 O + nMolCO2 + h ⋅ v → [CH2 O]n (Starke + nMolO2 . Der Term h·ν steht hierbei für Licht. Die Stärke enthält Sonnenenergie in konzentrierter und transformierter Form gespeichert. Man sieht dies der Summenformel an: Nimmt man den Gehalt an Kohlenstoff (C) als Referenz, so weist der relativ hohe Gehalt an Wasserstoff (H) und der geringe Anteil von Sauerstoff (O) auf hohen Energiegehalt hin. Die gespeicherten Kohlenhydrate nutzt unser Konzern, die Pflanze, in zweierlei Weise: ●
Die Pflanze kann Kohlenhydrate als Ausgangsmaterialien zur Synthese anderer Substanzen verwerten. Sofern diese hochmolekular sind und relativ viel H und wenig O enthalten wie Cellulose, Proteine oder gar Fette und Öle, behalten sie einen beträchtlichen Teil der eingefangenen Sonnenenergie als chemisch gespeicherte Energie.
●
Die Pflanze kann aber auch die Kohlenhydrate in die zweite Teilfabrik, das Mitochondrium, einschleusen. In ihr wird die intramolekular gespeicherte Energie wieder freigesetzt und dazu ver-
2
1 Energie und Leben
6O2
6O2
Wärme 1676 kJ Solarkollektoren (Chlorophyll) Organ. Makromoleküle ATP Glucose C6H12O6 Pumpe Chloroplast 6CO2
6H2O
C6H12O6 2900 kJ Generator Mitochondrium
ATP 1140 kJ
6CO2
Pflanzen Cyanobakterien
Pflanzen Pilze, Tiere Mikroorganismen
Photosynthese Assimilation
Oxidativer Stoffwechsel Dissimilation
6H2O
Abb. 1.1. Biologische Kraftwerke. Erläuterung im Haupttext
wendet, ATP-Akkus aufzuladen, die überall hin getragen und als lokal einsetzbare Energiequellen benutzt werden können. Die Pflanze muss diesen Teilprozess ablaufen lassen; denn schließlich muss sie auch nachts überleben, wenn keine Sonne scheint. Und Leben ist, wie wir später erörtern werden, nur unter beständigem Energieverbrauch aufrechtzuerhalten. Summarisch läuft im Mitochondrium der Gegenprozess, der oxidative Abbau = Dissimilation ab: C6 H12 O6 (Glucose) + 6 O2 → 6 H2 O + 6 CO2 (1.2)
Der Chemiker spricht hier von (vollständiger) Oxidation, der Biologe von innerer Atmung oder Zellatmung: Es wird O2 aus der Luft aufgenommen und konsumiert, das entstehende CO2 wird an die Luft abgeführt (oder, in den Pflanzen vor allem, chemisch abgefangen und anderweitig verwendet).
Formal entspricht die vollständige Oxidation einer Verbrennung, doch wird in den Mitochondrien nur ein Teil der Energie als Wärme frei; 40 bis 60% der Energie wird in den geladenen ATP Akkus aufgefangen. Wie sieht es nun mit einer Gesamtbilanz aus? Würde sich die Synthese von Kohlenhydraten im linken Kraftwerk und deren Verbrauch im rechten Kraftwerk die Waage halten, könnte die Pflanze fürs erste durchaus zufrieden sein. Gewiss wäre keine neue organische Substanz gewonnen – die Massenbilanz im Organismus wäre bestenfalls ausgeglichen – doch Sonnenenergie wäre in ihre ATP-Akkus geflossen und stände so zur weiteren Verfügung bereit. Aber eine Pflanze muss mehr erreichen: Sie sollte wachsen, blühen und Samen erzeugen und gegebenenfalls Vorrat für widrige Bedingungen anlegen. In der Pflanze muss also die Photosynthese gegenüber dem oxidativen Abbau,
1.2 Stoffrecycling und Energieflüsse
muss die Assimilation gegenüber der Dissimilation überwiegen. 1.1.2 Wir Menschen und alle weiteren heterotrophen Organismen leben vom Überschuss der Photosynthese; weiterer Überschuss wird als „fossile Energie“ in Sedimentgesteinen deponiert Der Pflanze wird viel abverlangt. Was sie an Materie und Energie im Blattzuwachs, in Knollen, Samen und Früchten gespeichert hat, raubt ihr vielfach das Tier. Auch Pilze und Bakterien leben vom Überschuss. Nur photoautotrophe Bakterien (Cyanobakterien = „Blaualgen“) und chemoautotrophe Archaebakterien (die z. B. Schwefelwasserstoff aus Tiefseequellen als Energiequelle nutzen können) machen hier eine Ausnahme. Zieht man nun Bilanz zwischen ●
photosynthetischer Produktion Substanz durch die Pflanze und
●
oxidativem Abbau der organischen Substanz durch Tiere, Mikroorganismen und auch die Pflanze selbst,
organischer
so ist man einer global ausgeglichenen Bilanz nahe. Über Jahrmilliarden Erdgeschichte hinweg hat jedoch die Syntheseleistung der Pflanze trotz räuberischem Angriff durch allerlei Nutznießer bis vor kurzem eine positive Bilanz gehabt. Es wurde durch Assimilation mehr CO2 in Form organischer Materie gebunden als durch Dissimilation wieder in die Atmosphäre entlassen wurde. Entsprechend wurde von der linken Teilfabrik mehr O2 in die Luft geblasen als von der rechten der Luft wieder entzogen wurde. Dies bezeugen der geringe KohlendioxidGehalt (0,038 Vol%) und der hohe Sauerstoff-Gehalt (21 Vol%) der heutigen Erdatmosphäre; denn in Urzeiten waren die Mengenverhältnisse umgekehrt. Die Uratmosphäre enthielt nach Auskunft der Geochemiker ursprünglich mehr CO2 als O2. Bei vollständig ausgeglichener Bilanz hätte sich O2 nicht anreichern können. Wenn jedoch aus der vergangenen Erdgeschichte O2 übrig geblieben ist, hätte da nicht auch [CH2O]n übrig bleiben müssen? (Siehe die Formel oben!) Es ist in der Tat einiges übrig geblieben, wenn auch in
abgewandelter Form: Das Äquivalent des nicht abgebauten organischen Materials zum Sauerstoff der Erdatmosphäre sind die fossilen Brennstoffe: Erdöl, Erdgas, Kohle. Würden diese fossilen Brennstoffe vollständig verbrannt, verschwände der Sauerstoff aus der Luft und wir würden ersticken. Die Gefahr ist freilich gering; denn das meiste fossile organische Material ist in den Jahrmilliarden seit seiner Erzeugung über die Gewässer ins Sediment gelangt und heute so fein im Sedimentgestein verteilt, dass es nicht wirtschaftlich extrahiert werden könnte. Momentan ist durch die extrem rasche Verfeuerung riesiger Mengen an fossilen Brennstoffen die globale Bilanz unausgeglichen und die Vorzeichen sind gegenüber früheren Zeiten umgekehrt: der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre sinkt, der CO2-Gehalt steigt. Nach Berechnungen von Meteorologen und Physikern ist es möglich, dass der – an sich geringe – Anstieg des CO2-Gehalts zu einer dramatischen, ja katastrophalen Erwärmung des Weltklimas führt (falls nicht die enorme Pufferkapazität der Ozeane und geochemische Prozesse allmählich das Kohlendioxid abfangen). Der Biologe wüsste eine ökologisch verträgliche Kompensation: Der Pflanzenwuchs müsste entsprechend gesteigert werden; denn die Pflanze holt im Zuge der Photosynthese das CO2 aus der Luft, um es organisch im [CH2O]n und Folgeprodukten zu speichern. Kohlendioxid ist sogar einer der Faktoren, die im besonderen Maße das Wachstum der Pflanzen begrenzen.
1.2 Stoffrecycling und Energieflüsse 1.2.1 Potentiell wäre im Ökosystem Erde ein balanciertes Recycling von Stoffen möglich; der Energiefluss hingegen ist unidirektional Unser in Abb. 1.1 skizziertes Kraftwerk lässt im Prinzip ein perfektes Recycling der Materie zu: Pro 6 Mol CO2 + 6 Mol H2O, die links angesaugt werden,
3
4
1 Energie und Leben
treten rechts 6 Mol CO2 + 6 Mol H2O wieder in die Umwelt aus. Pro 6 Mol O2, die links in die Luft abgeblasen werden, werden rechts 6 Mol O2 angesaugt. Anders verhält es sich jedoch mit der Energie. Sie fließt von der Sonne in das Kraftwerk, aber nicht zur Sonne zurück. Wie wir noch diskutieren werden, verwandelt sich auch die in Lebewesen in organischer Materie eingefangene Sonnenenergie früher oder später zum größten Teil in Wärme, sosehr wir uns auch bemühen, Energie in ATP-Akkus oder Makromolekülen zu speichern und für Arbeitsprozesse verfügbar zu machen. Selbst wenn uns die Synthese von unbegrenzt haltbaren Materialien zum Speichern und Transportieren von Energie gelänge, würden wir immer dann, wenn wir diese Energie nutzen wollen, einen Teil als Wärme verlieren, vor allem in Form der unvermeidlichen Temperaturstrahlung.
1.2.2 Entropie für den Anfang: es gibt keine vollständig regenerierbare oder erneuerbare Energie; wohl jedoch liefert die Sonne ständig nach Wenn sich der kochende Teekessel abkühlt, verteilt sich die entweichende Wärme in der Küche. Sie wird nie spontan zum Teekessel zurückfließen, um den Tee wieder aufzuwärmen. Auch die Temperaturstrahlung der Sonne verstreut Energie im Weltraum in einer Weise, dass sie wohl nie mehr (vollständig) zu ihrem Ursprung zurückkehren wird. Die Verteilungsweise von Energie und von Energieträgern (z. B. Gasmolekülen) wird durch den Term Entropie quantitativ beschrieben. Die griechischen Stammwörter dieses von dem Physiker Rudolf Clausius (1822–1888) geprägten, zusammengesetzten Wortes sind en = hin und tropein = wenden, lenken oder tropos = Richtung. Entropie lenkt ein Ereignis in eine bestimmte Richtung. Der Term ist so definiert, dass zunehmende Entropie eine zunehmende Gleichverteilung widerspiegelt. Entropie ist ein Maß für die Nichtumkehrbarkeit eines Vorgangs; sie verleiht ihm einen „Zeitpfeil“; es gibt kein zurück, der Vorgang ist irreversibel. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass frei bewegliche Teilchen und Energie sich im abgeschlossenen Raum nach und nach gemäß den Regeln der Wahrscheinlichkeit (statistisch) gleich-
förmig verteilen. Lokale Wärmequellen haben nur vorübergehend Bestand. Energieströme in abgeschlossenen Systemen werden nie von selbst auf bestimmte Orte zufließen, um am Konvergenzpunkt einen Energiegipfel aufzutürmen. Manche Physiker und Biochemiker scheinen darüber hinaus zu wissen, dass das Weltall in seinen unermesslichen Dimensionen ein abgeschlossenes System ist und dehnen den Entropiesatz auf das ganze Universum aus. So pflegen manche Lehrbücher der Biochemie den Satz von Rudolf Clausius, der den Entropiebegriff prägte, als Naturgesetz des Weltalls wiederzugeben: „Second law of thermodynamics: the universe tends to maximum disorder“ (Voet u. Voet 2004, p. 53); oder „the entropy of the universe tends to a maximum, i.e. any change in the universe will involve an increase in its entropy“ (Harris 1995, p. 10), oder auch in einem Standardwerk der Biologie: „the second law of thermodynamics – which states that in the universe…the degree of disorder can only increase.“ (Alberts et al. 2008, THE CELL, part I, Introduction to the cell). Wir werden allerdings weiter unten sehen, dass in der biochemischen und physiologischen Praxis das „Universum“ sehr klein ist und die uns interessierenden Teilprozesse überschaubar sind. Wärme, Temperatur, Entropie. Gemäß der historischen Entwicklung des Begriffs, und in der Auffassung des physikalischen Laien, ist Wärme jene Art von Energie, die die Wärmerezeptoren unserer Haut stimuliert oder die Anzeige eines Thermometers verändert. Wir erfahren vom Physiker, dass diese Energie in zwei Erscheinungsformen auftritt: 1. Wärme ist die Energie, die der Summe der ungerichteten, über viele Freiheitsgrade verteilten kinetischen Energien beweglicher Atome und Moleküle entspricht. Auf der Sonne, im Feuer, im kochenden Wasser herrscht unbeschreibliches Durcheinander. Wärme fasst die zahlreichen Bewegungsarten (gemäß ihren „Freiheitsgraden“) der unzähligen Materieteilchen in einem makroskopischen Betrag zusammen, der mit Thermometer und Maßband (Volumenmessung) gemessen werden kann. 2. Die von uns gefühlte Wärme (oder Kälte) hat nur indirekt mit der physikalischen Wärmeenergie zu tun. Unsere Warmrezeptoren reagieren
1.2 Stoffrecycling und Energieflüsse
auf Zufuhr von Wärmeenergie, unsere Kaltrezeptoren auf Entzug von Wärmeenergie (Kap. 17). Als Wärme empfinden wir auch absorbierte Energie der „Temperaturstrahlung“, auch „Wärmestrahlung“ genannt, und diese gehört der elektromagnetischen Strahlung an. Ein warmer Körper strahlt ein kontinuierliches Spektrum von elektromagnetische Wellen aus (wobei die spektrale Verteilung der Planck-Formel folgt). Diese Strahlung kann in anderen Körpern, z. B. in uns, ihrerseits thermische Bewegungen hervorrufen. Es ist Energie übertragen worden, die sich nach ihrer Absorption in Wärme umwandelt. Empfindungsmäßig ist dann scheinbar nicht elektromagnetische Strahlung, sondern Wärme übertragen worden. Im Spektrum elektromagnetischer Wellen ist jener Bereich, der nach Absorption Wärme erzeugt, das Infrarot; es wird deshalb auch Wärmestrahlung genannt. In Lebewesen hat Infrarotstrahlung – anders als beispielsweise Gamma- oder UV-Strahlung – keine schädlichen Nebenwirkungen, solange die Energiedichte in Grenzen bleibt. Lebewesen können sich von „Wärmestrahlern“ wie der Sonne erwärmen lassen, erzeugen andererseits auch selbst unvermeidlich „Wärmestrahlung“. Man kann den Wärmeverlust von Lebewesen ebenso wie den Wärmeverlust von Gebäuden mit Infrarotkameras messen. Und so kann auch die Klapperschlange die von der Maus ausgehende Infrarotstrahlung nutzen, um ihre Beute in der Nacht aufzuspüren (Kap. 21). Die auf der Erde ankommende elektromagnetische Strahlung kann von absorbierenden Körpern in andere Energieformen überführt werden, so von Pflanzen bei der Photosynthese in chemische Energie (so aber auch in allen möglichen Materialien in Wärmeenergie im obigen Sinne als Wärmebewegung von Materie). Diese Energieformen können zu vielerlei Zwecken nutzbar gemacht werden; letztlich jedoch wird die Strahlungsenergie der Sonne zum größten Teil wieder als Temperaturstrahlung in den Weltraum entlassen. Die Sonne liefert für uns unaufhörlich Nachschub. Der Energiefluss folgt einer Einbahnstraße; es gibt kein (vollständiges) Recycling der für uns verfügbaren Energie. Diese globalen Gesetzlichkeiten haben auch Konsequenzen in jedem lebenden System, auch in unserem Körper.
Fachleute, die sich mit Energieflüssen befassen, haben quantitative Überlegungen anzustellen, ebenso wie es auch jene Wissenschaftler tun mussten, welche der um 1900 sehr umstrittenen Frage nachgingen, ob Lebewesen den Hauptsätzen der Thermodynamik unterworfen seien oder nicht. Wärme ist ein Mengenmaß, ein Maß für eine bestimmte Form von Energie. Wärme hat aber nicht nur Menge, sondern auch eine Intensität, eine Temperatur, vergleichbar der Konzentration von Stoffen in einer Gas- oder Flüssigphase. Man kann die gleiche Energiemenge einem kleinen Volumen Wasser mit hoher Temperatur entziehen, oder einem großen Volumen mit niedrigerer Temperatur. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik, der Energieerhaltungssatz, drückt dieses wie folgt aus. Differentiell und für Wärmeenergie formuliert, lautet er: dU (oderU ) = ∂Q − pdV
(1.3)
(wobei hier nur die Volumenarbeit berücksichtigt ist) mit U = Innere Energie eines Systems, Q = Wärme, p = Druck, V = Volumen Üblicher Zeichengebrauch in der physikalischen Chemie: Δ (Delta) bei größeren (nicht-differentiellen) Unterschieden der jeweiligen Größen. Differentielle, d. h. infinitesimal kleine, Änderungen werden mit d bzw. ∂ bezeichnet je nach dem, ob es um eine Zustandsfunktion handelt (z. B. innere Energie, Entropie, Enthalpie, die bei einem gegebenen Prozess einen immer gleichen Endwert erreichen) oder um Größen, die keine Zustandsfunktionen sind (z. B. Wärme, Arbeit, deren Betrag verschieden sein kann). Das Symbol ∂ wird für partielle Ableitungen gebraucht, da Zustandsfunktionen von mehr als einer Variablen abhängen, z. B U(T,V). Der Ausdruck (∂U/∂V)T besagt dann partielle Ableitung nach dem Volumen, wobei das tiefgestellte T („bei festem T“) die zweite Variable spezifiziert. Lehrbücher der Biochemie unterscheiden in der Regel nicht, sondern benutzen einheitlich Δ. Der Einfachheit halber schließen wir uns im Folgenden dem Brauch der Biochemie-Lehrbücher (z. B: Berget al. 2007; Voet u. Voet 2004; Alberts et al. 2008) an und setzen im Allgemeinen ‚undifferenziert‘ das Zeichen Δ.
Entropie ist eine Funktion der Temperatur. Wie unten näher erläutert, bestimmt der Entropieterm, ob und in welcher Richtung sich Zustände verändern. Stoffe und ihr chemisches Potential, Konzentration, Entropie. Physikalische Wärmequellen spie-
5
6
1 Energie und Leben
len in Lebewesen als Energiequelle für Arbeitsleistungen eine untergeordnete Rolle. Alle Lebewesen haben es jedoch mit Stoffen (Substanzen) mit ihrer potentiellen Energie zu tun; sie wird als chemisches
Potential μ bezeichnet. Das chemische Potential, auch partielle molare freie Energie (ΔG/mol; s. Abschn. 1.5.2 und Box 1.1) genannt, ist ein Maß für die Fähigkeit eines Stoffes
BOX 1.1
Energetik (Thermodynamik) I. Hauptsatz Die in einem Prozess umgesetzte Menge an Energie lässt sich vollständig wiederfinden in der durch das System und am System geleisteten Arbeit und der vom System abgegebenen und/ oder aufgenommenen Wärme. Insgesamt bleibt die in einem Prozess umgesetzte Energie erhalten, in welcher Form auch immer. ΔU = ΔQ + ΔA ΔU = Änderung der inneren Energie des Systems ΔA = am oder vom System geleistete Arbeit ΔQ = dem System zugeführte oder entnommene Wärme Für den Physiologen, Biochemiker und Ernährungwissenschaftler, der im Kalorimeter den Energiegehalt von Nahrungsmitteln bestimmt, gibt es noch eine Sonderform dieses Terms. Der Wissenschaftler lässt das ΔU möglichst quantitativ in ΔQ freiwerden. Den kleinen Rest, der sich in Ausdehnungs- und Druckarbeit p x V bemerkbar macht, wird von der „inneren Energie“ U abgezogen. Um diesen kleinen Betrag bereinigt, wird die innere Energie zur Enthalpie. ΔH = ΔU + Δ( pV) (Druck-Volumen-Arbeit) = ΔU + ΔpV (Volumenarbeit, für Δp = 0) = ΔQ ΔH < 0 exotherme Reaktion (Wärme wird aus dem System frei und fließt in die Umgebung.) ΔH > 0 endotherme Reaktion (Wärme fließt aus der Umgebung ins System.) Die Reaktionsenthalpie ΔH entspricht betragsmäßig weitgehend der Energie, die im Kalorimeter als Wärmemenge ΔQ in Erscheinung tritt. (In der Kalorimetrie wird die Bezeichnung ΔRU verwendet, wobei ΔRU < 0 für exotherme und ΔRU > 0 für endotherme Reaktionen steht. Die im Kalorimeter
messbare Wärmetönung einer exothermen Reaktion bei konstantem Druck ist also ΔQ = –ΔRU – pΔV = –ΔRH.) II. Hauptsatz Frei bewegliche Moleküle verteilen sich aufgrund ihrer zufallsabhängigen und ungekoppelten thermischen Bewegungen zunehmend gleichförmig im Raum. Das Maß für die Wahrscheinlichkeit ihrer Verteilung ist die Entropie. Sie strebt in einem abgeschlossenen System einem Maximum zu. Dieses ist, sofern die Moleküle nicht wechselwirken, erreicht, wenn die Moleküle statistisch uniform verteilt sind und ihre kinetischen Energien einen statistischen Durchschnittswert (Maxwell-Boltzmann-Verteilung) erreicht haben. ΔS > 0 Nach einer 1877 vom österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann vorgeschlagenen Formel kann die Entropie S quantitativ von der Anzahl der Möglichkeiten W, wie Teilchen sich verteilen können, abgeleitet werden. Allgemein spiegelt W die Anzahl der realisierten „Mikrozustände“ innerhalb eines thermodynamischen „Makrozustandes“ wider. Beim Beispiel, das in Box 1.2 erörtert und berechnet wird, hat man sieben Makrozustände (0; 1; …; 6 Teilchen in der linken Kammer). Die dazugehörenden Mikrozustände sind durch die Zahlen Wn = 6n gegeben, und als Entropie kann man definieren:
( )
Sn = k × ln Wn; dabei ist k die Boltzmann-Konstante: k=
Gaskonstante R 8,3145JK −1mol−1 = Avogadrozahl 6,0221× 1023 mol−1
= 1,38 × 10−23 JK −1 ;
7
7
1.2 Stoffrecycling und Energieflüsse
BOX 1.1 (Fortsetzung)
Bezogen auf unser 2-Raumproblem (Box 1.2) erhält man nach der Boltzmann-Gleichung: für den Entropieunterschied zwischen zwei Makrozuständen ΔS = k × ln pB / pA; wobei pA die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich alle Moleküle in der einen Raumhälfte befinden (Makrozustand A), pB die Wahrscheinlichkeit, dass sich jeweils die Hälfte der Moleküle in einem der beiden Hälften befindet (Makrozustand B). Im thermodynamischen Gleichgewicht ist Entropie maximal; d. h. es ist der wahrscheinlichste Verteilungszustand erreicht. Für Vorgänge in offenen Systemen, also auch für Lebewesen, muss die Entropie in der Gesamtbilanz von System und Umgebung zunehmen. Im System (Lebewesen) selbst kann die Entropie durchaus auch abnehmen. ΔSgesamt = ΔSSystem + ΔSUmgebung > 0 Dabei gilt z. B.: ΔSUmgebung = –ΔHSystem/T, für den Entropiebetrag, welcher der vom Lebewesen produzierten und an die Umgebung abgegebene Wärme ΔHSystem entspricht. Eine abnehmende Entropie in einem Teilbereich des Gesamtsystems, beispielsweise im Lebewesen, geht einher mit zunehmender „Unordnung“ (größerer Zufallswahrscheinlichkeit in der Verteilung von Materie und Energie) in einem anderen Teilsystem, beispielsweise in der Umwelt des Lebewesens. III. Freie Enthalpie/Energie Während im offenen System ‚lebende Zelle’ die Entropie zunehmen, oder gleichbleiben, oder gar abnehmen kann, nimmt bei allen spontan ablaufenden biochemischen Reaktionen die „freie“, arbeitsfähige Enthalpie (free energy) ab. Diese Abnahme der freien Enthalpie ist die Triebkraft der Reaktion. Nach Josiah Willard Gibbs (und anderen wie Herrman von Helmholtz) setzt sich der in (bio)chemischen Reaktionen (d. h. bei nahezu konstanter Temperatur und konstantem Druck) umgesetzte
Betrag der freien Enthalpie ΔG aus zwei Teilbeträgen zusammen, aus einem Teilbetrag ΔH, der Wärmebilanz (Wärmetönung) der Reaktion, und einem Teilbetrag TΔS, welcher der Entropieänderung des Reaktionssystems entspricht. ΔG = ΔH – TΔS ΔG negativ: exergone Reaktion ΔG positiv: endergone Reaktion Der Betrag –ΔG kann vollständig in Arbeit umgewandelt werden. Falls ΔS > 0 kommt der über die Wärmetönung hinausgehende Anteil TΔS aus der Umgebung (Wärmereservoir). Wird keine Arbeit geleistet und alle bei der Reaktion freigesetzte Energie in Wärme verwandelt, so ist die Änderung der Gesamtentropie durch –ΔG/T gegeben (mit T = absolute Temperatur). Allgemein wird formuliert: ΔG = ΔHSystem – TΔSSystem = –TΔSUniversum Lässt man das Universum außen vor, so gilt für das System selbst: ΔG freie Energie
ΔH Enthalpie
freie Enthalpie Reaktionsenthalpie Wärmetönung Gibbs’sche = im freie Energie Kalorimeter (free energy) potentiell gemessene arbeitsfähige Wärme (plus Energie geringe Ausdehnungsund Druckarbeit)
TΔS Entropie S (x Temp.)
Maß für zunehmende Gleichverteilung von Molekülen, Ionen und Energie und damit für abnehmendes Arbeitspotential
G ist eine Zustandsgröße, d. h. ihr Betrag ist vom speziellen Weg der Reaktion unabhängig, und hat die Dimension J/mol. Der Term ΔG/mol ist das chemische Potential (potentielle Energie) der Reaktanden (hier Glucose und O2), vergleichbar der Höhendifferenz im Stausee oder der elektrischen Spannung einer Batterie. ΔG kann auch 7
8
1 Energie und Leben
BOX 1.1 (Fortsetzung)
als Triebkraft der Reaktion charakterisiert werden. Die Zahl der Mole, die an der Reaktion beteiligt sind, ergibt die Kapazität, vergleichbar der Wassermenge im Stausee oder der Ladekapazität Ah einer Batterie. ΔG selbst wird aus den Konzentrationsverhältnissen der Reaktanden und Produkte zu Beginn der Reaktion und an deren Ende (Gleichgewichtzustand) bei definierten Bedingungen errechnet. Experimentelle Bestimmung der freien Energie aus dem Gleichgewichtszustand Für die Berechnung der freien Energie einer konkreten biochemischen Reaktion können nicht allein die Messwerte des Kalorimeters herangezogen werden. Es müssen das wässrige Lösungsmittel und die Konzentrationsverhältnisse berücksichtigt werden. Je höher das Konzentrationsgefälle, desto höher das Energiegefälle. Je höher das Energiegefälle, desto mehr der Ausgangsmaterialien werden im Gleichgewichtszustand, d. h. am Reaktionsende, in Endprodukte verwandelt sein. Für die Reaktion A+BC+D
gilt: G0 = −RT × ln
Also lässt sich ΔG entsprechend der Beziehung ΔG0 = –RT × ln K aus dem Verhältnis K der Konzentrationen im Gleichgewicht bestimmen. ΔG (genauer ΔRG°) ist die freie Standardreaktionsenthalpie, bezogen auf Standardbedingungen. Standardbedingungen: ●
Konzentrationen: Jeweils 1 mol/l;
●
Temperatur: 298 K (25º C);
●
Druck: 100 kPa (1 bar);
●
ΔG0 Änderung der freien Energie bei pH = 1 in der Chemie;
●
ΔG0‘ Änderung der freien Energie pH = 7 in der Biochemie (weshalb man in verschiedenen Büchern unterschiedliche Angaben über die freie Energie z. B. der Glucose-Oxidation finden kann).
Wie viel anfänglich vor dem Start der Reaktion bei beliebigen aktuellen Ausgangskonzentrationen an arbeitsfähiger Energie vorhanden ist, wird als ΔGaktuell errechnet:
[C] × [D] [A] × [B]
Gaktuell = G0 + RT × ln
[A] Konzentration von A in mol/l; Entsprechendes gilt für B, C und D R = Gaskonstante ≈ 8,3 J/(K x mol); T = Temperatur in Kelvin.
Freie Energie und Redoxpotential Wenn Energieübertragung durch Elektronentransfer geschieht wie in der Atmungskette der inneren Mitochondrienmembran, dann gilt:
Das Massenwirkungsgesetz besagt
[C] x [D] = K Gleichgewichtskonstante [A] x [B] = e−G/RT
[C]akt. × [D]akt. [A]akt. × [B]akt.
G = n × F × Rp
●
mit anderen zu reagieren (Knüpfen oder Lösen chemischer Bindungen),
●
in eine andere Zustandsform überzugehen (Phasenübergang, Auskristallisieren einer Substanz aus einer Lösung, Polymerisation gelöster Mono-
n = Anzahl e– F = Faradaykonstante 96 500 C/mol ΔRp = Änderung des Redoxpotentials
mere zu unlöslichen Makrostrukturen wie dem Cytoskelett), ●
sich im Raum umzuverteilen (Diffusion).
Auch wenn es um Energie geht, die in Substanzen, etwa in Nahrungsmitteln, enthalten ist, gilt Analoges
1.3 Energienutzung in lebenden Systemen
zur Wärme. Die gleiche Menge kann aus einem kleinen Volumen mit hoher Konzentration oder einem großen Volumen mit geringer Konzentration gewonnen werden. Das ist einleuchtend und klingt trivial; weniger offensichtlich ist aber, dass auch hier Entropie bestimmt, ob ein Vorgang von selbst stattfinden kann und in welcher Richtung. Spontan ablaufende Prozesse sind stets mit Entropieerhöhung verbunden. Bevor wir dies weiter diskutieren, müssen wir einen weiteren Begriff der Thermodynamik bzw. Physik einführen, den Begriff der Arbeit.
1.3 Energienutzung in lebenden Systemen 1.3.1 Energie ist Vermögen zu arbeiten – aber man kann mit ihr auch bloß Wärme produzieren Lebewesen erhalten sich, indem sie Energie aufnehmen und umwandeln. Sie tun dies nicht nur, um zu wachsen und zu gedeihen, sondern müssen dies auch tun, um ihre labile innere Ordnung aufrechtzuerhalten. Darauf wird der zweite Hauptsatz der Thermodynamik (s. unten) hinweisen. Thermodynamik, ein schwieriges Kind der Physik, hat seine Geburtsstunde und Namenstaufe in einer Zeit erlebt, als Wärmekraftmaschinen im Blickpunkt des Interesses der Physiker und Techniker standen. In der Biochemie und Biophysik gebraucht man gern den Begriff Energetik statt Thermodynamik (wobei Energetik mehr auf Energiebilanzen zielt, der umfassendere Begriff Thermodynamik mehr auf Stoffund Energieflüsse und auf die letztlich erreichbaren Gleichgewichtszustände.) Ob man nun Thermodynamik oder Energetik sagt, es geht um Energieumwandlungen aller Art. Wie für alle solche Prozesse gelten auch für unseren elementaren, Energiefreisetzenden Prozess C6 H12 O6 (Glucose) + 6 O 2 → 6 H 2 O + 6 CO 2 + Energie
(1.2)
die Hauptsätze der Thermodynamik. I. Hauptsatz: Energieerhaltung Der Energie-Erhaltungssatz (Box 1.1) besagt, dass die in biochemischen und physiologischen Systemen umgesetzte innere Energie U vollständig erfasst
wird, wenn man die Arbeit A ermittelt, die das System verrichtet hat oder die in das System investiert worden ist, und wenn man dazu den Netto-Wärmeaustausch Q zwischen System und der Umgebung addiert. Änderung der Energie im System U = A + Q(oben war A = −pV = Volumen − Arbeit)
(1.4)
(Bei Vergrößerung des Volumens –ΔV positiv – leistet das System Arbeit und die Energieänderung erhält ein negatives Vorzeichen.) Bei organischen Molekülen ist die innere Energie im Wesentlichen bestimmt durch die intramolekularen Bindungskräfte. Die bei der Glucoseverbrennung umgesetzte Energiemenge ergibt sich aus der Differenz des verfügbaren Energiegehaltes der Endprodukte H2 + CO2 und der Ausgangsmaterialien C6H12O6 (Glucose) + O2. Dabei ist der Energiegehalt der Endprodukte bei normalem Druck und normaler Umgebungstemperatur für die Zwecke der Zelle nicht weiter verfügbar. Obzwar die chemischen Bindungen in H2O und CO2 enorm stark sind, ja gerade weil sie so enorm stark sind, kann sie die Zelle nicht weiter nutzen und muss das Energiepotential der Endprodukte praktisch mit Null verbuchen. 1.3.2 Was ist Arbeit in einem lebenden System? Das Schulbuch definiert Arbeit (engl.: work) als Produkt aus Kraft x Weg (oder präziser, A = Masse x Beschleunigung x Weg, gemessen in Newton, wobei 1 N die Kraft ist, die der Masse 1 kg die Beschleunigung 1 m/s2 erteilt). Eine solche Definition passt gut zur Mechanik. Muskelarbeit ist Arbeit in diesem Sinne. Auch für die Arbeit unseres Herzens hat die Mechanik eine passende Defintion bereit: Das Herz leistet Druck-Volumenarbeit (Arbeit = Druck x Volumen). Und in der Dimension einer Zelle? Arbeit äußert sich in der Aktivität der molekularen Motoren (Kap. 3), in der von ihnen bewirkten Ortsveränderung der intrazellulären Filamente, Mikrotubuli und Vesikel, in der Verschiebung von Ionen und Molekülen über Membranen hinweg. Aber auch bei einer chemischen Reaktion wird Energie freigesetzt und kann für Arbeit eingesetzt werden; sie ist stets mit einer Verlagerung von Bindungselektronen verbunden. Arbeit
9
10
1 Energie und Leben
beinhaltet eine gerichtete räumliche Umschichtung von Energie. In der Biochemie und Physiologie einer Zelle sollten wir bei Ortsveränderung auch an submikroskopisch kleine Teilchen (z. B. Elektronen) und submikroskopisch kleine Wegstrecken denken. Arbeit wird im lebenden System verrichtet, ●
um ATP-Akkus zu füllen,
●
um chemische Bindungen zu knüpfen,
●
um Substanzen zu reduzieren, d. h. mit Wasserstoff und/oder Elektronen anzureichern,
●
um große Moleküle aus kleineren Bausteinen zusammenzufügen,
●
um Materialien im Zellinneren zu transportieren,
●
um Substanzen wie z. B. Glucose über Zellmembranen zutransportieren und im Zellinneren anzuhäufen; allgemein gesagt, um die Konzentration von Substanzen zu erhöhen,
●
um Ionen mit entgegengesetzter elektrischer Ladung über Zellmembranen hinweg zu trennen und dadurch elektrische Spannungen (elektrische Potentiale) aufzubauen,
●
um es Muskelfasern zu ermöglichen, sich in ihrer Längsachse gegen Widerstände zu verkürzen.
Die biochemisch wichtigste Arbeit ist die Übertragung eines Elektrons von einem organischen Molekül auf ein anderes. Das Molekül, das ein Elektron und damit in der Regel auch Energie an ein anderes Molekül abgibt, wird, wie es heißt, „oxidiert“, und das Molekül, das ein Elektron und damit Energie übernimmt, wird „reduziert“. Das Elektron und mit ihm Energie folgt einem chemischen Potentialgefälle. In der üblichen Formelsprache der Biochemie sind Elektronenübergänge nicht eingezeichnet. Der Anfänger kann jedoch auf das Verhältnis C zu H, bzw. C zu O schauen, um Hinweise auf Energiepotentiale zu erhalten. O nimmt in der Regel Bindungselektronen auf. In der Gruppe -CH3 hat C ein höheres chemisches Potential als in der Gruppe -CHOH, weil O Bindungselektronen von C abzieht und damit C um eine Stufe oxidiert und ihm Energie entzieht. Weitere Stufen sind möglich: Aus der Oxidation von -CH3 zu -COOH oder CO2 lässt sich mehr Energie herausholen als aus der Oxidation von -CHOH zu -COOH oder CO2. Darüber mehr in Kap. 2.
1.3.3 Wärme kontra Arbeit: bei jeder Arbeit fällt Wärme als Abfallprodukt an Chemische Reaktionen, die im Organismus ablaufen, können – wie alle chemischen Reaktionen – Wärmeenergie an die Umgebung (Wassermoleküle, Luft) abgeben, über molekulare Stöße oder mittels Strahlung. Die Reaktion ist dann exotherm. Bei manchen chemischen Vorgängen kann das System aber auch aus der Umgebung Wärme entnehmen, um sie der Reaktion nutzbar zu machen. Die Reaktion ist dann endotherm. Die innere Energie ist in der Sprache der Physik eine Zustandsgröße; d. h. der in einem biochemischen Prozess frei werdende Energiebetrag ist eine feste Größe und unabhängig vom speziellen Weg der Reaktion. Man kann Glucose in der Luft verbrennen, oder man kann sie verschlucken und im eigenen Körper durch die komplizierten Stoffwechselwege der Glykolyse, des Citratcyclus und der Atmungskette schleusen: der freiwerdende Energiebetrag ΔU ist der gleiche. Keine Zustandsgrößen sind jedoch A und Q. Ihr relativer Anteil ist variabel und ändert sich je nach der Art der Zwischenprozesse, die zu den Endprodukten CO2 und H2O führen. Dabei zeigt die Erfahrung, ohne dass der I. Hauptsatz dafür eine Erklärung abgäbe, dass ●
ein Energiebetrag U vollständig in Wärme verwandelt werden kann,
●
aber nicht umgekehrt Wärme vollständig in Arbeit, jedenfalls nicht in einem cyclischen Prozess, der einer Wärmekraftmaschine antreiben könnte. (Wärmekraftmaschinen haben eine prinzipielle, temperaturabhängige Begrenzung des Wirkungsgrades auf weit unter 100%).
Stets wird eine gewisse Menge der investierten Energie letztendlich als ungenutzte Wärmeenergie Q erscheinen und für mechanische Arbeit nicht zur Verfügung stehen. Bevor wir die Bedeutung dieses Phänomens diskutieren und nach einer Erklärung suchen, sei erst auf eine praktische Anwendung dieses Sachverhaltes hingewiesen.
1.3 Energienutzung in lebenden Systemen
1.3.4 Enthalpie und der ‚Kalorien’gehalt unserer Nahrung: Lebensmittelfachleute verbrennen Nahrung, um Diätrezepte geben zu können In der Tat wird die durch Oxidation gewinnbare Menge an Energie eines Nahrungsmittels gemessen, indem es verbrannt und sein Energiegehalt (fast) vollständig in Wärme überführt wird. Es werden beispielsweise 1 Mol Glucose (= 180 g Traubenzucker) in einem Kalorimeter, d. h. in einem thermisch gut isolierten Behälter, mit reinem Sauerstoff verbrannt. Ca. 98% der freigesetzten Energie erscheint als Wärme Q, ca. 2% als Volumenarbeit pΔV, weil sich das frei werdende CO2-Gas und der entstehende Wasserdampf ausdehnen und gegen die Gefäßwände drücken. Dies ist mittels eines Manometers messbar. Sieht man von dieser Expansionsarbeit ab, ist die Wärme des Verbrennungsofens ein Maß der inneren Energie U des als Heizmaterial geopferten Nahrungsmittels. Was als Wärme plus Volumenarbeit freigesetzt wird ist die Differenz ΔU der inneren Energien der Ausgangssubstanzen (Edukte, Reaktanden), hier [Σ Glucose + Sauerstoff] und der inneren Energien der Endprodukte [Σ CO2 + H2O], also nicht die innere Energie der Glucose als solche; doch das ist unerheblich; denn bilanzmäßig geschieht in der Zelle dieselbe Gesamtreaktion. Der Biochemiker verbrennt Glucose in der Regel nicht, sondern setzt sie mit Enzymen im Reagenzglas um oder gibt sie beispielsweise Hefen zum Fraß. Seine Reaktionsgefäße sind zwar mit einem Thermometer bestückt, aber nicht mit einem Manometer (der ihm eh nur einen extrem geringen Wert anzeigen würde). Daher kombiniert der Chemiker die Terme U und pV zu einer neuen, zusammengesetzten Zustandsgröße: U + pV = H (Enthalpie)
(1.5)
hierbei steht V für das Volumen und p für den Druck. Für Änderungen in einem Prozess gilt entsprechend: H = U + pV
(1.6)
Wenn wir dem Biochemiker folgen und die Druckvolumenarbeit pΔV wegen ihres äußerst geringen Betrages vernachlässigen, entspricht die Änderung
der Enthalpie der Änderung der inneren Energie ΔU. Dieses ΔU wiederum setzt sich zusammen aus der übertragenen Wärmemenge und allen Formen der Arbeit, die das System erbringt oder die dem System zugute kommt. Das Wort Enthalpie nimmt Bezug auf Wärme (griechisch: en = darin, thalpos = Wärme). Quintessenz der ganzen Ausführung ist also: die beim Verbrennen der Nahrung freigesetzte Wärmemenge ist ein brauchbares Maß für jenen Teil ihres Energiegehaltes, der in der biologischen Oxidation frei wird – und im Organismus selbst in wechselnden Verhältnissen ebenfalls in Form von Wärme in Erscheinung tritt oder aber verarbeitet und in andere Energieträger umgeschichtet wird. Bei der Verbrennung von Glucose wird eine Enthalpie von 670 kcal/mol bzw. 2808 kJ/mol frei. Beachte: Vereinbarungsgemäß wird die Differenz zwischen Endzustand und Anfangszustand gebildet. Daher wird bei exothermen Reaktionen die freigesetzte (Wärme-)Energie mit Minus verbucht: Glucose + 6 O2 → 6 H2O + 6 CO2– 2808 KJ/mol. Genaueres s. Abschn. 1.5.3. Das Verfahren, den Energiegehalt der Nahrung durch Wärmeproduktion zu bestimmen, fand seinen Niederschlag im sogenannten Kaloriengehalt der Nahrung. Die gemessene Verbrennungswärme ist ein guter, wenn auch nicht perfekter Schätzwert für den potentiellen energetischen Nutzen dessen, was wir essen. Dieser Messwert kann freilich nicht berücksichtigen, wie gut ein Nahrungsmittel im Darm aufgeschlossen werden kann, wie viel Energie schon bei der enzymatischen Zerlegung im Darm als Wärme verloren geht, wie viel von den Komponenten ins Blut gelangt, und wie die einzelnen Komponenten von der Zelle verwertet werden können. Schließlich kann das Kalorimeter auch keine Auskunft geben darüber, in welchem Ausmaß die in der Zelle freigesetzte Energie schon sogleich bei ihrer Freisetzung lediglich zur Körperwärme beiträgt, ohne irgendwelche Arbeit zu leisten. Der physikalische Kaloriengehalt wird für das Diätrezept durch einen Erfahrungswert, den physiologischen Brennwert (s. Kap. 2) korrigiert. Es ist ein bloßer Durchschnittswert. Schon allein der Umstand, dass mancher einen leistungsfähigen Verdauungstrakt hat, der andere Vieles ungenützt passieren lässt, führt dazu,
11
12
1 Energie und Leben
dass die gleiche „Kalorienmenge“ bei dem einen als Gewicht anschlägt, bei dem anderen nicht. Bemerkung: Die Kalorien, die in den Küchenrezepten angegeben sind, sind meistens als Kilokalorien zu verstehen. In der Wissenschaft allerdings ist „cal“ seit einigen Jahren nicht mehr gültig. Es ist durch die SI-Einheit Joule ersetzt worden. Da aber Kochbücher und Diätrezepturen seit alters den Nahrungsmitteln Kalorien zuordnen, sollten wir beim Thema Ernährung die lässliche Sünde der terminologischen Laienhaftigkeit verzeihen und den Leuten oder unseren Haustieren weiterhin ihre „Kalorien“ gönnen. Zum Umrechnen gilt: 1 cal = 4,19 J = Energiemenge, die benötigt wird, um 1 g (1 ml) Wasser von 14,5° C auf 15,5° C zu erwärmen. 1 kcal = 1000 cal = 4,19 kJ = Energiemenge, die benötigt wird, 1 kg (1 l) Wasser von 14,5° C auf 15,5° C zu erwärmen. Allgemeine Bedeutung von Enthalpie. Wenn das soeben Gesagte den Eindruck erweckt haben sollte, die Bedeutung des Begriffs Enthalpie sei darauf beschränkt, ein Maß für den Energiegehalt von Nahrungsmitteln zu liefern, so sei dies nun korrigiert: Unter konstantem Druck, wie dies bei biochemischen Prozessen üblich ist, kann die Enthalpiedifferenz ΔH zwischen dem Anfangs- und Endzustand eines biochemischen Prozesses dadurch bestimmt werden, dass man die Wärme misst, die bei diesem Prozess abgegeben oder aufgenommen wird. Enthalpie ist ein Maß für den Energieumsatz auch in ganzen Ketten und Netzwerken von Reaktionen. In einem Kalorimeter passender Größe und Ausstattung kann sogar ein ganzes Tier sitzen und als Äußerung seines Lebens ‚Reaktionswärme’ abgeben (Kap. 2, Abb. 2.5).
1.4 Entropie und Leben 1.4.1 Was ist nun Entropie? Es gibt verschiedene Antworten Der Begriff der Entropie bereitet dem Nicht-Physiker oftmals Kopfzerbrechen, nicht nur, weil Entropie als solche nicht mit unseren Sinnen wahrnehmbar und auch keine direkt messbare Größe ist, sondern auch, weil es verschiedene Zugänge zu dieser Größe
gibt. Diese spiegeln die historische Entwicklung des Entropiebegriffs wider: ●
In der phänomenologischen (mechanischen) Thermodynamik, in der Wärmeenergie und ihre Verwertung im Vordergrund stehen, ist das Ausmaß der Entropie jenem Wärmeanteil äquivalent, der den Kolben der Wärmekraftmaschine (Dampfmaschine oder Verbrennungsmotor) auch bei besten Konstruktionen nicht verschiebt und in der Praxis verloren geht, weil diese Wärmeenergie ungenutzt in die Umwelt entweicht und sich dort gleichförmig verteilt. Eine Entropieänderung wird quantitativ als Funktion der Wärmemenge Q und der absoluten Temperatur T betrachtet: ΔS = ΔQ/T bei gleichbleibender Temperatur, allgemeinerdS = ∂Q/T, auch bei wechselnden Temperaturen.
(1.7)
Diese Beziehung besagt: Bei gleichbleibender Temperatur (bei isothermen Bedingungen) ist das Ausmaß an Entropievermehrung proportional der investierten Wärmemenge. Andererseits: Der Wirkungsgrad, ausgedrückt im Verhältnis geleisteter Arbeit zu investierter Wärmemenge (A/Q), ist temperaturabhängig und dies wie folgt: A/Q = ( T2–T1)/T2 hierbei ist T2 (warm) die Temperatur am Einlass zum Kolbenraum ist, T1 (kalt) am Auslass. Diese Beziehung besagt: Mit einer gegebenen Energiemenge kann umso mehr Arbeit verrichtet werden, je höher die Temperatur ist, bei der sie der Maschine zugeführt wird.
Da in Lebewesen keine Wärmekraftmaschinen arbeiten, ist diese Beziehung für sie allenfalls von untergeordneter Bedeutung, hat indes eine gewisse Bedeutung, wenn ein Körper Wärme und damit Energie an die Umgebung verliert (s. Abschn. 1.4.4). Die Entropie erhält in der phänomenologischen Thermodynamik die Einheit Joule/Kelvin. Die Entropieeinheit 1 J/Grad K entspricht der Wärmemenge, mit der man bei Normaldruck 0,893 cm3 Wassereis schmelzen könnte. Diese Quantifizierung in J verleitet zu der Annahme, Entropie sei Wärmeenergie. Dies ist nicht so. Eine Erhöhung der Temperatur im System ist zwar mit einer Erhöhung der Entropie verbunden, doch gibt es auch andere Möglichkeiten einer Entropievermehrung, wie im Weiteren deutlich werden soll. Dass Entropie nicht mit Wärmeenergie als solcher identisch ist, sieht der physikalisch Bewanderte schon an der Dimension Energie/Temperatur. In der phänomenologischen Thermodynamik ist dS = ∂Qrev / T die grundlegende Beziehung für die
1.4 Entropie und Leben
Entropie. Wenn in einem reversiblen Prozess dem System bei der Temperatur T die (infinitesimal) kleine Wärmemenge δQrev zugeführt wird, so erhöht sich die Entropie des Systems um den in der Formel spezifizierten Beitrag. Bei Prozessen wie dem Schmelzen des Eises (Phasenübergang fest-flüssig), bei denen die Temperatur des Systems trotz zugeführter Wärmemenge Q bis zum Ende des Vorgangs gleich bleibt, gilt entsprechend dS = ∂Q/T wobei Q die Schmelzwärme ist. Angenommen Wärme ströme von der Umgebung, z. B. einem 25° C (298 K) warmen Wasserreservoir, auf das System Eis-Wassergemisch, das bis zum Ende des Schmelzvorgangs bei der Temperatur von 0° C (273 K) verharrt, so wird die Entropie im Eis-Wassergemisch um dS = ∂Q/273 steigen, im warmen Wasserreservoir dagegen zugleich um dS = –∂Q/298 sinken. Hier T =273, dort T = 298! Die Entropie in dem sich abkühlenden Wasserreservoir (in der Umgebung) sinkt betragsmäßig stärker als die Entropiezunahme im Eis-Wassergemisch (im System). Für die gegebene Schmelztemperatur kann man dann der Änderung des Entropiewertes (dS) die gemessene Wärmemenge zuordnen. ●
In der chemischen Thermodynamik ist Entropie einer der Faktoren, welche die Höhe der „freien Enthalpie (free energy) G“ bestimmen, und diese ist es, welche die Lage des Gleichgewichts bei einer chemischen Reaktion bestimmt. Je größer die Differenz zwischen der freien Enthalpie der Ausgangsmaterialien und der freien Enthalpie der Produkte im Gleichgewichtszustand ist, desto mehr potentielle Energie steht für Arbeit zur Verfügung. Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Endprodukte den Reaktionsraum verlassen (irreversibler Prozess) oder in ihm verbleiben und in ihrer Menge nach dem Massenwirkungsgesetz veränderlich sind (reversibler Prozess). Da in allen Organismen unzählige chemische Reaktionen ablaufen, verdient diese Beziehung eine nähere Erläuterung. Diese wird in Abschn. 1.5. und Box 1.1 gegeben. Zur Nomenklatur: In der deutschsprachigen Literatur ist die Bezeichnung „freie Enthalpie“ üblich, im Englischen free energy oder Gibbs energy G. Häufig wird free energy wörtlich mit „freier Energie“ übersetzt; doch kommt man dabei in Konflikt mit der „freien Energie“, wie sie Hermann von Helmholtz definiert hat (s. Abschn. 1.5.2). Da es jedoch in der ganzen internationalen Literatur der Biochemie üblich geworden ist, der Definition von Gibbs zu folgen, besteht kaum Verwechslungsgefahr. Wenn in diesem Buch von „freier Energie“ die Rede ist, ist die Gibbs‘sche free energy G gemeint.
●
In der statistischen Thermodynamik, auch mikroskopische Thermodynamik genannt, wird
eine Erklärung allgemeiner Art für die Ursachen einer Entropieänderung gesucht und mathematisch formuliert. Die statistische Betrachtung ist also die Basis und deshalb auch für Lebewesen fundamental. Die im folgenden Abschnitt gemachte Aussage „Es geschieht, was wahrscheinlich ist…“ bezieht sich denn auch auf die statistische Thermodynamik. Bilder für unsere Vorstellung werden im folgenden Abschnitt geschildert, einen ersten Eindruck über mathematische Betrachtungen will Box 1.2 vermitteln, ohne anspruchsvolle Mathematik anzuwenden. ●
Informationstheorie. Schließlich hat der Begriff Entropie auch Eingang gefunden in die Informationstheorie. Darauf wird hier nicht weiter eingegangen. 1.4.2 Entropievermehrung lenkt einen Prozess in eine bestimmte Richtung
Der erste Hauptsatz macht keine Aussage darüber, warum Glucose, wenn sie erst einmal mittels eines Zündfunkens (Aktivierungsenergie) entzündet worden ist, zu CO2 und H2O verbrennt und Wärme freisetzt, wir aber wohl kaum jemals beobachten, dass CO2 und H2O sich außerhalb von Pflanzen unter Wärmeaufnahme zu Glucose verbinden (und O2 abstoßen). Der Energieerhaltungssatz würde nur verlangen, dass die in der synthetisierten Glucose eingebundene Energie betragsmäßig der aus der Umgebung aufgenommenen Wärmeenergie entspricht. Welche Reaktionen von selbst ablaufen, falls sie einmal in Gang gekommen sind, und welche nicht, wird erkennbar, wenn man herausgefunden hat, wie sich die Entropie ändert. Der Einfachheit halber nehmen wir fürs Erste an, dass alle an einer Reaktion beteiligten Moleküle im Reaktionsraum verbleiben; damit haben wir ein geschlossenes System. II. Hauptsatz: Entropiezuwachs Es wird hier eine Formulierung gewählt, welche die Relevanz des Entropiesatzes für zellphysiologische Prozesse deutlich machen soll: Es geschieht, was wahrscheinlich ist. Bewegliche, nicht-wechselwirkende Moleküle verteilen sich in einem sich selbst überlassenen, abgeschlossenen System nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit weitgehend gleichförmig im Raum, weil ihre ther-
13
14
1 Energie und Leben
BOX 1.2
Entropie und Verteilungswahrscheinlichkeit von unabhängigen Teilchen in einem geschlossenen Raum
υ
v = V /3; p = 1/3; q = 2/3
() = ( 6n ) 2
Wn = 6n (1 / 3) n × (2 / 3)6−n
Verteilungswahrscheinlichkeiten: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit Wn dafür, dass von N gegebenen unabhängigen Teilchen sich n in einem Teilvolumen v befinden? Der betrachtete Raum sei in zwei Kammern mit den Volumina v und V-v geteilt. Es liegt eine Binomialverteilung vor und es gilt:
Wn =
N n
pn q N−n , wobei p = v/V
und q = (V – v) / V Für den Fall, dass insgesamt N = 6 Teilchen vorhanden sind, wollen wir berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit wie viel Teilchen sich im Teilraum v befinden. Beispiel 1: Der Teilraum v umfasst die Hälfte des Gesamtraums, d. h. v = 1/2 V. υ
6 × 2−6 Wn = n
Teilchen in 0 1 2 3 4 5 6 li Kammer: Binomialko- 1 6 15 20 15 6 1 effizient: Aufenthalts- 2–6 × 1 × 6 × 15 × 20 × 15 × 6 × 1 wahrsch.: Mit größter Wahrscheinlichkeit befindet sich also in der einen der beiden gleich großen Kammern auch die Hälfte aller Teilchen. Am geringsten sind die Wahrscheinlichkeiten, dass sich alle 6 Teilchen oder keines in der betrachteten Kammer befinden. Beispiel 2: Die Kammergrößen seien ungleich, das Gesamtvolumen sei im Verhältnis 2 zu 3 geteilt; wir betrachten den kleineren Raum.
6−n
× 1 / 36.
Teilchen in li 0 1 2 3 4 5 6 Kammer Aufenthalts- 3–6 × [1 × 26 6 × 25 15 × 24 20 × 23 15 × 22 6 × 21 1 × 20] wahrscheinl.: 160 60 12 1] 3–6 × [64 192 240
Mit größter Wahrscheinlichkeit befinden sich im kleineren Teilraum 2 der 6 Teilchen, d. h. in 1/3 des Gesamtvolumens befinden sich mit größter Wahrscheinlichkeit auch 1/3 aller Teilchen. Eher findet man nur 1 als gerade 3, und eher keins als alle 6. Entropiezunahme beim Übergang vom unwahrscheinlichsten in den wahrscheinlichsten Zustand Wir benutzen die Boltzmann-Gleichung (Box 1.1). Für unser Beispiel mit 6 Teilchen und zwei gleich großen Kammern gilt: 1. Wahrscheinlicher Endzustand, d. h. im Teilvolumen v = 1/2 V ist die Hälfte aller 6 Teilchen (Gleichverteilung): WA =
6 × 2−6 = 20/26 = 20/64 3
2. Unwahrscheinlicher, von uns hergestellter Anfangszustand: Alle Teilchen sind im Teilvolumen v: WE =
6 × 2−6 = 1/26 = 1/64 3
Entropien: S = k x ln WA; SE = k x ln WE Entropie-Änderung: S = SE − SA = k × ln WE /WA = 1, 38 × 10−23 J/K × ln 20 23 = 4, 13 × 10− − J/K
Dabei ist k die Boltzmann-Konstante; J = Joule; K = Kelvin Die Entropie hat zugenommen.
1.4 Entropie und Leben
mischen Bewegungen ungekoppelt und zufallsorientiert sind. Manche Menschen empfinden eine solche statistische Verteilung als Unordnung, weshalb Entropie bisweilen auch als Maß der Unordnung definiert wird. „Beweglich“ soll heißen: solange nicht Kräfte der Anziehung und des Zusammenhaltes stärker sind. Makromoleküle und supramolekulare Komplexe zerfallen nicht so leicht. Die zwei Stränge einer DNA halten für Jahrmillionen zusammen, wenn sie nicht durch thermische oder sonstige Energie auseinandergetrieben werden. Befinden sich auf der einen Seite einer isolierenden Membran positiv geladene Kationen, auf der anderen Seite negativ geladene Anionen, werden sie sich wechselseitig über die Membran anziehen und so am Wegdiffundieren hindern. Anders hingegen, wenn Barrieren verschwinden und Kationen und Anionen etwa als Paare frei beweglich werden. Bemerkenswert: Bei der Bildung einer DNA-Doppelhelix aus Einzelsträngen wird Wärme frei: vermehrte Ordnung im Makromolekül, vermehrte Entropie im Lösungsmittel. Entropie und Wahrscheinlichkeit: Lebende Systeme müssen Unwahrscheinliches leisten Werfe ich einen Stein ins Wasser, überträgt er seine kinetische Energie auf die Wassermoleküle. Diese geben den Impuls an ihre Nachbarn weiter. Da die Bewegungen von Wassermolekülen wenig gerichtet sind, breitet sich die von den Bewegungsimpulsen getragene Energie allseitig aus und verteilt sich schließlich makroskopisch homogen im Wasser als gänzlich ungeordnete Wärmebewegung der Moleküle. Würden alle Wassermoleküle in exakt der umgekehrten Reihenfolge, mit exakt der gleichen Geschwindigkeit und in exakt der entgegengesetzten Richtung zurückpendeln, flöge der Stein aus dem Wasser zurück auf mich zu. Träte dies ein, spräche der Physiker von einem „reversiblen Vorgang“. Das Physikbuch erwähnt aber auch, dies sei ein ganz unwahrscheinlicher Fall. Doch nicht die Ausführungen im Lehrbuch der Physik beruhigen mich. Ich bin unbesorgt, nicht weil ich im Physikbuch etwas über die Seltenheit reversibler Prozesse gelesen habe, sondern weil ich da einige Erfahrung habe; es ist offensichtlich unwahrscheinlich, dass der Stein zurückfliegt. Ein zweites Beispiel: Eine Schachtel wird knapp zur Hälfte mit schwarzem Sand gefüllt. Darüber
kommt eine gleich große Schicht mit weißem Sand. Man schüttelt und sieht grauen Sand. Man kann schütteln solange man will, die ursprüngliche Schichtung stellt sich nicht wieder ein. Gehen wir näher an biologische Phänomene heran. Wir betrachten zwei miteinander verbundene Räume (Abb. 1.2). Der linke Raum enthalte Teilchen (z. B. Atemgase oder eine Lösung einer Substanz) in hoher Konzentration, der rechte sei anfangs leer. Der Durchgang wird geöffnet (z. B. für gelöste Teilchen durch Kanäle oder Carrier in der Zellmembran). Auf Grund ihrer thermischen Bewegung verteilen sich die Moleküle auf beide Räume gleichförmig. Dabei werden sich ihre Bewegungsenergien einem Durchschnittswert nähern. Schnelle Moleküle geben Impuls an langsamere ab (es bleibt aber eine Gauß‘sche Verteilung der individuellen Geschwindigkeiten erhalten). Thermische Bewegung ist zufallsorientiert, wie dem flüchtigen Zuschauer das Gehüpfe und Geschiebe in einer Disco vorkommt. Zufall bestimmt die summarische Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Moleküle. Diese Aussage wird am Beispiel von sechs Molekülen in Box 1.2 begründet und diskutiert. Eine einfache Überlegung gibt auch ohne viel Wahrscheinlichkeits-Mathematik eine gute Vorstellung von den Größenordnungen, die in solchen Berechnungen auftreten. In einem Raum, der in zwei gleich große Kammern gegliedert ist, hat jedes Molekül die Wahrscheinlichkeit 1/2 in einer der beiden Kammern zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei bestimmte Moleküle gleichzeitig in der gleichen Hälfte sind, ist (1/2)2 = 2–2, und dass alle Moleküle N in der gleichen Hälfte sind ist 2–N. Je mehr Moleküle zugegen sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sich im ziellosen Discotanz gleichzeitig alle im linken oder im rechten Raum befinden; desto wahrscheinlicher wird es, dass beide Räume annähernd gleich stark frequentiert sind. Sind 1000 Moleküle vorhanden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle zufällig im linken oder rechten Raum konzentrieren, noch 1:2–1000 = 10–301. Was aber sind schon 1000 Moleküle! 1 Mol Sauerstoffgas, das bei Normaldruck und 20 °C ein Volumen von 22,4 L beansprucht, enthält 6 × 1023 Moleküle; und ebenso enthält 1 Mol Glucose = 180 g feste Substanz 6 × 1023 Moleküle (Avogadrozahl)!
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1 Energie und Leben
V Generator
Abb. 1.2. Energiepotential einer Konzentrationsdifferenz. Die Kugeln können als Gasmoleküle oder als elektrisch neutrale Moleküle einer Lösung betrachtet werden. In der anfänglichen Konzentrationsdifferenz steckt ein Energiepotential, das vernichtet ist, wenn bei Gleichverteilung der Moleküle die Entropie des Systems maximiert ist. Ein Teil des Energiepotentials kann zum
Verrichten von Arbeit, hier zur Erzeugung von elektrischem Strom, abgeführt werden. Geschieht dies, ist die Temperatur in beiden Kammern am Ende des Ausgleichsprozesses geringer als wenn keine Energie abgeführt worden wäre. Die durch Abkühlung verlorene Energiemenge entspricht der als Strom abgeführten Energiemenge
Ein Konzentrationsgefälle, sich selbst überlassen und nicht durch Barrieren stabilisiert, gleicht sich von selbst aus, weil die gelösten Teilchen sich mit höchster Wahrscheinlichkeit gleichförmig im Raum verteilen. Umgekehrt betrachtet: Um Konzentrationsdifferenzen oder Potentialdifferenzen (elektrische Spannungen) aufzubauen, müssen die Teilchen entgegen ihrem spontanen, autonomen Verhalten neu im Raum verteilt werden. Dazu muss Energie gezielt eingesetzt und Arbeit geleistet werden.
●
pH-Differenzen sind instabil und gleichen sich aus;
●
Unterschiedliche Partialdrucke der Atemgase in verschiedenen Räumen streben dem Ausgleich zu;
●
elektrische Potentialdifferenzen, die mittels beweglicher Ladungsträger (Ionen) erzeugt worden sind, brechen zusammen, wenn nicht Barrieren (Widerstände) dies verhindern.
1.4.3 Zunahme von Entropie besagt auch Ausgleich von Temperatur- oder Konzentrationsdifferenzen; dabei werden Potentiale zum Arbeiten vernichtet Innerhalb lebender Systeme bedeutet Entropiezunahme z. B.: ●
Temperatur- und Konzentrationsdifferenzen gleichen sich aus. Dabei wächst die Entropie und Potentiale für Arbeit gehen verloren.
●
Temperaturdifferenzen zur Umwelt können nur durch gute Isolierschichten und Wärmenachschub, Konzentrationsdifferenzen nur über undurchlässige Membranen aufrechterhalten werden;
Alle diese Ausgleichsprozesse sind temperaturabhängig; denn höhere Temperatur bedeutet raschere Bewegung und Ortswechsel der Moleküle bzw. Ionen.
1.4.4 Entropieänderungen begleiten und fördern den Export von Wärme und Stoffwechselendprodukten in die Umwelt Durch Export von Wärme Q aus einem System, beispielsweise aus einem Lebewesen, in die Umgebung erniedrigt sich die Entropie im System (falls nicht der Stoffwechsel neue Wärme erzeugt), und erhöht sich die Entropie in der Umgebung. Gemäß der Beziehung ΔS = ΔQ/T ist die Entropiezunahme in der Umgebung ΔSUmgebung propor-
1.4 Entropie und Leben sehr hohe Entropie sehr geringes chem. Potential
O H2 CO 2
CO
H2O
2
H
2O
Wärme
CO2
H 2O Ammoniak Harnstoff
hohe Entropie geringes chemisches Potential hohes chemisches Potential niedere Entropie
Abb. 1.3. Tierische Lebewesen als offene Systeme. Tiere nehmen Nahrung mit hoher arbeitsfähiger Energie und geringer Entropie auf, führen im Gegenzug Entropie, d.h. entwertete Energie, an die Umgebung ab. Entropie wird abgeführt durch die Wärme, die das Lebewesen abstrahlt, sowie durch niedermolekulare Stoffwechselendprodukte, die sich in der Umwelt gleichförmig verteilen. Die in den Lebewesen, in den Pflanzen oder im
Tier, befindlichen organischen (Makro-)Moleküle haben eine geringere Entropie, das heißt geringere Freiheitsgrade in ihrer Beweglichkeit, und ein höheres Maß an innerer Ordnung als die niedermolekularen Stoffwechselendprodukte. Umgekehrt verhält es sich mit der arbeitsfähigen Energie; sie ist in den Stoffwechselprodukten nahezu Null, beträchtlich jedoch in der Nahrung und im Tier selbst
tional dem Wärmeverlust, den das System erleidet, und umgekehrt proportional der Umgebungstemperatur T, d. h. die Entropieerhöhung der Umgebung ist umso größer, je kälter die Umgebung ist, und umso geringer, je wärmer sie ist und bereits einen hohen Grad an Unordnung aufweist.
verbrennung’ letztendlich in die Umwelt gelangen (s. Abb. 1.3), während importiertes O2 kaum etwas zur Entropiebilanz beiträgt, weil Sauerstoff in Form von CO2 und H2O auch wieder exportiert wird (Anders in der photosynthetisch aktiven Pflanze: Mit O2 „exportiert“ sie auch Entropie in die Umwelt und erleichtert sich so die Schaffung einer hoch geordneten molekularen Innenwelt).
SUmgebung = QLebewesen /T und
(1.9)
Sgesamt = SSystem + SUmgebung ≥ 0 (1.10)
will sagen: Die Gesamtentropie nimmt zu. Außer mittels Wärme wird Entropie aber auch durch frei bewegliche Stoffwechsel-Endprodukte erhöht (s. Abb. 1.3), genauer: durch Volumenvergrößerung (Expansion) des Raums, in den sie gelangen, und ihre Vermischung (Mischungsentropie). Alles, was sich im Raum gleichförmig verteilen kann, kann zur Erhöhung der Entropie beitragen, beispielsweise CO2 und H2O, die als Endprodukte der ‚Glucose-
1.4.5 Verminderung der Entropie kann Strukturbildung fördern; Eisbildung als Modellfall Entzieht man einem System Wärme, verringert man seine Entropie; im Regelfall erhöht sich dabei seine „Ordnung“. Beispielsweise bilden sich unterhalb einer kritischen Temperatur entropiearme, regelmäßig strukturierte Eiskristalle, wenn dem Wasser Wärmeenergie entzogen wird und |TΔS| < |ΔH| ist.
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1 Energie und Leben
Der oben für das Schmelzen von Eis beschriebene Vorgang kehrt sich um. Im menschlichen Organismus, der zu den isothermen Organismen gehört und allzu großen Wärmeverlust durch passende Kleidung vermeiden kann, ist dies glücklicherweise weniger bedeutsam als für wechselwarme Lebewesen, die im Winter einfrieren und den Kältetod erleiden, falls sie nicht in wärmere Gefilde fliehen oder ihnen physiologische Gegenmaßnahmen einfallen (Kap. 27.1). In populärwissenschaftlichen Büchern, aber auch in vielen Lehrbüchern, wird Entropie mit Unordnung gleichgesetzt (Ordnung hingegen nach dem Vorschlag von Erwin Schrödinger als Negentropie). Diese Analogie trifft für einige Systeme zu. So besitzt ein geordneter Kristall eine viel geringere Entropie als seine Schmelze. Für andere Systeme ist diese Betrachtung problematisch, z. B. besitzt eine geordnete Biomembran in Wasser eine höhere Entropie als ihre ungeordneten, in Wasser gelösten Bestandteile. Warum dies so ist, kann hier nicht diskutiert werden. Jedenfalls hat Entropie auch mit der Bildung geordneter Strukturen zu tun – die Frage ist, in welchem Systembereich Ordnung geschaffen, in welchem vernichtet wird, und wie sich Ordnung überhaupt eindeutig definieren lässt. Die Bildung hoch-geordneter Strukturen, wie wir sie in Lebewesen sehen, ist eine besondere Herausforderung für die gegenwärtige und zukünftige Thermodynamik. Dazu mehr im Abschn. 1.6.
1.5 Die „freie Energie G“ 1.5.1 Nur im Gefälle wird Energie verfügbar Homogen verteilte Energie kann, wie die Erfahrung lehrt, keine Arbeit verrichten. In einem Behälter sei 1000º C heißes Gas, im benachbarten Raum herrsche 0º C. Wir können eine Turbine in das Verbindungsrohr zwischen beide Räume einbauen (Abb. 1.2); sie läuft und treibt einen Stromgenerator, bis Temperaturausgleich herrscht. (Wenn wir die Turbine Arbeit verrichten lassen und Energie mittels eines Generators ins Stromnetz schicken, wird am Ende, wenn die Temperatur ausgeglichen und die Turbine zum Stillstand gekommen ist, in beiden Be-
hältern die Temperatur nicht etwa 500º C betragen, sondern beträchtlich unter 500º C abgekühlt sein.) Die Turbine liefe aber von vornherein nicht, wäre in beiden Behältern 1000º C heißes Gas von gleichem Druck. Es mag noch soviel Energie in einem System stecken: sie nützt nichts, wenn kein Gefälle da ist. 1.5.2 In biochemischen Systemen gibt die „freie Energie G“ das nutzbare Energiegefälle, das „chemische Potential“, an III. Die freie Energie und Enthalpie der Physiker Gibbs und Helmholtz In lebenden Zellen sind die Temperaturgradienten viel zu gering, als dass sie ökonomisch zum Verrichten von Arbeit, etwa zum Betreiben von Wärmekraftmaschinen, herangezogen werden könnten. (Eine Möglichkeit, wie die Zelle mittels des Tricks des Brownian ratchet ungerichtete thermische Molekülbewegung in gerichtete umwandeln kann, diskutieren wir in Kap. 3). Aber auch für Energieumsetzungen und Energieumwandlungen in biochemischen Reaktionen gilt, dass aus der Reaktion keine Energie mehr für Arbeitsleistungen herausgeholt werden kann, wenn sich die Reaktanden und die Endprodukte im „thermodynamischen“ Gleichgewicht befinden. A + BC + D
Wenn man die Konzentrationen der Reaktanden A + B und der Endprodukte C + D am Anfang einer Reaktion und am Ende im Gleichgewichtszustand misst, lässt sich die Energie errechnen, die – bei konstantem Druck und konstanter Temperatur – im Organismus maximal für Arbeitsleistungen zur Verfügung stehen könnte. Diesem Umstand trägt die nach dem amerikanischen Physikochemiker Josiah Willard Gibbs (1839–1903) benannte Zustandsfunktion G ( T,p) Rechnung. G heißt Gibbs’s free energy; sie wird im Deutschen Schrifttum in der Regel als freie Enthalpie bezeichnet. Diese Größe hebt die arbeitsfähige Energie heraus (Box 1.1). Die freie Energie/Enthalpie hat Temperatur und Druck als natürliche Variable, ist also besonders zur Behandlung von Vorgängen bei konstanter Temperatur und konstantem Druck geeignet. (Eine verwandte Zustandsfunktion ist
1.5 Die „freie Energie G“
die von Hermann von Helmholtz eingeführte freie Energie F( T,V), die entsprechend ihren Variablen für Vorgänge bei fester Temperatur und Volumen herangezogen werden kann.) In der internationalen Literatur dominiert indes G. Die Definitionsgleichung G = H −T × S
(1.12)
stellt den Zusammenhang zu den schon betrachteten thermodynamischen Größen Enthalpie und Entropie her. Für ihre Änderung bei einem (bio)chemischen Prozess gilt: (1.13) ΔG = Δ H − T Δ S < 0 Hier ist ΔH die Wärme der Reaktion, die an das Reservoir (Umgebung) der Temperatur T abgeführt wird (oder bei endothermer Reaktion vom Reservoir aufgenommen wird) und ΔS die Entropieänderung im Reaktionssystem. Die Änderung der Gesamtentropie (Reaktionssystem und Umgebung) ist durch SGesamt = −G/T
(1.14) gegeben. Falls ΔG < 0 (exergonische Reaktionen) kann der Betrag –ΔG/T in Arbeit umgewandelt werden.
stabilen Zustand befindet, d. h. in einem Zustand, welcher der Lage eines Steins in einer flachen Mulde am Bergabhang entspricht. Die Reaktion muss in aller Regel mittels eines Enzyms gestartet werden. Auch hilft ein Enzym einer zu geringen Reaktionsgeschwindigkeit auf die Sprünge; es hat, wie es in der Wissenschaftssprache heißt, katalytische Funktion. In Hinblick auf die insgesamt umgesetzte Energiemenge ist es jedoch unerheblich, welchen besonderen Weg man zum Endziel einschlägt. Häufig kann nämlich der Organismus je nach den Enzymen, die er einsetzt, den Weg über diese oder jene Metaboliten wählen. Die Begriffe exotherm und endotherm, die sich auf die Enthalpie beziehen und angeben, ob im Kalorimeter eine Erwärmung (exotherm) oder Abkühlung (endotherm) gemessen wird, müssen nunmehr unterschieden werden von neuen Begriffen, die im Zusammenhang der freien Energie eingeführt wurden und für den Biochemiker ungleich wichtiger sind: ●
exergonisch: ΔG > 0. Die Reaktion stellt nutzbare Energie zur Verfügung, die vom Organismus verwertet werden kann. Allerdings läuft auch eine grundsätzlich exergonische Reaktion keineswegs immer von selbst mit messbarer oder ausreichender Geschwindigkeit ab. Oftmals bedarf es eines Katalysators – in der Biologie ist das ein Enzym – um eine biologisch nutzbare Geschwindigkeit zu erreichen.
●
endergonisch: ΔG < 0. Energie muss investiert werden, damit die Reaktion abläuft.
●
thermodynamisches Gleichgewicht: ΔG = 0. Es kann keine arbeitsfähige Energie entnommen werden; das Potential ist erschöpft.
Es kann in Lebewesen dann, und nur dann, aus einem Prozess arbeitsfähige Energie G gewonnen werden, wenn im Gesamtsystem (Lebewesen plus seine Umwelt) die Entropie zunimmt oder doch nicht abnimmt. Dieser Aspekt, die Berücksichtigung der Umwelt, wird weiter unten nochmals aufgegriffen und näher erläutert. 1.5.3 Bei allen Reaktionen, die, einmal in Gang gesetzt, von selbst weiterlaufen und für Arbeitsleistungen ausgenutzt werden können, nimmt die freie Energie ab, die Entropie insgesamt zu Dies trifft für abgeschlossene Systeme zu, die der Physikochemiker der Einfachheit halber in seiner Gedankenwelt zugrunde legt. Die Formulierung „einmal in Gang gesetzt“ will darauf hinweisen, dass in der Biochemie die meisten Reaktionen nicht spontan in Gang kommen, weil der eine oder andere Reaktionspartner sich in einem trägen meta-
Es sei betont, dass die Gibbs‘sche Energie nicht unbedingt arbeiten muss. Bleibt sie arbeitslos, verwandelt sie sich in Wärme, kann in die Umgebung und letztlich in die Umwelt des Lebewesens abgeführt werden und wird für das Lebewesen zur „entwerteten Energie“. Wenn in den Mitochondrien die zuvor in einem Raum angehäuften Protonen an den ATPSynthesemaschinen vorbei in den Nachbarraum geschleust werden, wird aus dem Energiepotential des Protonengradienten Körperwärme (s. Kap. 2 und 10; Abb. 10.10). Am Ende hat die Entropie zugenommen. Die Gibbs‘sche Energie bestimmt also
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1 Energie und Leben
auch den Maximalwert, um den die Entropie steigen könnte. Jede quantitative Aussage über die freie Energie/Enthalpie, die wir in Lehrbüchern finden, setzt unausgesprochen voraus, dass das betrachtete System mit einem Wärmereservoir (Umgebung) verbunden ist, das eine feste Temperatur T aufprägt. Erweitern wir also unser Glucose-Oxidations-Modellsystem; es stehe mit einem Wärmereservoir der Umgebung in Verbindung. Diesem Reservoir kann bei gegebener Temperatur die Wärmemenge ΔH zugeführt oder entnommen werden. Für eine chemische Reaktion gilt in Anlehnung an (1.14) und unter Berücksichtigung der Umgebungstemperatur: −G/T = −H /T + SSystem = Sgesamt
(1.15)
Der Term -ΔH/T steht für die Übertragung von Wärme in das Reservoir oder aus dem Reservoir der Umwelt. Dem stellen wir entgegen, was unsere Biochemielehrbücher angeben. Gemäß ΔG = ΔH – TΔS wird für unsere Standardreaktion angegeben (Zahlen pro Mol, nach Atkins u. de Paula 2007): Für C6H12O6 (Glucose) + 6 O2 → 6 H2O + 6 CO2 gilt: – 2862 kJ (ΔG) = –2808 kJ (ΔH) – 54 kJ ( TΔS) S = 182,4 kJ; Standardtemperatur 25º C = 298,15 K (Kelvin); TΔS = 298,15 × 182,4 J = 54 kJ Die Beträge können Rätsel aufgeben, wenn, wie in Lehrbüchern der Biochemie üblich, nicht auf das Wärmereservoir der Umgebung hingewiesen wird. Die Vorzeichenwahl, die der Physiker eingeführt hat, sollte keine Probleme machen. ΔG wird negativ, weil es bei Bilanzierungen üblich ist, die Differenz zwischen dem Energiepotential der Endprodukte und dem Energiepotential der Ausgangsmaterialien zu bilden. Ein negatives Vorzeichen (exergonische Reaktion) gibt zugleich an, dass die freigesetzte Energie das System verlassen kann und zum Verrichten von Arbeit verfügbar ist. Beispielsweise könnte –ΔG zur Freude des Physikers ein Messinstrument betreiben oder zum Nutzen des Organismus in ATP überführt werden. (Zum „System“ zählt nur, was in der Formel aufgelistet ist.
Wenn ich die ATP-Synthese nicht in die Formel mit aufnehme, ist ATP nicht im System sondern gehört zur Umwelt!) Die erzeugte systeminterne Entropiezunahme TΔS spiegelt sich in unserem Modellfall vor allem in der chaotischen Verteilung der Endprodukte CO2 und H2O wider, und mit diesen unordentlich nach der unkalkulierbaren Willkür des Zufalls herumfliegenden Abfallprodukten lässt sich so leicht keine Maschine betreiben. Da diese Moleküle in der Formel enthalten sind, geht die auf diese Moleküle entfallende Entropiezunahme mit minus in die Bilanz ein. Wie steht es um ΔH? Wir stehen vor einem Dilemma. Betragsmäßig stimmt die simple Gleichung schon, widerspricht aber augenscheinlich allem, was zuvor gesagt wurde. Bei unserem Modellbeispiel hat die arbeitsfähige Energie einen höheren Betrag als die Enthalpie, die im Kalorimeter gemessen wurde. Aber diese Enthalpie sollte ja, so hatten wir behauptet, nie vollständig in Arbeit verwandelt werden können. G aber soll arbeitsfähige Energie sein; sie ist nun gar größer als H. Woher diese wunderbare Energievermehrung? Die Erklärung ist zu finden, wenn man weiß, dass die Gibbs‘sche Formel nicht für das abgeschlossene System konzipiert ist. Wir dürfen und müssen an das Wärmereservoir der Umgebung denken. Es kann also auch aus dem Wärmereservoir zusätzlich Wärme in Arbeit überführt werden nach Maßgabe der Entropieänderung des Systems. Bei einer Reaktion ohne Wärmezu- oder -abfuhr (ΔH = 0) aber ΔS > 0 kann der Betrag TΔS in Arbeit überführt werden, wobei die Energie in Form von Wärme aus dem Reservoir zufließt. (Freilich muss das Reservoir eine vorgegebene Temperatur haben, bei vereinbarten Standardbedingungen sind dies 25º C.) In mehreren Lehrbüchern der Biochemie wird die Gesamtheit von System plus angeschlossenem Wärmereservoir als Universum bezeichnet. Das hat den Vorteil, dass man sich nicht viel Gedanken machen muss, wo dieses Reservoir lokalisiert ist und endet. Was bedeuten nun aber „Umgebung“ bzw. „Universum“ in der Wirklichkeit einer Zelle? Mit einiger Wahrscheinlichkeit das Zellwasser! Die Wassermoleküle, und all die gelösten Moleküle, die sich dazwischen aufhalten, schwirren nun noch chaotischer herum als zuvor und strahlen einen
1.6 Lebewesen als offene Systeme und der Fähigkeit zur Selbstorganisation
Teil der Energie als Temperaturstrahlung an die weitere Umgebung ab. Alles, was in unserer Reaktionsformel nicht erscheint, ist Umgebung, auch das Zellwasser! Was für das mikroskopische intrazelluläre System des oxidativen Stoffwechsels gilt, gilt entsprechend für die ganze Zelle, gilt für das ganze Lebewesen. Lebende Systeme tauschen sich mit ihrer Umgebung aus.
1.5.4 Gekoppelte Reaktionen: ein herabsausendes Gewicht zieht ein anderes hoch; eine exergone Reaktion treibt eine endergone Im großen Ökosystem Erde ist die Energie-gewinnende, endergone Assimilation der Pflanzen gekoppelt mit der Energie-verbrauchenden, exergonen Dissimilation, wobei die Pflanze den in der Assimilation erwirtschafteten Gewinn mit den heterotrophen Organismen teilen muss. Was im Großen gilt, gilt im Kleinen. In jeder Zelle werden Energieliefernde mit Energie-verzehrenden Reaktionen gekoppelt. In der tierischen und menschlichen Zelle, die keine Chloroplasten enthalten, muss nun aber die Dissimilation, d. h. der Katabolismus, umgekehrt den Anabolismus unterhalten. In jeder lebenden Zelle werden unzählig viele Reaktionen so miteinander gekoppelt, dass ein exergoner Prozess einen endergonen antreibt. Freilich muss die Gesamtreaktion insgesamt exergonisch sein. Ein Perpetuum mobile hat auch die lebende Natur noch nicht erfunden. Ein Beispiel für eine gekoppelte Reaktion ist die ATP-Synthese in der Endstrecke der Glykolyse (Übertragung von Phosphat von Phosphoenolpyruvat PEP auf ADP, zugleich ein Beispiel einer „Substratstufen-Phosphorylierung“ Abb. 1.6 (s. auch Abb. 2.1). Auch gekoppelte Reaktionen sind im Organismus vielfach als fließende Systeme gestaltet, oder andersherum betrachtet: Es werden viele einzelne Durchfluss-Systeme miteinander vernetzt und zu komplexen Gesamtsystemen verbunden.
1.6 Lebewesen als offene Systeme und der Fähigkeit zur Selbstorganisation 1.6.1 Lebende Systeme sind, thermodynamisch betrachtet, „offene Systeme“, die in einem Stoff- und Energieaustausch mit ihrer Umwelt stehen. Ihr Leben erfordert Zufuhr energiereicher und Abfuhr energiearmer Stoffe Wir wiederholen: Für den 2. Hauptsatz gilt, dass die Entropie nur in der Gesamtbilanz zunehmen muss: ΔSgesamt = ΔSSystem + ΔSUmgebung > 0 (nimmt zu) Gibbs definiert ΔG so (Box 1.1), dass für jede spontane Änderung von G eine Zunahme der Gesamtentropie im „Universum“ (System + Umgebung) gewährleistet ist: G = HSystem − T SSystem = −T SUniversum
Ein Autor, der sich nicht festlegen lassen will, wo die Umgebung endet, wenn er die in die Umgebung abfließende Entropie quantifizieren soll, formuliert vorsichtshalber mit dem „Erfinder“ der Entropie, Rudolf Clausius, die Umgebung (+ System) sei das ganze Universum. Daher die so anmaßend klingende Aussage, er sei sich gewiss, die Entropie des Universums werde erhöht (wird in der heutigen Kosmologie so nicht mehr gesagt).Was netto im Austausch mit der Umwelt herauskommt, errechnet sich aus dem Vergleich von ΔG und ΔH. Im Einzelnen braucht uns nicht zu interessieren, was in und mit der Umgebung passiert. Betrachten wir lebende Systeme. Sie nehmen Energie auf und bilden komplexe Strukturen, anscheinend entgegen der Tendenz kleiner Bausteine, sich nach den Regeln des Zufalls gleichförmig im Raum zu verteilen. Es stellt sich folglich die Frage, wie das Entstehen geordneter Gestalt mit dem Entropiesatz verträglich ist. Dies ist auch heute noch nicht hinreichend geklärt, weil die mathematisch formulierten Theorien für Systeme nahe dem Gleichgewicht formuliert sind und komplexe lebende Systeme bislang noch nicht berechnet werden können. Ein durch Energie- und Stoffaustausch mit
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1 Energie und Leben
der Umwelt in Wechselwirkung stehender Organismus „operiert“ fernab von einem thermodynamischen Gleichgewicht, so dass gar nicht klar ist, inwieweit man die Begrifflichkeit der üblichen Thermodynamik überhaupt anwenden kann. Der amerikanische Biochemiker Albert Lehninger (1917–1986), Autor des berühmten und einflussreichen Lehrbuchs Principles of Biochemistry, formulierte explizit eine Auffassung, die plausibel klingt, heute weit verbreitet, aber noch nicht durch Berechnungen untermauert und durch quantitative Messungen bestätigt (oder widerlegt) ist: „living organisms preserve their internal order by taking from the surroundings free energy, in the form of nutrients or sunlight, and returning to their surroundings an equal amount of energy as heat and entropy.“ Unsere Abb. 1.3 illustriert diese Situation, ohne quantitative Angaben zu machen.
1.6.2 In seiner Embryonalentwicklung baut ein Organismus hoch geordnete Strukturen auf, erniedrigt also seine Entropie Die gegenwärtig vorherrschende Auffassung ist wie folgt: In einem lebenden System kann (wie bei der Bildung von Eiskristallen) die Entropie abnehmen und sich der Ordnungsgrad erhöhen, wenn in der Umgebung entsprechend Unordnung erzeugt wird. In der Embryonalentwicklung kann, auch wenn noch keine Nahrung aufgenommen wird, eine komplexe Ordnung auf Kosten hochgeordneter, makromolekularer und energiereicher Dottermaterialien aufgebaut werden. So hochkomplex eine Eizelle auch sein mag, der fertige Organismus besteht aus Millionen und Milliarden sehr verschiedener Zellen, von denen jede Einzelne kaum weniger komplex ist als die Eizelle und die sich darüber hinaus zu komplexen suprazellulären Mustern (Geweben, Organen) gruppieren und ordnen. Embryonale Entwicklung bedeutet Musterbildung, Differenzierung, geordnetes Wachstum, bedeutet Zunahme an hochkomplexer Ordnung, also Erniedrigung der Entropie. Der werdende Organismus muss dafür freie Gibbs‘sche Energie aus dem Potential seiner Speicherstoffe einsetzen und Entropie an die Umgebung abführen: als Wärme und in Form niedermolekularer Stoffwechselendprodukte (wie CO2, NH3 oder Harnstoff). die sich nicht gern einer Ordnung fügen und ziellos in der Umwelt her-
um vagabundieren (Abb. 1.3). Im Falle des Menschen übergibt das Kind im Mutterleib diese Abfallprodukte über die Plazenta der Mutter zur Entsorgung. Die in den Speichersubstanzen enthaltene potentiell arbeitsfähige Energie nimmt im sich entwickelnden Embryo unaufhaltsam ab. Daher muss sich das Lebewesen schließlich neue Nahrung beschaffen, um neue nutzbare Energie zu gewinnen. Nur anfänglich sind Lebewesen annähernd geschlossene Systeme; spätestens mit dem Schlüpfen oder Auskeimen des jungen Lebens beginnt die Auseinandersetzung mit der Umwelt.
1.6.3 Lebende Systeme müssen unablässig Energie verbrauchen, um gestörte Ordnungszustände zu erneuern und dem Tod zu entgehen Wenn wir unser ganzes Leben lang unaufhörlich arbeitsfähige Energie in Form von Nahrung aufnehmen müssen, so auch deshalb, weil die hochkomplexe Ordnung des Körpers nur durch laufende Regeneration aufrechterhalten werden kann. Proteine beispielsweise denaturieren im Laufe der Zeit, werden dadurch funktionsuntauglich und müssen durch neu synthetisierte ersetzt werden. UV-Strahlen und andere widrige Einflüsse der Umwelt beschädigen sogar die DNA unseres Erbgutes; es muss stets etwas repariert, Verbrauchtes durch Unverbrauchtes ersetzt werden. Im Lebewesen gleicht von der Außenwelt hereingeholte und im Inneren gespeicherte Energie spontane Entropiezunahmen aus. Lebende Systeme und ihre innere Ordnung werden in der Embryonalentwicklung auf der Basis der in der Eizelle (oder dem Pflanzensamen) gespeicherten Energie geschaffen und dann im weiteren Leben aufrechterhalten durch Stoffwechselprozesse, die primär von Nahrungsenergie (oder der Sonnenenergie) angetrieben sind und dem laufenden Zerfall von Ordnung die Erneuerung von Ordnung entgegensetzen. Sekundär sind die Ordnung-schaffenden und -erhaltenden Kräfte als chemische und elektrische Energie in Biomolekülen und elektrischen Spannungen gespeichert.
Nach dem Tod, wenn keine gebrauchsfähige Energie mehr von außen einfließt, kommt der Entropiesatz ohne Kompensation durch systemerhaltende Pro-
1.6 Lebewesen als offene Systeme und der Fähigkeit zur Selbstorganisation
zesse voll zur Geltung und die Ordnung des Gesamtsystems zerfällt (s. Exkurs unten). Auch wer nicht arbeitet muss deshalb, allein um das Leben aufrecht zu erhalten, ständig Energie aufbringen. Man spricht von einem Grundumsatz (s. Kap. 2). Da der innere Energievorrat beschränkt ist, muss man Nahrung zu sich nehmen. Lebende Systeme müssen unablässig von Energie durchströmt werden (Abb. 1.3). Dies gilt für große Ökosysteme ebenso wie für einzelne Lebewesen und einzelne Zellen. Da in tierischen Organismen Energie nur in Form organischer Substanz einströmen kann, sind sie auch von Materie durchströmt. Sie sind Systeme im Fließgleichgewicht (engl.: steady state). Ein sehr schönes und „einleuchtendes“ Modell für Lebewesen im Fließgleichgewicht ist eine brennende Kerze. Die Gestalt der Flamme bleibt (annähernd) konstant und die Flamme lebt, solange einerseits energiereiches Wachs nachfließt, andererseits Wärme und die Stoffwechselendprodukte CO2 und H2O entweichen können. Potentiell könnte die Flamme unsterblich sein. Dies gilt entsprechend für Lebewesen: Einzeller erneuern sich, solange sie Sonnenlicht oder energiereiche Substanzen importieren und im Zuge von Zellteilungen DNA-Schäden reparieren können. Sie fallen nur dem Tod anheim, wenn externe Energiequellen versiegen, oder sie in ihren eigenen Stoffwechselprodukten ersticken, oder Räuber ihrem Leben ein Ende setzen. Auch Mehrzeller fallen nicht alle notwendigerweise dem Tod anheim. Der Süßwasserpolyp Hydra ist potentiell unsterblich; er kann seinen Bestand an Molekülen und Zellen laufend erneuern. Weshalb „höhere“ Lebewesen sterblich sind, ist offenbar von der Evolution vorprogrammiert (darüber mehr in Müller u. Hassel 2006). 1.6.4 Die Besonderheiten der Fließgleichgewichte: es können sogar Oszillatoren hergestellt und Muster erzeugt werden Da Organismen immer irgendwo in irgendwelchen Zellkompartimenten Energie verfügbar haben und einsetzen müssen, werden viele Stoffwechselreaktionen als Fließsysteme eingerichtet: Es werden unab-
Abb. 1.4. Modell eines Fließgleichgewichts. Die Gleichgewichtslage (Höhe der Wasserspiegel) wird vom Verhältnis der ein- und ausströmenden Wassermengen, aber auch vom Öffnungsgrad des Hahns im Verbindungsrohr zwischen den beiden Tanks, bestimmt. Der Öffnungsgrad dieses Hahns symbolisiert die Aktivität eines Enzyms. Werden Zufuhr und Abfuhr gestoppt, stellt sich das „thermodynamische Gleichgewicht“ ein, das im vorliegenden Modell erreicht ist, wenn beide Flüssigkeitsspiegel gleich hoch sind. Auf diese thermodynamische Gleichgewichtslage nimmt das Enzym keinen Einfluss
lässig frische Reaktanden herangeführt und Produkte abgeführt. Bei konstanten Zu- und Abflüssen, werden sich Fließgleichgewichte einstellen (Abb. 1.4). Solche dynamischen Systeme haben ihre Besonderheiten: ●
Es kann ihnen beständig in effizienter Weise Energie zur Verrichtung von Arbeit entnommen werden.
●
Sie bleiben steuerbar. Ein Schiff, das im reglosen Wasser (im thermodynamischen Gleichgewicht) liegt, reagiert nicht auf das Steuer, wohl aber ein Schiff, das in einer Strömung liegt.
●
Die Lage eines Fließgleichgewichts ist nicht nur vom Zu- und Abfluss bestimmt, sondern auch vom Aktivitätszustand der beteiligten Enzyme.
Jeder Biologie- und Biochemiestudent lernt: Enzyme gestatten es, dass eine im Grunde exergonische, aber irgendwie gehemmte Reaktion auch tatsächlich ablaufen kann. Das Enzym erniedrigt die Aktivierungsenergie, die zur Überwindung des meta-
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1 Energie und Leben
Glucose
F-6-P
FDP
GAP
Verzögerungsglieder
Schwimmer
Glucose
Glucose
F-6-P
FDP
Glucose
F-6-P
GAP
F-6-P
Abb. 1.5. Modell eines oszillierenden Systems mit periodisch ansteigenden und abfallenden Flüssigkeitsspiegeln. Die Oszillationen der Flüssigkeitsspiegel werden durch Verschränkung einer Regelung mit positiver und einer Regelung mit negativer Rückkopplung bewirkt. Die positive Rückkopplung (Autokatalyse) ist dargestellt durch den Zufuhrregler des dritten, mit FDP gekenn-
FDP
Glucose
FDP
GAP
F-6-P
FDP
GAP
GAP
zeichneten Tanks. Beim Hochsteigen zieht der Schwimmer über ein starres Gestänge einen Schieber im Zufuhrrohr hoch und erweitert dadurch die Zufuhröffnung. Ein steigender Flüssigkeitsspiegel im dritten Tank erhöht folglich den Zufluss zu diesem Tank; dies ist eine positive Rückkopplung. Die negative Regelung (Produkthemmung) geschieht an der Zufuhr zum zweiten Tank
1.6 Lebewesen als offene Systeme und der Fähigkeit zur Selbstorganisation
stabilen Zustandes eines Reaktanden aufgebracht werden muss. Doch würden Enzyme die Gleichgewichtslage nicht beeinflussen. Dies gilt für Prozesse, die auf ein „thermodynamisches Gleichgewicht“ (engl.: thermodynamic equlibrium) und damit auf ein Minimum an freier Energie zulaufen, durchaus; doch ist das thermodynamische Gleichgewicht für abgeschlossene Systeme definiert. Die Aussage gilt jedoch nicht für Prozesse im Fließgleichgewicht, wenn beständig energiebeladenes Ausgangsmaterial zufließt und energieentladene Produkte abfließen. Das auswendig Gelernte darf nicht irreführen. Ein Modell für ein Fließgleichgewicht ist in Abb. 1.4 skizziert. Symbol der Enzymaktivität ist der Öffnungszustand des Hahns zwischen beiden Flüssigkeitsbehältern. Dieser Öffnungszustand beeinflusst sehr wohl die Lage der Flüssigkeitsspiegel in den miteinander verbundenen Behältern. Ein Fließgleichgewicht erreicht nie ganz das thermodynamische Gleichgewicht, das sich erst einstellen würde, wenn der Zufluss in das Behältersystem und ebenso der Abfluss geschlossen würden. Wenn nun der Öffnungszustand zwischen den Behältern, der Aktivitätszustand der Enzyme also, in besonderer Weise geregelt wird, kann es sein, dass die Flüssigkeitsspiegel (Fließgleichgewichtslagen) in den Behältern periodisch schwanken (Abb. 1.5). Die besondere Regelungsweise ist gegeben, wenn eine positive und eine negative Rückkopplung passend miteinander verschränkt werden. Positive Rückkopplung heißt in der Chemie und Biochemie Autokatalyse. Im Fließsystem →A→B→C→D→
produkthemmung) die Bildung von B wieder zurückdrängen. Bei passender Zeitverzögerung kann es zu periodischen Schwankungen in der Konzentration von B und C kommen. Abbildung. 1.5 will ein anschauliches Modell entwerfen. Systeme, die sich noch fernab vom Gleichgewicht befinden, können im Zuge der Energieumsetzungen räumliche und zeitliche Muster erzeugen. 1.6.5 Dem Chaos können Ordnung und Muster entwachsen Der Zweig der physikalischen Chemie, der sich mit Flüssen in offenen Systemen befasst, wird oft „irreversible Thermodynamik“ genannt. Physikochemiker, die sich hiermit befassen (z. B. Ilja Prigogine, Nobelpreis für Chemie 1977), wissen Interessantes (wenn auch oft nicht leicht Verständliches) zu berichten: Räumliche Muster sehen wir in der Embryonalentwicklung entstehen. Zeitliche Muster erfahren wir z. B. als periodische Oszillationen in der Konzentration von Reaktanden oder (Zwischen-) Produkten. Ein Beispiel finden wir bei den ersten Schritten der Glykolyse (Abb. 1.5). Die Glykolyse als solche wird in Kurzform im Kap. 2 vorgestellt. 1.6.6 Lebewesen sind zu Selbstorganisation und der Erzeugung und Verwertung von Information befähigt
fördere die Substanz C ihre eigene Produktion, beispielsweise indem sie das Enzym, das ihre Produktion katalysiert, in einen gesteigerten Aktivitätszustand versetzt. Je mehr Substanz C zugegen ist, desto effizienter wird weiteres B in C umgesetzt. Es käme zu einer explosiven Produktion von C, würden dem Anstieg keine Grenzen gesetzt. Eine solche Hemmung soll vom Produkt D ausgehen. Das Produkt D kann im Sinne einer negativen Rückkopplung (End-
Auch rein anorganisch-chemische Prozesse können im Reagenzglas Oszillationen in der Konzentration einzelner Substanzen, oder in der Petrischale räumliche Konzentrationsmuster hervorbringen, beispielsweise in Form sich ausbreitender konzentrischer Wellen (Beloussov-Zhabotinski-Reaktion; s. Literatur der Physikalischen Chemie). Die Frequenz der Oszillationen und die Formen der Muster sind jedoch in hohem Maße von den Anfangskonzentrationen der
(F-6-P). Während der Schwimmer im dritten Tank beim Hochsteigen die Zufuhr zum dritten Tank öffnet, verschließt er über ein bewegliches Hebelwerk die Zufuhr zum zweiten Tank. Eine elastische Feder sorgt für eine zeitliche Verzögerung. Werden die Parameter (Zufluss, Abfluss, Zeitverzögerung) richtig gewählt,
schwanken die Flüssigkeitspegel im zweiten und dritten Tank im Gegentakt. Das Modell symbolisiert einen realen Vorgang am Beginn der Glykolyse. F-6-P: Fructose-6-Phosphat; FDP: Fructose-1,6,-Diphosphat; GAP: Glycerinaldehyd-Phosphat. Die Perioden liegen hier im Bereich von Minuten
25
26
1 Energie und Leben
Moleküle, die sich rascher bewegen, treffen eher einen Reaktionspartner oder durchdringen rascher eine permeable Membran als langsame Moleküle. Diese Zusammenhänge drücken sich aus in der
P
Wärme kann die einzelne Reaktion, und letztlich alle Lebensprozesse, erheblich beschleunigen, weil erhöhte Temperatur auch beschleunigte Diffusion bedeutet.
PE
Bei gekoppelten Reaktionen geht meistens mehr Energie in Form von Wärme verloren, als es der 2. Hauptsatz der Thermodynamik verlangt. Warum dies so ist, wird am Beispiel der Phosphatübertragung von Phosphoenolpyruvat (PEP) auf ADP erläutert: Aus Gründen seiner chemischen Struktur kann das entstehende ATP nicht alle Energie aufnehmen, die beim Abkoppeln von Phosphat von PEP frei wird (Abb. 1.6). Die als überschüssige Wärme aus dem ATP-Gefäß überlaufende Energie muss nun freilich nicht nutzlos sein.
t
1.7.1 Wärme, bei vermeintlich schlechtem Wirkungsgrad produziert, muss nicht nutzlos sein
va
1.7 Wirkungsgrade und ihre ökonomischen und ökologischen Konsequenzen
P yru
beteiligten Reaktionspartner und von äußeren Rahmenbedingungen abhängig, und der Zauber kommt rasch zum Stillstand. Lebewesen haben jedoch durch zweckmäßige Verschränkung und Regelung ihrer inneren Prozesse und durch Zugriff auf gespeicherte genetische Information die Fähigkeit, sich in Prozessen der Selbstorganisation auf ein systemimmanent vorprogrammiertes Ziel hin zu entwickeln und dabei an Komplexität zu gewinnen. Sie gewinnen im Verlauf ihrer Entwicklung auch die Fähigkeit, Umweltgegebenheiten als Quelle weiterer Information („Reize“) zu nutzen und zweckmäßig, das heißt systemerhaltend, auf sich ändernde Umweltbedingen zu reagieren. Und sie haben die Fähigkeit, sich zu reproduzieren.
ATP AD P
Wärme
Abb. 1.6. Unvollständige Übertragung von Energie bei einer biochemischen Reaktion. Das Modell symbolisiert zugleich die Koppelung einer exergonen mit einer endergonen Reaktion. Bei der exergonen Reaktion wird ein Gefäß entleert, bei der endergonen ein Gefäß gefüllt. Die Kapazität des zweiten Gefäßes reicht nicht aus, alle Energie aufzufangen; der Rest geht als Wärme verloren. Exergone Reaktion (Beispiel): Dephosphorylierung von Phosphoenolpyruvat (PEP) zu Pyruvat. Endergone Reaktion: Phosphorylierung von ADP zu ATP
Reaktions-Geschwindigkeit-Temperatur-Regel, auch als van t‘Hoff ‘sche Regel bekannt. Misst man die Geschwindigkeit einer Reaktion bei einer Basistemperatur T0 und dann nochmals bei einer um 10º C höheren Temperatur T0+10, dann registriert man in der Regel bei der zweiten Messung eine um das 2- bis 3-fach höhere Geschwindigkeit als bei der Basistemperatur. V bei T0+10 = 2 bis 3 V bei T0 Wollte man den Wirkungsgrad von Arbeitsprozessen, z. B. die Umwandlung chemischer Energie in elektrische oder mechanische Energie, verbessern, müsste die Betriebstemperatur gesenkt werden, was jedoch auf Kosten der Arbeitsgeschwindigkeit ginge. Lebewesen, insbesondere homoiotherme (= isotherme) wie die warmblütigen Vögel und Säuger, verzichten auf höchsten Wirkungsgrad zugunsten von Geschwindigkeit. Es wird ein optimaler Kompromiss gesucht.
1.7 Wirkungsgrade und ihre ökonomischen und ökologischen Konsequenzen
Auf Erdoberfläche ankommende Strahlungsenergie angesetztals 100% Wärme 76% Wärme 22,8% Von Pflanzen absorbiert 24% Lebensunterhalt der Pflanze
Verzehrbare Nettoproduktion 1,2% Neu angesetzt als 100%
62% an Destruenten (Bakterien, Pilze)
Konsumenten II. Odnung Zoophagen 38% an tierische Konsumenten Wärme
21% Konsumenten I.Ordnung Phytophagen Lebensunterhalt der Tiere
38%
In die tierische Biomasse aufgenommene Energie 17%
In Biomasse enthalten noch 0.7% des PflanzenEnergieinhalts davon an Räuber (Zoophagen) 4%
davon an Destruenten 13%
Abb. 1.7. Energieflüsse in einem Ökosystem. Von der Sonnenenergie, die pro wiyh: m2 einer Seeoberfläche einstrahlt, finden sich nach der hier gezeigten Schätzung 1,2% in der verzehrbaren pflanzlichen Biomasse wieder. Der Rest der eingestrahlten Sonnenenergie ist schon vor der Absorption durch Pflanzen in Wärme verwandelt worden oder verwandelt sich in Wärme,
davon an Destruenten 3,3%
nachdem die Energie das Leben der Pflanze unterhalten hat. Beim Übergang zu den folgenden Trophiestufen geht wiederum der größte Teil der Energie verloren. Die angegebenen Schätzwerte gehen auf eine Untersuchung des Quellsees Silver Springs in Florida durch Odum (1957, Referenz in Altenkirch) zurück
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28
1 Energie und Leben
1.7.2 Verluste bei Energieumwandlungen und der Eigenbedarf der Organismen an Energie haben erhebliche ökologische und ökonomische Konsequenzen Ob nun eine Wärmebildung erwünscht ist oder als unvermeidbarer Verlust in Kauf genommen werden muss, sie beeinflusst ganz erheblich die Energiebilanz in Ökosystemen. Betrachten wir eine Nahrungskette (Abb. 1.7) bestehend aus Pflanzen, die Sonnenenergie einfangen, als Primärproduzenten,
Abb. 1.8. Ökopyramide im marinen Lebensraum. An ihrer Spitze schwimmt hier, die letzte Trophiestufe repräsentierend, ein Orca (Killerwal). Regeln: Biomasse und Artenvielfalt nehmen nach oben ab, die Körpergröße nimmt zu
Pflanzenfressern (Herbivoren oder Phytophagen), Carnivoren I. Ordnung (Räuber der Herbivoren), Carnivoren II. Ordnung (Räuber der Räuber) etc. Zunächst ist schon die Photosynthese erstaunlich unergiebig. Dies vor allem deshalb, weil die Pflanzen fast nur orangerotes Licht verwerten können (weshalb sie grün aussehen; s. Kap. 22; Box 22.2). Dann muss jedes Lebewesen erst einmal den größten Teil der gewonnenen Energie zum eigenen Lebensunterhalt einsetzen. Dabei wird – nach einem odysseeischen Weg durch vielerlei Arbeitsprozesse – schließlich die meiste Energie als Wärme in die
1.7 Wirkungsgrade und ihre ökonomischen und ökologischen Konsequenzen
Umwelt abgestrahlt. Nur ein kleiner Teil ist in den organischen Molekülen enthalten, die im Moment des Gefressenwerdens die nutzbare Masse der Pflanze oder eines Beutetieres ausmachen. Nur ein kleiner Teil kann folglich in die nächste Trophiestufe weiterwandern. Es gilt eine grobe Faustregel, dass maximal 1/10 der aufgenommenen Energie, im Regelfall eher nur 1/100 bis 1/1000, in der folgenden Trophiestufe nutzbar werden kann (Abb. 1.7). Aktuelle Berechnungen sind extrem schwierig, genaue Berechnungen unmöglich. Ein simples Gedankenexperiment macht dies einsichtig: Man wird im Alter von 20 Jahren oder erst im Alter von 80 Jahren vom Löwen gefressen. Als Greis hätte man vor diesem Zeitpunkt, da einem der Löwe verspeist, selber etwa viermal soviel Nahrung wie als Jugendlicher zu sich genommen, bestünde aber vielleicht nur noch aus Haut und Knochen. Wie soll man in einem komplexen ökologischen Netzwerk zu zuverlässigen Durchschnittswerten kommen? Gewiss ist jedenfalls, dass nur ein kleiner Bruchteil der Energie die nächste Trophiestufe erreicht.
Entsprechend ist die Gesamtbilanz des Energietransfers umso schlechter, je länger die Nahrungskette ist. Der Ökologe berichtet, dass die geringe Ausbeute kompensiert werden muss durch Masse (Ökopyramiden; Abb. 1.8). Je höher die Position eines Räubers in der Nahrungskette ist, desto mehr ist von der ursprünglich verfügbaren Primärproduktion schon verloren, bevor der Räuber überhaupt zugreifen kann. Dies muss der Räuber durch die indirekte Beanspruchung besonders umfangreicher Primärresourcen kompensieren. Es ist billiger, Graskarpfen zu züchten als Lachse oder Forellen. Auf einem Hektar Ackerfläche lässt sich etwa ●
achtmal soviel Sojaprotein und
●
doppelt soviel Milchprotein
●
wie Fleischprotein erzeugen.
Es ist ökonomisch und umweltschonend zugleich, Vegetarier zu sein.
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30
1 Energie und Leben
Zusammenfassung des Kapitels 1 Das Leben der Tiere wird ermöglicht durch Sonnenenergie, die in den Nahrungsmitteln als Innere Energie U gespeichert ist. Diese Energie U kann teilweise zu Arbeitsleistungen A herangezogen oder vollständig als Wärmeenergie Q freigesetzt werden. Wird sie (künstlich) vollständig als Wärmenergie freigesetzt, spricht der Physikochemiker von (Reaktions-)Enthalpie H, der Lebensmittelchemiker vom Kaloriengehalt der Nahrung. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik verlangt, dass diese innere Energie teilweise als entwertete, nicht arbeitsfähige Entropie S in Form einer statistischen Gleichverteilung von Wärme und niedermolekularen Stoffwechselendprodukten erscheinen muss. Bei Lebewesen als offenen Systemen fließt diese Entropie in die Umgebung ab. Dennoch kann im offenen System der Zelle im Einzelfall die arbeitsfähige Energie G (Gibbs’sche freie Energie oder freie Enthalpie) größer als die Enthalpie H sein, wenn bei einer chemischen Reaktion Wärmeenergie aus dem Reservoir der Umwelt aufgenommen wird. Dies ist bei der biologischen Oxidation der Glucose der Fall: C6H12O6 + 6 O2 → 6 H2O + 6 CO2 –2862 kJ (ΔG) = –2808 kJ (ΔH) – 54 kJ ( TΔS)
Im Organismus werden exergone Reaktionen, die arbeitsfähige Energie liefern (–ΔG), mit endergonen, in die Energie investiert werden muss (+ΔG), gekoppelt, und Fließgleichgewichte sorgen dafür, dass das Leben nicht vorschnell zum (thermodyamischen) Stillstand kommt. Insgesamt muss ein tierischer Organismus, um laufend Arbeitsleistungen erbringen und eine innere Ordnung aufrechterhalten zu können, immer wieder Energie in Form von Nahrung zu sich nehmen und mehr Entropie an die Umwelt abführen, als er Energievorräte ansammeln und komplexe Strukturen, deren Herstellung mit einer Erniedrigung der Entropie verbunden ist, regenerativ erneuern kann. Die Wirkungsgrade bei Arbeitsleistungen liegen im Regelfall bei 40–60%. Die mit dem Stoffwechselgeschehen unweigerlich gekoppelte Wärmeproduktion ist jedoch insoweit nicht nutzlos, als sie nach der RGT- (ReaktionsGeschwindigkeits-Temperatur-)Regel dazu beiträgt, das Stoffwechselgeschehen zu beschleunigen. In den Trophiestufen der Ökosysteme kann jeweils nur ein kleiner Teilbetrag der Energie in Form von Nahrung in die nächste Stufe weiterfließen, den größten Teil der aufgenommenen Energie verbraucht jedes Lebewesen selbst.
2
Energieumsetzung und Energiehaushalt Wie Lebewesen chemisch gespeicherte Energie freisetzen, um Arbeit zu leisten oder Wärme zu erzeugen
2.1 Grundlegende Prozesse des zentralen Energiestoffwechsels der Zelle 2.1.1 Alle energiereichen Nährstoffe werden in einen gemeinsamen katabolen Abbauweg eingespeist So vielgestaltig Lebewesen sind, so mannigfach ihre besonderen Fähigkeiten, die sie in der Evolution erworben haben, um ihre besondere Nische in Ökosystemen zu nutzen, so haben sie doch alle auch eine Fülle gleicher Probleme zu bewältigen. Beispielsweise müssen alle ihre ATP-Akkus nachladen. Zum Glück für die Studierenden, die für Prüfungen lernen müssen, benutzen fast alle Lebewesen die gleichen zentralen Stoffwechselwege, um Energie aus Molekülen herauszuholen und in die ATPAkkus zu leiten. Welche primäre Energiequelle auch in Angriff genommen wird, ob ●
Kohlenhydrate (Stärke, Glykogen, Zucker verschiedener Sorten),
●
Lipide (Triglyceride = Fette, Öle aus Speicherzellen, Phospholipide aus Zellmembranen),
●
Proteine, falls genug davon zur Verfügung stehen,
●
Nucleinsäuren, die freilich recht energiearm sind,
alle diese Materialien werden im Intermediärstoffwechsel so zerhackt und aufbereitet, dass die Bruchstücke in eine zentrale Kaskade des Energie freisetzenden Katabolismus eingeschleust werden können (Abb. 2.1). Die zentrale Kaskade des Katabolismus umfasst als Teilprozesse ●
die Glykolyse, die im freien Cytoplasma (Cytosol) vonstatten geht,
●
den Citratcyclus und die angeschlossene
●
Atmungskette, die beide in den Mitochondrien ablaufen.
Glykolyse und Citratcyclus verwandeln niedermolekulare Substanzen Schritt für Schritt in andere, noch kleinere Moleküle, wobei einigen Zwischenprodukten (Metaboliten) vor allem im Citratcyclus Elektronen entzogen werden, was in der Sprache der Chemie Oxidation heißt. Jeder Biologiestudent bekommt diese Prozesse in Vorlesungen vorgeführt und sie sind im Detail in allen Lehrbüchern der Biochemie und Zellphysiologie geschildert. Hier soll es darum gehen, einige zentrale Prinzipien deutlich zu machen. 2.1.2 Die wichtigsten Triebkräfte der zellulären Arbeit entstammen dem Elektronentransfer (Oxidation) Immer wieder treten in der zentralen katabolischen Kaskade Teilprozesse auf, bei denen bei äußerlicher Betrachtung einem Molekül Wasserstoffatome entzogen werden. Es muss betont werden: Wasserstoffatome H•, nicht Wasserstoffionen H+. Es kommt hier nicht so sehr auf den Wasserstoffkern, das Proton H+, an, sondern auf Bindungselektronen. Das wird schon deutlich, wenn wir einen Einzelvorgang betrachten. Der Wasserstoff, den ein Metabolit abliefert, wird von einem „Wasserstoffträger“ übernommen. Im Regelfall ist dies NAD+ (Nicotinamid − Adenin − Dinucleotid) ein chemischer Verwandter des Nucleotids Adenosin (Abb. 2.2). NAD+ übernimmt als elektronenhungriges Molekül von zwei Wasserstoffatomen (H•) die beiden Bindungselektronen, muss dabei aus chemischen Gründen auch einen Kern übernehmen, kann den anderen aber als Proton H+ entlassen:
32
2 Energieumsetzung und Energiehaushalt Abb. 2.1. Energie freisetzende Stoffwechselwege der eukaryontischen Zelle
Lipide Fette,Öle Phospholipide
Kohlenhydrate Stärke, Glykogen Zucker (Pentosen, Hexosen)
Proteine Peptide
Aminosäuren Fettsäuren
ß-Oxidation
Cytosol
Glucose
u.a.
Glykolyse Pyruvat
CO2 CO2 Acetyl-CoA
Mitochondrium
Citratcyclus
O2
CO2 CO2
Wasserstoff
Sauerstoff
Atmungskette
ATP
Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, das abdissoziierende Proton bleibe weiter mit NAD assoziiert und schreiben NAD:H2. (Das abdissoziierte Proton verschwindet in der riesigen Menge bereits im Wasser herumschwirrender Protonen. Wenn man Bilanzen ziehen will, holt man es gedanklich wieder herbei.) Wenn später in der Atmungskette die beiden von NAD übernommenen Elektronen bergab zum nächsten Molekül purzeln, fällt auch der zweite Kern als Proton H+ ab: NAD : H (+H+ ) → NAD+ + 2 e− + 2 H+ oder verkurzt : NAD : H2 → NAD+ + 2 e− + 2 H+
H2O
Die Elektronen werden dann bergab von einer Stufe zur anderen stürzen. Dasjenige Molekül, das die Elektronen verliert, wird oxidiert, das Molekül, auf das die Elektronen herunterspringen, wird reduziert. Faustregel: Wird ein Molekül oxidiert (wobei es Elektronen abgibt oder Sauerstoff aufnimmt), wird Energie frei; das oxidierte Produkt ist energieärmer. Wird ein Molekül reduziert (wobei es Wasserstoff mit seinen Elektronen oder Elektronen allein aufnimmt), nimmt es Energie auf; das reduzierte Produkt ist energiereicher. Energie ist hier im Sinne der arbeitsfähigen freien Energie (freie Enthalpie) G gemeint, die ja im Wesentlichen intramolekulare Bindungskräfte widerspiegelt.
2.1 Grundlegende Prozesse des zentralen Energiestoffwechsels der Zelle Abb. 2.2. Energie übertragende Moleküle: ATP und NAD. Sowohl ATP wie NAD besitzen eine Adenosingruppe. Der Nicotinamidring des NAD hat in reduzierter Form, d. h. nach Bindung eines Wasserstoffatoms und der Übernahme des Elektrons von einem weiteren Wasserstoffatom, ein gebundenes H mehr und eine Doppelbindung weniger als die oxidierte NAD+-Form
ATP
NH2
Esterbindung
N
N
Mg
N
H 2C O
O P O
P O
P O
O
O
O
Anhydridbindung
OH OH Adenin
O
O
O N
2+
Ribose Mono-
Adenosin
Di-
Tri-Phosphat
H N
NAD : H2
H N
O C NH2
+H
H
NH 2
NAD+
N
N
N
N
H2C O
Adenin
O P O
NH2
O O
P O
O
N
CH2
Nicotinamid
O
OH
OH OH
O C
N O
+
OH
Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid
Neben NAD+ benutzt die Zelle NADP+. ●
●
NAD+ benutzt die Zelle für katabole Zwecke, um über NAD:H2 Elektronen der Atmungskette zuzuführen; +
NADP benutzt sie für anabole Zwecke, um Substanzen zu reduzieren, d. h. um sie mit Wasserstoff (inklusive seinem Elektron) anzureichern und damit das Energiepotential der betreffenden Substanz zu vergrößern.
Vor allem in der botanischen Zellphysiologie werden NAD:H2 und NADP:H2 gerne als Reduktionsäqui-
valente zusammengefasst. In beiden Fällen kommt es zu einer Elektronenübertragung. 2.1.3 Auch beim Lösen und Verknüpfen von chemischen Bindungen wird Energie frei oder aufgenommen; der bedeutsamste Vorgang ist das Ab- und Ankoppeln von Phosphat Auch beim Lösen von kovalenten Bindungen oder der Herstellung neuer Bindungen kann freie Gibbs‘sche Energie von einem Molekül auf das
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34
2 Energieumsetzung und Energiehaushalt
andere übergehen. Es muss ein geeigneter Kopplungsmechanismus eingeschaltet sein. Der mit Abstand bedeutsamste Energie übertragende Kopplungsmechanismus ist die Phosphatübertragung. Phosphatübertragung, unter Biochemikern bevorzugt Phosphorylierung genannt, ist ein Vorgang, bei dem Energie teilweise freigesetzt, teilweise auf ein anderes Molekül (Substrat) aufgeladen wird. Spender der Phosphorylgruppe -PO32– ist in aller Regel ATP (Adenosintriphosphat Abb. 2.2). Diese Phosphoryl-Gruppe kann an Moleküle gekoppelt werden, die über eine Hydroxylgruppe (–OH) verfügen. Bedeutsame Empfänger sind Glucose, die damit in einer Zelle eingefangen und der Glykolyse zugeführt wird (s. unten Abschn. 2.2.1) und gewisse Aminosäuren in Proteinen (s. Abschn. 2.1.6). Enzyme, welche die Phosphorylgruppe von einem Donor auf einen Akzeptor übertragen, heißen allgemein Kinasen. Eine Hexokinase wird die Glykolyse einleiten, Proteinkinasen haben eine wichtige Funktion bei der Übermittlung eines Signals in eine Zelle hinein (Signaltransduktion, Kap. 12). Wenn auch in aller Regel ATP Spender (Donor) der Phosphorylgruppe ist, kommen gelegentlich auch andere Spender in Betracht. Schon bald in der Glykolyse begegnet uns Phosphoenolpyruvat als ein alternativer Donor, im Muskel wird es Kreatinphosphat sein. 2.1.4 ATP speichert und überträgt Energie mittels eines „angespannten“ Phosphates Im ATP (Abb. 2.2) herrschen ungewöhnliche Verhältnisse. Drei Phosphatgruppen direkt aneinandergehängt bedeutet eine enorme Ballung von negativer elektrischer Ladung, die von benachbarten Sauerstoff-Funktionen getragen werden. Wenn das dritte und letzte Phosphat an ADP angekoppelt wird, muss gewissermaßen eine Sprungfeder („energiereiche“ Anhydridbindung) zusammengedrückt werden. Das dritte Phosphat springt leicht wieder ab, wobei Energie frei wird. Das dritte Phosphat kann aber auch auf einen anderen Akzeptor überspringen (s. nachfolgender Abschn. 2.1.6).
2.1.5 Es gibt zwei Möglichkeiten der ATP-Synthese: gelegentliche Substratstufen-Phosphorylierung im Cytosol und protonengetriebene Massenproduktion in den ATP-Synthasen der Mitochondrien Das Laden eines ATP-Akkus, die Synthese von ATP aus Adenosindiphosphat (ADP) und Phosphat, kann über zwei ganz unterschiedliche Energie liefernde Mechanismen geschehen: 1. Substratstufen-Phosphorylierung (auch Substratketten-Phosphorylierung genannt). ADP kann gelegentlich von einem organischen Molekül, das selbst eine Phosphatgruppe trägt, dessen Phosphat übernehmen, falls ein ausreichendes Energiegefälle vorliegt. Eine Substratkettenphosphorylierung finden wir beispielsweise gegen Ende der Glykolyse, wenn PEP (Phosphoenolpyruvat) vorliegt (Abb. 2.3). Phosphat springt von PEP ab und hängt sich an ADP; es entsteht ATP. 2. Elektronentransport-Phosphorylierung über die protonengetriebene ATP-Synthase. In Chloroplasten und ebenso in Mitochondrien findet man in Membranen eingelassene, aus mehreren Proteinen zusammengebaute ATP-Synthesemaschinen. Sie sind Turbinen, die von einem Protonengradienten angetrieben werden. Damit solche Maschinen laufen können, müssen erst auf der einen Seite der Membran Protonen (H+) angereichert werden. Wirksam unterstützt wird ein solches Protonengefälle, wenn auf der anderen Seite der Membran Hydroxyl-Ionen (OH−) angehäuft werden. Dann wird der Diffusionsdruck der Protonen durch die elektrostatische Anziehung der gegensinnig geladenen H+- und OH−-Ionen verstärkt. Es ist die Aufgabe der Atmungskette, auf der einen Seite der inneren Mitochondrienmembran einen Überschuss an positiv geladenen Protonen zu generieren, auf der anderen Seite unter Verwendung von O2 + H2O negative Hydroxyl-Ionen anzureichern (Abb. 2.4b). In dieser Trennung von positiver (H+) und negativer Ladung (OH−) steckt Energie, die einen ATPase genannten Generator antreibt, der die leeren ADP-Akkus zu vollen ATP-Akkus auflädt. Dies wird in Abschn. 2.3.4 erläutert. Das gleiche Prinzip benutzt der Photosyntheseapparat der Chloroplasten. Die ATP-Synthasen von
2.1 Grundlegende Prozesse des zentralen Energiestoffwechsels der Zelle
Abb. 2.3. Glykolyse. Schwarze Kugeln repräsentieren Kohlenstoffatome, rote Kugeln Sauerstoffatome. Kugeln mit der Bezeichnung P bedeuten Phosphat. Weitere Erläuterungen im Haupttext
35
36
2 Energieumsetzung und Energiehaushalt Abb. 2.4. Citratcyclus, Atmungskette und ATP Produktion. (a) zeigt im oberen Teil eines Mitochondriums den Citratcyclus, (b) will im unteren Teil des Mitochondriums Grundzüge der Atmungskette und der ATPGewinnung deutlich machen. Oberer und unterer Teil des Mitochondriums sind hierbei nicht räumlich aufzufassen sondern, geben die Reihenfolge der Prozesse wieder
a
Glucose Glykolyse
2 Pyruvat
2 CO2 2
Mitochondrium
2
2
Oxalacetat
2 CO2
Acetyl-CoA
2
Citrat
Malat 2
2
Iso-Citrat
Fumarat 2
α-Ketoglutarat
2 CO2
2 Succinat 2 Succinyl-CoA
2 CO2
12 NAD :H2
Mitochondrium
O2 12 NAD:H2 +1 2 H2O 2 6O2
2
H
H
H NADHDehydrogenase
b
OH OH OH H OH OH 6O2 OH OH OH OH OH OH OH
OH OH OH OH OH OH OH OH OH
H H H H H H H H H
H H
24 OH
OH OH OH
H
24 H2O
H Cytochrom b Komplex
H
H
H
H H 24H
CytochromOxidase Komplex
Elektronentransportkette erzeugt pH-Differenz und elektrisches Potential H
OH
ATP-Synthase nutzt Potential
28-38 ATP
2.1 Grundlegende Prozesse des zentralen Energiestoffwechsels der Zelle
Chloroplasten und Mitochondrien dienen der ATPMassenproduktion. In der tierischen Zelle liefert die Atmungsketten-Phosphorylierung weit mehr ATP als die Substratstufenphosphorylierung.
2.1.6 Wenn Kinasen Phosphat von ATP auf andere Moleküle übertragen, übertragen sie auch negative elektrische Ladung und Energie Phosphat kann von ATP auf viele Moleküle überspringen, beispielsweise auf Proteine, wobei nur Aminosäuren, die eine Hydroxylgruppe (C–OH) tragen, Akzeptor sein können. Es sind dies die Aminosäuren Serin, Threonin oder Tyrosin. Auch eine Vielzahl niedermolekularer Verbindungen kann „phosphoryliert“, d. h. mit Phosphat beladen werden. Im Regelfall sind es wiederum C–OH–Gruppen, an die Phosphat angehängt wird. Beispiele: Glucose und der ringförmige Polyalkohol Inositol, der bei Signaltransduktionsprozessen (s. Kap. 12) eine Rolle spielt. ATP liefert mit der Übertragung der Phosphorylgruppe auch eine beträchtliche Portion an Energie (ΔG = − 50 KJ/mol). Die eine Hälfte dieser Energie verbraucht der Vorgang des Übertragens, die andere Hälfte erhält der Akzeptor, beispielsweise das Protein. Träger dieser Energie ist hauptsächlich die negative elektrische Ladung, welche die -PO32– Gruppe mit sich bringt. Proteine erhalten also mit der Phosphorylgruppe einen Überschuss an negativer elektrischer Ladung; sie werden anionisch! Negativ geladene Proteine sind u. a. von Bedeutung beim Aufbau eines stabilen elektrischen Membranpotentials (s. Kap. 14). Vor allem aber kann die negative Ladung eine Konformationsänderung im Protein auslösen und dieses dadurch aktivieren oder inaktivieren. Eine phosphorylierte Verbindung hat also im Regelfall eine höhere Gibbs‘sche Energie als eine phosphatfreie. Im Zuge einer mehrstufigen Phosphatübertragung wird aber die Gibbs‘sche freie Energie insgesamt abnehmen, und am Ende einer Phosphat-Übertragungskette steht eine Verbindung, die zwar im Vergleich zu ihrer nicht-phosphorylier-
ten Form reicher an Energie ist, im Vergleich zum ursprünglichen Phosphatdonor hingegen ärmer. Faustregel: Ankoppeln von Phosphat bedeutet Übergabe von Energie, Abkoppeln von Phosphat bedeutet Abgabe von Energie.
2.1.7 Der Energiestoffwechsel wird durch Entropievermehrung gefördert; sie bestimmt mit, wie viel Energie aus einem Prozess gewonnen werden kann Zwar ist Entropie, wie in Kap. 1 erläutert, die nicht arbeitsfähige Restenergie, wenn eine spontan und ohne Energiezufuhr ablaufende Reaktion das thermodynamische Gleichgewicht erreicht hat und das arbeitsfähige Potential der Ausgangsmaterialien erschöpft ist. Wohl jedoch ist die Entropiezunahme für die Reaktion förderlich gewesen und war jene Größe, welche die Richtung der Reaktion bestimmt hatte und wie viel an ΔG für Arbeitsleistungen gewonnen werden konnte. Katabolische Stoffwechselwege enden mit niedermolekularen Produkten, die als gasförmige Moleküle (CO2, NH3) oder polare wasserlösliche Produkte (inklusive H2O selbst) nahezu ungehindert einer Gleichverteilung entgegenstreben können. Es erhöht sich die Entropie (d. h. der Grad der Gleichverteilung), und weil eine Entropievermehrung irreversibel ist, ist die Gesamtreaktion selbst im Regelfall ebenfalls irreversibel. Die Glykolyse ist in dieser Hinsicht vergleichbar einer Flüssigkeitsleitung mit eingebautem Ventil, das einen Rückfluss verhindert, oder einer Wasserleitung mit geöffnetem Hahn. Wenn bei der Gluconeogenese (s. Kap. 5) trotzdem in einem rückläufigen Prozess aus Pyruvat wieder Glucose synthetisiert werden kann, so nur deshalb, weil stellenweise Nebenwege erschlossen, Pumpen eingebaut werden und Energie investiert wird.
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2 Energieumsetzung und Energiehaushalt
2.2 Start im Cytosol: die Glykolyse 2.2.1 Die vorbereitenden Schritte des Energiestoffwechsels verursachen erst einmal Kosten Glucose dringt von außen – in unserem Körper heißt dies vom Blut – kraft einer herrschenden Konzentrationsdifferenz in die Zelle ein. Spezielle Transportproteine GLUT (GLUcoseTransporter) ermöglichen den Glucosemolekülen den Durchtritt durch die Zellmembran. In der Zelle wird die Glucose sogleich phosphoryliert; dies kostet ATP. Mit Phosphat beladen, wird die Glucose nicht mehr von den Transportern akzeptiert und kann die Zelle nicht mehr verlassen. Mit der Überführung der Glucose in Glucosephosphat wird die Glucose dem Pool der Moleküle, die durch die Membran hindurchdiffundieren können, entzogen und es bleibt für die freie, diffusionsfähige Glucose ein Konzentrationsgradient über die Zellmembran erhalten. Die eingefangene Glucose wird jedoch nicht immer sofort verfeuert. In der Regel legt die tierische Zelle einen Glucosevorrat in Form von Glykogen, auch „tierische Stärke“ genannt, an. Glykogen wie Stärke sind lange Ketten aneinander gekoppelter Glucosemoleküle. Sie werden verkettet, um den osmotischen Wert der Zelle nicht zu überlasten. Lägen die Glucosemoleküle in gleicher Zahl frei gelöst vor, würde sich ein unerträglicher osmotischer Druck entfalten. Eine Leberzelle zöge soviel Wasser in sich ein, dass sie platzen würde. Soll nun Glucose zur Energiegewinnung herangezogen werden, muss die Kette wieder in die monomeren Glucoseeinheiten zerlegt werden; dies ist nicht energiebedürftig, es genügt zum Abtrennen der Monomere anorganisches Phosphat HPO42– (Phosphorolyse), das an der Glucose haften bleibt (Abb. 2.3). Wenn jedoch freie Glucose oder andere Zucker in die Glykolyse eingeschleust werden sollen, muss ATP investiert werden, um das Startprodukt Glucose-6-phosphat zu gewinnen. Auch andere Energiereserven liegen zumeist als hochmolekulare Materialien vor (Ausnahme: Kreatinphosphat und andere „Phosphagene“ in Muskelzellen). Höhermolekulare Energieträger müssen in
ihre Bausteine zerlegt werden, und die Bausteine müssen, oftmals unter ATP-Verbrauch, in solche Metabolite überführt werden, wie sie in der Glykolyse und dem Citratcyclus regulär auftreten. Fette (Triglycerine, auch Triglyceride genannt) werden erst in Glycerin und Fettsäuren zerlegt; die langen Fettsäuren werden im Zuge der β-Oxidation in Bruchstücke zerhackt, die je zwei Kohlenstoffatome enthalten. Diese kleinen Zweierstücke werden an ein Coenzym A angekoppelt: Wir erhalten Acetyl-CoA und das ist das Eingangselement des Citratcyclus (und zugleich elementarer Baustein für die Synthese vieler komplizierter Moleküle wie z. B. von Cholesterin, Gallensäuren und Steroidhormonen). Proteine werden erst in Aminosäuren zerlegt; ihnen muss dann die Aminogruppe entzogen werden (durch Desaminierung oder Transaminierung, s. Kap. 5); denn kein Metabolit der zentralen katabolischen Kaskade enthält Stickstoff. Beispielsweise wird die Aminosäure Alanin durch Transaminierung zum stickstofffreien Pyruvat (Brenztraubensäure). Pyruvat ist sehr willkommen; es ist eine Schlüsselsubstanz, die an der Gabelstelle mehrerer Stoffwechselwege steht. Wir können die Brenztraubensäure in vielen Synthesen verwenden, oder zu Milchsäure (Lactat) „vergären“ (Hefen auch zu Ethanol) oder „veratmen“, d. h. in den Citratcyclus schleusen. Bei all diesen vorbereitenden Schritten muss nicht selten innegehalten und erst ATP investiert werden, bevor es weitergeht. Mehr noch, die bei der hydrolytischen Spaltung der Makromoleküle in ihre monomeren Bausteine freiwerdende Energie geht meistens als Wärme verloren (die freilich hilft, die Reaktion zu beschleunigen; s. Abschn. 1.7).
2.2.2 Energiefreisetzung unter Sauerstoffarmut: Die Glykolyse macht aus „Blutzucker“ chemische Bindungsenergie frei und überträgt sie, unterstützt durch Entropievermehrung, auf ATP Als die Biochemie noch physiologische Chemie oder chemische Physiologie hieß, war die Glykolyse auch als Embden-Meyerhof-(Parnas)-Weg bekannt, nach den physiologischen Chemikern Gustav Embden (Frankfurt) und Otto Meyerhof (Kiel, Heidelberg, Paris, USA; Nobelpreis 1922).
2.2 Start im Cytosol: die Glykolyse
Es hat gute Gründe, wenn man in jedem Lehrbuch die Glykolyse (Abb. 2.3), zu der alle Zellen fähig sind, mit Glucose (Traubenzucker C6H12O6) starten lässt, wiewohl beispielsweise auch mit Fructose oder Glycerol (Glycerin) gestartet werden könnte. Glucose ist für viele Zellen der Hauptenergielieferant, für rote Blutkörperchen und Nervenzellen gar die einzige jederzeit zur Verfügung stehende und verwertbare Energiequelle. Ist der zelleigene Vorrat an Glykogen und freier Glucose erschöpft, wird Nachschub vom Blut an die Verbraucher herangeführt; daher ist Glucose als „Blutzucker“ medizinischer Abhandlungen bekannt. Glucose, eine Hexose, wird erst unter ATP-Verbrauch durch das Enzym Hexokinase phosphoryliert (Abb. 2.3) und kann nun nicht mehr über die porenartigen Glucose-Carrier die Zelle verlassen. Wird hingegen Glucose durch das Enzym Phosphorylase vom polymeren Glykogen abgespalten, wird beim Lösen der glykosidischen Bindung soviel Energiepotential verfügbar, dass ein im Zellwasser gelöstes sogenanntes anorganisches Phosphat (Pi, PhosphorsäureAnion HPO42– ) zur Phosphorylierung der Glucose herangezogen werden kann, und es wird ohne ATPInvestition dasselbe Ziel erreicht. Die Hexokinase liefert Glucose-6-Phosphat (G-6-P), die Phosphorylase hingegen Glucose-1-Phosphat, die jedoch leicht zu G-6-P umgestaltet werden kann. An G-6-P muss unter Einsatz eines ATP ein weiteres Phosphat angehängt werden. So, nun doppelt phosphoryliert und zu Fructose-1,6-Diphosphat umgeformt, kann die Hexose alsdann in zwei Triosen zerlegt werden; denn nur wenn zwei Phosphate ihre negativen elektrischen Ladungen ins Spiel bringen, entfaltet sich die Kraft, die ein Spalten der Hexose ermöglicht. Beide entstehenden Triosen sind mit je einer Phosphatgruppe behängt und ineinander umwandelbar. Als GAP (Glycerinaldehyd-Phosphat) beginnen beide Triosen den Embden-MeyerhofAbstieg hinab zum Pyruvat. Am Startplatz dieses Weges werden dem GAP Wasserstoffatome mitsamt ihren Bindungselektronen (2 H•) abgenommen. Die Bindungselektronen werden vorübergehend auf NAD+ geladen („Redoxäquivalente“, siehe nächster Abschnitt). Dieser Elektronenentzug, den das GAP erleidet, ist ein Oxidationsvorgang, bei dem Energie frei wird. Diese wird nun aber nicht als Wärme entlassen, sondern aufgefangen, indem an das GAP eine
weitere Phosphatgruppe angehängt wird. Dafür muss nun aber nicht mit ATP bezahlt werden; es kann im Wasser gelöstes „anorganisches Phosphat“ angekoppelt werden. Die Oxidationsenergie, die durch den Elektronenentzug verfügbar wird, ist groß genug, um das energiearme anorganische Phosphat auf die Stufe des organisch gebundenen Phosphates „hochzuhieven“ (endergonische Reaktion). Das entstehende Produkt DPG (1,3-Diphosphoglycerat) hat nun zwei Phosphatgruppen angehängt. Im weiteren Verlauf können diese beiden Phosphate auf ADP geladen werden. Dabei wird schlussendlich aus dem mehrfach erwähnten PEP (Phosphoenolpyruvat) das phosphatfreie Pyruvat (Brenztraubensäure). Für die Gesamtbilanz ist wichtig, dass wir aus einem Glucose-Molekül zwei Moleküle GAP erhalten. Es wird entsprechend zweimal der EmbdenMeyerhof-Weg durchlaufen. Wir erhalten zwei Diphosphoglycerat-Moleküle und gewinnen pro Glucose 2 × 2 ATP. Freilich, um Glucose in zwei Triosen zu zerreißen, hatten wir erst einmal ein bis zwei ATP investieren müssen. Maximaler Nettogewinn also: –2 ATP + 4 ATP = 2 ATP. Glucose + 2 NAD+ + 2 Pi + 2 ADP → 2 Pyruvat + 2 ATP + 2 NAD : H2 + 2 H+
Der Gewinn ist spärlich verglichen mit den 38 ATP, welche die Zelle bei der vollständigen Oxidation der Glucose gewinnen könnte. Die Glykolyse hat aber auch Vorteile: Sie ist schnell und läuft auch bei O2Mangel ab. Braucht man aber viel ATP, so muss man viel Nährstoff in die Glykolyse einfüttern, wenn man – etwa bei O2-Mangel – keine andere Wahl hat. Dabei gerät die Zelle rasch in ein Dilemma. Bald ist alles verfügbare NAD+ mit Wasserstoff und Elektronen beladen. Die Zelle muss unbeladenes NAD+ regenerieren. Eine einfache Lösung, welche die Natur gefunden hat, ist, den Wasserstoff und die Elektronen einfach vom NAD:H2 auf das (vorläufige) Endprodukt der Glykolyse, das Pyruvat, abzuladen. Es entsteht das Endprodukt Lactat (Milchsäure). Obwohl dies ein energieverzehrender (endergonischer) Reduktionsvorgang ist, ist die gesamte Glykolyse energieliefernd (exergonisch).
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2 Energieumsetzung und Energiehaushalt
Woher kommt letztlich die Energie, die im Nettogewinn von zwei ATP steckt? Es ist Bindungsenergie, die beim Spalten der Glucose anfällt, und der Gesamtprozess ist wieder gefördert durch eine Zunahme der Entropie. Eine wässrige MilchsäureLösung (mit Lactat und H+-Ionen) hat eine höhere Entropie als eine Glucoselösung.
anaerob: aerob:
ΔG
ΔΗ
TΔS
−208 −2903
−160 −2864
+ 48 kJ/mol + 39 kJ/mol
Gegenüber dem, was eine bloße Wärmebildung ΔH anzeigen würde, ist die zur ATP-Synthese potentiell verfügbar gewordene arbeitsfähige Energie ΔG durch Aufnahme von Wärmeenergie im Wert von 48 bzw. 39 kJ aus der Umgebung größer geworden. Diese Energieaufnahme aus dem Wärmereservoir der Umgebung wird durch Entropievermehrung TΔS in den ungeordnet herumschwirrenden Endprodukten und in der (hier nicht beachteten) weiteren Umgebung kompensiert. Zum Ausgleich der Bilanz müssen wir wieder „das Universum“ (faktisch in erster Instanz das Zellwasser und die darin gelösten Moleküle, s. Kap. 1) bemühen. Dieser Entropieexport wird in diesen Bilanzen nicht aufgeführt. Am Ende der Glykolyse sind von den verfügbaren 208 kJ/mol an Gibbs‘scher Energie ca. 2 × 30 kJ in den ATP-Akkus aufgefangen. Die verbleibenden 148 kJ sind als Wärme für künftige Aufgaben nicht mehr zu gebrauchen, beschleunigen aber momentan die Reaktion. Der Vergleich anaerob – aerob zeigt uns auch, dass wir mit der Glykolyse das Energiepotential längst nicht erschöpft haben.
2.2.3 Warum gerade die energiebedürftigen Muskeln oft auf die Glykolyse zurückgreifen In unserem Körper ist es vor allem der schnelle hellrote („weiße“) Skelettmuskel, der sich häufig den zwar ergiebigen doch langwierigen vollständigen oxidativen Abbau von Glucose erspart. Die Glykolyse läuft schneller. Auch ist es häufig mit der Sauerstoffversorgung eines Muskels schlecht bestellt, weil bei der Kontraktion des Muskels allzu oft die zuführenden Blutkapillaren zugepresst werden, und auch
sein interner, mittels Myoglobin angelegter O2-Vorrat (s. Kap. 8) nicht lange vorhält. Zum Beispiel der 100 m-Sprint. Das sofort verfügbare ATP (Konzentration im Muskel ca. 4 mmol/l Muskel) ist schon beim Hochschnellen und Beschleunigen an der Startlinie verbraucht. Unverzüglich greift der Muskel auf eine indirekte ATP-Reserve zurück. Die Reserve nennt sich Kreatinphosphat und war in Ruhezeiten angelegt worden. Kreatinphosphat + ADP → Kreatin + ATP
Der Vorrat hat eine Kapazität von 25 mmol/l Muskel. Das reicht für die ersten 4 bis 10 Sekunden. Nun muss neues ATP aus der Verwertung der in Form von Glykogen gespeicherten Glucose gewonnen werden. Weil nun aber die Sauerstoffzufuhr mangelhaft ist, herrscht funktionelle Anaerobiose (Anoxybiose). Nur die Glykolyse läuft zuverlässig. Das Endprodukt der Glykolyse im Muskel, das Lactat, ist freilich nicht verloren; es wird über die Blutbahn der Leber zugeführt, wo es zur Herstellung neuer Glucose verwendet werden kann (Gluconeogenese, s. Kap. 5, Leber). Bei vielen Wirbellosen, beispielsweise bei der Krake Octopus, erzeugt der Muskel statt Lactat Octopin, ein Produkt, das sich aus Pyruvat und Arginin ableitet (s. Abb. 27.4). Auch bei seiner Erzeugung wird NAD+ wiedergewonnen.
2.2.4 Warum manche Organismen in schlechter Luft stinken und dabei Energie gewinnen Manche Organismen holen mehr aus der sauerstofffreien Verwertung der Glucose heraus als unser Muskel, der es bei der Produktion von Lactat bewenden lässt. Die anaerobe, d. h. bei Abwesenheit von Sauerstoff ablaufende, Weiterverwertung von Pyruvat heißt generell Gärung. Will man darauf hinweisen, dass solche Prozesse mit der besonderen ökologischen Nische des Organismus korreliert sind, spricht man auch von biotopbedingter Anaerobiose (Anoxybiose). Allen solchen Prozessen ist gemeinsam, dass sie zur Regeneration von NAD+ aus NAD:H2 führen, also einen Akzeptor für Wasserstoffatome inklusive ihrer Elektronen finden müs-
2.3 Citratcyclus, Atmungskette und ATP-Großproduktion
sen. Der jeweilige Typ einer Gärung wird nach dem Endprodukt benannt, bei dem der gesamte Prozess zum Stillstand kommt. Häufig sind solche Endprodukte übel riechende organische Säuren wie Buttersäure (Butyrat). Wie in Abb. 27.4 gezeigt wird, kann dabei auch ein Teil des Citratcyclus benutzt werden, und zwar in der Gegenrichtung zum normalen, oxidativen Cyclus, der (in der üblichen Darstellung) im Uhrzeigersinn rotiert. Milchsäure- und Essiggärung werden für die Konservierung von Nahrungsmitteln ausgenutzt. Die im Sauerkraut und in der Silage tätigen Bakterien erzeugen solange Säure, bis der tiefe pH-Wert von 4–3 ihnen selbst und anderen Organismen ein gedeihliches Leben unmöglich macht. Wie Wiederkäuer mit ihren Symbionten kooperieren, wird in Kap. 4 beschrieben. Dass Darmsymbionten bisweilen Gase (CO2, H2, Methan, Methylamin, NH3, H2S) erzeugen, erleben wir mit zumeist unangenehmen Empfindungen. In frischer Luft mit viel Sauerstoff lebt es sich besser.
2.3 Citratcyclus, Atmungskette und ATP-Großproduktion 2.3.1 Der Citratcyclus läuft im Innenraum der Mitochondrien ab; er wirft als Abfallprodukt CO2 aus Im Regelfall einer ordentlich mit Sauerstoff versorgten Zelle wird das Pyruvat am Ende der Glykolyse nicht in Lactat umgesetzt, sondern in die Mitochondrien eingeschleust (Abb. 2.4a). Das in der Glykolyse mit Wasserstoff beladene NAD:H2 wird auf andere Weise zurück zu NAD+ oxidiert, und zwar wie folgt: NAD:H2 wird wie Pyruvat in die Mitochondrien eingespeist, dort der Atmungskette zugeführt und von seinen Elektronen entlastet. Mit den beiden Elektronen wird NAD aber auch viel Energie in die Atmungskette fließen lassen. Weiteres NAD:H2 aus den einstigen zwei Triosen, in die unsere Glucose zerfiel, zu gewinnen, ist Hauptziel des Citratcyclus. Da hierbei nur der Wasserstoff mit seinen Elektronen von Interesse ist, wird der ganze Kohlenstoff, der das Gerüst der Glucose
ausgemacht hatte, in den Mitochondrien in Form von CO2 herausgebrochen und als Abfallprodukt entlassen. Schon beim Einschleusen des Pyruvat in den inneren Mitochondrienraum greift ein Enzymkomplex ein, der beide Schritte bewältigen kann, sowohl das Abspalten von CO2 als auch das Übertragen von zwei Wasserstoffatomen auf NAD+. Der Biochemiker spricht von oxidativer Decarboxylierung. Der Enzymkomplex, der diese komplexe Doppelreaktion katalysiert, ist die Pyruvatdehydrogenase, ein Multienzymkomplex, der als Coenzyme die Vitamine B1 (Thiamin) und Liponsäure enthält. Von der Triose bzw. dem ebenfalls dreigliedrigen (d. h. aus drei C-Atomen bestehenden) Pyruvat bleibt ein zweigliedriges Molekül übrig: Essigsäure (Acetat). Wie oft im Stoffwechsel, wird das kleine, unhandliche Molekül zunächst an einen Träger gekoppelt: Coenzym A. Auch dieses Coenzym wird unter Verwendung eines Vitamins, der Pantothensäure, hergestellt. Ist nun der Essigsäure„rest“ Acetyl an das Coenzym A gekoppelt, erhalten wir das viel genannte Acetyl-CoA (aktivierte Essigsäure). Wenn wir Acetyl-CoA nicht benutzen wollen, um beispielsweise Fette herzustellen, sondern um ATP zu generieren, koppeln wir die Acetylgruppe an das viergliedrige Oxalacetat und erhalten Citrat. Damit haben wir Eingang gefunden in den kreisförmigen Teil des weiteren Abbauweges. Er heißt ●
Citronensäure-(Citrat-)Cyclus oder
●
Tricarbonsäure-(TCA-)Cyclus oder
●
Krebscyclus, nach dem deutsch-jüdischen Biochemiker und Nobelpreisträger Hans Adolf Krebs, der 1934 nach Großbritannien emigrierte.
In dem kreisförmigen Prozess (Abb. 2.4a) wird noch zweimal CO2 abgespalten, einmal vor α-Ketoglutarat, ein zweites Mal nach α-Ketoglutarat. Das anfänglich eingespeiste dreigliedrige Pyruvat ist jetzt in drei CO2 zerlegt und beiseite geräumt. Im restlichen Kreisverkehr wird das viergliedrige Lastgefährt wieder in seinen Ausgangszustand gebracht: Am Ende steht Oxalacetat leer da, um erneut mit Acetyl beladen werden zu können.
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2 Energieumsetzung und Energiehaushalt
2.3.2 In der Logik des Zellstoffwechsels atmen wir erst CO2 aus, bevor der Sauerstoff ins Spiel kommt Da pro Glucose zwei Pyruvat anfallen, muss die Citratrunde zweimal durchfahren werden, und wir haben als Abfall insgesamt 6 CO2 zu entsorgen. Der gesamte Kohlenstoff der Glucose wird als Abfall über Blutkreislauf und Lunge in die Luft geblasen. Alles erledigt? Bei der Gesamtbilanz dürfen wir natürlich nicht nur die Kohlenstoffatome zählen. Lassen wir erst einmal den Wasserstoff aus dem Spiel und betrachten den Sauerstoff: In der Glucose waren 6 O-Atome enthalten; mit 6 CO2 schleusen wir 12 O-Atome aus. Woher kommen weitere 6 OAtome? Wir denken an den Sauerstoff der Atemluft, doch gefehlt! Im Zuge des Citratcyclus werden in jeder Runde 3 Moleküle H2O in die Metaboliten eingebaut, bei einer Doppelrunde also 6 × H2O. Zwischenbilanz: 2 × [Pyruvat C3O3H6] + 6 H2O → 6 CO2 + 24 H mit Bindungselektronen. 2.3.3 Den Mitochondrien kommt es auf die Wasserstoffatome inklusive deren Elektronen an Mit der Addition von insgesamt 2 × 3 H2O werden die Metaboliten auch mit 2 × 6 Wasserstoffatomen angereichert, und dies ist ein höchst willkommener Effekt. Denn diese 12 Wasserstoffatome mit den ihnen zustehenden Elektronen können nun ebenso wie die 12 Wasserstoffatome, die von der Glucose stammen, aus den Metaboliten des Citratcyclus herausgesaugt und auf NAD+ (oder FAD+) geladen werden. Nachdem zur Bewältigung eines ganzen Glucosemoleküls eine Citratdoppelrunde durchlaufen ist, haben wir insgesamt 24 Wasserstoffatome mit 24 Elektronen zur Verfügung, die wir mittels NAD+ zur ATP-Erzeugung in die Atmungskette einspeisen. 2.3.4 Atmungskette: Von einer „Brennstoffzelle“ erzeugte Elektronenflüsse treiben ATP-Generatoren Die Atmungskette (Abb. 2.4b) ist ein Komplex von Coenzymen, die in genau definierter Ordnung in die
innere Mitochondrienmembran eingebettet sind und schrittweise Energie zum ATP-Generator dirigieren. 1. Schritt: Elektronentransfer. Im ersten Schritt der Atmungskette wird dem NAD:H2 der Wasserstoff entzogen und in Protonen (2H+) und Elektronen (2e−) gespalten. Insgesamt resultieren pro mol Glucose: 24 NAD : H2 → 24 NAD + 24 H+ + 24 e−
Die Elektronen werden in eine separate Bahn geschleust. Mit ihren konjugierten Doppelbindungen sind die Coenzyme in gewissem Umfang in der Lage, Elektronen fließen zu lassen, auch wenn sie keinen ausgesprochenen elektrischen Leiter darstellen. Das Leitvermögen beruht darauf, dass Elektronenpaare „von Hand zu Hand“ an den Nachbarn weitergegeben werden, oder anders betrachtet: Die Coenzyme sind so gestaffelt, dass die Elektronen wie Dachziegel beim Abdecken eines Hauses von Hand zu Hand zu dem am tiefsten stehenden Endglied der Kette fliegen. An den Beginn der Kette stellt sich oben auf das Dach NAD, das dem Substrat die Ziegel wegnimmt und dem ersten Glied der Atmungskette in die Hand drückt. Unten ans Ende der Kette stellt sich der Sauerstoff. Er fängt die Ziegel/Elektronen auf, um sie nun freilich nicht irgendwo abzuladen, sondern zu behalten. Eine einzelne Leberzelle enthält etwa 2000 Mitochondrien und jedes Mitochondrium etwa 5000 solcher Elektronentransportketten. Die drei wichtigsten Glieder dieser Kette sind ●
NADH-Q-Oxidoreduktase,
●
Q-Cytochrom-c-Oxidoreduktase und
●
die Cytochrom-c-Oxidase.
Der Buchstabe Q steht für Coenzym Q, auch Ubichinon genannt, ein kleines hydrophobes Molekül, das in der Membran diffundieren kann und die Elektronen zum nächsten Mitglied der Kette trägt (es ist die Hand in unserem Ziegelbild). Im Schlussglied, der Cytochrom-c-Oxidoreduktase ist Eisen der Elektronenüberträger: Fe3+ + e− Fe2+
2.3 Citratcyclus, Atmungskette und ATP-Großproduktion
2Fe2+ übertragen ihre Elektronen auf den Sauerstoff O2 und kehren zum Fe3+-Zustand zurück. Das Oxidationsmittel Sauerstoff hat die höchste Anziehungskraft auf Elektronen; es hat das höchste positive Reduktionspotential. 2. Schritt: elektrischer und pH-Gradient. Über die ganze Leiterbahn der Atmungskette fließen nur die Elektronen. Die zugehörigen Wasserstoffkerne (Protonen = H+-Ionen) werden auf die andere Seite der Membran gelenkt. Sie sammeln sich im Raum zwischen innerer und äußerer Mitochondrienmembran.
Auf der dem Innenraum (Matrix) zugekehrten Seite der inneren Mitochondrienmembran belädt sich jedes O2-Molekül mit zwei Elektronen und wird zum O22– -Radikal. 24 e− + 6 O2 → 6 O2− 2
Jedes Sauerstoffradikal reagiert mit zwei H2O, und es entstehen zwei OH−-Anionen. Um alle 24 Elektronen aufzufangen, brauchen wir entsprechend 6 mol O2. Am Ende, wenn ein Molekül Glucose verarbeitet ist, drängeln sich an der Innenseite der inneren Mitochondrienmembran 24 OH–-Ionen, auf der Außenseite 24 H+-Ionen (Abb. 2.4b). Merke: Die gesamte in der Glucose gespeicherte, arbeitsfähige Energie ist transformiert in eine Konzentrationsdifferenz an Protonen (pH-Differenz) zwischen Innen- und Außenseite der inneren Mitochondrienmembran und in eine gleichgerichtete elektrische Potentialdifferenz, die aus der elektrostatischen Anziehungskraft zwischen den räumlich getrennten H+- und OH–-Ionen resultiert. Der pH-Unterschied beträgt ca. 0,5 pH-Einheiten, also eine halbe Zehnerpotenz; das elektrische Membranpotential (= die elektrische Spannung) hat den beträchtlichen Wert von 170 mV. Beide zusammen ergeben ein elektrochemisches Potential, auch protonenmotorische Kraft genannt, von 224 mV. Zum Vergleich: die elektrische Spannung zwischen Zellinnerem und Zelläußerem beträgt bei einer typischen Nervenzelle 90 mV.
3. Schritt: ATP-Synthese. Wenn wir jetzt durch die innere Mitochondrienmembran eine Passage für Protonen öffnen, werden die Protonen, ihrem Konzentrationsgefälle und der Anziehungskraft der Hydroxy-Ionen folgend, mit Macht in den Mitochondrieninnenraum zurückströmen. Es kommt zu einer Massentrauung und aus 24 energiegeladenen H+ und 24 OH– werden 24 abgesättigte H2O-Ehepaare.
Den starken Trieb zur Vereinigung können wir in zweierlei Weise nutzbar machen. Im Regelfall werden wir den kräftigen Strom der Protonen durch ATP-Generatoren (ATP-Synthase, s. Abb. 3.1) treiben; dabei können wir pro mol Glucose 38 ATPAkkus laden. Im Endeffekt arbeitet ein Mitochondrium nach dem Prinzip einer Brennstoffzelle, die freilich nicht elektrischen Strom über eine Leitung liefert, sondern ATP-Akkus auflädt. Wenn wir die ATP-Synthase mit einem Generator vergleichen, so ist dies fürs Erste symbolisch gemeint. Es verblüfft andererseits, dass dieser aus zahlreichen Bausteinen zusammengesetzte Multienzymkomplex aus einem sich drehenden Rotor und einem stationären, in der inneren Mitochondrienmembran verankerten Stator besteht (Abb. 3.1). Dieser Drehmotor erfüllt Arbeit, indem er Phosphat an ADP koppelt. Die Synthase kann pro 3 Protonen, die diesen Generator durchlaufen, 1 ATP aufladen. Pro Sekunde kann ein einzelner Synthase-Generator mehr als 100 mit Energie gefüllte ATP herausgeben. Das von der Synthase gelieferte ATP wird mittels eines speziellen Transporters aus dem Mitochondrien-Innenraum durch die Membranen des Mitochondriums in das Cytosol der ATP-bedürftigen Zelle transportiert. Treibende Kraft ist auch hier die Protonendifferenz; die in dieser Differenz steckende arbeitsfähige Energie muss zu ca. ¼ für den ATP-Export geopfert werden. Im Gegenzug zum ATP-Export wird ADP in den Mitochondrienraum importiert, wo es von der Synthase mit neuem Phosphat beladen werden kann.
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2 Energieumsetzung und Energiehaushalt
2.3.5 Aus der Bilanz errechnet sich bezüglich des ATPGewinns ein Wirkungsgrad von 40% Bevor wir weitere Energielieferanten wie Fette ins Spiel bringen, machen wir erst einmal Gesamtbilanz für die veratmete Glucose. Was links vom Pfeil steht, haben wir in das Kraftwerk eingespeist, was rechts vom Pfeil steht, kommt aus Schornstein oder Abflussleitung heraus:
der neugeborene Säugling mitbekommt, damit er nicht gleich erfriert, noch bevor sich jemand um ihn kümmert (s. Abb. 10.9). Dieses braune Fettgewebe unterscheidet sich vom gewöhnlichen, weißen Fettgewebe durch einen sehr hohen Gehalt an Mitochondrien und exprimiert ein besonderes Entkopplungsprotein (Abschn. 10.5.6).
2.4 Die verschiedenen Energiespeicher und ihr besonderer Nutzen
C6 H12 O6 + 18 H2 O + 6 O2 → 6 CO2 + 24 H2 O
Wir kürzen links und rechts um 12 H2O und erhalten die in Kap. 1 eingeführte Summenformel. Da wir aber die Glucose nicht echt verbrennen, dürfen wir linke und rechte Seite ergänzen mit 38 ADP + 38 Pi → 38 ATP.
Wie viel „ΔG“ dabei ins ATP geflossen ist, entnehmen wir den Lehrbüchern der Biochemie. In Abb. 1.1 sind die Werte eingetragen. Ein Mol Glucose enthält 2900 kJ; 38 Mol ATP enthalten 1140 kJ. Der Wirkungsgrad wäre demnach 39% unter Standardbedingungen und beträgt bis zu 60% unter physiologischen Bedingungen. Unter physiologischen Bedingungen sind die Ausgangsmaterialien weiter vom Gleichgewichtszustand mit den Endprodukten entfernt und damit ist das chemische Potential ΔG höher. Die restlichen 40% ergeben Wärme. Der Wirkungsgrad des Mitochondriums ist damit etwas besser als der eines Benzinmotors.
2.3.6 Mitochondrien können auch vollständig zu Heizungen umfunktioniert werden In besonderen Fällen können wir Entkoppelungsproteine in die innere Mitochondrienmembran einbauen, die als H+-Kanäle den Protonen den Durchtritt gestatten, ohne von ihnen eine Arbeitsleistung abzuverlangen. Ein solcher Entkoppler ist das Schilddrüsenhormon Thyroxin. Ist der ATPGenerator abgekoppelt, wird die gesamte innere Energie in Wärme verwandelt. Dies ist im braunen Fettgewebe der Fall, das Winterschläfer benutzen, um sich im Bedarfsfall aufzuheizen, das aber auch
2.4.1 Kohlenhydrate versus Fette, beide Energiequellen haben Vor- und Nachteile Kohlenhydrate, namentlich Glykogen, sind insofern eine günstige Energiereserve, als diese Reserve rasch mobilisiert werden kann. Andererseits sind Kohlenhydrate recht gewichtig. Ihr spezifisches Gewicht ist hoch, und bezogen auf Energie pro Kilogramm mitzuschleppendem Gewicht sind die leichteren Fette und Öle allemal vorteilhafter. Vor- und Nachteile von Kohlenhydraten und Fetten: Fett Vorteile ●
Fett ist leicht, für innere Speicherung günstig, besonders für Schwimmer und Flieger.
●
Die Lipidtröpfchen in den Speicherzellen belasten deren osmotischen Wert kaum. Da Triglycerine auch noch chemisch weitgehend inert sind, kann Fett in großen Mengen gespeichert werden.
●
Fettverbrennung liefert viel Oxidationswasser: 1 g Fett liefert 1 g Wasser, 1 kg Fett folglich 1 l H2O.
●
Fettgewebe ist zugleich ein vorzüglicher Isolator gegen Wärmeverlust.
Nachteile ●
Spezielle Fettspeicher erforderlich,
●
Langsame Mobilisierung,
2.4 Die verschiedenen Energiespeicher und ihr besonderer Nutzen ●
Gefahr von Ketosen (s. Kap. 5, Diabetes mellitus).
Kohlenhydrate Nachteile ●
Schwer; das hohe Gewicht liegt u. a. daran, dass 1 g Kohlenhydrat 5 g Ballast-H2O bindet.
●
Vögel und fliegende Insekten verfeuern ihren kleinen Vorrat an Kohlenhydraten in der Startphase;
●
liefern bei ihrer Oxidation, bezogen aufs Gewicht, weniger H2O als Fette.
C57 H104 O6 + 80 O2 → 57 CO2 + 52 H2 O
Vorteile ●
In allen Zellen als Glykogen speicherbar,
●
rasch zu mobilisieren.
2.4.2 Der respiratorische Quotient liefert Indizien, ob man gerade Kohlenhydrate oder Fett verbrennt Mancher Zoologe will wissen, ob z. B. Fledermäuse, die sich im Winterschlaf auf ca. 4°C warm halten, oder am Ende des Winterschlafes auf 38°C aufheizen, Glykogen der Leber verbrennen oder Fett des braunen Fettgewebes. Auch ein Langstreckenläufer möchte gerne wissen, ob er sich einen kleinen Fettvorrat anlegen soll. Es gibt eine Messmethode, die ein Indiz liefert, welche Energiequelle in Anspruch genommen wird, der respiratorische Quotient RQ. RQ =
lässt erwarten, dass wir – bezogen auf mol – gleich viel Sauerstoff aufnehmen wie wir Kohlendioxid ausatmen. Trifft dies auch für das Volumen zu? Ja; denn 1 mol eines Gases hat jeweils 6 × 123 Moleküle (Avogadro- oder Loschmidtsche Zahl), die unter Standardbedingungen ein Volumen von 22,415 l einnehmen. Wenn wir also 180 g Glucose „verbrennen“, atmen wir 134,5 l CO2 aus und 134,5 l O2 ein. Der RQ ist 1,0. Das muss nicht bei jedem Energieträger so sein. Es kommt darauf an, wie viel Sauerstoffatome im Molekül des Energielieferanten schon enthalten sind. Als Referenz nehmen wir die Kohlenstoffatome. Fett, im typischen Fall:
Liter an ausgeatmetem CO2 Liter an eingeatmetem O2
Spontan mutmaßen wir wohl alle, dass die Menge des ausgeatmeten Luftvolumens gleich ist der Menge des eingeatmeten Luftvolumens, nur dass die eingeatmete Luft eben mehr O2 enthält, die ausgeatmete dagegen mehr CO2. Wenn wir Glucose veratmen, und generell Kohlenhydrate, trifft dies auch zu. Unsere wohlbekannte Standardformel 1 mol C6 H12 O6 + 6 mol O2 → 6 mol CO2 + 6 mol H2 O
Das Verhältnis H:C ist etwa gleich wie in Kohlenhydraten, aber Fette enthalten viel weniger Sauerstoffatome. Es muss entsprechend vermehrt Sauerstoff eingeatmet werden (Tabelle 2.1). Proteine werden in der Regel sparsam verbrannt. Ihr Anteil kann anhand des ausgeschiedenen Stickstoffs ermittelt werden. Ein RQ von 0,7 ist ein relativ zuverlässiges Indiz für Fettverwertung. Übrigens: Pflanzen haben im Regelfall einen RQ > 1. Warum ist das so? 2.4.3 Fette sind auch gute Wasserreserven Nicht, dass Fette Wasser in sich schlössen, gewiss nicht; denn dies widerspräche ganz ihrer hydrophoben (wasserscheuen) Natur. Bei ihrer,Verbrennung‘ im oxidativen Stoffwechsel entsteht jedoch in den Mitochondrien relativ viel, Oxidationswasser‘. DieTabelle 2.1. O2-Verbrauch und CO2-Abgabe pro mol eingesetzter Substanz bei biologischer Oxidation der Substanz Stoffklasse
Kohlenhydrate (z. B. Glucose) Fette (Durchschnitt) Protein (Modell Polyprolin)
O2Aufnahme in mol
CO2Abgabe in mol
RQ
6
6
1,0
80 5
57 5,5
0,7 0,9
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46
2 Energieumsetzung und Energiehaushalt
ses Wasser gelangt aus den Mitochondrien und wird schließlich in den Blutkreislauf eingespeist. Auch wenn dieses Wasser Abfall ist und energiearm, mancher lechzt danach. Pro mol Kohlenhydrat entstehen 12 mol H2O; bei Fett sind es 52 mol H2O. Auf Masse bezogen liefert 1 kg Fett 1 l Wasser. Der Fetthöcker der Kamele ist außer Energiespeicher indirekt auch Wasserspeicher (wenn auch seine Ergiebigkeit gering ist und oft überschätzt worden ist). Zugvögel, die mit Gewicht und Wasser sparsam umgehen müssen, legen sich vor der langen Reise einen Fettvorrat an.
Respirations-Kalorimeter
O2
CO2 + H2 O Absorber Eis
2.5 Energieumsätze Energieumsätze in Lebewesen können gewaltig sein und werden indirekt durch Kalorimetrie und/oder den Sauerstoffverbrauch gemessen. 2.5.1 Wer gern im Kühlschrank (Kalorimeter) sitzt, kann seinen Energieumsatz mit dem Thermometer oder Messzylinder messen Der französische Gelehrte und Mitbegründer der neuzeitlichen Chemie, Antoine Laurent Lavoisier (1743–1794), erfand eine sinnreiche, genial einfache Einrichtung, die Energieumsetzung eines Lebewesens zu messen: das Kalorimeter. Wenn ein Organismus nicht allzu viel Energie in die Synthese langlebiger energiereicher Makromoleküle und die Erzeugung von Nachkommen investiert, wird der größte Teil der umgesetzten Energie eher früher als später als Wärme frei. Bei der direkten Kalorimetrie wird das Versuchstier in einen thermisch isolierten Kasten gesteckt und seine Wärmeproduktion gemessen (Abb. 2.5). Die direkte Kalorimetrie nach Lavoisier hat allerdings den Nachteil, dass die Temperatur im Aufenthaltsraum nahe ungemütlichen 0°C liegt, und da ist von gleichwarmen Tieren schon beträchtlich viel aktive Wärmeproduktion verlangt. Wechselwarme Tiere gar verweigern die Mitarbeit und verfallen in Kältestarre. Es sind daher verschiedene Varianten der Kalorimetrie entwickelt worden (z. B. Abtransport der Wärme durch die Belüftung). In modernen Varianten des Kalorimeters werden nicht nur die Wärmeproduktion, sondern darüber
O2
Schmelzwasser
Abb. 2.5. Respirationskalorimeter. Ein Kalorimeter nach dem Prinzip von Lavoisier ist mit einer Zusatzeinrichtung zur Bestimmung des respiratorischen Quotienten ausgerüstet. Die Wärmeproduktion des Tieres wird über die Menge des Schmelzwassers bestimmt. Der äußere Eis-Wasser-Mantel schirmt Wärmezufuhr von außen ab. In der Praxis werden die Mengen des in der ausströmenden Atemluft enthaltenen Wasserdampfes und des CO2 durch zwei getrennte, hintereinander geschaltete Systeme aufgefangen (Wasserdampf beispielsweise mit konzentrierter Schwefelsäure, CO2 mit Lagen von trockenem NaOH und CaCO3 oder mit Barytwasser)
hinaus in der sogenannten indirekten Kalorimetrie der Sauerstoffverbrauch und die Kohlendioxidproduktion des Versuchstieres gemessen. Eine solche Einrichtung heißt dann Respirationskalorimeter. Mehr darüber im nächsten Abschnitt. Jetzt nur noch ein Hinweis: Die Respirationskalorimetrie, wie sie in Abb. 2.5 gezeigt wird, ist nicht bloß eine Methode des technischen Museums. Manche Arbeits- und Sportmediziner benutzen große Kammern mit ausgeklügelter Technik, in denen Menschen freiwillig Versuchskaninchen spielen. Der besondere Trick des Herrn Lavoisier war der doppelte Eismantel, mit dem er den Kasten umhüllte. Dieser sorgte für gleichbleibende Temperatur im inneren Käfig; denn die von außen einwirkende und die vom Tier erzeugte Wärme wurde getrennt vom äußeren bzw. inneren Eismantel abgefangen. Solange Eis schmilzt, bleibt das Schmelzwasser unverändert auf 0°C! Äußere Wärme dringt nicht zum inneren Mantel vor. Gleichzeitig gab die Menge des im inneren Mantel geschmolzenen Eises ein hinreichend genaues Maß für die vom Tier abgegebene Wärme
2.5 Energieumsätze
2.5.2 Was immer zur Energiegewinnung herangezogen wird, der Sauerstoffverbrauch kann ein gutes Maß für den Energieumsatz sein Will man den Energieumsatz bei beliebigen Temperaturen, beliebigem O2-Angebot, verschiedenen sonstigen Rahmenbedingungen und bei verschiedenen Aktivitäten messen, weicht man auf die Messung des Sauerstoffverbrauchs aus. Natürlich gibt der Sauerstoffverbrauch nur dann ein Maß für den Energieumsatz, wenn man aerob lebt. Man hat den „physiologischen Brennwert“ der üblichen Energielieferanten ermittelt. Dieser Brennwert ist nicht auf Mol bezogen (wer wüsste schon, wie viel Mol ein Gramm Butter hat?) und berücksichtigt den physiologischen Wirkungsgrad. Bezogen auf Gramm sind Fette ergiebiger als Kohlenhydrate. Dennoch, da Fette eben intramolekular wenig Sauerstoff enthalten, muss mehr Sauerstoff eingeatmet werden als bei Kohlenhydraten. Der Zufall der durchschnittlichen molekularen Fettstruktur bringt es nun mit sich, dass für den Tagesbedarf an Energie nahezu gleich viel Sauerstoff benötigt wird, ob nun Kohlenhydrate, Fette oder Proteine in Anspruch genommen werden (Tabelle 2.2). Dass bei Fettverwertung weniger Kohlendioxid ausgeatmet werden muss, ist für die Energiegewinnung nicht von Belang. In tierphysiologischen wie in humanmedizinischen Untersuchungen nimmt man daher den Sauerstoffverbrauch als Maß des Energieumsatzes. Eine einfache Messanordnung, die auch in der Schule nachvollzogen werden könnte, ist in Abb. 2.6 vorgestellt. Solche Messungen erbrachten manch interessanten Befund.
wandernder Tropfen
O2
CO
zeigt O2 Verbrauch an
2
a
CO 2 -Absorber (NaOH-Plätzchen)
Gasanalysator und Zuflussregler
Inspirationsschlauch
Expirationsschlauch
b
Atemhaube
Abb. 2.6a, b. Einfaches Respirometer zur Bestimmung des respiratorischen Quotienten. Da vom Tier O2 der Luft entnommen, das ausgeatmete CO2 aber absorbiert wird, fällt in der Flasche der Luftdruck. Dieses Abfallen des Luftdrucks wird kompensiert durch die nachrückende Luftsäule im Glasrohr. Sind die Luftvolumina in der Flasche und im Glasrohr bekannt, zeigt der im Glasrohr nachrückende Öltropfen den O2 Verbrauch quantitativ an. Der CO2 Absorber gewinnt an Gewicht, und zeigt die CO2Produktion an. Zur Berechnung der absoluten Werte, muss die Zeit mit einkalkuliert werden. Zweckmäßig wäre auch ein Exsikkator, der mit einem Schenkelrohr versehen ist, in dem eine Flüssigkeitssäule den Luftdruckabfall anzeigt (a). Respirometer zur Messung des Ruhe-Energieumsatzes anhand des Sauerstoffverbrauchs und zur Messung des respiratorischen Quotienten (b)
Tabelle 2.2. Nährstoffverbrauch und Sauerstoffverbrauch, Beispiel Mensch Nährstoffgruppe
mittlerer Nährwert in kJ/g
O2-Verbrauch in ml/g Nährstoff
ATP-Gewinn in mmol/g Nährstoff
O2-Verbrauch in l/Tag
CO2-Abgabe in l/Tag
Kohlenhydrate
17
800
211
360
360
Fette
40
2000
514
350
245
Proteine
19
1000
200
390
320
47
48
2 Energieumsetzung und Energiehaushalt
2.5.3 Wir setzen schon im Schlaf soviel Energie um, dass wir ständig eine 80 W Glühbirne brennen lassen könnten Der Ruheumsatz oder Grundumsatz des Menschen wird im Liegen gemessen. Der Proband soll nüchtern sein aber in thermischer Behaglichkeit gehalten werden. Aus dem Sauerstoffverbrauch ergibt sich folgende Kalkulation: ●
Sauerstoffverbrauch: 360 l/Tag
●
Energieumsatz: 7100 kJ/Tag Umrechnung in Watt:
●
7100 kJ = 7 100 000 Wattsekunden (Ws)
●
1 Tag hat 86400 Sekunden; daraus :
7 100 000 = 82 Watt!!! 86 400
ATP-Umsatz im Grundverbrauch: 1 mol = 507 g ATP speichert ca. 32 kJ
Folglich ist der Tagesbedarf von 7100 kJ in 114 kg ATP enthalten. Zwar ist die in jedem Augenblick vorrätige ATPMenge gering. Addiert man jedoch alles ATP auf, das im Verlauf von 24 Stunden gebildet (und wieder verbraucht) wird, so ergibt sich ein Summengewicht, welches das Gewicht unseres eigenen Körpers übertrifft. In der Tierphysiologie muss weiter differenziert werden, wenn es um basale Energieumsätze geht. Die für den Menschen vereinbarten Messbedingungen sind beispielsweise für eine Makrele, eine Schwalbe oder eine Biene nicht eben angemessen. So man ein angemessenes Messverfahren findet, bestimmt man als Grundumsatz ( basal metabolic rate, BMR) den minimalen Energieumsatz, der notwendig ist, um ein Lebewesen im Ruhezustand am Leben zu erhalten. Da auch Ruhezustände bei ganz verschiedenen äußeren und inneren Bedingungen eingehalten werden können – man denke nur an die Winterstarre des Winterschläfers – und die adäquate Temperatur nicht für alle Tierarten gleich ist, definiert man je nach Tierart und Fragestellung neben einem Ruhestoffwechsel (resting metabolic rate, RMR) auch Standard-Stoffwechselraten ( standard metabolic rate, SMR), durchschnittliche tägliche Energieumsätze ( average daily energy expenditure, ADMR) oder Umsatz unter Freilandbedingungen ( field metabolic rate, FMR). Mehr hierzu in Heldmaier u. Neuweiler 2004).
2.5.4 Leistungsumsatz: Wenn Männer mehr Energie umsetzen als Frauen, hat dies mehr mit Muskeln als mit geistiger Leistung zu tun Der Grundumsatz reicht für das alltägliche Leben nicht aus, auch wenn man sich der Arbeit verweigert; schließlich will man sein Leben nicht nur auf der Liege im Messraum eines Physiologen verbringen. Frauen haben einen täglichen Energiebedarf von 8300 bis 12100 kJ, Männer zwischen 9700 und 15400 kJ. Es liegt jedoch nicht am tätigen Geist, wenn Männer mehr Energie umsetzen als Frauen, sondern an den Muskeln und dem im Durchschnitt höheren Gewicht, das die Treppe hochgehievt werden muss. Bei starker physischer Leistung, etwa beim Sprint, steigt der Energieumsatz auf das 10- bis 20fache des Grundumsatzes an. Bei Dauerhochbelastung, wie sie sich der Profiradsportler bei der Tour de France zumutet, müssen pro Tag 34 000 kJ aufgebracht werden, was einer Leistung von 394 W entspricht. Demgegenüber schlägt geistige Leistung nur geringfügig zu Buche. Eine etwa 10%-ige Steigerung des Energieumsatzes gegenüber dem Schlafumsatz würde genügen, um eine nobelpreiswürdige Leistung in Wissenschaft oder Dichtung zu erbringen. Ein spöttischer Geist könnte dies als Rechtfertigung dafür ausgeben, dass mancher Tennis- oder Fußballspieler vielfach mehr verdient als ein Nobelpreisträger. Freilich wird der Sportler die Millionen erspielten Geldes kaum benötigen, um sich die nötigen Kalorien zu beschaffen. Ein fliegendes Insekt muss seine Stoffwechselrate gegenüber der Grundumsatzrate um das 150fache steigern. Was verdient(e) eine Biene? Einige Werte zum Leistungsumsatz eines Menschen (Werte nach Passmore u. Durnin 1955): Grundumsatz Gemäßigt schnelles Gehen mit 5 km/h Gehen im Eiltempo bei 8 km/h Gehen bei 15% Steigung und 3 km/h Besteigen einer senkrechten Leiter Treppensteigen mit 60 kg Last
80 W 260 W 558 W 440 W 800 W 2133 W
2.5 Energieumsätze
2.5.5 Kleine Lebewesen brauchen in Relation viel mehr Energie als große Gewiss verzehrt ein Elefant mehr als eine Maus, eine Maus mehr als eine Ameise, eine Ameise mehr als ein einzelliges Paramaecium in einer Pfütze. Ein erhöhter Energieumsatz wäre auch dann noch zu messen, wenn uns das Kunststück gelänge, den Umsatz in verschiedenen Situationen vergleichend zu messen: beim schlafenden Elefanten und der munteren Maus, bei der schlafenden Maus und der geschäftigen Ameise. Immerhin, Wärmeproduktion und Sauerstoffverbrauch sind bei vielen Tieren tatsächlich mehrfach mit unterschiedlichen Methoden in verschiedenen Lebenssituationen gemessen worden. Dass gleichwarme (homoiotherme, endotherme) Tiere vergleichbarer Größe eine etwa 10fach höhere Stoffwechselrate haben als wechselwarme (poikilotherme, exotherme), verwundert nicht sonderlich. Eigenartig ist jedoch eine andere Beziehung, die deutlich wird, wenn z. B. Säugetiere – so sie nicht gerade im Winterschlaf sind – miteinander verglichen werden. Bezieht man die Daten nicht auf das ganze Lebewesen mit seinem schweren oder leichten Gesamtgewicht, sondern pro Gramm Körpersubstanz, kommt man einer interessanten und wichtigen Beziehung auf die Spur. Mit zunehmender Körpermasse steigt die Stoffwechselintensität pro Gewichtseinheit nicht linear proportional an, sondern wird relativ betrachtet geringer. Ein Tier, das 10 kg wiegt, braucht nicht zehnmal mehr Energie als ein Tier,
das 1 kg wiegt, sondern signifikant weniger: nur ca. 2/3 der Energiemenge, die rechnerisch nach seinem Gewicht zu erwarten wäre. Entsprechende graphische Darstellungen der spezifischen Metabolismusrate sind als Maus-Elefanten-Kurve (Abb. 2.7, 2.8) bekannt. Die Maus-Elefanten-Kurve sagt uns manch Interessantes (Angaben aus Wehner u. Gehring 2007 und weiteren Quellen): ●
Eine Spitzmaus benötigt pro Gramm Körpergewicht und Tag 40- bis 100-mal mehr Energie als ein Elefant.
●
Spitzmäuse atmen 300-mal in der Minute und ihr Herzpuls liegt bei 1300 Schlägen pro Minute (Mensch ca. 60–80).
●
Ihre Herzmuskelzellen sind zu 45% Volumenprozent mit Mitochondrien gefüllt.
●
Ein Elefant mit der Stoffwechselintensität der Spitzmaus müsste seine Haut 100°C heiß halten, um ausreichend Wärme an die Luft abführen zu können.
●
Eine Spitzmaus müsste umgekehrt ein meterdickes Fell haben, wenn sie sich mit der Stoffwechselintensität des Elefanten begnügte, aber nicht erfrieren wollte.
●
Spitzmäuse, Fledermäuse und Kolibris senken während des Schlafes ihre Körpertemperatur, damit sie nicht verhungern. Ein Kolibri beispielsweise senkt seine Körpertemperatur von 41°C auf 20°C.
10
Abb. 2.7. Sauerstoffverbrauch pro Zeiteinheit und Gramm Körpergewicht als Funktion der gesamten Körpermasse in halblogarithmischer Darstellung. Auf eine Darstellung der Streubreiten wurde um der Übersichtlichkeit willen verzichtet. Die Daten stammen aus mehreren Quellen
Sauerstoff-Verbrauch in ml/(gxh)
Fledermaus wach 8
Spitzmaus
Grundumsatz und Körpergewicht
6
4 Maus
2
Ratte Fledermaus in Torpor
0
0,01
0,1
1
10
100 Körpergewicht in kg
1000
10000
49
100 000
2 Energieumsetzung und Energiehaushalt
Energieumsatz und Körpergewicht im doppelt logarithmischen Plot
St ei gu
ng
=1
10 000
,0
Gesetz der spezifischen Stoffwechselreduktion
5
g=
0,7
un
1000
eig
St
,67
3= 0
2/ ng=
igu
100
Ste
10
Basale metabolische Rate (kJ pro Tag) (errechnet aus dem Sauerstoff-Verbrauch)
50
0,01
0,1
1
10 Körpergewicht in kg
100
1000
10000
Abb. 2.8. Energieumsatz in Watt als Funktion der Körpermasse in doppelt logarithmischer Darstellung. Die Watt-Werte sind aus dem Sauerstoffverbrauch pro Stunde und Gramm Körpergewicht errechnet worden. (Daten aus Withers 1992)
Eine solche vorübergehende Senkung der inneren Temperatur zwecks Energieersparnis, wie wir sie auch bei unserer Wohnungsheizung einstellen (sollten), heißt in der Zoologie Torpor. Torpor ist mit einem Inaktivitätszustand verknüpft. Fledermäuse in unseren Breiten jagen nur wenige Wochen im Jahr, täglich für wenige Stunden. Das muss ihnen für den Rest des Tages im Sommer, für die Aufzucht der Jungen, für Herbst, Winter und Frühjahr genügen. Ohne Torpor und Winterschlaf wäre das nicht zu machen. Die Evolution hat wohl auch deshalb große Tiere hervorgebracht, weil sie mit Energie besser haushalten können. Nicht nur ist ihr Grundumsatz in Relation gesetzt kostengünstiger, auch die Kosten der Lokomotion sind, bezogen auf Gramm Körpergewicht, bei großen Tieren geringer als bei kleinen (s. Abschn. 2.5.6).
Die Ursachen für dieses Gesetz der spezifischen Stoffwechselreduktion war lange Jahre Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Mehrere Erklärungsversuche wurden angeboten. Drei Erklärungsversuche, die am meisten Zuspruch gefunden haben, werden im Folgenden diskutiert. Alle drei haben das Argument für sich, plausibel zu sein, alle drei sind jedoch für sich allein unzulänglich und schließen sich wechselseitig nicht aus. Vielleicht ergänzen sie sich zu einem leidlich befriedigenden Gesamtbild. Zuvor ein paar Worte zur Darstellung von Zusammenhängen in der Physiologie. „Kurven“ werden in der Physiologie häufig (auch) als Geraden gezeigt, so dies möglich ist. Die relative Stoffwechselrate, ob als Sauerstoffverbrauch pro Gramm Körpermasse und Stunde gemessen, oder in Watt umgerechnet, nähert sich bei linearer Darstellung asymptotisch einem Minimalwert (Abb. 2.7). Asymptotische Kur-
2.5 Energieumsätze
ven sind unbeliebt, da man im fast horizontalen Teil der Kurve die Ordinatenwerte nicht mehr genau ablesen kann. Häufig gelingt jedoch die Umformung einer Kurve in eine Gerade, wenn sowohl Abszisse (X-Achse) als auch die Ordinate (Y-Achse) logarithmisch skaliert werden. So ist dies auch im Fall der Maus-Elefanten-Kurve (Abb. 2.8). Dabei zeigt sich auch der besagte Zusammenhang viel deutlicher. Würde bei doppeltem Körpergewicht auch die Stoffwechselrate doppelt sein, hätte die Gerade die Steigung 1,0. Die tatsächliche Steigung ist jedoch nur 0,71–0,75. Erklärungsmodell Oberfläche. Da bei jeder Energieumsetzung etwas Wärme entsteht, Organismen jedoch gegen die Umwelt nicht (vollständig) thermisch isoliert sind, verlieren sie im Regelfall Wärme. Bei gegebener Temperaturdifferenz und Wärmeleitfähigkeit ist die Wärmeabgabe eine Funktion der Oberflächengröße. Bei einer Kugel wie bei einem Quader ist die Oberfläche eine Funktion der 2. Potenz des Radius bzw. der Kantenlänge, das Volumen dagegen eine Funktion der 3. Potenz (Abb. 2.9). Entsprechend wird die Oberfläche bei zunehmender Masse des Körpers relativ geringer. Sie steigt mit der 2/3 (0,67) Potenz der Masse. Wäre die relative Oberflächenverringerung die einzige Ursache der relativen Stoffwechselreduktion, müsste der Graph nicht eine Steigung von 1 sondern von 0,67 haben. Gewiss, Säuger sind keine Kugeln und keine Quader. Messungen haben aber ergeben, dass ihre Oberfläche tatsächlich mit einem Potenzwert von 0,63 proportional zur Körpermasse ist. Der Graph der Stoffwechselintensität, errechnet nach dem Sauerstoffverbrauch, zeigt freilich nicht eine Steigung von 0,63, sondern von 0,75 (Abb. 2.8). Nach anderen Messungen gilt speziell für Säuger ein Exponent von 0,71 (da es sich um eine Exponentialfunktion handelt, ist dieser Unterschied nicht gering). Auch wenn man einen Wert von 0,75 oder 0,71 als gute Annäherung zum Erwartungswert von 0,63 akzeptieren wollte, so erstaunt denn doch, dass eine ähnliche Beziehung im ganzen Tierreich gefunden wird, z. B. auch bei Fischen in warmen Gewässern, die ihre Körpertemperatur ihrer Umgebung anpassen und daher nur wenig Wärme verlieren sollten. Daher wurde nach anderen oder ergänzenden Erklärungen gesucht.
Oberfläche Volumen 2
6a
2
4πr
3
a
3
4/3πr
Allgemein: 2/3
Oberfläche = Formfaktor x Volumen 2/3
Oberfläche proportional zu Masse Abb. 2.9. Verhältnis von Oberfläche zur Masse bei einer Kugel und einem Quader
Erklärungsmodell tote Masse. Große Tiere müssen aus statischen Gründen tragende Skelettstrukturen verstärken. Wenn wir am Bildschirm des PC ein Tier mittels Maus und Zoomfunktion auf die doppelte Höhe vergrößern, ist dies kein Problem. In der realen Natur hätte indes eine Verdoppelung der Höhe und Breite bei gleichbleibenden Körperproportionen schwergewichtige Folgen. Bei einer Verdoppelung der Körperdimension stiege die Masse um den Faktor acht. Eine solche Massenzunahme verlangte entsprechend massigere Knochen. Also sind bei großen Tieren Skelettstrukturen überproportional verstärkt. Skelettstrukturen verlangen keine hohen Stoffwechselraten, auch wenn sie keinesfalls tot sind und laufend – aber langsam – erneuert werden müssen. Der Reparatur- und Erhaltungsaufwand ist nicht allzu hoch. Die Stoffwechselintensität kann bezogen auf das Gewicht reduziert sein. Erklärungsmodell Syntheseleistung. Kleine Organismen stecken mehr Energie in höhermolekulare, energiereiche organische Syntheseprodukte als große. Viel vom ATP, das in der biologischen Oxidation gewonnen wurde, wird für Syntheseleistung eingesetzt. Diese Leistung wird allerdings nicht als
51
2 Energieumsetzung und Energiehaushalt
Gewichtszunahme erkennbar, vielmehr werden viele dieser Substanzen exportiert zur Erzeugung von Nachkommen. Kleine Lebewesen erzeugen in der Regel rascher und mehr Nachkommen als große. Im Extremfall verliert ein Einzeller, der sich teilt, die Hälfte seiner Masse. Innerhalb der Säuger wird eine Spitzmaus relativ zu ihrer Größe erheblich mehr an Masse in Form von Nachwuchs „exportieren“ als ein Pferd oder ein Gorilla. Nimmt man diese exportierte Masse mit ins Kalkül, wird verständlich, weshalb kleine Lebewesen relativ mehr Energie und Materie aufnehmen und umsetzen müssen als große. Freilich, für männliche Tiere gilt dieses letzte Argument kaum. Also haben die zuvor gebotenen Erklärungsversuche mehr Gewicht. 2.5.6 Schwimmen, Laufen, Fliegen: was kostet mehr? Der Sportler, mehr aber noch der Zoologe, der sich mit Biomechanik und Bioenergetik befasst, möchte gerne wissen, was mehr Kraft und daher Energiereserven kostet: das Schwimmen, das Gehen und Springen, oder das Fliegen? Spontan wird man wohl
100
Fliegen
das Fliegen an erste Stelle setzen wollen; denn es dürfte gewichtige Gründe haben, warum selbst Flugsaurier gemessen an Landsauriern und so manchen Säugetieren klein waren, und auch ein durchtrainierter Sportsmensch beträchtliche Schwierigkeiten hat, sich mit eigener Muskelkraft in die Lüfte zu hieven. Bezogen auf den Ruheumsatz gilt dies auch. Bei Vögeln liegt der aerobe Energieumsatz im Flugbetrieb ca. 12fach, bei Bienen 40fach und bei Schwärmern (Schmetterlinge, Sphingidae) im Schwirrflug 130–170fach über dem Basalstoffwechsel. Anders sieht jedoch die Bilanz aus, wenn man die pro Zeit zurückgelegte Wegstrecke zum Maßstab der Effektivität macht. In solchen Rankings ist Schwimmen die sparsamste Art der Fortbewegung, gefolgt vom Fliegen, und dann folgt erst das Laufen (Abb. 2.10). Der schwimmende Thunfisch, der Rekordgeschwindigkeiten von 70 km/h erreicht, muss kaum Energie für Auftrieb aufbringen und kann alle Energie in Vortrieb investieren. Fliegen erfordert zwar enorme Treibstoffkosten für die Erzeugung von Auftrieb in der dünnen Luft, die hohen erreichbaren Geschwindigkeiten bringen den Körper aber sehr schnell ans Ziel, sodass
Laufen
10
Schwimmen
1
Mindest-Transportkosten (kJ pro kg und km)
52
10 -2
10 -1
1
10
10 2
4 10 3 10 kg Körpergewicht
Abb. 2.10. Geschätzte Kosten für die Bewältigung einer Distanz von 1 km, in Abhängigkeit vom Körpergewicht
Zusammenfassung des Kapitels 2
die Gesamttransportkosten pro Wegstrecke geringer sind als beim Laufen. Abb. 2.10 zeigt uns aber auch, dass große Tiere eine gegebene Wegstrecke mit weit geringerem Energieaufwand bewältigen Zusammenfassung des Kapitels 2
Als wesentliche Energiequellen stehen der einzelnen Zelle dem Blut entnommene Glucose sowie in der Zelle oder andernorts gespeicherte Makromoleküle zur Verfügung. Sowohl Kohlenhydrate und Lipide wie auch Proteine werden so zerlegt und die niedermolekularen Bestandteile so modifiziert, dass sie mit Glucose in einen gemeinsamen zentralen Abbauweg eingeschleust werden können. In diesem wird den verschiedenen Substanzen Energie entzogen und in den universell einsetzbaren, niedermolekularen Energieträger ATP überführt. Dieser zentrale Weg umfasst die im Cytosol ablaufende Glykolyse und die in den Mitochondrien ablaufenden, miteinander gekoppelten Prozesse des Citratcyclus und der Atmungskette. Wesentliche Prozesse, die zum Freisetzen von Energie führen, sind Aufbrechen kovalenter Bindungen und Redoxprozesse, das heißt Entzug von Elektronen (Oxidation) und ihre Übertragung auf einen Träger (Reduktion), der auch nach Beladung mit diesen Elektronen immer noch ein geringeres Energiepotential hat als der Elektronenlieferant. In der Glykolyse können aus dem Energiepotential der Glucose durch ihre Spaltung in zwei C3-Körper (schlussendlich Pyruvat oder Lactat) lediglich 2–4 ATP gewonnen werden, in den Mitochondrien werden durch Redoxprozesse 38 weitere ATP gewonnen. Im Citratcyclus der Mitochondrien (und zum Teil im vorbereitenden Schritt Pyruvat → Acetyl-CoA) werden den Metaboliten der Glucose (2 × Acetyl-CoA) nach deren Kopplung an das Trägermolekül Oxalacetat 24-mal Wasserstoffatome mitsamt den Bindungselektronen entzogen; diese werden vorübergehend auf NAD+ übertragen. Der nach dem Entzug von Wasserstoff von der ursprünglichen Glucose übrig bleibende Kohlenstoff erscheint als CO2 in der ausgeatme-
als kleine. Eine Ameise wird keine Savanne durchqueren, wohl aber ein Zebra oder eine fliegende Wanderheuschrecke.
ten Luft. Die mit dem Wasserstoff entzogenen Elektronen werden von NAD den Redoxsystemen der Atmungskette zugeführt und von diesen auf molekularen, der Atemluft entnommenen Sauerstoff übertragen; dieser wird zum Sauerstoffradikal. Unter Einbezug von Wasser entstehen im Mitochondrien-Innenraum („Matrix“) aus den negativ aufgeladenen Sauerstoffradikalen pro ursprünglich investierter Glucose 24 OH−-Ionen. Die 24 dem Substrat entzogenen, nun ihrer Elektronen beraubten Wasserstoffkern erscheinen als H+ (Protonen) im Raum zwischen innerer und äußerer Mitochondrienmembran. Damit ist über der inneren Mitochondrienmembran ein pH-Gefälle und zugleich ein elektrisches Potential (auf der einen Membranseite 24 OH−, auf der anderen 24 H+) hergestellt. In diesem Gefälle steckt der größte Teil des von der Glucose gelieferten Energiepotentials ΔG. Während die Protonen durch einen Generator namens ATPSynthase in den Innenraum zurückströmen, wo sie sich mit den 24 OH− zu 24 H2O verbinden, liefern sie diese Energie an die ATP-Synthase ab. Diese nutzt sie, um 38 ATP-Akkus aufzuladen. Ein großer Teil (40–60%) der investierten Energie geht allerdings unmittelbar als Wärme verloren, ein weiterer großer Teil, nachdem sie ihre Arbeit verrichtet hat. Daher ist die im Kalorimeter gemessene Wärmeproduktion ein gutes Maß des Energieumsatzes. Ein anderes oder zusätzliches und besser erfassbares Maß ist die Menge des ausgeatmeten CO2 und des verbrauchten O2. Entsprechende Versuchsanordnungen ergeben, dass der Mensch im Grundumsatz der Ruhe täglich sein Körpergewicht an ATP verbraucht (und wieder synthetisieren muss) und laufend 80 W physikalische Leistung erbringt. Bei großer körperlicher Anstrengung kann die Leistung auf über 2000 W ansteigen. Aus dem Respiratorischen Quotienten, Menge an ausgeatmeten CO2 durch Menge an verbrauchtem O2, kann auch auf die Art der verfeuerten Nahrungsreserve geschlossen
53
54
2 Energieumsetzung und Energiehaushalt
werden. Fett ist besonders ergiebig, ist leicht und liefert bei seiner „Verbrennung“ relativ viel Oxidationswasser (1 l/kg). Vergleichende Messungen des Energieumsatzes zeigen, dass kleine Tiere pro Gramm Körpermasse erheblich mehr Energie aufbringen und deshalb mehr Nahrung zu sich nehmen müssen als große. Mit steigendem Körpergewicht nimmt der Energiebedarf, bezogen auf Gramm Körpergewicht, ab (Gesetz der spezifischen
Stoffwechselreduktion). Es werden u. a. geringerer relativer Wärmeverlust wegen geringerer relativer Oberfläche, größere Masse an metabolisch inaktiven Skelettstrukturen und geringerer Export von Substanz in Nachkommenschaft verantwortlich gemacht. Auch die Kosten für Fortbewegung bezogen auf eine Streckeneinheit sind bei größeren Tieren geringer als bei kleinen. Fliegen ist teuer, doch nicht, wenn die pro Zeit zurückgelegte Strecke zum Maß gewählt wird.
3
Molekulare Motoren, Pumpen und Transportsysteme
Zellen sind Energiewandler. Sie verrichten viel Arbeit bei biochemischen Synthesen. Darüber hinaus wandeln sie chemische Energie in mechanische oder elektrische um. Die Möglichkeiten einer Energietransformation sind außerordentlich vielfältig. Wir werden die Erzeugung elektrischer Spannung in der Einführung zur Muskel-, Nerven- und Sinnesphysiologie erläutern (s. Kap. 14). Hier soll beispielhaft auf die Arbeitsweise einiger molekularer Maschinen eingegangen werden, die im intrazellulären Geschehen als Motoren fungieren, Moleküle und Organellen bewegen und der einzelnen Zelle erlauben, sich aktiv zu verformen. Alsdann werden die verschiedenen Möglichkeiten betrachtet, wie sich Stoffe durch Membranen treiben, sieben, schleusen und pumpen lassen.
3.1 Molekulare Motoren und intrazellulärer Transport 3.1.1 Molekulare Motoren erzeugen in der Zelle Kräfte für Synthesen, Bewegungen und Transport Zellen sind nur in Lehrbuchzeichnungen statische Gebilde. In der lebenden Zelle gibt es unablässig Bewegung, nicht nur ungerichtete Brownsche Molekularbewegung, sondern auch gerichtete Bewegung von Molekülen, Molekülaggregaten und Organellen. Vieles wird zielgerichtet transportiert. Einige wenige Beispiele: ●
Messenger RNA wird aus dem Kernraum über die Kernporen ins Cytoplasma befördert, Histone und regulatorische Proteine werden umgekehrt in den Kernraum geschleust.
●
Im Zuge der Mitose werden die kondensierten Chromosomen erst in die Äquatorialebene und anschließend zu zwei gegenüberliegenden Zellpolen geschoben und gezogen.
●
Sekretorische Vesikel werden vom GolgiKomplex zur Zelloberfläche oder zur Synapse transportiert.
●
Bei Tieren, die das Farbmuster ihrer Haut verändern können, werden in Pigmentzellen Melaningranula oder andere Pigmente dispergiert oder zusammengeballt.
●
Schließlich werden verschiedene Zellen mit „Propellern“, d. h. Cilien oder Flagellen (lange Cilien), ausgestattet; andere Zellen werden in toto zu kontraktilen Maschinen: zu Muskelzellen. Diese Spezialzellen, die die Beweglichkeit ganzer Körperpartien und des ganzen Individuums vermitteln, werden im Kap. 16 (Physiologie der Effektoren) behandelt. Hier soll vor allem die Erzeugung intrazellulärer mechanischer Energie zum Transport von Molekülen und Organellen diskutiert werden.
Definition: Motoren sind Systeme, die chemisch gespeicherte Energie in einem cyclischen Prozess in kinetische Energie umwandeln. Beispielsweise wird oft ein bewegliches Molekülteil in Schwingungen versetzt, indem periodisch ATP an den schwingenden Teil angekoppelt und anschließend in ADP und Pi gespalten wird. Diese ATP-Spaltung gibt dem Pendel, bildlich gesprochen, einen Schubs. Die Spaltprodukte werden abgekoppelt; neues ATP wird angekoppelt und ein neuer Cyclus beginnt.
56
3 Molekulare Motoren, Pumpen und Transportsysteme
3.1.2 Ein erstaunlicher Rotationsmotor: die ATP-Synthase des Mitochondriums Lange galten rotierende Systeme wie Rad und Rotor als Erfindungen nur des Menschen der Nacheiszeit. In der biologischen Natur kamen sie augenscheinlich nicht vor; denn makroskopische, mit dem bloßen Auge wahrnehmbare rotierende Gebilde sind nie gesehen worden. Erst neue physikalische Methoden zur Erforschung komplexer molekularer Strukturen führten zur Entdeckung biologischer rotierender Systeme. Das erste sich drehende Gebilde, das erkannt wurde, war die rotierende Geißel der Bakterien; es folgten die F-Typ-ATP-Synthasen, die in ähnlicher Form in allen Lebewesen vorkommen, in den Archaea, Eubakterien, einzelligen Algen, Chloroplasten der Pflanzen und in der inneren Mitochondrienmembran. Der Motor der F-ATP-Synthase (Abb. 3.1) besteht aus einem Rotor, der einen stabförmigen Stempel dreht. Dieser ragt in einen Kopf, der die ATP-Synthase beherbergt. Ein unbewegter Stator ist
mit stabförmigen Elementen mit dem Kopf verbunden, der so festgehalten und am Rotieren gehindert wird. Angetrieben wird der Rotor durch den Gradienten der Protonen (H+), den die Elektronentransportkette der inneren Mitochondrien geschaffen hat (s. Abb. 2.4b). Protonen strömen ihrer Konzentrationsdifferenz ΔH+ folgend durch einen engen Kanal am Stator-Rotor-Kontakt in den Innenraum des Mitochondriums, wo sie ihre OH– Partner finden und sich mit ihnen zu H2O vereinigen. Bei ihrem Durchtritt durch den Kanal versetzen die H+ den Rotor in Drehung. Der sich drehende Rotor bewegt seinerseits den Stempel und dieser beeinflusst die dreidimensionale Konformation der Kopfproteine. Drei der sechs Kopfproteine binden ADP und Phosphat. Wie diese zu ATP zusammengekoppelt werden, ist im Einzelnen noch nicht bekannt. Das Ungewöhnlichen an diesem Motor ist, dass er für eine endergonische Synthese eingesetzt wird und nicht wie die weiteren Motoren, die wir kennen lernen werden, zum Transport von Molekülen, Vesikeln und Elementen des Zellskeletts und nicht für Zellbewegungen.
3.1.3 Es gibt zwei basale Mechanismen des kraftvollen Bewegens: die Verlängerung von stabförmigen Gebilden durch Polymerisation und das Hin- und Herpendeln von Molekülarmen Von Sonderfällen abgesehen, die wir weiter unten diskutieren wollen, beruhen Bewegungen auf der Umwandlung von chemischer Energie, die im Regelfall in ATP gespeichert ist, in kinetische Energie. Gewiss; doch wie geschieht das? Zunächst müssen wir unterscheiden, welche Kräfte entfaltet werden sollen. Es gilt als Faustregel:
Abb 3.1. Ein rotierender Motor: die ATP-Synthase der Mitochondrien. Die Rotation wird getrieben vom H+–Gradienten (ΔH+). Der Weg der Protonen H+ führt vom Raum zwischen äußerer und innerer Mitochondrienmembran durch den Stator in den Matrixraum des Mitochondriums, in dem sich die Protonen mit den Hydroxy-Ionen OH– zu H2O vereinigen. Der Mechanismus der ATP-Synthese ist noch nicht hinreichend erforscht. Nach Von Ballmoos (2008) und anderen
●
Für die Erzeugung von Schubkräften eignet sich besonders die Verlängerung der starren Mikrotubuli, aber auch die Verlängerung der relativ rigiden Actinfilamente.
●
Für die Erzeugung von Zugkräften eignen sich zyklisch arbeitenden ATPase-Motoren, die sich entlang von Actinfilamenten oder Mikrotubuli vorwärts bewegen und dabei eine Last mit sich ziehen.
3.1 Molekulare Motoren und intrazellulärer Transport
3.1.4 Mikrotubuli und Actinfilamente erzeugen Schubkräfte nach der „Tretmühlenmethode“, z. B. zum Verschieben von Chromosomen oder zum Ausstrecken von Zellfortsätzen Mikrotubuli sind starre Röhren, die durch Polymerisation von Tubulin-Einheiten entstehen. Die Röhren werden durch Anbau von Tubulin-Dimeren am Plus-Ende der Röhre verlängert, durch Wegnahme von Tubulin-Dimeren am Minus-Ende verkürzt (Abb. 3.2). Damit ergeben sich zwei für die Zelle interessante Möglichkeiten: 1. Durch simultanen Abbau am Minusende und Anbau am Plus-Ende kann ein Mikrotubulus nicht nur in seiner Länge wachsen oder schrumpfen, sondern auch sich fortbewegen. Er wächst an einem Ende und schrumpft gleichzeitig am anderen Ende. Vorne am Plus-Ende werden mit GTP beladene Tubulin-Dimere angekoppelt. Nach und nach verschiebt sich die relative Position eines Dimers. Es „wandert“ von vorn durch den Tubulus hindurch nach hinten. Während dieser
Verlagerung wird GTP zu GDP hydrolysiert. Das an den Tubulin-Dimeren haftende GDP lockert den Zusammenhalt der Dimere untereinander, sodass am Minus-Ende Dimere abdriften können. Die sich am Hinterende ablösenden Dimere diffundieren umher und stehen nach Beladung mit GTP zur Verlängerung des Plus-Endes wieder zur Verfügung (Abb. 3.2). Man nennt dies Tretmühlenmethode ( treadmilling). 2. Ist ein Mikrotubulus ortsfest fixiert und berührt sein Plus-Ende einen Gegenstand, z. B. das Kinetochor eines Chromosoms, so kann durch Einschieben von Tubulin-Dimeren am Plus-Ende (oder hinter dem Plus-Ende) eine Schubkraft auf den Gegenstand ausgeübt werden. Auch Actinfilamente sind starr genug, um zum Beispiel das Ausstülpen der Zellmembran bei der Bildung von Mikrovilli und von Pseudopodien zu unterstützen. Auch bei ihnen können Einheiten (in diesem Fall G-Actin Monomere) am wachsenden Ende angelagert werden. Energie liefert hierbei ATP. Letztlich stammen die Schubkräfte von der Hydrolyse von ATP bzw. GTP. Die Verlängerung von Mikrotubuli und Actinsträngen gegen mechanischen Widerstand verlangt eine kräftige Energiequelle.
3.1.5 Hebelarmmotoren: Myosin-Motoren üben rhythmisch schwingend Zugkräfte auf Actinfilamente aus
Abb. 3.2. Mikrotubulus-Motor, nach dem Tretmühlenmethode ( treadmilling) arbeitend
Actin und Myosin findet man nicht nur in Muskelzellen, sondern in den meisten animalen Zellen, wenn auch nicht zu jenen auffälligen Myofilamenten gebündelt, welche die quer gestreifte Muskelzelle (s. Kap. 16) kennzeichnen. Das Wort Myosin ist, im Singular gebraucht, irreführend; denn es gibt nicht nur eine Sorte von Myosin, es sind in Säugern 18 Varianten gefunden worden. Hier betrachten wir nur zwei Varianten, in denen Myosin als Dimer (oder multimeres Aggregat) vorliegt und entsprechend „Doppelköpfe“ oder zwei „Hebelarme“ hat (oder „Beine“, je nach dem Bild, das man sich macht). Die „Hebelarme“ ( lever arm) dieser Motorproteine pendeln periodisch hin und her, wobei die Hände in jeder Schwungphase das Actinfilament ergreifen
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3 Molekulare Motoren, Pumpen und Transportsysteme
und ein Stück bewegen – so wie die Arme eines Seemanns ein Tau Stück für Stück heranziehen. Bei der Rückwärtsbewegung der Arme wird jeweils unter ATP-Verbrauch im Myosin-Dimer eine Feder gespannt, die beim Loslassen nach vorne schnellt und Zugkräfte auf das Actinfilament ausübt ( power stroke). Der Myosin-Motor ist Paradebeispiel für ein cyclisch arbeitendes System (Abb. 3.3a). ●
tinfilamente aufeinander zu ziehen (Abb. 3.3b). Das wird ausgiebig in einer Muskelzelle getan. ●
Das Myosin V ist in vielen Zelltypen tätig, besonders in Zellen, die Endocytose betreiben und in Zellen, die sich mittels Pseudopodien (Filopodien, Lamellipodien) in die Länge strecken oder fortbewegen. Myosin V kann in der Zelle Actinstränge gegeneinander verschieben, wobei ein Hebelarm einen Actinstrang in diese Richtung, der andere Hebelarm einen benachbarten Actinstrang in Gegenrichtung schiebt (Abb. 3.3b, nach Tanaka-Takiguchi et al. 2004).
Das Myosin II in der Muskelfaser bewegt Actinstränge aufeinander zu. Wenn man zwei (oder mehr) Myosindimere mit entgegengesetzter Polarität miteinander verbindet, kann man zwei Ac-
Myosinmotoren Actinfilament
ATP
1
Myosin ATP
Lösen des Myosins vom Actin durch ATP Rückbewegung gesperrt 2
4
Sperrklinke
AD
P+
Ruhestellung der Feder, Myosin hafted an Actin
Spannen der Feder
Pi 3
a
ADP Zurückschnellende Feder bewegt Actinstrang Actinfilamente des Cytoplasmas
Abb. 3.3a, b. Actin-MyosinMotor, nach dem Hebelarmprinzip ( lever arm) arbeitend. Ein Arbeitszyklus (a). Verschieben zweier Actinfilamente gegeneinander durch cytoplasmatisches Myosin V (b)
Myosin V
b
Pi
3.1 Molekulare Motoren und intrazellulärer Transport
Eine Besonderheit der Myosinmotoren ist, dass jeder einzelne Hebelarm vorübergehend den Kontakt zum Actinfilament aufgibt, um neu ausholen zu können. Eine länger anhaltende Zugwirkung ist deshalb nur möglich, wenn mehrere Myosine gebündelt werden und die Hebel nicht synchron, sondern abwechselnd den Actinstrang loslassen und neu ausholen. Hingegen behalten die nachfolgend besprochenen Kinesinund Dyneinmotoren stets Kontakt zur Schiene, an der sie sich entlang bewegen. Niemand kann die Bewegung molekularer Motoren direkt unter dem Mikroskop sehen. Dazu sind die Strukturen viel zu klein. Aufnahmen mit Elektronenmikroskopen und Gerätschaften, die Röntgenbeugungsmuster oder Kernspinvektoren erfassen, erfordern, dass die Strukturen chemisch fixiert werden. Was als Modell vorgestellt wird, so auch in Abb. 3.3 bis Abb. 3.6 ist indirekt erschlossen und daher im Detail durchaus noch strittig.
Abb. 3.4. Kinesin und Dynein als Gleit- bzw. Schreitmotoren. Einer der beiden „Füße“ hat stets Kontakt zum Substrat, hier zu einem Mikrotubulus ( processive walking). Die Energie zur Streckung des „Beins“ beim Ausschreiten und zur anschließenden kraftvollen Abwinkelung des „Beins“ wird von ATP bereitgestellt. Nach dem Abdriften des verbrauchten ADP hat der „Fuß“ vorübergehend feste Verbindung zum Substrat, bis neues ATP die Verbindung wieder löst und die nächste Vorwärtsbewegung des „Beins“ einleitet
3.1.6 Schreit-oder Gleitmotoren: Kinesin und Dynein bewegen sich, wie man annimmt, wie Schlittschuhläufer Auch Kinesine und Dyneine liegen als Dimere vor und haben zwei „Beine“ oder „Arme“ ähnlich den Myosin-Dimeren. Zur Zeit dominieren Modelle, nach denen sich diese Motoren kontinuierlich entlang einer Schiene, hier entlang eines Mikrotubulus, fortbewegen ( processive motion) und dabei eine Last ( cargo) mit sich ziehen. Dabei soll, wie beim Gehen oder Schlittschuhlaufen, abwechselnd dieses und dann das andere Bein vorgezogen werden, stets aber ein Bein Kontakt zum Substrat behalten, um ein Abstoßen zu ermöglichen (Abb. 3.4). Statt mit Beinen lässt sich bildhaft ebenso gut mit Armen operieren. Man greift dann Hand über Hand ( hand over hand) am Mikrotubulus an, und versucht sich an ihm ent-
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3 Molekulare Motoren, Pumpen und Transportsysteme
lang zu ziehen. Die Energie für den Vorschub liefert auf jeden Fall, wie sollte es anders sein, ATP. Jeder Schritt bzw. Armzug hat eine Phase, die Energie benötigt und ein ATP verbraucht ( power stroke). Dynein ist der Krafterzeuger in Cilien und Flagellen (Flagellum = langes Cilium), wobei es benachbarte Mikrotubuli (hier als Doppelröhren ausgebildet) im Cilienschaft gegeneinander verschiebt (Abb. 3.5, Dynein-Aggregate sind in linearer Anordnung eins nach dem anderen entlang zweier benachbarter Doppelröhren aufgereiht. Während ein Ende eines jeden Dynein-Dimers an dem einen Doppelrohr angeheftet ist, versuchen seine beweglichen Arme, sich an dem benachbarten Doppelrohr entlang zu ziehen. In den Cilien sind die Mikrotubuli jedoch an ihrer Basis im Zellinneren am Cytoskelett fixiert, sodass sie sich nicht über größere Distanz gegeneinander verschieben lassen. Die Zugkräfte der Dyneinarme erzeugen deshalb Biegemomente, die das Cilium abbiegen lassen (Abb. 3.5). Die Dyneinarme wirken auf kleinem Raum wie eine Bogensehne, die den Flitzebogen spannt. Indem die Armbewegungen metasynchron wie Ola-Wellen im Sportstadium durch
Cilium; herausvergrößerter Doppel-Mikrotubulus mit Dynein-Motoren
Abb. 3.5. Dynein-Motor eines Ciliums. Die Dyneinmotoren „versuchen“ benachbarte Doppelmikrotubuli gegeneinander zu verschieben. Da die Doppel-Mikrotubuli jedoch an ihrer Basis unbewegbar fixiert sind, kommt es statt zu einer Längsverschiebung zu einer Abbiegung
das Cilium laufen, wird eine wandernde Biegewelle erzeugt. Diese wandernde Transversalwelle macht das Cilium zu einem Vortrieb-erzeugenden Ruder. 3.1.7 Kinesin-Motoren und Dynein-Motoren bewegen Vesikel in Nervenfasern entlang von Mikrotubuli, Kinesin-Motoren in diese Richtung, DyneinMotoren in die Gegenrichtung In Nervenzellen sollen mit Transmittern beladene Vesikel vom zentral gelegenen Golgi-Komplex möglichst rasch dem Axon entlang zur Synapse transportiert werden (Abb. 3.6; s. auch Abb. 15.2). Aber auch für die Gegenrichtung gibt es Transportbedarf. Gebrauchte Transmitter und Vesikel als Verpackungsmaterial werden zwecks Recycling von der Synapse in den zentralen Zellbereich zurückbefördert (retrograder Transport). Auch Überlebensfaktoren, die an Synapsen aufgenommen werden, können dem zentralen Zellbereich mit seinem Kern zugeleitet werden. Für den Transport vom Zentrum in die Peripherie, z. B. zur Synapse, sind in der Regel Kinesin-Proteine (Kinesin-ATPasen) zuständig; für die Gegenrichtung Dynein-ATPasen. Beide benutzen Mikrotubuli als Schienen. Für Hin- und Rücktransport werden unterschiedliche Motorproteine gebraucht, weil die Mikrotubuli zwischen ihrem Minus- und Plusende eine Polarität aufweisen; (am Plusende kann ein Mikrotubulus wachsen, am Minusende schrumpfen; s. Abb. 3.2). Ein Motor, der sich von Minus nach Plus bewegen kann, kann dies nicht auch in der Gegenrichtung. Kinesin-Dimere können auch mit der Zellmembran verbunden sein und eine Relativbewegung von Zellmembran und Mikrotubulus vermitteln. Auf diese Art kann ein Stück der Zellmembran über das Cytoskelett gezogen werden, so wie man ein Zeltdach über das Tragegestänge verschieben kann.
3.2 Passage und Transport von Substanzen durch Membranen Eine lebende Zelle kann ihre innere Ordnung nur aufrechterhalten, wenn sie sich räumlich von ihrer Umgebung abschirmt. Auch sind viele Prozesse dadurch erleichtert, oder erst ermöglicht, dass die Zelle in ihrem Inneren besondere Reaktionsräume abgrenzt,
3.2 Passage und Transport von Substanzen durch Membranen
Abb. 3.6. Kinesin-Motor zum Transport von gefüllten Vesikeln, beispielsweise im Axon einer Nervenzelle vom ER-Golgi-Apparat in Richtung Synapse, und Rücktransport der Verpackung
(fallweise gefüllt mit Transmitter-Abbauprodukten) mittels eines Dynein-Motors zum Syntheseort zwecks Recycling
wie z. B. Mitochondrien und das Röhrensystem des Endoplasmatischen Reticulums. Andererseits müssen Zellen gegenüber der Umwelt auch selektiv offen sein, beispielsweise um energiereichen Substanzen Einlass zu verschaffen und energiearme Endprodukte aus dem Stoffwechsel an die Umwelt zu entlassen.
Zwei physikalische Eigenschaften bestimmen, ob ein Molekül ohne besondere Hilfen Membranen durchdringen kann oder nicht: seine Größe und seine Polarität. Dass sich kleine Moleküle eher zwischen die Phospholipidmoleküle der Membran drängeln können als große, versteht sich von selbst – vorausgesetzt, sie sind nicht ausgesprochen polar! Ein Molekül ist polar, wenn die intramolekularen elektrischen Ladungen so verteilt sind, dass sich positive und negative Ladungen nach außen nicht vollständig aufheben. Polare Moleküle sind wasserlöslich: sie sind hydrophil = wasserliebend, und zugleich lipophob = lipidscheu.
3.2.1 Nur wenige kleine und zugleich lipophile Substanzen können Membranen ohne Hilfe passieren; die meisten Substanzen müssen mit besonderen Translokatoren durchgeschleust werden Zellmembranen sind in ihrer Grundstruktur aus Phospholipid-Doppelschichten aufgebaut (Abb. 3.7). Die Fettsäureschwänze eines Phospholipidmoleküls sind apolar, d. h. sie sind gegenüber ihrer Umgebung gleichförmig elektrisch neutral. Sie sind deswegen auch hydrophob = wasserscheu, und zugleich lipophil = lipidliebend. Furcht vor dem Wasser einerseits und wechselseitige Anziehung andererseits veranlasst die Fettsäureketten der Phospholipide, sich im feindlichen Milieu des Wassers zusammenzuscharen und eine Doppelschicht aufzubauen, in die so leicht keine Wassermoleküle eindringen und die nicht jedermann passieren kann.
Faustregel: ● Organische Moleküle sind apolar (fettlöslich), wenn sie ausschließlich oder überwiegend nur aus Kohlenstoff und Wasserstoff bestehen; ● sie sind polar (wasserlöslich), wenn sie außer Kohlenstoff und Wasserstoff auch Sauerstoff, Stickstoff, Schwefel oder Phosphor enthalten. Je mehr Sauerstoffatome im Molekül enthalten sind, desto größer sind seine Polarität und Wasserlöslichkeit.
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62
3 Molekulare Motoren, Pumpen und Transportsysteme Phosphatidyl-Cholin &+
1
+ &
&+
&KROLQ
2 2
3
2
3KRVSKDW 'LHVWHU
2 *O\FHURO*O\FHULQ
2
2
2
2
+\GURSKLOH .RSIJUXSSH PLW&KROLQRGHU (WKDQRODPLQ RGHU6HULQ
'LDF\OJO\FHURO PLWGL OLSRSKLOHQ )HWWV¦XUHQ DF\O
6\PEROI¾U3KRVSKROLSLG JHQHUHOO 3DOPLWLQV¦XUH
OV¦XUH
0HPEUDQ 3KRVSKROLSLGELOD\HU
Abb. 3.7. Molekulare Struktur der Zellmembran. Typisches Phospholipid (Phosphatidylcholin = Lecithin) und BilayerGrundstruktur einer biologischen Membran
Polar und damit hydrophil sind Wassermoleküle selbst. Am stärksten polar sind Elektrolyte, das sind kleine anorganische Ionen: elektrisch positiv geladene Kationen (Na+, K+, Ca2+ etc.) und elektrisch negativ geladene Anionen (Cl–, Phosphat HPO42–). Polare Moleküle können pure Lipidmembranen nicht oder nur in sehr geringem Maße passieren. Ohne besondere Hilfen können folglich nur wenige Moleküle durch Membranen diffundieren. Zu diesen wenigen gehören molekularer Sauerstoff O2, Stickstoff N2, Ammoniak NH3, Stickoxid NO und eben noch Kohlendioxid CO2. Schon bei Wasser H2O wird es problematisch. Zwar wird allgemein
angenommen, Wassermoleküle könnten trotz ihrer polaren Natur durch Zellmembranen diffundieren. Vermutlich schlüpfen viele Wassermoleküle (und CO2-Moleküle) durch Kanäle, die für Ionen oder andere Substanzen vorgesehen sind. Ionenkanäle enthalten eine zentrale Pore, in der sich Wassermoleküle recht gut bewegen können. Die Permeabilität einer puren Phospholipid-Doppelschicht ist zu gering, um größere Mengen Wasser in angemessener Zeit in die Zelle hinein oder aus der Zelle heraus strömen zu lassen. Im Bedarfsfall müssen spezielle Wasserkanäle (Aquaporine) in die Membran eingebaut werden. Solche lange Zeit hypothetisch geforderten Kanäle kennt man heute. Viele Wasserkanalproteine sind molekularbiologisch kloniert und sequenziert. Wasserkanäle sind für den Wassertransport in der Niere sowie für die Regulation des Zellvolumens von Bedeutung. Wenn schon Wassermoleküle Mühe haben, Membranen zu durchdringen, muss dies in noch höherem Maße für stärker polare und größere Moleküle gelten. Ionen wie Na+, K+, Cl–, HPO42–, aber auch organische Anionen wie Pyruvat, Lactat und Citrat durchdringen Zellmembranen nicht ohne besondere Hilfen. Die Permeationsfähigkeit ist umso geringer, je größer ein Molekül ist und je mehr elektrische Ladung es trägt. Praktisch bedeutet dies: Wir brauchen für anorganische Ionen, für Aminosäuren, Zucker und Nukleotide besondere Carrier (synonym: Translokatoren, Transporter, Permeasen) und erst recht für höhermolekulare Substanzen, die aus polaren Einheiten aufgebaut sind: Polypeptide, Kohlenhydrate, Nukleinsäuren und Mischpolymere aus solchen Einheiten.
3.2.2 Lipophile Substanzen gelten als permeabel; sind sie es? Eine vielgeäußerte Auffassung sagt, lipophile Substanzen wie etwa die Steroidhormone könnten ohne besondere Schwierigkeiten durch Zellmembranen diffundieren. Richtig ist, dass sie leicht in die Membran hinein schlüpfen und sich zwischen die Phospholipidmoleküle zwängen können. So leicht verlassen sie aber die vielgeliebte Lipidgemeinschaft nicht wieder. Warum sollten sie ins ungeliebte wäss-
3.2 Passage und Transport von Substanzen durch Membranen
rige Cytosol hinein diffundieren? Gewiss, einige Moleküle werden, von ihrer thermischen Energie getrieben, auch ins Cytosol gelangen. In größerem Umfang treten lipophile Substanzen aber nur ins Zellwasser ein, wenn in der Membran Sättigungsdruck herrscht oder durch Abfangen der Lipidmoleküle im Cytosol durch besondere Lipid-bindende Proteine ein hohes Konzentrationsgefälle zwischen Membran-gelösten und Wasser-gelösten Lipiden aufrechterhalten bleibt. Wie auch immer: die Permeationsfähigkeiten der Substanzen sind sehr unterschiedlich. Biologische Membranen sind auch ohne Bestückung durch Proteine schon selektiv permeabel. In die Membran integrierte Proteine erhöhen die Selektivität und wirken gegebenenfalls als spezielle Poren, Translokatoren oder Pumpen. Im Folgenden werden Permeations- und Translokationssysteme systematisch diskutiert.
3.2.3 Passive Permeation per Diffusion kann über Zellmembranen hinweg durchaus sehr rasch erfolgen; doch dann nimmt die Wandergeschwindigkeit rapide ab Diffusion ist die Ausbreitung von Molekülen dank ihrer thermischen Bewegung. Permeation ist das Hindurchtreten von Molekülen durch eine Membran per Diffusion. Für N2, O2, CO2 und ähnliche gut diffusible Substanzen gilt: Der Flux oder Diffusionsstrom, d. h. die Menge der pro Zeit- und Flächeneinheit über die Membran diffundierenden Moleküle, ist eine Funktion der Konzentrationsdifferenz (bzw. des Konzentrationsgradienten dS/dx), ebenso wie der Wärmefluss eine Funktion der Temperaturdifferenz ist. Es gilt das Fick’sche Diffusionsgesetz (s. Kap. 8; Abb. 8.1). In seiner allgemeinen Form besagt dieses Gesetz, dass die Menge der Substanz S, die sich in einer Sekunde per Diffusion fortbewegt, proportional ist zu der örtlichen Konzentrationsdifferenz und der zur Verfügung stehenden Querschnittsfläche, hingegen umgekehrt proportional zu der Strecke, die die Moleküle per Diffusion überwinden müssen.
Je nach dem Fall, den man betrachtet, kann die aktuelle Formel recht kompliziert sein. Für biologische Systeme sind insbesondere Diffusionsprozesse von Interesse, bei denen eine Substanz durch eine flächige Grenzschicht (Zellmembran, Epithel) in einen Raum (Zellinneres, Blutgefäße) hinein oder aus ihm heraus diffundiert. Wenn Diffusion von vitaler Bedeutung ist, wie bei Atemorganen, muss die Austauschfläche groß, die Diffusionsstrecke (z. B. Dicke der trennenden Epithelien) klein sein.
Über eine Membran hinweg können die Moleküle in der Regel blitzartig diffundieren, sofern die Membran wenig Widerstand bietet; denn in der Regel ist über die Membran hinweg die Konzentrationsdifferenz hoch. Ist aber die Membran passiert, verlangsamt sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit enorm. Grund dafür ist, dass die Molekülschar sich von nun an in allen drei Raumrichtungen ausbreiten kann. Von einer Fläche (zwei Dimensionen) geraten die Moleküle in einen Raum (drei Dimensionen). Die Konzentration nimmt mit dem Quadrat der Entfernung von der Membran ab und damit auch die Diffusionsgeschwindigkeit. Eine doppelt lange Wegstrecke beansprucht die vierfache Zeit. Man kann sich mangels direkter Anschauung schwer vorstellen, wie rasch oder langsam Diffusion in Abhängigkeit von der zu bewältigenden Strecke ist. Wie lange braucht es, bis sich der Zucker ohne Umrühren und ohne Unterstützung durch thermische Konvektion in der Kaffeetasse gleichförmig ausbreitet? Zur Verdeutlichung listet Tabelle 3.1 einige
Tabelle 3.1. Durchschnittliche Diffusionsstrecke von Zuckerund Sauerstoffmolekülen in unbewegter wässriger Lösung und die dazugehörende Diffusionszeit. (Zuckerdaten aus verschiedenen Quellen) Substanz
Diffusionsstrecke
Diffusionszeit
Zucker
130 nm 1,3 μm 13,0 μm 130,0 μm 1,3 mm 1,3 cm 8 nm (Dicke einer Zellmembran) 8 μm (Durchmesser Erythrocyt) 800 μm 8 cm
1/30 000 s 1/300 s 1/3 s 30 s 1 Stunde 100 Stunden 1,6 × 10–8 s
Sauerstoff
1,6 × 10–2 s 2,7 min. 18,7 Tage
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3 Molekulare Motoren, Pumpen und Transportsysteme
Werte auf (für Sauerstoff vermittelt auch Abb. 8.1 eine Vorstellung). Wichtige Erkenntnis: Von einer ergiebigen Quelle weg ist Diffusion über eine kurze Distanz von einigen μm blitzschnell, über Strecken >1 mm unerträglich langsam. Theoretisch kalkulierte Werte können aber täuschen. Der Diffusionskoeffizient ist in der Zellmembran ganz anders als in Wasser. Für viele Moleküle ist er in der Membran nahe Null; die Membran ist dann für diese Moleküle impermeabel!
3.2.4 Kanäle und Carrier erleichtern die Diffusion und machen sie selektiv
Influx
Wir überlassen es Fachleuten zu streiten, ob zwischen Carrier (Transporter, Permease, Translokator) und Kanal ein Unterschied besteht (in Abb. 3.12 wird ein möglicher Unterschied zwischen Kanal und aktivem Translokator angedeutet). Jeden-
falls handelt es sich um Membran-durchspannende Strukturen eines Proteins, die eine substanzspezifische Passage ermöglichen. Sie vermitteln die katalysierte oder erleichterte (gebahnte, facilitated) Diffusion (Abb. 3.8). Sie wird ebenso wie die normale, nicht-erleichterte Diffusion vom Konzentrationsgradienten getrieben. Mit dem Ausgleich des Konzentrationsgefälles erlischt der Diffusionsdruck. Es gibt jedoch außer der Selektivität noch einen weiteren Unterschied zwischen normaler und gebahnter Diffusion: Weil Kanäle oder Carrier nicht in unbegrenzter Zahl pro Flächeneinheit zur Verfügung stehen, wird bei einem Überangebot an Substanz ein Sättigungsniveau im Fluss durch die Membran erreicht (Abb. 3.8). Die Fachwelt spricht von Sättigungskinetik. Der Begriff Kinetik meint in der Biochemie den zeitlichen Verlauf einer Reaktion (Geschwindigkeit, Menge an erzeugten Produkten) in Abhängigkeit von einem Parameter (z. B. Konzentration einer beteiligten Substanz). Zusammenfassend gilt:
Extrazelluläre Konz. von S
Rein passive Per meation per Diffusion
Kanal-vermittelte Permeation per Diffusion Sättigungsniveau
Abb. 3.8. Diffusion durch eine Membran. Passive Diffusion und spezifische, „erleichterte“ ( facilitated) Diffusion, hier durch einen Kanal hindurch. Die Diffusion durch eine Pore ist selektiv; die Poren haben aber eine beschränkte Kapazität. Man misst eine „Sättigungskinetik“
ohne Hemmung
Influx
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bei kompetitiver Hemmung
Extrazelluläre Konz. von S
3.2 Passage und Transport von Substanzen durch Membranen
Katalysierte Diffusion ist ●
substanzspezifisch,
●
ist durch ähnliche Substanzen kompetitiv hemmbar,
●
zeigt eine Sättigungskinetik,
●
kommt zum Stillstand, wenn die Konzentration frei beweglicher Moleküle beidseitig der Membran gleich ist. 3.2.5 Auch passiv herein diffundierende Substanzen lassen sich in der Zelle anreichern
P
P P Glucose
P
GLUTransporter Glykogen
Anreicherung durch Abfangen oder chemische Modifikation (z. B. Glucose zu Glucose-phosphat)
Wenn sich Substanzen in einem Membran-umschlossenen Raum anreichern, muss dies keinesfalls stets auf aktivem Transport durch ATP-getriebene Translokatoren beruhen. Es gibt mindestens drei andere Möglichkeiten: Elektrophorese durch Membranporen. Der Einstrom elektrisch geladener Substanzen kann durch ein elektrisches Feld unterstützt werden. Nicht nur das Laborpersonal, auch eine Zelle kann Elektrophorese betreiben (Abb. 3.9). Ein wohlbekanntes elektrisches Feld ist das normale „Membranpotential“, wie es nicht nur in „erregbaren“ Zellen, d. h. Sinnes-, Nerven- und Muskelzellen, sondern auch in den meisten anderen Zellen gemessen werden kann. Energie muss hierbei zur Erzeugung der elektrischen Spannung aufgewendet werden, nicht aber für die Translokation der zu transportierenden Substanz. Ionen jeder Art, auch organische Säuren oder Basen, lassen sich mit elektrischer Spannung durch Membranporen treiben, wenn die Poren nur ausreichend permeabel sind und die elektrische Spannung nicht allzu bald zusammenbricht. Das Brownian-ratchet. Ganz ohne Einsatz von ATP oder anderer chemisch gespeicherter zelleigener Energie geschieht die Translokation eines Makromoleküls nach dem Brownian-ratchet-System. Die thermische Brownsche Molekularbewegung des Moleküls, welches es zu transportieren gilt, wird mittels einer Sperrklinke (englisch: ratchet = gezahnte Sperrstange) in eine gerichtete Bewegung verwandelt (Abb. 3.10). Dabei ist sehr wohl auch eine Anreicherung der translozierten Moleküle in einem
Transport und Anreicherung durch Ionophorese (Elektrophorese)
Abb. 3.9. Mechanismen zum Anreichern ohne den Betrieb von ATP-getriebenen Pumpen. Die Anreicherung beruht auf Abfangen und Binden. Im Gleichgewicht ist die Gesamtkonzentration im Zellinneren höher, nicht aber die Konzentration der frei beweglichen Teilchen. Im unteren Beispiel zieht die negative elektrische Ladung positiv geladene Kationen ins Zellinnere und hält sie fest
Membran-umgrenzten Raum, z. B. im Lumen des Endoplasmatischen Reticulums, möglich. Anreicherung durch Abfangen und ortsfeste Bindung der hereindiffundierenden Substanz. Diese dritte Methode der Anreicherung ist sehr häufig. Die Zelle fängt die einströmenden Moleküle und Ionen ab und bindet sie an größere Trägermoleküle oder ortsfeste Strukturen, um damit ein Konzentrationsgefälle an freien Molekülen oder Ionen aufrechtzuerhalten (Abb. 3.9).
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3 Molekulare Motoren, Pumpen und Transportsysteme
Aminos.
Hsp 70, Chaperon
S-S Protein Ribosom
Sperrklinkeneffekt ER
Abb. 3.10. Molekularer Sperrklinken-Mechanismus ( ratchetPrinzip). Die thermische Zitterbewegung kann ausreichen, um ein Molekül (hier einen Proteinfaden) Stück für Stück durch eine Membranpore zu bewegen. In diesem Fall wird der Proteinfaden selbst zur Klinke. Seine Faltung verhindert ein Zurückschlüpfen in den Durchlasskanal
Die Zahl möglicher Beispiele geht in die Abertausende. Energie muss die Zelle in all diesen Fällen nicht direkt zum Transport aufbringen, aber kostenlos ist das Verfahren nicht, da die Synthese der abfangenden Moleküle Energie kostet.
3.2.6 Osmose, die Diffusions-getriebene Permeation von Wasser, wird durch das Abfangen freien Wassers unterstützt Auch bei der Diffusion der Wassermoleküle kommt es auf die Konzentrationsdifferenz an. Kann Wasser unterschiedliche Konzentrationen haben? Wenn man die Konzentration frei beweglicher Wasser-
moleküle betrachtet, sehr wohl! In Wasser gelöste Moleküle vielerlei Art binden Wassermoleküle und verschaffen sich so eine Hydrathülle. Je mehr derartige osmotisch wirksame Substanzen im Cytosol gelöst sind, desto geringer ist die Konzentration an freiem Wasser. Der osmotische Wert einer Lösung ist proportional zur Konzentration an wasserbindenden Teilchen und umgekehrt proportional zur Konzentration an freiem Wasser (auch als Wasseraktivität bezeichnet). Wasser diffundiert in eine Zelle, wenn der osmotische Wert des Zellinneren größer ist als der des umgebenden Wassers. Die Diffusion versucht, die Konzentration an freiem Wasser innen und außen auszugleichen. Dabei kann aber der hydrostatische Druck der Zelle zunehmen. Es kann sich ein osmotischer Druck entfalten, wenn der osmotische Wert des Cytosols über dem des umgebenden Wassers liegt. Alle Tiere, vom Einzeller bis zum Säuger, sind hyperton(nisch) gegenüber Süßwasser, Blutzellen sind hyperton(isch) gegenüber Blutwasser. Gemeinhin wird gesagt, dass der osmotische Wert unabhängig von der Art des gelösten Moleküls oder Ions sei. Für viele hydrophile, niedermolekulare Substanzen mag dies auch zutreffen. Unterschiede sind kaum messbar. Ein generell gültiges Gesetz ist diese Aussage aber nicht. Beispielsweise ist die Menge an gelöstem O2 und CO2 ohne messbaren Einfluss auf den osmotischen Wert, weil solch kleine, nur gering polare Moleküle (im Gegensatz zu Elektrolyten) keine große Wasserhülle um sich scharen (man spricht ausweichend von „physikalischer Lösung“). Demgegenüber binden Gefrierschutzsubstanzen sehr viel mehr Wassermoleküle als Durchschnittssubstanzen wie Zucker oder Aminosäuren. Für hydrophile Durchschnittsmoleküle gilt: Wenn eine semipermeable Messzelle (z. B. eine Pfeffersche Zelle) in destilliertes Wasser gebracht wird, erzeugt eine einmolare Lösung unter Standardbedingungen einen osmotischen Druck von 22,4 atm = 22,4 bar = 2,27 MPa. Die Gesamtmenge osmotisch wirksamer Teilchen einer lebenden Zelle entspricht in etwa einer 1-molaren Lösung. Folglich könnte sich in einer lebenden Zelle, wenn sie in destilliertes Wasser gebracht wird, ein Druck von 22,4 atm = 22,4 bar entwickeln! Der Binnendruck wäre damit nahezu zehnmal höher als der Luftdruck im Autoreifen (2 bis 3 bar).
3.2 Passage und Transport von Substanzen durch Membranen
Pflanzenzellen schützen sich durch die Zellwand vor dem Platzen. Tierische Zellen werden in destilliertem Wasser gedehnt, dabei wird die Zellmembran leck, der osmotische Druck fällt wieder ab; oder die Zelle lysiert. Eine Explosion mit lautem Knall wie beim platzenden Autoreifen hört man nicht, wenn man das Seefischfilet in Süßwasser wäscht.
3.2.7 Wasser wird indirekt mittels Ionenpumpen durch die Membran gepumpt
3.2.9 Aktiver Transport: ATP-getriebene Pumpen werden vor allem zum Aufwärtstransport von Ionen und stark polaren Molekülen entgegen dem Ladungsoder Konzentrationsgefälle benötigt Es hat gute Gründe, warum man in Zellmembranen vielfach ATP-getriebene Pumpen findet. Sie sind bei Bedarf leicht ein- und auszuschalten, können für den Transport vieler Substanzklassen eingesetzt werden und erlauben es, die Konzentration sogar der freien
Wie pumpt man Wasser durch eine Zellmembran, ohne dass im Zellinneren der osmotische Wert unerträglich abfällt (beim Hereinpumpen von Wasser) oder der osmotische Wert unerträglich ansteigt (beim Herauspumpen von Wasser)? Man benutzt eine Symport-Pumpe: Erst werden Ionen über die Membran befördert, ihnen folgen Wassermoleküle „osmotisch“ nach – „osmotisch“ heißt: aufgrund des entstandenen Gefälles in der Konzentration freien Wassers. Solche Ionen-getriebenen Wasserpumpen werden uns in der Niere begegnen (s. Abb. 6.10). 3.2.8 Cotransport: auch die Grundnahrung Glucose wird oft mittels Symport in die Zelle geholt Die Begriffe Cotransport, Symport oder Antiport sind häufig zu lesen, wenn es um den Transport von Glucose oder Aminosäuren geht. (Manche Autoren benutzen die Begriffe Cotransport und Symport synonym, andere betrachten wie dieses Buch Cotransport als Überbegriff, unter den sowohl Symport als auch Antiport fallen.) Ob Symport oder Antiport, generell wird bei solchen Cotransportsystemen die Konzentrationsdifferenz einer Substanz A ausgenutzt, um eine Substanz B in gleiche Richtung (Symport) oder in Gegenrichtung (Antiport) zu transportieren. Substanz A strömt kraft ihres Konzentrationsgefälles durch eine „Turbine“, die ihrerseits eine „Pumpe“ für B treibt (Abb. 3.11). Turbine und Pumpe können direkt aneinander gekoppelt und durch denselben Proteinkomplex verwirklicht sein, oder es stehen für A und B unterschiedliche Translokatoren bzw. Kanäle zur Verfügung wie im Falle des Wassertransports (s. Abb. 6.10).
Abb. 3.11. Cotransport. Verschiedene Möglichkeiten
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3 Molekulare Motoren, Pumpen und Transportsysteme
Substanz in der Zelle über die Konzentration in der Umgebung anzuheben. Besonders Kationen und andere elektrisch geladene Teilchen werden oft mittels Membran-assoziierter ATPasen durch Membrankanäle gepumpt. Eine hypothetische Vorstellung darüber, wie Ionen durch eine Membran getrieben werden könnten, vermittelt Abb. 3.12. Die Zellphysiologie unterscheidet heute drei Klassen von Ionen-Transport-ATPasen: 1. P-Typ-ATPasen, die wie beim eben diskutierten Beispiel (Abb. 3.12) ihren Dienst durch Übertragung von Phosphat auf Ionen-Pumpen verrichten (P = Phosphat). Hierzu zählen ●
die Na+-K+-ATPase; dieser ATP-getriebene Antiporter holt pro verbrauchtem ATP drei Natrium-Ionen aus der Zelle heraus und pumpt zwei Kalium-Ionen hinein (Abb. 3.12). Die Pumpe
schafft eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau eines elektrischen Membranpotentials. (Weitere Voraussetzungen sind Überschuss ortsfester Anionen im Zellinneren und Semipermeabilität der Membran. Darüber wird Kap. 14 berichten und erläutern, wozu dieses elektrische Spannung dient.) ●
die Ca2+-Pumpe im Endoplasmatischen Reticulum der Muskelzellen, die nach Beendigung der Kontraktion Calcium-Ionen blitzschnell ins ER zurückpumpt;
●
die H+-K+-ATPase in den Fundusdrüsen des Magens, die der Salzsäureproduktion dient (s. Kap. 4; Abb. 4.9).
Alle diese P-Typ-ATPasen gehören der gleichen Proteinfamilie an. Die Proteine bilden ionenselektive Poren in der Membran.
Abb. 3.12. Ionenpumpe (ATPase). Hier Modell der Na+-K+-ATPase, die pro verbrauchtem ATP 3Na+ aus der Zelle heraus und 2K+ in die Zelle hinein befördert. Frei nach Artigas and Gadsby (2003)
3.2 Passage und Transport von Substanzen durch Membranen
2. V-Typ-ATPasen. V-Typ heißt Vakuolen-Typ. Man findet diese ATPase nicht nur in den Membranen der Vakuolen pflanzlicher Zellen, sondern beispielsweise auch in den Membranen der Lysosomen oder in Zellen des Darms und der Malpighischen Gefäße der Insekten. Dort vermitteln sie den Ionenaustausch zwischen dem Blut (Hämolymphe) und der Außenwelt. 3. F-ATPasen sind im Regelfall keine ATPasen sondern ATP-Synthasen. Die Protonen-getriebene ATP-Synthase der inneren Mitochondrienmembran (Abb. 2.4b) gehört dazu. Potentiell können ATP-Synthasen auch rückwärts laufen und ATP spalten. 3.2.10 In ihrem Öffnungsgrad gesteuerte Ionenkanäle werden zur Erzeugung veränderlicher elektrischer Spannungen und damit zur Codierung, Weiterleitung und Decodierung von Information benutzt Ionenkanäle, deren Öffnungsgrad gesteuert werden kann, werden in den Kapiteln zur Physiologie von Nerven-, Muskel- und Sinneszellen vorgestellt (s. Kap. 14, 15). Es zählen darunter die Spannungsgesteuerten und Liganden-gesteuerten Kanäle entlang von Nerven- und Muskelfasern und in den synaptischen Membranen.
damit sogar die Ernährung einer Zelle durch eine Nachbarzelle. Schließlich können sogar Peptide mit bis zu zehn Aminosäuren und viele andere Substanzen die Kanäle passieren. 3.2.12 Bei sehr großen Molekülen, Molekülaggregaten und Partikeln helfen nur Endocytose, Exocytose oder Transcytose Endocytose meint den Import von Substanzen vermittels sich einstülpender Membranvesikel, die die Substanzen einschließen und zur weiteren Verwertung ins Zellinnere befördern. Durch Endocytose importierte Substanzen werden in der Regel einem intrazellulären Verdauungsapparat (Lysosomen, Proteasomen = Maschinen aus vielen Proteasen) zugeführt. Wie solche Vorgänge vonstatten gehen, wird hier nicht im Detail geschildert. Es wird jedoch auf die Funktion des intrazellulären Verdauungssystems bei der sogenannten Antigenpräsentation durch Immunzellen hingewiesen (s. Kap. 7). Exocytose meint den Export von Substanzen über Vesikel, die im Bereich des ER-Golgi-Systems entstehen und mit Substanzen gefüllt werden, dann an die Zelloberfläche transportiert werden, sich hier nach außen öffnen und ihren Inhalt freigeben. Durch Exocytose werden Verdauungsenzyme, Hormone oder Neurotransmitter freigesetzt.
3.2.11 Gap junctions sind Kanäle, die elektrische Ströme und niedermolekulare Substanzen von Zelle zu Zelle passieren lassen Gap junctions sind Kanäle, die wenig selektiv sind und Moleküle bis zur Molekülmasse von ca. 1000 passieren lassen. Würden sie sich ins Außenmedium öffnen, würde eine Zelle unverzüglich „ausbluten“. Das Besondere an Gap junctions ist jedoch, dass die Kanäle zweier benachbarter Zellen direkt aneinandergefügt sind, sodass durchgehende Kanäle von Zellinnenraum zu Zellinnenraum hergestellt werden (s. Abb. 15.1). Solche Kanäle werden im Herzmuskel zur raschen Leitung von elektrischen Strömen („Aktionspotentialen“) benutzt, um die Kontraktion der einzelnen Muskelfasern zu koordinieren. Der weite Durchmesser der Kanalröhren erlaubt aber auch die Passage von ATP, Glucose und Aminosäuren, und
Transcytose
Endocytose
Lysosom
ER
Endosom Exocytose
Golgi
Abb. 3.13. Transport von großen Molekülen und von Molekülaggregaten
69
70
3 Molekulare Motoren, Pumpen und Transportsysteme
Transcytose meint das Durchschleusen von Materialien durch eine Zelle hindurch (Abb. 3.13). Über Transcytose wird in der Milchdrüse die Milch mit Fetten und Proteinen inklusive Antikörpern angereichert. Über Transcytose besorgt sich ver-
Zusammenfassung des Kapitels 3 Das Kap. 3 befasst sich mit molekularen Motoren und Transportsystemen. Bemerkenswerterweise gibt es in der inneren Mitochondrienmembran mit der F-Typ ATP Synthase einen Motor, der einen sich drehenden Rotor besitzt. Dieser Rotationsmotor dient dazu, die endergone ATP-Synthese zu bewältigen. Treibende Kraft ist die Protonen- Konzentrationsdifferenz ΔH+ über der inneren Mitochondrienmembran (s. Abb. 2.4b). Für die Verlagerung von beweglichen Teilen des Cytoskeletts, beispielsweise für das Verschieben von Actinsträngen und Mikrotubuli gegeneinander, sowie für den Transport von Cargo-beladenen Vesikeln entlang solcher fester Strukturen, stehen verschiedene molekulare Motoren zur Verfügung. Gemeinsam ist ihnen, dass sie aus Dimeren oder multimeren Aggregaten aufgebaut sind, und jedes Aggregat eine bewegliche Struktur hat, die zu zyklischen Hin- und Herbewegungen befähigt ist. Jeder Zyklus enthält einen Kraftschlag
mutlich der Säugling Antikörper aus der Muttermilch. Über Transcytose werden bei vielen „niederen“ Tieren (z. B. Hydra, Planarien) Zellen, die nicht direkt an den Verdauungskanal grenzen, mit Nahrung versorgt.
( power stroke), dessen treibende Kraft aus der Hydrolyse eines ATP bezogen wird. Myosin-Hebelarme (lever arm) bewegen Actinstränge gegeneinander; darauf basiert auch die makroskopische Kontraktions- Relaxations-Zuckung einer Muskelfaser. Die Gleitmotoren des Kinesin – und Dyneintyps transportieren u. a. Vesikel von der Golgi-Fabrik einer Nervenzelle entlang der Gleitschiene eines Mikrotubulus durch eine Nervenfaser hin zur Synapse (Kinesin) oder bringen Vesikel zwecks Recycling von der Synapse zum Golgi-Apparat zurück (Dynein). Dyneinmotoren erzeugen auch die Kräfte für den Cilienschlag. Es wird ferner ein systematischer Überblick geboten über Systeme, die den Transport und Austausch von Ionen und Substanzen über Zellmembranen vermitteln. Angesprochen werden Diffusion und erleichterte, selektive Diffusion via Carrier und Ionenkanäle, sowie ATP getriebene, den „aktiven Transport“ vermittelnde Translokatoren; beispielsweise wird ein Modell der Na+-K+AustauschATPase vorgestellt, die in der Sinnes- und Nervenphysiologie eine wichtige Roll spielen wird.
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Tafel 1 Nahrungypyramide. A Satellitenbild der Antarktis und Umgebung Grün: Phytoplankton; rote Punkte: Krillvorkommen. B Trophiestufe 2, B1 Krebslarve im Plankton, B2 Krill der Antarktis, B3 “Nordischer Krill“. C Trophiestufe 2. D Trophiestufe 3. E Trophiestufe 4, hier Orca (Großer Schwertwal Orcinus orca), eine Robbe fangend. Bildquellen: A NASA Sea WIIFS image-NASA; B2 visitandlearn.co.uk; B1 Zoea von Gnathophausia, Foto Alexander Semonov; B3 Nördlicher Krill Meganyctiphanes; Foto Oystein Paulsen; C1 Foto Kevin Raskoff, NOAA Oceanexplorer; D, C2 Lehrbildsammlung des Autors WM; C3 Thomas Dierscherl (www.bildermehr.de), E Courtesy Debra Shearwater (www.shearwaterjourneys.com) Tafel 2 Ernährung. Quellen von Vitaminen und weiteren essentiellen Nahrungsbestandteilen von der Steinzeit bis in die Gegenwart. A, B heute noch angebaute Ausgangsformen des Weizens: A Einkorn. B Schwarzer Emmer. BK Brunnenkresse. C Preiselbeeren. D Heidelbeeren. G Buchweizensamen. M Zitronenmelisse. H Haselnüsse. I Steinpilz. E Vogeleier. F Bachforelle. FB Flussbarsch. K Flusskrebs. L Steinzeitliche Darstellung von Jagdwild in der Höhle von Lascaux in Südfrankreich. Bildquellen: A, B emmer-einkorn.ch; BK Silvia Heinrich (www.kraeuterei.de); I Sepp Keller, Pilzverein Region Baden CH; M Ulrich Waehling, Ellerau; L Norbert Aujoulat, Centre Nationale de Prehistoire Perigeux; G Botanik Uni Karlsruhe; D, E, F, FB, H, K Bildsammlung WM, Fotograf unbekannt Tafel 3 Nahrungserwerb I. Ähnliche Nahrungsquellen können zu konvergenten Lösungen führen. Beispiel: Blütennektar im Schwirrflug eingesaugt A von einer Blüten-besuchenden Fledermaus, B, C von Kolibris (Colibri thalassinus) und D einem Schwärmerschmetterling (Hummelschwärmer Hemaris fuciformis).
Bildquellen: A Dietmar Nill, Naturfotograf; B Bettina + Uwe Steinmueller, outbackphoto.com; C Lehrbildsammlung WM; D J Muller, Le Monde des Insectes, Lepidopteres Tafel 4 Nahrungserwerb II. Kleine Auswahl der vielfältigen Möglichkeiten, zu seiner Nahrung zu gelangen. A Schützenfisch. B Die australische Spinne Deinopis fertigt Netze an, die sie auf ihre Opfer wirft. C Anglerfisch. D Marine Schnecke Conus, einen Giftpfeil (Harpune) in einen Polychaeten schießend. Bildquellen: A Bruce Coleman, bezogen von photoshot.com; B-D Lehrbildsammlung WM Tafel 5 Blutzellen. A, B konventionelle Blutausstriche. C Lymphocyt. F Weiß-graue Klümpchen = Blutplättchen (platelets) Auslöser der Fibrinbildung (Blutgerinnung) und Fibringerüst. I Mikrofilarie = Stadium des Nematoden Wucheria bancrofti, des Verursachers der Elefantiasis. Bildquellen A, B Urheber unbekannt; C Dr. Triche, National Cancer Institute; F-I www.eyeofscience.de, bezogen über Agentur-focus.de Tafel 6 Thermoregulation. A Potentielle Winterschläfer: A1 Haselmaus, A2 Dsungarischer Zwerghamster Phodopus sungorus, A3 Alpenmurmeltier Marmota marmota. B Gartenspitzmaus, fällt bei kühler Temperatur in Topor. C „Kängururatte“ Dipodomys, eine Springmaus, die neben Zwerghamster und Murmeltier viel zum Thema Thermoregulation und Wasserhaushalt physiologisch untersucht wird. D, E Schutz vor Wärmeverlust bei Kaiserpinguinen. F Wandlung von Lichtenergie in Wärme beim (jungen) Eisbär. Die weißen Haare leiten wie Glasfasern Licht zur schwarzen Haut, wo die Lichtenergie in Wärme umgewandelt wird. G Abkühlung. Bildquellen: A1 wdr-Fotoalbum, Foto Olaf Müller; A2 www.dsungarischer-zwerghamster.de;
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A3 Francois Trazzi, scinexx Springer Wissensmagazin; B Sebastian Ritter, Hagenbach; C US Fish & Wildlife photo; G Natur- und Tierpark Goldau CH; D, E Heiner Kubny, Zürich (www.kubny.ch); F Credit: www.firstpeople.us Tafel 7 Hormone, Vegetatives Nervensystem, Verhalten und nichtverbale Kommunikation. A Übergang vom sympathischen auf das parasympathische System. B Verhaltensweisen, bei denen die Hormone Prolactin und Oxytocin im Spiele sind. C Dominanz des sympathisch-adrenergen Systems. Die optischen Signale der Mimik versteht man instinktiv. Bildquellen A1-A3 vom Autor WM privat; Bild B1 und B3 Mit freundlicher Genehmigung von Prof. William Calvin, University of Washington; C1 (Plakatbild) und C2 Bildautoren unbekannt Tafel 8 Hormone und Pheromone. A, B, C Klassische Objekte der Hormonforschung. A Der Krallenfrosch Xenopus laevis: A1 Metamorphose, Modell für Thyroxinwirkung; A2 adulte Krallenfrösche wurden lange für Schwangerschaftstests benutzt. Wird in den dorsalen Lymphsack HCG-haltiger Urin injiziert, laichen sie ab („Galli-Mainini-Test“). B Axolotl (Ambystoma mexicanum), der normaler-
weise im Wasser bleibt und seine Kiemen behält (Neotenie), aber mittels Thyroxin bisweilen zur vollständigen Metamorphose und zum Leben an Land gebracht werden kann. B1 Neotener Albino, B2 Neotener Wildtyp, B3 Wildtyp nach vollständiger Metamorphose. C Manduca sexta (tobacco worm), ein Klassiker der Insektenhormonforschung. D Seidenspinner Bombyx mori (silk worm oder silk moth). Vom Seidenspinner wurde mit dem Sexuallockstoff das erste Pheromon isoliert. Bild D2 zeigt Raupen zweier verschiedener Zuchtstämme E Hormonmissbrauch, hier Wachstumshormon und androgene Steroide F Patschender, d.h. Pheromone versprühender Eber. Bildquellen: A1 Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Robert J Denver and David Bay (Fotograf), University of Michigan; A2 Albino von Xenopus laevis, Bildautor unbekannt; B1 Werbebild, Bildautor unbekannt; B2, B3 www.axolotl-online. de; C Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Richard G Vogt, University of Washington; D Mit freundlicher Genehmigung von Michael Cook, www.wormspit.com; E Werbebilder, Bildautoren unbekannt; F Mit freundlicher Genehmigung von Ansgar Behrens, Köln
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4
Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
Man wird kaum ein Organsystem nennen können, das nicht direkt oder indirekt teilnimmt an der Versorgung des Körpers mit Materialien und Energie, an deren Verteilung im Körper, oder an der Entsorgung des Körpers von unbrauchbaren Endprodukten, von gefährlichen Substanzen mancherlei Herkunft und von Krankheitserregern. Organsysteme, denen hierbei eine dominierende Funktion zukommt wie Verdauungstrakt, Leber, Niere oder Immunsystem, werden in der akademischen Lehre nach alter Tradition unter dem Begriff „vegetative Physiologie“ abgehandelt. Das Adjektiv „vegetativ“ soll „pflanzenhafte“, „niedere“ Funktionen unter die höheren „animalen“ Funktionen des Sinnes- und Nervensystems stellen. Logisch ist die Benennung „vegetativ“ nicht; denn ein Tier ist definitionsgemäß nicht autotroph; es ernährt sich nicht pflanzenhaft, sondern, direkt oder indirekt, von Pflanzen.
4.1 Was die Nahrung enthalten sollte 4.1.1 Es gibt unverzichtbare, essentielle Nahrungsbestandteile: bestimmte Aminosäuren, Fettsäuren, Vitamine, anorganische Ionen und Spurenelemente
I. Energieträger Bedarf (Mensch): 15%
50% Kohlenhydrate
Protein
Glykolyse
35% Fettsäuren ß-Oxidation
Citratcyclus CO2 H 2O
Atmungskette
ATP
II. Baustoffe Essentielle Aminosäuren
Essentielle ungesättigte Fettsäuren:
Verzweigt: Valin, Leucin, Isoleucin
Linolsäure Linolensäure Arachidonsäure
Basisch: Lysin, (Arginin) Hydroxyliert: Threonin Schwefelhaltig: Methionin, Cystein
Nicht essentiell: Nucleotide Zucker (Pentosen, Hexosen)
Ringförmig: Histidin, Phenylalanin Tryptophan, (Tyrosin) III. Funktionsträger 1. Vitamine (Essentielle Vorläufer von Coenzymen oder Signalstoffen) 2. Elektrolyt-Ionen, Spurenelemente Natrium, Kalium, Calcium, Magnesium Zink, Eisen, Kupfer, Molybdän, Kobalt, Selen Chlorid, Jodid, Bromid, Phosphat, Sulfat
Ob nun der Herbivor Pflanzenkost bevorzugt, der Carnivor Fleischkost, oder ob man wie der Mensch zu Mischkost neigt, die Nahrung muss bestimmte Komponenten enthalten (Abb. 4.1):
Abb. 4.1. Nahrungsbestandteile
I. Energieträger: Kohlenhydrate, Fettsäuren, Proteine. Tabelle 4.1 gibt an, mit welchen Nahrungsmitteln man wie viel an Protein, Fetten und Energiepotential zu sich nimmt, Tabelle 4.2, wie man Überschüssiges loswerden könnte. Bei der Auswahl von
Nahrungsmittel darf auf die umstrittenen Lipide (fettartige Substanzen) und Proteine nicht verzichtet werden; denn sie sind auch Materialien, denen essentielle Baustoffe entzogen werden müssen.
IV. Wasser
72
4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung Tabelle 4.1. Nahrungsmittel: Gehalt an Substanz und Energie (Gewichts%: der zu 100% fehlende Anteil entfällt auf H2O und Ballaststoffe (Pflanzenfasern u. a.); + in Spuren, − keine Angaben) Nahrungsmittel: 100 g des essbaren Anteils enthalten Gewichts% (Rest: H2O, Ballast) Protein Fleisch, Wurst, Fisch Schweinefleisch, fett Rindfleisch, mager Rind: Leber Huhn, gekocht Salami Forelle Ei (Hühnerei) Eiweiß Eigelb
Fett
− − 6 − + 30
55 55 245 75 85 +
1630 720 550 840 2200 220
11 16
+ 32
1 +
0 1400
230 1580
5 2 3
12 + 95
280 370 1580
+ + +
240 0 0
3250 3190 3880
74 52 72 79
0 0 140 0
1550 1060 1630 1540
19
0
0 0
360 1214 2254 120 150 75
0 0
210 160
Speisefette, Öle Butter Margarine Olivenöl
1 1 +
83 80 100
Getreideprodukte Weizenmehl Mischbrot Eiernudeln Reis, geschält
11 7 13 7
1 1 3 1
Alkohol. Getränke Je 200 ml Bier, Pils Weißwein, trocken Rotwein Whisky
Kohlenhydrate
37 11 3 13 47 1
3,5 17 25
Obst Äpfel Orangen
Energie in kJ
10 15 18 20 17 10
Milchprodukte Vollmilch Speisequark, mager Hartkäse (45% Fett)
Kartoffeln, Gemüse Kartoffeln ● Pommes frites ● Chips Karotten Erbsen, grün Spinat, Tomaten
Cholesterin mg
3,5 1 28
2
+
1 3 1–2
+ + +
6 6 2–3
0,3 0,7
+ +
0.07 +
−
12 9 + Alk. 8 13
II. Essentielle Baustoffe. Essentiell werden Nahrungsbestandteile genannt, die der tierische oder menschliche Organismus unverzichtbar benötigt, aber nicht selbst herstellen kann, weil ihm die nötige Enzymausstattung fehlt. Obwohl es zwischen den verschiedenartigen Tieren Unterschiede gibt, was in Eigenproduktion selbst hergestellt
397 590 670 2366
werden kann und was nicht, gelten die Restriktionen, denen unser eigener Körper unterworfen ist, für viele Tiere in ähnlicher Weise. Es gilt die Regel, dass Pflanzen – jedenfalls in ihrer Artenfülle – gegenüber Tieren die besseren biochemischen Maschinen und vor allem bei der Synthese komplizierter Moleküle mit ringförmigen Strukturen weit
4.2 Wozu Vitamine notwendig sind Tabelle 4.2. Der Ernährungs-Ratgeber: Normalgewicht und wie man Kalorien loswerden könnte. (Normalgewicht, in kg: Körpergröße in cm – 100 (± X) (± X = subjektiver Wert, im Widerspruch zur Empfehlung des Hausarztes) Tätigkeit
Gehen („Walking“) Joggen (11 km/h, Ebene) Bergwandern, ohne Gepäck Radfahren (15 km/h, Ebene) Schwimmen (Brust) Skiwandern Tennisspielen
Verbrauch pro 15 min in kcal
in kJ
78 188 120 98 158 140 107
326 786 482 410 661 586 448
leistungsfähiger sind. Anders betrachtet: Da Tiere eh direkt oder indirekt von Pflanzen leben, konnten sie Vielerlei von den Pflanzen ausleihen und somit darauf verzichten, die komplizierte Chemie selbst zu entwickeln. Essentielle Baustoffe sind ●
ungesättigte Fettsäuren,
●
viele Aminosäuren,
●
Vitamine (als Cofaktoren vieler Enzyme).
III. Funktionsträger: Hierunter können Substanzen und Elemente zusammengefasst werden, die weder als Speicher von Energie von Bedeutung sind noch als Baumaterialien, die aber in zellphysiologischen Prozessen unverzichtbare Hilfsfunktionen haben, wie anorganische Ionen (Elektrolyte = Salz-Ionen, z. B. K+, Na+, Ca2+, Mg2+, Cl–, Phosphat PO43–, Sulfat SO42–), Spurenelemente (Eisen, Kupfer, Zink, Zinn, Selen, Cobalt, Molybdän, Jod und Fluor – jeweils in Ionenform) und Vitamine.
4.1.2 Warum alte Menschen weniger Eiweiß brauchen als junge Eiweiße (Proteine) sind Lieferanten der Aminosäuren, aus denen wir wieder Proteine synthetisieren. Besonders viele Proteine muss selbstredend der junge, wachsende Organismus herstellen, weil er laufend viele neue Zellen erzeugt. Doch auch nach Abschluss des äußerlich wahrnehmbaren Wachstums kommen im Säugetier Zellteilungen
nicht zum Stillstand. Die Zellen des Blutes und vieler Gewebe, wie Haut, Haare, Lunge, Dünndarm, Leber, ja sogar Knorpel und Knochen, werden laufend regeneriert. Gealterte Zellen werden abgestoßen oder von Makrophagen verspeist, neue junge Zellen werden von jung bleibenden Stammzellen generiert. Diese Regenerationsprozesse kommen im Alter allmählich zum Stillstand. Der Bedarf an Aminosäuren sinkt.
4.2 Wozu Vitamine notwendig sind 4.2.1 Ihrer Herkunft nach sind Vitamine „sekundäre Pflanzenstoffe“; etliche können aber auch von Bakterien hergestellt werden Die Benennung „Vitamin“ spiegelt eine Hypothese wider, die aufkam, als man der Existenz von Vitaminen erstmals auf die Spur kam: Es gäbe noch unbekannte Spurensubstanzen, die lebensnotwendig (lateinisch: vita = Leben) seien und chemisch Amine. Lebensnotwendig sind diese Substanzen noch immer, doch sind sie in den seltensten Fällen Amine. Sie sind chemisch sehr heterogen und meistens kompliziert gebaut. Seit man organischen, essentiellen Spurenstoffen auf die Spur kam, sind auch zahlreiche Rezepte auf dem Markt, wie man ihrer durch Rohkost und gesunde Ernährung habhaft werden kann. Irgendwie scheint der wissenschaftliche und kommerzielle Markt aber nun gesättigt zu sein. Sei es, dass man nun alle Wirkstoffe pflanzlichen oder mikrobiellen Ursprungs kennt, die wir über den Verdauungstrakt aufnehmen müssen und für unsere Gesundheit unentbehrlich sind, sei es, dass Vitaminforschung nicht mehr in Mode ist, seit Jahren jedenfalls hat die Liste der anerkannten essentiellen Wirkstoffe keine Erweiterung mehr erfahren, obwohl immer wieder aus kommerziellen Gründen neue Vitamine in die Diskussion und auf Beispiel solcher sekundärer Pflanzenstoffe ist „Vitamin P“, eine Kollektion von pflanzlichen Flavonoiden. Rutin und Quercetin sind mögliche Komponenten, die man in Chemikalienkatalogen aufgelistet finden kann. Diese Substanzen sind keine essentiellen Nahrungsbestandteile, können jedoch durchaus gesundheitsfördernde Wirkung haben.
73
74
4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
Flavonoiden werden u. a. entzündungshemmende und antiallergische Wirkungen zugeschrieben. Nicht selten haben sich mutmaßliche Vitamine als Substanzgemische herausgestellt. Beispielsweise ist „Vitamin F“ zu einer Sammelbezeichnung für die in Abb. 4.1 aufgelisteten essentiellen ungesättigten Fettsäuren geworden. Einen Überblick über alle nachgewiesenen und mutmaßlichen Vitamine gibt http://db.ancient-future.net/vitamins.html
den Markt gebracht werden (neuerdings unter dem nichtssagenden Sammelbegriff „sekundäre Pflanzenstoffe“). Obzwar Vitamine seit geraumer Zeit bekannt sind, ist ihre Wirkungsweise noch längst nicht voll erschlossen. Quelle der Vitamine sind, auch wenn sie in Fleischprodukten zu finden sind, letztlich Pflanzen oder die symbiontischen Mikroorganismen unseres Verdauungstraktes (Tabellen 4.1 und 4.2). Eine altertümliche Einteilung gliedert die Vitamine in ●
wasserlösliche: B-Vitamine, Vitamin C, u. a. (Tabelle 4.3) und
●
fettlösliche: Vitamin A, D, E, K (Tabelle 4.4).
Diese Einteilung ist zwar etwas oberflächlich, aber für Ernährungsregeln durchaus noch brauchbar, und sie hilft zu einem Merksatz, der den Titel des folgenden Abschnittes liefert.
4.2.2 Die meisten wasserlöslichen Vitamine sind Komponenten oder Vorstufen von Coenzymen. Die Gefahr von Hypervitaminosen bei Überdosierung ist bei ihnen gering Manche Enzyme, insbesondere Enzyme mit bloß spaltender Funktion (Hydrolasen wie Proteasen und Lipasen), kommen allein mit ihren Aufgaben zurecht. Sie haben als Extrakomponenten vielfach Metallionen wie Zink in räumliche Nischen ihrer Tertiärstruktur eingebaut, bestehen jedoch sonst nur aus Ketten von Aminosäuren. Enzyme mit komplexerer Funktion wie ●
Elektronenübertragung (Redoxreaktionen),
●
Wasserstoffübertragung,
●
Gruppenübertragung: – Methyl CH3−, Acetyl CH3–CH2−, – Phosphat (Phosphoryl) –PO43– – Carboxyl- –COO−, Kohlendioxid CO2, – Nukleotide (z. B. Adenosin) etc.
benötigen einen Partner, ein Coenzym, mit einer chemischen Struktur, die nicht durch bloßes Zusammenketten von Aminosäuren herstellbar ist. Dieser Partner ist ringförmig und/oder verzweigt und wird von Pflanzen oder Mikroorganismen hergestellt. Überblickt man Tabelle 4.1, so fällt auf, dass eine Reihe von Vitaminen eine essentielle Rolle im basalen Zellstoffwechsel haben. Beispiel Vitamin B1, offiziell Thiamin, bisweilen auch Aneurin genannt, biologisch aktiv als Thiamin-Pyrophosphat (TPP). ●
Als Coenzym der PyruvatdecarBoxylase katalysiert TPP die Reaktion Pyruvat → Acetyl-CoA und koppelt so die Glykolyse mit dem Citratcyclus (Abb. 4.2).
●
Thiamin katalysiert im Citratcyclus den Übergang von α-Ketoglutarat zu Succinyl-CoA.
●
Thiamin ist im Pentosephosphatweg beispielsweise bei der Produktion von NADP und Nukleotiden beteiligt.
●
Thiamin hat aber auch eine noch nicht geklärte Rolle bei der Erzeugung von elektrischen Impulsen im Nervensystem.
Diese vielfältigen Funktionen unterstreichen die Lebensnotwendigkeit der Vitamine, werfen aber auch die Frage auf, warum Vitamin-Mangelkrankheiten nicht sogleich zum Tode führen. Die Sicherungsstrategie sei am Beispiel einer typischen Vitamin-BMangelkrankheit diskutiert. 4.2.3 Polyneuritis: Oder wie der Körper dem drohenden Tod zu entkommen sucht Ernährungsbedingte Polyneuritis, ist eine Nervenkrankheit, die bei Unterversorgung mit Vitamin B1 (Thiamin Abb. 4.2) auftritt. Die Sympto-
4.2 Wozu Vitamine notwendig sind Tabelle 4.3. Wasserlösliche Vitamine Name des Vitamins/Struktur
ist Komponente von Coenzym
täglicher Bedarf des Menschen
B1 Thiamin (Aneurin) Pyrimidin+ Thiazolring
Thiamin-diphosphat
1,4 mg
Funktion: Kopplung der Glykolyse mit Citratcyclus, da Teil des Pyruvat-Dehydrogenase-Komplexes; vermittelt die Reaktion: Pyruvat → Acetyl-CoA + CO2 + NAD:H2 Mangel: Polyneuritis (Beri-Beri): Darm- und Hauterkrankungen, Muskelkrämpfe, Herzschwäche, vielerlei Nervenschäden, Paralyse Rohkost, Getreidehüllen, Fleisch Quelle: Symbionten des Verdauungstraktes Panthothenat
Coenzym A
5–10 mg
Funktion: Kopplung von Glykolyse und Fettsäureabbau mit Citratcyclus: Übertragung von aktivierter Essigsäure (Acetyl-): z. B.: Acetyl-CoA + Oxalacetat → Citrat; Herstellung von Acetylcholin Mangel: „Burning foot“, Müdigkeit, Schlaf- und Bewegungsstörungen Ei, Leber, Hefe Quelle: B2 Nicotinsäure Nicotinsäure-amid (Niacin)
NAD, NADP
18 mg
Funktion: NAD: Übertragung von Wasserstoff; dadurch Kopplung von Glykolyse und Citratcyclus mit Atmungskette NADP: Reduktion von Substanzen (z. B. ungesättigte Fettsäuren) mit Wasserstoff Mangel: Pellagra („black tongue“), Braunfärbung der Haut Durchfall, Hauterkrankungen, mentale Retardation Leber, Rohkost; von Mikroorganismen des Darms aus Tryptophan herstellbar Quelle: B2 Riboflavin Alloxazinderivat
FAD
1,6 mg
Funktion: Übertragung von Wasserstoff; dadurch Kopplung Citratcyclus mit Atmungskette Mangel: Wachstumsstörungen, trockene Lippen, errötete Haut, Hornhautschäden, Nervenerkrankungen Leber, Milch, Weizenkeime, Mikroorganismen Quelle: B6 Pyridoxin Pyridoxol Pyridoxamin
Pyridoxalphosphat
2,2 mg
Funktion: Spaltung von Glykogen (Phosphorylyse) in Glucose-Phosphat-Einheiten Transaminierungen Mangel: Krämpfe (Kinder), Nervenerkrankungen, Nierensteine Weizenkeime, Hefe, Mikroorganismen des Darms Quelle: H Biotin Funktion: Übertragung von CO2 z.B. Pyruvat + CO2 → Oxalacetat Übertragung von Carboxyl (–COO−) Mangel: Hauterkrankungen, Appetitlosigkeit Quelle: Eigelb, Leber, Hefe
ist selbst Coenzym
0,2 mg
75
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4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung Tabelle 4.3. (Fortsetzung) Name des Vitamins/Struktur
ist Komponente von Coenzym
täglicher Bedarf des Menschen
Folsäure
ist selbst Coenzym
0,4 mg
Funktion: Methyl- und Formyl-Übertragungen für Nukleotidsynthesen benötigt Mangel: Blutarmut (Megaloblastische Anämie) Darmerkrankungen (Sprue) Gemüse, Mikroorganismen des Darms Quelle: B12 Cobalamin (sehr kompliziertes Molekül mit Kobalt)
0.003 mg
Funktion: viele Funktionen, z. B. Methylübertragungen, Transaminierungen (NH2-Übertragung), intramolekulare Wasserstoffwanderungen Mangel: Blutarmut, unreife rote Blutzellen (Perniziöse Anämie), Wachstumsstörungen Quelle: Ei, Fleisch, Mikroorganismen des Darms Vitamin C Ascorbinsäure Pentose, sauerstoffempfindlich
60–100 mg
Funktion: Reduktionsmittel, z. B. bei der Konversion von Prolin zu Hydroxyprolin im Kollagen; wichtig für Bindegewebe, Knorpel und Knochen. Wirkt als Schutzmittel gegen schädliche Sauerstoffradikale (oxidativer Stress); schützt Mitochondrien und Membranlipide. Da Vitamin C verbraucht wird, und nicht nur katalytisch wirkt, müssen relativ hohe Mengen eingenommen werden Mangel: Frühjahrsmüdigkeit, Schwächung des Immunsystems, Bindegewebs-, Knorpel-, Knochenschwäche, Gelenkschwellungen Zahnausfall mit Blutungen (Skorbut), Tod durch Herzschwäche und innere Blutungen Citrusfrüchte, Beeren, Sauerkraut, Kartoffeln (rohes Fleisch) Quelle:
me sind beim Menschen ähnlich denen, die dem holländischen Arzt J. Bonitus 1630 in Java begegnete und als „Schafsgang“ oder Beri-Beri bekannt geworden sind. Die geographische Verbreitung der Krankheit korrelierte mit Regionen, in denen Reis Hauptnahrungsmittel war und die neu aufgekommene Mode, Reis zu schälen, Eingang gefunden hatte. Man hat die Symptome lange Zeit auf eine Verunreinigung des Reises mit toxischen Schimmelpilzen zurückgeführt (die anscheinend die Symptome verstärken), doch lassen sich im Tierexperiment vergleichbare Symptome auslösen, indem man z. B. Tauben zwangsweise ausschließlich mit geschältem Reis ernährt. (Die Getreideschale und der Getreideembryo im Samen enthalten Thiamin, nicht aber das geschälte Korn.) Von schleichenden Symptomen steigert sich das Schauspiel zum dramatischen Ende: ●
Appetitlosigkeit,
●
(beim Menschen weiterhin Müdigkeit, Gedächtnisschwäche)
●
Gewichtsverlust,
●
abfallende Körpertemperatur, Herzschlag,
●
Hauterkrankungen, Magen- und Darmerkrankungen, Durchfall
●
Apathie,
●
plötzlicher, krampfhafter Anfall: Die Tiere können sich nicht mehr auf den Beinen halten; der Kopf wird nach hinten gerissen (Abb. 4.2) und schon bald tritt der Tod ein, wenn nicht augenblicklich bei Beginn der Krämpfe Thiamin gespritzt wird.
verlangsamter
In der Reihenfolge der Symptome wird eine Strategie des Körpers erkennbar. Zunächst wird Vitamin von jenen Organen abgezogen, die nicht so elementar lebenswichtig sind: Fettpolster und Haut. Wenn man der Todesgefahr entrinnen will, müssen die letzten Reserven vor allem dem Nervensystem zugeführt werden. Sind auch diese Reserven verbraucht,
4.2 Wozu Vitamine notwendig sind Tabelle 4.4. Fettlösliche Vitamine Vitamin A Retinol – Transportform des Vitamins A Funktion:
Hypervitaminosen:
als Retinal – Teil des Sehfarbstoffes Rhodopsin als Retinsäure – Signalmolekül (Morphogen) mit vielfältigen Funktionen in der Embryonalentwicklung. Sehschwäche (Nachtblindheit), Austrocknung der Hornhaut des Auges, Verhornung der Schleimhäute, embryonale Missbildungen Embryonale Missbildungen, gelbe Haut, gelber Schweiß
Quelle:
Karotten, gelbe Früchte, Gemüse, Eigelb, Leber, Fisch
Mangel:
Vitamin D (Substanzgruppe, Isoprenoide mit Steroid-ähnlicher Struktur) Im strengen Sinn keine Vitamine, da D-Vitamine von Mensch und Tier aus Cholesterin hergestellt werden können, wenn auch oft in unzulänglichen Mengen. Aufnahme von Vorstufen über die Nahrung verhindert oder mildert Mangelerkrankungen. Die Synthese verlangt eine UV-Bestrahlung der Haut. Die Endstufe wird in der Haut und auch der Niere hergestellt. Es resultiert ein Hormon, das 1,25D (Cholecalciferol) Vitamin D3 Calciferol und Vitamin D2 Ergocalciferol sind Vorstufen des 1α,25-Dihydroxy-Vitamin D3. Sie werden aus Nahrungsmitteln resorbiert oder aus pflanzlichen Sterinen im Köper hergestellt, wobei ein Syntheseschritt durch UV-Bestrahlung der Haut aktiviert wird 1α,25 Dihydroxy-Vitamin D3 (1,25D, Cholecalciferol): Hormon, das in der Haut oder der Niere aus Calciferol oder Ergocalciferol hergestellt wird Hormonale Funktion: Unterstützt Parathormon, benötigt für Calcium- und Phosphatresorption im Darm; benötigt für Knochen-Aufbau und -Erhaltung; Regelfunktionen im Immunsystem, bindet an Rezeptoren im Zellkern von Immunzellen und stimuliert die Synthese antimmikrobieller Peptide Mangel:
Rachitis: Störungen im Knorpel- und Knochenwachstum. Verkrümmungen (krumme Beine, eingesenkte Brust), Knochentkalkung bei Erwachsenen, verminderte Leistung des Immunsystems
Quelle von Calciferol: Fischöl, Eigelb, Weizenkeimöl Überdosis:
Giftig; kann lebensgefährlich werden
Vitamin E (Substanzgruppe, Isoprenoidderivate) mit Tocopherol Funktion: Mangel: Quelle: Vitamin K Funktion: Mangel: Quelle:
Antioxidans, schützt ungesättigte Membranlipide und Proteine vor Angriff durch Sauerstoffradikale Mitochondrien-Degeneration, Herz- und Muskelschwäche, Blutarmut, Hautschäden Gemüse, Pflanzenöle, bes. Weizenkeimöl (Substanzgruppe, Naphtochinone mit Isoprenoid-Seitengruppe) mit Phyllochinon, Menachinon (Menadion). In ihrer Struktur ähnlich wie Vitamin A und Vitamin E Cofunktion bei Blutgerinnungsfaktoren Mangelnde Blutgerinnung, Blut im Stuhl Gemüse, Pflanzenöle, Leber, Mikroorganismen des Darms
ist der rasche Tod unvermeidbar. Diese Strategie des Körpers macht auch begreiflich, warum sich so viele Vitaminmangelkrankheiten in Symptomen einer krankhaft veränderten Haut kundtun. Die Haut muss als Sparkonto herhalten und ihr Guthaben abliefern. Da wasserlösliche Vitamine bei Überschuss schlicht über die Niere ausgeschieden werden können, ist die Gefahr einer Überdosierung gering, zum Unterschied zu den fettlöslichen Vitaminen, die sich in Leber, Fettzellen und den Myelinscheiden der Nervenzellen anreichern können.
4.2.4 Manche fettlöslichen Vitamine sind Vorstufen von Signalmolekülen; bei fettlöslichen Vitaminen sind Hypervitaminosen möglich Als Beispiel eines Vitamins der zweiten Gruppe sei Vitamin A diskutiert. Vitamin A leitet sich vom pflanzlichen Carotin B ab, heißt entsprechend auch Beta-Carotin, und gehört als solches zu den Terpenoiden, die auch als Isoprenderivate klassifiziert werden. Spaltet man das symmetrische Carotinmolekül in der Mitte, erhält man zwei Moleküle Vitamin A (Abb. 4.3).
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4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
Wirkungen in der Zellmembran. Als lipophile Substanz dringt Vitamin A in Zellmembranen ein. In die Membran integriert, kann Vitamin A eine Reihe rascher Wirkungen entfalten, z. B. die Funktion von Kanalproteinen beeinflussen. Die Aldehydform Retinal wird uns als lichtabsorbierende Komponente des Sehfarbstoffes Rhodopsin im Kap. 22 (Auge) wieder begegnen. Auch als Bestandteil des Sehfarbstoffes der Stäbchen und Zapfen ist Retinal in Membranen integriert.
NH2
N
P
P
N
N
S
Funktionen im Cytoplasma. Vitamin A kann von der Membran mittels besonderer cytoplasmatischer Rezeptoren abgeholt und ins Cytoplasma geleitet werden. Hier kann Vitamin A als Cofaktor bei Glykosylierungen beteiligt sein, d. h. bei der Anheftung von Zuckern an Proteine zur Herstellung der Glykoproteine.
Vitamin B1 = Thiamin-pyrophosphat TPP
Glucose
TPP = Coenzym der Pyruvat-Decarboxylase
Glykolyse
Pyruvat
Funktionen im Kern. Von der Retinsäure ist bekannt, dass sie an eine weitere Rezeptoren (RARs = retinoic acid receptors) binden kann, die in den Kern aufgenommen werden und als Transkriptionsfaktoren die Aktivität bestimmter Gene regulieren. Diese Rezeptoren werden im Kap. 11 (Hormone) vorgestellt, denn sie sind eng verwandt mit den Kernrezeptoren für Steroidhormone.
CO2 Acetyl-CoA Citrat Oxalacetat
Citratcyclus
α−Ketoglutarat TPP CO2 Succinyl-CoA
Abb. 4.2. Vitamin B1 und Polyneuritis. Vitamin B1 ist eine Komponente der Pyruvat-DecarBoxylase, die den Übergang von Pyruvat zu Acetyl-CoA katalysiert. Die Taube zeigt mit ihrer verkrampften Körperhaltung Symptome der Polyneuritis im Endstadium der Vitamin-B1-Mangelkrankheit
Vitamin A kommt in drei Oxidationsstufen vor: ●
Retin-ol (Alkohol),
●
Retin-al (Aldehyd),
●
Retin-säure ( retinoic acid).
Retinol ist die Form des Vitamin A, in der die Substanz im Blut an Trägerproteine gebunden transportiert wird. Vom Blut kann Vitamin A, in welcher Oxidationsform auch immer, in Zellen überwechseln.
Retinsäure spielt in der Embryonalentwicklung die Rolle einer vielseitig einsetzbaren Signalsubstanz. Beispielsweise ist sie mitbestimmend bei der Reihenfolge, in der unsere Finger angelegt werden, und bei der Untergliederung des Zentralnervensystems in die verschiedenen Abschnitte des Gehirns und des Rückenmarks (Eine Einführung gibt: Müller & Hassel 2006). Schließlich spielt Vitamin A eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, ob unsere Haut zu einer Schleimhaut oder zu einer verhornten Haut wird. Bei Vitamin-A-Mangel beginnen unsere Schleimhäute und die Cornea des Auges zu verhornen und zu schuppen. Vitamin D und E sind chemisch wie in ihrer generellen Wirkungsweise dem Vitamin A ähnlich; chemisch insofern, als sie als Isoprenderivate klassifiziert werden können und den Steroidhormonen ähnlich sind, funktionell insofern, als sie Vorstufen von hormonähnlichen Signalmolekülen sind. Für alle diese Substanzen gilt, dass das Spektrum ihrer
4.2 Wozu Vitamine notwendig sind
Vitamin A -Alkohol -Aldehyd -Säure
-C-OH O -C _= H O -C =_ OH
Retinol Retinal Retinsäure
CH3
H 3C
OH
CH3 CH3
CH2
HO
OH
Vitamin 1,25 D (1,25-Dihydroxy-cholecalciferol) Abb. 4.3. Vitamin A
Wirkungen noch längst nicht erschöpfend erforscht ist. Mit welch komplexen Zusammenhängen sich die Vitaminforschung gegenübersieht, zeigt das Beispiel von Vitamin D, von dem es, wie nachfolgend erläutert, mehrere Varianten gibt.
4.2.5 Schwindsucht, Rachitis, Sonnenkuren und Lebertran: die vielfältigen Wirkungen von Vitamin 1,25D Belletristisch Belesene wissen es von Thomas Manns „Zauberberg“. Schwindsüchtige, wie man Tuberku-
losekranke nannte (deren Krankheitsursache damals noch unbekannt war), machten in Höhenorten wie Davos „Sonnenkuren“. Auch bei Kindern, die an der Knochenerweichung Rachitis litten, konnten Sonnenkuren die Krankheitssymptome eindämmen, doch auch Kuren mit Lebertran waren wirksam. Was bei solchen Kuren (bisweilen) hilfreich war, wird erst durch neueste Forschungsergebnisse allmählich erkennbar. Vitamin D tritt in mehreren chemischen Varianten auf und hat unüberschaubar vielfältige Funktionen. Mit der Nahrung, beispielsweise mit Milch, Eigelb oder Fisch, nehmen wir einen Cocktail zweier Vorstufen auf: Vitamin D2 = Ergocalciferol, das sich von einem pflanzlichen Steroid ableitet, und Vitamin D3 = Cholecalciferol, das unser Körper im Bedarfsfall auch selbst aus einem Abbauprodukt des Cholesterins herstellen kann (und sich somit einer strengen Vitamindefinition entzieht). Beide diese Substanzen sind jedoch nur Vorstufen der wirksamen Form. Diese Vorstufen werden in zwei Schritten in die letztendlich biologisch wirksame Form umgewandelt. Der erste Schritt ist die Konversion der Vorstufen in 25-Hydroxyvitamin D, kurz Vitamin 25D. Diese Umwandlung geschieht in der Haut unter dem Einfluss des ultravioletten Sonnenlichts UV B (Wellenlängen zwischen 315 und 280 nm), doch geschieht sie auch in der Leber. 25D wird über das Blut im Körper verteilt. Im zweiten Schritt wird aus 25D das hormonartige 1,25-Dihydroxy-Vitamin D (kurz: 1,25D) mittels einer 1-alpha-Hydroxylase erzeugt. Auch dies geschieht in der Haut unter dem Einfluss von UV B, aber auch in anderen Organen, besonders der Niere. Insgesamt bleibt die Haut aber das einzige Organ, das unter der Einwirkung von Sonnenlicht die gesamte Synthesekette von inaktiven Vorstufen zum Endprodukt 1,25D bewerkstelligen kann. Als Hormon greift 1,25D in eine Reihe physiologischer Funktionen ein: ●
Es regelt den Calciumstoffwechsel in Kooperation mit Hormonen der Nebenschilddrüse (Abschn. 11.4.4).
●
Ihm wird hemmende Wirkung auf bestimmte Krebsarten zugeschrieben und bei Mäusen ist dies experimentell nachgewiesen.
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4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung ●
Es ist ein Regulator im Immunsystem. Immunzellen nehmen 25D und 1,25D auf. Im Weiteren wirken diese entzündungshemmend und sollen Autoimmunkrankheiten mildern, speziell Multiple Sklerose und autoimmunbedingten Diabetes1.
●
1,25D ist ein Genregulator, bindet wie Steroidhormone und Retinsäure an Rezeptoren im Zellkern (Abschn. 11.7, Abb. 11.24) und kontrolliert, zusammen mit anderen Transkriptionsfaktoren, mehr als 1000 Gene.
●
Unter den eingeschalteten Genen sind Gene für antimikrobielle Peptide. Diese Peptide sind Teil des natürlichen Immunsystems (Kap. 7) und hemmen u. a. die Vermehrung des Bakteriums Mycobacterium tuberculosis; – daher die Tuberkulose-hemmende Wirkung einer Sonnenkur. Die Wirkungskette ist: UV-Licht der Sonne, Synthese von 1,25D in der Haut, Einschalten von Genen für antibakterielle Peptide, Hemmung des Wachstums von Tuberkulose-auslösenden Bakterien in der Lunge.
4.2.6 Die benötigten Vitamine sind nicht bei allen tierischen Organismen gleich Substanzen, die für den Menschen Vitamine sind, sind es meistens auch für andere Säugetiere, manche sogar für alle tierischen Lebewesen. Da symbiontische Mikroorganismen ergiebige Quellen für Vitamine sein können, ist es im Einzelfall schwierig bis unmöglich, den Vitaminbedarf von Tieren zu ermitteln. Manche Tiere können noch mehr als der Mensch. Vitamin C (Ascorbinsäure) ist nur für einen Teil der Säuger und Vögel ein Vitamin; andere können das Molekül im Bedarfsfall aus Glucose herstellen. Andererseits muss manches Tier die eine oder andere Substanz, die wir Menschen bei Bedarf synthetisch herstellen können, mit der Nahrung erwerben. Bekannt ist, dass viele Insekten Steroide (etwa Cholesterin) und Carnitin mit der Nahrung aufnehmen müssen. Nager müssen sich Inositol aus der Nahrung besorgen, ein cyclischer Polyalkohol, der in Signaltransduktionssystemen eine Rolle spielt (s. Kap. 12).
4.3 Tierische kontra pflanzliche Kost: Was ist Wissenschaft, was außerwissenschaftliche Einstellung? Ethische Aspekte sollen hier nicht diskutiert werden, sondern nur die Frage: was ist wissenschaftlich daran, wenn Ernährungslehrer diesen Kostplan empfehlen, jenen verdammen; andere Ernährungsspezialisten wiederum weitere, mitunter gar gegenteilige Empfehlungen verbreiten? Welches Nahrungsmittel ist „gesund“? Experimentell untermauerte Untersuchungen sind beim Menschen vielfach unmöglich. Frage: Ist eine bestimmte, in Nahrungsmittel regelmäßig vorhandene Substanz gesundheitsschädlich, gar krebsauslösend – oder umgekehrt krebshemmend? Wie wäre ein ordentliches Experiment durchzuführen? Man müsste zwei Gruppen von Versuchspersonen (Probanden) haben, beide nach Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand gleich zusammengesetzt und möglichst je 30 oder mehr Teilnehmer umfassend. Die Teilnehmer beider Gruppen nehmen exakt die gleiche Nahrung zu sich, nur dass die Nahrung der Versuchsgruppe mit der fraglichen Substanz (in natürlicher Konzentration) versetzt ist, die Nahrung der Kontrollgruppe mit einem Placebo. Der Versuch wird als „doppelter Blindversuch“ durchgeführt. Weder die Probanden noch die Ärzte, die den Gesundheitszustand untersuchen, wissen, welche Person die fragliche Substanz und welche ein Placebo erhalten hat; das wird erst am Ende des Versuchs durch eine dritte Person entschlüsselt. Der Versuch ist so lange durchzuführen, bis so viele der Probanden erkrankt sind, dass Unterschiede nach Kriterien der Statistik auf wahrscheinliche Nichtzufälligkeit geprüft werden können. Menschen mit Absicht krank, gar krebskrank werden lassen? Oder umgekehrt, bei zwei Gruppen kranker Probanden der einen Gruppe die Substanz vorenthalten, von der man sich eine gesund machende Wirkung verspricht? Wer wäre bereit, als Proband bei solchen Versuchen mitzumachen? Welche Ethikkommission könnte solchen Versuchen zustimmen?
4.3 Tierische kontra pflanzliche Kost: Was ist Wissenschaft, was außerwissenschaftliche Einstellung?
Was bleibt möglich? 1. Tierversuche; sie sind oftmals die einzige Möglichkeit, doch sind die Ergebnisse auf den Menschen übertragbar? 2. Statistische Untersuchungen ohne Experimente an großen Gruppen von Menschen. Gibt es eine Korrelation zwischen dem Verzehr bestimmter Nahrungsmittel und dem Auftreten bestimmter Gesundheitsschäden? Wenn, wie in der epidemiologischen Krebsforschung, Daten über lange Zeiträume und verschiedenen, sich unterschiedlich ernährenden Volksgruppen erhoben und mit der Häufigkeit bestimmter Krebsformen in Beziehung gebracht werden, können durchaus bestimmte Risikofaktoren in Verdacht geraten; der Verdacht wird nach Möglichkeit im Tierexperiment überprüft. Wenn hingegen Medienberichte und Werbung mal wieder diese oder jene Kost, dieses oder jenes Nahrungsergänzungsmittel empfehlen, lohnt es sich, darüber nachzudenken, was der Unterschied zwischen Glauben, Hoffnung und experimentellem Nachweis ist. (Im Zweifelsfall ist ein Nahrungsmittel „gesund“, wenn bislang keine Indizien für eine schädliche Wirkung bemerkt wurden.)
4.3.1 Protein ist nicht gleich Protein Wenn Nahrung alle essentiellen Bestandteile in angemessenem Umfang enthält, ist ihre Herkunft – theoretisch – nicht von Bedeutung; denn ohnedies werden im Zuge der Verdauung makromolekulare Bestandteile in ihre einzelnen monomeren Komponenten zerlegt. Und ist ein Protein einmal in Aminosäuren zerlegt, ist es gleichgültig, ob eine Pflanze oder ein Tier das Protein hergestellt hatte. Die Aminosäuren als solche unterscheiden sich qualitativ nicht, sonst könnte der Mensch nicht aus pflanzlichen Aminosäuren menschliche Proteine herstellen. Gerade der Vegetarier muss darauf vertrauen, dass dies so ist. Es ist heute, wenn man sich informiert und Einseitigkeit vermeidet, unschwer möglich, sich so oder so, und eben auch rein vegetarisch, zu ernähren. Information tut freilich not; denn nicht alle Proteinquellen enthalten die essentiellen Aminosäuren im ausgewogenen Verhältnis. Getreideproteine enthalten
wenig Lysin und Tryptophan, manche Hülsenfrüchte nur geringe Mengen an Methionin. Auch enthält pflanzliche Kost oft zu wenig Eisen und Vitamin A. Wenn nicht ethische oder religiöse Vorbehalte dem entgegenstehen, kann der gemäßigte Vegetarier zum Ausgleich auch auf Ei- und Milchprodukte zugreifen. Die Gemeinde der Vegetarier untergliedert sich in ●
Ovo-Lacto-Vegetarier, die auch mal Eiernudeln und Joghurt im Speiseplan haben, in
●
Veganer, die jegliche Art tierischer Nahrung ablehnen, und in die
●
Fructaner, die auch unter pflanzlichen Produkten eine Auswahl treffen und sich von Früchten, Nüssen und Samen ernähren. 4.3.2 Der Vegetarier handelt unter ökologischem Gesichtspunkt ökonomisch
Außer ethischen Argumenten darf der Vegetarier auch ökonomische und ökologische Argumente ins Feld führen. Auf einem Hektar Ackerfläche kann etwa achtmal soviel Sojaprotein und viermal soviel Protein anderer Leguminosen erzeugt werden wie Fleischprotein (s. Abschn. 1.7). Um einen „Fleischesser“ zu versorgen, werden, so hat jemand ausgerechnet, pro Jahr eine landwirtschaftliche Nutzfläche von 1,3 Hektar und 15 m3 Wasser benötigt, während für die Versorgung eines Veganer 0,07 Hektar und 1 m3 Wasser ausreichen. Hinzu kommt, dass in den Industrieländern der Fleisch-Konsum etwa doppelt so hoch wie notwendig ist. 4.3.3 Der Vegetarier kann auch auf medizinische Argumente verweisen Auch unter medizinischen Gesichtspunkten kann es schon einen Unterschied machen, ob man Vegetarier ist oder Fleisch zu sich nimmt, und woher das Fleisch stammt. ●
Fleisch, besonders rohes Fleisch, wird eher Parasiten und Krankheitserreger enthalten, die gefährlich werden können, als pflanzliche Kost. Pflanzen haben keine Trichinen und Bandwürmer. In Tieren vorkommende Viren sind für uns eher
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4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
gefährlich als in Pflanzen vorkommende Viren. Viren der Hühner sind eher in Kauf zu nehmen als Viren der Säuger. ●
Pflanzenkost kann manche unerwünschten Bestandteile, z. B. Cholesterin, nicht oder in geringerem Umfang enthalten.
●
Säuglinge sind augenscheinlich in der Lage, Antikörper aus der Muttermilch unverdaut aufzunehmen. Auch wenn hierfür vermutlich spezielle Transcytose-Mechanismen zur Verfügung stehen, ermahnt das Beispiel der Antikörper doch, an die Möglichkeit zu denken, dass bisweilen Proteine unverdaut in unseren Körper gelangen könnten. Bestimmte Nahrungsmittel-Allergien beweisen, dass bisweilen auch größere Moleküle durch die Wand der Mundhöhle, der Speiseröhre oder des Magendarmtraktes ins Blut gelangen. Die Verdauung ist keineswegs immer so vollständig, wie Lehrbücher der Physiologie glauben machen könnten. Bestimmte Proteine, namentlich die berüchtigten Prionen (z. B. das die Rinderkrankheit BSE-verursachende Protein), sind gegen Verdauung vollständig resistent und gelangen intakt in den Körper (wie ist noch unklar). Auch manche Peptidbruchstücke können bisweilen in unseren Körper geraten (z. B. über Micellen, s. Abb. 4.24) und eine Immunreaktion auslösen. Wir werden, wenn wir die Verdauungsstraße entlanggehen, erfahren, wie Peptide über das Trojanische Pferd von Micellen (dort vorgestellt) in den Körper gelangen könnten. Bei Säugerpeptiden wird das Immunsystem eher einem Irrtum verfallen, wenn es entscheiden muss, was körpereigen und was körperfremd ist, als bei einem Hühner- oder Pflanzenpeptid. Wenn das Immunsystem Antikörper gegen z. B. Insulin oder Myosin des Schweins erzeugt, könnte es wohl passieren, dass diese Antikörper mit dem körpereigenen Insulin oder Myosin kreuzreagieren. Ein Irrtum könnte eine Autoimmunreaktion fördern (s. Kap. 7, Immunologie).
●
Eine generelle Empfehlung, kein tierisches Eiweiß zu sich zu nehmen, kann also manchem Allergiker tatsächlich helfen. Vielleicht ist er nur gegen ein ganz bestimmtes Schweinepeptid allergisch und könnte sehr wohl Hühnerfleisch oder Fisch essen. Der Glaube hilft ihm dennoch, da er auch Schwein meidet.
4.3.4 Auch pflanzliche Kost kann sehr schädlich sein Mancher, der sich modegemäß zu pflanzlicher Rohkost bekehren lässt, erlebt eine herbe Enttäuschung. Die Roh- und Körnerkost bekommt ihm gar nicht. ●
Die Schale von Getreidekörnern enthält nicht nur erwünschte Vitamine, sondern auch schwer erträgliche Komponenten, beispielsweise Lektine. Unter den Lektinen (Kohlenhydrat-bindenden Proteinen) mit der Sammelbezeichnung Gluten finden sich mehrere, die giftig sind und auf die 5 bis 20 pro 100 000 Personen mit schlimmen Krankheitssymptomen (Glutenenteropathie, einheimische Sprue, Zöliakie) reagieren. Auch können sie den Ausbruch von Darmkrebs fördern. Anzeichen für eine Glutenunverträglichkeit sind Blähungen, Appetitlosigkeit und ständiger Durchfall. Weiterhin scheint es, dass manche Menschen Gluten (ebenso wie auch Kasein, d. h. Milcheiweiß) nicht vollständig verdauen können, die Restpeptide ins Blut und über das Blut ins Gehirn gelangen und eine Opioid-artige Wirkung entfalten. Die Folgen seien Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Depression, krankhafte Abneigung gegen soziale Kontakte, verminderte Schmerzempfindung, chronische Verstopfung und weitere von Opioiden bekannte Wirkungen.
●
Generell haben sich Pflanzen in den Jahrmillionen ihrer Evolution gegen übermäßigen Tierfraß zur Wehr setzen müssen und dabei eine Vielzahl von Giften erfunden. Will man sich in der Literatur informieren, findet man solche Abwehrgifte unter den Rubriken Alkaloide und „sekundäre Pflanzenstoffe“. Die Milch glücklicher Kühe auf der Alm enthält, wenn man nur genau und vielseitig untersucht, eine Vielzahl von Giften, wenn auch meistens nur in Spuren.
●
Auch wenn Parasiten und Viren der Pflanzen im Allgemeinen ungefährlich sind, giftiger Pilzbefall ist es nicht. Manch grausame Krankheit des Mittelalters geht auf Pflanzenpilze zurück. Das Mutterkorn ( Secale cornutum), ein Getreide befallender Pilz, war mit seinen Mutterkornalkaloiden Ursache jener grausamen Krankheit, die der gekreuzigte Christus in Grünewalds Isenheimer Altarbild zeigt. Die Haut ist von schwarzen Geschwüren überzogen (Antoniusfeuer, Mutterkorn-Brand, Ergotismus gangraenosus).
4.4 Die Körpergrundarchitektur eines Lebewesens spiegelt seine Strategie wider
4.3.5 Wie sich der Vogel und manch anderes Tier vor tückischen Giften schützen Der Instinkt gibt dem Vogel keinesfalls ein zuverlässiges Wissen, was er meiden muss. Der Vogel im Winter zeigt, wie man die Gefahr einer Vergiftung herabsetzen kann. Trotz Hunger verspeist er von jeder Samen- und Beerensorte nur ein paar wenige Kostproben und fliegt dann weiter zum nächsten, anderen Strauch. Die Vielfalt gekosteter Beeren sichert einerseits seinen Bedarf an essentiellen Nahrungskomponenten, schützt ihn andererseits vor allzu hohen Dosen eines bestimmten Giftes. Die glückliche Kuh von der Alm profitiert vom Artenreichtum der Wiesenpflanzen. Kleinste Mengen unterschiedlicher Gifte werden im Allgemeinen ohne Bauchgrimmen verkraftet. Die Leber hat Mechanismen,
die verschiedensten Gifte mittels des Enzyms Cytochrom P450 oxidativ zu zerstören (s. Kap. 5).
4.4 Die Körpergrundarchitektur eines Lebewesens spiegelt seine Strategie wider, sich die lebensnotwendige Nahrung zu beschaffen Wenn man eine sesshafte, bewegungsarme und in ihrer Gestalt radiäre Seerose vor sich hat und darüber schwimmend einen stromlinienförmigen, bilateralsymmetrischen Fisch sieht (Abb. 4.4), so werden intuitiv Assoziationen mit Pflanzen einerseits (See „rose“) und Tieren andererseits wach, auch wenn sogar der Laie die Seerose sehr wohl ins
Orientierungspol
Bewegungsund Steuerpol
O2 Leber Energieträger Baustoffe
Niere Harnstoff
CO2 Bilateral-symmetrisches Tier
Ankunftswahrscheinlichkeit von Nahrung
Radiär Seerose
Abb. 4.4. Körperbau als Funktion des Nahrungserwerbs
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4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
Tierreich einzuordnen weiß. Wie aber erklärt sich die unterschiedliche Gestalt? Gewiss wird man auf die evolutionsgeschichtlich „niedere“ Stellung der Seerose hinweisen (Stammgruppe Coelenterata, Stamm Cnidaria). Aber es gibt sogar Einzeller, die bilateralsymmetrisch sind, so eine Vielzahl von Ciliaten, die auf dem Boden von Gewässern herumkriechen (z. B. Stylonychia mytilus). Andererseits gibt es „höhere“ Tiergruppen, die nicht bilateral, sondern radiär gebaut sind: Seesterne, Seelilien, Seeigel – Vertreter der Echinodermen zum Beispiel. Eine Tendenz zu sessiler Lebensweise und zu einem radiären Bau findet sich bei wasserlebenden Tieren, die weitgehend passiv verharrend das einfangen, was von irgendwo daherschwebt oder daherschwimmt. Die Umwelt gibt der Seerose eine Oben-unten-Asymmetrie vor: oben der freie Wasserkörper, unten der Boden. Oben wird der Mund, unten die Fußscheibe angeordnet. Woher aber die Nahrung heranschwebt, ist weitgehend dem Zufall überlassen. Dem trägt die radiäre Anordnung der Fangarme Rechnung. Steht der wartende tierische Organismus in einer Wasserströmung, die eine zuverlässige Vorzugsrichtung hat (z. B. Gezeitenströmungen), besteht die Neigung zum bilateralen Bau. Beispiel: Seefedern (Weichkorallen). Tiere, die sich aktiv auf ein Ziel zu bewegen, sind in der Regel bilateralsymmetrisch. Wir finden eine Rücken-Bauch- und eine Vorn-hinten-Asymmetrieachse, wohingegen die linke und rechte Körperhälfte spiegelbildlich zueinander gestaltet sind. Vorne finden wir einen Orientierungspol, wo die Fernsinnesorgane (Augen, Geruch, Gehör, gegebenenfalls Infrarotrezeptoren) konzentriert werden, hinten ist der Antrieb (bei wasserlebenden Arten) oder das Steuerruder des Schwanzes. Vorne wird auch gleich der Mund angeordnet. Ihm sind Sinnesorgane zur Prüfung der Nahrung (Geschmack) beigeordnet. Und da schon so viele Sinnesorgane am vorderen Orientierungspol konzentriert sind, ist es zweckmäßig, dort auch die zentrale Datenverarbeitungsanlage (Gehirn) unterzubringen, um Leitungsbahnen möglichst kurz zu halten. Das bilateralsymmetrische Tier, das gezielt die Beute aufsucht, hat in der Evolution einen ausgeprägten Kopf mit Fernsinnesorganen und Mund am Vorderende entwickelt (Cephalisation). Die Fortbewegungsrichtung kann darüber hinaus weitere Präferenzen begünstigen: Frisches, sauerstoffreiches Wasser oder frische Luft wird man leichter am Vorderpol ansaugen können als am Hinterpol,
wo Wirbelbildung das Hereinsaugen in Körperöffnungen erschwert. Andererseits lässt man Abfall am besten hinter sich. Daraus ergibt sich eine Tendenz, einen von vorn nach hinten ziehenden Verdauungskanal zu konstruieren und den Abfall in der Nähe des Hinterpols abzulassen. Auch die Abflussröhren der Nieren münden nahe dem Hinterende.
4.5 Das Einschleusen und der Transport der Nahrung 4.5.1 Vom Saugmund zur Mühle: die Evolution unseres Kauapparates Die Evolution hat einen unglaublichen Erfindungsreichtum entfaltet, um tierische Lebewesen so auszustatten, dass sie zu ihrer Nahrung kommen und sie mundgerecht zubereiten können: Wurfnetze, Angeln mit Köder, klebrige Fäden, Siebe und Filter, Raspeln, Haken, Giftstacheln, Harpunengeschosse, Klauen und Zähne. Die Vielfalt ist so groß, dass nur Bücher der speziellen Zoologie für alle Einrichtungen Beispiele nennen können; denn der ganze Bauplan der Tiere ist schließlich auch auf die Bedürfnisse des Nahrungserwerbs zugeschnitten, wie Abb. 4.4 in groben Zügen illustriert. Im Weiteren soll nur auf einige Aspekte der Evolution unseres eigenen Kauapparates hingewiesen werden. Der kiefer- und zahnlose Filtrierer. Die ersten Wirbeltiere waren noch kieferlos (Agnatha = Kieferlose); die Neunaugen sind letzte lebende Vertreter dieser Gruppe. Die Larven der Neunaugen leben als Filtrierer. Die Kiemenschlitze fungieren als Filter wie bei den Seescheiden und bei Branchiostoma (Amphioxus, Lanzettfischchen). Eine Rinne am Boden des Schlundes, das Endostyl, sondert klebrigen Schleim ab, der die abfiltrierten Kleinpartikel aufnimmt, festhält und so verhindert, dass sie wieder aus dem Kiemendarm herausgespült werden. Das Partikel-beladene Schleimband wird alsdann mittels Cilien wie ein Förderband in den Darmtrakt bewegt. Der Mensch durchläuft eine embryonale Entwicklungsphase mit Kiementaschen und Endostylanlage, als ob er ein Fisch werden wollte. Die Saugpumpe. Nach der Metamorphose werden heutige Neunaugen parasitische Blutsauger.
4.5 Das Einschleusen und der Transport der Nahrung
Einstmals konnten die Kieferlosen ihren Mund als Saugpumpe einsetzen, wie es heutzutage beispielsweise die Walhaie tun ( suction feeder). Durch Erweitern des Rachenraums bei zunächst geschlossenem Mund und Kiemenschlitzen wird ein Unterdruck erzeugt. Beim plötzlichen Aufreißen des Mauls werden Wasser und Nahrungspartikel, vielleicht auch mal eine größere Beute, angesaugt. Bei geschlossenem Mund wird das Wasser durch die Kiemenschlitze wieder hinausgepresst. Dabei bleibt Nahrung wie in einer Reuse hängen. Ein solches Saug-Pump-Filtrieren funktioniert freilich nur unter Wasser. Der Schnappkiefer mit Fangzähnen. Noch bevor Amphibien entstehen konnten, musste ein anderer Apparat zum Beutefang erfunden werden. Die Lösung war der zahnbewehrte Schnappkiefer. Bis zu den Reptilien einschließlich waren es spitze Fangzähne, die als Werkzeuge im Kiefer befestigt waren, geeignet zum Fangen der Beute und zum Herausreißen von Stücken, nicht aber zum Schneiden und Zermahlen. Die großen Stücke können nur langsam von den Verdauungsenzymen aufgelöst werden. Reptilien brauchen eine lange Verdauungsruhe. Vor allem der Pflanzenfresser war unzulänglich ausgerüstet.
organe: Säcke des Vorderdarms, in die bei Sauerstoffmangel Luft hineingeschluckt werden konnte. Frösche pressen noch heutzutage Luft durch Schlucken in ihre Lungen. Mit der Optimierung der Lungenfunktion musste der Verdauungskanal vom Luftkanal getrennt werden. Nun aber lag die Nasenöffnung seit eh und je dorsal des Mundes und der Speiseröhre, die Lunge ventral. Luftweg und Nahrungskanal kreuzen sich. Dennoch haben es die Säuger gelernt, gleichzeitig zu schlucken und zu atmen. Der Kehlkopf ragt wie ein Schnorchel in den hinteren Rachenraum; Flüssigkeit und Speisebrei können links und rechts an diesem Schnorchel vorbeifließen (Abb. 4.5). Der herangewachsene Mensch kann das nicht mehr. Als Säugling konnte er es aber auch! Der Säugling erstickt nicht, wenn er minutenlang an der Brust der Mutter nuckelt. Er ist obligater Nasenatmer. Warum gibt der Mensch diese Fähigkeit preis? Als Voraussetzung für das Sprechvermögen verlagert sich im frühen Kindesalter der Kehlkopf nach unten. Nun muss ein besonderer Verschluss geschaffen werden, der während des Schluckens die Luftröhre verschließt. In der Evolution der Säuger musste nicht nur ein Kehlkopfdeckel erfunden wer-
Der Schneide- und Mahl-Apparat. Der stabile sekundäre Kiefer der Säuger kann wie eine Brechschere eingesetzt werden. Die Nahrung, ob pflanzliche oder tierische, kann in handliche Stücke zerlegt werden, bevor sie in den Magen gelangt. Schneidezähne helfen, den Apfel zu zerkleinern, Eckzähne Beute festzuhalten und zu erdolchen. Im hinteren Kieferbereich verschmelzen mehrere Einzelzähne zu gut verankerten Backenzähnen mit mehreren Wurzeln und welligen Kauflächen. Sie wirken als Mahlsteine und kommen vor allem dem Pflanzenfresser zugute. Wangen verhindern das Herausfallen beim Zerlegungsprozess. Das Zerschneiden und Zermahlen erfordert eine weitere Umkonstruktion. Ein sekundärer Gaumen trennt die Nasenhöhle von der Mundhöhle. Der Luftweg wird nicht mehr so leicht verstopft.
Weicher Gaumen
Epiglottis Atmen
Pferd
Baby
4.5.2 Das Verschlucken: eine Unzulänglichkeit der Evolution muss bewältigt werden Als sich in der Evolution der Fische die Lungen entwickelten, waren sie zunächst bloße Zusatz-Atem-
Schlucken
Atmen und Trinken
Abb. 4.5. Schluckvorgang. Es muss verhindert werden, dass die Nahrung oder Flüssigkeit in die Luftröhre gelangt. Beim adulten Menschen verhindert dies der bewegliche Kehlkopfdeckel. Beim trinkenden Säugling und Pferd ragt der Kehlkopf wie ein Schnorchel über den Flüssigkeitsspiegel hinaus in den Luftraum
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4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
den, sondern auch ein reflektorischer Steuerkreis, der von Sinneszellen ausgeht, die das Herannahen eines Nahrungsbolus ertasten, und bei Muskeln endet, die den Kehlkopfdeckel schließen. Es ist ein Privileg des sprechbegabten Menschen, sich nicht nur an Worten, sondern auch an Bissen verschlucken zu können und an einem „in die falsche Kehle“ geratenen Knochensplitter zu ersticken.
gen unter anderem von einem Geflecht sensorischer und motorischer Nervenzellen, die zwischen die Muskulatur eingebettet sind (Auerbachsche oder myenterische Plexus und Meissnersche Plexus).
4.6 Der Verdauungstrakt als Fließbandstraße mit funktioneller Gliederung: ein kurzer Überblick
4.5.3 Peristaltische Wellen befördern die Rohrpost weiter Rachenraum, Speiseröhre, Magen und Darm sind ein Fördersystem. Die Röhre hat eine innere Wandung mit Gleitschicht, die Mucosa, umhüllt von zwei Schichten von Muskulatur. Eine zirkuläre Muskulatur erwirkt Konstriktionen. In Kooperation mit der längsverlaufenden Muskulatur treiben wandernde Konstriktionen – propulsive peristaltische Wellen (Abb. 4.6) – den Nahrungsbrei vor sich her, zunächst in einen Zwischenspeicher, den Magen. Im Magen und im Darmkanal dynamisieren walkende Mischbewegungen (Haustrationen) und Segmentationsbewegungen den Transport, bis am Ende der Strecke wieder etwas Ruhe einkehrt, damit Zeit für Resorption bleibt. Gesteuert werden die BewegunPropulsive Peristaltik Kontraktion
Unschwer ist bereits aus der Anatomie eine dreigliedrige Struktur des Verdauungstraktes zu erkennen (Abb. 4.7). 4.6.1 Der Magen dient als Zwischenspeicher, leistet vorbereitende Arbeiten und startet die Proteinverdauung ●
Der Magen ist Zwischenspeicher.
●
Mittels Salzsäure (HCl) wird die Nahrung sterilisiert (Abb. 4.8, 4.9).
●
Mittels Salzsäure werden auch Eiweiße denaturiert und so der enzymatischen Spaltung besser zugänglich gemacht.
●
Im Magen setzt die Eiweißverdauung ein. Zuständiges Enzym ist das Pepsin, das beim Säugling noch fehlt, und vor allem Kollagen auflöst. Bindegewebe und Fleisch zerfallen.
●
Beim Säugling fördert das Labferment die Milchgerinnung.
Relaxation
Nahrungsbolus
Weitere Funktionen betreffen den Schutz vor Selbstverdauung.
4.6.2 Der Zwölffingerdarm (Duodenum) und die Bauchspeicheldrüse: Jetzt geht die Verdauungsarbeit erst richtig los Abb. 4.6. Peristaltischer Transport der Nahrung im Verdauungstrakt (Speiseröhre, Darm). In der propulsiven Peristaltik treiben Kontraktionswellen der Längs- und Zirkularmuskeln den Nahrungsbolus voran
Der Anfangsabschnitt des Dünndarms hat nur eine Länge, die der Breite von 12 Fingern entspricht, ist aber
4.6 Der Verdauungstrakt als Fließbandstraße mit funktioneller Gliederung: ein kurzer Überblick Abb. 4.7. Verdauungstrakt im Überblick
Verweildauer der Nahrung Glandula parotis Gl. submaxillaris Gl. sublingualis
Mundhöhle 30-40 s
Speiseröhre 4-10 s
Magen 1-4 h Leber Gallenblase
Appendix
●
der Hauptort des enzymatischen Abbaus.
●
In ihn mündet die Bauchspeicheldrüse (Pankreas); diese liefert Hydrogenkarbonat (HCO3−) zur Neutralisierung der Salzsäure.
●
Die Bauchspeicheldrüse liefert darüber hinaus viele Enzyme, die bei neutralem bis leicht alkalischem pH arbeiten: – Proteasen wie Trypsin, Chymotrypsin und Elastasen, – Amylasen zur Spaltung von Kohlenhydraten, bei manchen Tieren Chitinasen, – Lipasen, zur Spaltung von Fetten.
Für die Fettspaltung liefert die Galle wichtige Hilfsmittel, die Gallensäuren. Die Galle ist ein Produkt der Leber und enthält außer den Gallensäuren die grünen Gallenfarbstoffe. Dies sind Abfallprodukte aus dem Hämoglobinabbau (weiteres zu den Gallensubstanzen findet sich in Abschn. 5.6 und 5.7).
Pankreas Duodenum Jejunum Ileum Colon Rectum
Dünndarm 4-6 h
Dickdarm 7-15 h
4.6.3 Die weiteren Abschnitte des Dünndarms (Jejunum, Ileum): Beendigung des Abbaus und Resorption Die Wandung ist mit Darmzotten (Villi) besetzt, vielzellige, fingerförmige Strukturen, in die Blutund Lymphgefäße hineinragen (s. Abb. 4.10). Die Zellen der Villi sind ihrerseits mit einem „Bürstensaum2 besetzt, d. h. mit Mikrovilli, die nur bei starker mikroskopischer Vergrößerung erkennbar sind. An den Mikrovilli haften Ektoenzyme, die zur Vervollständigung der Verdauung beitragen. Ektoenzyme sind Enzyme, die, an die Zellmembran gebunden, außerhalb der Zelle tätig werden. Darüber hinaus begehen an der Spitze der Zotten Zellen Selbstmord (Apoptose), um intrazelluläre Enzyme freizusetzen. So wird beispielsweise auch das große Spektrum intrazellulärer Nukleasen zum Zerlegen von Nukleinsäuren verfügbar. Zahlreiche in die Darmschleimhaut eingelassene Drüsen sorgen für Lösungsmittel und Puffersalze. Die Villi mit ihren Mikrovilli dienen jedoch vor allem der Resorption. Morphologischer Ausdruck
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4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
Magen Fundus
pH 2-3
Nebenzellen (Schutzschicht)
Belegzellen (Salzsäure) pH 1 Abb. 4.9. Salzsäure-Produktion in den Belegzellen der Fundusdrüsen. Entscheidend sind Protonenpumpen, die H+-Ionen über die Membranen der Canaliculi (Kanälchen) ins Magenlumen befördern
Hauptzellen (Pepsinogen)
Abb. 4.8. Drüsen im Fundusteil der Magenwand
dieser Funktion ist die enorme Oberflächenvergrößerung. Die Villi vergrößern die Oberfläche des Dünndarms auf Wohnzimmergröße (40 bis 50 m2); die Mikrovilli auf die Größe eines Fußballfeldes (2000 m2).
4.6.4 Der Dickdarm mit Mast- und Enddarm (Colon, Rectum): Heimstätte für Symbionten und Ort der Wasserrückgewinnung Was unsere Enzyme nicht zerlegen konnten, wird nun symbiontischen Mikroorganismen zur Ver-
fügung gestellt. Diese verstehen es, das eine oder andere noch zu nutzen (wenn sie auch unter den herrschenden anaeroben Bedingungen keinesfalls alles nutzen können). Die Symbionten stellen uns dafür Vitamine zur Verfügung. Die Population der Symbionten wird immer wieder reduziert, wenn der Darm entleert wird. Sie kann aufgefrischt werden aus einer Reservepopulation, die im Blinddarm eine ungefährdete Nische gefunden hat. Eine unerlässliche Funktion des Dickdarms ist die Rückresorption des Lösungsmittels Wasser. Täglich produzieren die Drüsen des Verdauungstraktes 7 bis 8 l Spül- und Lösungsflüssigkeit, die letztlich dem Blut entnommen worden ist und wieder ins Blut zurückgeführt werden muss.
4.6 Der Verdauungstrakt als Fließbandstraße mit funktioneller Gliederung: ein kurzer Überblick
Dünndarm Längsmuskeln Ringmuskeln
Freisetzung von Enzymen Zelltod
Villus
Zellenverschiebung
Krypte Zellgeburt
Lymphgefäß Blutgefäß
Microvilli
Resorptionssystem (Translokatoren)
Ektoenzyme
Glycocalix (Schutzschicht)
Epithelzelle Abb. 4.10. Dünndarmzotten. Eine Zotte (Villus) ist eine fingerförmige, kontraktile Ausstülpung der Darmwand. In ihrer Spitze lysieren Zellen und setzen Enzyme zur Vervollständigung der Verdauung frei. Die Epithelzellen der Villi-Schläuche sind ihrerseits mit Mikrovilli besetzt. Diese sind um Größenordnungen
kleiner als die Villi. Ihre Außenseite ist belegt mit Proteoglykanen, die die Schutzschicht der Glycocalix aufbauen, und mit Ektoenzymen, die im Verdauungsgeschäft letzte Hand anlegen. In die Zotten ziehen Blutgefäße und Lymphgefäße, welche die resorbierten Nahrungskomponenten abführen
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90
4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
4.7 Die Salzsäure des Magens sterilisiert die Nahrung und denaturiert Proteine; die Produktion der Salzsäure erfordert eine millionenfache Konzentrierung Auf jeder Beere, auf jedem Obst sitzen Hefen, die nur darauf warten, dass die pflanzlichen Schalen und Zellwände verletzt werden. Nach dem Zerkauen unserer Kost würden sie unverzüglich im (sauerstoffarmen) Magen beginnen, ihre Fähigkeit zur Gärung auszukosten. Salzsäure soll sie abtöten. Trinken wir nach dem Genuss von Kirschen zu viel Wasser, wird die Salzsäure zu sehr verdünnt. Die Hefen überleben und erzeugen Gärgase (CO2, Methan), die in ihrer Menge unangenehm, ja lebensgefährlich werden können. Mit Salzsäure werden auch Proteine denaturiert. Sichtbarer Ausdruck ist das Gerinnen der Milch im Magensaft. Denaturierte Proteine sind leichter enzymatisch anzugreifen. Die Produktion der Salzsäure ist eine Meisterleistung an Konzentrierungsarbeit. Am Entstehungsort der Salzsäure, in den Drüsenschläuchen des Magens (Abb. 4.8), herrscht ein pH-Wert von eins. Der Normal-pH-Wert, wie er auch im Blut vorliegt, ist bekanntlich sieben. Die Konzentrierung von pH 7 auf pH 1 beträgt sechs Zehnerpotenzen (1:106). Im Fundusteil des Magens senken sich Drüsenschläuche in die Tiefe der Magenwand (Abb. 4.8). Sie beherbergen 3 Zelltypen: ●
Hauptzellen in der Tiefe sezernieren Pepsinogen,
●
Belegzellen im mittleren Abschnitt erzeugen die Salzsäure,
●
Nebenzellen vervollständigen den Wandaufbau.
Die Hauptarbeit bei der Salzsäureproduktion leisten Protonenpumpen, die in den Belegzellen Protone (H+) aus dem Cytoplasma heraus über die Zellmembran in winzige Kanäle (Canaliculi) pumpen (Abb. 4.9). Diese Canaliculi öffnen sich in den Schlauch der Fundusdrüse, die ihrerseits in den Magen mündet. Quelle der Protonen ist letztendlich Wasser. Es reagiert unter Vermittlung des Enzyms Carboanhydrase mit CO2 zu Kohlensäure. Diese
setzt Protonen H+ frei, die mittels einer ATP-getrieben Pumpe aus der Zelle transportiert werden. Die negativ geladenen Chloridionen (Cl−) folgen den positiv geladenen Protonen ‚passiv‘ durch besondere Chloridporen der Zellmembran. Die von der Kohlensäure übrig bleibenden HydrogencarbonatIonen werden dem Blut überantwortet. In der Lunge wird dann aus dem Hydrogencarbonat wieder CO2 freigesetzt (s. Kap. 8, Atmung).
4.8 Schutz vor Selbstverdauung und Regelung der Verdauungsprozesse und Arbeitsabläufe 4.8.1 Verdauungsenzyme werden erst an Ort und Stelle aktiviert Verdauungsenzyme sind aggressiv. Auch Zellmembranen werden nicht verschont, sonst könnte die Nahrung nur höchst unzulänglich erschlossen werden. Wie aber schützt sich der Verdauungstrakt selbst vor der Aggressivität seiner Enzyme? Der Blick auf eine Fundusdrüse verrät eine erste Taktik. Das Verdauungsenzym Pepsin wird an der Basis des Schlauchs in Form eines inaktiven Zymogens (Proenzym) erzeugt und sezerniert. Zymogene sind größere Vorläuferproteine, die erst nach dem Abspalten eines Stücks der Peptidkette zum aktiven Enzym avancieren (Beispiel: Abb. 4.11). Der Vorläufer heißt in diesem Fall Pepsinogen. Erst im Lumen des Kanals kommt die Salzsäure hinzu, die zur Aktivierung dieser Protease erforderlich ist. Der Angriff des aktivierten Enzyms auf die Magenschleimhaut wird abgeblockt durch eine dünne aber zähe Schleimschicht aus komplizierten Zucker-Proteinmolekülen (Proteoglykanen), die den Enzymen den Zugriff zur Magenwand verwehren, selbst nicht so rasch abgebaut werden können und laufend erneuert werden. Zerstörung dieser Schleimschutzschicht durch Bakterien ( Helicobacter pylori) oder allzu viel Magensäure führt zu den berüchtigten Magen- oder Darmgeschwüren (Ulcus ventriculi bzw. Ulcus duodeni). Ist zuviel HCl die Ursache, können Medikamente (wie Omeprazol) Hilfe bringen, welche die Protonenpumpe der Belegzellen (Abb. 4.9) blockieren.
4.8 Schutz vor Selbstverdauung und Regelung der Verdauungsprozesse und Arbeitsabläufe
Es ist eine in der Evolution der Tiere bewährte Taktik, Verdauungsenzyme nur bei Bedarf und erst an Ort und Stelle im Lumen des Magen-Darm-Trakts aus inaktiven Vorstufen freizusetzen und zu aktivieren. Unsere Geruchs- und Geschmacksrezeptoren in Nase und Mund melden die bevorstehende Arbeit an. Das Gehirn gibt über das vegetative Nervensystem Befehle an die Drüsen weiter (Abb. 4.12). Jetzt erst werden Pepsinogen und Salzsäure sezerniert.
Protrypsin=Trypsinogen, inaktiv C
Asp His Ser
4.8.2 Ein Regelwerk mit Sensoren, Nervenleitungen und hormonalen Signalstoffen dirigiert den Prozessverlauf
Asp
inhibierendes Peptid
Ile
N Enteropeptidase
Trypsin, aktiv
C
Asp His katalytisches
Ser Zentrum
Gastrin. Kommt eine Portion Nahrung in den Magen und wird die Magenwand gedehnt, wird Gastrin in die benachbarten Blutkapillaren freigesetzt. Über die Blutgefäße erreicht Gastrin auch die Fundusdrüsen und regt sie zur verstärkten Arbeit an.
Asp
Ile
abgespaltenes Peptid N
Wenn der Pförtner am Magenausgang Nahrung in Portionen von ca. 10 ml in den Dünndarm entlässt, messen Mechanorezeptoren die Dehnung des Darms und Chemorezeptoren den pH und die Qualität des Nahrungsbreies und kontrollieren den Verdauungsfortschritt (Abb. 4.12). Über Leitungen des vegetativen Nervensystems und über eine Vielzahl parakriner Gewebshormone werden Pankreas, Gallenblase, Dünndarmzotten etc. angesteuert. Die sensorischen Nervenzellen des Magen-Darm-Traktes sind mitunter selbst neuroendokrine Steuerungszellen. Man kennt heute eine größere Zahl solcher Gewebs- oder Neurohormone und ist weiteren hormonalen Signalsubstanzen auf der Spur. Es sind Peptidhormone. Beispiele:
C
Abb. 4.11. Aktivierung von Trypsin. Nach Abspaltung eines Peptids durch eine Enterokinase, die auf der Oberfläche der Mikrovilli im Dünndarm sitzt, entsteht das aktive katalytische Zentrum. In der „katalytischen Triade“ mit Serin, Histidin und Aspartat spielt das Serin an Position 195 eine entscheidende Rolle
Sekretin. Wird im Dünndarm die Ankunft eines sauren Nahrungsbolus gemessen, regt Sekretin – wieder vermittelt über die örtlichen Blutgefäße – das Pankreas an, neutralisierendes Hydrogencarbonat bereitzustellen. Cholecystokinin. Erspüren die Chemorezeptoren des Dünndarms die Anwesenheit von Fetten, fordern sie über das Peptidhormon Cholecystokinin die Gallenblase auf, ihre Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen
91
4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung Vorstellung "Enkephale" Steuerung
Geruch Geschmack
Nervus vagus
Intestinale Steuerung
Vagus Acetylcholin Leber GalleSynthese
Secretin
Pepsinogen HCl HCl
CCK
GIP
Dehnungsrezeptoren
Protein
GalleFreisetzung
tt
Abb. 4.12. Regelungsgeschehen im Verdauungstrakt. Die enkephale Steuerung geht von Sinneseindrücken oder Vorstellungen aus und leitet über nervale Leitungen (Parasympathicus) die vorbereitende Sekretion des sauren Magensaftes aus den Fundusdrüsen ein. Die intestinale Steuerung geht von Sinneszellen im Magen-Darm-Trakt aus, welche das Volumen, die Beschaffenheit und chemische Zusammensetzung des Nahrungsbreies messen. Über hormonale Signale werden passende Reaktionen der Drüsen (Fundusdrüsen, Pankreas, Leber-Gallenblase) ausgelöst
s
pH<3
Pankreas NaHCO 3 Enzyme
Inseln Insulin
Fetts ä
CCK Cholecystokinin
Gastrin
pH>4
, L i pide ä u r en
Fe
92
Secretin
ure
n
CCK
pH
Glucose-dependent insulin-releasing peptide GIP
<4
Glucagon-like peptide 1 GLP-1
Fe
tts. Glu Am cose ino säu re
n
(griechisch: chole = Galle; cystis = Blase; kinein = bewegen). Aber auch das Pankreas spricht an (weshalb das Hormon auch Pankreozymin heißt). Schließlich muss das Pankreas ja auch Lipasen liefern.
4.9 Enzyme und sonstige Hilfsmittel zur Erschließung der Nahrung 4.9.1 Wozu Zerlegung, wenn hinterher wieder Synthesen folgen müssen? Polymere Kohlenhydrate werden in monomere Zucker gespalten, Proteine in Aminosäuren, Phospho-
lipide und Fette (Triacylglyceride) in Fettsäuren und Restgruppen. Und was macht der Körper mit den kleinen Bausteinen? Er benutzt sie großenteils, um wieder polymere Kohlenhydrate, Proteine und Lipide ähnlicher Struktur herzustellen. Das ist aufwendig und kostet Energie. Warum also? Fettsäuren könnten in der Tat als solche wieder zur Synthese von Phospholipiden der Zellmembran und von Fetten genutzt werden. Die ganzen Lipide freilich wären sehr unhandlich und schwierig an die Orte der Synthese zu bringen. Außerdem muss unser Körper die spezifische Komposition seiner Lipide unter Kontrolle halten. Mehr gilt dies noch für Kohlenhydrate und Proteine, vor allem Proteine! Wir brauchen unsere artspezifischen, z. T. sogar individualspezifischen Proteine. Da hilft nur
4.9 Enzyme und sonstige Hilfsmittel zur Erschließung der Nahrung
Synthese de novo unter der Instruktion durch das Genom. 4.9.2 Die enzymatische Zerlegung der Kohlenhydrate beginnt im Mundraum und endet erst an der Oberfläche der Dünndarmzotten. Cellulose und Chitin sind jedoch unangreifbar Die quantitativ bedeutsamsten Kohlenhydrate der Nahrung sind ●
Cellulose – ein Sonderfall, den wir noch diskutieren werden,
●
Stärke und die tierische Stärke, Glykogen (Abb. 4.13),
●
Disaccharide wie Saccharose (= Sucrose, Rübenzucker, Rohrzucker), Maltose (Malzzucker) und Lactose (Abb. 4.14).
Ohne große Mühe sind die im folgenden genannten Stoffe zu verwerten. Stärke, eine Polyglucose (Abb. 4.13). Das polymere Riesenmolekül windet sich helical und nimmt die Form einer Röhre an, wobei eine Windung sechs Glucoseeinheiten umfasst. α-Amylasen des Speichels und der Bauchspeicheldrüse greifen wie eine
Schere in die Röhre und schneiden sie durch. Die Röhre zerfällt in 6-Glucose-Stücke; diese werden dann weiter in 2-Glucose-Stücke, die dem Disaccharid Maltose entsprechen, zerlegt. Disaccharide (Abb. 4.14): Maltose (Glucose + Glucose), Saccharose (Sucrose, = Glucose + Fructose) und Lactose (Galactose + Glucose) werden vor allem an den Mikrovilli des Dünndarms in ihre monomeren Einheiten (Monosaccharide) zerlegt, während sie gleichzeitig resorbiert werden (s. Abb. 4.18). Hingegen sind die Polysaccharide Cellulose und Chitin für uns nicht, oder nur indirekt, erschließbar. Cellulose ist zwar wie Stärke aus Glucoseeinheiten aufgebaut. Der Unterschied liegt im Bindungstyp. ●
Stärke: α-(1→4)-glykosidische Bindung (in der üblichen Darstellung weist die Sauerstoffbrücke zwischen den Glucoseeinheiten nach unten);
●
Cellulose: β-(1→4)-glykosidische Bindung (in der üblichen Darstellung weist die Sauerstoffbrücke nach oben).
Dieser kleine Unterschied hat fundamentale Konsequenzen. Die Cellulose der pflanzlichen Zellwand, mengenmäßig das häufigste Kohlenhydrat auf Erden und ein riesiges potentielles Energiereservoir, steht
OH
Glykogen Amylopectin
OH
OH
HO
OH
OH
OH
OH
1,6-Glykosidase
OH
HO
-Amylase
Abb. 4.13. Kohlenhydrate. Stärke (Amylose und Amylopectin) und Glykogen, das in seiner Struktur dem Amylopectin gleicht (jedoch stärker verzweigt ist)
H
Amylose
93
94
4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung Abb. 4.14. Bindungsweisen von Disacchariden und von längerkettigen Kohlenhydraten, die sich auf Disaccharide zurückführen lassen
1
4
O
1O4
O Glucose
Glucose
Glucose
1
4
1O4
O Glucose
Glucose
Cellulose
Stärke, Glycogen
N C CH3 N C CH3 O O N-Acetylglucosamin N-Acetylglucosamin
Glucose
Maltose
Chitin 6 1
5
1
4 2
2
3
Glucose
1O4
5
3 4 6
Fructose
Saccharose (Sucrose)
dem Wirbeltier nicht (direkt) als Energiequelle zur Verfügung, weil es kein passendes Enzym hat, um β-(1→4)-glykosidische Bindungen zwischen Glucoseeinheiten der Cellulose zu lösen. Cellulosefasern verlassen den Darm als Ballaststoff, falls nicht symbiontische Helfer sie zerlegen. Chitin. Das zweithäufigste Kohlenhydrat auf der Erde ist der zweite Problemfall. Es besteht aus NAcetyl-Glucose-Einheiten; wiederum liegt β-(1→4) -glykosidische Bindung vor. Wir Menschen mögen und verdauen kein Chitin, weshalb wir „Krabben“ schälen. Arthropoden haben zwar eine Chitinase, mittels derer sie den alten Chitinpanzer ablösen können, wenn sie sich häuten. Die Natur überlässt aber das restliche, durch Häutung abgestreifte Chitin den Pilzen und Bakterien der Umwelt. Nur wenige Tiere (z. B. Regenwürmer) können Chitin zur Ernährung nutzen – so nahm man jedenfalls bisher an! Wenn Tiere, die im Verdauungstrakt symbiontische Mikroorganismen züchten, Chitin mit hoher Effizienz verdauen können, wie dies viele Wirbellose aber auch Bartenwale tun, so liegt die Annahme nahe, dass die Symbionten Quelle der Chitinasen sind. Allerdings ist die Herkunft der Enzyme im Verdauungstrakt nicht leicht festzustellen. Seit man im Genom nach Chitinase-Genen suchen und mit
Galactose
Glucose
Lactose
in-situ-Hybridisierung herausfinden kann, wo die Gene exprimiert werden, gerät die herkömmliche Auffassung, nur sehr wenige Tiere könnten Chitin mittels einer eigenen Chitinase aufschließen, ins Wanken und ist wohl revisionsbedürftig. Zumindest einige Amphibien (Anuren) produzieren in ihrem Pankreas und Magen eigene Chitinasen. Auch Säugetiere und mit ihnen der Mensch haben Gene für Chitinasen. Mäuse bilden Chitinasen in den Speicheldrüsen, den Hauptzellen der Magenfundusdrüsen (neben Pepsinogen, s. Abb. 4.8) und in der Dünndarmschleimhaut. Der Mensch hat allein 8 Gene für Chitinasen des Typs GH18. Ihnen wird jedoch keine Funktion bei der Verdauung zugeschrieben, sondern eine Schutzfunktion im natürlichen Immunsystem. Es gibt zwei Gruppen von Endoparasiten, die eine Chitinhülle tragen: Pilze, wie Candida albicans und andere gefürchtete Hautpilze, und Nematoden. Zellen des Immunsystems, insbesondere eosinophile und basophile Granulocyten und Makrophagen, erkennen Chitin und greifen solche Eindringlinge an (mehr dazu in Kap. 7). Grundsätzlich ist also eine β-glykosidische Bindung angreifbar. Auch der Milchzucker Lactose enthält eine spaltbare β-(1→4) glykosidische Bindung. Mit der Lactose hat es eine besondere Bewandtnis.
4.9 Enzyme und sonstige Hilfsmittel zur Erschließung der Nahrung
4.9.3 Der größte Teil der erwachsenen Menschheit verträgt keine Milchzucker-enthaltenden Nahrungsmittel; Milchverträglichkeit ist korreliert mit der historischen Ausbreitung der Viehzucht Der Säugling will den Milchzucker nutzen. Er hat zu diesem Zweck das Enzym Lactase (Bakterien stattdessen die dem Molekularbiologen so vertraute β-Galactosidase). Wenn der Säugling von der Mutter entwöhnt wird, braucht er keine Lactase mehr; er stellt die Produktion ein. Erwachsene können Milchzucker nicht mehr verwerten. Sie vertragen ihn auch nicht mehr; er erzeugt Bauchgrimmen und Durchfall. Dies ist die Regel – bei den meisten Völkern der Welt. Mit der Etablierung und der Ausbreitung der Milchwirtschaft hat sich in manchen Regionen der Erde, so z. B. in Europa, die „Säuglingszeit“ bis ins Erwachsenenalter verlängert. Erwachsene Europäer können sich in der Regel ohne Beschwerden an Milchprodukten gütlich tun. Eine LactaseDefizienz (Lactase-Mangel) findet man bei 97% der Thailänder aber nur bei 3% der Dänen. LactaseMangel hat Lactose-Intoleranz zur Folge. Sie äußert sich in Blähungen und Durchfall. 4.9.4 Symbionten: Was man nicht selber hat, kann man sich borgen Es ist eigenartig, dass die Evolution es nicht geschafft hat, Wirbeltiere mit einer Cellulase auszustatten. Möglich wäre es im Prinzip. Eine Reihe von Bakterien (Actinomyceten) hat eine Cellulase, ebenso eine Reihe von Protozoen und Hefepilzen, wie sie im Darm von Termiten gefunden werden. Mit der zunehmenden Fülle an genomischen Daten entdeckt man in Datenbanken zunehmend mehr Organismen, die eigene Cellulasegene haben, vermutlich also auch ohne Symbionten Cellulase zerlegen können. Es sind dies beispielsweise die Schiffsbohrmuschel Teredo und weitere Mollusken und das flügellose Insekt Ctenolepisma, das „Silberfischchen“. Noch aber liegen keine Berichte über Cellulasegene in genomischen Datenbanken von Wirbeltieren vor. Die Wirbeltiere und auch die meisten wirbellosen Tiere, wie z. B. Termiten, Käfer und Weinbergschnecken, müssen sich der Hilfe symbiontischer Mikro-
organismen bedienen, um indirekt pflanzliche Kost voll nutzen zu können. Wegen der enormen Größe und den vielfältigen Primär- und Sekundärstrukturen der Cellulose und Hemicellulose sowie dem starken physikalischen Zusammenhalt der einzelnen Komponenten erfordert bereits die Verdauung unverholzter Zellwände die synergistische Wirkung mehrerer verschiedener Enzyme. Symbiontische Bakterien und Protisten werden gezüchtet von ●
Pferd und Schwein im Dickdarm und Blinddarm (Abb. 4.15a),
●
Nagetieren (und Vögeln) im Blinddarm,
●
Den Wiederkäuern ( Ruminantia) unter den Paarhufern, erkennbar als Stirnwaffenträger, wie Antilope, Giraffe, Schaf, Reh und Rind im Pansen (und Netzmagen), einer Art Vormagen (Abb. 4.15),
●
Kamelen, die vermutlich unabhängig von den Ruminantia zu Wiederkäuern wurden und wie diese mit einem mehrgliedrigen Magen ausgestattet sind.
Im Pansen-Magenbereich des Wiederkäuers hat sich ein ganzes Ökosystem etabliert. Der mehrkammerige Bioreaktor beherbergt Bakterien, Archaea, Hefepilze und Protozoen in enormer Zahl. Pro ml Pansensaft wurden 1010 bis 1011 Bakterien in über 200 Arten und 106 Protozoen gezählt. Die Symbionten, besonders die Bakterien, scheiden Cellulase aus und nehmen die freiwerdende Glucose auf. Da sie jedoch unter anaeroben Verhältnissen leben, endet die energetische Verwertung bei organischen Säuren wie Essig-, Propion- und Buttersäure (Abb. 4.16; siehe auch Abb. 26.4). Die Kuh übernimmt diese Säuren, um sie oxidativ weiter zu verarbeiten. Sie mag diese Säuren und frisst daher auch das gegorene Silofutter mit Behagen. Die Kuh gibt im Gegenzug ihren Symbionten Harnstoff, die diese als Stickstoffquelle nutzen können, um Aminosäuren herzustellen; denn pflanzliche Kost ist oft proteinarm; an Aminosäuren herrscht Mangel (Abb. 4.16). Im Pansen hat sich eine trophische Zwischenstufe zwischen Bakterien und Wiederkäuer eingenistet: Ciliaten. Überschüssige Ciliaten gelangen in den Labmagen, wo sie durch Salzsäure abgetötet und in den Verdauungsprozess eingespeist werden. Sie sind für den Wiederkäuer eine wichtige Eiweißquelle.
95
96
4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
MAGEN
a
Cellulase O2-Mangel
Glucose überschüssige Symbionten
Magen Dünndarm
Blinddarm
PANSEN
LEBER
Dünndarm
Colon
Pansen + Magen Blinddarm
b
Methan (CH 4 ) CO2, NH 3
Futter
Cellulose
Colon
Colon
SYMBIONT Essigsäure Buttersäure Propionsäure
Protein
Aminosäuren
Harnstoff
Harnstoff
Abb. 4.16. Stoffwechselgeschehen im Ökosystem Wiederkäuermagen. Die Symbionten, Bakterien und Flagellaten, liefern Cellulasen zum Verarbeiten von Cellulose. Die Cellulose liefert Glucose, die jedoch unter Sauerstoffmangel nicht zu CO2 und H2O, sondern zu organischen Säuren katabolisiert wird. Die Symbionten erhalten vom Wirt Harnstoff und damit eine Stickstoffquelle, die sie nutzen, um aus den organischen Säuren Aminosäuren zu ihrem Wachstum herzustellen. Der Wirt nutzt überschüssige Symbionten
32 1
Blättermagen Pansen
Labmagen
c Netzmagen
Abb. 4.15. Orte, in denen Symbionten dem Pflanzenfresser helfen, Cellulose aufzuschließen. Beim Pferd sind dies Blinddarm und Dickdarm (Colon), bei der Kuh wie bei allen Wiederkäuern das Pansen-Magen-System (unten beim Schaf). Gemäß traditioneller, neuerdings in Frage gestellter Auffassung soll nur der Labmagen unserem menschlichen Magen homolog sein; die übrigen Teile gelten oder galten als Differenzierungen der Speiseröhre (Oesophagus)
Eine Hochleistungskuh kann täglich > 40 l Milch mit > 1,2 kg Eiweiß produzieren. Diese Eiweißmenge ist nicht in der aufgenommenen Nahrung enthalten, sondern wird großenteils erst in der Symbiose mit den Mikroorganismen erzeugt und als Überschussprodukt über die Blutbahn den Milchdrüsen zugeführt.
Biogas Methan. Der erstaunlich hohe Ausstoß von Methan (CH4, Biogas), das von den methanogenen Archaebakterien des Pansens erzeugt wird, war Anlass zu besorgten Diskussionen; denn Methan gilt mehr noch als CO2 als Treibhausgas. Ein Rind setzt pro Jahr 100 000 l CH4 frei. Bei weltweit 1,4 Milliarden Rindern addiert sich diese Menge zu einer Größe, die bei Simulationen des künftigen Klimas nicht vernachlässigt werden kann. Allerdings wird die Methanproduktion der Rinderherden weit übertroffen von der Menge des Methans, das in Reisfeldern und natürlichen Sümpfen entsteht. Die weitaus größte Quelle von Methan sind jedoch die gewaltigen Lager von Methanhydraten (Methaneis) in den Weltmeeren. Methaneis ist ähnlich dem Erdöl biogenen Ursprungs. Es schmilzt schon bei geringer Erwärmung oder Druckentlastung; das entstehende Methangas gerät schließlich in die Atmosphäre. Es wird andererseits in den Ozeanen von bestimmten Mikroorganismen mittels Sulfat oxidiert und damit teilweise entsorgt. Infos unter www.geowissenschaften.de und www.geotechnologien.de Termiten. Als Holzzerstörer gefürchtet sind Termiten. Ein Termitenstaat, der über eine Mio. Mitglieder umfasst, kann ein Blockhaus innerhalb einer Woche baufällig machen. (Pilze, die ebenfalls Holz abbauen, bräuchten Jahre dazu.) Termiten haben jedoch in freier Natur eine große Bedeutung für das Recycling des im abgestorbenen Holz gebundenen Kohlenstoffs. Holz ist besonders schwierig abzubauen. Im Holz sind die Fasern aus Cellulose und Hemicellulose mit dem Kitt des Lignins verklebt. Lignin besteht es aus einem aromatischen System von Phenylpropaneinheiten, das auch in der Gärkammer der Termiten nicht abgebaut wird. Nach dem enzymatischen Herauslösen der Kohlenhydrate wird Lignin
4.9 Enzyme und sonstige Hilfsmittel zur Erschließung der Nahrung
ausgeschieden und zum Bau der äußerst harten, bis zu 6 m hohen Termitenhügel benutzt. Den Aufschluss der Kohlenhydrate, d. h. der Cellulose und Hemicellulose, besorgt ein Satz von wohl über 100 Enzymen, die von Symbionten der Gärkammer bereitgestellt werden. In der Gärkammer finden sich Bakterien, Hefepilze und verschiedene Arten Termiten-spezifischer Flagellaten. Im Einzelnen ist noch nicht geklärt, welche Symbionten welchen Beitrag leisten. Manche Termitenarten machen sich Pflanzenmaterial indirekt zunutze, indem sie wie die Blattschneiderameisen in ihren unterirdischen Bauten Pilze auf Blattmaterial züchten und sich von diesen Pilzen ernähren.
4.9.5 Proteasen: Die Vielfalt potentieller Aminosäuresequenzen verlangt eine Vielzahl von spaltenden Enzymen Es gibt keine universell einsetzbare Protease (Peptidase). Enzyme haben im Allgemeinen hohe Wirkungsspezifität und zum Zerlegen auch kleiner Peptide benötigt man meistens mehrere Proteasen (Abb. 4.17). ●
Endopeptidasen zerhacken Proteinfäden in der Mitte. Zu ihnen gehören: – Pepsin im Magen. Eines der wenigen Proteine, die bei niedrigem pH (hohe Säurekonzentration) nicht denaturiert werden, sondern erst ihre volle Aktivität entfalten.
Abb. 4.17. Wirkungsspezifität verschiedener Proteasen
– Trypsin, Chymotrypsin, Elastase des Pankreas. Sie gehören zur Familie der Serin-Proteasen, so benannt, weil in ihrem katalytischen Zentrum ein Serin-Rest eine wichtige Position einnimmt. Trotz ähnlicher Struktur ist ihre Wirkungsspezifität unterschiedlich. ●
Exopeptidasen greifen Polypeptide von den Enden an.
Das katalytische Zentrum der meisten Proteasen, so auch das der klassischen Modellprotease Trypsin, erhält seine definitive, funktionstaugliche Struktur erst, wenn das Vorläuferenzym (Proenzym, Zymogen) durch Abspalten eines inhibitorischen Peptids in das aktive Enzym überführt worden ist (s. Abb. 4.11). Dabei spalten geringe Mengen an freiem Trypsin, wie sie zunächst dank des Zugriffs anderer Peptidasen entstehen, von weiteren Trypsinogenmolekülen das inhibitorische Peptid ab, und es entsteht mehr und mehr aktives Trypsin. In der Chemie spricht man bei solchen Prozessen der Selbstaktivierung von Autokatalyse. Antwort auf gelegentliche Fragen und Hinweis fürs Labor: Wie werden die Verdauungsenzyme wieder beseitigt? Sie verdauen sich schließlich wechselseitig. Protease-Lösungen, wie sie im Labor oft benutzt werden, sind deshalb instabil. Das gilt sogar für eine reine Trypsinlösung, weil noch aktive Trypsinmoleküle andere angreifen und durch Spaltung inaktivieren.
97
98
4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
Speichel-Amylase Glykogen
da und werden verwertet (Abb. 4.20). Zwar kann der Organismus bei Bedarf aus Zuckern und Aminosäuren selbst Nukleotide synthetisch herstellen, doch das kostet Energie. Mit der Nahrung aufgenommene Nukleotide sind billiger.
Stärke
Amylose Amylopectin LeberVene
-A
n ase sid reas o c c Glu Pan e las my
Dextrine (Oligosaccharide)
Glucose Glucose Glucose Galactose Glucose Fructose
Maltose
4.9.7 Nukleasen und Proteasen werden teilweise von Zellen freigesetzt, die Selbstmord begehen Nukleasen liefert u. a. das Pankreas, doch sind viele weitere Quellen von Nukleasen (DNAsen, RNAsen) möglich. Jede Zelle benötigt in ihren inneren Reaktionsräumen eine Fülle von Enzymen, um gealterte Proteine und gebrauchte Nukleinsäuren abzubauen. Darüber hinaus haben viele Zellen (z. B. Makrophagen und Granulocyten) Hydrolasen vielerlei Art in ihren Lysosomen gespeichert. Die Lysosomen sind gewissermaßen zellinterne „Mägen“, in denen durch Endocytose verzehrtes Material verdaut wird. Alle
Lactose Saccharose Protein
Epithelzelle
HCl Pepsin
Pepsinogen
Abb. 4.18. Abbauweg der Kohlenhydrate Magen
Der enzymatische Zerlegungsprozess für Kohlenhydrate, Proteine und Peptide kommt erst an den Mikrovilli der Darmzotten zuende (Abb. 4.18, 4.19). Man kennt noch längst nicht alle Proteasen und ihre Produktionsorte. 4.9.6 Nukleasen: Die Nahrung enthält schließlich auch Gene und RNA. Wir essen pro Tag etwa 300 mg DNA; dies entspricht 3,5 × 1015 Genen In manchen Diskussionen um „Genfraß“ und die Gefahren der Gentechnik mag nicht jedem Diskussionsteilnehmer gegenwärtig sein, dass wir mit jedem Bissen Nahrung Abermilliarden von Genen essen, auch bei vegetarischer Kost mit „reinen Naturprodukten“. Schulbücher und Broschüren zur Ernährung vergessen meistens Nukleinsäuren, wenn sie von Nährstoffen handeln. Energetisch sind Nukleinsäuren auch nicht sehr ergiebig, aber sie sind
Polypeptide
Dünndarm
LeberVene
Protein
in yps otr asen m hy ptid n, C -pe psi mino y r T ,A oxy arb
C Polypeptide Peptidasen der Villi Oligopeptide
Aminosäuren Peptidasen der Villi Aminosäuren
Aminosäuren Dipeptide
Aminosäuren?
Oligopeptide?
Epithelzelle
Abb. 4.19. Abbauweg der Proteine
4.9 Enzyme und sonstige Hilfsmittel zur Erschließung der Nahrung Ribosomen SpeichelRNAsen
+ NH 3
Chromosomen
RNA
DNA
Phospholipid (Phosphatidylethanolamin)
Pepsin Fragmentierung der Proteine
O C= O O
Aufschmelzen der dsDNA in ssDNA durch HCl HCl
Magen
O
- O P =O
O C= O
O C= O
Cholesterin ssDNA Polynucleotide LeberVene
en
As
DN
eas ncr n Pa NAse -R eas
ncr
Pa
HO
Poly-, Oligonucleotide
Arachidonsäure Vielerlei Nucleasen der Mikrovilli
Nucleotide Nucleoside
Nucleotide Nucleoside
Tri-acyl-glycerol (Fett) O C= O
O C= O
Di-acyl-glycerol OH
O C= O
O C= O
O C= O
Epithelzelle
Abb. 4.20. Abbauweg der Nucleinsäuren
diese Enzyme können auch im Magen-Darm-Trakt gut gebraucht werden. Noch gibt es keine vollständigen Listen, wo überall Verdauungsenzyme produziert werden. Gewiss ist jedenfalls, dass die Zellen an der Spitze der Dünndarmzotten (Villi) viele Enzyme freisetzen, wenn sie im Dienste des gesamten Organismus Selbstmord begehen und lysieren (s. Abb. 4.10).
Linolsäure
Linolen säure
Abb. 4.21. Diverse Lipide (typische Vertreter)
4.9.8 Fette und Lipide brauchen eine besondere Behandlung Fette und Öle sind beliebte Energiespeicher der Natur. Auch bei fettarmer Gemüsekost kommt man nicht umhin, Fettsäuren zu verzehren; denn schließlich sind alle Zellmembranen aus Phospholipiden aufgebaut, und die haben lange Fettsäureschwänze (Abb. 4.21). Ungesättigte Fettsäuren sind sogar es-
sentielle Nahrungskomponenten und müssen aus der Nahrung herausgeholt werden. Fette und sonstige Lipide im wässrigen Milieu des Darmsaftes aus der Nahrung zu extrahieren und zu verarbeiten, ist nicht so leicht. Unser MagenDarm-Trakt benutzt Detergentien (Tenside) um erst einmal Lipide aus Zellmembranen und Fettzellen herauszuholen. Es sind dies die Gallensäuren (Abb. 4.22), die von der Galle geliefert werden und
99
4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung Abb. 4.22. Gallensäuren. Sie sind Derivate des Cholesterins und dienen als Detergentien
O CH 2
C
OH
-
COO
NH
Glycin Glykocholat
OH
HO
Typische Gallensäure
Cholsäure
hydrophil
OOC
HO
HO
HO
-
100
Steran-Gerüst lipophil Seitensicht
sich chemisch vom Cholesterin, einer Komponente tierischer Zellmembranen, ableiten. Gallensäuren und Phospholipide helfen, Fette zu emulgieren, d. h. in winzige, frei im Wasser schwebende Tröpfchen zu zerlegen. Es entsteht eine milchige Suspension. Lipasen finden nun besseren Zugang zu ihren Substraten (Abb. 4.23). Die Tröpfchen
Gallensäure
Gallensäure - Symbol
werden kleiner und kleiner. Gallensäuren, Phospholipide und die Spaltprodukte der Fette (Diglyceride, Monoglyceride, freie Fettsäuren) bilden supramolekulare Aggregate, genannt Micellen. Die Komponenten der Micellen und freie Fettsäuren können ohne viel Umschweife von den Zellen des Dünndarms aufgenommen werden (Abb. 4.24, 4.25).
Triglycerid (Fett)
Lymphgefäß
Lebervene
Fette Phospholipide
Emulsion TriacylDiacylMonoacylglyceride
ren säu sen llen Lipa a G as re anc
P
Phospholipide Phospholipasen diverser Herkunft
Lipase Glycerin
Cholin u.a.
Fettsäuren Micellen Glycerin Cholin u.a. Chylomikronen
Emulgat Abb. 4.23. Emulgat-Modell. Die Gallensäuren vermitteln zwischen den Triglyceriden (Fetten) und dem wässrigen Medium
Epithelzelle
Fettsäuren MonoacylDiacylglycerine
Abb. 4.24. Abbau- und Transportwege der Lipide im Überblick
4.9 Enzyme und sonstige Hilfsmittel zur Erschließung der Nahrung Abb. 4.25. „Blutfette“. Resorption von Micellen und Umbau zu Chylomikronen durch das Dünndarmepithel. Die Chylomikronen gelangen über die Lymphe ins Blut, erscheinen dort als Teil der „Blutfette“ (LipoproteinAggregate). Ähnlich strukturiert sind die weiteren „Lipoprotein-Partikel“ VLDL, VDL und HDL (s. Abb. 5.4)
101
102
4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
4.10 Resorption und Abtransport 4.10.1 Bei der Resorption kommt jede Art von Transportsystem zum Zuge Wenn man wissen will, wie einzelne Substanzen vom Lumen des Darms schließlich ins Blut gelangen, verliert man bald den Überblick. Schließlich gibt es am Ende Hunderte von verschiedenen monomeren und oligomeren Spaltprodukten, und alle Spaltprodukte müssen mehrere Zellmembranen passieren, bis sie sich im Blut wiederfinden. Generell lässt sich jedoch sagen, dass sämtliche Transportsysteme zum Zuge kommen, die im Kap. 3 vorgestellt wurden und in Kap. 6 noch hinzukommen, einschließlich des Wassertransportsystems (s. Abb. 6.10). Schließlich muss auch das Lösungsmittel, das literweise von allerlei Drüsen (Speicheldrüsen, Fundusdrüsen des Magens, Bauchspeicheldrüse, Drüsen des Dünndarms) abgeschieden wird (pro Tag ca. 7 l), und das Wasser unserer Getränke dem Darm entzogen werden. Wasser wird dem Verdauungstrakt zu einem beträchtlichen Teil osmotisch entzogen. Die enzymatische Zerlegung der Makromoleküle aus der Nahrung in viele niedermolekulare Bestandteile erhöht im Duodenum den osmotischen Wert des Nahrungsbreies, Wasser, das die Drüsen lieferten und auch das zur Mahlzeit getrunkene Wasser, wird zunächst im Dünndarm durch die vielen osmotisch wirksamen Komponenten festgehalten. Das ändert sich im Dickdarm. Die Resorption der niedermolekularen Spaltprodukte und ihre Überführung in die Interstitialflüssigkeit und das Blut vermindert im Darmlumen wieder den osmotischen Wert, erhöht ihn andererseits jenseits des Darmepithels im Blut und in der Lymphe. Dieses osmotische Gefälle erzeugt einen Wasserrückstrom. Das Wasser bewegt sich großenteils parazellulär in den Spalten zwischen den Epithelzellen des Darms (Abb. 4.26). Dabei muss es die Porenfilter der Schlussleisten ( tight junctions, zonula adhaerens) passieren. Im Dickdarm kann der Stuhl hypoton werden, weil im Dickdarmepithel die Tight junctions tatsächlich dicht sind. Weiteres Wasser wird bewegt, indem beispielsweise Chloridionen durch Membranen gepumpt werden und Wassermoleküle durch Wasserporen nachfolgen (nach dem durch Abb. 6.10 erläuterten Prinzip).
Viel experimentelle Forschung war und ist auf die Frage gerichtet, wie Glucose vom Darmlumen ins Blut gelangt. Zu Messzwecken gibt es u. a. Gerätschaften, in denen Darmwandstücke zwischen zwei flüssigkeitsgefüllte Kammern eingespannt wer-
den (Ussing-Kammern). Es wird die Passage von Substanzen von der einen in die andere Kammer bestimmt, gegebenenfalls vor und nach der pharmakologischen Blockierung eines der beteiligten Transportsysteme. Die bisherigen Ergebnisse sind Abb. 4.26 modellhaft zusammengefasst. Die erste Barriere, die zu überwinden ist, ist die apikale, dem Darmlumen zugekehrte („luminale“) Zellmembran der Epithelzellen des Dünndarms. Diese Membran ist mit Translokatoren aus der Kategorie der Symporter bestückt. Diese schleusen gleichzeitig Glucose und Na+ vom Darmlumen über die Zellmembran in die Epithelzelle. Treibende Kraft ist der von außen nach innen gerichtete Na+ Gradient. Damit dieses arbeitsfähige Konzentrationsgefälle erhalten bleibt, wird Na+ wieder aus der Epithelzelle hinausbefördert, aber auf ihrer basolateralen Seite und mittels des Na+-K+-Antiporters (s. Abb. 3.11). Da dieser Antiporter seinerseits jedoch mit ATP als Treibstoff versorgt werden muss, spricht man auch von einem sekundären aktiven Transport. Die im Zellinneren sich anreichernde Glucose gelangt dann dank ihres Diffusionsdruckes über Carrier der basolateralen Membran in die interstitielle Flüssigkeit. Ähnlich sind die Mechanismen, die Aminosäuren über das Epithel schleusen. Darüber hinaus sind die Epithelzellen des Darmes mit vielen substanzspezifischen Translokatoren bestückt. Sie holen auf der „luminalen“ Seite beispielsweise Ca2+, Fe2+ und wasserlösliche Vitamine in die Zelle und entlassen sie auf der basolateralen „Serosa“-Seite ins Interstitium. Neben dem transzellulären Transport gibt es eine weitere Möglichkeit der Stoffpassage. Ein beträchtlicher Teil der Elektrolyte, insbesondere Na+, gelangt gemeinsam mit dem Lösungsmittel H2O durch die Filter der Tight junctions und den Spalt zwischen den Seitenwänden benachbarter Epithelzellen ( lateral interspace) parazellulär in den interstitiellen Raum jenseits des Darmepithels. Man spricht von solvent drag und von konvektivem transepithelialen Stofftransport.
Die interstitielle Flüssigkeit zwischen den Epithelzellen und jenseits des Epithels steht in offener Verbindung mit dem Blut; denn die Wand der Blutkapillaren in ihren feinsten Verästelungen ist weitgehend durchlässig. Ein Blutdruck nahe Null erlaubt eine nahezu unbeschränkte Permeabilität der Kapillaren (s. Abschn. 9.5.3). Das langsam abfließende Blut führt die Glucose über die Pfortader (s. Abb. 5.1) ab zur Leber.
4.11 Regelung der Nahrungsaufnahme
Darmlumen
Na+ Glucose
Na-Glucose Symporter
Abb. 4.26. Resorptionsprozesse in einer Zelle des Dünndarms. Wichtige Antriebskraft ist der auf der einen Seite des Darmlumens waltende hohe Diffusionsdruck von Na+. Er treibt einen Na+/GlucoseSymporter an, der sowohl Na+ als auch Glucose in die Zelle befördert. Auf der gegenüberliegenden Seite sorgt der K+/Na+-Symporter dafür, dass Na+ wieder die Zelle verlässt und der Na+-Gradient erhalten bleibt. Glucose wird über einen passiven Carrier ins Interstitium weitergeleitet. Neben diesen transzellulären Mechanismen gibt es zwischen den Zellen einen parazellulären Transport
Parazellulärer Transport
Tight junction (Schlussleiste)
DarmEpithelzelle
K+
GlucoseCarrier-
K-Kanal
Antiporter
Interstitialflüssigkeit verbunden mit Blut
K+
Na+
4.10.2 Lipide gehen ihren eigenen Weg Die Micellen werden vom Darmepithel aufgenommen. Das kann über Endocytose geschehen oder aber auch dadurch, dass verschiedene Komponenten der Micellen, wie Phospholipide, direkt in die Zellmembran der Epithelzellen integriert werden. Jedenfalls werden die Materialien in den Epithelzellen des Dünndarms umgebaut und wieder in Micellenform abgegeben. Nun heißen die Micellen Chylomikrons (Abb. 4.24). Diese werden nicht direkt ins Blut abgeliefert sondern geraten in Lymphbahnen (Abb. 4.25; s. Abb. 5.1). Erst über den Umweg über den Brustlymphgang, die obere Hohlvene (Vena cava) und das Herz, gelangen auch
Glucose
Lipide in eine Zentrale, wo alle Nahrung erst einmal zwischengelagert und weiter verarbeitet werden soll: in die Leber.
4.11 Regelung der Nahrungsaufnahme 4.11.1 Sollwert ist ein ausreichender Blutzuckerspiegel. Die Regelzentren des Hypothalamus melden sich mit Hunger- oder Sättigungsgefühl Wann essen wir? Im Regelfall, wenn wir Hunger oder doch Appetit haben. Der Physiologe ist mit
103
104
4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung Abb. 4.27. Hunger und Appetit regelnde zentrale Instanzen und einige an der Regelung beteiligte Hormone. Als eine Regelgröße gilt der Glucose-Gehalt des Blutes, der bestimmte Grenzwerte nicht unter- oder überschreiten sollte. Eine andere Regelgröße ist der ATP-Gehalt in bestimmten Neuronen des Hypothalamus – ein niederer Gehalt führt zu Hunger. Weiteres zu diesem Thema s. Abb. 11.13
“Hunger-/Appetitzentrum” Glucose nieder ATP nieder
Hypothalamus GlucoseRezeptoren
“Sattheitszentrum” Glucose hoch
Glucose (Blutzucker) Hormone des gefüllten Darmtraktes, des Pankreas (Insulin) und der gefüllten Fettspeicher (Leptin) (s. Abb. 11.13)
leerer Magen Ghrelin
regt Appetit an
solchen Antworten noch nicht zufrieden. Er weiß, und dies wird im folgenden Kap. 5 ausführlich begründet, dass das Blut stets eine gewisse Mindestkonzentration an Glucose haben sollte. Der Körper weiß dies auch und richtet seine Steuerungssysteme danach ein. Blut wird beständig auch durch das Gehirn geleitet. Im Hypothalamus des Zwischenhirns finden sich Nervensinneszellen, die mit Glucoserezeptoren ausgerüstet sind (Abb. 4.27). Werden diese beispielsweise mit Gold-Thioglucose blockiert, frisst die Versuchsratte, was immer sie in sich hineinstopfen kann. Ihr Hunger wird nicht gestillt; denn die blockierten Rezeptoren melden nichts, also einen vermeintlich fortbestehenden Glucosemangel. Ungehemmtes Fressen wird auch ausgelöst, wenn das im lateralen Hypothalamus gelegene „Hungerzentrum“ (LHA = lateral hypathalamic area) stimuliert wird (was durch Injektion des Neuropeptids NPY gemacht werden kann). Werden andererseits
Glucose in hoher Konzentration oder das Hormon Melanocortin 3 in das im Boden des Hypothalamus gelegene „Sättigungszentrum“ VMN ( ventromedial nucleus) injiziert, hört selbst ein abgemagertes, verhungerndes Versuchstier zu fressen auf. Wir setzen „Hungerzentrum“ und „Sättigungszentrum“ in Anführungszeichen, weil sich die Funktion dieser neuralen Zentren nicht auf die Regelung der Nahrungsaufnahme beschränkt. Dies wird in Pinel J (2001) Biopsychologie, diskutiert und betont.
Auch im Magendarmtrakt erzeugte Polypeptidhormone sind an der kurzzeitigen Auslösung von Appetit und Sättigung beteiligt (Abb. 11.13). ●
Als Appetitauslöser gilt das Peptidhormon Ghrelin, das vom leeren Magen ausgeht. Ghrelin wird in den Epithelzellen des Magens und Darms wäh-
Zusammenfassung des Kapitels 4
rend des Fastens gebildet und erzeugt, wenn es in Versuchspersonen injiziert wird, Hungergefühle. Der gefüllte Magen sendet das Signal nicht mehr aus. Nach getaner Verdauungsarbeit steigt der Ghrelingehalt des Blutes wieder an, sodass beim Menschen in der Regel drei Gipfel im Ghrelinspiegel des Blutes gemessen werden: vor dem Frühstück, vor dem Mittagessen und vor dem Abendessen. ●
Als Appetitzügler gelten zwei im gefüllten Dickdarm produzierte Hormone (PYY, GLP-1), die Sättigungsgefühl unterstützen.
Einige Eigentümlichkeiten des Regelungssystems gilt es jedoch in unserem Diät- und Lernplan zu beachten. ●
Wie so viele andere Sinneszellen reagieren auch die Glucosesensoren vor allem auf Veränderungen des zu messenden Wertes, hier etwa auf einen fallenden Glucosespiegel. Das Bonbon und der Zusammenfassung des Kapitels 4 Unsere Nahrung soll nicht nur unseren Energiebedarf decken, sondern muss eine Reihe essentieller Substanzen enthalten, die unser Körper nicht selbst herstellen kann, darunter eine Reihe von Aminosäuren, ungesättigte Fettsäuren und Vitamine. Wasserlösliche Vitamine sind zumeist Vorstufen von Coenzymen, welche die Übertragung von Elektronen oder Molekül-Gruppen in basalen Stoffwechselprozessen vermitteln. Dies wird am Beispiel von Vitamin B1 (Thiamin) erläutert, das eine katalytische Funktion beim Anschluss der Glykolyse an den Citratcyclus (Pyruvat → Acetyl-CoA + CO2) wahrnimmt und bei Mangel Ursache einer tödlichen Polyneuritis ist. Fettlösliche Vitamine wie Vitamin A, D und E sind in der Regel Vorstufen hormonartiger Signalsubstanzen. Vitamin A, Vorstufe der Signalsubstanz Retinsäure ( retinoic acid) ist auch als Retinal für das Einfangen von Photonen beim Sehvorgang zuständig. Vitamin D ist ein Cocktail von Vorstufen, die in der Haut unter Einwirkung von UV B des Sonnenlichtes in die aktive Form 1,25D überführt werden. 1,25D erfüllt als Hormon vielfältige Funktionen und reguliert u. a. im Immunsystem Genaktivitä-
Marsriegel werden bald verarbeitet sein und der dann wieder fallende Glucosespiegel wird neuen Appetit erzeugen (zum Wohl der Lebensmittelindustrie, nicht aber unseres Körpers). ●
Die Blutglucosekonzentration ist kein Maß für den Füllungszustand unserer Langzeitspeicher. Der Fettleibige verspürt nicht minder Hunger als der asketisch Schlanke.
●
Für die Vorsorgeregelung in den biblischen sieben fetten für die sieben mageren Jahren, und für das Anlegen oder Entleeren von LangzeitEnergiedepots sind Steuerungssysteme vonnöten, die über das hier Besprochene weit hinausgehen.
Wir werden dem Thema im Kap. 11 (Hormone) wieder begegnen und verweisen jetzt nur auf die Stichworte Insulin und Leptin. Im folgenden Kap. 5 geht es aber erst u. a. darum, was es denn mit dem Blutzucker so auf sich hat. ten. Die Tabellen 4.3 und 4.4 listen Vitamine auf und geben Auskunft über Quellen. Es werden Argumente für vegetarische Ernährungsweise vorgetragen; es wird aber auch darauf hingewiesen, dass andererseits pflanzliche Kost so manches unbekömmliche Gift enthalten kann. Es wird auf den Zusammenhang zwischen Körperbau (radiär versus bilateralsymmetrisch mit Cephalisation) und die Weise des Nahrungserwerbes hingewiesen. Nach einigen Ausführungen zu den Arten des Nahrungserwerbs und zum Schluckvorgang, der eine gefahrlose Überkreuzung des Nahrungskanals mit dem Luftkanal ermöglichen soll, sowie über propulsive peristaltische Kontraktionswellen entlang des Verdauungskanals werden die Funktionen des Magens erläutert: Zwischenspeicher, Sterilisierung, Denaturierung von Proteinen und Nukleinsäuren, Beginn der Proteinverdauung mittels Pepsin. Es wird die Salzsäureproduktion über Protonenpumpen und Chloridkanäle der Fundusdrüsen des Magens erläutert und es werden Mechanismen zum Schutz vor Selbstverdauung besprochen. Ein Schutzmechanismus besteht darin, dass viele Verdauungsenzyme in einer inaktiven Vorstufe (Pepsinogen, Trypsinogen, allgemein Zymogen) sezerniert und erst am Ort des Bedarfs
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4 Die Grundversorgung: Gehalt und Aufbereitung der Nahrung
durch Abspalten eines inhibitorischen Peptids aktiviert werden. Für die Spaltung polymerer Nahrungsbestandteile in ihre monomeren Bestandteile im Dünndarm steht ein großes Arsenal von Verdauungsenzymen zur Verfügung. Die Bauchspeicheldrüse (das Pankreas) liefert Proteasen wie Trypsin und Chymotrypsin, Lipasen und Nucleasen. Sie liefert ferner Hydrogencarbonat zum Einstellen eines für diese Enzyme günstigen neutralen bis basischen pH. Weitere Enzyme liefern sich auflösende Zellen an der Spitze der Darmvilli und schließlich bewältigen Ektoenzyme, die an den Zellmembranen der Mikrovilli verankert sind, die letzte Spaltung der Oligosaccharide, Oligopeptide und Oligonukleotide. Mit den Ectoenzymen gekoppelte Carrier schleusen die freigesetzten Monosaccharide, Aminosäuren und Nukleotide sogleich in die Zellen des Dünndarms, welche sie über das Blut der Pfortader an die Leber weiterreichen. Besondere Vorsorge muss für die Bewältigung der Lipide getroffen werden. Die Galle liefert (neben Biliverdin, einem grünen Stoffwechselendprodukt des Hämoglobins) in Form der Gallensäuren Detergentien zur Emulgierung der wasserunlöslichen Fette. Diese Detergentien bilden mit Phospholipiden und Cholesterin, die aus den Zellmembranen der Nahrung herausgelöst werden, und mit ersten Spaltprodukten der Fette Micellen. Micellen sind molekulare Aggregate, die in der resorbierenden
Darmwand umgebaut werden und schließlich als Chylomikron-Aggregate in Lymphgefäßen auftauchen. Über die Lymph- und Blutbahnen gelangen auch diese Nahrungsbestandteile in die Leber. Der Fortschritt des Verdauungsgeschäfts wird laufend von Sinnes-Nervenzellen überwacht, die ihrerseits über mancherlei „Gewebshormone“ wie Gastrin, Sekretin, CCK ( cholecystokinine) und GIP ( glucose-dependent insulin-releasing peptide) die Sekretion von HCl im Magen, von Gallenflüssigkeit und Pankreasprodukten regeln. Weiter befasst sich das Kapitel mit der LactoseIntoleranz vieler erwachsener, besonders nichteuropäischer Menschen und mit der Rolle von Symbionten im Pansen der Wiederkäuer. Diese liefern Cellulase und vergären alsdann die aus der pflanzlichen Cellulose freigesetzte Glucose zu organischen Säuren. Der Wiederkäuer übernimmt und verwertet sie weiter. Er stellt seinerseits den Symbionten mit Harnstoff eine N-Quelle zur Aminosäuresynthese zur Verfügung. Ohne diese wechselseitige Hilfe wäre die Milch arm an Protein. Hunger und Sättigungsgefühl werden von bestimmten Kerngebieten im Hypothalamus des Zwischenhirns erzeugt. Die Nahrungszufuhr wird kurzfristig über den Glucosegehalt des Blutes und durch Hormone reguliert. Das Hormon Ghrelin, das vom leeren Magen ausgeht, regt Appetit an, die Hormone PYY und GLP-1, die vom gefüllten Darm ausgehen, zügeln den Appetit.
5
Die Leber und die zentrale interne Grundversorgung
5.1 Die Leber als Versorgungs-, Handels- und Entsorgungszentrale des Körpers
Aorta
5.1.1 Arbeitsteilung hat den Vielzeller vorangebracht In der Evolution des Vielzellers ist es zu einer Aufgabenverteilung unter den verschiedenen Zellen, Geweben und Organen gekommen. Die einen besorgen das Geschäft der Verdauung, die anderen konzentrieren sich darauf, Information aus der Außenwelt aufzunehmen und auszuwerten, wieder andere bringen den Organismus voran, indem sie als Muskeln seine Lokomotion bewerkstelligen. Diese Arbeitsteilung ermöglichte es den Zellen und Organen, ihre spezifischen Funktionen zu optimieren. Allerdings ging diese Spezialisierung auf Kosten der individuellen Vielseitigkeit. Eine Nervenzelle oder Muskelzelle kann keine feste Nahrung mehr erschließen. In diesem Konzert der Spezialisten hat die Leber eine bedeutende Rolle im Dienste des Ganzen übernommen. Sie erfüllt stellvertretend für viele andere Zellen evolutiv alte Funktionen (z. B. Harnstoffsynthese) und hat sich darüber hinaus zur leistungsfähigsten chemischen Fabrik entwickelt. Schon ein kurzer Blick auf den Blutkreislauf (Abb. 5.1) lässt deutlich werden, dass die Leber eine zentrale Funktion bei der Verarbeitung speziell der Nahrung übernommen hat. Die Blutgefäße, die vom Darm wegführen, werden alle zur Pfortader gebündelt, und diese zieht zur Leber. Aus der Leber heraus führt die Lebervene. Man kann unschwer erraten, dass zwischen Lebereingang und Ausgang etwas mit den Nährstoffen geschehen ist. Was geschehen ist, ist in Abb. 5.2 zusammenfassend dargestellt und wird im Einzelnen in den folgenden Abschnitten erläutert.
Aminosäuren Monosaccharide Nucleotide Leber
Vena cava posterior
Vena portae
Lymphgefäße Lipide (Chylomikronen)
Abb. 5.1. Kreislaufsystem des Säugers mit Einbindung der Leber
5.1.2 Ein erster Überblick lässt eine große Funktionsvielfalt erkennen Die Leber ●
versorgt den Körper mit Blutzucker (Traubenzucker, Glucose),
●
sie legt einen Vorrat für Blutzucker an (Glykogen) und
108
5 Die Leber und die zentrale interne Grundversorgung Abb. 5.2a , b. Die Leber: Überblick über ihre Stoffwechselleistungen. Verarbeitung der Kohlenhydrate und Lipide (a); Protein-Synthese und -Abbau, weitere Syntheseleistungen, exkretorische und Entgiftungs-Funktionen (b)
Nervenzelle
Lipoprotein ("Blutfette")
Muskelzelle
Glykogen
VLDL
Alanin Lactat
Blutzucker
BLUT
Glucose
Pentosephosphatweg
Gluconeogenese
Triglycerine
Cholesterin
Glykolyse
Fettsäuren Pyruvat Acetyl-CoA
Malat Citratcyclus
Nucleotide
Apoprotein
Aminosäuren
LEBER I
Glucose Monosaccharide
a
Blutproteine z.B. Albumin, Fibrinogen, Vitellogenine (bei Frauen)
Lipoprotein ("Blutfette") VLDL
Mono-, Di-, Triglyceride
DARM
HDL
Hämoglobin
Gifte Medikamente Harnstoff
Triglycerine
Apoprotein
Entgiftungsfunktionen
Globin
Fettsäuren Proteinsynthese
Proteinabbau
Aminosäuren
HarnNH3 stoffcyclus
Gluconeogenese LEBER II Aminosäuren
Häm Gallenfarbstoffe
Cholesterin Gallensäuren Harnstoff
DARM
b ●
stellt bei Bedarf Blutzucker synthetisch her (Gluconeogenese),
●
sie erzeugt die Galle mit den Gallensäuren und Gallenfarbstoffen,
●
sie beliefert den Körper auch mit „Blutfetten“,
●
●
sie baut andererseits über die β-Oxidation Fettsäuren ab und erzeugt aus ihnen das vielseitig nutzbare Acetyl-CoA,
sie hilft durch Harnstoffsynthese bei der Entsorgung des Stickstoffs,
●
sie ist in der Lage, Alkohol abzubauen und viele toxische Substanzen zu entgiften,
●
sie produziert und liefert vielerlei „Blutproteine“,
●
●
sie entsorgt andererseits gealterte Proteine,
sie produziert Wachstumsfaktoren und Hormone.
5.2 Erste Hauptfunktion der Leber ist die Bereitstellung des Blutzuckers
5.2.3 Gluconeogenese: Wenn es notwendig und ratsam ist, kann Glucose aus Lactat oder Aminosäuren synthetisch hergestellt werden
5.2 Erste Hauptfunktion der Leber ist die Bereitstellung des Blutzuckers 5.2.1 Manche Zellen, vor allem rote Blutkörperchen und Nervenzellen, können zur Energiegewinnung nur noch Glucose verwerten Der Begriff „Blutzucker“ ist mit negativen Assoziationen belegt; denn man denkt an „Zuckerkrankheit“. Ein bestimmter, leidlich konstanter Blutzuckerspiegel ist jedoch keineswegs schädlich sondern – ganz im Gegenteil – absolut lebensnotwendig. Schnell reagierende Muskelzellen und vor allem die Erythrocyten (rote Blutkörperchen) sowie die Sinnes- und Nervenzellen sind so extrem auf ihre spezifischen Funktionen konzentriert, dass sie an anderer Stelle mit ihren Kräften sparsam umgehen müssen. Sie verzichten darauf, die Vielfalt von MembranTranslokatoren und Enzymen bereitzuhalten, die nötig wäre, um vielfältige Nahrung nutzen zu können. Erythrocyten und Nervenzellen beschränken sich auf die energetische Verwertung von Glucose. Die Enzyme der Glykolyse, des Citratcyclus und der Atmungskette gehören ohnedies zur unverzichtbaren Grundausstattung der Zelle. Auf speziellere und aufwendigere Systeme wird nach Möglichkeit verzichtet. Nun fällt jedoch Nahrung nicht kontinuierlich an, und nicht immer wird sie die nötige Menge an Glucose enthalten. Die Leber ist ein Zwischenlager.
5.2.2 Zwischenspeicher für Blutzucker in der Leber ist Glykogen Hat die Nahrung viel Stärke enthalten und liefert demgemäß die Pfortader viel Glucose, legt sich die Leber einen inneren Vorrat an. Um den osmotischen Wert in ihren Zellen in tragbaren Grenzen zu halten, wird die Glucose in Form eines osmotisch wenig wirksamen Makromoleküls deponiert. Es ist das Glykogen, die tierische Stärke. Im Bedarfsfall werden aus dem Glykogen-Polymer wieder GlucoseMonomere freigesetzt und ins Blut entlassen.
Gluconeogenese heißt Neusynthese von Glucose. Ausgangsmaterialien zur synthetischen Glucoseproduktion sind Milchsäure (Lactat) und eine Reihe von Aminosäuren (die sogenannten glucogenen, d. h. Glucose-erzeugenden, Aminosäuren). Aus Lactat, der Milchsäure, wieder Glucose zurückzugewinnen, ist kein ernstes Problem. Natürlich kostet das einige Energie und man mag sich fragen, was das überhaupt soll. Zuerst aus Glucose durch Glykolyse Lactat gewinnen, dann aus Lactat wieder Glucose, das kann doch keinen Gewinn bringen. Die Geschichte hat auch nur Sinn im Wechselspiel von Muskel und Leber. Wenn der tätige Muskel unter nahezu anaeroben Bedingungen nur noch zur Glykolyse fähig ist, fällt viel Lactat an, mit dem der Muskel selbst nichts anfangen kann. Über den Blutkreislauf liefert der Muskel das Lactat bei der Leber ab, die es zur Gluconeogenese, zur Neu- oder Resynthese von Glucose, verwerten kann. Enthält die Nahrung wenig Glucose aber viel Eiweiß, oder fallen bei irgendwelchen Entsorgungsarbeiten und Regenerationsprozessen überschüssige Aminosäuren an, kann die Leber auch hieraus Glucose herstellen. Zur Gluconeogenese benutzt die Leberzelle über weite Strecken die Glykolyse und teilweise sogar den Citratcyclus im Rückwärtsfluss, soweit Massenwirkungsgesetz und thermodynamische Gleichgewichtslagen ein Rückwärtstreiben der einzelnen Reaktionen erlauben. Das ist möglich, wenn in einer chemischen Reaktion A + B → C + D ein geringes chemisches Potentialgefälle nicht die vollständige Umwandlung der Ausgangsmaterialien A + B in die Produkte C + D erzwingt. Nahe der Gleichgewichtslage kann durch Zufüttern der Produkte C + D und Abführen der Materialien A + B die Reaktion auch rückwärts von rechts nach links (statt vorwärts von links nach rechts) getrieben werden. Es gibt jedoch einige Probleme. ●
Zuerst muss den Aminosäuren der Stickstoff entzogen werden. Das kann die Leber gut: ohnedies ist sie Spezialist bei der Stickstoffentsorgung (s. Abschn. 5.8.3).
109
110
5 Die Leber und die zentrale interne Grundversorgung Abb. 5.3. Gluconeogenese
Glucose
Gluconeogenese Aspartat Asparagin
2
CO2
Oxalacetat
Alanin Cystein Glycin Serin Threonin Tryptophan
Glykolyse 2
PEP
2
Pyruvat
Lactat
CO2
2
Acetyl-CoA Mitochondrium
Oxalacetat
2
Citrat
2
2
Malat
2
Malat Iso-Citrat
2 Tyrosin Phenylalanin
2
Fumarat 2 2
α-Ketoglutarat
Succinat 2
Succinyl-CoA
Isoleucin Methionin Valin
●
●
Die verschiedenen Aminosäuren, bzw. die nach ihrer Desaminierung übrig bleibenden α-Ketosäuren, müssen, weil sie in ihrer Struktur unterschiedlich sind, an verschiedenen Stellen in die zentralen Stoffwechselwege eingespeist werden. An einigen Stellen ist das Gefälle zu hoch und steil, als dass die Reaktion auf direktem Wege zurückgefahren werden könnte. Ist der Weg zu steil, legt man Serpentinen an. So macht dies auch die Leberzelle. Beispielsweise wird die extreme Steilstrecke zum Pyruvat und vom Pyruvat zu PEP dadurch umgangen, dass Umwege über Malat und Oxalacetat genommen werden. Dabei werden Malat und Oxalacetat auch außerhalb der Mitochondrien als Zwischenstufen eingeschoben (Abb. 5.3).
Arginin Glutamat Glutamin Histidin Prolin
5.3 „Blutfette“ und andere Lipide 5.3.1 Auch in der Versorgung des Körpers mit Fetten und anderen Lipiden, und bei deren Verwertung, hat die Leber eine Mittlerrolle Der Körper benötigt Lipide in beträchtlichem Umfang, vor allem Phospholipide zur Neusynthese von Zellmembranen, aber auch Cholesterin zur Verstärkung und funktionellen Modifikation von Zellmembranen und als Ausgangssubstanz zur Synthese der Steroidhormone. Schließlich braucht unser Körper auch Fette als langfristige Reserve von Energie. Im Menschen werden normalerweise
5.3 „Blutfette“ und andere Lipide ●
50% der mit der Nahrung aufgenommenen Glucose bald verbrannt,
●
5% in Form von Glykogen und
●
30–45% in Form von Fett gespeichert.
Im Tierreich sind Zugvogel, Winterschläfer und der Wal in arktischen Gewässern essentiell auf Fettreserven angewiesen. 5.3.2 Man kann aus Kohlenhydraten Fette herstellen, leider aber nicht aus Fetten Blutzucker Füttert man das Schwein mit Kartoffeln, d. h. Stärke, wird es mollig fett. Säugetiere, also auch Menschen, kennen gut gangbare Wege von Glucose (und anderen Zuckern wie Fructose und Galactose) zu Glycerin und Fettsäuren. Hieraus produziert man dann Tri-(drei)-acyl(Fettsäure)-Glycerine, auch Triglyceride genannt, auf Deutsch Neutralfette. Ausgangssubstanzen zur Glyceringewinnung finden wir mit Glycerin-Phosphat und GAP (GlycerinAldehyd-Phosphat) im Cytosol der Zelle. Sie können als Zwischenmetabolite weiter in der Glykolyse verarbeitet werden, aber im Bedarfsfall auch Ausgangsmaterial für die Glycerinsynthese sein (z. B. in Insekten und anderen Tieren, die in Vorbereitung auf den Winter viel Glycerin als Gefrierschutzmittel herstellen, s. Kap. 27). Fettsäuren lassen sich aus Acetyl-CoA herstellen. Zur Synthese von Fettsäuren wird der C2-Körper Acetyl- erst (in Form von Citrat) über Translokatoren aus den Mitochondrien ins Cytosol geschleust. Dort kettet ein mächtiger Multienzymkomplex, die Fettsäure-Synthase, Zug um Zug C2-Einheiten zu Fettsäuren mit meistens 16, selten 20, C-Atomen zusammen. Diese werden mit Glycerinphosphat verestert. Zum Schluss besorgen Desaturasen die gelegentliche Einführung von Doppelbindungen in die Fettsäureschwänze der Triglycerine. Das können sie zwischen den Kohlenstoffatomen Nr. 9 und 10. Sind an anderen Positionen Doppelbindungen gefragt, müssen die essentiellen Fettsäuren der Nahrung einspringen. Leider verstehen es die Zellen der Säuger nicht, aus Fetten wieder Glucose herzustellen. Der Grund hierfür liegt im Automatismus des Citratcyclus. Beim Abbau der Fettsäuren liefert die β-Oxidation
wieder Acetyl-CoA, das, wie gewohnt, beim Einschleusen in den Citratcyclus an Oxalacetat angekoppelt wird. Ist dies geschehen, so werden schon bei den nächsten zwei Verarbeitungsschritten, vom Isocitrat zu α-Ketoglutarat und vom α-Ketoglutarat zum Succinyl-CoA, zwei Kohlenstoffatome in Form von CO2 aus dem Citratcyclus herausgeworfen. Zwei Kohlenstoffatome in Form von Acetyl-CoA in den Citratcyclus hineingesteckt, gleich darauf zwei in Form von CO2 verloren: es bleibt kein Nettogewinn. Pflanzen sind da geschickter. Sie haben im GlyoxylatCyclus einen Weg gefunden, α-Ketoglutarat zu umgehen und aus zwei Acetyl-CoA den C4-Körper Succinat herzustellen. Der kann dann auf den Gluconeogenese-Weg geschickt werden. Das nutzen keimende Samen aus, um ihre Speicheröle zur Herstellung von Zuckern heranzuziehen. (s. Lehrbücher der Botanik oder Biochemie, z. B. Berg et al. (2007))
Die Erythrocyten und Nervenzellen können auch im fettleibigen Individuum verhungern, wenn der Blutzuckerspiegel zu gering ist. Zwar kann Acetessigsäure, die im tierischen Organismus aus Fettsäuren hergestellt werden kann, den schlimmsten Hunger der Nervenzellen stillen; doch mit dieser Notkost können sie sich leicht vergiften. Dazu mehr nachfolgend in Abschn. 5.4.2.
5.3.3 „Blutfette“ stammen aus der Leber und kehren zu ihr zurück. Nach gängiger Meinung von Medizinern soll es „gute“ und „böse“ geben Die Leber stellt Fette und andere Lipide zum geringsten Teil für den Eigenbedarf her. Sie verpackt Triglycerine mit Phospholipiden, Cholesterin und Proteinen zu supramolekularen Aggregaten, den sogenannten Lipoproteinen oder „Blutfetten“. In ihrer Struktur gleichen diese Aggregate den Chylomikronen, die in den Darmzellen aus resorbierten Lipiden hergestellt und über Lymphbahnen ins Blut gespeist worden sind. Abnehmer der Triacylglyceride sind besonders die Adipocyten (Fettzellen) der Fettdepots, Abnehmer der Phospholipide und des Cholesterins alle möglichen Zellen, die wachsen und sich teilen.
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112
5 Die Leber und die zentrale interne Grundversorgung Abb. 5.4. „Blutfette“. Struktur und Wege der Lipoproteine
Lipoprotein-Partikel Typ
Dichte
Triglycerine
Cholesterin
Protein
Chylomikron VLDL LDL HDL
Darm
Chylomikron
LEBER VLDL Fettzellen Triglycerine LDL
HDL
Körperzellen Membranaufbau Phospholipide Cholesterin
Körperzellen Membranabbau Cholesterin
Zur Herstellung neuer Zellmembranen können sie Phospholipide und Cholesterin gut gebrauchen. Wenn andererseits Zellen zugrunde gehen oder den programmierten Zelltod ablaufen lassen, ist es zweckmäßig, die freiwerdenden Lipide zu recyceln. Freigesetzte Lipide werden in die im Blutstrom zirkulierenden Aggregate der „Blutfette“ integriert und im Kreislauf an potentielle Abnehmer verteilt. Was
übrig bleibt, übernimmt zur weiteren Verwertung die Leber. Da nun den Blutfetten auf dem Weg durch den Körper Komponenten entzogen, andere zugeführt werden, ändert sich ihre Zusammensetzung laufend. Man ist in der Forschung bemüht, den Weg der einzelnen Komponenten zu verfolgen. Dazu kann man Komponenten, beispielsweise Cholesterin, mit 14C
5.4 Regelung der Abgabe und Aufnahme von Blutzucker und Blutfetten
markieren. Im Bestreben, die komplexen Aggregate zu analysieren und zu klassifizieren, werden sie in der Zentrifuge gemäß ihrer Dichte getrennt. Kriterium für die Klassifizierung ist die Geschwindigkeit, mit der die im Blutplasma flottierenden Lipidtröpfchen zur Oberfläche steigen („aufrahmen“). Entsprechend werden die Blutlipide eingeteilt. Sie unterscheiden sich im relativen Gehalt von Triglycerinen, Cholesterin und Protein. ●
VLDL = very low density lipoproteins; sie sind reich an Neutralfetten und arm an Cholesterin und Protein;
●
HDL = high density lipoproteins; sie sind reich an Cholesterin und Protein und arm an Neutralfetten;
●
LDL = low density lipoproteins; sie nehmen eine Mittelposition ein.
Nach gängigen Modellvorstellungen tragen die leichten Aggregate VLDL und LDL Triglyceride und Cholesterin von der Leber zu den Abnehmern, während die schweren HDL Abbauprodukte einschließlich Cholesterin zur Leber hinschleppen sollen (Abb. 5.4). Auf dieser Modellvorstellung beruht der Glaube an „gute“ und „böse“ Blutfette. Cholesterin steht in dem Ruf, entscheidend mitverantwortlich zu sein für die „Verkalkung“ der Blutgefäße im Alter (s. Abschn. 5.6.2). Mediziner und Ernährungsfachleute meinen, die leichten Blutfette VLDL und LDL trügen hier eine Hauptschuld, während die schweren, Cholesterin-reichen HDL eher die Müllabfuhr repräsentierten und daher „gut“ seien; denn sie sollen das böse Cholesterin von den Blutgefäßen wegführen.
5.4 Regelung der Abgabe und Aufnahme von Blutzucker und Blutfetten über die Hormone Insulin und Glucagon 5.4.1 Blutzuckersenkung ist nicht die eigentliche Funktion von Insulin; Insulin-Signale stimulieren das Einschleusen von Glucose und Fettsäuren in energiespeichernde Zellen Ein langfristig zu hoher Glucosegehalt des Blutes kann zu vielerlei Schäden führen, wenn auch die
Syndrome einer Zuckerkrankheit ( Diabetes mellitus) in ihrer Mehrzahl nur indirekte Folge der hohen Glucoselast sind. Ohne zwischen Primär- und Sekundärschäden unterscheiden zu wollen, seien genannt: Verengung von Blutgefäßen verbunden mit verringerter Durchlässigkeit, Geschwüre an mechanisch stark belasteten Stellen (diabetisches Fußsyndrom), Muskelschwäche, Krämpfe, Bewusstseinsstörungen. Die Vermeidung solcher Schäden ist indes nicht die primäre Aufgabe des Systems der Blutzuckerregelung, das mit den Hormonen Insulin und Glucagon als korrigierende Signale arbeitet (s. unten). Wie kommt Glucose in Zellen? Zuständig sind Transportproteine, die spezifisch die Passage von Glucose durch eine Zellmembran vermitteln (Abb. 5.5a). Die treibende Kraft ist ein Gradient des Diffusionsdruckes; es handelt sich also um erleichterte Diffusion ( facilitated diffusion), auch wenn die Bezeichnung der Proteine als Glucosetransporter GLUT an aktiven Transport denken lässt. Es gibt mehrere Subtypen von GLUT. Die Ausstattung der verschiedenen Zellen des Körpers mit unterschiedlichen GLUT-Subtypen lässt eine Strategie in der Zuteilung des Grundnahrungsmittels Glucose erkennen: ●
Zellen, die, wie Nervenzellen, Glucose als Treibstoff zur augenblicklichen Verwertung beziehen und nur kleine eigene Speicher zum Abpuffern eines Spitzenbedarfs haben, sind mit GLUT-1 Transportern ausgerüstet. Sie unterliegen nicht der zentralen Steuerung durch Insulin und Glucagon (Abb. 5.5a).
●
Hingegen gibt es Zellen, die Glucose benutzen, um einen intrazellulären Energiespeicher mit großem Fassungsvermögen zu füllen (Abb. 5.5b). Solche Speicherzellen sind Hepatocyten (Leberzellen) und mehr noch die Adipocyten (Fettzellen). Der Glucoseeinstrom in diese Zellen geschieht über GLUT-4-Transporter. Sie unterliegen der Steuerung durch Hormone. Auf deren Befehl werden Energieträger in Langzeitspeicher überführt und aus diesen wieder zugunsten bedürftiger Verbraucher in die Blutbahn entlassen. In Muskelzellen, die mit GLUT-1 und GLUT-4 ausgerüstet sind, dient der intrazelluläre Vorrat dem Eigenbedarf.
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5 Die Leber und die zentrale interne Grundversorgung Abb. 5.5a, b. Verschiedene Glucosetransporter und ihre funktionelle Bedeutung
Glucose im Blut
Glucose im Blut Insulin
Glucosetransporter GLUT-1 GLUT-4
a
CO2 H 2O
Veratmung Speicherung als Glykogen
Insulin-unabhängige Glucoseaufnahme
Hauptfunktion der Hormone, die den Blutzuckerspiegel regeln, ist die Lenkung von Energieflüssen in und aus den Energiespeichern: Das episodische Überangebot nach der Nahrungsaufnahme und die wechselnde Nachfrage der Verbraucher werden über geregelte Vorratswirtschaft abgepuffert.
Sowohl Blutzucker als auch die Triacylglycerine der Blutfette dienen der Ernährung anderer Körperzellen. Es ist daher sinnvoll, wenn ihre Produktion und Abgabe gemeinsam geregelt wird. Wichtige Regulatoren sind die Hormone, die von den Inselorganen der Bauchspeicheldrüse (Langerhans’sche Inseln) erzeugt und ausgesandt werden: Insulin und Glucagon. Die Regelzentren sind in der Hypothalamusregion des Gehirns und in der Bauchspeicheldrüse selbst (Abb. 5.6) lokalisiert. Es wird gemessen, wie viel Nahrung in Form von Glucose und Fettsäuren das Blut momentan enthält. Fällt der Körper in Arbeitswut und wird viel von dieser Nahrung beansprucht, so sinkt die Konzentration der Glucose und der Fettsäuren im Blut. Hat man hingegen eine reichliche Mahlzeit eben gut verdaut, können Glucose- und Fettsäure-Konzentration im Blut so hoch sein, dass es sinnvoll ist, die Speicher zu beladen. ●
Glucagon, von den α-Zellen (A-Zellen) der Inselorgane ausgesandt, alarmiert Leber- und Fettzellen, Nahrung in Form von Glucose oder Fettsäuren herauszugeben. Wird das Signal befolgt, steigt die abgesunkene Konzentration an Glucose und
b Speicherung als Glykogen oder Fett
Rekrutierung von mehr Glucosetransportern aus Vorrat im ER
Insulin-abhängige Glucoseaufnahme
Fettsäuren im Blut wieder an. (In Zeiten besonderer Anforderungen durch Stress wird Glucagon durch Adrenalin unterstützt; s. Kap. 11). ●
Insulin, von den β-Zellen (B-Zellen) der Inselorgane ausgesandt, sagt hingegen den Leber-, Muskel- und Fettzellen, dass sie dem Blut überschüssige Nahrung entziehen sollen, um sie als Glykogen oder Fett intrazellulär zu speichern. Wird der Befehl befolgt, werden in den Zielzellen die vorhandenen GLUT-4-Transporter in Funktion gehalten (noch ungewiss) und es werden auf jeden Fall aus einem intrazellulären Vorrat rasch zusätzliche GLUT-4-Transporter in die Zellmembran eingebaut (Abb. 5.5b; detaillierter in Abb. 12.5). In den Leberzellen und Muskelzellen wird Glucose in die Speicherform des Glykogens überführt. In den Fettzellen wird die Glucose, wie oben (Abschn. 5.3.1) beschrieben, zur Herstellung von Neutralfetten benutzt. Gleichzeitig wird die Freisetzung von Fettsäuren aus den Fettzellen gehemmt. Als Folge dieser konzertierten Aktion sinken die Konzentrationen von Glucose und Fettsäuren im Blut wieder ab.
Es kommt, dies sei nochmals betont, in diesem Regelgeschehen (Abb. 5.6) einerseits darauf an, dem Blut das allzeit Nötige an Nahrung beizumischen, andererseits, wenn immer möglich, Überschüssiges dem Blut zu entziehen und Vorräte für Zeiten gesteigerten Bedarfs und der Hungersnot anzulegen. Dies ist die Hauptfunktion der Hormone Glucagon und Insulin.
5.4 Regelung der Abgabe und Aufnahme von Blutzucker und Blutfetten
Pankreas: Langerhans’sche-Inseln
B-Zellen
A-Zellen
GLUT-2 Glucose-Transporter alsTeilihres GlucoseIstwert-Sensors
Insulin
Glucagon
G
Adipocyte (Fettzelle)
Adipocyte (Fettzelle) Lipolyse
Fettsynthese VLDL
Glycerin Fettsäuren
Blutglucose Glykogen
Glucose
LDL HDL
Energiegewinnung
Energiegewinnung
Herzmuskel
Fettsäuren
Muskelzelle LDL HDL
G
VLDL Lipoproteine
Glykogen
Glucose
Glucose Glykogen Gluconeogenese Fettsäuren
Ketonkörper
Aminosäuren
Leberzelle
Leberzelle
Abb. 5.6. Insulin und Glucagon. Steuerung der Energieflüsse, die von Glucose und Fettsäuren getragen werden
Ein Regelgeschehen verlangt, dass der momentan herrschende Istwert – hier die Blutglucosekonzentration – laufend gemessen wird, damit der Istwert unverzüglich nachkorrigiert und dem Sollwert angeglichen werden kann (s. Abb. 10.1, Regelkreis). Der Sensor der β-Zellen ist bekannt: Es ist der Glucose-
transporter GLUT-2 der Insulin-produzierenden βZellen selbst, an dem ein Enzym (Glucokinase) angekoppelt ist und in dieser Form zum Sensor des extrazellulären Glucosespiegels wird. Der Transporter lässt Glucose in die Zelle einströmen, die Glucosekinase setzt bei einer überschwelligen intrazellulären
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5 Die Leber und die zentrale interne Grundversorgung
Glucosekonzentration eine Kaskade von Reaktionen in Gang, die zur Sekretion von Insulin führt. Das sezernierte Insulin, und entsprechend auch Glucagon, erreicht die Zielzellen, das sind Leberzellen, Fettzellen, Muskelzellen und Nervenzellen, über den Blutkreislauf. Wie die hormonalen Signale von den Zielzellen empfangen und beantwortet werden, diskutieren wir im Kap. 12 (Signaltransduktion).
Diabetes mellitus: Ketose Fettzelle Fettsäuren im Blut und Blutfetten Fettsäuren
5.4.2 Beim Diabetes mellitus, der Blutzuckerkrankheit, entgleist auch der Fettstoffwechsel lebensgefährlich Diabetes mellitus heißt der „süße“ (mellitus) Durchlauf (Diabetes). Der medizinische Fachausdruck leitet sich vom diagnostischen Symptom ab: Glucose läuft durch die Nieren und erscheint im Harn. Dies kann auf einer Funktionsstörung der Niere (Niereninsuffizienz) beruhen, ist aber häufig bloß Ausdruck dafür, dass das Blut mit Glucose überladen ist und die Pumpen der Niere, die Glucose aus dem Primärharn zurück ins Blut holen (s. Kap. 6), überlastet sind. Schaden tut Traubenzucker im Harn nicht. Hingegen hat eine langfristige Glucose-Überlast im Blut eine Reihe von Spätschäden, die als DiabetesSyndrom zusammengefasst werden. In Abschn. 5.4.1 wurden einige dieser Spätschäden genannt. Ursachen des Diabetes kann mangelnde Produktion von Insulin sein oder mangelnde Ansprechbarkeit der Zielzellen auf das Hormon (s. Kap. 11, Hormone). Hier wird auf ein Symptom des Diabetes hingewiesen, bei dem Funktionen der Leber entgleisen. Bei Insulinmangel, oder bei mangelnder Reaktionsfähigkeit der Zielzellen, wird zu wenig Glucose in die Leber- und Muskelzellen gepumpt, auch wenn das Blut viel anbietet. Die Zellen drohen zu verhungern. Fettsäuren hingegen können sie durchaus noch aufnehmen. Für die Aufnahme von Fettsäuren werden keine Translokatoren benötigt; denn Fettsäuren gehören zu jenen wenigen Molekülen, die ohne Hilfe Membranen durchqueren können. Bei Diabetes bietet das Blut besonders viel Fettsäuren an, weil die Fettzellen viel Fettsäuren freisetzen, wenn ihnen dies nicht durch Insulinsignale verboten wird und Hormone das Sagen haben, die zur Herausgabe gespeicherter Energiequellen auffordern, wie Glucagon und Adrenalin (s. Kap. 11).
Acetyl-CoA O H3C C CoA
ß-Oxidation
H3C C
O
+ H 3C C
OH H3C C CH2 COOH ß-Hydroxybuttersäure
O
O H3C C CH2 COOH Acetacetat
"Ketonkörper"
O C
Leberzelle
H3C
CH3 Aceton
Abb. 5.7. Ketonkörper wie sie bei überreichem Angebot an Fettsäuren entstehen
Das Überangebot an Fettsäuren führt jedoch dazu, dass sie in der Leber nicht vollständig zu CO2 und H2O katabolisiert werden können. Es treten sogenannte Ketonkörper auf: Aus Acetyl-CoA entstehen Acetessigsäure, Aceton und β-Hydroxybuttersäure (Abb. 5.7). Der Arzt, der eine gute Nase hat, riecht den Diabetes. Die Ketonkörper, allen voran Aceton, riechen wie Nagellackentferner. Und sie sind in höherer Konzentration Nervengifte. Der Körper des Diabetikers vergiftet sich selbst.
5.5 Blutproteine und Hormone als Produkte der Leber 5.5.1 Fast alle quantitativ ins Gewicht fallenden Proteine, die man frei gelöst im Blut findet, stammen von der Leber, mit Ausnahme der Antikörper Von der Leber stammen ●
die Lipoproteine der VLDL-, LDL- und HDLLipidaggregate;
5.6 Cholesterin, seine Abkömmlinge und der entero-hepatische Kreislauf ●
die Albumine, die mit einer Reihe lipophiler Substanzen wie Vitamin A Aggregate bilden und so den Transport solcher Substanzen im Blutwasser ermöglichen;
●
Fibrinogen, der Grundstoff des Dichtungsmaterials, das im Zuge der Blutgerinnung (s. Kap. 9, Kreislauf) zum Abdichten von Blutgefäßen hergestellt wird;
●
sowie die zum Blutgerinnungssystem gehörenden Enzyme;
●
desgleichen die Komponenten des Komplementsystems, das bei manchen immunologischen Abwehrreaktionen zum Einsatz kommt (s. Kap. 7, Immunologie);
●
Vitellogenine, das sind Proteine, die in die wachsenden Eizellen des Ovars eingespeist werden, und die man entsprechend nur im weiblichen Organismus findet.
5.5.2 Die Leber produziert auch Hormone: Somatomedine (IGF) und Steroid-Vorläufer Unter den Proteinen, die die Leber in das Blut entlässt, befinden sich auch Hormone. Angeregt durch das Somatotropin, dem Wachstumshormon der Hypophyse, erzeugt die Leber Somatomedine, die das Wachstumshormon unterstützen und im jugendlichen Körper das Längenwachstum der Knochen fördern. Somatomedine heißen auch Insulin-ähnliche Wachstumsfaktoren (IGF; s. Kap. 11, Hormone).
5.6 Cholesterin, seine Abkömmlinge und der entero-hepatische Kreislauf 5.6.1 Cholesterin ist nicht nur Schreckgespenst für „Cholesterinbewusste“, sondern Bestandteil der Zellmembran und Rohmaterial für die Synthese von Gallensäuren und Steroidhormonen Cholesterin ist in Verruf geraten. Insbesondere populärmedizinische Artikel in bunten Zeitschrif-
ten vermitteln oft eine einseitig negative Bewertung. Cholesterin ist regulärer Bestandteil animaler Zellmembranen. Größere Mengen sind im Eidotter enthalten. Pflanzliche Produkte können durchaus ähnliche Steroide enthalten, doch wird dem Vegetarier versichert, dass diese unschädlich seien. Cholesterin wird als Komponente der tierischen Zellmembran und als Vorläufersubstanz anderer Steroide wie Gallensäuren und Steroidhormone gebraucht (Abb. 5.8), ist aber kein essentieller Nahrungsbestandteil. Im Bedarfsfall kann die Leberzelle Cholesterin aus vielen Acetyl-CoA-C2-Einheiten herstellen. Gänzlich cholesterinfrei kann man nicht leben. Das Cholesterin, das unsere Leber anderen Zellen des Körpers zur Verfügung stellt, soll überwiegend in den VLDL- und LDL-Aggregaten verpackt sein. Hingegen sollen die besonders Cholesterin-reichen HDL die Entsorgung des Körpers von Cholesterin bewerkstelligen oder doch fördern.
5.6.2 Cholesterin kann die „Verkalkung“ der Blutgefäße fördern Warum ist Cholesterin in Verruf gekommen? Wenn überschüssiges, Cholesterin-beladenes LDL im Blut schwimmt, werden die LDL-Tröpfchen von Endothelzellen mittels spezieller LDL-Rezeptore aufgefangen. Endothelzellen kleiden die Innenseite der Blutgefäße aus. Alsdann wird das LDL in den Zwischenraum zwischen Endothel und der Muskelschicht, welche die Arterien umhüllt, verfrachtet. Das LDL wird dort chemisch verändert und abgelagert. Es wird nun vom Immunsystem als Fremdkörper betrachtet. T-Lymphocyten und Makrophagen, die sich im Blut aufhalten oder an den Innenwänden der Blutgefäße haften, dringen in den Zwischenraum ein. Die gefräßigen Makrophagen verschlingen Unmengen des modifizierten LDL, bis sie als Schaumzellen an Überfressung sterben. Dabei wird das wasserunlösliche Cholesterin frei. Es aggregiert mit Kollagenfibrillen, die von der Muskelschicht erzeugt werden. In diesen Aggregaten, man nennt sie atherosklerotische Plaques, lagern sich Kalkkristalle ab. Es kommt in der Tat zur Verkalkung der Gefäße = Atherosklerose und als Folge davon zu einer Verengung der Arterien = Arteriosklerose (Abb. 5.9). Doch diese Verengung ist
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5 Die Leber und die zentrale interne Grundversorgung
CH3 C=O
HO Steroide (hier: Pregnenolon)
Cytochrom P450 NADPH, O2
OH CH3
HO
COO-Glycin -Taurin
CH3
Cholesterin (wasserunlöslich)
OH
HO
Acetyl-CoA O H3C C CoA
Gallensäure: Cholsäure
O
O
Biotransformation mittels Monooxigenasen
O
O
O
O
DNA-Addukte cancerogene Wirkung
O O
O
OCH3
O
O
OCH3
O
Epoxid
Aflatoxin B1 aus Schimmelpilzen
O
O HO Glutathion-S
O
O
OCH3
ausscheidbares Produkt Abb. 5.8. P450-vermittelte Oxidationen. Funktionen der Leber und ihres Enzymfamilie Cytochrom P450 bei Herstellung von Steroiden und Gallensäuren aus Cholesterin und bei der Entgiftung phenolischer Substanzen
selten so schlimm, dass der Blutstrom zum Rinnsal wird. Gefährlich wird es, wenn eine Plaque aufplatzt. Das Aufplatzen wirkt wie eine Verletzung und aktiviert das Blutgerinnungssystem (s. Abschn. 9.6): Es
entsteht ein Proof, und dieser kann nun den Blutstrom ganz zum Versiegen bringen kann. Warum der eine an Verkalkung zu leiden hat, ein anderer aber verschont bleibt, ist eine Frage,
5.7 Exkretorische und Entgiftungsfunktionen der Leber
Arteriosklerose = Gefäßverengung Atherosklerose = Gefäßverkalkung Muskelschicht (Media)
Endothel Makrophagen LDL
t1
t4 Thrombus (Propf, Blutgerinnsel)
t3
KollagenCholesterinKalkAblagerung
Ruptur
t2 Schaumelle
Abb. 5.9. Arteriosklerose und Artherosklerose
über die Mediziner viel diskutieren. Neuerdings ist die Hypothese in die Diskussion gebracht worden, ähnlich wie bei Magengeschwüren könne eine bakterielle Infektion primäre Ursache sein. Wie dem auch sei, eine Arteriosklerose stört die Blutversorgung, beispielsweise des Gehirns oder des Herzens. Es kann zum Schlaganfall (Cerebralthrombose, engl.: stroke) oder Herzinfarkt (Myocardinfarkt, engl.: cardial infarction, myocardial infarction, heart attack) kommen. Wir kommen im Kap. 9, Kreislauf, darauf zurück. 5.6.3 Aus Cholesterin stellt die Leber Steroide und Gallensäuren her Cholesterin ist wasserunlöslich. Gallensäuren, die im Zwölffingerdarm zum Emulgieren von Fetten benötigt werden, und Steroide, die als Hormone im Kreislauf zirkulieren sollen, dürfen nicht so extrem wasserscheu sein. Um Cholesterin in Gallensäuren oder Vorläufer von Steroidhormonen umzuwandeln, hängt die Leberzelle an das Sterangerüst des Cholesterins OH-(Hydroxyl-)Gruppen (Abb. 5.8) und verleiht ihnen so das gewünschte Ausmaß an gemäßigter Wasserliebe. Zum Einführen von Sauerstoffunktionen kann die Leberzelle O2, also molekularen Sauerstoff, heranziehen. Sie macht ihn verfügbar mittels eines besonderen Cytochroms in ihren Mitochondrien, einem Vertreter der Cytochrom P450-Familie.
5.6.4 Im enterohepatischen Kreislauf gelangen Gallensäuren und andere Produkte des Körpers in den Darm und zur Leber zurück Gallensäuren werden in der Gallenblasenflüssigkeit gespeichert. Wenn das von Darmzellen erzeugte hormonelle Signal Cholecystokinin Bedarf anmeldet (s. Abb. 4.12), wird die Gallenblasenflüssigkeit in den Darm entleert. Über Emulgate, Micellen und Chylomikronen gelangen die Gallensäuren teilweise in die Leber zurück. Man spricht von entero-hepatischem Kreislauf (griech.: enteron = Darm, hepatos = Leber). In diesen Kreislauf sind teilweise auch Steroide und der rote Blutfarbstoff einbezogen. Dies wird im nächsten Abschnitt näher erläutert.
5.7 Exkretorische und Entgiftungsfunktionen der Leber Unter dem Titel „Exkretionsorgane“ wird gemeinhin die Leber nur am Rande oder gar nicht vermerkt. Zu Unrecht. Bei der Harnstoffsynthese bereitet die Leber die Ausscheidung überschüssigen Stickstoffs durch die Niere vor; bei der Entsorgung überschüssigen Cholesterins und gealterten Hämoglobins hat sie direkt exkretorische Funktion. 5.7.1 Die Leber entsorgt überschüssiges Cholesterin als Gallensalz und überschüssigen Blutfarbstoff als Gallenfarbstoffe Gallensäuren werden, wenn sie über die Gallenflüssigkeit in den Darm gelangen, im entero-hepatischen Kreislauf nicht vollständig in die Leber zurückgeführt. Was nicht zurückgeholt wird, ist faktisch ausgeschiedenes Cholesterin. Bei diesem Ausscheidungsprozess kann es vorkommen, dass die Überführung von Cholesterin in lösliche Gallensalze nicht vollständig ist. Dann bilden sich in der Gallenflüssigkeit aus nicht oder unzulänglich oxidiertem Cholesterin Gallensteine, die den Gallengang versperren können. Steroidhormone werden in der Leber inaktiviert und ausscheidungsfähig gemacht, indem sie mittels
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5 Die Leber und die zentrale interne Grundversorgung
Cytochrom P450 noch mehr mit OH-Gruppen beladen und so stärker wasserlöslich gemacht werden. Nun hat die Niere leichtes Spiel. Gallenfarbstoffe leiten sich vom roten Blutfarbstoff, dem Hämoglobin ab (Abb. 5.10). Erythrocyten, die roten Blutkörperchen, sind kurzlebig. Pro Sekunde werden in der Milz 6 Mio gealterte Erythrocyten abgefangen und von Zellen des Immunsystems, den Makrophagen, verspeist. Diese werden mit dem Verdauen allein nicht fertig. Vom Hämoglobin spalten die Makrophagen das ringförmige Häm ab und sprengen die Ringstruktur. Das entstehende offenkettige Tetrapyrrol heißt wegen seiner grünlichen Farbe Biliverdin. Es wird von den Makrophagen noch zum rötlichen Bilirubin (Abb. 5.10) modifiziert und dann ins Blut entlassen. Dort bindet das lipophile Bilirubin an Albumin, wird von Leberzellen aufgefangen und durch Anhängen eines Zuckerderivates (Glucuronsäure) wasserlöslich gemacht. Wenn der so entstandene Gallenfarbstoff mit der Gallenflüssigkeit in den Darm gelangt, wird ein Teil in Micellen integriert und wie die Gallensäuren im entero-hepatischen Kreislauf in den Blutkreislauf zurückgeführt. Der größere Teil wird bakteriell anaerob weiterverarbeitet und mit dem Stuhl ausgeschieden. Es sind die Abbauprodukte des roten Blutfarbstoffs, die den Hinterlassenschaften des Toilettengangs ihre bräunlich-grünliche Farbe verleihen.
5.7.2 Muskelzellen und sonstige Körperzellen übergeben der Leber ihren Stickstoff in Form der Aminosäuren Alanin und Glutamin Wenn eine Zelle überschüssige Aminosäuren zur Energiegewinnung heranziehen will, muss sie den Aminosäuren erst den Stickstoff entziehen. Der Mensch, und ebenso die Mehrzahl der vielzelligen Tiere, ist nicht in der Lage, Stickstoff als Stickstoffgas N2 freizusetzen. Mensch und landlebende Tiere vermeiden auch aus Gründen, die wir noch zu diskutieren haben (s. Kap. 6, Niere), die Freisetzung des Stickstoffs in Form des potentiell giftigen Ammoniaks (NH3). Eine Muskelzelle überträgt vielmehr die Aminogruppe -NH2, die sie loswerden will, auf dem Weg einer oxidativen Transaminierung auf Pyruvat, das dabei zur Aminosäure Alanin wird (Abb. 5.11), Alanin kann ohne Probleme über die Blutbahn der Leber überantwortet werden. Weiterhin haben die Körperzellen die Möglichkeit, die Aminogruppe auf α-Ketoglutarat zu übertragen. Es entsteht Glutamat, das unter Aufnahme eines Ammonium-Ions NH4+ zum Glutamin wird. Glutamin ist wie Alanin gut verträglich und wird ins Blut abgegeben. Mit Glutamin befasst sich dann die Niere (s. Abb. 6.2).
Häm (cyclisches Tetrapyrrol) N N
Fe
2+
N
N
O
O H
H
H
H
H
Bilirubin (lineares Tetrapyrrol) (Methyl- und andere Seitengruppen weggelassen) Abb. 5.10. Gallenfarbstoffe als Abbauprodukte des Häms ( Tetrapyrrolring ) aus dem Hämoglobin
H
5.7 Exkretorische und Entgiftungsfunktionen der Leber Abb. 5.11. Harnstoffcyclus und weitere Funktionen der Leber bei der Entsorgung des Stickstoffs
Muskelzelle
COOH C-H
H2N
abzubauende Aminosäure
R
Transaminierung COOH O C-H CH3
COOH + +NAD
H2N C-H
H 2O
CH3
Pyruvat
Alanin
COOH
COOH
O C-H
H 2N
CH3
C-H CH3
Pyruvat
Alanin
Ammoniak NH3 H2O +
+ HCO3
H 2N
Mitochondrium
C
O O
Hydrogencarbonat
P
Carbamoyl-Phosphat
Citrullin COOH
Leberzelle
H 2N
C
NH2
O Harnstoff
Ornithin
CH2 HarnstoffCyclus
H2N CH COOH Asparaginsäure
121
122
5 Die Leber und die zentrale interne Grundversorgung
5.7.3 Die Leberzelle überführt den Stickstoff in Harnstoff, der gut verträglich ist und leicht von der Niere ausgeschieden werden kann Die Leberzelle verwandelt Alanin, das sie den anderen Körperzellen abgenommen hat, wieder zurück in Pyruvat. Pyruvat kann vielfältig verwertet werden, z. B. zur ATP Gewinnung im oxidativen Stoffwechsel oder über Acetyl-CoA zur Fettsäuresynthese. Bei der Pyruvat-Rückgewinnung aus Alanin wird die Aminogruppe abgefangen und mit CO2 sowie einer weiteren Aminogruppe, die der Aminosäure Asparaginsäure entnommen wird, zu Harnstoff (Urea) kondensiert. Der gesamte Stoffwechselweg, der teils im Cytosol teils in den Mitochondrien abläuft, ist im Lehrbuch der Biochemie unter den Bezeichnungen Harnstoffcyclus oder Ornithincyclus beschrieben und in Abb. 5.11 vereinfacht dargestellt. Eine Eselsbrücke für den Anfänger: Der Citracyclus beginnt mit Oxalacetat + Acetyl-CoA → Citrat; der Harnstoffcyclus mit Ornithin + Carbamoyl-Phosphat → Citrullin.
Bei der Harnstoffsynthese wird erneut die Strategie der Arbeitsteilung deutlich. Ursprünglich dürfte das enzymatische Rüstzeug zur Herstellung von Harnstoff zur Grundausstattung jeder Wirbeltierzelle gehört haben. Dann hat jedoch mehr und mehr die Leber stellvertretend für die übrigen Körperzellen diese Aufgabe übernommen. Im Säuger kann aber außer der Leber auch die Niere noch im gewissen Umfang Harnstoff synthetisieren. In jedem Fall übernimmt die Niere die Ausscheidung.
5.7.4 Viele Entgiftungsfunktionen beruhen auf dem Cytochrom P450, mittels dem unliebsame Substanzen oxidiert und damit wasserlöslich und ausscheidbar gemacht werden Wenn die Leberzelle Medikamente und allerlei unliebsame Fremdsubstanzen entgiftet, tut sie dies meistens nach dem gleichen Verfahren, nach dem sie aus dem unlöslichen Cholesterin die besser löslichen Gallensäuren und Steroide herstellt. „Giftige“ niedermolekulare Substanzen sind oftmals u. a. des-
wegen schädlich, weil sie lipidlöslich sind und sich in Zellmembranen sowie in die Myelinscheiden der Nervenfasern einnisten, wo sie Funktionsstörungen verursachen können. Beispielsweise beruht die Toxizität vieler Insektizide wie DDT u. a. auf diesem Effekt. Die Leberzelle führt vermittels Cytochrom P450 Sauerstoffatome in die Substanzen ein und macht sie damit wasserlöslich (Abb. 5.8). Cytochrom P450 besteht aus einer Familie von Proteinen, die mit einer Häm-Gruppe versehen sind (ähnlich dem Hämoglobin) und deren Mitglieder verschiedenen speziellen Zwecken dienen. Unter funktionellen Gesichtspunkten ordnet man sie auch in die Gruppe der Monooxygenasen ein. Mehr oder minder gute Wasserlöslichkeit allein garantiert keineswegs schon eine Entgiftung. Den Rest besorgt die Niere: Sie scheidet per Filtration ziemlich wahllos niedermolekulare, wasserlösliche Substanzen aus. Als Entgiftungsfunktion kann auch der Abbau des Alkohols (Ethanol) betrachtet werden. Die zwei ersten Stufen des Abbaus sind (1) die Umwandlung des Ethanols in Acetaldehyd durch die Alkoholdehydrogenase und (2) der weitere Abbau des Acetaldehyds durch die Aldehyddehydrogenase. Arbeitet dieses Enzym zu langsam, wie das bei vielen Ostasiaten der Fall ist, reichert sich Acetaldehyd im Blut an und es zeigen sich schon bei geringem Alkoholkonsum jene Symptome, die sonst ein übermäßiger Alkoholkonsum zur Folge hat. Man bekommt einen roten Kopf, Herzrasen und Kopfschmerzen, und es wird einem schlecht. 5.7.5 Biotransformation von Fremdsubstanzen mittels Monooxygenasen kann leider auch zu krebserzeugenden Produkten führen Ein Beispiel ist Aflatoxin, ein Produkt von Schimmelpilzen, das Symptome einer schweren Nahrungsmittelvergiftung hervorrufen kann. Das Einführen einer Sauerstoff-Funktion führt zu einem Epoxid (Abb. 5.8), das mit der DNA der Zelle Addukte bilden kann. Das kann ein erster und entscheidender Schritt auf dem Weg zur Entwicklung von Leberkrebs sein. Erst wenn die Epoxidgruppe zur Hydroxygruppe reduziert ist und das hydrophile Glutathion (2 Aminosäuren) an das Aflatoxingerüst angehängt ist, kann die Substanz zur Entsorgung der Niere überantwortet werden.
Zusammenfassung des Kapitels 5
Zusammenfassung des Kapitels 5 Die episodisch aufgenommenen Nahrungssubstanzen werden über den Pfortaderkreislauf der Leber zugeleitet, wo sie zwischengespeichert oder als Grundbausteine zur Synthese vielfältiger anderer Substanzen verwendet werden. Die Leberzellen (Hepatocyten) erfüllen so eine Stellvertreterfunktion, indem sie andere Körperzellen von der Notwendigkeit befreit, selbst vielerlei Substanzen herstellen zu müssen. ●
●
●
Die Leber versorgt den Körper mit Blutzucker (Traubenzucker, Glucose) als universalem Grundnahrungsmittel und legt in Form des Glucosepolymers Glykogen einen Vorrat für Blutzucker an.
Gallensäuren werden als Entsorgungsform des Cholesterins und als Hilfsmittel der Fettverdauung von der Leber über die Galle in den Verdauungskanal abgegeben, aber teilweise mit den resorbierten Lipiden über den „enterohepatischen Kreislauf “ in die Leber zurückgeholt. Die mit der Galle abgegebenen Gallenfarbstoffe sind Entsorgungsformen des Blutfarbstoffs Häm und entstammen abgebautem Hämoglobin.
●
Sie stellt bei Bedarf Blutzucker synthetisch her (Gluconeogenese). Ausgangsmaterial hierfür sind Lactat und „glucogene“ Aminosäuren.
Die Leber produziert Somatomedine; dies sind hormonartige Wachstumsfaktoren wie die IGF’s ( Insulin-like growth factors).
●
Leberfunktionen werden ihrerseits im Zusammenhang mit der Regelung des Blutzuckerspiegels und des gesamten Energiehaushalts hormonal gesteuert. Die Aufnahme überschüssiger Glucose aus dem Blut in Energie-speichernde Zellen (Leber-, Muskel- und Fettzellen) und ihre Überführung in Glykogen oder Fett, wird durch das Hormon Insulin, die Freisetzung von Energieträgern (Glucose, Fettsäuren) aus den Speicherorganen durch das Hormon Glucagon stimuliert. Beide Hormone entstammen den Langerhans’schen-Inseln des Pankreas (Insulin den β-Zellen, Glucagon den α-Zellen), die mit eigenen Sensoren den momentanen Blutzuckerwert messen können. Teil des Sensors ist ihr eigener Glucosetransporter. Zellen, die auf Insulin ansprechen, sind mit dem Glucosetransporter GLUT-4 ausgerüstet.
●
Die Leber liefert vielerlei „Blutproteine“ wie Albumin, Fibrinogen, das Monomer des als Dichtungsmaterial für Blutgefäße dienenden Polymers Fibrin, weiterhin Komplementfaktoren, die bei Immunreaktionen eine Rolle spielen, und Vitellogenin, eine Dottervorstufe für Eizellen.
●
Die Leber entsorgt andererseits gealterte Proteine und bereitet durch Harnstoffsynthese die Entsorgung des Stickstoffs durch die Niere vor.
●
Sie beliefert den Körper auch mit „Blutfetten“, die als Protein-Lipidaggregate VLDL ( very low density lipoprotein), LDL und HDL ( high density lipoprotein) im Blutkreislauf zirkulieren und dabei auch Cholesterin mitschleppen. Zu hohe Cholesterinlast der VLDL gilt als ein Hauptrisikofaktor für Atherosklerose (Gefäßverkalkung) und damit von Arteriosklerose (Gefäßverengung).
●
stellt. Mittels P450 werden auch viele pflanzliche Alkaloide und Medikamente wasserlöslich gemacht und können durch die Niere ausgeschieden werden (Entgiftungsfunktion).
Die Leber baut andererseits über die β-Oxidation Fettsäuren zum vielseitig nutzbaren Acetyl-CoA ab. Dieses dient u. a. zur Synthese von Cholesterin, aus dem die Leber unter Mitwirkung von Cytochrom P450 Gallensäuren und Vorprodukte der Steroidhormone her-
Die Syndrome des Diabetes mellitus treten ein bei Mangel an Insulin (Typ 1, „Jugenddiabetes“), unzulänglicher Ausrüstung der Zielzellen mit Insulinrezeptoren oder sonstig gestörter Ansprechbarkeit der Zielzellen (Typ 2, „Altersdiabetes“). Bei Insulinmangel vermehrt freigesetzte Fettsäuren werden in der Leber zu Ketonkörpern wie Acetessigsäure und Aceton metabolisiert, die in höherer Konzentration toxisch wirken.
123
6
Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere Entsorgung des niedermolekularen Abfalls und geregelte Entwässerung
6.1 Stickstoffentsorgung und extrarenale Exkretion 6.1.1 An der Entsorgung (Exkretion) sind viele Organe beteiligt Exkretion ist Abfallentsorgung. Wenn es um Exkretion geht, steht die Niere im Mittelpunkt. Wenn „etwas an die Nieren geht“ wird es lebensgefährlich. Dies unterstreicht die lebensnotwendige Funktion der Niere. Andererseits ist keineswegs nur die Niere mit der Beseitigung von Abfall befasst. Das im Stoffwechsel der Zellen (Citratcyclus) anfallende CO2 geben wir über die Lunge an die Außenwelt ab. Die von Wasser umspülten Kiemen der Fische dienen nicht nur dem Austausch der Atemgase O2 und CO2, sondern sind auch die Orte, wo der Fisch Stickstoff in Form von Ammoniak oder Harnstoff los wird. Auch Ionen werden über die Kiemen transportiert, überschüssige nach außen ins umgebende Wasser, benötigte vom Außenwasser nach innen ins Blut. Die Entsorgungsfunktion des Immunsystems wird in einem eigenen Kapitel (7) besprochen. Es lässt sich noch manche Möglichkeit auflisten, wie der Körper Überschüssiges und Unerwünschtes loswerden kann, ohne dass die Niere ins Spiel gebracht werden müsste oder – bei Wirbellosen – andere, äquivalente Exkretionsorgane. Auf einige außerhalb der klassischen Exkretionsorgane bewältigte Entsorgungsfunktionen wird in den folgenden Abschnitten noch näher eingegangen. Andererseits beschränkt sich die Funktion der klassischen Exkretionsorgane keineswegs auf die Beseitigung von Abfall. Eine ebenso wichtige Rolle spielen sie bei der Entwässerung des Körpers (besonders wichtig bei Süßwassertieren, in die osmotisch Wasser eindringt) und bei der Regelung der ionalen Zusammensetzung der Körperflüssigkeit.
6.1.2 Die Entsorgung des Stickstoffs bereitet besondere Probleme und beginnt in jeder einzelnen Körperzelle In jeder Zelle werden im Zuge einer inneren Erneuerung laufend denaturierte Proteine, gebrauchte RNA und andere Substanzen durch neu synthetisierte ersetzt. Beim Abbau gealterter und überschüssiger Proteine wird zugleich die relative Menge der einzelnen Aminosäuren auf den neuen Bedarf eingestellt. Es müssen einerseits alle 20 Standardaminosäuren in den benötigten Mengen verfügbar sein, andererseits sollen nicht mehr als nötige Aminosäuren frei gelöst sein, weil sie den osmotischen Wert der Zellen und des Blutes belasten. Bei der Entscheidung, ob bestimmte Aminosäuren durch Abbau aus dem Verkehr gezogen werden sollten, wird die Zelle auch berücksichtigen, was sie im Falle des Bedarfs dem Blut entnehmen kann. Ähnlich verhält es sich mit den Basen der Nucleinsäuren. Auch sie sollen in ausreichendem Maße verfügbar sein, aber zu viel ist zu viel und belastet die osmotische Balance zwischen dem Zellinneren und dem Zelläußeren. Überschüssiges wird zur Energiegewinnung in der Glykolyse und dem Citratcyclus „verheizt“ dabei fällt Unverbrennbares als Asche an, beispielsweise Phosphat und Sulfat. Solch ungiftigen Abfall darf die Zelle getrost in die Blutbahn kippen. Die Niere entsorgt das schon. Anders verhält sich das mit dem Stickstoff. 6.1.3 Es gibt zwei Hauptquellen von Stickstoff: Aminosäuren und Nukleotide, aber viele potentielle Abbauprodukte Man denkt bei der Stickstoffentsorgung zu Recht erst einmal an Aminosäuren. Falls der Stickstoff der Aminosäuren nicht durch Transaminierung geret-
126
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
tet und anderweitig nutzbar gemacht werden kann, fällt er als Ammoniak NH3 an (Abb. 6.1 u. 6.2). In einem komplizierten Syntheseweg kann aber auch wahlweise Harnstoff oder Harnsäure (Abb. 6.3
Abb. 6.1. Stickstoffentsorgung. Überblick über die wichtigsten Moleküle, die zur Entsorgung des Stickstoffs in die Umwelt entlassen werden
u. 6.4) hergestellt und so der Stickstoff abgefangen werden. Nicht nur Aminosäuren, auch die Basen der Nucleinsäuren sind ergiebige Quellen von Stickstoff.
6.1 Stickstoffentsorgung und extrarenale Exkretion CO2 NH 3 + H
NH 3
+
KaliumKanal
O C
K+
NH 4
N
+
NH 4 Na+
+
O
α-Ketoglutarat +
Glutamat + NH4
CH2 C=O NH 2
b
Glutamin = "Ammoniakspeicher"
Glutamin Glutaminase NH3 Glutamat
+
+H
+
NH4
Harn
Abb. 6.2a, b. Ammoniak/Ammonium. Giftigkeit des Ammonium-Iions durch Verstopfung von Kaliumkanälen. Gefahrlose Erzeugung von Ammonium aus Glutamin in der Wandung der Nierenkanälchen ●
●
Harnsäure Uric acid
Abb. 6.3. Harnsäure. Nur angedeutet ist ihre komplizierte Synthese aus Aminosäuren
6.1.4 Ammoniak ist giftig. Warum?
+ NH4
CH2
N
Glutamin
Epithel der Nierentubuli
Citratcylus
+
N
Formiat
Ammoniak blockiert K -Kanäle und vernichtet dadurch elektrisches Membranpotential
H 2 N-C-H
C
Formiat
+
Na - K -ATPase
COOH
N C O
+ NH 4 K+
a
Glycin
Aspartat
+ NH4
+
Die Pyrimidinbasen T und C (Thymidin und Cytosin) liefern zunächst β-Aminosäuren, deren Stickstoff letztendlich als Ammoniak freigesetzt werden kann. Die Purinbasen A und G (Adenin und Guanin) werden in wenigen Schritten so abgebaut, dass der Stickstoff wahlweise in Form von Allantoin, Harnsäure, Harnstoff oder Ammoniak beseitigt werden kann (Abb. 6.4). Guanin kann sogar selbst Endprodukt sein.
Vom Energiehaushalt her betrachtet, ist Ammoniak NH3 durchaus ein erwünschtes Endprodukt. Es ist energiearm. Man verliert mit Ammoniak keine nutzbare Energie, wenn man ihn in die Umwelt entlässt. Darüber hinaus durchdringt er Zellmembranen leicht und ohne Hilfsmittel. Er ist flüchtig und kann unangenehm „in die Nase stechen“. Wenn etwas übel riecht (wie schlecht gewartete Toiletten) ist dies in der Regel ein Hinweis der Natur: „Vorsicht Gift!“. So auch hier. Jedes Lehrbuch der Physiologie oder Zoologie sagt, Ammoniak sei ein starkes Zellgift. Sucht man nach einer Erklärung warum, ist die Suche oftmals vergeblich. Hier werden zwei Erklärungen gegeben (s. Abb. 6.2): Im Wasser gelöstes Ammoniak NH3 geht leicht unter Aufnahme eines Protons in das AmmoniumIon über. NH3 + H+ → NH+ 4
Dies geschieht verständlicherweise umso leichter, je mehr Protonen da sind, d. h. je saurer das Lösungswasser ist. Jedoch schon beim recht alkalischen pH 9, also bei sehr geringem Protonenangebot, liegen bereits 97% in ionisierter Form vor. Innerhalb einer Zelle liegt (beim üblichen pH von 7,4) 99% des „Ammoniaks“ in Form von NH4+ und nicht als NH3 vor.
127
128
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
Purinbasen O
NH2 N
N
H2 N
N
N
N
N
N
N
Guanin Spinnen
Adenin O N
N
O O
N
N Harnsäure
Uricotelische Tiere
Uricase CO2
O HO C
Insekten Reptilien Vögel (Primaten)
H2 N
H2 N
O O
N
N
Schnecken einige Fische Nicht-Primaten Säuger
Allantoinsäure
H2 N
H2 N
O
H 2N
O NH2
NH2
H2N C
= O Urea 2x Harnstoff Urease
2 NH3 + 2 CO2
Ureotelische Tiere Haie, Fische Amphibien Säuger Ammoniotelisch Mehrzahl aquatischer Invertebraten
Abb. 6.4. Harnsäure als Derivat der Purinbasen und ihr möglicher Abbau bis hin zu Ammoniak
Anders als das wenig polare NH3 kann das ionisierte NH4+ Zellmembranen nicht einfach passieren. Ammoniak kann leicht in die Zelle eindringen, findet aber – zum Ammonium-Ion verwandelt – nicht wieder heraus. Die Zelle ist eine Falle, in der sich Ammonium-Ionen leicht anreichern können. Ammonium-Ionen könnten nur durch besondere Kanäle oder mittels besonderer Translokatoren über die Membran nach draußen verfrachtet werden. Dabei sieht sich die Zelle einem Problem gegenüber. NH4+ sieht zum Verwechseln dem K+ gleich. Die Ionenradien und die Dimensionen der Hydrathüllen sind ähnlich. Besondere Pumpen würden mit einiger Wahrscheinlichkeit statt Ammonium-Ionen versehentlich die im Zellinneren benötigten K+-Ionen nach draußen transportieren, so wie umgekehrt die Ionenpumpe Na+-K+-ATPase statt K+ fälschlicherweise NH4+ ins Zellinnere fördert. Ammonium-Ionen als Nervengift. Erregbare Zellen, namentlich Sinnes-, Nerven- und Muskelzellen, besitzen nicht nur die eben erwähnte Na+-K+-ATPase, sondern auch noch besondere K+-Kanäle, die zur Erzeugung der elektrischen Membranspannung (Ruhemembranpotential, s. Kap. 14) von wesentlicher Bedeutung sind. Die Ionenpumpe Na+-K+-ATPase muss von Zeit zu Zeit angeworfen werden, um die stimulierte, elektrische Impulse erzeugende Zelle von eingedrungenem Na+ zu entlasten und ausgetretenes K+ in die Zelle zurückzuholen. Die K+-Bindungsstelle der Na+-K+-ATPase ist aber nicht hoch selektiv und bei reichlichem Angebot wird „versehentlich“ auch NH4+ ins Zellinnere befördert. Es kann sich im Cytosol soviel Ammonium anreichern, dass ein Diffusionsdruck nach außen aufgebaut wird. NH4+ dringt aus dem Cytosol in diese K+-Kanäle hinein und verstopft sie; denn der Durchmesser der Kanalporen erlaubt keine vollständige Passage von NH4+. Das Zellmembranpotential bricht zusammen. Ammonium-Ionen sind ein Nervengift. Aushungern des Citratcyclus versus Glutaminsynthese. Diskutiert wird auch folgender Effekt: Ein Metabolit des Citratcyclus, α-Ketoglutarat, reagiert unter Aufnahme von NH4+ zu Glutamat, dieses unter Aufnahme eines weiteren NH4+ zu Glutamin. Das thermodynamische Gleichgewicht liegt auf Seiten des Glutamins. Bei hohem Angebot an AmmoniumIonen verarmt die Zelle an α-Ketoglutarat; die Zelle hungert aus.
6.1 Stickstoffentsorgung und extrarenale Exkretion
Andererseits ist das Abfangen von NH3/NH4+ durch α-Ketosäuren eine bewährte Methode, die gefährlichen Ammonium-Ionen abzufangen. Wir hatten im Kap. 5 schon erfahren, dass die Muskelzelle Aminostickstoff mit Pyruvat abfängt und das entstehende, harmlose Alanin über die Blutbahn der Leber weitergibt. Auch die Glutaminsynthese eignet sich zum Abfangen, und mancherlei Körperzellen nutzen auch diese Möglichkeit. Glutamin ist gut verträglich. Die Niere kann dann aus Glutamin wieder NH4+ freisetzen. Sie tut dies in der Wand der Nierenkanälchen (Nephrontubuli) und in einer Weise, dass die Ammonium-Ionen gleich in den Harn gelangen. Der ist sauer genug, dass die ionisierte Form erhalten bleibt und nicht etwa NH3 zurück ins Blut diffundieren kann (s. Abb. 6.2). 6.1.5 Nach traditioneller Lehre gibt es drei hauptsächliche Möglichkeiten, Stickstoff auszuscheiden: Ammoniotelie, Ureotelie und Uricotelie Ammoniotelie: Ammoniak als Endprodukt. Das einfachste und energieärmste ausscheidbare Endprodukt (griech.: telos = Ziel, Ende) ist eben doch Ammoniak NH3. Ammoniak kann anfallen beim Abbau aller 20 Aminosäuren und beim Abbau der Pyrimidinbasen Thymidin (T) und Cytosin (C). Auch beim Abbau der Purinbasen Adenin (A) und Guanin (G) gibt es Wege, die beim Ammoniak enden (Abb. 6.4). Ammoniak kann ausgezeichnet diffundieren, auch über Zellmembranen hinweg – sofern tatsächlich Ammoniak NH3 vorliegt und er sich nicht in das Ammonium-Ion NH4+ verwandelt. Um die unvermeidbare Ionisierung zum NH4+ auf ein tolerierbares Maß einzuschränken, muss die Zelle einen hohen pH einstellen; aber das hat Grenzen. Immerhin gibt es ja die Gleichgewichtsreaktion NH3 + H+ → NH+ 4
und wenn NH3 verschwindet, muss sich nach dem Massenwirkungsgesetz ein entsprechender Anteil an NH4+ in NH3 zurückverwandeln. Sind die Zellen des Körpers allseits von Wasser umspült und kann der Körper leicht mit Wasser durchspült werden, ist die Beseitigung von Ammo-
niak im Allgemeinen kein großes Problem. Schon geringe Konzentrationen in den Körperzellen genügen, um Ammoniak hinaus ins umgebende Wasser diffundieren zu lassen. Vorteile also: ●
Ammoniak diffundiert leicht,
●
ist billig herzustellen. Nachteile:
●
Ammoniak ist giftig, insbesondere in der ionisierten Form NH4+,
●
nur tolerierbar für Tiere im Wasser.
Ammoniotelisch sind viele primäre Wassertiere. (Sekundär sind Wassertiere, die in der Evolution vom terrestrischen zur aquatischen Lebensweise wechselten wie die Lungenschnecken des Süßwassers; diese produzieren Harnstoff.) Doch schon große primäre Wassertiere wie die Haie können Probleme bekommen und führen Ammoniak noch in den Körperzellen in Harnstoff über. Sie gehören damit zur folgenden Kategorie. Ureotelie. Endprodukt ist Harnstoff (lat./engl.: urea). Harnstoff kann erstaunlicherweise, trotz seiner ausgesprochen polaren Struktur, recht gut über Zellmembranen diffundieren. Glaubte man vor Kurzem noch, Harnstoff könne sich aufgrund seiner geringen Größe durch die Lipid-Doppelschicht der Zellmembran hindurchmogeln, wie dies auch für CO2 angenommen wird, so sind nunmehr besondere Poren bzw. Kanäle identifiziert und ihre molekulare Struktur aufgeklärt. Molekular zählen die Proteine der Harnstoffkanäle zur Familie der Aquaporine (Wasserporen). Sie lassen denn auch außer Harnstoff in gewissem Maße Wasser durch. Harnstoff ist chemisch recht inert und daher gut verträglich. Als polares Molekül ist er gut wasserlöslich. Dies kann jedoch auch von Nachteil sein. Er kann nur in Form wässriger Lösungen – Urin – ausgeschieden werden, weil er erst bei extrem konzentrierten (und damit extrem osmotisch aktiven) Lösungen auskristallisieren würde. ●
Vorteile: chemisch inert, gut diffusionsfähig (durch besondere Kanäle der Zellmembran);
●
Nachteile: Synthese energieaufwendig; viel Wasser zum Ausscheiden nötig.
129
130
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
Ureotelisch sind viele Fische. Amphibien sind als Kaulquappen oft noch überwiegend ammoniotelisch, nach der Metamorphose überwiegend ureotelisch. Auch die Säuger sind ureotelisch. Ihnen muss ausreichend Trinkwasser zur Verfügung stehen, damit sie ihren Körper durchspülen und von Harnstoff befreien können. Uricotelie. Endprodukt ist Harnsäure (engl.: uric acid). Harnsäure bildet im physiologischen pH-Bereich Uratsalze (z. B. Natriumurat) und diese sind nur gering wasserlöslich (was man der Formel nicht recht ansieht). Es sind nur Lösungen niederer Konzentration möglich. Entzieht man einer solchen Lösung etwas Wasser, fällt Urat kristallin aus. Das eben kann zum Vorteil des Tieres sein. Harnsäure kann vom Vogel im Flug als wasserarmer Brei kleiner Kristalle aus der Hecköffnung (Kloake) entlassen werden. Die weißliche Farbe des auf uns herabregnenden Produkts kommt z. T. vom beigemischten Guanin, das ebenfalls Exkretionsprodukt dieser Tiere ist. ●
Vorteile: fast kein Wasser zur Ausscheidung nötig;
●
Nachteile: sehr aufwendige Synthese (Abb. 6.3 u. 6.4).
Uricotelisch sind Tiere, die mit Wasser sparsam umgehen müssen. Beispielsweise Reptilien in den Wüsten. Vögel und Fluginsekten müssen darüber hinaus Gewicht sparen und können nicht viel Wasserballast mitschleppen. Es muss betont werden, dass diese Einteilung nur dasjenige Endprodukt nennt, das quantitativ überwiegt. Viele Tiere können je nach Wassermenge, die ihnen zur Verfügung steht, mal diese mal jene Ausscheidungsweise bevorzugen. Auch der Mensch scheidet mit seinem Urin nicht nur Urea = Harnstoff aus, sondern auch Ammoniak (Geruch!), Ammonium-Ionen und etwas Harnsäure. Besonders beim Abbau von Purinbasen fällt Harnsäure an. In den körpereigenen Sammelbehältern für den Urin (Nierenbecken, Harnblase) kann Urat als Nieren- oder Blasensteine ausfallen. Allerdings bestehen solche Steine in der Regel überwiegend aus anderen schwerlöslichen Materialien wie Calciumoxalat, Calciumphosphat und Calciumcarbonat. Schon diese kurze Aufzählung unterstreicht, dass im Urin viel mehr als Harnstoff enthalten ist.
Fällt im Stoffwechsel mehr Harnsäure an, als die Niere ausscheiden kann, kann Natriumurat in den Gelenken ausfallen. Der Gelenkschmierstoff reichert sich mit harten Kristallen an; diese erhöhen den Reibungswiderstand und es kommt zu schmerzhaften Gelenkentzündungen. Häufig beginnt dies im Grundgelenk des großen Fußzehen, doch mehr und mehr werden auch andere Gelenke betroffen. Es sammeln sich Immunzellen an. Letztlich kann es zur Zerstörung der Gelenke kommen (Gicht).
6.1.6 Es gibt noch viele andere Stoffwechselendprodukte und auch extrarenale Entsorgung Einige weitere Stoffwechselendprodukte sind in Abb. 6.4 und 6.5 beispielhaft aufgelistet. Endogenes Kreatinin und ein Derivat der Hippursäure, die p-Aminohippursäure, spielen in der Medizin eine Rolle bei Nierenfunktionsprüfungen. Trimethylamin ist eine flüchtige Substanz, die über unsere Nase vor verdorbenem Fisch mahnt, und durch bakterielle Zersetzung aus dem wasserlöslichen Trimethylaminoxid der „Meeresfrüchte“ entsteht. Arthropoden speichern Stickstoff in ihrer Cuticula. Sie besteht aus dem stickstoffhaltigen Poly-N-Acetylglucosamin (Chitin) und aus vernetzten Proteinen. Darüber hinaus können weitere stickstoffhaltige Verbindungen in die Cuticula eingelagert sein, wie die Farbpigmente der Pteridine und Guanin, die zum Farbmuster der Schmetterlingsflügel beitragen können (Guanin gibt auch Fischschuppen einen weißlich-silbrigen Glanz). Mit jeder Häutung wird ein Krebs, eine Spinne und ein Insekt viel gespeicherten Stickstoff los. Nach der letzten Häutung muss dann verstärkt auf sezernierbare Produkte umgeschaltet werden, auf Trimethylaminoxid und Harnstoff (Krebse), Guanin (Spinnen) oder Harnsäure (Insekten).
6.2 Die expliziten Exkretionsorgane der Lehrbücher 6.2.1 Physiologisch werden Sekretionsorgane und Filtrationsorgane unterschieden Morphologisch werden drei, physiologisch zwei Typen von Exkretionsorganen unterschieden. Jedes zoologische Lehrbuch listet im Mindestfall auf:
6.2 Die expliziten Exkretionsorgane der Lehrbücher
P
●
Protonephridien (Abb. 6.6), vorkommend bei Turbellarien, Trematoden, Larven von Anneliden und Mollusken, Amphioxus;
●
Metanephridien (Anneliden und andere Wirbellose mit Coelom);
●
Malpighische Schläuche (Insekten, Spinnen).
O
NH
N
COOH
HN
C
HN N
N
CH3
CH3
Kreatin-Phosphat
Kreatinin
●
(Energiequelle im Muskel)
(im Harn; diagnostisch bei Nierenfunktionstests von Bedeutung)
Filtrationsorgane: Proto-, Metanephridien, Nieren mit Glomeruli (Abb. 6.7 u. 6.8);
●
Sekretionsorgane: Malpighische Gefäße, Antennen- und Coxaldrüsen (Krebse), aglomuläre Nieren mariner Fische.
( H 2N )
C
H N
Der Physiologe betont gern die funktionelle Gliederung in
Bei näherer Betrachtung haben Filtrationsorgane auch Sekretionsverfahren eingerichtet, um Substan-
COOH
O (p-Amino-)Hippursäure Pferde, Rinder, Mensch (gering) N
Protonephridium
N
(Saugfilter) N
N Geißel
Pteridin (Grundgerüst) Pigmente in Insekten Reusenstäbe
CH3
CH3 Bakterien
CH3
N
O
CH3
CH3
Ultrafiltermembran
Sog
N
CH3
Trimethylaminoxid
Trimethylamin
Marines Plankton
"Fischgeruch"
Schub
Krebse, Fische Abb. 6.5. Exkretionsprodukte II. Kreatinin und Hippursäure finden sich in geringer Menge auch im Harn des Menschen. Das natürlich vorkommende Kreatinin kann zur Bestimmung der glomulären Filtrationsrate GFR herangezogen werden. Ein künstliches Derivat der Hippursäure, p-Aminohippursäure, spielt ebenfalls eine Rolle bei Nierenfunktionsprüfungen
Abb. 6.6. Protonephridium. Die schlagende Geißel treibt Wasser in Richtung Kanalausgang und erzeugt so einen Unterdruck, der Körperflüssigkeit durch einen Filter hindurch in das Kanallumen nachzieht
131
132
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
Rinde
Rinde
Mark
Glomeruli
Darm in den Körper herein oder wird von Parasiten und Krankheitserregern in den Körper ausgeschieden. Zur Vorsicht wird alles hinausfiltriert. Das Brauchbare ist hingegen besser definiert und in der Vielfalt geringer. Für Glucose und Aminosäuren gibt es spezifische Translokatoren, mit deren Hilfe man die nicht allzu vielen brauchbaren Materialien wieder zurückholen kann.“ Darüber hinaus muss freilich fast das ganze Wasser zurückgewonnen werden, sonst wäre man in wenigen Minuten ausgetrocknet.
Vene
6.3.2 Sehr wichtig ist auch die Regelung des Wasserhaushalts
Arterie
Tubuli
Harnleiter
Mark
Sammelrohr
Nierenbecken Papille
Abb. 6.7. Niere. Grobanatomie
zen loszuwerden. Das erfahren wir näher, wenn wir im Folgenden die menschliche Niere untersuchen.
6.3 Die Niere des Menschen 6.3.1 Die Niere filtriert ohne viel Federlesen alles Niedermolekulare hinaus, holt sich aber das Benötigte zurück Die Niere verfolgt eine einfache, aber sehr geschickte Strategie. Das Blut wird über einen Ultrafilter geleitet, durch den viel Blutwasser (Blutplasma) mitsamt allen gelösten niedermolekularen Substanzen hindurchsickert. Das Filtrat (Primärharn) gelangt in kleine Schläuche, über die es weitergeleitet und in denen es weiterverarbeitet wird. In diesem Primärharn befinden sich auch der lebensnotwendige Blutzucker Glucose sowie Aminosäuren und manch andere brauchbare Substanzen. Die Strategie der Niere ist: „Im Stoffwechsel fallen viele unnütze Endprodukte an; schrecklich viel Unkalkulierbares und Gefährliches kommt über den
Haben Sie sich schon einmal klargemacht, dass jede Tasse Kaffee und jedes Maß Bier quantitativ ins Blut gelangt? An einem trinkfreudigen Tag könnte schon mal das Blutvolumen von 5 l auf das Doppelte ansteigen, und um ein Vielfaches auch der Blutdruck, würde die Niere das Wasser nicht rasch wieder herausfiltern. Andererseits verlieren wir ständig Wasser, nicht nur wenn wir schwitzen, sondern mit jedem Atemzug; denn Atemluft ist wasserdampfgesättigt. Bald wäre der Körper ausgetrocknet, würde die Niere nicht auch im Bedarfsfall sparsam mit Wasser umgehen können. 6.3.3 Das einzelne Funktionsmodul ist das Nephron; unsere Niere hat über eine Million davon Das Nephron, das einzelne Funktionsmodul der Niere, beginnt mit einem kleinen Knäuel von Blutkappillaren, dem Glomerulus (man liest statt der maskulinen Form Glomerulus – Plural: Glomeruli – oft auch die Neutrumform Glomerulum – Plural: Glomerula). Die ca. 1,2 Mio. Glomeruli einer einzelnen Niere liegen in der Peripherie der Niere, der Nierenrinde. Dorthin ziehen auch Arteriolen, die das zu filtrierende Blut heranführen. Die Eingangskapillare ( vas afferens) eines jeden Glomerulus ist von kontraktilen Endothelmuskelzellen umgeben, die den Rohrquerschnitt verengen und damit den Blutzufluss regeln können. Der Glomerulus wird von der becherförmigen Bowman’schen Kapsel umhüllt. Sie fängt den
6.3 Die Niere des Menschen Abb. 6.8. Glomerulus (synonym: Glomerulum)
Epitheloidzellen des juxtaglumulären Apparates Efferente Arteriole
Afferente Arteriole
Perforiertes Endothel der Glomerulus-Kapillare
Basal membran Podocyte (zum Epithel der Kapsel gehörend)
BOWMANsche Kapsel Proximaler Tubulus
Podocyten = Filterhalter
Erythrocyt Endothelporen = Vorfilter (Grobfilter) Basallamina Schlitzmembran
= Ultrafeinfilter
BOWMANsche Kapsel
Filtrat = Blutplasma = Primärharn = Vorharn
filtrierten Primärharn auf. Glomerulus plus Bowman’sche Kapsel heißen zusammen Nierenkörperchen; doch hat es sich eingebürgert, das ganze Gebilde Glomerulus zu nennen. (Entsprechend wird das Wort Nierenkörperchen nur selten gebraucht.) Die aneinandergrenzenden Wandungen der Blutkapillaren und der Bowman’schen Kapsel und die dazwischen liegende Basalmembran bilden zusammen den Ultrafilter. Der von der Kapsel aufgefangene Primärharn fließt durch das Röhrensystem des Nephrontubulus, wo der volumenreiche Primärharn zum konzentrierten definitiven Harn verarbeitet wird.
Begleitende Blutgefäße nehmen die aus den Tubuli herausgezogenen brauchbaren Substanzen mitsamt dem Lösungswasser auf, um es in den Körper zurückzuleiten. Die Tubuli aller 1 bis 2 Mio. Nephrone bilden zusammen mit den begleitenden Blutkapillaren die Hauptmasse des Nierenmarks. Der einzelne, gewunden verlaufende Tubulus ist in einzelne Abschnitte gegliedert (Tabelle 6.1): ●
Proximaler Tubulus (proximales Convolut; Convolut = stark gewundener Teil; Länge 10 mm),
●
Henlesche Schleife, absteigender Schenkel (8 mm),
133
134
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere Tabelle 6.1. Stichworte für das, was in den folgenden Abschnitten im Detail erläutert wird Proximales Convolut
Absteigende Henlesche Schleife
Aufsteigende Henlesche Schleife
Distales Convolut
Sammelrohr
Epithel des Nephron tubulus mit
Pumpen und Wasserporen
Wasserporen
Pumpen
Pumpen und Wasserporen
Wasserporen Glutaminase
Vorgang
Isotoner Wasseru. Substanz export
Osmotischer Wasserentzug
Aktiver Teilchenexport
Isotoner Wasser- u. Substanz-export
Osmotischer Wasserentzug
Osmotischer Wert (s. Box 6.1)
300 mosmol/l
ansteigend bis 1200 mosmol/l
abfallend bis 100 mosmol/l
100–300 mosmol/l
ansteigend bis 1200 mosmol/l
●
Henlesche Schleife, aufsteigender Schenkel (8 mm),
●
Distaler Tubulus (distales Convolut; 10 mm),
●
Sammelrohr (20 mm), in das annähernd 3000 benachbarte Nephronkanäle münden. Die insgesamt 300 Sammelrohre ihrerseits münden alle in einen zentralen Hohlraum, das Nierenbecken. (Beachte: Das Nierenbecken ist nicht ein Gefäß für die Niere sondern ein Harnsammelraum in der Niere!) Die Funktionen der einzelnen Teile des Nephrons werden in den folgenden Abschnitten erläutert.
benachbarter Zellen sind miteinander verzahnt. Zwischen den 12 bis 25 nm engen Schlitzen benachbarter Fußfortsätze ist ein Sieb aus vermaschten Proteinfibrillen (slit membrane) ausgespannt. Zusammen mit der Basallamina bildet dieses feinmaschige Sieb den Ultrafilter. Er hält Proteinmoleküle wie z. B. Albumine oder Antikörper zurück, lässt jedoch Peptide und alles Niedermolekulare durch. Eine exakte Molmasse für die Ausschlussgrenze lässt sich nicht definieren, da wie bei jedem Ultrafilter auch die Form eines Moleküls, seine Löslichkeit (Hydrophilie) und seine elektrische Ladung von Bedeutung sind. − Inulin, ein in medizinischen Nierenuntersuchungen ins Blut gespritztes, von Pflanzenknollen (Topinambur) gewonnenes Polyfructosan mit der Molekularmasse 5500, passiert den Filter ungehindert;
6.3.4 Der Glomerulus als Ultrafilter: das pochende Herz liefert den nötigen Filtrationsdruck Der Ultrafilter des Glomerulus ist ein Gemeinschaftserzeugnis der Kapillarenwände und der angrenzenden Kapselwand. ●
− Myoglobin mit der Molekularmasse 17 000 wird noch zu 75% durchgelassen; (dies im Experiment, wenn Myoglobin, das normalerweise in Muskelzellen eingeschlossen ist, in die Blutbahn injiziert wird).
Die Innenwände der Kapillaren, die Endothelien, formen Poren („fenestriertes Endothel“), die als erster Grobfilter fungieren. Sie haben einen Durchmesser von 25 bis 50 nm und halten Blutzellen zurück.
●
Es folgt die Basalmembran (Basallamina), die mutmaßlich große Proteinmoleküle zurückhält.
●
Der feinste Ultrafilter wird von dem Teil der Kapselwand, der den Blutkapillaren eng aufliegt, gebildet. In diesem Bereich haben die Zellen der Kapselwand eine eigenartige Form und heißen Podocyten (Füßchenzellen). Sie sind in ihrer Peripherie abgeflacht und an ihren Rändern kammförmig ausgezackt. Die fußförmigen Kammzähne
− Hämoglobin und Serumalbumin mit Molekularmassen von 68 000 bzw. 69 000 (68–69 kD) werden hingegen vollständig zurückgehalten. Als Faustregel kann man die Ausschlussgrenze bei 50 000 Molekularmasse ansetzen. ●
In und über die Niere wird die Mehrzahl der Hormone beseitigt; deren Molekulargewicht liegt in aller Regel unterhalb der Ausschlussgrenze. Ein viel gebrauchter Schwangerschaftstest beruht darauf, dass im Urin einer Frau Spuren des Placentahormons HCG ( human chorionic hormone, MG 36–40 kD) nachweisbar werden, wenn sich
6.3 Die Niere des Menschen
der Embryo in die Gebärmutter eingenistet hat. Dieses Hormon gelangt in den Blutkreislauf der Frau und über ihre Niere in den Urin. Peptide werden weitgehend im Nephron, vermutlich von Mesangialzellen der Glomeruli, per Endocytose aufgenommen und enzymatisch in Aminosäuren zerlegt, die alsdann resorbiert werden; doch vollständig ist die Beseitigung nicht. Hochempfindliche Messmethoden entdecken noch manches Peptidhormon und manch sonstiges Protein im Harn. Bis zu 150 mg Peptide/Protein pro Tag im Harn gelten als normal; darüber hinaus gehende Mengen geben Anlass zur Diagnose Proteinurie und damit zur Besorgnis. Ein Ultrafilter muss mit Druck betrieben werden. Den nötigen hydraulischen Druck liefert das pochende Herz. Der arterielle Blutdruck am Glomerulus liegt bei 48–60 mmHg (am Herzausgang 90–160 mmHg). Zwischen den afferenten Blutkapillaren, die in die Glomeruli hineinführen, und den herausführenden efferenten Gefäßen herrscht eine Druckdifferenz von ca. 38 mmHg (5 kPa). Der Fachmann zieht bei der Abschätzung des effektiven Filtrationsdrucks noch einige mmHg ab; denn das Blut hat nach der Passage des Glomerulus wegen des Wasserverlustes eine erhöhte Proteinkonzentration und die ist Ursache eines sogenannten kolloidosmotischen Drucks, auch onkotischer Druck genannt, der dem Filtrationsdruck entgegensteht und bei einem Wert von >5 kPa die Filtrationsleistung auf Null abfallen lässt. (Der „onkotische Druck“ in der medizinischphysiologischen Literatur ist mit „osmotischem Wert“ gleichzusetzen, der in diesem Fall vor allem von gelösten Proteinmolekülen ausgeht; s. Box 6.1). 6.3.5 Podocyten und Mesangiumzellen regeln die Eigenschaften des Filters und reinigen ihn Podocyten sind keine passiven Elemente des Ultrafilters, sondern können aktiv die Filtrationsleistung des Systems verändern. Sie reagieren auf Hormone wie Angiotensin II (s. Abb. 6.16). Sie können ihr elektrisches Membranpotential verändern und so den Durchtritt geladener Teilchen fördern oder hemmen. Durch Kontraktion oder Expansion ihrer Füßchen können sie die Zugspannung auf den Feinstfilter, der zwischen ihnen ausgespannt ist, verändern und damit den Ultrafiltrationskoeffizienten beeinflussen. Sind die Podocyten defekt, erscheint
Protein im Harn. Proteinurie ist ein lebensgefährliches Symptom. Damit nicht genug. Jeder Filter verstopft mal. Es wird angenommen, es seien die Podocyten oder die zwischen den Kapillaren angesiedelten Mesangiumzellen, die den Filter reinigen, indem sie Proteine und andere Ablagerungen per Endocytose aufnehmen und intrazellulär verdauen. 6.3.6 Wie Substanzen weiter behandelt werden und der Clearancewert des Urologen bestimmt wird Mit den Substanzen, die den Ultrafilter passiert haben und sich im Primärharn befinden, kann dreierlei geschehen: ●
Die Substanz wird nicht nur per Blutdruck aus dem Blut herausfiltriert, sondern auch noch über ATP-getriebene Translokatoren ins Lumen der Kanäle sezerniert. Das Blut wird entsprechend rasch von solchen Substanzen geklärt ( cleared): Ihr Clearancewert ist sehr hoch (Abb. 6.9). Beispiele sind das natürlich vorkommende Stoffwechselendprodukt Hippursäure und das bei Nierenfunktionsprüfungen zuvor ins Blut injizierte Derivat dieser Substanz, die para-Aminohippursäure (PAH). Der PAH Clearancewert ist von Bedeutung, weil er ein Maß für den effektiven renalen Plasmafluss RPF (auch ERPF) ist. Darunter ist die Menge Blutplasma zu verstehen, die pro min durch die Gesamtheit der Glomeruli fließt. Sie liegt bei 600 ml/min. RPF = Harnvol/min ×
[PAH]Urin [PAH]Blutplasma
= ca. 600 ml/min ●
Die Substanz passiert zwar den Ultrafilter, wird aber anschließend wieder vollständig ins Blut zurückgeholt. Beispiele sind Glucose und Aminosäuren. Glucose sollte auch dann nicht im Harn erscheinen, wenn man 1 l Traubensaft getrunken hat. Der Clearancewert sollte, wenn das Blut nicht mit Glucose überlastet ist, bei funktionstüchtiger Niere null sein, d. h. dem Blut wird im Endeffekt keine Glucose entzogen.
●
Die Substanz passiert den Filter ungehindert, wird weder zusätzlich sezerniert noch nachträglich wieder zurücktransportiert. Beispiele sind das natürlich vorkommende Kreatinin und das
135
136
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere Abb. 6.9. Clearance. Möglichkeiten, wie Substanzen in der Niere behandelt werden, und Clearance-Begriff
Clearance des Blutes in ml/min H2O
Diodrast = Perabrodil
740
para-Aminohippursäure (PAH)
650
Harn
Filtration und Sekretion
200
H2O
PAH Clearance entspricht dem renalen Plasmafluss RPF (RPF = Blutmenge/min durch die Glomeruli)
Kreatinin
150 H2O
Inulin (= Polyfructosan) Mr = 5000
125 100
Reine Filtration, z.B. Inulin
H2O
Inulin Clearance entspricht der glomulären Filtrationsrate GFR
Harnstoff
50 HO 2
Glucose
0 HO 2
Filtration und Rücktransport Clearance = (rechnerische) Menge Blutplasma, die pro Minute von der betreffenden Substanz S befreit wird:
Cl =
S
Harn
S
Blut
x Harnmenge/Zeit
manchmal bei Nierenuntersuchungen in die Blutbahn gespritzte, chemisch inerte, von den Wurzeln des Topinamburs gewonnenes Fructosepolymer Inulin. Etwa 125 ml Blutplasma werden pro Minute von solchen Substanzen befreit. Dieser Clearancewert von 125 ml/min entspricht der glomulären Filtrationsrate GFR und gibt kund, dass die Ultrafilter nicht verstopft sind. GRF = Harnvol/min ×
[Inulin] Urin [Inulin] Blutplasma
= ca. 125 ml/min
Eine Filtrationsrate von 125 ml filtriertem Blut pro Minute bedeutet, dass pro Tag 180 l Blutwasser die Nierenfilter passieren. Dies sind pro Tag etwa das Dreifache des gesamten Körperwassers. Alles Was-
in ml x min
-1
ser ginge in 8 Stunden als Harn verloren und wir wären eine ausgetrocknete Mumie, würde die Niere dem nicht entgegenarbeiten. Würde das Kochsalz NaCl, das in diesen 180 l Blut enthalten war und die Ultrafilter passiert hat, aufsummiert, ergäbe sich ein Verlust von 15 kg Salz pro Tag. Tatsächlich verlieren wir pro Tag statt 180 l Wasser mit 15 kg Kochsalz nur 1,5 l Wasser mit 10 g NaCl. Eine wesentliche Funktion der dem Ultrafilter nachgeschalteten Nierenkanälchen ist neben der Rückresorption brauchbarer Moleküle die Rückführung von Natrium- und Chlorid-Ionen und von Wasser. Die Rückführung von Wasser und Ionen ist gekoppelt. Wie man ohne spezielle Wasserpumpen mithilfe von Ionen Wasser über Membranen und Epithelien treiben kann, ist in Box 6.1 erläutert (s. Abb. 6.10).
6.3 Die Niere des Menschen
Tubulus
Blut H2O
H 2O Na+ Glucose
H2O H2O Na+ Aminosäure
a Tight junction (Schlussleiste)
H2O-Kanal
Glucose
H2O-Kanal
GlucoseCarrier Glucose + Na-Glucose Symporter
+
+
Abb. 6.10a, b. Rückführung von Ionen, Substanzen und Wasser aus dem Nephrontubulus ins Blut im Bereich des proximalen und distalen Convoluts. Es spielen dabei Na+-Glucose- und Na+-Aminosäure-Symporter und Wasserkanäle eine besondere Rolle (a). Transportsysteme im Detail (b). Die mit Rädchen versehenen Transporter nutzen den Konzentrationsgradienten für Na+ als treibende Kraft, um Substanzen anderer Art (Glucose, Aminosäuren) oder H+ über die Membran zu bringen, oder sie nutzen ATP (Na+/K+-ATPase) als Energiequelle. Die anderen Transporter (Carrier, Kanäle) werden ebenso wie der parazelluläre Weg von Substanzen kraft ihres eigenen Diffusionspotentials passiert
Na
Na
Na+-K+-ATPase
K+ HCO- + Na+ 3
Na+ Na+ H+ Antiporter + H Na+ + HCO 3 + H H2 CO 3
H2O-Kanal
H2O
Na+
H+ Tubuluslumen CO2
H2O-Kanal
Tubuluszelle Tubuluszelle
Parazellulärer Transport von Na+und H 2 O
Na+-Gradient
Glucose-Konzentration osmotischer Sog auf freies Wasser
H+
b
Blut Primärharn
137
138
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
BOX 6.1
Physikalisches und Medizintechnisches zum Thema Niere
Hydrathülle Freies Wasser
Was bedeuten „Lösung“ und „osmotischer“ Wert? Lösung. In Wasser löslich sind Substanzen mit polaren Eigenschaften. Polar bedeutet: ihre elektrischen Ladungen sind nicht gleichförmig im Gesamtmolekül verteilt; vielmehr findet sich im Molekül (mindestens) ein Bereich mit negativem Ladungsschwerpunkt – in der Regel der Sitz eines elektronenanziehenden Sauerstoffatoms – und (mindestens) ein Bereich mit positivem Ladungsschwerpunkt – oftmals Sitz eines Stickstoffatoms oder auch bloß von Wasserstoffatomen, die unter dem Einfluss einer elektronenhungrigen Molekülkomponente stehen und sich daher in ihrem Charakter einem Proton H+ nähern. Polar sind beispielsweise Glucose, Aminosäuren, Harnstoff und Elektrolyte wie Na+ und Cl–. Polar sind auch die Wassermoleküle selbst; sie haben den Charakter eines Dipols. Dank der elektrostatischen Anziehungskraft gegensinniger Ladungen umgeben sich polare Substanzen im Wasser mit Hüllen von Wasserdipolen, wobei sich die Wasserdipole einem positiven Ladungsschwerpunkt mit ihrem negativen Sauerstoffatom anlagern, einem negativen Schwerpunkt mit ihrem positiven Pol zugesellen. Na+ und Cl– sind beide vollständig von Wasserdipolen umhüllt (Abb. 6.11). Eben darin besteht Lösung: Eine gelöste Substanz wird von Hydrathüllen in Schwebe und in Distanz zu anderen Molekülen gehalten. Osmotischer Wert. In den Hydrathüllen haben die Wassermoleküle ihre freie Beweglichkeit eingebüßt. Gelöste Substanzen binden Wassermoleküle. Der Osmotische Wert ist das Maß für die gesamte Wasserbindekapazität der gelösten Komponenten. Das Maß für die Konzentration an verbleibendem freiem Wasser ist das Wasserpotential; es wird mit negativem Vorzeichen versehen. Ein hoher osmotischer Wert ist gleichbedeutend mit stark negativem Wasserpotential. Die Bindekapazität der gelösten Teilchen ist maßgeblich eine Funktion ihrer Zahl, nicht so sehr ihrer chemischen Eigenschaften (wiewohl es, anders als in vielen Lehrbüchern gesagt, schon einen Unterschied macht, ob beispielsweise ein kleines Na+-Ion oder ein großes Proteoglykan mit seinen vielen –OH–
Ionenkanal
Wasserkanal
Elektroneutral
Na+
Cl
Elektrogen
Elektrische Spannung
Abb. 6.11. Wassertransport durch eine animale Zellmembran. Ionen oder andere polare Substanzen werden, ihrer Hydrathülle ganz oder teilweise entkleidet, über Translokatoren auf die andere Membranseite befördert. Dort fangen sie freie Wassermoleküle zur Regeneration ihrer Hydrathülle ein; folglich sinkt hier die Konzentration freien Wassers. Wassermoleküle strömen, dem Konzentrationsgradienten an freiem Wasser folgend, durch Wasserkanäle den aktiv translozierten Substanzen nach. Der Ionentransport kann elektroneutral oder elektrogen sein. Beim elektrogenen Transport werden Kationen und Anionen getrennt und es entsteht über die Membran hinweg eine elektrische Spannung
Gruppen Wassermoleküle bindet; verschiedene Proteoglykane des Bindegewebes sind dank ihrer hohen Wasserbindekapazität sogar ausgesprochene „Quellkörper“ und Wasserspeicher).
7
139
6.3 Die Niere des Menschen
BOX 6.1 (Fortsetzung)
Der osmotische Wert einer Lösung wird in osmol bzw. mosmol per Liter angegeben. 1 mol/ l NaCl ergibt in Lösung 2 mol/l Teilchen; der nominelle „ideale“ osmotische Wert einer 1 molaren Kochsalzlösung ist entsprechend 2 osmol/l = 2000 mosmol/l. Die reelle, messbare Osmolarität so hochkonzentrierter Lösungen ist allerdings geringer als die theoretisch errechnete „ideale“ Osmolarität. Mit zunehmender Konzentration werden die räumlichen Abstände zwischen den Ionen geringer; Kationen und Anionen nähern sich mehr und mehr und bilden ein dreidimensionales Gitter, dessen enger werdende Maschen zunehmend weniger Wassermolekülen Platz lassen, bis schließlich der NaCl-Kristall alles Wasser ausschwitzt. Der Einfluss der Ionenabstände auf den realen osmotischen Wert wird durch den osmotischen Coeffizienten berücksichtigt. Er beträgt für 750 mosmol/l NaCl (ca. Ostseewasser) 0,91. Wie wird der osmotische Wert gemessen? Laborosmometer ●
messen heutzutage in der Regel die Gefrierpunktserniedrigung einer Lösung, seltener ihren Dampfdruck,
●
maßen früher den „osmotischen Druck“ in einem Zweikammersystem (Abb. 6.12a); auch Pfefferzelle genannt (nach dem Botaniker Pfeffer). Eben deshalb wird vielfach immer noch vom „osmotischen Druck“ einer Lösung gesprochen, auch wenn in der Kochsalzlösung unseres Kochtopfs kein Druck zu spüren ist, der über den üblichen hydrostatischen Wasserdruck hinausginge. Unser Finger, den wir zur Prüfung eines gelungenen Würzens erst in die Suppe und dann in den Mund stecken, wird in der Suppe nicht zerquetscht, obwohl der „osmotische Druck“ unserer versalzenen Suppe einige bar bzw. atm betragen dürfte. Warum und unter welchen Bedingungen kann sich aber doch Druck entfalten?
Warum Wasser in Zellen eindringen und ohne ATP-Verbrauch Druck entfalten kann. Osmose und osmotischer Druck Eine Kammer sei mit einer Lösung von 58 g/l (= 1 mol/l) Kochsalz gefüllt und mit einer semiper-
meablen Membran gegen ihre rechte Nachbarkammer, die destilliertes Wasser enthält, abgegrenzt (Abb. 6.12a). Semipermeabel bedeutet: Die Membran ist mit Poren durchsetzt, die einzelnen, freien Wassermolekülen den Durchtritt gestatten, nicht aber den gelösten Ionen Na+ und Cl– mit ihren Hydrathüllen. Diese Hüllen erhöhen den effektiven Durchmesser (Stokes-Einstein-Radius) der Ionen so weit, dass sie nicht mehr durch die Poren schlüpfen können. Zwischen beiden Kammern bestehen zwei Konzentrationsdifferenzen mit umgekehrtem Vorzeichen: In der linken Kammer ist die Konzentration an gelösten Teilchen hoch, aber wegen der Anziehungskraft dieser Teilchen auf Wassermoleküle ist hier die Konzentration an freien, nicht in Hydrathüllen gebundenen Wassermolekülen vermindert. Bezüglich der freien Wassermoleküle ist also die Konzentration rechts höher als links. Konzentrationsdifferenzen enthalten ein Energiepotential und erzeugen einen Diffusionsdruck, der aus der Brownschen Molekularbewegung resultiert (und daher auch temperaturabhängig ist). Die sich drängelnden, in ihrer ungeordneten Bewegung sich wechselseitig stoßenden Moleküle werden in Räume mit geringerer Populationsdichte (Konzentration) abgedrängt, bis überall gleiche durchschnittliche Populationsdichte herrscht. Osmose ist der diffusionsbedingte Fluss freier Wassermoleküle durch eine semipermeable Membran gemäß dem Konzentrationsgefälle von freiem Wasser (= Gradient des Wasserpotentials zu negativeren Werten). (Weiteres zu Diffusion allgemein und dem physiologisch bedeutsamen 1. Fick’schen Diffusionsgesetz s. Box 8.1 u. Abb. 8.1). In unserem Zweikammersystem drängeln freie Wassermoleküle von der rechten Kammer hinüber in die linke – theoretisch bis links und rechts die Konzentration an freien Wassermolekülen gleich ist. Dieser Zustand wird freilich nicht erreicht; denn die zuströmenden Wassermoleküle erhöhen den hydraulischen Druck in der linken Kammer, und dieser Druck drängt die Wassermoleküle wieder zurück. Erreicht der hydraulische Druck den Betrag des Diffusionsdruckes, so heben sich beide entgegengesetzten Kräfte auf und der Nettowasserstrom kommt zum Stillstand. Der nun gleich bleibende, daher hydrostatische Druck hat den
7
140
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
BOX 6.1 (Fortsetzung) Osmose = Bewegung von freiem Wasser, entlang seines Konzentrationsgradienten Viel H2O gebunden, wenig frei
H2O frei
mmHg
Umkehrosmose
Zufluss Pumpe H2O dest.
a
Lösung Semipermeable Membran
Lösung
H2O
b
Dialyse = Permeation von niedermolekularen Substanzen
H2O
H2O Dialysat
c
Dialyseflüssigkeit mit Glucose und Elektrolyten zur Korrektur des Patientenblutes
Lösung Heparin u.a.
Dialysator
d Abb. 6.12a–d. Osmose (a), Umkehrosmose (b) und Dialyse (c, d)
7
141
6.3 Die Niere des Menschen
BOX 6.1 (Fortsetzung)
gleichen Betrag wie der noch vorhandene Diffusionsdruck des freien Wassers, aber das entgegengesetzte Vorzeichen. Im Pfeffer-Osmometer wird mit einem Steigrohr der leicht messbare hydrostatische Druckanstieg gemessen und sein Endwert, nach voriger Eichung des Gerätes, als Maß des osmotischen Wertes genommen. Auch in lebenden Systemen kann ein hoher osmotischer Wert eines Kompartiments, beispielsweise des Cytosols in der Zelle, den Einstrom von Wasser bedingen, das seinerseits den hydrostatischen Binnendruck (Turgor) in dem Kompartiment erhöht. Dieser könnte gewaltig steigen. Der (virtuelle oder faktische) osmotische Druck p einer Lösung ist eine Funktion der Teilchenkonzentration und der Temperatur (= Bewegungsenergie der Teilchen) p = ( n/V) RT (van t’ Hoff-Gesetz) p = Druck; Einheiten: 1 bar = 100 kPa = 0,94 atm = 14 psi = 0,752 mmHg n/V = Zahl der Teilchen pro Volumen = Konzentration R = Gaskonstante T = Temperatur in Kelvin Für 1 osmol/l ergibt sich ein rechnerischer osmotischer Druck von 22,4 atm. Da eine lebende Zelle einen osmotischen Wert von ca. 0,5 bis 1 osmol/l hat, könnte sich in ihr, wenn sie von destilliertem Wasser umgeben und nicht physikalisch gegen Wassereinstrom gesichert ist, ein Druck (Turgor) von 11,2–22,4 atm entwickeln (Autoreifen werden mit 2–3 bar = 1,9–2,82 atm aufgepumpt)!!! Dies unterstreicht, dass im Körper nicht nur das Zellinnere, sondern auch die Interstitialflüssigkeit und mit ihr die Lymphe und das Blutplasma einen ausbalancierten osmotischen Wert haben müssen. Dafür zu sorgen ist Aufgabe der Niere. Der „onkotische“ Druck in der medizinischphysiologischen Literatur ist mit „osmotischem Wert“ gleichzusetzen, der in diesem Fall vor allem von gelösten Proteinmolekülen ausgeht. Die Bezeichnung „Druck“ stammt aus Zeiten, als man den osmotischen Wert einer Lösung als Druckanstieg in einer Pfefferzelle maß.
Stehen zwei Kompartimente mit unterschiedlichen Lösungen in direktem Kontakt, wird der relative osmotische Wert (+ der hydrostatische Druck) der Lösung A gegenüber der Lösung B, und damit die Richtung eines potentiellen Wasserflusses, mit bekannten griechischen Begriffen angedeutet: ●
Lösung A hyperton ( hypertonic) gegenüber B: A hat einen höheren osmotischen Wert (+ hydrostatischer Druck).
●
Lösung A isoton ( isotonic) gegenüber B: A und B haben gleiche osmotische Werte (+ hydrostatische Drücke).
●
Lösung A hypoton ( hypotonic) gegenüber B: A hat einen geringeren osmotischen Wert (+ hydrostatischen Druck).
Der hydrostatische Druck ist hier in Klammern gesetzt, weil im Allgemeinen im Körper hydrostatische Druckunterschiede gering sind (Ausnahme: Blutkreislauf). Umkehrosmose, Meerwasserentsalzung und Entsalzung des Primärharns Man kann den osmotischen Druck einer Lösung auch definieren nach dem Mindestgegendruck, der aufgewendet werden müsste, um Osmose zu unterbinden. Wird auf einen geschlossenen Raum mit einer Salzlösung ein höherer hydraulischer Druck als dieser Mindestdruck ausgeübt, wird Wasser durch die Membran abgepresst, bis der zunehmende osmotische Wert der Kammerlösung diesem von außen zugeführten Druck wieder die Waage hält und einen weiteren Wasseraustritt nicht mehr zulässt (Abb. 6.12b). Moderne Seewasserentsalzungsanlagen machen sich diesen Effekt zunutze. Meerwasser wird mit hohem Druck durch Kapillaren gepresst, deren ultrafeine Poren nur den Wassermolekülen, nicht aber den Salzionen mit ihren Hydrathüllen die Passage ermöglichen. Umkehrosmose ist auch in der Niere beteiligt, wenn es gilt, Wasser aus den Nierenkanälchen in das Blut zurückzuführen. Allerdings ist der Beitrag der Umkehrosmose zur Wasserrückgewinnung aus dem Harn gering. Im Meer oder von Meeresorganismen lebende Tiere müssen Seewasser entsalzen. Dazu Umkehr-
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142
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
BOX 6.1 (Fortsetzung)
osmose einzusetzen wäre biotechnisch kaum möglich; denn Seewasser hat einen osmotischen Wert von 900–1400 mosmol/l. Welche muskelgetriebene Pumpe sollte hydraulische Drücke von mehr als 22,4 atm erzeugen? (Hätten unsere Muskeln soviel Power, könnten wir den Autoreifen spielend von Hand aufpumpen). In den Entsalzungsorganen mariner Fische, Säugern und Seevögeln sind die Membranen auch nicht mit Wasserporen ausgestattet, durch die reines Wasser abgepresst würde. Es werden vielmehr ATP-verbrauchende Ionenpumpen eingesetzt und Elektrolyte aus dem Blut hinaus ins Meer gepumpt, während das entsalzte Wasser im Körper verbleibt. Beispiele für solche biologischen Meerwasserentsalzungsanlagen sind die aglomulären Nieren mariner Fische, die Kiemen der Fische (besonders leistungsfähig die der Aale und Lachse), und die Salzdrüsen von Seevögeln (s. Kap. 26 u. Abb. 26.7). Wie man ohne spezielle Wasserpumpen Wasser in beträchtlicher Menge durch Membranen und Epithelien transportiert Tierische Zellen haben, soweit man heute weiß, keine speziellen Wasserpumpen erfunden, wohl aber Wasserkanäle. (Für ihre Entdeckung erhielt der Amerikaner Peter Agre 2003 den Nobelpreis für Chemie). Wo holt man die nötigen Energiepotentiale her, um Wasser durch solche Kanäle zu treiben oder zu locken? ●
Die eine Möglichkeit ist die soeben genannte Umkehrosmose, wobei eine Pumpe – hier unser Herz – die nötigen Druckdifferenz zwischen zwei Kompartimenten – hier zwischen den arteriellen Kapillaren der Niere und dem Harnleiter – erzeugt. Dieses System hat allerdings nur eine geringe Effizienz.
●
Das leistungsfähigere System schafft erst einmal Differenzen in den osmotischen Werten diesseits und jenseits der Membran oder des Epithels, durch die das Wasser geleitet werden soll. Zuerst werden mit vorhandenen Ionenpumpen Elektrolyte wie Na+ und Cl– (und andere wasserlösliche Substanzen) über die Membran befördert. Beim Durchtritt durch die porenförmigen
Pumpen werden sie ihrer Hydrathülle entledigt. Auf der anderen Membranseite angekommen, werden die Ionen sich rasch wieder mit einer Hydrathülle bedecken. Sie ziehen freie Wassermoleküle an sich. Damit sinkt die Konzentration an freiem Wasser auf dieser Membranseite ab, während die Zahl freier Wassermoleküle auf der anderen Membranseite wegen des Verlustes an wasserbindenden Ionen zugenommen hat. Wassermoleküle dringen gemäß dem Konzentrationsgefälle an freien Wassermolekülen durch die parallel geschalteten Wasserkanäle und folgen damit den zuvor hinüber transportierten Ionen osmotisch nach (Abb. 6.11). Komplikationen können sich durch die gegensinnige elektrische Ladung von Kationen und Anionen ergeben. Können gleichzeitig Kationen (z. B. Na+) und Anionen (z. B. Cl–) durch Poren mit gleich geringem Widerstand die Membranseite wechseln, bleiben beide Seiten summarisch betrachtet elektroneutral und es sind keine Probleme zu erwarten. (Bezüglich ihrer Wasserbindekapazität sind beide gleichwertig). Anders hingegen, wenn diesseits der Membran beispielsweise phosphorylierte Proteine die anionischen Partner der beweglichen Kationen waren. Da die Proteine zurückbleiben müssen, kommt es beim Hinüberwechseln von Kationen zur Ladungstrennung – diesseits zu Beständen an Proteinpolyanionen mit partnerlosen negativen Ladungen, jenseits zur Ansammlung partnerloser positiver Ladungen. Es baut sich eine elektrische Spannung (elektrochemische Potentialdifferenz) zwischen beiden Membranseiten auf. Diese wirkt auf die Kationen als Rückholkraft und setzt ihrem Ausstrom schnell Grenzen. Es kommt zum Gibbs-DonnanGleichgewicht, bei dem die so aufgebaute elektrische Spannung dem Diffusionsdruck der beweglichen Ionen entgegenwirkt und ihn kompensiert. Wir vernachlässigen im Kapitel Niere solche elektrochemischen Potentialdifferenzen weitgehend, werden ihnen jedoch umso mehr im Kap. 14, das eine Einführung in die Elektrophysiologie der Sinnes-, Nerven- und Muskelzellen geben wird, unsere Aufmerksam schenken müssen.
7
143
6.3 Die Niere des Menschen
BOX 6.1 (Fortsetzung)
Solvent drag, Dialyse und künstliche Nieren Sind die Poren einer Membran groß genug, sodass nicht nur freie Wassermoleküle, sondern auch Elektrolyte und niedermolekulare Substanzen mitsamt ihren Hydrathüllen durchschlüpfen können, nicht aber Makromoleküle wie Proteine, kann es zum Phänomen des solvent drag kommen, und man kann Dialyse betreiben. Solvent drag: Ein Wasserstrom, der wegen einer hydrostatischen Druckdifferenz eine poröse Membran oder ein poröses Epithel durchdringt, kann in der Sprache der medizinischen Physiologie niedermolekulare Teilchen „mitschleppen“ ( drag).Treibende Kraft ist allerdings nicht so sehr der hydrodynamische Wasserstrom, als vielmehr der individuelle Diffusionsdruck (Partialdruckdifferenz) des jeweiligen Teilchens (und gegebenenfalls eine bioelektrische Spannung, welche elektrisch geladene Teilchen elektrophoretisch durch die Poren treibt). Solvent drag hat Bedeutung bei der Rückführung von Elektrolyten und Wasser in proximalen und distalen Convolut der Nierentubuli. Die „tight“ junctions zwischen den einzelnen Epithelzellen der Nierentubuli sind in diesen Abschnitten eben nicht dicht, sondern leck. Bei der Dialyse im Labor wird üblicherweise eine Proteinlösung von begleitenden Puffersalzen (und gegebenenfalls weiteren unerwünschten niedermolekularen Substanzen) befreit. Die zu reinigende Proteinlösung wird beispielsweise in einen feinporösen Kunststoffschlauch gefüllt, der von einer Dialyseflüssigkeit, im einfachsten Fall von destilliertem Wasser, umspült ist. Ionen und niedermolekulare Komponenten bewegen sich gemäß ihrem Diffusionsdruck aus dem Schlauch in das Dialysewasser und werden mit ihm entsorgt. Künstliche Nieren. Die Dialyseapparate der künstlichen Nieren machen sich mehrere der bisher genannten Mechanismen zunutze, um versagende Nieren von Patienten zu ersetzen. In der Hämodialyse („Blutwäsche“) werden 500–600 ml Blut pro min von der Unterarmvene abgezweigt, zur Reinigung außerhalb des Körpers über semipermeable Filter geleitet, und gereinigt über die Unterarmvene wieder in den Körper zurückgeführt (Abb. 6.12c). Aus dem Blut zu entfernende Teilchen wie Harn-
stoff und andere unerwünschte niedermolekulare Teilchen gelangen per Diffusion durch Hohlfaserkapillaren mit porösen Wänden in eine Dialyseflüssigkeit, die dem Blutstrom entgegenströmt und diese Teilchen abführt. Die unselektiven Poren in der Wand der Hohlfasern lassen allerdings nicht nur Harnstoff passieren. Auch Na+, Glucose und sonstige lebenswichtigen niedermolekulare Substanzen gingen verloren, würde nicht Vorsorge getroffen. Diese besteht darin, dass solche benötigten Substanzen der Dialyseflüssigkeit in solchen Konzentrationen zugesetzt werden, dass für sie kein Diffusionsdruck vom Blutplasma Richtung Dialyseflüssigkeit mehr besteht. Wasser wird im Bedarfsfall vom Blut osmotisch abgesaugt, indem der osmotische Wert der Dialyseflüssigkeit durch Zusatz von osmotisch wirksamen, nicht permeierenden Substanzen über den osmotischen Wert des Blutplasmas angehoben wird. (Außerdem hilft Umkehrosmose. Eine Differenz im hydrostatischen Druck über die Wände der Hohlfaserkapillaren wird dadurch erzeugt, dass die Dialyseflüssigkeit mit Unterdruck durch die Apparatur gesaugt wird.) Neben der traditionellen Hämodialyse gibt es als Alternative auch die Peritoneal- oder Bauchfelldialyse. Über einen permanenten Katheter wird mehrmals am Tag Dialyseflüssigkeit in die Bauchhöhle gefüllt. Sie verbleibt dort mehrere Stunden und wird dann abgelassen. Membranfilter ist hier das Bauchfell, das dank seiner Bestückung mit spezifischen Poren und Carriern Harnstoff, nicht aber Glucose passieren lässt. Die Entwässerung wird durch den Glucosegehalt der Dialyseflüssigkeit gesteuert. Ein hoher Glucosegehalt saugt osmotisch Wasser in den Bauchraum. Es wird von dort mit dem Katheter abgelassen. Gegenstromaustausch und Gegenstromkonzentrierung Eben war beiläufig erwähnt worden, in der künstlichen Niere ströme Dialyseflüssigkeit dem zu reinigenden Blut entgegen. Der Ausdruck „Gegenstrom“ erscheint in allen Ausführungen zur Nierenphysiologie wiederholt und in unterschiedlichen Zusammenhängen. Will man die Prinzipien der Nierenfunktion 7
144
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
BOX 6.1 (Fortsetzung)
begreifen, sollten verschiedene Gegenstromeffekte verstanden sein. Wir beginnen mit Gegenstromaustausch-Systemen. Die Funktion eines solchen Systems ist vom Wortsinn ableitbar. In zwei parallelen Röhren strömt die Flüssigkeit einander entgegengerichtet. Man kennt dies von Wärmetauschern (Abb. 6.13a, b). Sie sind leistungsfähiger als gleichlaufende Systeme, weil an jedem Berührungspunkt der beiden Röhren ein Temperaturgefälle erhalten bleibt (Abb. 6.13b). Eine Voraussetzung ist allerdings, dass die Transportflüssigkeit stetig fließt und daher an keinem Berührungspunkt ein vollständiges Temperaturgleichgewicht erreicht wird. In einem U-förmigen Schenkel kann sich ein transitorischer Temperaturgradient aufbauen (Abb. 6.13c). Analog zu einer Wärmeübertragung kann auch eine Wasserübertragung von einer Rohrleitung in eine benachbarte, oder von einem Schenkel eines U-Rohrs in den anderen, vonstatten gehen und transitorische Konzentrationsgradienten aufbauen. Wir betrachten das poröse U-Rohr in Abb. 6.13d. Es wird von einer Lösung durchströmt und damit diese strömt, muss der hydraulische Druck entlang der ganzen Röhre abfallen, was er wegen des überall herrschenden Strömungswiderstandes auch tut. Weil zwischen absteigendem und aufsteigendem Schenkel des U-Rohrs an jedem Punkt eine Druckdifferenz herrscht (genauer: eine Differenz in jener Druckkomponente, die auf die Röhrenwand wirkt) und die Röhrenwand porös ist, werden viele Wassermoleküle Abkürzungswege nehmen können und vorzeitig die Seite wechseln. Hingegen müssen die gelösten Teilchen zurückbleiben; ihre Konzentration nimmt, weil sich einiges Lösungswasser vorzeitig verabschiedet hat, zur Schenkelspitze zu. Zugleich nimmt im U-Rohr die Strömungsgeschwindigkeit ab, weil die pro Zeiteinheit noch zu transportierende Menge an Transportflüssigkeit (Fluss dV/dt) und damit auch die Druckdifferenzen (dp/dx) zunehmend geringer werden. Nach der Passage der Schenkelspitze nimmt durch den Zustrom des Kurzschlusswassers die Konzentration wieder ab und die Strömungsgeschwindigkeit zur Bewältigung der wieder größer werdenden Flüssigkeitsmenge wieder zu. Die Konzentrierung
bei abnehmender Fließgeschwindigkeit vor der Schenkelspitze und die Dekonzentrierung bei zunehmender Fließgeschwindigkeit danach erinnert an analoge Effekte im Verkehrsstau. Der beschriebene hydraulisch-bedingte Kurzschluss-Wasserübertritt hat (geringe) Bedeutung im unteren USchenkel der Henleschen Schleife, eine größere für den Wasseraustausch zwischen absteigenden Schenkel des Nephrons und den begleitenden Gegenstrom-Blutkapillaren (s. Abb. 6.13f u. 6.14). Gegenstrommultiplikation. Um Unterschiede in den osmotischen Werten zwischen zwei Röhren, oder allgemein zwischen zwei Räumen, erst einmal herzustellen, können Pumpen eingesetzt werden, die nicht Lösungswasser, sondern die gelösten Teilchen ohne ihre Wasserhüllen über die Wand transportieren. In strömenden Systemen können immer neue Teilchen an die Mündungen der Pumpen herangeführt werden. Ist in einem U-Rohrsystem nur ein Schenkel, z. B. der rechte, aufsteigende Schenkel mit einer Serie von Pumpen bestückt (Abb. 6.13e), werden die Pumpen in diesem Schenkel durch Hinausbefördern der Teilchen nach und nach den osmotischen Wert der Lösung in diesem Rohrabschnitt senken, im Umfeld des Rohres jedoch erhöhen. Die Leistungen der einzelnen Pumpen entlang des Rohres addieren sich. Wiederholte Addition ist Multiplikation. Der zunehmend geringer werdende osmotische Wert im betrachteten aufsteigenden rechten Schenkel könnte Folgen haben, die vermieden werden sollten. Freies Wasser strömte, dem Gradienten des Wasserpotentials folgend, aus diesem Rohrabschnitt zurück in den linken Gegenschenkel mit seinem hohen osmotischen Sog, und auch über die Rohrwand hinweg nach draußen, triebe nicht der hydraulische Druck die Lösung unablässig in andere Richtung und wäre nicht die Wand des mit Pumpen bestückten Rohrabschnittes wasserdicht gemacht. Wenn dank der Aktivität der Pumpen sich im Zwischenraum zwischen ab- und aufsteigenden Schenkel hohe Teilchenkonzentrationen akkumuliert haben und die Porosität des absteigenden Schenkels es zulässt, können die herausgepumpten Teilchen per Diffusion wieder in das Rohrsystem zurückkehren. Es käme zu einem
7
6.3 Die Niere des Menschen
BOX 6.1 (Fortsetzung)
Kreislauf wie in Abb. 6.13e dargestellt. In der Schenkelspitze herrschte der höchste osmotische Wert, jedenfalls solange die Lösung strömt. Der Konzentrierungseffekt wäre multiplikativ: Je mehr Pumpen am Werk wären, desto höher der osmotische Wert in der Schenkelspitze. Die in Abb. 6.13d und 6.13e beschriebenen transitorischen Gegenstrom-Konzentrierungseffekte treten in der Niere auf, doch sind es nicht so sehr die beiden ab- und aufsteigenden Schenkel eines Nephrontubulus, zwischen denen der Austausch stattfindet, vielmehr steht ein Schenkel des U-förmigen Tubulus im Austausch mit einem gegenläufigen Schenkel einer benachbarten, ebenfalls U-förmig verlaufenden Blutkapillare (Abb. 6.13f u. 6.14). Das ermöglicht den Abtransport des Wassers 6.3.7 Ein erster Überblick: eine Achterbahn des osmotischen Wertes wird in einem hochkonzentrierten Harn enden Der Primärharn wird in einer Schlingerbahn von der Nierenrinde hinab Richtung Nierenbecken, zurück Richtung Nierenrinde und wieder hinab Richtung Nierenbecken geführt und erfährt dabei ein Auf und Ab und Auf seines osmotischen Wertes (d. h. in der Konzentration im Harn gelöster Substanzen), dessen Sinn sich erst zum Schluss erschließt, wenn der Harn definitiv gegenüber dem Blut hyperton geworden ist. Das Auf und Ab und Auf ist an strategisch günstigen Stellen verbunden mit einer Rückführung von Wasser und Ionen aus dem Harn in den Blutkreislauf. Dabei kommen Gegenstromsysteme zur Geltung.
6.3.8 Viele Substanzen und Ionen werden von Pumpen ins Blut zurückgeholt; Wasser folgt osmotisch nach. Ein Gegenstromsystem erleichtert die Rückführung Ein großer Teil der brauchbaren Materialien und des Wassers wird in den gewundenen proximalen und distalen Tubulusabschnitten (Convolute) ins Blut zurückgeführt. Die Leistung ist beachtlich: ca. 700 g Kochsalz und 100 l Wasser pro Tag, das sind
und der Teilchen aus dem Nierengewebe und ihre Rückführung in den Blutkreislauf wie im Haupttext des Kap. 6 erläutert. Osmotische Gradienten als Hilfsmittel. Mittels Serien von Pumpen können hohe und bleibende osmotische Werte erzeugt werden, die ihrerseits zum Entzug von Wasser in einem benachbarten Raum führen können. Ein semipermeables Rohr durch ein Bett von hohem osmotischen Wert geführt, verliert Wasser. Die genannten Prinzipien kommen zur Geltung, wenn wir die Tubulusröhren über die Henleschen Schleifen bis zum Ende der Sammelrohre verfolgen und untersuchen.
über 50% des Wassers und des NaCl allein in diesem Abschnitt des Nephrons. Im Primärharn befinden sich an Brauchbarem neben Glucose und Aminosäuren auch NatriumIonen Na+. Diese Natrium-Ionen treiben Symporter an, die parallel zu den Natrium-Ionen auch Glucose und Aminosäuren erst einmal in die Epithelzellen der Tubuliwände hineinpumpen (Abb. 6.10a, b). Treibender Motor ist der Natriumgradient; dieser wird unterstützt durch eine elektrische Spannung; denn das Cytosol der Epithelzellen hat ein Potential von −70 mV gegenüber dem Lumen des Nephronkanals. Um einen ausreichend hohen, ins Zellinnere gerichteten Na+-Gradienten und eine elektrische Spannung zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, besitzen die Epithelzellen in der basolateralen Membran viele Exemplare der elektrogenen Ionenpumpe Na+-K+-ATPase. Diese Pumpen schleusen zwar pro verbrauchtem ATP zwei K+ in die Zelle, werfen aber im Austausch 3 Na+ hinaus in die interstitiellen Räume; diese werden daher elektropositiv. Auch kehren K+-Ionen getrieben von ihrem Diffusionsdruck in das Interstitium zurück und verstärken dessen elektropositive Aufladung. Chlorid-Ionen folgen wegen ihrer negativen Ladung durch parallele Kanäle nach (Elektrophorese). Die Natrium-Ionen und die sie treu begleitenden Chlorid-Ionen gelangen, von ihrem Diffusionsdruck getrieben, in die Blutkapillaren, welche die Nephronkanäle in Gegenrichtung begleiten. Die Blutgefäße stellen dank ihrer hohen Porosität keine Wider-
145
146
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
standsbarriere dar und führen das NaCl schließlich ab. Glucose und Aminosäuren werden über eigene Translokatoren (Carrier) aus den Epithelzellen heraus ins Blut weitergeleitet. Diesen osmotisch wirksamen Teilchen, Natriumund Chlorid-Ionen, Glucose, Aminosäuren und anderen Substanzen mehr, folgen Wassermoleküle über Wasserkanäle osmotisch nach. Das Blut, das in den begleitenden Blutkapillaren fließt, hat in der Rinden-nahen Region einen nur geringen osmotischen Wert; es herrschen annähernd isotone Bedingungen. Da Primärharn und Blut strömen, und dies auch noch in entgegengesetzter Richtung, bleiben Konzentrationsunterschiede zwischen Primärharn und abtransportierendem Blut trotz der laufenden Aktivität der Transportsysteme gering. Es muss nie entgegen einem Gefälle hinaufgepumpt werden. Neben dem Weg durch die Zellen der Nierenkanälchen hindurch gibt es im proximalen Tubulus noch einen „parazellulären“ Sonderweg. Die Schlussleisten ( tight junctions) zwischen den Epithelzellen sind in diesem Abschnitt der Tubuli nicht eben dicht und lassen Wasser sowie im Wasser gelöste Elektrolyte zwischen den Zellen durch. Man spricht von solvent drag (Box 6.1; Abb 6.10b). Über diese Passage sollen vor allem die Anionen Chlorid und Phosphat und die Kationen K+, Mg2+ sowie Ca2+ vom Nephron zurück ins Blut geführt werden. Vieles erinnert an das, was wir in Abschn. 4.10 über Resorption im Darm erfuhren.
6.3.9 Im weiteren Verlauf des Tubulus mit seiner Henleschen Schleife werden noch mehr Ionen und Wasser zurückgewonnen Bei der Rückführung von Wasser und Substanzen aus dem Primärharn in den Blutkreislauf kommen Gegenstromsysteme zur Geltung. Der Nierenphysiologe unterscheidet (mindestens) zwei Gegenstromsysteme. Das eine kommt im absteigenden, das andere im aufsteigenden Schenkel der Henlesche Schleife zum Zuge. Gegenstromaustauch. Wasser tritt aus dem absteigenden Schenkel des Nephronkanals aus, und wechselt auf kurzem Weg in den aufsteigenden Ast der begleitenden Blutkapillare über. Zwei Kräfte bewirken diesen Wasserfluss vom Nephronkanal in die benachbarte Blutkapillare:
●
Umkehrosmose durch hydraulischen Druck. Auf dem Primärharn lastet noch der arterielle hydraulische Blutdruck, der im Glomerulus die Ultrafiltration besorgt hatte. In der Wasseraufnehmenden Blutkapillare hingegen ist der hydraulische Druck gering. Es ist dieselbe Blutkapillare, die im Glomerulus über den Ultrafilter Wasser und Druck verloren hatte. Auf ihrem langen Umweg (s. Abb. 6.15) ist in ihr wegen des allgegenwärtigen Strömungswiderstandes der Druck weiter abgefallen. Nun gewinnt diese Kapillare einen großen Teil des verlorenen Wassers wieder zurück. Der durch eine Druckdifferenz getriebene Wasserübertritt hat (partiell) den Charakter einer Umkehrosmose (s. Abb. 6.12b, 6.13f u. 6.14a).
●
Wasserentzug durch osmotischen Sog. Das Blut der Kapillare hat, bevor es das herüberströmende Wasser aufnimmt, einen hohen osmotischen Wert und saugt anfänglich Wasser auch osmotisch auf. Den hohen osmotischen Wert hatte das Kapillarenblut zuvor gewonnen, als es in der Uförmigen Kapillare das Nierenmark durchfloss. Die Blutkapillaren stehen nämlich in offener Verbindung zum lockeren Gewebe, das im Bereich des Nierenmarks die engen Spalten zwischen den Henlesche Schleifen füllt, summarisch als „Interstitium“ bezeichnet wird und selbst eine sehr hohe Osmolalität hat. Wie es zu diesem hohen osmotischen Wert im Mark kommt, wird weiter unten sowie in Box 6.1 unter dem Begriff „Gegenstrommultiplikation“ erläutert.
Anders betrachtet: Der absteigende dünnwandige Schenkel der Henleschen Schleife wird durch ein Bett mit zunehmend höherem osmotischen Wert geführt. Da dieses Segment der Schleife semipermeabel ist, wird ihm osmotisch Wasser entzogen, während die gelösten Teile im Tubulus verbleiben und zusammengedrängt werden. Das Bett des Nierenmarks ist nicht nur von den U-förmigen Henlesche Schleifen, sondern auch von U-förmig verlaufenden Blutkapillaren, zu denen auch die soeben betrachtete Kapillare gehört, durchzogen. In diese dringt das Wasser mitsamt den gelösten Komponenten ungehindert ein und wird in den Blutkreislauf zurückgeführt. Schätzungsweise 25% des Wassers und wird über diesen Weg zurückgeführt.
6.3 Die Niere des Menschen
Durch die bisher beschriebenen Mechanismen wird viel Wasser vom Primärharn ins Blut zurück verfrachtet. Bedingt durch diesen Wasserentzug steigt im absteigenden Nephronkanal die Konzentration der „harnpflichtigen“ Substanzen und damit der osmotische Wert des Harns bis zum Wendepunkt des U-Schenkels an. Ist der osmotische Wert im Primärharn anfänglich ca. 300 mosmol/l ist er nun auf ca. 1200 mosmol/l gestiegen (s. osmotischer Wert, Box 6.1). Zu klären ist noch, weshalb das Blut der wasseraufnehmenden Kapillare anfänglich einen höheren osmotischen Wert haben kann als der Primärharn. Das Blut muss auf dem Weg vom Glomerulus, wo es über den Ultrafilter viele osmotisch wirksame Teilchen verloren hatte, bis zum hier betrachteten Abschnitt wieder osmotisch wirksame Teilchen aufgenommen haben. Dafür ist Gegenstrommultiplikation zuständig, die sich am und um den aufsteigenden Schenkel der Henlesche Schleife abspielt. Gegenstrommultiplikation. Anders als im absteigenden Schenkel ist das Nephronepithel im aufsteigenden Schenkel der Henlesche Schleife dick und wasserdicht. Die Epithelzellen enthalten viele Mitochondrien und ihre Zellmembran ist mit vielen Pumpen bestück. Diese befördern unter ATP-Verbrauch mittels eines speziellen Symporters simultan Na+, K+, 2 Cl–, NH4+ und über weitere Transporter weitere osmotisch aktive Teilchen aus dem Tubuluslumen hinaus in die Umgebung. Damit sinkt der osmotische Wert des Harns wieder auf den Ausgangswert von 300 mosmol/l und sogar darunter, aber nicht durch Zustrom von Wasser, sondern durch Entzug von Teilchen (Abb. 6.13e, g, 6.14 u. 6.15). Da der Harn fließt, werden immer neue Teilchen herangeführt; trotzdem fällt im Harn der osmotische Wert ab, wenn er an den Pumpen vorbeifließt, weil diese unaufhörlich arbeiten und dem Harn Teilchen entziehen. Hingegen steigt im umgebenden Raum, in den die Teilchen hineingepumpt werden, die Osmolarität. Jede einzelne Pumpe wird nur eine geringe Differenz im osmotischen Wert zwischen Kanallumen und Umgebung erzeugen. Entlang des aufsteigenden Schenkels addieren sich jedoch die Leistungen der einzelnen Pumpen. Kumulative Addition ist Multiplikation. Der Nephronkanal ist auch hier von der Blutkapillare begleitet, und die Strömungsrichtungen in
beiden Röhren sind einmal mehr entgegengesetzt. In den hier betrachteten Abschnitten hat folglich der multiplikative Effekt der Pumpen im Nephronkanal und in der Blutkapillare gegensätzliche Wirkungen. Während im aufsteigenden Schenkel der Henlesche Schleife der osmotische Wert sinkt, steigt er in der hier abwärts führenden Blutkapillare an (Abb. 6.13g u. 6.14). Wenn sich die Blutkapillare dann nahe der Papillenspitze um 180° wendet und wieder aufwärts führt, hat sie den hohen osmotischen Wert, der, wie oben geschildert, einen osmotischen Sog auf den undichten absteigenden Schenkel der Henlesche Schleife ausübt. Ein gewisses Verständnisproblem könnte der in der physiologischen Lehrtradition gebrauchte Begriff des Interstitiums bereiten. Während Interstitium normalerweise nur Zellzwischenräume meint, ist in der Literatur der Nierenphysiologie das ganze Gewebe des Nierenmarks gemeint. Die Pumpen entlang des aufsteigenden Nephronkanals transportieren ihre Fracht nicht direkt in die begleitende Blutkapillare, sondern in das dünne Zwischengewebe. Primär sind es schon die Zellzwischenräume, in denen das herausgepumpte Material akkumuliert und der osmotische Wert steigt. Diesem Anstieg muss auch der osmotische Binnenwert der Zellen folgen; denn in einem Milieu von 1200 mosmol/l können sie ihren normalen Wert von 300–500 mosmol/l nicht halten. Wichtig ist jedoch, dass dieses Interstitium in offener Verbindung mit den Blutkapillaren steht. Substanzen dringen in die Kapillaren gemäß ihrem Diffusionsdruck. Die Blutkapillaren sind es, welche die herein diffundierenden Substanzen Richtung Nierenpapillen transportieren und damit einen osmotischen Gradienten im ganzen Nierenmark aufbauen, der an der Papillenspitze seinen höchsten Wert erreicht. Wozu dieser Gradient gut ist, wird deutlich, wenn wir den letzten Abschnitt des Nephronkanals, das Sammelrohr, in die Betrachtung einbeziehen.
6.3.10 Im Sammelrohr wird der Harn erst zum Endharn, dessen Konzentration sich mit dem Wasserbedarf des Körpers ändert Fassen wir zusammen (Abb. 6.15): Während dem absteigenden Schenkel der Henlesche Schleife lau-
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6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
100
o
0
o
o
o
100
o
90
o
0
2 o
o
18 20 o
o
60 50
o
48
o
78 o
o
a
10
50
50
b
Gleichlaufendes Austauschsystem
o
o
50
o
80
o
0
GegenstromAustauschsysteme
c
100o
100o
Transitorische Konzentrierung in Gegenstromsystemen Gegenstrom-Multiplikator (contercurrent multiplier) mit aktivem Transport
Gegenstrom-Konzentrierung durch Druck-bedingten Wasserabfluss
24
12
21
15
18
eit geschwindigk
9
27
d
Substanzen
Wasser
Übertritt zwischen dem absteigenden und aufsteigenden Nephronschenkel
e
30 mmHg
6 mmHg
Übertritt vom Nephronkanal in das entgegen27 strömende Blut
9
12
24
Substanzen, transportiert
Wasser, per ΔP
21
15
f
6 mmHg
Strömun gs
digkeit
30 mmHg
geschwin
Abb. 6.13a–g. GegenstromAustausch und GegenstromMultiplikation. (a, b) und (c) zeigen als einführende Modelle Wärmeaustauschsysteme. Das Gegenstrommodell (b) ist leistungsfähiger als das gleichlaufende Austauschsystem (a). In (d–g) sind Gegenstrommodelle dargestellt, die erklären sollen, wie in der Henleschen Schleife und zwischen Nierentubulus und Blutkapillaren Wasser- und Stofftransport vonstatten geht und im absteigenden Ast der Henleschen Schleife ein vorübergehender Anstieg des osmotischen Wertes zustande kommt. Beachte: Ebenso wie ein Wärmeübergang zwischen zwei Röhren nur solange stattfindet, solange Wasser zu- und abfließt, ist eine zunehmende Konzentrierung im absteigenden Nephrontubulus nur möglich, wenn und solange Primärharn und Blut fließen, also unter einem longitudinalen Strömungsdruck stehen. Bei Stillstand käme es im Tubulus und in der Kapillare zur Nivellierung aller Konzentrationsunterschiede, ebenso wie es im Wärmetauscher zur Nivellierung aller Temperaturdifferenzen käme
Strömungs
148
18
fend Wasser entzogen und deshalb der Harn konzentriert wird, werden dem aufsteigenden Schenkel laufend Teilchen entnommen. Deren Konzentration nimmt folglich mehr und mehr ab, und wenn wir oben beim distalen Convolut ankommen, ist der Harn nahezu wieder mit dem Blut isoton. Diese Situation wird ausgenutzt, um hier wieder wie im proximalen Convolut Substanzen plus Wasser aktiv ins
g
Blut hinüber zu befördern, ohne dass hohe Konzentrationsunterschiede zu überwinden wären. Hier im distalen Convolut werden andererseits besonders viele der Substanzen, deren Clearancewert hoch ist, in den Tubulus sezerniert. Bis zum Ende des distalen Convolutes haben wir fast alle erwünschten Substanzen ins Blut zurückgeholt und auch den größten Teil des Wassers. Die
6.3 Die Niere des Menschen
Gegenstrom mit Umkehrosmose und Gegenstrommultiplikation
Gegenstrom-Wasserrücktransport mit osmotischem Wasserübertritt
Dekonzentrierung durch Wasserzufuhr
a
Tubulus 48 mmHG
Nephrontubulus absteigend
Blutgefäß ca. 35 mmHg
< 35 mmHg
Osmotischer Wasserfluss unterstützt durch Druckfiltration
H 2O
Aktiver Substanztransport mit Gegenstrommultiplikation
Blutkapillare aufsteigend
Konzentrierung durch Wasserentzug
Abb. 6.14a, b. Beteiligung von Osmose (a) hydrostatischem Druck und aktivem Transport (b) an den Austauschvorgängen zwischen Nephrontubulus und begleitender Blutkapillare. Zu b: Der vom Herzen erzeugte Blutdruck hat einen longitudinalen Vektor (Strömungsdruck) und eine transversalen Vektor (Wanddruck). Diese Drücke teilen sich auch dem Primärharn im absteigenden Schenkel der Henle-Schleife mit. Der Wanddruck lässt Wasser austreten, unterstützt von einer (leichten) osmotischen Druckdifferenz zwischen Primärharn im Tubulus und Blut in der abführenden Kapillare. Während der Primärharn im absteigenden Schenkel eine zunehmende Konzentrierung erfährt, erfährt das abführende Blut durch den Wasserübertritt eine Dekonzentrierung. Zuvor war im Kapillarenblut eine hohe Konzentration an gelöster Substanz erzeugt worden, weil Pumpensysteme Substanzen vom wiederaufsteigenden Schenkel der Henle-Schleife herausgepumpt hatten und diese Substanzen über die Zwischenräume (Interstitien) in die Blutkapillaren eindrangen
b
Gesamtkonzentration des Harns, sein osmotischer Wert, ist aber in der Summe nicht gestiegen, weil beides, Wasser und osmotisch aktive Substanzen, dem Primärharn in gleichem Maße entzogen worden sind. Die endgültige Konzentrierung des Harns erfolgt im Sammelrohr. Dieses wird wieder durch das Bett des Interstitiums mit seinem hohen osmotischen Wert geführt; Wasser wird osmotisch herausgesaugt. Die Durchlässigkeit der Wand des Sammelrohrs ist variabel, sowohl für Wasser wie für einzelne gelöste Teilchen, und kann dem Bedarf angepasst werden.
Drei Besonderheiten dieses finalen Nephronabschnittes seien erwähnt: ●
Die Aquaporine des Sammelrohrs sind teilweise auch für Harnstoff passierbar. Harnstoffmoleküle geraten in eine Kreisbahn: vom Sammelrohr durch das „Interstitium“ in den noch nicht abgedichteten papillennahen U-Schenkel der Henlesche Schleife (Abb. 6.15) und über deren aufsteigenden Ast zurück ins Sammelrohr. Dieser Harnstoffkreislauf soll maßgeblich zum osmotischen Gradienten im Nierenmark beitragen.
149
6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
Sammelrohr
Isotone Substanzund Wasserrückführung
Harnstoff Harnsäure
Osmotischer Wasserfluss Wasserpore
Gradient des osmotischen Wertes
150
+
Glutamin
H
Glutaminase +
H
NH3
Glutaminsäure
NH+4
Partieller HarnstoffRückstrom
Abb. 6.15. Basisfunktionen eines Nephrons und der begleitenden Blutgefäße im Überblick ●
●
Entlang des Sammelrohrs wird noch aktiv gearbeitet. So wird von Glutamin, das von Blutkapillaren herangetragen wird und per Diffusion das Sammelrohr erreicht, NH3 abgespalten und im Kanallumen durch eingespeiste Protonen als NH4+ abgefangen (Abb. 6.15). Als solches kann es nicht mehr in den Körper zurück und erscheint neben Harnstoff (und etwas Harnsäure) als NEntsorgungsprodukt im Endharn.
Zellmembran erhöht oder durch Endocytose vorhandener Kanalproteine erniedrigt werden. Dieser Turnover steht unter der Kontrolle eines Hormons, des ADH, wie unten im Abschn. 6.4 erläutert.
Die Wasserdurchlässigkeit des Sammelrohrs kann erstaunlich rasch durch Synthese neuer Kanalproteine im Golgi-Komplex und deren Einbau in die
Am Ende ist der Primärharn von 180 l/Tag reduziert auf ca. 0,5 bis 2 l/Tag. Der osmotische Wert des Endharns ist doppelt bis dreifach höher als der
6.3.11 Die Niere leistet viel, warum können wir trotzdem kein Seewasser trinken?
6.4 Die Regelung der Nierenfunktion
des Blutes und kann mit 1400 mosmol/l die Werte des Mittelmeer-Seewassers erreichen. Von dieser Leistung her betrachtet müsste der Mensch Seewasser trinken können. Allerdings bräuchte die Niere ebensoviel Wassermoleküle wie das getrunkene Seewasser Wassermoleküle enthält, um das aufgenommene Seesalz (450 mmol/l Na+) wieder auszuscheiden. 1 l Seewasser mit 1400 mosmol Salz ergibt, wenn die Osmolalität nicht über 1400 mosmol/ l gesteigert werden kann, eben 1 l Harnwasser. Ein Nettogewinn an Wasser wäre nicht möglich. Nun ist es aber nicht nur Salz, das den osmotischen Wert des Harns bestimmt, sondern auch sein hoher Gehalt an Harnstoff. Etwa die Hälfte seines osmotischen Wertes geht auf Kosten des Harnstoffes und anderer „harnpflichtiger“ Exkretstoffe. Für deren Entsorgung muss weiteres Lösungswasser aufgebracht werden, weil die Gesamtkonzentration an osmotisch wirksamen Teilchen im Harn nicht weiter erhöht werden kann. Um das Salz von 1 l Meerwasser und dazu auch noch Harnstoff loszuwerden, muss man mindestens 1,5 l Harn absondern. Durch Trinken von einem Liter Meerwasser gewinnt man kein Wasser, sondern verliert 0,5 l Flüssigkeit: man trocknet aus.
6.3.12 Bei Tieren bestimmt die Länge der Henleschen Schleife die erzielbare Wasserersparnis Die Leistungsfähigkeit einer Niere kann durch Verlängerung der Henleschen Schleifen erhöht werden. Der Harn wird dann stärker konzentriert, Wasser wird gespart. Wüstennagetiere haben besonders lange Schleifen. Man macht sich den Effekt der Schleifenlänge durch die Vorstellung plausibel, dass entlang der Schleifen umso mehr Ionenpumpen unterzubringen sind, je länger die Schleifen sind. Sehr wahrscheinlich spielen aber auch rein physikalische Gegenstrom-Multiplikationseffekte eine Rolle, wie sie Craig modellmäßig für chemotechnische Systeme berechnet hat.
6.3.13 Die Niere braucht viel Sauerstoff und muss deshalb stets optimal durchblutet sein Sucht man nach der Quelle der Energie, die als Kraft den Rücktransport der Glucose, der Aminosäuren, der Ionen und des Wassers bewerkstelligt, muss man seinen Blick auf die Na+-K+-ATPasen in den gewundenen Abschnitten der Nephronkanäle und die Pumpen im aufsteigenden Ast der Henlesche Schleife werfen. Diese Ionenpumpen verbrauchen enorm viel ATP. Die epithelialen Wandzellen der Nephronkanäle sind mit vielen Mitochondrien bestückt und die Niere ist eines der sauerstoffbedürftigsten Organe. Daher muss sie stets optimal durchblutet sein: sie kann Unterversorgung messen und Regelsysteme zur Sicherung ihrer Durchblutung und im Bedarfsfall sogar zur Erhöhung der Erythrocytenzahl im Blut aktivieren.
6.4 Die Regelung der Nierenfunktion 6.4.1 Die Regelung der Nierenfunktion erfolgt über lokale und übergeordnete Kontroll- und Steuerungssysteme Die Leistungen der Niere müssen vielfältig geregelt werden, je nach dem Filtrationsdruck, den das Herz liefert, dem Volumen an Wasser, das wieder benötigt wird oder überschüssig ist, und je nach der Menge der Substanzen, die ausgeschieden oder zurückgeholt werden müssen. Bei Ionen ist dabei auch ihr relatives Mengenverhältnis zueinander sorgfältig zu regeln, wenn z. B. Nerven- und Muskelzellen ordentliche elektrische Potentiale erzeugen sollen; denn die Niere regelt die ionale Zusammensetzung des Blutes und dieses tauscht sich mit der interstitiellen Flüssigkeit aus, die die Nerven- und Muskelzellen umspült. Ist beispielsweise der K+-Gehalt der Körperflüssigkeit zu hoch oder der Mg2+-Gehalt zu niedrig, kann man Muskelkrämpfe bekommen.
151
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6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
6.4.2 Die Niere passt sich automatisch wechselndem Blutdruck an, um eine konstante Filtrationsrate aufrechterhalten zu können Setzt man zum 100-m-Sprint an, steigt der Blutdruck sehr schnell an. Da die Filtrationsrate der Glomeruli eine Funktion des Blutdruckes ist, wäre beim Zieleinlauf die Blase übervoll, hätte die Niere nicht entgegengesteuert. Die afferenten Blutkapillaren sind an der Eingangsstelle in die Glomeruli von Gefäßmuskelzellen (myoepitheliale Zellen), einem besonderen Typ glatter Muskelzellen, umgeben. Sie wirken als autoregulatorisches Ventil. Steigt der Blutdruck, werden die Blutgefäße und mit ihnen die Mesangialzellen gedehnt. Die Dehnung löst direkt eine Erregung dieser glatten Muskelzellen aus, sie kontrahieren sich, verengen den Kapillarendurchmesser und halten so den Filtrationsdruck im Glomerulus konstant. Weitere regulatorische Zusammenhänge sind intuitiv leicht nachzuvollziehen: ●
●
afferente Gefäße der Glomeruli erweitert, efferente verengt → glomuläre Filtrationsrate GFR erhöht afferente Gefäße der Glomeruli verengt, efferente erweitert → GFR erniedrigt.
Eine neu ins Feld geführte Hypothese meint, die Podocyten der Glomeruli würden aktiv die Maschenweite der Ultrafilter verstellen können und so die Filtrationsrate regulieren. Wie auch immer, die Niere hat beträchtliche Probleme zu bewältigen, um den oftmals widersprüchlichen Anforderungen gerecht zu werden. Bei Blutverlust beispielsweise muss die Filtrationsrate gesenkt werden, nichtsdestotrotz eine starke Durchblutung des Nierengewebes gewährleistet bleiben. Die Niere ist stark durchblutet, und sie muss stets gut durchblutet bleiben; denn ihre Ionenpumpen haben viel zu arbeiten. Die Zellen der Nierentubuli sind voll von Mitochondrien. Sie fordern viel Sauerstoff und Glucose an. Gäbe es für das Blut nur den Weg durch die Glomeruli, wäre beim Verschluss der Eingangsventile die Versorgung der Nierenzellen gefährdet. Bypass-Kapillaren eröffnen im Bedarfsfall eine Umgehung der Glomeruli. Weiteres zur Druck- und Durchblutungsregelung im folgenden Abschnitt.
6.4.3 Ein juxtaglomulärer Apparat kontrolliert die Harnzusammensetzung Bevor die Nephronkanäle ins Sammelrohr geleitet werden, werden sie in einer großen Schleife an den Glomerulus herangeführt. Dort, wo der Nephronkanal engen Kontakt zum Kapillarengeflecht des Glomerulus hat, sind die Epithelzellen der Kanalwand besonders dicht gedrängt und hoch. Dieses Segment des Nephronkanals wird Macula densa genannt (Abb. 6.16). Die Macula hat lateral engen Kontakt zu Gefäßmuskelzellen, die in diesem Bereich granulierte Epitheloidzellen (oder epitheloide Granulazellen) genannt werden. Macula und Granulazellen bilden zusammen den juxtaglomulären Apparat JGA. Es wird angenommen, dass in diesem Bereich der osmotische Wert des Harns und seine ionale Zusammensetzung kontrolliert werden. Jedenfalls entlassen die Granulazellen die Signalsubstanz Renin, wenn beispielsweise zuviel Na+ verloren zu gehen droht. 6.4.4 Das Renin-Angiotensin-System kontrolliert den allgemeinen Blutdruck und die allgemeine Nierenleistung Hier treffen wir auf ein Regelungssystem, das über die Niere hinausgreift. Es sind hormonartige Signalsubstanzen beteiligt, die in der Blutbahn verteilt werden (Abb. 6.16). Die Funktionsweise des Systems sei an einem Einzelbeispiel erläutert. Wir sind verletzt und verlieren viel Blut. Unser Blutdruck sinkt dramatisch ab. Jetzt heißt es einerseits den Blutdruck hochzuregeln, damit die lebensnotwendige Blutversorgung des Gehirns gewährleistet bleibt. Andererseits darf mit dem wieder gestiegenen Blutdruck nicht auch die glomuläre Filtrationsrate steigen, sonst verlören wir noch mehr Körperflüssigkeit. Der dramatische Blutdruckabfall stimuliert die Granulazellen des JGA, Renin ins Blut zu entlassen. Renin ist insofern ein ungewöhnliches Hormon als es eine Protease, also ein Enzym ist. Renin trifft im Blut auf ein ständig zirkulierendes, in der Leber produziertes Protein, das Angiotensinogen. Durch Abspaltung eines Peptids macht Renin aus Angiotensinogen das Angiotensin I. In verschiedenen
6.4 Die Regelung der Nierenfunktion
Osmorezeptoren im Hypothalamus
Neurohypophyse (Hypophysen-Hinterlappen)
Angiotensin II Antidiuretisches Hormon ADH (Vasopressin)
Converting-enzyme Angiotensin I
Juxtaglomulärer Apparat Macula densa
Podocyten
Angiotensinogen (im Blut)
ADH erhöht Zahl und Öffnungsdauer der Wasserkanäle, födert damit Wasserrückgewinnung
Renin
Angiotensin I
Kontraktile Mesangialzellen
Epitheloide Granulazellen
Converting-enzyme Angiotensin II
Nebennierenrinde
Aldosteron stimuliert
Na+- Rückgewinnung, K+- und H+ -Ausscheidung
Abb. 6.16. Steuerung und Regelung von Nierenfunktionen im Überblick
H 2O
H2O
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6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
Körperregionen (z. B. in der Lunge) haftet auf den Zellen des örtlichen Gewebes ein weiteres proteolytischen Enzym, das Converting-enzyme. Es nimmt sich das Angiotensin vor und fertigt daraus das definitive Oktapeptid Angiotensin II. Angiotensin heißt Blutgefäße-anspannend. Der Name deutet seine Funktion an: es veranlasst Blutgefäße, sich zu kontrahieren. Im Körper steigt der allgemeine Blutdruck. In der Niere wird die Blutzufuhr gedrosselt. Die afferenten Kapillaren der Glomeruli verengen sich, nicht aber die efferenten. Die glomuläre Filtrationsrate GFR sinkt. Zugleich wird vermutlich durch die Podocyten die effektive Porenweite des Ultrafiltrationsapparates reduziert. 6.4.5 Weitere Hormone, wie Adiuretisches Hormon ADH, Aldosteron und ein Herzhormon greifen ein Auch die Effektivität der Ionenpumpen entlang der Nierentubuli und die Wasserdurchlässigkeit ihrer Wandungen sind variabel und steuerbar. Wenn wir einen gesalzenen Speiseplan lieben und zuviel Kochsalz in unsere Suppe streuen, steigt der osmotische Wert des Blutes; es nimmt Wasser auf, der Blutdruck steigt. Die Herzvorkammer (Atrium) wird übermäßig gedehnt. Sie sendet Natriuretische Peptidhormone, (wie es auch noch andere Organe tun), und stimuliert dadurch die Ausscheidung von Kochsalz in der Niere. Besser bekannt, und in seiner Funktion lebenswichtig, ist das Hormon der Neurohypophyse Adiuretin (Anti-diuretisches Hormon ADH, auch Vasopressin genannt). Es sorgt dafür, dass nicht soviel Wasser verloren geht (A = nicht, gegen; Diurese = Harndurchlauf). Unterstützt wird ADH durch ein Steroidhormon, das von der Nebennierenrinde geliefert wird: Aldosteron (Abb. 6.16). Aldosteron soll besonders die Transportsysteme in den Convoluten beeinflussen. ADH regelt die Wasserdurchlässigkeit der Sammelrohre. Stimuliert durch ADH bauen die Epithelzellen der Sammelrohre mehr Aquaporine in ihre Zellmembran ein und werden dadurch stärker wasserdurchlässig. Das Wasser im Lumen der Kanäle wird weitgehend widerstandsfrei und deshalb rasch osmotisch ins Interstitium und weiter in die Blutgefäße abgesaugt. Geht hingegen die ADH-Si-
gnalstärke zurück, verkürzt sich die Öffnungszeit der Aquaporine und es werden gar Aquaporine per Endocytose aus der Kanalwand entfernt: Die Wände der Sammelkanäle werden weitgehend dicht und mehr Harnwasser rinnt ins Nierenbecken. Bei ADH-Mangel gar läuft das Wasser durch die dichten Kanäle vollständig ab. Es kommt zur Diurese- zum Harndurchlauf. Man verliert viel Wasser, bis zu 24 l/Tag (Diabetes insipidus). Man muss Tag und Nacht trinken – aber es sollte Wasser sein! In der medizinischen Literatur werden noch eine Reihe weitere hormonartiger Signalmoleküle aufgelistet, die Einfluss auf Funktionsbereiche der Niere nehmen, beispielsweise Prostaglandine, Vitamin 1,25D und alle Hormone, die über die Regelung des Mineralhaushaltes den Auf- und Abbau der Knochensubstanz steuern (s. Kap. 11). Insoweit ist die Niere auch mitverantwortlich für den Erhalt oder den Verlust (Osteoporose) von Knochenmaterial.
6.4.6 Warum Alkohol durstig macht: Hemmung der ADH-Sekretion Mancher Leser mag es selbst schon erfahren haben: Nach reichlich Alkoholkonsum bekommt man Durst, Durst nach Wasser. Dabei hatte doch der Liter Landwein 900 ml Wasser, und die 100 ml Ethanol des Getränks liefern bei ihrer vollständigen Verbrennung in der Leber auch noch einige ml H2O dazu. Die einzige Erklärung, die den Autoren dieses Buches begegnete, ist die: Alkohol hemme die Sekretion des Hormons ADH aus der Neurohypophyse; die Wasserrückresorption in der Niere sei verringert, man verliere – ähnlich wie beim Diabetes insipidus – zuviel Wasser. Die Osmolarität des Blutes erhöht sich und dies stimuliert die Durstgefühl erzeugenden Zentren im Hypothalamus des Gehirns. Eigene Nachprüfung nicht empfohlen! 6.4.7 Mit dem Hormon Epo sorgt die Niere bei Bedarf für eine Verbesserung ihrer Sauerstoffversorgung Die Niere ist ein ganz besonders sauerstoffbedürftiges Organ. Bei lang anhaltender Blutarmut
Zusammenfassung des Kapitels 6
oder in der Höhenluft des Gebirges kann sie unter Sauerstoffmangel leiden. Dann sendet sie den hormonalen Wachstumsfaktor Erythropoietin (Epo) aus, der im Knochenmark Erythroblasten zur verstärkten Teilung anregt. Die Zahl der roten Blutkörperchen (Erythrocyten) pro ml Blut und damit die Sauerstoffbindekapazität steigt. Epo ist als vielZusammenfassung des Kapitels 6 Mit Exkretion wird nach alter Tradition primär die Entsorgung von Stoffwechselendprodukten, insbesondere von stickstoffhaltigen Produkten, verstanden. Solche fallen überall im Körper an und können über verschiedene Organe wie Epithel der Körperoberfläche, Kiemen, Darm oder Nephridialorgane ausgeschieden werden. Nach dem wichtigsten Endprodukt, das den Körper verlässt, unterscheidet man ●
Ammoniotelische Exkretion mit Ammoniak (NH3/NH4+) als Endprodukt, der von massearmen Wassertieren unmittelbar ins Umgebungswasser ausgeschieden wird;
●
Ureotelische Tiere mit Harnstoff als Endprodukt, der mit Harnwasser (Urin) ausgeschieden wird;
●
Uricotelische Tiere: Reptilien, Vögel und Insekten mit +/− trockener, kristalliner Harnsäure (Urat) als Ausscheidungsprodukt.
Weitere häufige Stickstoffträger, die teils ausgeschieden, teils gespeichert werden, sind Allantoinsäure, Kreatinin (auch in Säugern), Pteridin, Guanin (in Arthropoden) und Trimethylaminoxid (in vielen Meeresorganismen). Im Säuger sind Alanin und Glutamin transitorische Stickstoffträger zur Leber hin, die Harnsäure (wenig) und Harnstoff als Endprodukte herstellt. Deren finale Entsorgung wird der Niere überantwortet; denn Harnstoff kann nur mit Lösungswasser ausgeschieden werden. Hauptfunktion der Niere ist es, den Wasserhaushalt des Körpers und die ionalen Zusammensetzung der Körperflüssigkeit zu regeln. Die Funktionseinheit der Niere ist das Nephron; hiervor enthält die Niere des Menschen 1–2
benutztes Dopingmittel von Leistungssportlern in die Diskussion und in Verruf geraten. Aus den zur Teilung angeregten Erythroblasten werden Erythrocyten, rote Blutkörperchen. Damit steigt die Sauerstoffspeicherkapazität des Blutes. Die Funktion der Erythrocyten bei der O2-Versorgung des Körpers ist Thema des nächsten Kapitels. Mio. Der Anfangsteil eines Nephrons, der Glomerulus liegt in der Nierenrinde. Er ist von Blut durchströmt. Mit seinem dreilagigen Filter aus perforiertem Endothel, Basalmembran und Podocytenbelag wirkt der Glomerulus als Ultrafilter, durch den mit dem hydraulischen Druck des arteriellen Blutes Blutplasma mitsamt all seinen Salzionen und niedermolekularen Substanzen als Primärharn in den Auffangbecher der Bowmansche Kapsel abgepresst wird. Pro Tag werden in der Summe 180 l Plasma mit 15 kg Salz abfiltriert. Aus dem Nephronkanal (Nephrontubulus), der an den Auffangbecher angeschlossen ist, werden jedoch gebrauchte Substanzen wie Glucose, Aminosäuren, NaCl und fast alles Wasser wieder zurück ins Blut befördert. Die Rückführung läuft über jene Blutkapillare, die im Ultrafilter den Primärharn verloren hatte, danach aber den Nephronkanal begleitet, um von ihm Brauchbares zurück zu erhalten und in den Blutkreislauf ab zuführen. „Harnpflichtige“ Substanzen wie Harnstoff verbleiben im Nephronkanal und gelangen in konzentrierter Lösung als Endharn ins Sammelgefäß des Nierenbeckens. Aus 180 l Primärharn werden 1,5 l Endharn pro Tag. Die Menge an Blut, die letztlich pro Zeit von einer bestimmten Substanz befreit wird, ist der in der medizinischen Diagnostik bedeutsame Clearancewert für diese Substanz. Der Nephronkanal gliedert sich in einen gewundenen proximalen Teil, einer langen haarnadelförmigen Henlesche Schleife, einen distalen gewundenen Teil und ein Sammelrohr, das ins Nierenbecken mündet. In den gewundenen Abschnitten transportieren zahlreiche, von einem Na+-Gradienten getriebene Symporterpumpen gemeinsam Na+ und Glucose, sowie Na+ und Aminosäuren, in die Epithelzellen des Nephronkanals. Von diesen werden Na+-Ionen mittels der Na+-K+-ATPase, Glucose und Aminosäuren mittels Carrier weiter
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6 Entsorgung und Wasserhaushalt: die Niere
hinüber in die Blutkapillaren geleitet, welche die hereintransportierten Substanzen ab- und in den Blutkreislauf zurückführt. Die Richtung des Blutflusses in den Kapillaren ist der Stromrichtung des Harns entgegengesetzt (Gegenstromprinzip). Den osmotisch aktiven gelösten Teilchen folgen über Aquaporine freie Wassermoleküle nach, getrieben vom hydraulischen Druck des Primärharns und ihrem eigenen Diffusionsdruck (Wasserpotential). In den Henleschen Schleifen kommt es zu weiteren Rückführungen. Der semipermeable absteigende Schenkel der Henleschen Schleife wird durch ein Bett (Nierenmark, „Interstitium“) mit hohem osmotischem Wert geführt, wo ihm weiteres Wasser osmotisch entzogen wird. Im folgenden aufsteigenden, wasserdichten Schenkel werden andererseits dem Primärharn mittels ATP-getriebener Pumpen gelöste Teilchen entnommen. Diese werden ins umgebende „Interstitium“ gepumpt. Dank der Aktivität vieler Pumpen und des Gegenstroms in den Blutkapillaren (Gegenstrommultiplikation) baut sich im Nierenmark ein osmotischer Gradient auf mit Höhepunkt nahe den Papillen, wo die Sammelrohre ins Nierenbecken münden. Der hohe osmotische Wert (= das stark negative Wasserpotential) dieses Gradienten entzieht nicht nur den absteigenden Henleschen Schleifen, sondern auch den Sammelrohren Wasser und es wird letztendlich eine Endharnkonzentration von 1200 mosmol/l erreicht, was dem Wert von Mittelmeerwasser entspricht.
Es wird diskutiert, warum wir trotz dieser Konzentrierleistung bei Verdurstungsgefahr kein Meerwasser trinken dürfen. Ferner werden Regelungssysteme besprochen, welche auch bei wechselndem Blutdruck eine gleich bleibende Glomuläre Filtrationsrate GFR ermöglichen. Im juxtaglomulären Apparat werden Blutdruck und die ionale Zusammensetzung von Harn und Blut kontrolliert, und bei Sollwertabweichungen Gegenmaßnahmen eingeleitet. Bei plötzlich erhöhtem Blutdruck sichert die autoregulatorische Verengung eines Ventils für die arterielle Blutzufuhr eine gleichbleibende GFR. Bei starkem Blutverlust löst ein stark abgefallener Blutdruck über das Renin-Angiotensin-System ein Hochregulieren des allgemeinen Blutdrucks doch eine Drosselung der GFR aus. In die Kontrolle der ionalen Zusammensetzung greift das Nebennierenrindenhormon Aldosteron ein. Der Wasserrücktransport wird dem Bedarf angepasst über das Hypophysenhormon ADH (Anti-diuretisches Hormon = Vasopressin), das die Zahl der Aquaporine in den Sammelkanälen und damit den Wasserrückfluss steuert. In der Box 6.1 werden für das Verständnis der Nierenphysiologie wichtige physikalische Vorgänge näher erläutert: Osmose, Umkehrosmose, Dialyse, Gegenstromaustausch und Gegenstrommultiplikation. Deren Bedeutung ist jedoch nicht auf die Niere beschränkt.
7
Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Beseitigung von unbrauchbaren Körperzellen, höhermolekularen Fremdstoffen und von Infektionskeimen
7.1 Entsorgung gealteter Zellen 7.1.1 Die Lebensdauer vieler Körperzellen ist viel kürzer als die Lebensdauer des gesamten Organismus; der Umsatz an manchen kurzlebigen Zellen ist riesig Lebensspanne der Blutzellen als Beispiele: ●
Neutrophile Granulocyten 7–14 Stunden,
●
Makrophagen 5–7 Tage,
●
Erythrocyten, die roten Blutkörperchen, besitzen keinen Kern mehr. Ihre Lebensdauer ist auf ca. 120 Tage beschränkt. Nachschub liefern die Stammzellen des Knochenmarks. Man macht sich wohl kaum eine rechte Vorstellung über die Umsatzrate. Pro Sekunde werden 6 Mio. neue Erythrocyten geboren, pro Sekunde müssen 6 Mio. gealterte entsorgt werden. 7.1.2 Die lymphatischen Organe, allen voran die Milz, fangen verbrauchte Blutzellen ab; Makrophagen in der Milz fressen sie auf
Gealterte Erythrocyten und andere Blutzellen werden in der Milz durch ein netzförmiges Sieb abgefangen (Fachausdruck: sequestriert). Makrophagen, die sich wie die überwältigende Mehrheit aller „weißen Blutkörperchen“ gar nicht im Blut aufhalten, sondern in den lymphatischen Organen (Milz, Lymphknoten, Mandeln, Thymus), warten schon auf ihre Opfer. Sie fallen über die überalterten und abgestorbenen Zellen her und fressen sie schlichtweg auf. Damit sind diese entsorgt. Makrophagen sind gefräßig. Sie sind nicht nur Kannibalen, die körpereigene Zellen entsorgen. Sie fressen auch Bakterien und andere Fremdpartikel,
derer sie habhaft werden können. Damit sind sie Teil des Abwehrsystems (s. Abschn. 7.3).
7.2 Angeborene Abwehrsysteme auf der Basis eines in der Evolution erworbenen Wissens Alle Organismen, insbesondere so wehrlos erscheinende wie festsitzende Pflanzen, Schwämme, Cnidarier, Tunikaten etc., haben Milliarden von Jahren nur überdauern können, weil sie erfolgreich pathogene Infektionskeime (Viren, Bakterien, Pilze) und Parasiten (Einzeller, vielzellige tierische Parasiten) abzuwehren verstanden. Es gibt eine große Vielfalt von Abwehrmechanismen. 7.2.1 Die Immunologie unterscheidet: 1. angeborene, nicht-adaptive Immunsysteme, die jedes Lebewesen in dieser oder jener Form besitzt, und 2. das adaptive, lernfähige Immunsystem, das nur die Wirbeltieren zur Verfügung haben Eine unspezifische Abwehr basiert auf physikalischen Barrieren, die das Eindringen von Infektionserregern verhindern oder doch erschweren (Zellwände, Cuticula, hochviskoser Schleim). Darüber hinaus haben wohl alle Organismen ein Wissen erworben, wie man gegen Pathogene und Parasiten, mit denen man seit Jahrtausenden und Jahrmillionen zu tun hat, vorgehen kann, um sie abzutöten oder doch wirksam in Schranken zu halten. Solche Abwehrmechanismen werden oftmals – nicht eben angemessen – ebenfalls als „unspezifisch“ klassifiziert, obwohl sie gezielt gegen fremde Eindringlinge gerichtet sind, Körpereigenes hingegen verschonen. Da solche Abwehrsysteme auf Wis-
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7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte
sen basieren, das im Zuge der Evolution erworben wurde und im Genpool verankert ist, werden solche Systeme – besser – auch als angeboren bezeichnet. Gezielte Abwehrmechanismen setzen voraus, dass Eindringlinge als fremd erkannt werden. 7.2.2 Fremdes wird an charakteristischen molekularen Oberflächenstrukturen als fremd erkannt Vom Menschen wissen wir, dass seine Körperzellen auf ihrer Oberfläche besondere Kennzeichen tragen, die für den Träger dieser Kennzeichen charakteristisch sind (Histokompatibilitäts-Antigene). In der Regel haben allenfalls unsere nächsten Verwandten gleiche Kennzeichen. Wir werden darauf im Abschn. 7.3 zurückkommen. Aber auch Wirbellose können mit besonderen individualspezifischen Oberflächenmolekülen ausgestattet sein, die eine Unterscheidung von Selbst und Nichtselbst erlauben (s. Abschn. 7.10). Es ist jedoch keinesfalls immer notwendig, dass die körpereigenen Zellen besondere Histokompatibilitäts-Moleküle tragen, damit Nicht-Körpereigenes als fremd erkannt werden kann. Viren, Bakterien und Pilze, die in den Körper eindringen, können nicht selten durch die Besonderheit ihrer molekularen Oberflächenausstattung erkannt werden. Viele mikrobielle Eindringlinge besitzen in ihrer äußeren Hülle Moleküle, die in tierischen Zellen nicht vorkommen. ●
Viren haben in ihrer „gestohlenen“ Eukaryontenmembran virale Spikeproteine inseriert, mit denen sie an neue Wirtszellen andocken können.
●
Gramnegative Bakterien, so auch viele Darmbewohnende Bakterien wie Escherichia coli, haben in ihrer äußeren Membran bestimmte charakteristische Lipopolysaccharide (LPS) und exklusive Phospholipide wie Cardiolipin. Grampositive Bakterien haben in ihrer Hülle als Komponenten Lipoteichinsäure und das Peptidoglykan Murein. Pneumokokken, potentielle Verursacher einer Lungenentzündung, haben eine Polysaccharidkapsel artspezifischer Zusammensetzung.
●
Pilze haben in ihrer Zellwand außer Chitin auch pilzspezifische β-1,3-Glucane.
Summarisch werden charakteristische, sich auf der Oberfläche oftmals wiederholende Merkmale der Krankheitserreger (Pathogene) als PAMPs ( pathogen-associated molecular patterns) bezeichnet, besonders in der neueren medizinischen Literatur zum angeborenen Immunsystem der Säugetiere. Diese Muster von Merkmalen werden im Organismus, der sich zur Wehr setzen muss, von Abwehrzellen (Phagocyten) „ertastet“. Sie sind dazu mit Oberflächenrezeptoren ausgestattet, die auf die PAMPs passen und als pattern recognition receptors PRRs bezeichnet werden. Alsdann werden die Pathogene phagocytiert und intrazellulär in Phago-/ Endosomen verdaut. Doch nicht nur Säugetiere, alle Tiere, auch Wirbellose, konnten im Verlauf der Evolution durchaus „Wissen“ über solche Kennzeichen erwerben. 7.2.3 Nahezu universell vorkommende Erkennungs- und Abwehrsubstanzen sind antimikrobielle Lektine, Peptide und Enzyme; universell vorkommende Abwehrzellen sind Phagocyten Um mikrobielle Infektionskeime identifizieren zu können, benutzen vielzellige Lebewesen, Pflanzen wie Tiere, Wirbellose wie Wirbeltiere, auch Lektine (Lectine), das sind Proteine, die bestimmte Kohlenhydratstrukturen mit hoher, spezifischer Affinität binden und so „erkennen“. Mittels Lektinbindung kann die Anwesenheit von β-1,3-Glucan und damit von parasitischen Pilzen wahrgenommen werden. Mittels Lektinbindung kann die Anwesenheit von LPS, und damit von gramnegativen Bakterien erkannt werden. Ein anderes Lektin (C-reaktives Protein) haftet an Pneumokokken. Ist ein Bakterium mit Lektin beschichtet (Fachausdruck: opsonisiert), werden unverzüglich verschiedene Abwehrmaßnahmen getroffen. Im ganzen Tierreich weitverbreitete Abwehrreaktionen sind ●
Phagocytose der Eindringlinge durch Makrophagen-ähnliche Phagocyten (übersetzt: Fresszellen). Phagocyten haben eine Kollektion von Rezeptoren, die schon erwähnten „pattern recognition receptors PRRs“, mit denen sie die Anwesenheit fremder Eindringlinge selbst wahrnehmen können, oder nach deren Beschichtung mit Lektinen
7.2 Angeborene Abwehrsysteme auf der Basis eines in der Evolution erworbenen Wissens
(oder, in Wirbeltieren, mit Antikörpern). In der gegenwärtigen Literatur zur Immunologie von Wirbellosen und Wirbeltieren ist auch viel von toll-like receptors TLRs die Rede. Die TLRs sind Komponenten der PRRs und als solche Antennen auf der Oberfläche von Phagocyten. Mittels ihrer TLR können diese Phagocyten bestimmte Gruppen von Bakterien aufgrund ihrer Lipopolysaccharid-(LPS-)Hülle aufspüren, um sie zu vernichten.
herstellen (Abb. 7.1). Durch Verstricken und Verweben in das Netzwerk des Melanins werden die Krankheitserreger verklumpt und eingekapselt und so unschädlich gemacht. ●
Aktivierung eines Komplementsystems. Manche Wirbellose haben Abwehrsysteme entwickelt, die erstmals als Teile des angeborenen Immunsystem der Wirbeltiere bekannt geworden waren. Beispielsweise wurde bei vielen Wirbellosen ein Komplementsystem zur Vernichtung von fremden Eindringlingen entdeckt. Ein Komplementsystem besteht aus einer Kaskade von enzymatischen Reaktionen ähnlich dem Blutgerinnungssystem, an deren Ende jedoch nicht Dichtungsmaterial zum Verschluss von Wunden, sondern tödliche Waffen hergestellt werden. Ausgelöst durch das Ankoppeln von Lektin an die Oberfläche eines Eindringlings beginnt eine Gruppe zuvor schlummender Proenzyme sich wechselseitig zu aktivieren. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei dem Protein C3/C5-Konvertase zu, das in homologer Form bei Wirbellosen und Wirbeltieren gefunden wird. Am Ende der Kaskade entstehen Porine, das sind Proteine, die in die Zellmembran des Eindringlings eintauchen und dort Poren bilden. Der Eindringling wird tödlich durchlöchert. Bei Wirbeltieren kann eine solche Reaktion auch durch Antikörper ausgelöst werden (sog. klassische Aktivierung; s. Abb. 7.11).
●
Weit verbreitet, von den Schwämmen bis zum Menschen, ist die Produktion toxischer, antimikrobieller Peptide. Manche dieser Peptide tauchen ähnlich den Porinen des Komplementsystems in die Zellmembran fremder Zellen ein und bilden dort tödliche Poren oder verursachen die Desintegration der Membran. Beide Mechanismen führen zur Lyse der Zellen. Besonders bei Insekten sind schon eine Reihe von bakteriziden (Bakterien-tötenden) bzw. bakteriostatischen (das Bakterienwachstum hemmende) Peptide gefunden worden. Sie werden teils konstitutiv, teils nur nach einer Infektion in größerer Quantität hergestellt und heißen beispielsweise Cecropine, Attacine, Diptericine, Defensine. Mittels molekularbiologischer Methoden hat man mittlerweile so manche homologen Peptide auch in anderen Organismen entdeckt, einschließlich dem Menschen (z. B. Defensine).
Die TLRs stehen an der Schnittstelle zwischen Immunologie und der molekularen Embryologie. Der toll-Rezeptor ist aus der molekularen Entwicklungsbiologie von Drosophila bekannt. Die Eizellmembran des frühen Embryos (Stadium der superfiziellen Furchung) ist mit toll-Rezeptoren bestückt. Sie warten darauf, dass eine Protease aus der Eihülle (Chorion) einen Faktor namens Spätzle freisetzt und ihnen als Liganden zur Verfügung stellt. Dies geschieht auf der künftigen Ventralseite des Embryo. Ist Spätzle an toll-Rezeptoren gebunden, weiß der Embryo, wo er die Ventralseite entwickeln soll (Näheres z. B. in Müller u. Hassel (2006) Entwicklungsbiologie). Später fand man ähnliche Rezeptoren als Komponenten der pattern recognition receptors PRRs als Spürantennen in der Zellmembran vieler Phagocyten, einschließlich der Makrophagen des Menschen.
●
●
Freisetzen von aggressiven Enzymen. Eine nahezu universell vorkommende Enzymfamilie, mit denen man die Zellwand vor allem grampositiver Bakterien auflösen kann, sind die Lysozyme. Solche Enzyme sind in unserem Körper in der Tränenflüssigkeit, im Speichelsaft und anderen Sekreten nachzuweisen. Sie kommen auch im Eiklar des Hühnereis vor. Aktivierung einer Prophenoloxidase (PO). Dieses Abwehrsystem ist zwar im Säugerorganismus nicht am Werke, sonst aber im Tierreich ebenfalls weit verbreitet. Es ist vor allem als wichtiges Abwehrsystem der Insekten bekannt geworden. Bakterielle Lipopolysaccharide und pilzliche β1,3-Glucane sind Stimulantien für die Aktivierung einer Prophenoloxidase. Dieses in vielen Zellen und der Hämolymphe der Insekten vorkommende Enzym katalysiert die Synthese eines hochmolekularen, schwarzen Melanins, das die Insekten wie viele andere Wirbellose aus den Aminosäuren Phenylalanin und/oder Tyrosin
159
160
7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Abb. 7.1. Melanin-Synthese und Rolle der Prophenoloxidase. Die Bildung eines Netzwerks von hochmolekularem Melanin zur Einkapselung von Parasiten und Infektionskeimen ist Teil des angeborenen Immunsystems der Insekten und anderer Invertebraten
NH 2
NH 2 CH
CH 2
HO
CH
CH 2
COOH
Tyrosin
COOH
Phenylalanin
Tyrosinoxidase + Prophenoloxidase O
NH 2 CH
CH 2
O
O COOH
Dopa -Chinon
O
N H
O
Prophenoloxidase O
N H
O O O
N H
O
N H
O
Indol-5,6-Chinon
O
N H
O
O
N H
O
1-dimensionaler MelaninPolymerfaden
2-dimensionales Netz
3-dimensionales Geflecht parasitischer Nematode eingekapselt
O
●
●
N H
Auch hat man bei Insekten ein Protein gefunden, Hämolin ( hemolin), das der ImmunglobulinSuperfamilie angehört, aber kein Antikörper ist. Es bindet LPS von gramnegativen Bakterien und Lipoteichinsäure von grampositiven. Die weitere Funktion gilt es noch zu klären. Bei Studien zur Expression des Hämolins stellte es sich heraus, dass das Gen auch in den Follikeln des Ovars und in neuralen Zellen des Embryos exprimiert wird. Pflanzen und wirbellose Tiere haben vielerlei weitere antimikrobielle und antivirale Substanzen mit zum Teil abenteuerlicher chemischer Struktur erfunden. Das Potential solcher Substanzen für den medizinischen Einsatz ist noch kaum genutzt, ja es dürfte überhaupt erst ein winziger Bruchteil solcher Stoffe aufgespürt worden sein.
7.2.4 Eine „unspezifische“ Immunität hat den Vorteil, rasch verfügbar zu sein, aber den Nachteil, nicht schnell auf Neues reagieren zu können Die bisher bei Wirbellosen gefundenen Abwehrsysteme basieren (ausschließlich?) auf genetisch überkommenem, also „angeborenem“ Wissen. Vorteil: Schon vor einem Erstkontakt mit dem Pathogen ist der Organismus für einen Abwehrkampf gerüstet. Man nennt solche Schutzsysteme, nicht eben glücklich, „unspezifisch“, wiewohl beispielsweise Lysozym spezifisch die Zellwand grampositiver Bakterien angreift (aber eben aller grampositiven Bakterien). Nachteil: So vielfältig das Spektrum solcher Substanzen sein mag, es treten doch immer wieder neue Pathogene oder neue Varianten von Pathogenen auf.
7.2 Angeborene Abwehrsysteme auf der Basis eines in der Evolution erworbenen Wissens
Wenn nun ein Organismus mit einem neuartigen Pathogen konfrontiert wird, wird er nur in seltenen Glücksfällen schon eine Abwehrmöglichkeit zur Verfügung haben. Meistens wird es zu einer Kalamität kommen: die Wirtspopulation bricht zusammen. Gelingt es nicht, mit den Mechanismen der Evolution sich neues, passendes Wissen zu erwerben, wird die Art aussterben oder nur in pathogenfreien Exklaven überleben. Demgegenüber hat sich bei Wirbeltieren ein System des Immunitätserwerbs entwickelt, das schon während des Individuallebens lernen kann.
7.2.5 Auch bei Vertebraten gibt es ein angeborenes, sogenanntes „unspezifisches“ Abwehrsystem, das freilich recht spezifisch reagiert Auch bei Vertebraten gibt es ein „unspezifisches“ Abwehrsystem, das auf genetisch überkommenem Wissen basiert, wie man mit altbekannten Pathogenen und Parasiten fertig werden kann. Die Immunologen unterscheiden heutzutage zwischen 1. dem „unspezifischen“, besser angeborenen ( innate), rasch reagierenden Immunsystem und 2. dem „spezifischen“, besser adaptiven oder lernfähigen Immunsystem, das jedoch nur mit einer Verzögerung von 3–4 Tagen reagiert. Im angeborenen System haben Phagocyten eine besondere Bedeutung, die im Blut, in den lymphatischen Organen (Abb. 7.2 u. 7.3), aber auch in vielen anderen Geweben vorkommen. Professionelle Phagocyten sind die ●
Monocyten = Makrophagen und die
●
neutrophilen Granulocyten = Mikrophagen, die zwar nicht größere Partikel verspeisen, wohl jedoch Makromoleküle per Pinocytose aufnehmen können und sich überwiegend in den lymphatischen Organen aufhalten, zu Aggregaten gruppiert;
●
dendritischen Zellen, die man im Thymus und in den peripheren lymphatischen Organen findet wie auch andernorts, beispielsweise als Langerhans,sche Zellen in der Haut (nicht zu verwech-
seln mit den Hormone produzierenden Langerhans’schen Inseln des Pankreas). Noch vor wenigen Jahren waren die dendritischen Zellen wenig bekannt, stehen aber heutzutage im zentralen Blickpunkt, wenn es um das Kennenlernen neuer Antigene und um das Unterscheiden zwischen körpereigenen und körperfremden Substanzen geht. Dendritische Zellen und Makrophagen haben viele Eigenschaften gemeinsam und sind möglicherweise Abkömmlinge einer gemeinsamen Stammzellenart. Makrophagen, die sich andernorts niedergelassen haben, tragen aus Tradition verschiedene Namen: Histiocyten im Bindegewebe, Mikroglia im Gehirn, Kupffer-Zellen in der Leber. Makrophagen bewähren sich in mancherlei Weise bei der Entsorgung des Körpers von Unerwünschtem. Sie beseitigen durch Phagocytose gealterte Erythrocyten und greifen bisweilen auch Tumorezellen an. Bei dieser Attacke sezernieren sie ein cytotoxische Protein, genannt Tumor-Nekrose-Faktor TNF. Dann gehen sie mit Eifer ans Werk, Bakterien zu vernichten. Makrophagen und ebenso die dendritischen Zellen haben in ihrer Zellmembran Proteine, die schon genannten pattern recognition receptors PRRs einschließlich der toll-like receptors TLRs, die bestimmte Gruppen von Bakterien binden und damit „erkennen“ können. Die molekularen Erkennungszeichen der Bakterien sind nicht einheitlich und werden neuerdings in der medizinischen Literatur summarisch als microbe-associated immunostimulants oder pathogen-associated molecular patterns (PAMPs) bezeichnet. Gebundene Bakterien werden aufgefressen oder anderweitig vernichtet. Makrophagen haben ein großes Arsenal chemischer Waffen zur Verfügung, um fremde Zellen intrazellulär oder auch extrazellulär abzutöten, wie Sauerstoffradikale und aggressive Enzyme. Das Erkennen von Mikroben durch Makrophagen wird erleichtert, und ihre Schmackhaftigkeit gesteigert, wenn sie opsonisiert, d. h. mit einer „Butterschicht“ überzogen sind. Als Opsonisierungsmittel dienen u. a. Lektine, das sind Proteine, welche die Kohlenhydrat-Komponente von Glykoproteinen (Mannose/Fucose/N-Acetylglucosamin-Anteile) binden. Es gibt indes bei Makrophagen einen nahtlosen Übergang zum „spezifischen“, lernfähigen Immun-
161
7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Abb. 7.2. Zellen des Blutes und ihre Zuordnung zum angeborenen oder adaptiven (lernfähigen) Immunsystem (aus Müller u. Hassel: Entwicklungsbiologie, 4. Aufl. 2006)
Erythroblast
Erythrocyt Megakaryocyt, Blutplättchen
eosinophiler Granulocyt
angeborenes Immunsystem
basophiler Granulocyt
myeloide
neutrophile Granulocyt
Stammzelle
Monocyt
Makrophage
pluripotente hämatopoietische Stammzelle
dendritische Zellen
natürliche Killerzelle cytotoxische T-Zelle
lymphoide Stammzelle
adaptives, lernfähiges Immunsystem
162
Helfer T-Zelle
Antikörper
B-Lymphocyt
system. Auch Antikörper der IgG-Klasse wirken opsonisierend. Wenn Fremdmaterial mit Antikörpern beschichtet ist, bleibt es an den Phagocyten hängen; denn die Phagocyten, namentlich die Makrophagen, haben Rezeptoren für opsonisierende Moleküle. Sie haben beispielsweise Rezeptoren für die Stiele der Antikörper (konstante Abschnitte, s.
Plasmazelle
Abb. 7.5 u. 7.10), die wie Igelstacheln vom opsonisierten Fremdmaterial abstehen. Somit kommen den Phagocyten die besonderen Leistungen des spezifischen Immunsystems zugute, das ihnen hilft, auch solche Pathogene als fremd zu erkennen, über deren besondere Kennzeichen sie selbst keine eigene Kenntnis haben.
7.3 Das lernfähige Immunsystem der Vertebraten
hat der erwachsene Mensch etwa 2 × 1012 Lymphocyten. Man kennt und unterscheidet: 1. Die zentralen lymphatischen Organe; dies sind Thymus
●
das blutbildende Gewebe des Knochenmarks, die Geburtsstätte aller Blutzellen einschließlich der Makrophagen und Lymphocyten (B-Zellen und T-Zellen);
●
der Thymus, wo sich vor allem T-Zellen (daher heißen sie auch T-Zellen) vorübergehend niederlassen,
●
und die
T-Zellen Lymphknoten Milz Lymphocyten
Lymphfollikel mit B-Zellen T-Zellen Makrophagen
Stammzellen
2. die peripheren lymphatischen Organe; dies sind ●
die Lymphknoten, wo sich vor allem die B-Zellen ansiedeln. Bei Vögeln ist das Äquivalent der Lymphknoten die Bursa fabricii, die im Bereich des Bürzels (Schwanz) liegt, – daher B-Zellen. Besonders große Lymphknoten der Säuger sind die Tonsillen (Mandeln);
●
die Milz, die als riesiger Lymphknoten betrachtet werden kann;
●
die Peyerschen Plaques, Lymphknoten-ähnliche Gebilde in der Darmwand;
●
der Appendix, bekannt als Wurmfortsatz des Blinddarms.
Lymphocyten Granulocyten Makrophagen
Lymphgang
B-Zellen Plasma-Zellen
Abb. 7.3. Organe des Immunsystems. Der sehr vereinfacht dargestellte Lymphknoten steht auch für die Milz Modell
7.3 Das lernfähige Immunsystem der Vertebraten 7.3.1 Das lernfähige Immunsystem basiert auf den Lymphocyten; den B-Zellen wird in vielen Lehrbüchern ein „humorales“, den T-Zellen ein „zelluläres“ Immunsystem zugeordnet Lymphocyten entstehen in der fötalen Leber und später nach der Geburt im Knochenmark aus denselben Stammzellen (hämatopoietische Stammzellen), die auch die anderen Zellen des Blutes (Erythrocyten, Granulocyten, Makrophagen) produzieren. Aus den Stammzellen gehen die noch teilungsfähigen Lymphoblasten hervor, aus diesen die noch unreifen Lymphocyten. Diese verlassen das Knochenmark, lassen sich im Blutstrom treiben und besiedeln dann erst einmal die lymphatischen Organe. Insgesamt
Doch auch in Körperregionen, wo die Gefahr einer Invasion von Krankheitserregern besonders groß ist, wie Lunge, Auskleidung des Verdauungstraktes und Unterhaut, halten sich ständig zahlreiche Lymphocyten auf. Lymphatische Organe sind Aufenthaltsorte auf Zeit. Oft verlassen die Lymphocyten (ebenso wie die Makrophagen und die Granulocyten) Lymphsystem und Blutgefäße, durchwandern alle möglichen Gewebe und suchen Infektionsherde auf. Besonders „naive“ Lymphocyten, die noch kein Antigen eingefangen haben, gehen gern auf Wanderschaft. B-Zellen wie T-Zellen können (in der Regel gemeinsam) lernen, wie bisher noch nie gesehene Pathogene und biologische Fremdkörper aussehen, und sie können, teils in Kooperation mit den Phagocyten des unspezifischen Systems, verschiedene Mechanismen der Abwehr in Gang setzen.
163
164
7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte
Der Funktionsbereich des Immunsystems, in dem B-Zellen und die von ihnen produzierten Antikörper eine besondere Rolle spielen, wird in vielen Lehrbüchern aus alter Tradition als ●
●
„humorales“ Immunsystem bezeichnet, keine sehr sinnreiche und hilfreiche Bezeichnung; denn humoral heißt „flüssig“ oder „eine Flüssigkeit betreffend“. Gemeint ist der Teil des Immunsystems, der mittels Antikörper seine Aufgabe erfüllt. Demgegenüber wird das von T-Zell-Funktionen abhängige Teil des Immunsystem „zelluläres“ Immunsystem genannt.
Weiteres zur Terminologie: ●
Aktive Immunisierung. Vorbeugende Stimulierung der Abwehrsysteme durch absichtliche Injektion (Impfen) einer geringen Menge möglichst geschwächter Erreger oder von isolierten Antigenen, die von Erregern stammen.
●
Passive Immunisierung. Vorbeugung oder therapeutische Behandlung einer Infektionskrankheit durch Injektion (Impfen) einer fertigen Antikörperlösung (s. Abschn. 7.10.2).
7.3.2 Antigene sind höhermolekulare Substanzen mit fremdartigen molekularen Besonderheiten, um die sich das Immunsystem kümmern muss; kleine Moleküle werden von der Niere entsorgt Antigene (antibody generator) sind definitionsgemäß solche Fremdsubstanzen, die letztlich zur Produktion von Antikörpern führen. Antigene werden an Antikörper gebunden. Als Antigene kommen Makromoleküle in Betracht: Proteine, Nukleinsäuren, Polysaccharide und Mischsubstanzen wie Glykoproteine, Proteoglykane und Lipoproteine. Es ist jedoch nicht das ganze Molekül, das als fremdartig erkannt wird, vielmehr sind es besondere submolekulare Konfigurationen, die determinanten Gruppen. In Proteinen sind dies exponierte, spezifische Aminosäuresequenzen, die wir Epitope nennen (Abb. 7.4). Um kleine Moleküle braucht sich das Immunsystem im Regelfall nicht zu kümmern. Sie passieren die Ultrafilter der Niere und werden ausgeschieden. Kleine Moleküle können aber zu einer determinanten Gruppe eines Antigens werden, wenn sie als Hapten an ein größeres Trägermolekül gebunden sind (oder im Labor an einen Träger gekoppelt worden sind).
Antigen - determinante Gruppen
Historisches. Um 1890 gelang Emil Behring und seinen Mitarbeitern in Berlin der Nachweis, dass nach aktiver Immunisierung von Tieren mit Diphterie- oder TetanusErregern in der zellfreien Blutflüssigkeit Heilmachendes enthalten sein kann. Daher das Adjektiv „humoral“. Nach aktiver Immunisierung von Tieren war durch Übertragung von zellfreiem Serum auch passive Immunisierung (Heilung) bereits infizierter Versuchstiere oder von Patienten möglich. Dass es sich bei den „flüssigen“ Faktoren um im Blut gelöste Proteine, die uns bekannten Antikörper, handelte, wurde erst in den folgenden Jahrzehnten durch mühselige Analysen herausgefunden. Zur selben Zeit, da Größen wie Robert Koch und Emil Behring den humoralen Faktoren auf der Spur waren, entdeckte der russische Zoologe Ilja Mečnikov „Fresszellen“, bald Phagocyten genannt, erst in Seesternen, dann als „Makrophagen“ und „Mikrophagen“ im Säuger, wo sie sich in Infektionsherden versammelten und Bakterien fraßen. Daher „zelluläres“ Immunsystem. Es dauerte noch Jahre, bis erkannt war, dass Antikörper von besonderen Immunzellen gebildet werden und beide Systeme zusammen erst ein komplettes Immunsystem ergeben.
Epitop 2 O
Epitop 1
Hapten
Epitop 3
NH2 COOH Protein
Abb. 7.4. Antigen. Terminologie
7.4 Das Generieren von Vielfalt bei der Erzeugung der Antigen-erkennenden Rezeptoren und der Antikörper
7.3.3 Lymphocyten erkennen antigene Substanzen und Infektionskeime mittels besonderer Rezeptoren Obzwar die potentielle Bindung an Antikörper das Antigen definiert, sind es nicht die frei in der Körperflüssigkeit flottierenden Antikörper, die als erste ein neues Antigen erkennen. Oft werden beim erstmaligen Auftauchen eines Antigens noch gar keine Antikörper gegen dieses neue Antigen im Blut vorhanden sein. Das Erkennen wird von den Lymphocyten geleistet; denn sie sind mit besonderen Sensoren ausgerüstet. Zum Erkennen von einem Antigen sind die Lymphocyten mit speziellen Antennen, dem B-Cell-Receptor BCR oder dem T-Cell-Receptor TCR, ausgestattet. Diese Ausstattung mit Rezeptoren zum Binden potentieller Antigene beginnt bereits im Knochenmark, der Geburtsstätte der Lymphocyten. Der passende Rezeptor muss freilich in einem Lernprozess erst gefunden oder erfunden werden. Dieser Lernprozess findet für die T-Zellen im Thymus, für die B-Zellen in den peripheren lymphatischen Organen statt. 7.3.4 Die Art und Weise, wie das Immunsystem lernt, gleicht der Art und Weise, wie in der Evolution neues Wissen erworben wird: Zufallsprozesse erzeugen eine riesige Zahl von Rezeptorvarianten; die passenden Varianten werden durch einen positiven Selektionsprozess ausgesucht Ein Organismus weiß nicht, was so alles auf ihn zukommen wird. Er kann nicht vorausschauend planen und handeln. Wie kann man trotzdem im Ernstfall einen Rezeptor bereit haben, der ein x-beliebiges Antigen binden kann und eben dadurch „erkennt“? Die Antwort ist: Man lässt bei der Erzeugung von Rezeptorvarianten den Zufall walten und sucht alsdann passende Varianten aus (positive Klon-Selektion). Dabei müssen allerdings auch durch einen sorgfältigen negativen Selektionsprozess (KlonDeletion oder Klon-Elimination) all diejenigen Varianten aussortiert werden, die fälschlicherweise körpereigene molekulare Strukturen als Antigen an sich binden würden. Die hier angerissene Thematik ist so umfangreich, dass wir im Folgenden Teilvorgänge separat besprechen.
7.4 Das Generieren von Vielfalt bei der Erzeugung der Antigen-erkennenden Rezeptoren und der Antikörper 7.4.1 Unerschöpfliche Vielfalt durch somatische Rekombination und Hypermutation Noch wenn sich die unreifen Lymphocyten (‚naive‘ Lymphoblasten, B- und T-Stammzellen) im Knochenmark befinden, oder erst wenn sie in die lymphatischen Organen wie den Thymus abgewandert sind, findet in der weiteren Entwicklung der Lymphocyten ein ungewöhnlicher Vorgang statt, der die gewünschte Vielfalt von Rezeptoren erzeugt. Vor ihrer weiteren Vermehrung stellt jede B- und jede T-Stammzelle mittels somatischer Rekombination ( rearrangement) bestimmter chromosomaler Regionen aufs Geratewohl eine Rezeptorvariante her, die diese Stammzelle und ihre Nachkommen (Lymphoblasten) alsdann beibehalten (allenfalls nachträglich noch durch Hypermutation optimieren; s. unten). Da es Millionen bis Milliarden von B- und T-Stammzellen gibt, und in jeder unabhängig von den anderen Lotterie gezogen wird, wird es schließlich Abermillionen Lymphoblasten geben, die jeweils eine andere Losnummer gezogen haben. Ihre Nachkommen, die reifen Lymphocyten, werden entsprechend mit den unterschiedlichsten Rezeptorvarianten ausgestattet sein. Variabel sind die Antigen-bindenden Domänen der Rezeptoren, d. h. die endständigen Domänen (Arme) der beiden leichten und der beiden schweren Ketten, die zusammen den tetrameren BC-Rezeptor aufbauen (Abb. 7.5). Der im groben Umriss Y-förmige BC-Rezeptor steckt mit seinem Stiel in der Zellmembran, während die beiden Antigen-bindenden Arme nach außen zeigen. Damit ist der BCR bifunktional; er hat zwei Bindungstaschen. Die Taschen werden jeweils gemeinschaftlich von den benachbarten variablen Domänen einer leichten und schweren Kette geformt. Genetisch ist die Herstellung so vieler Varianten ein ernsthaftes Problem. Der Mensch mag 40 000 Gene haben. Er kann jedoch Myriaden (geschätzt >1012) verschiedene Rezeptoren herstellen. Es ste-
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166
7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Gensegmente für die L-Kette
Kern des B-Lymphoblasten V1
V39
V2
V40
5J
CL
Gensegmente für H-Kette V1
V2
V51 D1
D27 J1 J6
C
C
C
C primäres Transkript rekombinierte DNA
primäres Transkript
gespleißte mRNA
Light chain
Light chain Antigen-Bindestelle variabel
Heavy chain mRNA
Antigen-Bindestelle variabel
Gelenk
Heavy chain
Heavy chain
Transmembrandomäne von Cμ (bei Antikörpern fehlend)
gespleißte mRNA
B-Zell-Rezeptor bzw. Antikörper
Abb. 7.5. Antikörper-Grundstruktur und seine genetische Programmierung
hen also bei Weitem nicht so viele Gene zur Verfügung wie Varianten codiert werden sollten und auch erzeugt werden können. Der Trick ist: zur Erzeugung der Rezeptoren, und der von ihnen abgeleiteten Antikörper (siehe unten), werden nicht klassische Gene benutzt, sondern Gensegmente, von denen eine größere Zahl im Genom vorrätig ist und die nun vielfältig (re-) kombinierbar sind. Vielfalt ergibt sich, wie so oft in der Biologie, aus Kombinatorik (Abb. 7.5 u. 7.6).
Ein Vabanquespiel mit ●
zufallsbeherrschter somatischer Rekombination,
●
nicht korrigierten Replikationsfehlern und
●
unsauberer Arbeitsweise beim Prozessieren der mRNA erzeugt milliardenfache Vielfalt.
Das Rekombinationsspiel findet auf der Ebene der DNA statt. Erst werden Segmente zur Codierung einer variablen, Antigen-bindenden Region der
7.4 Das Generieren von Vielfalt bei der Erzeugung der Antigen-erkennenden Rezeptoren und der Antikörper Abb. 7.6. Rekombination der DNA zur Programmierung des B-Zellrezeptors und der Antikörper. Ausschnitt aus den Gensegmenten, die für die schwere Kette des BCR bzw. der Antikörper codieren. Zwischen den Gensegmenten befinden sich palindromische Sequenzen (schwarze Dreiecke), die eine Verklebung der Schleifenenden ermöglichen. Die Länge der Schleifen ist variabel und in jedem Lymphoblasten verschieden. Die Schleifen werden von einer Rekombinase abgeschnitten und die freien Enden der verbleibenden DNA werden wieder verbunden (ligiert). Die palindromischen Sequenzen leiten sich in der Evolutionsgeschichte mutmaßlich von Transposons ab
V17
D2
V18
V19
D3 V20
D4 Rekombinase J3
V23
V22
V21
D5
●
Somatische Rekombination zur Generierung der variablen Region der leichten Kette ermöglicht ca. 320 Varianten.
●
Somatische Rekombination zur Generierung der variablen Region der schweren Kette ermöglicht 6000 Mio. Varianten.
●
Die freie Auswahlmöglichkeit zwischen den diversen leichten und schweren Ketten ermöglicht 320 × 6000 = 1,9 Mrd. Varianten.
Ist die genetische Information durch Aneinanderkoppeln ursprünglich entfernter Gensegmente zusammengestellt, dann wird der so zusammengestellte „Eisenbahnzug“ durch Ankoppeln von Segmenten für die konstante Fc-Region ergänzt. Zur Herstellung der B-Zellrezeptoren stehen dem Menschen mehrere „Pools“ an Segmenten zur Verfügung. Die Segmente gliedern sich in die Klassen V = variable, variety, J = join, D = diverse, diversity und C = constant. Insgesamt stehen zur Verfügung für die Programmierung einer L-Kette: 40 V + 5 J (40 × 5 = 200 Varianten) + 1 C aus dem kappa-Pool des Chromosoms Nr. 2 oder
C4
C11
D6
Transposon-ähnliche Palindromsequenzen
J4
C3
J5
C2 J6
C1
20 V + 6 J (20 × 6 = 120 Varianten) + 4 C aus dem lambda-Pool des Chromosoms Nr. 22. Insgesamt ergeben sich damit die genannten 320 Kombinationsmöglichkeiten zur Codierung einer leichten Kette, Für die Codierung der schweren Kette stehen zur Verfügung;
BC-Rezeptoren bzw. TC-Rezeptoren zusammengefügt.
●
D1
●
H-Kette: ca. 40 V + 25 D + 6 J (40 × 25 × 6 = 6000 Varianten) plus die C-Gensegmente Cμ, Cδ, Cγ, Cε und Cα.
Diese Pools liegen auf verschiedenen Chromosomenpaaren, die Gensegmente für die leichten Ketten auf den Chromosomen Nr. 2 ( kappa-Pool) und Nr. 22 ( lambda-Pool), die Gensegmente für die schwere Kette auf Chromosom Nr. 17. Eine weitere Erhöhung der Kombinationsvielfalt ergibt sich aus dem Umstand, dass wir diploid sind und auf den homologen paternalen und maternalen Chromosomen die Allele der V, D, und J Gensegmente in der Regel verschieden sind. Bei der somatischen Rekombination kann mal das paternale, mal das maternale Allel zum Zuge kommen. Optimierung durch Hypermutation und variables Spleißen. Es gibt noch die Möglichkeit einer nachträglichen Optimierung. Ein naiver Lymphoblast habe erstmals ein Antigen eingefangen; er wird
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168
7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte
„stimuliert“, das heißt zur Teilung angeregt. Teilung setzt Replikation der (bereits rekombinierten) DNA voraus. Im Zuge dieser Replikationsrunden werden in jenen Gensegmenten, die für die variablen Antikörperdomänen codieren, ungewöhnlich viele Mutationen zugelassen, also Fehler nicht korrigiert. Die geschätzte Mutationsrate von 10−3 Mutationen pro Basenpaar und Replikation liegt um mehrere Größenordnungen über der von anderen Genen. Auch beim Zuschneiden der mRNA wird noch gespielt und probiert. Die Anzahl der letztlich erreichbaren Antikörpervarianten wird auf 1012 geschätzt. Die erzeugten Varianten unterliegen einem Selektionsprozess. Die Nachkommen des stimulierten Lymphoblasten, die einen BC-Rezeptor mit den besten Bindungseigenschaften gefunden haben, werden am stärksten vermehrt.
7.4.2 Antigen stimuliert B-Zellen zur Vermehrung (positive Klonselektion) und zur Antikörperproduktion
●
α-Kette: ca. 50 Vα und 70 Jα, sowie einem CαGensegmente auf Chromosom 14;
●
β-Kette: 57 Vβ, 2 D und 13 Jβ, sowie 2 Cβ auf Chromosom 7
Wenn eine B-Stammzelle, wie es der Zufall will, gerade den passenden Rezeptor zur Verfügung hat, wird diese B-Zelle stimuliert; d. h. sie wird durch die Bindung von Antigen (und durch unterstützende Signale einer T-Helferzelle) angeregt, sich zu teilen (Abb. 7.7 u. 7.8). Die Tochterzellen replizieren die neu zusammengestellten Gene. Alle Nachkommen einer Stammzelle bilden einen Klon von Zellen, die alle den gleichen Rezeptor exprimieren wie ihre Stammzelle (möglicherweise jedoch in einer durch Hypermutation optimierten Variante). Es kommt durch diese Proliferation zu einer positiven Klonselektion. Es wird die ursprünglich kleine Population, die zufällig den passenden Rezeptor hat, gewaltig vermehrt (Abb. 7.7). Mitglieder dieses Klons verlassen ihren Heimatort, irgendein lymphatisches Organ (bei Vögeln die Bursa fabricii), und siedeln sich in weiteren lymphatischen Organen an. Viele werden zu Plasmazellen = Effektorzellen, die Antikörper in großer Zahl herstellen und in die Körperflüssigkeit abgeben (Abb. 7.8). Einige werden zu Gedächtniszellen, die in den lymphatischen Organen in Reserve gelegt werden, damit bei einer Zweitinfektion die Zahl der Startzellen für eine neue Proliferationsrunde höher ist und die Immunantwort rascher einsetzen kann.
●
Darüber hinaus gibt es weitere abrufbare Sequenzen (z. B. im lambda-Locus des Chromosoms Nr. 7), die dazu beitragen können, TCR verschiedener Spezifität und Funktion zu erzeugen.
7.4.3 Antikörper sind abgestoßene B-Zell-Rezeptoren mit vielfältigen Funktionen
Auch bei der Zusammenstellung der TCR ermöglicht die Diploidie eine Verdoppelung der Auswahlmöglichkeiten. Die Zahl der Varianten wird noch dadurch erhöht, dass die Schnittstellen in der DNA nicht exakt vorbestimmt sind, folglich auch nicht die Basensequenzen an den Schweißnähten beim Zusammenfügen der Elemente. Hypermutation ist beim T-Zellrezeptor nicht bekannt, trotzdem wird die Zahl möglicher TCR-Varianten wie beim BCR auf 1012 geschätzt. Eine typische T-Zelle trägt etwa 30 000 (überwiegend identische) TCR auf ihrer Oberfläche.
Wie dies bei membranständigen Proteinen üblich ist, wird der BCR (und ebenso der TCR) am endoplasmatischen Reticulum (ER) hergestellt und über Vesikel in die Zellmembran integriert. Eine reife Plasmazelle, die mit einem riesigen ER und mächtigen Golgiapparat ausgestattet ist, verändert den FcTeil, d. h. den C-terminalen Stiel, ihres Rezeptors. Durch verändertes Processing der mRNA wird der BCR um jene Domäne verkürzt, die ihn zuvor in der Vesikel- bzw. Zellmembran verankert hatte. Der Rezeptor kann nun von der Plasmazelle per Exocytose freigesetzt werden.
T-Zellrezeptoren sind ebenfalls aus zwei Ketten, einer α-Kette und einer β-Kette, zusammengesetzt, doch insgesamt einfacher, trotzdem auch sehr variantenreich. Ein TCR entspricht annähernd einem Arm des BCR mit einer konstanten Region, die in der Zellmembran steckt, und einer variablen, Antigen-bindenden Region, die nach außen zeigt. Für die Codierung eines T-Zellrezeptors stehen zur Verfügung:
7.4 Das Generieren von Vielfalt bei der Erzeugung der Antigen-erkennenden Rezeptoren und der Antikörper Abb. 7.7. Klonale Expansion des Lymphoblasten, der durch somatische Rekombination zufällig einen Rezeptor (BCR) erzeugt hat, der ein neues Antigen binden kann. Wenn sich die Nachkommen des vermehrten Lymphoblasten zu Plasmazellen weiterentwickelt haben, werden ihre BCRs als Antikörper freigesetzt. Einige Zellen des Klons bleiben als Gedächtniszellen in Reserve
Primärer Lymphoblast Im Knochenmark Vermehrung, Expression verschiedenster BCR
272
271
273
272
274
273
274
Probeweise Antigenbindung und selektive Vermehrung (klonale Expansion) der passenden Lymphocyten in Lymphknoten und Milz
273
273
273
273
273
273
Gedächtniszellen verbleiben in Nischen der lymphat. Organen
terminale Differenzierung zu Plasmazellen
273 Antikörperproduktion
273
273
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7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Abb. 7.8. Stimulation einer B-Zelle durch Antigen und durch unterstützende Signale von einer T-Helferzelle. Stimulation führt zur Teilung der B-Zelle und zur anschließenden Reifung der Tochterzellen zu Antikörpersezernierenden Plasmazellen
TH Interleukine
Antigen an MHC-II
Proliferation, terminale Differenzierung Plasmazellen
B-Zelle Antigen
In der weiteren Entwicklung der Plasmazelle kann ein monumentales Transkript hergestellt werden, das schließlich alle neun (Mensch) bzw. acht (Maus) Gene umfasst, die potentiell für die konstante Region der schweren Kette codieren können. Durch alternatives Spleißen des Riesentranskripts kommt das eine oder das andere der C-Gene zum Zuge; es entstehen die verschiedenen Immunglobulin-(Ig-)Klassen (Abb. 7.9): ●
Das Cμ-Gen liefert die IgM, die dem BCR sehr ähnlich sind,
●
das Cγ-Gen liefert die IgG,
●
das Cα-Gen liefert die IgA,
●
das Cε-Gen liefert die IgE,
●
das Cδ-Gen liefert die IgD.
IgG IgE
IgA
Diese unterschiedlichen Stiele vermitteln unterschiedliche Funktionen. SS
SS
7.5.1 Antikörper helfen, lösliches Antigen und Fremdzellen fressbar zu machen, Fremdzellen zu lysieren und haben noch manch andere Funktionen IgG und Makrophagen (Abb. 7.10). Makrophagen besitzen Rezeptoren für IgG-Stiele. Material, an dem IgG-Antikörper kleben, kann besser phagocytiert werden. IgG verklumpen gelöste Makromoleküle
SS
7.5 Funktionen der Antikörper SS
170
SS
IgM
Abb. 7.9. Antikörperklassen
7.6 T-Zellen, MHC und Antigenpräsentation Abb. 7.10. Makrophage bei der Arbeit gelöstes Antigen
präzipitiertes Antigen Bakterium
Makrophage
Endosom
opsonisiertes Bakterium
zu unlöslichen Präzipitaten (Niederschlag), die sich leichter fressen lassen, und sie opsonisieren Bakterien. Mit Antikörpern dekoriert, sind sie für Makrophagen besonders schmackhaft. IgG oder IgM und Komplement (Abb. 7.11). Im Blut schwimmen Komplementfaktoren, das sind von der Leber gelieferte verkappte Enzyme (Zymogene verschiedener Serin-Proteasen) und Enzymsubstrate. Sie werden durch Antikörper, die auf Fremdzellen sitzen, aktiviert. In einer Reaktionskaskade, die der Blutgerinnungskaskade gleicht, werden letztlich durch aggregierende C9-Faktoren große Poren in die Membran der Fremdzelle eingesenkt. Die durchlöcherte Zelle geht zugrunde. IgA und Antikörper-Sekretion (Abb. 7.12). IgA können durch Epithelien transportiert werden (Transcytose). Sie gelangen so beispielsweise in die Lunge oder die Muttermilch. Von der Milch gelangen sie unverdaut (!) durch das Darmepithel ins Blut des Säuglings. Wie sie vor dem Angriff der Verdauungsenzyme geschützt sind, ist noch nicht geklärt. Mit der Muttermilch wird der Säugling mit ersten Antikörpern versorgt. Nach und nach wird er dann selbst Antikörper produzieren müssen. IgE, Entzündung und Allergie (Abb. 7.13). Mastzellen und basophile Granulocyten fangen IgE auf und benutzen sie als eigene Antennen. Kommt Antigen vorbei, spucken die Zellen Signalsubstan-
zen wie Histamin und Eicosanoide (Leukotriene, Prostaglandine) aus und alarmieren andere Zellen des Immunsystems, die sich unverzüglich am Entzündungsort einfinden. Auch Pollen und andere Allergene können eine solche Reaktion auslösen, unglücklicherweise oft übertrieben stark – und man leidet an Allergie.
7.6 T-Zellen, MHC und Antigenpräsentation 7.6.1 Nur bei bestimmten Antigenen kommen B-Zellen allein zurecht; bei Peptidantigenen müssen T-Zellen helfen, Fremdes zu identifizieren Angesichts der Aggressivität des Immunsystems geschieht die Identifikation von Fremdem nach dem Prinzip der mehrfachen Sicherung. Nur in bestimmten, eher seltenen Fällen werden B-Lymphocyten direkt von Antigen stimuliert. Eine solche direkte Stimulierung ist möglich, wenn das Antigen ein Polysaccharid, ein Lipid oder eine Nukleinsäure ist. Bei der Identifizierung fremder Proteine hingegen müssen sich T-Helferzellen (TH-Zellen) an der Identifizierung beteiligen und bestätigende Signale (Interleukine) an die B-Zellen richten. Dabei spielt der MHC-Komplex eine besondere Rolle.
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7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Abb. 7.11. Komplementsystem. Auslösend sind antigene Strukturen in der Zellmembran einer Fremdzelle. Es sind zwei Aktivierungswege bekannt. Der „klassische“ Weg geht von von IgG-Antikörpern aus, welche die Antigene erkennen. An die Antikörper binden Proteinkomplexe, die vom Blut (letztlich von der Leber) stammen und in einer Kaskade von proteolytischen Ereignissen aktiviert werden. Die Aktivierung besteht jeweils in der proteolytische Abspaltung eines inhibitorischen Peptids. Am Ende der Reaktion ist in die Fremdzelle eine große, tödliche Pore eingebaut, durch die Zellinhalt ausfließt. Der alternative Weg, evolutionsgeschichtlich ältere Weg, geht vom C3-Komplementfaktor aus. C3 kann in einzelnen Fällen direkt an Oberflächenmoleküle der Fremdzelle binden, oder es sind Lektine, welche die Bindung vermitteln. Die Endstrecken beider Wege sind gleich
1. Erkennung
2. Aktivierungskaskade
3. Porenbildung
I. “Klassischer Weg”, nur im Wirbeltier C1 bis C9: Komplementfaktoren des Blutes
C3 C9 C5 C8 C2
C6 C7
C3-Konvertase
n
C4
C1-Komplex
C3a
C5
C3b
C7
C3b
C8 C6
C9
C9 C9 C9
C9
C3b
C9
C9
Pore
Antigen in Membran einer Fremdzelle (z.B. Bakterium, Protozoon)
II. Evolutionsgeschichtlich alter “alternativer Weg”, im Wirbeltier und in Wirbellosen
C3 Komplementfaktor der Körperflüssigkeit
Opsonisierung Lektin
LPS
Lektin-vermittelte Aktivierung Direkte, “alternative” Aktivierung, durch LPS verstärkt LPS C3b B C3b C3b
C7 C8
Direkte
C6 C9
Beispiel: gramnegatives Bakterium
Pore
7.6 T-Zellen, MHC und Antigenpräsentation
Signalsubstanzen
Antigen
Prostaglandine Leukotriene Histamin u.a.
IgE
Mastzelle geborgter Rezeptor (IgE)
Abb. 7.12. Transcytose von IgA-Antikörpern durch ein Epithel, z. B. durch die Wandung eines Milchdrüsenkanals
7.6.2 Der MHC kennzeichnet unsere Individualität und hilft dem Immunsystem, zwischen körpereigenen und fremden Aminosäuresequenzen zu unterscheiden Die T-Zellen, die nach ihrer Geburt im Knochenmark eine Lehrzeit im Thymus (daher T-Zelle) durchlaufen, haben eine seltsame Hauptfunktion. Sie kontrollieren laufend den Individualausweis, den die Körperzellen auf ihrer Oberfläche tragen, den MHC (Major Histocompatibility Complex, Abb. 7.14). MHC-Komplexe (beim Menschen auch HLA-Komplex genannt (HLA = human leucocyte antigen), gibt es auf allen Zellen mit Ausnahme der kernlosen Erythrocyten. Bei Säugern hat sich dabei in der Evolution eine Zweiklassengesellschaft etabliert. ●
MHC der Klasse II ist den Zellen des Immunsystems selbst vorbehalten: B-Lymphocyten, Makrophagen, Granulocyten, dendritische Zellen des Thymus und der Haut.
●
MHC der Klasse I findet man auf den übrigen Körperzellen (mit Ausnahme der kernlosen Zellen wie den Erythrocyten). Der MHC I repräsentiert unseren individuellen molekularen Personalausweis.
Der MHC ist durch zwei Eigentümlichkeiten berühmt geworden, durch den genetischen Polymor-
Abb. 7.13. Alarmierung weiterer Immunzellen durch eine Mastzelle, die mittels geborgter, von B-Zellen hergestellter IgE-Antikörper die Anwesenheit eines Antigens erkannt hat
phismus und durch die gravierenden Probleme, die er der Transplantationsmedizin beschert. Polygenie und Polymorphismus des MHC. Zur Codierung des MHC stehen, wie bei Isoenzymen, auf den Chromosomen („in der Keimbahn“) mehrere Gene zur Auswahl. MHC I. Für den MHC I, der aus einem Polypeptid besteht, liegen auf dem väterlichen und mütterlichen Chromosom Nr. 6 jeweils 3 Gene bereit (Mensch: HLA-A; HLA-B; HLA-C), insgesamt also 6 Allele. Nach geltender Auffassung werden alle 6 Allele exprimiert (codominante Expression), sodass also jede Körperzelle 6 Varianten von MHC-I-Molekülen auf ihrer Oberfläche vorzuzeigen hat. An das vom MHC I-Komplex codierte Polypeptid wird zur strukturellen Ergänzung ein zweites, kleineres angehängt, das von einem Gen außerhalb des MHC codiert wird und für sich allein β2-Mikroglobulin heißt (Abb. 7.14). In menschlichen und tierischen Populationen sind viele weitere allele Varianten jedes der drei MHC-I-Gene zu finden, beim Menschen mutmaßlich mehr als 200 pro MHC-Gen. Es ist kein Gen bekannt, von dem es mehr allele Varianten gäbe als von
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174
7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Abb. 7.14. MHC, seine Struktur und seine genetische Programmierung
den Genen des MHC-Komplexes. Bei der sexuellen Fortpflanzung wird Lotterie gezogen. Von ca. 200 × 3 möglichen Nummern des MHC I werden je 2 × 3 Nummern gezogen. Für jedes Individuum findet eine eigene Ziehung statt, und die gezogene Kombination ist immer auch der Gewinn. Da kann jedes Individuum zu einer eigenen MHC-Variante kommen, ohne dass wie beim BCR oder TCR somatische Rekombination und Mutation die numerische Vielfalt vergrößern müssten. Jeder von uns hat seine eigene private Kombination. Eltern und Geschwis-
ter werden eine ähnliche Kombination haben, aber wohl kaum eine vollkommen identische – abgesehen von eineiigen Zwillingen. MHC II. Zur Codierung des dimeren MHC II, bestehend aus eine α- und einer β-Kette, stehen ebenfalls je drei Gene zur Verfügung (Mensch: HLA-DR; HLA-DQ; HLA-DP). Alle drei Gene enthalten mehrere α- und β-Exons, die für die α- und β-Domäne des MHC codieren können. Deshalb ist für den MHC II eine noch größere Vielfalt als beim MHC I
7.6 T-Zellen, MHC und Antigenpräsentation Antigen-Peptidfragment
MHC II
Endocytose
ER
Professionelle Antigen-präsentierende Zelle APC (Makrophage, Granulocyt, B-Zelle, u.a.) Intrazelluläre Eigenpeptide, auch virale Peptide
MHC I Abzubauende cytosolische Proteine
ER
Proteasom TAP-Transporter
Antigen-präsentierende Körperzelle (Nicht-Leukocyt, z.B. Epithelzelle)
Abb. 7.15. Antigen-Processing und -Präsentation durch eine Zelle des Immunsystems (z. B. Makrophage, Granulocyt), die ein Antigen per Endocytose geschluckt hat. Ein charakteristisches Peptidfragment des Gesamtantigens wird mittels eines MHCKomplexes exponiert und T-Zellen zwecks Kontrolle vorgezeigt. Intrazelluläre Peptidfragmente entstehen aus dem Abbau von Proteinen im Proteasom. Solche intrazellulären Proteine sind zelleigene Produkte, oder sind von viralen Genen codiert, oder stammen von intrazellulären Parasiten
möglich. Funktionell wird das MHC-II-Dimer erst perfekt, wenn es durch Beladung mit einem kurzen Peptid zum Trimer wird. Dieses zusätzliche Peptid stammt von einem Antigen. Die große Vielfalt möglicher MHC-II-Moleküle erlaubt es den Zellen des Immunsystems, mittels dieser vielen MHC-Varian-
ten vielerlei antigene Peptide auf ihrer Zelloberfläche vorzuweisen. Die MHC-II-Trimere werden von T-Zellen kontrolliert und begutachtet. Es gibt, bemerkenswerterweise, einen Typ von Zellen, der MHC-Dimere beider Klassen, also sowohl MHC-I als auch MHC-II, exprimiert. Es sind die dendritischen Zellen. Damit deutet sich eine besondere Funktion dieser Zellen an, die über bloße phagocytäre Aktivität hinausgeht. 7.6.3 Antigenpräsentation durch professionelle Phagocyten: Der MHC II wird mit Antigen beladen und an „immunologischen Synapsen“ von T-Zellen kontrolliert; Fremdantigene stimulieren daraufhin Immunreaktionen Professionell antigenpräsentierende Zellen APC (Abb. 7.15). Dendritische Zellen und Makrophagen fressen Parasiten (Bakterien, Einzeller), die ihnen als Fremdlinge bekannt sind, oder die durch Opsonisierung als fremd gekennzeichnet worden sind. Auch fressen sie fremde, in der Körperflüssigkeit flottierende Proteine, wenn sie mit Antikörpern zu Aggregaten verkettet sind. Auch Granulocyten nehmen per Endocytose Proteine und Protein-haltige molekulare Aggregate in sich auf. B-Zellen verschlingen durch Endocytose ihre eigenen mit Antigen beladenen BC-Rezeptoren. In den Endosomen all dieser gefräßigen Zellen wird das fremde Protein oft nicht zünde verdaut (vielleicht, weil es nicht zünde verdaut werden kann). Bruchstücke werden in Vesikel geschleust, die vom Endoplasmatischen Reticulum abgeschnürt worden sind und den MHC II an die Zelloberfläche tragen. Auf dem Weg zur Zelloberfläche werden die MHC II mit Peptidfragmenten beladen. MHC-II-Moleküle besitzen eine Rinne, in die Peptide mit einer Länge von 10–30 Aminosäuren eingelassen werden können (MHC I: 8–11 AS). Schließlich werden die Fremdpeptide mit dem MHC auf der Zelloberfläche „präsentiert“. Den so mit Peptid beladenen MHC II nehmen die T-Helferzellen in Augenschein (s. Abschn. 7.6.5). Neueste Forschung ist einer schier unglaublichen Signalstafette auf die Spur gekommen, die hilft, die Natur eines Peptids zu ergründen, ob es körpereigen oder körperfremd ist. Eine besondere Funktion erfüllen hierbei die dendritischen Zel-
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176
7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Antigen MHC
BCR (B-cell receptor)
APC antigenpresenting cell
B-Zelle
nalmolekül zu betrachten, ist voll gerechtfertigt. Das Fremdantigen stimuliert die B-Zelle, sich zu teilen. Ihre Tochterzellen wandern in Lymphknoten und Milz, um dort als Plasmazellen große Mengen von Antikörpern zu erzeugen, oder um dort als Gedächtniszellen zu verharren. Ebenso teilen sich Antigenstimulierte T-Zellen und gründen Subpopulationen von T-Gedächtniszellen.
'Dendriten '
a
APC Antigen-Präsentation
b
B-Zelle
Immunologische Synapse
Abb. 7.16. Immunologische Synapse. B-Zellen holen mittels vorübergehend ausgestreckter dendritischer Fortsätze Antigene von Antigen-präsentierenden Zellen APC ab. Solche APC sind beispielsweise dendritische Zellen des Thymus oder Makrophagen. APC präsentieren das Antigen mittels eines MHC-Komplexes. B-Zellen erkennen und übernehmen das Antigen mittels ihres B-Zell-Rezeptors BCR, dem Vorläufer des später produzierten spezifischen Antikörpers. Die Übergabe findet an einer Stelle statt, an der sich die MHC der APC und die BCR der BZellen zu dichten Aggregaten zusammenlagern. Dieses Aggregat wird immunologische Synapse genannt
len (Abb. 7.2a), die sich im Thymus und anderen lymphatischen Organen niedergelassen haben. Sie präsentieren nicht nur fremde, sondern auch körpereigene Antigene, wenn es gilt, dem Immunsystem die zu lehren, zwischen Eigen und Fremd zu unterscheiden (s. Abschn. 7.8). In der Nähe solcher dendritischer Zellen strecken B-Zellen feine Filopodien aus und nehmen innigen Kontakt zum MHC II der dendritischen Zelle auf. Es kommt zu einer Kontaktstruktur, die man immunologische Synapse nennt (s. Abb. 7.16). An diesen Kontaktstellen übernehmen die B-Zellen mittels ihres BCR von den dendritischen Zellen das Antigen. Dieses wird alsdann von der B-Zelle internalisiert, auf ihren eigenen MHC II geladen und schließlich TZellen vorgezeigt. Betrachtet man das Antigen als Signal, so führt hier eine Signalstafette von den dendritischen über die B- zu den T-Zellen. Ein Fremdantigen als Sig-
7.6.4 Mit dem MHC I der Körperzellen präsentierte Antigene stammen von den Zellen selbst, sind also körpereigene Peptide – oder sind von parasitischen, z. B. viralen, Genen codiert Der MHC I präsentiert fremde wie auch körpereigene Peptide. Nicht nur Fremdmaterial wird an MHCKomplexe gekoppelt. Laufend bauen unsere Zellen gealterte und inkorrekt gefaltete eigene Proteine ab. Für diese Entsorgungsfunktion ist die Zelle mit Proteasomen ausgestattet, intrazellulären Apparaten, in denen mehrere Proteasen zusammenarbeiten. Es entstehen Peptidbruchstücke mit 6 bis 15 Aminosäuren Kettenlänge. Ein Teil der Peptide wird über den ABC-Transporter ins ER geschleust und in die Rinne des MHC I eingelegt. Die Peptide gelangen mit dem MHC-I an die Zelloberfläche (Abb. 7.15, 7.17 u. 7.18) und werden den T-Zellen vorgezeigt. Woher können nun aber körperfremde intrazelluläre Peptide stammen? Sie können von intrazellulären Parasiten (wie dem Malariaerreger Plasmodium) stammen oder von viralen Genen codiert sein. Viren brauchen Capsidproteine, in die ihr Genom (DNA oder RNA) verpackt wird, bevor das Virus die Zelle verlässt. Viren brauchen, um neue Zellen befallen zu können, in ihrer Hülle Spikeproteine, mit denen sie an Oberflächenmoleküle anderer eukaryotischer Zellen andocken können. Es ist die schon befallene Wirtszelle, welche diese viralen Proteine auf Befehl der Virusgene herstellen muss. Gelangt ein solches virales Protein in die Schneidemaschinerie des Proteasoms, können Bruchstücke entstehen, die nicht mit körpereigenen Peptiden identisch sind. Auch sie können in die Rinne des MHC I aufgenommen und zur Zelloberfläche transportiert werden. So werden laufend Peptide den T-Zellen vorgezeigt (Abb. 7.17 u. 7.18). Bemerken diese bei der Kontrolle des Personalausweises, dass das Peptid körpereigen ist, lassen sie die kontrollierte Zelle unbehelligt.
7.6 T-Zellen, MHC und Antigenpräsentation Abb. 7.17. Interaktion des T-Zell-Rezeptors TCR mit dem Antigen-präsentierenden MHC II von Immunzellen oder dem MHC I von sonstigen Körperzellen
Wird hingegen ein Fremdantigen entdeckt, schlagen die T-Zellen Alarm (T-Helferzellen) oder attackieren den Ausweisbesitzer (T-Killerzellen). 7.6.5 Die T-Zellen kontrollieren den MHC-Personalausweis, senden Alarmsubstanzen aus oder entwickeln Killeraktivitäten, besonders gegen Virus-infizierte Zellen Es gibt 3 Haupttypen von T-Zellen: 1. Die T-helper = TH-Zellen, auch CD4+-Zellen genannt aufgrund eines Transmembranproteins namens CD4, das den TH-Zellen hilft, Kontakt zum MHC II von B-Zellen aufzunehmen (Abb. 7.17); 2. T-killer = cytolytische oder cytotoxische T-Zellen = TCyt. auch CD8+ Zellen genannt aufgrund
eines Transmembranproteins CD8, das den TCyt hilft, Kontakt zum MHC I der nicht zum Immunsystem gehörenden Körperzellen aufzunehmen (Abb. 7.17). 3. Natürliche Killer-Zellen = NK (Umstrittene Typen oder nur in geringer Zahl auftretende T-Zell-Subtypen wie T-Suppressor bzw. T-Regulator Zellen bleiben hier außer Betracht, obzwar sie helfen, Autoimmunreaktionen zu unterdrücken.) Die TH lesen den MHC-II-Ausweis, den die Antigen-präsentierenden Zellen des Immunsystems (Neutrophile, Makrophagen u. a.) auf ihrer Oberfläche vorzeigen. Wenn sie entdecken, dass er mit fremdem Antigenfragment verfälscht ist, senden sie als Alarmsignal Interleukin-2 aus. Dieses stimuliert B-Zellen, die daraufhin proliferieren
177
178
7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Abb. 7.18. Kooperative Immunreaktion bei einer Virusinfektion. Im gezeigten Fall wird die Virus-infizierte Zelle geopfert und mittels Perforine getötet. Sie leitet ihren Opfertod durch Präsentation von viralem Antigen selbst ein
B BCR MHC II
Interleukine (Lymphokine, Cytokine) TCR
TCR
Tcyt
TH
Virus
Perforine MHC I
ER
Proteasom
und ihre Antikörper freisetzen, und es stimuliert die TH-Zellen selbst. Durch den autokrinen Rückkoppelungskreis kommt es zur Vermehrung der TH-Zellen. Schließlich lassen sich auch die cytotoxischen T-Zellen durch Interleukin-2 zur Proliferation stimulieren. Die TCyt kontrollieren den MHC-I-Ausweis der sonstigen Körperzellen. Sie vernichten Zellen, z. B. eines Parasiten oder eines Transplantates, die nicht den körpereigenen MHC I vorzeigen können, oder sie töten notfalls Virus-infizierte körpereigene Zellen, deren MHC I mit viralen Proteinfragmenten beladen ist (Abb. 7.18). Virusinfektion verrät sich in doppelter Weise: durch den modifizierten MHC der Zelle und durch Spikeproteine, die in der Zellmembran erscheinen, bevor neue Viren durch Knospung die Zellen verlassen. An solche Spikeproteine können Antikörper andocken und Komplement zur Perforation der Zelle heranführen. Wichtiger ist allerdings die Bewaffnung der TCyt selbst. T-Zellen geben Toxine ab und Perforine, die den C9-Komponenten des Komplementsys-
ER
tems sehr ähnlich sind und in die Zellmembran der infizierten Zelle tödliche Löcher stanzen (Abb. 7.18).
Bekämpfen von Viren. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie das Immunsystem virale Infekte bekämpfen und einschränken kann. In günstigen Fällen werden Antikörper erfunden, welche das Andocken von Viren an Wirtszellen verhindern, weil sie jene Zelloberflächenmoleküle („Rezeptoren“) abschirmen, an die das Virus andocken könnte, um in die Zelle aufgenommen zu werden. Mitunter gelingt es T-Zellen, mittels besonderer Signalsubstanzen wie dem Interferon-γ (IFNγ) die Vermehrung der Viren in der Wirtszelle zu blockieren. Vermehrt sich das Virus trotzdem und erscheinen virale Antigene im MHC-I der Wirtszelle, kommt es als letztem Mittel zum geschilderten, vorsorglichen Abtöten dieser Zelle.
Die NK-Zellen sind ähnlich aggressiv wie die Tcyt Zellen, greifen aber vor allem Zellen an, die gar keinen MHC besitzen; das werden im Regelfall Parasi-
7.6 T-Zellen, MHC und Antigenpräsentation
ten sein (Erythrocyten werden verschont). NK-Zellen werden auch dem angeborenen Immunsystem zugerechnet. NK-Zellen, so hofft mancher Immunologe, sollten auch einige Typen von Tumorzellen angreifen, welche die Fähigkeit verloren haben, MHC I zu exprimieren. 7.6.6 Viren sind oftmals Ursache für Tumor-artiges Wachstum. Kann das Immunsystem helfen? Ist es eine Hauptfunktion des T-Zell-vermittelten Immunsystems, Viruserkrankungen in Schach zu halten, so ist es umgekehrt „Ziel“ des Virus, seine infizierte Gastzelle am Leben zu erhalten und sie zur Vermehrung anzuregen. DNA-Viren (z. B. Hepatitis B) lassen ihr Genom von der Wirtszelle replizieren. Retroviren, die ihre in RNA niedergelegte Erbinformation mittels reverser Transkriptase in cDNA umkopieren lassen (z. B. HIV), lassen ihre Erbinformation sogar direkt in das Genom der Wirtszelle integrieren. DNA-Viren und RNA-Retroviren können so effektiv für die Vermehrung ihrer Erbinformation sorgen. Das Immunsystem merkt das nicht, solange die Erbinformation in der Wirts-DNA versteckt ist und multipliziert wird. Später, wenn die Tumorzellen neue Viren erzeugen und freisetzen müssen, hat das Virus schon gesiegt; denn es wird von sehr vielen Zellen produziert. Virale Genome enthalten oftmals Onkogene, die in irgendeiner Weise so in die Proliferationskontrolle eingreifen, dass ihre Wirtszelle sich übermäßig vermehrt. In der Immunologie wird derzeit viel Forschungspotential investiert, um das Immunsystem zur Bekämpfung von Tumoren aufzurüsten. T-Zellen sollen tumorspezifische MHC-Antigen-Komplexe erkennen und die Produzenten solcher Antigene vernichten. Sofern es sich bei diesen Tumorspezifischen Peptiden um virale Peptide handelt, haben solche Forschungsprojekte, theoretisch, gute Erfolgsaussichten. 7.6.7 HIV schalten das Immunsystem aus; Folge kann AIDS sein Ein besonders heimtückisches Virus ist der human immunodeficiency virus HIV-1. Viren dieses Typs
befallen Zellen des Immunsystems selbst und schwächen es. Sie docken an Zellen an, die den CD4-CoRezeptor exprimieren, und lassen sich durch Endocytose einschleusen. CD4-Co-Rezeptor exprimieren vor allem T-Helferzellen (TH), aber auch Makrophagen und einige ihrer Abkömmlinge (Langerhans’sche Zellen der Haut). Innerhalb von Monaten oder Jahren verliert der Organismus mehr als die Hälfte seiner TH-Zellen. Folge: der Organismus wird anfällig gegen vielerlei Infektionskrankheiten und sonst seltene Formen von Krebs. Es entwickeln sich nach und nach Symptome von AIDS (acquired immunodeficiency symptoms). Die Mehrzahl dieser Symptome sind unspezifisch (opportunistische Infektionen); zwei öfter mit AIDS assoziierte, eher spezifische Symptome sind das sonst seltene Kaposi-Sarcom (violette Hautflecken, besonders an den Beinen) und eine bestimmte Form der Lungenentzündung, die von Bakterien ausgelöst wird. Die Ansteckungsgefahr über sexuelle Kontakte ist kontrollierbar. Erschreckend ist allerdings, dass sich Kinder bereits im Mutterleib infizieren können und auch noch nach ihrer Geburt über HIV-haltige Muttermilch. 7.6.8 Das adaptive Immunsystem mit seinen Antikörpern ist vermutlich in der Evolution der Chordaten entstanden Immunglobuline, d. h. Antikörper, sind bislang nur bei Wirbeltieren gefunden worden. Allerdings sind Immunglobuline nur eine Unterfamilie einer sehr umfangreichen Protein- bzw. Genfamilie, der Immunglobulin-Superfamilie. Diese Familie umfasst neben den sezernierten Antikörpern (IgM, IgG, IgA, IgE, IgD) die B- und T-Zell-Rezeptoren, den MHC und eine Reihe membranständiger Moleküle, die als Zelladhäsionsmoleküle bekannt sind. Charakteristikum der Superfamilie sind Domänen im extrazellulären Molekülbereich, die ca. 100 Aminosäuren umfassen, β-Faltblattstruktur aufweisen und durch konservierte Disulfidbrücken in ihrer dreidimensionalen Struktur verfestigt sind (Abb. 7.19). Mitglieder dieser Superfamilie finden sich auch bei Wirbellosen und dienen als integrale Membranproteine dem physikalischen Zusammenhalt der Zellen und der wechselseitigen Zellerkennung.
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7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Abb. 7.19. ImmunglobulinSuperfamilie. Ausgewählte, in Immunreaktionen involvierte Vertreter S
S S
S S
S
S
S S
S S
MHC I
S S
S S
MHC II
Major histocompatibilty complex Gewebeverträglichkeits-Signal
Bemerkenswert ist das Vorkommen des MHC bereits bei Tunikaten, namentlich bei sessilen Ascidien. Eine Hypothese versucht, diesen Befund in Zusammenhang mit der sessilen Lebensweise auf einem begrenzten Substrat zu bringen. Vor allem koloniale Ascidien (z. B. Botryllus schlosseri) können, wenn sich die Kolonie beispielsweise auf einem Stein oder einer Schneckenschale ausdehnt, in Berührung zu Nachbarkolonien kommen. Wenn man den Nachbarn als fremd erkennt, kann man sich gegen ihn abgrenzen und versuchen, ihn abzudrängen, um den Lebensraum allein beanspruchen zu können. Ein MHC mag primär als Ausweis der genetischen Identität oder Nichtidentität entwickelt worden sein. Die Erfindung des rätselhaften MHC könnte im Wirbeltier dann geholfen haben, den Lernprozess, der zur Unterscheidung von Selbst und Nichtselbst in jeder Ontogenie geleistet werden muss, zu erleichtern (Rinkevich 1998). Sogar bei Coelenteraten, bei denen ein MHC noch nicht bekannt ist, findet man die Fähigkeit, genetisch fremde (allogene) Nachbarn, die dasselbe Substrat besiedeln, als fremd zu identifizieren und zu bekämpfen. Seerosen beispielsweise und die Hydrozoenkolonie Hydractinia (s. Abb. 27.8) bekämpfen und töten allogene Konkurrenten um den Lebensraum mittels besonderer Nesselzellen. Versuche mit Kolonien von Hydractinia zeigen, dass bei fehlender Abgrenzung verschiedene Individuen (besonders Geschwister sind oftmals gewebeverträglich) zu Chimären verwachsen können. In solchen Chimären können Urkeimzellen des Nachbarn in ein Individuum eindringen und dessen eigene Keimzellen verdrängen. Abgrenzung mittels individualspezifischer Oberflächenmoleküle verhindert „Parasitismus“ durch genetisch fremde Keimzellen.
S S
S S
S S
S
S
S S
S S
S
S S
S S
S S
S
S
S
S
S
S
TCR
BCR
T-Zell-Rezeptor
B-Zell-Rezeptor Antikörper
7.7 Verstärkereffekte und langanhaltende Immunität 7.7.1 Verstärkereffekte führen zur Vermehrung immunreaktiver Zellen Um einer Invasion von Krankheitserregern erfolgreich entgegentreten oder mit einem riesigen Transplantat fertig werden zu können, muss das Immunsystem Millionen und Milliarden von Abwehrzellen rekrutieren. TH-Zellen kurbeln die Proliferation der Antigen-beladenen B-Zellen an und sorgen so dafür, dass Klone geeigneter Abwehrzellen heranwachsen. Aber auch die TH- und TCyt-Zellen müssen vermehrt werden, um die Immunantwort richtig in Schwung zu bringen. Alle Zellen, deren Rezeptoren ein fragliches Antigen erkennen können, werden vermehrt. Dies geschieht dadurch, dass sich diese Zellen durch Aussenden von Wachstumsfaktoren wechselseitig zur Proliferation anregen. Die zwischen Lymphocyten als „Wachstumsfaktoren“ vermittelnden Signalsubstanzen heißen Lymphokine oder, synonym, Interleukine. (Ein noch umfassenderer Ausdruck, der auch andere Wachstumsfaktoren mit umfasst, ist Cytokin). Es gibt viele Interleukine bzw. Cytokine. Ein spezielles Cytokin, das γ-Interferon, verstärkt die Aktivität der Antigen-präsentierenden Zellen und stimuliert sie, mehr MHC auf ihrer Oberfläche zu exponieren.
7.8 Lernen von „Selbst oder Fremd“ und Immuntoleranz
7.7.2 Gedächtniszellen vermitteln langanhaltende Immunität und rasche Reaktivierbarkeit einer Immunantwort Reife, in voller Funktion stehende B- und T-Zellen sind kurzlebig. Um eine langanhaltende Immunität zu erreichen, werden, wenn erst einmal genügend große Klone geeigneter Immunzellen herangewachsen sind, Gedächtniszellen (memory cells) in den lymphatischen Organen deponiert. Es werden nicht nur B-Gedächtniszellen, sondern auch TH- und TCyt-Gedächtniszellen in Reserve gehalten. Tauchen die bekämpften Antigene erneut auf, startet eine erneute Immunantwort nicht mit der Stimulation weniger Stammzellen, sondern vieler Gedächtniszellen.
7.8 Lernen von „Selbst oder Fremd“ und Immuntoleranz 7.8.1 Dem Immunsystem ist die Kenntnis des Selbst nicht angeboren Dem Immunsystem ist weder die Kenntnis von Antigen noch der körpereigenen MHC-Moleküle angeboren. Dass das Immunsystem keine „angeborene“ Kenntnis davon haben kann, was als Antigen im Verlauf des Lebens auftauchen wird, ist plausibel. Doch der MHC ist „angeboren“. Warum sollte nicht auch das Wissen darum, welcher im Individuum vorhanden ist, angeboren sein? Antwort: Es war ja ein genetisches Zufallsspiel, das im Zuge der sexuellen Fortpflanzung die individuellen MHC-Allele zusammenführte. Die MHC-Gene können nicht direkt die somatische Rekombination in der Entwicklung der Lymphocyten dirigieren; denn diese ist ja auch vom Zufall beherrscht. 7.8.2 Der Lernprozess basiert auf positiver Klonselektion oder negativer Klon-Elimination Der Zufall, der bei der Erzeugung der BC-Rezeptoren und TC-Rezeptoren waltet, wird unvermeidlich
auch variable Domänen erzeugen, die körpereigene Moleküle binden. Der Ausleseprozess ist im Falle der B-Zellen – im Prinzip – einfach zu verstehen, im Falle der T-Zellen ist er kompliziert und noch längst nicht voll durchschaut. Die B-Stammzellen, denen das Missgeschick widerfahren ist, eine falsche Losnummer gezogen zu haben, müssen eliminiert werden. Wenn die B-Zellrezeptoren, die übrigbleiben, später doch etwas zum Binden finden, darf dieses Etwas als fremd gelten. Bei den T-Zellen findet, so eine gegenwärtige Hypothese (Abb. 7.20), zunächst eine positive Selektion statt. Nur solche T-Rezeptoren, die einen MHC erkennen können, bleiben im Lieferprogramm. Im Zuge des weiteren Lernvorgangs, der im Thymus abläuft, werden die MHC mit vielerlei körpereigenen Peptidfragmenten dekoriert. Nun findet eine negative Selektion statt. Die T-Zellen, deren Rezeptor exakt auf MHC plus körpereigenes Peptid passt und deshalb ein aggressives Verhalten stimulieren würde, müssen verschwinden. Übrig bleiben dürfen T-Zellen, die potentiell den körpereigenen MHC plus Fremdpeptid binden können. Viele Fragen sind indes noch offen: Wie können die T-Zellen im Thymus mit ausreichend vielen körpereigenen Peptiden konfrontiert werden? Nach neuesten Hinweisen der experimentellen Forschung exprimieren die Antigen-präsentierenden dendritischen Zellen des Thymus und anderer lymphatischer Organe eine Fülle von Proteinen, die charakteristisch für ganz andere Zelltypen sind und die sie für ihren Eigenbedarf gar nicht brauchen, beispielsweise nervenzellspezifische Proteine. Bruchstücke dieser Proteine werden den T-Zell-Adepten vorgezeigt. Wehe sie reagieren darauf aggressiv. Sie werden nicht nur von der Schule verwiesen, sondern zum Suizid (Apoptose) getrieben. Es kommt zu einer negativen Klonselektion (Klon-Deletion, Klon-Elimination). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass das Steroidhormon Cortisol, das in der Medizin viel zur Unterdrückung allergischer Immunantworten eingesetzt wird, die Apoptose vieler T-Zellen im Thymus auslöst. Die gewaltige Aufgabe, zwischen Selbst und Nichtselbst unterscheiden lernen zu müssen, wird insofern verringert, als manche Gewebe durch Schranken vom Immunsystem getrennt sind, z. B. das Zentralnervensystem durch die Blut-Hirn-Schranke, die Spermien-produzierenden Hodenkanälchen durch
181
182
7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Abb. 7.20. Hypothese über die Lernprozesse im Thymus. Nach derzeitiger Vorstellung besteht der Lernprozess in der Auslese und Elimination der Lymphocyten, welche entweder den körpereigenen MHC-Komplex gar nicht erkennen, oder mit körpereigenen Peptiden beladenen MHC mit hoher Affinität binden. Übrig bleiben Lymphocyten, die potentiell MHC mit Fremdpeptiden mit hoher Affinität binden. In den lymphatischen Organen (Milz, Lymphknoten) und in der Peripherie (z. B. in den Schleimhäuten und in den Lungenalveolen), kommt es dann zur Vermehrung derjenigen Lymphocyten, deren Rezeptoren fremdes Antigen aufgespürt haben. Ein Teil der Tochterzellen wandert in die Lymphknoten, um dort als Gedächtniszellen zu verbleiben
Lernprozess im Thymus TH
MHC II
TCR passt nicht auf Eigen-MHC
TCyt
1. Negative Klon-Selektion
MHC I Apoptose
Epithelzelle des Thymus
TH
TH
TH
TCyt
TCyt
TCyt
TH
1. Positive Klon-Selektion
TCR passt zu gut auf Eigen-MHC + Eigen-Antigen
TCyt
Dendritische Zelle
TCR passt leidlich auf Eigen-MHC, wird nicht zu Aggressivität stimuliert
2. Negative Klon-Selektion Apoptose
In lymphatischen Organen und Peripherie TH
MHC II
TH
TH
TH
TH Gedächtniszelle
APZ
TCR erkennt Fremd-Antigen auf MHC
Stimulation = 2. Positive Selektion TCyt
TCyt MHC I
TCyt
TCyt
Epithelzelle Gedächtniszelle
7.8 Lernen von „Selbst oder Fremd“ und Immuntoleranz
die Blut-Hoden-Schranke, etc. Umso schlimmer, wenn diese Schranken durchbrochen sind. Der Lernvorgang findet bei der Maus zur Zeit der Geburt statt und ist unter anderem eine Funktion der Antigendosis. Wird zu dieser Zeit Antigen in hoher Dosis präsentiert (z. B. durch eine Bluttransfusion), kann leicht Immuntoleranz erzeugt werden. Eine Bluttransfusion erzeugt Toleranz für den fremden MHC und deshalb auch Toleranz für Transplantate, Später ist die Erzeugung einer Immuntoleranz viel schwieriger. Auch beim Menschen ist die frühe Jugend die Zeit des Lernens. Später degeneriert der Thymus weitgehend; es bleiben aber noch dendritische Zellen als Lehrer in anderen lymphatischen Organen, sodass auch später im Leben noch das eine und andere „Fremdwort“ gelernt werden oder Toleranz gegenüber einem Transplantat eingeübt werden kann.
ErythrocytenAntigen
erlaubte Antikörper
A Anti-B
B Anti-A
AB
0
7.8.3 Das Blutgruppensystem ist Resultat des Lernvorgangs Die Blutgruppen des ABO-Systems sind nach Antigenen der Erythrocyten klassifiziert. Tragen die Erythocyten das antigene Glykoprotein A, muss das Immunsystem die B- und T-Stammzellen mit AntiA-Rezeptoren eliminieren, Anti-B-Varianten dürfen bleiben. Liegt Glykoprotein B vor, dürfen Anti-AVarianten überleben. Bei der Blutgruppe AB sind weder Anti-A noch Anti-B erlaubt. Haben die Erythocyten hingegen weder A noch B (Gruppe 0), dürfen sowohl die Stammzellen mit Anti-A als auch die mit Anti-B-Varianten überleben (Abb. 7.21). Für weitere potentielle Antigene (z. B. MN-System, Rhesusfaktoren) gilt Entsprechendes. 7.8.4 Der Rhesus-Faktor: Ein mögliches Problem in der Beziehung von Mutter und Kind Erythrocyten können außer den üblichen Blutgruppen-Oberflächen Antigenen (s. Abschn. 7.8.3), einen molekularen Komplex auf ihrer Oberfläche tragen, dessen homologe Variante im Blut von Rhesusaffen entdeckt worden ist. Der Komplex kann in verschiedenen immunologischen Varianten vorliegen, in Rh-positiven Varianten, die das Immunsys-
Anti-A; Anti-B
Abb. 7.21. Klassisches Blutgruppen-System des Menschen
tem zur Produktion von Antikörpern anregen, und in Rh-negativen Varianten, die dem Immunsystem weitgehend gleichgültig sind. Nun nehmen wir den folgenden Fall an: Die Erythrocyten der Schwangeren exprimieren den Komplex in einer immunologisch unwirksamen Variante; sie sind Rhesus-negativ. Das Kind der Schwangeren hingegen habe Allele vom Vater geerbt, welche die Erythrocyten Rhesus-positiv machen. Dringen Erythrocyten des Kindes über die Plazentaschranke hinweg ins mütterliche Blut, erzeugt die Mutter Anti-Rh-Antikörper. Diese wiederum gelangen über die undichte Plazentaschranke hinweg in den Blutkreislauf des Kindes und verursachen Verklumpung und Lyse kindlicher Erythrocyten durch das Komplementsystem (Abb. 7.22). Bei einer ersten Schwangerschaft ist die Konzentration an solchen Anti-Rh-Antikörpern meistens noch gering und für das werdende Kind noch nicht lebensgefährlich. Doch bei einer weiteren Schwangerschaft ist die Mutter sensibilisiert, eine Besonderheit des lernfähigen Immunsystems, die – wie nachfolgend erläutert – mit Gedächtniszellen zu tun hat. Weiß man um die Gefahr, werden vom
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184
7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte Abb. 7.22. Gefahr für das Kind durch das Immunsystem der Mutter, beispielhaft angezeigt durch die vom Rhesusfaktor ausgelöste Immunabwehr. Der Rhesusfaktor ist ein Glykoproteinkomplex auf der Oberfläche der Erythrocyten, der in verschiedenen Varianten auftreten kann. Rhesus-positiven Erythrocyten (hier des Kindes) tragen Varianten, die das Immunsystem eines Rhesus-negativen Individuums (hier der Mutter) als fremd behandelt. Geraten Rhesuspositive Erythrocyten des Kindes durch eine undichte Plazentaschranke (oder bei der Geburt eines früheren Kindes) in den mütterlichen Organismus, erzeugt dieser Antikörper gegen den Rhesusfaktor des Kindes. Diese Antikörper können in den kindlichen Kreislauf gelangen, an die Rh-positiven Erythrocyten binden und Schaden anrichten (aus Müller u. Hassel (2006) Entwicklungsbiologie, 4. Aufl.)
Rh-positiver Erythrocyt aus Kind
B Rh-negative Erythrocyten der Mutter
Makrophage
Ile
2 TH Vom mütterlichen Immunsystem produzierte Anti-Rh Antikörper
Einige Erythrocyten des Kindes passieren undichte Plazentaschranke
Arzt kommerziell beziehbare Anti-Rh-Antikörper ins mütterliche Blut eingeführt. Sie sollen den RhKomplex der eingedrungenen kindlichen Erythrocyten abdecken und so für das Immunsystem der Mutter unsichtbar machen. Sofern dies gelingt, bleiben auch die Gedächtniszellen der Schwangeren in ihrem Ruhezustand. 7.8.5 Fehlerhaftes Lernen und falsche Entscheidungen: Autoimmunreaktionen Viele Komponenten unseres Körpers sind im Regelfall dem Immunsystem entzogen: intrazelluläre Kom-
dringen durch die Plazentaschranke
ponenten wie DNA und RNA, ganze Gewebe wie Gehirn und Hoden, wo Blut-Gehirn- und Blut-HodenSchranken den Lymphocyten keinen oder nur vereinzelt Zugang erlauben. Hier kann entsprechend kaum gelernt werden, was Fremd und was Eigen ist. Wird nun aber eine solche Abschirmung unterbrochen, ist der Konflikt unvermeidlich. In günstigen Fällen mag sich eine Immuntoleranz entwickeln, in ungünstigen Fällen wird es zu Autoimmunkrankheiten kommen. Als Autoimmunkrankheiten werden angesehen, oder doch diskutiert: ●
Insulin-abhängiger Diabetes (Typ-I-Diabetes),
●
Morbus (= Krankheit) Addison der Nebenniere,
7.9 Entzündungen, Allergien und hemmender Einfluss von Stresshormonen ●
Morbus Basedow der Schilddrüse,
●
perniziöse Anämie und atrophische Gastritis, die sich gegen den Magen wenden,
●
Myokarditis, eine Erkrankung des Herzens,
●
Autoimmunkrankheit des Hodens,
●
multiple Sklerose des ZNS,
●
rheumatoide Arthritis,
●
Lupus erythematodes, der mit gerötetem Hautausschlag beginnt.
7.9 Entzündungen, Allergien und hemmender Einfluss von Stresshormonen 7.9.1 Bei vielen Immunreaktionen, einschließlich Entzündungsreaktionen, Allergien und Autoimmunkrankheiten, sind weitere Immunzellen wie Makrophagen, Granulocyten und Mastzellen beteiligt Wenn Forscher auf dem Gebiet der Immunologie gegenwärtig ihr Augenmerk hauptsächlich auf BZellen und T-Zellen richten, so bedeutet dies nicht, dass nicht auch andere Zelltypen an immunologischen Reaktionen beteiligt wären. Wenn im Verlauf einer Erstinfektion die B-Lymphocyten bzw. Plasmazellen mehr und mehr Antikörper produzieren, behalten sie bei der Codierung der variablen Region das bewährte Programm, um dessentwillen sie ja selektioniert worden sind, bei, kuppeln aber an die variable Region verschiedene konstante Stielregionen an. So setzen B-Zellen nach IgM- und IgG-Antikörpern schließlich auch IgE frei. Mastzellen und basophile Granulocyten fangen diese IgE-Antikörper ein, um sich selbst mit Rezeptoren auszustatten. Sie sind nun in der Lage, eigenständig eine drohende Gefahr zu erkennen. Taucht das betreffende Antigen erneut auf, locken die präparierten Mastzellen mit ihren Signalsubstanzen Lymphocyten, Granulocyten und Makrophagen zum Infektionsherd. Entzündungsreaktionen kommen von Mal zu Mal schneller und heftiger in Gang. Die freigesetzten Signalsubstanzen, darunter Histamin, lösen darüber hinaus eine Erweiterung der örtlichen Blutkapilla-
ren aus. Der Infektionsherd rötet und erwärmt sich. Der verlangsamte Blutstrom erleichtert den Durchtritt des antikörperhaltigen Blutserums und der angelockten Immunzellen durch die Endothelien; der Infektionsherd schwillt an. Die rekrutierten Makrophagen und die neutrophilen Granulocyten bereiten makromolekulare Antigene auf und präsentieren den T-Zellen herausgebrochene Peptid-Antigene mittels ihres MHC II. Damit werden einerseits die Antigene abgebaut, andererseits wird die Immunantwort verstärkt, weil mehr und mehr T-Zellen aktiviert werden. Auch die eosinophilen und basophilen Granulocyten, deren funktionelle Charakterisierung noch längst nicht abgeschlossen ist, sind vielstimmig im Konzert der Immunzellen beteiligt. Überreaktionen des Immunsystems führen zu Allergie, Fehlreaktionen zu Autoimmunkrankheiten. Folge allergischer Reaktionen sind beispielsweise Hautquaddeln, Rhinitis (Heuschnupfen) oder Asthma bronchiale (Verengung und Verschleimung der unteren Atemwege). Im schlimmsten Fall, besonders oft nach wiederholter intravenöser Zufuhr von Medikamenten in die Blutbahn, kann es zum tödlichen anaphylaktischen Schock kommen. 7.9.2 Die Zellen des Immunsystems haben Hormonrezeptoren und lassen sich durch Stresshormone wie Cortisol in Anzahl und Aktivität drosseln Gegen Pein-erzeugende Entzündungen, lästige bis lebensgefährliche Allergien, zur Dämpfung von Autoimmunkrankheiten und zum Überlebensschutz von Transplantaten werden in der Medizin Cortisolpräparate eingesetzt (Salben, Spritzen, meistens synthetische Cortisolanaloga enthaltend). Cortisol ist ein Hormon der Nebennierenrinde, das bei langanhaltendem Stress vermehrt in die Blutbahn entlassen wird. Von seinen vielfältigen Wirkungen (s. Kap. 11, Hormone) ist hier seine immunsuppressive Wirkung von Belang. Cortisol drosselt das Aussenden von Alarmsubstanzen (Interleukine, Interferone, Prostaglandine) durch Immunzellen, die sich in Entzündungsherden versammelt haben, und es führt langfristig zu einer Verminderung der Zahl der Immunzellen, besonders der T-Zellen. Das Knochenmark liefert weniger T-Lymphoblasten; im
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7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte
Thymus unterwerfen sich unter dem Einfluss von Cortisol T-Zellen vermehrt dem programmierten Zelltod. Die Zellen des Immunsystems besitzen nicht nur Rezeptoren für Cortisol, sondern auch für das Stresshormon Adrenalin, für das schmerzdämpfende βEndorphin, aber auch für Wachstumshormon und Prolactin. Besonders Makrophagen sind reich mit Hormonrezeptoren ausgestattet. Ob es Sinn macht, bei Stress das Immunsystem zu drosseln? Was soll Prolactin bewirken? Plausible Antworten sind nicht leicht zu finden; Erkenntnisse gibt es noch kaum.
7.10 Aus der Praxis des Labors: monoklonale Antikörper und Immunfluoreszenz 7.10.1 Antikörper werden in der Forschung und im medizinischen Diagnoselabor benötigt Antikörper haben in der Medizin und in der Forschung große Bedeutung als diagnostisches Hilfsmittel, als spezifische Zellmarker und als spezifisch absorbierende Matrixkomponenten in der Affinitätschromatographie erlangt. Auch die zoologische Systematik kann von Antikörpern Gebrauch machen. In der Mikroskopie wird besonders viel die indirekte Immunfluoreszenz eingesetzt: Der diagnostische Antikörper, der beispielsweise durch Immunisierung eines Kaninchens gewonnen worden ist, findet seine Zelle oder subzelluläre antigene Struktur und haftet daran. Ein zweiter Antikörper erkennt am konstanten Stiel des ersten Antikörpers, dass dieser aus dem Kaninchen stammt, und heftet sich an den Stiel. Dieser zweite Antikörper ist mit einem Fluoreszenzfarbstoff gekoppelt. Indirekt wird im Mikroskop die Anwesenheit des Antigens durch Aufleuchten des Farbstoffes sichtbar.
7.10.2 Hybridomazellen erzeugen (nahezu) unbeschränkt lange monoklone Antikörper gleichbleibender Qualität Für die Diagnostik wünscht man sich Antikörper definierter, gleichbleibender Qualität und in unbegrenzter Menge. Bei einer Immunisierung werden im Regelfall mehrere B-Stammzellen einen mehr oder weniger passenden Rezeptor haben, oder auch verschiedene B-Zellen unterschiedliche Epitope des gleichen Antigens binden können. Entsprechend wird das „Antiserum“, das man gewinnt, Antikörper aufweisen, die von verschiedenen B-Stammzellen codiert worden und daher nicht exakt gleich sind. Das Antiserum bzw. die darin befindlichen Antikörper sind „polyklonal“. Monoklonale Antikörper lassen sich gewinnen, wenn eine einzige B-Zelle, die den passenden Antikörper liefern kann, ausgesucht wird. Leider sind produzierende B-Zellen, Plasmazellen also, kurzlebig und können nicht in der Zellkultur vermehrt werden, weil sie ihre Teilungsfähigkeit eingebüßt haben. Bringt man nun B-Stammzellen zur Fusion mit cancerös transformierten (zu Krebszellen veränderten) B-Vorläuferzellen, so kann im Glücksfall unter zahlreichen Fusionsprodukten auch die eine oder andere Hybridomazelle entstehen, die die besonderen Fähigkeiten beider Ausgangszellen in sich vereinigt: Sie ist unsterblich und in der Kultur vermehrbar wie eine Krebszelle, produziert andererseits den gewünschten Antikörper wie eine Plasmazelle. Die Kunst des Laborpersonals ist es, in einem Screeningverfahren solche Zellen zu finden. Neuerdings bringt man auch transgene Bakterien oder eukaryontische Laborzellen dazu, Teile von Antikörpern zu erzeugen. Schließlich haben Ökonomie und Tierschutz weitere Verfahren gefördert. Hühner deponieren in ihren Eiern Antikörper. Man braucht immunisierte Hühner nur zur fleißigen Eiproduktion anzuregen. Die aus dem Ei gewonnenen Antikörper heißen IgY, Y = yolk; sie sind den IgA und IgG der Säuger Struktur-homolog.
Zusammenfassung des Kapitels 7
Zusammenfassung des Kapitels 7 Aufgabe des Immunsystems ist es, gealterte, entartete und Virus-infizierte körpereigene Zellen, fremde Eindringlinge und makromolekulare Fremdsubstanzen (Antigene) zu beseitigen. Dazu müssen Fremdzellen und Fremdmaterialien erst einmal als solche erkannt werden. Im ganzen Tierreich gibt es hierzu angeborene Immunsysteme, repräsentiert vor allem von Phagocyten, die mittels einer Kollektion besonderer pattern recognition receptors PRR an spezifische Oberflächenstrukturen von Bakterien, Pilzen und anderen Parasiten binden und deren Phagocytose ermöglichen. Das „Wissen“ um diese charakteristischen molekularen Strukturen, d. h. die Fähigkeit PRR herzustellen, die beispielsweise Lipopolysaccharide LPS der gramnegativen Bakterien oder β-1,3-Glucane der Hefepilze binden können, ist in der Evolution erworben worden. Darüber hinaus werden Infektionen durch bakteriozide Peptide bekämpft, oder es werden, so bei Insekten, mittels Prophenoloxidasen aus Phenylalanin schwarze makromolekulare Melanin-Gespinste zur Einkapselung von Parasiten hergestellt. Auch gibt es bereits bei Wirbellosen Komplementfaktoren – das sind Enzymkaskaden, die Perforine zum Durchlöchern fremder Zellmembranen herstellen. Angeborene ( innate) Immunsysteme reagieren rasch, können aber nicht rasch auf noch Unbekanntes ausgeweitet werden, weil erst passende Erkennungsrezeptoren gefunden werden müssen. Wirbeltiere haben darüber hinaus ein lernfähiges Immunsystem, das es ihnen ermöglicht, in wenigen Tagen auf neue und noch unbekannte Antigene zu reagieren und spezifische Antikörper zu entwickeln. Lernende und handelnde Zellen sind Lymphocyten, speziell B-Zellen und T-Zellen, die mit ihren Rezeptoren (BCR und TCR) die Anwesenheit eines Antigens erspüren. Die Yförmigen Antikörper entsprechen in ihrer tetrameren Struktur (2L + 2H-Ketten) weitgehend den BCR und werden von Plasmazellen, Abkömmlingen der B-Zellen, produziert. Die Lernstrategie besteht darin, dass in B- und T-Stammzellpopulationen jede Stammzelle durch ein Zufallspiel
einen Rezeptor beliebiger Spezifität herstellt, und ein gebundenes Antigen jene Stammzellen zur Vermehrung stimuliert, die zufällig einen passenden Rezeptor gefunden haben (positive klonale Selektion). Das Zufallspiel besteht darin, dass aus einer großen Auswahl von DNA-Segmenten (z. B. 40 V-, 25 D-, 6 J- und 5 C-Segmente für die H-Kette des BCR) mehrere Segmente durch eine somatische Rekombination aneinander gekoppelt und zur Codierung der Rezeptoren benutzt werden. Große Mannigfaltigkeit, teilweise erweitert durch variables Processing der mRNA, herrscht bei der Codierung der Antigenbindungstaschen (der BCR und entsprechend die Antikörper haben zwei Taschen, der TCR hat eine). Ein Teil der positiv ausgelesenen B- und T-Stammzellen wird als Gedächtniszellen für zukünftige Immunreaktionen in lymphatischen Organen beiseite gelegt. Austausch des Endstücks (C-Region) der Antikörper gegen andere C-Segmente ermöglicht es B-Zellen, für verschiedene Funktionen verschiedene Klassen von Antikörpern gleicher AntigenSpezifität herzustellen. IgG Antikörper verklumpen gelöste Antigene und markieren Oberflächenantigene fremder Zellen, und lösen dadurch deren Phagocytose durch Makrophagen aus. Die Markierung durch IgG (Opsonierung) löst auch Komplementreaktionen aus. IgA werden in die Muttermilch sezerniert und dem Säugling zur Verfügung gestellt. Besonders komplexe Reaktionen helfen Antigene zu erkennen, die Proteinnatur haben und intrazellulär sind sowie beispielsweise von viralen Genomen codiert werden. Von Bedeutung sind hier MHC (mayor histocompatibility complex) genannte dimere Oberflächenmoleküle der körpereigenen Zellen, von denen es viele individualspezifische Varianten gibt. Immunzellen tragen MHC der Klasse II, sonstige Körperzellen MHC der Klasse I. Professionelle Antigen-präsentierende Zellen APC des Immunsystems (B-Zellen, dendritischen Zellen, Makrophagen) aber auch virusinfizierte Körperzellen zerlegen phagocytierte Antigene und intrazelluläre Proteine jeglicher Art laufend durch Proteasome in Bruchstücke; alsdann werden ca. 9 AS-lange Peptide in
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7 Immunologie und die Entsorgung großer Abfallprodukte
eine Rinne der MHC-Komplexe gelegt und mit diesen an die Zelloberfläche gebracht. Die so mittels MHC präsentierten Antigene werden von T-Helferzellen mit ihrem TCR kontrolliert; dabei bilden die Antigen-präsentierenden APC und die kontrollierenden T-Zellen eine „immunologische Synapse“ genannte Kontaktstruktur. Wird ein Antigen als fremd erkannt, werden über Signalmoleküle (Interleukine, Cytokine) aggressive Reaktionen ausgelöst, beispielsweise wird eine virusinfizierte Zelle durch cytotoxische T-Killerzellen abgetötet. HIV-Viren allerdings befallen gerade Zellen des Immunsystems (T-Helfer) und verursachen dadurch AIDS (acquired immunodeficiency symptoms). Eine weitere Klasse von Immunzellen, die NK-Zellen (natural killer cells) greifen Zellen an, die gar keinen MHC haben und sich so als Parasiten verraten. Da die Vielfalt der TCR und BCR, und mit diesen auch der Antikörper, durch zufällige somatische Rekombination erzeugt wird, ist es unausbleiblich, dass auch körpereigene Substanzen gebunden werden könnten – was eine Autoim-
munreaktion zur Folge hätte. In einem Prozess des Lernens, der sich im Thymus und anderen lymphatischen Organen abspielt, werden Immunzellen, die sich gegen Körpereigenes richten könnten, durch Apoptose eliminiert. Das bekannte AB0-Blutgruppensystem ist Ergebnis dieses Lernvorgangs. Der Lernvorgang ist noch weitgehend unverstanden. Die gegenwärtige Forschung untersucht schwerpunktmäßig die Elimination potentiell autoaggressiver T-Zellen, denen in der Lernphase durch dendritische Zellen vielerlei körpereigene Peptidbruchstücke präsentiert werden. Nur solche T-Zellen überleben die Lernphase, die keine Aggressivität gegen Körpereigenes entwickeln. Das lernfähige Immunsystem birgt auch Risiken. Überschießende Reaktionen führen zu Allergien, Fehler beim Lernprozess zu Autoimmunkrankheiten wie multiple Sklerose und Typ I-Diabetes. Es werden auch Labormethoden vorgestellt, die auf (polyklonalen oder monoklonalen) Antikörpern basieren.
8
Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane nebst einer Tauch- und Bergexkursion
8.1 Was „Atmung“ meinen kann 8.1.1 Atmung als „äußere Atmung“ heißt: Versorgung des Körpers mit Sauerstoff und seine Entsorgung von Kohlendioxid Leben beruht auf unaufhörlichem Energieumsatz. Unsere Zellen fordern ständig Sauerstoff O2 an, müssen andererseits das in den Mitochondrien anfallende Kohlendioxid CO2 rasch loswerden. Der Mensch kann wochenlang, manche Tiere monatelang, ohne Nahrungsaufnahme leben, aber nur wenige Minuten ohne Atemzug. Auch scheinbar anspruchslose Tiere sind hier recht empfindlich. Eine Verarmung des Wassers an Sauerstoff kann schnell dazu führen, dass Fische mit dem Bauch nach oben an die Wasseroberfläche kommen – aber tot. In diesem Kapitel geht es um die „äußere Atmung“, das heißt darum, wie der Sauerstoff zu unseren Zellen gelangt und wie das Abfallprodukt CO2 ohne Schaden entsorgt werden kann. SauerstoffVersorgung und Kohlendioxid-Entsorgung wird im Lehrbuch oft auch unter der Überschrift „Gasaustausch“ abgehandelt. 8.1.2 Lehrbücher kennen aber auch eine „innere Atmung“, worunter der zellinterne oxidative Stoffwechsel verstanden wird „Innere Atmung“ meint den oxidativen Stoffwechsel in den Mitochondrien der einzelnen Zellen. Die Energiegewinnung über Citratcyclus und Atmungskette haben wir ja schon besprochen (s. Kap. 2) und wir wissen auch, dass der respiratorische Quotient,
das Verhältnis von ausgeatmetem CO2 zu eingeatmetem O2 (RQ = CO2/O2, in Liter) uns Hinweise gibt, ob unsere Zellen im Augenblick überwiegend Kohlenhydrate oder Fette „veratmen“.
8.2 Diffusion und Konvektion der Atemgase 8.2.1 Partialdruckdifferenzen bestimmen die generelle Richtung des Gasflusses Beim Thema Sauerstofftransport kommt uns sogleich der rote Blutfarbstoff, das Hämoglobin, in den Sinn. Für die Richtung des Gastransports ist der rote Blutfarbstoff jedoch nicht von Belang. Es sind allein die Unterschiede in den Partialdrücken ( pO2, pCO2) zwischen Luft und venösem Blut, welche die Richtung bestimmen (Abb. 8.2).
8.2.2 Im großen Körper reicht Diffusion nicht aus; sie muss von Ventilation, Perfusion und Konvektion unterstützt werden Die Mengen an Sauerstoff, die in der Zeiteinheit im Körper verteilt werden können, und die Mengen an Kohlendioxid, die eingesammelt und entsorgt werden können, werden nicht nur von den jeweiligen Partialdruck-Differenzen bestimmt. ●
Als erstes ist die Dimension der Austauschflächen wichtig. Daher sind die Alveolen in der Lunge winzig (0,2–0,3 mm) und zahlreich (ca. 300 Mio.; s. Abb. 8.1). Die Lunge des Menschen
190
8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
BOX 8.1
Zur Physik der Atemgase 1. Drücke und Druckeinheiten Eine Rekapitulation vor dem Durchatmen und Tauchen Druck ist definiert als Quotient Kraft/Fläche. Innerhalb von Gasen bzw. Flüssigkeiten kann der Druck zwar von Stelle zu Stelle wechseln – beispielsweise nimmt der hydrostatische Druck, der auf dem Taucher lastet, mit zunehmender Tauchtiefe zu – ist aber an jeder Stelle richtungsunabhängig. Auf eine dorthin gebrachte Fläche wirkt er unabhängig von deren Orientierung: auf die Bauchseite wirkt er nicht minder als auf die Rückenseite des Tauchers. (In festen Körpern, z. B. im aufspringenden Bein, ist der Druck hingegen richtungsabhängig, also eine vektorielle Größe.) In der Luft und im Wasser wirkt der Druck nach allen Richtungen mit demselben Betrag. p (pressure) =
F (force) A (area)
N = 1 Pascal = 1 Pa m2 1 hPa (Hektopascal) = 102 Pa = 100 Pa = 0,1 kPa (Kilopascal) 1 kPa (Kilopascal) = 103 = 1000 Pa Grundeinheit:
Da als 1 Pa ein sehr niederer Druck definiert ist, werden Drücke bevorzugt in hPa oder kPa angegeben.
1 Torr = 1 mmHg (Quecksilbersäule); es gilt: 760 Torr = 1013 mbar = 1013 hPa = 1 atm ≈ „Normal“luftdruck über „Normal-Null“. und: 750 Torr = 1 bar = 1000 hPa. 2. Partialdrücke in der Gasphase Die Richtung, in der sich die Mehrzahl der Moleküle in ihrer ungeordneten thermischen Bewegung forttreiben lässt (translatorische, fortschreitende Bewegung im Raum), wird von der Richtung des Konzentrationsgefälles bestimmt. Dies gilt auch für die Atemgase Sauerstoff O2 und Kohlendioxid CO2, ob sich die Moleküle nun in der Gasphase „Luft“ befinden oder in Wasser gelöst. In Luft wie im Lösungsmittel Wasser ist die Konzentration eines Gases äquivalent zum Partialdruck. Entzieht man Luft den Sauerstoff, sinkt der Luftdruck um 21%. Offenbar trägt der Sauerstoff zu 21% zum Gesamtluftdruck bei. Sein Partialdruck pO2 ist 21 kPa (genauer 20,95% – kleine Ungenauigkeiten wollen wir in Anbetracht der täglichen Luftdruckschwankungen und zur Entlastung unseres Gedächtnisses gerne in Kauf nehmen). Natur und Physiker machen es uns ausnahmsweise einmal leicht: 100% Gesamtluftdruck = 100 Volumenprozent = 760 mmHg 101 kPa = 21% Partialdruck = 21 kPa 21 Volumenprozent = = 0,21 × 760 mmHg.
Andere Einheiten: 1 bar = 1000 mbar = 10 N/cm2 = 1000 hPa
Standardluft (wasserfrei, Meeresspiegel, gemittelte und gerundete Werte) hat
Dies entspricht annähernd dem „Normal“-Luftdruck über der Meeresoberfläche, exakt dem Druck von 1 kg auf 1 cm2 Unterlagenfläche.
●
79% molarer Anteil = 79% Volumenanteil = 79 kPa Stickstoff
●
21% molarer Anteil = 21% Volumenanteil = 21 kPa Sauerstoff
●
0,038 kPa Kohlendi0,038% Volumenanteil = oxid.
●
Rest: Edelgase, Ozon etc.,
●
dazu 6,3 kPa H2O-Dampf bei 37°C und Sättigung. 7
1 mbar = 100 N/m2 = 1 hPa; dies entspricht dem Druck von 1 g auf 1 cm2. Bei (älteren) Anzeigeinstrumenten des Labors, in der physiologischen und medizinischen Literatur und auch in der Meteorologie liest man noch oft alte Einheiten, die im amtlichen Verkehr nicht mehr benutzt werden sollten.
191
8.2 Diffusion und Konvektion der Atemgase
BOX 8.1 (Fortsetzung)
Die an einem gegebenen Ort in der Luft tatsächlich vorhandenen Mengen – und entsprechend die Drücke – sind allerdings sehr stark von der Höhe des Ortes über dem Meeresspiegel abhängig (Tabelle 8.1). Physikalische Normbedingungen: Angaben bei Gasen beziehen sich in der Regel auf Normbedingungen (irreführend auch Normalbedingungen genannt). Sie liegen vor bei einem äußeren Druck von 1013 mbar bei einer (nicht eben normalen) Temperatur von 0° C. Normdruck p0 = 1013 mbar = 1,013 bar = 101 kPa (= 760 Torr) Normtemperatur T0= 0° C = 273,15 K. Normvolumen V0 eines Gases ist das Volumen eines Mols unter Normbedingungen. Für sämtliche idealen Gase, und darunter fallen auch O2 und CO2, ist das Normvolumen gleich (Gesetz von Avogadro): V0 = 22,4 l (genauer: 22,414 l). Dabei ist 1 mol definitionsgemäß eine Teilchenzahl (also nicht eine Masse), gegeben durch die Avogadro-Konstante NA = 6,022 × 1023 Teilchen/mol. Entsprechend enthalten 22,41 l Sauerstoffgas 6,022 × 1023 O2-Moleküle. Partialdruck. Der Druck eines Gases ist proportional zur Zahl seiner Moleküle und damit auch zu seiner molaren Konzentration, unabhängig davon, ob noch andere Gase anwesend sind oder nicht. Daher gilt: Der Partialdruck eines bestimmten Gases innerhalb eines Gasgemisches entspricht dem Anteil seiner Moleküle, d. h. seiner molaren Konzentration. Entsprechend sind auch die Zahlen der Moleküle, die sich im Volumen Luft befinden, aufgegliedert. Ein Liter Luft enthält 20,95% der Avogadrozahl, das sind = 1,265 × 1023 O2-Moleküle. Der Partialdruck von Sauerstoff in der Luft ist:
●
molarer Anteil: 20,95% = 20,95/100 = 0,2095
●
Partialdruck pO2 = 0,2095 × p0 = 0,2095 × 101,3 kPa = 21,22 kPa
3. Partialdruck und gelöste Menge im Wasser: hier gibt es Probleme Sofern ein Konzentrationsgefälle vorliegt, dringen Gasmoleküle in Wasser ein. Den ungeordneten thermischen Molekülbewegungen überlagert sich eine Driftbewegung in Richtung des Konzentrationsgefälles. Wann aber ist Konzentrationsausgleich erreicht, wenn Luft und Wasser aneinander grenzen? Misst man die Menge an Sauerstoff, die im Wasser gelöst ist, fallen beachtliche Unterschiede zur Luft auf. Die Konzentration (Volumenprozent) ist extrem schwankend und auch im günstigsten Fall viel geringer als in der Luft. Zwar löst sich jedes Gas im Wasser nach Maßgabe seines Partialdruckes, bis schließlich Gleichgewicht der Partialdrücke in Luft und Wasser herrscht. Ist das Wasser mit Sauerstoff voll gesättigt, ist sein Partialdruck 21 kPa wie in der Luft. Gleichgewicht und Sättigung werden freilich nur bei langer, kräftiger Durchlüftung erreicht. Doch das ist nicht das Hauptproblem. Nach dem Gesetz von Henry ist die Menge an gelöstem Gas M nicht nur eine Funktion des Partialdruckes px sondern auch eine Funktion des gasspezifischen Löslichkeitskoeffizienten α: Mx = αx × px × Volumen V. Es kommen weitere Parameter ins Spiel: ●
die für O2 und CO2 unterschiedlichen Löslichkeitskoeffizienten. Sauerstoff hat nur 1/20 der Löslichkeit von Kohlendioxid (Tabelle 8.2),
●
die Temperaturabhängigkeit der Löslichkeit,
●
die Abhängigkeit von Wassertiefe und Salzgehalt.
Ein hoher Salzgehalt erniedrigt die Löslichkeit für Sauerstoff – und Blutplasma ist eine Salzlösung!
7
192
8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
BOX 8.1 (Fortsetzung)
Enthält 1 l Luft 210 ml Sauerstoff, so enthält bei 37°C und Sättigung 1 l Blutplasma lediglich 4 ml Sauerstoff. Um diese geringe Kapazität aufzubessern, haben tierische Organismen die Blutfarbstoffe, z. B. Hämoglobin, erfunden. Der CO2-Gehalt des Blutplasmas kann erheblich höher sein als der CO2-Gehalt von luftdurchperltem Wasser. Die Löslichkeit von CO2 ist 20fach höher als die von Sauerstoff, und wenn die Gewebe CO2 produzieren, ist der Partialdruck im Blut sehr schnell höher als in der Luft. Hingegen kann der pO2 im Körper nur geringer als in der Luft sein, weil es im tierischen Organismus nur Sauerstoffverbrauch aber keine Sauerstoffproduktion gibt (es sei denn, man beherberge – wie viele Korallenpolypen – symbiontische Algen).
Wie viel von S diffundiert, ist eine Funktion nicht der Konzentration c (mol/l), sondern des Konzentrationsgefälles entlang der Strecke x (Δc/Δx) genauer des Konzentrations-Gradienten (∂c/∂x) bzw. des Partialdruck-Gradienten (Druckänderung pro Längeneinheit). Die in der Zeiteinheit hindurchströmende Menge wird ausführlich Teilchennettostromdichte genannt, kurz Teilchenstrom oder Fluss, und in der Regel mit J bezeichnet (normiert als mol m−2 s−1). Für 1 Dimension gilt das nach Adolf Fick benannte 1. Fick’sche Gesetz: Formuliert für Konzentrationsdifferenzen: J = −D(Δc/Δx)
4. Gesetze der Diffusion Physikalische Grundbeobachtungen. Existieren innerhalb eines Gases oder Gasgemisches Unterschiede in den örtlichen Partialdrücken, dann findet ein Druckausgleich durch Diffusion statt. (Das trifft allerdings nicht für den Schweredruck zu!) Sind verschiedene Gase anfänglich räumlich getrennt, dann diffundieren sie im Laufe der Zeit ineinander, auch wenn der Manometer keinen Unterschied im Gesamtdruck zwischen den beiden Räumen messen kann. Parfum verbreitet sich in die Umgebung, auch wenn kein Luftdruckgefälle vorliegt. Ein Gefälle im Partialdruck der Parfummoleküle genügt. Was für Moleküle in der Gasphase gilt, gilt entsprechend für Moleküle, die in Flüssigkeit gelöst sind. Für die Physiologie sind von besonderer Bedeutung stationäre Diffusionsvorgänge, bei denen auf der einen Seite einer Grenzfläche laufend Moleküle (z. B. CO2, Blutzucker) zuströmen, auf der anderen Seite wegdiffundieren. Wir betrachten daher jene Fälle, in denen diffusionsfähige Moleküle (Substanz S) eine Zelle betreten oder verlassen oder ein Epithel (Lungen-, Kiemenepithel, Kapillaren-Endothel) durchqueren (Abb. 8.1). Da beständig Substanz S zu- und abfließt, diffundiert durch die gegebene Fläche A ( area, in cm2) in jeder Sekunde die gleiche Menge (Teilchenmenge n in mol) der betrachteten Substanz S.
c Konzentration, x Wegstrecke, D der stoffspezifische Diffusionskoeffizient (SI-Einheit m2/s) Formuliert für Gradienten: J =
∂c ∂n = −D × A ∂t ∂x
( n Teilchenzahl, t Zeit, A Fläche, c Konzentration, x Wegstrecke) Das 1. Fick’sche Gesetz in seiner einfachsten Form besagt: Der Partikelfluss entlang eine Strecke ist proportional zum Konzentrationsgradienten. Man kann das Gesetz auch für molare Konzentrationen und permeable Membranen formulieren und den Diffusionskoeffizienten D durch den Permeabilitätskoeffizienten DP ersetzen. Das 1. Fick’sches Diffusionsgesetz besagt: Der Fluss J (Partikelstrom, die in einem Zeitraum durch eine Membran strömende Menge an Molekülen) ist proportional zum örtlichen Konzentrationsgradienten und der Größe der permeablen Grenzfläche A, aber umgekehrt proportional der zu bewältigenden Strecke x. Darüber hinaus ist der Fluss eine Funktion des stoffspezifischen Diffusionskoeffizienten D bzw. des stoff- und membranspezifischen Permeabilitätskoeffizienten DP .
7
8.2 Diffusion und Konvektion der Atemgase
BOX 8.1 (Fortsetzung)
Die Austauschfläche sollte also groß, die Dicke der Epithelien gering sein. Atemorgane machen sichtbar, dass die Evolution das Fick’sche Diffusionsgesetz zu berücksichtigen wusste. 2. Fick’sche Gesetz Von besonderer Bedeutung ist auch die Geschwindigkeit, mit der sich die Moleküle von einer Grenzschicht wegbewegen. Über eine Zellmembran hinweg bewegen sich O2 und CO2 blitzartig; dann aber verlangsamt sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit mehr und mehr. Grund dafür ist, dass die Wandergeschwindigkeit der Molekülschar eine Funktion der örtlichen Konzentrationsdifferenz (bzw. des Konzentrationsgradienten ∂c/∂x) ist, ebenso wie der Wärmefluss eine Funktion des Temperaturgefälles (Temperaturdifferenz / Längeneinheit). In der Regel ist über die Membran hinweg das Gefälle sehr hoch. Schon bei kleiner Konzentrationsdifferenz ist das Gefälle hoch, weil die Gefällestrecke sehr kurz ist. Wenn aber dann die Moleküle von der Membran weg in die wässrige Umgebung schwimmen, breiten sie sich in allen drei Raumrichtungen
Tabelle 8.1. Höhenabhängigkeit des Sauerstoff- und Kohlendioxidgehaltes der Luft sowie weiterer Parameter Höhe
pO2
pCO2
0,04 kPa 0,01 kPa 0,01 kPa
Luftdruck ( pO2+pCO2 +pN2+pH2O)
Meeresspiegel 5000 m (Mont Blanc) 8848 m (Mount Everest)
21,1 11,1 6,9
100 kPa 56 kPa 30 kPa
Temperatur
Wasserdampf in g/m3 Luft
UV-B-Strahlung
9000 m – 40°C 5000 m – 10°C 0 m – 30°C
<0,1 <1 30 bei 30°C
? 125% 100%
aus. Die Bewegung weg von der Fläche (zwei Dimensionen) hinein in den Raum (drei Dimensionen) hat zur Folge, dass die Konzentration in jeder Raumrichtung mit dem Quadrat der Entfernung von der Membran abnimmt. Entsprechend nimmt auch die Diffusionsgeschwindigkeit ab. Eine doppelt lange Wegstrecke beansprucht die vierfache Zeit (Abb. 8.1; konkrete Werte s. Tabelle 3.1). Mathematisch wird die Änderung des Konzentrationsprofils mit der Zeit mit partiellen Differentialgleichungen beschrieben. ∂c
∂2 c
Für 1 Dimension = D 2 gilt (2. Fick’sches ∂t ∂x Gesetz) Breiten sich die Partikel in allen drei Dimensionen ( x, y, z) des Raumes aus, sinkt die Flussgeschwindigkeit mit der 4. Potenz zur Entfernung von der Quelle (s. Abb. 8.1). Diffusion muss also durch Massenströmung (Ventilation, Konvektion) unterstützt werden, die durch aktiv erzeugte Druckdifferenzen erzeugt wird, beispielsweise durch die Druckvolumenarbeit des Herzens.
Tabelle 8.2. Konzentrationen der Luftgase in Wasser gemäß Löslichkeitskoeffizient und Temperatur bei 21 kPa O2 und 0,03 kPa CO2 bei voller Sättigung in oberflächennahem dest. Wasser
O2 molare Konz.: Volumenkonz.: CO2 molare Konz.: Volumenkonz.:
Wasser 0°C
Wasser 20°C
445,7 10,81 23,0 0,61
287,7 6,98 11,6 0,31
Wasser 37°C 220,6 μmol/l 5,35 ml/l 7,5 μmol/l 0,2 ml/l
193
8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
Diffusionsflussüber die Membran bei beständigem Zu- und Abfluss
100
2. Fick’sches Diffusionsgesetz 10 Fluss = D A
2
Cs
x2
2
+
Cs
y
2
2
+
Cs
z2
)
D = Diffusionskoeffizient A = Fläche derMembran Cs = Konzentration von S
6
4
)
2
(zu messen in cm-3 /cm = cm-4)
8
Konzentration an der Membran
Abb. 8.1. Diffusion: Stromstärke (Fluss) als Funktion der Entfernung von der Quelle, die durch eine permeable Membran vom Diffusionsraum getrennt ist. Wegen des Übergangs von der zweidimensionalen Grenzfläche in den dreidimensionalen Raum nehmen Konzentration und Diffusionsgeschwindigkeit ab. Als Geschwindigkeit ist die durchschnittliche Wanderstrecke/Zeit einer Molekülschar (z. B. 37% der Moleküle) in x-Richtung (weg von der Membran) definiert
Konzentration von S in mol/L
194
x,y,z = Raumkoordinaten
0 0
Raum 1 z.B. O2 in Alveole
Entfernung von der Membran
Raum 2 z.B. Blutgefäßsystem Interstitium
CO2 in Zelle
37% der O2 Moleküle überqueren Lungenepithel (L = 0,5μm) in 3 x 10-5 Sekunden, würden aber Fußzehen (L = 1,5m) erst in 9,9 Jahren erreichen.
hat eine Austauschfläche von 50 bis 140 m2. Auch Kiemen und die reichverästelten Tracheen der Insekten zeugen davon, dass die Natur dem Parameter Oberfläche Rechnung trägt. ●
Die Diffusionsstrecken werden möglichst kurz gehalten. Ein Korallenpolyp und eine Qualle haben in dieser Hinsicht wenig Probleme, selbst wenn sie groß sind. Ihre Epithelien sind dünn, die Wege zum Umgebungswasser kurz. Notfalls
helfen Seewasser-durchspülte, ins Körperinnere führende Kanäle, die Gastrovaskularsysteme. Auch die Echinodermen (Seesterne, Seeigel, Seegurken) leiten über ein Kanalsystem Außenwasser ins Körperinnere. Doch was machen massenreiche Tiere mit wasserdichter Haut? Was macht der Mensch? Zwar sind die Epithelien von Lunge und Blutkapillaren dünn. Doch ist es ein weiter Weg von der Nase bis zum großen Zeh. Hier helfen Ventilation, Perfusion und Konvektion:
8.2 Diffusion und Konvektion der Atemgase
Ventilation
Außenluft pCO2
pO2
pN2
0,03
21
79
kPa
Vol%
Diffusion
Lungenalveole
Alveole
Pe
rfu
4-5
13
79
5-8
12
79
sio
n
Blutkreislauf
5-8 pCO2
Citratcyclus
2,5-5 pO2
79 pN2
Atmungskette
Zelle mit Mitochondrium
Abb. 8.2. Atemgase: Partialdruck-Verhältnisse zwischen Außenluft und dem Inneren von Körperzellen mit Lungenluft und Blut als Vermittler
Ventilation des Raumes von der Nase bis in die Lungenalveolen, Perfusion der Lunge mit Blut, Konvektion im Blutkreislauf (Abb. 8.2, 8.3). In all diesen Fällen liefern periodisch erzeugte hydrodynamische Druckdifferenzen die treibenden Kräfte. Die rhythmische Ventilation der Lunge wird von der rhythmischen Erweiterung und Verengung des Brustraums, die Perfusions- und Konvektionsströmung des Blutes wird vom pulsierenden Herzen angetrieben. Das letzte Stückchen Weges vom Ka-
Konvektion
Abb. 8.3. Physikalische Strömungen, die den Transport der Atemgase unterstützen
pillarenblut heraus in die Zellen hinein müssen die O2-Moleküle dann aber doch „zu Fuß“ gehen, d. h. per Diffusion bewältigen (Abb. 8.4). ●
Um die Kapazität der Transportflüssigkeit für Sauerstoff zu erhöhen, sind in der Evolution sauerstoffbindende Pigmente erfunden worden. Das Blutplasma des Menschen hat als salzhaltiges Wasser von 37º C eine sehr bescheidene Lösungskapazität. Während ein Liter Luft 210 ml Sauerstoff enthält, löst Blutplasma auch bei voller Sättigung nur 4 ml O2. Blut mit seinen Erythrocyten hat jedoch eine Kapazität von ca. 200 ml O2. Ein Liter Blut mit seinen roten Blutkörperchen kann bei voller Sättigung fast soviel Sauerstoff wie ein Liter Luft transportieren.
Diese Punkte werden im Folgenden näher betrachtet.
195
196
8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
Blutkapillare Erythrocyt
α1
α2
Alveole Surfactant (Oberflächenfilm) Makrophage
β1
Hämoglobin
ȕ2
Nachbaralveole
Abb. 8.4. Lungenalveole, schematischer Querschnitt. Das Surfactant, eine Art natürliches Detergens, dient zur Minderung der Oberflächenspannung des Wassers im Oberflächenfilm. Ohne Surfactant würde die Alveole kollabieren
Myoglobin
Abb. 8.5. Quartärstruktur des tetrameren Hämoglobins im Vergleich zum monomeren Myoglobin, vereinfacht
8.3 Hämoglobin, Myoglobin und andere Sauerstoffspeicher 8.3.1 Wirbeltiere besitzen zwei interne Sauerstoffspeicher: Hämoglobin und Myoglobin Hämoglobin ist der Sauerstoffspeicher der Erythrocyten, der roten Blutkörperchen, Myoglobin ist der Sauerstoffspeicher der roten Muskelzellen. In beiden Fällen ist es der rote Häm-Ring, der Sauerstoff reversibel bindet. Dieser Ring wird festgehalten von einer Proteinkette, dem Globin. Beim Hämoglobin treten vier solche Häm-tragende Proteinketten, zwei α- und zwei β-Ketten, zu einem Tetramer zusammen (Abb. 8.5). Entsprechend bindet ein Tetramer vier Moleküle O2. Myoglobin ist ein Monomer: eine Myoglobinkette trägt einen Hämring, der ein O2-Molekül bindet. Mit Sauerstoff beladene Hämo-
globin- oder Myoglobin-Moleküle sind oxygeniert (nicht „oxidiert“!). Bei Hämoglobin sind die Bezeichnung Oxyhämoglobin und das Kürzel HbO2 üblich; die O2-freie Form heißt Deoxy-Hb oder schlicht Hb. Hämoglobin- und Myoglobin-ähnliche Moleküle sind im Tierreich weit verbreitet, selbst bei Protozoen wurden mehrfach welche gesichtet. Man findet sie zum Beispiel in Echinodermen (Seeigel, Seesterne u. a.), Anneliden (Regenwurm), einigen Crustaceen und vereinzelt auch in Insekten (Zuckmückenlarven), Nematoden und Mollusken. Sein sporadisches Auftreten in Tiergruppen, die sonst kein Hämoglobin besitzen, nährt Spekulationen über seine Evolutionsgeschichte. Eine Hämgruppe haben auch die Cytochrome in der Atmungskette der Mitochondrien und einige Redoxenzyme (z. B. Katalase). Aus solchen Häm-tragenden Zellproteinen dürften sich mehrfach und unabhängig von-
8.3 Hämoglobin, Myoglobin und andere Sauerstoffspeicher
einander Hämoglobin- bzw. Myoglobin-ähnliche Farbstoffe entwickelt haben. So besitzen die roten Zuckmückenlarven (Chironomiden) in unseren Gewässern Hämoglobin in ihrer Hämolymphe gelöst. Sonst haben Insekten keine O2-bindenden Pigmente, sondern führen den Sauerstoff über das fein verästelte Röhrensystem der Tracheen direkt an die Körperzellen heran. Hämoglobin kann, wie die roten Zuckmückenlarven zeigen, direkt im Blut (bzw. Hämolymphe) gelöst sein. Warum sind die Pigmente bei Wirbeltieren in Zellen, den Erythrocyten, eingepfercht? Der Sauerstoff muss doch zusätzlich zweimal eine Zellmembran passieren, einmal wenn er in die roten Blutzellen strömt, und ein zweites Mal, wenn er sie wieder verlässt. Die Antwort ist: In Zellen kann eine höhere Speicherdichte erreicht werden. Wenn alles Hämoglobin unserer Erythrocyten im Blutplasma gelöst wäre, wäre das Blut zähflüssig.
IV
Fe++
Häm ist ein Tetrapyrrolring (Abb. 8.6), auch Porphyrinring genannt. Sein konjugiertes Doppelbindungssystem ermöglicht es ihm, Licht im Wellenlängenbereich von Grün zu absorbieren; darum zeigt sich Häm in der Komplementärfarbe Rot. Häm bildet einen Metallkomplex. In das Zentrum des Ringes ist ein zweiwertiges Eisenatom Fe2+ eingelas-
N
N III
II
H
H O
O
O O
N
N ++
N
Fe N
8.3.2 Warum Häm Sauerstoff bindet, und wie man sich effektiv vergiften kann
N
N
C Allerdings beeinflussen auch die roten Blutkörperchen die faktische Viskosität des Blutes. Der Mediziner bestimmt als indirektes Maß der Zähflüssigkeit den Hämatokrit: Vol% der roten Blutkörperchen pro ml Blut. Normalerweise nehmen die Erythrocyten knapp die Hälfte des Blutvolumens ein (Hämatokrit 0,42 bei Frauen und 0,47 bei Männern). Ein höherer Hämatokritwert kann auf Doping mittels EPO (Erythropoetin) hinweisen. Der Zoophysiologe kennt neben Hämoglobin einige weitere sauerstoffbindende Pigmente: ● das Hämocyanin, ein kupferhaltiges Protein. Mit Sauerstoff ist das Molekül blau, ohne farblos. Vorkommen: weitverbreitet unter den Mollusken, Krebsen und Spinnen. ● das Hämerythrin, ein eisenhaltiges Nicht-Häm-Protein, violett im O2-beladenen, farblos im unbeladenen Zustand. Vorkommen: marine, bodenbewohnende Invertebraten wie Brachiopoden, Priapuliden, Sipunculiden, Echiuriden und einige Polychaeten. ● Chlorocruorin ist ein Verwandter des Hämoglobins; es wird in einigen Familien der Polychaeten gefunden.
I
N
Globin
N Histidin
Abb. 8.6. Hämring (Porphyrin- oder Tetrapyrrolring) ohne Seitenketten
sen. Die Wertigkeit dieses Fe bleibt – anders als bei den Cytochromen – stets bei 2+. Zentralatome in Komplexen haben gern eine Edelgaskonfiguration in ihrer Elektronenhülle. Eine solche ist beispielsweise erreicht, wenn das Zentralatom 36 Elektronen um sich scharen kann, wie das Edelgas Krypton. Fe2+ selbst hat 24 Elektronen. Es wünscht sich 12 zusätzliche Elektronen, verteilt auf 6 Koordinationsstellen. Von den 4 Stickstoffato-
197
8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
men (N) der 4 Pyrrolringe bilden 2 Bindungen aus und 2 sind über ihr freies Elektronenpaar koordiniert. Damit sind 4 Koordinationsstellen belegt und bereits acht zusätzliche Elektronen umgeben das Fe-Zentralatom. Das Häm hängt an der Globinkette über ein fünftes N, das der Aminosäure Histidin „F8“ in der Globinkette gehört. Diese Bindung liefert nochmals 2 Elektronen und belegt die 5. Koordinationsstelle. Es fehlen zum vollkommenen Glück des Fe noch 2 Elektronen, welche die sechste Koordinationsposition auffüllen könnten. Die stellt nun das O2-Molekül, das freie oder „einsame Elektronenpaare“ aufweist, zur Verfügung.
Sehr fest ist die Bindung des O2 über ein freies Elektronenpaar nicht. O2 kann sich leicht ablösen. H2O tritt dann an seine Stelle, schließlich hat auch hier das O ein freies Elektronenpaar anzubieten, das freilich eine noch losere Bindung vermittelt. Statt den trennungswilligen Partner H2O oder O2 kann freilich auch ein Partner kommen, dessen einsames Elektronenpaar eine starke Bindung eingeht. Ein solcher Partner könnte z. B. Kohlenmonoxid CO oder Cyanid CN– (Blausäure-Anion) sein. CO beispielsweise hat eine 200-fach höhere Affinität zum Häm als O2. Dann ist der Platz irreversibel belegt, Sauerstoff kommt nicht mehr heran (kann auch bei den Cytochromen passieren). Man gerät in Atemnot, ist vergiftet. Der Kohlenmonoxidgehalt in der Stadtluft und entlang verkehrsreicher Straßen genügt, die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns herabzusetzen und uns benommen zu machen!
8.3.3 Die Sauerstoff-Bindungs- und Dissoziationskurven: viel gelehrt und viel abgefragt Eine Lösung aus Hämoglobin oder Myoglobin wird mit Gasgemischen durchspült. Der Sauerstoffgehalt der Gemische ist steigend und damit entsprechend der O2-Partialdruck. Bei jedem neu eingestellten pO2 wird gemessen, wie viel Prozent der Moleküle mit Sauerstoff beladen sind (prozentuale Sättigung). Die so ermittelte Bindungskurve wird analog einer Kurve betrachtet, die man erhält, wenn einem Enzym steigende Mengen an Substrat angeboten und die Enzymaktivität gemessen wird. Hat man eine Hämoglobin-Lösung, erhält man eine sigmoidale (S-förmige) Bindungskurve (Abb. 8.7). Bei sehr niedrigen Partialdrucken hat
Lunge
"Gewebe" 100 %
Sättigung
198
Myoglobin
Hämoglobin
50
4
8
kPa
12
Partialdruck O2
Abb. 8.7. Sauerstoff-Bindungs- und -Dissoziationskurve
Hämoglobin eine geringe Affinität zum Sauerstoff. Die prozentuale Sättigung ist gering, auch wenn die schiere Zahl vorhandener Sauerstoffmoleküle eine hohe Sättigung erlauben würde. Mit steigendem Angebot steigt die Affinität und die Kurve wird steiler. In diesem Bereich folgt die Affinität selbstregulatorisch der zur Verfügung stehenden Sauerstoffmenge. Es folgt ein kurzer nahezu gerader Kurventeil bis die Kurve schließlich auf das nicht überschreitbare Sättigungsniveau von 100% O2-Beladung einbiegt. Bei einer Myoglobin-Lösung hingegen registriert man eine hyperbole Kurve mit einem über weite Partialdruck-Bereiche linearen Verlauf, der selbstverständlich gegen 100% Sauerstoffbeladung ebenfalls auf ein horizontales Sättigungsniveau abbiegt. Beim Myoglobin entspricht der Kurvenverlauf einer Michaelis-Menten-Kinetik, die in der Regel registriert wird, wenn man einfachen Enzymen steigende Konzentrationen an Substrat anbietet. Die mit Hämoglobin oder Myoglobin erstellten Bindungskurven heißen auch Dissoziationskurven; denn wenn man den O2-Partialdruck wieder herunterfährt, geben die Hämringe den Sauerstoff wieder frei; er dissoziiert ab. Die aufsteigenden Bindungs- und die absteigenden Dissoziationskurven sind (bei konstantem pH) deckungsgleich. Die Kurven lassen sich auf der molekularen und der physiologischen Ebene interpretieren.
8.3 Hämoglobin, Myoglobin und andere Sauerstoffspeicher
8.3.4 Auf molekularem Niveau zeigt eine sigmoidale Kurve Allosterie und Kooperativität an Sigmoidale Aktivitätskurven findet man oft bei Enzymen, die eine Quartärstruktur aufweisen. Dies besagt, dass sie aus mehreren Untereinheiten zusammengesetzt sind. Hämoglobin hat vier Untereinheiten. Das Hämoglobin des erwachsenen Menschen besteht aus zwei α- und zwei β-Untereinheiten. Diese können miteinander kooperieren. Die Kooperation basiert auf Allosterie: die gewundenen Proteinmoleküle können zwischen zwei stabilen räumlichen Zuständen hin und her klappen; dabei wird in den β-Untereinheiten die O2-Bindungsstelle mal zugedeckt, mal frei zugänglich (Abb. 8.8). Die Kooperativität besteht darin, dass eine Sauerstoff-beladene α-Untereinheit die räumliche Konfiguration einer benachbarten β-Untereinheit so beeinflusst, dass deren zuvor abgeschirmter Hämring ebenfalls O2 als Liganden einfangen und binden kann (Sequenz-Modell). Das vierte Häm wird schließlich 300-fach stärker gebunden als das erste. Gibt umgekehrt eine α-Untereinheit O2 ab, beeinflusst sie einen β-Nachbarn so, dass er ebenfalls seinen O2 abgibt und seinen Hämring in den unzugänglichen Zustand zurückklappt. In einem Kollektiv vieler Hämoglobin-Tetramere geschieht das Hin- und Herklappen nicht voll O2
synchron. Daher misst man statt einer BindungsDissoziations-Treppe eine verschmierte sigmoidale Kurve (Abb. 8.9 u. 8.10). 8.3.5 Die Kooperativität begünstigt die Sauerstoff-Aufnahme in der Lunge und die Abgabe an den Verbrauchsorten In der Lunge schwankt das O2-Angebot je nachdem, ob wir gerade einatmen oder ausatmen. Trotz dieser Schwankungen wird stets volle Sättigung des Hämoglobins mit Sauerstoff erreicht; denn die Schwankungen des pO2 in der Lunge bewegen sich entlang des 100%-Sättigungsniveaus (s. Abb. 8.7). Wenn nun das Blut ins „Gewebe“ gelangt, beispielsweise die Leber, die Nieren oder das Gehirn durchfließt, nimmt im Blutplasma der pO2 stark ab, weil die O2-Moleküle das Blutplasma Richtung Verbraucher verlassen. Der in die Verbraucher eindiffundierende Sauerstoff wird in den Mitochondrien mit Elektronen beladen und mit Protonen zu Wassermolekülen verarbeitet. Chemisch in H2O-Molekülen gebundener Sauerstoff trägt nichts mehr zum pO2 bei. Das Hämoglobin gerät also in eine Umgebung mit sinkendem pO2; es muss seinen Sauerstoff dort hergeben, wo er benötigt wird. Allerdings bleiben unter normalen physiologischen Bedingungen 30% des O2 am HäO2
O2
O2
Abb. 8.8. Kooperativität bei der Sauerstoffbindung im Hämoglobinmolekül. Beladung des Hämringes einer Untereinheit mit Sauerstoff führt zur besseren Zugänglichkeit des Hämrings in einer benachbarten Untereinheit. Die Hilfestellung setzt sich fort, bis alle Hämringe mit O2 abgesättigt sind
O2
O2
O2
O2
O2
O2
O2
O2
O2
O2
199
8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane 100 %
100 %
Hämoglobin pH 7,6
globin
fötal
50
adult
Hämoglobin
Sättigung
Myo
Sättigung
200
Bohr-Effekt
50
pH 7,2
adult: ααββ fötal: ααγγ
pH 7,2 + Diphosphoglycerat
embryonal: ααεε
8
4
kPa
12
Partialdruck O 2
Abb. 8.9. Sauerstoffbindungskurven von Myoglobin, fötalem und adultem Hämoglobin im Vergleich
moglobin der Erythrocyten gebunden. Venöses Blut ist also nicht gänzlich sauerstofffrei. 8.3.6 Die Sauerstoffaffinität des Hämoglobins ist beim ungeborenen Kind und manchem Tier höher als bei uns Erwachsenen, darf aber nicht zu hoch sein Von den tetrameren Hämoglobinen, die den Wirbeltieren zum Speichern von Sauerstoff zur Verfügung stehen, gibt es mehrere Isoformen. Das Genom der Wirbeltiere enthält mehrere Gene, die durch Duplikation aus einem Urgen hervorgegangen sind und in wechselnder Kombination für die Codierung der vier Ketten des Globins herangezogen werden können. Die verschiedenen Isoformen, die man bei verschiedenen Tierarten, aber auch bei ein und demselben Individuum antrifft, unterscheiden sich in der Kettenlänge und in Details der Aminosäuresequenz. Obzwar die Unterschiede gering sind, reichen sie aus, die Affinität des Häms zum Sauerstoff zu modifizieren. Die Affinität wird quantitativ erfasst aus der Gleichgewichtskonstanten K für die Reaktion Hb + O2 ←→ HbO2
Daraus:
K=
[HbO2 ] [Hb][O2 ]
4
8
kPa
12
Partialdruck O2
Abb. 8.10. Bohr-Effekt und DPG-Effekt. Säuren, und ebenso in den Erythrocyten selbst produziertes Diphosphoglycerat DPG, senken die Affinität des Hämoglobins zu Sauerstoff
Beim Vergleich verschiedener Isoformen von Hb, und dem Vergleich von Hb mit anderen O2 bindenden Proteinen wie Myoglobin und Cytochrom, spiegeln höhere K-Werte höhere Affinitäten wider. Das ungeborene Kind muss bei einem geringeren O2-Angebot leben als seine Mutter. Es besitzt eine spezielle fetale (fötale) Variante von Hämoglobin, HbF, bei dem statt β-Globinketten γ-Globinketten Partner der α-Ketten sind (Fetus: α2γ2; Erwachsener: α2β2). Die höhere Affinität seines Hb zu O2 (s. Abb. 8.9) ermöglicht es dem Fetus, dem mütterlichen Blut Sauerstoff zu entziehen. Dass noch höhere Affinitäten möglich sind, zeigt der Vergleich der Bindungskurven von Myoglobin und Hämoglobin (s. Abb. 8.9). Myoglobin speichert Sauerstoff in der Muskelzelle. Der pO2, bei dem 50% der Hämringe mit O2 beladen sind, ist bei Myoglobin geringer als bei jedem Hämoglobin. Bei gleichem pO2 entreißt Myoglobin dem Hämoglobin den Sauerstoff. Dies ist physiologisch sinnvoll: So fließt der Sauerstoff vom Speicher des Blutes in den Speicher des Muskels, aber nie zurück. Der Vergleich der Bindungskurven von Myoglobin und Hämoglobin gibt auch die Antwort auf eine Frage, die sich mancher Leser schon gestellt haben wird: Warum hat die Evolution nicht alle Organismen mit Hämoglobin hoher Affinität ausgestattet, wenn es doch grundsätzlich möglich wäre? Die Antwort
8.4 Funktion der Erythrocyten bei der Beseitigung des Kohlendioxids
ist die: Hohe Affinität hat auch einen großen Nachteil. Fetales Hämoglobin und Myoglobin geben O2 ungern wieder her. Es muss aber stets sichergestellt sein, dass die Affinität der Empfängermoleküle zum Sauerstoff bis hin zu den Endverbrauchern, den Cytochromen in den Mitochondrien, kontinuierlich zunimmt, sodass der Sauerstoff ohne Energieaufwand den Endverbraucher erreicht. Bei Tieren, die in sauerstoffarmer Umwelt leben, kann die Affinität ihres artspezifischen Hämoglobins zum Sauerstoff durchaus höher sein als beim Menschen. Wegen der damit verbundenen Nachteile, muss jeder Organismus den für ihn optimalen Kompromiss finden. Vögel können es sich erlauben, Hb mit geringerer Affinität zum O2Transport zu verwenden als der Mensch. 8.3.7 Die Affinität des Hämoglobins zu Sauerstoff kann in gewissen Grenzen physiologisch gesteuert werden: der Bohr Effekt Die Affinität von Hb zu O2 ist keine invariante Größe. Der Organismus kennt zwei Möglichkeiten, im Bedarfsfall verstärkt O2 aus dem Hämoglobin der Erythrocyten freizusetzen. ●
●
Einerseits wirkt das O2-bedürftige Gewebe auf den Erythrocyten ein. Es säuert das Blutplasma an; das Hämoglobin wird zur Freigabe von O2 angeregt (s. Abb. 8.10). Die betreffenden Säuren sind vor allem Milchsäure (Lactat) die in der Glykolyse entsteht, und Kohlensäure die aus CO2 und H2O hervorgeht. Man nennt die Schwächung der O2-Affinität durch den sinkenden pH Bohr-Effekt. Der Erythrocyt produziert in sauerstoffarmer Umgebung eine O2-freisetzende Substanz. Eine solche ist 2,3-Diphosphogylcerat DPG (auch Biphosphoglycerat BPG genannt). DPG bzw. BPG entsteht in den Erythrocyten selbst als Produkt einer modifizierten Glykolyse. Wird ein Erythrocyt durch die Lunge getragen, wird bei hohem pO2 kein DPG gebildet; die Affinität des Hb zu O2 ist hoch. Verspürt hingegen der „ins Gewebe“ verfrachtete Erythrocyt den Sauerstoffmangel seiner Umgebung, produziert er selber DPG und regt damit sein Hämoglobin an, williger O2 abzugeben (s. Abb. 8.10).
8.4 Funktion der Erythrocyten bei der Beseitigung des Kohlendioxids 8.4.1 Nacktes CO2 kann gefährlich sein; Globin kann einen kleinen Teil des CO2 an sich binden und unschädlich machen Kohlendioxid, CO2, löst sich in recht großen Mengen „physikalisch“ im Blut. Aber die Löslichkeit ist stark vom Blutdruck und der Temperatur abhängig. Wir kennen das von der Sprudel- oder Sektflasche. Druckentlastung und Erwärmung treibt CO2-Gas aus; es perlt und schäumt. CO2-Bläschen können gefährlich sein. Sie können kleinste Blutkapillaren verstopfen und so beispielsweise die Blutversorgung des Gehirns blockieren. Ohnmacht und Schlimmeres sind die Folgen. Der Taucher sieht sich im besonderen Maße mit diesem Problem konfrontiert (s. Abschn. 8.6.6). CO2 kann kovalent, und trotzdem reversibel, an das Ende der Globinketten gebunden werden, wobei H+-Ionen freiwerden, die zum Bohr-Effekt (s. oben Abschn. 8.3.7) beitragen. Das mit CO2-Schwänzen versehene Hb heißt Carbamino-Hämoglobin. Auf diese Weise werden bis zu 20% des CO2 unschädlich gebunden und transportiert. Das langt aber nicht. 8.4.2 Der größte Teil des CO2 wird mit Hilfe eines Erythrocyten-Enzyms in harmloses Hydrogencarbonat überführt; diese Umwandlung muss reversibel sein Kohlendioxid ist in der Sprache des Alltags auch als „Kohlensäure“ bekannt. CO2 ist nicht Kohlensäure, kann aber mit Wasser zu Kohlensäure reagieren. CO2 + H2 O −→ H2 CO3 −→ H+ + HCO− 3
Das Anion HCO3− heißt Hydrogencarbonat oder, weniger glücklich, „Bicarbonat“. Diese Reaktion ist exergonisch und erfolgt spontan, aber mit geringer Effektivität. Die Erythrocyten haben ein Enzym, das die Reaktion beschleunigt. Es ist die Carboanhydrase. Durchströmt Blut Gewebe, das CO2 freisetzt, dringt CO2 per Diffusion über das Blutplasma hinweg in die Erythrocyten ein und verlässt sie wieder als HCO3−. Durchströmt das Blut alsdann
201
202
8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
die Lungenkapillaren, muss die Richtung der Reaktion umgedreht und aus HCO3− wieder gasförmiges CO2 freigesetzt werden, das über die Ventilation der Lunge den Körper verlassen kann (Abb. 8.11). Wer oder was bestimmt aber, in welche Richtung die Reaktion verläuft? In erster Linie ist dies der örtliche Partialdruck pCO2. Ist er hoch, entsteht viel Kohlensäure, ist er gering, bildet sich Kohlendioxid zurück. Aber Sauerstoff hilft mit; Hämoglobin spielt den Vermittler. 8.4.3 Hämoglobin vermittelt zwischen den chemisch inerten Gasen CO2 und O2 eine funktionelle Kooperation In einem Gasgemisch gibt es zwischen CO2 und O2 keinerlei Reaktion. Die roten Blutkörperchen Erythrocyt in Lungenkapillare
O2
HbH+
H+ + HCO3-
CO2
CarboH2O + CO2 anhydrase
HbO2
HCO 3-
8.5 Atemorgane und ihre Ventilation
im Blutplasma
8.5.1 Die Erneuerung der Atemluft in unserer Lunge ist nicht optimal
HbO2 CarboCO2 + H2O
HCO
- + H+
O2
3
anhydrase
CO2 Erythrocyt in z.B. Leberkapillare
bringen jedoch eine wechselseitige Hilfestellung zustande. Ein hoher pO2, wie er in der Lunge herrscht, fördert die Freisetzung von CO2 aus Hydrogencarbonat. Ein hoher pCO2, wie er sich im Blut beim Durchströmen von Leber, Niere, Gehirn oder Herz einstellt, fördert umgekehrt die Freisetzung von O2 aus HbO2. Vermittelt wird die Kooperation der beiden Gase durch die Carboanhydrase und das Hämoglobin der Erythrocyten. Nehmen wir das Beispiel eines Erythrocyten, der ein Herzkranzgefäß durchläuft. Der Herzmuskel will viel O2 dem Blut entnehmen können, produziert andererseits viel CO2 und erhöht so den pCO2 des Blutplasmas. Das CO2 wird mittels der Carboanhydrase der Erythrocyten in Kohlensäure verwandelt. Es kommt zur Ansäuerung des Blutes. Die hohe Protonenkonzentration vermindert ihrerseits über den Bohr-Effekt (s. Abschn. 8.3.7, Abb. 8.10) die Affinität des Hämoglobins zu O2. Sauerstoff wird verstärkt freigesetzt. Das Proton der Kohlensäure wird (z. T.) vom Hämoglobin gebunden. Gerät andererseits ein Erythrocyt, dessen Hb kein O2 mehr trägt, in die Lunge, so geschieht das Umgekehrte: Hämoglobin nimmt O2 auf, wobei das Proton wieder abgedrängt wird. Maßgeblich für die Richtung der Gesamtreaktion sind die örtlichen Partialdrücke von Sauerstoff und Kohlendioxid (s. Abb. 8.11).
HbH+
O2
Abb. 8.11. Transport des Kohlendioxids in Form von Hydrogencarbonat. Koppelung des Transports von Sauerstoff mit der reversiblen Konversion von Kohlendioxid (CO2) in Hydrogencarbonat (HCO3−) durch die Vermittlung von Hämoglobin und Carboanhydrase. Die jeweilige Richtung der Reaktion wird vom physikalischen Partialdruckgradienten (Konzentrationsgradienten) der Atemgase bestimmt
Lungen sind großdimensionierte Luft-Blut-Grenzflächen, die zum Schutz vor Austrocknung und Beschädigung in inneren Höhlungen des Körpers liegen. In der Evolution der Wirbeltiere sind Lungen auf dem Organisationsniveau der Fische entstanden. In sauerstoffarmen Gewässern lebende Fische schluckten zur Ergänzung ihrer Kiemenatmung zusätzlich atmosphärische Luft in Aussackungen der Speiseröhre (= Lungen) hinein, so wie dies Frösche heute noch tun. Als Orte des Gasaustausches enthält unsere Lunge ca. 300 Mio. Alveolen, kleine Bläschen von 1/3 mm Durchmesser. Ihre Oberflä-
8.5 Atemorgane und ihre Ventilation
che beträgt 50–140 m2, soviel wie die Grundfläche einer Wohnung. Ihrer versenkten Lage wegen müssen unsere Lungen in einem periodischen Wechsel von Inspiration und Exspiration be- und entlüftet werden (nur die Vogellunge wird von Luft perfundiert (s. Abb. 8.17). Unsere Lungen nehmen bei einem ruhigen Atemzug am Ende einer Exspirationsphase ca. 3000 ml Volumen ein, am Ende der Inspirationsphase ca. 3450 ml. In Ruhe atmet man also ca. 1/2 l Luft ein. Beim starken Durchatmen der trainierten Lunge können pro Atemzug bis zu 6 l Luft eingesogen werden, und pro Minute bis zu 120 l, wenn auch noch die Atemfrequenz an ihr Maximum getrieben wird. Das in einem einzelnen Atemzug maximal mobilisierbare Atemzugvolumen heißt Vitalkapazität. Es wird mit einem Respirometer (Abb. 8.12) gemessen. Wird die Atemluft maximal ausgestoßen, bleiben ca. 1200 ml Residualvolumen zurück. Eine vollständige Erneuerung der Lungenluft ist mit einem Atemzug nicht möglich.
Luft
Wasser
Inspirat. Reservevolumen
Atemzugvolumen Exspirat. Reservevolumen
Abb. 8.12. Respirometer zur Bestimmung der Lungenkapazitäten
8.5.2 Atempumpen arbeiten häufig dadurch, dass sie abwechselnd Unterdruck und Überdruck erzeugen Ob wir unsere Atemzüge durchziehen, ob ein Fisch abwechselnd Mund und Kiemendeckel öffnet, oder ob ein Maikäfer mit seinem Hinterleib „pumpt“, das physikalische Pumpprinzip ist dasselbe. Wird der Brustkorb, der Mundraum des Fisches (bei geschlossenem Kiemendeckel) oder das Abdomen des Käfers erweitert, entsteht ein Unterdruck. Frische Luft bzw. frisches Wasser werden angesaugt. Verengung der Räume erzeugt Überdruck. Mit CO2 angereichertes Medium wird herausgedrückt. Bei unserer Lunge wird das Volumen des Brustraums über die Wölbung des Zwerchfells und die Stellung der Rippen verändert (Abb. 8.13). Die Lunge selbst braucht keine besonderen Muskeln für ihre Expansion und Kontraktion. Sie folgt dem Brustraum passiv, weil die Lunge stets durch den Luftdruck an die Brustwand gedrückt wird – auch beim Ausatmen – und darüber hinaus der Spaltraum zwischen den Epithelien von Lunge und Thoraxraum einen Flüssigkeitsfilm einschließt. Kräfte der Adhäsion und Kohäsion vermitteln ein Aneinanderhaften der Epithelien von Lunge und Thoraxraum. Zugleich wirkt der Film als Gleitfilm, so wie ein Flüssigkeitsfilm es ermöglicht, zwei Glasplatten gegeneinander zu verschieben, es aber sehr schwer macht, die Platten voneinander zu trennen. Man kann sich die Verhältnisse klarmachen, wenn man den ersten Atemzug des Neugeborenen modellmäßig nachvollzieht. Ein noch leerer Luftballon wird mit einer Haftcreme eingeschmiert und mit offener Verbindung zur Außenluft in einen Behälter gehängt. Der Behälter wird evakuiert; der Luftballon bläht sich auf; seine Hülle wird an die Wand des Behälters gedrückt und haftet daran (Abb. 8.14). Wird nun beim ersten Atemzug der Thoraxraum erweitert und wieder verengt, folgt die Lunge passiv. Dies wird sich bis ans Lebensende wiederholen. Allerdings kann es schlimme Probleme geben, wenn bei einer Verletzung Luft zwischen Lunge und Thoraxepithel eindringt. Es kommt zum partiellen oder gar vollständigen Pneumothorax, bei dem die Lunge bis auf ein Minimalvolumen kollabiert.
203
8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
Atemmechanik Inspiration Exspiration
Luftröhre
Brustmuskeln vom Schulterblatt zu den Rippen
dorsal
Brustmuskeln kontrahiert erschlafft
Luftballon (Lunge)
ventral
204
vor Geburt ausgeatmet eingeatmet
Gummimembran (Zwerchfell) Vakuumpumpe
Zwerchfell (Diaphragma) Bauchmuskeln und elastische Bauchdecke
Abb. 8.13. Atemmechanik beim Menschen. Veränderungen im Anstellwinkel der Rippen und abwechselndes Spannen (Abflachen) und Entspannen (Hochwölben) des Zwerchfells führen zu periodischen Erweiterungen und Verengungen des Brustraums. Rot: Muskelzüge; die oberen Muskelzüge setzen mit ihrem oberen Ende am Schultergürtel an (nicht gezeigt). Die Federn verweisen auf die elastischen Eigenschaften der Bauchdecke
8.5.3 Manche Tiere haben effizientere Atemorgane als wir Generell sind Atemorgane auf große Austauschflächen angelegt und diesbezüglich in der Evolution optimiert. Die vergleichende Anatomie verweist seit alters auf die Vergrößerung der inneren Lungenoberfläche in der Evolution der Landwirbeltiere (Abb. 8.15). Darüber hinaus gibt es bemerkenswerte Problemlösungen in Anpassung an den jeweiligen Lebensraum. Hier nur zwei Beispiele:
Abb. 8.14. Modell der Atemmechanik. Eine vor der Geburt tätige „Vakuumpumpe“ erzeugt Unterdruck zwischen Brustkorb und Lunge (genauer: Vor der Geburt steht keine Luft zur Verfügung, die Wasser verdängen könnte). Nach der Geburt: Der atmosphärische Luftdruck bläht über die „Luftröhre“ die Lunge auf. Die Funktion des Zwerchfells wird von einer Gummimembran nachvollzogen
Kiemen müssen, der geringen Sauerstoffkapazität des Wassers wegen, so ausgelegt sein, dass viel Wasser in effizienter Weise ausgebeutet werden kann. Kiemen nutzen das Gegenstromprinzip. Die Mundpumpe der Fische lässt Wasser den Kiemen entlang strömen, ihre Herzpumpe schickt in Arteriolen dem Wasserstrom einen Blutstrom entgegen. In den Lamellen, die den Kiemenfilamenten aufsitzen, kommen die gegenläufigen Wasser- und Blutströme in enge Nachbarschaft zueinander (Abb. 8.16). Durch diese gegenläufigen Ströme wird zwischen Wasser und Blut ein Sauerstoffgradient aufrechterhalten, und über die gesamte Länge der Kiemengefäße tritt Sauerstoff ins Blut über. Vogellungen haben sekundär ebenfalls ein Durchstromsystem mit Nutzung des Gegenstromprinzips entwickelt (Abb. 8.17). Statt in blind endi-
8.5 Atemorgane und ihre Ventilation
8.5.4 Die Ventilation der Lunge und ihre Perfusion werden über Fühler geregelt, die den pCO2 des Blutes messen
Lungenfisch Molch
Eidechse
Frosch
Säuger
Abb. 8.15. Vergrößerung der relativen Gasaustauschfläche in der Evolution der Lunge. Die peripheren, rot eingefärbten Bereiche sind von Blutkapillaren durchzogen
gende Alveolen hinein wird die Luft durch röhrenförmige Parabronchien geführt. Ein System von Blasebälgen (Luftsäcke) sorgt dafür, dass frische Luft die Parabronchien nicht nur beim Einatmen, sondern auch beim Ausatmen durchströmt. Beim Ausatmen wird, wenn man die anatomischen Verhältnisse richtig deutet, durch die Parabronchien diejenige Frischluft geführt, die zuvor beim Einatmen an der Lunge vorbei in die Luftsäcke gelenkt worden war. Freilich beruhen solche Schilderungen nicht auf Messungen an fliegenden Vögeln, sondern auf fantasievoller Interpretation anatomischer Befunde und auf Untersuchungen an narkotisierten Großvögeln (Enten). Wer kann schon bei einer Schwalbe im Flug die Luftströme im Körperinneren messen?
Die Rhythmik des Ein- und Ausatmens wird von neuralen Oszillatoren erzeugt, die über Nervenfasern periodisch elektrische Impulse (Aktionspotentiale) zu den Muskeln des Brustraums schicken. Diese Oszillatoren sitzen im Hirnstamm in der Medulla oblongata. Sie sind zwar in ihrem Handeln autonom, aber nicht unbeeinflussbar. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die Atemfrequenz den Bedürfnissen angepasst werden kann. Woher kennt das Atemzentrum die Bedürfnisse? Wir erwarten, dass direkt der pO2 des Blutes eine Rolle spielt, wobei möglicherweise die rhythmisch tätigen Neurone der Medulla direkt auf den pO2 reagieren. Auch wenn dies der Fall sein sollte, so setzt der Organismus des Wirbeltieres an strategisch günstigen Positionen noch andere und bessere Fühler ein. Fühler in Form von Sinneszellen, die die Qualität des Blutes prüfen, sind vor allem an den Verzweigungsstellen der Halsschlagadern (s. Abb. 10.6) lokalisiert; denn es sollte schon die Zufuhr zum Gehirn geprüft werden, damit frühzeitig reagiert werden kann. „Qualität“ heißt hier pO2, pCO2 und pH+ des Blutplasmas. In der Evolution der Wirbeltiere haben dabei die Rezeptoren für den pCO2 die Führung übernommen. Das hat gute Gründe: Die Schwankungen des pO2 werden im Blutplasma durch das Füllen und Entleeren der Hämoglobinspeicher stark abgepuffert. Der pCO2 schwankt stärker; Differenzen sind leichter zu messen. Ein hoher pCO2 zwingt uns reflektorisch zum Atmen; wir können dann „die Luft nicht mehr anhalten“. Hyperventilation durch rasches, tiefes Ein- und Ausatmen, beispielsweise bevor man ins Wasser taucht, kann den pCO2 im Blut soweit senken, dass das Atemzentrum umgekehrt sogar Stillstand befiehlt oder doch zulässt. Man kann „die Luft lange anhalten“. Allzu langes Anhalten des Atmens beim Tauchen kann gefährlich werden. Man kann in Ohnmacht fallen, bevor man reflektorisch zum Auftauchen gezwungen wird. Probleme des Atmens beim Tauchen werden wir nachfolgend ausführlicher diskutieren.
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8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
(Lungen-)Fisch
Ventilklappe Kiefer
Wa
Kiemenfilament
sse
r
Kiemendeckel (Operculum) Kiemenbogenarterie
KiemenbogenSkelettspange
Lunge oder Schwimmblase
Lungenarterie (arteria pulmonalis) Herz Kiemenlamelle Wasserstrom Kiemenfilament
Wasser-Blut Gegenstromaustausch-System Abb. 8.16. Gegenstrom-Systeme im Kiemenapparat der Fische. Das Herz schickt einen Blutstrom dem Wasserstrom entgegen, der den Mund-Kiemen-Raum durchspült. Auch in den Dimensionen einer einzelnen Kiemenlamelle strömt das Kapillarblut
dem Wasserstrom entgegen, wodurch über die gesamte Länge der Kiemengefäße ein Sauerstoffgradient gegenüber dem Wasser aufrechterhalten wird
8.6 Atem- und sonstige Probleme beim Tauchen
Lunge mit Parabronchien
a
Inspiration
Luftsäcke
b 'RUVDOHU%URQFKXV
Exspiration
c
3DUDEURQFKLHQ
hypothetisches Dreiwegeventil 9HQWUDOHU %URQFKXV %OXWNDSLOODUHQ
/XIWNDSLOODUHQ
d Abb. 8.17a–d. Vogellunge mit angeschlossenen Luftsäcken. Überblick (a). Luftströme (b, c). Sowohl bei Inspiration wie bei Exspiration werden die Parabronchien in gleicher Richtung durchströmt. Das eingezeichnete Dreiwegeventil gibt es nicht an der gezeigten Stelle als eine anatomische identifizierbare Struktur, doch sind verschiedene Bereiche der Atemwege
so konstruiert, dass sich insgesamt ein Effekt ergibt, als wäre ein solches Ventil an dieser Stelle vorhanden. Gegenstromsystem in der Vogellunge (d). Von den röhrenförmigen Parabronchien gehen Luftkapillaren aus, die mit bogenförmigen Blutkapillaren Kontakt aufnehmen. Luft und Blut strömen einander entgegen
8.6 Atem- und sonstige Probleme beim Tauchen
lische Gründe. Wir diskutieren sie an zwei Fallbeispielen:
8.6.1 Wer mit Verstand tauchen will, muss sich mit Physik befassen
Die gasundurchlässige Blase und das Boyle-Mariotte’sche Gesetz
Eine Gasblase in der Sprudelflasche wird beim Aufsteigen größer und größer; wird hingegen eine Gasblase (z. B. Luftballon) unter Wasser gedrückt, wird sie kleiner und kleiner. Dafür gibt es zwei physika-
Boyle-Mariotte: p × V = const. Wird ein Ballon unter Wasser gedrückt, steigt der Gasdruck, weil der Wasserdruck von außen auf dem elastischen Ballon lastet. Anders als Wasser ist Gas komprimierbar. Steigt der Druck, muss ent-
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8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
sprechend das Volumen des Gases kleiner werden, damit das Produkt konstant bleibt. Ein luftgefüllter Luftballon und ebenso die luftgefüllte Lunge werden umso mehr zusammengepresst, je tiefer die Tauchtiefe ist (Abb. 8.18). Pro 10 m Tauchtiefe nimmt der Druck um jeweils 1 bar = 100 kPa zu.
Die gasdurchlässige Blase und das Gesetz von Henry. Wird eine normale Luftblase oder eine Blase mit gasdurchlässiger Wand unter Wasser gedrückt, werden die Gase aus der Blase in das umgebende Wasser gedrückt; denn dieses ist in aller Regel nicht mit Sauerstoff und Stickstoff gesättigt. Die Menge
Luftdichter komprimierbarer Behälter
Luftblase oder luftdurchlässiger Ballon
1l
0m
1 bar = 100 kPa pO2 = 20 kPa pN2 = 78 kPa
5l 1 bar Lungenvolumen bei maximaler Einatmung
Luft löst sich im umgebenden Wasser, 10m Blase löst sich auf, Ballon schrumpft
0,5 l 2 bar = 200 kPa
2,5 l 2 bar
pO2 = 40 kPa pN2 = 156 kPa
1 bar >2bar > 2 bar
20m
0,33 l 3 bar = 300 kPa
1,67 l 3 bar
pO2 = 60 kPa pN2 = 234 kPa
30m
0,25 l 4 bar = 400 kPa
pO2 = 80 kPa pN2 = 312 kPa
40m
Abb. 8.18. Zur Physik des Tauchens
1,25 l entspricht dem Residualvolumen bei maximaler Ausatmung
0,125 l 5 bar > 5 bar
50m
4 bar
4 bar
Wasser- und Blutdruck Lungenvolumen höher als nicht weiter Luftdruck in reduzierbar der Lunge, Wasser dringt in Alveolen
Bei verlängertem, offenen Schnorchel wird Lunge auf Residualvolumen zusammengepresst
8.6 Atem- und sonstige Probleme beim Tauchen
an Gas, die Wasser physikalisch lösen kann, ist eine Funktion des Umgebungsdruckes und eines Löslichkeitskoeffizienten α, der für einzelne Gase unterschiedlich ist (s. Box 8.1). Eine Luftblase unter Wasser gezogen, schrumpft gemäß dem Gesetz von Henry viel rascher, als das Gesetz von Boyle und Mariotte verlangt, weil Gas ins Wasser entweicht, und schwindet bald ganz. Wenn sich eine Wasserspinne oder Wasserinsekt an der Wasseroberfläche eine Luftblase an ihren behaarten Leib geklebt hat, darf das Tierchen nicht zu tief tauchen, sonst ist die Luft weg. Nur wenn sich das Wasserinsekt das Tauchglockenprinzip zunutze macht und über mechanische Verstrebungen (Plastron) und Wände das Schrumpfen der Blase verhindert, kann sie sich längere Zeit am Luftvorrat erfreuen. Vielleicht strömt sogar aus dem Wasser Sauerstoff in die Blase nach. Kommt es in einer Flüssigkeit zur Entlastung von Druck (beispielsweise wenn der Sektkorken davonfliegt), ist nach dem Prinzip von Henry die Flüssigkeit rasch übersättigt und das Gas sondert sich in Form von Bläschen ab. Diese werden, wenn sie nach oben steigen, größer und größer, weil sie u. U. weiteres Gas aufnehmen und weil das Gesetz von Boyle und Mariotte das so konstatiert. 8.6.2 Der Körper hält viel Druck aus – mit Ausnahme der Lunge Sieht man von der Lunge und anderen luftgefüllten Hohlräumen wie den Stirnhöhlen ab, ist unser Körper wie ein wassergefüllter Ballon zu betrachten. Zellen und Blut bestehen schließlich zu über 90% aus Wasser, und die Haut ist elastisch genug, den von außen auf den Körper lastenden Druck auf Blut, interstitielle Flüssigkeit und Körperzellen zu übertragen. Diese sind nicht komprimierbar – unser Körper schrumpft nicht merklich – aber der Druck steigt. In 10 m Wassertiefe ist der Blutdruck nicht 101 kPa wie an der Wasseroberfläche, sondern 201 kPa und in 50 m ist er 601 kPa, also annähernd sechsmal so hoch wie an der Luft. Dennoch rast das Blut nicht durch den Körper und die Gefäße platzen nicht. Für den Kreislauf wichtig ist die Druckdifferenz zwischen Herzausgang und Herzeingang und diese Differenz ist nicht größer geworden. Die Blutgefäße platzen nicht, weil mit der Tauchtiefe Binnendruck in den Blutgefäßen
und Außendruck auf die Blutgefäße gleichermaßen zunehmen. Gleichwohl kann die Vorstellung, dass wir in 50 m Tiefe unter einem Druck von 6 bar stehen (Autoreifen 2 bis 3 bar bzw. 200 bis 300 kPa) ein mulmiges Gefühl erzeugen. Nicht zu Unrecht, wenn wir nun die Lunge betrachten. Die Lunge übernimmt den Druck ebenso wie der restliche Körper. Sie ist jedoch mit komprimierbarem Gas gefüllt. Sie schrumpft nach dem Prinzip von Boyle-Mariotte und nach dem Prinzip von Henry, wie oben für die Luftblase einer Wasserspinne erläutert. Das Skelett des Brustkorbs freilich setzt dem Schrumpfen Grenzen. Die Grenze ist erreicht, wenn die Lunge auf das Residualvolumen (ca. 1/5) geschrumpft ist. Die Konsequenzen für das Schnorcheln diskutieren wir weiter unten. Taucht man tiefer als 30 bis 40 m, hat die Lunge ihr Residualvolumen (Minimalvolumen) erreicht. Der Luftdruck in der Lunge kann deshalb nicht mehr gemeinsam mit dem Umgebungsdruck weiter steigen. Der Druck in der Lunge wird geringer sein als der hydrostatische Druck des Blutes, der seinerseits dem hydrostatischen Druck des umgebenden Wassers entspricht. Wenn der Blut(wasser)druck höher als der Luftdruck in der Lunge ist, dringt Wasser vom Blut in die Lungenalveolen ein. Man ertrinkt, auch ohne Wasser zu schlucken. Wie man trotz der erdrückenden Last des Wassers als Mensch ohne Tauchgeräte in Weltrekordtiefen von 108 m abtauchen kann (Tabelle 8.3) und dabei überlebt, können die Autoren dieses Buches nicht erklären. Tabelle 8.3. Maximale Tauchzeiten und Tauchtiefen (nach verschiedenen Quellen) Tauchdauer min
Tauchtiefe m
Mensch Alligator
3–4 120
108 (Weltrekord)
Stockente
15
Biber
15
Walross Kaliforn. Seelöwe Sattelrobbe Großer Tümmler Finnwal Blauwal Pottwal Entenwal
10 10 30 12 20 45 80 120
30 140 250 300 500 100 1000 (3000?) 1300
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8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
8.6.3 Schon beim Tauchen im Schwimmbad gibt es Probleme, wenn man seine Grenzen nicht kennt
chel hat. Warum kann man nicht einfach mit einem langen Schlauch in die Tiefe gehen? Die Antwort lautet: Zum einen erschwert der verlängerte Totraum die Ventilation. Zum anderen – und dies vor
Tauchen, auch ohne Gerät (apnoisches Tauchen, d. h. Tauchen ohne zu atmen) kann nicht nur Spaß machen. Der Schwimmbad-Blackout. Atmet man vor oder nach dem Tauchgang zu viel, zu rasch, und zu tief (Hyperventilation), wird das Blut zu sehr von CO2 entlastet. Wie bei der Höhenkrankheit (s. Abschn. 8.7) entfällt ein wichtiger Atemantrieb. Der Atemreflex, der zum Auftauchen zwingt, kann zu spät einsetzen; möglicherweise ist man zuvor schon ohnmächtig geworden. Der Tauchreflex. Ein Überlebenstrick der Natur ist der Tauchreflex. Die Evolution hat uns einen Schutzreflex mitgegeben, der verhindert, dass wir – so wir ins Wasser fallen – nicht gleich unsere Lungen mit Wasser füllen und ersticken. Taucht man sein Gesicht ins Wasser, wird sogleich reflektorisch die Atemmuskulatur stillgelegt (Apnoe). Gleichzeitig wird über das vegetative Nervensystem Sauerstoffsparen angesagt: die Herzschlagfrequenz sinkt (Bradykardie). Trotz verlangsamtem Herzschlag steigt jedoch der Blutdruck, weil sich die in die Arme und Beine ziehenden Arterien verengen. Gefahr der Hypothermie. Eine günstige Folge der verringerten Durchblutung von Armen und Beinen ist, dass die Auskühlung vermindert wird. Trotzdem kann der Körper wegen der hohen Wärmeleitfähigkeit des Wassers unter einer kritischen Wassertemperatur von 20° C nicht mehr genug Wärme erzeugen, um den Wärmeverlust zu kompensieren. Bei 4° C Wassertemperatur stirbt man in einer halben Stunde an Hypothermie. Der isolierende Neoprenanzug schafft Abhilfe. 8.6.4 Der Wasserdruck setzt der Möglichkeit des Schnorchelns frühe Grenzen Den Tauchreflex kann man mit geringen Mühen willentlich ausschalten und auch mit wasserumspültem Gesicht atmen, sofern man einen Schnor-
Abb. 8.19. Probleme beim Schnorcheln. Bereits in 1 m Wassertiefe übertrifft der Druck auf den Brustraum den Luftdruck in der Lunge in einem Maße, dass nicht mehr gegen den Außendruck eingeatmet werden kann
8.6 Atem- und sonstige Probleme beim Tauchen
allem – lastet auf dem ganzen Körper der umgebende Wasserdruck. In 10 m Tiefe wäre er 2000 hPa. Die Lunge jedoch steht über den Schnorchel in offener Verbindung zur Normalluft. In ihr ist der Luftdruck annähernd 1000 hPa. Schon in 1 m Wassertiefe kann man gegen den hohen Umgebungsdruck (1100 hPa) nicht mehr einatmen und das Gefälle der Partialdrücke kann sich umkehren. Trotz offenem Schnorchel verliert man O2 und man erstickt (Abb. 8.19). 8.6.5 Gerätetauchen: Man vertraut sich dem Druckautomaten an Pressluft ist nicht nur ein Luftvorrat zum Atmen. Pressluft hilft auch, das Kollabieren der Lungen zu verhindern. Jetzt kann man auch unter die kritische Grenze von 30 bis 40 m abtauchen. Je tiefer man taucht, desto höher muss naturgemäß der Kompressionsdruck sein. Ventile besorgen die Balance automatisch. Dabei wird der künstliche Luftdruck so eingestellt, dass die Lunge nicht beim Residualvolumen verharrt, sondern auf das Normalvolumen von 5 bis 6 l aufgebläht wird. 8.6.6 Lebensgefahren der Physiologie, Taucherkrankheiten Tiefenrausch und Stickstoffnarkose: Pressluft und hoher hydrostatischer Blutdruck haben zur Folge, dass sich weit mehr Gase, O2, N2 und CO2, im Blut physikalisch lösen als an Land. ●
Hohe Sauerstoffkonzentrationen wirken toxisch, ein Effekt, der freilich erst ab Tauchtiefen von 150 m gefährlich wird.
●
Bei einer Tauchtiefe von 100 m löst sich zehnmal mehr Stickstoff im Blut und Gewebe als an Land. Stickstoff löst sich besonders gut in fettartigem Gewebe, beispielsweise in den Myelinscheiden der Nervenfasern. Hohe Stickstoffkonzentrationen wirken narkotisierend und berauschend, ähnlich Alkohol und mit ähnlichen Folgen. Ersetzen von Stickstoff durch andere Inertgase wie Wasserstoff oder Helium bringt in diesem Punkt Abhilfe, verhindert jedoch nicht ein anderes Problem: die Dekompressionskrankheit.
Dekompressionskrankheit (Caissonkrankheit). Man steigt mit hohen Gaskonzentrationen hoch. Mit fallendem hydrostatischem Druck nimmt die Löslichkeit der Gase ab; sie scheiden sich in Form von kleinen Bläschen aus der Flüssigkeit der einzelnen Körperzellen und des Blutes ab. Nach BoyleMariotte – siehe oben – werden die Bläschen beim weiteren Aufstieg größer und größer und können schließlich Blutkapillaren verstopfen (Embolie). Die Symptome reichen von Kribbeln und Jucken („Taucherflöhe“) über Gelenkschmerzen bis zu Lähmungen, Ohnmacht und Tod. Langsame Dekompression erlaubt das allmähliche Abatmen der überschüssigen Gase. Langsame Dekompression nach Erfahrungsregeln und Tabellen ist wichtig für Gesundheit und Leben. Wurde gegen diese Regeln gesündigt, hilft nur sofortige Wiederkompression. Durch künstlichen Überdruck in einer Druckkammer werden die Gasbläschen wieder in der Körperflüssigkeit zurück gedrückt und aufgelöst. Langsame, kontrollierte Dekompression ermöglicht es dem Stickstoff, nach und nach das Lösungswasser des Blutes als freies Gas über die Lungen zu verlassen. Ein Caisson-Symptom tritt auch auf, wenn ein Flugzeug oder Ballon allzu rasch hochsteigt und der mit der Höhe sinkende Luftdruck nicht durch Erhöhung des Drucks in der Atemluft kompensiert wird.
Barotraumata an luftgefüllten Hohlräumen. Auch die Lunge selbst ist eine Blase. Steigt man bei geschlossenem Kehlkopf zu rasch hoch, bläht sich die Lunge auf und es kann zu Rissen kommen. Auch andere luftgefüllte Hohlräume sind gefährdet: Mittelohr, Kieferhöhlen, Nasennebenhöhlen im Siebbein und Keilbein, Stirnhöhlen und Warzenbein.
8.6.7 Tauchende Meeressäuger können es besser Robben, Delphine und Wale bleiben bis zu 2 Stunden unter Wasser. Delphine erreichen ca. 300 m Tauchtiefe; andere Wale 1000 m; dem Pottwal werden 3000 m Tauchtiefe zugetraut. Telemetrie ( radio-tag telemetry) ersetzt heute mehr und mehr solche Schätzungen durch Messungen, und verifizierte beispielsweise, dass der Seeele-
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8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
fant bei Tauchtiefen bis 900 m bis zu 2 Stunden unter Wasser bleiben kann. Wie kommen tauchende Lungenatmer zu ihrem Sauerstoff? Wie vermeiden sie Taucherkrankheit? Erst zu Letzterem: ●
●
●
Sie tauchen mit ausgeatmeten Lungen; darüber hinaus ist der Brustkorb weniger starr als bei uns; das Residualvolumen ist nahezu Null; bei Walen kollabieren die Lungen auf ein Restvolumen, das in einem Raum mit knorpeligen Wänden eingeschlossen ist. Es gibt kaum Gase, die ins Blut gedrückt werden könnten. Der Partialdruck der im Blut schon gelösten Gase wird vom Außendruck nur gering verändert, weil Blut, wie alle Flüssigkeiten, kaum komprimierbar ist und das Blutvolumen deswegen gleich bleibt. Das Kollabieren der Lungen vermindert zudem den Auftrieb. Bei manchen tieftauchenden Meeressäugern wie Delphinen werden zudem Luftbläschen, falls sie doch entstehen sollten, in einem besonderen Kapillarnetz abgefangen, bevor sie ins Gehirn gelangen könnten. Der Tauchreflex ist weiter getrieben: Bei verlangsamtem Herzschlag wird das Blut hauptsächlich dem Herzen und Hirn zur Verfügung gestellt. Sie dürfen sich den Sauerstoff holen und das CO2 loswerden. Die sonstigen Organe müssen zurückstehen.
Wie aber entgehen diese Tiere dem Tod durch Ersticken? Wie bekommen die Muskeln ihren Sauerstoff? Man nimmt Vorräte an chemisch gebundenem Sauerstoff mit in die Tiefe: ●
Das Volumen des Blutes ist bezogen auf 1 kg Körpergewicht 2–3 mal größer als beim Menschen;
●
Der Hämoglobingehalt (Hämatokrit) ist 30% höher;
●
Tauchende Säuger nehmen einen großen Vorrat an gebundenem Sauerstoff mit, gebunden nicht nur an dicht verpacktem Hämoglobin in ihren vielen Erythrocyten, sondern auch gebunden an das reichliche Myoglobin ihrer Muskeln. Das Fleisch von Walen ist, weil dicht mit Myoglobin beladen, nahezu schwarz. Das Blut mit seinem HbO2 wird vorzugsweise zum Gehirn geleitet. Die Muskeln können mit reduzierter Blutversorgung leben, weil sie einen eigenen internen Sauerstoffvorrat
in Form von viel Myoglobin-O2 haben und darüber hinaus einen Energievorrat in Form von viel Phosphagenen (z. B. Kreatinin-Phosphat). Damit können sie ihre ATP-Akkus rasch nachladen. Robben speichern pro kg Körpermasse 30–40 ml O2, der Mensch 10 bis 15 ml. Reicht der Vorrat nicht aus, so wird das Gewebe mehr als das der Landbewohner auf anaerobe Energiegewinnung umgestellt. Nach dem Tauchgang erlaubt ein enormes Atemvolumen eine rasche Erholung. Schnorchelnde Tiere gibt es auch, wenn man es gestattet, mit Tracheen ausgerüstete Insekten (Gelbrandkäfer) und Insektenlarven (Gelbrandkäferlarve, Mückenlarven) als schnorchelnde Tiere zu bezeichnen. Ihr Schnorchel (Atemhorn, Atemrohr) ist sehr kurz. Auch die Schnauze des Alligators, die Nüstern des Nilpferdes und der Rüssel des Elefanten können als Schnorchel dienen.
8.7 Atemnöte und Höhenkrankheit im Gebirge 8.7.1 Die Adaptationsfähigkeit des Menschen kennt Grenzen; doch gibt es durchaus spezifischen Anpassungsreaktionen dank HIF Bei allem Staunen über die Reinhold Messners, und allem Respekt vor den Bewohnern der Hochgebirge, über 5000 m gibt es keine Dauersiedlungen mehr. Immerhin, die meisten Menschen dürften es wohl schaffen, sich auf ein Leben auf 3000 m Höhe einzustellen. Der Mensch ist schließlich eines der anpassungsfähigsten Lebewesen. Hilft es ihm da, dass er Gene für verschiedene Hämoglobinvarianten hat? Wie wir hörten (s. Abschn. 8.3.6) hat der Fetus ein Hb, dessen Affinität zu Sauerstoff größer ist als das des mütterlichen Blutes. Erst nach der Geburt schaltet er auf das adulte α2β2 um. Gelingt eine solche Anpassung auch „rückwärts“ bei der Akklimatisation an große Höhen? Können wir im Gebirge wieder fetales Hämoglobin produzieren? Leider nein, wir können in der Entwicklung nicht zurück. Aber der Mensch ist durchaus in der Lage, mit spezifischen Anpassungsprogrammen auf Hypoxie zu reagieren. Länger anhaltende Sauerstoffarmut kann über das aus der Nierenphysiologie (Kap. 6)
8.7 Atemnöte und Höhenkrankheit im Gebirge
bekannte Hormon Erythropoitin EPO eine vermehrte Bildung von roten Blutkörperchen auslösen. Das Gen für EPO wird durch einen Transkriptionsfaktor namens HIF ( hypoxia-inducible factor) eingeschaltet. Derselbe Faktor stimmt viele Körperzellen durch Einschalten besonderer genetischer Programme auf die neuen Verhältnisse ein (Berchner-Pfannschmidt et al. 2008; Kenneth u. Rocha 2008).
8.7.2 Nicht nur die Sauerstoffarmut, auch der geringe Luftdruck kann lebensgefährlich werden Große Höhen bedeuten erniedrigten Luftdruck. Erniedrigter Luftdruck bedeutet auch erniedrigter Sauerstoff-Partialdruck (Abb. 8.20, Tabelle 8.1). Leben in großen Höhen ist folglich Leben in Sauerstoffarmut, doch kommt reduzierter allgemeiner Luftdruck hinzu: Der Blutdruck hat einen schwächeren Gegenspieler. In der Lunge beispielsweise stehen die Blutkapillaren unter Blutdruck, dem die dünnen Wände der Kapillaren normalerweise leicht Paroli bieten können, weil von der anderen Seite Luftdruck entgegenwirkt. Diese Hilfe wird in der Höhe geringer. Auch wird die Luft sehr trocken. Flachländer im Gebirge atmen schneller und tiefer; ihr Herz pocht. Auf 6000 m Höhe wird ca. 40-mal
mehr – allerdings verdünnte – Luft (200 l/min) eingesaugt als im Flachland (5 l/min). Der Puls steigt von 95 Schläge/min auf 150/min. Flachländer akklimatisieren im Verlauf von Tagen und Wochen durch ●
Erhöhung der Erythrocytenzahl. Bei Sauerstoffmangel signalisiert der in der Niere gebildete hormonale Faktor Erythropoietin dem Knochenmark, vermehrt rote Blutkörperchen herzustellen.
●
Erhöhung der Hämoglobinmenge in den Erythrocyten. Sie kann freilich nur geringfügig gesteigert werden.
●
Erweiterung der Blutkapillaren zur Verbesserung der Blutversorgung. Das hat allerdings auch eine Senkung des Blutdrucks zur Folge (s. Kap. 9), was jedoch wegen des geringeren Luftdrucks kein Schaden sein muss.
Beim Aufstieg sollte man sich nicht mehr als 600 Höhenmeter/Tag zumuten; zum Schlafen gegebenenfalls absteigen. Missachtet man diese Regel, verfällt man leicht einer Höhenkrankheit. Akute Höhenkrankheit. Bei zu raschem Aufstieg eines Bergwanderers meldet sich die akute Höhenkrankheit warnend durch unangenehme, doch nicht lebensgefährliche Symptome: ●
rasche Ermüdung,
●
rascher flacher Atem, Herzklopfen (beschleunigter Puls),
●
angeschwollene, ins Gehirn ziehende Arterien verursachen Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen.
Höhe m 15 000
10 000
Über 2700 m kann Höhenkrankheit in lebensgefährlicher Form auftreten. Symptome sind:
6,5 Gesamtluftdruck = 100% pO 2= 21%
M. Everest
11
5000
Mont Blanc
pO2 21
0 Luftdruck
20
60
40 200
80 kPa 100 mmHg 760
Abb. 8.20. Abfall des Gesamtluftdruckes und des Sauerstoffpartialdruckes mit steigender Höhe über dem Meeresspiegel. Daten aus Tabelle 8.1
●
Cheyne-Stokes-Atmung. Phasen schneller, tiefer Atmung (Hyperventilation) wechseln mit Phasen schwacher Atmung (Hypoventilation). Es kann zu sekundenlangem Atemstillstand kommen. Das physiologische Regelwerk kommt ins Stottern. Einerseits verlangt Sauerstoffarmut verstärkte Atmung. Verstärkte Ventilation führt andererseits zur ungewöhnlich schnellen Abgabe von CO2. Normalerweise ist ein hoher Kohlendioxidgehalt der wirksamere Auslöser der Ventilation als O2-Mangel. Bei zu geringem CO2-Gehalt ist bisweilen der stimulierende Antrieb zu
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8 Physiologie der Erythrocyten und Atemorgane
schwach. Erst wenn sich wieder CO2 im Blut angesammelt hat, setzt die Atmung wieder ein. ●
●
Lungen-Ödeme (Ödem = Wasseransammlung). Wegen der übergroßen hydrostatischen Druckdifferenz zwischen Blut und Höhenluft dringt Wasser aus den Blutkapillaren in die Lungenalveolen. Man hustet, blutiger Schaum kommt hoch; schließlich kann man wie beim Tauchen in der eigenen Körperflüssigkeit „ertrinken“. Gehirn-Ödeme, Schlaganfall. Über 3000 m kann Blutwasser und Blut aus platzenden Gefäßen ins Gehirn dringen, können sich Blutgerinnsel bilden. Symptome: torkelnder Gang, Sehstörungen, Rauschzustände, Verwirrung, Halluzinationen, Wahn, Koma (Bewusstlosigkeit).
Chronische Höhenkrankheit. Beim Langzeitaufenthalt über 4000 m kann es zur chronischen Höhenkrankheit kommen: Müdigkeit, Herzklopfen, Zusammenfassung des Kapitels 8 In allen Zellen, die ATP aus der vollständigen Oxidation von energiereichen Substanzen gewinnen, fällt im Citratcyclus CO2 als Abfall an, wird andererseits in der Atmungskette O2 als finaler Elektronenakzeptor gebraucht. Der Transport von O2 von der Luft zu den Körperzellen, der Abtransport von CO2 von den Körperzellen zur Luft, geschieht primär nach den Gesetzen der Diffusion und wird von den Unterschieden in den Partialdrücken zwischen Luft und Gewebe bestimmt. Da Diffusionsflüsse sich mit dem Quadrat der Entfernung zur Quelle verlangsamen (bei drei Dimensionen des Diffusionsraumes gar mit der 4. Potenz) und nach wenigen mm fast ganz zum Stillstand kommen, müssen Ventilation der Lunge und Konvektion im Kreislauf den Transport der Atemgase unterstützen (Physikalische Grundgesetze zum Thema Atmung erläutert Box 8.1). Ein Problem ergibt sich beim Überwechseln der Gase von der Luft ins Blut wegen der begrenzten Löslichkeit der Gase in Wasser. Bei gleichem Partialdruck von 21 kPa (partieller Anteil am Gesamtgasdruck = 21%) enthält 1 l Luft 210 ml O2, 1 l Wasser hingegen bei 37°C und voller Sättigung nur 4 ml O2. Hämoglobin in den Erythrocyten
Brustschmerzen, geschwollene Gelenke. Die vermehrte Zahl der Erythrocyten macht das Blut zähflüssig, es besteht eine erhöhte Gefahr von Embolien (Schlaganfall, Herzinfarkt). Eingeborene Höhenbewohner haben, genetisch bedingt, ●
größere Lungen, einen leistungsfähigeren Kreislauf,
●
größere Mitochondrien in ihren Zellen.
Doch auch für Eingeborene ist ein Daueraufenthalt >5000 m nicht möglich. Unsere Diskussionen über Probleme beim Tauchen und in der Höhe haben bereits deutlich werden lassen, dass die Physiologie der Atmung eng mit der des Kreislaufs gekoppelt ist. Ihm wenden wir uns im folgenden Kapitel zu.
erhöht die Kapazität des Blutes für O2 auf ca. 200 ml/l. Ein den Erythrocyten wird O2 reversibel an Fe2+ im Zentrum des Häms, einem TetrapyrrolRing = Porphyrin-Ring, gebunden. Das Häm ist seinerseits an das Protein Globin gebunden. Das tetramere Hämoglobin (α2β2) der Erythrocyten bindet 4 Moleküle O2; das monomere Myoglobin der Muskeln 1 Molekül O2. Der prozentuale Anteil des mit O2 beladenen Häms ist abhängig vom O2-Angebot ( pO2) und wird durch die Bindungskurve = Dissoziationskurve beschrieben. Sie verläuft beim monomeren Myoglobin hyperbol, beim tetrameren Hämoglobin (Hb) dank allosterischer Kooperativität sigmoidal, was physiologische Vorteile hat. Die O2-Abgabe bei fallendem pO2 in der Umgebung von Verbrauchern wird unterstützt durch einen sinkenden pH im Blut (Bohr-Effekt), bedingt durch die Metabolite Milchsäure und Kohlensäure, und durch Diphosphoglycerat, das Erythrocyten in einer Umgebung mit tiefem pO2 selbst erzeugen, die Affinität des Hb zu O2 herabsetzt und damit die Freigabe des Sauerstoffs fördert. Die Bindungskonstanten zeigen, dass, hiervon unbeschadet, die Affinität zu O2 vom Hämoglobin über das Myoglobin bis zum Cytochrom C in den Mitochondrien zunimmt, was den O2-Fluss unter-
Zusammenfassung des Kapitels 8
stützt. Fetales Hämoglobin α2γ2 übt eine höhere Affinität aus als das mütterliche adulte α2β2. Erythrocyten und Hämoglobin helfen dem Blut CO2, das leicht ausperlen könnte, gefahrlos zu transportieren, indem es in eine chemisch gebundene orm überführt wird. 20% des CO2 werden kovalent an Hämoglobin gebunden (Carbamino-Hb), nahezu 80% werden mittels des Erythrocyten-Enzyms Carboanhydrase in Hydrogencarbonat HCO3- überführt + ( CO2 + H2 O ←→ HCO− 3 + H ) und so im Blutplasma zur Lunge transportiert. Dort wird CO2 durch den Gegenprozess wieder freigesetzt. Die Richtung des Prozesses wird vom örtlichen pCO2 und pO2 bestimmt. Generell ist bei Lungen- wie bei Kiemenatmern der pCO2 für die Atemregulation maßgebend. Der im Bereich der Halsschlagadern herrschende pCO2 wird von Chemosensoren gemessen und erzwingt beim Überschreiten eines Grenzwertes Atemzüge. Deren Grundfrequenz wird von einem
neuralen Oszillator in der Medulla oblongata erzeugt. Weitere Abschnitte des Kapitels befassen sich mit der Mechanik des Atmens bei Säuger, Fisch und Vogel, mit der Physiologie des Tauchens bei Mensch und Meeressäugern, und mit Problemen in großen Höhen. Hauptprobleme beim Tieftauchen sind Kompression der Lunge bis zu einem Residualvolumen von 0,5 l, und Lösung großer Mengen von N2 in der Körperflüssigkeit und den Isolierschichten der Nervenzellen. Hohe N2-Mengen wirken narkotisierend, gasen beim raschen Auftauchen in Form von Bläschen aus und verstopfen Blutkapillaren. Meeressäuger tauchen mit ausgeatmeter Lunge und einem großen Vorrat an Sauerstoff, gebunden an viel Hämoglobin und Myoglobin. In Höhen über 3000 m bereiten der geringe Luftdruck verbunden mit geringem pO2 Atemnot; beides zusammen kann Höhenkrankheit mit Verwirrung und tödlichen Lungenödemen verursachen.
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9
Der Kreislauf
9.1 Verteilerflüssigkeiten vermitteln zwischen Außenwelt und Innenwelt und dienen als Spediteure im Körper Das in unserem Körper kreisende Blut vermittelt, wenn es beispielsweise Sauerstoff verteilt und Kohlendioxid einsammelt, zwischen Außenwelt und Innenwelt. Im vielzelligen Organismus, dessen einzelne Zellen zu Milliarden eng zusammengepfercht sind und der sich mit einer undurchlässigen Haut schützen muss, haben die meisten Zellen keinen direkten Zugang mehr zur Außenwelt. Wenn nun schon Nährstoffe, Wasser, Sauerstoff und sonstiges aus der Außenwelt stammendes Material im Medium des Blutes verteilt werden, warum nicht auch im Körper selbst produzierte Substanzen: Metabolite und Signalsubstanzen, die wir Hormone nennen? Und warum sollten Zellen, die gern auf Reisen gehen wie die Zellen des Immunsystems, nicht gleichfalls dieses Transportsystem benützen? Bei Vielzellern, die der Systematiker an den Anfang des zoologischen Systems stellt, ist das Verteilersystem noch wenig differenziert und enthält schlichtweg Außenwasser. Wir sprechen von Gastrovaskularsystemen, weil solche Verteilersysteme Funktionen eines Darmtraktes (griech.: gaster = Magen) mit Funktionen eines Gefäßsystems (lat.: vas = Gefäß; vascularis = zum Gefäß gehörig) verbindet. Cnidarier wie Korallen (Anthozoa) und Quallen (die sich sexuell fortpflanzende Generation der Scyphozoa) benutzen Seewasser-gefüllte Kanäle, um eine Suspension vorverdauter Nahrung in ihrem Körper zu verteilen. Ähnlich machen das Planarien.
Auch Echinodermen (Seesterne, Seeigel) haben ein Seewasser-gefülltes inneres Wasserkanalsystem, in dem freilich nicht mehr partikuläre Nahrung aufgeschwemmt ist. Bei ihnen ist der Verdauungstrakt vom Wasserkanalsystem getrennt. Außer diesem Kanalsystem übernimmt auch die Coelomflüssigkeit Verteilerfunktion. Bei Anneliden finden wir ein geschlossenes Kreislaufsystem, das keine direkte Öffnung mehr zur Außenwelt hat, und dessen ionale Zusammensetzung zwar noch Seewasser-ähnlich ist, aber doch vom Organismus passend modifiziert und laufend kontrolliert wird. Dieses selbst zurechtgemixte Verteilermedium heißt Blut. Es könnten nach Meinung mancher Evolutionsforscher sehr wohl Annelidenähnliche Tierformen (die hypothetischen „Urbilateria“) gewesen sein, von denen Amphioxus und die Vertebraten das Kreislaufsystem ererbt haben. Vertreter der Ecdysozoa, namentlich die Arthropoden, haben zwar keine geschlossenen Blutgefäße, doch auch ihre Verteilerflüssigkeit ist von der Außenwelt isoliert. Der Zoologe spricht hier von Hämolymphe. Von Blut spricht der Anatom, wenn die Verteilerflüssigkeit von einer Pumpe gefördert wird und in einem geschlossenen Röhrensystem zirkuliert. Lymphe nennt er die Flüssigkeit, die sich in den Spalträumen zwischen den Zellen und in anderen Höhlungen befindet, meistens ohne durch besondere Pumpen gefördert zu werden. Von Hämolymphe spricht der Zoologe, wenn die von einer Pumpe geförderte Verteilerflüssigkeit nicht in geschlossenen Röhren strömt und mit der Zwischenzellflüssigkeit identisch ist. Wir betrachten hinfort nur den Blutkreislauf der Wirbeltiere.
218
9 Der Kreislauf
BOX 9.1 Ein wenig Strömungsphysik
kreisrundem Querschnitt. Im Fall eines Rohres der Länge L und einer ungestörten (nicht-turbulenten) Strömung gilt:
Der Physiologe beachtet drei grundlegende Gleichungen der Hydrodynamik:
Volumenstromstärke (Fluss)
1. ein Gesetz, das dem Ohmschen Gesetz der Elektrizitätslehre entspricht und die Ursache des Stromflusses nennt,
I = dV/dt =
2. das Gesetz von Hagen-Poiseuille, das den Einfluss des Rohrquerschnitts auf den Fluss beschreibt, und
Der Widerstand R =
3. das Gesetz von Bernoulli, das unter anderem etwas darüber aussagt, wie die Wandstärke der Blutgefäße sein sollte, und was wir mit dem „Blutdruck“ messen.
1. Das „Ohmsche Gesetz“: Eine Flüssigkeit fließt nur, wenn ein Druckgefälle (dp/dx) da ist, welches die treibende Kraft zur Überwindung des Strömungswiderstandes liefert.
I = dV/dt = p/R = (p1 − p2 )/R
Widerstand meint hier den inneren Strömungswiderstand der Flüssigkeit, der von der Viskosität abhängt, sowie den Reibungswiderstand mit der Gefäßwand. Weil gegen Widerstand angearbeitet werden muss, und dabei letztlich Energie als Wärme verloren geht, sinkt der Druck im Rahmen der zur Verfügung stehenden Gesamtdruckdifferenz entlang der Strecke umso steiler ab, je größer der örtliche Widerstand ist. 2. Das Hagen-Poiseuille’sche Gesetz ist der Spezialfall des „Ohmschen Gesetzes“ für starre Rohre von
8ηL π · r4
Hierbei sind r der Rohrradius, L die Rohrlänge und n die Viskosität der Flüssigkeit. Dieses Gesetz enthält eine Aussage, die für die Physiologie des Kreislaufs eminent wichtig ist: Der Innenradius r geht mit der vierten Potenz in die Formel ein. Schon eine geringe Veränderung der Rohrweite hat dramatischen Einfluss auf die Menge Blut, die (bei gegebenem Blutdruckgefälle) pro Sekunde gefördert werden kann. Eine Verringerung des Rohrquerschnitts auf die Hälfte bewirkt eine Reduzierung des Blutstromes auf 1/16; eine Aufweitung des Rohrs um 20% verdoppelt schon den Strom und damit die Menge an Wärme oder Blutzucker, die transportiert werden kann.
(Die ersten beiden Gesetze beziehen sich auf reale Flüssigkeiten mit Viskosität; beim Gesetz von Bernoulli darf die Flüssigkeit als ideal betrachtet werden.)
Die Volumenstromstärke I (synonym: Fluss, Durchsatz, pro Zeit fließendes Blutvolumen dV/dt) ist (bei einem gegebenen, konstanten Rohrquerschnitt) proportional zur angelegten Druckdifferenz Δp entlang der Strecke und umgekehrt proportional zum Strömungswiderstand R:
π · r 4 p 8ηL
3. Das Bernoulli-Gesetz ist von Belang, wenn der Organismus die notwendige Wandstärke von Blutgefäßen herausfinden muss. Physikalisch betrachtet ist das Gesetz der für bewegte Flüssigkeiten formulierte Energie-Erhaltungssatz. In strömenden Flüssigkeiten lassen sich drei Arten von Druck messen, die in ihrer Summe konstant bleiben, solange man nicht von außen eingreift. Es sind dies ●
der statische Wanddruck, der von der ungeordneten molekularen Bewegung der Teilchen herrührt, allseitig auf die Gefäßwände wirkt und von natürlichen wie den üblichen technischen Blutdruckmessern registriert wird;
●
der dynamische Strömungsdruck (= „Staudruck“), der in der Längsrichtung des Rohres wirkt und die kinetische Energie der Teil-
7
9.2 Einkreissystem der Fische versus Zweikreissystem der Säuger
BOX 9.1 (Fortsetzung)
chenschar in Strömungsrichtung widerspiegelt, und ●
der hydrostatische Druck, der dem Gewicht der Flüssigkeit entspricht.
Betrachtet man der Einfachheit halber ein waagrechtes Rohr, sodass der Schweredruck als gleich bleibend betrachtet und vernachlässigt werden kann, dann verhalten sich Strömungsgeschwindigkeit und der mit dem Manometer (Blutdruckmessgerät) messbare statische Druck gegensinnig. Bei hoher Strömungsgeschwindigkeit drückt die Flüssigkeit weniger auf die Rohrwand; der Gesamtdruck aus dem horizontalen Strömungsdruck und dem allseitig wirksamen statischen Druck bleibt konstant. Eine höhere kinetische Energie der Flüssigkeit geht also auf Kosten des statischen Drucks. Bernoulli-Gesetz: Druckvolumenarbeit + kinetische Energie = konstant Das hat überraschende Konsequenzen und führt zum hydrodynamischen Paradoxon: Wird ein Rohr eingeschnürt, so nimmt die Strömungsge-
Bernoulli-Effekt Strömungsdruck
sehr gering
schwindigkeit zu und ist im engsten Durchlass am größten; denn an jeder Stelle des Rohrs muss sich in jeder Sekunde die gleiche (inkompressible) Flüssigkeitsmenge zwängen. An der engsten Stelle ist der Druck auf die Rohrwand keineswegs am höchsten, wie man als physikalischer Laie wohl erwartet und der unglückliche Ausdruck „Staudruck“ suggeriert (Der „Staudruck“ der Fachsprache meint den horizontalen dynamischen Druck, der die Flüssigkeit vorantreibt, nicht den Druck auf die Rohrwand! – daher auch „Staudruck“ = Strömungsdruck.) Am Engpass ist der Druck auf die Wand am geringsten! Nach der Einschnürung nimmt der Strömungsdruck wieder ab und entsprechend die horizontale Fließgeschwindigkeit; der statische Druck hingegen nimmt wieder zu (Abb. 9.1). In einem System mit vielen parallelen Röhren (Blutkapillaren) ist der Gesamtquerschnitt der Röhren von entscheidender Bedeutung. Zwar kann der statische Druck insgesamt hoch sein, er verteilt sich aber auf viele Kapillaren. Jede einzelne Kapillare hat einen nur geringen Wanddruck auszuhalten.
9.2 Einkreissystem der Fische versus Zweikreissystem der Säuger
Strömungsgeschwindigkeit
9.2.1 Am Beginn der Evolutionsgeschichte steht ein Einkreissystem, am Ende ein Doppelkreissystem
hoch
Statischer Druck auf Wand Manometer
Druck hoch
gering
Abb. 9.1. Bernoulli-Effekt
sehr gering
hoch
Bei Fischen treibt das Herz das Blut durch die Kiemen. Anschließend wird es eingesammelt und dem Körper zugeleitet. Das Venensystem führt das Blut zum Herzen zurück. Der Druckabfall in den Kiemen ist groß – ca. 80% des vom Herzen gelieferten Blutdrucks werden zur Überwindung des Strömungswiderstandes in den Kiemen verbraucht. Dennoch genügt als Pumpe ein einfaches Herz, zwar gegliedert in Vorkammer und Hauptkammer, aber als ein singuläres Pumpenaggregat wirkend und nur mit einem Ausgang und einem Eingang versehen.
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9 Der Kreislauf
Der Säuger, und ganz ähnlich auch der Vogel, hat ein Zweikreissystem. Der „kleine Kreislauf “ führt das Blut vom rechten Herzen in die Lunge. Von dort jedoch geht es nicht zum rechten Herzen zurück, sondern ins linke Herz. Dieses treibt das Blut im „großen Kreislauf “ durch den Körper. Die Vorteile des Zweikreissystems liegen auf der Hand. Wenn das Blut die Lunge mit ihren unzähligen feinen Kapillaren verlässt, ist das noch verfügbare Druckgefälle zum Herzen hin nur sehr gering. Das Gefälle genügt noch, um das Blut mit ausreichender Geschwindigkeit zum Herzen zurückströmen zu lassen. Die noch verfügbare Energie würde aber nicht genügen, das Blut durch den Körper zu treiben, zumal Organe wie Leber und Niere dem Blutstrom hohe Widerstände entgegensetzen. Die zweite Herzhälfte wirkt als komplette zweite Pumpe.
9.2.2 Die Lunge wurde von Fischen für den Notfall „erfunden“ Lungen wurden nicht erst von den frühen Landwirbeltieren (Amphibien) erfunden, sondern – mehrfach und unabhängig – von Fischen, die im Süßwasser lebten. Erfinder waren vermutlich Fische in solchen Gewässern, die während eines Teils des Jahres an Sauerstoff verarmten. Dies ist heute noch in den Überschwemmungsgebieten des Amazonas so, und dort findet man mancherlei Fischarten, die im Notfall Luft schnappen. Die mutmaßlichen Vorfahren der Amphibien schluckten wie die heutigen Lungenfische Luft in eine Aussackung der Speiseröhre. Diese Aussackung ist die Lunge, aus der sekundär die Schwimmblase derjenigen Fische entstanden sein dürfte, die nach ihrem Wechsel in permanente und ausreichend durchlüftete Gewässer ihre Lunge zur Schwimmblase umfunktionieren konnten. Fische haben eine Lunge oder eine Schwimmblase (oder keines von beiden). Für eine Lunge, die nur im Notfall als zusätzliches Atemorgan benötigt wird, genügt es, wenn sie im Nebenschluss in den Kreislauf eingebunden wird. Es muss ja nicht alles Blut durch die Lunge getrieben werden. Faktisch wurden von den letzten Kiemenbogenarterien Zweige zur Lunge gelenkt (Abb. 9.2 u. 9.3). Das mit Sauerstoff angereicherte
Blut wurde dem Venenblut zugemischt, das vom Körper kommend dem Herzen zufließt. 9.2.3 Die Umstellung vom Einkreissystem der Fische auf das Zweikreissystem der Säuger war ein schwieriges Unterfangen, das viele Millionen Jahre Evolution in Anspruch nahm Als die Kiemen aufgegeben werden mussten und auf der Evolutionsstufe der Reptilien auch noch die Hautatmung ausfiel, die den Amphibien noch verfügbar ist, war die Not groß. Nun musste die Lunge vergrößert und viel, möglichst alles, Blut durch die Lungen gejagt werden. Das aber erforderte viele Umkonstruktionen. Schon die Lungenfische hatten eine wertvolle Vorleistungen erbracht und das Lungenblut separat vom Körperblut ins Herz einströmen lassen. Nun mussten die Ausgänge vom Herzen aufgetrennt und über Kreuz gelegt waren; erst dann konnte das Herz in zwei Herzen (zwei Hauptkammern plus dazugehörende Vorkammern) aufgetrennt werden (Abb. 9.2). Dies dürfte auf der Evolutionsstufe der Saurier geschehen sein. Schon Krokodile haben ein Zweikreissystem (können aber beim Tauchen über einen Umschaltmechanismus in den Ausgängen der Herzen den Lungenkreislauf weitgehend stilllegen). Vom Niveau der Reptilien aus haben Vögel und Säuger eine sehr ähnliche aber nicht identische Lösung gefunden.
9.2.4 Im Mutterleib hatten auch wir noch einen „Fischkreislauf“; die Umstellung auf das Zweikreissystem bei der Geburt war nicht leicht Im Mutterleib wäre es nicht zweckmäßig, und wegen des hohen Strömungswiderstandes auch kaum möglich, alles Blut durch die noch kollabierte Lunge zu treiben. Auch wir atmeten mittels Kiemen! Die Zotten der Plazenta sind funktionell Kiemen, die ins mütterliche Blut tauchen. Wie ein Fisch hatten wir ein Einkreissystem, waren aber schon vor der Geburt für eine rasche Umstellung auf Luftatmung vorbereitet. Die Umstellung erfolgte mit dem ersten Atemzug. Wie das geschah, lese man in einem
9.3 Im Zentrum steht das Herz Lungenfisch
Kopf
Lunge
Kiemen
Darm Niere Leber Herz
Säuger Ductus arteriosus Kopf Darm
Lunge
Niere Leber
li Herz
re Herz
Abb. 9.2. Blutkreisläufe von Lungenfisch und Säuger im Vergleich. Weiße Pfeile geben die Strömungsrichtung des Blutes an, rote Pfeile weisen auf entscheidende evolutive Erneuerungen.
Wird beim Lungenfisch die Lunge durch die Schwimmblase ersetzt, hat man den Kreislauf eines typischen Knochenfisches (Teleosteer) vor sich
Buch über Entwicklungsbiologie nach (z. B. Müller u. Hassel 2006).
Herzausgang und Herzeingang liegen: hoher Druck am Ausgang, niedriger Druck oder gar Unterdruck am Eingang. Bei der Mehrzahl der rhythmisch pulsierenden Herzen geschieht dies über drei miteinander gekoppelte Mechanismen:
9.3 Im Zentrum steht das Herz
●
Der Muskel der Hauptkammer (Ventrikel) verengt durch seine Kontraktion das Volumen des Binnenraums. Die nicht komprimierbare Flüssigkeit des Blutes gerät unter Überdruck, dem sie nur durch den Herzausgang in Arterien (oder Körperhöhlen) ausweichen kann, weil Ventile den Weg zum Herzeingang versperren.
●
Während die Hauptkammer sich kontrahiert, erweitert sich die Vorkammer. Es entsteht in der Vorkammer ein Unterdruck, der Flüssigkeit aus Venen (oder Körperhöhlen) ansaugt.
9.3.1 Das Herz ist eine Saug-Druck-Pumpe Ein Herz muss als funktionstaugliche Pumpe Druckdifferenzen erzeugen, nicht bloß Druck. Man kann einen Autoreifen mit noch soviel Druck voll pumpen, die Luft zirkuliert nicht im Reifen. Wir brauchen eine Druckdifferenz entlang der Blutgefäße und die Endpunkte dieser Differenz müssen am
221
222
9 Der Kreislauf Abb. 9.3. Blutkreislauf des Menschen. Skl = Segelkappen; Tkl = Taschenklappen; Vena cava = große Hohlvene
Lymphsammelgefäße
Kapillaren Hals-Kopfbereich
Lymphknoten mit Lymphocyten und Ventilklappen
CO 2
O2
Lunge
Tkl Aorta Skl
Vena cava Kapillaren im Rumpf und in den Extremitäten CO 2
O2
Lymphknoten Lymphsammelgefäße
9.3 Im Zentrum steht das Herz ●
Die Volumenänderungen und Druckunterschiede zwischen Vor- und Hauptkammer werden durch eine periodische Verlagerung der Ventilebene unterstützt (Abb. 9.4).
Betrachten wir im Augenblick nur eine (beliebige) Kammer des Säugerherzens, so wirkt sie abwech-
selnd erst als Saugpumpe, dann als Druckpumpe. Bei der Diastole (Erweiterung) erzeugt sie Unterdruck (Sog) und saugt dadurch Blut an. Bei der Systole (Kontraktion) erzeugt sie Überdruck und wirft Blut aus. Die Segelklappen (Atrioventrikular-Klappen) zwischen Vor- und Hauptkammer wirken als Ventile, deren Verlagerung der Hauptsymbolische "Blutsäule"
Diastole
Verlagerung der Ventilebene
Verlagerung der Ventilebene
Systole Ventrikel
Vorhof
Vorhof Ventrikel
Diastole
Abb. 9.4. Pumpmechanik. Links: Herz der Säuger (Mensch). Rechts: Herz eines Fisches (ähnlich: Mollusken). Gemeinsame Prinzipien sind periodische Änderungen der Volumina verbunden mit einer periodischen Verlagerung der Ventilebene zwischen Vor- und Hauptkammer
Systole
Säuger
Fisch Mollusk
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9 Der Kreislauf
kammer hilft, bei ihrer Systole ihren Binnenraum zu verkleinern. Gleichzeitig hilft die Verlagerung der Ventilebene der Vorkammer, ihren Binnenraum zu erweitern und Sog zu entfalten. In der nächsten Phase des Herzschlags, während der Diastole der Hauptkammer (Ventrikel), schieben sich die geöffneten Segelklappen über die stehende Blutsäule, um Blut aus dem Vorhof abzuholen. Die Segelklappen schaufeln so periodisch Blut von der Vorkammer in die Hauptkammer. Diese presst das Blut in der Systole gegen die Taschenklappen, bis diese aufspringen und den Weg in die Arterien freigeben.
9.4.1 Um den globalen Strom zu steuern, wird zuerst die Pumpe reguliert Wenn wir arbeiten, die Treppe hochsteigen oder Sport treiben, wird der Kreislauf stärker in Anspruch genommen als in Ruhe. Ohne dass wir uns darüber viel Gedanken machen müssten, zeigt das pochende Herz an, dass Blut in Mengen in Umlauf gebracht wird. Der Physiologe unterscheidet drei Möglichkeiten, wie sich die Leistung des Herzens regeln und steuern lässt: ●
Die intrakardiale Anpassung des Schlagvolumens. Diese Anpassung wird nicht von neuronalen Impulsen befohlen, sondern vom Herzen selbst geleistet („intrakardial“ = innerhalb des Herzens erfolgend). Muss mehr Blut gefördert werden, holt das Herz bei der Diastole weiter aus und erhöht so das Schlagvolumen, d. h. die pro Herzschlag geförderte Blutmenge. Mit anderen Worten: das Herz kann selbsttätig die Amplitude des Herzschlags variieren.
●
Die extrakardiale Anpassung der Kontraktionskraft. Wenn mehr Blut ausgeworfen werden muss, muss im Regelfall nicht nur die Schlagamplitude, sondern auch die Kontraktionskraft erhöht werden, weil der Widerstand in den Gefäßen nicht ohne weiteres geringer wird. Der Herzmuskel gehorcht in diesem Fall neuronalen Steuerbefehlen, die über Nervenfasern hereinkommen. Diese Fasern gehören dem vegetativen Nervensystem, speziell dem Subsystem Sympathicus (s. Kap. 10), an und setzen an ihrem Ende die Überträgersubstanz Adrenalin frei. Wenn gleichzeitig die Herzamplitude und die Kontraktionskraft zunehmen, erhöht sich das Herzzeitvolumen. Es kann weiter gesteigert werden durch die Beschleunigung der Herzschlagfrequenz.
●
Die extrakardiale Anpassung der Schlagfrequenz. Hierfür sind die gleichen „vegetativen“ neuronalen Fasern zuständig, die auch die Kontraktionskraft regulieren. Allerdings sind nun mehr die parasympathische Fasern (s. Kap. 10) von Bedeutung. Ist keine besondere Leistung
9.3.2 Das Herz pumpt 300 bis 1000 l pro Stunde Bei einem Herzschlag wirft jeder Ventrikel 70 ml Blut aus. Das Herz pumpt im Mittel 70-mal in einer Minute. Es werden pro Minute 5 l in die Lunge gepumpt und anschließend in den Körper. Das ganze vorhandene Blut durchströmt also in einer Minute rechtes Herz, Lunge, linkes Herz und Körper. ●
5 l/min (es können bis zu 25 l/min sein) ergeben
●
300 l/h
●
7200 l/Tag
●
2,6 Mio. l/Jahr
●
2 Mrd. l/75 Jahre.
Da man sich mitunter auch anstrengt und das Herz dabei bis zu 25 l/min pumpt, sind die tatsächlichen Leistungen noch höher. Gibt es einen vom Menschen hergestellten Motor, der an die hundert Jahre ununterbrochen läuft, ohne eine einzige Reparatur?!
9.4 Die Steuerung der Blutströme Die Steuerung der Blutströme im Kreislauf beginnt am Herzen, setzt sich in der Peripherie fort und endet im Herzen.
9.4 Die Steuerung der Blutströme
gefordert, bremsen parasympathische Nervensignale die Herzschrittmacher. Bei körperlicher Belastung fahren sie ihre bremsende Wirkung zurück. Die Erhöhung der Herzschlagfrequenz basiert auf beschleunigter Diastole. Das Herz füllt sich schneller. Was der natürliche Herzschrittmacher ist, und wie die Herzmuskulatur zu koordinierten Kontraktionen und Expansionen stimuliert wird, erfahren wir im Kap. 16, wenn wir wissen, wie elektrische Impulse erzeugt werden (Kap. 14) und von Zelle zu Zelle weitergeleitet werden (Kap. 15).
9.4.2 Variable Widerstände in den Blutgefäßen erlauben es, das Blut je nach den Erfordernissen in verschiedene Regionen des Körpers zu lenken Je nach den Erfordernissen des Augenblicks können die Blutströme im Körper mehr hierhin oder mehr dorthin gelenkt werden. Maßgebliche Steuerelemente sind Muskelzellen, die die Blutgefäße umhüllen (Abb. 9.5 u. 9.6). Sie können lokal Gefäße verengen oder erweitern. Das muss nach einem ausgeklügelten Funktionsplan geschehen, der Rücksicht auf die globalen und lokalen Erfordernisse nehmen muss.
"Windkessel"
Pulswelle 2
Niederdruck
Pulswelle 1
Variable Kapazität in Darm, Leber, Milz u.a.
Hochdruck
Lymphgefäß
Abb. 9.5. Funktionsplan des Blutkreislaufs. Die „Windkesselfunktion“ (Abfangen des Druckpulses) und Wanderung der Pulswelle in der Aorta sind nochmals vergrößert dargestellt. (Nach Klinke u. Silbernagl 1996)
Variabler Widerstand durch muskuläre KontraktionExpansion
Wasseraustausch
225
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9 Der Kreislauf Abb. 9.6. Blutgefäße
Arteriole Muskelzelle
Arterie Kapillare Glatte Muskulatur (Tunica media) Erythrocyt
Makrophage
Vene Glatte Muskelzellen
Venole
Dabei muss die Steuerzentrale vieles berücksichtigen: Wer braucht vermehrt Sauerstoff? Geht Wärme verloren? Es ist das vegetative Nervensystem mit seinen Steuerzentralen im Gehirn, das den Funktionsplan ausheckt. Wir erfahren darüber im Kap. 10. Im Weiteren wollen wir den Weg des Blutes verfolgen, ohne schon steuernd eingreifen zu wollen.
9.5 „Blutdruck“ und der weite Weg durch den Körper Glossar zur Wegbeschreibung: Arterien (größte ist die Aorta ascendens) – Arteriolen – Kapillaren – Venolen – Venen (größte davon: Vena(e) cava(e), ins Herz mündend). Physiologisch repräsentieren die starkwandigen Arterien das Hochdrucksystem, die dünnwandigen Venolen und Venen das Niederdrucksystem. 9.5.1 Die „Windkesselfunktion“ der Arterien dämpft Blutdruckschwankungen und verbessert die Effektivität des Bluttransports Während der Systole der Hauptkammern fängt die elastische Aortenwand statischen Druck auf und
speichert ihn kurzfristig als potentielle Energie. Wenn während der Diastole des Herzens der Druck auf die Aortenwand nachlässt, gibt sie die gespeicherte Energie wieder frei. Ein großer Teil davon wird dabei in Strömungsdruck verwandelt, weil der Widerstand in Strömungsrichtung nun mal am geringsten ist. Während die Herzkammer sich von ihrer Anstrengung in der Diastole erholt, wird der Blutflüssigkeit durch die elastisch zurückschwingende Aortenwand weiter kinetische Energie vermittelt. Insgesamt verbessert diese sogenannte „Windkesselfunktion“ der Aortenwand die Effektivität des Transports. Kurze Pulse mit hohen Drücken auf die Wandung werden zeitlich gedehnt und in eine mehr kontinuierliche Strömung umgesetzt. Gegenüber einer starren Röhre ist der Fluss verbessert; zugleich wird die Belastung der Gefäßwände reduziert.
„Windkessel“: Eine Pumpe drückt stoßweise „Wind“ (Luft/ Gas) in ein großvolumiges Zwischengefäß, den Windkessel. Von diesem kann der „Wind“ kontinuierlich in den Ofen oder sonstigen Verbraucher weitergeleitet werden.
Interessanterweise läuft die Pulswelle schneller als die Blutflüssigkeit selbst. Wie beim Schall versetzen die Wassermoleküle ihren Nachbarn einen Stoß,
9.5 „Blutdruck“ und der weite Weg durch den Körper
und diese Impulsübertragung setzt sich von Molekül zu Molekül rasch fort. Kaum hat das Blut selbst den Brustkorb verlassen, ist der Puls schon im Fuß angekommen.
9.5.2 Lebensweisheiten und Faustregeln für Bluthochdruck-Gefährdete: 100 plus Lebensalter Der Blutdruck zwischen systolischem Maximum und diastolischem Minimum pendelt bei einer ruhenden, 20 jährigen „Normperson“ ● ●
im linken Herzventrikel zwischen 125 und 0 mmHg, in der Aorta zwischen 125 und 70 mmHg
●
in der Armarterie zwischen 120 und 80 mmHg
Der gesundheitsbewusste Laie bekommt vom Arzt die Faustregel mitgeteilt, der systolische Ruhewert solle 100 plus Lebensalter nicht überschreiten, der diastolische soll stets unter 100 bleiben. Im Sport und bei anstrengender Leistung sind kurzfristige Spitzenwerte bis zu 220 mmHg erlaubt. Darüber drohen Herzinfarkt und Schlaganfall. Wir sollten uns stets vor Augen halten, dass der vom Arzt und Physiologen gemessene „Blutdruck“ den Druck des Blutes auf die Gefäßwand widerspiegelt, nicht den Strömungsdruck. Um den Strömungsdruck zu messen, muss ein Katheter in das Gefäß oder Herz eingeführt und mit einem Manometer verbunden werden. Solche invasive Methoden werden bisweilen im Tierversuch gemacht, verbieten sich aber selbstredend für Routinemessungen beim Menschen. Mit nichtinvasiven Methoden können noch manche zusätzliche Informationen gewonnen werden. Beispielsweise die Dopplersonographie. Ultraschallpulse werden ausgesandt und von den Erythrocyten des Blutes reflektiert. Je nach Flussrichtung und Geschwindigkeit des Erythrocytenstroms kommt es zu einer Frequenz-Erhöhung oder – Erniedrigung der reflektierten Schallwellen. (Zum Dopplereffekt siehe auch Sonar der Fledermäuse Abschn. 19.6, Abb. 19.14)
Der örtliche statische Druck kann durchaus einen brauchbaren Schätzwert über die Strömungsverhältnisse geben, es sei denn, ein Gefäß ist verstopft – beispielsweise durch ein Gerinnsel. Dann verwandelt sich der Strömungsdruck in statischen Druck. Der örtliche Blutdruck ist dann hoch, doch das Blut
stockt. Passiert dies in den Herzkranzgefäßen, wird Herzinfarkt diagnostiziert, passiert das in den Gefäßen, die ins Gehirn führen, heißt die Diagnose Schlaganfall.
9.5.3 Kapillarisierung fördert den Stoffaustausch in mehrfacher Hinsicht Durch die Kapillaren muss genauso viel Blut pro Zeiteinheit fließen, wie das Herz auswirft; die Venen müssen genau soviel wieder zum Herzen zurückbringen. Nun sind jedoch die Radien der Röhren und die Widerstände, die die Gefäße dem Strom entgegensetzen, sehr unterschiedlich (Abb. 9.7). Das Herz liefert einen bestimmten Ausgangsdruck. Er bringt in der Aorta das Blut zum Strömen – Strömungsdruck –, er dehnt die Gefäßwände – statischer Druck –, und er hebt die Blutsäule in den nach oben führenden Gefäßen gegen das Gewicht der Säule – hydrostatischer Schweredruck (Box 9.1). Wir können am Einfachsten diejenige Druckkomponente messen, welche die Blutgefäße dehnt. Das nennen wir dann den „Blutdruck“. In der Aorta muss der Strom konstant sein. Da ihr Durchmesser gleich bleibt, schließen wir von konstantem Strom auf konstante Fließgeschwindigkeit und konstanten Strömungsdruck. Wir messen aber einen geringen Abfall des „Blutdrucks“, d. h. des statischen Drucks auf die Wand. Energie ist abgezogen und zur Überwindung des Widerstandes eingesetzt und schließlich als Wärme „verbraucht“ worden. Eben deshalb gibt es entlang der Arterien auch ein Druckgefälle. Viel ist es nicht, was an Blutdruck in den Arterien verloren geht. Der ganze Arterienbaum repräsentiert das Hochdrucksystem. In den engen Arteriolen steigt der Widerstand gewaltig. Es muss viel Energie zu seiner Überwindung aufgebracht werden. Dies geht auf Kosten des Drucks. Der Gesamtdruck nimmt ab; der auf die Gefäßwand lastende Druck nimmt entsprechend ab (Tabelle 9.1). Dies ist von Vorteil: Die Gefäßwände können dünner und dünner gestaltet werden, und das fördert den Stoffaustausch zwischen Blut und Umgebung (Abgabe von Sauerstoff und Glucose, Übernahme von Kohlendioxid und anderen Endprodukten des Stoffwechsels).
227
228
9 Der Kreislauf Abb. 9.7. Druckverhältnisse, Strömungsgeschwindigkeiten und summarische Gefäßquerschnitte im großen Kreislauf zwischen linkem und rechtem Herzen
mm Hg
Blutdruck (Wanddruck)
kPa 16
120 100
12
80 8
60 40
4
20
Radius cm Strömgeschwindigkeit cm/s 20
40
30 15 4000 cm 2 10
r = 3,5 cm 38,5 cm 2
r = 2,5 cm 19,6 cm 2
5
Tabelle 9.1. Höchster Blutdruck während der Systole des Herzens in Ruhe (und bei Belastung) Ort
re Ventrikel li Ventrikel Aorta Kapillarenanfang Kapillarenende
Blutdruck (Werte bei Belastung) in mmHg
in kPa
25 20 (220) 120 (220) 32 17
3,3 16,0 (30) 16,0 (30) 4,3 2,3
Andererseits ist in der einzelnen Kapillare der Rohrradius klein. Nach Hagen-Poiseuille reduziert ein auf die Hälfte verkleinerter Rohrradius den Strom, der pro Sekunde durchfließt, auf 1/16. Werden also an die Aorta Röhren vom halben Radius angeschlossen, so brauchen wir 16 Röhren, um den gleichen Fluss zu garantieren. So viele Röhren in der Entwicklung des Embryos und des jugendlichen Körpers herzu-
stellen, bedeutet einen gewaltigen Aufwand. Andererseits bringt der geleistete Aufwand wiederum Vorteile. Wir können den Blutstrom weit verästeln. Um den gesamten Blutstrom nicht über Gebühr zu verlangsamen oder gar zum Stillstand zu bringen, muss der Gesamtquerschnitt aller Kapillaren sehr groß sein. Querschnittsfläche: 4 cm2
●
Aorta
●
Arterien
~20 cm2
●
Arteriolen
400 cm2
●
Kapillaren
4500 cm2
●
Große Venen
8 cm2
Wegen dieses großen Gesamtquerschnitts fließt in jeder einzelnen Kapillare das Blut nicht wie in
9.5 „Blutdruck“ und der weite Weg durch den Körper
einer „Bernoulli-Verengung“ besonders schnell, sondern besonders langsam, und übt trotzdem nur einen geringen Druck auf die Kapillarwände aus. Viel Druck ging zur Überwindung der Widerstände verloren, und der verbleibende Restdruck verteilt sich auf viele Gefäße. Im Bereich der Kapillaren geschieht alles, worauf es im Kreislauf ankommt. Rasch können Substanzen mit den Zellen und der Interstitialflüssigkeit ausgetauscht werden. Kapillaren sind kurz, nicht einmal 1 mm lang. Es gibt aber in unserem Körper ca. 40 Mrd. davon; ihre Austauschfläche wird auf 1000 m2 geschätzt.
nicht mal, um im stehenden Menschen die Blutsäule gegen ihr eigenes Gewicht das Bein hinauf zu hieven. Es müssen Hilfsmaßnahmen her. Beim Menschen nennt der Physiologe vier solche Hilfsmechanismen: ●
Die Muskelpumpe. Muskeln quetschen die Venen zusammen. Ventile in den Venen, die Venenklappen (Abb. 9.8), sorgen dafür, dass das Blut dem Druck nur Richtung Herz ausweichen kann. Wenn wir „mal unsere Beine vertreten2, setzen wir die Muskelpumpe in Gang. Bei Krampfadern ist die Funktion der Venenklappen gestört; es kommt zum Blutstau in den Venen.
●
Begleitarterien. Arterien begleiten Venen, wenn auch in Gegenrichtung. Die Pulswelle, welche die Arterien dehnt, überträgt sich auf die Venen. Die Venenklappen sorgen wieder dafür, dass dort das Blut Richtung Herz ausweicht.
●
Die Atmungs-Saug und Druckpumpe. Während des Einatmens wird der Brustkorb erweitert und mit dem Brustkorb werden auch die Gefäße gedehnt, die ihn durchziehen. Die Venen saugen Blut an. Bei der Exspiration werden die Gefäße wieder komprimiert. Die Venen werden also abwechselnd gedehnt und komprimiert, ähnlich den kontraktilen Venen im Flügel der Fledermaus
9.5.4 In manche Gebiete, z. B. ins Gehirn, wird der Blutstrom autoregulatorisch konstant gehalten Da nach Hagen-Poiseuille der Rohrquerschnitt in ganz besonderem Maß den Durchfluss bestimmt, steht dem Organismus eine elegante und einfache Möglichkeit offen, die Durchblutung eines Organs zu steuern. Er kann die Gefäßwände mit Muskelzellen versehen, die durch Kontraktion oder Expansion den Querschnitt rasch verändern können. In den Zuflüssen zu einigen Organen reagieren die Muskelzellen auf Blutdruckschwankungen automatisch so, dass der Zufluss konstant bleibt. Davon profitieren das Gehirn, die Niere und der Darm.
Begleitarterie Muskelpumpe
9.5.5 In den Venen müssen Hilfsmaßnahmen einen ausreichenden Fluss gewährleisten In den Venen kommt nur mehr geringer Druck an. Er verteilt sich auf geringen Strömungsdruck und geringen Wanddruck. Venen repräsentieren das Niederdrucksystem. Der Organismus kann sich Wandmaterial sparen und die Venenwände dünner gestalten als die Arterienwände. Um eine ausreichende Stromstärke zu ermöglichen, muss der Querschnitt der Venenschläuche größer als der der Arterien sein. Das ist alles kein Problem. Doch in manchen Körperpartien will sich das Blut gar nicht mehr bewegen; es stockt. Das Blut kommt im Venensystem an mit gerade noch 2 bis 4 mmHg (statischem) Druck. Der Druck reicht
Venenklappen
Bindegewebsscheide
Abb. 9.8. Muskelpumpe und Begleitarterien
229
230
9 Der Kreislauf
oder dem schlauchförmigen Herzen der Arthropoden (die aber eine eigene Muskulatur haben). Zum dritten Mal kommen die Venenklappen mit ihrer Gleichrichterfunktion zum Zuge. ●
Zu guter Letzt wirkt das Herz als Saugpumpe, wenn die Ebene der Segelklappenventile verschoben wird (s. Abb. 9.3 u. 9.4). Wir sind wieder beim Herzen angekommen.
9.6 Blutgerinnung, oder wie man Blutgefäße abdichtet 9.6.1 Blutgerinnung ist ein Dauervorgang; er dient dem Abdichten der Gefäße Blutgefäße, auch Kapillaren, stehen unter Druck. Es wird aus ihnen dauernd Wasser herausgepresst. In einem gewissen Ausmaß ist dies durchaus erwünscht. Es fördert den Stoffaustausch. Trotzdem müssen die Gefäße abgedichtet werden, um den Wasserverlust in Grenzen zu halten, und da die Gefäße durch Dehnung und Kompression dauernd mechanisch beansprucht werden und auch das Dichtmaterial selbst altert, muss die Dichtung immer wieder erneuert werden. Was ist das Dichtmaterial? Die Überschrift hat es verraten: dasselbe, mit dem bei Verletzungen die Gefäße abgedichtet werden (Abb. 9.9). 9.6.2 Bei Verletzungen sorgt ein System kontrollierter Blutgerinnung für Abdichtung; dabei ermöglicht eine Kaskade von Serinproteasen die Erzeugung eines polymeren Fibrinnetzes Bei Verletzungen wird die sonst nur langsam und überaus vorsichtig vonstatten gehende Produktion von Dichtmaterial lokal beschleunigt und verstärkt. Ein Propf aus geronnenem und versponnenem Fibrin soll das Loch stopfen, aber nicht die Gefäße verstopfen. Das Dichtmaterial ist in Form von ungefährlichem Rohmaterial schon im Blut vorhanden. Es ist ein Protein, wird laufend von der Leber erzeugt und kursiert als Fibrinogen im Blut. Fibrinogen kann erst zum netzförmigen Polymer des Fibrins „gerinnen“ (das heißt polymerisieren), wenn
ein Peptidstück abgetrennt ist. Dazu braucht man eine Protease. Und um eine aktive Protease zu bekommen, braucht man eine zweite Protease, die aus der inaktiven Vorstufe (Zymogen) der ersten Protease ein hemmendes Peptidstück abtrennt. Um die zweite Protease zu bekommen, braucht man eine dritte Protease. Um eine dritte zu bekommen, braucht man eine vierte… Wo soll das enden? Die Kaskade endet, richtiger gesagt sie beginnt, bei einem von zwei möglichen Auslösern. Langsame Aktivierung. Der eine Auslöser ist der Plättchenfaktor: Blutplättchen (engl.: platelets) setzen ihn frei, wenn sie in Berührung zu einer „nackten“, noch nicht mit Fibrin beschichteten Oberfläche kommen. Eine solche aktivierende Oberfläche kann die freigelegte Basallamina der Gefäße sein oder aber ein Fremdkörper wie z. B. ein Glassplitter. Plättchen aggregieren zum Plättchenthrombus, der den Faktor freisetzt. Rasche Aktivierung. Der andere Trigger – oder die anderen Triggerfaktoren – sind Substanzen, die aus verletzten Zellen auslecken. Sie verursachen eine besonders rasche Gerinnung. Vernetztes Fibrin wird mit Blutzellen und Blutplättchen vermengt. Eine weitere Phase der Fibrinvernetzung führt dazu, dass sich das Gerinnsel kontrahiert und zum Propf (Thrombus) verdichtet (Abb. 9.9).
9.6.3 Die Umkehrung des Vorgangs schützt vor Herzinfarkt und Schlaganfall Ein Dichtungspropf ist ein Notbehelf. Er soll das Eindringen von Infektionskeimen und allzu großen Blutverlust verhindern. Andererseits besteht die Gefahr, dass der Propf das Blutgefäß verstopft oder sich ablöst und vom Blutstrom mitgerissen wird. Dann kann das Gerinnsel andernorts Blutkapillaren verstopfen. Wir haben schon einmal die Warnworte Herzinfarkt und Schlaganfall gehört. Wegen solcher Gefahren wird im Normalfall der Dichtungspropf wieder aufgelöst. Dazu braucht man wieder – eine Protease. Für den Evolutionsbiologen von besonderem Interesse ist die Erkenntnis, dass fast alle ins Spiel kommenden Proteasen der Familie der Serinpro-
9.7 Wasserkreislauf zwischen Blutkapillaren und Gewebe und das Lymphdrainagesystem Abb. 9.9. Blutgerinnungssystem. Eine beschleunigte Blutgerinnung (=Fibrinbildung) kann von einem Aggregat von Blutplättchen („Thrombocyten“) ausgehen oder von verletzten Zellen. Es bildet sich ein Maschenwerk aus Fibrin, in das Thrombocyten und Erythrocyten eingebettet werden. Der entstehende Propf (Gerinnsel) dichtet das Leck ab. Von den „Faktoren“ sind nur einige gezeigt, die eine Schlüsselfunktion haben oder medizinisch wichtig sind. Viele Faktoren sind Proteasen, die der Familie der Serinproteasen angehören
Thrombus = Aggregat von Thrombocyten (Plättchen)
freigelegtes Kollagen
XIIa Plättchenfaktor
IXa (bei Fehlen Hämophilie B)
IX
Verletzungsfaktoren
VIII (bei Fehlen Hämophilie A) X
zerstörte Zelle
Xa Makrophage
Thrombin
Prothrombin
produziert Fibrin
+ Vitamin K
Fibrin
Fibrinogen
Plasminogen
Plasmin löst Fibrin auf
Plasminogenaktivator
Fibrin
Fibrinogen
teasen angehören, wie auch die Verdauungsenzyme Trypsin und Chymotrypsin, und wie die Komplementfaktoren des Immunsystems (s. Kap. 7). Ein „Faktor“, der von Granulocyten produziert wird und den Auflösungsprozess triggert, ist der Plasminogenaktivator. Er wird in der Klinik eingesetzt, um Gerinnsel bei Schlaganfall oder Herzinfarkt schnell und ohne chirurgischen Eingriff beseitigen zu können. Der Faktor wird heute gentechnisch hergestellt (und soll gutes Geld einbringen).
9.7 Wasserkreislauf zwischen Blutkapillaren und Gewebe und das Lymphdrainagesystem 9.7.1 In den Kapillaren wird filtriert und resorbiert Aus den Blutkapillaren mit ihren dünnen Wänden tritt trotz Dichtung Wasser aus. Die Kapillarenwand hält zwar Erythrocyten und Blutproteine zurück,
231
232
9 Der Kreislauf
doch wird Blutwasser mit niedermolekularen Substanzen ausfiltriert. Das ist nicht zum Schaden; denn es soll ein ständiger Austausch der Blutflüssigkeit mit der interstitiellen Flüssigkeit stattfinden. Die interstitielle Flüssigkeit ist jene wässrige Salzlösung, die die Zellen in unserem Körperinneren umspült oder als Flüssigkeitsfilm überzieht. Über den ständigen Austausch von Blutflüssigkeit gegen interstitielle Flüssigkeit kann beispielsweise die ionale Zusammensetzung der interstitiellen Flüssigkeit rasch modifiziert und korrigiert werden; Blutzucker kommt rascher an die Endverbraucher als wenn die Endstrecke ausschließlich per Diffusion bewältigt werden müsste. Blutwasser verlässt die Kapillaren in der Nähe ihres arteriellen Endes, und kehrt in der Nähe ihres venösen Endes großenteils in die Kapillaren zurück. Was sind die treibenden Kräfte? Austreibende Kraft ist der statische Blutdruck. Die Menge an ausfiltriertem Wasser ist gewaltig und wird beim erwachsenen Menschen auf 20 l/Tag geschätzt. Selbstverständlich muss ebensoviel Wasser wieder ins Blut zurückgeführt werden. Für die Rückführung in die venennahen Abschnitte der Kapillaren werden zwei Kraftquellen verantwortlich gemacht: ●
Der kolloidosmotische Druck. Mit dem Verlust von Wasser steigt im Blutplasma die Konzentration an gelöstem Protein. Dies erzeugt einen osmotischen Rücksog.
●
Aktiver, indirekter Wassertransport nach dem Muster, das wir in der Niere diskutiert haben (s. Abb. 6.10).
Von den 20 l/Tag Blutplasma, die die arteriennahen Kapillarenabschnitte verlassen, kehren 18 l/Tag in
die venennahen Abschnitte zurück. Es bleiben 2 l im Gewebe, die auf anderem Weg eingesammelt und in den Kreislauf rückgeführt werden müssen (s. Abb. 9.5).
9.7.2 Das Lymph-Drainagesystem ist mit Filtern bestückt und wird von muskulären Pumpen betrieben Das verlorene Blutwasser von 2 l/Tag wird über die blind beginnenden Lymphkapillaren eingesammelt. Diese vereinigen sich zu Lymphkanälen; die Kanäle konvergieren zu den großen Lymphgefäßen; die Gefäße münden nahe dem Herzen in die großen Hohlvenen (s. Abb. 5.1). In die Lymphbahnen sind Filter eingehängt, die von Immunzellen laufend kontrolliert und gereinigt werden. Diese Filter sind die Lymphknoten, als deren größter die Milz angesehen werden kann (s. Kap. 7). Blickt man auf einen Querschnitt eines Lymphknotens (s. Abb. 7.1), entdeckt man an den Stellen, wo Lymphkanäle ein- und ausmünden, Ventilklappen wie sie in ähnlicher Form an den Ausgängen des Herzens zu finden sind. Sind Lymphknoten auch Lymphherzen? Durchaus! Die Lymphknoten sind mit glatten Muskelzellen umhüllt und können sich – wenn auch langsam und in gemächlichem Rhythmus – periodisch kontrahieren. Auch die Lymphgefäße sind abschnittsweise von glatten Muskelzellen umhüllt. Da sie zudem, den Venen vergleichbar, mit Ventilklappen versehen sind, kann zusätzlich zur Eigenmuskulatur der Gefäße auch die Muskelpumpe Lymphe bewegen, ebenso wie sie Venenblut fördert (s. Abb. 9.8).
Zusammenfassung des Kapitels 9
Zusammenfassung des Kapitels 9
Umgewälzte Flüssigkeiten zum Transport und Verteilen von Substanzen sind bekannt als Gastrovaskularflüssigkeit bei verschiedenen Wirbellosen, als Hämolymphe bei Arthropoden, als Blut und Lymphe bei Wirbeltieren. Blut zirkuliert, wenn mittels eines als Druck-Saugpumpe arbeitenden Herzens Druckdifferenzen erzeugt werden. Der Blutkreislauf der Fische, aber auch noch der des Menschen vor seiner Geburt, ist ein Einkreissystem, in dem Blut mittels einer einzigen Druck-Saugpumpe über die Kiemen bzw. Plazentazotten in den Körper gepumpt und vom Körper zurückgeholt wird. Säuger nach ihrer Geburt, und ähnlich die Vögel, haben ein Zweikreissystem mit Doppelherz. Der kleine, vom rechten Herzen angetriebene Kreislauf führt über die Lunge, der große, vom linken Herzen angetriebene versorgt den Körper. Der Blutstrom wird energetisch getrieben von Druckdifferenzen. Der an jedem Ort herrschende Gesamtdruck gliedert sich in den mit Blutdruckmessern erfassbaren Wanddruck und den in Längsrichtung der Gefäße wirkenden Strömungsdruck. Beide Druckkomponenten fallen zwischen Herzausgang und Herzeingang in den Blutgefäßen ab, wobei die großen Arterien das Hochdruck-, die großen Hohlvenen das Niederdrucksystem repräsentieren. Nach Hagen-Poiseuille bestimmt der Rohrquerschnitt in ganz besonderem Maß den Durchfluss dV/dt, weil der Rohrradius mit der 4. Potenz in die Flussgleichung eingeht. Venen haben größere Querschnitte als Arterien und können, weil nur mehr geringer Wanddruck herrscht, dünnwandig gestaltet werden. Der geringe Strömungsdruck in den großen Venen wird durch verschiedene lo-
kale Hilfspumpen (pulsierende Begleitarterien, Atmungspumpe, Muskelpumpen) aufgebessert; das dem zusätzlichen Druck weichende Blut wird mittels Venenklappen Richtung Herz gelenkt. Im arteriellen System können durch lokale Verengung oder Erweiterung der Arterien und Arteriolen mittels Muskelzellen, welche die Gefäße umhüllen, die Blutströme je nach Bedarf hierhin oder dorthin gelenkt werden, gesteuert vom vegetativen Nervensystem und dem Hormon Adrenalin. Bei konstantem Rohrquerschnitt ermöglichen hohe Differenzen im Strömungsdruck hohe Fließgeschwindigkeiten bei reduziertem Wanddruck (Bernoulli-Gesetz); Blutstau hingegen erzeugt hohen Wanddruck. Im Gebiet der Blutkapillaren jedoch ermöglicht ein sehr hoher Gesamtquerschnitt eine langsame Strömungsgeschwindigkeit bei geringen Wandstärken; dies ist förderlich für den Stoffaustausch mit dem umgebenden Gewebe. Blutgefäße werden laufend mittels Fibrinogen, das zum polymeren Fibrin „gerinnt“, abgedichtet, ein Vorgang, bei dem eine Kaskade von Proteasen, endend bei der Protease Thrombin, und weitere Gerinnungsfaktoren am Werk sind. Bei Verletzung wird die Blutgerinnung durch Thrombocyten oder Substanzen aus verletzten Zellen stark beschleunigt und einen Blutpropf zur Abdichtung des Lecks erzeugt. Unprogrammgemäße Blutgerinnsel können zu Herzinfarkt und Schlaganfall führen. Trotz Dichtung tritt eine nicht vernachlässigbare Menge des unter Druck stehenden Blutwassers in die Gewebe über und muss mit dem Drainagesystem der Lymphgefäße in den Blutkreislauf zurückgeführt werden. In die Lymphbahnen sind Lymphknoten eingebaut, die als Lymphherzen fungieren und in denen Lymphocyten als Vertreter des Immunsystems die Körperflüssigkeit überwachen.
233
10 Das vegetative Nervensystem Integrierte Steuerung von Atmung, Kreislauf und Körpertemperatur
10.1 Regelkreis-Automaten und ihre Kontrolle durch das autonome, vegetative Nervensystem 10.1.1 Warum sich das Gehirn mit „vegetativen“ Funktionen befassen muss Wir sprechen noch heute von „vegetativer“ Physiologie, weil die bisher besprochenen Funktionen des Körpers nach Meinung von Gelehrten der Antike (Aristoteles) und ihrer gelehrigen europäischen Schüler bis in die frühe Neuzeit als „pflanzenhaft“ eingestuft worden sind. Empfindungen und Bewusstsein hatten wir ja bisher allenfalls als weit entfernte schemenhafte Randerscheinungen ins Spiel gebracht, und Geist war, so scheint es, nur zum Verstehen und Lernen des Stoffes nötig. Doch das täuscht: Unbewusst war unser Gehirn immer schon im Spiel. Sogar im Schlaf hat sich unser Gehirn mit vegetativen Funktionen befasst. Die Systeme der Versorgung und Entsorgung, die Tätigkeiten des Verdauungstraktes, der Leber, der Niere, der Atemorgane und des Kreislaufs müssen aufeinander abgestimmt sein und den momentanen Erfordernissen angepasst werden. Es ist ein großer Unterschied, ob ich getrieben von Hunger und Durst herumziehe im Bemühen, etwas zum Essen und Trinken zu finden, ob ich gesättigt und zufrieden mein Mittagsschläfchen halte, oder ob ich in der Arbeit, im Sport, im Examen oder in der Auseinandersetzung mit einem Aggressor höchste körperliche oder geistige Leistungen erbringen soll. Es wird nie genügen, nur die Leistung des Herzens, nur die Rhythmik der Atemmuskulatur, nur die Funktionen der Leber zu regeln und zu steuern. Stets muss eine zentrale Instanz den Überblick über alle Einzelerfordernisse behalten und im Falle von
Zielkonflikten Anweisungen erteilen, die auf Kompromissen beruhen. Wir vermuten zu Recht, dass diese zentrale Instanz ihren Sitz im Zentralnervensystem hat. Denn schließlich werden viele Informationen ausgewertet werden müssen, wenn ein tauglicher Arbeitsplan entworfen werden soll. Das schließt nicht aus, dass bei einfachen Regelprozessen Automatismen die Aufgabe erleichtern. ●
Herztätigkeit, Blutdruck, Steuerung der Blutströme;
●
Atemtiefe und Atemfrequenz;
●
Thermoregulation mit Wärmeerzeugung oder Schweißsekretion;
●
Sekretion der Speichel- und Bauchspeicheldrüsen;
●
Magen- und Darmmotorik bis hin zur Entleerung der Blase.
All dieses und manches mehr steht unter der Kontrolle des Teils unseres Nervensystems, über dessen Funktion unser Bewusstsein nur sehr wenig erfährt und auf das wir willentlich nur bedingt Einfluss nehmen können. Es heißt deshalb auch autonomes Nervensystem. Es steht jedoch mit psychomotorischen Zentren im Gehirn in kommunikativer Verbindung und mit Arealen, die Hunger und Durst, Wohlbefinden und Missempfindung, Angst und Aggression hervorbringen. Fehlsteuerungen führen unter anderem zu psychosomatischen Symptomen. Welche Teile unseres gesamten Nervensystems dem autonomen System zuzuordnen sind, wird im Abschn. 10.2 erläutert. Es sei hier schon darauf hingewiesen, dass in dieser Frage unsere Lehrbücher recht unterschiedliche und oft nur fragmentarische Antworten geben.
Regelung und Steuerung sind Begriffe, denen im Sprachgebrauch des Alltags oft die gleiche Bedeutung
236
10 Das vegetative Nervensystem
unterlegt wird. In der Fachsprache des Technikers und Physiologen sind diese Begriffe jedoch nicht synonym. ●
Regelung meint das Konstanthalten eines Wertes,
●
Steuerung meint die gezielte Veränderung eines Wertes. Im Englischen wird regulation meistens wie im Deutschen im Sinn von „Korrektur zum Konstanthalten eines Wertes oder Prozesses“, gebraucht, hingegen ist control ein Überbegriff, der Regeln und Steuern umfasst.
10.1.2 Vieles, was es zu regeln gilt, spiegelt sich in Werten des Blutes und Kreislaufs wider Der Blutkreislauf vermittelt den Stoff- und Wärmeaustausch zwischen Außenwelt und Innenwelt, und er vermittelt den Stoffaustausch zwischen den Organen. Umgekehrt spiegeln sich Tätigkeiten und Erfordernisse vieler Organe in Werten wider, die im Blut und Kreislauf gemessen werden können und die der Organismus nach Möglichkeit konstant zu halten sucht: ●
Bluttemperatur als Funktion z. B. des Energieumsatzes;
●
Blutdruck als Funktion z. B. der Kreislaufarbeit;
●
Blutvolumen als Funktion von Flüssigkeitsaufnahme und Flüssigkeitsverlust;
●
Blutzuckergehalt als Funktion des Imports aus der Nahrung, des Exports an die Verbraucher und des Zwischenhandels, den die Import-Export Firma Leber betreibt;
●
pO2, pCO2, pH als Funktionen der Stoffwechselintensität und der Atemtätigkeit;
●
Gehalt an Elektrolyten (Salzionen) und vielen anderen Substanzen als Funktionen der Aufnahme über den Darm und der Ausscheidung über die Niere;
●
Gehalt (Titer) von Hormonen zur Regelung vieler der genannten Funktionen und Stoffwerte.
10.1.3 Der Regelkreis: Wie er funktioniert und welche Begriffe man kennen sollte Um Werte konstant zu halten, genügt ein einfacher Halte-Regelkreis. Um einen Wert gezielt zu verändern, braucht es eine Führungsgröße. Solche Begriffe aus der Regeltechnik haben Eingang in die Sprache des Physiologen gefunden. Daneben liest man noch altehrwürdige Begriffe der Physiologie wie Homoiostase oder Homöostase: das Konstanthalten des „inneren Milieus“ im Körper, womit man beispielsweise eine bestimmte ionale Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten meint. Die Übertragung von Begriffen und mathematischen Berechnungsverfahren der Regelungstechnik auf biologische Vorgänge hat im Überbegriff Biokybernetik seinen Ausdruck gefunden (griechisch: kybernes = Steuermann). Regel„kreis“ (control circuit, closed-loop controller) meint ein System, in dem ein kreisförmiger Informationsfluss es ermöglicht, in einem geschlossenen Wirkungskreis einen bestimmten Wert konstant zu halten. Das klingt nach einer Definition, wie man sie in Lexika findet. Zu verstehen ist der Regelkreis besser, wenn man ein Blockdiagramm vor Augen hat (Abb. 10.1) und eine konkrete Regelgröße betrachtet. Wie in Lehrbüchern üblich, werden im Folgenden die Begriffe und Funktionsweise des Regelkreises am Beispiel eines Thermostaten erläutert; denn Thermoregulation soll ohnedies eines der Beispiele sein, die wir besprechen. ●
Regelgröße (controlled variable). Im Zentrum des Geschehens steht die Regelgröße, der zu regelnde Wert (Parameter), hier die Körpertemperatur. Genauer gesagt ist es die Kerntemperatur im Inneren unseres Körpers; denn es ist unserem Organismus nicht möglich, all überall die Körpertemperatur konstant zu halten. Nasenspitze und Ohrläppchen, Finger und Zehen müssen im Winter schon mal Kälte ertragen. Der Wärmeverlust wäre zu groß, würde man auch diese exponierten Stellen voll auf 37° C aufheizen.
●
Regelstrecke ist der räumliche Bereich, in dem die Regelgröße konstant gehalten wird, hier das Blut im Körperkern. Man darf sich vom Wort
10.1 Regelkreis-Automaten und ihre Kontrolle durch das autonome, vegetative Nervensystem
Fühler in physiologischen Regelkreisen messen Zustände im Körperinneren. Man bezeichnet sie deshalb auch als Endorezeptoren (Innenrezeptoren) oder Propriorezeptoren (Eigenrezeptoren). Die Thermoregulation ist hier insofern ein Ausnahmefall, als außer der inneren Kerntemperatur auch die Außentemperatur gemessen wird, wie dies das Regelsystem einer technisch ausgereiften Zentralheizung auch tut.
Führungsinstanz Sollwertgeber Istwert-Sollwert Vergleich Regler
Übertragung der Stellgröße
Fühler
●
Regler (controller). Der gemessene Istwert wird einem zentralen Regler gemeldet, der ihn mit dem Sollwert vergleicht und bei einer Regelabweichung errechnet, welche Korrekturen zur Rückführung der Regelgröße auf den Sollwert erforderlich sind. Er gibt entsprechende Befehle aus an die
●
Stellglieder, jene Ausführungsorgane und physiologische Mechanismen, die in der Lage sind, den Istwert zu korrigieren, beispielsweise eine unter den Sollwert gesunkene Körpertemperatur zu erhöhen (Leber, Muskeln) oder eine Übertemperatur auf den Sollwert abzukühlen (Erweiterung der peripheren Blutkapillaren zur besseren Wärmeabfuhr, Verdunstung von Wasser durch Hecheln oder Schweißausbruch).
●
Stellgröße (output variable) ist der vom Regler an die Stellglieder übermittelte Befehl. Dem stand zu Beginn des Vorgangs die Störgröße gegenüber, welche die Abweichung des Istwerts vom Sollwert verursacht hat.
Regelgröße: Istwert Stellglieder
Störung
Regelstrecke
Abb. 10.1. Regelkreis
„Strecke“ nicht irreführen lassen. Meistens haben wir es mit Räumen zu tun. ●
Istwert (actual variable) und Sollwert (setpoint, target variable). Wenn ich einen Wert konstant halten will, muss ich erst einmal wissen, wie ihr momentaner Istwert ist. Erst dann kann ich feststellen, ob er gegenüber dem Sollwert abweicht.
●
Fühler (sensor) ist ein Messorgan, das den Istwert misst. In der Physiologie darf der Begriff Fühler getrost gleichgesetzt werden mit Sinneszelle oder Sinnesnervenzelle (sensorisches Neuron). Auch die Begriffe Rezeptor (im Sinne der Sinnesphysiologie) oder Sensor werden viel gebraucht. In der Sinnesphysiologie sind mit dem Ausdruck Rezeptoren Sinneszellen verstanden. Um sie von molekularen Rezeptoren zu unterscheiden, die in der Zellmembran sitzen und ein Signalmolekül (Neurotransmitter, Hormon) einfangen und binden, ist es zweckmäßig, die einschlägigen Sinnesrezeptoren gleich als Thermorezeptoren, Dehnungsrezeptoren, pCO2-Rezeptoren usf. näher zu definieren.
Geht man den einzelnen Bauelementen eines Regelkreises in der Reihenfolge, in der sie tätig werden, nach, so folgt man einem kreisförmigen Informationsfluss. Der Fühler misst eine Abweichung (error) des Istwertes und meldet diesen Wert dem Regler; dieser gibt einen Befehl zur Korrektur aus. Der Erfolg der Korrektur wird erneut gemessen; ein neuer kreisförmiger Informationsfluss wird gestartet und dies geht so fort, bis der Istwert dem Sollwert angeglichen ist. Ein Regelsystem einfachster Bauart ist ein Halteregler (feedback controller), der automatisch einen einmal eingestellten Sollwert festhält. Das System reagiert auf eine Abweichung der Regelgröße mit einer Gegenreaktion. Man spricht von negativer Rückkoppelung (negative feedback): Eine Abweichung des Ist-
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238
10 Das vegetative Nervensystem
wertes nach Plus wird mit einer Minus-Reaktion der Stellglieder beantwortet und umgekehrt. Es kommt zu einem Wechsel des Vorzeichens. (Eine positive Rückkoppelung hingegen würde zu einer weiteren Abweichung der Regelgröße vom Sollwert führen, bis schließlich der Wert gänzlich aus dem Gleis läuft.) 10.1.4 Physiologische Regler sind Servoregler und können neuen Sollwerten folgen Biologische Regler sind durchaus Halteregler, aber nicht nur. Geführt von einer zentralen Führungsgröße kann der Regler einen neuen Sollwert definieren und dann den neu eingestellten Wert konstant halten. Der einfache Halteregler ist zum Folge- oder Servoregler hochgerüstet. Auch der Thermostat unseres Körpers ist selbstredend ein Folgeregler. Addiert beispielsweise die Führungsinstanz die Führungsgröße den Wert „+2“ zur errechneten Stellgröße hinzu, wird die Körpertemperatur von 37° C auf 39° C hochgefahren und dann auf diesem Wert festgehalten. Das Fieberthermometer diagnostiziert Fieber. Solange diese Führungsgröße einfließt, kommt der Regelmechanismus nicht bei 37° C, sondern bei 39° C zur Ruhe. Kühlt man den fieberheißen Körper mit einem nassen Tuch und sinkt die Körpertemperatur deswegen beispielsweise auf 38° C ab, meldet der Fühler +1; der Regler dreht das Vorzeichen auf −1 (negative Rückkoppelung); die Führungsgröße addiert +2; die resultierende Stellgröße hat den Wert +1; die Körpertemperatur wird von 38° C auf 39° C hochgefahren. Fieber basiert auf einer Sollwertverstellung. Erhöhte Temperatur soll helfen, Infektionen zu bekämpfen. Will man Fieber senken, nützt Abkühlung nicht viel. Man muss mit Medikamenten in die zentrale Sollwertverstellung eingreifen. Künstliche Hypothermie kann der Chirurg einsetzen, um Stoffwechsel und Durchblutung von Organen zu drosseln. Bezeichnenderweise muss er hierzu eine spezielle Narkose durchführen, um die zentralen Regler auszuschalten! Mit dem Prinzip der zentralen Führung erweitern wir den Regelkreis zur flexiblen Steuerung. Zentrale Führungs- oder Steuerinstanzen sind im Regelfall Kerngebiete des Hypothalamus im Diencephalon, oder im Rhombencephalon = medulla oblongata. Führungsinstanz und Regler dürften oft identisch sein.
10.1.5 Regler können in Schwingungen geraten und eine Reglerkatastrophe verursachen Regelkreise haben bisweilen unangenehme Systemeigenschaften, die man ihnen bei bloßer Betrachtung eines Blockschaltbildes nicht ansieht, die sich jedoch bei Kenntnis ihrer Funktion mathematisch beschreiben und ableiten lassen. Eine solche unangenehme Eigenschaft ist ihre Tendenz, instabil zu werden und die Regelgröße zu Schwingungen zu veranlassen. Solche Schwingungen können sich gegebenenfalls aufschaukeln bis sich das System selbst zerstört (Reglerkatastrophe). Ein Regler hat eine Totzeit (setting time), eine Mindestzeit, die verstreicht, bis die Istwertabweichung registriert ist, der Regler seine Berechnung angestellt hat und die Stellglieder ihre Tätigkeit aufgenommen haben. In unserem Beispiel soll die Totzeit eine Sekunde sein und der Regler als Proportional-Integral-Regler (proportional integral derivative controller) funktionieren. Eine Störgröße lasse den Istwert plötzlich auf −1 abstürzen (Abb. 10.2a). Der Fühler registriert das, und zwar eine Sekunde lang, weil wegen der Totzeit erst nach 1 s die Korrekturmechanismen in Gang kommen. Eine volle Sekunde lang treffen im Regler Signale des Wertes −1 ein; eine volle Sekunde lang gibt er den Befehl +1 aus; eine volle Sekunde lang arbeiten die Stellglieder mit voller Intensität. Nach dieser ersten Sekunde misst der Fühler als Folge der einsetzenden Korrektur zunehmend geringere Abweichungen, aber es sind immer noch Abweichungen nach unten, die zu Gegenreaktionen führen. Das ist – wegen der Totzeit – sogar noch der Fall, wenn der Istwert den Sollwert schon erreicht hat. Wegen der Totzeit und – anscheinend – wegen der Trägheit des ganzen Systems arbeiten die Stellglieder noch weiter. Der Istwert schwingt über die Solllinie hinaus. Jetzt meldet der Fühler die neue Abweichung des Istwertes in den Plusbereich. Mit Zeitverzögerung wird nun auch diese Abweichung wieder korrigiert. Das Spiel kann so eine Weile weitergehen, bis die Schwingungen schließlich gedämpft sind und das System zum Stillstand kommt. Eine auf- und abschwingende Regelgröße ist unbefriedigend; man wird das schleudernde System verbessern wollen. Angenommen, die Totzeit lasse sich aus technischen Gründen nicht verkürzen,
10.1 Regelkreis-Automaten und ihre Kontrolle durch das autonome, vegetative Nervensystem
1
1
0 100 mm Hg
-1
a
0
1
2
3
4
5
6 s 7
b
90
80
70 10
V=2
Istwert der Regelgröße
1
Diastolischer Blutdruck
v=
Istwert der Regelgröße
Störgröße
8
v=
0
1
2
0,36
3
30
40
50
60
70
s
Abb. 10.3. Schwankender Blutdruck bei Lagewechsel. Zur Untersuchung der Regeleffizienz wird ein Patient auf einem Kipptisch von einer waagrechten in eine (fast) senkrechte Position gebracht. Bei suboptimaler Regelung kommt es zu Schwingungen des Blutdrucks im Minutenbereich. (Nach Keidel, vereinfacht)
0
-1
20
4
5
6
s 7
Abb. 10.2a , b. Regelung. Rückführung einer gestörten Regelgröße auf den Sollwert. Gedämpftes Einschwingen (a); sich aufschaukelnde Abweichungen (Reglerkatastrophe) versus optimale Korrektur (b). n = Steigung, spiegelt die Intensität der Gegenreaktion wider
dann wird man die Arbeitsgeschwindigkeit und Arbeitsintensität der Stellglieder erhöhen wollen. Aber genau das kann zur Reglerkatastrophe führen (Abb. 10.2b). In der Tat kommen wir mit unserem Fahrzeug ins Schleudern, wenn wir spät und dann zu heftig das Steuer herumreißen. Frühes und sanftes Reagieren wäre das richtige Verhalten. Nicht nur unser persönliches Fehlverhalten, auch mangelhafte Effizienz unserer inneren Regelsys-
teme und Erkrankungen vielerlei Art können zur Folge haben, dass Sollwerte ins Wanken geraten. Manchem wird morgens schwindlig, wenn er allzu rasch vom Bett aufsteht. Schon möglich, dass hierfür Unwille maßgeblich ist, sich dem Tag zu stellen, aber auch möglich, dass bei ärztlicher Untersuchung ein auf- und abschwingender Blutdruck nach Lagewechsel diagnostiziert wird (Abb. 10.3). 10.1.6 Information in physiologischen Regelkreisen wird neuronal oder hormonal übermittelt Bisher identifizierte Rezeptoren, die als Sensoren in Regelkreisen fungieren, sind Sinneszellen. Die Übertragung ihrer Messwerte an die regelnden und steuernden Instanzen im Zentralnervensystem geschieht über neuronale Fasern. Die Befehle der zentralen Instanz können ebenfalls über neuronale
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240
10 Das vegetative Nervensystem
Bahnen ausgegeben werden, aber auch über hormonale Signale, die über den Blutkreislauf ihre Empfänger erreichen. Nun müssten wir also erst die Informationsübermittlung im Hormon- und Nervensystem besprechen, bevor wir mit dem Thema fortfahren. Wir müssten die Kap. 11, 13 und 14 durcharbeiten; doch das würde unser jetziges Thema doch arg unterbrechen. Wir wollen deswegen im Folgenden nicht so sehr ins Detail gehen. Es genügt, wenn wir etwas basales Schulwissen reaktivieren. Bei der neuronalen Informationsübertragung werden Serien elektrischer Impulse über Nervenfasern (Axone) geschickt. Am Ende der Faser jedoch wird eine Signalsubstanz, der Neurotransmitter, freigesetzt und die Nachricht chemisch der Folgezelle (der nächsten Nervenzelle oder, z. B., einer glatten Muskelzelle) übermittelt. Diese fängt das Signalmolekül mittels eines molekularen Rezeptors auf, der im Regelfall in ihre Zellmembran eingebaut ist, und spezifisch das Signalmolekül erkennt und an sich bindet. Bei der hormonalen Informationsübertragung werden Signalstoffe im Blutkreislauf verteilt. Von den Zielzellen werden sie ebenfalls mittels molekularer Rezeptoren aufgefangen.
10.2 Das autonome, vegetative Nervensystem als Regel- und Steuerzentrale 10.2.1 Das Autonome Nervensystem umfasst auch große Teile des ZNS Lehrbücher, die (aus gutem Grund) alter Tradition folgen, gliedern das ganze Nervensystem in ●
●
Zentralnervensystem ZNS (CNS central nervous system) mit Gehirn und Rückenmark (Medulla spinalis)
Peripheres Nervensystem PNS ( peripheral nervous system). Dies tun wir auch, folgen aber nicht der Gleichsetzung PNS = (ganzes) autonomes oder vegetatives Nervensystem, und gliedern das PNS nicht nur in
zwei (Sympathicus und Parasympathicus), sondern in vier Komponenten. Es sei nochmals betont, dass wesentliche und übergeordnete Regelzentren zur autonomen Kontrolle vegetativer Funktionen im ZNS liegen, vor allem im Hypothalamus des Zwischenhirns (Diencephalon) und im hinteren Stammhirn, der Medulla oblongata. Diese Regelzentren empfangen aber auch umfangreichen Input von Arealen der Hirnrinde (Cortex), die gemeinhin als Ort höherer Gehirnfunktionen gilt. Nimmt man die Wortbedeutung „autonom = selbsttätig = nicht unserem Willen unterworfen“ ernst, müsste sogar der weitaus größte Teil des Cortex als autonomes System klassifiziert werden. Dies wäre auch noch angebracht, wenn man „autonom“ mit „vegetativ“ gleichsetzt. Beispielsweise sind für die Steuerung des Gesamtkreislaufs Neurone in der Medulla oblongata, im Hypothalamus, dem Kleinhirn und der Hirnrinde zuständig. Zum Mindesten das Diencephalon und die Medulla oblongata müssen wir dem autonomen, vegetativen System zurechnen, auch wenn sie unstreitig Teile des ZNS sind. PNS. Als peripheres Nervensystem hat die Anatomie seit alters alles zusammengefasst, was außerhalb des Schädels und des Rückenmarkstammes an neuronalen Strukturen zu finden ist, auch wenn es sich bei vielen „Nerven“(=neurnalen Fasern) bloß um gebündelte Axone von Neuronen handelt, deren Zellkörper im ZNS liegt (beispielsweise Motoneurone des Rückenmarks). Es gibt jedoch auch vollgültige Neurone mit Zellkern außerhalb des ZNS. Sie sind das PNS im engeren Sinn. Dem PNS ordnen wir (wie dies auch große Teile der englischsprachigen Literatur tun) folgende Komponenten zu, die sich entwicklungsgeschichtlich von Zellen ableiten, die aus den Neuralleisten ausgewandert sind (Abb. 10.4) und alle auch autonom arbeiten. Die Neuralleisten eines Wirbeltierembryos sind lockere Gruppen von Zellen, die nach Abschluss der Neurulation beidseitig des Neuralrohrs, dem künftigen Gehirn und Rückenmark, liegen. Sie wandern auf verschiedenen Routen allüberall im Embryo herum, um sich an verschiedenen Orten niederzulassen und vielfältige, den neuen Besiedlungsorten angemessene Zelltypen hervorzubringen. Wandernde Neuralleistenzellen bringen auch das gesamte periphere Nervensystem einschließlich der peripheren Glia hervor. Welche speziellen Neurone sich letztendlich aus den eingewanderten Zelle differenzieren und welche Transmitter sie bei Stimulation freisetzen, wird definitiv erst am neuen Heimatort festgelegt. Die Vermehrung der Neuronen-Vorläuferzellen während des
10.2 Das autonome, vegetative Nervensystem als Regel- und Steuerzentrale
embryonalen Wachstums, und das weitere Überleben der PNS-Neurone hängen von Neurotrophinen ab. Dies sind Proteine mit Signalcharakter, welche von den Zielorganen vor und auch nach ihrer Innervierung ausgesandt werden. Vor der Innervierung durch Neurone des PNS lenken die Neurotrophine die auswachsenden Axone der PNS-Neurone in das Zielgebiet. Sind Synapsen zu den Zielzellen ausgebildet, senden diese weiterhin Neurotrophine aus. Diese sichern das Überleben der korrekt verschalteten Neurone. Ein für das Sympathische System wichtiges Neurotrophin ist der NGF, der Nerve Growth Factor; Ein führ das Parasympathische System wichtiges Neurotrophin ist der GDNF, der Glia-Derived Neurotrophic Factor.
10.2.2 Das autonome, vegetative System umfasst auch das ganze periphere Nervensystem PNS I. Peripherer sensorischer Input ins ZNS (Afferenzen) Spinalganglien und Cranialganglien (Abb. 10.4, 10.5 u. 10.6). Sie beherbergen die Zellkörper sensorischer Neurone, die Information von den Fühlern der Regelkreise über die dorsalen Wurzeln der Spinalnerven ins ZNS (Rückenmark) einspeisen. Die Neurone der Spinalganglien haben einen kurzen Fortsatz, der sich in zwei lange Äste aufteilt. Der eine Ast zieht in die Peripherie, um dort selbst als Sensor beispielsweise
Peripheres Nervensystem PNS
Neuralrohr (Rückenmark)
Neuralleistenzellen I. SPINALGANGLION
Somit
Grenzstrang des Sympathicus
Darm Nervus vagus
Nebennierenmark (Adrenalinproduzent) P. postgangl. Neurone
S. Eingeweideganglion
S. postgangl. Neurone II. SYMPATHICUS-PARASYMPATHICUS Abb. 10.4. Gliederung des peripheren Nervensystems PNS und seine Herkunft aus ausgewanderten Neuralleistenzellen. Dargestellt ist eine Phase in der Embryonalentwicklung eines (schematisierten) Wirbeltieres, in der die ersten Neuralleistenzellen bereits an ihren Bestimmungsorten angekommen sind und ihre
III. ENTERISCHES NERVENSYSTEM ENS Nervennetze (Plexus) des Darmes Fortsätze auszubilden beginnen. Die gestrichelten, breiten Pfeile zeigen die Wanderrouten der Zellen; die von den Zellen ausgehenden Pfeile die Richtung, in der die Nervenfortsätze auswachsen. Nach Müller & Hassel: Entwicklungsbiologie, modifiziert
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242
10 Das vegetative Nervensystem
Spinalganglion Grenzstrang
sensorischer Eingang
Nervus vagus vom Rhombencephalon (Medulla oblongata) kommend
Acetylcholin
motorischer Ausgang Grenzstrangganglion (oder Eingeweideganglion)
postgangl. symp. Neuron Acetylcholin postgangl. parasymp. Neuron
Noradrenalin
Synapse en passant
Acetylcholin Zielorgane
Kette von Synapsen (Varikose)
synaptischer Endkolben z. B. eine Drüse
z. B. glatte Muskelfasern
Abb. 10.5. Ein- und Ausgänge des Rückenmarks. Meldungen von Sinnesorganen einschließlich der Sensoren von Regelkreisen werden von Neuronen der Spinalganglien über die dorsale Wurzel der Spinalnerven ins ZNS eingespeist. Efferente, Befehle ausgebende Fasern verlassen das Rückenmark durch die ventrale Wurzel. Das sympathische und parasympathische System besteht jeweils aus einer Kette von zwei Neuronen. Das erste, „präganglionäre“ Neuron liegt im ZNS; im Bild ist nur die letzte Strecke seines Axons dargestellt. Das zweite, „postganglionäre“ Neuron liegt außerhalb des ZNS. Transmitter an
der Zwischensynapse ist sowohl in der sympathischen wie in der parasympathischen Signalkette einheitlich Acetylcholin, an den terminalen Synapsen des Parasympathicus wiederum Acetylcholin, an den terminalen Synapsen des Sympathicus hingegen Noradrenalin. Die Axone der postganglionären Neurone sind verzweigt und enthalten eine Reihe von Auftreibungen, die Vesikel mit Transmittersubstanzen enthalten und als Synapsen „en passant“ („im Vorbeigehen“) fungieren. Eine Kette solcher perlenartiger Auftreibungen heißt „Varikose“
10.2 Das autonome, vegetative Nervensystem als Regel- und Steuerzentrale
pCO2 Steuerung der Atmung Kreislaufzentrum AtemRhythmusgenerator Steuerung von Blutdruck und Blutverteilung
motorische Bahnen
sensorische Bahnen
Herzschrittmacher (Sinusknoten)
Sympathicus
Blutdruckmesser (Presso- oder Barorezeptoren)
pO2 pCO2 pH Rezeptoren
Halsschlagadern (Carotiden)
Aorta
Atemmuskulatur Umhüllungsmuskulatur von Arterien und Arteriolen Abb. 10.6. Regelung und Steuerung des Kreislaufs und der Atmung. Frequenz und Kontraktionskraft des Herzens und die Weite von Arterien werden moduliert nach Maßgabe von „Blutdruckmessern“, die die Wanddehnung der Aorta und der Halsschlagadern sowie (nicht dargestellt) der Herzvorkammern
und der großen Hohlvenen messen. Die Chemorezeptoren zur Regelung der Atmung finden sich in nächster Nähe zu den Pressorezeptoren; weitere finden sich aber auch im Hypothalamus des Zwischenhirns
die örtliche Temperatur oder den Blutdruck zu messen oder in weiteren Regelkreisfühlern (z. B. den Muskelspindeln, Abschn. 18.2) und den vielen Kleinsinnesorganen der Haut (Kap.
17) als sensorischer Signalempfänger (Dendrit) Information aufzunehmen. Der andere Ast zieht in das Rückenmark, um dort die peripher abgeholte Information abzuliefern. Die Spinal-
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244
10 Das vegetative Nervensystem
neurone bilden also afferente Input-Leitungen ins ZNS (Rückenmark). Einige der über die Spinalbahnen einlaufenden Informationen können im Gehirn bewusst wahrnehmbare Empfindungen auslösen: Schmerz, Kälte, Wärme, Druck. Man kann nun haarspalterische Diskussionen führen, ob solche Bahnen unter den Begriff „autonomes, vegetatives Nervensystem“ gestellt werden sollten oder nicht. In aller Regel und mit vollem Recht werden sie (auch) der Sinnesphysiologie zugeordnet. Andererseits: Die Sensoren sind auch Fühler in Regelkreisen – und mit unserem Willen haben wir keinen sehr großen Einfluss auf Bauchschmerzen und Fieberzustände. Auch speist die Mehrzahl der Bahnen ihre Information bloß in das Rückenmark (z. B. die Muskelspindeln) oder in Verarbeitungszentren des Gehirns, deren Aktivität im Unbewussten verborgen bleibt. Man sollte Einteilungsprinzipien, die Erfindungen ordnungsliebender Hochschullehrer sind, nicht überbewerten und bei Begriffsbildungen Schnittmengen zulassen.
II. Peripherer, vegetative Output vom ZNS (vegetative Efferenzen) ●
Sympathicus und Parasympathicus (zur Wortbedeutung s. unten Abschn. 10.4.1). Sind Spinalnerven sensorische Eingänge ins ZNS, welche ihren Weg über die dorsalen Wurzeln der Spinalnerven nehmen, so sind sympathische und parasympathische Neurone mit der Ausgabe ( output) von Information aus dem ZNS in die Peripherie betraut (Abb. 10.7). Beide Systeme haben ihren Ursprung im ZNS. Die axonalen Fasern dieser zentralen Neurone verlassen das ZNS als „Gehirnnerv“ gebündelt (z. B. der Nervus vagus des Parasympathicus), oder sie nehmen ihre Route durch das Rückenmark und verlassen dieses, wie efferente Output-Fasern allgemein, durch die ventralen Wurzeln der Spinalnerven. Regeltechnisch führen die Fasern der Spinalneurone Istwertinformation von Fühlern den zentralen Reglern zu, die sympathischen und parasympathischen Bahnen leiten Befehle an die Stellglieder. Sowohl das System des Sympathicus wie auch des Parasympathicus umfassen aber auch zahlreiche periphere Neurone. Diese vermitteln zwischen den Zuleitungen vom ZNS und den Zielorganen, deren Funktion geregelt und gesteuert werden soll. Diese peripheren Neurone sind es, die entwicklungsgeschichtlich
Abkömmlinge von den Wanderzellen der Neuralleisten sind. III. Autarkes ENS Das Enterische Nervensystem ENS. Der Magen-Darmtrakt hat sein eigenes „Gehirn“ ( brain of the gut). Es besteht aus Millionen von Nervenzellen, die in Form zweier netzförmiger Nervengeflechte in die Wand des Magendarmtraktes (intramural) eingebettet sind. Das eine Geflecht ist der Auerbachsche Plexus (Plexus myentericus), das andere der Meissner-Plexus (Plexus submucosus). Beide sind stark miteinander verwoben. Dem Auerbachschen Plexus myentericus kommt u.a. die Rolle zu, die Peristaltik des Magendarmtrakts und damit den Nahrungstransport zu regeln. In den Meissnerschen Plexus submucosus sind die zahlreichen Chemosensoren integriert, welche den Zustand des Nahrungsbreis und den Fortschritt der Verdauung registrieren. Nervenzellen dieses Nervennetzes senden viele Neurohormone aus (Kap. 4) und steuern die Sekretion der Drüsen. Im üblichen Lehrbetrieb wird dieses nach dem Gehirn zweitmächtigste Nervensystem nicht selten schlichtweg übergangen. Und doch ist es umfangreicher als das ganze Nervensystem der meisten Wirbellosen (Ausnahmen: große Tintenfische) und es verleiht dem Magendarmtrakt eine weitgehende Autarkie, in die das ZNS nur fallweise über sympathische und parasympathische Bahnen modifizierend eingreift. Zwischen ZNS und ENS gibt es aber auch viele stille Zwiegespräche über hormonale Signale. „Still“ meint hier: Die Kommunikation zwischen ZNS und ENS läuft nicht über unser Bewusstsein.
10.3 Regelkreise für Atmung, Kreislauf, Blutdruck Wenn wir beim Jogginglauf, und noch eine Weile danach, heftig schnaufen und hecheln, unser Herz pocht und pocht, der Blutdruck unsere Adern anschwellen lässt und der Schweiß vom Leibe tropft, tun wir dreierlei: Wir führen den Muskeln und der Leber vermehrt O2 zu (der Leber zur „Verbrennung“ der Milchsäure); wir entsorgen vermehrt gebildetes
10.3 Regelkreise für Atmung, Kreislauf, Blutdruck
III VII IX X
Nervus vagus
Adrenalin Ganglion coeliacum
Glucose
Leber
Magen
Pankreas Grenzstrang
Ad
ren alin
Spinalnerven
der Sacralregion Blase
Parasympathicus
Nebennierenmark Sympathicus
Abb. 10.7. Efferente, Steuerungsbefehle ausgebende Leitungen des vegetativen Nervensystems
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10 Das vegetative Nervensystem
CO2, und wir führen Wärme ab. In solchen Fällen wird die Flexibilität und Verschränkung der Regelkreise evident. 10.3.1 Atmung: Ein zentraler Rhythmusgenerator muss auf erhöhten Kohlendioxidgehalt und verminderten Sauerstoffgehalt des Blutes reagieren Der Rhythmus unserer Atemzüge wird von einem Rhythmusgenerator erzeugt, der in der Medulla oblongata, dem hintersten Abschnitt des evolutionsgeschichtlich alten Stammhirns, tätig ist (Abb. 10.6). Er gliedert sich in miteinander gekoppelte Inspirations- und Exspirationzentren und gibt Tag und Nacht den basalen Rhythmus vor, dem die Atemmuskeln gehorchen. Der Rhythmus ist willentlich beeinflussbar: Der geübte Sänger kann die Expirationsphase sekundenlang dehnen; der Taucher den Beginn der Expirationsphase minutenlang hinausschieben. Doch der Willkür sind zur Sicherung des Lebens Grenzen gesetzt. Der Signalfluss ist nicht einsinnig. Man stellt sich hier ein Zusammenspiel zwischen Atemmuskulatur und Gehirn vor. Beim Einatmen werden Dehnungsrezeptoren im Brustraum gereizt. Sind sie stark gespannt, löst ihre Rückmeldung an die Zentrale den Gegenbefehl zum Ausatmen aus. Um diesen Grundrhythmus selbsttätig in sinnvoller Weise zu modifizieren, braucht die Zentrale weitere Daten von Fühlern, welche die Beschaffenheit des Blutes registrieren. Fühler. Die Frequenz und die Tiefe der Atemzüge werden erhöht, wenn Chemosensoren einen erhöhten pCO2, einen erniedrigten pO2 und eine Versauerung (Milchsäure) im Blut registrieren. Entsprechende Chemosensoren sitzen an strategisch wichtigen Positionen (Abb. 10.6). ●
●
Man findet sie an den Halsschlagadern (Carotiden), dort wo sie sich in Carotis interna und Carotis externa gabeln. Es gibt dort Sinneszellen, die den Geschmacksrezeptoren auf der Zunge ähneln. Blutkapillaren führen ihnen Proben des arteriellen Blutes, das für das Gehirn bestimmt ist, zu. Sie sitzen im Gehirn selbst, wo bestimmte Nervenzellen direkt auf einen erhöhten pCO2 oder
sauren pH mit elektrischer Aktivität reagieren. Der Ort im Hirnstamm, der diese Sensoren beherbergt, liegt ganz in der Nähe des Atemzentrums. Im Experiment zeigt sich, dass beim Säuger und Menschen der pCO2 des Blutes für die Regelung der Atemtätigkeit die bedeutsamste Regelgröße ist; vielleicht weil der pO2 durch die Speicherkapazität des Hämoglobins besser abgepuffert ist. Der Zoophysiologe weiß zu berichten, dass bei Wassertieren, Krebsen wie Fischen, ebenfalls der pCO2 – in diesem Fall des umgebenden Wassers – der einflussreichste Parameter ist, auf den die Atemregulation anspricht. Außer den genannten Chemorezeptoren schicken auch Dehnungsrezeptoren Signale ins Gehirn. Solche Dehnungsrezeptoren sind sensorische Nervenzellen mit einer Reiz-aufnehmenden, langen und dünnen dendritischen Faser, die durch mechanischen Zug zur gesteigerten elektrischen Aktivität stimuliert wird. Solche Dehnungsrezeptoren messen laufend den Dehnungszustand der Luftröhre und der Bronchien. Stellglieder sind natürlich die Atemmuskeln, aber auch die glatten Muskeln der Luftröhre (Trachea) und der Bronchien; denn wenn Atemtiefe und Atemfrequenz erhöht werden, ist es sinnvoll, auch die Luftröhren zu weiten, um für die Atemluft den Strömungswiderstand herabzusetzen. Bei Asthma bronchiale ist diese Reaktion gestört. Regelzentrum. Als solches wird der Rhythmusgenerator selbst angesehen, der freilich mit dem Kreislaufzentrum gekoppelt ist. 10.3.2 Kreislauf: Nicht nur der Arzt und Hochdruckpatient besitzen Blutdruckmesser Was wird geregelt? Wichtige Regelgrößen sind ●
der Füllungszustand des Herzens und der herznahen Blutgefäße, und damit indirekt auch das zur Verfügung stehende Blutvolumen. Der Füllungszustand und das Blutvolumen werden mit Dehnungsrezeptoren gemessen, die in die Wand des Vorhofs und des Ventrikels und ebenso in die Wand der herznahen großen Venen eingebaut sind;
10.4 Neurovegetative Steuerung durch Sympathicus und Parasympathikus ●
der arterielle Blutdruck. Er wird wiederum mit Dehnungsrezeptoren gemessen, die in diesem Fall als Pressorezeptoren oder Barorezeptoren bezeichnet werden. Man findet sie in der Wandung des Aortenbogens und der großen Lungenarterie. Weitere finden sich in den Halsschlagadern ganz in der Nähe der pCO2-, pO2- und pH-Rezeptoren (Abb. 10.6). Bei erhöhtem statischen Blutdruck werden die Wände dieser Gefäße stärker gedehnt und mit den Wänden der Gefäße auch die in die Wände eingebetteten Reiz-aufnehmenden Fasern der Dehnungsrezeptoren.
Außer den genannten Blutdruckrezeptoren gibt es vermutlich noch viele weitere, die eher lokale Bedeutung haben, wie die barorezeptiven Endothelzellen, die als Ventil den Blutzustrom zu den Nierenglomeruli regeln (s. Kap. 6; Abb. 6.16). Damit sei angedeutet, dass Blutdruckregelung lokal und global geschehen kann. Globale Druckregulation. Für die globale Einstellung des arteriellen Blutdrucks sind als Stellglieder das Herz und die kontraktilen Arterien zuständig. Das Herz kann seine Kontraktionskraft und seine Schlagfrequenz verändern. Die Arterien können sich zusammenziehen und Druck aufs inkompressible Blut ausüben. Damit erhöhen sie freilich auch den Gefäßwiderstand. So ist denn auch der variable Gefäßwiderstand nicht nur ein Mittel, den globalen Druck zu regeln; vielmehr werden mittels lokaler Konstriktionen die Blutströme dirigiert. Herz und Arterien handeln freilich nicht autonom. Herzschrittmacher und die Muskeln von Herz und Arterien müssen „sympathisch“ oder „parasympathisch“ dirigiert werden. Was diese seltsamen Begriffe bedeuten, erfahren wir gleich. Lokale Regelung des Blutdrucks und des Blutflusses. Der Organismus kann den Blutstrom je nach den momentanen Erfordernissen mal hierhin mal dorthin dirigieren. Hier werden Arteriolen geweitet, dort werden welche verengt. Maßgebend können lokale Faktoren sein: lokale Unterkühlung, eine lokale Verletzung, ein lokaler Entzündungsherd zum Beispiel. Für das Öffnen und Schließen der Gefäße in begrenzten Provinzen sind oft Gewebshormone zuständig, wie sie beispielsweise in Entzündungsherden erzeugt werden. Es zählen hierzu eine Reihe von bioaktiven Peptiden (z. B. Brady-
kinin) und eine Reihe von oxidierten Lipiden, die sich von der mehrfach ungesättigten, 20 Kohlenstoffatome enthaltenden Fettsäure Arachidonsäure ableiten (bestimmte Prostaglandine, Leukotriene und Hydroxyfettsäuren). Nicht nur kleinräumige Provinzbezirke, auch ganze Organe und Organsysteme können verstärkt oder vermindert mit Blut versorgt werden. Das muss nach einem Funktionsplan geschehen, der die momentan erforderliche Versorgung der Organe mit Energie und Sauerstoff und ihre Entsorgung von Kohlendioxid und anderen Stoffwechselendprodukten berücksichtigt. Wer entwirft diesen Plan? 10.3.3 Alarm im Brustkorb: Das mit Sauerstoff unterversorgte Herz löst Angina pectoris aus Ist die Sauerstoffversorgung des Herzens unzureichend (man nennt das Ischämie), weil beispielsweise die Herzkranzgefäße verengt sind, andererseits das Herz besonders anstrengend arbeiten muss, sendet es Substanzen (unbekannter Art) aus, die zur Verkrampfung von Muskeln im Brustraum führen (lat.: angina pectoris = Enge des Brustraums) und oft auch Schmerzfasern aktivieren. Der zu Recht geängstigte Patient wird sich Ruhe gönnen müssen. Es ist unter Pathophysiologen jedoch umstritten, ob ein Anginaanfall als Schutzreflex gedeutet werden kann; denn nicht jede Ischämie führt zu einem warnenden, schmerzhaften Anfall; es gibt auch eine „stumme Ischämie“.
10.4 Neurovegetative Steuerung durch Sympathicus und Parasympathikus 10.4.1 „Sympathicus“ und „Parasympathicus“ haben wenig mit unserer Gefühlswelt zu tun, sondern bezeichnen zwei Subsysteme des Nervensystems Wir sind beim vegetativen Nervensytem, dem die Steuerung der inneren Organfunktionen obliegt, das also in der Lage ist, Regelkreise zu überspielen und Regelgrößen gezielt zu variieren. Das vegetative
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10 Das vegetative Nervensystem
Nervensystem umfasst Bereiche im Zentralnervensystem, die dem Zwischenhirn und dem Gehirnstamm zugeordnet werden, und es umfasst viele Nervenbahnen, die all überall im Körper herumziehen, durch mancherlei Ganglien (Ansammlungen von Nervenzellen) vernetzt sind und bei den „vegetativen Organen“ enden. Schon Ärzte und Schamanen des Altertums hatten erkannt, dass es Krankheiten gibt, bei denen viele Körperfunktionen gleichzeitig in Mitleidenschaft gezogen sind. Das griechische Wort sympathein heißt mitleiden, miteinander leiden, Mitleid haben. Wenn das vegetative Nervensystem erkrankt ist, dann leiden viele Organe. Das sympathische System ist das eine Subsystem des vegetativen, autonomen Nervensystems, das parasympatische System ( para = neben; neben dem sympathischen System existierend) das andere. Übergeordnetes Integrationszentrum für beide Subsysteme ist der Hypothalamus im Zwischenhirn.
10.4.2 Anatomie und Transmitter der sympathischen und parasympathischen Subsysteme Obwohl es bei Regelkreisen und ihrer Vermaschung immer auch darum geht, Information von Fühlern, also von Sinnesorganen, ins System einzuspeisen, hat die medizinische Tradition diesen Aspekt vernachlässigt. Wahrscheinlich, weil Endorezeptoren winzig und schwer zu identifizieren sind. Mit bloßem Auge sind sie nicht zu erkennen. Mit den sympathischen und parasympathischen Leitungen betrachtet man lediglich die zu den Effektoren ziehenden efferenten (herausführenden) oder motorischen Ausgänge aus dem Zentralnervensystem. Im Sinne der Regelungstechnik sind dies also die Leitungen zu den Stellgliedern. Für das sympathische wie für das parasympathische System ist kennzeichnend, dass es zwischen den Ausgängen der Leitungsbahnen im Gehirn oder Rückenmark und den Enden der Leitungsbahnen an den Organen jeweils eine Umschaltstelle gibt, wo ein präganglionäres, d. h vor dieser Umschaltstelle lokalisiertes Neuron über Synapsen seine Meldung an postganglionäre Neurone weitergibt.
Der Ausdruck „postganglionär“ ist insofern irreführend, als im sympathischen System diese Neurone nicht „post“ (nach, hinter), sondern inmitten von Ganglien ( =lokalen Ansammlungen von Neuronen) liegen. Im parasympathischen System sind die „postganglionären“ Neurone weder Ganglien nachgeschaltet, noch sind sie wie im sympathischen System zu Ganglien zusammengeschart, sondern sind in die Zielorgane eingebettet.
Zwischen ZNS und dem Zielorgan vermittelt jeweils eine Kette von zwei Neuronen. Das präganglionäre Neuron hat seinen Wohnsitz im Zentralnervensystem; das heißt, der zentrale Zellkörper mit dem Zellkern liegt im Hirnstamm oder im Rückenmark. Nur sein Axon (fortleitende Faser) schickt das präganglionäre Neuron in die Peripherie. Das die Botschaft übernehmenden postganglionäre Neuron befindet sich auf jeden Fall draußen. Beim sympathischen System verlassen die präganglionären Fasern das Rückenmark in den ventralen Wurzeln der Spinalganglien im Bereich von Brust, Kreuz und Lenden. Die postganglionären Neurone der Brustregion haben ihren Wohnsitz in den Ganglien der sympathischen Grenzstränge, die links und rechts die Wirbelsäule begleiten (Abb. 10.4, 10.5, u. 10.7). Im Unterleib befinden sich die Umschaltstationen in Ganglien, die zwischen den Eingeweiden liegen, beispielsweise im Ganglion coeliacum (Abb. 10.7). In all diesen Umschaltstationen werden die Signale an viele nachgeschaltete Neurone weitergegeben; auf ein präganglionäres Neuron kommen ca. 20 postganglionäre. Beim parasympathischen System verlassen die präganglionären Fasern das Zentralnervensystem durch sogenannte Gehirnnerven oder über die ventralen Wurzeln der Spinalnerven in der Kreuzbein(Sakral-) region. Von den zuständigen vier Gehirnnerven (N. oculomotorius; N. facialis, N. glossopharyngeus, N. vagus) ist der Nervus vagus, der herumvagabundierende Nerv, der auffälligste. Er fasert sich vielfach auf und betreut besonders viele Organe (Abb. 10.7). Die postganglionären Neurone des Parasympathicus haben ihren Wohnsitz nahe oder in den Organen, denen sie ihre Befehle übergeben müssen. ●
Als Transmitter wird zwischen prä- und postganglionären Neuronen sowohl im sympathischen wie im parasympathischen System einheitlich Acetylcholin (ACH) benutzt, das von den nachgeschalteten Neuronen mittels sogenannter
10.4 Neurovegetative Steuerung durch Sympathicus und Parasympathikus
nikotinischer ACH-Rezeptoren (Abschn. 15.4) aufgefangen wird. Hingegen setzt an den Synapsen am Ende der postganglionären Leitungsstrecke das sympathische System –sieht man von Ausnahmen (Schweißdrüsen) ab – Noradrenalin, das parasympathische System wiederum Acetylcholin frei, das nun aber an sogenannte muscarinische ACH-Rezeptoren (Abschn. 15.4) des nachgeordneten Neurons bindet. ●
●
Bei starker und längerer Beanspruchung des Sympathicus wird an den terminalen Synapsen durch Exocytose außer Noradrenalin zusätzlich NPY, Neuropeptide Y, freigesetzt. Es führt zu länger anhaltenden Kontraktionen von Blutgefäßen und damit zur Erhöhung des Blutdrucks. Bei starker Aktivierung des Parasympathicus wird zusätzlich zum Acetylcholin das Neuropeptid VIP, Vasoactive Intestinal Polypeptide, freigesetzt. Dieses „neuromodulatorische“ Peptid verstärkt in noch nicht bekannter Weise die ACH-Wirkung. Eine weitere, anatomische Besonderheit vieler terminaler Synapsen im vegetativen Nervensystem verdient Erwähnung. Da oftmals gleichzeitig viele Zielzellen, beispielsweise die vielen „glatten“ Muskelzellen der Bronchien, der Lungenflügel, des Darmes und der Harnblase beeinflusst werden sollen, verzweigen sich die Befehle erteilenden Enden der Axone in zahlreiche Ästchen. Entlang dieser Ästchen sind perlenartig mehrere ACH-freisetzende Synapsen aufgereiht (zwei Beispiele sind in Abb. 16.8 zu sehen). Die Anatomen des 19. Jahrhunderts nannten diese perlschnurartig aufgereihten Serien von Synapsen „Varikositäten“ und so heißen sie in der medizinischen Literatur heute noch.
Die angesteuerten Organe werden also entweder mittels Noradrenalin oder mittels Acetylcholin zu diesem oder jenem Verhalten aufgefordert. In den adrenergen Synapsen werden zum Empfang von Noradrenalin verschiedene molekulare Rezeptoren eingesetzt (α1, α2, β1, β2), die sich in ihren pharmakologischen Eigenschaften unterscheiden. Der Arzt, der Medikamente gegen Bluthochdruck verschreibt, sollte über diese Unterschiede Bescheid wissen. 10.4.3 Leistungsbereitschaft und Stress oder sattes Ruhebedürfnis Will man sich die vielfältigen Wirkungsweisen des sympathischen und parasympathischen Systems
überschaubar und merkfähig vor Augen halten, beobachte man eine Katze in verschiedenen Situationen (Abb. 10.7): Szene 1a: „Sympathische“ Dominanz. Die Katze lauert gespannt vor dem Mauseloch; vielleicht hat sie schon die Nasenspitze der Maus im Blick. ●
Die Augen sind aufgerissen, die Pupillen geweitet.
●
Die Muskeln sind angespannt.
●
Der Atem ist schon leicht beschleunigt.
●
Auch das Herz schlägt schon schneller.
●
Das Nebennierenmark spritzt das Stresshormon Adrenalin ins Blut.
●
Luftröhre und Bronchien weiten sich.
●
Blut strömt bevorzugt Richtung Gehirn, Lunge und Muskeln.
●
Der Magen-Darmbereich hingegen wird nur noch spärlich mit Blut versorgt wird; die Funktionen dieser Organe werden zurückgefahren; die Peristaltik ist reduziert; Salzsäure und Enzyme werden nur noch spärlich sezerniert.
Szene 1b: „Fight and Flight Syndrom“. Müllers Kater erblickt seinen Todfeind, Schulzens Hund: ●
Die Nebenniere jagt eine besonders kräftige Dosis Adrenalin, vermischt mit Noradrenalin, ins Blut.
●
Alle zuvor genannten Symptome sind gesteigert.
●
Die Haare sträuben sich.
●
Nun rast der Kater los, und hinauf auf den Baum: sein Herz pocht rasend, der Atem geht rasch und fauchend.
Szene 2: Parasympathische Dominanz: „Rest and digest“ oder „Ein voller Bauch studiert nicht gern“. Unsere Katze hat die Maus in ihrem Bauch in Sicherheit gebracht und gibt sich genüsslich der Verdauung hin. ●
Die Katze hat sich hingelegt, macht einen trägen Eindruck.
●
Die Augen sind halb oder auch ganz geschlossen.
●
Die Muskeln sind entspannt; sie hat die Beine halb von sich gestreckt; lässt die Beine, auf der Mauer dösend, auch mal nach unten baumeln (Abb. 10.7).
249
10 Das vegetative Nervensystem ●
Der Atem geht ruhig; seine Frequenz ist tief. Ruhig pocht auch das Herz.
●
Hingegen ist nun im Magen-Darmtrakt volles Leben. Dorthin werden die Blutströme geleitet.
Adrenalin als Hormon
sympath. Faser
2
Noradrenalin 1
2
1
10.4.4 Eine duale Innervation steuert antagonistische Reaktionen
2 1
2
250
●
●
Ergotrope, auf wache Leistungsbereitschaft trimmende Reaktionen ( ergon = Arbeit; tropein = steuern) werden über sympathische Fasern aktiviert; sie übermitteln an den Endsynapsen ihre Signale mittels Noradrenalin. Trophotrope ( trophein = ernähren) Reaktionen werden vom Parasympathicus beherrscht. Er überträgt seine Botschaft mittels Acetylcholin.
Beispielsweise regen sympathische Fasern mittels Noradrenalin den Herzschrittmacher (Sinusknoten) an, seinen – im Prinzip autonomen – Taktrhythmus zu beschleunigen; parasympathische Fasern sagen ihm mittels Acetylcholin, dass er sich beruhigen kann. Auch Blutgefäße sind innerviert, vor allem die kleineren Arterien und die Arteriolen, meistens aber nur sympathisch. Das Nachlassen der adrenergen Stimulation genügt hier, die Gegenreaktion auszulösen. Welche Reaktionen, welche Gegenreaktionen? Das kommt darauf an, und zwar darauf, wohin die Blutströme fließen sollen. Ist körperliche Leistung gefordert, müssen die Muskeln gut versorgt werden. Will man sich auf die Verdauung konzentrieren, müssen die Organe des Verdauungstraktes mit begleitenden Organen vermehrt durchblutet werden. Entsprechend reagieren Blutgefäße lokal unterschiedlich. Die glatten Muskelzellen, die sie umhüllen, können mit verschiedenen Rezeptoren ausgestattet sein und entsprechend unterschiedlich reagieren (Abb. 10.8). Es gilt nun die Faustregel: ●
Noradrenalin wirkt auf α1-Rezeptoren und bewirkt Kontraktion dieser Gefäße. Beispiel: Blut-
1
Der Physiologe gibt ergänzende Erläuterungen. Die meisten inneren Organe sind dual innerviert, sympathisch und parasympathisch. In aller Regel erteilen die beiden Systeme antagonistische Befehle; nur in Einzelfällen, so an den Speicheldrüsen, wirken beide Systeme synergistisch.
Hautarteriole
Herzkranzgefäß
Abb. 10.8. Blutflussregelung. Gegensätzliche Reaktionen von arteriellen Gefäßen der Haut und des Herzens auf sympathische Stimulation. Während Gefäße der Haut sich kontrahieren, erweitern sich Herzkranzgefäße. Die eingekreisten Rezeptortypen gehören zu den glatten Muskelzellen (rot), welche die Kontraktion der Gefäße bewerkstelligen
gefäße der Haut. Eine Stress-Situation macht die Wangen blass (oder überschießend rot). ●
Adrenalin wirkt auf β2-Rezeptoren und bewirkt die Erweiterung jener Gefäße, die solche Rezeptoren besitzen. Das sind beispielsweise die Herzkranzgefäße, die den Herzmuskel mit Treibstoff und Sauerstoff versorgen.
Woher kommt Adrenalin? An manchen Synapsen setzen sympathische Fasern diese Variante des Transmitters ein (Strukturformel s. Abb. 15.4). Mit größerer Wahrscheinlichkeit kommt diese Signalsubstanz als Hormon über den Kreislauf in die Arteriolen. 10.4.5 Das sympathische System wird unterstützt durch hormonelle Signale Bei der Einstellung des Körpers auf wache Bereitschaft und, wenn‘s Not tut, auf Abwehr und Kampf, wird das sympathische System durch ein hormonelles Signal unterstützt. Dieses Signal ist das Alarmhormon Adrenalin, das vom Nebennierenmark ins Blut gespritzt wird, vermischt mit einer kleinen Menge Noradrenalin. Adrenalin ●
fordert die Leber auf, vermehrt Blutzucker (Glucose) freizugeben, damit er im Kreislauf verteilt werden kann;
10.5 Thermoregulation ●
unterstützt die Umlenkung der Blutflüsse;
●
thermos = warm,
●
nimmt Einfluss auf die Nebennierenrinde, einem zweiten hormonbildenden Gewebe, das den Produktionsort des Adrenalins, das Nebennierenmark, umhüllt. Die Rinde setzt bei wiederholter Reizung durch Adrenalin Hormone frei, die bei Langzeitstress zusätzliche Steuerfunktionen übernehmen und langfristige Umstellungen im Körper bewirken: Cortisol und Cortison. Wir kommen nicht mehr umhin, uns mit dem Hormonsystem zu befassen. Obwohl es auch hier um Steuerung vegetativer Funktionen geht, widmen wir dem Hormonsystem der Übersichtlichkeit willen ein eigenes Kapitel (s. Kap. 11).
●
ekto = außen und endo = innen,
●
poikilos = variabel,
●
homoios = gleichförmig, oder iso = gleich.
●
eurys = breit
●
stenos = eng, schmal
10.4.6 Asthma bronchiale: der Parasympathicus dominiert höchst unangenehm Asthma bronchiale ist – ähnlich der Angina pectoris – eine in Anfällen auftretende, krampfhafte Verengung der Atemwege, begleitet von Gefühlen der Beklemmung und verursacht durch eine starke Kontraktion der die Bronchien umhüllenden Muskulatur. Verschlimmert wird die Atemnot durch abgesondertes viskoses Sekret, das den Luftkanal weiter verengt. Bronchialasthma wird ausgelöst durch besondere Anstrengung oder durch allerlei äußere Auslöser wie Zigarettenqualm oder Allergene. Vermittelt werden die auslösenden Reize durch parasympathische neuronale Bahnen. Der Arzt verschreibt Adrenalin-ähnlich wirkende Substanzen (β-Sympathomimetica), welche über β2-Rezeptoren eine Dilatation der Luftröhre bewirken.
10.5 Thermoregulation 10.5.1 Der Zoologe kennt Poikilotherme und Homoiotherme, Ektotherme und Endotherme Jetzt ist der Absolvent des humanistischen Gymnasiums im Vorteil, sofern er seine Griechisch-Vokabeln noch im Kopf hat. Die Wortteile bedeuten:
Poikilotherme Tiere passen ihre variable Körpertemperatur der Außentemperatur an, sie sind thermokonform. Entsprechend ist ihre Körpertemperatur im Regelfall wechselnd. Wirbellose, Fische, Amphibien, Reptilien werden als poikilotherme oder auch ektotherme Tiere klassifiziert. „Kaltblütig“ müssen solche Tiere aber nicht immer sein, auch wenn sich Frosch und Fisch selten warm anfühlen. Andererseits können Heuschrecke und Reptil in der Mittagshitze wärmer werden als manch „warmblütiges“ Tier. Hohe Körpertemperaturen setzen beim Poikilothermen allerdings hohe Umgebungstemperaturen voraus. Sie sind ektotherm, nehmen Wärme von außen auf. Da Ektothermie solcher Organismen ein Jahrmillionen altes Erbe ist, vertragen viele Ektotherme weit größere Temperaturdifferenzen als wir; sie sind nicht nur ekto- und poikilo-, sondern auch eurytherm. Homoiotherme (isotherme) Tiere haben gleichförmige Körpertemperaturen. Sie sind im Regelfall endotherm, erzeugen ihre Körperwärme selbst. Vögel und Säuger sind also endotherme Homoiotherme zu nennen. Andererseits ist ihre Temperaturtoleranz in der Regel gering; sie sind vergleichsweise stenotherm. Warum aber gibt es zwei Begriffspaare: poikilotherm versus homoiotherm; endotherm versus ektotherm? Nun, manch ektothermes Lebewesen, das nur wenig Wärme produziert und sich der Umgebung anpasst, hat trotzdem eine gleichmäßige Körpertemperatur, schlichtweg weil seine Umwelt temperaturkonstant ist. Tiefseefische sind ein Beispiel. Andererseits kann manches Lebewesen beträchtlich eigene Körperwärme erzeugen, ohne freilich dauerhaft eine bestimmte Temperatur einzustellen. Thunfische und Haie haben Körpertemperaturen, die dauernd über der Temperatur des Meerwassers liegen, ohne konstant zu sein. Ein weiteres Beispiel sind Bienen im Stock zur Winterszeit, wenn sie zu Ballen zusammenrücken und mit ihren auf Leerlauf gestellten Flugmotoren gemeinsam Wärme produ-
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10 Das vegetative Nervensystem
zieren. Sie müssten dann endotherme Poikilotherme genannt werden. So ist es halt mit unseren klassifizierenden Begriffen. Die Natur erlaubt sich die Freiheit, sich nicht in schematische Begriffsysteme zwängen zu lassen. Zu welchem Nutzen hat sich wohl in der Evolution der Vögeln und Säuger Endothermie entwickelt? Plausible Antworten liegen auf der Hand: Endothermie ermöglicht außerhalb der inneren Tropen Aktivität schon in den frühen Morgenstunden, in der kühlen Nacht – viele, besonders kleine Säugetiere sind nachtaktiv –, und gar in der Winterszeit. Sie kostet andererseits viel Energie und war nur durchführbar, als subkutanes Fettgewebe, Federkleid und Fell eine ausreichende Isolierung ermöglichten. 10.5.2 Im Regelkreis der homoiothermen Säuger und des Menschen wird die Kerntemperatur kontrolliert; das Regelzentrum sitzt im Hypothalamus Gespeist von einem Grundumsatz, der 80 bis 90 W entspricht (s. Kap. 2), erzeugen wir auch in Ruhe dauernd Wärme. Dieser Produktion steht ein dauernder Wärmeverlust entgegen, sogar wenn man in der Sauna sitzt oder sich in der Sonne mit bis zu 800 W grillen lässt; denn eine gewisse Menge Wärme geben wir über Strahlung unabhängig von der Umgebungstemperatur ab. Allerdings verlieren wir üblicherweise mehr Wärme durch direkten Transfer thermokinetischer Energie von der Haut an die kühlere Luft. Bei der Wärmeleitfähigkeit unseres Körpers ist in Ruhe ein Gleichgewicht zwischen Wärmeerzeugung und Wärmeabgabe bei ca. 28° C Außentemperatur erreicht. Ist das Gleichgewicht gestört, regeln wir und führen vermehrt Wärme ab oder produzieren welche. Für Vögel und Säuger einschließlich des Menschen gilt, dass lediglich ihre Kerntemperatur gleichförmig warm gehalten wird. Kern bedeutet: Gehirn, Brustraum, Bauchraum. Der Rest ist „Schale“ und muss in gewissem Grad eine Abkühlung ertragen. Sucht man nach den Fühlern, muss man daher auch an Sensoren im Körperkern denken. Im Tierversuch wurden temperatursensitive Nervenzellen im vorderen Hypothalamus (Regio praeoptica), in
der Medulla oblongata und im Rückenmark ausgemacht. Weitere Thermosensoren werden in der Dorsalwand der Bauchhöhle und in der Muskulatur vermutet. Darüber hinaus wird aber auch die Meldung der Thermorezeptoren der Haut (Wärmezufuhr- und Wärmeentzugs-Rezeptoren, s. Kap. 17) berücksichtigt. Das Regelzentrum ist in Neuronenverbänden des Hypothalamus zu suchen. Den Stellgliedern widmen wir eigene Abschnitte. Der Physiologe medizinischer Institute hat neben Kern- und Schalen-Temperatur weitere Begriffe im Gebrauch. Nett von ihm, dass er die Indifferenztemperatur definiert als Temperatur von 27–31° C, bei der man sich auch nackt wohl fühlt.
10.5.3 Stellglieder fürs Kühlen Kühlen kann Not tun. Steigt die Kerntemperatur auf ●
39–40° C drohen Hitzekollaps (Schwäche, Schwindel, Müdigkeit) und Hitzschlag mit Desorientiertheit, Krämpfen, Bewusstlosigkeit;
●
41,9° C hält kurzfristig der trainierte Marathonläufer aus;
●
43° C bringen auch ihn um.
Wir erinnern uns: Wärme ist die Summe der kinetischen Energie beweglicher Moleküle, und Temperatur ist ein Maß für deren mittlere kinetische Energie (s. Kap. 1). Wir verlieren Wärme 1. durch elektromagnetische Temperaturstrahlung. Warme Lebewesen erzeugen InfrarotStrahlung und die trägt Energie, die sich aus der kinetischen Energie von Molekülen ableitet, in die Umwelt. Der erwachsene Mensch gibt in Ruhe, bei einer Lufttemperatur von 20–25° C, geringer Windgeschwindigkeit und geringer relativer Luftfeuchtigkeit 50–60% seiner gesamten Wärmeproduktion über Infrarotstrahlung an die Umgebung ab. Dies entspricht einer unablässigen Energieabgabe von etwa 10,8 W (5,4 W/m2). Andererseits absorbieren Lebewesen Strahlungsenergie, die auf sie trifft. Auch elektromagnetische Strahlung im sichtbaren Wellenlängenbereich, also sichtbares Licht, kann indirekt
10.5 Thermoregulation
zur Erwärmung beitragen. Eine schwarze Haut, schwarze Haare und Federn absorbieren viel Strahlung, die sich in kinetische Energie von Molekülen, also in Wärme, verwandelt. Weiß und helle Farben hingegen reflektieren Licht. Ein zoologisches Glanzlicht: Eisbären sind nicht nur weiß zur Tarnung. Die weiß erscheinenden Haare des Eisbärenfells sind innen hohl und wirken als Lichtleiter. Sie lenken sichtbares Licht auf die schwarze Haut des Bären, die sich so erwärmt. 2. durch Wärmeleitung (Wärmediffusion), das heißt thermokinetische Wärmeübergabe von der Haut an die Luft. Brown’sche molekulare kinetische Energie wird von der Grenzschicht der Haut auf Luftmoleküle übertragen. Das Ausmaß der Wärmeübertragung ist analog zur Diffusion eine Funktion des Temperaturgefälles und der Austauschfläche. Luftbewegung fördert den Abtransport in die Umwelt; die Temperaturdifferenz zwischen Haut und Luft bleibt dann erhalten. Hier kann das Tier durch Sträuben von Haaren oder Federn steuernd eingreifen. Ein stilles Luftpolster behindert die Wärmeabfuhr. Im kalten Winter plustert der Vogel sein Gefieder auf, das Reh sträubt seine Haare. Zuvor im Herbst hatten beide sich ein volumenreiches Winterkleid zugelegt. Im Frühjahr legt man sich wieder ein dünneres Sommerkleid zu. Wir ahmen dieses Verfahren mit unserer Kleidung nach. 3. durch innere Wärmekonvektion. Um Wärme erst einmal von der arbeitenden Muskulatur und den inneren Organen an die Haut zu fördern, kann die Blutzufuhr zur Haut geregelt werden. Eine geringe Erweiterung der Gefäße zur Haut und in der Haut erhöht gewaltig das Blutstromvolumen (s. Kap. 9) und damit auch den Wärmetransport. 4. durch Wärmeentzug durch Verdunstung (Schwitzen, Hecheln). Beim Übergang von der flüssigen in die Gasphase nehmen Wassermoleküle Wärme von der Umgebung auf und erhöhen auf deren Kosten ihre Entropie. Ein Liter H2O entzieht beim Verdunsten der Umwelt 2400 kJ; dies entspricht einem Viertel unseres täglichen Energiebedarfs. Der Grad der Verdunstung ist weniger eine Funktion der Temperaturdifferenz, sondern des Unterschiedes im Partialdruck
pH2O. Bei feuchter, schwüler Luft funktioniert das Prinzip entsprechend schlecht. Nur Schweiß, der verdunstet, kühlt, nicht Schweiß, der von der Stirn perlt. Der Wärmeentzug durch Verdunstung kann uns bis zu 500 mL/h Wasser kosten. In der Sauna, beim Sport (trainiert) und bei viel körperlicher Arbeit in der Mittagshitze kann sich die maximale Schweißmenge auf 4 L/h steigern. Die Wärmeabfuhr kann beim Schwitzen in trockener Luft 165 W betragen und ist dann gegenüber dem Ruheverlust um das 15fache gesteigert. Für die Produktion eines genügend hohen Wasserdampfdrucks über der Haut stehen >1 Mio. Schweißdrüsen bereit. Da man mit dem Schweiß nicht nur Wasser, sondern auch Elektrolyte verliert (Na+, Cl−, Ca2+, Mg2+), enthält der Spezialdrink des Dauerleistungssportlers zum Ausgleich auch Elektrolyte und Spurenelemente. Schweißdrüsen haben viele Säugetiere, aber nicht alle. Sie fehlen dem Kaninchen und den Nagern; beim Hund sind sie wenig leistungsfähig. Der Hund hechelt. Wir können das auch. Beim Atmen verlieren wir schon im Regelfall 1/2 l H2O/Tag. Beschleunigtes Atmen kühlt. Beim Berg- und Treppensteigen führen wir keuchend neben mehr CO2 auch mehr Wärme ab.
10.5.4 Eine Gegenstrom-Wärmeaustausch-Technik führt überschüssige Wärme ab oder spart Energie und verhindert das Erfrieren des Vogelbeins Blut, das in die Extremitäten mit ihren relativ großen Oberflächen geleitet wird, kann gut Wärme aus dem Körperkern abführen. Das ist im heißen Sommer erwünscht, nicht im kalten Winter. Im Kap. 9 (Kreislauf) haben wir Begleitarterien kennen gelernt: Arterien und Venen liegen parallel aneinander; die Richtung des Blutstroms in Arterie und Vene ist indes entgegengesetzt (s. Abb. 9.7). Im Kap. 6 (Niere) haben wir das Prinzip des Gegenstrom-Austauschers erläutert. Jetzt bringen wir beides zusammen, um den Wärmeverlust in den Extremitäten zu reduzieren. Das funktioniert in unseren Armen und Beinen: Venen übernehmen einen Teil der Wärme, die von den Arterien in die Peripherie getragen wird, und tragen sie in den Körperkern
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10 Das vegetative Nervensystem
kühler Umgebungstemperatur nicht aus, wird die Blutzufuhr zur Haut im Allgemeinen und in die Extremitäten im Besonderen gedrosselt, um den konvektiven Wärmetransport zu reduzieren. Die Haut wird blass; Hände und Füße leiden und verlangen Schutz gegen weiteren Wärmeverlust. Handschuh und Bettdecke machen nicht warm, aber sie stauen die von uns selbst produzierte und abgestrahlte Wärme auf und geben sie verzögert an die Umwelt ab. Darüber hinaus beginnt der Körper vermehrt Wärme zu erzeugen. Es gibt elegante, biochemische Verfahren und weniger elegante, physikalische. Bei beiden Verfahren wird Energie mit vertrauten Mechanismen umgesetzt, aber großenteils zu Wärme „verpulvert“.
Gegenstrom-Blutflüsse im Bein
●
Körperliche Arbeit ist die uneleganteste Methode, aber durchaus wirksam: Da der Wirkungsgrad unserer Muskulatur 20% kaum übersteigt, liefert Energie im Wert von 500 W bestenfalls Arbeit im Wert von 100 W, aber Abfallwärme im Wert von 400 W.
●
Muskeltonus. Wir spannen in der Kälte unwillkürlich unsere Muskeln an. Da wir dabei keine Arbeit von bleibendem Wert verrichten, gibt der Muskel Energie in Form von Wärme ab. Eine Steigerung dieses Verfahrens ist das
●
Kältezittern. Wenn wir den Kolben der Fahrradluftpumpe heftig hin und her bewegen, das Ventil aber defekt ist, wird die Pumpe warm (und auch unser Arm), aber nirgends wird Energie in Form von erhöhtem Luftdruck gespeichert. Entsprechend verrichten wir mit Muskelzittern keine Arbeit von bleibendem Wert. Wir heben kein Gewicht auf eine höhere Position. Schnell ist alle Energie in Wärme verwandelt. Die so erzielbare Heizleistung kann kurzfristig mit 320–400 W den 4–5fachen Wert des Grundumsatzes erreichen. Dies entspricht energetisch Schwerstarbeit; echtes Kältezittern ist mehr als Frösteln und wird maximal 2 Stunden ausgehalten.
●
Biochemische Wärmeproduktion („Zitterfreie Wärmeproduktion“). Im Bedarfsfall verheizt die Leber Fettsäuren bei mehr oder weniger entkoppelter ATP-Synthese. Da die Leber im thermisch geschützten Kernbereich kaum erfährt, ob im peripheren Körper viel Wärme verloren geht, wird
Gans auf Eis
Abb. 10.9. Gegenstrom-Wärmeaustausch-System zwischen Arterie und rückführenden Venen in den Beinen einer auf Eis stehenden Gans
zurück. Hand und Fuß frieren, aber das Herz im Körperkern bleibt warm. Viele Tiere nutzen dieses Prinzip effektiver. Wasservögel wie z. B. Enten und Gänse (Abb. 10.9) strecken ihre Beine beim Schwimmen ins eiskalte Wasser oder stehen gar, unbesorgt schlafend, mit bloßen Füßen auf blankem Eis. Wie verhindern sie zu großen Wärmeverlust und das Einfrieren der Beine? Das Gegenstrom-System gibt die Erklärung. Über die venöse Rückführung der Wärme werden die Beine „absichtlich“ und zweckdienlich kühl gehalten, damit die Temperaturdifferenz zwischen dünnem Bein und Umgebung gering ist und wenig Wärme verloren geht. Andererseits muss der Blutdurchfluss ausreichend sein, um das Eingefrieren des Beins zu verhindern: ein offensichtlich gut gemeistertes Problem der Regelungstechnik. 10.5.5 Stellglieder fürs Heizen: Wie man mehr Wärme produziert Der erwachsene Mensch produziert in Ruhe laufend Wärme im Ausmaß von 80 bis 90 W. Reicht das bei
10.5 Thermoregulation
sie wahrscheinlich über sympathische Nervenfasern oder hormonal zu erhöhter Stoffwechselaktivität aufgefordert. Als hormonale Signalgeber kommen beispielsweise Adrenalin und Thyroxin in Betracht (s. Kap. 11). Noch viel besser als die Leber kann, falls vorhanden, das braune Fettgewebe heizen.
10.5.6 Das braune Fettgewebe vieler Tiere und des Säuglings ist eine spezielle Heizung Braunes Fettgewebe findet sich bei vielen Säugern, die kühle Klimazonen bewohnen, aber auch der menschliche Säugling hat es in seiner Unterhaut über den Schulterblättern und im oberen Brustbereich (Abb. 10.10). Die Zellen dieses Spezialgewebes schließen nicht nur Fettvakuolen ein, sondern sind auch reich mit Mitochondrien ausgestattet, die ihrerseits braune Cytochrome enthalten. Zum Heizen werden aus den gespeicherten Triglyceriden Fettsäuren abgespalten, aber nicht ins Blut abgegeben und der Leber überantwortet, wie dies die weißen Fettzellen tun, sondern in zelleigenen Mitochondrien verbrannt. Die im Citratcyclus plus Atmungskette
Abb. 10.10. Lage des braunen Fettgewebes bei der Fledermaus, dem jungen Kaninchen und dem Säugling. Das braune Fettgewebe ist von Blut durchflossen, das Sauerstoff zur Verbrennung der Fettsäuren zuführt und die produzierte Wärme abführt
freiwerdende Energie wird nicht zur ATP-Synthese oder sonstiger Arbeit verwendet, sondern direkt in Wärme umgesetzt. In die innere Mitochondrienmembran werden mittels des Proteins UCP ( uncoupling protein, auch Thermogenin genannt) Poren für Protonen eingelassen. Die in der Atmungskette erzeugten Protonen (H+) können an den ATP-Synthesemaschinen vorbei ihrem Trieb (Konzentrationsgradienten) folgend zu ihren Hydroxy-Ionen (OH¯) eilen und sie heißinnigst in die Arme nehmen. Ihre Energie wird nicht in ATP-Akkus gelenkt, sondern verpufft als Hitze (Abb. 10.11). Die Heizung wird eingeschaltet mittels des Hormons Noradrenalin. Die Adipocyten des braunen Fettgewebes haben β-Rezeptoren für Noradrenalin und zudem ist das Organ sympathisch innerviert (Abb. 10.11). Besonders viel braunes Fettgewebe haben die Winterschläfer. Beim Säugling hilft Thermogenese das sehr ungünstige Oberflächen-Volumen-Verhältnis zu kompensieren. Der Säugling hat eine etwa 3fach größere relative Oberfläche, über die er Wärme verliert, als ein Erwachsener. Die Jungen vieler Säugetiere sind darüber hinaus noch nackt. Sie brauchen ein
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10 Das vegetative Nervensystem
Noradrenalin
Adenylatcyclase
G
Triglyceride PKA
cAMP
Lipase Fettsäuren
Uncoupling protein
Mitochondrium
ATP Synthase
NAD:
NAD:
NAD: OH
OH
OH
OH
OH
H2 O
OH
Acetyl-CoA
Ende Atmungskette: 1/2 O2 + H2O
OH + OH
Citratcyclus
Abb. 10.11. Wärmproduktion in Zellen des braunen Fettgewebes. Die Wärmeerzeugung geschieht in den Mitochondrien. Das uncoupling protein (=Thermogenin) erzeugt Poren in der inneren Mitochondrienmembran. Dies hat einen Kurzschluss zur
Folge. Positiv geladene Protonen strömen auf negative geladene Hydroxy-Ionen unter Umgehung der ATP-Synthase. Die Energie, die bei der Vereinigung von Protonen und Hydroxylionen frei wird, geht quantitativ in Wärmebildung auf
geschütztes Nest und die wärmende Fürsorge der Mutter.
1. Torpor, das vorübergehende Absenken der Körpertemperatur, beispielsweise in der kühlen Nacht, wie dies Kolibris tun, und 2. Winterschlaf (Hibernation), der Torpor mit umfasst.
10.5.7 Kleine Tiere sparen Energie im Schlaf: Winterschlaf und Torpor Kleine Säuger verlören im Winter viel zu viel Energie in Form von Wärme, würden sie eine Körpertemperatur von 37° C der kalten Umgebung aussetzen. Und dann kommt noch der Nahrungsmangel der Winterzeit hinzu. Die Natur hat zwei Lösungen gefunden, wobei beide Lösungen im Prinzip eine kontrollierte Poikilothermie darstellen:
Bei beiden Formen der Anpassung ist allerdings nicht nur die Thermoregulation betroffen; die ganze innere Ökonomie wird auf Sparflamme gehalten. Eine innere Uhr und das Hormonsystem stellen die gesamte vegetative Physiologie um (s. Kap. 26; Ökophysiologie).
Zusammenfassung des Kapitels 10
10.5.8 Die Körpertemperatur schwankt tagesperiodisch und – bei der Frau – im Rhythmus des Menstruationszyklus Wenn man mit dem Thermometer die Rektaltemperatur misst, die der Kerntemperatur nahe kommt, misst man periodische Schwankungen. Beim Menschen misst man ein morgendliches Minimum und Zusammenfassung des Kapitels 10 Es wird einleitend eine Einführung in die Funktionsweise von Regelkreisen gegeben; denn die Regelung „vegetativer“ Funktionen basiert auf biologischen Regelkreisen mit inneren Sinnesorganen als Fühlern der Istwerte und zentralen Instanzen im Gehirn als steuernden Kontrolleuren, die im Bedarfsfall den Sollwert auch verstellen. Es wird ferner darauf hingewiesen, dass das autonome vegetative Nervensystem nicht nur (wie oft dargestellt) das periphere Nervensystem (PNS) mit seinen Subsystemen Sympathikus und Parasympathikus umfasst, sondern auch das enterische Nervensystem ENS und große Bereiche des Gehirns, vor allem das Zwischenhirn mit Hypothalamus und das Nachhirn (Medulla oblongata). Bei der Steuerung der Herztätigkeit, des Blutdruckes, der Blutverteilung und der Atemfrequenz spielen Fühler im Bereich der Herzvorhöfe, der Aorta und der Halsschlagadern (Abb. 10.6) eine wichtige Rolle. Das neurovegetative System zur koordinierten Umsteuerung all dieser Funktionen ist in die antagonistischen Subsysteme Sympathikus und Parasympathikus gegliedert. Das sympathische System trimmt den Körper auf momentane Leistungsbereitschaft (ergotrope Reaktionen, „fight and flight Syndrom“), das parasympa-
ein nachmittägliches Maximum. Die Differenz beträgt 0,6° C. Bei der Frau werden diese tagesperiodischen Schwankungen überlagert durch Schwankungen im Rhythmus des Menstruations-(Ovulations)Zyklus. Nach der Ovulation, in der Mitte des Zyklus, steigt die Temperatur für einige Tage um 0,4° C an. Die unmittelbaren Ursachen sind nicht bekannt; mittelbar dürfte das Hormonsystem involviert sein.
thische System fördert Erholung und Aufbereitung der Nahrung (trophotrope Reaktionen, „rest and digest“). An den Enden (Synapsen) der sympathischen Befehlsfasern (Efferenzen) wird der Transmitter Noradrenalin freigesetzt, dessen stimulierende Wirkungen durch das Stresshormon Adrenalin unterstützt wird, an den Enden der parasympathischen Fasern der Transmitter Acetylcholin (ACH). Parasympathische Überreaktion löst u. a. Asthma bronchiale aus. Beide Subsysteme, das parasympathische und das sympathische, steuern auch die Temperaturregulation der gleichwarmen (homoiothermen = endothermen) Tiere. Zu den Mechanismen der Regelung zählen Gegenstrom-Wärmeaustauscher, Verdunstung von Wasser zur Kühlung und Umwandlung von mechanischer Arbeit in Wärme durch Muskelzittern. Das braune Fettgewebe des Säuglings und der Winterschläfer ist auf biochemische, „zitterfreie“ Wärmeproduktion spezialisiert. Durch Einbau des uncoupling protein UCP, auch Thermogenin genannt, in die innere Mitochondrienmembran, wird die Atmungskette von der ATP-Synthese entkoppelt und die gesamte oxidativ freigesetzte Energie in Wärme verwandelt. Viele, besonders kleine Säuger und Kolibris setzen bei Kälte und Nahrungsmangel vorübergehend ihre Körpertemperatur herab (Torpor), sparen so Energie und reduzieren Wärmeverlust.
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11 Hormonale Steuerung
11.1 Hormonale versus neuronale Signalübermittlung – Eigentümlichkeiten, Definitionen Auch wenn uns die Vorstellung fremd sein mag, trifft sie doch zu: Wir alle existieren als ein Staat von Zellen. Die Abermilliarden Einzelzellen sind freilich in ihrer Existenz voneinander abhängig und müssen miteinander kooperieren, um den Staat als Ganzes lebensfähig zu halten. Es gibt eine unüberschaubare Fülle von Möglichkeiten, wie Zellen miteinander kommunizieren können. Beispielsweise können sie auf ihrer Zelloberfläche Signalmoleküle exponieren, die von Nachbarzellen abgetastet und abgelesen werden können. Solche im Nahbereich wirksamen Kommunikationssysteme haben fundamentale Bedeutung in der Embryonalentwicklung. Sie bleiben zeitlebens bedeutsam bei der Kontrolle lokaler Prozesse wie z. B. Entzündungen und Immunreaktionen (s. Kap. 7, Immunologie). Wir betrachten in diesem Kapitel Systeme der Fernkommunikation, besonders die Kommunikation über Botenstoffe, die unter dem Begriff Hormon (engl.: hormone, von griech.: horman = antreiben, in Gang setzen;) bekannt geworden sind.
11.1.1 Botschaften und Befehle können über „Rundfunk“ oder über ein „Telefonnetz“ übermittelt werden Es gibt im erwachsenen menschlichen und tierischen Organismus zwei große Signalübermittlungssysteme, die Nachrichten und Befehle über große Distanzen übermitteln können: das Nervensystem und das Hormonsystem (Abb. 11.1). Beide Systeme haben ihre besonderen Vorzüge und Einsatzbereiche.
Nervenspystem. Hier sind Sender und Empfänger durch individuelle Leitungen direkt miteinander verbunden. Entsprechend können einzelne Empfänger direkt und individuell angesprochen werden. Die Signalleitung geschieht über elektrische Impulse und sie geschieht rasch. Zwar wird am Ende der Leitung die Botschaft durch chemische Transmitter vermittelt, doch diese synaptische Übermittlung ist in einem Tausendstel einer Sekunde erledigt. Hormonsystem. Hier schicken Sender ihre Botschaft über das Kreislaufsystem überall hin. Entsprechend können viele Empfänger erreicht werden. Die Signalübertragung ist jedoch nicht so rasch. Das „Rundfunksystem“ der Hormone wird in Anspruch genommen, wenn viele Empfänger erreicht und zum synchronen Handeln aufgefordert werden sollen, und wenn längerfristige Reaktionen im Bereich von einigen Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen oder gar Jahren ausgelöst werden sollen. Die Empfänger müssen freilich kompetent, das heißt auf den Sender eingestellt sein und speziIn der Evolution dürfte die Kommunikation über Nervenfasern aus der zwischenzellulären Kommunikation mittels chemischer Botenstoffe hervorgegangen sein. Schon bei Einzellern und einfachen Vielzellern (z. B. bei den Volvocales) gibt es chemische Kommunikation zwischen Individuen, beispielsweise um sexuelle Paarung einzuleiten. Die Signalmoleküle wirken oftmals in unvorstellbar geringer Konzentration (das Mating-Pheromon der Volvocales in 10−14 mol/l). Definitionsgemäß sind solche Signalsubstanzen als Pheromone zu klassifizieren. Pheromone nennt man Signalsubstanzen, die zwischen Individuen einer Art ausgetauscht werden. Im Vielzeller haben einzelne Zellen und Zellgruppen im Zuge einer Arbeitsteilung sich auf speziellen Funktionen konzentriert und diese optimiert; beispielsweise auf die Funktion, mit hoher Empfindlichkeit externe Informationsquellen („Reize“) aufzuspüren und über chemische Botenstoffe, die im Inneren des Vielzellers verteilt werden, ihre Geschwisterzellen zu alarmieren. Auch sonst gibt es allerlei mitzuteilen; chemische Kommunikation gewinnt an Bedeutung. Da kann
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es zweckmäßig sein, wenn Senderzellen Fortsätze auswachsen lassen, um ihre chemischen Botenstoffe direkt auf ausgewählte Zielzellen richten zu können. Freilich muss hierzu auch eine Möglichkeit geschaffen werden, zur rechten Zeit vom zentralen Zellkörper aus die Exocytose des Botenstoffes am Ende der Fortsätze auszulösen. Elektrische Signale in Form von fortlaufenden Aktionspotentialen waren die Lösung. Die Mehrzahl der Signalsubstanzen waren wohl Peptide. Im Süßwasserpolyp Hydra sind bereits an die 800 Peptide identifiziert worden. Die Übergänge von Neuropeptiden mit parakriner Funktion (Definition s. unten) zu Peptiden in der Funktion von Neurotransmittern ist fließend.
fische Rezeptoren (Antennen) zum Empfang der Signale bereit haben. Nicht jede Zelle reagiert auf jedes hormonale Signal.
11.1.2 Hormonale Signale triggern vorprogrammierte Antworten Jeder Vergleich hat seine Grenzen. In einem Punkt unterscheidet sich das Hormonsystem grundlegend vom Rundfunksystem: Welche Musik der Empfänger spielt, ist im Hormonsystem Angelegenheit des Empfängers selbst. Auf ein und dasselbe hormonale Signal reagiert diese Zelle so, die andere anders. Es kommt darauf an, wie die Zellen zuvor programmiert worden sind. Wenn wir unseren Vergleich passend modifizieren wollen, können wir den Empfänger als einen an den Tuner angeschlossenen CDSpieler ansehen, der – ausgelöst durch ein Rundfunksignal – eine zuvor schon eingelegte CD abspielt. Dabei kann dieser Empfänger diese CD, jener jene CD im Einschubfach parat haben. Im Kreislauf zirkulieren Abertausende von Substanzen, davon vermutlich Hunderte, die man früher oder später in die eh schon lange Liste der Hormone eingliedern wird. Aus diesem chaotischen Gemisch müssen die Zielzellen die sie betreffenden Signalmoleküle mittels spezifischer Rezeptoren herausfischen. Zielzellen brauchen Rezeptoren hoher Spezifität, und wenn sie auf mehrere hormonale Signale hören sollen, brauchen sie mehrere verschiedene Rezeptoren (Abb. 11.1). Damit eine angesprochene Zielzelle das richtige innere Programm starten kann, muss jedes aufgefangene Signal einen spezi-
fischen Triggermechanismus – ein Transduktionssystem – betätigen. 11.1.3 Äußere hormonale Signale werden in den Zielzellen über Transduktionssysteme in zellinterne sekundäre Signale umcodiert Die Mehrzahl aller Signalmoleküle wird mittels Rezeptoren aufgefangen, die in die Zellmembran eingelassen sind und ihre Liganden-Bindungsdomäne nach außen orientiert haben. Das Teilwort „Domäne“ verrät schon, dass Rezeptoren Proteine sind. Alle bisher identifizierten Rezeptoren sind in der Tat Proteine (oder Glykoproteine). Ist nun ein Ligand – hier ein Hormonmolekül – gebunden, muss das Zellinnere benachrichtigt werden. Der Empfang eines äußeren Signals löst einen Triggermechanismus aus, der die Botschaft ins Zellinnere leitet und dabei verstärkt. Solche Vorgänge heißen Signaltransduktion. Man verwechsle nicht Signaltransduktion mit Signaltransmission. Transmission ist die Weitergabe einer Information von Zelle zu Zelle, beispielsweise an einer Synapse. Transduktion ist die Weitergabe einer Information ins Zellinnere. Es gibt eine Mehrzahl von SignaltransduktionsSystemen (s. Kap. 12). Für die Speicherung im Examensgedächtnis ist es zu empfehlen, als Beispiel mindestens ein Hormon mit einem Transduktionssystem in Verbindung zu bringen. Beispielsweise ●
Glucagon – G-Protein-gekoppeltes System vom cAMP-PKA-Typ,
●
Wachstumshormon oder Adiuretin (ADH, Vasopressin) – G-Protein-gekoppeltes System vom PI-PKC-Typ,
●
Insulin – Transmembran-Rezeptor-Tyrosinkinasen.
Bei Steroidhormonen und Thyroxin sagen Dozenten und Lehrbücher, diese Hormone würden durch die Membran direkt ins Zellinnere diffundieren, um dort erst von Rezeptoren in Empfang genommen zu werden. Inwieweit dies zutrifft, wird noch zu diskutieren sein (s. Abschn. 11.6).
11.1 Hormonale versus neuronale Signalübermittlung – Eigentümlichkeiten, Definitionen Abb. 11.1. Vergleich Nervensystem – Hormonsystem. Neurosekretorische Zellen verbinden Eigenschaften beider Systeme
Aktionspotentiale
nerval
Sender
neuroendokrin (neurosekretorisch) Sender endokrin
Blutkreislauf
Empfänger
11.1.4 Hormone sind in Spuren wirksam; man kommt ihnen durch Bioassays auf die Spur Bei Signalsubstanzen genügt es, wenn die empfangende Zielzelle einige wenige Moleküle auffängt. Es müssen nicht viele Worte gemacht werden, weil die Botschaft nur lautet: „Starte“ oder „höre auf “! Viel Energie ist auch nicht nötig, um das Abspielgerät einzuschalten. Transduktionssysteme wirken hierbei auch als Verstärker. Entsprechend werden Hormone in nur winzigen Mengen in die Blutbahn entlassen. Die Konzentration liegt nicht selten bei 10−12 bis 10−14 mol/l. Im Blut vermischen sich die wenigen Moleküle eines
Empfänger
bestimmten Hormons mit Abertausenden von anderen Molekülen. Wie kommt man Signalmolekülen auf die Spur? Häufig sind es zunächst Zufallsbeobachtungen, die aufmerksam machen. Beispielsweise könnte eine Hormondrüse, ohne dass sie schon als solche identifiziert worden wäre, bei einer Operation (z. B. Kastration) entfernt worden sein. Oder sie hat sich pathologisch vergrößert und ist zu einem benignen (gutartigen) Tumor (Adenom) geworden, der übermäßig Hormone produziert. Man beobachtet Ausfallserscheinungen oder überschießende Reaktionen. Dann wird man im Tierversuch gezielt mutmaßliche Hormonproduzenten entfernen oder implantieren. Hat man so einen Hormonproduzenten identifiziert, geht die Arbeit erst richtig los: Sammeln von
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11 Hormonale Steuerung
produzierendem Gewebe, Extraktion, Wegreinigen von Abertausenden von Begleitsubstanzen. Oft muss tonnenweise Ausgangsmaterial aufgearbeitet werden, bis eine analysierbare Menge reiner Substanz im Reagenzglas vorliegt. Für die Aufreinigung der ersten Hypophysenhormone mussten in Schlachthöfen Amerikas über 1 Mio. Hirne von Schweinen, Schafen und Rindern gesammelt werden. Eine Hypophyse ist etwa erbsengroß; 500 Kühe liefern ca. 500 g Hypophyse. Wie aber weiß man, in welchem Extrakt und in welcher chromatographischen Fraktion das gesuchte Hormon ist und wieviel drin ist? Man kennt anfangs die chemische Natur des gesuchten neuen Hormons ja gar nicht. Da hilft keine Chemie und hilft keine Technik (z. B. Gaschromatograph). Man braucht eine quantifizierbare biologische Wirkung (Bioassay) als Indikator. Dies ist insofern von Bedeutung, weil oftmals die Wirkungen, die in Lehrbüchern einem Hormon zugeschrieben werden, diejenigen sind, auf die man mehr oder weniger zufällig gestoßen ist und die dem Bioassay zugrunde lagen. Erst nach und nach wird man gewahr, dass jedes Hormon multiple Wirkungen hat und viele, vielleicht sogar besonders wichtige Funktionen noch nicht erkannt sind. Hat man ein Hormon isoliert und analysiert, rüstet man auf andere, einfachere Nachweisverfahren um. Gelingt es, Antikörper gegen das gereinigte Hormon zu erzeugen, entwickelt man immunchemische Tests auf Mikrotiterplatten, die auch im klinischen Labor routinemäßig eingesetzt werden können und keine Genehmigung nach dem Tierschutzgesetz erfordern, weil gar keine Tierversuche mehr nötig sind. Solche Tests heißen z. B. ELISA ( enzyme-linked immunosorbent assay) oder RIA (radioimmune assay). Sie sind so empfindlich, dass man Hormone ohne vorherige Anreicherung und sogar den Hormongehalt einzelner Zellen messen kann. Wenn sich ein Hormon als Protein oder Peptid zu erkennen gibt, weil es z. B. mittels Proteasen inaktiviert werden kann, genügt es, wenn die Sequenz von ca. 10 Aminosäuren entschlüsselt ist. Dann kann man mit künstlich erzeugten Oligonukleotiden das zugehörende Gen oder in einer cDNABank die zugehörende cDNA aufspüren (s. Lehrbücher der Molekularbiologie). Von der Struktur des Gens oder der cDNA kann man die restliche
Aminosäurensequenz des Hormons ableiten. Und mit der cDNA kann man in Expressionsvektoren (z. B. in Bakterien, Hefezellen oder tierischen Zellen) größere Mengen des Hormons produzieren lassen. Es hat technische Gründe (aber vielleicht nicht nur), wenn die Mehrzahl der identifizierten Hormone (Poly-)Peptide sind: Man kann sie besonders gut auffinden. Aus dem Gesagten folgt auch, dass mutmaßlich eine große Zahl instabiler niedermolekularer Signalsubstanzen noch unbekannt ist oder ihre Wirkung noch unzulänglich erforscht ist. Sie werden daher im Lehrbetrieb nur am Rande erwähnt, so auch in diesem einführenden Buch.
11.1.5 Chemisch gehören bisher identifizierte Hormone in ihrer großen Mehrzahl einer von vier verschiedenen Substanzklassen an: Polypeptide, Aminosäure-Abkömmlinge, Steroide und Eicosanoide Die Substanzklassen, in die sich die meisten bisher identifizierten Hormone eingruppieren lassen (Abb. 11.7 u. 11.8), sind: 1. Peptide und Proteine. Beispiele: alle Hormone der Hypophyse; dazu Insulin und Glucagon aus den Langerhans‘schen Inseln des Pankreas. 2. Aminosäurederivate, genauer: Derivate des Tyrosins (Beispiele: Thyroxin der Schilddrüse, Adrenalin und Noradrenalin des Nebennierenmarks) oder des Tryptophans (Beispiel: Melatonin). 3. Steroide. Als solche sind sie Abkömmlinge des Cholesterins. Beispiele: Die Hormone der Nebennierenrinde (Cortisol u. a.), die Sexualhormone (Testosteron, Oestradiol, Progesteron) und Ecdyson, ein entwicklungssteuerndes Hormon der Arthropoden. Hormone mit der Sammelbezeichnung Calciferol sind Abkömmlinge von Vitaminen der D-Klasse, und als solche ebenfalls von Cholesterin abgeleitet und den Steroiden ähnlich. Diese Ähnlichkeit bezieht sich auch auf die molekulare Wirkungsweise. Cholecalciferol = Vitamin D3, Ergocalciferol= Vitamin D2 und 1,25-Dihydroxy-Vitamin D (1,25 (OH)2, kurz: 1,25D) = Calcitriol sind nicht minder den Hormonen zuzurechnen als den Vitaminen.
11.1 Hormonale versus neuronale Signalübermittlung – Eigentümlichkeiten, Definitionen
4. Eicosanoide. Das sind Derivate der ungesättigten Fettsäure Arachidonsäure ( arachidonic acid, von Arachis hypogaea = Erdnuss). Bisher sind über 200 Derivate dieser labilen Substanz identifiziert (u. a. mittels Massen- und Kernresonanzspektroskopie). Die ebenfalls labilen Derivate der Arachidonsäure gliedern sich in mehrere Klassen; sie heißen (u. a.) Prostaglandine, Thromboxane, Leukotriene oder Hydroxyfettsäuren. 5. Andere – inklusive gasförmige. Bei Wirbellosen kommen auch noch andere Substanzklassen vor. Das Juvenilhormon der Insekten ist ein Terpenoid. Bis vor kurzem war es Privileg der Botaniker, mit einem gasförmigen Hormon aufwarten zu können (Ethylen). Inzwischen kann auch der Tier- und Humanphysiologe auf eine gasförmige Signalsubstanz verweisen: Stickstoffmonoxid (nitrogen monoxide) NO. Sie wirkt im Körper (z. B. als Modulator an Synapsen und im Immunsystem und löst eine Dilatation von Blutkapillaren aus). Wir verweisen hier nur auf ihre Existenz und haben ein Stichwort für die Internetsuche gegeben. Darüber hinaus gibt es, analog zum pflanzlichen Ethylen, flüchtige Signalsubstanzen, die über die Medien Wasser oder Luft andere Individuen beeinflussen. Der Zoologe nennt solche zwischen den Individuen einer Art wirksamen Substanzen aber nicht Hormone, sondern Pheromone (s. Kap. 24, Kommunikation).
11.1.6 Was ein Hormon ist, ist nicht nur Sache der Definition, sondern auch der Tradition Für Botaniker ist jede Art von Signalsubstanz ein Hormon. Nach Tradition der zoologischen und medizinischen Literatur ist ein Hormon definiert als eine Signalsubstanz, die von einer Drüse erzeugt und im Kreislauf verteilt wird. Mehr und mehr stellt sich aber nun heraus, dass es allüberall im Körper Signalsender gibt, die keineswegs den Charakter einer Drüse haben müssen, und dass manches Hormon nicht nur in jener Drüse erzeugt wird, die man einstmals zuerst als Signalsender identifizieren konnte, sondern auch andernorts. Beispielsweise produzieren Lungenepithel und Verdauungstrakt zahlreiche hormonale Signalsubs-
tanzen. Andererseits ist auch mit der Entdeckung, dass Nervenzellen Sender von Hormonen sein können, die Abgrenzung zu den Neurotransmittern fließend geworden. Beispiele für multifunktionelle Signalsubstanzen, die sowohl Transmitter an Synapsen sein können als auch Hormone, die in der Blutbahn auftauchen, werden im Abschn. 11.3.4 genannt. Um Ordnung zu halten und den Überblick bewahren zu können, erläutern wir erst Begriffe, die zur Klassifikation der Hormone eingeführt wurden, und konzentrieren uns dann auf „klassische“ Hormone. 11.1.7 Begriffe wie endokrin, parakrin und autokrin deuten auf Reichweite, Wege und Ziele Endokrin ist das klassische Hormon, produziert von einer endokrinen Drüse und global im Kreislauf verteilt (Abb. 11.1 u. 11.2). Beispiel: Insulin. Neuroendokrin ist eine Signalsubstanz, die von einer Nervenzelle am Ende ihres Axons freigesetzt wird, im typischen Fall in eine Blutkapillare hinein (Abb. 11.1 u. 11.3). Beispiele: Adiuretin und Oxytocin der Neurohypophyse (s. Abb. 11.5). Parakrin ist eine Signalsubstanz, die über die Zellzwischenräume den Nachbarzellen zugespielt wird oder über örtliche Kapillaren in einer Gewebsprovinz verteilt wird. Die Eicosanoide werden dieser Kategorie zugeordnet. Autokrin ist eine Signalübermittlung, bei der eine Zelle sich selbst stimuliert. Das gibt es viel in der Embryonalentwicklung; bekannte Substanzen dieser Klasse heißen in der Regel „Wachstumsfaktor“. 11.1.8 Begriffe wie „glanduläre“ und „aglanduläre Hormone“, „diffuses endokrines System“ und „Gewebshormone“ deuten auf den Ursprung im Körper Glandulär ist ein Hormon, das von einer klassischen Drüse (lat.: glandula) erzeugt wird (Abb. 11.3 u. 11.4). Hingegen werden „aglanduläre“ Hormone von „diffus“ verteilten Zellen, die nur schwer aufzufinden sind, freigesetzt. Solche über große Areale verstreute Signalsender findet man in
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parakrin
autokrin
Neurosekretorische Zellen im Gehirn Vetrebraten: Hypothalamus Insekten: Pars intercerebralis
Neurohämalorgan Vertebr.: Hypophysenstiel Neurohypophyse Insekten: Corpora cardiaca endokrin
Hormondrüse I.O. Vertebr.: Adenohypophyse Insekten: Corpora allata
Hormondrüse II.O. Vertebr. z.B. Thyreoidea Insekt.: z.B. Prothoraxdrüse Abb. 11.2. Begriffe der Endokrinologie (Lehre von den inneren Wirkstoffen bzw. Signalsubstanzen)
zunehmender Zahl im Verdauungstrakt, im Lungenepithel, in der Unterhaut, in den lymphatischen Organen (Lymphknoten, Thymus, Milz), in den Endothelien der Blutgefäße und sogar in den Vorhöfen des Herzens. Es könnte wohl sein, dass es bald kein lebendes Gewebe mehr gibt, dem man nicht das eine oder andere (Gewebs-) Hormon zuschreiben wird. Der etwas seltsam klingende Ausdruck „Gewebshormon“ deutet an, dass man der betreffenden Substanz eher lokale Bedeutung zuschreibt. Beispielsweise werden verschiedene Eicosanoide (Arachidonsäure-Abkömmlinge wie Leukotriene, Thromboxane) als Alarmsubstanzen betrachtet, die bei lokalen Entzündungen Zellen des Abwehrsystems anlocken und aktivieren. Weitere Begriffe, die summarisch solche Substanzen mit eher lokaler oder vorübergehender Wirkung bezeichnen wollen, sind „Mediator“ („Vermittler“), und Cytokin („Zellbeweger“).
Finales Hormon Vertebraten: z.B. Thyroxin Insekten: z.B. Ecdyson Abb. 11.3. Hierarchische Gliederung von Hormonsystemen
Solchen Signalsubstanzen, deren Hauptwirkungsort nach üblichem Verständnis eine Provinz des Körpers ist, sind wir schon mehrfach begegnet, z. B. im Verdauungstrakt (Gastrin, Sekretin, Cholecystokinin, s. Kap. 4), und im Immunsystem (z. B. Histamin, Interleukine, Lymphokine, Cytokine, s. Kap. 7). Wir wollen es dabei bewenden lassen und uns im Weiteren auf das klassische Hormonsystem beschränken, das unter der Oberherrschaft des Gehirns steht. Doch auch diese Hormone werden in gleicher oder ähnlicher Form auch andernorts im Köper erzeugt.
11.2 Koppelung von Zentralnervensystem und Hormonsystem
Hypothalamus Hypophyse
Epiphyse (Pinealorgan)
Adenohypophye (Rathke-Tasche) Gehirn ventrikel
Choanen (innnere Nasenöffnung)
Mandibel (Meckelscher Knorpel)
Gehörgang Schilddrüse (Thyreoidea)
Kiementaschen
Operculum Kiemenarterie
Nebenschilddr. C-Zellen (Thymus)
Knorpeliger Kiemenbogen
Herzvorhof
Thyroidea = Schilddrüse
MagenDarmtrakt Nebennierenmark
Leber Nebennierenrinde Niere
Lungen
Augenblase Trommelfell Tonsillen Parathyreoidea (Nebenschilddrüse)
Langerhans´sche Inseln im Pankreas Gonaden
a
Thymus
b
Ventrale Aorta Ultimobranchialkörper (In Säugern: in Schilddrüse einwandernde, Calcitonin-produzierende C-Zellen)
Abb. 11.4 a, b. Wichtige Hormonproduzenten im menschlichen Körper (a). Hormondrüsen, die sich vom Kiemendarm ableiten (b)
11.1.9 Beispiel für mangelhaft definierte „Hormondrüsen“ ist die „Thymusdrüse“ der Biologielehrbücher Seit vielen Jahren führen Lehrbücher des Gymnasiums unter den Hormondrüsen auch den Thymus auf (ohne freilich ein Hormon zu nennen). Zu Recht? Der Thymus ist bekannt für seine Funktion für die Entwicklung und Reifung des Immunsystems. Es ist der Ort, in dem die T-Zellen ihre Bestimmung erfahren (Kap. 7). Man hat nun auch einige Faktoren identifiziert, die im Thymus erzeugt und im Sinne parakriner und autokriner Wirkungsschleifen den Differenzierungs- und Reifeprozess der T-Zellen steuernd beeinflussen. Für eine Suche in Datenbanken und in Wikipedia-Artikeln seien als Stichworte genannt: Thymosin, Thymopoetin, Thymulin. Diese Substanzen, namentlich das Peptid ThymosinTβ4, werden auch andernorts im Körper erzeugt, und sie erscheinen auch im Blut. Man schreibt ihnen eine Rolle bei Entzündungsprozessen zu, darüber hinaus wird eine Wirkung auf die Hypophyse, der zentrale Hormoninstanz des Körpers, vermutet (dies gilt explizit für Thymulin). In diesem einführenden Lehrbuch können und wollen wir nicht auf all die vielen
Substanzen eingehen, denen diese oder jene Autoren die Funktion eines Hormons zuschreiben. Schon die alten Klassiker bieten reichlich Lehr- und Lernstoff.
11.2 Koppelung von Zentralnervensystem und Hormonsystem 11.2.1 Hormonsysteme sind hierarchisch gegliedert und unterstehen dem ZNS Ob man das Hormonsystem eines Wirbeltieres untersucht oder zoologisch breiter interessiert ist und Insekten, Krebse oder Tintenfische einbezieht, man erkennt überall, dass Hormonsysteme hierarchisch gegliedert sind. Oberste Instanz ist das Gehirn; hier kann Information aus der Umwelt und Information von inneren Sinnesorganen (z. B. Blutdruckrezeptoren, pO2- und pCO2-Rezeptoren; s. Kap. 10) integriert werden. Von hier aus kann auch im Wirbeltier das vegetative Nervensystem mit eingeschaltet werden.
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11 Hormonale Steuerung
Zwischen den Neuronenverbänden des Gehirns und dem Hormonsystem vermitteln neuroendokrine Zellen. Sie übergeben ihre hormonalen Botenstoffe in sogenannten Neurohämalorganen dem Blut bzw. bei Insekten und anderen Arthropoden der Hämolymphe. Neurohämalorgane sind die Neurohypophyse der Wirbeltiere und die Corpora allata der Insekten. Neurohormone sind oft glandotrope Hormone (= Drüsen-steuernde Hormone), deren Adresse eine „echte“ Hormondrüse ist. Diese kann ihrerseits eine Hormondrüse I. Ordnung sein, die Hormondrüsen II. Ordnung ansteuert. Die letzteren setzen dann die Hormone frei, die schlussendlich auf die Zielzellen wirken (Abb. 11.3). 11.2.2 „Kinder wachsen im Schlaf“. Hormone werden oft in rhythmischen Schüben freigesetzt und wirken auf das Zentralnervensystem zurück Wenn vom Gehirn aus eine hormonale Kaskade gestartet wird und am Ende eine Hormondrüse ihr definitives Hormon aussendet, so wirkt dieses oftmals auf das Zentralnervensystem zurück. Vielfach wirkt das im Blut kreisende Hormon im Sinne einer negativen Rückkopplung ( negative feedback) hemmend auf seine eigene Freisetzung; bekannt ist dies beispielsweise von Prolactin. Dadurch bleibt die Konzentration des Hormons gering. In der Hormonphysiologie heißt Konzentration übrigens oft Spiegel oder Titer des Hormons. Oft schwankt der Titer eines Hormons im Blut in regelmäßigen Perioden auf und ab, ohne Unterlass. Beispielsweise wird das Wachstumshormon (GH; Somatotropin) überwiegend in den Nachtstunden in das Blut entlassen. Andererseits ist die Konzentration von Cortisol im Blut des Menschen regelmäßig in den Morgenstunden am höchsten. Die Titer dieser Hormone folgen einer inneren Uhr (circadiane Rhythmik, s. Kap. 13). Das Gonadotropine-releasing hormone GnRH des Hypothalamus wird pulsatil alle 90 min freigesetzt, wobei sich noch eine circadiane Rhythmik überlagert: Nachts sind die Amplituden der Pulse höher als tagsüber. Bei der Frau kommt auch noch eine 28-Tage-Rhythmik (Menstruationsrhythmik) hinzu.
Wirkung auf Gehirn und Verhalten. Die Rückwirkung von Hormonen auf das Gehirn muss sich nicht auf negative Rückkopplung in Regelkreisen zur Regulation des Titers beschränken. Weitergehende und dramatische Einflüsse sind von den Sexualhormonen bekannt: Sie beeinflussen sehr stark unsere Prädisposition zu sexuellen Verhaltensweisen. Andere fördern elterliches Verhalten (Prolactin, s. Abschn. 11.3.5). Selbst so unscheinbare Hormone wie das „Gallenblasen-bewegende“ Hormon Cholecystokinin haben Einfluss auf die Psyche; es vermittelt Sättigungsgefühl, ebenso wie die andere appetitzügelnden Hormone (s. Abschn. 11.3.10).
11.3 Das Hormonsystem des Menschen I: Das Hypothalamus-Hypophysensystem Der Mensch steht im Folgenden für Säugetier allgemein; in großen Zügen gilt das Gesagte auch für andere Wirbeltiere.
11.3.1 Das Hormonsystem startet im Zwischenhirn; hier beginnt die „Hypothalamus-Hypophysen(Nebennierenrinden)-Achse“ Mit Methoden der Molekularbiologie (in-situHybridisierung) und der Immunologie (Immuncytochemie, Immunfärbung) findet der Anatom und Physiologe immer mehr Nervenzellen, die Neuropeptide enthalten. Neuosekretorische Zellen finden sich in großer Zahl im Zwischenhirn. Dort findet man dorsal die Epiphyse = Pinealorgan (Abb. 11.4a), der wir im Kap. 13 (Biorhythmik) unsere Aufmerksamkeit schenken. Besonders viele neurosekretorische Zellen findet man im ventralen Teil des Zwischenhirns, dem Hypothalamus. Dort geht es weiter zur Hypophyse. Man spricht von der Hypothalamus-HypophysenAchse. Verfolgt man den weiteren Verlauf der Signalkaskade, so kann man beispielsweise bei der Nebennierenrinde als weiterer Hormondrüse ankommen. Die medizinisch-physiologische Literatur liebt in solchen Fällen Kettenausdrücke wie „Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse“.
11.3 Das Hormonsystem des Menschen I: Das Hypothalamus-Hypophysensystem
11.3.2 Die Hypophyse, die führende Hormondrüse, gliedert sich in Adenohypophyse (Vorderlappen), Mittellappen und Neurohypophyse (Hinterlappen) Als führende Instanz im Hormonsystem der Wirbeltiere gilt eine kleine, ca. 1 g wiegende Drüse, die unter dem Zwischenhirn (Diencephalon) liegt und mit dem Hypothalamus durch den Hypophysenstiel (Infundibulum) verbunden ist: die Hypophyse (Abb. 11.4a, b, 11.5 u. 11.6). Entwicklungsgeschichtlich und in ihrer internen Struktur gliedert sich die Hypophyse in drei Teile. Durch Fusion zweier Teile bleiben im Säuger sekundär noch zwei Teile unterscheidbar. 1. Die Neurohypophyse (Hypophysen-Hinterlappen) ist ein in Richtung Gaumendach herausgezogener Teil des Zwischenhirns. Die Neurohypo-
physe ist ein Bündel von Output-Fasern (Axone) neurosekretorischer Zellen. An ihren terminalen Synapsen entlassen die Fasern neuroendokrine Hormone in ein dichtes Netz vorbeiziehender Blutkapillaren. Die Neurohypophyse ist somit ein Neurohämalorgan, eine Schnittstelle zwischen ZNS und Kreislauf. (Ein solches lokal aufgefächertes Kapillarennetz, an dem ein besonders effektiver Austausch von Stoffen, Wärme oder Information stattfindet, wird von den Anatomen als Glomus bezeichnet.)Die bekanntesten Hormone der Neurohypophyse sind Adiuretin ADH, auch Vasopressin genannt, und Oxytocin. 2. Die Adenohypophyse (Vorderlappen) ist entwicklungsgeschichtlich aus einer Ausstülpung des Gaumendaches (Rathke‘sche Tasche) hervorgegangen (Abb. 11.4b) Diese Tasche stülpt sich der Neurohypophyse entgegen. Anders als Hypothalamus
Nucleus praeopticus N. supraopticus
Nucleus paraventricularis
Releasing Hormone Liberine CRH fürACTH GnRH fürFSH+LH TRHfür TSH GHRH für GH
Supra-chiasmat. Nucleus SCN
Inhibine (Statine)
Somatostatin Sehnervüberkreuzung (Chiasma)
Hypophysenstiel (Infundibulum)
Blutzufuhr
Neurohypophyse = Hypophysen-Hinterlappen
Adenohypophyse= Hypophysen-Vorderlappen HVL
HHL
Hormonproduzenten
Abb. 11.5. HypothalamusHypophysen Achse
Hormone: STH-Gruppe: Somatotropin (STH, GH), Prolactin POMC Gruppe: Endorphine, ACTH, MSH Gonadotropine: FSH, LH Sonstige: Thyreotropin TSH
Pars intermedia HypophysenZwischenlappen HZL Blutabfluss
Neurohormone: Adiuretin (ADH) Oxytocin
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11 Hormonale Steuerung Abb. 11.6. Hypophysenhormone. Die meistgenannten Hormone und ihre Adressen Hypophyse
Somatostatin Neurohormone glandotrope H. Somatotropin STH = Growth hormone GH
Oxytocin Adiuretin ADH Prolactin
TSH
ACTH gonadotrope H. FSH + LH
Thyroxin
die Neurohypophyse besteht die Adenohypophyse nicht aus neurosekretorischen Zellen, sondern aus konventionellen Drüsenzellen. Dennoch steht auch die Adenohypophyse unter der Kontrolle des Gehirns. Neurosekretorische Zellen im Hypothalamus geben kontrollierende Neurohormone in kleine Blutkapillaren ab, die direkt in die Adenohypophyse führen (Portalgefäße = Pfortadergefäße der Adenohypophyse, Abb. 11.5). Diese vom Hypothalamus ausgesandten kontrollierenden Neurohormone heißen Releasing Hormone oder Liberine, oder auch Inhibine, je nachdem, ob sie die Freigabe der originären Hypophysenhormone anregen oder hemmen. Die originären, von den Drüsenzellen der Adenohypophyse selbst synthetisierten Hormone sind Polypeptidhormone, die in ihrer Mehrzahl (4 von 3) andere Hormondrüsen ansteuern. Man nennt diese glandotrope Hormone (griech.: glandos = Drüse; tropein = steuern). Die Adeno-
Cortisol
Testosteron
Oestradiol
Progesteron
hypophyse hat als Hormondrüse I. Ordnung die Oberherrschaft inne über Schilddrüse, Nebennierenrinde, Gonaden und – Leber, insoweit diese eine Hormondrüse ist (Abb. 11.6; s. auch Abb. 11.10). Das Wachstumshormon freilich ist nicht bloß ein glandotropes Hormon, sondern wirkt auch direkt auf viele Zielzellen. ●
Glandotrop: ACTH, TSH, FSH, LH, Somatotropin;
●
direkt wirkend: Somatotropin, Prolactin, Lipotropin.
Die eben aufgelisteten Begriffe und Hormone werden weiter unten erläutert. 3. Der Mittellappen (pars intermedia) ist beim Menschen nur während der Embryonalentwicklung als separates Gebilde auszumachen. Wir schlagen den Mittellappen der Adenohypophyse zu, wie es auch der Humanphysiologe tut. Bei
11.3 Das Hormonsystem des Menschen I: Das Hypothalamus-Hypophysensystem
„niederen“ Wirbeltieren, Fröschen beispielsweise, ist er als eigener Lappen vom Vorderlappen abgrenzbar. Er liefert eine Gruppe von Peptidhormonen, die unter der Bezeichnung Melanocyten-stimulierendes Hormon MSH oder Melanocortin zusammengefasst werden. Diese Peptid hormone bewirken – sehr auffällig bei Fischen und Amphibien, weniger bei Säugetieren – eine Verdunkelung der Haut, indem es die Bildung des braunen bis schwarzen Melanins (s. Abb. 7.1) in den Melanocyten der Haut anregt und auch die Expansion der Melanocyten sowie die Ausbreitung der dunklen Melanin-Pigmente in diesen Zellen anregt. (Eine gegenteilige Wirkung hat das im Hypothalamus erzeugte Peptidhormon Melanin-concentrating hormone MCH.) Seltsam mutet an, dass diese Hormone auch im Gehirn selbst zur Wirkung kommen und Sättigungsgefühle (MSH) oder Hungergefühle (MCH) vermitteln (s. Abb. 11.13).
11.3.3 Die Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse sind durchweg Peptide oder Polypeptide. Sie leiten sich von Prohormonen ab, in denen noch manch weitere potentielle Hormone stecken Die Molekularbiologie ist dabei, nach und nach die Gene für die diversen Polypeptidhormone zu identifizieren und den Biosyntheseweg aufzuklären. Oft findet man Gene, welche die Sequenz eines Peptids mehrfach hintereinander enthalten. In den produzierenden Zellen wird an den Ribosomen des Endoplasmatischen Reticulums ein langes Prohormon gebildet, aus dem im Zuge einer posttranslationalen Modifikation ( processing) die Peptide enzymatisch herausgeschnitten werden. Modifikationen am Aminoterminus (z. B. Umwandlung einer Glutaminsäure in Pyro-Glu) und am Carboxyterminus (z. B. Umwandlung eines Glycins in Amid-CO-NH2) machen die Peptide schwer abbaubar. Auch findet der Molekularbiologe immer mehr Prohormone, die zwar von einem einzigen Gen codiert werden, aus denen enzymatisch aber verschiedene (potentielle) Hormone herausgeschnitten werden. Beispielsweise liefert das Prohormon POMC (Pro-opio-melano-cortin) der Adenohypophyse vier verschiedene (potentielle)
Hormone (Abb. 11.7). „Potentiell“ ist hier in Klammern gesetzt, weil die Molekularbiologie oftmals Polypeptide entdeckt, über deren Funktion noch gar nichts bekannt ist. Darüber hinaus findet man manch klassisches Hypophysenhormon unvermutet auch anderswo, im Gehirn oder in der Darmwand oder sonstwo. So spannend solche Befunde für den Fachmann auch sind, wir beschränken uns im folgenden Abschnitt auf ein Beispiel, dem die medizinische Forschung gegenwärtig viel Beachtung schenkt.
11.3.4 Euphorisierende und schmerzstillende Peptide (Opioide) zeigen, dass ein und dieselben Signalsubstanzen als Neurotransmitter und als Hormone eingesetzt werden können Unter der wachsenden Zahl von Neuropeptiden, die als Transmitter im ZNS identifiziert werden, haben in den letzten Jahren die sogenannten Opioide große Beachtung gefunden. Man war auf der Suche nach molekularen Rezeptoren für die schmerzstillenden und suchterzeugenden Inhaltsstoffe des Schlafmohns und des aus ihm gewonnenen Opiums. Der wirksame Inhaltstoff ist Morphin. Heroin, Methadon und Naloxon sind künstlich hergestellte Derivate oder Agonisten mit ähnlicher Wirkung. Im Zuge dieser Forschung identifizierte man eine Reihe von Peptiden/Proteinen als natürliche Liganden für die Morphin-Rezeptoren. Man nennt sie summarisch Opioide oder Endorphine, im Einzelnen β-Endorphine, Enkephaline, Dynorphine, Endomorphine und Nociceptine. Diese Peptide, oder die mRNA’s für die Vorläuferpeptide, werden in vielen Neuronen des Gehirns entdeckt, im Hypothalamus und in Gebieten, die man mit Empfindungen und Emotionen in Beziehung setzt (limbisches System mit Amygdala). Man findet solche Neurone aber auch im Rückenmark und im Nervennetz des Magen-Darm-Traktes. Die freigesetzten Peptide können nicht nur den synaptischen Spalt überqueren, sondern erscheinen auch im Blut. In die Blutbahn injiziert, wirken solche Peptide schmerzstillend. Dynorphin hemmt die Signalübertragung in Schmerzbahnen des Rückenmarks ca. 20.000-mal wirksamer als Morphin. Manche beeinflussen aber auch den Gemütszustand: sie können euphorische
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11 Hormonale Steuerung Abb. 11.7. Peptidhormone: Struktur, Homologien, genetische Herkunft
+RPRORJHSDUDORJH 3HSWLGKRUPRQH%HLVSLHO 7\ r
&\V
Phe *O u
$VQ
&\V 6
$GLXUHWLQ$'+ 3UR 7
Arg 8
7\U
Ile
*O\1+2 9
*Ou
$VQ
&\V &\V 6
2[\WRFLQ 3UR 7
Leu *O\1+2 8 9
0HKUHUH+RUPRQHYRQHLQHP*HQ%HLVSLHO 320&*HQ 3URKRUPRQ 3UR2SLR0HODQR&RUWLQ
6LJQDOSHSWLG
β-Lipotropin
'DUDXVLP+9RUGHUODSSHQ$&7+ ,P=ZLVFKHQODSSHQ XQGLP*HKLUQ γ-MSH
α-MSH
γ-Lipotropin
β-Endorphin
9RU3URWHDVHQJHVFK¾W]WHV3HSWLG%HLVSLHO *OX+LV3UR*O\ 3\UR*OX+LV3URDPLG
$XV3URKRUPRQKHUDXVJHVFKQLWWHQHV3HSWLG (Q]\PDWLVFKKHUJHVWHOOWH(QGIRUP
7K\UHRWURSLQUHOHDVLQJKRUPRQH75+
Stimmung hervorrufen („Glückshormone“). Wenn die Pein des Marathonlaufs in Euphorie umschlägt, und einer gerade überwundenen Todesangst der „Kick“ und das „High-Gefühl“ folgen, sind, wie man annimmt, solche natürlichen Opioide im Spiel. Warum das Suchtpotential der pflanzlichen Opioide? Die Rezeptoren der Endorphine werden, wie oben schon gesagt, eben auch durch die im Opium enthaltenen Morphin-Alkaloide (einschließlich der chemischen Morphin-Derivate wie Heroin) in Beschlag genommen. Die Entwicklung einer Abhängigkeit von diesen künstlichen Liganden wird (auch) darauf zurückgeführt, dass die Rezeptoren der neuronalen Zielzellen nicht oder nur sehr schwer wieder von diesen fremden Liganden befreit werden können – während die körpereigenen Liganden nach getaner Wirkung durch Endocytose des Liganden-Rezeptor-Komplexes und dessen intrazelluläre Verdauung rasch wieder verschwinden. Das Beispiel des Morphins zeigt
auch, neben vielen anderen Beispielen, dass der verbreitete Volksglaube, pflanzliche Wirkstoffe seien ohne Nebenwirkungen, ein gefährlicher Irrglaube ist. Bemerkenswert ist eine Kopplung des Endorphinsystems mit dem System des Sympathicus. Starker Stress setzt Endorphine frei; die Schmerzempfindlichkeit des Körpers wird herabgesetzt. Was das soll? Man darf spekulieren. Normalerweise zwingt starker Schmerz zur Ruhe. Wird aber Tier/ Mensch von einem Raubtier/bewaffneten Feind angefallen und verletzt, so dürfte es oftmals lebenserhaltend sein, den Schmerz nicht zu beachten, sondern zu kämpfen oder zu fliehen (Sympathicus: „fight and flight“ Syndrom; Kap. 10). Überraschend werden Endorphine auch in einigen nicht-neuronalen Zellen hergestellt. So erzeugen auch Lymphocyten β-Endorphin. Umgekehrt sind auch die Zellen des Immunsystems Empfänger solcher Signale. Makrophagen beispielsweise haben
11.3 Das Hormonsystem des Menschen I: Das Hypothalamus-Hypophysensystem
HO
HO NH
HO
CH
NH 2
CH3
CH 2
HO
CH
CH2
OH
OH
Noradrenalin
Catecholring; Catecholamine: Adrenalin
NH2
COOH CH 2
HO
CH
C OOH
Tyrosin Aspirin blockiert
Arachidonsäure 5-Lipoxigenase
Cyclooxigenase
Eicosanoide: Prostaglandine Leukotriene Thromboxane, Hydroxy-eicosafettsäuren, Prostacycline CH 2 OH C
O
HO HO
Steroidhormon Cortisol O
Abb. 11.8. Nichtpeptid-Hormone (Auswahl)
Rezeptoren für mancherlei Hormone einschließlich β-Endorphin. Aber auch für die Stresshormone Adrenalin und Cortisol, denen wir später wieder begegnen (Abb. 11.8). 11.3.5 Ein kurzer Steckbrief klassischer Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse 1. Hypothalamus. ●
Endorphine (Opioide): β-Endorphine, Enkephaline, Dynorphine, Endomorphine und Nocicepti-
ne. Schmerzhemmend im ZNS, euphorisierend („Glückshormone“). Periphere Funktionen der Endorphine weitgehend unbekannt, doch ist gewiss, dass sie auf das Immunsystem Einfluss nehmen und entzündungshemmend wirken können. ●
Releasing Hormone mit − Liberinen und − Inhibinen. Großes Spektrum an Neuropeptiden, mittels derer die nachgeschaltete Adenohypophyse aufgefordert wird, ihrerseits ein Hormon freizusetzen oder die Freisetzung zu stoppen.
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11 Hormonale Steuerung
Zwei Releasing-/Liberin-Hormone und ein Inhibin seien namentlich genannt; denn sie sind auch medizinisch von großem Interesse. Das Corticoliberin = Corticotropin-releasing Hormon CRH. Es stimuliert nicht nur die Freisetzung von ACTH aus der Adenohypophyse, sondern aktiviert auch die Gebiete im Gehirn, von denen der Sympathicus (s. Kap. 10) seinen Ausgang nimmt. CRH in die Gehirnventrikel injiziert, löst bei Säugetieren stereotype Verhaltensmuster aus, die Stressbedingten Verhaltensmustern gleichen. Die Aktivität der neurosekretorischen Neurone, die CRH produzieren, wird a) durch Stress und b) durch Stimuli der inneren Uhr gesteigert; als Folge wird ACTH von der Adenohypophyse im tagesperiodischen Rhythmus in die Blutbahn entlassen. Da ACTH die Freisetzung von Cortisol auslöst, schwankt auch die Konzentration von Cortisol im Blut tagesperiodisch (s. Kap. 13). Heutzutage erstaunt es kaum mehr, wenn die wissenschaftliche Literatur berichtet, dass CRH auch von neurosekretorischen Zellen des MagenDarm-Traktes erzeugt wird, auch wenn es über die Bedeutung solcher Befunde allenfalls Spekulatives zu lesen gibt. Das Gonadoliberin (GnRH). Es steuert die Abgabe der beiden gonadotropen Hypophysenhormone FSH und LH, die gemeinsam den Takt im Menstruationszyklus der Frau angeben, die aber auch die Pubertät im männlichen Geschlecht auslösen. Bei der Frau wird GnRH pulsatil im Rhythmus der Menstruationsperioden freigesetzt. Auch für GnRH ist ein Produktionsort außerhalb des Gehirns bekannt. Es ist die Plazenta, und dort hilft GnRH die Menstruation bei Schwangerschaft auszusetzen. Das Somatostatin. Der Name will andeuten, dass dieses Neurohormon die Freisetzung des Wachstumshormons hemmt. Korrekt müsste es lauten Somatostatin-Nr. X; denn es handelt sich bei Somatostatin nicht um ein einzelnes Peptid, sondern um eine Peptidfamilie. Vertreter dieser Familie werden auch in anderen Bereichen des ZNS entdeckt, und wiederum im Magen-Darm-Trakt. Ihnen wird eine kaum überschaubare Zahl von Funktionen zugesprochen, so hemmen gewisse Somatostatine auch die Freisetzung von Hormonen, die nicht in der Hypophyse produziert werden, beispielsweise die Sekretion des
Schilddrüsenhormons Thyroxin und der Blutzuckerregulierenden Hormone Insulin und Glucagon. 2. Neurohypophyse ●
Adiuretin alias Anti-diuretisches Hormon ADH alias Vasopressin. Regelt Wasserrückgewinnung in der Niere (A = nicht, gegen; diurese = Wasserdurchlauf). Kann auch in manchen Körperprovinzen Blutgefäße zur Kontraktion bringen (daher auch Vasopressin).
●
Oxytocin: Geburtsbeschleuniger – und „Kuschelhormon“. Für Oxytocin sind seit Langem mehrere Funktionen bei der Frau bekannt. Der Name (griech.: oxy = schnell und tokos = Geburt) weist auf eine solche altbekannte Funktion hin: Oxytocin hilft Geburtswehen auszulösen. Nach der Geburt stimuliert es, ausgelöst durch den Nuckelreiz des Babys, die glatten Muskeln der Milchdrüsen in der Brust, die Milch auszupressen. Gemeinsamer Nenner: Kontraktion von Muskulatur.
Die Milchsekretion ist ein schönes Beispiel für einen Reflexbogen, der auch ein Hormon als Informationsträger einsetzt. Der Säugling nuckelt; der Saugreiz wirkt über Sinnes- und Nervenzellen aufs Gehirn; dieses sendet Oxytocin aus: die Milch fließt (s. Abb. 11.20). Darüber hinaus wird dem Oxytocin (wie auch dem Prolactin; s. unten) eine Rolle zugesprochen beim Wecken mütterlichen Verhaltens. Oxytocin ist auch ein Beispiel, das uns aufmerksam macht, wie fragmentarisch unser Wissen über die Wirkung von Hormonen selbst bei „alten Klassikern“ noch ist. Was tut Oxytocin beim Mann? Es wird, wie bei der Frau so auch beim Mann vermehrt während eines Orgasmus ins Blut entlassen. Eine Hypothese meint, es löse die Ejakulation aus. Auch soll es den Transport des Spermas im Samenleiter fördern und die Schwimmaktivität der Spermien steigern. Oxytocin-Produzenten werden auch im Hoden des Mannes gefunden; Oxytocin ist in der Vaginalflüssigkeit enthalten. Psychologische Studien (Walter 2003; Bartels 2004; Kosfeld et al. 2005) schrieben dem Hormon zu, es fördere Partnerbindung und Vertrauen. In der populären Sekundärliteratur ist Oxytocin daraufhin zum „Kuschel-“ oder „romantischen Liebes-
11.3 Das Hormonsystem des Menschen I: Das Hypothalamus-Hypophysensystem
hormon“ erklärt worden. Auch baue eine Oxytocingabe Stress ab (Neumann 2008) – was dem Zusammenhalt von Paaren förderlich sein kann. Die Nonapeptide Adiuretin und Oxytocin stimmen in ihrer Aminosäuresequenz weitgehend überein (Abb. 11.7). Sie stammen offensichtlich von einem gemeinsamen Vorläufergen ab. Die Gene beider Peptidhormone codieren für Prohormone, in denen weitere potentielle Hormone noch unbekannter Funktion stecken (Neurophysine). 3. Adenohypophyse ●
Wachstumshormon ( Growth hormone GH oder Somatotropes Hormon STH oder Somatotropin). Leider gibt es für viele Hormone mehrere Bezeichnungen und Abkürzungen. Biologen, daran gewöhnt, dass die derzeitige Wissenschaftssprache Englisch ist, ziehen die Bezeichnung GH vor, der lateinkundige Mediziner die Bezeichnung STH, wiewohl „Somatotropes Hormon“ wie die meisten wissenschaftlichen Bezeichnungen gar nicht von lateinischen, sondern von griechischen Wörtern abgeleitet ist ( soma = Körper, tropein = steuern).
Das Wachstumshormon wirkt zellteilungsfördernd (mitogen) auf viele Zielzellen, die mit dem PI-Signaltransduktionssystem ausgestattet sind (s. Kap. 12). Es ist, so wird gesagt, ein aglanduläres Hormon, das direkt auf Zielzellen wirkt. Es gibt indessen auch eine glandotrope Wirkung auf die Leber: Diese setzt auf Befehl von Somatotropin Somatomedine frei, die viele Wirkungen des Somatotropin indirekt vermitteln. Somatomedine sind die verschiedenen Insulin-like growth factors IGF. Der Ausdruck „Wachstumsfaktor“ erklärt ganz banal, warum Leber und die IGF in Aufzählungen von Hormondrüsen und Hormonen oft nicht auftauchen. Nicht alles in der Wissenschaft ist logisch. Wachstumshormon wird überwiegend nachts in den Blutkreislauf entlassen. Es wird nicht zu Unrecht gesagt, Kinder wüchsen im Schlaf. Dennoch muss langer Schlaf als solcher nicht wachstumsfördernd sein. Eine lange Hellperiode vor dem Schlaf scheint eher förderlich zu sein. Unterversorgung des jugendlichen Körpers mit Wachstumshormon (oder defekte GH-Rezeptoren in den Zielzellen) führen zu hypophysärem Zwergwuchs; Überfunktion zu Gigantismus (Riesen-
wuchs). Nach der Pubertät, wenn nur noch wenige Wachstumszonen an den Knochen übrig geblieben sind, verursachen GH-produzierende Tumore eine Verlängerung von Armen und Fingern, Beinen und Zehen (Akromegalie). Dem Wachstumshormon steht als bremsender Antagonist Somatostatin gegenüber. Es ist eines jener Hormone, die in verschiedenen Varianten (Isoformen) an verschiedenen Stellen des Körpers erzeugt werden, hier im Hypothalamus als Neurohormon, dort im Pankreas und in der Darmwand. ●
Prolactin: das mütterliches und väterliches Verhalten fördernde Hormon. Sein Name („Für Milch“) deutet an, dass dieses Hormon während der Schwangerschaft und zur Zeit des Stillens die Milchproduktion in Gang setzt und aufrecht erhält. Während Oxytocin das Auspressen der Milch aus den Milchgängen stimuliert, regt Prolactin die Synthese der Milch (Proteine und Fette) an. Dies in Kooperation mit den weiblichen Sexualhormonen Östradiol und Progesteron. Was macht Prolactin beim Mann? So manches, was man zur Wirkung von Prolactin beim Mann zu Lesen bekommt, ist widersprüchlich. So soll das Hormon beim Mann die Libido drosseln, andererseits die Hormonproduzenten des Hodens (Leydigsche Zwischenzellen) stimulieren, vermehrt männliches Sexualhormon (Testosteron) herzustellen, das seinerseits die Fähigkeit zur Libido steigert.
Gibt es auch Funktionen, die in beiden Geschlechtern übereinstimmen? Die Verwandtschaft des Prolactins mit der Familie der anerkannten Wachstumshormone legt die Vermutung nahe, dass Wachstum (von was?) ein gemeinsamer Nenner sein könnte. Beide Hormone, Prolactin und Wachstumshormon, haben nicht nur eine sehr ähnliche Aminosäuresequenz; beide werden pulsförmig vor allem während des Schlafs in die Blutbahn entlassen. Weitere Gemeinsamkeiten? Der Tierphysiologe weiß Bemerkenswertes zu berichten. — Jungfräuliche weibliche Ratten, deren Hypophyse entfernt wurde, beginnen untergeschobene Pflegejungen zu bemuttern, wenn ihnen Prolactin injiziert wird. Weibliche Sexualhormone bewirken dies nicht.
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11 Hormonale Steuerung
— Kümmern sich bei Wirbeltieren (Fischen, Amphibien, Vögeln, Murmeltieren, Meerkatzen) auch die Väter um die Nachkommenschaft – dies ist bei monogamen Paaren die Regel – ist die Fürsorge um die Jungen begleitet von einem erhöhten Prolactinspiegel im Blut der Väter. Männliche Meerkatzen, die sich bereit finden, das Babysitten zu übernehmen, wiesen vor dieser Entscheidung in ihrem Blut einen erhöhten Prolactinspiegel auf (Carlson et al. 2006). In alten Zeiten der Wirbeltierevolution hatte Prolactin mutmaßlich weitere, ganz andere und vielfältige Rollen gespielt. Bei Fischen und Amphibien ist es an der Regelung des Ionen- und Wasserhaushaltes (Osmoregulation) beteiligt. Molche stimuliert es, ein Laichgewässer aufzusuchen. Bei manchen Amphibien hat Prolactin darüber hinaus die Rolle eines Juvenilhormons, das eine vorzeitige Metamorphose verhindert (s. Abb. 11.21). Bei Tauben stimuliert Prolactin die Kropfmilchsekretion, Hühner werden zur Fütterung von Küken angeregt – und schon sind wir wieder bei der Pflege des Nachwuchses. ●
Das adreno-cortico-trope Hormon ACTH. Das Hormon regt, wie der Name sagt, die Nebennieren( adrenes)-Rinde( cortex) an, vermehrt Cortisol in die Blutbahn abzugeben. Augenscheinlich ist dies nicht die einzige Funktion. Das Gen für ACTH wird an mehreren Orten der Hypothalamus-Hypophysenachse exprimiert. Es liefert neben ACTH gleichzeitig die Hormone β-Endorphin und MSH (Melanocyten-stimulierendes Hormon). Zellen, die das Gen exprimieren, erzeugen zuerst das gemeinsame Prohormon POMC (Pro-Opio-Melano-Cortin) (Abb. 11.7). ACTH und MSH zusammen besorgen dem Frosch in der Dämmerung eine dunkle Färbung, uns bescheren sie eine braune Haut. Bedeutsamer mag sein, dass ACTH von der Hypophyse auf Befehl jener Instanzen des Zwischenhirns ausgeschüttet wird, die auch Einfluss auf das sympathische System nehmen. Stress und Angst nehmen auf hormonalem und neuronalem Weg Einfluss auf körperliche Funktionen.
Die Funktion der übrigen glandotropen Hypophysenhormone einschließlich der gonadotropen Hormone soll gemeinsam mit den Hormonen zur
Sprache kommen, welche von den angesteuerten Drüsen II. Ordnung auf Befehl dieser Hypophysenhormone in den Blutkreislauf entlassen werden.
11.4 Das Hormonsystem des Menschen II: Periphere Hormonquellen (ohne Gonaden) 11.4.1 Das jodhaltige Thyroxin der Schilddrüse lässt uns Brennstoff verfeuern und schickt die Kaulquappe in Metamorphose Das Thyreotropin oder Thyroid-stimulating Hormone TSH der Adenohypophyse stimuliert die Schilddrüse, ihren Beitrag zur Steuerung von Stoffwechsel, Wachstum und Entwicklung zu leisten. Die Schilddrüse tut dies, in dem sie ihr eigentümliches Thyroxinmolekül aussendet. Thyroxin ist ein seltsames Molekül: es ist bis heute das einzige bekannte biologische Molekül, das Jod enthält (Abb. 11.9). Hergestellt wird es in der Schilddrüse aus zwei Tyrosin Aminosäuren, an die – vermittelt durch Jodid aus der Nahrung – JodAtome angehängt werden. Diese zwei Tyrosinreste sind eingebunden in ein dimeres Protein, das Thyreoglobulin. Innerhalb dieser dimeren Polypeptidkette wird Tyrosin erst jodiert, dann werden zwei Tyrosinreste miteinander gekoppelt. Es gibt zweifach jodiertes Tyrosin T2 und einfach jodiertes T1. Je nachdem, welche miteinander gekoppelt werden, entsteht in der Summe Tetrajodthyronin (T4) oder Trijodthyronin (T3). T4 und T3 können zur Freisetzung ins Blut aus dem Thyreoglobulin herausgetrennt werden. Beide werden unter der Bezeichnung Thyroxin zusammengefasst. Im Blut wird Thyroxin an neue Proteinträger gebunden und so im Kreislauf verteilt. Als wichtigstes Trägerprotein wird das Thyroxin-bindende Globulin TBG genannt. Es gibt jedoch noch weitere wie das Präalbumin TBPA. In peripheren Organen, vor allem in der Leber und der Niere, kann das wenig wirksame T4 in das hochwirksame T3 umgewandelt werden. In den Zielgeweben angekommen, gelangt T3 – irgendwie – in die Zielzellen hinein, wird dort von intrazellulären Rezeptoren aufgegriffen.
11.4 Das Hormonsystem des Menschen II: Periphere Hormonquellen (ohne Gonaden) Abb. 11.9. Thyroxinsynthese in der Schilddrüse
Epithelzelle der Schilddrüse Synthese von Thyreoglobulin
Blutkapillare
Lumen der Schilddrüse Speicherung von Thyreoglobulin
J
NH CH 2
HO
CH
Aminosäuren u.a. Tyrosin
C=O J
NH C- R
Jodid
C=O J
J
NH
C=O
(J)
J
Thyroxin
CH 2 CH
O
HO
Freisetzung von Thyroxin
NH
TGB
C- R C=O
J
NH CH 2
HO
CH C=O
(J) Thyreoglobulin
Der Humanphysiologe weiß mehr von kurzfristigen, der Tierphysiologe mehr von langfristigen Thyroxinwirkungen zu berichten. In der Humanphysiologie wird auf die metabole Wirkung verwiesen (Abb. 11.10). Thyroxin steigert den Grundumsatz. Es treibt den basalen Stoffwechsel der Zellen in die Höhe. Diese entnehmen Blutzucker (Glucose) dem Blut und verfeuern ihn. Sie tun dies zwar, um ATP zu gewinnen. Bei kräftiger, minutenlanger Thyroxinstimulation jedoch wird mehr und mehr Wärme produziert. Patienten mit Schilddrüsenüberfunktion werden selten dick, kommen aber leicht ins Schwitzen. Die Patienten sind nervös, emotional
labil, leiden unter Schlaflosigkeit; ihre Augen treten hervor (Basedow Syndrom). Der Tierphysiologe verweist auf die Rolle, die Thyroxin in der Amphibienmetamorphose spielt. Thyroxin leitet und begleitet die Metamorphose der Kaulquappe zum Frosch (s. Abb. 11.21). Auch ist es involviert bei der Mauser der Vögel und dem Wechsel des Kleides, den sich einheimische Säuger im Frühjahr und im Herbst leisten. In einem treffen sich Human- und Tierphysiologe: Thyroxin fördert in Synergie mit dem Wachstumshormon das Wachstum der Jugend in allen Belangen. Eine Unterfunktion der Schilddrüse weist
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11 Hormonale Steuerung
dem Neugeborenen ein schlimmes Schicksal zu. Er bleibt in seiner Entwicklung körperlich und geistig stark zurück. Die Störungen der Gehirnfunktionen sind schwerwiegend (Kretinismus).
Wachstum und Regeneration Hypothalamus Hypophyse
Growth hormone GH = Somatotropin STH Somatostatin Thyreotropin TSH
Thyreoidea
Thyroxin
Wachstum
PankreasInseln
Grundumsatzsteigerung Wachstum
Leber
Darm Somatostatin
Somatomedine: IGF (insulinlikegrowth factors)
Eine überraschende Erkenntnis der Molekularbiologie weist darauf hin, wie langfristige Thyroxinwirkungen molekular zu deuten sind. Thyroxin bindet an intrazelluläre Rezeptoren vom Typ der Steroidhormonrezeptoren. Beladen mit Thyroxin, stimulieren diese Genaktivitäten (s. Abb. 11.24). Die Rezeptoren der Steroid/Thyroxin-Klasse sind mit Zinkfingerdomänen ausgestattet und haben eine DNA-bindende Domäne, mit der sie Promotoren vor bestimmten Genen finden. Dimere dieser Rezeptoren werden zu Transkriptionsfaktoren, mit Hilfe derer diese Gene eingeschaltet werden. Ja, es gibt heterodimere Rezeptoren, bei denen ein Partner des Dimers Thyroxin, der andere ein Steroidhormon gebunden hält.
Wachstumsstop
11.4.3 Nebenschilddrüse und C-Zellen der Schilddrüse liefern Hormone, die bei der Regulation des Calcium-Spiegels im Blut von Bedeutung sind
Muskelwachstum Wachstum
Erythrocytenbildung im Knochenmark Erythropoietin
Cytokine
11.4.2 Intrazellulär wird Thyroxin an den gleichen Typ von Rezeptoren gekoppelt, mit dem die Zelle auch Steroidhormone auffängt
Immunzellen
Abb. 11.10. Hormonale Steuerung von Wachstum und Regeneration. Ausschnitt (ohne z. B. Sexualentwicklung)
Calcium ist nicht nur ein Element, das in Form seiner Phosphat- und Carbonatsalze zur Härtung des Knochens beiträgt. Calcium-Ionen zählen zu den wichtigsten Regulatoren der intrazellulären Prozesse. Beispielsweise leiten explosionsartig aus intrazellulären Speichern freigesetzte Calcium-Ionen (Ca2+) die Muskelkontraktion ein. Calcium-Ionen sind bei der Freisetzung von Transmittern und Neurohormonen an den synaptischen Terminals beteiligt. Der Organismus ist bestrebt, die Umwelt „erregbarer“ Zellen so zu gestalten, dass die Erregbarkeit unter Kontrolle bleibt. Neben dem Kaliumgehalt müssen vor allem der Calciumgehalt und Magnesiumgehalt der extrazellulären Flüssigkeit gleichbleibend sein. Die Bedeutung eines gut geregelten Calciumgehaltes in der Körperflüssigkeit und (im Standardlehrbetrieb oft nicht berücksichtigt) auch eines kontrollierten
11.4 Das Hormonsystem des Menschen II: Periphere Hormonquellen (ohne Gonaden)
Magnesiumgehaltes, liegt im Einfluss dieser Ionen auf die elektrischen Aktivitäten erregbarer Zellen. Mangel an Magnesium macht sich in schmerzhaften Muskelkrämpfen bemerkbar, Überschuss an Calcium führt zu Ausfallserscheinungen im Nervensystem. Bei der Regulation der Calcium-Homöostase sind Hormonproduzenten beteiligt, die eine eigenartige evolutionsgeschichtliche Vergangenheit haben. Sie leiten sich von entodermalem Kiementaschengewebe ab. Säuger legen ja in ihrer Embryonalentwicklung noch Kiementaschen an, die freilich nicht mehr zu Kiemenschlitzen durchbrechen und deren Wand keine Kiemen mehr entwickeln (Abb. 11.4a). Im Zuge der Embryonalentwicklung lösen sich von den Kiementaschen Zellgruppen ab, die sich ventral verlagern und Kontakt zur Schilddrüse aufnehmen. ●
●
Parathyreoidea = Epithelkörper
Thyreoidea C-Zellen = Ultimobranchialkörper
Parathyrin PTH
Hinsichtlich ihrer Wirkung auf den Calciumspiegel im Blut wirken Parathyrin und Calcitonin antagonistisch (Abb. 11.11). Calcitonin fördert den Einbau von Ca2+ in die Knochen, zugleich aber die Ca2+Ausscheidung in der Niere und beides lässt den Ca2+-Spiegel des Blutes sinken. Das Parathormon hingegen mobilisiert Ca2+ aus den Knochen und fördert die Ca2+-Aufnahme in Darm und Niere; der Ca2+-Gehalt des Blutes steigt. Der Ionenhaushalt einschließlich des Calciumhaushalts wird von weiteren hormonartigen Substanzen beeinflusst, so von den im nachfolgenden Abschnitt genannten. 11.4.4 An der Regulation des Ionen- und Wasserhaushalts sind viele Instanzen und hormonale Signalsubstanzen beteiligt, vor allem Adiuretin, Aldosteron und die Renin-Angiotensin-Kaskade Dieses höchst unübersichtliche Regulationsgeschehen sei hier nur sehr summarisch zusammengefasst.
Einbau
Abbau
Zwei Gruppen von Kiementaschenzellen (Epithelkörper) werden zur Nebenschilddrüse (Parathyreoidea), die das Hormon Parathyrin (Parathormon) produziert. Zwei andere Gruppen werden zu den Ultimobranchialkörpern, die bei Säugern in die Schilddrüse hineindrängeln und dort als C-Zellen wiederzufinden sind. Sie liefern das Hormon Calcitonin.
Calcitonin
Ca 2+
im Blut
Resorption durch Darm Ausscheidung durch Niere
Abb. 11.11. Parathyrin (Parathormon) und Calcitonin. Wirkungen auf den Calcium-Haushalt
Chemorezeptoren im Hypothalamus, in den Herzvorhöfen und in den großen Blutgefäßen (Aortenbogen, Halsschlagadern) messen den pO2, pCO2, pH und osmotischen Wert des Blutes (s. Abb. 10.6). Möglicherweise gibt es darüber hinaus im Hypothalamus Sensoren, die auf spezifische Ionen ansprechen. Dehnungsrezeptoren in den Herzvorhöfen, in der Aorta, in den Glomeruli der Nieren messen (indirekt) Blutdruck und Blutvolumen. Je nach Bedarf werden Wasser und Ionen über die Niere ausgeschieden oder in der Niere aus dem Primärharn zurückgeholt und über den Darm aus Speis und Trank herausgeholt. An der hormonalen Regulation beteiligt sind: ●
Adiuretin ADH der Neurohypophyse. Auf Befehl des ADH holt die Niere Wasser aus dem Primärharn ins Blut zurück.
●
Aldosteron der Nebennierenrinde und das
●
Natri-uretische Hormone (Peptide) des Herzvorhofs sorgen für einen geregelten Natriumund Kalium-Haushalt.
277
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11 Hormonale Steuerung ●
●
Der D-Hormon-Cocktail namens Calciferol, zusammengemischt aus Cholecalciferol (=Vitamin D3), Ergocalciferol (=Vitamin D2) und 1,25-Dihydroxycalciferol = Calcitriol beeinflussen in vielfältiger Weise den Ca2+-Haushalt und darüber hinaus eine unüberschaubare Zahl zellulärer Funktionen, die hier nicht zur Sprache kommen können. (Man kann dazu einiges in Abschn. 4.2.5 lesen). Die Substanzen sind eher als Hormone oder Mediatoren denn als Vitamine zu klassifizieren. Odysseeisch sind Herkunft und Reise dieser Substanzen. Ausgangssubstanz ist körpereigenes 7-Dehydrocholesterin oder das strukturell sehr ähnliche pflanzliche Ergosterin, die zur Aktivierung in der Haut dem UV-Licht ausgesetzt sein müssen. Weitere Stationen der Aktivierung sind Leber und Niere.
Der Istwert des Glucosespiegels im Blut wird direkt von den hormonproduzierenden α- und β-Zellen in den Inseln des Pankreas gemessen. Sensor der β-Zellen ist der Glucosetransporter, der bei hohem Glucoseangebot im Blut in Kooperation mit einem Enzym (Glucokinase) die β-Zellen dazu bringt, Insulin freizugeben (s. Abschn. 5.4.1). Weitere Glucose-Sensoren sollen sich im Hypothalamus des Zwischenhirns befinden, also inmitten jenes Organs, dessen Glucose-Abhängigkeit am größten ist. Das Gehirn kann seinerseits die Hormonproduzenten des Insulin im Pankreas über sympathische Bahnen beeinflussen.
Das Renin-Angotensin-System ist bei der Kontrolle von Blutvolumen und Blutdruck beteiligt. Wichtiges Stellglied ist die Niere (s. Abb. 6.16).
Mäusestämme, die – genetisch bedingt – zu FressSucht und Fettleibigkeit (Obösität, obesity) neigen, haben Genetiker, Molekularbiologen und Geschäftsleute auf die Spur eines neuen Hormons gebracht: Leptin (griech. leptos = dünn, mager). Sind Fettzellen gesättigt, senden sie ein Hormon aus, das sagt: „es langt“. Fehlt das Hormon, oder sind die Hormonrezeptoren defekt, wird alles Verfügbare in die Fettgewebe geleitet. Injektion von Leptin in die Blutbahn kann andererseits zu einer Abmagerung führen. Warum sich eilends Geschäftsleute um dieses Hormon gekümmert haben? Freilich, wenn’s nicht am Leptin fehlt, sondern der Leptin-Rezeptor defekt oder die weitere Signalkette gestört ist, hilft auch eine Hormonsubstitution nicht zu asketisch-schlanker Linie. Es gäbe effektivere Möglichkeiten der Gewichtskontrolle. Das in den Industrieländern, allen voran in den USA, grassierende Übel der Fettleibigkeit ( obesity) hat viel Forschungsmittel freigesetzt und Forscheraktivität nicht nur an Universitäten aktiviert. Entsprechend mehren sich die Berichte in der wissenschaftlichen Literatur und den Medien, wonach es weitere Hormone gibt, die auf den Appetit und Körpergewicht Einfluss nehmen (Abb. 11.13).
11.4.5 Die Regulation des Blutzuckerspiegels durch Insulin und Glucagon erfolgt durch autonome Regelkreise; aber das Gehirn kontrolliert mit Die Glucose des Blutes, der Blutzucker, ist das unverzichtbare Grundnahrungsmittel der Nervenzellen, der Erythrocyten und auch der meisten Muskelzellen. Das Angebot im Blut muss zuverlässig auf ausreichendem Niveau eingestellt sein; denn schon fünf Minuten Hunger lässt Nervenzellen absterben. Wir fassen das Regelgeschehen – mit Verweis auf Kap. 5 – hier nur summarisch zusammen (Abb. 11.12): ●
●
Insulin aus den B-Zellen (β-Zellen) der Langerhansinseln stimuliert das Einschleusen der Blutglucose über Carrier in die Zellen (Leberzelle, Muskelzellen, Fettzellen) und die intrazelluläre Speicherung der Glucose in Form von Glykogen. In der Fettzelle (Adipocyte) wird die in der Glucose steckende Energie in Form von Triglyceriden gespeichert. Glucagon aus den A-Zellen (α-Zellen) der Langerhansinseln stimuliert die Abgabe von Glucose bzw. von Fettsäuren aus den Speichern.
11.4.6 Fettleibigkeit kontra Magersucht: Leptin und Appetit-zügelnde oder -fördernde Peptidhormone
●
Den Hormonen Leptin und Insulin wird die Funktion zugeschrieben, auf lange Sicht eine ausgewogene Balance zwischen Energie-Verbrauch und Energiespeicherung einzustellen.
●
Verschiedenen Neuropeptiden wird die Funktion zugesprochen, kurzfristig Gefühle des Hungers
11.4 Das Hormonsystem des Menschen II: Periphere Hormonquellen (ohne Gonaden)
Pancreas: Langerhans-Inseln
B-Zellen
A-Zellen
GLUT-2 Glucose-Transporter alsTeil ihres GlucoseIstwert-Sensors
Insulin
Glucagon
G
Adipocyte (Fettzelle)
Adipocyte (Fettzelle)
Fettsynthese GLUT-4
Freisetzung Glycerin Fettsäuren
GLUT-4 Glykogen
Glucose
Energiegewinnung
Blutglucose
Energiegewinnung Muskelzelle
Herzmuskel
Fettsäuren
GLUT-4
GLUT-1
GLUT-1 G Glykogen
Glykogen
Glucose
Glucose Gluconeogenese
Fettsäuren
Fettsäuren
Aminosäuren Leberzelle
Leberzelle
Abb. 11.12. Regelung des Blutzuckerspiegels, der GlucoseAufnahme und –Abgabe, und der Fettsäure-Freisetzung durch Insulin und Glucagon. GLUT-1, GLUT-2 und GLUT-4 sind ver-
schiedene Isoformen des Glucosetransporters, der eine erleichterte Diffusion vermittelt
und Appetits, oder Gefühle der Sattheit und Völle auszulösen (Abb. 11.13).
leeren Magens und auch in endokrinen Zellen des Darms. Ghrelin (Growth hormone release inducing, d. h. Wachtumshormon freisetzend) ist insofern chemisch ein außergewöhnliches
→ Als Appetitauslöser wird das Peptid Ghrelin genannt, produziert in den Fundusdrüsen des
279
280
11 Hormonale Steuerung Abb. 11.13. Hormonale Regelung von Appetit und Sättigung. Es tragen vor allem Neuropeptide aus dem Nervengeflecht des MagenDarm-Trakts zur Regelung bei; sie beeinflussen neurosekretorische Zellen im Hypothalamus, die ihrerseits Einfluss auf die Aktivität von Neuronen nehmen, denen die Entscheidung „Essen ja“ oder „Essen nein“ obliegt. Ein Integrationszentrum ist der Nucleus arcuatus mit zwei Gruppen von Neuronen, die ihrerseits auf das „Hungerzentrum“ und „Sattheitszentrum“ Einfluss nehmen
Essen
Ja
Nein
vom POMC-Gen codierte Melanocortine = Melonocytenstimulierende Hormone MSH
Neuropeptid Y (NPY), Melanin-concentrating hormone MCH Orexin: bei Tieren Futtersuche
bei Ausfall Appetitverlust Nucleus arcuatus 2 Laterales Areal des Hypothalamus ("Hungerzentrum")
Nucleus paraventricularis ("Sattheitszentrum") Nucleus arcuatus 1 bei Ausfall Heißhunger Hypothalamus
Ghrelin "Hungerhormon"
r leere n e Mag
CCK PYY
Insulin GLP-1 Leptin
Adipocyten (Fettgewebe)
Hormon, als dass ein Peptid mit einer Fettsäure (Oktansäure) verestert ist. Es wird darüber hinaus auch in Neuronen des Hypothalamus selbst erzeugt. Es stimuliert dort die Freisetzung des Neuropeptids NPY. Darüber hinaus dürfte Ghrelin im Hypothalamus mit einem weiteren, bemerkenswerten Hormon interagieren, mit dem Melanin-concentrating hormone MCH, das ebenfalls von Nervenzellen im Hypothalamus freigesetzt wird, mutmaßlich, wenn sie Mangel an ATP leiden, also hungern. (MCH ist
insofern ein merkwürdiges Hormon, als es in Lachsen, in denen es erstmals entdeckt wurde, eine ganz andere, seinem Namen gemäße Reaktion hervorruft: Wenn in Fischen, ausgelöst durch MCH, das dunkle Melanin der Pigmentzellen auf einen Punkt konzentriert wird, wird ihre Haut hell.) In Säugern ruft MHC Essensbedürfnis hervor. Mäuse, denen MCH injiziert wurde, entwickelten Fresssucht und Übergewicht. Mäuse hingegen, in denen das MCH-Gen ausgeschaltet war, entwickelten Magersucht.
11.4 Das Hormonsystem des Menschen II: Periphere Hormonquellen (ohne Gonaden)
→ Als Appetitzügler sind mehrere Polypeptide in die Diskussion gebracht worden: das seit langem bekannte Cholecystokinin, das Glucagonlike Peptide GLP-1 und Peptid PYY. Sie werden im Nervensystem des Magen-Darmtraktes produziert, wirken auf ein bestimmtes Kerngebiet des Hypothalamus (Nucleus arcuatus), wo sich Neurone finden, deren Transmitter/ Neurosekrete α-, β-, γ-MSH (Melanocytenstimulierende Hormone) = Melanocortin) Essensstopp signalisieren. Der Appetitmacher MCH einerseits und der Appetitzügler MSH andererseits sind Beispiele für den Erfindungsreichtum und die Anpassungsfähigkeit der Evolution. Signalsubstanzen, die in Fischen und Amphibien der Tarnung bei wechselnden Lichtverhältnissen dienten, werden in Säugetieren für neue Zwecke eingesetzt. 11.4.7 Unter Bedingungen des Stresses ist der Bedarf an Blutzucker erhöht. Die Alarmhormone Adrenalin und Cortisol greifen ein Werden wir plötzlich mit einer Gefahr konfrontiert, oder sind wir aus eigenem Antrieb bemüht, unsere Kräfte zu mobilisieren, schickt das vegetative Nervensystem neuronale Signale ins Nebennierenmark. Dieses injiziert daraufhin das Alarmhormon Adrenalin ins Blut. Zu den aufrüttelnden Botschaften des Adrenalins gehört der Befehl an die Leberzellen, vermehrt Glucose freizugeben (Abb. 11.14; s. auch Kap. 10, Abb. 10.7). Nebennieren - Mark und Adrenalin. Adrenalin ( adrenaline, epinephrine), ein Derivat des Tyrosins, wird im Nebennierenmark von Zellen erzeugt, die von den sogenannten Neuralleisten des Embryos abstammen und von dort ausgewandert waren. Aus diesen Neuralleisten ist auch das vegetative Nervensystem hervorgegangen (s. Abb. 10.5). Adrenalin kooperiert mit einem Hormon, das zwar in räumlicher Nähe zum Nebennierenmark, aber von einem Gewebe ganz anderer Herkunft erzeugt wird, und das einer ganz anderen Klasse von Substanzen angehört: Cortisol. Nebennieren-Rinde und Cortisol. Das Steroidhormon Cortisol (und das chemisch ähnliche, doch
weniger wirksame Cortison) wird von der mesodermalen Nebennierenrinde hergestellt. Adrenalin stimuliert die Synthese von Cortisol, Cortisol stimuliert die Synthese von Adrenalin. In der Peripherie ist die Wirkung dieser Hormone teilweise synergistisch zu der des Glucagons (Abb. 11.14). ●
Adrenalin alarmiert rasche Reaktionen. Es wirkt in den Zielzellen über ein Signaltransduktionsystem (cAMP-System). In Leberzellen stimuliert es in Synergie mit Glucagon die Freigabe von Glucose.
●
Cortisol gehört zu jenen Hormonen, die in tagesperiodischem Rhythmus in die Blutbahn entlassen werden. Frühmorgens wird der höchste Titer im Blut gemessen. Es wird dem Hormon nachgesagt, es bereite uns für den Tag vor, fördere das Wachwerden, den Appetit und sogar unser Wohlbefinden – allerdings nur in einem engen optimalen Dosisbereich. Zu niedere und zu hohe Konzentrationen förderten hingegen depressive Stimmung. Cortisol wird für längerfristige Einstellungen auf ein stressreiches Leben benötigt. Es wirkt, wie alle Steroidhormone, unter anderem genregulatorisch und induziert die Synthese von Enzymen, die für die Herstellung von Glucose aus Aminosäuren (Gluconeogenese, s. Kap. 5) gebraucht werden. Da Cortisol und das ihm sehr ähnliche Cortison so förderlich auf die Synthese von Glucose wirken, haben sie die Ehrenbezeichnung Glucocorticoide erhalten. 11.4.8 Das Cortisol der Nebennierenrinde hat besonders vielfältige, medizinisch wichtige Wirkungen – einschließlich unerwünschter Nebenwirkungen
Cortisol würde in der Medizin gewiss nicht so oft angewandt, würde sich seine Wirkung auf die Förderung der Glucosebildung in der Leber beschränken. Die Gluconeogenese geht von Aminosäuren aus. Wo kommen sie her? Sie kommen aus vielen verschiedenen Körperzellen, die unter dem Einfluss von Cortisol Proteine abbauen. Cortisol in Salben und Spritzen soll ein überschießendes Immunsystem drosseln, soll Allergien und
281
282
11 Hormonale Steuerung Abb. 11.14. Hormonale Kontrolle von Stressreaktionen
Sympathicus
Stress
Noradrenalin G
Nebennieren
Pankreas-Inseln A-Zellen
G
Markzelle G
Glucagon
Adrenalin
Rindenzelle
Glucose für Verbraucher
HO
OH O
HO G
G
Cortisol O
Glucose Glykogen Gluconeogenese Leber
induziert Synthese anaboler Enzyme Induktion kataboler Enzyme
Aminosäuren AS
Abbau Muskeln Knorpel/Knochen Immunzellen u.a.
Cortisol Langzeiteffekte
Autoimmunkrankheiten dämpfen. Das tut es auch. Cortisol liefert andererseits den unwillkommenen Beweis, dass auch natürliche, „biologische“ Medikamente gravierende Nebenwirkungen haben. Beispielsweise bewirkt Cortisol aufgrund seiner katabolen Effekte Muskelschwund und es regt Osteoklasten (Makrophagen-Abkömmlinge) an, Knochensubstanz abzubauen: Die Folge ist Osteoporose. Die Nebennierenrinde liefert drei Gruppen von Steroidhormonen:
Proteasen Proteine
Muskelschwäche Arthritis, Knochenschwund Magengeschwüre Immunschwäche
●
Cortisol, das Glucocorticoid;
●
Aldosteron, das Mineralocorticoid, das mit dem Adiuretin der Hypophyse und dem ReninAngiotensin-System zusammenwirkt, um den Wasser- und Ionenhaushalt des Körpers zu regeln (s. Abb. 6.16).
●
Sexualhormone, insbesondere Androgene.Hier sei dies nur erwähnt. Mehr darüber berichten die Abschn. 11.5.2 und 11.5.3.
11.5 Das Hormonsystem des Menschen III
Hodenkanälchen die Leydigschen Zwischenzellen (s. Abb. 11.16). Die Sertoli-Zellen erzeugen den hormonalen Anti-Müllerian-duct factor AMFD (auch MIS = Müllersche Gang inhibierende Substanz genannt). Der AMFD unterdrückt die Entwicklung weiblicher Komponenten des Urogenitalsystems und führt zur Regression des Müllerschen Ganges, aus dem ein Eileiter hätte hervorgehen können. Die Leydigschen Zwischenzellen erzeugen das männliche Sexualhormon Testosteron.
11.4.9 Das Gehirn reagiert nicht nur auf Steroidhormone; es erzeugt selbst welche Wenn von Steroidhormonen die Rede ist, hört man oft von Rückkoppelung auf das Gehirn; dies trifft vor allem auf die Sexualhormone zu. Es mehren sich aber Berichte, wonach im Gehirn selbst Neurosteroide gebildet werden, darunter Sexualhormone. Über deren Funktion gibt es spannende Hypothesen, doch noch wenig gesichertes Wissen.
11.5 Das Hormonsystem des Menschen III: Die Steuerung der Sexualentwicklung, des Menstruationszyklus und der Schwangerschaft Hormone eignen sich in hohem Maße, um langfristige Entwicklungen zu starten und zu steuern. Hierzu gehört die Sexualentwicklung, die mit der Pubertät keineswegs zu Ende ist. Im weiblichen Geschlecht gilt es, von Zeit zu Zeit Eizellen zur Reife zu bringen und die Gebärmutter auf eine mögliche Schwangerschaft vorzubereiten. Im männlichen Geschlecht wird die Produktion des Samens unter periodischer hormonaler Stimulation aufrechterhalten. 11.5.1 Die Entwicklung des männlichen Geschlechts erfolgt in Stufen unter hormonaler Kontrolle Die gegenwärtige Entwicklungsbiologie hat unter Einsatz des ganzen Methodeninventars der Genetik, der Molekularbiologie und Hormonphysiologie folgendes Szenario entwickelt: ●
Stufe 1: Das genetische Geschlecht. Das Gen sry auf dem Y-Chromosom vermittelt die Synthese eines hormonalen SRY, auch Testis-determining factor TDF, genannt.
●
Stufe 2: Das gonadale Geschlecht. Unter dem Einfluss des TDF reifen im „Mark“ des Hodens die Hodenkanälchen; in den Kanälchen erscheinen die Sertoli-Zwischenzellen, zwischen den
●
Stufe 3: Das somatische Geschlecht. Das dominierende androgene Sexualhormon Testosteron (Abb. 11.15) steuert die weitere Entwicklung der primären Geschlechtsmerkmale in Richtung des männlichen Geschlechts.
●
Stufe 4: Das psychische Geschlecht. Im Tierversuch greift Testosteron noch vor der Geburt in die Entwicklung des Gehirns ein. Als Ergebnis dieser Einflussnahme erfährt das Verhalten eine Prädisposition. Vor oder kurz nach der Geburt mit Testosteron behandelte Nager benehmen sich wie Männchen, auch wenn ihre genetische Konstitution XX ist und sie anatomisch weiblich sind.
●
Stufe 5: Die Pubertät. Zur Einleitung der Pubertät stimulieren die gonadotropen Hypophysenhormone Follikel-stimulierendes Hormon FSH und das luteinisierende Hormon LH die Leydigschen Zwischenzellen, vermehrt Testosteron zu produzieren. Unter seinem Einfluss entwickeln sich die sekundären Geschlechtsmerkmale (Stimmbruch, Bartwuchs etc.), und die Produktion des Samens beginnt.
In diesem Szenario ist bisher das weibliche Geschlecht nicht aufgetaucht. Verwirrend mag auch sein, dass „Follikel-stimulierendes Hormon“ und „luteinisierendes = Gelbkörper-förderndes Hormon“ in diesem Szenario dem männlichen Geschlecht zugeschlagen worden sind. Keine Sorge: Streichen wir das sry Gen, und kommt es folglich nicht zur Produktion von Testosteron, erscheint das weibliche Geschlecht von selbst. Die weibliche Entwicklung ist die „default option“. Dies besagt nicht, dass die weiblichen Sexualhormone, die Östrogene und Gestagene, für die Entwicklung des weiblichen Körpers und der weiblichen Psyche ohne Belang wären. Die
283
284
11 Hormonale Steuerung CH3
Cholesterin
C
O CH3
C
O
Pregnenolon
HO Progesteron O
OH
O
Androstendiol HO
Androstendion O
O
OH
Oestron HO
Testosteron O
Aromatase 5α - Reduktase OH
OH
Östradiol
5α-Dihydro-Testosteron O
HO H H
Abb. 11.15. Freisetzung der Sexualhormone durch Gonadotropine
11.5 Das Hormonsystem des Menschen III Abb. 11.16. Freisetzung der Sexualhormone durch Gonadotropine
Hypothalamus Gonadotropin-Releasing Hormon GnRH
Hypophyse
LH FSH = ICSH
Hodenkanälchen, quer
SertoliZwischenzelle
LeydigZwischenzellen
Follikel
Gelbkörper
BlutKapillare
Ei Ovar Östradiol
Hoden
Progesteron
Testosteron
FSH
Leydig-Zelle FSH
FSH 2
3
LH
H FS 1
2
FSH
Andr
3
LH
ogen
e
4
FSH 1
Östradiol induziert mehr
Testosteron
Blutkapillare
Gonade, die sich von einem indifferenten Urzustand aus statt zum Hoden per default option zum Ovar entwickelt, produziert auf Geheiß von FSH und LH weibliche Sexualhormone „von selbst“, das heißt ohne dass ein besonderes weiblich-bestimmendes Gen eingreifen müsste.
FSH Rezeptoren Theca Granulosa 5 Östradiol des Follikels
4
Oocyte
11.5.2 Hauptproduktionsort der Sexualhormone sind die Gonaden, doch auch die Nebennierenrinde und sogar das Gehirn produzieren welche Testosteron wird in den Leydigschen Zwischenzellen des Hodens produziert, beim erwachsenen Mann 6–7 mg/Tag. Diese Menge entspricht ca. 95%
285
286
11 Hormonale Steuerung
der Tagesproduktion. Die restlichen 5% werden in der Nebennierenrinde hergestellt, Spuren auch im Gehirn. Entsprechendes gilt für die weiblichen Sexualhormone. Hauptproduktionsort der Östrogene Östradiol ( estradiol), Östron, Östriol sind die das Ei umhüllenden Follikelzellen (Granulosa- und Thecazellen). In geringem Maße erzeugen auch die Nebennierenrinde, die Leber, das Gehirn und andere Organe Östrogene. Progesteron ( progesterone) wird ebenfalls von den Follikelzellen erzeugt, wenn sich der Follikel nach dem Eisprung in den Gelbkörper verwandelt hat. Im Blut werden die Sexualhormone parallel zum Thyroxin an Globulinproteine gebunden transportiert. Testosteron wird in vielen Zielorganen in das wirksamere 5α-Dihydroxytestosteron (DHT) umgewandelt. Das hierfür zuständige Enzym, genannt 5α-Reduktase, liegt in zwei isomeren Ausgaben vor, Typ 1 wird in der Haut, Leber und Gehirn exprimiert, Typ 2 im Nebenhoden und der Prostata. Damit sind auch schon wichtige (wenn auch nicht alle) Wirkungsorte der Androgene genannt. 11.5.3 Beide Geschlechter produzieren männliche und weibliche Sexualhormone, jedoch in unterschiedlichem Ausmaß. Auch ist man unterschiedlich mit Rezeptoren bestückt Überblickt man die Synthesewege der Sexualhormone (Abb. 11.15) wird man Überraschendes gewahr. Der Syntheseweg zum Testosteron kann über Progesteron führen (auch Aldosteron und Cortisol gehen aus Progesteron hervor). Östradiol wird aus Testosteron hergestellt, ist also nicht nur männliches Sexualhormon, sondern auch direkter Vorläufer des wichtigsten weiblichen Sexualhormons. BiochemieLehrbücher zeigen auf, dass nahezu jedes Sexualhormon über kurze oder lange Wege in jedes andere umwandelbar ist. Da enzymatisch katalysierte Umwandlungsschritte Gleichgewichtsreaktionen sind, muss nicht mehr verwundern, wenn nicht nur hochempfindliche Methoden der Massenspektroskopie, sondern auch gängige Verfahren des Diagnoselabors männliche und weibliche Sexualhormone in beiden Geschlechtern entdecken. So lassen sich aus dem
Gehirn des Mannes Testosteron, DHT und Östradiol extrahieren. Freilich sind die in den Gonaden und im Blut nachweisbaren Mengenverhältnisse doch recht unterschiedlich, wenn man Extrakte aus Geweben und Blut von Frauen und Männern miteinander vergleicht. Dann ist zu bedenken: Es kommt nicht nur darauf an, welche Hormone erzeugt werden und im Blut kursieren, sondern auch welche Rezeptoren wo und wann exprimiert werden. Immerhin, Östradiolrezeptoren sind auch in Gehirnarealen des Mannes entdeckt worden, und es gibt Indizien, dass zur Entwicklung eines normalen Verhaltens manche Areale neben Testosteron- auch Östrogen-Signale benötigen. Das weibliche Geschlecht ist andererseits nicht frei von Androgenrezeptoren. Genetische oder krankhafte Störungen des NebennierenrindenStoffwechsels können bei Frauen dazu führen, dass zu hohe Konzentrationen von Testosteron in ihrem Blut erscheinen und über die Plazentaschranke auch das werdende Kind erreichen. ●
Ein zu dieser Zeit im Mutterleib herangewachsenes Mädchen mag als Folge später „boyisches“ Verhalten zeigen.
●
Für die Frau kann der erhöhte Testosteronspiegel auf längere Sicht Ursache für Hirsutismus sein: Es sprossen Barthaare, die Stimmlage senkt sich, die Klitoris wächst.
Weiteres zum Thema Sexualentwicklung und zu Störfällen der Sexualentwicklung s. Müller u. Hassel 2006.
11.5.4 Bei der Mehrzahl der Wirbeltiere gibt es zyklische Fortpflanzungsperioden; beim Menschen ist im Menstruationszyklus ein Rest erhalten Bei der Mehrzahl der Wirbeltiere ist das Fortpflanzungsgeschäft eingebunden in eine Jahresperiodik oder verläuft doch in periodischen Schüben. Begriffe wie Brunft bezeugen, dass bei Säugern auch im männlichen Geschlecht Perioden sexueller Aktivität mit Perioden der Inaktivität abwechseln können – in Synchronisation mit dem Zyklus, dem die potentiellen Mütter Tribut zollen müssen. Es wäre eine Katastrophe, würden die Jungen zur Unzeit
11.5 Das Hormonsystem des Menschen III
zur Welt kommen. Augenfällig ist das Phänomen periodisch wiederkehrender Fortpflanzungsbereitschaft deshalb vor allem im weiblichen Geschlecht: „Hitze“ und „Läufigkeit“, wissenschaftlich Östrus genannt, kennzeichnen solche Perioden. Der Östrus des Tieres darf indessen nicht mit der menschlichen Menstruation gleichgesetzt werden. Die Phase des Östrus ist die Phase des Eisprungs und damit die Phase der Empfängnisbereitschaft. Ihr entspricht beim Menschen die Mittenzeit zwischen zwei Menstruationsblutungen um den 14. Zyklustag herum (Abb. 11.17).
11.5.5 Die Steuerung des Menstruationszyklus vollzieht sich auf drei Ebenen: Hypophyse, Ovar und Uterus. Rückkoppelungsschleifen tragen zur Erzeugung einer Rhythmik bei Im Folgenden werden die Phänomene so diskutiert, wie sie für die Frau dargestellt werden. Es muss aber gesagt werden, dass wesentliche Aussagen aus Untersuchungen an Tieren gefolgert worden sind. Beim Menschen ist es nur möglich, den Titer von Hormonen im Blut zu messen und mit den Werten zu vergleichen, die im Tier gemessen worden sind. Experimente beschränken sich auf Therapieversuche. Jede Darstellung ist ein grob vereinfachendes Modell (Abb. 11.17 u. 11.18). Erste Ebene sind Hypothalamus und Hypophyse. Im Zwischenhirn wird ein Pulsgenerator vermutet, der dafür sorgt, dass in den ersten Tagen zu Beginn eines neuen Zyklus alle 90 min das Neurohormon Gonadotropin-releasing hormone GnRH freigesetzt wird. Dieses GnRH adressiert die Adenohypophyse, die ihrerseits FSH ins Blut entlässt. Erfolgt dann Rückmeldung vermittelt durch Östradiol, schickt die Hypophyse LH nach. Zweite Ebene ist das Ovar. Unter dem Einfluss des Follikel-stimulierenden Hormon FSH (Follitropin) erzeugen diejenigen Follikelzellen, welche die größte der heranreifenden Eizellen umhüllen, Östrogene. Wichtigstes Östrogen ist Östradiol (estradiol), dem wir allein unsere Aufmerksamkeit widmen. Östradiol hat zwei Wirkungen: (1) Es meldet dem Uterus, er möge sich für die Aufnahme eines Embryo bereit machen, und (2) es wirkt auf die
Hypophyse zurück. Diese Rückmeldung hat negative wie positive Effekte: Negativ – Östradiol hemmt mit Zeitverzögerung seine eigene Freisetzung. Die Titer von FSH und schließlich auch von Östradiol selbst im Blut sinken wieder ab. Positiv – zuvor hat Östradiol die Hypophyse angeregt, LH freizugeben. FSH sinkt, LH steigt. Bei einem (artspezifischen) Verhältnis FSH/LH wird der „Eisprung“ beobachtet: Der Follikel platzt und gibt die Eizelle frei. Sie muss vom Mund des Eileiters aufgefangen werden. Das luteinisierende Hormon LH (Luteotropin) hilft, die Reste des Follikels in den Gelbkörper umzuwandeln. Der Gelbkörper produziert Gestagene mit Progesteron als dominierendem Hormon. Im Ovar selbst verhindern Östrogene und Gestagene gemeinsam das Heranreifen konkurrierender Follikel. Dritte Ebene ist der Uterus. Der Uterus, die Gebärmutter, ist ein reagierendes Organ. Es lässt sich von Östradiol anregen, seine Innenschicht (Endometrium) heranwachsen zu lassen (Proliferationsphase) und Drüsenschläuche zu entwickeln, von denen beispielsweise das Hühnerei sein „Eiweiß“ (Eiklar) bezieht, von denen aber auch der Säugerembryo profitieren kann. Das Progesteron leitet dann die Sekretionsphase ein. Rückkopplungen und Abbruch des Cyclus. Sowohl Östradiol wie Progesteron blockieren über eine Rückkopplungsschleife mit Zeitverzögerung ihre eigene Produktion, indem sie hemmend auf das Hypothalamus-Hypophysensystem Einfluss nehmen (Abb. 11.18). Ohne FSH und LH gibt es kein Östradiol und kein Progesteron. ohne die Steroidhormone Östradiol und Progesteron keine funktionstaugliche Gebärmutter. Aus welchen Gründen auch immer das Endometrium der Gebärmutter zugrunde geht, es geht zugrunde und wird bei der Menstruationsblutung abgestoßen. Das Absinken des Östradiol- und Progesteronspiegels gegen Ende des Cyclus ist Voraussetzung dafür, dass ein nächster Follikel heranreifen kann. Er wird dann seinerseits wieder die Produktion von Östradiol aufnehmen, wenn ihn das FSH Signal erreicht, und wird den nächsten Konkurrenten in Schach halten. Theoretisch wäre ein Modell konzipierbar, in dem Rückkopplungen als solche schon ein periodisch
287
11 Hormonale Steuerung
Steuerung des Menstruationszyklus
GnRH = Gonadotropinreleasing Hormone
LH
Titer im Blut
FSH
0
7
14
Graaf´scher Follikel
21
Eisprung
Zyklustag
28/0
Corpus luteum
Östradiol Progesteron
Titer im Blut
288
0
7
14
21
Zyklustag
Uterus
Abb. 11.17. Regulation von Eireifung, Eisprung und Menstruation im Zyklus der Frau
28/0
11.5 Das Hormonsystem des Menschen III
Hypothalamus Gonadotropinreleasing Hormon GnRH
Rhythmusgenerator
Hypophyse
LH
Autoinhibition
Autoinhibition
FSH
Ovar Östradiol
Wachstum
Progesteron
Sekretion
trophe. Er muss verhindern, dass eine Blutung zustande kommt; jedenfalls in seiner nächsten Umgebung muss das Endometrium erhalten bleiben. Der Embryo gibt Signale an die Mutter. Es treten hormonale Substanzen auf, die die Abstoßung der Gebärmutterschleimhaut im Umfeld des Embryos verhindern und dem Ovar der Mutter kundtun, dass ein weiteres Ei nicht mehr heranreifen soll. Zwei Hormone, die in diesem Zusammenhang genannt werden, sind Human chorionic gonadotropin HCG und Human placental lactogen HPL (heute auch Chorion-somato-mammo-tropin CS genannt) (Abb. 11.19 u. 11.20). Zunächst ist es der Trophoblast des Embryos (frühe zelluläre Außenschicht), der diese Hormone erzeugt, später die Plazenta welche aus dem Trophoblasten hervorgeht. HPL/CS gleicht dem Wachstumshormon; HCG ist weitgehend strukturgleich mit LH und regt den mütterlichen Organismus an, den Gelbkörper zum Schwangerschaftsgelbkörper zu vergrößern und weiterhin Progesteron zu erzeugen. Progesteron seinerseits hilft, die Schwangerschaft aufrecht zu erhalten und eine neue Ovulation bis nach Abschluss der Schwangerschaft hinauszuschieben. Hat der Embryo eine Plazenta entwickelt, übernimmt diese die Produktion nicht nur von HCG sondern auch von Östradiol und Progesteron.
Uterus
Human chorionic gonadotropin HCG
Abb. 11.18. Hormonale Steuerung des Menstruationszyklus mit Rückkopplungsschleifen
wirkt wie LH
2 1
schwingendes System ergeben. Es wird aber angenommen, dass ein autonomer endogener Rhythmusgenerator im Gehirn den nächsten Cyclus startetes sei denn, zuvor habe ein Keim Einhalt geboten. 11.5.6 In der Schwangerschaft muss der Keim das Kommando übernehmen, wenn er überleben will Eine Menstruationsblutung wäre für den Keim, der sich in die Gebärmutter eingenistet hat, eine Katas-
Embryo
3
hält Uterus aufrecht 4
Progesteron
Abb. 11.19. Verhinderung einer Menstruation nach Einnistung eines Keims in die Uteruswand (Endometrium)
289
290
11 Hormonale Steuerung Abb. 11.20. Schwangerschaft, Geburt und Ernährung des Säuglings: hormonal gesteuerte Ereignisse Hypophyse
Saugreiz
Human chorionic gonadotropin HCG Prolactin
Human placental lactogen HPL
Oxytocin
a c
Östradiol + Progesteron in Ovulations-hemmender Menge
Oxytocin Uteruskontraktion (Wehen) unterstützt durch Prostaglandine u.a. Eicosanoide
b
11.5.7 Die Pille: ein Hormon-Cocktail, auf jeden Fall ein Stoffgemisch, das in den Hormonhaushalt eingreift In der Mehrzahl der Präparate, die der Handel bereitstellt, sind Östrogene (Östradiol) und Gestagene (Progesteron) nach Geheimrezepten gemischt. Diese Cocktails enthalten aber nicht nur die natürlich vorkommenden Hormone, sondern auch
Varianten, die sich der Firmenchemiker einfallen ließ. Die Funktion der Cocktails ist es, die Wirkung einer Schwangerschaft nachzuahmen und die Freisetzung eines weiteren Eies aus dem Ovar zu hemmen (Ovulationshemmer). Damit dennoch der Uterus von Zeit zu Zeit durch eine Regelblutung gereinigt wird, soll nach 21–24 Tagen mit Pille eine Pillenpause von 7–4 Tagen eingeschoben werden.
11.6 Hormonsystem der Metamorphose
Da nun mal Verhütung in unserer Zivilisation erwünscht ist, werden Bedenken gerne in den Hintergrund gedrängt und wenig diskutiert: ●
Kann man dem Körper jahrelang eine Schwangerschaft vortäuschen, ohne einen Preis zu zahlen, der nicht in Geldwert beglichen werden kann? Trägt die Pille dazu bei, dass ein später Kinderwunsch nicht in Erfüllung geht?
●
Die synthetischen Substanzen der Pille werden sehr schlecht abgebaut; sie erscheinen im Abwasser und gar im Grundwasser und damit im Trinkwasser. Sind sie mitverantwortlich dafür, dass in Ländern mit westlicher Zivilisation der Fertilität der Männer so stark gesunken ist? (s. dazu auch den nachfolgenden Abschn. 11.5.9).
Es gibt auch „die Pille danach“. Es handelt sich um ein Substanzgemisch, das die Einnistung eines Keims in die Gebärmutter verhindert (Nidationshemmer). Schließlich gibt es Präparate (z. B. das Antiprogestin RU 38486), die den schon eingenisteten jungen Keim durch Auslösen einer starken Menstruation abtreiben (– unter Umgehung der Gesetze?). 11.5.8 Hormone und Hormon-ähnliche wirkende Stoffe in unserer Umwelt bereiten Sorge und Furcht Die Substanzen der „Pille“ sind, wie oben gesagt, schwer abbaubar; sie sind in den Abwässern der Kläranlagen, in Spuren mitunter im Grundwasser nachweisbar; ebenso trägt Hormonsubstitution nach der Menopause zur Verbreitung von Hormonen in Gewässern bei. In Abwässern von Kläranlagen sind vielerorts genetisch männliche Fische verweiblicht. Weil ‚Pillen‘ und ‚Verjüngungspräparate‘ beliebt sind und für unverzichtbar gehalten werden, sind es freilich nicht diese Substanzen, die zu Alarmmeldungen Anlass gaben. Man suchte nach ähnlich wirksamen Industrieprodukten und fand sie. Sie werden von Umwelttoxikologen unter Begriffen wie Xenöstrogene und endokrine Disruptoren zusammengefasst. Es sind vielerlei Subtanzen aus unterschiedlichen Quellen, die störend in den Hormonhaushalt von Mensch und Tier eingreifen. Nicht wenige Substanzen wirken ähnlich den männlichen oder weiblichen Sexualhormonen,
oder sie unterbrechen die Funktion der natürlichen, endogenen Hormone. Ein ‚Klassiker‘ ist das chlorinierte Insektizid DDT; es führt zur Verweiblichung von Säugetieren. Man findet solche Substanzen in Plastik-Weichmachern (Phtalate), Klebern und Kunststoffen auf Epoxibasis (Bisphenol-A), Schiffsanstrichen (Tributyl-Zinn), Schmiermitteln (Phenyl-methyl-substituierte Siloxane) und vielen weiteren Produkten der chemischen Industrie. Allerdings hat auch die Natur mit „Phytestrogenen“ einiges zu bieten.
11.6 Hormonsystem der Metamorphose Wir versagen es uns in diesem einführenden Buch, auf stoffwechselsteuernde Hormone bei Wirbellosen einzugehen, auch wenn Überraschendes zu berichten wäre, beispielsweise dass viele „Wirbeltierhormone“ nachträglich auch in Insekten gefunden wurden: ●
Adiuretin, Oxytocin;
●
Endorphin, MSH;
●
Insulin und Glucagon zum Beispiel.
Es gibt jedoch ein Thema, das nicht nur für Zoologen von Interesse ist: die hormonale Kontrolle der Metamorphose von Insekten. Es gibt dafür drei gute Gründe: 1. Zum einen hatte die Hormonforschung an Insekten lange die führende Pionierrolle gespielt. Ohne die mühsame Pionierarbeit mit Tonnen von Seidenspinnern (durch A. Butenandt und P. Karlson) und ohne die penible mikroskopische Analyse von Ecdyson-behandelten Riesenchromosomen wäre die Erkenntnis, dass Steroidhormone Gene aktivieren, nicht so leicht zu gewinnen gewesen. 2. Zum Zweiten profitiert die biologische Schädlingsbekämpfung von den Erkenntnissen der Hormonforschung. Nicht nur künstliche, von der chemischen Industrie entwickelte Insektizide greifen in den Hormonhaushalt der Insekten ein, sondern auch viele natürliche, von Pflanzen zum Selbstschutz erzeugte Substanzen.
291
11 Hormonale Steuerung
3. Schließlich fallen Analogien zum Hormonsystem der Vertebraten ins Auge. Sie werden im Folgenden aufgezeigt.
11.6.1 Die Metamorphose eines Frosches: Paradebeispiel eines hormongesteuerten Entwicklungsvorganges Eine Kaulquappe verwandle sich in einen Frosch (Abb. 11.21). Dem Leben im Wasser folgt ein Leben
in feuchter oder gar trockener Luft. Die ökologische Nische einschließlich der Nahrung wird gewechselt. Die Metamorphose erfordert eine Umgestaltung auf jedem organismischen Niveau: von der äußeren Morphologie über die Physiologie bis zu Änderungen in der Enzymausstattung der Zellen. Ist die Kaulquappe ausreichend herangewachsen, lösen vorübergehender Ausfall eines Hormons und erhöhte Freisetzung eines anderen nach und nach die Metamorphose aus. Externe Signale scheinen von geringer Bedeutung zu sein, doch beginnt das Hypothalamus im Zwischenhirn Releasing Hormone
Thyreoidea (Schilddrüse) Hypophyse
TSH
Thyroxin
J CH2
O
HO
Prolactin
NH2 CH
COOH
(J)
J
äußere Kiemen
1
Seitenlinien noch vorhanden innere Kiemen
Ammoniak-Exkretion
Hornzähne
2
Atemloch
Trommelfell Dentinzähne veränderte Haut verstärktes Keratin
Lunge
3 5
Abb. 11.21. Hormonale Kontrolle der AmphibienMetamorphose
verändertes Hämoglobin
Konzentration im Blut
J
Juvenileffekt
Konzentration im Blut
292
versteckte Hinterbeine Vorderbeine
veränderter Sehfarbstoff: statt Retinal A2 jetzt Retinal A1 Seitenlinien reduziert Lunge verändertes Kreislaufu. Darmsystem
4 Harnstoff-Synthese in Leber
11.6 Hormonsystem der Metamorphose
Schauspiel, nachdem das Gehirn seine Erlaubnis erteilt hat. Ein Hormon der Adenohypophyse verliert vorübergehend an Effektivität, aus welchen Gründen auch immer. Es ist das Prolactin, das in der Kaulquappe die Funktion eines Juvenilhormons erfüllt und die Entwicklung zum Frosch hinausgezögert hatte. Zur Einleitung der Metamorphose setzt die Adenohypophyse das Schilddrüsen-stimulierende Hormon TSH frei; TSH stimuliert seinerseits die Freigabe des Schilddrüsenhormons Thyroxin. Thyroxin fördert die Expression des Thyroxin-Rezeptors (Autoinduktion) in solchen Geweben, die auf Thyroxin ansprechen sollen.
● ●
●
●
●
●
Hinsichtlich der Rolle des Prolactins gibt es noch Klärungsbedarf. Zwar wird berichtet, bei verschiedenen Amphibien zögere eine Gabe von Prolactin die Metamorphose hinaus. Andererseits wird auch berichtet, die Konzentration des Prolactin im Blut nehme im Verlauf der Metamorphose nicht ab, sondern bis einem Klimaxpunkt zu, und ebenso die Bestückung verschiedener Gewebe mit Prolactin-Rezeptoren. Dies wird mit weiteren Funktionen des Hormons in Beziehung gebracht, beispielsweise: ● Verschiedene Gewebe und Organe, die auch im künftigen Leben auf dem Land gebraucht werden, müssen während der langen Wochen der Metamorphose weiterhin heranwachsen. Prolactin gehört zur Familie der Wachstumshormone, und künftige Adultorgane reagieren anders als solche, die nicht mehr gebraucht werden. ● Prolactin bereitet manche Gewebe vor, damit diese besser auf Thyroxin reagieren können, und es unterstützt in der ersten Phase der Metamorphose Thyroxin, indem es parallel mit Thyroxin Proteasen (Collagenasen) induziert, die zum Abbau larvaler Strukturen gebraucht werden.
Auf die Änderungen im Hormontiter reagieren die verschiedenen Gewebe und Organe höchst unterschiedlich, je nachdem wie sie zuvor programmiert worden sind. Destruktive und konstruktive Prozesse gehen Hand in Hand und ziehen sich über Wochen hin (Abb. 11.21). Destruktive Prozesse: ● Die Kaulquappen resorbieren den Ruderschwanz. ● Die Hornzähne und Kiemen verschwinden. ● Die für die Wahrnehmung von Wasserströmungen zuständigen Seitenlinienorgane werden reduziert. Konstruktive Prozesse und Umwandlungen: ● Extremitäten werden entwickelt, die eine Fortbewegung auch auf dem Land ermöglichen. ● Die Haut wird stärker keratinisiert.
Die Lunge wird arbeitsfähig. Blutgefäße werden umkonstruiert. Wenn der Frosch von der Kiemen- auf Haut- und Lungenatmung umschaltet, werden die Kiemenbogenarterien umgebaut, die Kardinalvenen durch neue Gefäße ersetzt. In den Erythroblasten wird durch Expression anderer Globinformen ein neues, an die Luftatmung angepasstes Hämoglobin hergestellt. Die Leber wird in ihrer enzymatischen Ausstattung auf den Wechsel von der ammoniotelischen (Ammoniak) zur ureotelischen (Harnstoff) Stickstoffexkretion vorbereitet. Aus der ersten Kiementasche wird eine Mittelohrhöhle, die nach außen durch ein Trommelfell verschlossen bleibt und innen die Schall-leitende Columella aufnimmt. In der Retina wird der Sehfarbstoff vom fischähnlichen Porphyropsin (Opsin + Retinal A2) auf Rhodopsin (Opsin + Retinal A1) umgestellt, wie es Landwirbeltiere haben.
11.6.2 Die Metamorphose des Schmetterlings: Auf den ersten Blick gibt es zwischen Frosch und Insekt wenig Gemeinsames Die Metamorphose der Kaulquappe streckt sich über Wochen hin und vollzieht sich graduell, ohne dass die Kaulquappe ein Ruhestadium einschöbe. Die Metamorphose des holometabolen, d. h. sich vollständig verwandelnden, Schmetterlings hingegen vollzieht sich in zwei großen Schüben, von der Raupe zur Puppe, von der Puppe zur Imago (Abb. 11.22). Was sich unter der derben Puppencuticula an Dramatik abspielt, muss der Entwicklungsbiologe erzählen. Bei all diesen Unterschieden sind Analogien in der Art der hormonalen Kontrolle umso erstaunlicher.
11.6.3 Bei Insekten wie bei Wirbeltieren wird die Metamorphose mit Gehirnhormonen gestartet Sowohl die Metamorphose der Kaulquappe zum Frosch wie die Metamorphose der Schmetterlingsraupe zum Falter müssen zur passenden Zeit in Gang kommen. Was heißt passend? Gewiss eine ausreichend fortgeschrittene Entwicklung und ein ausreichendes Wachstum. Das Wachstum ist von
293
294
11 Hormonale Steuerung Abb. 11.22. Hormonale Steuerung der Metamorphose bei Insekten. ECH = Eclosionshormon; stimuliert die Freisetzung des EclosionTrigger-Hormons aus den epitrachealen Drüsen. PTTH = Prothorakotropes Hormon; stimuliert die Freisetzung von Ecdyson aus der Prothoraxdrüse. Das Juvenilhormon entstammt den Corpora allata. Der Schmetterling ist der Sommerform des Landkärtchens, Araschnia levana, nachempfunden. Der hier gegebene schematische Überblick wird ergänzt durch eine detailliertere Darstellung in Abb. 11.23
Gehirn
Corpora Corpora Prothoraxdrüse Epitracheale Drüsen cardiaca allata ECH PTTH ETH
Eclosionshormon ECH + Ecdysis triggering H. ETH
O
Bursicon
O
O
20-OH-Ecdyson
Juvenilhormon 1
OH OH OH
HO OH HO H
O
der Menge und Quantität der Nahrung abhängig. Aber auch die Tageslänge und die augenblicklich herrschende Temperatur wollen berücksichtigt sein. Vielleicht wird deshalb die Metamorphose durch neurosekretorische, im Gehirn erzeugte Hormone
gestartet. Beim Amphib ist es die Staffel TRH-TSH, über die vom Gehirn die Schilddrüse angesteuert wird (Abb. 11.21); beim Schmetterling ist es das Prothoracotrope Hormon PTTH, über das die Prothoraxdrüse adressiert wird (Abb. 11.22 u. 11.23).
11.6 Hormonsystem der Metamorphose
11.6.4 Bei Insekten wie bei Wirbeltieren kennen wir ein Metamorphose-förderndes und ein Metamorphose-bremsendes Hormon Beim Vergleich der Abb. 11.21 mit Abb. 11.22 sollte auffallen, dass die Metamorphose durch zwei antagonistisch wirkende Hormone vorangetrieben wird. Die Zeit eines ‚Jugendhormons‘, das zwar Wachstum erlaubt, aber die Weiterentwicklung zum definitiven Phänotyp (Adultus, Imago) bremst, ist nun abgelaufen. Im Insekt wird die Produktion des Juvenilhormons ganz eingestellt, im Amphib verliert Prolactin aus noch nicht bekannten Gründen seine Effektivität. Beide diese Hormone werden von einer „Gehirnanhangsdrüse“ erzeugt: ●
Juvenilhormon in den Corpora allata,
●
Prolactin in der Adenohypophyse.
Dann brauchen wir ein positiv stimulierendes Hormon; beim Insekt nennen wir Ecdyson, beim Frosch Thyroxin. Beide diese Hormone sind genregulatorisch wirksam und werden von einer Drüse II. Ordnung erzeugt: ●
Ecdyson in der Prothoraxdrüse (Vorbrustdrüse),
●
Thyroxin in der Schilddrüse.
Eine weitere Parallele: im Insekt kann das wenig wirksame Ecdyson im Zielgewebe in das wirksamere 20-Hydroxy-Ecdyson (Ecdysteron) umgewandelt werden, im Vertebrat das wenig wirksame Thyroxin Tetrajodthyronin T4 in das wirksamere Trijodthyronin T3. 4. Larvenstadium
5. Larvenstadium Häutung
Häutung
4
0
2
Falter Ecdyson
Schlüpfen Eclosionsh.
Eclosionsh. PTTH
PTTH Ecdyson
Juvenilh.
2
Puppe Puppen-Häutung
Eclosionsh. Ecdyson Eclosionsh. PTTH
0
Freilich dürfen wir die Parallelen nicht zu weit treiben. Das Wachstum der Raupe vollzieht sich sprunghaft von Häutung zu Häutung. Die Raupe muss ihre wenig elastische Cuticula abstreifen, bevor sie sich dehnen kann. Jede Häutung wird durch eine Ecdysonspritze aus der Prothoraxdrüse eingeleitet. Ob dann wieder eine Raupencuticula, eine Puppenhülle oder die Cuticula einer Imago hergestellt werden kann, ist zuvor schon entschieden worden auf der Basis des Titers an Juvenilhormon. Unter dem Einfluss von viel Juvenilhormon ist die Raupe nicht in der Lage, ihre Imaginalanlagen (Imaginalscheiben) so weiter zuentwickeln, dass sie sich plötzlich zur Puppe oder zum Falter mausern könnte. Unter der alten Cuticula blieb – von der Massenzunahme abgesehen – alles beim Alten. Ecdyson plus Juvenilhormon macht aus der Raupe eine größere Raupe. Ist Ecdyson allein da, läuft die Entwicklung über die Puppe zum Falter weiter (Abb. 11.22 u. Abb. 11.23). Als ein Hormon, das Gene einschalten kann und auch die Zellteilung fördert, stimuliert Ecdyson die Weiterentwicklung der inneren Organe, den Abbau der alten Epidermis (Apolysis), das Wachstum der neuen Epidermis und die Synthese der neuen (noch weichen) Cuticula. Bemerkenswerterweise taucht das Juvenilhormon im adulten Falter wieder auf. Nun wirkt es als gonadotropes Hormon und fördert die Entwicklung der Gonaden. Dies ist ein schönes Beispiel für Sparsamkeit in der Natur. Ein und dasselbe Signalmolekül kann zu den unterschiedlichsten physiologischen Zwecken eingesetzt werden.
4
6
8
PTTH = Prothorakotropes Hormon
0
2
4
6
8
10
12
14
16
18 Tage Gonadotrope Funktion des Juvenilormons
Abb. 11.23. Konzentration entwicklungssteuernder Hormone in der Hämolymphe des Tabakschwärmers Manduca sexta
295
296
11 Hormonale Steuerung
Der Fachmann kennt noch weitere Insektenhormone. Am Häutungsgeschehen (Ecdysis) sind mehrere Hormone beteiligt: ein vom Gehirn erzeugtes Neuropeptid mit Namen Eclosionshormon, das Ecdysis-triggering Hormon ETH der Epitrachealdrüsen und zu guter Letzt wieder ein Neuropeptid namens Bursicon. Es induziert die Aushärtung (Sklerotisierung) und Gerbung der neuen Cuticula. Darüber hinaus sind auch bei Insekten mehrere Hormone an der Kontrolle des Stoffwechsels beteiligt, darunter wohlbekannte wie Insulin.
11.6.5 Pflanzen benutzen falsche Hormone, um sich gegen Insektenfraß zu schützen Zwischen gefräßigen Raupen und ihrer unfreiwilligen Futterpflanze herrscht ein erbitterter Kampf, der sich schon seit Jahrmillionen hinzieht. Die Pflanze erfindet Abwehrstoffe, manche Insekten werden dagegen immun. Viele der Abwehrstoffe greifen in das Hormongeschehen ein. Die amerikanische Balsamfichte erzeugt Agonisten (Stoffe mit vergleichbarer Wirkung) zu Juvenilhormon. Die Raupen können sich nicht verpuppen. Andere Pflanzen erzeugen Steroid-ähnliche Substanzen, die störend in Ecdyson-abhängige Prozesse eingreifen. Besonders viele solche Pseudoecdysone produziert der indische Neembaum Azadirachta. Man nennt sie kollektiv Azadirachtine. Sie werden für eine biologische Schädlingsbekämpfung aufbereitet. Nicht-steroidale Häutungshormon-Antagonisten stellen nicht nur Pflanzen, sondern auch die chemische Industrie her (z. B. Acylhydrazin-Derivate).
11.7 Genregulatorische und andere Funktionen der Steroidhormone und von Thyroxin 11.7.1 Nach gängiger Lehrmeinung diffundieren lipophile Signalsubstanzen direkt durch Zellmembranen. Es gibt Gründe für Zweifel Niedermolekulare lipophile Substanzen dringen im Allgemeinen gut in Zellmembranen ein und können sie auch passieren. Dies gilt beispielsweise für Stickstoff N2, Stickstoffoxid NO und kurze Fettsäuren.
Da man für Steroidhormone zunächst nur intrazelluläre Rezeptoren finden konnte, etablierte sich die Meinung, sie würden als lipophile Substanzen direkt in die Zelle diffundieren und erst intrazellulär von Rezeptoren aufgefangen werden. Es gibt indes Einwände gegen diese Auffassung: ●
Gewiss können lipophile Substanzen ziemlich mühelos in die Lipidschicht der Zellmembran eindringen. Warum sollten sie aber die geliebte Lipidschicht wieder verlassen und als wasserscheue Elemente ins wässrige Cytosol eintauchen?
●
Manche Steroidhormone (z. B. Ecdysteron) und Thyroxin sind recht gut wasserlöslich.
Im Falle der Retinsäure sind Rezeptoren identifiziert worden, die zwar im Cytosol vorrätig vorliegen, aber an die Membran andocken können, um die Retinsäure abzuholen. Für andere lipophile Substanzen (Eicosanoide) hat man mittlerweile membranständige Rezeptoren identifizieren können. Die Frage, wie Steroidhormone und gar das hydrophile Thyroxin in die Zelle hineingelangen, ist offen. Neuere Forschung findet nun, dass Steroidhormone – namentlich Sexualhormone und Vitamin D-Hormon – von Membran-assoziierten Rezeptoren aufgefangen und per Endocytose ins Zellinnere gelangen (Hammes et al. 2005). Ob dies für alle Steroidhormone zutrifft, muss weitere Forschung herausfinden. 11.7.2 Thyroxin und Steroidhormone binden an Rezeptoren, die zur gleichen Proteinfamilie gehören und eine DNA-Bindungsdomäne haben Als für Steroidhormone ein einheitlicher, intrazellulärer Wirkungsmechanismus gefunden wurde, erstaunte dies nicht. Schon die Entdecker des Ecdysons hatten im Mikroskop gesehen, wie an den Riesenchromosomen von Drosophila und von anderen Dipteren (Zweiflügler: Fliegen, Mücken, Schnaken) unter der Einwirkung von Ecdyson als Ausdruck einer Genaktivierung „puffs“ auftraten. Die gegenwärtige Molekularbiologie hat jedoch gefunden, dass auch Thyroxin, Vitamin D3 und Vitamin-A-Säure (Retinsäure) sich desselben Typs von Rezeptoren bedienen. Sie gehören allesamt zur ste-
11.7 Genregulatorische und andere Funktionen der Steroidhormone und von Thyroxin
roid hormone superfamily. Alle diese biologischen Wirksubstanzen, die ihre ganz große Starrolle in der Embryonalentwicklung spielen dürfen, binden an intrazelluläre Rezeptoren, die alsdann zu genregulatorischen Transskriptionsfaktoren werden. Die Rezeptoren liegen im Cytosol bereit, inaktiviert durch gebundenes „Hitzeschockprotein“ Hsp90 (Abb. 11.24). Hsp90 kann gegen ein Hormon als Liganden ausgetauscht werden. Haben die Rezeptoren einen hormonalen Liganden gefunden, werden sie in den Kernraum eingelassen. Hier suchen sie mit ihrer DNA-Bindungsdomäne die Promotor- bzw. Enhancer-Region der Gene auf, die unter ihrer Herrschaft
stehen. Die exakte Binderegion an der DNA heißt hormone-responsive element HRE. Am HRE bilden je zwei Rezeptoren ein Dimer, dabei kann der eine Partner beispielsweise Thyroxin, der andere Cortisol enthalten. In diesem Fall würde also das Gen nur eingeschaltet, wenn beide Hormone, Thyroxin und Cortisol, gemeinsam die Zielzelle erreichen. Man kann sich vorstellen, dass durch solche Kombinatorik die Regulierbarkeit von Genen recht vielfältig und von Zelle zu Zelle verschieden sein kann. Es kommt hinzu, dass an die Rezeptor-Dimere weitere Transkriptionsfaktoren ankoppeln können, die die Aktivität des Komplexes erhöhen oder herabsetzen.
Steroidhormon
Thyroxin
Vitamin D3
?
Retinsäure (retinoic acid RA)
?
CRAP
Nucleärer Rezeptor (graphisch) entfaltet
C C
C
C
Hsp 90
C Ligandenbindung
C
C
C Dimerisation
Austausch Nucleäre Rezeptoren gefaltet
Abb. 11.24. Hormonal induzierte Genaktivierung. Über Rezeptoren, die der Steroidhormon-Rezeptor-Familie angehören. Die Liganden-beladenen Rezeptoren werden zu Transkriptionsfaktoren und bilden an den Steuerregionen (Enhancer, Promotoren) der von ihnen kontrollierten Gene Homodimere oder Heterodimere
AGGTCA
AGGTCA
Hormone responsive element HRE
297
298
11 Hormonale Steuerung
11.7.3 Nicht alle Wirkungen der Steroidhormone basieren auf Genaktivierung; viele wirken auch über Membranrezeptoren und rasche Signaltransduktionssysteme Manche Hormonwirkungen sind so rasch, dass für vorausgehende Genaktivierung gar keine Zeit ist. In die Membran eindringendes Aldosteron beispielsweise nimmt auf den Wassertransport in den Nierenkanälchen direkten Einfluss. Es dringt in die Membranen der Zellen, die den Harnsammelkanal aufbauen, ein, schwimmt an Membrankanäle heran,
dockt an und beeinflusst ihren Öffnungszustand. Andere Steroidhormone wirken über membranständige Rezeptoren. Im Jahr 2008 kann man kaum noch ein Steroidhormon nennen, von dem neben langsamen, genregulatorischen Wirkungen nicht auch schnelle, von Membranrezeptoren vermittelte Wirkungen bekannt geworden sind (s. Literatur „Neues zur molekularen Wirkung der Hormone“). Damit sind wir bei einer Art Signaltransduktion angekommen. Achtung! Das Thema Hormonsystem ist damit noch nicht zu Ende. Auch die Kap. 12 und 13 gehören dazu!
Zusammenfassung des Kapitels 11 Definitionen, Begriffe: Hormone (endokrine Substanzen) sind Signalsubstanzen, die über den Kreislauf – dem Rundfunk vergleichbar – im ganzen Organismus verbreitet werden oder sich doch in größeren Bezirken ausbreiten und zahlreiche Zellen erreichen können, sofern diese Rezeptoren zum Empfang der Signale besitzen. Die Reaktionen der Zellen sind jedoch vorprogrammiert, weshalb verschiedene Zelltypen auf ein und dasselbe hormonale Signal verschieden reagieren können. Nach der Quelle eines Hormons, dem Signalweg, seiner Reichweite und den Empfängern unterscheidet man: ●
Endokrine Steuerung mittels klassischer „glandulärer“ Hormone, die von speziellen Hormondrüsen erzeugt und über den Kreislauf global an zahlreiche Empfänger verteilt werden;
Aglanduläre „Gewebs“ hormone (Cytokine, Mediatoren); sie werden von verstreuten Zellen erzeugt und erreichen – als endokrine Signale über den Kreislauf ebenfalls viele Empfänger, – als parakrine Signale nur ihre Nachbarschaft, oder wirken – als autokrine Signale auf die hormonbildende Zelle selbst zurück. Oftmals sind die Quellen aglandulärer Hormone neuroendokrine Zellen, also Nervenzellen.
●
●
Neuroendokrine Steuerung über Neurohormone. Nervenzellen (neurosekretorische Zellen)
geben an ihren terminalen Synapsen Neuropeptide oder Transmitter-ähnliche Substanzen in Zellzwischenräume und Blutkapillaren ab. Lässt sich der Ort der Freisetzung als Organ eingrenzen, spricht man von Neurohämalorgan (z. B. Neurohypophyse, Corpora allata der Insekten). ●
Glandotrop sind Hormone, welche die Aktivität anderer Hormondrüsen steuern.
●
Gonadotrop sind glandotrope Hormone, die speziell die Gonaden beeinflussen.
In aller Regel wirken Hormone im Sinne eines negativen feedback auf ihre Quelle zurück und begrenzen so Signalstärke und Signaldauer. Organisation des Hormonsystems. Hormonsysteme sind generell hierarchisch gegliedert und unterstehen dem Nervensystem. So steuert im Wirbeltier der (1) Hypothalamus des Diencephalon über seine Neurohormone die (2) Adenohypophyse, die ihrerseits als Hormondrüse I. Ordnung über ihre glandotropen Hormone mehrere (3) Hormondrüsen II. Ordnung wie Schilddrüse, Nebennierenrinde und Gonaden ansteuert. Eine parallele hierarchische Gliederung ist im Insekt (und wohl in allen Tieren) verwirklicht. Chemische Natur. Man findet folgende Klassen: ●
Proteine/Peptide: Neurohormone des Hypothalamus (inklusive Oxytocin, Vasopressin = ADH), alle Hormone der Hypophyse (z. B. Wachstumshormon, Prolactin, ACTH, FSH, LH), der Nebenschilddrüse (Calcitonin, Parathyrin), der Langerhans’schen Inseln im Pankreas (Insulin,
Zusammenfassung des Kapitels 11
les Verhalten – auch beim Mann) und Adiuretisches Hormon ADH = Vasopressin: Wasserrückresorption in der Niere.
Glukagon) und des Magen-Darmtraktes. Diese Hormone werden in der Regel enzymatisch aus größeren Prohormonen herausgeschnitten. ●
Steroide: Hormone der Nebennierenrinde (Cortisol, Aldosteron), Sexualhormone der Gonaden (ƃTestosteron, Ƃ Östradiol, Progesteron). Ecdyson der Arthropoden. Den Steroiden in Struktur und Wirkung ähnlich: Vitamin D3, speziell 1,25Dihydroxy-Vitamin D3 (= 1,25D = Calcitriol)
●
Aminosäuren-Derivate: Von Tyrosin abgeleitet: Adrenalin des Nebennierenmarks, Thyroxin der Schilddrüse; von Tryptophan abgeleitet: Melatonin der Epiphyse.
●
Arachidonsäure-Derivate: Prostaglandine, Leukotriene u. a. „Gewebshormone“,
●
Sonstige: Juvenilhormon der Insekten, ein Terpenoid; Stickstoffmonoxid NO
Rezeptoren, Signaltransduktion. Die molekularen Rezeptoren für Hormone der Protein/Peptid- und der Aminosäure-Klasse sind durchweg membranständig. Ihnen ist eine Signaltransduktionskaskade angeschlossen; Glukagon beispielsweise wirkt über ein cAMP-PKA-System, Wachstumshormon über ein PI-PKC-System, die Insulin-Rezeptoren gehören zur Klasse der Tyrosinkinasen. Für Steroidhormone und Thyroxin sind cytoplasmatische Rezeptoren bekannt, die Ligand-beladen zu nukleären Transkriptionsfaktoren werden. Für viele Steroidhormone sind außer langsamen genregulatorischen Wirkungen über Kern-Rezeptoren auch schnelle Wirkungen bekannt geworden, die über membranständige Rezeptoren eingeleitet und von Signaltransduktionskaskaden vermittelt werden.
●
Neurohormone der Hypophyse zur Steuerung der Adenohypophyse: Releasing-Hormone wie Gonadoliberin GnRH, Inhibine
●
Hormone der Adenohypophyse: – Wachstumshormon GH, – Somatostatin: Wachstumsstopp, – Prolactin: Milchdrüsenwachstum, Umsorgen des Nachwuchses bei Ƃ und ƃ; – vom POMC-Gen codiert: Endorphine, MSH, Adrenocorticotropes Hormon ACTH, mittels dessen die Nebennierenrinde angesteuert wird; – TSH (Thyreotropin) zur Kontrolle der Schilddrüse, – Gonadotropine: Follikel-stimulierendes Hormon FSH (Follitropin) und luteinisierendes Hormon LH zur Steuerung von Ovar und Hoden, die ihrerseits Sexualhormone liefern.
Hormone der sekundären Hormondrüsen 1. Bereich Stoffwechsel, Energiehaushalt ●
Schilddrüse (Thyreoidea): Jodhaltiges Thyroxin (T3; T4): Intensivierung des Energiestoffwechsels, Wachstum, Metamorphose der Amphibien, Mauser der Vögel
●
Pankreas-Langerhans’sche Inseln − β-Zellen: Insulin: Glucose-Aufnahme aus Blut durch Verbraucher (z. B. Muskeln) und Speicherzellen (Hepatocyten, Adipocyten); dadurch Senkung des Blutzuckerspiegels − α-Zellen: Glucagon: Glucose- und Fettsäurenfreisetzung aus den Speichern; dadurch Anstieg des Blutzuckerspiegels; Stimulierung der Gluconeogenese − Diabetes mellitus bei Insulinmangel (Diabetes Typ I) oder mangelhafter Reaktion auf Insulin (Diabetes Typ II).
●
Leber: Somatomedine mit Insulin-like Growth Factor: Blutzuckersenkende und wachstumfördernde Wirkungen
●
Adipocyten: Leptin: Stopp des Fetteinbaus
Stichworte zu den Hormonen des Hypothalamus und der Hypophyse ●
Hypothalmus: Im ZNS selbst wirkende Neurohormone: Endorphine (Opioide): β-Endorphine, Enkephaline, Dynorphine.
●
Neurohormone des Hypothalamus, welche über die Neurohypophyse in die Blutbahn freigesetzt werden: Zwei chemisch sehr ähnliche Hormone mit gänzlich unterschiedlichen Funktionen: Oxytocin (Auslösung von Wehen, Milchsekretion, Mutter-Kind-Bindung, sozia-
299
300
11 Hormonale Steuerung
●
Magen-Darmtrakt und Hypothalamus ZNS, Regelung der Nahrungszufuhr über Hungerund Sättigungszentrum des Hypothalamus: Appetitanreger: Ghrelin, Melanin-concentrating hormone MCH, Neuropeptid NPY Appetitzügler: diverse Gewebs- und Neurohormone, u. a. Melanocyten stimulierende Hormone MSH = Melanocortin.
●
Hoden: Testosteron: Entwicklung zu ƃ; ƃVerhaltensprädisposition
●
Ovar: Östradiol und Progesteron: Entwicklung zu Ƃ, Steuerung des Menstruationszyklus (Abb. 11.17 u. 11.18).
●
Embryo, Plazenta: Bildung von Human chorionic gonadotropine HCG und Human Placental Lactogen HPL, Östradiol und Progesteron: Halten Schwangerschaft aufrecht, stoppen weitere Ovulation. Pille imitiert dies.
●
Mutter bei und nach der Geburt: Prolactin der Adenohypophyse stimuliert Wachstum der Milchdrüsen, Oxytocin der Neurohypophyse löst Wehen aus und stimuliert Sekretion der Milch.
2. Stress, Blutdruck, Wirkungen auf Blutfunk-tionen ●
Nebennierenmark: Adrenalin: Alarm, Leistungsbereitschaft, Unterstützung des Sympathicus, Blutdrucksteigerung, Mobilisierung von Glucose
●
Nebennierenrinde: Cortisol, Cortison (= Glucocorticoide): Morgendliche Vorbereitung auf den Tag, Stressbewältigung, Stimulierung der Gluconeogenese; Unterdrückung von Entzündungen und Immunreaktionen
●
Niere: Start des Renin-Angiotensin-Systems: Blutdrucksteigerung, Erythropoetin: Vermehrte Bildung von Erythrocyten
3. Ionen- und Wasserhaushalt: ●
Neurohypophyse: Antidiuretisches Hormon ADH (Vasopressin): Wasserrückführung aus Primärharn ins Blut in der Niere
●
Nebennierenrinde: Aldosteron (= Mineralocorticoid): Regelung von Wasser- und Ionenhaushalt über die Niere
●
Nebenschilddrüsen (Parathyreoidea): Parathyrin PTH: Ca2+ ins Blut
●
C-Zellen (= Ultimobranchialkörper) der Schilddrüse: Calcitonin: Ca2+ in Knochen
●
Haut, Leber, Niere: Vitamin D3 Ca2+-Aufnahme im Darm
4. Sexualentwicklung, Menstruationszyklus, Schwangerschaft, Geburt ●
Hypophyse. Gonadotropine FSH und LH steuern Produktion und Freigabe von Sexualhormonen in der Pubertät von Ƃ und ƃ; und im Ƃ Menstruationscyclus
Xenöstrogene, in das Hormonsystem eingreifende Fremdsubstanzen, können Sexualentwicklung vieler Tiere und des Menschen stören. 5. Hormonale Kontrolle der Metamorphose bei Amphibien und Insekten
Amphib. Prolactin verhindert vorzeitige Metamorphose (umstritten); Thyroxin treibt Metamorphose voran. Insekt. Juvenilhormon verhindert vorzeitige Metamorphose; Ecdyson treibt sie voran. Weiter an der Steuerung beteiligt: Eclosionshormon, Ecdysis-triggering Hormon, Bursicon. Pflanzen wehren sich gegen Insektenfraß durch sekundäre Pflanzenstoffe, die störend in die hormonale Regulation eingreifen (z. B. durch Juvenilhormon-Analoga). Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die genregulatorischen Wirkungen der Steroidhormone einschließlich des Ecdysons der Insekten, sowie von Thyroxin und weiteren Signalsubstanzen wie Retinsäure durch zytoplasmatisch/nukleäre Rezeptoren der gleichen Zinkfinger-Proteinfamilie vermittelt werden (Abb. 11.24). Es wird andererseits darauf hingewiesen, dass manche schnelle Wirkungen der Steroidhormone über membranständige Rezeptoren ausgelöst werden. Weiteres zu Signaltransduktion folgt im Kap. 12; weitere Hormone kommen im Kap. 13 zur Sprache.
12 Signaltransduktion und Signalpropagation
12.1 Signaltransduktion: Die Umcodierung einer externen Botschaft in zellinterne Signale Zu den Grundeigenschaften des Lebens gehört die „Reizbarkeit“, das heißt die Fähigkeit, externe Signale aufzunehmen und zweckgerichtet auf sie zu reagieren. Die Mehrzahl der Signale, auf die Zellen mit spezifischen Antworten reagieren, werden chemisch durch Botenstoffe vermittelt. Auch zur Nachrichtenübermittlung im Körper selbst und bei der Kommunikation zwischen benachbarten Zellen und Gewebsprovinzen werden zahlreiche chemische Signale ausgesandt und empfangen. Ob eine Signalsubstanz Hormon, Neurotransmitter, Wachstumsfaktor, Induktionssubstanz oder sonstwie benannt wird, ist unerheblich: Stets muss das Signal, der primäre Botenstoff (messenger), mittels eines molekularen Rezeptors (Abb. 12.1) aufgefangen werden. Alsdann muss das Zellinnere benachrichtigt werden. 12.1.1 Signaltransduktion ist die Weiterleitung einer Botschaft über die Zellmembran hinweg ins Zellinnere Während Signaltransmission die Weitergabe einer Botschaft an benachbarte Zellen ist, im typischen Fall über neuronale Leitungen und Synapsen, ist Signaltransduktion die Weitergabe eines Signals über eine Zellmembran hinweg ins Zellinnere. Bei dieser Weiterleitung wird das Signal in einen oder in mehrere Botenstoffe (second messenger) umcodiert, dabei verstärkt und zu verschiedenen intrazellulären Zielen geleitet. Da oftmals ein und dieselbe Zelle auf verschiedene Signale ansprechen muss, und je nach Signal unterschiedlich reagieren sollte, gibt es in jeder Zelle mehrere Transduktionssysteme. Diese sind inner-
halb der Zelle miteinander vernetzt, sodass ein großes Spektrum an Reaktionsmöglichkeiten eröffnet wird. In diesem einführenden Buch müssen wir uns auf Systeme beschränken, die in der Forschung das meiste Interesse gefunden haben. Sie werden vereinfacht wiedergegeben. 12.1.2 Bei der intrazellulären Verstärkung und Verteilung der Botschaft und ihrer Beantwortung spielen Protein-Kinasen eine zentrale Rolle Bei allen Transduktionssystemen, so unterschiedlich sie auch sonst sein mögen, spielen Protein-Kinasen eine zentrale Rolle. Eine Kinase ist definitionsgemäß ein Enzym, das Phosphat von ATP abkoppelt und auf eine andere Substanz („Substrat“) überträgt. Durch das Anheften von Phosphat wird das Substrat phosphoryliert (Abb. 12.2). Protein-Kinasen (PK’s) sind Enzyme, die Phosphat an Proteine ankoppeln. Das geht freilich nicht an beliebigen Stellen. Als Andockstellen kommen drei Aminosäuren in Betracht, die eine Hydroxygruppe (-OH) tragen: Tyrosin (Tyr), Serin (Ser) und Threonin (Thr). Funktionell gliedern sich die Kinasen in zwei Hauptgruppen: die einen suchen sich irgendwelche Tyr als Opfer aus, die anderen sind auf Ser und Thr spezialisiert. Dabei werden aber keineswegs alle im Protein vorkommenden Tyr, Ser oder Thr mit Phosphat beladen. Jede Kinase sucht sich bestimmte Positionen aus. Sowohl PKA (Abb. 12.3) als auch PKC (Abb. 12.4) phosphorylieren an Ser und Thr, doch sucht sich jede Kinase Akzeptoren an anderen Stellen des Proteins aus. Welche Konsequenz hat eine Phosphorylierung? Primär hat das Ankoppeln von Phosphat zwei Konsequenzen: ●
Konformationsänderung: die räumliche Struktur des Proteins verändert sich;
302
12 Signaltransduktion und Signalpropagation
Insulin IGF
7-Transmembran-Rezeptoren (Serpentine) mit G-Proteinen gekoppelt
α
α S-S
β
Wachstumshormon (Somatotropin) Prolactin Erythropoietin
S-S
S-S
β
P P P P P P Tyrosin-Kinasen
P
P P P
P P
Janus-Kinasen
Licht
Rhodopsin
NeuropeptidHormone Geruchsrezeptoren
verschiedene Transduktionssysteme
Glucagon
Adrenalin-ß-Rez. Ca2+-Kanal
cAMP-PKASystem
cAMP-PKASystem
Abb. 12.1. Rezeptortypen. Auswahl. Auch Kanäle können Rezeptoren sein (Liganden-gesteuerte Kanäle) ●
elektrische Aufladung: das Protein erhält eine zusätzliche, stark negative Ladung.
Die sekundären Konsequenzen sind: ●
Enzyme werden aktiviert oder blockiert,
●
Ionenkanäle werden geöffnet oder geschlossen,
●
Proteine, z. B. des Cytoskeletts, können mit anderen aggregieren oder sie lösen sich voneinander,
●
Transkriptionsfaktoren können an die Promotoren von Genen anheften oder sie lösen sich von der DNA.
Phosphorylierung ist eine häufige Form einer posttranslationalen Modifikation. Mit „posttranslational“ ist gemeint, dass ein Protein nach seiner Herstellung am Ribosom nachträglich mit Hilfe von Enzymen verändert wird. Es gibt noch andere posttranslationale Veränderungen. Solchen Proteinen, die nach außen abgegeben werden oder in der Zellmembran stecken, dabei aber mit einer extrazellulären Domäne in die Außenwelt ragen, wie dies membranständige Rezeptoren tun, werden oft Zucker aufgepropft (Glykosylierung) oder es werden Fettsäuren angehängt (Myristylierung u. a.), die es möglich machen, Proteine (vorübergehend) in Membranen zu verankern.
12.2 Wichtige Transduktionssysteme
12.2.1 Das cAMP-PKA System ist das am längsten bekannte und es ist eines, bei dem die vielgenannten G-Proteine involviert sind
NH2 CH2
HO
CH C
Tyrosin O
N HO
ATP
C
C
CH3
C
ADP
O
O
P
C
O
Serinphosphat
C C
O
Phosphorylierung N P
O
C P
P
P
Tyr
P
Ser
●
Glucagon,
●
Adrenalin, sofern es von α2- oder β-Rezeptoren aufgefangen wird,
●
die gonadotropen Hormone FSH und LH,
●
Prolactin (hier ist allerdings oftmals das PI-PKCSystem involviert).
N
O O
Threonin
Das cAMP-PKA-System (Abb. 12.3), einstmals von Sutherland am Beispiel der Glucagon-Wirkung entdeckt, ist in der Zielzelle zuständig für
C
Serinphosphat
Ser
Thr
Abb. 12.2. Proteinkinasen: Phosphorylierung von Aminosäuren in einem Modellpeptid. Phosphatgruppe einmal detailliert, fünfmal, wie üblich, abgekürzt als eingekreistes P angezeigt
12.2 Wichtige Transduktionssysteme Wenn im Folgenden verschiedenen Hormonen oder Transmittern nicht nur eines, sondern zwei oder mehr verschiedene Transduktionssystemen zugeordnet werden, so deshalb, weil die Angaben in der Literatur unterschiedlich sind. Und die Angaben dürften oftmals deshalb unterschiedlich sein, weil unterschiedliche Zielzellen untersucht worden sind. Oder es geht um unterschiedliche Funktionen, z. B. Zellteilung oder Zelldifferenzierung, Synthese eines Hormons oder dessen Freisetzung. In diesem äußerst komplexen Geschehen ist auch vieles noch unklar.
Der Ligand (das Signalmolekül) bindet an den Rezeptor. Dieser ist im Regelfall ein Serpentin-Protein, das siebenmal die Membran durchspannt (hepta-helikaler Rezeptor). Hat der Rezeptor ein Signalmolekül als „Liganden“ eingefangen, betätigt er einen Schalter: er aktiviert ein aus drei Komponenten zusammengesetztes (trimeres) G-Protein. Dieses wiederum (genauer eine Untereinheit dieses G-Proteins) schaltet eine benachbarte Adenylatcyclase ein. Diese erzeugt nun aus ATP cyclisches Adenosinmonophophat cAMP, und dieses cAMP ist der zweite Botenstoff (second messenger), der in die Zelle abdiffundiert. Primärer Botenstoff ( first messenger) war das externe Signal gewesen. Der zweite Bote findet beim Umherschweifen im Cytosol der Zelle einen Kinasekomplex vor, dessen Hände noch gebunden sind. Die Kinase liegt im Komplex als Dimer vor, d. h. in doppelter Ausführung. Der Bote cAMP befreit die Kinase-Zwillinge. cAMP bindet an die regulatorische Untereinheit des Gesamtkomplexes, die alsdann abgesprengt wird. Die zwei katalytischen Untereinheiten werden als Proteinkinase A, PKA, frei (Abb. 12.3). PKA phosphoryliert zahlreiche Substrate, aktiviert Enzyme, verändert vielleicht den Öffnungszustand von Ionenkanälen, phosphoryliert Transkriptionsfaktoren, die alsdann an Steuerelemente der DNA (CREB-Elemente in diesem Fall) anheften. Was im Einzelnen geschieht, ist von Zelltyp zu Zelltyp verschieden. In der Leberzelle, die durch die Hormone Glucagon oder Adrenalin stimuliert wird, werden all jene Enzyme aktiviert, die benötigt
303
304
12 Signaltransduktion und Signalpropagation
Das cAMP System Inhibierendes Signal
Stimulierendes Signal
Gi
GS Rezeptor
G-Protein
AC G i schaltet Adenylatcyclase ab
GS schaltet Adenylatcyclase AC ein
cAMP
ATP
cAMP
NH2
Adenin
inaktive PKA
N N N
N 5ƍ CH2
O O P
regulatorische Untereinheit
O
3ƍ
Ribose
O OH O cyclischer Phosphat-Diester Cycl. Adenosin-Monophosphat
PKA
PKA
katalytische Untereinheit = aktive Protein Kinase A PKA
Phosphoryliert Zelltyp-abhängig zahlreiche Proteine an Ser und Thr (Enzyme, Ionenkanäle, Translokatoren, Cytoskelett, Transkriptionsfaktoren)
Abb. 12.3. Das cAMP-PKA Signaltransduktions-System. Second messenger ist cAMP, das an die regulatorische Untereinheit der noch inaktiven Proteinkinase A bindet, woraufhin die katalytische PKA-Einheit frei und aktiv wird
Abb. 12.4. Das PI-PKC Signaltransduktionssystem. Nach dem Empfang des externen Signals, z. B. des Wachstumshormons Somatotropin, wird das Membran-Lipid PIP2 in die second messenger IP3 und DAG gespalten. IP3 setzt seinerseits den im ER gespeicherten third messenger Ca2+ frei. Die parallele Freisetzung von DAG aus Phosphatidylcholin ist der Übersichtlichkeit willen
nicht eingezeichnet. Aus DAG wird oft am Ende Arachidonsäure freigesetzt, die enzymatisch in eine Vielzahl von Eicosanoiden umgewandelt werden kann. Arachidonsäure und ihre Derivate fungieren als weitere intrazelluläre second messenger oder werden als parakrine Hormone aus der Zelle ausgeschleust. Ein PIPKC-System kann auch in der Kernmembran gefunden werden
12.2 Wichtige Transduktionssysteme
Diacylglycerol DAG O
Phosphatidylinositolbisphosphat
PIP2
O
O O O
O
O O
O
OH
Arachidonsäure OH OH OH OH OH
OH
OH
Eicosanoide: Prostaglandine Leukotriene u.a.
Inositoltrisphosphat IP3
Wachstumshormon Adiuretin / Vasopressin Angiotensin II Acetylcholin (an Synapsen zu glatten Muskelzellen)
PIP2
ß PIP2
α
γ
DAG PLC
G-Protein
PKC
Phospholipase C
Protein-Kinase C ATP ADP
IP3 Ca2+
IP3
Phosphoryliert zahlreiche Substrate an Ser und Thr (Ionenkanäle, Cytoskelett, andere Kinasen, Transkriptionsfaktoren)
Wird auch an Kernmembran gefunden Endoplasmatisches Reticulum mit Calcium-Ionen
305
306
12 Signaltransduktion und Signalpropagation
werden, um aus dem Energiespeicher Glykogen die Glucose freizusetzen und als Blutzucker in den Kreislauf zu schleusen. Die Anfangswege bis zur Aktivierung der PKA sind in allen Zellen, die mit dem cAMP-System operieren, weitgehend gleich. Dieser Anfangsteil der Transduktionskaskade enthält bereits einen Mechanismus der Verstärkung. Wird auch nur ein Signalmolekül eingefangen, kann der aktivierte Rezeptor viele (einige Hundert) G-Proteine aktivieren. Jedes stimulierte G-Protein kann mehrere Adenylatcyclasen aktivieren, und jede aktivierte Adenylatcyclase synthetisiert wiederum viele cAMP-Moleküle. Jedes einzelne Molekül in dieser Reihe vervielfacht so lawinenartig die Zahl der definitiven Signalmoleküle – man spricht von einer Signaltransduktionskaskade, bei der ein einziges Hormonmolekül letztlich die Synthese von Hunderttausenden von cAMP-Molekülen bewirken kann. Eine zusätzliche Verstärkung kann PKA leisten; denn als katalytisch wirksames Enzym wird es bei seiner Arbeit nicht aufgebraucht. PKA kann seinerseits durch Phosphorylierung weitere Kinasen veranlassen, aktiv zu werden. Aus dem externen Signal wird ein internes Signalfeuerwerk, an dem sich schließlich auch noch Calcium-Ionen beteiligen können. Vielfach kommt es zu CalciumOszillationen, indem Calcium über Calciumkanäle der Zellmembran oder des Endoplasmatischen Reticulums in rhythmischen Schüben ins Zellinnere einströmt. Dieses Aufflackern der intrazellulären Calciumsignale zeigt, dass die Zelle erregt (stimuliert) ist.
12.2.2 Das PI-PKC-System ist komplexer und noch flexibler Das PI-PKC-System (Abb. 12.4) ist zuständig z. B. für ●
das Wachstumshormon und Prolactin (bei verschiedenen Zelltypen, die zur Teilung und Vermehrung angeregt werden),
●
Adiuretin (ADH, Vasopressin),
●
TSH-releasing Hormon,
●
Adrenalin, wenn α1-Rezeptoren betroffen sind,
●
Acetylcholin an der „muscarinischen“ Synapse (die man beispielsweise an glatten Muskelfasern findet),
●
Stimulation von Immunzellen durch Antigene,
●
speziell Stimulation der T-Zellen,
●
Stimulation der Blutplättchen durch Thrombin,
●
Aktivierung einer Eizelle bei der Befruchtung.
Der Ligand bindet an den Rezeptor. Wieder wird der G-Proteinschalter betätigt, doch nun ist es nicht eine Adenylatcyclase, sondern eine Phospholipase C (PLC), die über die Ankunft eines externen Signals instruiert wird. Die PLC sucht ihr Substrat unter den Phospholipiden der Zellmembran. Dort findet sie die gesuchte seltene Spezies mit dem schier unaussprechlichen Namen Phosphatidylinositolbisphosphat. Wir kürzen ab zu PIP2. Angeschubst vom G-Protein, spaltet die PLC das PIP2 in zwei Komponenten, die beide als second messenger gelten: 1. Inositoltrisphosphat IP3. Inositol ist ein ringförmiger Polyalkohol (und kein Zucker!) mit sechs Hydroxy(-OH)-Gruppen. An dreien der (ursprünglichen) Hydroxygruppen hängt Phosphat. Wenn das kein hydrophiles Molekül ist! – und elektrisch negativ geladen ist es dazu. IP3 diffundiert blitzartig in der Zelle herum und findet Rezeptoren, die auf dem Endoplasmatischen Reticulum schon auf IP3 warten. Der Rezeptor ist zugleich Calciumkanal. Bindung von IP3 – der Kanal springt auf, und Calcium-Ionen strömen aus dem ER ins Cytosol. Sinnreiche Regelmechanismen (positive und negative Rückkoppelungen) sorgen dafür, dass es ähnlich wie in den cAMP stimulierten Zellen zu Oszillationen im cytosolischen Calciumspiegel kommt. 2. Diacylglycerol (DAG; Diacyl = zwei Fettsäuren; an Glycerol esterartig gebunden). DAG verbleibt in der Membran. Weiteres DAG kann einige Sekunden oder Minuten später aus einer anderen Quelle, dem Phosphatidylcholin PC freigesetzt werden (mittels anderer Phospholipasen). DAG wird von einer latenten Proteinkinase – Proteinkinase C (PKC) – erspäht und aufgesucht. Die Kinase dockt an die Membran an und wird in Nachbarschaft zum DAG zur aktiven PKC. (Dabei hilft bei manchen PKC-
12.2 Wichtige Transduktionssysteme
Formen auch Calcium, das vom IP3 aus dem ER freigesetzt worden ist.)
Auch die PKC (von der beim Säuger 11 Isoformen bekannt sind) kennt viele Substrate, phosphoryliert Ionenkanäle, macht sich am Cytoskelett zu schaffen, phosphoryliert Transkriptionsfaktoren. Ein PI-PKC-System gibt es auch in der Kernmembran. Zellforscher diskutieren viele Hypothesen, was dieses System dort soll.
Eine Aktivierung der PKC kann auch auf anderem Weg erreicht werden, so beispielsweise über den nachfolgend vorgestellten Insulinrezeptor. 12.2.3 Der Insulinrezeptor ist das Paradebeispiel für einen Transmembran-Tyrosinkinase Rezeptor Transmembran-Kinasen (Abb. 12.5), speziell Transmembran-Tyrosinkinasen, sind zuständig z. B. für
Insulin Insulin-like growth factors IGF
Insulin
Wachstum
Metabolische Wirkungen
α
α Glucose S-S
PIP2 = Phosphatidylinositol-diphosphat DAG
PKC
P PI3-Kinase P P P P IRS
P P
IP3
ras-MAP-Kinasen STAT-Proteine
P
P P
P
PKB (Akt)
P
Vermehrter Einbau von GLUT-4 Glucose
P Calciumrelease
Glucosetransporter GLUT-4
PIP3
PIP2
PLC P γ P
P
P
P
PIP3 = Phosphatidylinositol-triphosphat
β
S-S
PIP2
DAG P
β
S-S
IRS
GlykogenSynthase
P
Insulin-RezeptorSubstrate
Glykogen
Zellteilung Wachstum
Endoplasmatisches Reticulum Vesikel mit Glucose-Transporter GLUT-4 Abb. 12.5. Der Insulinrezeptor als Beispiel eines Transmembran-Tyrosin-Kinase Rezeptors. Er besteht aus vier Untereinheiten, zwei α- und zwei β-Untereinheiten. Nach Bindung von Insulin phosphorylieren sich die zwei β-Untereinheiten wechselseitig. Die Ereignisse im Zellinneren sind im Einzelnen von Zelltyp zu Zelltyp verschieden. Rechts: In Leber-, Fett- und
Muskelzellen wird u. a. ein Glucosetransporter GLUT-4 in der Zellmembran aktiviert, und es werden mittels Vesikel, die vom ER geliefert werden, weitere GLUT-4 in die Zellmembran eingebaut. Links: In anderen Zellen wird das PI-PKC-System aktiviert. Dies kann Zellteilung auslösen und damit Wachstum fördern
307
308
12 Signaltransduktion und Signalpropagation ●
Insulin,
●
viele „Wachstumsfaktoren“ wie Insulin-like growth factor IGF (= Somatomedine) und Epidermal growth factor EGF.
Der Ligand bindet an den dimeren Rezeptor. Der ragt durch die Membran hindurch und hat auf seinem intrazellulären Teil eine Domäne mit eigener Tyrosinkinasefunktion. Der Rezeptor braucht sich keinen Partner zu suchen, er hat ihn schon: seinen Zwillingsbruder. Die beiden aneinanderhängenden Tyrosinkinasen des Rezeptor-Dimers phosphorylieren sich wechselseitig (Autophosphorylierung). Nun wird es unübersichtlich. An die phosphorylierten Tyrosinkinasen hängen sich allerlei Proteine dran; in dieser Zelle diese, in jener Zelle jene. Gegenwärtig richtet sich die Aufmerksamkeit der Biochemiker und Physiologen auf zwei Signalwege: ●
●
Ein Weg führt zu der bekanntesten Insulinwirkung (Abb. 12.5). Es kommt am Ende zum vermehrten Einstrom von Glucose in die Zelle. Vermittelt wird die Wirkung durch eine PI-3 Kinase (Phosphatidyl-inositol-3-Kinase), welche aus PIP2 (Phosphatidyl-inositol-bisphosphat) PIP3 (Phosphatidyl-inositol-trisphosphat) macht. An dieses Schlüsselelement schließen sich mehrere verzweigte Signalkaskaden an. Über diese ausgelöst werden Vesikel mit Glucosetransportern des Typs GLUT-4 aus dem ER-Golgi-Komplex rekrutiert, die GLUT-4 Transporter werden in die Zellmembran eingebaut und geöffnet. Glucose strömt leichter in die Zelle ein, und als Folge sinkt der Blutzuckerspiegel. Insulin ist jedoch nicht bloß ein „Blutzucker-senkendes Hormon“. Die Insulin-adressierten Zellen holen auch Aminosäuren herein. Ein anderer Weg führt vom Rezeptor über eine Phospholipase Cγ. Enthält dann die Zelle noch PIP2 und PKC, kann über Insulin auf anderem als dem bekannten klassischen Weg (wie er in Abb. 12.4 gezeigt wird) auch das PI-PKC-System eingeschaltet werden: Insulin → Rezeptor → PLCγ → DAG + IP3. Mutmaßlich wird dieser Weg aktiviert, wenn Insulin die Rolle eines Wachstumsfaktors einnimmt. Im Embryo lässt sich Insulin schon nachweisen bevor das Pank-
reas mit den Langerhans’schen Inseln entwickelt ist. Insulin-ähnliche Wachstumsfaktoren begleiten und fördern das Wachstum auch noch nach der Geburt.
Es gibt außer Transmembran-Tyrosinkinasen auch Transmembran-Serin/Threonin Kinasen, die für andere, ebenfalls der Steuerung des Wachstums und der Differenzierung dienende „Wachstumsfaktoren“ zuständig sind. Beispiel: Transforming growth Factor TGF-β, ein Faktor, der einige Tumore zum Wachsen bringt. Eine Übersicht über dieses und weitere Signaltransduktionssysteme findet sich in Müller u. Hassel (2006) Entwicklungsbiologie, 4. Aufl.
12.2.4 Calcium-Ionen als intrazelluläre Messenger und Auslöser wellenförmiger Lichtemissionen Ob cAMP-System, ob PI-PKC-System oder Transmembrankinasen, fast immer ist auch Calcium im Spiel. Die cytosolische Calciumkonzentration in der nicht-stimulierten Zelle ist sehr gering (10−7 M oder darunter). Calcium kann ins Cytosol schlagartig über plötzlich geöffnete Kanäle der äußeren Membran eindringen oder aus intrazellulären Speichern freigesetzt werden. Ein solcher intrazellulärer Speicher ist das Endoplasmatische Reticulum (ER). Es gibt mindestens vier Möglichkeiten, wie Calcium-Kanäle geöffnet werden können: ●
durch Phosphorylierung der Kanäle,
●
Freisetzung mittels IP3, das Kanäle des ER öffnet, wie in Abb. 12.4 gezeigt,
●
Öffnung der Kanäle in einer positiven Rückkoppelungsschleife mittels Calcium-Ionen selbst: Ca2+ setzt Ca2+ frei,
●
Freisetzung mittels einer elektrischen Spannung. Spannungs-gesteuerten Calcium-Kanälen begegnen wir in den Kap. 14 und 15.
Bemerkenswert ist, dass zweite Botensubstanzen stets in kurzen Pulsen ins Cytosol entlassen werden, oftmals in mehren Pulsen nacheinander. Am besten untersucht ist dies an Eizellen, in denen, ausgelöst durch das Spermium, mehrere Ca2+-Wellen durch das Cytosol laufen. Raffinierte Methoden machen dies sichtbar: Freies Ca2+ reagiert mit einem natürlichen Biolumineszenzsystem (Eier von Cnidariern) oder
12.2 Wichtige Transduktionssysteme
einem künstlich eingeführten Luciferin/LuciferaseSystem (Kap. 24), und jede Ca2+-Welle ist gefolgt von einer Leuchtwelle. Es gibt Hinweise, dass auch andere sekundäre Botenstoffe in rhythmischen Oszillationen im Cytosol auftauchen und wieder verschwinden. So wird eine zeitlich begrenzte Reaktion ausgelöst. Von Langzeitreaktionen, die eine Umsteuerung von Genaktivitäten einschließen, erfuhren wir schon in Abschn. 11.7.
E
GDP
12.2.5 Oft wiederkehrende Einzelkomponenten sind: G-Proteine, Calmodulin, Transkriptionsfaktoren
GTP
Ligand
Die verschiedenen Signaltransduktionssysteme sind so verschieden nicht, als dass nicht einzelne Komponenten hier wie dort gebraucht werden könnten. Ob wir das cAMP-PKA System, das PI-PKC System oder die Signaltransduktion in den Photorezeptoren der Netzhaut (s. Kap. 22) betrachten, wir finden als wichtige, oft wiederkehrende Elemente G-Proteine, die Schalterfunktion erfüllen. G-Proteine, die von Hormonrezeptoren aktiviert werden, sind Heterotrimere, die aus den drei Untereinheiten α, β und γ zusammengesetzt sind. Im Off-Zustand des Schalters ist an die α-Untereinheit Guanosin-di-phosphat GDP gekoppelt. Hat ein Rezeptor vom Serpentine-Typ einen Liganden eingefangen, wirkt er auf das benachbarte G-Protein ein, das GDP gegen das energiegeladene Guanosintri-phosphat GTP einzutauschen. In diesem aufgeladenen Zustand wird jedoch das Trio unfriedlich; die Untereinheiten driften auseinander. Was nun im Einzelnen geschieht, ist von Fall zu Fall verschieden. Im typischen Fall der Übersichtsartikel und Lehrbücher, hat die mit dem GTP-gekoppelte α-Untereinheit die wichtigste Funktion. Sie driftet entlang der Lipidschicht der Zellmembran zu einem benachbarten Enzym, das den second messenger erzeugt. Dieses Nachbarenzym ist die Adenylatcyclase des cAMP-Systems oder die Phospholipase des PISystems. Die energiegeladene α-Untereinheit regt diese Enzyme an, aktiv zu werden. Nach einer Weile fällt jedoch ein Phosphat vom GTP ab. GTP ist zum energiearmen GDP erschlafft. So beruhigt, kehrt die α-Untereinheit zu ihren früheren Partnern β und γ zurück: das G-Protein ist wieder im Off-Zustand (Abb. 12.6). Mit GTP-beladene G-Proteine (anderer,
E
GDP
GTP secon messe
P
Ligand
Abb. 12.6. G-Protein. Funktionszyklus. Nach Bindung des externen Signals (Liganden) an den Rezeptor lösen sich die Untereinheiten des G-Proteins vom Rezeptor und erfüllen unterschiedliche Funktionen. Beispielhaft werden zwei Möglichkeiten dargestellt. In b1 wird über die α-Untereinheit ein Enzym aktiviert, das einen second messenger, etwa cAMP, hergestellt. In b2 wird ein Ionenkanal durch Phosphorylierung geöffnet oder geschlossen. In weiteren, hier nicht dargestellten Signalkaskaden kommen auch die β- und γ-Untereinheit zum Zuge. Nach Vollendung der Reaktion versammeln sich die drei Untereinheiten des G-Proteins wieder an einem leeren Rezeptor
309
310
12 Signaltransduktion und Signalpropagation
verwandter Art) können auch eigenständig Kinasefunktion erfüllen und – ohne Vermittlung der PKA oder PKC – Substrate phosphorylieren. Ionenkanäle der Zellmembran sind potentielle Substrate (z. B. an muscarinischen Synapsen, s. Kap. 15). Calmodulin und andere Calcium-bindende Proteine sind Proteine, die reversibel Calcium-Ionen binden und viele Calcium-abhängige Reaktionen vermitteln. Beispielsweise sind sie bei der Auslösung der Kontraktion in der glatten Muskelfaser involviert. Transkriptionsfaktoren. Wenn es darum geht, mittels Hormonen Langzeitwirkungen hervorzurufen oder den Funktionszustand von Synapsen (s. Kap. 15) langfristig zu verändern, werden über second messenger auch Transkriptionsfaktoren aktiviert oder blockiert. Dies führt zu veränderten Genaktivitäten.
12.2.6 Lipophile und gasförmige Signalträger können sowohl intrazelluläre second messenger sein wie auch auf Nachbarzellen wirken Zu den sekundären Botenmolekülen, die nach Empfang eines hormonalen Signalträgers (oder Transmitters) im Zuge von Signalkaskaden erzeugt werden, gehören auch Arachidonsäure (Abb. 12.4) und ihre zahlreichen Derivate, sowie die gasförmigen Moleküle Stickstoffmonoxid NO und vermutlich auch Kohlenstoffmonoxid CO. Sie werden intrazellulär erzeugt, diffundieren jedoch leicht über Zellmembranen und erreichen als ‚tertiäre Botenstoffe‘ Nachbarzellen (parakrine Stimulation). Alle diese exotischen Moleküle werden in einer Vielzahl physiologischer Prozesse eingesetzt, als Alarmsubstanzen im Immunsystem (die Arachidonsäurse-Derivate Prostaglandine und Leukotriene), im Wechselspiel von Blutzellen mit den Endothelzellen der Blutgefäße, in der Regelung der Blutgerinnung (Prostaglandine, Thromboxane, NO), der Kontraktion bzw. Relaxation der glatten Muskulatur (Prostaglandine, NO) und als Modulatoren der Signalübertragung an Synapsen (NO, CO). Manche Wirkungen sind überraschend: NO löst Relaxation glatter Muskelzellen aus, die Blutgefäße umhüllen; die Gefäße weiten sich. Geschieht dies im Penis schießt Blut ein, es kommt zur Erektion.
12.3 Signalpropagation 12.3.1 Von Nanoporen und Nanoröhrchen: für die Ausbreitung molekularer Signale stehen überraschend viele Mechanismen zur Verfügung Die physiologisch-orientierte Entwicklungsbiologie hat viele Gedanken und Forschungsarbeit investiert in die Frage, wie denn Signalmoleküle sich in umschriebenen Bezirken von Embryonen und regenerierenden Organen ausbreiten könnten. Die Ergebnisse solcher Forschung, in Abb. 12.7 exemplarisch zusammengefasst, werden zunehmend auch in der Physiologie des adulten Organismus Beachtung finden. Seit langem ist bekannt, dass benachbarte Zellen mittels Nanoporen namens Gap junctions niedermolekulare Komponenten austauschen können. Über so kanalisierte Diffusion können second messenger wie Ca2+, cAMP, IP3 und auch ATP in Nachbarzellen geleitet werden. Im Auge und im Zentralnervensystem wird hiervon Gebrauch gemacht, um die Aktivität von Neuronen zu koordinieren und zu synchronisieren. Verblüffend und in seiner Tragweite noch schwer abzuschätzen ist der Befund, dass Zellen über ausstreckbare, lange Nanoröhrchen auch höhermolekulare Komponenten, in Vesikeln verpackt, in Zellen ihrer Umgebung leiten können, sogar in solche Zellen, an die sie nicht unmittelbar grenzen. Während die Entwicklungsbiologen an die Propagation schwer löslicher Proteine wie des bedeutsamen Signalmoleküls WNT denken (s. Müller & Hassel 2006), wird diese Art von Zellkommunikation in der Physiologie noch nicht diskutiert, wiewohl dem nachfolgenden Beispiel eine ähnliche Vorstellung zugrunde liegt.
12.3.2 Die „immunologische Synapse“: ein stimulierendes Antigen wird weitergereicht In der Immunologie (Kap. 7) wird berichtet, es gäbe Antigen-präsentierende Zellen, die ihren verdächtigen Fund den Lymphocyten des Immunsystems, den B-Zellen und T-Zellen, vorzeigen. Solche antigen-presenting cells APC sind beispielsweise Makro-
12.3 Signalpropagation Abb. 12.7. Signalpropagation in Geweben. Zusammenstellung verschiedener Möglichkeiten. Durch Gap junctions können nur niedermolekulare messenger wie Ca2+, IP3 und cAMP Nachbarzellen erreichen. Via Transcytose können auch in Vesikeln verpackte Makromoleküle an benachbarte Zellen weitergegeben werden. Über Nanoröhrchen (Cytoneme) können solche Vesikel gezielt bestimmten Zellen übergeben oder von ihnen abgeholt werden
Signale von und zu direkten Nachbarn Homotypische / heterotypische Zelladhäsionsmoleküle CAM
Ligand-Rezeptor-Interaktion
Rezeptor Signaltransduktion
Ligand= Signal
Transkription
Diffusionsgetriebene Ausbreitung Abgelöste Oberflächensignale oder sezernierte Substanzen
Kanalisierte Diffusion durch Gap junctions
Interstitium
Transcytose Übertragung über Cytoneme = tunneling nanotubes (TNT)
Produzent
phagen, die Fremdmaterial verspeist haben und allerlei Peptidbruchstücke des intrazellulär verdauten Materials als potentielle Antigene den Lymphocyten präsentieren. Präsentationsteller sind MHC-Mole-
Abholer
Empfänger
küle auf der Oberfläche der APC, betrachtende und prüfende „Sinnesorgane“ sind die BCR-Rezeptoren der B-Zellen und die TCR der T-Zellen. Verbleiben wir bei den B-Lymphocyten, für die neueste, ex-
311
312
12 Signaltransduktion und Signalpropagation
perimentell gewonnene Erkenntnisse vorliegen (s. Abb. 7.16). B-Zellen strecken dünne Fortsätze Richtung einer APC aus. An den Kontaktstellen sammeln sich auf der einen Seite die BC-Rezeptoren der Lymphocyten, auf der anderen Seite die Antigenbeladenen MHC. Man spricht von „immunologischen Synapsen“. Nun übernehmen die B-Zellen mit ihrem BCR das Antigen, ziehen ihre Fortsätze zurück, internalisieren das Antigen durch Endocytose, und präsentieren es ihrerseits den T-Zellen. Diese unterziehen es einer weiteren Prüfung. Erscheint
Zusammenfassung des Kapitels 12 Signaltransduktion besagt: Ein von außen ankommendes Signalmolekül wird von den Zielzellen mittels Membran-verankerter Rezeptoren aufgefangen und die Botschaft ins Zellinnere weitergeleitet. Dabei wird das Signal in Pulse sekundärer, intrazellulärer Botensubstanzen (second messenger) umcodiert (wie cAMP, Ca2+ und Inositoltrisphosphat IP3), verstärkt und in mehrere intrazelluläre Kompartimente geleitet, wo vorprogrammierte Reaktionen das Signal beantworten. Eine Schlüsselrolle bei der Einleitung einer Reaktion spielen Proteinkinasen, die von ATP Phosphat entnehmen und an OH-Gruppen Protein-gebundener Aminosäuren (Ser, Thr, Tyr) koppeln. Drei Signaltransduktionssysteme werden näher vorgestellt: (1) das cAMP-PKA System, zuständig beispielsweise für Reaktionen auf die Hormone Glucagon und Adrenalin, (2) das PI-PKC-System, zuständig z. B. für
die Fremdnatur des Antigens gesichert, offenbart das Immunsystem seine ganze Aggressivität. Antigene sind keine regulären, körpereigenen Signalmoleküle. Doch liegt insofern eine Parallele zu diesen vor, als das Antigen letztlich die „Stimulation“ der B-Zellen bewirkt. „Stimulation“ in der Sprache der Immunologie besagt: Die B-Zellen werden sich vermehren, sich in Plasmazellen verwandeln, ihre BCR in großer Zahl produzieren und als Antikörper freisetzen.
Wachstumshormon, und (3) ein TransmembranTyrosinkinase-Rezeptor, zuständig für Empfang und Reaktion auf das Hormon Insulin. Lipophile Signalsubstanzen wie Eicosanoide (Prostaglandine, Leukotriene, Thromboxane) und gasförmige Signalsubstanzen (CO, NO) können direkt in Zellen eindringen und sich darüber hinaus im Gewebe ausbreiten. Im letzten Abschnitt werden neue Befunde vorgestellt über mögliche Mechanismen, wie auch nicht-lipophile Signale sich in Geweben ausbreiten können: Neben der länger bekannten kanalisierten Diffusion niedermolekularer Signalträger via Gap junctions wird die Weitergabe makromolekularer Signalträger mittels Transcytose und ausstreckbaren Nanoröhrchen (TNT oder Cytoneme genannt) vorgestellt, sowie die Weitergabe stimulierender Antigene an „immunologischen Synapsen“ zwischen Antigen-präsentierenden Zellen und B-Lymphocyten.
13 Biorhythmik I: Circadiane Rhythmen und innere Uhren
13.1 Circadiane Rhythmik 13.1.1 Tagesperiodische Biorhythmen können rein exogen sein, nach dem Sanduhrprinzip ablaufen oder endogen sein Die Erde dreht sich und dreht sich, und zieht kraft ihrer Gravitation bei ihrer nimmer endenden Rotation alle Lebewesen mit, in den Sonnenschein hinein und aus ihm wieder heraus, tagein, tagaus. Selbst der Vogel im Flug wird noch im Gravitationsfeld mitgezogen. Unvermeidlich ist die überwältigende Mehrzahl aller Lebewesen einem periodischen Wechsel von Hell und Dunkel unterworfen und meistens auch einem synchronen Wechsel der Temperatur. Und dies seit Jahrmilliarden. Was Wunder, wenn sich Lebewesen diesem Rhythmus angepasst haben, sich innerlich schon zeitig aufs Hell- oder Dunkelwerden vorbereiten. Tiere mit höher evolviertem Zentralnervensystem legen täglich Perioden des Schlafes ein. Wer im Frühjahr morgens dem Zwitschern der Vögel lauscht, wird bald gewahr, wie jede Vogelart auf die Minute genau ihr Aufwachen zu verkünden beginnt. Bloße Reaktion auf das Hellerwerden? Eben halt „ausgeschlafen“, wie die obere Kammer einer Sanduhr eben schließlich mal leergelaufen ist? Wer täglich um dieselbe Zeit erwacht, auch wenn er mal später zu Bett gegangen ist, und den präzisen artspezifischen Einsatz des Gezwitschers im morgendlichen Vogelkonzert wahrnimmt, kann kaum mehr verstehen, dass es jahrzehntelang in der Wissenschaft heftig umstritten war, ob es denn innere Uhren überhaupt gebe. Immerhin hatte bereits um 1729 der französische Astronom de Mairan vermutet, dass die tagesperiodischen Blattbewegungen der Mimose (Mimosa pudica) nicht vom Licht-DunkelWechsel hervorgerufen werden; denn er konnte sie auch im Dauerdunkel registrieren.
Warum gab es denn die Auseinandersetzung um die Existenz innerer biologischer Uhren? Beweise müssen schlüssig sein, Alternativen müssen ausgeschlossen werden. Eine Rhythmik kann ●
rein exogen bedingt sein. Dies trifft beispielsweise auf die Photosynthese zu. Nachts gibt’s eben nicht genug Licht.
●
Sie kann nach dem Sanduhrprinzip ablaufen. Ein äußerer Zeitgeber, etwa der Sonnenaufgang, gibt den Anstoß. Das angestoßene Ereignis dauert eine fixe Zeit. Um das nächste Ereignis auszulösen, muss ein neuer exogener Anstoß kommen. Lichtabhängige Ablaichrhythmen bei wasserlebenden Tieren oder Zellteilungsrhythmen können nach diesem Muster ablaufen.
●
Die Rhythmik wird von einem endogenen Rhythmusgenerator erzeugt, wie beispielsweise die Rhythmik der Atmung und des Herzschlags. Man spricht auch von Schrittmachern, Oszillatoren oder eben von biologischen Uhren, wenn die Periodenlänge mit dem astronomischen Tag übereinstimmt. Ein Rhythmus, der auch unter vermeintlich gleichbleibenden Bedingungen erhalten bleibt und mit dem Naturtag perfekt synchron geht, gilt freilich noch nicht als strikter Beweis für das Wirken endogener Oszillatoren. Vielleicht hat man beim Versuch, konstante Umweltbedingungen zu schaffen, etwas übersehen, hat etwa unsichtbare elektromagnetische Felder nicht abgeschirmt oder schlicht täglich zur selben Zeit Futter gebracht. 13.1.2 Die Existenz innerer Uhren wird durch das Auftreten „freilaufender Rhythmen“ und durch genetische Experimente nachgewiesen
Mäuse werden bei konstanter Dämmerbeleuchtung und gleichbleibender Temperatur gehalten. Futter
13 Biorhythmik I: Circadiane Rhythmen und innere Uhren
steht ständig „ad libitum“ (nach Belieben) zur Verfügung; niemand kommt in den Versuchsraum herein. Die Mäuse haben die Gelegenheit, im Laufrad nach Herzenslust ihren Bewegungsdrang abzureagieren. Dass die Bewegung des Laufrades registriert wird, bemerken sie nicht; denn das geschieht automatisch mittels sensibler Technik. Auf dem Registrierstreifen sieht man im Regelfall eine doppelgipflige Aktivitätsrhythmik: die Tierchen sind morgens und abends munter. Die Streifen aufeinanderfolgender Tage sind wie die Zeilen einer Buchseite untereinander aufgezeichnet und ergeben so ein genaues Tagebuch über das Bewegungsverhalten der Tiere. Ein Darstellungstrick (double daily plot, Doppelplot) lässt deutlich die Intervalle zwischen zwei Aktivitätsschüben und gleichzeitig eine eventuelle tägliche Verschiebung von Anfang und Ende der Aktivitätsperiode hervortreten (Abb. 13.1). Mehrere miteinander in Beziehung stehende Beobachtungen belegen die Existenz einer inneren Uhr: 1. Die Rhythmik wird beim Fehlen eines Zeitgebers freilaufend: Die Intervalle zwischen den Morgenmaxima (und entsprechend zwischen den AbendFreilaufende Aktivitätsrhythmik Wiederholte Darstellung
Originale Aufzeichnung
0
Tage
314
6 synchronisierendes Signal 12
18
24
6
12
18
24
6
12
Tageszeit
Abb. 13.1. Freilaufende Rhythmik. Ausgedachtes Modellbeispiel, das sich auf den Schlaf-Wach-Cyclus eines Menschen beziehen könnte. Die Wachperiode ist jeweils zweimal eingetragen: rechts und nochmals, eine Zeile tiefer, links. Mit diesem Doppelplot kann einerseits das Intervall zwischen zwei Perioden gezeigt werden (Abstände der Balken in der Horizontalen), andererseits auch die Verschiebung der Wachperiode von Tag zu Tag (Vergleich in vertikaler Richtung). Schräg verlaufende Bereiche zeigen die freilaufende Rhythmik mit Perioden von circa 25 h an. Eine Synchronisation der inneren Uhr durch einen externen Zeitgeber ist nicht von Dauer. Nach Wegnahme des Zeitgebers tritt der endogene Rhythmus wieder hervor
maxima) sind etwas länger als 24 Stunden (seltener kürzer). Daher verschieben sich die Maxima Tag um Tag gegenüber einer korrekt gehenden Uhr und weichen immer mehr vom Naturtag ab. Unter konstanten Umweltgegebenheiten ist die innere Uhr circadian (lat.: circa = ungefähr, dies = Tag). 2. Einzelne Mäuse, die von anderen isoliert gehalten werden, haben ihren Individualrhythmus. Der spontane Rhythmus der Maus A weicht mehr von der Norm ab als der Rhythmus der Maus B. Die Aktivitätsperioden beider Mäuse divergieren nicht nur vom astronomischen Tag, sondern auch voneinander tagtäglich mehr und mehr. Welcher unbemerkte äußere Zeitgeber sollte jeder Maus einen anderen Takt vorspielen? Auch beim Menschen hat man freilaufende Rhythmen registriert. Am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Erling-Andechs (Oberbayern) durften sich Studenten unter ungewöhnlichen Bedingungen auf das Examen vorbereiten. Es stand ihnen alles zur Verfügung, was sie brauchten, sie durften zu Bett gehen und aufstehen, wann sie wollten, doch waren sie gänzlich von äußeren Zeitgebern abgeschnitten. Ihr Schlaf-Wach-Rhythmus und ihre Körpertemperatur folgte erstaunlich präzise dem Verhaltensmuster, das auch Vögel und Säuger zeigen. Die meisten Menschen folgen spontan einem Rhythmus, der sie eher als Spätaufsteher ausweist (Periodendauer etwa 25 Stunden). Ging eine Person am ersten Tag um 24 Uhr zu Bett, dann am zweiten Tag ca. 1 Stunde später um 1.00 Uhr und nach einer Woche erst um 12 Uhr Mittags. Daran änderte sich auch nichts, wenn die Versuchspersonen physischen Belastungen ausgesetzt waren. Müdigkeit kann einzelne Schlafenszeiten verlängern, muss aber nicht zwangsweise die Perioden der folgenden Wach- und Ruhezeiten verschieben.
3. Der Individualrhythmus ist genetisch vererbt und kann Mutationen unterliegen. In einer Goldhamster-Zuchtlinie traten Nachkommen auf, die notorische Frühaufsteher waren und vor allen anderen ihren Laufrad-Frühsport machten. Die Mutation tau vererbte sich nach Mendelschen Regeln.
Humangnnen aufgrund umfangreicher Studien zwei konträre, genetisch fixierte Störungen des biologischen Rhythmus beim Menschen; der Rhythmus kann nicht zeitgerecht an einen veränderten Licht-Dunkelwechsel angekoppelt werden. Der biologische Rhythmus wird zu sehr beschleunigt: FASPS (familial advanced sleep phase syndrome) oder zu sehr verlangsamt: DSPS (Delayed sleep phase syndrom) (s. dazu Abschn. 13.1.4).
13.1 Circadiane Rhythmik
Systematische Analysen von Rhythmusmutanten bei Drosophila führten schließlich zur Identifikation der wesentlichen Komponenten der circadianen Uhr. 13.1.3 Circadiane Uhren sind temperaturkompensiert, begrenzt verstellbar und vermutlich in allen eukaryotischen Organismen nach gleichen Grundprinzipien konstruiert Aus Versuchen, die Charakteristik biologischer Rhythmen bei gleichbleibenden Umweltbedingungen herauszuarbeiten, ist deutlich geworden, dass biologische 24-Stunden-Uhren gemeinsame Charakteristika haben: ●
Sie basieren auf Genaktivitäten, wie modellmäßig im nachfolgenden Abschn. 13.2 für Drosophila dargestellt.
●
Biologische Uhren sind temperaturkompensiert. Die herrschende Temperatur hat auch bei ektothermen (poikilothermen) Tieren einen auffallend geringen Einfluss auf die Periodendauer.
●
Die Periodendauer der biologischen Uhren ist circadian, das heißt, ihre spontane Periode weicht etwas von 24 Stunden ab, aber nicht viel! Beim Grünfink konzentrieren sich die spontanen Perioden im Zeitraum von 23 bis 25 Stunden.
●
Sie lassen sich durch exogene Zeitgeber korrigieren und mit dem Naturtag synchronisieren. Zeitgeber ist im Regelfall der tägliche Lichtwechsel; doch kommen auch andere periodisch wiederkehrende Ereignisse wie soziale Kontakte (z. B. morgendliches Gezwitscher benachbarter Vögel) oder die Verfügbarkeit von Futter (Öffnen von Blüten bei Blütenbesuchern) als Zeitgeber in Betracht.
●
Innere Uhren haben einen begrenzten Verstellbereich. Versucht man, durch einen schnelleren oder langsameren Lichtzyklus die biologische Uhr zu schnellerem oder langsameren Lauf zu bewegen, so beobachtet man einen begrenzten Mitnahmebereich (Englisch: entrainment). Der Mitnahmebereich ist artspezifisch unterschied-
lich weit und liegt bei ± 1 bis ± 3 Stunden. Einem zu schnellen oder zu sehr verzögerten Rhythmus folgt die innere Uhr nicht mehr, sondern gehorcht ihrem eigenen Gesetz. Auch für uns Menschen gilt, dass die Umlaufzeit der inneren Uhr um maximal 3 h/Tag verkürzt oder verlängert werden kann. Größeren Verschiebungen ist der Arbeitnehmer beim Wechsel der Schichtwechselzeit ausgesetzt oder der Reisende beim Flug in östlicher oder westlicher Richtung (Jet lag). Dann ist beispielsweise die Cortisolkonzentration im Blut nicht mehr frühmorgens, sondern am Nachmittag am höchsten, und es dauert mehrere Tage, bis sich Körperfunktionen und subjektives Befinden der Ortszeit angepasst haben. 13.1.4 Bei experimenteller Zeitverschiebung mit Lichtimpulsen registriert man eine charakteristische „Phase-response-curve“ Der nicht allzu präzise Gang der inneren Uhr macht es erforderlich, dass sie tagtäglich über ein Entrainment durch einen externen Zeitgeber nachgestellt wird, um sie mit dem Sonnenlauf synchron zu halten. Zeitgeber zur Synchronisation ist natürlich vor allem der Licht-Dunkel-Wechsel (aber auch soziale Kontakte und Zugang zum Futter können Langschläfer zum Aufstehen bewegen). Andererseits ermöglicht die nicht allzu starre Präzision der inneren Uhr auch eine flexible Umstellung je nach Jahreszeit und geographischer Position. Bei Zugvögeln, Walen und Fischen, die riesige Entfernungen zurücklegen, ist die Möglichkeit, die innere Uhr nachzustellen, kein bloßes Beiwerk. Wir wissen schon, dass man durch Verkürzen oder Verlängern der Hell- und Dunkel-Phasen in begrenztem Umfang die Uhr verstellen kann. Im detaillierten Experiment verabreicht man Lichtimpulse von etwa einer Stunde Dauer. Je nach der Tageszeit, zu der die Pulse gegeben werden, beobachtet man eine Beschleunigung (phase advance), eine Verzögerung (phase delay) oder gar keinen Effekt. Auf den Menschen übertragen würde ein typisches Experiment wie folgt ausgehen: Ein Lichtpuls von einer Stunde am Abend hätte zur Folge, dass man am anderen Morgen später aufsteht (phase delay); ein Lichtblitz gegen 3 Uhr hingegen ließe uns frü-
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13 Biorhythmik I: Circadiane Rhythmen und innere Uhren
her erwachen (phase advance). Am Morgen nach dem Aufstehen wäre der Lichtpuls bedeutungslos. Bei verschiedenen Tieren lassen sich ähnliche phase-response Kurven registrieren, weitgehend unabhängig davon, ob man tag- oder nachtaktive Tiere solchen Störlichtern aussetzt. Mehr noch, auch die einzellige Alge Gonyaulax, die allnächtlich leuchtet – auch im Dauerdunkel – besitzt eine circadiane Uhr mit ähnlichen Systemeigenschaften. Bereits bei Einzellern und wenigzelligen Pilzen gibt es eine ausgeprägte circadiane Rhythmik. In der Forschung beliebt sind die Leuchtalge Gonyaulax, die auch im Dauerdunkel periodisch leuchtet, die einzellige Riesenalge Acetabularia, und der wenigzellige Schimmelpilz Neurospora grassa, der täglich zur selben Stunde neue Fruchtkörper hervorbringt. Beim Dinoflagellaten Gonyaulax registriert man zwei Phänomene, bei denen Licht ausgesandt wird: (1) die stimulierte Lumineszenz: Erschütterungen wie die Brandung lösen das Meeresleuchten aus, wenn Millionen der Algen synchron ihr blaugrünes Licht aussenden (dafür ist in der Nordsee der Dinoflagellat Noctiluca zuständig); die Fähigkeit, solches Licht zu emittieren, ist um Mitternacht am höchsten; (2) das viel schwächere Glühen, das gegen Morgen am stärksten ist. Bei der einzelligen Riesenalge Acetabularia unternehmen die Chloroplasten tagesperiodische Wanderungen.
Solche Beobachtungen ließen die Vermutung aufkeimen, dass es eine Grundkonstruktion für biologische Uhren geben könnte. Neue Befunde stärken diese Auffassung.
13.2 Die molekulare Grundkonstruktion der circadianen Uhr 13.2.1 Rhythmusmutanten von Drosophila ermöglichten es, entscheidende Gene zu identifizieren; homologe Gene werden auch im Säuger gefunden Verhaltensweisen, die sich tagesperiodisch ändern, sind bei der Taufliege nicht auffällig. Der aufmerksame Beobachter, der sich nicht scheut, schon in den frühen Morgenstunden in den Zuchtraum zu gehen, entdeckt, dass die Fliegen vorzugsweise in den kühlen, taufrischen Morgenstunden aus der Puppenhülle schlüpfen. Die noch weichen Flügel trocknen
nicht vorzeitig aus, bevor sie voll entfaltet sind. Sind einzelne Fliegen eines Geleges am frühen Morgen noch nicht ganz schlüpfbereit, müssen sie sich 24 h in der Puppenhülle gedulden, bis sie am anderen Morgen im geziemenden Zeitfenster schlüpfen dürfen. Nach Mutagenese-Behandlung fanden sich Fliegen, die zu früh, zu spät oder regellos zu beliebiger Tages- oder Nachtzeit schlüpften. Schön und gut. Doch man schlüpft als Fliege nur einmal im Leben aus dem Puppenbett, für Rhythmik-Studien keine günstige Eigenschaft. Günstiger sind da Aktivitäten, die sich täglich zur selben Zeit und gleich bleibender Dauer wiederholen. Es zeigte sich jedoch, dass die gezüchteten Schlüpfmutanten auch in anderen Aktivitäten von der Norm abwichen. Schon Fliegen kennen Phasen der Aktivität, in der sie auf Futtersuche gehen, gefolgt von Phasen der Ruhe. Später am Tage führen die Männchen ihre Balztänze auf. Man entwickelte mit Infrarotsensoren ausgerüstete, automatische Registrier- und Aufnahmegeräte, erzeugte durch weitere Mutagenese vielerlei in ihrer Rhythmik gestörte Nachkommen und identifizierte mit klassischer Genetik und schließlich durch Positionsklonieren die verantwortlichen Gene. Das Methodeninventar der Molekularbiologie, speziell die Suche nach homologen Genen (Homologiesuche, reverse Genetik), erlaubte es, nach Sequenz-ähnlichen Genen im Genom der Maus und des Menschen zu suchen. Man wurde bald fündig. So kann denn das nachfolgend beschriebene Modell der molekularen Uhr der Taufliege auch als Grundmodell der circadianen Uhr des Menschen angesehen werden, wenn auch das eine oder andere Gen/ Protein anders bezeichnet wird und in Details der Konstruktion manches anders eingerichtet ist. 13.2.2 Die molekulare Grundkonstruktion der Uhr beruht auf cyclischer Transkription, Translation, posttranslationaler Modifikation und Proteindegradation Morgens früh geht die Transkription der Gene per (period) und tim (timeless) los. Über den Tag hinweg werden durch Translation der mRNA’s die Proteine PER und TIM hergestellt. Sie akkumulieren im Cytoplasma, bis ein bestimmter Schwellenwert überschritten ist. Nun paaren sich PER und TIM zu
13.2 Die molekulare Grundkonstruktion der circadianen Uhr
Heterodimeren. Zu ihnen gesellt sich DBT (double time). Nachts gelangt das Trio PER/TIM/DBT in den Kern. Das ließ sich sichtbar machen in transgenen Fliegen, in denen an PER und TIM das grünfluoreszierende Protein GFP angehängt war. Der PER/ TIM/DBT-Komplex sucht die Promotorenregionen der per und tim Gene; diese sind von den Transkriptionsaktivatoren CYC (von cycle) und CLOCK besetzt. Das PER/TIM/DBT Trio unterdrückt deren Aktivität. Im Sinne einer negativen Rückkopplung beenden PER und TIM die Aktivität ihrer eigenen Gene (Abb. 13.2a). Dies ist jedoch nur die Hälfte eines vollständigen Cyclus’. In einem Oszillator alternieren Phasen negativer Koppelung mit Phasen positiver Rückkopplung (Im Pendel alternieren positive Beschleunigung und negativer Beschleunigung). Damit ein neuer Cyclus starten kann, muss nächstfolgend die Hemmung aufgehoben werden. Mutmaßlich ausgelöst durch den Trittbrettfahrer DBT kommt es während der Nacht zur Phosphorylierung des PER/TIM Komplexes und zu seiner anschließenden Degradation durch die Proteasen des Proteasoms. Auch CLOCK verschwindet, doch kommt es gegen Morgen zu einer Erneuerung des aktivierenden CYC/CLOCK Heterodimers, das parallel sowohl das per- als auch das tim-Gen wieder einschaltet. PER war, bevor es degradiert worden ist, am Einschalten des CLOCK Gens beteiligt. PER hat also erst seine eigene Aktivität gedrosselt und dann mit Zeitverzögerung indirekt seine Neusynthese in Gang gesetzt. Die Mengen von PER/TIM einerseits und von CLOCK andererseits schwingen in Gegenphase auf und ab. Manches freilich ist noch im Dunkeln, wenn morgens der CYC/CLOCK-Komplex wieder zu arbeiten beginnt und die PER+TIM-Synthese erneut in Schwung kommt. Um die Drosophila-Uhr zur Säuger-Uhr umzubauen, müssen wir das PER-Proteine statt an ein TIM an ein CRY koppeln (Abb. 13.2b). CRY steht für cryptochrome. 13.2.3 Verborgene Cryptochrome dienen zur lichtgesteuerten Uhrwerk-Korrektur bei der Fliege, sind aber integrierte Komponenten der Uhr beim Säuger Eine biologische Uhr braucht Eingänge und Ausgänge für Information. Eingänge: Um eine Uhr mit
bloß ungefährer Ganggenauigkeit tagtäglich an den Tagesgang anpassen zu können, muss das Uhrwerk an einen externen Zeitgeber angeschlossen werden, im typischen Fall über einen Lichtsensor, der sagt, wann der Naturtag beginnt und endet. Ausgänge: die Uhr soll ja Reaktionen des Organismus steuern. In den Pionierarbeiten mit der Fruchtfliege konvergierten drei Forschungslinien an einem gemeinsamen Schnittpunkt: 1. Aktionsspektrum. Um Hinweise auf die Natur eines noch unbekannten Lichtsensors zu erhalten, nimmt ein Physiologe erst einmal ein Aktionsspektrum (action spectrum) auf; mit anderen Worten: er erstellt eine Kurve relativer spektraler Wirksamkeit des Lichtes: Er misst bei jeweils gleicher eingestrahlter Lichtintensität (Photonenstromdichte), welche Wellenlänge die beste Wirkung hat – im vorliegenden Fall, welche Wellenlänge sich am besten zur Verstellung der Uhr eignet. Bei der Fliege wie beim Einzeller Gonyaulax ist dies Blaulicht. 2. Operatives Entfernen der Augen oder die Untersuchung sehblinder Fliegen ließen erkennen, dass die Blaulichtrezeptoren der Ommatidien wohl nicht die gesuchten Sensoren sind. 3. Die Analyse von Mutanten, deren Uhr sich nicht mehr verstellen ließ, wies auf ein Gen für ein Protein, deren Aminosäuresequenz Ähnlichkeit zu Photolyasen (die bei der Reparatur defekter DNA beteiligt sind) und zu den Cryptochromen (cryptochromes) der Pflanzen aufweist. Blaulicht hatten Botaniker als effektiv für bestimmte lichtgesteuerte Reaktionen bei Pflanzen ausgemacht. Bei Arabidopsis beispielsweise dirigiert Blaulicht das Wachstum zum Licht (Phototropismus), und es ist an der Festlegung des Blühtermins (Photoperiode) beteiligt. Das damals noch unbekannte Photopigment erhielt die Bezeichnung Cryptochrom – verborgener Farbstoff (griech.: kryptein = verbergen; chroma = Farbe). Cryptochrom enthält als Licht-absorbierende Cofaktoren FAD (Flavin-Adenin-Dinucleotid) und Pterin.
Diesen Hinweisen folgend, war Cryptochrom bald in verschiedenen Geweben der Fliege nachgewiesen – besonders auch im Gehirn. Abends steigt der Cryptochromgehalt der Gewebe an, morgens sinkt er. Ausschalten des cry-Gens machte Fliegen unfähig, ihre inneren Uhren mit dem Naturtag zu synchronisieren und die regulären Zeiten zum Schlüpfen und Essen
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13 Biorhythmik I: Circadiane Rhythmen und innere Uhren
PER Protein
TIM PER Akummulation Dimerisation
Translation per
Cytoplasma
tim
KERN
mRNA
per
DBT
Vorbereitung für Kern-Import
TIM Protein
CYC / CLOCK Transkription
TIM PER
mRNA
tim CYC / CLOCK Morgens P
CRYPTOCHROM P
Abends
Lichtsensitives Cryptochrom induziert Phosphorylierung und Destabilisierung von TIM, DBT phosphoryliert und destabilisiert PER
P
per
P
Transkription gestoppt tim P
a
P
Degradation
P
Nachts
Abb. 13.2a, b. Modell der biologischen circadianen Uhr, entwickelt nach Untersuchungen an Drosophila und der Maus (nach Zheng u. Sehgal 2008). Während des Tages liest der aktive Transkriptionsfaktoren-Komplex CYC+CLOCK die Gene von PER und Tim (sowie weiterer Gene) ab (a). Die mRNAs werden im Cytoplasma translatiert, PER und TIM Proteine akkumulieren im Verlauf des Tages im Cytoplasma, dimerisieren und verbinden sich mit einem weiteren Protein DBT. Nachts gelangen die PER+TIM+DBT-Komplexe in den Kern und stoppen die Transkription des per und tim Gens. Letztlich schalten PER und TIM im Sinne einer negativen Rückkopplung ihre eigene Produktion wieder ab. Frühmorgens werden,
ausgelöst durch das lichtsensitive Cryptochrom, PER und TIM abgebaut; die Transkription ihrer Gene kann erneut beginnen. Die gesamten Prozesse schließen weitere Genaktivierungen und eine Reihe subtiler Phosphorylierungen ein, die im Einzelnen noch nicht vollständig analysiert sind; Bei Säugern ist TIM zu ersetzen durch CRY (Cryptochrom), und es gibt beim Säuger 3 per Gene. Einige Bezeichnungen sind auszutauschen. Statt DBT heißt es bei Säugern Casein Kinase1ε, CYC ist durch BAML-1 zu ersetzen. Die Ankoppelung der Uhr an den natürlichen Licht-Dunkel-Cyclus erfolgt nicht wie bei Drosophila über Cryptochrom, sondern über das Melanopsin in Ganglienzellen der Netzhaut des Auges (b)
einzuhalten. Man muss annehmen, dass Cuticula und Gewebeschichten genug Licht hindurchlassen, um den Cryptochrom-Lichtsensor in den inneren Uhrwerken neuronaler Zellen zu erreichen. Auch im Säuger gibt es Cryptochrome. Sie sind jedoch keine Lichtsensoren mehr, sondern sind zu
integrativen Komponenten der Uhr selbst geworden und ersetzen funktionell das TIM der Fliege. In Abb. 13.2b sind für die Säugeruhr statt der PER/TIM Heterodimere PER/CRY-Dimere eingesetzt. Es gibt jedoch Komplikationen, wenn man ein einfaches Funktionsschema entwerfen will. Jeder mit einer
13.3 Zentraluhren
PER
CRY PER Akummulation Dimerisation Cytoplasma
Translation cry
per
KERN
mRNA
per
Ck1
Vorbereitung für Kern-Import
CRYptochrom
Bmal1 / CLOCK Transkription
CRY PER
mRNA
cry
Bmal1 / CLOCK
Rückführung zum Ausgangspunkt (Mechanismus?)
Abends
Licht wirkt über Melanopsin in Retina; Übermittlung der Botschaft über Nervus opticus
per Transkription gestoppt tim
b
Nachts
Abb. 13.2b.
Uhr ausgestatteten Zelle stehen nämlich mindestens zwei verschiedene CRY- und drei verschiedene PER-Varianten zur Verfügung; wann und wozu sie diese nutzen, bleibt noch zu klären. Wie die Uhren im Säuger mit dem Naturtag in Einklang gebracht werden, wird unter Abschn.13.3.5 diskutiert.
13.3 Zentraluhren Auch wenn man heute davon ausgeht, dass circadiane Rhythmen durch Uhren gleichen Bauprinzips gesteuert werden, besagt dies nicht, dass es nicht verschiedene Versionen der Uhr gäbe. Man denke an mechanische Ankeruhren; ihr Funktionsprinzip
ist gleich, doch wie viele verschiedene Modelle gibt und gab es! Vor allem die Kopplung der verschiedenen physiologischen Funktionen an eine Uhr muss im Einzelfall recht verschieden sein, unterschiedlich beispielsweise bei Tag- und bei Nacht-aktiven Tieren; unterschiedlich aber auch in den verschiedenen Organen eines Lebewesens.
13.3.1 Tagesperiodisch aufleuchtende Zellen bei transgenen Tieren weisen auf eine Mehrzahl an inneren Uhren, eine Zentraluhr übernimmt die Synchronisation Molekulargenetiker haben heute erstaunliche Werkzeuge in der Hand. Heute gibt es transgene Fliegen
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13 Biorhythmik I: Circadiane Rhythmen und innere Uhren
und Fische, in denen das PER- oder TIM-Protein mit dem aus Medusen stammenden GFP (greenfluorescent protein) gekoppelt ist und die unter einer Lampe mit langwelligem UV-Licht tagesperiodisch grün aufleuchten. In andere Fliegenstämme (und ähnlich bei Mäusen) ist über ein Plasmid das Luciferase-Gen des Leuchtkäfers („Glühwürmchens“) mit vorgeschaltetem PER-Promotor eingeführt worden. Tagesperiodisch wird parallel mit PER auch Luciferase hergestellt. Damit das Luciferase-Enzym auch etwas zu bearbeiten hat, wird dem Futter Luciferin beigemengt. Bei der Luciferase-katalysierten Oxidation des Luciferins entsteht grünliches Licht, wie wir es vom „Glühwürmchen“ kennen. Die Fliegen und Fische leuchten grün auf. Die Intensität des Lichtes schwillt an und ab, im circadianen Rhythmus. Genaue Beobachtungen zeigten, dass nicht nur eine bestimmte Struktur im Tier periodisch leuchtet, sondern verschiedene Gewebe (z. B. bestimmte Partien des Gehirns und die exkretorisch tätigen Malpighischen Gefäße). Es gibt mehrere inneren Uhren, die alle mit einer nur ungefähren 24-h-Periodik arbeiten und deshalb mit dem Tagesgang synchronisiert werden müssen. Bei Insekten war seit langem das Gehirn als Sitz einer circadianen Uhr ausgemacht. Transplantationen von Gehirnen von Normaltieren in arhythmische Mutanten zeigten, dass das Gehirn dem ganzen Organismus seine Rhythmik vorgeben kann. Mutanten mit zusätzlichem Normalgehirn im Abdomen folgen dem Rhythmus des Spendergehirns. Es wird als Sitz einer dominierenden Zentraluhr angesehen. Im Gehirn des Insekts findet sich eine Gruppe von 20–30 Neuronen, die periodisch PER erzeugen und deren elektrische Aktivitäten ebenfalls tagesperiodisch oszillieren. Diese Gehirnneurone gelten als die Zentraluhr, welche den Gang der Individualuhren der verschiedenen Gewebe synchronisiert. Dies geschieht, so wird angenommen, über ein Neuropeptid, genannt „pigment-dispersing factor“. Die Funktion einer Zentraluhr wird allerdings nicht von einem einzigen Schrittmacherneuron oder einer einzigen Gruppe von Taktgebern wahrgenommen, sondern von einem Kollektiv von weit auseinander liegenden paarigen lateralen und dorsalen Neuronen. Alle diese Neurone exprimieren periodisch tim und per, und enthalten Cryptochrom. Das lichtsensitive Cryptochrom vermittelt in der Fliege das tägliche Nachjustieren der Uhren; denn ein Ver-
stellen der Uhr mittels Blaulicht gelingt auch mit isolierten, in Kulturmedien gehaltenen Neuronen. Andererseits nehmen die Schrittmacherneurone auch Information von Augen (Ommatidien, Ocelli, Hofbauer-Buchner Äuglein?) entgegen.
13.3.2 Auch im menschlichen Körper gibt es verschiedene Uhren; sie müssen von einer Zentraluhr synchronisiert werden Wenn man Aktivitätsperioden von Vögeln und Kleinsäugern im Laufkäfig registriert, ist das bequem. Der Physiologe will aber mehr wissen. Er registriert Bluttemperatur, Blutdruck, den Titer verschiedener Hormone (Konzentration im Blut), schließlich gar verschiedene Enzymaktivitäten in der Leber. Er findet, dass keineswegs alle Werte tagesperiodisch schwanken, aber doch viele (Abb. 13.4). Sowohl im Tierversuch wie bei der Registrierung von Messwerten im menschlichen Körper ist man aufmerksam geworden, dass es mehrere innere Uhren gibt. Vielleicht hat sogar jede Zelle ihre eigene Uhr; denn selbst in Leukocyten wird PER tagesperiodisch exprimiert. Dabei dürften alle Zellen eine Uhr ähnlicher, wenn auch nicht identischer Konstruktion besitzen. Jedenfalls können viele Zell- und Organfunktionen periodisch auf- und abschwingen. Beim Säuger, und so auch beim Menschen, schwanken tagesperiodisch beispielsweise ●
Bluttemperatur (Minimum frühmorgens, Maximum am Nachmittag),
●
Blutdruck (Minimum gegen Morgen),
●
der Titer verschiedener Hormone im Blut, so vom Wachstumshormon (Maximum nachts), vom Prolactin, vom ADH /Vasopressin, vom ACTH und, mit ACTH korreliert, der Spiegel von Cortisol (Maximum frühmorgens),
●
die Zahl der Granulocyten und Makrophagen, die sich im Blut aufhalten,
●
die Konzentration verschiedener Stoffe im Urin,
●
die Aktivität verschiedener Enzyme im Blutplasma (z. B. alkalische Phosphatase) und in der Leber (z. B. die Alkoholdehydrogenase, die zeitig für den abendlichen Schoppen das Maximum ihrer Aktivität erreicht),
13.3 Zentraluhren ●
sogar das Lebergewicht schwankt tagesperiodisch.
Aus solchen Schwingungen im Metabolismus hat der Mediziner einiges lernen können über bis dahin rätselhafte Befunde. Viele Medikamente wirken unterschiedlich stark, je nachdem zu welcher Tagesoder Nachtzeit sie verabreicht werden. Rhythmische Aktivitäten im Bereich des Stoffwechsels und vegetativer Regelgrößen müssen nicht unabhängig voneinander sein, sondern können auch die Aktivität eines Hormons widerspiegeln, und dies trifft auch zu, wie wir sehen werden. Andererseits bleiben die Schwankungen von Enzymaktivitäten manchmal auch erhalten, wenn das Gewebe und Zellen daraus in der Zellkultur gehalten werden. So kann die Periodik in der Aktivität von Enzymen auch in isolierten Gehirnzellen oder Leberzellen (Hepatocyten) noch einige Tage erhalten bleiben. Beim Jet lag braucht es unterschiedlich lange, bis die einzelnen Funktionen der neuen Ortszeit angepasst sind. Augenscheinlich gibt es mehrere oszillierende Systeme im Körper und nicht nur eine Uhr. Nach einiger Anpassungszeit kommen diese verschiedenen Systeme schließlich doch wieder in Gleichtakt. Schlussfolgerung: es gibt einen zentralen Dirigenten, dem die einzelnen Mitglieder des Konzerts folgen, das eine schneller, das andere langsamer. Auch im Säuger gibt es mehrere unabhängige innere Uhren, aber eine synchronisierende Zentraluhr. Der zentrale Taktgeber muss Zugang haben zu einem Photorezeptor, der merkt, wann es hell und wann es dunkel wird. Daher ist immer schon vermutet worden, dass die biologische Zentraluhr ihren Sitz im Gehirn und irgendwie Anschluss ans visuelle System hat. Die experimentelle Forschung hat dies bestätigt – aber in einer nicht vorhersehbaren Weise. 13.3.3 Die Zentraluhr der Nichtsäuger: Das Pinealorgan (Epiphyse) und Melatonin, ein allnächtlich erzeugtes Hormon (das auch noch in der Epiphyse des schlafenden Menschen produziert wird) Setzt man einem Vogel eine Augenbinde auf, die garantiert lichtundurchlässig ist, ist der arme Vogel
desorientiert. Klar. Überraschenderweise folgt sein Aktivitätsgebaren aber noch dem Hell-DunkelWechsel, und die innere Uhr kann auf ein neues Zeitprogramm umgestellt werden. Unter dem Schädeldach sitzen im Pinealorgan (synonym Epiphyse, Zirbeldrüse) photosensible Zellen mit strukturellen Merkmalen, die an die Zapfen des Auges erinnern (Abb. 13.3). Die Photosensoren sind lichtempfindlich genug, um auf die wenigen Lichtquanten zu reagieren, die durch Federkleid, Haut und Schädelknochen zur Epiphyse gelangen. Tiefer unten im System der Wirbeltiere gibt es gar ein drittes Auge, nicht nur bei der Brückenechse, bei der es äußerlich sichtbar ist und diesem Reptil zum Ruhme verhalf. Auch bei Haien, Fröschen und Eidechsen findet der Anatom ein augenähnliches Pinealorgan mit zapfenartigen Photorezeptoren, wenn auch unter der Haut verborgen. Bei den im System der rezenten Wirbeltiere an basaler Stelle stehenden Neunaugen sind gar zwei unter der Haut verborgene Organe mit Photorezeptoren (Pinealorgan und Parietalorgan) zu finden, mutmaßlich Relikte eines ehemaligen zweiten Augenpaares. Im Säugergehirn hingegen ist es dunkel. Unser Pinealorgan muss (indirekt) vom Auge informiert werden, ob es nun hell oder dunkel ist. Auch wenn bei Säugern in der Epiphyse lichtempfindliche Sensoren fehlen, so hat sie in einem doch ihr evolutives Erbe bewahrt: Sie ist Produzent eines „uralten“ Hormons, des Melatonins. Es war äußerst aufregend, als man entdeckte, dass die Epiphyse – nicht nur der ‚niederen’ Wirbeltiere, sondern auch der Säuger –in regelmäßigem Rhythmus allnächtlich und in Übereinstimmung mit der inneren Uhr ein Hormon bildet und entlässt, das augenscheinlich in der Lage ist, verschiedene circadiane Rhythmen zu synchronisieren. Wird im Experiment die innere Uhr verstellt, verschiebt sich auch die Synthese und Freisetzung dieses Hormons. Das Hormon ist Melatonin (Abb. 13.3). Melatonin war schon als ein Hormon bekannt, das antagonistisch zu MSH die Dispersion des schwarzen Pigments in der Haut von Fröschen steuert. Seltsamerweise bewirkt es eine Aufhellung, obwohl Melatonin im Dunkeln synthetisiert wird. Melatonin ist ein Aminosäurederivat; es wird aus der Aminosäure Tryptophan hergestellt. Es dürfte evolutionsgeschichtlich eine der ältesten Signalsubstanzen
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322
13 Biorhythmik I: Circadiane Rhythmen und innere Uhren
Pinealocyt der Epiphyse Reptilien Vögel Amphibien Säuger
sein; denn es wird schon bei Einzellern gefunden. Bei der Herstellung von Melatonin aus Tryptophan ist ein Enzym, die N-Acetyltransferase beteiligt, deren Aktivität tagesperiodisch schwankt und nachts ihr Maximum hat. Aus der Epiphyse von Vögeln hat man Pinealzellen (Abb. 13.3) herausgenommen, voneinander isoliert (dissoziiert) und in Kultur genommen. Sie produzierten auch im Dauerdunkel in circadianen Perioden das Hormon Melatonin; und sie ließen sich durch Licht auf einen neuen Rhythmus einstellen (entrainment). Die einzelne Zelle schon kann eine circadiane Uhr besitzen und allnächtlich Melatonin freisetzen. Hormonphysiologen und Biorhythmikforscher schreiben dem Melatonin allerlei Wirkungen zu (die in der journalistisch aufgemachten Sekundärliteratur und in den Prospekten aus den Marketingabteilungen der pharmazeutischen Industrie manchmal ins Wundersame gesteigert sind):
Melatonin
Gonadenentwicklung
Synchronisation circadianer Rhythmen
●
Melatonin soll innere Uhren synchronisieren und helfen, den Jet lag zu überspielen. Diese Angaben sind jedoch strittig.
●
Es soll lebensverlängernd sein. Aber Vorsicht:
● Melatonin hat bei einer Reihe von Wirbeltieren antigo-
nadotrope Wirkung: Es löst eine Reduktion der Gonaden aus. ● Je nach Wirbeltierklasse schreibt man dem Melatonin
eine Rolle zu bei der Regulation der lokomotorischen Aktivität, des Farbwechsels, der Lichtempfindlichkeit des Auges und des Schlaf-Wach-Rhythmus. Ein „Schlafhormon“ ist es aber nicht.
Tryptophan
Serotonin = 5-Hydroxytryptamin
13.3.4 Die Zentraluhr der Säuger, der SCN, ist ein Teil des Hypothalamus
Melatonin
CO
O
NH2 N Abb. 13.3. Pinealocyten und Melatoninsynthese. Die „Fahne“ (Außenglied) des Pinealocyten der Amphibien trägt Mikrovilli; der Pinealocyt ist den Photorezeptoren der Augennetzhaut ähnlich. Diese Fahne ist bei Sauropsiden nur noch andeutungsweise, bei Säugern nicht mehr vorhanden
Bei Säugern hat sich eine neue Zentraluhr etabliert, die vom Auge über Tag und Nacht informiert wird. Es ist der supra-chiasmatische Nucleus SCN (lat./ griech.: supra = oberhalb; chiasma = Sehnervüberkreuzung; nucleus = Kern; d. h. Gebiet im Gehirn mit Zellkernen). Der SCN liegt im Hypothalamus nahe den Kerngebieten, in denen neurosekretorische Zellen ihre Heimstatt haben (Abb. 13.4 u. 11.5). Mehr noch, der SCN enthält selbst neurosekretorische Zellen. Zum Beispiel solche, die Adiuretin/Vasopressin erzeugen, aber ihr Sekret nicht
13.3 Zentraluhren Abb. 13.4. Zentraluhr der Säuger und physiologische Funktionen, die von ihr indirekt gesteuert werden. Zentraluhr ist der über der Sehnervkreuzung (Chiasma) liegende, sehr kleine suprachiasmatische Nucleus SCN. Er ist direkt mit Neuronen der Retina verbunden, welche lichtabsorbierendes Melanopsin enthalten und mutmaßlich als Belichtungsmesser zum Nachjustieren der Zentraluhr dienen. Die mit dem SCN indirekt in Kontakt stehende Epiphyse und die Hypophyse helfen mit ihren Hormonen Melatonin und ACTH, periphere Uhren in Gleichtakt mit der Zentraluhr SCN zu bringen
Neurone des SCN CLOCK PER/CRY in Kerne
PER/CRY
Uhrverstellung durch RetinaNeurone
Hypophyse Zentraluhr: Suprachiasmatischer Pinealorgan Nucleus SCN (Epiphyse)
15 pmol/L
Melatonin ins Blut
ACTH ins Blut
300 pmol/L
10
200
5
100
Cortisol im Blut
Körperkerntemperatur
300 nmol/L
37,5
200
37,0
100
36,5
12
°C
18
0
in der Neurohypophyse in die Blutbahn entlassen, sondern augenscheinlich im Gehirn selbst entladen. Wird der SCN herausoperiert, geht die Schlaf-WachRhythmik verloren, die Rhythmik der lokomotorischen Aktivität und die circadiane Rhythmik, in der verschiedene Hormone (Wachstumshormon, Pro-
6
12
12
18
0
6
12
lactin, Adiuretin/Vasopressin und ACTH) von der Hypophyse ausgeschüttet werden. Als Folge davon kommen auch manch periphere Rhythmen aus dem Takt oder zum Erliegen. Die Uhr kann transplantiert werden, wobei sie weiterläuft. Bei Goldhamstern kennt man eine
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13 Biorhythmik I: Circadiane Rhythmen und innere Uhren
Frühaufsteher-Mutante, deren endogener Rhythmus mit einer Periode von 20 Stunden schwingt. Werden die Uhren (SCN) der Mutante und die Uhr (SCN) eines langschlafenden Normaltiers wechselseitig ausgetauscht, wird das Normaltier zum Frühaufsteher und die Mutante wird zum üblichen Langschläfer. Wird die elektrische Aktivität des SCN pharmakologisch stillgelegt (Versuche an Ratten), läuft die Uhr trotzdem weiter. Die oben (Abschn. 13.2.1) beschriebene biochemische Uhr steuert die elektrischen Aktivitäten, ohne von diesen abhängig zu sein. Herausgelöste SCN-Zellen behalten in der Zellkultur rhythmische Aktivitäten; die circadiane Uhr ist zellautonom. Neurone des SCN erzeugen nicht nur Sekrete; sie sind reguläre Nervenzellen, die auch elektrische Impulse erzeugen und sie tun dies tagesperiodisch. Der SCN dirigiert die peripheren Uhren vermutlich über verschiedene Signalwege (Abschn. 13.3.6).
13.3.5 Die Synchronisation der Zentraluhr mit dem Sonnenstand geschieht über ungewöhnliche Photopigmente Während in der Fliege jede circadian tätige Zelle dank ihres Cryptochromgehalts grundsätzlich in der Lage ist, sich an den natürlichen oder einen künstlich vorgegeben Hell-Dunkelwechsel anzupassen, und das Pinealorgan der Nichtsäuger mit eigenen Photorezeptoren ausgestatten ist, ist der SCN auf Meldungen der Augen angewiesen. Zwar werden im SCN der Säuger ebenfalls cry Gene exprimiert, und CRY Proteine sind Bestandteile des Uhrenwerks. Doch sitzt der SCN so tief im Schädel, dass ihn selbst kein Licht erreicht. CRY findet sich auch in der Retina. Ganglienzellen der Netzhaut besitzen eine eigene innere Uhr, vergleichbar dem Uhrwerk der Neurone im SCN (Tosini G et al. 2008). Maus-Mutanten ließen allerdings zweifeln, ob bei Säugern CRY für die Licht-gesteuerte Nachstellung der Uhr verantwortlich ist. Aber auch die bekannten Photorezeptoren, die für das Sehen benötigten Stäbchen und Zapfen, kommen nicht in Betracht. Eine blinde Mausmutante ohne Stäbchen und Zapfen folgt einem entrainment-Programm; ihre Uhr lässt sich durch Licht verstellen. Seit 2000
richtet sich das Augenmerk der Biorhythmusforscher auf retinale Neurone (Ganglienzellen), die selbst – unabhängig von den Stäbchen und Zapfen – Lichtinformation auswerten und an das Gehirn weiterleiten. Manche sind mit einem direkten Draht mit dem SCN verbunden und enthalten einen neu entdeckten Sehfarbstoff der Opsinklasse, genannt Melanopsin. Das entsprechende Gen wird nur in einigen Ganglienzellen der Retina, nicht aber in den klassischen Photorezeptoren, den Stäbchen und Zapfen, exprimiert, und auch sonst nirgendwo im Körper. Ausschalten des Gens durch knockout-Mutation lässt ein Nachjustieren der Uhr nicht mehr zu (Reppert u. Weaver 2001).
13.3.6 Die Synchronisation der peripheren Uhren wird vermutlich vom autonomen Nervensystem und mehreren Hormonen vermittelt Die zentrale Schrittmacheruhr der Säuger ist also einerseits über einen retino-hypothalamischen Nerventrakt mit dem Auge als Beleuchtungsmesser verbunden (Abb. 13.4); andererseits gibt es Faserzüge hin zu den Ursprüngen des vegetativen Nervensystems. Der SCN ist selbst ein Teil des Hypothalamus, dem zentralen Steuerorgan vegetativer Funktionen und der obersten Steuerzentrale des Hormonsystems. Demzufolge kommen als Synchronisatoren der peripheren Uhren neben dem Melatonin der Epiphyse auch andere Hormone wie das tagesperiodisch frei gesetzte ADH/Vasopressin der Neurohypophyse, das Adrenocorticotrope Hormon ACTH der Adenohypophyse und sogar sympathische und parasympathische neuronale Leitungen in Betracht. Der SCN ist über Nervenfasern mit dem Zentrum des Parasympathicus verbunden, von dem aus der Nervus vagus in die peripheren Organe zieht (s. Abb. 10.4), und auch mit den Zentren des Sympathicus. Von sympathischen Ganglien im Bereich des Nackens steigen Bahnen kopfwärts hinauf zum Pinealorgan (Epiphyse), andere Fasern ziehen in die Peripherie. Die zur Nebenniere ziehende sympathische Bahn könnte der Signalweg sein, über den die morgendliche Freisetzung der Glucocorticoide (Cortisol) veranlasst wird (Okamura 2007), parallel zur tagesperiodischen Stimulation der Nebenniere über das Hypophysen-
13.4 Schlafen und Wachen
hormon ACTH. ACTH regt ebenfalls die Nebennierenrinde an, Cortisol freizusetzen. Bei beiden Hormonen wird die höchste Blutkonzentration frühmorgens gemessen (Abb. 13.4). Cortisol dürfte jener Vermittler sein, der tagesperiodische Aktivitäten des Immunsystems steuert und koordiniert.
13.4 Schlafen und Wachen 13.4.1 Schlafen wird nur bei Tieren mit höher entwickeltem Zentralnervensystem beobachtet, ist bei ihnen aber lebensnotwendig: In Schlafperioden werden ATP-Akkus wieder aufgeladen und störender Abfall entsorgt Der Süßwasserpolyp Hydra und die Qualle schlafen nicht. Sie zeigen zwar tagesperiodische Aktivitäten – leuchtende Quallen beispielsweise schalten nur nachts ihr Licht ein –, kommt aber ein kleiner Krebs vorbeigeschwommen, wird er unverzüglich gefangen und gefressen, ob es nun Tag oder Nacht ist. Schlaf wird beobachtet bei Tieren, die ein Zentralnervensystem mit Millionen und Milliarden Zellen besitzen. Säuger sind bald zu Tode gequält, wenn man ihnen den Schlaf entzieht. Man hat viel gerätselt und tut es noch, was der Schlaf soll. Manche bunten Spekulationen gehen völlig fehl, weil sie Schlaf mit Traum gleichsetzen. Welche Bedeutung Träumen hat, ist tatsächlich rätselhaft. Plausible physiologische Gründe für Schlafen sind indes leicht zu finden. In Zentralnervensystemen sind die Versorgung mit Energie und Sauerstoff und die Entsorgung von Stoffwechselendprodukten miserabel. Andererseits ist der Energiebedarf der feuernden Nervenzellen sehr hoch. Ihre ATP-Akkus sind nach einigen Stunden Betriebszeit entladen. Das ZNS braucht eine Erholungszeit, um seine ATP-Akkus nachzuladen, um schädliche Produkte zu entsorgen. Alkohol ist ein unphysiologisches schädliches Produkt, das als Modell für physiologische dienen kann. Alkohol macht müde. Erst wenn er abgebaut ist, wird man wieder munter. Die Suche nach natürlichen Schlafmitteln (‚Schlafhormone‘) ist seit langem im Gang, bisher ohne abschließendes Ergebnis.
Noch immer wird von amerikanischen pharmazeutischen Firmen Melatonin als Schlafhormon angepriesen. Vielleicht hilft es dem einen oder anderen über den Glauben. Von Zeit zu Zeit kommen weitere und neue Kandidaten für physiologische Schlafmittel in die Diskussion, so das Stoffwechselprodukt Adenosin, das beispielsweise bei vollständiger Entladung des ATP-Akkus übrig bleibt. Adenosin reichert sich im Stammhirn während des Wachzustandes an und wird während des Erholungsschlafes beseitigt. In einer bestimmten Region des Stammhirns aus einer künstlichen Quelle durch Mikrodiffusion freigesetzt, wirkt Adenosin als Schlafmittel. Bemerkenswert: Koffein blockiert Rezeptoren für Adenosin (Landolt 2008). Andere in die Diskussion gebrachte natürliche, Schlaf-induzierende Substanzen sind Prostaglandin D2 und ein Fettsäure-Derivat, Oleamid. Man muss in Geduld abwarten, bis der Arzt natürliche Schlafmittel verschreiben kann.
Weitere Gründe für die Notwendigkeit von Schlafperioden werden von Gedächtnisforschern vermutet. Zur Konsolidierung des Langzeitgedächtnisses brauche das Gehirn seine Ruhe.
13.4.2 Hirnstromkurven enthüllen bemerkenswerte Spezialitäten: Beim Menschen wechseln Phasen des REM-Schlafes mit Non-REM Phasen ab; Delphine lassen linkes und rechtes Gehirn abwechselnd schlafen Der Schlaf des Menschen geschieht in periodisch sich abwechselnden Phasen, die sich mit den Gerätschaften des Elektrophysiologen (s. Kap. 14) registrieren lassen. Phasen des Tiefschlafes wechseln mit Phasen, in denen rasche Bewegungen der Augen unter den geschlossenen Lidern (rapid eye movements REM) lebhafte (Traum)-Aktivitäten des Gehirns anzeigen. Die übrige Motorik des Körpers bleibt schlaff (von den Betreibern des vegetativen Lebens wie Atemapparat und Herz abgesehen). Als typisch gilt das Alternieren von zwei Tiefschlaf- und zwei REM-Phasen pro Nacht. Die Bedeutung dieses Wechselspiels ist nicht bekannt. Luftatmende, aber im Wasser lebende Tiere müssen sich originelle Schlafmethoden einfallen lassen, wenn Nase und Maul nicht für immer unter der Wasseroberfläche verschwinden sollen. Delphine, Wale und andere Meerestiere lassen die linke und rechte Hirnhälfte abwechselnd schlafen. Erkennbar ist dies
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13 Biorhythmik I: Circadiane Rhythmen und innere Uhren
an dem Wechselspiel der REM- und Non-REM Phasen zwischen linker und rechter Hirnhälfte.
den-Uhr kaum den Takt geben, schon gar nicht bei noch höheren Rhythmen. Specht und Schlagzeuger können ungeheuer präzise extrem schnelle Tempi einhalten.
13.5 Stoppuhren und Taktgeber 13.5.1 Dem Dirigenten und Schlagzeuger ginge die 24-Stunden Uhr viel zu langsam Menschen, aber auch viele Tiere, haben die Fähigkeit, in kurzen, sehr regelmäßigen Intervallen Handlungen zu wiederholen. Bei manchen Vögeln lösen sich Mann und Frau in festgelegten Stunden-Intervallen im Brutgeschäft ab. Im Experiment des Verhaltensforschers zeigen sich Vögel in der Lage, recht genau beliebig vorgegebene Intervalle zwischen zwei kurz aufeinanderfolgenden Ereignissen abzuschätzen. Für all solche Fähigkeiten kann die langsame 24-Stun-
Zusammenfassung des Kapitels 13 Nahezu alle Organismen folgen nicht nur passiv dem Tagesgang des Lichtes mit Phasen der Aktivität und der Ruhe, sondern stellen sich dank innerer Uhren in vielen ihrer physiologischen Funktionen vorbereitend auf periodische Wechsel der Umweltgegebenheiten ein. Sogar einzelne in Kultur gehaltene Zellen von Pflanzen und Tieren können tagesperiodische Muster in Enzymaktivitäten oder in der Erzeugung elektrischer Impulse zeigen, und dies auch unter konstanter Beleuchtung und gleich bleibenden Umweltbedingungen. Die innere Uhr ist circadian, d. h. hat eine spontane Gangperiode von ungefähr 24 h, ist temperaturkompensiert, begrenzt verstellbar und wird in der Regel durch Licht mit dem Naturtag synchronisiert. Die molekulare Konstruktion der circadianen Uhr wurde bei Drosophila aufgedeckt und ist in ähnlicher Weise auch in Zellen der Säuger verwirklicht. Morgens werden (mindestens) zwei Gene aktiviert und liefern zwei Proteine, PER und TIM bei Drosophila, PER und CRY in Säugerzellen. Gegen Abend haben sich diese Proteine im
13.5.2 Die Stoppuhr ist neuronal und wird in Basalganglien vermutet Viel mehr als der Titel dieses Abschnittes hergibt, ist gegenwärtig noch nicht zu sagen. Die Basalganglien sind Teil des evolutionsgeschichtlich alten Stammhirns, und manche der Basalganglien sind an der Auslösung und Koordination von Muskelbewegungen beteiligt. Die Stoppuhr – wenn es denn eine Uhr geben sollte – muss Eingänge für Information von den Sinnesorganen haben und mit dem Gedächtnis verbunden sein. Der Musiklehrer gibt einen Rhythmus vor, der Schüler spielt ihn nach.
Cytoplasma über einen kritischen Schwellenwert angereichert, bilden PER/TIM bzw. PER/CRY Heterodimere, dringen als solche in den Zellkern und schalten im Sinne einer negativen Rückkopplung ihre eigenen Gene ab. Nachts werden diese heterodimeren Repressoren abgebaut, sodass morgens neue Genaktivitäten in Gang kommen können. In der Fliege wie im Wirbeltier gibt es mehrere Zellen und Gewebe, die mit eigenem Uhrwerk ausgestattet sind. Beim Menschen schwanken Körpertemperatur, die Konzentration verschiedener Hormone im Blut (Wachstumshormon, ADH, ACTH, Cortisol), Aktivitäten des Immunsystems und Enzymaktivitäten der Leber tagesperiodisch. Zentraluhren im Gehirn synchronisieren die Einzeluhren. Die circadianen Gehirnneuronen in der Fliege werden mittels Cryptochrom, einem Blaulichtsensor, an den Tagesgang gekoppelt, bei Reptilien und Vögeln besitzt das Pinealorgan (Epiphyse) des Zwischenhirns Lichtrezeptoren und sendet das synchronisierende Hormon Melatonin aus, ein Hormon, das auch im Säuger nachts von der Epiphyse ausgesandt wird. Im Säuger hat sich aber eine neue Zentraluhr etabliert, der Su-
Zusammenfassung des Kapitels 13
prachiasmatische Nucleus SCN des Hypothalamus. Dieser ist in direkter Leitung mit dem Auge verbunden, wo bestimmte Retinaneuronen mit einem speziellen Pigment, dem Melanopsin, die Funktion eines Lichtsensors übernommen haben. Vom SCN werden die Epiphyse und die peripheren Uhren vermutlich indirekt über Hormone der Hypophyse und das vegetative Nervensystem syn-
chronisiert. Neben 24-h-Uhren gibt es im Gehirn Stoppuhren mit hoher Taktfrequenz. Schlafphasen, beim Menschen hauptsächlich die Tiefschlaf-(Non-REM-)Phasen, dienen u. a. dazu, erschöpfte Nervenzellen des Gehirns wieder mit Energie aufzuladen. Delphine und andere Meeressäuger lassen linkes und rechtes Gehirn abwechselnd schlafen.
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14 Bioelektrische Signale
Luigi Galvani, Anatom an der Universität Bologna, beobachtete 1789 wie ein enthäutetes Froschbein, das mit einem Kupferhaken nahe dem Balkongeländer aufgehängt war, jedes Mal zusammenzuckte, wenn das Bein mit dem Eisengeländer in Berührung kam. Auch wenn wir diese geisterhafte Erscheinung hier nicht im Einzelnen erklären, wird die Mehrzahl der Leser erkennen, dass hier offensichtlich ein „galvanisches Element“ seine Geisterhand im Spiele hatte, das sich zwischen Kupfer und Eisen über den feuchten, elektrolythaltigen Muskel hinweg eine elektrische Spannung aufbaute und Elektronen vom Eisen über den Muskel (oder den zuführenden motorischen Nerven) zum Kupfer floss. Dieser Strom hatte in den Muskelzellen oder im motorischen Nerven bioelektrische Signale in Form von Aktionspotentialen ausgelöst, welche ihrerseits die Kontraktion des Muskels veranlassten.
Der fleißige Galvani ersann vielerlei Versuche und kam zu dem Schluss, dass es im tierischen Körper eine eigene Art Elektrizität gäbe, ein zartes Fluidum, das vom Gehirn durch die Nerven zum Muskel ströme. Galvanis Anhänger, Alessandro Volta, erkannte dann, dass in diesen speziellen Versuchen die zwei unterschiedlichen Metalle den auslösenden Strom erzeugten. Es gibt jedoch durchaus bioelektrische Signale, und davon ist im Folgenden die Rede. Seit jenen aufregenden Tagen ist es um den Frieden des Froschmuskels geschehen. Heute noch werden alljährlich in physiologischen Grundkursen Beinpräparate von Fröschen (oder von der gezüchteten Krallenkröte Xenopus) aufgehängt und mit Stromstößen zur Kontraktion stimuliert. Artifiziell ist der Versuch noch immer insoweit, als Ströme von Elektronen nicht die natürlichen biologischen Ströme repräsentieren. Elektrische Spannungen indes sind immer im Spiel.
Um die elektrischen Aspekte des Phänomens zu verstehen, brauchen wir nicht das „Fluidum der tierischen Elektrizität“ des Luigi Galvani, nicht den „tierischen Magnetismus“ des Wunderheilers Messmer und nicht die „Energieaura“ des Esoterikers zu bemühen. Für ein erstes Grundverständnis genügen die Physikkenntnisse aus der Mittelstufe des Gymnasiums, ergänzt durch einige Erläuterungen zur spezifischen Terminologie und Messtechnik des Elektrophysiologen (Box 14.1). Was wir erarbeiten müssen, ist ein Grundverständnis folgender Phänomene: ●
Ruhepotential,
●
graduierte lokale Potentiale, die eine erste Codierung von Information in der Sprache des Sinnes-Nervensystems widerspiegeln,
●
nichtgraduierte aber fortgeleitete Aktionspotentiale, die zur Fernübertragung codierter Information eingesetzt werden.
14.1 Wie eine elektrische Membranspannung entsteht 14.1.1 Lebende Zellen sind in aller Regel im Inneren negativ geladen Man verbindet eine Mikroelektrode, das heißt eine mit Elektrolytlösung (Kaliumchlorid KCl) gefüllte spitze Glaskapillare, mit einer Messanordnung, die es erlaubt, auch kleinste elektrische Spannungen trägheitsfrei zu registrieren und auf dem Bildschirm eines Rechners darzustellen (Abb. 14.4). Vor der Mikroelektrode liegt eine „erregbare“ Zelle, d. h. eine Sinnes-, Nerven- oder Muskelzelle. Das Messgerät in der Leitung zwischen dieser „aktiven“ Mikroelek-
330
14 Bioelektrische Signale
BOX 14.1 Ein Minimum an Elektrophysik und Elektrotechnik aus der Sicht des Physiologen
Es geht in der Elektrophysiologie wie in der Physik um elektrische Ströme, Spannungen und Felder. Der Physiologe hat jedoch mit Phänomenen zu tun, die im Schulbuch der Physik allenfalls am Rande behandelt werden, und er benützt mitunter physikalisch klingende Begriffe, wie z. B. „Einwärtsstrom“, die dem Physiker oder Techniker in der Regel fremd sind. Strom. Schon beim Grundbegriff Strom hat der Physiologe seine eigene Vorstellung. Mit dem Physiker und Techniker ist er sich zwar einig, dass Strom Fluss elektrischer Ladung ist. Er wird sich diesen Fluss jedoch immer als Fluss von Ionen vorstellen. An Elektronen als Ladungsträger wird er in der Regel nur denken, wenn er sich mit seinen elektronischen Messgeräten beschäftigt. Strom, der zur Codierung und Weiterleitung von Information im Körper benutzt wird, ist Fluss von Ionen, nicht Fluss von Elektronen. Nervenfasern sind in dieser Hinsicht nicht mit Telefonkabeln gleichzusetzen. Es gibt in der Zelle außer Ionenflüsse durchaus auch Elektronenflüsse, aber nur über sehr kurze Strecken; beispielsweise in der Atmungskette der inneren Mitochondrienmembran. Für Fernübertragungen fehlen gute und gegenüber ihrer Umgebung völlig isolierte Leiter.
Ionen existieren als positiv geladene Kationen und als negativ geladene Anionen. Demzufolge gibt es in der Physiologie wie in Lösungen von Elektrolyten sowohl Flüsse von positiven wie von negativen Ladungsträgern, je nachdem, ob sich Kationen oder Anionen auf den Weg machen. Vielfach machen sich beide auf den Weg, die Kationen in die eine Richtung, die Anionen in die Gegenrichtung. Beispielsweise könnten durch Kanäle der Zellmembran Kationen in die Zelle hinein, durch andere Kanäle Anionen aus der Zelle hinaus strömen. Was wäre da die Stromrichtung, was wäre die Stromstärke? Stromrichtung. Vereinbarungsgemäß orientiert man sich bei der Festlegung der Stromrichtung an
der Flussrichtung der positiven Ladung. Also ist die Stromrichtung die Richtung, in der die Kationen fließen. Was ist nun aber mit den Anionen – sie tragen ja auch elektrische Ladung? Die offizielle Stromrichtung ist zugleich die Gegenrichtung zu der Richtung, in der sich die Anionen bewegen. In der Physiologie sind die Orte, an denen Ionenflüsse von ganz besonderer Bedeutung sind, feinste Kanäle durch Zellmembranen. Es ist eine Besonderheit solcher Kanäle, dass sie in aller Regel Ionen-spezifisch sind. Ein Chlorid-Kanal lässt nur negativ geladene Chlorid-Ionen durch, und bei ihm ist der buchhalterische Stromfluss gemäß der physikalischen Definition zur Gänze der tatsächlichen Fließrichtung der Ladungsträger entgegengesetzt! Der Einwärtsstrom des Elektrophysiologen ist ein Einstrom von Kationen in die Zelle und/oder ein Ausstrom von Anionen aus der Zelle (das Messgerät kann das im Regelfall nicht unterscheiden). Was Auswärtsstrom heißt, kann man nun leicht selber ableiten. Stromstärke. Man sitzt vor dem Kanal und zählt die Menge der Kationen, die in die Zelle pro Zeit hineinströmen, und addiert die Menge der Anionen, die aus der Zelle herauskommen. Es ist dann noch zu vermerken, ob wir einwertige (einfach geladene) Ionen wie Na+ und K+ gesehen haben oder zweiwertige Ionen wie Ca2+. Ist Q die Ladungsmenge, so ist die Stromstärke I =
Q t
(in Ampere; 1 A = 1 C/s). Stromstrecken. In lebenden Geweben bewegen sich Ionen im Allgemeinen nur über kurze Strecken: durch Zellmembranen und vielleicht noch 1 μm weiter. Wie man trotzdem zu Fernleitung von Information kommt, wird noch erläutert werden – es werden sich dabei Spannungsänderungen fortpflanzen und nicht wie in den elektrischen Fernleitungen des Kraftwerks Ströme über große Strecken fließen. Potential, Spannung und Widerstand. Damit elektrische Ladung fließt, braucht man ein Gefälle. 7
14.1 Wie eine elektrische Membranspannung entsteht
331
BOX 14.1 (Fortsetzung)
Die Ladungsträger müssen zuvor auf eine „Höhe“ angehoben werden. Maß der Höhe bzw. der Überführungsarbeit, die gebraucht wird, die Ladung auf die Höhe zu bringen, ist das elektrische Potential. Potential meint die potentielle Energie, die eine Ladungseinheit in sich birgt.
Druck Pascal Volt
Widerstand
Mechanik Die auf 1 kg bezogene potentielle Lageenergie heißt Potential Φ
Elektrizität Die auf ein Coulomb bezogene potentielle Energie heißt Potential Φ Im Gravitationsfeld der Bei einer Feldstärke E = 50 N/C hat eine Erde hat ein Objekt von 1 kg auf 2 m ange- Ladung von 1 C um hoben ein Potential von 20 cm angehoben ein Φ = g ⋅ h = 20 J/kg Potential von Φ = E ⋅ h = 10 J/C = 10 V
Pumpe
elast. Membran 2 0 Druck -2
Verbraucher (z.B. Mahlwerk)
Flussmeter mit geringem Widerstand
8.8V
11.8V R
Potentialgefälle ermöglichen in beiden Fällen Flüsse. Ein Potential als solches freilich lässt noch kein Wasser und keinen elektrischen Strom fließen. Ein Bergsee kann unbeweglich still sein. Man braucht eine Potentialdifferenz zwischen zwei Orten, und es darf kein unüberwindliches Hindernis (Widerstand) dazwischen liegen. Eine elektrische Potentialdifferenz heißt im Alltagsdeutsch (elektrische) Spannung. Um unsere Vorstellung über Spannung und Strom durch analoge, bekannte mechanische Erscheinungen stützen zu können, bedienen wir uns zweier Modelle: Modell 1: Flüssigkeitskreislauf. Dabei kann man sich je nach persönlicher Vorliebe einen Hydraulikkreislauf (Abb. 14.1) oder den Blutkreislauf vorstellen. Das schlichte Modell macht deutlich, warum und wie Strom in technischen Gerätschaften fließt (ist aber für das Verständnis von Vorgängen an biologischen Membranen weniger geeignet). Strom, ob Flüssigkeitsstrom oder elektrischer Strom, fließt nur dann, wenn eine Druckdifferenz bzw. eine Potentialdifferenz den nötigen Antrieb verschafft. Potentialdifferenz heißt im Alltagsleben Spannung. Elektrische Spannung ist (im Allgemeinen) die Potentialdifferenz zwischen dem betrach-
12V
+
8V 12
V
6
Voltmeter mit hohem Innenwiderstand
V 2V
0V 0.2 V
A
0.2
V
Amperemeter mit geringem Innenwiderstand
Erde
Abb. 14.1. Stromkreis versus Hydraulikkreislauf
teten Ort (1. Messpunkt) und der Erde als Referenz (2. Messpunkt). Den Druck bzw. die Spannung messen wir in Pascal bzw. Volt. Häufig misst der Elektrophysiologe die Spannung zwischen dem Zellinneren und dem geerdeten Außenmedium (s. Abb. 14.4), dem schlichtweg per Definition der Potentialwert Null zugeschrieben wird. Modell 2: Gespannte Federn. Positive und negative Ladungen ziehen sich an. Kationen und Anionen ziehen sich an; sie sind durch eine Feder (elektrisches Feld) miteinander verbunden. Um sie auseinander zu ziehen (Überführungsarbeit),
7
332
14 Bioelektrische Signale
BOX 14.1 (Fortsetzung)
Ladung
Ladung
Kraft, je stärker sie schon gedehnt ist. Im elektrischen (wie im magnetischen) Feld ist es umgekehrt. Zur anfänglichen Trennung der Ladung brauche ich viel Kraft. Sind die Ionen weit genug voneinander entfernt, ist die Anziehungskraft so gering, dass die Ionen unbehelligt weiter weg driften (diffundieren) können.
Kraft
Spannung
Widerstand
Bewegung =
Strom
Widerstand aufgehoben
Abb. 14.2. Spannung durch Ladungstrennung. Die gespannte Feder symbolisiert die elektrische Spannung (Potentialdifferenz)
braucht man Kraft. Man muss die Feder spannen (Abb. 14.2). Es herrscht nun eine „Spannung“; es ist in der Feder „potentielle“ Energie gespeichert. Die Feder will sich zusammenziehen, möchte ihre potentielle Energie in kinetische umwandeln. Will man das verhindern, muss man eine unbewegliche Sperre (Widerstand) anbringen. Im Falle lebender Zellen ist diese Sperre die Zellmembran. Sie trennt Kationen von Anionen. Wie alle Modelle aus einer anderen physikalischen Welt hat auch dieses Modell eine große Schwäche. Um eine Feder auseinander zu ziehen, brauche ich mehr und mehr
Eine Spannung bleibt nur über einen Widerstand erhalten. Bei Lösen des Widerstandes schnurrt die Feder zusammen; es bricht die Spannung zusammen. Wird der Widerstand der Zellmembran aufgehoben – synonym: wird die Leitfähigkeit der Zellmembran erhöht – stürzen Anionen und Kationen aufeinander zu. Die Spannung bricht zusammen. Die sich bewegenden Ionen sind zugleich das, was wir oben wie Physiker als Strom bezeichnet hatten. Eine Gruppe von Federn zwischen Gruppen von Ionen entspräche einem elektrischen Feld größerer Dimensionen. Nun aber müssen wir unser einfaches Modell erweitern. Nur Kationen und Anionen ziehen sich an. Zwischen gleichnamig geladenen Ionen (Kationen und Kationen, Anionen und Anionen) müssen wir andere Federn einspannen, nicht gedehnte Zugfedern, die zusammenschnurren wollen, sondern gestauchte Druckfedern, die expandieren und die Ladungen voneinander wegdrücken wollen. Auch solche Federn tragen zum elektrischen Feld und damit zur messbaren Spannung bei (Abb. 14.3). Im Weiteren wollen wir Messgeräte einsetzen, und solange wir dies tun, werden wir uns zur Erleichterung unserer Vorstellung mehr an das Modell 1, dem Modell mit dem Flüssigkeitskreislauf, halten. Und wir erinnern uns an den Physikunterricht der Schule: Das Ohmsche Gesetz: I = U/R I = Stromstärke in A (Ampere) U = Spannung in V (Volt) R = Widerstand in Ω (Ohm) In der Form R = U/I = V/A (Ohm) ist das Ohmsche „Gesetz“ nichts anderes als die Definition des elektrischen Widerstandes und als
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14.1 Wie eine elektrische Membranspannung entsteht
333
BOX 14.1 (Fortsetzung) Bewegung von Ionen im elektrischen Feld
Hauptleitung zusammen. Der Innenwiderstand des Voltmeters muss beträchtlich größer sein als der Widerstand in der Hauptleitung. In der Physiologie benutzt(e) man seit Jahrzehnten als Voltmeter den rasch und trägheitslos reagierenden Oszillographen (Oszilloskop). Der hat aber in aller Regel einen zu geringen Innenwiderstand. Ohne Vorschaltwiderstand („Probe“-Kopf, hochohmiger Vorverstärker) könnte meine Messanordnung das Zellinnere mit dem Zelläußeren „kurz schließen“. Es flösse Strom vom Außenmedium durch mein Gerät in die Zelle hinein (oder in umgekehrter Richtung), bis das Potential der Zelle dem Außenpotential angeglichen, die Potentialdifferenz folglich auf Null zusammengebrochen ist. Heute sind überwiegend speziell für den Elektrophysiologen entwickelte, elektronische Messgeräte in Gebrauch, die mit dem PC verbunden werden. Der Monitor des PC wird zum Anzeigegerät.
Abb. 14.3. Ionenbewegungen im elektrischen Feld. Modell
solche erst mal nur für den Schulunterricht von Interesse oder für das Verständnis von Messgeräten wichtig. Wenn jedoch plötzlich der Widerstand der Zellmembran sinkt und sich entsprechend die Leitfähigkeit der Membran (1/R) erhöht, deutet dies auf eine Öffnung von Ionenkanälen. Die Öffnung tut sich dadurch kund, dass eine bestimmte Prüfspannung plötzlich einen höheren Stromfluss erzeugt. Potential(differenz)-Messung. Will ich Drücke/ Spannungen messen, muss ich die Leitung am ersten Messpunkt anzapfen und etwas Strom durch mein Messgerät zum zweiten Messpunkt fließen lassen. Schließlich brauche ich etwas Energie, um das Messgerät zu betreiben. Aber zuviel Strom darf ’s nicht sein, sonst bricht der Druck in der
Die Sonden (probes), die ich an den ersten und den zweiten Messpunkt anlege, nennt man üblicherweise in der Elektrophysiologie Elektroden. In der Praxis zieht man zur Herstellung der ersten MessSonde, der „aktiven“ oder „intrazellulären“ Elektrode, eine Glaskapillare bei der Schmelztemperatur des Glases zu einer spitzen Mikropipette aus, deren mikroskopisch feine Spitze eine Öffnung mit einem Durchmesser von 0,5 bis unter 0,1 μm hat. Die Mikropipette wird mit einer leitenden Flüssigkeit (KCl-Lösung) gefüllt und durch eine Elektrode aus Silber-Silberchlorid mit dem ersten Eingang eines hochohmigen Vorverstärkers verbunden. Dieser wiederum ist mit dem Rechner verkabelt. Der zweite Eingang wird ebenfalls mit einer Elektrode aus Silber-Silberchlorid verbunden. Diese „inaktive“ oder Referenz-Elektrode taucht in das gepufferte Bad ein, in dem sich mein Präparat befindet, und ist geerdet. Die spitze aktive Elektrode wird mit einem kurzen, wohldosierten Stoß durch die Zellmembran gestochen, sodass sie aus dem Zellinneren Strom herausführen und dem Vorverstärker zuführen kann (Abb. 14.4). Silber-Silberchloridelektroden werden verwendet, weil sie ein konstantes elektrisches Potential in einer physiologischen Salzlösung haben; einfache Metalldrähte würden in dieser Lösung korrodieren und dabei ständig ihre elektrischen Eigenschaften verändern. Die eingestochene Elektrode muss von der Zell-
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334
14 Bioelektrische Signale
BOX 14.1 (Fortsetzung)
mV
Vorverstärker - 73
0
-70
Probe (Sonde) >105Megaohm Mikroelektrode
Einstichmoment
t
Referenzelektrode
Erde Abb. 14.4. „Intrazelluläre Ableitung“, d. h. Messung der elektrischen Spannung zwischen Zellinnerem und dem geerdeten äußeren Bad
membran dicht umschlossen sein, damit kein Leck einen Kurzschluss zwischen Zellinnerem und dem äußeren Bad verursacht. Wie man Stromrichtung und Stromstärke experimentell beeinflusst. Man macht sich das Prinzip der elektrostatischen Anziehung zunutze. Gleichnamige Ladungen stoßen sich ab, ungleiche Ladungen ziehen sich an. Mit einer negativ geladenen Kathode ziehe ich positiv geladene Kationen an und stoße zugleich und unvermeidlich die negativen Anionen ab. Und umgekehrt: mit der positiv geladenen Anode ziehe ich negativ geladene Anionen an, aber verjage gleichzeitig und unvermeidlich Kationen. Ob Kathode oder Anode: sie heißen in der Praxis wieder mal Elektroden. Eine Elektrode, mit der ich Spannungen messe, kann blitzschnell in eine Kathode oder Anode verwandelt werden, wenn ich sie mit einer externen Spannungsquelle (z. B. Batterie) verbinde. Die Polarität der elektrischen Spannung, die ich von einer Spannungsquelle beziehe, bestimmt,
ob meine Elektrode als Kathode oder Anode wirkt. Die Stärke der Spannung bestimmt, bei gegebenem Widerstand, die Menge der sich bewegenden Ionen, also die Stromstärke, die ich mit meinen Elektroden erzeugen kann. Messung der Stromstärke. Will ich die Stromstärke messen, muss ich mein Messgerät so in den Stromkreis einbauen, dass der gesamte Strom durch das Messgerät fließt (Abb. 14.1). Das ist in der Physiologie ein schwieriges Unterfangen; denn die Ströme fließen durch zahlreiche Ionenkanäle der Zellmembran mit wenigen Nanometern Durchmesser. Man hat sich hier das indirekte Verfahren der Voltage-clamp-Technik einfallen lassen (Abb. 14.5a). Fließt Strom ( I) aus der Zelle heraus (Übungsfrage: Was heißt das nun?), so schicke ich einen Gegenstrom (−I) in die Zelle hinein, dessen Stärke so bemessen ist, dass er den Auswärtsstrom gerade kompensiert. Die Spannung zwischen Zellinnerem und Zelläußeren ändert sich also trotz Stromfluss nicht (daher „voltage clamp“ = „Span-
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14.1 Wie eine elektrische Membranspannung entsteht
335
BOX 14.1 (Fortsetzung)
Strom
Spannungsklemme (Voltage clamp amplifier)
künstlicher Gegenstrom (-I)
+ 300 pA Spannung
Rf
USoll = - 60mV
Zeit
Sollspannung Ableitelektrode zur Messung der Stromstärke
a
natürlicher Einwärtsstrom
Stromklemme (Current clamp amplifier) -73mV aktuelles Membranpotential
Strom
(I)
Spannung
Abb. 14.5a, b. Voltageclamp-Technik zum Konstanthalten eines Zellmembranpotentials (a). Eine intrazelluläre Ableitelektrode misst den momentanen Istwert des Membranpotentials. Falls gewünscht, kann der Experimentator einen bestimmten Sollwert vorgeben. Der Istwert wird auf den Sollwert gebracht, indem dem natürlichen, durch offene Ionenkanäle fließenden Einwärtsstrom I soviel Strom mit entgegengesetzter Polarität −I entgegengeschickt wird, dass sich beide Ströme wechselseitig kompensieren. Es gilt [−I]=[I]. Ändert sich der Widerstand der Zellmembran, weil Ionenkanäle sich öffnen oder schließen, dann spiegelt der zur Konstanthaltung des Membranpotentials benötigte Gegenstrom in jedem Moment quantitativ den natürlichen Strom wider, der durch die Kanäle fließt. Die Stärke des natürlichen Stroms und die des Gegenstroms sind in jedem Moment gleich. Current-clamp-Technik (b). Im Gegensatz zu Abb. 14.5a wird hier der Stromfluss konstant auf 0 gehalten. Die für den kompensierenden Gegenstrom in jedem Moment benötigte Spannung spiegelt einen wechselnden Membranwiderstand und damit ebenfalls den Öffnungszustand von Ionenkanälen wider. In der ruhenden Zelle fließt kein Strom: die Stromklemme misst das Ruhepotential
Zeit
Ableitelektrode zur Messung des Potentials
natürliche Spannungsänderung
b
(Δ U )
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336
14 Bioelektrische Signale
BOX 14.1 (Fortsetzung)
nungsklemme“). Den Strom, den das Gerät als Gegenstrom aktiv in die Zelle pumpt (−I), kann ich mit einem Amperemeter messen. Die Stärke des einwärts gerichteten Gegenstroms ist ja immer gleich der Stärke des Auswärtsstroms, der die Zelle verlässt, nur dass seine Polarität umgekehrt ist. Die Geräte sind so konstruiert, dass ich selbst wählen kann, welche Membranspannung festgehalten werden soll ( set clamp, Sollspannung). Das Gerät misst durch seine Mikroelektrode den natürlich fließenden Strom, und blitzschnell errechnet ein Regler ( feedback amplifier, Rückkopplungsverstärker), wie viel Strom in die Zelle geschickt werden muss, damit die gewünschte Sollspannung erhalten bleibt. Mit dem Voltage-clamp-Verfahren kann man die Membranleitfähigkeit und die Ionenströme durch die Zellmembran bei vorgegebenem, konstantem Membranpotential untersuchen. Ist man an dem natürlichen Membranpotential interessiert, zum Beispiel am Aktionspotential einer Nervenzelle, benutzt man ein anderes Messverfahren, die Stromklemme (Abb.14.5b). Hierbei sorgt ein Gerät dafür, dass die Ableitelektrode immer dasselbe Potential wie die Zelle hat (sodass zwischen Zelle und Elektrode kein Strom fließt = „Stromklemme“). Dabei wird das Membranpotential aufgezeichnet, und man kann Ruhe- und Aktionspotential untersuchen. Eine Verfeinerung der SpannungsklemmenTechnik, die es ermöglicht, den tatsächlich durch einen einzelnen Ionenkanal fließenden Strom zu messen, ist die Patch-clamp-Technik (für die Erwin Neher und Bert Sakmann 1991 den Nobelpreis erhielten). Die Spitze der Elektrodenkapillare ist (durch Feuerpolieren) abgerundet; die Kapillare ist mit einer Saugvorrichtung verbunden. Man saugt ein kleines Stück (patch) der Zellmembran an. Hat man Glück, enthält dieses Stück gerade einen Kanal (Abb. 14.6). Für manche Untersuchungen kann man ein solches Patch aus der Zelle herausreißen und die Saugelektrode mitsamt diesem Patch in eine willkürlich zubereitete Lösung tauchen. Ob nun der Kanal noch in der intakten Zelle steckt oder in einem herausgerissenen Patch, in beiden Fällen kann man nun messen, wie viel Strom durch den Kanal fließt, wenn man eine
bestimmte Prüfspannung anlegt. Verschiedene Variationen der Technik erlauben es auch festzustellen, welche Art von Ionen durch einen zufällig erwischten Kanal fließen können, und ob die Öffnung des Kanals von der angelegten Spannung unabhängig oder abhängig ist (Spannungs-gesteuerte Kanäle). Der Hinweis auf Ionenkanäle in der Zellmembran zeigt auch, dass das Bild des Flüssigkeitskreislaufs zum Verständnis biologischer elektrischer Signale nicht viel beiträgt. Wir finden keine makroskopischen Leitungen, die als Stromkabel funktionieren würden. Die Nervenfaser ist eben kein Kabel, durch das Strom von einem Ende zum anderen flösse. Und wir finden auch keinen makroskopisch als Organ ausmachbaren Generator, von dem Sinnes-, Nerven- und Muskelzellen ihren „Saft“ bezögen. Eine Druck/Potential-Differenz muss von einer Quelle (Pumpe, Generator, Batterie) erzeugt werden. Im Nervensystem gibt es jedoch keine zentrale Ionenpumpe. Mikroskopische Ionenpumpen sind millionenfach entlang von Nerven- und Muskelfasern aufgereiht. Sie erzeugen aber nicht direkt die Spannungen und Spannungsänderungen, die zur Codierung der Information benutzt werden (s. Abschn. 14.2). Um die Quelle der elektrischen Membranspannung deutlich zu machen, haben wir oben das Bild mit den gespannten Federn eingeführt. Terminologische Eigenwilligkeiten des Physiologen. Merke: Das elektrische Potential im Labor des Elektrophysiologen ist eine Potentialdifferenz, d. h. eine elektrische Spannung, gemessen in Volt (bzw. mV). Aber Vorsicht: Oftmals meint der Physiologe gar nicht eine Spannung, sondern eine Spannungsänderung (in der Hydraulik entspräche dies einer Änderung der Druckdifferenz). Das ist mit großer Wahrscheinlichkeit immer dann der Fall, wenn er eine Vorsilbe oder ein Adjektiv zum Potential hinzufügt: ●
Aktionspotential,
●
Rezeptorpotential,
●
postsynaptisches Potential.
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14.1 Wie eine elektrische Membranspannung entsteht
BOX 14.1 (Fortsetzung)
Patch-Clamp-Amplifier 0.001
Vorverstärker
pA
zu
zu
Rf Nachverstärker
offen ms
Soll
b
Ansaugvorrichtung
a
Abb. 14.6. Patch-clamp Technik zur Registrierung des Öffnungszustandes einzelner Ionenkanäle. Durch Ansaugen eines Stücks ( patch) der Zellmembran wird ein Kanal an die Mündung einer Mikropipette „festgeklemmt“ ( clamp). Durch
Anlegen einer (durch Rückkopplung nachgesteuerten) Prüfspannung (Spannungsklemme) wird versuchsweise Strom durch die Saugelektrode hindurchgeschickt. Man registriert, ob, wie viel und wie lange der Kanal Strom durchlässt
Dies sind (charakteristische) Spannungsänderungen. Nur das
Ist eine Spannungsänderung transient und läuft sie sehr rasch ab, spricht der Physiologe von Spikepotentialen oder, wie der Techniker, von elektrischen Impulsen.
●
Ruhepotential ist eine gleichbleibende Spannung – solange es nicht von der Zelle verändert wird.
trode und der „passiven“ Referenzelektrode zeigt im Augenblick noch Null Volt an, weil beide Elektroden in die gleiche Kulturflüssigkeit eintauchen. Nun sticht man die Spitze der Mikroelektrode mit einem
kurzen wohldosierten Stoß durch die Zellmembran, sodass die vorne offene Spitze mit dem Innenraum der Zelle in leitende Verbindung kommt. In diesem Moment registriert der Rechner eine elektrische
337
338
14 Bioelektrische Signale
Spannung mit negativem Vorzeichen. Sie liegt je nach Zelltyp bei wenigen μV bis zu 100 mV. Der negative Spannungswert (z. B. −90 mV) zeigt an, dass das Zellinnere gegenüber der Pufferlösung, in der sich die Zelle befindet (und deren Potential durch Erdung „auf Null gelegt“ worden ist), negativ ist. Der Physiologe sagt: „Über die Zellmembran fällt ein Potential von −90 mV ab“ oder: „Diese Zelle hat ein Ruhepotential (resting potential) von −90 mV“. Im Alltagsdeutsch heißt dies: „Zwischen Zellinnerem und dem (geerdeten) Außenmedium herrscht eine elektrische Spannung von 90 mV, wobei das Zellinnere dem negativen Pol einer Batterie entspricht.“ Diese Ruhespannung ist eine stand-by-Spannung (Bereitschaftsspannung), die eine rasche Reaktion der Zelle ermöglicht. Auch bei nicht-erregbaren Zellen misst man in der Regel eine Membranspannung mit dem Zellinneren als negativem Pol, doch sind solche Zellen weniger „spannend“: ihre Membranspannung ist geringer und langweilig gleichbleibend. Immerhin, der Zusammenbruch des Membranpotentials ist das schnellste Indiz eines Zelltodes.
14.1.2 Elektrische Membranspannungen beruhen auf der Ungleichverteilung von Kationen und Anionen In der Elektrophysiologie haben wir es mit Ionen und Ionenströmen zu tun. Ionen liegen als positiv geladene Kationen (z. B. Na+) und negativ geladene Anionen (z. B. Cl−) vor. Trotzdem bekommt man keinen elektrischen Schlag, wenn man die Hand in eine Kochsalzlösung (Na+ und Cl−) taucht. Nicht einmal ein hoch empfindliches Voltmeter misst in der (ruhenden) Kochsalzlösung eine Spannung. Positive wie negative Ladungsträger stehen sich mikroskopisch sehr nahe und sind gleichmäßig in der Lösung verteilt. Ihre Ladungen heben sich daher im makroskopischen Maßstab auf – die Lösung ist elektroneutral. Wir messen jedoch eine Spannung, wenn es uns gelingt, Kationen von Anionen über eine Membran zu trennen. Dabei genügt eine unvollständige Sortierung. Ich muss nur auf der einen Seite einen relativen Überschuss an Kationen, auf der anderen einen Überschuss an Anionen anhäufen. Das ist bei der Zellmembran der Fall. Im Zellinneren sind mehr negative Ladungen als durch Kationen kompensiert
werden. Diese negativen Ladungen werden von Chlorid Cl−, von Phosphat -PO42− und von Carboxygruppen -COO− getragen. Phosphorylierte Proteine sind dank ihrer stark negativen Ladung, und weil sie die Zelle nicht verlassen können, für das Entstehen des Membranpotentials von besonderer Bedeutung. Eine einmal aufgeladene Zellmembran ist eine Art Kondensator. Wir finden auf der Innenfläche der Membran negative Ladung angehäuft, auf der Außenfläche positive. Die nur 10 nm dicke LipidDoppelschicht besitzt einen Widerstand von etwa 1000 Ohm/cm2 und ist damit ein ausgezeichneter Isolator. Ein Potential von 90 mV über eine Distanz von 5 nm entspricht einer Feldstärke von 200 000 V/cm. (Demgegenüber setzen die Hochspannungsleitungen in unserer Landschaft Gradienten von 200 000 V/km ein!) Wie aber wird die Membran aufgeladen? 14.1.3 Ionenpumpen in der Zellmembran schaffen eine erste Voraussetzung für die Entstehung eines Ruhe-Membranpotentials ( resting potential) Gelernt wird: Im Zellinneren gibt es mehr KaliumIonen K+, im Zelläußeren mehr Natrium-Ionen Na+. Mit dem Austausch eines positiv geladenen Ions gegen ein anderes erreiche ich aber noch nichts. Die zuständige Ionenpumpe, die Na+/K+-ATPase, transportiert nun aber für zwei K+, die sie in die Zelle schleust, drei Na+ nach außen (Modell über die Arbeitsweise dieser Ionenpumpe s. Abb. 3.11). Sie kann insofern elektrogen werden. Das allein macht’s jedoch auch noch nicht. Die Hauptfunktion der Na+/K+-ATPase ist es, dafür zu sorgen, dass zu jeder Zeit innen 20- bis 30-mal mehr K+ als außen, außen etwa 10-mal mehr Na+ als innen sind. Die Aufrechterhaltung dieser Na+- und K+-Gradienten ist äußerst wichtig; die Zelle investiert 30 bis 70% ihrer Energie allein in den Betrieb der Na+/K+-ATPase. Die Elektrophysiologen haben ein wunderbares Objekt entdeckt, an dem man bequem experimentieren kann, das Riesenneuron des Kalmars Loligo, das den Mantelmuskel zur Kontraktion bringt, wenn der Tintenfisch sich mit seinem Raketenantrieb davonmacht (Abb. 14.7). Man kann das bis zu 1 mm dicke Axon (Axon = Fernleitungsfaser einer Nervenzelle = Neuron) wie eine Leberwurst ausquetschen und künstlich mit Elektrolytlösungen füllen. Auch wenn man ge-
14.1 Wie eine elektrische Membranspannung entsteht ●
Welche elektrischen Voraussetzungen müssen also erfüllt sein, damit ein Potential entsteht?
Der zweite Trick besteht darin, dass die negativen Ladungen im Zellinneren festgehalten sind. Die negativen Ladungen werden nämlich großenteils von Proteinen, besonders von phosphorylierten Proteinen, und von organischen Säuren getragen, Substanzen, welche die Zellmembran nicht passieren können.
●
Nun kann’s losgehen.
pufferte Kaliumlösung einfüllt und alle ortsansässigen negativen Ladungen absättigt, stellt sich unverzüglich eine Spannung ein. Die Höhe dieser Spannung entspricht recht genau dem Wert, den die Nernst-Gleichung (Box 14.2) vorhersagt.
Die hinausgeschafften positiv geladenen Natrium-Ionen dürfen nicht von negativ geladenen Ionen begleitet oder gefolgt werden. ChloridIonen wären beweglich genug, dass sie den Natrium-Ionen folgen könnten. Die Konzentration der Chlorid-Ionen innerhalb der Zelle ist aber weit geringer als außerhalb (Abb. 14.7), so dass ihr Diffusionsbestreben nicht nach außen, sondern nach innen gerichtet ist.
●
Anstelle der hinausgeworfenen Na+ dürfen nicht andere Kationen ins Zellinnere eintreten. Die Natrium-Ionen treibt es zurück. Die für sie gangbaren Kanäle sind aber verschlossen. Auch das Eindringen anderer Kationen, wie z. B. von Ca2+-Ionen, ist unterbunden, weil in der ruhenden Zelle keine Kanäle für sie offen sind. Für die Protonen H+ besteht in den hier betrachteten Zelltypen kein Konzentrationsgradient (innen wie außen pH 7,2).
●
Die Kalium-Kanäle indes sind offen. Die Membran ist selektiv permeabel. Und darin liegt ein erster Trick.
14.1.4 Im Donnan-Gleichgewicht halten sich der Diffusionsdruck der Kalium-Ionen und eine entgegengerichtete elektrostatische Gegenkraft die Waage; diese Gegenkraft ist „das Potential“, die messbare elektrische Spannung Wir gehen von der Vorstellung aus, dass anfänglich im Zellinneren sich positive und negative Ladungen die Waage halten. Die K+-Ionen sind mit Cl−-Ionen und organischen Anionen liiert. Besonders viele K+Ionen halten sich im Bereich der Phosphatgruppen phosphorylierter Proteine auf. Um zu verstehen, wie das Membranpotential zustande kommt, müssen wir sehen, wohin Ionen gemäß ihrer Konzentrationsdifferenz strömen wollen, und ob sie ihrem Willen folgen können. Wir schreiben ihnen einen Diffusionsdruck zu, dessen Höhe eine Funktion des Konzentrationsgefälles ist, die für dieses Ion zwischen Zellinnerem und Zelläu-
Loligo (Kalmar, squid) Riesenaxone
Abb. 14.7. Riesenaxon des Tintenfisches und sein Ionengehalt. Die Riesenaxone sind die Signal-Fernleitungsfasern der Riesenneurone, welche die Bewegung der Mantelmuskulatur steuern
Ionenkonz. in mmol/l Seewasser
Kalium Natrium Chlorid
10 460 540
Riesenaxon außen innen 20 440 560
210 50 40
Permkoeff.
1 0,04 0,2
339
340
14 Bioelektrische Signale
ßerem zu messen ist. Statt des Ausdrucks Diffusionsdruck ist auch der Ausdruck „chemisches Potential“ im Gebrauch, doch ist die Bedeutung dieses Ausdrucks umfassender und mit der Gibbs’schen freien Energie ΔG gleichzusetzen (s. Kap. 1). Den Diffusionsdruck kann man quantitativ als ΔG wiedergeben, doch kommt nicht nur der Diffusion, sondern jeder chemischen Reaktion ein ΔG zu; es erfasst das Potential an arbeitsfähiger Energie (s. Kap. 1). In vielen Büchern spricht man missverständlich von „osmotischer Energie“ oder „osmotischer Kraft“, obwohl wir es nicht mit der Diffusion von Wasser zu tun haben. Statt Diffusionsdruck wäre auch Diffusionspotential ein angemessener Ausdruck, doch wäre dann nicht eindeutig, was das bloße Wort „Potential“ meint – Diffusionspotential oder elektrisches Potential. Wie wir jedoch statt von einem elektrischen Potential korrekterweise von einer Potentialdifferenz sprechen müssten, sollten wir nun auch von Diffusionsdruckdifferenz sprechen. Der Leser wird vermutlich den verkürzten Ausdruck Diffusionsdruck gern akzeptieren.
Im Zellinneren ist die Kaliumkonzentration ca. 20- bis 40-fach höher als in den Flüssigkeiten, die Zellen üblicherweise umspülen, ob es sich um die natürliche interstitielle Flüssigkeit handelt oder um Blutplasma oder um ein künstliches Zellkulturmedium. Auch wenn eine Menge dieser K+ sich in der Nähe negativ geladener Molekülgruppen aufhält, so ist ihre Liaison doch sehr locker. Sie bleiben in ihrer großen Mehrheit recht beweglich und der Diffusionsdruck ist nach außen gerichtet. Die KaliumIonen können tatsächlich auch nach außen dringen, weil Zellmembranen mit immer offenen K+-Leckkanälen (leak channels) ausgestattet sind. Die Zelle würde schnell das meiste Kalium verlieren, würde nicht bald sich eine elektrostatische Gegenkraft aufbauen, die dem weiteren Kalium-Ausstrom Einhalt gebietet. Nun kommen unsere organischen Anionen zum Zug. Sie können nicht nach draußen folgen; denn sie sind viel zu groß, um durch die Kanäle schlüpfen zu können, und in ihrer Mehrzahl sind sie eh strukturgebunden. Fühlen sich diese Anionen vereinsamt, versuchen sie ihre Partner zurückzuhalten. Es spannt sich zwischen positiver und negativer Ladung die Feder des elektrischen Feldes. Es kommt schließlich zu einem Gleichgewichtszustand, bei dem Diffusionsdruck und elektrostatische Gegenkraft sich die Waage halten. Es
ist ein Gibbs-Donnan-Gleichgewicht (s. Box 14.2, Abb. 14.9 u. 14.10) erreicht. Die elektrostatische Gegenkraft ist das messbare Membranpotential. Die Physiologie konzentriert sich auf dieses Potential, eben weil es gut messbar ist. Man sollte aber im Bedarfsfall im Hinterkopf das Wissen bereit haben, dass wir es stets auch mit Diffusionsdrücken, die den Potentialen entgegengerichtet sind, zu tun haben. Eine gebräuchliche alternative Formulierung für den Gleichgewichtszustand ist: Wenn sich „chemisches Potential“ und das entgegengesetzt wirkende „elektrische Potential“ die Waage halten, ist das „elektrochemische Potential“ gleich Null. Die relative Anzahl der Kalium-Ionen, die durch die Membranporen entkommen, ist sehr gering: etwa 1–2 von 1 Mio. Und viele der Entkommenen bleiben außen an der Membran haften, sodass man mit empfindlichen Sonden auf der Zelloberfläche eine positive Ladung abgreifen kann. Das Zellinnere ist auch keineswegs überreich mit großen organischen Anionen gefüllt (wie Abb. 14.9 u. 14.13 vielleicht glauben machen könnten). Schon ein relativ geringer Ladungsüberschuss gibt ein Potential in der Größenordnung von mV her. Eine Schätzkalkulation: Ein einzelner K+-Kanal kann pro s etwa 1 Mio. K+ passieren lassen. Die Membran einer erregbaren Zelle dürfte mit etwa 1000 Kanälen bestückt sein; folglich könnten rechnerisch 1 Mrd. K+/s die Zellen verlassen, während die Na+/K+-ATPase zur selben Zeit 200 000 K+ in die Zelle pumpt. Dafür, dass die Zelle trotzdem nur so wenig K+ verliert, sorgt die entstehende elektrische Spannung.
Dass Konzentrationsdifferenzen von Ionen über Membranen elektrische Spannungen hervorrufen können, hat auch der Physikochemiker Walther Nernst (Nobelpreis 1920) schon gewusst. Er stellte eine Formel vor, die es erlaubt, das Gleichgewichtspotential (equilibrium potential) zu berechnen, wenn man die Konzentrationen der permeablen Ionen beidseitig der Membran kennt. Für die Praxis ist wichtig, dass man mit Kenntnis der Nernst-Gleichung leicht herausfinden kann, welche Ionen zum Membranpotential beitragen und wie man in einfacher Weise das Potential gezielt und dosiert verändern kann. Wenn nur Kalium im Spiel ist, sollte bei einer Konzentrationsdifferenz von 1:20 bis 1:40 das Potential −75 bis −86 mV sein. Gemessen wird im typischen Fall −70 bis −90 mV. Tatsächlich wird
341
14.1 Wie eine elektrische Membranspannung entsteht
BOX 14.2
Gibbs-Donnan-Gleichgewicht und Nernst-Gleichung Gibbs-Donnan-Gleichgewicht. Für die passive, nicht von Pumpen getriebene Bewegung von Ionen zwischen Zellinnerem und Zelläußerem sind maßgebend: a) die Konzentrationsdifferenzen, auch Konzentrationsgradienten genannt, und b) die durch selektive Poren bedingte Permeabilität der Membran, die für jede Ionenspezies verschieden sein kann. Konzentrationsdifferenzen erzeugen Diffusionsdruck (in anderer Ausdrucksweise ein chemisches Potential). Gemäß ihrem individuellen Diffusionsdruck dringt jede Ionenspezies durch die ihr auf den Leib geschnittene Pore, und dieser Fluss sollte, so wird man aufgrund der Diffusionsgesetze erwarten, solange andauern, bis beidseitig der Membran gleiche Teilchendichte erreicht ist. Bei Ionen kommt nun aber zusätzlich ihre elektrische Ladung ins Spiel. Eine Trennung gegennamiger Ladung erzeugt nach unserem Modell Abb. 14.2 eine elektrische Spannung. Dies ist eine Kraft, die zunehmend größer wird, je mehr Kationen von Anionen durch die Membran geschieden und nun ohne Partner sind. Die zunehmende elektrische Spannung steht dem Diffusionsdruck entgegen. Schließlich halten sich beide Kräfte die Waage; es herrscht ein (Gibbs-)Donnan-Gleichgewicht (Abb. 14.8 u. 14.9). In der alternativen Ausdrucksweise ist das elektrochemische Potential jetzt Null. Welche Konzentrationsverhältnisse im Gleichgewicht herrschen und welches elektrische Potential messbar wird, ist von Fall zu Fall verschieden: ●
●
Im Beispiel Abb. 14.8 kommt der Ionenfluss makroskopisch zum Stillstand, noch bevor Konzentrationsausgleich für die einzelnen Ionensorten erreicht ist, sobald die Gesamt-Ladungsmengen links und rechts (annähernd) gleich sind und daher makroskopisch zwischen beiden Kammern im mV-Bereich kein elektrisches Potential zu messen ist (nur im mikroskopischen Bereich direkt über die Poren wäre eine Spannung zu messen). Nicht immer kommt die Bewegung der Ionen zum Stillstand bei einer Gesamtspannung von
Na+ 15 mM
15 mM Na+
Cl
15 mM
organ. Anion A
Diffusionsdruck
15 mM
Ausgangszustand
20 mM Na+
Cl 10 mM
5 mM Cl 15 mM organ. Anion
Na+ 10 mM
Elektrost. Anziehung Diffusionsdruck
B
Elektroneutrales Gibbs-Donnan-Gleichgewicht
=
und
=
Abb. 14.8. Gibbs-Donnan-Gleichgewicht, Beispiel einer finalen stabilen Ungleichverteilung ohne Potentialdifferenz zwischen linker und rechter Kammer
0 V. Nehmen wir beispielsweise an, ein mit KCl-Lösung gefüllter Raum sei gegen einen mit purem Wasser gefüllten Nachbarraum mit einer Membran abgegrenzt, die den K+-Ionen, nicht aber den Cl−-Ionen den Durchtritt gestattet
7
342
14 Bioelektrische Signale
BOX 14.2 (Fortsetzung) innen 4,5 mM KCl
außen 150 mM KCl
Kalium-selektive Pore
K+
Cl K+
Cl
Elektrost. Anziehung = elektr. Spannung
a
Elektrische Spannung nach NERNST: U=
[ K + ] außen R T ln z F [ K + ] innen
-174 mV -116 ~ Ruhe- -75 potential -58 Umkehr- 0 potential
+ 58
b
+ + 10:1 K : K a i
1:1
1:20 3 1:10 1:100 1:10
Abb. 14.9a, b. Nernst’sches Potential in Abhängigkeit vom Verhältnis der Kalium-Außenkonzentration zur Kalium-Innenkonzentration. Einstellung der Ionenverteilung bei einer KCL-Lösung und einer Membran mit Poren für Kalium, nicht aber für Chlorid (a); Diagramm zur Vorhersage des Potentialwertes bei Verschiebung des Verhältnisses zwischen extrazellulärer und intrazellulärer Kaliumkonzentration (b)
(Abb. 14.9a ). K+ drängt, getrieben von seinem Diffusionsdruck, vom linken Raum hinüber in den in den noch leeren rechten Nachbarraum. Die Cl−-Ionen würden das auch gerne tun, können aber nicht, weil es für sie keine offenen Poren gibt; sie müssen zurückbleiben. Nun kommt die elektrostatische Anziehungskraft zur Geltung. Je mehr K+ in den rechten Nachbarraum gewechselt sind, desto mehr einsame, nicht durch Anionen kompensierte positive Ladung sammelt sich dort an, desto mehr vereinsamte Cl−-Sin-
gles bleiben andererseits links zurück. Die elektrostatische Gesamtanziehungskraft, messbar als elektrische Spannung in Volt, steigt, bis sie ein weiteres Wegdiffundieren von K+ aus dem linken Raum unterbindet. Diffusionsdruck und elektrische Spannung halten sich schließlich die Waage bei einer stabil bleibenden makroskopischen elektrischen Potentialdifferenz. Bemerkenswert bei diesem einfachen Beispiel ist auch, dass die getrennten K+ und Cl− dank der Anziehungskraft überwiegend auf der Oberfläche der Membran festgehalten werden und nur wenige Ionen in den freien Raum abdiffundieren. Bei welchen Konzentrationsverhältnissen der Austausch von Teilchen zwischen links und rechts zum Stillstand kommt, kann mittels der Gibbs-DonnanGleichung errechnet werden. Ob im Gleichgewicht ein zwischen beiden Räumen stabil bleibendes Ungleichgewicht der elektrischen Ladungen und damit ein elektrisches Potential zu erwarten ist, errechnet sich hingegen aus der Nernst-Gleichung. Nernst Gleichung. Gegeben sei eine semipermeable Membran, die Kalium-Ionen passieren lässt, nicht aber die zugehörigen Anionen des Elektrolyten. Auf der einen Seite der Membran („Außenseite“) herrsche die Konzentration 10 mM, auf der anderen Seite („Innenseite“) die Konzentration 100 mM. Nach W. NERNST ergibt sich daraus (die folgenden Bezeichnungen sind synonym): eine elektrische Spannung U oder ΔE = eine Nernst’sche Spannung EKalium = eine elektromotorische Kraft EMKKalium = ein Kalium-Gleichgewichtspotential = ein Kalium-Nullstrompotential von: U =
R × T [K + ]außen ln in Volt z × F [K + ]innen
mit R = Gaskonstante (8.314 J mol−1 K−1) T = Temperatur in Kelvin (20°C = 293 K) z = Ladungszahl des Ions, hier = +1 F = Faradayzahl (96 500 J mol−1 V−1) Setzen wir numerische Werte ein, so ergibt sich für 20°C:
7
14.1 Wie eine elektrische Membranspannung entsteht
BOX 14.2 (Fortsetzung) U=
8,3 × 293 10 mM × ln 1 × 96500 100 mM
U = 0,025 V × ln 1/10 oder 0,058 V × log 1/10 U = 0,058 V × (log 1−log 10) = 0,058 V × (0−1) U = −0,058 V = −58 mV In einer aktuellen Zelle, beispielsweise im Riesenneuron, das den Mantelmuskel des fliehenden Tintenfisches Loligo (s. Abb. 14.7) zur raschen Kontraktion veranlasst, findet man Konzentrationsverhältnisse nicht von 1:10, sondern von 1:20 (z. B. 20 mM:410 mM). Oft misst man auch 1:30 oder gar 1:40. Daraus kalkuliert sich nach Nernst ein Potential von −75 bis −86 mV. Und dies entspricht recht gut der tatsächlich zu messenden Ruhespannung (80 bis 90 mV, je nach untersuchter Faser). Das Diagramm in Abb. 14.9b zeigt, wie sich das Potential verändern sollte, wenn durch Variation des Kaliumgehalts im Außenmedium die Konzentrationsverhältnisse verschoben werden. Ist die Außenkonzentration gleich der Innenkonzentration, so ergibt sich – nicht eben überraschend – das Potential null. Umgekehrt kann man indirekt die Kalium-Innenkonzentration dadurch bestimmen, dass man die Außenkonzentration so lange erhöht, bis das Potential auf null gesunken ist. Diese Beziehungen haben praktische Konsequenzen. Bei Kaliumüberangebot im Blut kommt es in den Neralso das Ruhepotential im Wesentlichen von Kalium getragen. Wenn man nun die Kaliumkonzentration im Außenmedium auf das zehnfache erhöht, sollte gemäß der Nernst-Gleichung das Potential um 58 mV sinken. Das tut es auch. Umgekehrt, erniedrigt man die Kalium-Außenkonzentration, erhöht sich die Membranspannung, wie es die Formel vorhersagt (Abb. 14.9b ) ●
Eine Verringerung der Membranspannung zu weniger negativen Werten bis hin zu null Volt heißt in der Fachsprache Depolarisation.
●
Eine Erhöhung der Membranspannung zu negativeren Werten heißt Hyperpolarisation.
venfasern zu einer Erniedrigung der MembranRuhespannung. Das kann zur Folge haben, dass plötzlich Aktionspotentiale losbrechen (Abschn. 14.3) und Muskeln in Krämpfe verfallen. Ändert sich die Membranspannung nicht oder nur gering, wenn die Konzentration eines Ions im Außenmedium variiert wird, so trägt dieses Ion auch nichts oder nur wenig zum Ruhepotential bei. Dies ist in der ruhenden Zelle bei Natrium der Fall. Den Beitrag einzelner Ionen zum Gesamtpotential wird errechnet nach der Goldman-Hodgkin-Katz Formel U = RT /F × ln
PK [K + ]a + PNa [Na+ ]a + PC1 [C1− ]i PK [K + ]i + PNa [Na+ ]i + PC1 [C1− ]a
P = Permeabilitätskoeffizient. Wenn also mehrere Ionen im Spiel sind, muss berücksichtigt werden, in welchem Ausmaß die Membran für die einzelnen Ionen durchlässig ist; denn die Ionen-spezifischen Permeabilitäten einer Zellmembran sind sehr unterschiedlich. Beachte, dass Anionen gegenüber den Kationen wegen ihrer gegennamigen Ladung in der reziproken Position erscheinen. So kompliziert die Verhältnisse in der Zelle sind – die Physikkenntnisse des Profi-Elektrophysiologen sind ganz schön herausgefordert – so erstaunlich ist, dass mit so schlichten Gleichungen auch heute noch viel gearbeitet werden kann, weil die Ergebnisse meistens stimmen. Erhöht oder erniedrigt man hingegen die NatriumKonzentration, ändert sich das Potential nicht. Im Ruhezustand trägt Natrium so gut wie nichts zum Membranpotential bei; die Leitfähigkeit der Membran für Natrium ist nahe null. Will man den Beitrag aller beteiligten beweglichen Ionen zum Potential berechnen, muss man auf die erweiterte Form der Nernst-Gleichung, auf die Goldman-Formel (Goldman-Hodgkin-Katz Formel) zurückgreifen (Box 14.2). Die wesentliche Erweiterung gegenüber der Nernst-Gleichung ist die Einführung von ionenspezifischen Permeabilitätskoeffizienten. Merkwürdig und wichtig ist nun, dass sich bei Depolarisation die Leitfähigkeit der Membran für verschiedene Ionen, namentlich für Natrium-Ionen,
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344
14 Bioelektrische Signale Abb. 14.10. Modell der Ionenverteilung beidseitig der Zellmembran einer Nerven-, Sinnes- oder Muskelzelle, wenn Diffusionsdruck der intrazellulären Kalium-Ionen und elektrostatische Anziehung der durch die Membran getrennten K+ und ProteinAnionen sich die Waage halten. Das elektrische Kraftfeld der gegenseitigen Anziehung wird als Membranruhepotential gemessen
Kalium-Kation
Chlorid-Anion
Protein - Anion
Diffusions- Elektrische druck Spannung
plötzlich ändert. Das ist beispielsweise beim Aktionspotential der Fall.
14.2 Ionenkanäle zur Veränderung einer Membranspannung 14.2.1 Information kann nur in einer sich ändernden Membranspannung codiert werden. Dazu wird die Leitfähigkeit der Membran verändert Mit einem gleichförmigen, ununterbrochenen Ton kann ich keine interessante Musik machen. Im Sinnes- und Nervensystem wird Information dadurch codiert, dass Membranspannungen amplitudenoder frequenzmoduliert werden – wie es auch der Rundfunk macht. Das wird noch erläutert werden. Jetzt geht es darum, wie grundsätzlich Membranspannungen verändert werden. Denkbar wäre eine Modulation über Ionenpumpen. Solche sind hie und da wohl auch beteiligt. Rascher geht’s, wenn Ionenkanäle plötzlich geöffnet oder geschlossen werden. Zur Codierung und Weiterleitung von Information öffnet die Zelle im Regelfall schlagartig Ionenkanäle. Dies führt zu einer plötzlichen Erhöhung der Leitfähigkeit der Membran. Das Öffnen und Schließen einzelner Kanäle wird mit der Patch-clamp Technik in Verbindung mit der Voltage-clamp Technik (Box 14.1, Abb. 14.5 u. 14.6) untersucht.
14.2.2 Leckkanäle und Spannung-gesteuerte Kanäle dienen vor allem der Weiterleitung elektrischer Impulse, Liganden-gesteuerte und second-messenger-gesteuerte Kanäle dem Auffangen einer Botschaft in Empfängerzellen Eine große Zahl (ca. 300) unterschiedlicher Proteine können Ionenkanäle bilden. Allen gemeinsam ist nur, dass sie aus vielen Transmembrandomänen bestehen, welche die Zellmembran durchspannen und in ihrer Mitte eine Pore freilassen (Abb. 14. 11 u. 14.12). Durch diese Poren finden die Ionen einen Weg durch die ansonsten undurchlässige Membran. Patch-clamp Messungen (Abb. 14.6) in Verbindung mit pharmakologischen Untersuchungen haben es ermöglicht, eine Vielzahl verschiedener Ionen-Kanäle zu identifizieren. Neuerdings macht man sich den Methodenreichtum der Molekularbiologie zunutze und konstruiert Kanäle, deren Einzelkomponenten (Untereinheiten der Kanalproteine) man gezielt neu kombiniert oder mutiert. Man kann unreife Eizellen (Oocyten) der Krallenkröte ( Xenopus), die von Natur aus solche Kanäle gar nicht besitzen, mit Kanälen aller Art ausstatten und die dabei entstehenden Kanäle in der Eizellmembran untersuchen. Je nachdem, wie sich Kanäle öffnen lassen, werden sie in mehrere Klassen eingeteilt (Abb. 14.11 u. 14.12): 1. Leak channels (Leckkanäle – es werden hier zwar deutsche Übersetzungen der Fachausdrücke angeboten, doch werden sie in der Hochschullandschaft
14.2 Ionenkanäle zur Veränderung einer Membranspannung
werden durch Tetraethylammonium-Ionen verstopft. Ein molekulares Modell eines solchen Kanals ist anhand der Daten von Röntgenbeugungsstudien von R. McKinnon (Nobelpreis 2003) konstruiert worden. Der K+-Kanal hat, so wird aus physikalischen Messungen geschlossen, einen Selektivitätsfilter, der das K+-Ion seiner Wasserhülle entkleidet. Statt der Sauerstoffatome der Wassermoleküle nehmen 4 Sauerstoffatome, die von sauren Aminosäuren gestellt werden und in die Pore hineinragen, Kontakt zum Ion auf (Abb. 14.13). Diese können allerdings das leicht bewegliche Ion nicht festhalten. Es kann, getrieben von ungerichteten thermischen Impulsen, im Prinzip in beide Richtungen den Kanal wieder verlassen, doch drängen sich auf der Innenseite der Zelle viel mehr K+ am Eingang zur Pore als auf der Außenseite. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein K+ in den Kanal eindringt, ist an der Innenseite größer als an der Außenseite. An der Öffnung zur Außenseite sind die Verhältnisse umgekehrt. Obwohl wir intuitiv solchen nur von der statistischen Wahrscheinlichkeit gerichteten Bewegungen keine hohe Leistung zumuten möchten, verlöre eine Zelle doch, wie oben kalkuliert, 1 Mrd. K+/s, würde das elektrische Potential den Ausstrom nicht stoppen.
A Leck-Kanal (leak channel)
B Spannung-gesteuerter Kanal (voltage-gated channel)
C Liganden-gesteuerter Kanal (ligand-gated channel)
D G
E
Signal 1
Rezeptor
G 2
E 3
4
5
Second messenger Abb. 14.11a–d. Ionenkanäle und ihre Steuerbarkeit
kaum benutzt). Leak channels sind stets geöffnet. Der wichtigste ist der K+-leak channel (oder K+ resting channel), den wir zur Erzeugung des Membran-Ruhepotentials eingesetzt haben. K+-Kanäle
2. Voltage-gated channels (Spannung-gesteuerte oder Potential-gesteuerte Kanäle). Na+-Kanäle entlang von Nerven- und Muskelfasern und Ca2+-Kanäle in den Endigungen der Nervenzellaxone sind besonders wichtige Kanäle dieses Typs. Es gibt indessen auch Potential-gesteuerte K+- und Cl−- Kanäle. Solche Kanäle öffnen sich, wenn in ihrer nächsten Umgebung die Membranspannung um einen kritischen Betrag abfällt. Die Öffnung solcher Kanäle ermöglicht ihrerseits eine rasche Änderung der Membranspannung: sie kann schlagartig depolarisieren (Na+Kanäle) oder wieder repolarisieren (K+-Kanäle). Im Spannungs-gesteuerten Natrium-Kanal umstellen vier miteinander verbundene Untereinheiten die zentrale Pore. Jede der vier Untereinheiten enthält ihrerseits sechs Transmembran-Domänen (Abb. 14.12 u. 14.16). Die zentrale Pore enthält einen Ionenfilter und zwei Schleusentore bzw. Verschlussmechanismen. Ein erstes Schleusentor (gate) in der Mitte des Kanals ist im Ruhezustand nicht passierbar. Das Tor wird durch den Spannungssensor geöffnet. Der Sensor besteht aus den S4-Domänen (gating heli-
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14 Bioelektrische Signale Abb. 14.12. Ionenkanäle. Molekulare Struktur zweier wichtiger Kanaltypen Spannungs-gesteuerter Na+-Kanal
1 2 3 4 5
1
6
2 3
4 5
6
1 2 3 4 5
4 x 6 Transmembran-Domänen
45 61
1
6 54
3 4 56 6 5 4
a Acetylcholin-gesteuerter Ionenkanal
5 x 4 Transmembran-Domänen
b ces) der vier Untereinheiten. Die vier Spannungssensoren (gating helices) sind dank basischer Aminosäuren wie Arginin und Lysin positiv geladen. Erfährt die Membran eine Depolarisation verändern die S4-Domänen ihre Position. Ihre sterische Konformationsänderung überträgt sich auf benachbarte Molekülregionen und das erste Tor macht den Weg für die Na+-Ionen frei. Der zweite Verschlussmechanismus
schließt den Kanal wieder, sobald ein Schwung Na+Ionen den Kanal passiert hat. Beliebt ist eine Darstellung, die den Verschluss als Kugel zeigt, die wie ein Propf in die Pore eingefügt wird (ball-and-chain-Modell; Abb. 14.14). Der Verschluss klappt spontan und automatisch zu, sodass ein Spannungs-gesteuerter Kanal jeweils nur für den Moment einer Millisekunde offen ist. Danach ist der Kanal „inaktiviert“ und
14.2 Ionenkanäle zur Veränderung einer Membranspannung
Beide Kanäle zusammen ermöglichen, wie im nächsten Abschnitt erläutert, das Feuern frequenzmodulierter Aktionspotentiale. Außen
Innen
a
b Abb. 14.13a, b. Modell der Ionenselektivität eines K+-Kanals. Bei der Passage des Kanals wird die Hydrathülle des Ions abgestreift und durch Sauerstoffatome entlang der Porenwand ersetzt. Das Ion kann im Kanal weiterrutschen und wird nach seiner Passage wieder von einem Wassermantel eingehüllt. Von den 5 Ebenen der Sauerstofffilter sind exemplarisch drei dargestellt (a). Das kleinere Na+ Ion passt zwar räumlich in die Pore, findet aber nicht allseitig Kontakt zu den Sauerstoffatomen der Kanalwand. Wassermoleküle werden nicht vollständig abgestreift. Dies soll das Weiterrutschen des Ions durch die Pore verhindern (b)
solange auch nicht wieder „aktivierbar“, d. h. zu öffnen, solange die Kugel die Pore verstopft. Die Kugel verlässt die Pore erst einige Millisekunden, nachdem das Ruhepotential wieder hergestellt ist. Der Spannungs-gesteuerte K+-Kanal ist ähnlich konstruiert wie der Na+-Kanal, doch öffnet er sich bei einer Depolarisation gegenüber dem Na+-Kanal zeitlich verzögert, auch wenn es dasselbe depolarisierende Ereignis ist und beide Kanäle zur gleichen Zeit erreicht. Die Fachliteratur spricht von einem delayed rectifier (verzögerter Gleichrichter). Der Kanal schließt sich, wenn das Membranpotential wieder den Ausgangswert erreicht hat.
3. Ligand-gated channels (Liganden-gesteuerte Kanäle). Ihr Öffnungszustand wird über Signalmoleküle gesteuert, die als Liganden an eine äußerliche Rezeptorstelle des Kanalproteins binden und ihn zum Öffnen veranlassen. Im typischen Fall findet man solche Kanäle an Synapsen, also an jenen Strukturen, an denen eine Impulse-feuernde Zelle ihre Botschaft einer Nachbarzelle übergibt. Die Liganden-gesteuerten Kanäle sind an der Kontaktstelle in die Membran der Empfängerzelle (postsynaptische Membran) eingefügt. Sie werden dort von Neurotransmittern geöffnet oder geschlossen (Beispiel, der nikotinische Acetylcholin-Rezeptor; s. Kap. 15). Zum Unterschied von den Spannung-gesteuerten Kanälen kann ihre Öffnungsdauer variieren, und die Zahl geöffneter Kanäle ist eine Funktion der Transmitter-Dosis. Liganden-gesteuerte Kanäle ermöglichen Amplituden-modulierte Potentiale, die an Synapsen (Kap. 15) und in Sinneszellen (Kap. 16) von Bedeutung sind. Einige Arten von Liganden-gesteuerten Kanälen werden durch intrazelluläre Liganden (Botenstoffe, second messenger) wie Ca2+, cAMP, cGMP oder Inositoltrisphosphat in ihrem Öffnungszustand reguliert (s. Kap. 12). Der Zelle wird zuerst über ein externes Signal mitgeteilt, dass sie solche second messenger erzeugen soll. Sie fängt das externe Signal an der Zelloberfläche mit Rezeptorproteinen auf, die nicht selbst Kanalcharakter haben, die aber die Produktion oder Freisetzung solcher innerer Botenstoffe in die Wege leiten. G-Protein gesteuerte Kanäle. Manche Ionenkanäle werden von Membran-residenten Rezeptoren ohne die Vermittlung durch intrazelluläre Botenstoffe gesteuert. Das Signal zum Öffnen oder Schließen durch wird durch ein in der Membran lokalisiertes, bewegliches G-Protein (GTP-bindendes Protein) auf den Kanal übertragen. Beispiel: die Natrium-Kanäle der muscarinischen, Acetylcholingesteuerten Synapse (s. Kap. 15). 4. Mechanisch gesteuerte Ionenkanäle sehen wir uns später in der Sinnesphysiologie an.
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14 Bioelektrische Signale
14.3 Fernleitung von Information über Aktionspotentiale
14.3 Fernleitung von Information über Aktionspotentiale 14.3.1 Die Eigenart der spannungsgesteuerten NatriumKanäle erwirkt eine rasche, spikeförmige Veränderung des Potentials Wir schauen uns zuerst einmal nur an einer Stelle einer Nervenfaser an, was passiert, wenn sich Na+-Kanäle öffnen. Die Faser, die wir untersuchen, sei ein Axon, über das die Nervenzelle Signale zu einem entfernten Empfänger schicken will (s. Abb. 15.2). Die Stelle, die wir betrachten, sei der Axonhügel am Beginn der Fernleitungsstrecke, wo solche Signale generiert werden. (Da nicht immer ein Hügel zu sehen ist, heißt diese Zone allgemein auch Spike-generierende Zone). Der Kanal öffnet sich, wenn in seiner Nachbarschaft das Membranpotential einen kritischen Be-
trag (20 bis 25%) unter den Ruhewert abfällt. Die Membranspannung am Initialort des Axons sinkt, weil der benachbarte zentrale Körper der Nervenzelle aufgrund einer empfangenen Botschaft sein eigenes Potential absenkt (postsynaptisches Potential, s. Kap. 15). Diese Depolarisation des Zellkörpers kann auch die Initialzone am Axonhügel erfassen. Ist die Feuerschwelle (firing level, firing threshold) erreicht, öffnet sich der Na+-Kanal in unserem Blickfeld schlagartig und vollständig. Natrium-Ionen stürzen ins Zellinnere, getrieben von zwei gleichgerichteten Kräften: von ihrem Diffusionsdruck und von der anziehenden negativen Ladung im Zellinneren. Die Natrium-Ionen nehmen die verlassenen Plätze der untreuen K+ ein und gehen eine Liaison mit den vereinsamten negativ geladenen Proteinen ein (Abb. 14.15 u. 14.16). Deren Sehnsucht ist zwar nicht sofort abgesättigt, aber gemildert, die Membranspannung sinkt weiter. Damit kommt eine Lawine ins Rollen (positive Rückwirkung): Weil die Membranspannung sinkt, öffnen
Start
Abb. 14.15. Ionenverteilung im Axon einer typischen Nervenzelle. Modell. Die Pfeile symbolisieren den Diffusionsdruck. (Der Einfachheit halber sind spannungsgesteuerte Kalium-Kanäle, die gegen Ende eines Aktionspotentials ihre Funktion erfüllen, nicht dargestellt.)
2
Abb. 14.14a, b. Modell eines Potential-gesteuerten K+-Kanals, wie er in vielen tierischen Zellen gefunden wird. Im Zentrum befindet sich der tetramere Porenkomplex. Innerhalb der Poren sorgen die in Abb. 14.13 modellhaft dargestellten Sauerstofffilter für Kaliumselektivität. In der Peripherie befinden sich 4 Proteindomänen, die Spannungssensitivität vermitteln. Vereinfachtes Modell nach mehreren Internetquellen (z. B. Khalidi-Araghi F, Tajakhorshid E, Schulten K (2008) Theoretical and Computational Biophysics Group, Beckmann Institute for Advanced Science and Technology, University of Illinois) (a). Modell des Potential-gesteuerten Na+-Kanals. Vier Gruppen von je 6 Transmem-
brandomänen sind zu einem Kanalkomplex gebündelt. Oben Aufsicht, nach Nosek T M(ed.): Essentials of Human Physiology, www.lib.mcg.edu/edu/eshuphysio/ (b). Unten: Funktionell bedeutsame Strukturen sind der Selektivitätsfilter, der die Pore auskleidet, ein Tor ( gate) im Kanal, die Spannungssensoren, welche den Domänen S4 zugeordnet werden, und die Inaktivierungsdomäne, hier als Kugel dargestellt. Es wird angenommen, die Sensordomäne mit ihren positiven Ladungen werde je nach Ladungszustand der Membranumgebung nach außen oder innen verschoben. Dies steuere den Öffnungszustand des Tores und die Position der Inaktivierungsdomäne
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14 Bioelektrische Signale Abb. 14.16. Aktionspotential. Dargestellt sind die Ereignisse an einem bestimmten Ort entlang des Axons eines Neurons oder entlang einer Muskelfaser. Die drei Kanaltypen sind links der Spannung-gesteuerte Na+-Kanal, in der Mitte der Spannung-gesteuerte K+Kanal, rechts der K+-Leckkanal
30 mV
Aktionspotential
0 2 3 -80
Start 1
Ende 4 mV
0
2 ms
1
- 60
0 +
K
-80
Depolarisation
K
t
+
1
mV + 30
0
-80
t
mV
2
- 70
0
-80
1 ms
3
sich in nächster Nachbarschaft weitere Na+-Kanäle. Die Spannung sinkt unaufhaltsam und schlagartig auf Null ab. Man sollte meinen, damit wäre Ruhe; denn alle negativen Ladungen sind nun abgesättigt. Aber es gibt noch überschüssige Kationen. Noch werden Na+Ionen aufgrund ihres Diffusionsdruckes nach innen getrieben. Nun aber wird ihre positive Ladung nicht mehr durch einen negativen Partner kompensiert. Es kommt zu einem Überschuss an positiver Ladung. Das Zellinnere wird positiv – aber nur für einen
kurzen Moment. Denn nun schließt sich der Kanal selbsttätig wieder. Er „inaktiviert“ sich in der Sprache des Physiologen nach kaum einer Millisekunde Öffnungszeit. Nach dem Verschluss des Na+-Kanals stellen die K+-Ionen das Ruhepotential sofort wieder her. Sie sind ja in Massen noch im Zellinneren zugegen – im Mittel nur ein K+ von einer Million war vor dem Aktionspotential durch einen Kanal entschlüpft. In der Repolarisationsphase des Aktionspotentials helfen spannungsgesteuerte K+-Kanäle, das Ruhepotential rasch wieder herzustellen (Abb. 14.16).
14.3 Fernleitung von Information über Aktionspotentiale
Und nun aufgepasst: Würden wir das Membranpotential an der Stelle unseres Kanals messen, zeigte sich zuerst eine Depolarisation, d. h. ein Abfall der Membranspannung, als eine Auslenkung des Strahls nach oben! – der Strahl nähert sich von minus 70 mV kommend der Null-Linie. Kurzfristig überschreitet er die Null-Linie. Wenn der Strahl dann wieder auf −70 mV heruntersaust, zeigt dies eine Repolarisation an, also einen Wiederaufbau einer Spannung. Aufschlag des Strahls = Zusammenbruch des Potentials (bis zur Null-Linie), Abschlag = Aufbau des Potentials. Man sieht einen Spike, der in seiner ersten Phase nach oben gerichtet ist – aber dabei einen raschen Abfall der Spannung anzeigt! Man spricht, weil das Bild eben so aussieht, salopp und für den Anfänger sehr irreführend von der „Höhe“ eines Potentials. (Noch irreführender ist diese Sprache bei den noch zu besprechenden Amplitudenmodulierten Potentialen). Wir werden in der Hoffnung, dass der Leser von nun ab weiß, was gemeint ist, von der „Höhe“, oder „Amplitudenhöhe“ oder schlicht von Höhe und Amplitude sprechen, weil dies nun mal so der Brauch ist. Wir hatten es bisher mit einem einzigen Aktionspotential = Spikepotential = Impuls zu tun. Dieses Aktionspotential dauerte am betrachteten Ort nach Maßgabe der Zeitskala unseres Bildschirms gerade mal 1 bis 3 ms. Es lebt aber in Wirklichkeit länger. Es ist uns nur von unserer Messelektrode weggelaufen. Wie dies? 14.3.2 Die Eigenart der spannungsgesteuerten NatriumKanäle bewirkt, dass Aktionspotentiale über Fasern hinweglaufen Wenn am betrachteten Ort, also z. B. am Axonhügel, das Aktionspotential seinen Gipfel erreicht, ist in diesem Moment und an dieser Stelle die Innenfläche der Zellmembran positiv und die Außenfläche der Membran negativ. Wir finden auf der Innenseite einen positiven Ring (Ring, weil wir es beim Axon mit einem Schlauch zu tun haben), beidseitig begrenzt von negativ geladener Nachbarschaft, und auf der Außenfläche einen negativen Ring, beidseitig flankiert von positiver Nachbarschaft. Das hat Folgen. Strom fließt, bis die Ladungssprünge ausgeglichen sind. Diese Ausgleichsströme haben
zur Folge, dass das Potential im Umfeld der Ringe (= Spikespitze) geringer wird. Die Umgebung erfährt eine partielle Depolarisation. Im Experiment, beispielsweise im Froschmuskel-Versuch, erzwingt man eine Depolarisation, indem man mittels einer technischen Stromquelle negative Ladung in Form von Elektronen auf die Faser fließen lässt, welche die ortsansässige positive Ladung kompensiert. Das ist sehr künstlich, funktioniert aber.
Was hat die partielle Depolarisation zur Folge? Es springen die benachbarten spannungsgesteuerten Na+-Kanäle auf. Während die erste Gruppe von Kanälen sich wieder schließt, öffnet sich die Gruppe benachbarter Kanäle. Der Spikegipfel rückt entsprechend von der Stelle der ersten Kanalgruppe an die Stelle der zweiten weiter. Dann folgt die dritte Gruppe und so fort (Abb. 14.17). Messtechnisch ist diese Fortpflanzung oder Weiterleitung des Aktionspotentials dadurch zu verfolgen, dass auf der Oberfläche der Faser eine Negativitätswelle (Negativitätsring) Richtung Synapse läuft. Negativitätsring: Natrium-Ionen fließen in die Zelle und hinterlassen an der Membranoberfläche einen Überschuss an negativer Ladung. Man kann sich die Fortleitung auch als einen Zündfunken vorstellen, der über eine Zündschnur zischt. Sieht man vom ersten Kanal auf dem Axonhügel ab, hat jeder weitere offene Kanal einen linken und einen rechten geschlossenen Nachbarn, der von den depolarisierenden Ausgleichströmen zum Öffnen stimuliert werden könnte. Ein Spike in der Mitte der Faser könnte sich deshalb in zwei aufteilen, wobei der eine korrekt Richtung Synapse, der andere inkorrekt zurück zum Startplatz liefe. Damit ein solcher Rückwärtslauf nicht passiert, bleiben die Kanäle, nachdem sie zugeklappt sind, für einige Zeit inaktiviert.
Nach ihrem Verschluss verharren die Kanäle für eine kurze Zeit im inaktivierten (inactivated) oder refraktären (refractory) Zustand. In diesem Zustand lassen sie sich durch eine Depolarisierung nicht öffnen. Die kurzfristige Blockade hat einen Gleichrichtereffekt und zwingt den Spike, schnurstracks weiter Richtung Synapse zu marschieren; ein Zurücklaufen ist nicht möglich. Der Refraktärzustand hat eine weitere wichtige Funktion: Ein zweiter Spike, der hinter dem ersten herläuft, kann diesen ersten nie einholen und ihm daher auch nicht in den Rücken fallen. Spikepotentiale bleiben strikt getrennte Signale.
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14 Bioelektrische Signale
Laufrichtung mV Beginn des AP
Ende 1 ms
inaktiviert =refraktär mV
refraktär
refraktär
Abb. 14.17. Wanderung von Aktionspotentialen über ein Axon. Das untere Bild zeigt gegenüber dem oberen Bild einen etwas späteren Augenblick. Ist der Kanal geschlossen und die rote Inaktivierungskugel außerhalb der Pore, ist der Kanal aktivierbar und kann durch Depolarisation geöffnet werden. Ist die rote
Kugel in der Pore, ist der Kanal inaktiviert und kann erst 1 ms später nach dem Ende der Refraktärzeit wieder geöffnet werden. Offene Kanäle sind stets links von inaktivierten, rechts von aktivierbaren umgeben, daher kann das Aktionspotential nur von links nach rechts wandern
Ein letzter wichtiger Punkt zum Einzelspike. Misst man die Amplitude des Spike, während er über die Faser läuft, so registriert man eine stets gleichbleibende Höhe (100 mV). Die – räumlich in die Länge gestreckte – Batterie der Faser hat überall die gleiche Energiereserve. Sie wirkt insoweit auch als Verstärker. „Reibungsverluste“ führen nicht zu einer Minderung der Spikehöhe. Die klassische Elektrophysiologie sagt dies so: Aktionspotentiale folgen dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. Einmal ausgelöst, erreichen sie eine festgelegte Höhe und pflanzen sich unaufhaltsam und ohne Dekrement fort, d. h. ohne sich abzuschwächen.
14.3.3 In Fasern, die Aktionspotentiale zur Informationsleitung benutzen, ist die Information in einer Frequenzmodulation codiert Wenn ich ein Aktionspotential über seine Laufstrecke verfolge, ist seine Amplitude stets gleichbleibend hoch. Auch das nächste und jedes weitere Aktionspotential hat diese Höhe. Ebenso sind die Laufgeschwindigkeiten invariant.
14.3 Fernleitung von Information über Aktionspotentiale
dem Axon der Nervenzelle und entlang der quergestreiften Muskelfaser wird Information durch Intervallmodulation bzw. – gleichbedeutend – durch Frequenzmodulation codiert und geleitet. 14.3.4 Nicht überall gibt es Frequenzmodulation; in nichtaxonalen Zellbereichen findet man Amplitudenmodulation
AP
Ausgleichs-Kationenstrom Ausgleichs-Anionenstrom “Erregte” Stelle lokales Aktionspotential AP
Abb. 14.18. Schwann’sche Scheiden um ein Axon mit Lücken (= Ranvier’sche Schnürringe). Nur in den Lücken befinden sich Ionenkanäle und nur hier kommt es zu einer spikeförmigen Modulation des Membranpotentials
Bei verschiedenen Fasern registriert man verschiedene Amplituden. Dünne Fasern feuern in der Regel kleine, dicke Fasern feuern große Spikes. Auch die Leitungsgeschwindigkeiten sind unterschiedlich: Über dicke Fasern laufen die Spikes schneller als über dünne. Bei ein und derselben Faser jedoch sind Amplituden und Laufgeschwindigkeit invariant.
In unveränderlichen Parametern kann ich keine Information codieren. Mit einer monotonen Serie von aaaaa… kann ich keine aussagekräftige Botschaft verschlüsseln. Ich kann es aber im Prinzip schon, wenn ich nur die Abstände zwischen den a-Buchstaben variabel gestalte. Man kann, vom Axonhügel startend, ein Aktionspotential nach dem anderen auf den Weg schicken. Man muss nur jeweils den zeitlichen Mindestabstand der Refraktärzeit abwarten. Da in einer Standardfaser ein Spike ca. 1 ms dauert und die Refraktärzeit zusätzlich mindestens 1 ms, kann die Standardzelle bis zu 500 Spikes pro Sekunde über die Faser schicken. (Die gemessenen Maximalwerte liegen nur sehr selten über 300 Hz, können aber in rekordverdächtigen Fasern bis zu 1000 Hz hochschnellen.) Die Zelle muss aber nicht mit maximaler Frequenz feuern; sie kann den zeitlichen Abstand, das Intervall, modulieren und damit den Kehrwert des Intervalls, die Frequenz, ausgedrückt in Hertz (Hz). Entlang
Es sei schon an dieser Stelle betont, dass Frequenzmodulation nicht die einzige Art ist, wie in Sinnes-, Nerven- und Muskelzellen Information codiert sein kann. Wir werden im Kapitel Synapse und in der Sinnesphysiologie auch der Amplitudenmodulation begegnen. Sie dient freilich weniger der Fortleitung, sondern mehr der Integration und Verarbeitung von Information.
Ein wichtiger Hinweis schon jetzt. ●
Amplitudenmodulierte Potentiale treten in der Inputregion einer Nervenzelle (Dendrit) auf und dienen der ersten Codierung und der Integration von Information. Sie sind Analogsignale, die beispielsweise eine Reizstärke widerspiegeln.
●
Frequenzmodulierte Potentiale treten in der Outputregion (Axon) der Nervenzelle auf und dienen der Fernleitung von Information. Da sie dank der Verstärkerwirkung der Faser stets gleiche Höhe behalten, können selbst meterlange Strecken ohne Signalverlust überwunden werden. Informationsübermittlung durch frequenzmodulierte Signale wird gerne mit digitalem Informationstransport verglichen. Allerdings hat eine Folge von diskreten Spikes mit konstanter Amplitude zwar die Störungsresistenz digitaler Übertragungssysteme, doch ist die Information als solche wie in analogen Systemen in einer weitgehend variablen Größe, dem Spikeintervall, codiert.
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14 Bioelektrische Signale
14.3.5 In Fernleitungsstrecken können Isolierhüllen eine beschleunigte „saltatorische“ Leitung erzwingen Wie eben vermerkt, dienen frequenzmodulierte Aktionspotentiale der Fernleitung. Allerdings ist diese Art der Fernleitung gegenüber der uns von der Elektrotechnik vertrauten Fernleitung mit einem großen Nachteil behaftet: Sie ist vergleichsweise langsam. Was sind schon 5 m in der Sekunde verglichen mit der Geschwindigkeit einer Telefonleitung oder einer SMS-Botschaft? Wir kehren zum Axon einer Nervenzelle zurück. Schon das Schulbuch des Gymnasiums weiß von „saltatorischer Leitung“ zu berichten. Es geht um einen Trick, wie in Fernleitungsstrecken vom Zentralnervensystem bis – beispielsweise – zum kleinen Zeh Aktionspotentiale rascher weitergeleitet werden können. Denn sehr schnell geht das im Allgemeinen nicht (0,5 bis 5 m/s). Der Trick ist schon erstaunlich. Das Erstaunlichste ist vielleicht das vorbereitende Verhalten von Gliazellen (Schwann’sche Glia) in der Embryonalentwicklung. Sie machen sich platt und wickeln sich in einem eigenartigen Verfahren um die Axone, um die Funktion eines Isolierbandes (Myelinhülle) zu erfüllen (Abb. 14.18). Im Abstand von 1 mm lassen sie die Faser im Ranvier’schen Schnürring nackt. Nur dort an diesen nackten Stellen befinden sich noch Ionenkanäle – und hier gleich in hoher Dichte. Springen diese auf und kommt es an dieser Stelle auf dem Höhepunkt des Aktionspotentials zur Umpolung, so wird dieser Ring außen eine negative Ladung exponieren, während an der Innenseite der Membran ein positiver Ring erscheint. Die Weiterleitung der Depolarisation zum benachbarten Schnürring ist extrem schnell (Abb. 14.18). Hier am zweiten Ring kommt es zur Auslösung des nächsten Aktionspotentials. Die isolierte Zwischenstrecke bleibt stumm. Wir sehen ein Aufflackern von Aktionspotentialen in Sprüngen von Schnürring zu Schnürring. Die Leitungsgeschwindigkeit kann hierbei bis zu 140 m/s betragen im Vergleich zu 5 m/s für gleich dicke, nicht-myelinisierte Fasern.
Die schnelle Weiterleitung über die isolierten Abschnitte des Axons (die Internodien) kommt dadurch zustande, dass die isolierende Myelinschicht ein Entweichen von Strömen jeder Art durch die Axonmembran verhindert: Ionenflüsse werden durch den erhöhten Membranwiderstand blockiert, vor allem aber kapazitive Ströme durch eine Verminderung der Membrankapazität reduziert. Das Prinzip stößt aber an Grenzen. Sind die Abstände zwischen den Schnürringen zu groß, reicht die zum Öffnen benachbarter Kanäle nötige Depolarisation nicht weit genug, und beim nächsten Ring kann kein Aktionspotential mehr entstehen. Die Internodien sind bis zu etwa 1 mm lang und werden von jeweils einer Gliazelle isoliert.
14.3.6 Gegen Ende der Leitung wird auf spannungsgesteuerte Calciumkanäle umgeschaltet; denn man braucht Calcium zur Freisetzung von Transmittern Wenn das Lehrbuch der Physiologie im Zusammenhang von Aktionspotentialen von NatriumKanälen spricht, so hat es den Regelfall bei Wirbeltieren im Gesichtsfeld. In den Muskelfasern des Herzens und in den neuronalen Axonen vieler Wirbelloser erfüllen Calcium-Ionen diese Funktion, und vielleicht auch im Wirbeltier bei manch kleiner, nicht untersuchten Nervenfaser. Wie auch immer, auch bei großen neuronalen Fasern im Wirbeltier kommen zum Schluss spannungsgesteuerte Calcium-Kanäle zum Zuge. Läuft ein Aktionspotential in den Nahbereich einer Synapse ein, springen Ca2+-Kanäle auf. Sie leiten die synaptische Transmission ein.
Zusammenfassung des Kapitels 14
Zusammenfassung des Kapitels 14 In Sinnes-, Nerven- und Muskelzellen wird Information in Form elektrischer Signale codiert und weitergeleitet. Kap. 14 erklärt, wie elektrische „Potentiale“, d. h. elektrische Spannungen zwischen Zellinnerem und Zelläußerem, zustande kommen und wie sie moduliert werden können. Wesentlich ist eine Ungleichverteilung von positiv geladenen Kationen und negativ geladenen Anionen beidseitig der Zellmembran. Für die Einstellung einer Stand-by-Spannung, der Ruhemembranspannung, sind maßgebend die beweglichen K+-Ionen sowie K+-selektive Membranporen einerseits und im Zellinneren gefangene, organische Anionen (u. a. phosphorylierte Proteine, organische Säuren) andererseits. Eine Ionenpumpe, die Na+/K+-ATPase, reichert das Zellinnere mit einem 20–40fachen Überschuss an K+ an und wirft zum Austausch Na+ hinaus. Durch stets offene K+-Leckkanäle streben einige K+-Ionen ihrem Diffusionsdruck folgend jedoch wieder nach draußen und lassen ungepaarte Anionen zurück. Durch die so bewirkte Ladungstrennung baut sich eine elektrische Spannung auf, die dem Diffusionsdruck entgegenwirkt. Im Gleichgewicht von Diffusionsdruck und elektrostatischer Gegenkraft (Gibbs-Donnan-Gleichgewicht) wird eine Membranruhepotential ( resting potential) gemessen, dessen Höhe nach der Nernst-Gleichung berechnet werden kann und im Regelfall ca. −90 mV beträgt. Anreicherung des Außenmediums mit K+ erniedrigt die Spannung, Erniedrigung der K+-Außenkonzentration führt zur Erhöhung der Spannung (Hyperpolaristation). Eine schlagartige Erniedrigung des Membranpotentials (Depolarisation) ergibt sich, wenn sich
reizbedingt plötzlich spannungsgesteuerte Natrium-Kanäle öffnen, Na+-Ionen dank ihres Diffusionsdruckes nach innen strömen, die Ladung der Anionen kompensieren und vorübergehend sogar das Zellinnere mit einem Überschuss an positiver Ladung füllen. Das automatische Zuklappen (Inaktivierung) der Kanäle nach <1 ms Öffnungszeit ermöglicht ein rasches Wiederherstellen der Ruhespannung. Bei dieser Repolarisierung wirken spannungsgesteuerte K+-Kanäle mit, die sich gegenüber den Na+-Kanälen verzögert öffnen und mit K+ wieder positive Ladung nach Außen entlassen. Die insgesamt nur 1 ms währende Spannungsänderung heißt Aktions- oder Spikepotential. Dank der Eigenart der spannungsgesteuerten Kanäle kann sich jedes Aktionspotential entlang einer Nerven- oder Muskelfaser rasch weiterbewegen, gefolgt von einer 1 ms dauernden Phase der Inaktivierbarkeit der Kanäle (Refraktärphase). Serien solcher Aktionspotentiale (Spikes) mit konstanten Amplituden (Alles-oder-Nichts-Prinzip), aber wechselnden Intervallen (Frequenzmodulation), werden zur störungsresistenten Fernleitung von Information über weite Strecken benutzt, vergleichbar einem digitalen Informationstransport. Hingegen dienen an Synapsen (Kap. 15) und in Sinneszellen (Kap. 17) analoge, Amplituden-modulierte lokale Potentiale der primären Codierung und der Integration von Information. Bei Nervenfasern mit periodisch unterbrochenen Isolierschichten (Schwann-Scheiden mit RanvierSchnürringen) ermöglicht saltatorische Leitung eine Steigerung der Leitungsgeschwindigkeit für Spikes von 5 m/s bis 140 m/s. Box 14.1 und 14.2 führen in physikalische Grundlagen und Messtechniken der Elektrophysiologie ein.
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Tafel 9 Motorische Spitzenleistungen des Menschen. Nicht nur wegen seiner geistigen Leistungen und seiner Sprache ist der Mensch anderen Säugetieren überlegen, sondern auch in vielen körperlichen Fähigkeiten. Der Mensch ist unangefochtener Champion im Vielseitigkeitssport. Doch auch in vielen Einzeldisziplinen ist er Meister und Rekordhalter. Kein Tier, Menschenaffen eingeschlossen, außer Homo sapiens kann Speere über Kopf werfen, einen Spagat machen und feinste Handarbeiten verrichten. Stets wenn Arme und Hände im Spiel sind, aber auch dank größerer Freiheitsgrade in Schulter- und Hüftgelenken, dank einer biegsamen Wirbelsäule und dank eines besonders beweglichen Kopfes vollbringt die Motorik des Menschen Leistungen, die kein Tier nachahmen kann. Auch ist der Mensch dank besonderer Fähigkeit im Dauerlauf als einziger Räuber in der Lage, Großwildherden über ihre ganzen Wanderstrecken zu folgen. Kajakfahrer Dirk Müller, am Reck Fabian Hambüchen; die anderen Sportler namentlich nicht bekannt. Bildquellen: Speerwerfer (archiv-decathlon), Hambüchen (N24), Fechter (spox): weit verbreitete Pressebilder (in Klammern: benutzte Quelle); Diskuswerfer: Stadt Kopenhagen. Die restlichen Bilder: privates Bildarchiv des Autors WM Tafel 10 Vogelflug. A Archaeopterix. Gemälde von Heinrich Harder ca. 1916. B Vögel im Flug. B1 Brieftauben auf dem Heimflug. B2 Flugformation von ziehenden Wildgänsen auf ihrem Fernflug. In dieser keilförmigen Anordnung wird Energie gespart. Die Führungsposition „im Wind“ muss gelegentlich wechseln. B3 Heringsmöven in Flugphasen, in denen deutlich wird, dass Luft schräg nach unten und hinten bewegt wird und damit Aufund Vortrieb erzeugt werden. Bildquellen: B1 Martin Albert, Seelbach; B2 planet-wissen WDR/dpa; B3 Autor WM; B4 Pelikane: Notger Müller, mit dessen freundlicher Genehmigung
Tafel 11 Fledermäuse. A, B Langohrfledermaus (Vespertilionidae) beim Beutefang. C Portrait der Großen Hufeisennase. Bildquelle: Dietmar Nill (www.dietmar-nill.de) Tafel 12 Elektrische Fische. A Eigenmannia. B Gymnarchus niloticus. C, D, E Gnathonemus petersii (Elefantenrüsselfisch, ein „Nilhecht“). C Auf dem „Rüssel“ (Unterlippe) befinden sich besonders viele Elektrorezeptoren. F Zitterrochen Torpedo sinuspersici. G Zitteraal Electrophorus electricus aus dem Amazonas. H Zitterwels Malapterus electricus. Bildquellen: A Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Troy Smith, University of Texas; C, D, E Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Gerhard von der Emde, Uni Bonn; F Boris Plümecke; H Stephan Frings, www.sinnesphysiologie.de; B Mit freundlicher Genehmigung von Ken Childs, Animal-World.com; G Stan Shebs, Code Sourcery, Las Vegas Tafel 13 Infrarotrezeption. A Klapperschlange mit Grubenorgan. B Vampirfledermaus mit Infrarotsensoren auf dem Nasenaufsatz. C Infrarotaufnahmen: C1 Erdhörnchen, zur Ablenkung den Schwanz erwärmend. Bildquellen: A Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Kai M. Roesler, Bern; B NetzeitungArchiv; C1 Aaron Rundus; C2 NASA Public Domain; C3 Urheber unbekannt Tafel 14 Methoden I Elektrophysiologie. Elektrophysiologischer Arbeitsplatz aus dem Labor von Prof. Dr. Stephan Frings, Mitautor. Es werden vor allem Patch-clamp-Ableitungen von Ionenkanälen an verschiedenen Sinneszellen durchgeführt
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Tafel 15 Methoden II Cytologie 1. A Darstellung von Nervenzellen eines Hydropolypen (Hydractinia echinata) aufgrund ihres Gehaltes an Neuropeptiden mit dem Endterminus RFamid. A1 In-situ-Hybridisierung gegen die mRNA, A2 Immuncytochemie gegen das Peptid mit Anti-RFamid IgG. B Axone von Riechsinneszellen (Riechneuronen); diese Axone wachsen soeben in den Bulbus olfactorius des Gehirns ein. Die Axone enthalten in ihrer Zellmembran molekulare Rezeptoren, die identisch sind mit denen, die sie in ihre sensorischen Cilien zum Einfangen von Duftmolekülen einbauen. Das Bild zeigt Lac-Z-markierte Axone von transgenen Mäusen (Feinstein u. Mombaerts 2004 Cell 117(6): 817-846). C Nervenzellen. D Immuncytochemie der Riechschleimhaut. In der Riechschleimhaut kommen Neurone (grün; Antigen: olfactory marker protein) in Kontakt mit der Außenwelt. Diese Neurone präsentieren der Atemluft chemosensorische Cilien (rot; Antigen: Adenylatcyclase); die Cilien tragen ihrerseits Rezeptorproteine für Duftstoffe Bildquellen: A W. Müller, Uni Heidelberg, und G.Plickert, Uni Köln; B Mit freundlicher Genehmigung von Peter Mombaerts, Rockfeller University; C Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Thomas Dresbach, Uni Heidelberg; D Dr. Daniel Klimmeck, Arbeitsgruppe Stephan Frings, Uni Heidelberg
Tafel 16 Methoden III Cytologie 2. Darstellung von verschiedenen Zelltypen in der Retina der Maus. Mit Zelltyp-spezifischen Antikörpern kann das stratifizierte Gewebe der Netzhaut untersucht werden. A Stäbchenaußen- und innensegmente (rot) begrenzen die Netzhaut nach oben. In Blau sind Zapfenphotorezeptoren dargestellt, in Weiß deren Außensegmente. Bipolarzellen (rot) und Amakrinzellen (blau) bevölkern die innere nukleäre Schicht. In den plexiformen Schichten sind die Zellen miteinander verschaltet. B Unter den Bipolarzellen sind einige mit Zapfenphotorezeptoren verbunden (grün), andere (blau) mit Stäbchenphotorezeptoren. In der Mitte sieht man Amakrinzellen (rot) und weiter unten Ganglienzellen (rot). C Spezifische Darstellung von Zapfenphotorezeptoren (grün). D Bei Belichtung der Zapfenphotorezeptoren vermitteln ON-Bipolarzellen (grün) eine Erregung der mit ihnen verschalteten Ganglienzellen; OFF-Bipolarzellen (rot) vermitteln eine lichtabhängige Hemmung der Ganglienzellen. Bildquelle: Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Frank Müller, Forschungszentrum Jülich
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15 Synapsen: Transmission und Verarbeitung von Information
Es ist viel von ihnen die Rede, und es gibt sie im Gehirn und überall im Körper verstreut zu Abermilliarden, doch sie sind winzig, mit Dimensionen unterhalb der Auflösungsgrenze des Lichtmikroskops: Synapsen, die „Erregungs“-übertragenden Kontaktstrukturen zwischen Sinneszellen und Nervenzellen, zwischen Nervenzellen und Muskelzellen und zwischen Nervenzellen untereinander. Allenfalls motorische Endplatten, die besonders ausgedehnten neuromuskulären Synapsen zwischen der Befehlsleitung einer motorischen Nervenzelle und einer Muskelfaser, können noch im Lichtmikroskop lokalisiert werden. Synapsen im lebenden Gewebe zu finden und zu untersuchen, verlangt besondere Kniffe. In der Regel wird mit mehrkanaligen Elektroden der Elektrophysiologie die zuleitende Nervenfaser „gereizt“ und zugleich abgehört, und mit einer zweiten „ableitenden“ Elektrode die Antwort der angesprochenen Zelle registriert. Aus dem Vergleich des Reizmusters in der Zuleitung und der Antwort der Effektorzelle wird indirekt auf das Verhalten der Synapse geschlossen. Technisches soll hier aber nicht weiter zur Sprache kommen. In diesem Kapitel wollen wir erfahren, wie an der Kontaktstelle zwischen zwei „erregbaren“ Zellen „Erregung“, d. h. ein informationstragendes Signal, von der einen auf die andere Zelle überspringt. Wir fragen uns auch, warum der tierische Organismus vorzugsweise die so umständlich und langsam operierende chemische Synapse einsetzt und weit weniger die augenscheinlich so einfach und elegant funktionierende elektrische Synapse. Wir werden mehrere Antworten finden. Vor dem Lesen dieses Kapitels sollte schon Kap. 14 gelesen sein.
15.1 Gap junctions als elektrische Synapsen 15.1.1 Elektrische Synapsen erlauben ein direktes Überspringen von Aktionspotentialen von Zelle zu Zelle Elektrische Synapsen mittels Gap junctions funktionieren analog einem simplen Steckersystem: Strom kann ungehindert passieren. Gap junctions sind Bündel von Kanälen in den Membranen zweier benachbarter Zellen, wobei die Kanalstrukturen der einen Zelle exakt auf die Kanalstrukturen der anderen Zelle passen (Abb. 15.1). Diese Kanäle lassen Elektrolyte ungehindert passieren. Sie sind weit genug, dass auch niedermolekulare Signalmoleküle wie cyclisches Adenosin-Monophosphat (cAMP) und Inositoltriphosphat (IP3) von einer Zelle zur anderen diffundieren können. Diesen Aspekt wollen wir aber nicht näher verfolgen. Wenn Kationen wie Na+, K+ und Ca2+ und Anionen wie Cl– und IP36– die Kanäle passieren können, dann kann es auch elektrischer Strom; denn der elektrische Strom der Physiologie ist ja nichts anderes als Fluss von Ionen. Die Ausgleichsströme, die zur Fortpflanzung von Aktionspotentialen Anlass geben (s. Abb. 14.14), lassen sich von Gap junctions nicht aufhalten, ebensowenig wie sich ein Zündfunke vom Knoten zweier miteinander verknoteter Zündschnüre aufhalten lässt. Gap junctions verbinden die Muskelzellen des Herzens und ermöglichen so deren gleichzeitige (synchrone) Kontraktion. Gap junctions werden auch in Neuronen des Gehirns gefunden. Dort haben sie die wichtige Aufgabe, viele Neurone zu
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15 Synapsen: Transmission und Verarbeitung von Information
das nicht, würde sie mit ihrer Nachbarin zugrunde gehen.
15.2 Chemische Synapsen: Informationsübertragung mittels Transmitter 15.2.1 Transmitter-enthaltende Vesikel warten an der präsynaptischen Membran, um auf ein Signal hin ihren Transmitter in den synaptischen Spalt zu spritzen Transmitter werden in der Sinnes- oder Nervenzelle auf Vorrat synthetisiert. Verpackungsvesikel, die vom Golgi-Apparat abgeschnürt worden sind, werden entlang dem langen Axon mittels Kinesin-Motoren bis zum Ende des Axons transportiert (Abb. 15.2). Wo entlang dieser Strecke die Vesikel gefüllt werden, ist im Einzelnen unklar; doch gilt gegenwärtig folgende Auffassung: Abb. 15.1. Gap junction. Jede der beiden verbundenen Zellen steuert eine Hälfte der Zell-Zell-Verbindung (Connexon) bei. Jedes der Connexone einer Zelle ist aus mehreren Proteinen, Connexinen, zusammengesetzt.
●
Neuropeptide werden, wie es sich für Exportpeptide ziemt, am rauen ER (als große Propeptidproteine) hergestellt und im Golgi-Apparat in Exocytose-Vesikel gefüllt; es dauert seine Zeit, bis diese Vesikel an der Synapse ankommen. Ein Axon kann einige mm bis m lang werden! Einmal durch Exocytose entlassen, sind die Peptide nicht mehr verfügbar. Ein Vesikel mit Neuropeptid ist ein Einwegbehältnis.
●
Niedermolekulare Transmitter wie Acetylcholin werden hingegen vor Ort hergestellt oder, wie die Aminosäuren Glycin und Glutamat, schlicht dem Cytoplasma entnommen. Sie werden in besondere synaptische Vesikel gepumpt und dort gespeichert. Synaptische Vesikel und ihr Inhalt unterliegen einem Recycling. Die per Endocytose in die Zelle zurückgeholten Vesikel führen auch gebrauchte Transmitter oder ihre Metaboliten wieder in die Zelle zurück.
●
In beiden Fällen werden darüber hinaus über besondere Transportvesikel Hilfsmittel wie Enzyme, Pumpenaggregate und Andockproteine zum Erledigen von Exocytose und Endocytose zum
synchron feuernden neuronalen Netzen zusammenzuschließen. Solche synchron aktiven Nervennetze spielen eine große Rolle in vielen Gehirnfunktionen. Chemische Synapsen sind im Gehirn jedoch weit häufiger vertreten als elektrische. 15.1.2 Gap junctions sind regulierbar, aber nur sehr beschränkt Viel mehr ist an dieser Stelle nicht zu sagen. Zwar gibt es genug Berichte, wonach der Öffnungszustand von Gap junctions veränderlich sein kann; doch die große Flexibilität chemischer Synapsen wird nicht erreicht. Vor allem gibt es wenige Einflussmöglichkeiten über externe Signale. Für eine mit Gap junctions an Nachbarzellen gekoppelte Zelle ist es jedoch lebenswichtig, sich unverzüglich durch Verschließen dieser Poren abzuschotten, wenn eine Nachbarzelle stirbt; könnte sie
15.2 Chemische Synapsen: Informationsübertragung mittels Transmitter
Zuleitung von anderen Nervenzellen Dendrit (Antenne) Axosomatische Synapse Axonhügel
synapt. Terminal Axon
Dornensynapse
Inputregion / Afferenz lokale Potentiale, AM-Codierung
Initialregion
Outputregion / Efferenz wandernde Aktionspotentiale, FM Codierung
Dendrit Axonhügel
Neuropeptide
Präsynapt. Membran
Vesikel -Transoprt im Axon entlang von Mikrotubuli mit Kinesin-Motoren
Golgi ER Retrograder-Transport mit Dyneinmotoren entlang von Mikrotubuli von z.B. Neurotrophinen
Dendrit Hilfsmittel (z.B. Enzyme, Carrier)
Exocytose-Vesikel Einmalgebrauch der Neuropeptide
Niedermolekulare Transmitter: Synthese und Speicherung vor Ort in synaptischen Vesikeln
Golgi ER
Endosom
Recycling der synaptischen Vesikel und der Transmittermetaboliten
Abb. 15.2. Neuron. Oben: Funktionelle Gliederung. Mitte und unten: Transport von Transmitter-Vesikeln
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15 Synapsen: Transmission und Verarbeitung von Information
synaptischen Terminal verfrachtet. Verbrauchtes Material wird zurückverfrachtet; dabei können auch Neurotrophine (Überlebensfaktoren) mitgenommen werden. Über die Rolle der Neurotrophine in der Entwicklung des Nervensystems geben Bücher der Entwicklungsbiologie Auskunft. Neurotrophine wie der nerve growth factor NGF werden in diesem Buch nicht behandelt, abgesehen von dem Hinweis, dass neuerdings manche Neurotrophine auch als Transmitter gehandelt werden.
Vor der präsynaptischen Membran werden die Transmitter-befüllten Vesikel an Cytoskelettstrukturen verankert und bleiben in Bereitschaftsposition liegen (Abb. 15.2). Den Anfänger könnte es verwundern, dass die terminale Abschlussmembran des Axons „präsynaptisch“ heißt. Die Leute, die die Nomenklatur erfunden haben, saßen im Geiste im synaptischen Spalt und sahen vor sich (lat.: prae = vor) die Membran der Senderzelle, die auf Kommando den Transmitter entlässt, und hinter sich ( post = hinter) die Membran der Empfängerzelle, die 0,5 bis 1 ms später den herandiffundierenden Transmitter auffängt (statt postsynaptisch heißt es auch oft subsynaptisch). 15.2.2 Aktionspotential – Calcium-Puls – Exocytose mit gequantelter Transmitter-Freisetzung, das sind die präsynaptischen Ereignisse Läuft ein Aktionspotential am Terminal des Axons ein, löst es über spannungsgesteuerte Calcium-Kanäle den schlagartigen Einstrom von Calcium-Ionen in das Axon aus. Man kann dieses explosive Einströmen des Calciums mittels einer „erhellenden“ Methode sichtbar machen. In das Axon wird Aequorin eingeführt, ein Protein, das von leuchtfähigen Hydromedusen des Pazifik (Aequorea gigantea) stammt und einen Lichtblitz aussendet, wenn es Ca2+ zu fangen bekommt. Der Calcium-Puls (unter Fachleuten CalciumTransient genannt) sorgt seinerseits dafür, dass eine bestimmte Anzahl von Vesikeln Kontakt mit der Zellmembran aufnehmen kann. Das ist kein einfaches Unterfangen. Man kennt eine größere Zahl von Proteinen, die beim Andocken der Vesikel behilflich sind und vielleicht auch eine Kanüle bilden,
durch die der Transmitter in den synaptischen Spalt gespritzt wird. Proteine, die beim Andocken helfen, sind beispielsweise Synaptotagmin und Syntaxin (Abb. 15.3). Hat ein Vesikel an die präsynaptische Membran angedockt, bilden Proteine des Vesikels und der präsynaptischen Membran gemeinsame SNARE-Komplexe. Und was besagt nun der Ausdruck „gequantelt“? Das Minimum an Transmitter, das freigesetzt werden kann, ist der Inhalt eines Vesikels. Wir können sagen: ein Transmitterquant = Inhalt eines Vesikels. Bei cholinergen Synapsen, an denen Acetylcholin als Transmitter freigesetzt wird, enthält ein Vesikel immerhin ca. 30 000 Acetylcholinmoleküle. Pro einlaufendem Aktionspotential werden ca. 1000 Vesikel geöffnet. Tausend Transmitterquanten wären demnach 30 Mio. Moleküle pro angekommenem Aktionspotential! 15.2.3 Transmitter werden sofort wieder vernichtet oder zurückgepumpt Ein Transmitter wird von einem kurzen Aktionspotential, einem elektrischen Impuls, pulsförmig freigesetzt. Er soll auch pulsförmig zur Wirkung kommen. Wenn der nächste Transmitterpuls aus der präsynaptischen Membran herausschießt, müssen alle Rezeptoren wieder frei sein. Transmitter werden durch hochaktive Enzyme vernichtet (z. B. Acetylcholin durch die rasend schnell arbeitende Acetylcholinesterase). Oder sie werden blitzartig in die Senderzelle zurückgepumpt. Das geht phantastisch schnell. Auch Gliazellen können sich an der Aufräumarbeit beteiligen, sofern sie in nächster Nähe sind.
15.3 Konkrete Transmitter 15.3.1 Transmitter sind ihrer chemischen Natur nach „Monoamine“, Aminosäuren, Peptide oder … Es ist gar nicht einfach, Transmitter zu identifizieren. Synapsen sind so winzig, dass sie mit dem Lichtmikroskop nur mit besonderen Färbeverfahren und auch dann nur als winzige Pünktchen an der Grenze
15.3 Konkrete Transmitter
Abb. 15.3. Synapse. Auf der linken Seite Axonende der Sendezelle = Präsynapse, rechts Kontaktregion der Empfängerzelle = Postsynapse
der Erkennbarkeit ausgemacht werden können. Wie soll man da noch die Inhaltsstoffe analysieren? Wir können den Erfindungsreichtum kriminalistisch begabter Forscher hier nicht nachvollziehen, verstehen aber gewiss, warum die Liste der Transmitter (Abb. 15.4) noch längst nicht komplett ist und hinter manchem Transmitter-Kandidaten noch ein Fragezeichen steht. Ein lange umstrittener Kandidat war ATP. Die Vorbehalte dieser Substanz gegenüber sind nun aber geschwunden. ●
Acetylcholin. Der erste identifizierte Transmitter war der „Vagusstoff “ Acetylcholin. Er wird beispielsweise an den synaptischen Terminals parasympathischer Axone (Nervus vagus) und an der motorischen Endplatte eingesetzt, einer besonders großen Synapse (s. Abb. 15.8) zwischen dem zuleitenden „motorischen“ Axon und einer Muskelfaser.
●
Aminosäuren, wie Glycin, Glutamat und Aspartat, und die Aminosäurederivate werden bisweilen als biogene Amine zusammengefasst (Abb. 15.4). Der Ausdruck ist wenig glücklich, da alle Aminosäuren und zahllose andere Substanzen Amine sind. Alle drei werden an zahlreichen Synapsen des ZNS als Transmitter eingesetzt, Glycin oft an hemmenden.
●
Aminosäurederivate sind die Monoamine Noradrenalin und Dopamin. Unter anderem Aspekt – zwei Hydroxygruppen am Phenylring – werden Dopamin, Adrenalin und Noradrenalin auch als Catecholamine bezeichnet.
●
Weitere Aminosäurederivate sind Serotonin, auch als 5-Hydroxytryptamin bekannt, und die oftmals an hemmenden Synapsen eingesetzte GABA (γ-Aminobuttersäure).
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15 Synapsen: Transmission und Verarbeitung von Information
Acetylcholin O H3C
Monoamine CH3
C
O
CH2
N
CH2
Acetyl-
Catecholamine, aus Tyrosin:
CH3
HO
Cholin
CH3 exzitatorisch an motor. Endplatten
NH2
HO
Aminosäuren H3N
H C
Dopamin
Rolle in Stimmungslagen, auch im peripheren NS
COOH
CH2 CH2
OH
Glutaminsäure (Glutamat)
COOH
HO
oft exzitatorisch im ZNS
NH2 HO
H3N
COOH
CH2 CH2
Noradrenalin
in Stressreaktionen
CH2
GABA (Gamma-Aminobuttersäure)
Aus Tryptophan:
oft inhibitorisch im ZNS HO
H3N
COOH CH2
Glycin
NH2
inhibitorisch
N H 5-Hydroxytryptamin = Serotonin im ZNS und enterischen NS (Darmperistaltik)
Peptide
Zahlreich, u.a. Enkephaline, Substanz P, oft modulatorisch
Histamin N
ATP
NH
NH2
u.a. im enterischen NS Abb. 15.4. Transmitter. Auswahl ●
Peptide. Besonders viele Transmitter lassen sich potentiell als Peptide konstruieren, weil es bei Peptiden enorm viele Möglichkeiten gibt, wie viele und in welcher Reihenfolge Aminosäuren aneinandergefügt werden können. Bereits bei den Coelenteraten, der evolutionsgeschichtlich wohl ältesten Tiergruppe, die mit einem SinnesNervensystem ausgestattet ist, wird die Vielfalt
möglicher Aminosäuresequenzen in Peptiden weidlich genutzt, um ein großes Spektrum von Transmittern und Neurohormonen herzustellen. ●
Proteine. Neuerdings ist der brain-derived neurotrophic factor BDNF als Transmitter im Gehirn ins Gespräch gebracht worden.
●
ATP
15.4 Auffangen des Transmitters an der postsynaptischen Membran und Reaktion der Empfängerzelle
Muskelfasern aufsitzen. Hier kommt der nikotinische Acetylcholin-Rezeptor zum Zuge: es ist ein Liganden-gesteuerter Kanal, der zwar nicht besonders ionenselektiv ist aber viele Na+-Ionen in die Zelle lässt, weil besonders viele Na+-Ionen vor dem Kanaleingang warten. Der Kanal lässt sich auch durch das Nikotin des Tabakrauchs öffnen. (Bei längerer Einwirkung von Nikotin verliert jedoch das falsche Signal an Wirkung und der Raucher wird nicht von Muskelkrämpfen geplagt.)
Oft zu lesende Ausdrücke: ● Cholinerg sind Synapsen, an denen Acetylcholin als Transmitter fungiert. ● Adrenerg sind Synapsen, an denen Adrenalin oder Noradrenalin die Botschaft vermittelt. ● Aminerge Synapsen setzen Noradrenalin oder Dopamin oder Serotonin als Transmitter frei. ● Peptiderge Synapsen verwenden Peptide als Transmitter. ● Entsprechend werden Synapsen auch als GABA-erg, serotonerg oder XY-erg angesprochen
15.3.2 Transmitter werden ergänzt durch Neuromodulatoren Nicht immer löst eine Signalsubstanz, die an der Synapse abgesandt wird, für sich schon in der signalempfangenden Zelle eine elektrisch registrierbare Reaktion aus. Sie beeinflusst aber nachhaltig die Effektivität eines Transmitters. Solche Neuromodulatoren sind oft Peptide; es kommen allerdings auch beliebige andere Substanzen als Modulatoren in Betracht bis hin zu dem gasförmigen Stickstoffmonoxid NO.
15.4 Auffangen des Transmitters an der postsynaptischen Membran und Reaktion der Empfängerzelle 15.4.1 Transmitter wirken in der postsynaptischen Membran über Liganden-gesteuerte Ionenkanäle oder über Signaltransduktionssysteme Die neurobiologische Fachliteratur spricht von ionotropen und von metabotropen Ligandenwirkungen. Was hat es damit auf sich? Beispiel Acetylcholin (ACH). Der Transmitter wird an den Terminals motorischer Axone freigesetzt, um Muskelfasern zur Kontraktion zu veranlassen. Das geschieht jedoch bei den quergestreiften Fasern der Skelettmuskel und den glatten Muskelfasern der Hohlorgane in unterschiedlicher Weise. ●
Ionotrope Wirkung. Die aus den ventralen Spinalwurzeln aus dem Rückenmark herauskommenden motorischen Axone enden an den motorischen Endplatten, die den quergestreiften
●
Metabotrope Wirkung. Sie läuft immer über die Aktivierung eines G-Proteins. An den Synapsen der glatten Muskelzellen warten muscarinische Acetylcholin-Rezeptoren ACH-R auf den Liganden. In untunlicher Weise wirkt auch das Gift des Fliegenpilzes Musca, das Muscarin, als aktivierender Ligand. Viele muscarinische ACH-Rezeptorsysteme mit unterschiedlichen Isoformen des ACH-R und unterschiedlichen Eigenschaften werden im Gehirn gefunden. Die muscarinischen ACH-Rezeptoren haben selbst keine Kanalstruktur, sondern beeinflussen indirekt über das PI-PKC-Signaltransduktionssystem oder, mehr direkt, über wegdriftende GProteine (s. Abb. 12.4) den Öffnungszustand von Ionen-Kanälen. Dies hat in der glatten Muskelfaser eine Depolarisation der Zellmembran, Einstrom von Ca2+ in die Faser und schließlich Kontraktion der Faser zur Folge.
In der nikotinischen wie der muscarinischen Synapse kommt es unter der postsynaptischen Membran zu einer Depolarisation (EPSP – s. unten Abschn. 15.4.4), die in der quergestreiften Muskelfaser bereits in einer Millisekunde erreicht ist, in der glatten Muskelfaser hingegen nur langsam in Gang kommt, aber dafür viel länger anhält – 1 s bis zu Minuten. Entsprechend ist das Kontraktionsverhalten dieser Fasern unterschiedlich: Die quergestreifte Muskelfaser kontrahiert sich rasch, aber nicht ausdauernd, die glatte Faser langsam aber anhaltend. Es gibt eine große Zahl weiterer ionotroper und metabotroper Synapsentypen mit unterschiedlicher Konstruktion und Funktion im Detail. Metabotrope Synapsen mit muscarinischen Rezeptoren findet man viel auch im Zentralnervensystem. An diesen Synapsen ist nicht nur die postsynaptische Membran der Empfängerzelle mit ACH-R ausgestattet,
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15 Synapsen: Transmission und Verarbeitung von Information
sondern auch die präsynaptische Membran der Senderzelle. Das vom Sender als Signal freigesetzte ACH wirkt auf den Sender selbst zurück. An manchen Synapsen hat rückwirkendes ACH hemmende Funktion, und der Sender schaltet sich durch negative Rückkopplung selbst ab; an anderen Synapsen stimuliert der Sender durch positive Rückkopplung sich selbst zu verstärkter Aktivität. Im Zentrum der gegenwärtigen Forschung stehen die verschiedenen, durch Glutamat gesteuerten ionotropen und metabotropen Glutamat-AMPA- und mehr noch die Glutamat-NMDA-Rezeptor-Kanäle (s. Abb. 24.4). Sie werden mit allerlei High-techMethoden erforscht; denn sie sind von besonderer Bedeutung für Lernprozesse und die Bildung von Gedächtnisengrammen. Entsprechend werden wir auf sie im Kap. 23 „Lernen, Gedächtnis, Erinnerung“ eingehen. 15.4.2 Viele Gifte biologischen Ursprungs stören synaptische Funktionen Wenn sich Pflanzen oder Tiere mittels Gift vor Fraß schützen, speichern sie nicht selten Gifte, die synaptische Funktionen stören. Beispiel ist das eben erwähnte Gift des Fliegenpilzes. Drogen allerlei Art wären hier zu nennen. Besonders wirksam sind Gifte von Schlangen und ähnlichem Getier, die mittels Giftspritzen ihre Opfer lähmen. Allein an cholinergen Synapsen greifen viele bekannte Gifte an (Zusammenstellung s. Abb. 15.9). 15.4.3 Die Empfängerzelle wird „erregt“, d. h. sie zeigt eine charakteristische Modulation ihres Membranpotentials. Zuerst misst man graduierte, Amplituden-modulierte postsynaptische Potentiale: PSP Die erste, mit unseren elektrischen Messgeräten registrierbare Reaktion der Empfängerzelle auf einen Transmitterpuls ist eine relativ langsame Modulation ihres Membranpotentials. Wir begegnen hier erstmals einer neuen Klasse von Membranpotentialen: den lokalen AM-Potentialen.
●
Die Spannungsänderungen sind relativ langanhaltend, dauern jedenfalls länger als bei den spikeförmigen Aktionspotentialen.
●
Die Spannungsänderungen folgen nicht dem Alles-oder-Nichts-Prinzip, sondern sind variabel und graduierbar; sie erweisen sich als Amplituden-moduliert.
●
Sie laufen nicht wie ein Zündfunke davon, sondern bleiben lokal. Präziser gesagt, sie breiten sich nur über kurze Distanz und mit abnehmender Intensität aus. In der Fachsprache breiten sie sich elektrotonisch aus und mit Dekrement. Bei maximaler Ausdehnung erreichen sie die Spikegenerierende Zone der Fernleitungsfaser.
●
Bei AM-Potentialen kann im einen Fall die elektrische Spannung der Membran abfallen (Depolarisation), im anderen Fall kann sie zunehmen (Hyperpolarisation). 15.4.4 Excitatorische Transmitter rufen depolarisierte EPSP, inhibitorische Transmitter hyperpolarisierte IPSP hervor
Wir nähern uns dem „tieferen Sinn und Zweck“ der chemischen Synapse. Das exzitatorische postsynaptische Potential EPSP. Manche Transmitter, wie z. B. Acetylcholin, öffnen Kanäle für Kationen, vorzugsweise für Na+. Die Membranspannung sinkt ab wie im Aufschlagtakt des Aktionspotentials, nur dass nun in der postsynaptischen Membran nicht alle Kanäle gleichzeitig aufspringen und nicht automatisch und synchron wieder zuschnappen. Alles geht nach und nach, und nicht alle Kanäle reagieren. Daher folgt das EPSP nicht dem Alles-oder-Nichts Prinzip. Die Depolarisation kann aber Werte erreichen, die die Empfängerzelle dazu bringt, ihrerseits Aktionspotentiale loszuschicken. Daher exzitatorisches PSP (Abb. 15.5). Das inhibitorische postsynaptische Potential IPSP. Manche Transmitter, namentlich Glycin, öffnen Kanäle für Anionen, speziell für Chlorid Cl–. Anionen tragen negative Ladung ins Zellinnere, wo eh schon Überschuss an negativer Ladung herrscht.
15.4 Auffangen des Transmitters an der postsynaptischen Membran und Reaktion der Empfängerzelle Feuerschwelle gut überschritten
Feuerschwelle erreicht
Feuerschwelle nicht erreicht
Aktionspotentiale
Codierung:
FM (Frequenz-Modulation)
Voltage-gated äle 2+ - K a n Na+-Kanäle Ca
EPSP (Excitat. postsynapt. Pot.)
AM
Aktionspotentiale
FM
(Amplituden-Modulation)
(Frequenz-Modulation)
Ligand-gated Ionen-Kanäle Voltage-gated Na+-Kanäle Nicht-axonale Zellbereiche Axon fortgeleitete Aktionspotentiale
Axon-Terminal
Lokale Potentiale
Basale Aktivität
IPSP
unterschwellig
IPSP überschwellig
Abb. 15.5. Elektrische Signale im Bereich einer Synapse. EPSP = exzitatorisches postsynaptisches Potential. IPSP = inhibitorisches postsynaptisches Potential. Die Bezeichnungen FM und AM entsprechen den Bezeichnungen am entsprechenden Umschalter des Radioempfängers
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15 Synapsen: Transmission und Verarbeitung von Information
Die Membranspannung wird negativer. Diese Hyperpolarisation hat in der Regel zur Folge, dass die Empfängerzelle unwillig wird, ihrerseits Aktionspotentiale auszusenden; sie wird gehemmt. Ist sie zuvor feuernd tätig gewesen, wird sie nun schweigsam (Abb. 15.5).
2
1
Zeitliche Summation
1
1+2
15.5 Die Synapse als Ort der Datenverarbeitung und der Integration verschiedener Stimuli 15.5.1 Die Amplituden-modulierten postsynaptischen Potentiale erlauben Summation oder Subtraktion Neurone empfangen in aller Regel Information nicht nur über eine, sondern über sehr viele, oft über viele hundert Synapsen. Wegen dieser zahlreichen (teils erregenden, teils hemmenden) Eingänge ist das Signal einer einzelnen Synapse nicht ausschlaggebend für die Reaktion des Neurons. Was zählt, ist die Überlagerung (Summation) der Aktivität vieler einzelner Synapsen. Wird einer Empfängerzelle nur einmal kurz Transmitter verabreicht, regt sie das im Allgemeinen nicht sonderlich auf. Erst bei wiederholter Reizung in kurzer Folge reagiert sie mit einem Feuerwerk an Aktionspotentialen. Zeitliche Summation. An präsynaptischen Terminals laufen kurz nacheinander mehrere Aktionspotentiale ein. In der Empfängerzelle kommt es zu Depolarisationen vom Typ der EPSP. Da das Absinken der Membranspannung bei einem EPSP langdauernd und graduierbar ist, können sich zwei und mehr zeitlich überlappende EPSP aufsummieren. Je stärker die aufsummierte Depolarisation, desto eher und länger erfasst sie auch die Initialzone am Axonhügel. Dort bricht dann das Feuerwerk der Aktionspotentiale los (Abb. 15.5 u. 15.6). Räumliche Summation oder Subtraktion. Statt von einem einzigen Axon nacheinander kommen von verschiedenen Axonen aufregende (exzitatorische) Stimuli auf den Empfänger zu. Wieder kommt es zur Summation. Oder es kommt zur Subtraktion, wenn der eine Input exzitatorisch, der andere inhibitorisch ist (Abb. 15.7).
Räumliche Summation 1
1
2 1+2
Abb. 15.6. Summation
Die Begriffe Summation und Subtraktion sollen keine exakten numerischen Rechenoperationen andeuten, sondern eine graduell zunehmende Depolarisation oder Hyperpolarisation des postsynaptischen Potentials, wobei Summation die Empfängerzelle zu schnellerem, Subtraktion zu langsamerem Feuern von Spikepotentialen veranlasst. 15.5.2 Summation und Inhibition ermöglichen Datenverarbeitung Man kann sich nun wohl vorstellen, wie an Synapsen Rechenoperationen und logische Operationen („und“, „oder“, „wenn-dann“) durchgeführt werden könnten. Es scheint jedoch, dass mit synaptischen Inputs ausgestattete Zellen eher eingehende exzitatorische und inhibitorische Einflüsse integrieren, als dass sie auf der Basis weniger Inputereignisse Alternativentscheidungen träfen. Jedenfalls verrech-
15.5 Die Synapse als Ort der Datenverarbeitung und der Integration verschiedener Stimuli
Additive Effekte
Simultanes Feuern von 1 und 2
erregende Synapse
1
erregende Synapse
2
a
c1 Subtraktive Effekte
Langzeitpotenzierung wieder still
erregende Synapse
1
2
hemmende Synapse
wieder still
b
anhaltendes Feuern
c2
Abb. 15.7. Input-output Beziehungen an Synapsen. Beispielhaft dargestellt jeweils für ein Neuron mit einem Axon als Ausgang und zwei Informations-Eingängen. Zwei exzitatorische Eingänge (a), ein exzitatorischer und ein inhibitorischer Eingang (b); zwei exzitatorische Eingänge, die simultan und hochfrequent feuern (c). Das Besondere liegt hier an der Reaktion des nachgeschalteten Neurons auf die doppelte Stimulation. Simultan durch zwei
Sendezellen hochfrequent stimuliert, antwortet die Zelle über Sekunden, Minuten oder gar Stunden mit Aktionspotentialen, auch wenn beide Sender mittlerweile wieder schweigen. Dies nennt man Langzeitpotenzierung; sie tritt nur bei bestimmten Neuronen auf, die man vor allem im Hippocampus der Großhirnrinde findet und mit Gedächtnisbildung in Beziehung gebracht werden
nen die meisten Nervenzellen Information aus hunderten oder gar tausenden synaptischen Eingänge.
aus, was zu einer verstärkten Aktivierung der postsynaptischen Zelle führt.
15.5.3 Langanhaltender Bahnungserfolg dürfte bei Lernen und Gedächtnisbildung von Bedeutung sein Man ist es gewohnt, dass wiederholte Reizung abstumpft. Auch einzelne Sinnes- oder Nervenzellen können abstumpfen (Adaptation). Es gibt jedoch auch das Gegenstück: ein erster Stimulus bewirkt noch keine oder eine nur schwache Reaktion. Der nächste Stimulus, so er nicht allzu lange auf sich warten lässt, trifft auf eine sensibilisierte Synapse. Sie reagiert williger und schüttet mehr Transmitter
Sensibilisierung. Eine erhöhte Reaktion der Empfängerzelle nach einer Bahnung kann für einige 100 ms anhalten; daher wird Bahnung als mögliche Basis für das Ultrakurzzeitgedächtnis diskutiert. Doch auch länger währende Gedächtnisleistungen dürften von anfänglichen Bahnungseffekten profitieren. Manchmal reagiert die benachrichtigte Zelle, wenn sie während einer eigenen Aktivitätsperiode von einer anderen Senderzelle mit hochfrequenten Stimuli traktiert wird, mit langanhaltenden postsynaptischen Potentialen. Diese gesteigerte Erregung kann Minuten, Stunden, ja Tage anhalten. Man
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15 Synapsen: Transmission und Verarbeitung von Information
spricht von Lanzeitpotenzierung LTP. Neurone, die sich mit der Fähigkeit zur LTP auszeichnen, findet man in Hirngebieten, die mit Gedächtnisbildung zu tun haben, wie dem Hippocampus der Großhirnrinde (Abschn. 23.3). Der Langzeitpotenzierung steht die Langzeitdepression gegenüber. Die molekulare Basis der Sensibilisierung und der Langzeitpotenzierung ist nur in Einzelfällen bekannt. Nimmt man diese Einzelfälle als beispielhaft, dann ist Phosphorylierung von Komponenten der Synapse an dem Phänomen beteiligt. Wir kommen auf das Phänomen der Sensibilisierung und der Langzeitpotenzierung zurück, wenn wir Modelle des Lernens und der Gedächtnisbildung diskutieren (s. Kap. 23). 15.5.4 Präsynaptische Einflüsse und Neuromodulatoren eröffnen weitere Reaktionsmöglichkeiten Wir haben bisher nur die Reaktion der Empfängerzelle beachtet. Es gibt indessen vielfältige Rückwirkungen vom Empfänger auf den Sender. Manche Empfänger senden ein bestätigendes Signal an den Sender zurück, beispielsweise in Form des gasförmigen Stickstoffmonoxids NO. Nicht nur der Empfänger, auch der Sender kann einer Kontrolle durch seine Nachbarn unterliegen. Eine solche Nachbarschaftskontrolle ist in Abb. 15.8 angedeutet: Eine Synapse, die vor und nahe einer anderen sitzt, kann diese nachgeordnete Synapse sowohl hemmend wie stimulierend beeinflussen. Es müssen nicht immer ausgemachte Transmitter sein, die kontrollierend Einfluss nehmen. Neuromodulatoren, von denen es viele gibt (z. B. NO), lösen selbst kein postsynaptisches Potential aus, können aber bahnend oder dämpfend auf synaptische Prozesse Einfluss nehmen. Unliebsame „Neuromodulatoren“ sind vielerlei neurotoxische Gifte aus Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren (Beispiele: Abb. 15.9), sowie Drogen. So bindet die Droge Morphin aus dem Schlafmohn Papaver somniferum, eine Hauptkomponente des Opiums, an molekulare Rezeptoren, die normalerweise von endogenen Opioiden wie β-Endorphin besetzt werden sollten. Solche molekularen Endorphin-Rezeptoren drosseln beispielsweise die Signalübertragung von den Schmerzsensoren der Haut und der inneren Organe auf Rückenmarksneurone
Neuromuskuläre Synapse (motorische Endplatte)
Motor. Axon
Präsynaptische Inhibition
Vesikel mit Acetylcholin ACH
Muskelfaser
Rinnen mit ACH-Rezeptoren und Acetylcholinesterase
Abb. 15.8. Motorische Endplatte (neuromuskuläre Synapse). Stark vereinfacht. Die Acetylcholin-haltigen Vesikeln im Terminal des motorischen Axons öffnen sich über Rinnen, die von der gefalteten postsynaptischen Zellmembran gebildet werden. Ein präsynaptischer, inhibitorischer Eingang kann, aber muss nicht, vorhanden sein
(Abb. 15.10). Vorgänge an Synapsen sind essentielle Grundelemente des Verhaltens von Tier und Mensch. 15.5.5 Gliazellen in der Umgebung einer Synapse haben vielfältige unterstützende und kontrollierende Funktionen Synapsen sind in aller Regel umgeben von Gliazellen, speziell von Astrocyten. Definitionsgemäß sind Gliazellen Neuronen-ähnliche Zellen, die jedoch nicht mit Axonen ausgestattet sind und keine Aktionspotentiale erzeugen und leiten. Dies besagt jedoch nicht, dass sie nicht erregbar wären, in dem Sinne, dass ihr Zellmembranpotential stets gleich bliebe. Den Gliazellen werden traditionellerweise unterstützende Funktionen bei der synaptischen Signalübertragung zugeschrieben. ●
Beispielsweise helfen sie, Transmitter nach Gebrauch abzuräumen, um die Signalübertragung zeitlich zu begrenzen; sie nehmen dadurch auch Einfluss auf die Dauer einer Signalübertragung und Signalwirkung.
●
Sie regeln das Ionenmilieu im Umfeld von Nervenzellen und kontrollieren dadurch deren Erregbarkeit.
15.5 Die Synapse als Ort der Datenverarbeitung und der Integration verschiedener Stimuli
Bakterien
Bakterien
Clostridium “Fleischvergiftung”
Tetrodotoxin von symbiontischen Bakterien produziert, im Fisch angereichert
Botulinum-Gift Protease, die synapt. Komplex SNARE angreift. Verhindert Freisetzung von Acetylcholin Atemlähmung
Bungarus fasciatus
α -Bungarotoxin hemmt ACH-Freisetzung
Strychnos toxifera Pfeilgift Curare (d-Tubocurarin) blockiert ACH-R an Synapsen zu Muskeln (mot. Endplatten)
Fugu Tetrodotoxin blockiert Spannungsgesteuerte Na+-Kanäle
Kegelschnecke Conus ω-Conotoxin blockiert Ca2+-Kanäle
Schwarze Witwe Latrodectus mactans α-Latrotoxin bewirkt schlagartige Entleerung der ACH-Vesikel
Na+ Atropa belladonna Tollkirsche Atropin blockiert ACH-R an Irismuskel (Pupillenaufweitung) & Herzschrittmacher Herzstillstand Ca2+
Nicotiana tabacum
Fliegenpilz
Tabak
Muscarin wirkt ACH-artig an “muscarinischen” ACH-R
ACH Nicotin wirkt ACH-artig an “nicotinischen” ACH-R
G Acetylcholin-Esterase nicotinisch muscarinisch
Insektizid E 605 hemmt Acetalcholinesterase Atemlähmung
Acetylcholin-Rezeptoren (ACH-R)
Abb. 15.9. Neurotoxische Gifte und ihre Angriffspunkte an einer cholinergen Synapse
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15 Synapsen: Transmission und Verarbeitung von Information ●
Sie können selbst zwar keine Aktionspotentiale leiten, aber zeigen Amplituden-modulierte Schwankungen ihres Membranpotentials.
●
Sie können sogar Transmitter freisetzen, beispielsweise ATP oder Glutamat. Unter welchen Bedingungen dies geschieht, ist noch unklar.
●
Sie fördern die Bildung von Synapsen zwischen Nervenzellen in der Embryonalentwicklung und auch danach (z. B. durch Sekretion von Cholesterin) und sie helfen beim Umbau vorhandener Synapsen.
Spinalganglion
sensorischer Eingang
Schmerzsensoren
Haut Schmerzsensoren Morphin β− Endorphin G
Ca2+
Ca2+
Glutamat
Na+
Rückenmarksneuron
Abb. 15.10. Neuromodulatoren: ein Beispiel in einer Schmerzbahn. Über den Endorphin-Rezeptor, an den auch das Morphin des Schlafmohns bindet, werden Öffnungsdauer und Öffnungswahrscheinlichkeit von Calcium-Kanälen reduziert. Dies wiederum drosselt die synaptische Übertragung des Schmerzsignals. Das Endorphin des Körpers und ebenso das Morphin mildern den Schmerz
Beachtenswert ist dies: In unserem Gehirn gibt es 10× mehr Gliazellen als klassische, mit Axonen ausgestattete und Aktionspotentiale leitende Neurone. Wer die Hypothese unterstützt, der Glia komme eine große Bedeutung zu bei Vorgängen wie Lernen und Gedächtnisbildung, hat wohl sehr gute Chance auf der Seite derjenigen zu stehen, denen zukünftige Forschung recht gibt. Möglicherweise sind Neurone mit Axonen Spezialisten für Fernleitung von Information. Viele „Glia“ hingegen, vor allem die Astrozyten, könnten sehr wohl ebenfalls echte Neurone sein, die aber nicht mit Fernleitung beauftragt sind, sondern mit Informationsverarbeitung an Ort und Stelle. Dazu würde passen, dass nach neuen Erkenntnissen der molekularen Entwicklungsbiologie Glia sich in „echte“ Neurone umwandeln können (s. Müller u. Hassel 2006). Dieses einführende Lehrbuch kann solchen Hypothesen nicht weiter nachgehen, will aber Neugier auf kommende neue Erkenntnisse wecken.
Zusammenfassung des Kapitels 15
Zusammenfassung des Kapitels 15 Synapsen, winzige Kontaktstrukturen zwischen Sinneszellen und Nervenzellen, zwischen Nervenzellen und Muskelzellen und zwischen Nervenzellen untereinander, dienen der Übertragung von Botschaften, die bis zu diesen Übertragungsstellen und danach wieder von Serien elektrischer Impulse (Aktionspotentiale) codiert und weitergeleitet werden. Solche Impulse können die aus Bündeln von Gap junctions bestehenden elektrischen Synapsen, wie sie zwischen Herzmuskelzellen vorkommen, direkt passieren. In der Mehrzahl der Synapsen, den chemischen Synapsen, wird die Botschaft mittels Transmittersubstanzen über einen synaptischen Spalt hinweg übertragen. An der präsynaptischen Endstelle eines zuführenden Nervenaxons stehen Vesikel bereit, von denen je nach Zahl und Frequenz ankommender Aktionspotentiale verschieden viele per Exocytose „Quanten“ von Transmitterstoff in den synaptischen Spalt entlassen. Bekannte Transmitter sind Acetylcholin, die Monoamine Noradrenalin und Dopamin, die Aminosäuren Glycin, Glutamat und GABA (γ-Aminobuttersäure), ATP und verschiedene Peptide. In der postsynaptischen Membran fangen Rezeptoren den Transmitter auf und besorgen den Einstrom von Ionen in die Empfängerzelle. Der Einstrom geschieht bei ionotropen Synapsen über Liganden-gesteuerte Ionenkanäle, die selbst Rezeptorcharakter haben; bei metabotro-
pen Synapsen sind Rezeptor und Ionenkanal getrennt, und die Öffnung der Kanäle wird über ein Signaltransduktionssystem gesteuert. Folge des Ioneneinstroms ist eine Modulation des elektrischen Membranpotentials der Empfängerzelle. Dieses Potential ist in seiner Amplitude variabel (Codierung durch Amplitudenmodulation AM) und breitet sich langsam über die Empfängerzelle aus, bis zu der Stelle, an der wieder auf Aktionspotentiale (Codierung durch Frequenzmodulation FM) umgeschaltet wird. Die Frequenz der dort ausgelösten Aktionspotentiale kann ansteigen oder absinken. Bei Einstrom von Kationen an der postsynaptischen Membran wird die Empfängerzelle depolarisiert; man registriert ein exzitatorisches postsynaptisches Potential EPSP, das seinerseits bei überschwelliger Amplitude die Aussendung von Aktionspotentialen stimuliert; bei Einstrom von Chlorid kommt es zu einem hyperpolarisierten inhibitorischen postsynaptischen Potential IPSP, das die Frequenz herabsetzt, mit der die postsynaptische Zelle ihrerseits Aktionspotentiale erzeugt. Steht eine Empfängerzelle mit mehreren Befehlsgebern in Kontakt, können sich die Amplituden-modulierten EPSP und IPSP überlagern; man beobachtet Phänomene der Summation oder Subtraktion sowie der Langzeitpotenzierung. Generell gilt: chemische Synapsen und die postsynaptischen AM-Potentiale dienen nicht nur der Übertragung, sondern auch der Integration und Verarbeitung von Information.
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
Das Tier als heterotrophes Wesen muss seiner Nahrung nachgehen, nachschwimmen oder nachfliegen. Es muss sich bewegen, um an die Quellen der Gaumenfreude zu gelangen. Es muss sich auch bewegen, um seinen Liebling zu finden, ihm zuzulächeln und zuzuwinken. Schließlich gibt es unter seinesgleichen auch Räuber, und so kann es bisweilen ratsam sein, sich rasch aus dem Staube zu machen. Kurz: das „richtige“ Tier braucht Bewegungsantrieb, braucht Muskeln. Und selbst wenn es schläft, muss sein Herz weiterpochen. Fortbewegung, Gestik, Mimik, Schlucken, Hecheln und das erwartungsvoll-ängstliche Klopfen unseres verliebten Herzens, all das beruht auf der Fähigkeit spezialisierter Zellen, sich auch dann zu verkürzen, wenn Widerstände Arbeit erzwingen. Und selbst wenn auf Arbeit verzichtet wird: der Muskel kann wie ein Motor im Leerlauf auch zu Wärmeproduktion ge- oder missbraucht werden. Jede aktive Bewegung von tierischen Organismen und auch von Einzellern, die nicht durch Cilienschlag bewerkstelligt wird, beruht auf der Wechselwirkung von Actin, Myosin und ATP, wobei eine Konformationsänderung des Myosinmoleküls das bewegende Moment liefert. Einzelne Zellen sind schwach, aber Zellen kooperieren. ●
Milliarden von vielkernigen, langgestreckten Zellen, quergestreifte Muskelfasern genannt, ordnen sich achsenparallel zu den hochgewölbten Skelettmuskeln unserer Kraftsportler und Bodybuilder.
●
Abertausende von spindelförmigen, einkernigen Zellen ordnen sich zu flächigen glatten Muskeln
um Hohlorgane herum, um Arterien, um den Magen-Darm-Trakt, um Blase und Gebärmutter. ●
Der pumpende Herzmuskel verdient unsere Hochachtung und Wertschätzung durch sein unermüdliches, lebenslanges und lebenserhaltendes Arbeiten.
●
Der Zoologe kennt darüber hinaus Spezialisten mit faszinierenden Rekordleistungen, wie die hochfrequent oszillierenden Flugmuskeln der Insekten oder den nimmermüden Sperrmuskel einer Muschel.
Zu unserer Erleichterung ist der kontraktile Apparat in allen Muskeltypen ähnlich konstruiert. Wir können uns erst einmal auf die quergestreifte Faser als Grundmodell konzentrieren.
16.1 Die Arbeitsweise einer Muskelfaser 16.1.1 Muskelfasern enthalten als Krafterzeuger Actin- und Myosinfilamente, die in der quergestreiften Faser zu Myofibrillen gebündelt und in funktionelle Längseinheiten (Sarkomere) gegliedert sind Nomenklatur: griech.: myos = Muskel, sarkos = Fleisch, meros = Teil, Abschnitt; lat.: tubu(lu)s = Röhre. Die Struktur einer Faser wird erst aus ihrer Entwicklung heraus verständlich. Während der Embryonalentwicklung ordnen sich jeweils mehrere Myoblasten zu einer Kette und fusionieren zu einem vielkernigen Syncytium, einem langgestreckten Myotubus, der sich zur Muskelfaser ausdifferenziert. Die fertige Faser misst 5 bis 100 μm im Durch-
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
messer, ist im Regelfall 1–2 mm lang, kann aber bis zu 15 cm Länge erreichen und sich von einem Ende des Muskels bis zum anderen erstrecken. Wenn es um die Beschreibung von Details geht, verwenden Cyto- und Histologen aus Tradition (zum Teil gänzlich unnötige) Spezialtermini, die den Wortstamm sark enthalten: ●
Sarkolemm für die Zellmembran
●
Sarkoplasmatisches Reticulum für das Endoplasmatische Reticulum ER, etc.
Eine quergestreifte Faser ist also eine langgestreckte Zelle. Sie ist in seriell hintereinander angeordnete
Abb. 16.1. Quergestreifte Muskelfaser. Ausschnitt. Die Zahl der Actin- und Myosinfilamente in einem Bündel ist weit höher als hier eingezeichnet, im typischen Fall im Querschnitt ca. 1000 Myosinstäbe und 3000 Actinstäbe
Module gegliedert, die man Sarkomere nennt. Die trennenden und zugleich verbindenden Strukturen zwischen diesen Modulen sind die Z-Scheiben. Jedes Modul hat die gleiche mikroanatomische und molekulare Ausstattung und wirkt als funktionelle Einheit (Abb. 16.1, 16.2 u. 16.3). Die stabförmigen Elemente des „kontraktilen Apparates“ im Inneren der Sarkomere addieren sich entlang der Faser zu einer langen „Myofibrille“. Diese Bezeichnung stammt aus der Zeit, als noch kein Elektronenmikroskop zur Verfügung stand; denn bei der unzureichenden Auflösung des Lichtmikroskops sieht die Gesamtstruktur trotz ihrer periodischen Unterbrechung durch die Z-Scheiben wie ein Bündel durchgehender Fibrillen aus.
16.1 Die Arbeitsweise einer Muskelfaser
Abb. 16.2. Myofilamenten-Apparat
●
Myofibrillen sind also Bündel seriell aufgereihter Proteinfibrillen innerhalb der Zelle, die jeweils aus bis zu − 3000 parallelen Actinfilamenten und dazwischen eingebetteten − 1000 parallelen Myosinfilamenten bestehen.
Diese beiden „Filamente“ haben jedoch nicht die hohe Flexibilität eines Fadens (Filament = Faden), sondern eher die eingeschränkte Flexibilität einer sehr dünnen Glasfaser. ●
Abb. 16.3. Sliding filament Modell
In der „quergestreiften“ Muskelfaser sind die Actin- und Myosinstäbe der Module exakt achsenparallel ausgerichtet, und die Module benachbarter Myofibrillen liegen auf exakt gleicher Höhe (Abb. 16.1); so überträgt sich die modulare Gliederung der intrazellulären Myofibrillen auf die gesamte Zelle. In Reihe angeordnete Sarkomere addieren ihre Längenänderung. Parallel angeordnete Sarkomere addieren ihre Kraft. Die Muskelfaser erscheint bei bestimmter Beleuchtung (Polarisationsmikroskop) oder nach Anfärbung quergestreift.
375
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe ●
T-Tubuli. Das System der transversalen Tubuli besteht aus schlauchartigen Einstülpungen der Zellmembran (des Sarkolemms). In regelmäßigen Abständen entlang der Muskelfaser, im Regelfall in Höhe der Z-Scheiben, sind rings um die Faser offene Poren zu sehen (Abb. 16.1). Es sind dies die Eingänge in die T-Röhren, die radial in die Faser hineinführen, ohne sich an ihrem Ende zu öffnen. Die T-Röhren ziehen in Höhe der Z-Scheiben um die Myofibrillen herum und endigen im Zentrum der Faser blind. T-Röhren leiten Erregung in Form von Aktionspotentialen von der äußeren Zellmembran ins Zellinnere in die unmittelbare Nachbarschaft des zweiten Röhrensystems.
●
Longitudinales Röhrensystem des endoplasmatischen Reticulums (ER). Dieses ausgedehnte Röhrensystem zieht an den Myofibrillenkabeln entlang, ist rein intrazellulär, entspricht dem konventionellen ER und enthält wie jedes ER einen Vorrat an leicht mobilisierbaren Calcium-Ionen (Ca2+). Die funktionell wichtigen Kontaktstellen zwischen den beiden Röhrensystemen heißen Triaden.
Die funktionelle Einheit, das Sarkomer, wird an seinen beiden Enden von je einem flächigen Netzwerk aus verknüpften Proteinfäden (Z-Scheiben) begrenzt. An diesem Netzwerk sind Actinstäbe verankert. Von beiden Enden eines Sarkomers ragen Actinstäbe in seinen Binnenraum. Zwischen die Actinstäbe sind beweglich gelagerte Myosinstäbe eingeschoben. Actin- und Myosinfilamente überlappen sich. Im Querschnitt eines Myofibrillenbündels zeigt sich im Überlappungsbereich eine gitterartige Struktur: Jeder Myosinstab ist von sechs Actinstäben umgeben (Abb. 16.3). In der Längsrichtung eines Myofibrillenkabels wiederholen sich periodisch im Abstand der Sarkomere die Zonen der Überlappung. Diese quasikristalline Struktur bietet dem Licht im Polarisationsmikroskop abwechselnd die Struktur eines doppelbrechenden (anisotropen) und eines einfachbrechenden (isotropen) Körpers; hierauf beziehen sich die traditionellen Bezeichnungen A-Bande, I-Bande und quergestreift, meinend die regelmäßige Abfolge von A- und I-Banden.
Die Actinstäbe (Actinfilamente) sind 5 nm dick und starr. Sie sind polymere Gebilde: Globuläre GActin-Monomere koppeln sich erst paarweise zu
Actin-Dimeren und diese verketten sich zu fibrillären F-Actinfilamenten; zwei Filamente umschlingen sich zu einer starren Doppelhelix, dem Actinstrang. Die Doppelhelix wird begleitet von regulatorisch tätigen langgestreckten Tropomyosin-Molekülen und globulären Troponin-Komplexen. Die aus (mindestens) drei Proteinen bestehenden Troponin-Komplexe haften in regelmäßigen Abständen am Actinstrang. Darüber hinaus kennt der Fachmann noch weitere Proteinkomponenten (z. B. Nebulin), denen wir aber unsere Aufmerksamkeit versagen. Die Myosinstäbe (Myosinfilamente) sind 10 nm dick und komplexer aufgebaut. Je zwei langgestreckte Myosinmonomere zwirbeln sich zu einem helikalen Dimer zusammen. Viele Dimere werden zum Strang gebündelt. Das einzelne Myosinmonomer trägt am Ende einen seitlich abstehenden Kopf; ein Dimer hat folglich einen Doppelkopf. Der gesamte Myosinstrang enthält ca. 150 Dimere und hat entsprechend ca. 150 seitlich abstehende Doppelköpfe. Sie sind regelmäßig entlang einer (gedachten) Wendel angeordnet; zwei Doppelköpfe haben einen Abstand von 14,3 nm und sind in einem Winkel von 120° gegeneinander versetzt. Die gebündelten Myosinstäbe werden zwischen den Actinstäben in Schwebe gehalten durch elastische Federn aus dem Protein Titin; diese verankern die Myosinfilamente an den Z-Scheiben und zentrieren sie in der Mitte des Sarkomers (Abb. 16.2). Darüber hinaus hält ein feines Netzwerk aus Proteinen, die M-Zone in der Mitte des Sarkomers, alle Myosinfilamente zusammen. Die Actinstäbe und die zwischen ihnen schwebenden Myosinstäbe sind entgegengesetzt polarisiert. Die Actinfilamente erstrecken sich von den Z-Scheiben in Richtung Sarkomermitte, zu der sie mit ihrem Minusende weisen (Das Plusende, an dem die Filamente einstmals durch Anpolymerisierung von G-Actin-Dimeren wuchsen, ist an der ZScheibe verankert). Die Myosinstäbe zeigen umgekehrt von der Sarkomermitte nach links und rechts. Erkennbar ist ihre bipolare Struktur an der Blickrichtung der seitlich aus dem Bündel herausragenden Myosinköpfe. Beim Zusammenbau eines Myosinstabes werden die Myosindimere so gebündelt, dass die linke Hälfte der Köpfe zum linken Ende des Sarkomers schaut, die rechte Hälfte zum rechten Ende. Diese bipolare Struktur ist funktionell bedeutsam.
16.1 Die Arbeitsweise einer Muskelfaser
16.1.2 Funktionsprinzip ist das teleskopartige Ineinanderschieben der Actin- und Myosinstäbe Manchmal ist die Natur mit uns gnädig und erfindet sehr einfache Dinge. Wir verkürzen unsere Muskeln, indem wir schlichtweg die Actinstäbe teleskopartig über die Myosinstäbe zusammenschieben (Abb. 16.3). Man spricht vom Gleitfilament (sliding filament) Mechanismus. Der Spielraum ist zwar gering (max. ca. 0,4 μm pro Sarkomer), doch geringe Beträge addieren sich von Sarkomer zu Sarkomer und von Muskelfaser zu Muskelfaser. Ein typischer Muskel kann sich schließlich auf 50% seiner Länge zusammenziehen. Die Gnade der Natur hat Grenzen. Einfache Erklärungen sind uns – bis heute jedenfalls – versagt, wenn es darum geht, ●
wie die chemisch gespeicherte Energie des ATP in mechanische Bewegung umgesetzt wird (chemisch-mechanische Energieumwandlung) und
●
wie eine Kraftentfaltung des Muskels möglich ist, auch wenn er sich gar nicht verkürzen kann, weil der Gegenstand, den wir bewegen wollen, beispielsweise festgeschraubt ist (isometrische Kontraktion). 16.1.3 Die Actin- und Myosinstangen werden von vielen ATP-getriebenen Minimotoren gegeneinander verschoben. Die Motoren sind hin und her pendelnde Myosinköpfe (Querbrücken)
Beim Kontraktionsvorgang nehmen die seitlich an den Myosinstäben herausragenden Hebelarme ( lever arms) mit ihren „Doppelköpfen“ Kontakt zu den benachbarten Actinsträngen auf. Dies ist gewiss; denn man kann die Kontakte sogar im Elektronenmikroskop sehen, und unter bestimmten experimentellen Bedingungen (plötzlicher ATP-Entzug) kleben Actin und Myosinhebelarme fest aneinander. Ebenso ist gewiss, dass die Myosinköpfe durch den Kontakt zu den Actinsträngen ATPase-Funktion gewinnen, ATP hydrolisieren und dabei ihre sterische Konformation ändern. Was darüber hinaus erzählt wird, ist Hypothese, abgeleitet aus biophysikalischen Hightech-Untersuchungen nackter Faserpräparate und verblüffen-
den Mikroexperimenten an isolierten molekularen Motoren. Beispielsweise werden abgelöste Myosinarme mit ihrem Schulterende auf einer Unterlage fixiert; ihre Motoreinheiten („Köpfe“), bleiben frei beweglich. An isolierte Actinstränge werden andererseits Kügelchen aus einem fluoreszierenden Material als Laterne angehängt. Eine Lösung von ATP und solchen Actinsträngen wird über die Myosinmotoren geschichtet. Nun sieht die Kamera des Fluoreszenzmikroskops, wie die Actinstränge mit ihrer Laterne von den Myosinmotoren über die Unterlage geschoben werden (s. Abb. 16.4c). Strukturell werden Präparate von Muskelfasern untersucht, deren lösliche Komponenten ausgewaschen wurden und die deshalb ihren kontraktilen Apparat nackt offenbaren. Von ihm werden unter verschiedenen Bedingungen Röntgenbeugungsmuster erzeugt und mit Kernspinresonanz-Spektroskopen Bilder aufgenommenen; diese Muster und Bilder werden mit Computern ausgewertet.
Die seitlich von den Myosinstäben abstehenden „Hebelarme“ ( lever arms) arbeiten als Motorproteine. Sie pendeln periodisch hin und her, wobei die Hände in jeder Schwungphase das Actinfilament ergreifen und ein Stück bewegen – so wie die Arme eines Seemanns ein Tau Stück für Stück heranziehen. Bei der Rückwärtsbewegung der Arme wird jeweils unter ATP-Verbrauch im Myosin-Dimer eine Feder gespannt, die beim Loslassen nach vorne schnellt und Zugkräfte auf das Actinfilament ausübt ( power stroke). Der Myosin-Motor ist Paradebeispiel für ein zyklisch arbeitendes System (s. auch Abb. 3.2a). Die Muskelforscher haben im Laufe der Zeit ein kurioses und kunterbuntes Bildergemisch gezeichnet. Die seitlich aus den Myosinfilamenten herausragenden, pendelnden Gebilde werden mal als „Querbrücken“ ( cross bridges), mal als Hebelarme ( lever arms) mit „Hals“ ( neck) und ihre Enden als „Doppelkopf ( double head) oder Motor ( myosin motor) bezeichnet; die Arme mit ihren Köpfen können wie Füße über die Actinfilamente wandern. Wichtigste Aussage all dieser Bilder ist: die Myosinköpfe bewegen sich auf dem Actinstrang in Richtung seines Plusendes und ziehen dabei Actin- und Myosinstränge aneinander vorbei. Zu klären wäre, wie nach diesem Bild im Einzelnen ATP eingesetzt wird und wie die Köpfe, alias Arme, alias Füße, Zugkraft entfalten. Nach dem der-
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
Abb. 16.4. Schwingender Hebelarm einer Myosin-Querbrücke (Myosin-Hebelarm). Nach dem gezeigten Standardmodell wird die meiste Energie für das Rückwärtsspannen des Hebels verbraucht (Spaltung von ATP in ADP + P)
16.1 Die Arbeitsweise einer Muskelfaser
zeit am meisten vorgestellten Modell wiederholt sich folgender Viertaktcyclus (Abb. 16.4a, b): ●
Phase 1: Der Myosinkopf haftet am Actinfilament. Er wird mittels ATP gelöst, wobei das ATP seinerseits an den Myosindoppelkopf gebunden wird. Mangel an ATP macht den Muskel starr. Wenn alles noch verfügbare ATP aufgebraucht, ist verfällt die Leiche in Totenstarre. Diese löst sich erst wieder, wenn proteolytische Enzyme den Zerfall aller Ordnung bewirken.
●
Phase 2: Der Myosindoppelkopf wird gegen den Widerstand einer molekülinternen Feder nach hinten gebogen. Die Feder ist im elastischen „Hals“ des Myosin-Moleküls verwirklicht. Die Energie für das Abbiegen wird aus der Hydrolyse des ATP bezogen. Die Spaltprodukte ADP und Phosphat bleiben indes zunächst am Myosinkopf gebunden.
●
Phase 3: Mit anhängendem ADP kann der Myosindoppelkopf Kontakt zum Actinstrang aufnehmen. Dies geschieht ein kleines Stück vor der Stelle, die beim Start des Zyklus Verankerungspunkt gewesen war. Bei oder kurz vor der Kontaktaufnahme fällt Phosphat ab.
●
Phase 4: Auch ADP wird abgehängt. Dabei schnellt die gespannte Feder nach vorn und schiebt die Actinstange ein Stückchen vor.
Verschiebung um 20% der Länge erreicht wird. Dies geschieht in jedem Sarkomer der Faser. Die kleinen aktuellen Beträge – 8 bis 20 nm pro Cyclus – addieren sich zu einer sichtbaren Gesamtverkürzung. (Der Betrag der Verkürzung ist keine konstante Größe, sondern lastabhängig. Je größer die Last, desto geringer die Verkürzung.)
16.1.4 Bei einer isometrischen Kontraktion, d. h. bei bloßer Kraftentfaltung ohne Verkürzung, werden Federn gespannt Wenn ich mit den Zähnen knirsche, oder mit meinen Händen gegen einen starren, nicht bewegbaren Widerstand drücke, so hangeln sich auch in diesem Fall die Myosinarme ein Stück weit den Actinsträngen entlang. Dabei ziehen die Myosinarme aber nicht das Myosinbündel in seiner Gesamtheit an den Actinsträngen vorbei, sondern ziehen lediglich Gummifäden bzw. Federn lang (Abb. 16.5). Wo die elastischen Elemente sitzen, lässt sich so
Häufig wird dieses Vorwärtsschnellen des Myosinkopfes als Kraftschlag (power stroke) bezeichnet. Die im ATP gespeicherte Energie wird jedoch überwiegend bei dem Spannen der Feder gebraucht. Bei diesem Prozess (Phase 2) wird ja auch das endständige Phosphat des ATP hydrolytisch abgekoppelt. ●
Phase 5 = Phase 1; der nächste Cyclus startet.
Eine Besonderheit der Myosinmotoren ist, dass jeder einzelne Hebelarm nach einem Kraftschlag den Kontakt zum Actinfilament aufgibt, um neu ausholen zu können. Eine länger anhaltende Zugwirkung ist deshalb nur möglich, wenn mehrere Hebelarme tätig sind und die Hebel nicht synchron, sondern abwechselnd den Actinstrang loslassen und neu ausholen (s. Abb. 16.2). In einem Arbeitscyclus verschieben wir die Myosin- und Actinstangen nur um 20 nm, das sind 1% ihrer Länge. Wir wiederholen die Cyclen in rasender Folge zwanzig Mal, sodass in nur 1/10 s eine
Abb. 16.5. Isometrische Kontraktion. Es werden elastische Elemente, symbolisiert durch eine Feder, gespannt, doch kommt es nicht zu einer Relativverschiebung der Actin- gegen die Myosinfilamente
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
genau nicht lokalisieren. Gemeinhin wird der Hals der Myosindimere als elastisches Element angesehen. Doch ein gewisses Maß an Elastizität dürfte sich über die ganze Myofibrille, die gesamte Muskelfaser, den gesamten Muskel und die anhängenden Sehnen erstrecken. Jedenfalls nimmt die Längselastizität potentielle Energie auf. Bricht der Widerstand, schnellt das Gesamtsystem zusammen und verwandelt die potentielle in kinetische Energie.
●
Alsdann kommen zwei Sorten von Ca2+-Kanälen ins Spiel, durch die schlagartig Ca2+-Ionen in den Faserinnenraum stürzen. Die Ca2+-Konzentration dort ist im Ruhezustand der Faser mit nur 10−7 molar äußerst gering, das Konzentrationsgefälle entsprechend groß. Die eine Sorte der Ca2+-Kanäle befindet sich in der Membran der TTubuli; sie sind als L- oder DHP-Rezeptoren bekannt; sie werden durch Dihydropyridin (DHP) blockiert. Die zweite Sorte von Ca2+-Kanälen sitzt in der Membran des Endoplasmatischen Reticulums; sie konnte identifiziert und isoliert werden, weil das Kanalprotein das pflanzliche Alkaloid Ryanodin bindet. An den Triaden, wo die transversalen T-Tubuli die longitudinalen Röhren des Endoplasmatischen Reticulums berühren, sind beide Arten von Ca2+-Kanälen einander so eng benachbart, dass sie physikalischen Kontakt zueinander haben.
●
Beim Einlaufen eines Aktionspotentials springen in der Tubulusmembran die spannungsgesteuerten DHP-Ca2+-Kanäle auf und ein erster Schwung von Ca2+-Ionen stürzt ins Innere der Faser.
●
Beim Öffnen der DHP-Ca2+-Kanäle springt das Signal auf die Ryanodin-Ca2+-Poren des ER über. Durch den direkten Kontakt der beiden Kanäle wird mutmaßlich ein mechanischer Impuls übertragen, der schlagartig die Ryanodin-Rezeptoren öffnet. Es schießt eine Lawine weiterer Calcium-Ionen aus dem ER ins Cytosol. Die Binnenkonzentration an Ca2+ im Cytosol steigt rasant um das 100-fache von 10−7 auf 10−5 M. Ist die Faser im Experiment zuvor mit Ca2+-sensitiven Fluoreszenzsubstanzen beladen worden, leuchtet sie plötzlich auf. Das blitzartige Aufleuchten und Verlöschen des Fluoreszenzsignals wird von Photozellen registriert und zum Messen der Calciumströme ausgewertet.
●
Die im Cytosol wie Funken herumsprühenden Calcium-Ionen erreichen die Actinstränge
16.1.5 Calcium-Pulse starten die Kontraktion und vermitteln die elektromechanische Kopplung Sieht man vom Herzmuskel ab, sind unsere Muskeln nicht ruhelos tätig. Im Regelfall wird dem Muskel über neuronale Impulse und Transmitter signalisiert, wann, wie rasch und mit wieviel Kraftaufwand er arbeiten soll. Verfolgen wir eine Befehlskette in zeitgedehnten Videoaufnahmen (Abspielgerät ist das Fantasiemodul unseres Gehirns), so sehen wir im Minimalfall folgende Ereignisse (Abb. 16.6): ●
In den Terminals motorischer Axone, den neuromuskulären Synapsen (motorischen Endplatten), läuft ein Aktionspotential ein. Es wird ein Acetylcholin-Puls in den synaptischen Spalt gespritzt.
●
ACH-Rezeptoren der postsynaptischen Membran mit Kanalstruktur fangen den Transmitter auf. Die Kanäle öffnen sich; es entsteht ein EPSP, ein exzitatorisches postsynaptisches Potential, und es soll überschwellig sein.
●
Beidseitig der motorischen Endplatte werden auf der Membran der Muskelfaser Aktionspotentiale gefeuert. Die Impulse laufen in entgegengesetzte Richtung über die Faser und dringen über die TKanäle tief in die Muskelfaser hinein. Die ganze Faser wird durch und durch „elektrisiert“.
Abb. 16.6. Elektromechanische Koppelung. Aktionspotentiale öffnen im Bereich der Triaden L-Typ-Calcium-Kanäle der Zellmembran. Beim Öffnen dieser Kanäle überträgt sich ein mechanisches Signal auf die benachbarten Calcium-Kanäle des endoplasmatischen Retikulums, die sich ebenfalls schlagartig öffnen. Calcium-Ionen strömen, getrieben von einem hohen Diffusionsdruck, von außen und mehr noch aus dem ER ins Cytosol und es kommt zu einem explosionsartigen Anstieg der Calcium-Konzentration im Umfeld des kontraktilen Apparates. Die Calcium-Ionen präparieren über die Troponin-Tropomyosin-Komplexe den Actinstrang so, dass die Hebelarme der Myosinquerbrücken angreifen können
16.1 Die Arbeitsweise einer Muskelfaser
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
und werden dort von den Troponinkomplexen eingefangen. Diese fungieren als Schalter. Troponin C (ein Protein ähnlich dem Calmodulin; s. Kap. 12) bindet vier Calcium-Ionen. Das Molekül erfährt eine Konformationsänderung, die sich auf den langen Tropomyosinfaden überträgt. Der Faden wird aus seiner Lage verschoben, geringfügig zwar, doch ausreichend, um die zuvor verdeckten Myosin-Bindungsstellen an den Actineinheiten freizulegen. ●
●
Auslöseschwelle zu gering, und jede Störung kann einen Ca2+-Einstrom in die Muskelfasern und dadurch eine Muskelkontraktion auslösen. Eine umfassende Erklärung müsste allerdings auch die Muskeldehnungssensoren (s. Abschn. 16.3) als (weitere) Ursache der Krämpfe in Erwägung ziehen.
16.2 Der Muskel als Organ: Kooperative Leistungen
Nun folgen die Hebelarm-Cyclen wie oben beschrieben. Der Muskel verkürzt sich – oder entfaltet seine Spannkraft. Das Ganze kommt zum Stillstand, wenn die rasend schnellen Calcium-Pumpen wieder soviel Calcium ins ER zurückgepumpt haben, dass die kritische Konzentration im Cytosol von 10−6 M unterschritten ist.
Dieser langatmige Film zeigte einen Ausschnitt aus einem Drama, das sich abspielt, während man mit der Faust auf den Tisch schlägt! 16.1.6 Warum wohl Magnesiummangel Muskelkrämpfe verursachen kann Durch TV-Werbespots wird schon der junge Mensch auf eine mögliche schmerzhafte Erfahrung aufmerksam gemacht, die vor allem älteren Menschen (aber nicht nur diesen) droht: Magnesiummangel kann Wadenkrämpfe auslösen. Magnesium-Ionen werden bisweilen die „vergessenen“ Ionen genannt, weil sich die Forschung in der Tat wenig mit ihnen befasst hat. Deswegen kann hier auch keine fundierte Erklärung, sondern nur eine Hypothese angeboten werden. Unsere Hypothese orientiert sich an bestimmten Synapsen im Gehirn (jenen, an denen auch Langzeitpotenzierung auftreten kann). Mg2+ kann in Ca2+-Kanäle eindringen, und hilft, im Ruhezustand des Muskels den Kanal für Ca2+ verschlossen und den Muskel im entspannten Zustand zu halten. Wenn Acetylcholin an der neuromuskulären Synapse ein überschwelliges EPSP auslöst und ein Aktionspotential über die Faser läuft, wird durch den Spannungsimpuls Mg2+ verdrängt und Ca2+ kann, seinem Diffusionsdruck folgend, in die Faser einströmen und eine Muskelkontraktion in Gang setzen. Bei Mg2+-Mangel ist die
16.2.1 Einzelzuckungen superponieren zur tetanischen Kontraktion In physiologischen Grundkursen ist vielerorts ein traditioneller „Muskelversuch“ auf dem Programm. Ein Froschmuskel wird mit elektrischen Strompulsen zur Kontraktion gebracht (Abb. 16.7). Sind die Reizpulse überschwellig und folgen die einzelnen Reizpulse in ausreichend großem Abstand (>1/10 s) aufeinander, wird jeder Reizpuls mit einer isolierten Einzelzuckung beantwortet. Diese folgt dem Allesoder-Nichts-Prinzip: Dauer und Amplitude der Kontraktion sind stets gleich. Wird hingegen die Reizfrequenz auf >30 Hz gesteigert, geht der Muskel in eine Dauerkontraktion über. Hierbei nehmen Kontraktionsamplitude und Kraftentfaltung zu (tetanische Kontraktion). Die übliche Bezeichnung Tetanus ist nicht ganz korrekt; denn der Tetanus der Medizin ist der bakteriell verursachte Wundstarrkrampf.
Wie sind das Alles-oder-Nichts-Gesetz bei niederfrequenter Reizung und seine Aufhebung bei hochfrequenter Reizung zu erklären? Und die Steigerung der Kontraktionskraft und Kontraktionsamplitude? ●
Motorische Axone gabeln sich am Ende auf und versorgen mehrere Muskelfasern. Bis zu 1000 Fasern sind zu einer motorischen Einheit zusammengefasst und werden von einem einzelnen Motoneuron kontrolliert. Die Auslöseschwellen (firing levels) der einzelnen Fasern sind jedoch nicht alle gleich. Bei einem Einzelreiz wird ein bestimmtes Kollektiv arbeitswilliger Fasern synchron zur Kontraktion gebracht. Der Muskel zuckt
16.2 Der Muskel als Organ: Kooperative Leistungen
nach dem A-o-N-Prinzip. Mit höherfrequenten Reizen können durch Summation der postsynaptischen Potentiale weitere, weniger arbeitswillige Fasern rekrutiert werden.
Volt
●
Über lange Fasern können bei sehr hohen Reizfrequenzen nacheinander mehrere Aktionspotentiale hinweg laufen, denen mehrere Kontraktionswellen folgen.
●
Schließlich – und dies gerade auch bei kurzen Fasern – kommen bei hohen Reizfrequenzen die Calcium-Pumpen mit ihrer Arbeit nicht mehr nach. Zwischen zwei Impulsen wird das Cytosol nicht mehr freigeräumt; bei einem länger auf hohem Niveau bleibenden Calciumpegel arbeiten die Myosin-Minimotoren so lange, bis die Faser ihre kurzfristigen Energiereserven aufgebraucht hat und ermüdet.
●
Um den einzelnen Fasern eine Erholungspause zu gönnen, können mehrere motorische Einheiten abwechselnd nach überlappenden Zeitmustern arbeiten.
Frequenz U/min
Kymograph
a1
a2
tetanische Kontraktion
Reizgerät
Einzel-A-o-NZuckungen
Kraftmesser 0
Volt Reize/s
16.2.2 Die Kraftentfaltung ist bei halbmaximaler Dehnung des Muskels maximal
10
20
N
b Abb. 16.7a , b. Klassischer (Frosch-)Muskelversuch zur Demonstration des Kontraktionsverhaltens (a); Modernisierte Versuchsanordnung. Ein Kraftmessgerät erzeugt auf einem Rechnerschirm ein Diagramm Kraft(N) gegen Zeit (s) (b)
Muskelphysiologen hatten mit Messanordungen ähnlich der in Abb. 16.7 gezeigten vor langer Zeit schon festgestellt, dass ein Muskel nicht bei maximaler Länge seine größte Kraft entfaltet, sondern wenn die Kontraktion ihn auf die Hälfte der Länge verkürzt hat. Die heutige Vorstellung über den Kontraktionsmechanismus gibt eine plausible Erklärung hierfür. Bei maximaler Dehnung findet nur ein kleiner Teil der Myosinmotoren Kontakt zu den Actinsträngen (Abb. 16.8). Bei maximaler Verkürzung setzen andererseits die Actinstäbe das Limit. Im Überlappungsbereich geraten sie in Platznot und die Myosinmotoren schieben die von der Gegenseite in ihren Bereich eindringenden „falschen“ Actinstäbe zurück. Skelettmuskeln sind in der Regel so zwischen zwei Befestigungpunkten eingespannt, dass sie auch im Grundzustand bei Streckung unserer Gliedmaßen schon ein gutes Maß an Vordehnung mitbekommen. Reißt die Achillessehne, schnurrt der dreiköpfige Wadenmuskel ( Musculus triceps surae) zusammen und der Chirurg muss den mächtigen
383
16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
drücken, braucht man ein Gelenk oder eine mechanische Umlenkung der Zugkräfte über eine Kante hinweg (Rollen oder Räder sind in der Regel nicht in den patentierten Konstruktionsunterlagen des Genoms vorgesehen). Will man den Muskel in die Ausgangslage zurückbringen, ist man mit dem gleichen Problem konfrontiert: Muskeln können zwar erschlaffen, sich aber nicht aktiv dehnen. Zur Reexpansion muss ein Antagonist helfen, der über umgelenkte Zugkräfte oder über dehnende Kräfte den Muskel wieder in die Länge zieht (Abb. 16.9). Bei Hohlorganen, die von glatten Muskelfasern umsponnen sind, werden zwei Prinzipien genutzt: Zur differenzierten lokalen Zugentfaltung sind Fasern im Winkel gegeneinander versetzt. Wir finden
Kraftentfaltung 100
80
Kraft in% des Maximums
384
60
40
20
3,6
3,0
2,4
1,8
1,2 μm
Femur
flexible Dichtmembran
Sarkomerlänge in μm 3,6 Gelenk
Extensor Flexor
2,4
Tibia
a 1,8
Kontraktion
Abb. 16.8 . Kraftentfaltung eines Muskels in Abhängigkeit von seiner Vordehnung. Die Maximalkraft ist erreicht, wenn alle Myosinmotoren Kontakt mit den Actinsträngen aufnehmen können
Dehnung
Muskel kräftig lang ziehen, um den Anschluss an die Sehne wiederherstellen zu können. 16.2.3 Muskeln erzeugen nur Zugkräfte; sie brauchen zur Gegenbewegung die Mithilfe von Antagonisten Muskeln können nur ziehen. Dies gilt für glatte Muskeln ebenso wie für quergestreifte. Will man
hydrostatischer Druck
b Abb. 16.9. Einsatzbereiche von Muskelfasern. Oben: Hebelbewegung beim ‚Kniegelenk‘ eines Insektes. Unten: Propulsive Peristaltik in einem Hohlorgan (z. B. Speiseröhre, Darmrohr)
16.3 Steuerung der Motorik über Dehnungssensoren
beispielsweise um ein Rohr abwechselnd arbeitende Längsfasern und zirkulär verlaufende Querfasern, oder wir finden ein Netzwerk aus gekreuzten Schrägfasern (Abb. 16.9). Beide Systeme ermöglichen es, einen ringförmigen Kontraktionswulst über das Rohr laufen zu lassen (propulsive peristaltische Bewegungen des Darmes oder aktiv vorangetriebene Pulswellen in Arterien). Beide Fasersysteme werden gedehnt durch den hydrostatischen Druck im Hohlorgan (z. B. Blutdruck in den Arterien).
16.3 Steuerung der Motorik über Dehnungssensoren
auch wenn sie die Muskelspindeln in ihrer Aufgabe unterstützen. Beide registrieren den Dehnungszustand des Muskels. 16.3.2 Muskelspindeln funktionieren als Fühler in Regelkreisen, die der Stabilisierung einer Soll-Muskellänge dienen Muskelspindeln (Abb. 16.10) sind ca. 1 mm lange, weißliche, spindelförmige Gebilde, die in jene MusMuskelspindel
16.3.1 Zur koordinierten Steuerung von Muskelgruppen braucht das ZNS Wissen über den momentanen Dehnungszustand eines jeden einzelnen Muskels
motorische -Faser
Wir versuchen beim Basketballspiel den Ball in den Korb zu werfen und springen dabei auch noch hoch. Welche Strecke und mit welcher Vehemenz muss ein jeder am Sprung und Wurf beteiligte Muskel seine Länge verändern, damit das Ziel erreicht wird? Alle Erfahrung und Übung hülfe nichts, wenn das ZNS nicht Bescheid wüsste, in welchem Dehnungszustand jeder Muskel im Moment ist und wie in jedem Moment ein Istwert an den Sollwert angepasst werden muss. Nur mit diesem Wissen kann ein Steuerungsprogramm für eine geeignete Bewegungsfolge errechnet werden. Und nur, wenn die Beinmuskeln einen bestimmten Grad elastischer Steife bewahren, kann am Schluss der Aufsprung abgefedert und ein Abknicken des Knies verhindert werden. Das Wissen über die aktuelle Muskeldehnung wird dem ZNS von mikroskopisch kleinen Sensoren vermittelt, die in größerer Zahl in der Muskelmasse und Muskelsehnen eingebettet sind. Es sind die ●
●
Muskelspindeln, welche zwischen die Muskelfasern eingestreut sind, und die aktuelle Muskellänge messen. Sie werden auch als Fühler eingesetzt, um plötzliche, passiv erzwungene Dehnungen, wie sie beim Aufsprung vorkommen, reflektorisch zu kompensieren. Golgi-Sehnenorgane, welche Zugkräfte registrieren. Auf sie werfen wir nur einen kurzen Blick (s. Abb. 18.1), untersuchen sie aber nicht weiter,
(efferent)
(afferent)
sensor. Ia-Faser
motorische -Faser
Intrafusale Fasern Dehnungs- = Längendetektoren
Abb. 16.10. Muskelspindel eingebettet zwischen quergestreiften Muskelfasern. Die Muskelspindel ist ein Sinnesorgan! – zur Messung der Muskellänge (Muskeldehnung)
385
16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe Patellar-Reflex
Reflektorischer Halteregelkreis -- Längenstabilisator --
Rückenmark Motoneuron Sensorisches Spinalneuron
sensorischer Eingang
motor. Ausgang Muskelspindel
Motor. Endplatten 3
1 2
Patellar- u. Achillessehnen-Reflex Funktion beim Abfedern des Aufsprungs
Abb. 16.11. Funktion des Längen-stabilisierenden Regelkreises bei passiver Dehnung eines Muskels. Die ursprüngliche Länge (Soll-Länge) wird reflektorisch (trotz bleibender Belastung) wiederhergestellt. Zugleich Beispiel eines monosynaptischen Eigenreflexes De
hn
keln eingebettet sind, die unsere Gliedmaßen und unseren Kopf bewegen und häufig unerwarteten Kräften ausgesetzt sind (der Boxer kann dies schmerzlich erfahren). In besonders großer Dichte sind sie in der Nacken- und der Fingermuskulatur zu finden. Sie enthalten als Sensoren modifizierte Muskelfasern, die in ihrem zentralen, Myofibrillen-freien Abschnitt von freien Nervenendigungen umsponnen sind. Diese freien Nervenendigungen sind dehnungsempfindliche dendritische Fasern von sensorischen Neuronen, deren zentraler Zellkörper mit Zellkern weit weg in den dorsalen Wurzeln der Spinalnerven liegt. Auf passive Dehnung reagieren die Längensensoren mit phasisch-tonischer Entladung (s. Abb. 17.5), melden also, wie rasch der Muskel gedehnt wird und welche Abb. 16.12. Patellar-Reflex und Achillessehnen-Reflex. Im unteren Fall helfen die Reflexe, Stöße abzufedern, wenn der Fuß nach neue Länge er momentan hat. einem Sprung aufsetzt Die am einfachsten zu verstehende Funktion einer Spindel ist ihre Funktion als Fühler eines Längen-stabilisierenden Regelkreises (Abb. 16.11 u. 16.12). Im Untersuchungszimmer des Arztes wird un
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386
16.3 Steuerung der Motorik über Dehnungssensoren
ein solcher Regelkreis getestet, wenn der Arzt mit dem Gummihammer den Patellarreflex oder den Achillessehnen-Reflex prüft. Bei einem Schlag auf die Sehne unterhalb der Kniescheibe (Patella), wird der Oberschenkelmuskel plötzlich gedehnt. Die Spindeln feuern. Ihre Meldung wird im Rückenmark unverzüglich den Motoneuronen, die für diesen Muskel zuständig sind, zugeleitet. Diese signalisieren schnurstracks dem Muskel, sich auf die ursprüngliche Länge zu verkürzen. Seine Länge ist auf den Sollzustand zurückgeführt. In der Praxis des Alltags kommt der Regelkreis beispielsweise zum Zuge, wenn wir am Ende eines Weitsprungs beim Landen unsere kinetische Energie und den Impuls abfedern, um nicht zu hart aufzusetzen oder gar auf die Nase zu fallen (Abb. 16.12). Freilich wird dabei unser reflektorisches Verhalten nicht nur von den Meldungen der Muskelspindeln sondern auch von den Meldungen des Gelenksinnes und der Gleichgewichtsorgane (s. Kap. 18) bestimmt. Muskelspindeln enthalten im Regelfall zwei Subtypen von Sensoren. Beide reagieren mit phasisch-tonischen Entladungssalven (s. Abb. 17.5), melden also, wie rasch der Muskel gedehnt wird und welche neue Länge er im jeweiligen Moment hat. Eine der beiden Fasern registriert mehr die phasische Komponente des Reizes, also die ruckartige Verlängerung des Muskels (Beschleunigung) beim Schlag auf die Sehne; die andere meldet deutlicher mit ihrem tonischen (proportionalen) Salvenpart die nach der Korrektur neu erreichte Länge. Sie eignet sich besser, den jeweiligen LängenIstwert zu registrieren.
Der Muskelspindelreflex ist auch als monosynaptischer Eigenreflex in Lehrbüchern beschrieben; monosynaptisch, weil zwischen dem Sensor, der die Störung registriert (Afferenz), und dem Motoneuron, das den Befehl zur Korrektur ausgibt (Efferenz), nur eine Synapse zwischengeschaltet ist. Eigenreflex heißt der Reflexbogen deshalb, weil der registrierende Sensor im selben Organ liegt, dessen Länge geregelt wird und die korrigierende Reaktion ausführt. 16.3.3 Bei aktiver Bewegung muss der Längenstabilisierende Halte-Regelkreis zum Längen-verändernden Folge-Regelkreis umfunktioniert werden Ein purer Halteregelkreis würde jeder willkürlichen Bewegung zuwider arbeiten. Wenn ein motorischer
Nerv über die neuromuskuläre Synapse (motorische Endplatte) dem Muskel den Befehl gibt, sich zu verkürzen, schreit der Sensor auf: „Halt, ich bin gestaucht worden; der Muskel muss auf den Sollwert expandiert werden!“ Um den widerspenstigen Sensor stillzulegen und ihn gar zum Mitmachen zu bewegen, wird ein kunstreicher Trick angewandt. Die Endabschnitte der Sensorfasern enthalten noch kontraktile Myofibrillen und können über die sogenannten γ-Fasern gespannt werden. Die sensorischen Dendriten, welche die mittlere Faserregion umspinnen, melden: „Ich bin gedehnt worden; Muskel verkürze dich!“ Das soll der Muskel nach unserem Willen sowieso und er kann es nun auch tun, ohne Widerspruch zu provozieren. Es hat einige Diskussion über die Zeitfolge der Ereignisse gegeben: Werden die Spindelfasern im Nachhinein nach den Muskelfasern zur Kontraktion stimuliert, um sie zum Schweigen zu bringen? Oder wird zuerst die Spindelfaser zur Kontraktion gebracht und ihr damit eine passive Dehnung vorgetäuscht? In diesem Fall würden sie selbst über den monosynaptischen Eigenreflex den Hauptmuskel zur Kontraktion veranlassen. Die Zeitfolge mag unterschiedlich sein je nachdem, ob eine Bewegung sehr rasch erfolgen soll (– hierbei müsste der Sensor nachgestellt werden –) oder ob man bei sachten Bewegungen Zeit genug hat, erst den Sensor zu verstellen und dann den Muskel folgen zu lassen. Gewiss ist, dass der zeitliche Abstand, in dem Kontraktionsbefehle zur Hauptmuskulatur und gleich lautende Befehle zu den Spindelfasern laufen, möglichst gering sein sollte.
Regelungstechnisch handelt es sich bei der aktiven, zentralnervös signalisierten Kontraktion der Spindelfasern um eine Sollwertverstellung. Da die Muskellänge dem neuen Sollwert folgt, ist der Regelkreis zum Folgeregler erweitert worden (Abb. 16.13). Der besondere Vorzug einer solchen Sollwertverstellung (insbesondere der Vorzug einer zeitlich vorgezogenen Sollwertverstellung) ist, dass der Muskel ungeachtet einer beabsichtigten Bewegung bei einer unerwarteten plötzlichen Störung durch äußere Kräfte in Augenblicksschnelle die Muskellänge korrigieren kann. 16.3.4 Wenn sich ein Muskel kontrahieren soll, muss sein Antagonist nachgeben und erschlaffen Da der einzelne Muskel nur Zugkräfte, nicht aber Schubkräfte entfalten kann, braucht jeder Flexor
387
388
16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe Aktive Längenverstellung (Verkürzung)
greifen können. Entsprechend sind die Schaltpläne nicht einfach.
Dehnungs-Sensor kontraktiler Abschnitt
kontraktiler Abschnitt
1
16.4 Funktionelle Spezialisierung und Energiequellen
bisheriger Sollwert
Aktive Vorspannung der Spindel
-Faser feuert
Verschiedene Einsatzbereiche erfordern unterschiedliche Muskeltypen, die auch unterschiedliche Energiequellen nutzen.
2a
Dehnungs-Sensor feuert
16.4.1 Schnell in der Arbeit, doch rasch erschöpft: die phasische Skelettmuskulatur
Aktive Vorspannung der Spindel
-Faser feuert
2b
neuer Sollwert
Die quergestreifte Muskulatur erzeugt rasch große Zugkräfte, doch kann sie diese nur kurze Zeit aufrechterhalten. Sie arbeitet phasisch. Rasche Reaktion und rasches Abklingen („Ermüden“) wird in der Physiologie oft mit dem Adjektiv phasisch gekennzeichnet. Das Gegenstück, die Erzeugung einer Dauerspannung, oder allgemein eine anhaltende Leistung, wird mit dem Adjektiv tonisch belegt.
3
Reflektorische Verkürzung des Muskelsbis Dehung des Sensors dem neuen Sollwert entspricht
Abb. 16.13. Aktive Verkürzung eines Muskels nach dem Prinzip des Folgereglers. Dargestellt ist eine Situation, in der zuerst über eine neuronale Zuleitung vom ZNS die Spindelfasern durch Aktivierung ihrer beiden endständigen kontraktilen Abschnitte gedehnt werden. Alsdann erfolgt reflektorisch eine entsprechende Verkürzung des Muskels. Am Ende ist die Muskellänge wieder proportional der Länge der Spindel, die den Sollwert vorgibt
Muskeln, die wir zum Speerwurf, zum Weitsprung oder zum Davonlaufen brauchen, benötigen rasch viel Energie in Form von ATP. Da das instabile und osmotisch wirksame ATP selbst nicht in großer Menge in der Zelle gespeichert werden kann, braucht die Faser Energiespeicher indirekter Art. Sie hat ●
als Antagonisten einen Extensor. Abwechselnd werden die Rollen getauscht. In diesem Spiel mit abwechselnd vertauschten Rollen müssen die Muskelspindeln mitmachen. Wenn also die Spindeln im Agonisten ihren Sollwert auf weitere Verkürzung einstellen, müssen die Spindeln im Antagonisten ihren Sollwert auf größere Länge einstellen. Die nötigen kreuzweise Verschaltungen (hier nicht gezeigt) können zwar ohne große Umwege direkt übers Rückenmark laufen. Schließlich muss aber doch auch das Gehirn Bescheid wissen und ein-
einen Kurzzeitspeicher in Form des Phosphagens Kreatinphosphat.
●
Kreatin-P + ADP ̟ Kreatin + ATP
●
Kreatinphosphat reicht für 10 bis 15 s.
●
Die Faser hat einen Langzeitspeicher in Form von Glykogen. Wenn hieraus Glucose freigesetzt wird, sollte sie auch vollständig oxidiert werden, um alle in der Glucose steckende Energie verfügbar zu machen. Da nun aber die Blutversorgung im tätigen Muskel oft unterbrochen ist – die Gefäße werden oft zugequetscht – hat der Muskel auch einen internen Sauerstoffspeicher: Myoglobin-O2.
16.4 Funktionelle Spezialisierung und Energiequellen
Innerhalb der Kategorie der quergestreiften Muskeln unterscheidet man „rote Muskeln“ mit viel Myoglobin, vielen Mitochondrien, nicht sehr rascher Arbeitsweise aber ausdauernd, und „weiße Muskeln“ mit wenig Myoglobin, wenigen Mitochondrien, zu rascher Kontraktion befähigt aber auch rasch ermüdend. Rote Muskeln sind für den Marathonläufer gut, weiße für den Sprinter. Der relative Anteil dieser Muskeln kann durch Training beeinflusst werden; allerdings setzt die genetische Ausstattung eines jeden Individuums dem Trainingserfolg Grenzen. Ist der interne Sauerstoffspeicher leer, bleibt nur noch die wenig ergiebige Glykolyse. Es sammelt sich Lactat (Milchsäure) an, das nach und nach über die Blutbahn der Leber zur weiteren Verwendung zugestellt wird. Viel Lactat führt zu der unter Sportlern berüchtigten Übersäuerung (Azidose), die eine Ermüdung des Muskels und damit seine Schonung erzwingt. Muskelkater. Heute wird Muskelkater nicht mehr auf die Ansäuerung des Muskels durch Milchsäure zurückgeführt. Milchsäure ist in Minuten abgeführt und von der Leber entsorgt. Als primäre Ursache gelten heute mikroskopische Traumen: Im Elektronenmikroskop wurden zerstörte Faserstrukturen und zerrissene Z-Scheiben beobachtet. Auch können feine Blutkapillaren reißen; es kommt zu lokalen Blutungen. Will man wissen, warum es zu den Schmerzen erst 12–24 Stunden später kommt, kann man unterschiedliche Erklärungen finden. Plausibel erscheint uns die Vorstellung, dass zur Beseitigung der Schäden das Immunsystem eingeschaltet wird und Muskelkater eine Art Entzündung ist. Bei Entzündungen erreichen Alarmsubstanzen wie Histamin, die weitere Lymphozyten an den Ort des Unheils locken, auch Schmerzsensoren, die uns auf den Schaden aufmerksam machen. Herzinfarkt. Ein Herzinfarkt verursacht durch lokalen Sauerstoffmangel (Ischämie) das Absterben von Muskelfasern. Er wird u. a. durch den Nachweis einer herzspezifischen Kreatinkinase im Blutplasma diagnostiziert. Dieses Enzym katalysiert in Zeiten körperlicher Ruhe die Regeneration von Kreatinphosphat, wenn das Herz eine Phase rasender Aktivität hinter sich hat. Das Enzym gerät aus den nekrotischen, lecken Herzmuskelfasern ins Blut (wie auch andere Muskelfasern bei starker Beschädigung (z. B. Muskelfaserrisse beim Muskelkater) eine Kreatinkinase auslecken lassen).
Langzeitarbeiter wie der Herzmuskel, die Flugmuskeln von Langzeitfliegern, die Schwimmuskeln der Langzeitschwimmer, die Atemmuskeln und ver-
schiedene (meistens glatte) Haltemuskeln müssen so gut mit Sauerstoff versorgt sein, dass sie unablässig hochwertigen Brennstoff in Form von Fettsäuren vollständig verbrennen können. Daher dürfen die Herzkranzgefäße nie durch Verkalkung (Artherosklerose) oder ein Blutgerinnsel (Herzinfarkt) verstopft sein. 16.4.2 Langsame Dauerarbeiter, wie die tonische glatte Muskulatur, werden über Second-messenger Systeme oder durch mechanische Dehnung aktiviert Die wenig beachtete glatte Muskulatur, die Magen und Darm durchwalkt und uns in Gestalt der Gebärmuttermuskulatur zur Welt gebracht hat, hat viele cytologische, biochemische und funktionelle Besonderheiten. Glatte Muskelfasern (= Muskelzellen) sind nicht in Sarkomere gegliedert, sondern enthalten ein Netzwerk von Actin und Myosinfilamenten (Abb. 16.14). Die Kontraktion wird anders gestartet. Bei der glatten Muskulatur kennt man mehrere Auslösemechanismen, hier nach dem Grad der Autonomie geordnet. 1. Die glatte Muskulatur des Magen-Darm-Traktes, die in eine äußere Längsmuskulatur und eine innere ringförmige Muskulatur gegliedert ist und die peristaltischen Kontraktionswellen zum Transport der Nahrung erzeugt (Abb. 4.6), wird im Bereich der Speiseröhre noch konventionell aus der Ferne über Nervenimpulse gesteuert. Diese treffen über den Nervus vagus an Synapsen des Typs „Varikosität“ (s. Abb. 16.14) ein. So wird im Anschluss an den Schluckvorgang im oberen Ösophagus eine erste peristaltische Kontraktionswelle ausgelöst, die den Nahrungsbolus in den Magen treibt. 2. Im Magen und Darm finden sich zwischen Längsund Ringmuskulatur besondere, mutmaßlich von Muskelfasern abgeleitete Schrittmacherzellen, die beim Menschen alle 1,5 bis 2 Stunden für jeweils 5 min Kontraktionswellen auslösen. Allerdings gibt es ja auch das umfangreiche, ortsansässige enterische Nervensystem ENS (s. Abb. 10.4), und es ist nicht klar, wie dieses mit den Schrittmachern wechselwirkt.
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
Kontraktion, selbst wenn vielleicht eine zentrale Instanz im Gehirn dies im unpassenden Moment noch zurückhalten will.
Muscarinische Synapse
Nervenfaser
1 ACH-R
Acetylcholin
G
PIP2
Signaltransduktion in Muskelfaser Ca2+
SR
Intrazellulär wird die Kontraktion der glatten Muskelfaser ebenso wie die der quergestreiften Faser durch einen Anstieg des intrazellulären Ca2+ ausgelöst, doch ist nicht ein Troponin der Ca2+-Sensor und -Schalter. Ca2+-bindender Vermittler ist vielmehr Calmodulin, ein lang gestrecktes Molekül, das sich parallel an die Actinstränge anlagert. Ca2+-Calmodulin aktiviert eine spezielle Kinase ( myosin light chain kinase, MLCK), die das benachbarte Myosin phosphoryliert. Myosin der glatten Muskeln kann nur dann an Actin binden, wenn es zuvor phosphoryliert wurde. Nun gleiten unter ATP-Verbrauch die Myosinköpfe gemächlich an den Actinsträngen entlang. Die relativ langsame Verkürzung ist mit lang anhaltender Kontraktionsfähigkeit korreliert. Die Erschlaffung des glatten Muskels wird bei sinkendem Ca2+ durch Dephosphorylierung von Myosin eingleitet, katalysiert durch eine Phosphatase.
2
DAG
2
3
Ca
PKC
IP3
2+
IP3 3
Calmodulin+4Ca2+ + Myosin-LK-Kinase
ATP
Myosin-leichte-Kette-P Kontraktion
Glatte Muskelfasern haben, je nach ihrem Einsatzbereich, noch weitere physiologisch bedeutsame Besonderheiten. Beispielsweise wird die Kontraktion der Gebärmutter zum Auspressen des Kindes bei der Geburt durch das Hormon Oxytocin der Neurohypophyse und durch lokale „Gewebshormone“ wie Prostaglandine eingeleitet (s. Abb. 11.20). Gap junction
Myosin Actin
Glatte Muskeln
Abb. 16.14. Glatte Muskelfasern. Im oberen Bildteil Auslösung der Kontraktion an der Synapse (hier an der glatten Faser nicht motorische Endplatte, sondern Varikosität genannt). Zur Freisetzung von Calcium-Ionen aus dem ER wird das PI-Signaltransduktionssystem aktiviert. Es kommt eine Signalkaskade in Gang: IP3 setzt aus dem ER Ca2+ frei. 4 Ca2+ binden an Calmodulin, das seinerseits mit der Myosin-leichte-Kette-Kinase einen aktiven Komplex bildet, der von ATP Phosphat auf die leichte Kette des Myosins überträgt. Damit kann Myosin mit Actin interagieren und am Actin entlang gleitend die Verkürzung der Muskelzelle bewirken. Unten: über Gap junctions ist eine weitere Möglichkeit der Auslösung und Synchronisation von Kontraktionen gegeben
3. Im Bereich der Harnblase ist die glatte Muskulatur weitgehend eigenständig tätig. Die zunehmende mechanische Dehnung wie sie die Muskelfasern erleiden, wenn sich die Blase füllt, bewirkt eine allmähliche Depolarisation bis unter eine Schwelle, bei der die Fasern autonom myogene Aktionspotentiale erzeugen. Sie erzwingen eine
Rekorde in Dauerkontraktion halten die Schließmuskeln der Muscheln, die tagelang die Schalen unter Verschluss halten können. Bestimmte, spezialisierte Fasern dieser Muskeln verfallen in einen starren Sperrtonus (latch = verriegeln), in dem sie ohne Aufwand von Energie verharren. Es wird vermutet, dass in diesem Muskel die Myosinquerbrücken mittels kovalenter Bindungen an die Actinstränge gekoppelt werden. Es gibt indes auch andere Vorstellungen. Beispielsweise soll das Paramyosin dieses Muskels im Zustand der Dauerkontraktion eine kristalline Struktur annehmen.
16.4.3 Der Flugmuskel der Insekten kann in Rekordfrequenzen bis zu 1500 Hz oszillieren Für solche Rekordleistungen, wie sie mit Hochfrequenz-Filmkameras beispielsweise bei kleinen Mücken registriert wurden, sind die muskulären Motoren und der gesamte Bewegungsapparat durch mehrere Besonderheiten befähigt. Wir haben es hier mit einer indirekten Flugmuskulatur zu tun. Aufund Abschlag der gläsernen Schwingen werden von Muskeln bewerkstelligt, die nicht direkt an den Flügeln ansetzen, sondern die Chitinhülle des Thorax
16.5 Das Herz: sein Schrittmacher und sein EKG
in Schwingungen versetzen. Über ein Gelenk- und Hebelsystem werden diese Schwingungen auf die Flügel übertragen (Abb. 16.15). Durch den Brustraum schräg von oben nach unten und von vorn nach hinten ziehende Muskeln setzen am gewölbten Brustpanzer an. Nun starten wir den Motor. ●
mit aktiver Zuckung antwortet. So kommt ein munteres Wechselspiel in Gang. ●
Ein neuronaler Impuls startet den Agonisten. Alle Fasern werden simultan aktiviert. Die Myosin-Minimotoren aller Myosinstränge innerhalb einer Zelle arbeiten synchron und im Gleichtakt. Aber nur einen kurzen Moment; dann entspannt sich der Muskel wieder. Als Folge der Zuckung wölbt sich der „Schnappdeckel“ des Brustpanzers (Tergit) erst plötzlich nach oben hoch und springt dann aufgrund seiner Elastizität schlagartig in die abgeflachte Stellung zurück.
●
Der nach oben springende Deckel des Tergit zerrt am Antagonisten. Dieser antwortet auf die plötzliche passive Dehnung seinerseits mit einer zuckenden Kontraktion, ohne lange auf neuronale Befehle zu warten.
●
Der Antagonist zerrt, vermittelt über den Brustpanzer, wiederum den Agonisten, der seinerseits
Die oszillierenden Muskeln übertragen auf die elastische Chitinhülle des Brustkorbs rhythmisch anund abschwellende mechanische Spannungen. Die elastische Hülle gerät in Resonanzschwingungen, die sich aufschaukeln und umgekehrt auf die Muskeln rückwirken. Die Resonanzen verschärfen die Synchronität der Einzelzuckungen und beschleunigen das System. Der Schlagzeuger kennt das Phänomen: Geriete die Bespannung der Trommel nicht in Schwingungen, wäre ein hochfrequenter Trommelwirbel nicht so leicht zu erzielen. Zur Perfektion ist das Wechselspiel durch geschicktes Ausnutzen weiterer physikalischer Prinzipien. Die Sklerite im Bereich der Flügelgelenke leisten ihrer Verformung durch die Muskeln zunächst hartnäckig Widerstand, nehmen aber willig potentielle Energie auf. Bei einem kritischen Kulminationspunkt geben die Chitinelemente plötzlich nach (Klickmechanismus). Die Bewegung des Flügels erfährt eine Beschleunigung.
Während der Maikäfer mittels seines Flugmotors zum Fliegen abhebt und aus unserem Gesichtsfeld verschwindet, machen wir uns einige Augenblicke lang Gedanken über das Fliegen (Box 16.1 mit Abb. 16.16).
Tergit
16.5 Das Herz: sein Schrittmacher und sein EKG
Doppelgelenk
16.5.1 Herzen lassen sich von neurogenen oder myogenen Schrittmachern den Takt geben
Pleurit
Nicht nur als Herzpatient, sondern schon von Natur aus sind wir mit einem Herzschrittmacher ausgestattet. Der Zoologe weist darauf hin, dass es im Tierreich zwei Kategorien von Herzschrittmachern gibt:
Abb. 16.15. Indirekte Flugmuskulatur bei einem Insekt
●
Neurogene Herzen werden von neuronalen Schrittmachern zum rhythmischen Schlagen veranlasst. Dies trifft beispielsweise auf die schlauchförmigen Herzen der Arthropoden zu.
●
Myogene Herzen haben ihren eigenen Herzschrittmacher entwickelt. Myogen heißt: „von Muskeln erzeugt“. Es sind spezialisierte Muskelzellen, die zu
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
BOX 16.1
Wie man fliegt Biomechanik ist ein Gebiet, mit dem wir uns im üblichen Grundstudium nicht beschäftigen müssen. Aber wir sind doch an manchen Phänomenen sehr interessiert, beispielsweise daran, wie man fliegt. Nun ist aber gerade die Physik des Fliegens sehr kompliziert. Auf Reynoldszahlen und physikalische Formeln lassen wir uns hier nicht ein. Wir betrachten nur in intuitiver Weise, wie ein schlagender Flügel Auftrieb und Vortrieb erzeugt. Und wir überlegen, wie bei einem Flügel Auftrieb und Vortrieb entstehen, wenn der Vogel (oder unser Flugzeugmodell) im Segelflug ruhig durch die Luft gleitet oder der Vogel seine Schwingen auf und ab bewegt. Der gleichförmige Horizontalflug. Ob nun der Vogel mit unbewegten Schwingen am Himmel kreist und sich von Thermik tragen lässt oder in einförmigen Schlagflug gleichmäßig über die Sahara zieht, es muss die gleiche Grundbedingung erfüllt sein (Abb.16.16a): ●
Ein selbsterzeugter Hub muss sein Körpergewicht kompensieren: H = −G
●
Eine Vortriebskraft muss den Luftwiderstand kompensieren: V = −W
Wie sind diese Bedingungen erfüllt? Wir betrachten der Einfachheit halber den Flügel als starre Tragfläche (Abb. 16.16b). Der Flugkörper werde horizontal von vorne angeströmt, sei es weil Gegenwind herrscht oder der Flugkörper dank seiner Vorwärtsbewegung einen Fahrtwind erfährt. Der Flügel sei mit einem Anstellwinkel α leicht schräg zur Anströmrichtung gestellt. Ohne zunächst eine Antwort zu suchen nach dem Warum, lassen wir uns vom Aerodynamiker sagen, welche Kräfte in dieser Situation auftreten. Entscheidend ist eine Quer- oder Seitkraft FQ, die senkrecht zur Anströmrichtung bzw. Gleitbahn wirkt. Die zweite Kraft, die von Bedeutung ist, ist der Luftwiderstand W. Der Vektor von W fällt mit der Strömungsrichtung der Luft zusammen. Nun wird mittels FQ und W ein Kräfteparallelogramm konstruiert. Als Resultierende ergibt sich eine (zeichnerische) aerodynamische Gesamtluftkraft, die sich in eine vertikale Komponente („Auf-
trieb“, „Hub“; s. nachfolgende Erläuterung) und die nach vorn gerichtete Vortriebskomponente zerlegen lässt. Erläuterung: Für den Laien verwirrend sind die verschiedenartigen und z. T. widersprüchlichen Bezeichnungen, mit denen in verschiedenen Schriften die einzelnen Kraftkomponenten bezeichnet werden. In vielen Abhandlungen werden Querkraft und Auftrieb gleichgesetzt (z. B. Nachtigall 1985). Ein so definierter Auftrieb ist also nicht stets senkrecht nach oben gerichtet, sondern kann je nach Anströmrichtung auch andere Richtungen (z. B. schräg nach vorn-oben) zeigen und sogar negative Werte einnehmen (negativer Auftrieb = Abtrieb). Um speziell die senkrecht nach oben gerichtete Komponente zu benennen, wird in solchen Abhandlungen gern das Wort Hub benutzt. In anderen Abhandlungen wird der Auftrieb mit Hub gleichgesetzt, meint also in Übereinstimmung mit dem Wortgebrauch des Laien stets die senkrecht nach oben gerichtete Kraftkomponente. Bei horizontaler Anströmung von vorne fallen die Vektoren von Hub und Querkraft zusammen. Wir erlauben uns im Weiteren eine solche Vereinfachung.
Entstehung von Auftrieb und Vortrieb am starren Flügel. Man denke sich einen Flügel im klassischen, asymmetrischen Profil, von vorn angeströmt von einem horizontalen Luftstrom. Der Flügel sei gegen die Luftströmung leicht gekippt im Winkel zwischen 5 und maximal 20°. Der Flügel erfährt einen Auftrieb, dessen Stärke von der Strömungsgeschwindigkeit der Luft und dem Anstellwinkel abhängt. Aber warum? Erstaunlich ist, dass es für diesen für die Physik und Technik so grundlegenden Prozess noch keine allgemein anerkannte, einheitliche Erklärung gibt. Wir diskutieren vier vielbeachtete Erklärungsmodelle, die sich jedoch nicht widersprechen, sondern verschiedene Aspekte in den Vordergrund rücken und sich ergänzen: Das althergebrachte, aber unzulängliche Bernoulli-Modell. Bei gewölbtem Flügel mit dem in Abb. 16.16c gezeigten asymmetrischen Profil, und bei horizontaler Anströmung von vorn, haben die (roten) Luftmoleküle auf der Oberseite einen längeren Weg zurückzulegen, um die Hinterkante des Flügels zu erreichen, als die (schwarzen) Moleküle, die der Unterseite entlang gleiten. Nun zwingt niemand die roten und schwarzen Moleküle zur gleichen Zeit an der Hinterkante anzukommen. 7
16.5 Das Herz: sein Schrittmacher und sein EKG
BOX 16.1 (Fortsetzung)
Auf der Flügeloberseite entsteht jedoch aufgrund der anfänglichen Laufzeitdifferenz nahe der Hinterkante ein Luftloch (Unterdruck-Loch). Die roten Moleküle stürzen hinein; sie erfahren eine Beschleunigung. Dies hat zur Folge, dass sich die Kolonne der Moleküle auf der Oberseite auseinander zieht; der Luftdruck auf der Oberseite wird geringer als auf der Flügelunterseite; es entsteht ein Sog und dadurch ein Auftrieb. Der Physiker Bernoulli wird ins Spiel gebracht mit einem Argument, dem wir im Kreislauf (Kap. 9) begegneten. Nimmt die treibende Kraft in Richtung der Strömung (dynamischer Strömungsdruck) zu, muss die senkrecht darauf stehende Druckkomponente (Wanddruck bei Blutgefäßen) abnehmen, damit dem Energieerhaltungssatz genüge getan ist.
Unzulänglichkeit: Man kann auch mit symmetrischem Profil fliegen, und manche Flugzeuge können sogar auf dem Rücken fliegen. Sogar ein flacher Papierdrachen erfährt einen Auftrieb, wenn er im passenden Winkel zur Anströmrichtung im Luftstrom steht. Offenbar ist der Anströmwinkel von besonderer Bedeutung. Impuls durch Luftablenkung. Eine schräg im Luftstrom stehende Leitfläche lenkt den Luftstrom nach unten ab (Abb. 16.16d); der Luftstrom wird dadurch nach unten beschleunigt. Es entsteht eine entgegengesetzte „Rückstoßkraft“ (Weltner 1987) oder „Reaktionskraft“ (Nachtigall 1985), jedenfalls ein Impuls, der den Flugkörper entgegengesetzt schräg nach oben treibt. Diese Kraft lässt sich in Vortrieb und Auftrieb zerlegen. Warum wird die Luft abgelenkt? Unter der Leitfläche kann sie nicht anders. Auf der Oberseite haftet die angrenzende Luftschicht dank Oberflächenenergien (Adhäsionskräfte) am Flügel. Diese Grenzschicht muss dem Flügel folgen. Damit entsteht zwischen ihr und den weiter entfernten Luftschichten ein Unterdruck, der sich als Sog auf den Flügel bemerkbar macht und auch weiter entfernte Luftschichten nach unten ablenkt. Antrieb durch Wirbel. Neuerdings wird auf die (unterstützende) Funktion von regelmäßigen Wirbeln viel Wert gelegt. Hinter dem Flügel entsteht
bei optimalen Anstellwinkeln eine Serie von Ringwirbeln (Wirbelstraße), die dank ihrer Drehmomente einen Zentralluftstrom nach unten-hinten beschleunigt (Abb. 16.16e). Man kann diese Wirbelbildung mit der Wirkung eines am Flügelhinterrand angebrachten, Schub erzeugenden Propellers vergleichen (Nachtigall 1985). Es muss allerdings durch die Wahl eines flachen Anstellwinkels sichergestellt sein, dass Wirbel nicht über oder unter die Tragfläche geraten. Mathematische Modelle Unbeschadet der noch keineswegs abgeschlossenen physikalischen Interpretation von Auftrieb- und Vortriebserzeugung haben die Techniker mathematische Modelle entwickelt, die sehr brauchbare Berechnungen der für die Technik wichtigen Kräfteverteilung und Größen erlauben. Man operiert mit einer laminaren, den Flügel umhüllenden Strömung, die mit einer fiktiven Luftzirkulation um den Flügel interagiert. Das Basismodell trägt den Namen Kutta-Joukovski Formel. Mit dem von der Technik entwickelten Formelwerk lässt sich auch die Entstehung von Wirbeln beschreiben.
Der Schlagflug des Vogels. Wir können alle Erklärungsmodelle heranziehen, doch ist es vorteilhaft, das Bild abgelenkter, beschleunigter Luftmassen als Grundlage zu nehmen und zu erweitern. Auftrieb: Der Flügel schlägt nach unten; die Luftmoleküle unter dem Flügel werden auf einen engeren Raum zusammengeschoben; der Luftdruck unter dem Flügel steigt. Über dem Flügel wird für die Luftmoleküle mehr Freiraum geschaffen; Luftverdünnung bedeutet gegenüber dem Luftdruck in der Umgebung Unterdruck = Sog. Der Druckunterschied zwischen Flügelunterseite und –oberseite erzeugt einen Auftrieb. Auftrieb + Vortrieb: Der Schlag wird nicht senkrecht nach unten geführt, sondern in einem Bogen, und der Anstellwinkel des Flügels gegen die Luftströmung wird so verkippt, dass die beschleunigten Luftmassen schräg nach hinten-unten geschleudert werden. Wirbel beschleunigen den Luftstrahl weiter. Es entsteht eine Reaktionskraft (Rückstoß) nach vorn-oben, die Auftrieb und Vortrieb erzeugt. Der Auftrieb sollte im Mindestfall das Gewicht des Vogelkörpers (Erdanziehung, Gravitation) kompensieren. Übertrifft der Auf- 7
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
BOX 16.1 (Fortsetzung) Vogel als Segelflugzeug: erwartete Kräfte
Soll für gleichförmigen Horizontalflug
Querkraft Auftrieb
Hub
Hub
Widerstand
Vortrieb (Schub)
Vortrieb (Schub)
Widerstand
α Anströmwinkel Gravitation (Gewicht)
a
b
Unterdruck (Sog)
haf
ten
de
Unterdruck
Gre
nzs
chi
c
cht
d Rückstoß = Querkraft
Hub
Vortrieb
Ringwirbel
e Ablenkung = Querbeschleunigung
Abb. 16.16a –e. Mechanismen des Vogelflugs. Richtung der im Schwerpunkt des Vogels angreifenden Kräfte beim gleichförmigen Horizontalflug (a); Kräfteparallelogramm für Auftrieb, Vortrieb, Hub und Widerstand im horizontalen Gleitflug (b); strömungsbedingter Sog im horizontalen Gleitflug gemäß althergebrachter Auffassung (abgeleitet vom Bernoulli-Gesetz)
(c); Ablenkung der Luftströmung durch den Flügel bei geringem Anstellwinkel (d); Kräfteverteilung und Wirbelbildung als Folge der Ablenkung der Luftströmung (e); Luftmassenbeschleunigung durch den schlagenden Flügel. In der Gegenrichtung entwickelt sich Auftrieb (f ). Periodische Verstellung des Anströmwinkels beim schlagenden Flügel (g)
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16.5 Das Herz: sein Schrittmacher und sein EKG
BOX 16.1 (Fortsetzung)
Beschleunigung der Luftmasse
f
Änderung des Anstellwinkels
g Abb. 16.16f–g. Flug 2
trieb den Gewichts-bedingten Abtrieb, wird der Vogel hochgehoben (Hub). Der Vortrieb muss den Luftwiderstand übertreffen, wenn der Vogel vorankommen will (Schub). Beim Aufschlag wird der Flügel auf seine Ausgangsposition zurückgeführt. Notgedrungen entstehen Abtrieb und Rücktrieb – theoretisch. Nun helfen einige Tricks, beim Aufschlag den Verlust
an Höhe und Vortrieb geringer zu halten als der zuvor beim Abschlag erzielte Gewinn. ●
Der Flügel wird in der Horizontalen im Handgelenk nach hinten abgewinkelt, die Flügelfläche dadurch verringert. Auch werden die langen Schwungfedern gespreizt und die Schwungfedern kippen nach unten. Insgesamt wird der Widerstand verringert; es wird nicht 7
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
BOX 16.1 (Fortsetzung)
viel Luft nach oben geschaufelt (Abb. 16.16f); der Abtrieb wird minimiert.
Segelflug. Im Sink-Gleitflug der Großvögel ersetzt das Absinken den Wind von vorn und den Flügelabschlag; denn beim Abwärtsgleiten strömt Luft
auf den Flügel zu (relative Luftbewegung). Sie wird vom Flügel schräg nach unten abgelenkt. Thermik, also nach oben gerichtete Luftströmung, kann das Absinken kompensieren oder gar überkompensieren, da sie Druck von unten erzeugt. Der Greifvogel zieht über lange Minuten Kreise am Himmel, ohne Energie fürs Flügelschlagen aufbringen zu müssen. Genügend schnelle und anhaltende Anströmung von schräg unten durch den Stauwind großer Meereswellen ermöglicht dem Albatros langes Fliegen über Hunderte von Kilometern und viele Stunden; denn das Absinken im Gleitflug wird kompensiert durch Schub von unten.
Oszillatoren geworden sind und autonom in rhythmischer Folge elektrische Impulse nach Art von Aktionspotentialen erzeugen. Unser Herz gehört in diese Gruppe wie das Herz aller Wirbeltiere.
synchronisierende Signale nötig. Diese Signale sind (relativ langsame) Aktionspotentiale, die sich kurz vor jeder Systole (Herzkontraktion) über Gap junctions von Zelle zu Zelle ausbreiten.
●
Trägheitskräfte halten den Vogel noch immer im Horizontalflug. Nun wird der Anstellwinkel des Flügels gegen die Luftströmung so verkippt, dass beim Aufschlag Luft auch nach unten abgelenkt wird (Abb. 16.16g). Bei guten Fliegern wird sogar beim Aufschlag noch ein kleiner Gewinn an Auftrieb und Vortrieb erzielt.
16.5.2 Der myogene Herzmuskel des Wirbeltiers ist autonom und dank elektrischer Synapsen eine funktionelle Einheit Der Herzmuskel braucht nicht über neuronale Befehle zur Kontraktion bewegt zu werden. Er ist von sich aus arbeitswillig und rhythmisch tätig. Zwar gibt es neuronale Zuleitungen, sympathische und parasympathische Terminals. Doch diese greifen nur modifizierend ein, indem sie den Herzschrittmacher oder die Leitfähigkeit der elektrischen Übertragungsstrecke beeinflussen. Die einzelne Faser des Herzmuskels selbst ist nicht innerviert. Jede Zelle hat einen eigenen, autonomen Rhythmusgenerator. Man kann embryonale Herzzellen voneinander isolieren und in Zellkultur halten. Sie pulsieren autonom weiter, wenn auch in langsamerem Rhythmus als im Gesamtverband eines Herzens. Auch wenn die Zellen eines Herzens genetisch einen Klon darstellen und ein Herz und eine Seele sind, muss doch für eine Koordination der individuellen Aktivitäten gesorgt werden. Damit sich die Millionen (quergestreiften aber einkernigen Fasern) des Herzens jederzeit koordiniert verhalten, sind
16.5.3 Quelle der synchronisierenden Signale sind myogene Herzschrittmacher; sie sorgen für eine zweckmäßige Kontraktionsfolge Es gibt zwei Herzschrittmacher (Abb. 16.17). Beide bestehen aus einer Ansammlung von Muskelzellen, die arm an Myofibrillen sind und ihre ganze Energie darauf konzentrieren, in regelmäßiger Folge Aktionspotentiale zu feuern. ●
Der Sinusknoten ist der primäre Herzschrittmacher. Er sitzt dort, wo die großen Hohlvenen in den Vorhof des rechten Herzens münden, und aktiviert die Vorhofmuskulatur.
●
Der AV-Knoten (Atrioventrikularknoten) ist zweite Instanz. Er sitzt an der Grenze zwischen rechter Vorkammer (Atrium) und Hauptkammer (Ventrikel).
Warum zwei Schrittmacher? Es geht nicht bloß darum, die Systole des Herzens auszulösen sondern auch darum, eine zweckmäßige Kontraktionsfolge zu gewährleisten. Vorkammer und Hauptkammer sollen sich nicht zu gleicher Zeit sondern nachein-
16.5 Das Herz: sein Schrittmacher und sein EKG
Herzschrittmacher: Sinusknoten AV-Knoten
riode gefolgt. Dies hat zur Folge, dass keine weitere Signalwelle über den Herzmuskel laufen kann bevor der Muskel wieder voll expandiert ist. Der Arzt registriert beim gesunden Herzen klar voneinander getrennte Folgen von Systole, Diastole, Systole usf. Ein gesundes Herz kommt nicht ins Stolpern. 16.5.5 Das EKG spiegelt die Signalausbreitung im Herzen wider. Warum ist das EKG aber auf der Körperoberfläche abgreifbar?
His-Bündel Purkinje Fasern
Warum kann der Arzt die elektrische Aktivität des Herzens messen, wenn er Elektroden auf die Haut legt und mit empfindlichen Oszillographen (Voltmetern!) elektrische Spannungen von der Haut abgreift? Pflanzen sich die Aktionspotentiale des Herzens bis zur Hautoberfläche fort? Gewiss nicht direkt. Es gibt kein durchgehendes System von Gap
Abb. 16.17. Natürliche Herzschrittmacher
ander zusammenziehen. Daher sind sie voneinander elektrisch isoliert. Die vom Sinusknoten ausstrahlenden elektrischen Impulse breiten sich nur in der Vorhofmuskulatur aus und bringen sie zur synchronen Kontraktion. Dann übernimmt der AV-Knoten, vom Sinusknoten dazu aufgefordert, das Kommando und liefert das Startsignal für die Ventrikelkontraktion. Der Ventrikel soll nun das Blut von der Herzspitze nach oben Richtung Ausgänge pressen. Deswegen sollte die Kontraktion an der Herzsspitze beginnen und zur Herzbasis am oberen Ventrikelende fortschreiten. Damit dies gewährleistet ist, schickt der AV-Knoten seine elektrischen Signale erst über die schnellen Fernleitungen des His’schen Bündels (die Endstrecken heißen Purkinje Fasern) zur Herzspitze und übergibt sie dort erst der Muskulatur.
mV
16.5.4 Die den Aktionspotentialen folgende lange Refraktärzeit verhindert normalerweise Herzflimmern mV
Aktionspotentiale im Herzen dauern lange (ca. 400 ms; im Axon einer Nervenzelle nur 2 ms) und sie werden von einer entsprechend langen Refraktärpe-
Abb. 16.18. Elektrisches Feld, das vom schlagenden Herzen ausgeht. Herausgegriffener Moment. Schwarze Linien: Feldlinien. Rote Linien: Äquipotential-(Isopotential-)Linien
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
BOX 16.2
Das EKG Wir betrachten das Herz in einem günstigen Moment, in dem die elektrischen Ladungen auf der Herzoberfläche ein einfaches Muster bilden. Die Signale des AV-Knotens seien soeben an der Herzspitze angekommen. Eine Muskelfaser übernimmt das Aktionspotential. Mit dem Gipfel des Aktionspotential läuft eine Negativitätswelle (nähere Erklärung s. Kap. 14) über die Faser. Aber nicht nur über diese einzelne Faser, sondern, wegen der elektrischen Kopplung der Fasern, parallel und synchron auch über ihre Nachbarn. Im betrachteten Moment ist also die Herzoberfläche um den Südpol des Herzens, der Herzspitze, negativ geladen, während an der nördlichen Herzbasis die positive Ladung des Ruhepotentials dominiert. Das Herz ist in diesem Moment ein elektrischer Dipol vergleichbar einer Stabbatterie. Ein Dipol ist von einem elektrischen Feld eingehüllt, üblicherweise dargestellt durch Feldlinien, die vom Pluspol zum Minuspol verlaufen (s. Abb. 16.18). Senkrecht zu den Feldlinien zeichnen wir Isopotentiallinien (synonym: Äquipotentiallinien) ein. Zwischen allen Punkten auf einer solchen Linie herrscht gleiches (iso) Potential; es gibt also keine Potentialdifferenz entlang einer solchen Linie. Anders aber, wenn wir zwei (beliebige) Punkte wählen, die auf zwei verschiedenen Isopotentiallinien liegen. Zwischen ihnen gibt es eine Potentialdifferenz, also eine elektrische Spannung. Umfährt man mit den Sonden eines üblichen Voltmeters eine Stabbatterie, misst man zu seiner Enttäuschung erst mal nichts (nur höchst empfindliche Spezialvoltmeter würden reagieren). Um den Zeiger meines trägen Instruments zu bewegen, müssten die Potentialdifferenzen des Feldes ein kleines Quäntchen Strom durch das Messgerät treiben können. Die Luft ist jedoch ein Isolator. Legt man die Batterien in die wassergefüllte Badewanne, kann man mit dem Voltmeter in der Tat im Umfeld der Batterie geringe Spannungen messen. (Nicht zuviel Badesalz zugeben, sonst fließt zuviel Strom vom Pluspol zum Minuspol der Batterie und die Batterie ist leer, bevor man misst.)
Unser Herz sei eine Batterie, unser Körper ein wassergefüllter Sack, dessen Wand porös genug ist, um feucht zu sein und ein Quäntchen Strom zu leiten. Mit Sonden kann man auf der Außenfläche Spannungen messen. Nun lassen wir das angehaltene Herz weiter schlagen. Das Herz benimmt sich wie ein schwingender Dipol, dessen Polarität laufend wechselt. Da das Herz schief hängt und unruhig ist, und unser Körper auch nicht bloß ein uniform leitender runder Wassersack, ist freilich das messbare Spannungsmuster arg verzerrt. Das nach bestimmten Konventionen abgeleitete EKG (s. Abb. 16.19) ist nur nach guter Schulung deutbar. Eine vereinfachte Interpretation nimmt an, dass eine Erregungswelle, die in Richtung Herzspitze läuft, in der EKG-Aufzeichnung als positive Auslenkung aufgezeichnet wird. Im Weiteren ergibt sich daraus folgende Interpretation: ●
P-Welle: Die Erregung läuft vom Sinusknoten über die Vorhöfe Richtung AV-Knoten.
●
QRS-Komplex: Die Erregung läuft zunächst durch das His-Bündel Richtung Herzspitze (R-Zacke), dreht dann kurzzeitig die Richtung und erregt die Muskelzellen ausgehend von der Herzspitze in Richtung der Vorhöfe (S-Zacke).
●
T-Welle: Jetzt kommt es zur Erregungsrückbildung, zur Repolarisation der Herzzellen. Die Repolarisationswelle läuft von der Herzspitze, wo ja die Zellen zuerst kontrahiert haben, Richtung Vorhof. Obwohl die Repolarisation ein der Erregung (= Depolarisation) entgegengesetzes Vorzeichen hat, zeigt das EKG auch bei der TWelle einen Ausschlag nach oben. Der Grund: nicht nur die elektrische Polarität, auch die Laufrichtung der Erregungsrückbildung ist der Erregungswelle entgegengesetzt. Es ergibt sich ein doppelter Polaritätswechsel.
Wichtig ist zu bedenken, dass das EKG nur die elektrischen Erregungsvorgänge im Herzen, nicht aber dessen Kontraktion darstellt. Die Kontraktion der Ventrikel fällt in etwa mit der T-Welle zusammen. Die Zeit zwischen Erregung (S-Zacke) und Kontraktion wird für die elektromechanische Kopplung benötigt (Abschn. 16.1.5).
16.5 Das Herz: sein Schrittmacher und sein EKG
Abb. 16.19. Elektrokardiogramm EKG. Ausbreitung der „Negativitätswellen“ (Erregung). (Nach Thews u. Vaupel 1995)
R
T
P 1
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EKG
7
6
3
5
4
junctions, das die vom Schrittmacher ausgehenden Impulse zur verhornten Außenhaut leiten könnte. Box 16.2 und Abb. 16.18 führen in die basale Physik des EKG ein. Hier sei zusammenfassend vermerkt: das EKG spiegelt die Ausbreitung der weitgehend synchronen Aktionspotentiale im Herzen wider. Es ist ein auf und ab schwankendes Summenpotential, das kurz vor einer Systole registriert wird. Die Zacken auf dem Registrierstreifen werden in alphabetischer Folge P-Q-R-S-T¯ benannt (Abb. 16.19). Dass die elektrischen Spannungs-
schwankungen des Herzmuskels auf der Hautoberfläche registriert werden können, ist der schieren Physik zu verdanken und ohne physiologische Bedeutung. Für den Arzt indes ist das EKG Quelle diagnostischer Erkenntnisse. Was jedoch dem Kardiologen recht ist, ist dem Grundhai billig. Der gleitet über den sandigen Untergrund, um das EKG der im Sand verborgenen Schollen aufzuspüren. Sein Interesse ist indessen nicht auf Therapie, sondern auf Fressen ausgerichtet (s. Abb. 21.1).
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
16.6 Die elektrischen Organe der elektrischen Fische
Volt
16.6.1 Die elektrischen Organe sind modifizierte Muskelzellen Manch einer wird sich gefragt haben, warum in diesem Buch Muskeln und elektrische Organe im gleichen Kapitel behandelt werden. Hier die Antwort: die elektrischen Organe sind modifizierte Muskelzellen. Diese im Rumpf und Schwanz zu einem elektrischen Organ gebündelten Zellen (Abb. 16.20) haben ihren kontraktilen Apparat eingebüßt und sind zu flachen Scheiben abgeplattet. Sie heißen Elektroplaxe oder Elektroplatten. Die Platten sind einseitig durch neuromuskuläre Endplatten innerviert. Kommt es über neuronale Impulse zur Aktivierung einer Platte, entsteht ein flächenhaftes Aktionspotential, wobei auf der ganzen innervierten Fläche gleichzeitig Natrium-Kanäle aufspringen. Entsprechend wird auf der ganzen Fläche die Außenseite der Zellmembran in der selben tausendstel Sekunde negativ. Die Gegenseite der Zelle jedoch verharrt im Zustand des Ruhepotentials und zeigt eine positive Außenseite. Wir haben also im Moment der Entladung einen echten Dipol oder, mit anderen Worten, für den Bruchteil einer Sekunde eine echte Batterie mit einem flächenhaften Minuspol und einem flächenhaften Pluspol. Da die Batterie in einem leitenden Medium liegt, können sich Feld- und Spannungslinien (s. Box 16.1) zur Körperoberfläche und darüber hinaus im umgebenden Wasser ausbreiten. Es ist jedoch nur ein kurzer Moment, in dem die Elektroplatte beidseitig unterschiedlich gepolt ist. Deshalb schießt aus dem Fisch nur ein pulsförmiges Feld heraus. Es ist so, als würde man die zwei Enden eines Elektrokabels für einen kurzen Moment ins Wasser stecken.
Ampere
Elektroplax-Säule im Moment der Entladung Nerv
16.6.2 Über Serien- und Parallelschaltung kann man hohe Volt- und Amperewerte erzielen Ein einzelner Elektroplax mag im Moment seiner Entladung 90 mV Spannung hergeben; der damit
Abb. 16.20. Elektrische Organe eines Zitterrochens. Elektroplaxe, die Einzelelemente des elektrischen Organs, sind aus Muskelzellen hervorgegangen
Zusammenfassung des Kapitels 16
getriebene elektrische Strom hat eine Stärke im Bereich von nA bis μA. Damit kann man niemanden beeindrucken. Eine kleine handelsübliche Stabbatterie hat bei 1,5 V ein über tausendfach höheres Leistungsvermögen. Aber man kann Batterien in Serie schalten (d. h. Batterien aufeinandertürmen: Plus-Minus + PlusMinus + Plus-Minus, etc.), um damit die Voltzahlen zu addieren. Oder man kann die Batterien parallel schalten (die Pluspole mehrerer Batterien mit einem Leiter zusammenfassen und die Minuspole mit einem zweiten Leiter), um die Stromkapazitäten zu addieren. So machen es auch die elektrischen Fische (Abb. 16.20). Die stark elektrischen Fische stapeln und bündeln mehr Platten, die Schwachelektriker weniger.
16.6.3 Stark elektrische Fische erzeugen Elektroschocks, schwach elektrische Fische sind Signalsender Die stark elektrischen Fische des Süßwassers, Zitteraal (Amazonas) und Zitterwels (afrikanische
Zusammenfassung des Kapitels 16 Die Kontraktion eines typischen Muskels beruht auf der aktiven Verkürzung der 1–150 mm langen Muskelfasern; dies sind langgestreckte vielkernige Syncytien, die im Mikroskop aufgrund der periodischen Gliederung ihrer kontraktilen Strukturen „quergestreift“ erscheinen. Die Faser ist in eine Serie sich wiederholender Module (Sarkomeren) gegliedert, die jeweils einen Satz von Actin- und Myosinfilamenten enthalten und in ihrer Gesamtheit als „Myofibrillen“ bezeichnet werden. In jedem Modul ragen von beiden Grenzflächen (Z-Scheiben) Actinstäbe mit ihrem Minusende in den Binnenraum und umgeben zentral gelagerte, bipolare Myosinstäbe. Die Verkürzung beruht auf dem teleskopartigen Gleiten der Actinstäbe über die Myosinstäbe zur Modulmitte hin. Diese Bewegung wird bewerkstelligt von seitlich aus dem Myosinstab herausragenden Hebelarmen (Querbrücken) mit „Myosindoppelköpfen“ an ihrem Ende. Diese Hebelarme wirken als molekulare Motoren, die sich unter ATP-Ver-
Seen) erzeugen hohe Voltzahlen; bis zu 900 V beim Zitteraal (Warum wohl „Zitter-„? Wer’s nicht weiß, fasse einen „Zitter“fisch an!) So hohe Voltzahlen sind im Meerwasser wegen seiner hohen Leitfähigkeit kaum möglich. Im Meerwasser kann man aber schon mit relativ geringen Spannungen hohe Stromstärken durchs Wasser jagen. Entsprechend erzeugt der Zitterrochen hohe Stromstärken. In beiden Fällen ergeben sich hohe Produkte VA = Watt. Die höchst unangenehmen Kraftprotze unter den elektrischen Fischen können ihre Beute durch Elektroschock lähmen oder einen Angreifer in die Flucht schlagen. Die schwach elektrischen Fische, wie z. B. der kleine und gänzlich ungefährliche Nilhecht (kein Verwandter unseres Hechts und kein zubeißender Räuber), feuern hochfrequente Salven elektrischer Impulse. Es sind Signale, die diese im trüben Süßwasser lebenden Fische zur Kommunikation oder zur Orientierung aussenden. Die Funktion der Orientierungspulse erkunden wir in der Sinnesphysiologie (s. Kap. 21).
brauch ruderartig hin und her bewegen, dabei bei jedem Ruderschlag einen benachbarten Actinstab erfassen und Richtung Modulmitte ziehen. Ausgelöst wird eine Serie solcher Ruderschläge durch Ca2+-Ionen, die über zwei Sorten von Ca2+Kanälen den kontraktilen Apparat erreichen. (1) Aktionspotentiale, die über die Muskelfasern laufen und durch blind endende T-Kanäle in die Tiefe der Faser geleitet werden, öffnen spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle des DHP-Typs, die Ca2+ von außen ins Zellinnere schleusen. Ihre Öffnung bewirkt die Öffnung von (2) Ca2+-Kanälen des Ryanodintyps, die Ca2+-Ionen aus dem endoplasmatischen Reticulum ins Cytosol entlassen. Der Ca2+-Pegel im Cytosol schnellt von 10−7 auf 10−5 mol/l. Indem Ca2+-Ionen Schalterproteine, welche die Actinfilamente begleiten (Troponine, Tropomyosin), sterisch verändern, machen sie an den Actinsträngen Bindungsstellen für die Myosinmotoren frei. Zur Beendigung einer Kontraktion wird Ca2+ extrem rasch ins ER zurück gepumpt. Eine langanhaltende Serie hochfrequenter Aktionspotentiale bewirkt einen langdauernd
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16 Muskelmotoren, EKG und elektrische Organe
hohen Calcium-Pegel im Cytosol und damit eine „tetanische“ Dauerkontraktion. Die Aktionspotentiale der Muskelfasern werden ihrerseits durch motorische Nervenfasern an neuromuskulären Synapsen ausgelöst, wobei der Transmitter Acetylcholin (ACH) direkt Kationenkanäle der postsynaptischen Membran öffnet und so die Aktionspotentiale der Muskelfasern auslöst. Um eine koordinierte Bewegung programmieren zu können, muss das ZNS über den momentanen Dehnungszustand jedes einzelnen Muskels Bescheid wissen. Dazu dienen Dehnungssensoren, Golgi-Sehnenorgane, die Zugkräfte messen, und vor allem die ca. 1 mm langen Muskelspindeln, die in größerer Zahl in die Skelettmuskulatur eingebettet sind. Sie werden auch als Messfühler eingesetzt, um plötzliche, passiv aufgezwungene Dehnungen rückgängig zu machen. Die Meldungen der Sensoren wird motorischen Rückenmarksneuronen zugeleitet, die eine kompensatorische Kontraktion veranlassen („Eigenreflex“; z. B. Patellarreflex). Bei gewollter Bewegung muss der Sollwert des Regelkreises verändert und zugleich der des Antagonisten in Gegenrichtung verstellt werden. Unter funktionellen Aspekten werden die quergestreiften Muskelfasern in rote Fasern mit viel Myoglobin-O2, und weiße Fasern mit nur geringem O2-Vorrat eingeteilt. Weiße Fasern zucken rasch und ermüden rasch, rote sind langsamer aber ausdauernder. Glatte, einkernige Muskelfasern, die Hohlorgane wie Magen-Darm-Trakt, Harnblase und Uterus umhüllen, werden entweder durch passive Dehnung oder über metabotrope cholinerge Synapsen, bei denen eine Signaltransduktions-
kaskade zwischen ACH-Rezeptor und Reaktion zwischengeschaltet ist, zu zwar langsamen, aber kaum ermüdenden Kontraktionen veranlasst. Glatte Muskelzellen enthalten Actin- und Myosinstränge nicht exakt parallel, sondern netzartig angeordnet. Die zwar ebenfalls einkernigen, doch quergestreiften Fasern des Herzmuskels der Wirbeltiere sind in der Lage, in regelmäßigem Rhythmus autonom Aktionspotentiale zu erzeugen. Die einzelnen Fasern sind über Gap junctions direkt leitend miteinander verbunden, was eine koordinierte Ausbreitung von elektrischen Impulsen und in deren Gefolge von Kontraktionswellen ermöglicht. Koordiniert werden die Aktionspotentiale durch die führende Aktivität der zwei aus modifizierten Muskelfasern bestehenden Herzschrittmachern, dem Sinusknoten und dem AVKnoten. Die von diesen Schrittmachern ausgehenden, über den Herzmuskel laufenden Wellen von Aktionspotentialen erzeugen ein elektrisches Feld mit wechselnder Polarität, das an der Körperoberfläche mit Voltmetern als EKG (Elektrokardiogramm) abgegriffen werden kann. Weitere Erläuterungen hierzu gibt Box 16.2. Elektrische Fische nutzen die elektrischen Felder, die von Paketen modifizierter Muskelzellen (Elektroplaxe) erzeugt werden, zur Abwehr von Feinden und Lähmung von Opfern (stark-elektrische Fische) oder als eine Art elektrisches Radar zur Erkundung der Umgebung (schwach-elektrische Fische). Eine Box 16.1 gibt für Interessierte eine erste Einführung in die Physik des Fliegens, bezogen vor allem auf den Vogelflug.
17 Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung
17.1 Von der Physik bis zur Psyche: Reiz, Erregung, Wahrnehmung 17.1.1 Die Innenwelt eines Anderen, ob Mensch oder Tier, ist uns nicht zugänglich Mit der Sinnesphysiologie geraten wir in eine Sphäre, die nicht nur aufregend ist dank der erstaunlichen Leistungen menschlicher und tierischer Sinne, sondern auch dank des viel diskutierten, vielleicht nie lösbaren Rätsels, wie denn unsere subjektive, mentale Erlebniswelt entsteht. Wir treten ein in den Grenzbereich von „Leib und Seele“. Seele ist ein Begriff, der nicht leicht dingfest zu machen und durch religiöse Vorstellungen überformt ist. Seele im Sinne von Psyche (griechisch: psyche = Seele) ist ein Summenbegriff, der Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögen, Vorstellungsvermögen, Bewusstsein, Antrieb und Wille umfasst. Er bezeichnet eine mentale Innenwelt, die nur subjektiv erfahrbar – nichtsdestoweniger sehr real – ist. Im Englischen wird das Wort mind gebraucht, während soul in der Regel die Seele der Religion meint.
Filter
Reiz
Der Sinnesphysiologe als Naturforscher konzentriert sich zunächst auf das, was ihm der Anatom vorzeigen kann und was ihm messtechnisch zugänglich ist. Aber natürlich ist auch der Physiologe ein Mensch und will wissen, weshalb er was erlebt, was ihn so reizt, dass er ROT sieht, oder was seinem Zahnschmerz zugrunde liegt. Der Physiologe kann elektrische Antworten eines Rezeptors messen. Er sieht es den Rezeptorpotentialen jedoch nicht an, welche Empfindungen sie hervorrufen und ob die Aktivitäten des Rezeptors überhaupt mit Empfindungen korreliert sind. Er kann im Verlauf der weiteren Signalstrecke (Abb. 17.1) bis in die feinsten Verästelungen der Signalbahnen im Gehirn Aktionspotentiale registrieren, Transmitter analysieren, er mag die ganze Biochemie innerhalb der Zellen und die Interaktionen der beteiligten Sinnes- und Nervenzellen untereinander aufklären; er findet jedoch keine substantielle Empfindung ROT und keine Empfindung ZAHNSCHMERZ, die er dem Blinden oder dem Zahnarzt übergeben könnte, sodass der Blinde oder der Zahnarzt nun selbst dieselben Erlebnisse hätten. Und selbst wenn der Forscher mit Elektroden, sagen wir auf der Haut, bei einem Probanden (Fachausdruck für menschliches
Rezeptor als Zelle, Sensor Transducer (Signalwandler) Transduction Verstärkung Codierung
EmpfindungsZNS Modalitäten, Qualitäten Nervenzelle
Datenverarbeitung
Info-Quelle
Rezeption Informations-Aufnahme Informations-Codierung
Transmission Informations-Übertragung
Abb. 17.1. Codierung und Übertragung von Information im Sinnes-Nerven-System. Begriffe
Perzeption -Auswertung
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17 Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung
Versuchskaninchen) und bei sich selbst spürbare Empfindungen auslöst, werden beide nie erfahren, ob sie wirklich die gleiche Empfindung haben. Der Tierphysiologe gibt sich noch restriktiver als der Humanphysiologe. Er weiß, dass ihm die Innenwelt eines Tieres nicht zugänglich ist und tut so, als hätte er es mit einem technischen Roboter zu tun, der mit physikalischen Sensoren ausgestattet ist. Gewiss, kein Physiologe zweifelt, dass ein Primat und ein Hund eine Innenwelt hat, in der sich Erlebnisse abspielen, die seinen eigenen irgendwie ähnlich sind. Der Forscher wird (hoffentlich) entsprechend einfühlsam und human zu Werke gehen. Aber wie ist dieses mutmaßliche Erleben nun wirklich? Und was erlebt ein ganz anders strukturiertes „niederes“ Tier? Wer weiß denn schon, ob eine Biene in einer inneren, subjektiven Erlebniswelt „sieht“, „Empfindungen“ hat, „wahrnimmt“, ob sie „leidet“ oder „Glück“ kennt? Vielleicht reagiert die Biene auch gänzlich empfindungslos und unbewusst wie ein Marschflugkörper, der mit Sensoren ausgestattet ist und selbsttätig ein Ziel ansteuert. Haben wir erst einmal einige elementare Erkenntnisse der Physiologie gewonnen, wissen wir, dass solche Gedanken keineswegs abwegig sind. Auch vieles, was in unserem eigenen Sinnes-Nerven-System geschieht, ist mit keinerlei Empfindung und keinerlei bewusstem Erleben verknüpft. Im Augenblick weiß niemand, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit subjektives Erleben entstehen kann. Wir wissen andererseits, dass das innere Erleben von externer Information ausgelöst werden kann und sich die physiologische Arbeitsweise unserer Sinnesorgane im Erleben widerspiegelt.
17.1.2 Sinnesmodalitäten und Sinnesqualitäten sind Empfindungsformen; aber keineswegs alle Sinnesorgane vermitteln eine Empfindung Wie viele Sinne gibt es? Die TV-Sendung „Der 7. Sinn“ geht wohl von der verbreiteten Vorstellung aus, es gäbe sechs „normale“ Sinne und appelliert an einen siebten, „instinktiven Sinn“, der durch die Sendung aktiviert und bewusst gemacht werden soll. Andererseits heißt es, dass man „seine fünf Sinne beisammen halten“ soll, d. h. dass man mit all sei-
nen Sinnen aufmerksam sein soll. Wie viele Sinne hat also der Mensch nach traditioneller Auffassung? ●
Sehen („Gesicht“)
●
Fühlen („Gefühl“, „Getast“)
●
Hören („Gehör“)
●
Schmecken („Geschmack“ in der alten Zweitbedeutung des Wortes)
●
Riechen („Geruch“, in der alten Zweitbedeutung des Wortes).
Man spricht von fünf (oder mehr?) Sinnesmodalitäten. Sehen ist eine andere Modalität des Erlebens als Hören. Innerhalb dieser Modalitäten unterscheidet die Humanphysiologie gemeinsam mit der Wahrnehmungspsychologie verschiedene Sinnesqualitäten. Innerhalb der Erlebniswelt des Sehens ist ROT eine andere Qualität als BLAU. Innerhalb der Modalität Hören ist ein tiefer Ton eine andere Qualität als ein hoher Ton. Diese Einteilungsprinzipien lassen sich nicht allzuschwer nachvollziehen. Aber was ist denn mit Wärme-, Kälte-, Schmerzempfindung? Was ist mit Hunger und Durst? Gibt es einen speziellen Berührungssinn, der sich vom Drucksinn unterscheidet? Gibt es einen Vibrationssinn? Was sind Dreh-, Kraft- und SchwereEmpfindung? Gibt es einen Sinn für die Lage des Körpers (horizontal versus vertikal) oder die Stellung seiner Glieder (abgewinkelt versus gestreckt)? Offenbar gibt es Wahrnehmungen, die relativ klar definierbar sind, aber auch Wahrnehmungen, die sich in undeutlichen Allgemeinempfindungen verlieren. Der Sinnesphysiologe kennt darüber hinaus viele Enterorezeptoren, die dem ZNS Zustände im Körperinneren mitteilen, ohne irgendwelche Empfindungen auszulösen. Für den Menschen gilt die Faustregel: ●
Exterorezeptoren, die Information aus der Umwelt aufnehmen, vermitteln mehr oder weniger deutliche Empfindungen. Je informationsreicher Sinne sind, desto deutlicher die empfundene und wahrgenommene Erlebniswelt.
●
Enterorezeptoren (Interorezeptoren, Endorezeptoren, enteroreceptive senses), die Information im Körperinneren sammeln, vermitteln keine Empfindungen. Solche Enterorezeptoren sind beispielseise die Blutdruckmesser und die Füh-
17.1 Von der Physik bis zur Psyche: Reiz, Erregung, Wahrnehmung
ler für den pO2 und den pCO2 des Blutes. Eine weitere Gruppe von Rezeptoren, die man in der Regel den Enterorezeptoren zuordnet, sind die ●
●
Propriorezeptoren. Sie vermelden, ob und wie stark unsere Muskeln gespannt und unsere Glieder angewinkelt sind. Da auch äußere Kräfte auf diese Rezeptoren wirken, nehmen sie eine Mittelstellung zwischen Enterorezeptoren und den Exterorezeptoren ein. Dieser funktionellen Mittelstellung entspricht eine nur schwach und undeutlich erfahrbare Wahrnehmung. Auch mit geschlossenen Augen spüre ich wohl, ob mein Arm gestreckt oder abgewinkelt ist. Dennoch wird mir das Gefühl hierfür in aller Regel nicht bewusst. Die Alltagssprache hat für dieses Gefühl keine besondere Modalität benannt und es wird allenfalls über „schwere“ Glieder oder die „Schwere einer Last“ geklagt. Der Sinn für Gewichte nimmt ebenso wie der Lage- oder Raumsinn eine Mittelstellung ein zwischen Exterorezeptoren und Enterorezeptoren. Schmerzrezeptoren nehmen eine Sonderstellung ein. Sie reagieren auf vielerlei Reize, die zu Verletzungen führen können oder Verletzungen anzeigen, und auf innere, bei Entzündungen freigesetzte Alarmsubstanzen. Dabei spielt es keine Rolle, woher solche Reize stammen. Ob Außen- oder Innenreiz: der Schmerz meldet sich aufdringlich mit seiner alarmierenden Erlebnisqualität.
In der Physiologie sind dies Begriffe wie Reiz, Erregung und Perzeption (Wahrnehmung) (Abb. 17.1). ●
Reiz ( stimulus) ist die Quelle einer Information, die Auskunft gibt über Zustände und Zustandsänderungen in der Außenwelt (Exterorezeptoren) oder in unserem Körper (Enterorezeptoren, Propriorezeptoren). Diese Informationsquelle kann eine physikalische Energie (Temperaturstrahlung, elektromagnetische Strahlung, kinetische Energie) sein oder eine chemische Substanz (die ihrerseits über elektromagnetische Kräfte wirkt).
●
Erregung ( excitation) ist die spezifische Reaktion der reizaufnehmenden Empfängerzelle, und zwar die Reaktion, die der Codierung und Weiterleitung der Information dient. In der Forschungspraxis meint Erregung zuallererst die elektrischen Potentialänderungen, die als charakteristische Reaktion der Zelle auf einen Reiz gemessen werden können. Der Biochemiker rechnet die damit assoziierten chemischen Prozesse zur Erregung mit dazu.
Aus dem Gesagten folgt, dass es im Nervensystem keine Reizleitung, sondern nur Erregungsleitung gibt, wenn man denn auf solche altehrwürdigen Begriffe nicht überhaupt verzichten will und stattdessen von Impulsleitung oder Signalleitung spricht. Reizleitung kann es in den Hilfsstrukturen von Sinnesorganen geben. Die Linse des Auges leitet den Reiz, das Licht, zu den Photorezeptoren. Im Zuge einer Reizleitung kann es zu einer Umformung eines Eingangreizes in einen Nutzreiz kommen. Im Ohr beispielsweise wird der Schallwechseldruck, der auf das Trommelfell trifft, im weiteren Verlauf der Reizübertragungsstrecke in eine laterale Abscherung der Mikrovilli der Hörzellen transformiert.
Je nachdem, wie fein man Unterscheidungen trifft und ob man auch noch ein Fachbuch der Physiologie befragt, wird man bald 30 oder mehr Sinne aufzählen können. Doch schon die bloße Selbstbeobachtung lehrt uns: Wer danach fragt, ob es einen 6. oder 7. Sinn gäbe, hat nie sich selbst gut beobachtet. ●
17.1.3 Die Begriffe „Reiz“ und „Erregung“ haben eine spezifisch physiologische Bedeutung Viele Begriffe der Wissenschaften, auch der Naturwissenschaften, entstammen der Erfahrung und der Erlebniswelt des Alltags, haben jedoch im Laufe der Zeit eine eigene, eingeschränkte und schärfer definierte Bedeutung gewonnen. In der Physik sind dies Begriffe wie Kraft, Energie, Impuls und Trägheit.
Rezeption ( reception) ist die Aufnahme einer Reizinformation durch einen Rezeptor – und damit beginnt ein terminologisches Verwirrspiel.
Ursprünglich meinte das Wort Rezeptor eine Sinneszelle. Und eine Sinneszelle kann weiterhin mit diesem Wort gemeint sein. Dann haben die Biochemiker und Molekularbiologen den Begriff übernommen, um jene Moleküle der Zellmembran zu benennen, die Liganden einfangen und an sich binden, beispielsweise ein Hormon oder einen Neurotransmitter. (Heute heißt schon jedes beliebige Molekül, das ein anderes bindet, Rezeptor.) So
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17 Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung Abb. 17.2. Codierung einer Reizintensität am Beispiel eines Photorezeptors eines Invertebraten, z. B. Insekts. AM = Amplitudenmodulation; FM = Frequenzmodulation, EPSP = exzitatorisches postsynaptisches Potential
Intensität
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AM
FM
AM
FM
0 mV -90 Rezeptorpotential (Generatorpotential)
kommt es bei chemischen Sinnesorganen vor, dass (molekularbiologische) Rezeptoren Duftstoffe als Liganden einfangen, worauf die (anatomischen) Rezeptoren Rezeptorpotentiale entwickeln. Um dem übermächtigen Druck der Molekularbiologen zu entgehen und eine unmissverständliche Sprache zu sprechen, benutzen die Sinnesphysiologen mehr und mehr den Terminus Sensor statt Rezeptor. Doch auch auf diesen Begriff nehmen Biophysiker, die Biosensoren entwickeln, schon wieder Zugriff (Biosensoren: Minimessgeräte, die molekularbiologische Rezeptoren mit elektronischen Prozessoren verbinden. Die Analogien zu Vorgängen im Sinnes- und Nervensystem sind allzu verführerisch. ●
●
●
Transduktion (transduction) sind die Vorgänge, die zur Codierung einer Reizinformation führen; diese Codierung besteht in einer Modulation des Membranpotentials (Abb. 17.2). Transduktion vollzieht sich innerhalb der Rezeptorzelle. Der Begriff Transduktion sollte nicht mit dem der Transmission verwechselt werden. Transmission (transmission) meint die Weitergabe der Information von der Rezeptorzelle an die nachgeschaltete Nervenzelle und weiter von Nervenzelle zu Nervenzelle (Abb. 17.2 u. 17.3). Transmission beruht auf synaptischer Übertragung von Erregung. Perzeption ( perception) schließt die Verarbeitung der von den Rezeptoren (Sensoren) aufgenommenen Information durch die nachgeordneten neuronalen Instanzen mit ein.
Aktionspotentiale (Impulse, Spikes)
EPSP
Impulse
17.1.4 Rezeptoren sind dank Filter und Verstärkungsmechanismen spezifisch auf adäquate Reize abgestimmt Rezeptoren im Sinne von Sinneszellen sind außerordentlich empfindlich auf ganz bestimmte Informationsquellen (Reizformen) abgestimmt. In rotlichtempfindlichen Zapfen der Netzhaut kann bisweilen schon ein einziges Photon eine messbare elektrische Reaktion hervorrufen. Ein Photon im Rotbereich hat eine Energie von 3 × 10−19 J und ist physikalisch der schwächste infrage kommende optische Reiz. Der durch die Membran des Zapfens flie-
Dendrit
Axon
Neurosensorische Zelle (Sinnes-Nerven-Zelle)
Primäre Sinneszelle
Sekundäre Sinneszelle
Synapse
Impuls-Initiation
Abb. 17.3. Codierungsfolge in den drei Grundtypen von Sinneszellen
17.1 Von der Physik bis zur Psyche: Reiz, Erregung, Wahrnehmung
ßende Strom hat eine Stärke von 5 × 10−14 J. Er trägt 1,7 × 105 mehr Energie als das auslösende Photon. Der Strom wird in diesem Falle von ATP-abhängigen Ionenpumpen getrieben. Sehen tut man da noch nichts. Wenn aber auch nur 5 bis 10 Photone eingefangen sind, kann das dunkeladaptierte Auge schon einen kurzen Lichtschimmer wahrnehmen. Für das Auffangen der Lichtquanten stehen mit dem Rhodopsin (s. Kap. 22) spezielle Moleküle zur Verfügung. Wenn ich nächtens andachtsvoll einen Blick zum Himmel richte und Sterne sehe, ist dies ein adäquater Reiz. Wenn ich hingegen Sterne sehe dank heftiger Energiezufuhr durch die Faust meines lieben Nachbarn, ist dies ein inadäquater Reiz. In diesem Fall, bei Zufuhr mechanischer Energie, sind höhere Energien zur Auslösung einer Sinnesempfindung nötig. Ein solcher Versuch, auch wenn er nur begrenzt Spaß macht, kann doch lehren, dass das Gesehene nur bedingt von der Physik des Reizes bestimmt ist.
17.1.5 Empfindungen und Wahrnehmungen entstehen autonom im Gehirn nach eigenen Gesetzen und festliegendem Schema der Datenauswertung Der Physiologe Johannes Müller (1801–1858), einer der Großen seiner Zeit, stellte das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien auf. Ein drastisches Gedankenexperiment seiner Nachfolger (Hermann Helmholtz) macht dieses Gesetz deutlich: Würde man den Sehnerv (Opticus) und den Hörnerv (Acusticus) durchtrennen und die Schnittenden beider Kabel kreuzweise vertauscht wieder zusammenfügen, würden wir den Blitz hören und den Donner sehen. Mit anderen Worten: die neuronalen Impulse, die das Gehirn erreichen, enthalten keine spezifische Information über die Natur des Reizes. Diese Information bezieht das Gehirn nach dem Prinzip der festliegenden Systeminformation daraus, durch welchen Kanal die Daten einlaufen. Alle Daten, die über den Opticus einlaufen und den visuellen Cortex erreichen, werden von vornherein als Information gewertet, die von elektromagnetischer Strahlung herrührt und vom Auge aufgenommen worden ist. Die Lichtempfindung als solche ist autonome Leistung der visuellen Zentren in der Gehirnrinde.
Wir wissen gegenwärtig nicht im Mindesten, ob das Gehirn eines Insekts eine vergleichbare Empfindung erzeugen kann. Der Tastsinn ist ein anderes lehrreiches Beispiel. Der Anatom und der Physiologe gliedert ihn auf in Abertausende winziger Rezeptoren, die unterschiedlich strukturiert sind und auf unterschiedliche Reizparameter ansprechen (s. Abschn. 17.4 und Abb. 17.6). Unser Gehirn generiert aus den vielfältigen Meldungen eine integrierende Erlebniswelt, in die fallweise sogar die Meldungen der Temperaturund der Schmerzrezeptoren mit einbezogen werden. So fühlen wir einen mollig weichen und warmen Pullover oder eine kantige, harte und kalte Eisenstange. Wir spüren jedoch nicht scharf voneinander getrennte, punktuelle Einzelreize, die sich einzelnen Rezeptoren zuordnen ließen. Die Tast „punkte“, die man mit einer Tastborste oder einer Nadel abtasten kann (s. Abb. 17.7) sind kleine rezeptive Felder, wo die Meldungen mehrerer Rezeptoren von Nervenzellen gebündelt und integriert werden. In der von unserem ZNS zusammengestellten Empfindungswelt verschmelzen auch diese Felder zu größeren Einheiten: Wir spüren den Bleistift zwischen den Fingerspitzen, fühlen die Fläche einer glatten Glasplatte oder eines weichen Tuches, und nicht ein Mosaik von Punkten.
17.1.6 In Sinnesorganen bringt die Kooperation der Zellen höhere Empfindlichkeit und erweitert den Arbeitsbereich Vielfach ist die Empfindlichkeit einzelner Sinneszellen derart gesteigert, dass bloße Zufallsstörungen, das Untergrundrauschen, schon Erregungen verursachen können. Um nicht durch solches Rauschen getäuscht zu werden, können Sinneszellen und die ihnen nachgeschalteten Neurone kooperieren. Zufallsereignisse werden nicht allzu häufig in zwei oder mehr Sinneszellen exakt im gleichen Augenblick das Feuern eines Aktionspotentials verursachen. Die nachgeschalteten Neurone nehmen nach dem Koinzidenzprinzip nur Signale ernst, die von zwei oder mehr Sinneszellen gleichzeitig einlaufen. Physiologische Basis einer solchen Koinzidenzschaltung ist das Summationsprinzip an Synapsen: Nur simultan von zwei Senderzellen einlaufende
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17 Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung
Aktionspotentiale erzeugen in der Empfängerzelle eine postsynaptische Depolarisation, die groß genug ist, die Empfängerzelle ihrerseits zum Feuern zu bewegen (s. Kap. 15). Sind mehrere Rezeptorzellen da, kann man den Bereich optimaler Empfindlichkeit der einzelnen Zellen unterschiedlich machen und so den Arbeitsbereich des Gesamtorgans erweitern. Wir werden sehen, dass erst dieses Prinzip der Kooperation bei gleichzeitiger Arbeitsteilung eine Unterscheidung von Tonhöhen und Farben ermöglicht. 17.1.7 Mit einer Vielzahl flächig verteilter Rezeptoren ist eine räumliche Abbildung der äußeren Reizquellen möglich Dies ist vom Auge her bekannt, wo ein dicht mit Rezeptoren besetztes Feld, die Netzhaut (Retina), die Umwelt nach optischen Merkmalen – Intensität (und Wellenlänge) des ausgesandten Lichtes – „abtastet“, um dem Gehirn die Daten zur Konstruktion eines (Farb-)Bildes zu liefern. Mit der Wahl des Wortes „abtasten“ sollte zugleich darauf hingewiesen werden, dass auch andere Sinnessysteme eine Abbildung ermöglichen. Für den Blinden ist das ertastete oder erlauschte Abbild der Umwelt von besonderer Bedeutung. All solche Sinnesleistungen sind nur möglich, weil die Meldungen vieler Rezeptoren konvergent im ZNS zusammenlaufen und miteinander verglichen und verrechnet werden können.
17.2 Prinzipien der Codierung 17.2.1 Erst die Umcodierung der Reizinformation in die Einheitssprache des Nervensystems erlaubt uneingeschränkten Datenvergleich Würde sich ein Organismus auf eine einzige Reizquelle konzentrieren, entginge ihm viel. Physikalisch einheitliche Reize wären wenig informativ. So haben sich alle tierischen Organismen mehrere Informationsquellen erschlossen, z. B. Licht, chemische Substanzen oder mechanische Berührung. Wie sollte
man aber die Meldung eines Photorezeptors, der auf Blaulicht spezialisiert ist, mit der Meldung des Rotlichtrezeptors in Beziehung bringen, wie das Gesehene mit dem Erfühlten, das Gehörte mit der Quelle eines Geruches, gäbe es nicht die Einheitssprache des Nervensystems. Diese Einheitssprache verwendet zur Codierung und Weitergabe von Information elektrische Signale und chemische Transmitter.
17.2.2 Transduktion bedeutet Modulation eines Rezeptoroder Generatorpotentials über das Öffnen oder Schließen von Ionen-Transduktionskanälen Als erste Reaktionen einer Sinneszelle auf ein empfangenes Reizsignal wird in der Forschungspraxis in aller Regel eine Änderung des Membranpotentials gemessen, nicht weil zuvor nicht schon Anderes geschähe, sondern weil die Gerätschaften der Elektrophysiologie auch extrem rasche Vorgänge erfassen können. Der Elektrophysiologe sieht auf dem Bildschirm ●
ein Rezeptorpotential, das kurz nach Reizeingang als vorübergehende Auslenkung der −80 mV Linie zu registrieren ist (Abb. 17.2), oder
●
ein Generatorpotential; in diesem Fall feuert die Sinneszelle schon vor dem Eintreffen des Reizes unablässig mit mittlerem Tempo Spikes, welche aus einer Basislinie emporschießen. Eine reizbedingte Modulation der Basislinie hat eine Modulation der Sendefrequenz zur Folge (s. Abb. 17.5 unten). Manche Autoren nennen in diesem Fall die Modulation der Basislinie nicht Rezeptorpotential, sondern Generatorpotential (andere Autoren treffen eine solche Unterscheidung nicht).
Die Vorgänge, die zur Modulation des Membranpotentials führen, sind schwierig zu analysieren. Oftmals werden Pharmaka eingesetzt, um einzelne Teilprozesse zu blockieren (Antagonisten) oder ohne Einwirkung des natürlichen Reizes auszulösen (Agonisten). Wir gehen nicht weiter auf Technisches ein, sondern fassen die wichtigsten Ergebnisse zusammen: Die Transduktion beginnt im sensorischen Areal der Zellmembran, wo durch den Reiz besondere Ionenkanäle (Transduktionskanäle) geöffnet werden.
17.2 Prinzipien der Codierung ●
Manchmal werden diese Kanäle direkt über die Reizenergie in ihrem Öffnungszustand moduliert. So findet man in Mechanorezeptoren Ionenkanäle, die direkt durch Dehnung der Zellmembran geöffnet werden (Abb. 17.4).
●
In anderen Fällen, so bei Chemorezeptoren und Photorezeptoren, sind membranständige Rezep-
tormoleküle das Eingangselement. Diese Rezeptormoleküle könnten direkt Liganden-gesteuerte Ionenkanäle sein (wie die Acetylcholin-Rezeptoren der neuromuskulären Synapse und die H+gesteuerten Transduktionskanäle in Rezeptoren für Sauergeschmack). ●
In der Mehrzahl der Fälle dürften jedoch Signaltransduktions-Kaskaden (s. Kap. 12) an das Rezeptormolekül angekoppelt sein. Denn solche Transduktionssysteme schließen Prozesse der Signalverstärkung mit ein. Wir begegnen solchen Prozessen in den Chemorezeptoren und den Photorezeptoren unseres Auges.
Die Transduktionskanäle, die der Modulation des Rezeptorpotentials dienen, sind nicht die spannungsgesteuerten Natrium-Kanäle der Nerven- oder Muskelfaser. Was wir zuerst mit unseren elektrophysiologischen Apparaturen registrieren, sind auch nicht die gut registrierbaren Aktionspotentiale, sondern schwache, in ihrer Amplitude schwankende Änderungen der lokalen elektrischen Membranspannung. Auch werden manchmal, so in den Zapfen des Auges, durch den Reiz nicht Kanäle geöffnet, sondern geschlossen. Auf jeden Fall kommt es zu einer Modulation der elektrischen Spannung zwischen der Außenseite und der Innenseite der Zellmembran (Depolarisation oder Hyperpolarisation).
17.2.3 Primär wird die Reizintensität in einer Amplitudenmodulation des Rezeptorpotentials codiert – AM-Codierung; zur Fernleitung wird auf FM umgeschaltet
Abb. 17.4. Signaltransduktion (Primärreaktion). Zwei Beispiele
Jeder kennt von seinem Rundfunkempfänger die Kürzel AM und FM, zwischen denen man umschaltet, wenn man von MW auf UKW wechseln will. Die gleichen Kürzel mit der gleichen Wortbedeutung (AM = Amplitudenmodulation; FM = Frequenzmodulation) kommen jetzt ins Spiel, wenn es darum geht, in einer Sinneszelle die Intensität und den Zeitverlauf eines Reizes zu codieren (Abb. 17.2 u. 17.3). Mit gleicher Bedeutung und zur Kennzeichnung gleicher zellphysiologischer Vorgänge waren die Begriffe AM und FM auch für die Informations-
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410
17 Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung
codierung in einer postsynaptischen Zelle gebraucht worden (s. Kap. 15). Das Gehirn braucht, wie eben diskutiert, keine besonderen, spezifischen Signale, die ihm mitteilen müssten, ob Licht oder Schall oder ein Duftstoff von einem Sinnesorgan eingefangen worden und als Quelle von Information genutzt worden ist. Diese Basisinformation ergibt sich schon daraus, welches Kabel elektrische Impulse liefert. Im Mindestfall muss das ZNS aber wissen, in welchem Moment ein Reiz auftritt, wie stark er ist und wie sich die Reizintensität im Laufe der Zeit ändert. Die Amplitude des Rezeptorpotentials (– zum richtigen Verständnis empfiehlt es sich dringend, erst den Text in Box 14.1 zu lesen –) spiegelt die Intensität und den Verlauf des Reizes wider. Das Rezeptorpotential (oder Generatorpotential) ●
●
●
ist langanhaltend und kann die Dauer der Reizwirkung widerspiegeln;
17.2.4 Sensoren lassen sich nach der Art, wie sie den zeitlichen Verlauf eines Reizes codieren, in (mindestens) vier Klassen einteilen: P-, D-, PD-Rezeptoren und Rezeptoren mit modulierbarer Daueraktivität Man appliziert einen Reiz in genau gemessener Stärke. Von Versuch zu Versuch werden die Reizintensität, die Geschwindigkeit des Intensitätsanstiegs und die Dauer der Einwirkung variiert. Was dabei als I Reiz
t
A
Proportional-Transducer A
Geschwindigkeit
folgt nicht dem Alles-oder-Nichts-Prinzip sondern ist graduierbar; seine Amplitude kann die Reizintensität (oder die Geschwindigkeit der Intensitätsänderung) widerspiegeln; breitet sich je nach seiner Höhe verschieden weit aus, bis schließlich jene Membranabschnitte erreicht werden, wo Aktionspotentiale losgefeuert oder Transmitter freigesetzt werden können.
Geht es dann auf die Fernleitungsbahn, so wird auf die frequenzmodulierten Aktionspotentiale umgeschaltet (Abb. 17.2). FM-Modulation ist bei Fernleitungsstrecken weniger störanfällig. Vor allem aber verläuft die Signalübermittlung mit Aktionspotentialen ohne jede Abschwächung des Signals entlang der Übertragungsstrecke, und so können beliebig weit entfernte Zielzellen erreicht werden. Wo die Umschaltung von AM auf FM aktuell geschieht, ist bei neurosensorischen Zellen (synonym: Nerven-Sinnes-Zellen), freie Nervenendigungen, primären Sinneszellen und sekundären Sinneszellen verschieden. Bei sekundären Sinneszellen ist zwischen AM und FM eine synaptische Übertragung zwischengeschaltet (Abb. 17.3).
dI dt 2
Beschleunigung
Differential-Transducer
δ I δ t2
A
Differential-Proportional
I
Bidirektionaler Reiz
A
Modulierte Spontanaktivität
Abb. 17.5. Eingangs-Ausgangs-Beziehungen bei verschiedenen Rezeptoren. I = Intensität; A = Amplitude des Rezeptorpotentials. x-Achse: Zeit. Statt des Begriffs „Differential-“ ist auch der Begriff „phasisch“, statt „Proportional-“ der Begriff „tonisch“ in Gebrauch
17.2 Prinzipien der Codierung
Reizintensität (=Reizstärke) definiert werden kann, ist von Reizart zu Reizart verschieden. Man registriert das Membranpotential in der Sensorzelle, oder falls dies nicht möglich sein sollte, die Frequenz der Aktionspotentiale irgendwo entlang der nachgeschalteten Fernleitungsstrecke. Man analysiert das Muster der Entladungen ( discharge pattern) und die quantitativen input-output-Beziehungen (Abb. 17.5). 1. Proportionalempfänger (P-Transducer, tonische Rezeptoren, non adapting). Sie geben an ihrem Ausgang eine Antwort heraus (Amplitude des Rezeptorpotentials und/oder Frequenz der fortgeleiteten Aktionspotentiale), die der Reizstärke proportional ist. Ein solches Verhalten ist selten. Es wird bei manchen Enterorozeptoren und Propriorezeptoren registriert, die Fühler in Regelkreisen sind. 2. Differential(quotienten)-Empfänger (D-Transducer, phasischeRezeptoren, rapidly adapting). Sie reagieren nur auf eine Änderung der Reizintensität, auf ihren Anstieg (On-Empfänger) oder auf den Abfall der Intensität (Off-Empfänger). Die Reaktion des Empfängers ist umso stärker, je rascher die Reizintensität ansteigt oder abfällt. Aber die Reaktion ist nur kurz. In der Fachsprache adaptiert der Rezeptor rasch. Die internationale Fachwelt spricht von rapidly adapting novelty detectors. Bei genauer Analyse der Input-output-Beziehungen findet man Rezeptoren, welche auf die ● Geschwindigkeit dI/dt der Reizänderung reagieren (also die erste Ableitung der Intensität nach der Zeit vornehmen) und solche, die die zweite Ableitung vornehmen, d. h. die auf die Registrierung von ● Beschleunigung d2I/dt2 spezialisiert sind.
Beispiele für phasisch arbeitende Rezeptoren finden sich in der Gruppe der Rezeptoren, die innerhalb der Sinnesmodalität Tastsinn Berührung signalisieren. Eine Berührungsempfindung schwächt sich, im Gegensatz zur Druckempfindung, sehr rasch ab. Bald spürt man die locker aufliegende Kleidung oder den Kugelschreiber in der Hand nicht mehr. Doch auch nimmermüde Vibrationsempfänger (die Vater-Pacinischen-Körperchen, Abb. 17.6 u. 17.7) in unserer Unterhaut, mit denen wir die Vibrationen einer Cellosaite erspüren, gehören in diese Kategorie.
3. Proportional-Differential-Empfänger (phasischtonische Rezeptoren). Im ersten überschießenden Auftaktteil des Rezeptorpotentials (oder in der Anfangsfrequenz der Aktionspotentiale) spiegelt sich die plötzliche Änderung der Reizintensität wider. Je plötzlicher der Reiz auf den Rezeptor zukommt, desto heftiger die Anfangsreaktion des Rezeptors. Dann beruhigt er sich; er adaptiert, kommt aber nicht voll zur Ruhe, solange der Reiz anhält. Das dem Anfangspeak folgende Plateau ist die Proportional-Antwort, welche die momentan herrschende Reizintensität widerspiegelt. Ein PD-Verhalten wird bei den meisten Rezeptoren registriert – bei den Druckrezeptoren des Tastsinnes ebenso wie bei den Längenmessern des Muskels (Muskelspindeln) oder den Photorezeptoren (Stäbchen, Zapfen) des Auges. 4. Modulierte Spontanfrequenz (modulierte Daueraktivität). Rezeptoren dieses Typs finden wir beispielsweise bei Mechanorezeptoren (Neuromasten, „Haar“-Sinneszellen), die im Labyrinth des Innenohrs registrieren, ob wir kippen oder uns drehen. Das „Anwerfen“ einer Sinnesfunktion braucht wie das Anwerfen eines Motors Zeit. Rezeptoren mit Spontanfrequenz warten gewissermaßen mit laufendem Motor auf den externen Reiz. Auch wenn die Umwelt stumm ist und kein Lüftchen weht, sendet das ableitende Axon ständig im Standby mit mittlerer Frequenz Impulse ins ZNS. Registriert die Rezeptorzelle eine externe Kraft, erhöht oder senkt sie ihre Sendefrequenz. Aus dieser ständigen Bereitschaft zur unverzüglichen Modulation der Basisfrequenz resultieren zwei Vorteile: (1) Schon geringste Reizeinwirkungen können registriert werden und zwar unverzüglich, und (2) die Rezeptoren können auf Reize, die von entgegengesetzten Richtungen einwirken, entgegengesetzt reagieren. Auf Kräfte von links reagiert man mit Senken der Frequenz, auf Kräfte von rechts mit Heben. Die Rezeptoren erhalten eine Richtcharakteristik. Modulation der Spontanfrequenz hat keine Reizschwelle zu überwinden; doch gibt es bei periodischen Reizen, z. B. bei Vibrationen, Best-Frequenzen, auf welche die Rezeptoren mit höchster Empfindlichkeit reagieren. Dabei
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17 Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung
Haarlose Haut, Finger, Lippen Hautrippe Rille
Merkel-Scheiben mit Merkelzelle DP-Typ, langsam adapt.: Druck, Form, Textur, Oberflächeneigenschaften
Ruffini-Körper HaarfollikelDP-Typ Sensoren Vater-Pacini- Meissner- langsam DP-Typ adaptierend Körper Körper Hautspannung, D-Typ D-Typ Hautverschiebung schnell reagierend und adaptierend empfindlich: Berührung, Vibrationen, Bewegungen
Warm- Schmerz KaltRezeptor Rezeptor DP-Typ
DP-Typ
P-Typ
Temperatur-Sinn
Tast-Sinn
Abb. 17.6. Hautsinne. Sensortypen in unserer Haut, die „den Hautsinn“ vermitteln mit Tastsinn (Berührungs-, Druck-, Vibrations-Sinn), mit Temperatursinn (Warm-, Kalt-Sinn) und mit dem Schmerzsinn. P-Typ = Proportional-Fühler; D-Typ = Differential (quotienten)-Fühler; DP-Typ = Differential-Proportional-Fühler
werden schier unvorstellbare Empfindlichkeiten erreicht. Sowohl bei Mechanosensoren der Wirbeltiere wie auch bei Mechanorezeptoren der Arthropoden kann es genügen, wenn die reizaufnehmende Struktur um den Durchmesser eines Atoms ausgelenkt wird. Beispiele für alle aufgelisteten Sensortypen finden wir unter den mechanischen Hautsinnen (Tastsinn, tactile senses). Es sind neurosensorische Zellen (oder Gruppen solcher Zellen), die verstreut in die Unterhaut eingebettet sind und deren dendritische Fasern empfindlich auf mechanische Verformung reagieren. Hilfsstrukturen sorgen bei einigen Typen von Mechanorezeptoren dafür, dass sie auf Verformung unterschiedlich reagieren und die Antworten der (schwer zu ortenden) Rezeptoren unterschiedlich ausfallen (Abb. 17.6).
17.2.5 Arbeitsbereich und Unterschiedsempfindlichkeit der Sensoren werden durch Kennlinien charakterisiert Wir wissen oder vermuten es, dass viele Sensoren extrem empfindlich reagieren. Aber nicht alle. Mit den Lippen fühle ich leiseste Berührungen und geringste Temperaturdifferenzen. Ich sehe im grellen Sonnenlicht und im schwachen Mondlicht und ahne, dass die Helligkeiten um Größenordnungen unterschiedlich sind (ca. 1:109). Soll ich hingegen die Schwere zweier Gewichte vergleichen, komme ich nur zu recht groben Abschätzungen und der überhaupt prüfbare Bereich ist gering. Aus eigener Erfahrung wissen wir aber auch, dass selbst empfindliche Sensoren unzuverlässig sind, wenn es darum geht, absolute Werte
17.2 Prinzipien der Codierung
Tast"punkte" = kleine rezeptive Felder
Differenzverstärker
mV
0 schwingender Kristall -70 t
Hüllzellen
sensitive Nervenendigung
Vater-Pacini-Körperchen
Ranvier’scheSchnürring
Abb. 17.7. „Subjektive“ versus „objektive“ Untersuchungsmethode. Im obigen Beispiel wird nach der Empfindung gefragt (ein Berührungspunkt, oder zwei getrennte Punkte, oder gar keiner?), im unteren Beispiel werden die elektrischen Antworten registriert
für Reizparameter abzuschätzen. Wir können in Vergleichsprüfungen Tausende von Tönen voneinander unterscheiden; doch wer hat schon ein absolutes Gehör? Wir nehmen uns verschiedene Sinne vor und messen, bei welcher Reizintensität ein Sensor gerade messbar anspricht (Auslöseschwelle) und verfolgen dann den Output bei steigender Reizintensität. Wir messen alsdann bei verschiedenen überschwelligen Reizintensitäten, um wie viel ein gebotener Reiz gesteigert werden muss, um gerade eine statistisch signifikante Erhöhung der Empfindungsstärke zu registrieren oder das Tier zu einer Änderung seines Verhaltens zu bewegen (UnterscheidbarkeitsSchwelle oder Unterschieds-Empfindlichkeit). Wenn möglich, registriert der Physiologe gleichzeitig das Rezeptorpotential des Sensors oder die Sendefrequenz entlang der Signalübertragungsstrecke. Der Einfachheit halber greifen wir P- oder PD-Re-
zeptoren (PD-Rezeptoren gibt’s genug) heraus und wählen standardisierte „Rechteck“- oder „Trapez“Reize, sodass unterschiedliche Anstiegssteilheiten keine Rolle spielen. Ob wir nun die Höhe des Anfangspeaks oder des folgenden (tonischen) Plateaus auswerten, wir finden drei Möglichkeiten, wie Sinnesorgane reagieren können: 1. Lineare Kennlinie. Wir können sie vereinzelt bei Enterorezeptoren registrieren, die P-Transducer sind. Proportionalempfänger haben einen geringen Arbeitsbereich. Das ist im Körperinneren, wo die zu messenden Parameter (Regelgrößen) nur geringfügig schwanken, durchaus tragbar. Der Vorteil eines P-Empfängers ist, dass er mit absolut gleicher, feiner Unterschiedsempfindlichkeit anspricht, ob sich die Regelgröße im unteren oder oberen Messbereich bewegt (gleichbleibende absolute Unterschiedsempfindlichkeit).
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414
17 Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung
2. Logarithmische Kennlinie. Der Rezeptor spricht vielfach schon bei geringster Reizintensität an (tiefe Auslöseschwelle). Im unteren Messbereich ist auch die Unterschiedsempfindlichkeit noch exzellent. Je höher aber beispielsweise die Lichtintensität wird, desto schlechter wird das Unterscheidungsvermögen. Bei hellem Licht muss ich schon viel an Intensität zugeben, um noch einen Unterschied zu bemerken. Bei der mathematischen Analyse findet man, dass die relative (prozentuale) Unterschiedsempfindlichkeit durchaus konstant sein kann. Nur sind halt 10% von 106 absolut mehr als 10% von 102 (z. B. Einheiten der Photonenstromdichte). Vorteil der logarithmischen Kennlinie: großer Arbeitsbereich. Das Auge kann bei weißem Licht einen Intensitätsbereich von 109 überstreichen. Das menschliche Gehör kann Laute wahrnehmen und unterscheiden, die alle zusammen einen Intensitätsbereich von 1012 abdecken. Logarithmische Kennlinien sind charakteristisch für Exterorezeptoren.
3. Potenzfunktion. Die Sendefrequenz des Rezeptors F ist proportional der Reizintensität In; oder die Unterscheidbarkeit ist eine Funktion der Intensitätsdifferenz ΔIn. Eine logarithmische Kennlinie im strengen Sinn liegt vor, wenn man eine Gerade erhält, sofern man die x-Achse (Abszisse) zum Auftragen der Reizintensität logarithmisch einteilt (erkennbar daran, dass die Zehnerpotenzen gleiche Abstände haben); die y-Achse (Ordinate) hingegen, welche die Amplitude des Rezeptorpotentials oder die Frequenz der fortgeleiteten Aktionspotentiale wiedergibt, linear skaliert. Manchmal genügt eine solche Auftragsweise (Plot) nicht, um zu der gewünschten Geraden zu kommen (gewünscht, um beispielsweise Unterscheidbarkeitsschwellen ohne mathematische Nachbehandlung vergleichen zu können). In solchen Fällen wird man oftmals zu der gewünschten Geraden gelangen, wenn man sowohl die x-Achse als auch die y-Achse logarithmisch skaliert. In einem solchen Graphen wird auch eine Potenzfunktion zur Geraden.
17.3 Psychophysische Korrelate 17.3.1 Beispiel Temperatursinn: wie sich die Arbeitsweise von Rezeptoren im subjektiven Erleben widerspiegelt Physikalisch hat die Temperatur eine lineare Skala. In unserem Empfinden aber gibt es eine Disjunktion: Ein Gegenstand kann sich kalt oder warm anfühlen – bei gleicher physikalischer Temperatur. Man fasse bei Zimmertemperatur abwechselnd einen Gegenstand aus Metall und einen aus Holz an. Der eine fühlt sich kalt an, der andere warm. Beide
40oC
20oC "kalt" "heiß"
30oC
Wärme-Zufuhr
Wärme-Entzug
Impulsfrequenz
40o
Warmrezeptor
30o 20o 10o 0o 0 Wärme-Entzug
Es lohnte sich kaum, auf solche Feinheiten einzugehen, gäbe es zu all diesen Plots und Kurven nicht psychische Korrelate.
Impulsfrequenz Kaltrezeptor
Wärme-Zufuhr 10o 20o
0
30o 40o
Abb. 17.8. Weberscher Dreischalen-Versuch. Vergleich der subjektiven Empfindung mit den elektrischen Antworten der (separat untersuchten) Temperaturrezeptoren
415
17.3 Psychophysische Korrelate
Gegenstände waren lange genug im Raum, um die Raumtemperatur anzunehmen. Der Thermometer bestätigt dies. In der heißen Sonne hingegen sind die relativen Empfindungen vertauscht: Eisen fühlt sich heißer an als Holz gleicher Temperatur. Die Gegenstände unterscheiden sich in ihrer Wärmeleitfähigkeit. Bei der üblichen Raumtemperatur ist unsere Haut wärmer als das berührte Eisen. Bei Raumtemperatur entzieht Metall der Haut Wärmeenergie rasch und in großer Menge, das Holz nicht. Eisen über 40°C hingegen leitet Wärme auf die Haut ab. ●
Wärme-Entzug aktiviert Kaltrezeptoren,
●
Wärme-Zufuhr aktiviert Warmrezeptoren.
Beide Rezeptortypen sind freie Nervenendigungen, das heißt sensorische Neurone, deren verzweigte dendritische Strukturen (in noch nicht bekannter Weise) auf den Abfluss oder Zufluss von Wärme ansprechen. Beide Typen reagieren als PD-Empfänger aber in gegensinniger Weise (Abb. 17.8). Man halte eine Hand in Wasser von 20°C, die andere in Wasser von 40°C. Nach einiger Zeit der Adaptation empfindet man die Unterschiede nicht mehr gar so krass. Jetzt werden beide Hände in das gleiche 30°C warme Wasser gesteckt. Die kaltadaptierte Hand schreit „heiß“, die warmadaptierte
fröstelt „kalt“ – überschießende Reaktionen. Erst nach einigen Minuten der Neuadaptation sind beide Hände gleicher Meinung. Freilich muss gesagt werden, dass bei solchen Versuchen nicht nur die Reaktion der Rezeptoren, sondern auch eine zentralnervöse Adaptation im Spiele ist. 17.3.2 Auch Empfindungen lassen sich bisweilen recht gut quantifizieren Obzwar der Physiologe psychisches Erleben nicht zu seinem Forschungsbereich zählt, beobachtet er doch mit Interesse, was der Psychologe zu sagen hat. Oder der Physiologe kooperiert mit dem Psychologen. Oder er wird selbst zum Wahrnehmungspsychologen. Wie sollte er sonst wissen, wozu beispielsweise ein Vater-Pacinisches-Körperchen (s. Abb. 17.7) gut ist? Pioniere eines Brückenschlages zwischen Physiologie und Psychologie waren die Psychophysiker E.H. Weber (1795–1878), G.T. Fechner (1801–1887) und S.S. Stevens (20. Jahrhundert). Zwar sind Empfindung und Erleben nicht direkt messbar. Dennoch lässt sich aus dem Vergleich von Empfindungen manche quantitative Aussage ableiten: Sind diese beiden Gewichte gleich schwer
BOX 17.1
Die Anfänge der Psychophysik Weber vermerkte 1834, dass bei kleinen Gewichten kleine absolute Unterschiede wahrnehmbar sind; bei schweren Gewichten müssen die absoluten Unterschiede größer sein, um noch bemerkt werden zu können. Die relativen (prozentualen) Unterschiedsempfindlichkeiten sind, jedenfalls in einem mittleren Gewichtsbereich, jedoch konstant (Weber-Gesetz): I = konstant; bzw. I = k × I0 ; I0
wobei I0 das Ausgangsgewicht ist, ΔI der eben noch wahrnehmbare Gewichtsunterschied und k eine Konstante.
Fechner verallgemeinert, formuliert etwas um, bringt den Logarithmus ins Spiel und spricht von „Empfindungsstärke Ψ“ (Weber-FechnerGesetz): ψ = k × log
I (mit k = Konstante); I0
Dieser Zusammenhang bedeutet, dass die in einem psychophysischen Versuch festgestellte Empfindungsstärke Ψ sich logarithmisch (also nicht linear) ändert, wenn die Reizintensität I über die Intensität an der Wahrnehmungsschwelle I0 erhöht wird. Stevens findet oftmals Zusammenhänge, die im Graphen eine Gerade liefern, nicht wenn die Abszisse logarithmisch (gleichbleibende Basis,
7
17 Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung
BOX 17.1 (Fortsetzung)
wachsender Exponent), sondern exponentiell (wachsende Basis, gleichbleibender Exponent) skaliert wird. Er formuliert eine Stevensche Potenzfunktion
solcher doppeltlogarithmischer Plot liefert (im Idealfall) stets Geraden:
ψ = k × (I − I0 )n
Diese Formulierung hat den Vorteil, dass auch logarithmische und lineare Kennlinien in dieser Weise formuliert und in einem gemeinsamen Graphen dargestellt werden können. Der Exponent 1 gibt einen linearen Zusammenhang wieder (Abb. 17.9).
Logarithmiert man diese Beziehung, so ist man auch schon beim Plot mit logarithmisch skalierter x- und logarithmisch skalierter y-Achse. Ein
log ψ = log k + n × log (I − I0 )
Logarithmische Kennlinie oder Potenzfunktion im linearen Plot
Lineare Kennlinie 3
Unterscheidbarkeitsschwellen 2
1
Frequenz Aktionspotentiale, oder Empfindungsstärke
1
2
3
4
5
7
6
8
9
m
=
1
är
t
ch
i ew
G
lte
Kä
nn
3
e
ne
ar
e
Ke
10
3
lin
ie n
Logarithmische Kennline
W
11
10
Potenzfunktionen
Li
416
100
2
102
1
10
1 5 10
50 102 500 103
104
Reizstärke in geeigneten Einheiten
10
Ton
igk Hell
101 50 102 500 103
104
0 100
eit w
Hz n =
eiß
0,6
0,33 n= icht es L
105
106
Reizstärke in geeigneten Einheiten
Abb. 17.9. Kennlinien Darstellung quantitativer Reiz-Erregungs-Beziehungen durch „Kennlinien“: Rezeptorantworten bzw. Empfindungsstärke als Funktion der Reizstärke
17.4 Somatosensorik: die durch Mechano-, Thermo- und Nozirezeptoren der Haut vermittelte Sensibilität
oder ist eines schwerer als das andere? Welches ist schwerer? Wie groß muss der Unterschied sein, um gerade noch mit statistisch signifikant richtigen Aussagen als schwerer oder leichter erkannt zu werden? Welche Fläche ist heller, welcher Ton lauter? Solche Fragen wiederholt mehreren Probanden gestellt, liefern Daten, deren relativ geringe Streubreite der Qualität mancher physiologischen Messungen durchaus gleichkommt. Das entsprechende Fachgebiet heißt Psychophysik (Box 17.1) oder wird als Teilgebiet der Wahrnehmungs-Psychologie betrachtet.
17.4 Somatosensorik: die durch Mechano-, Thermo- und Nozirezeptoren der Haut vermittelte Sensibilität unseres Körpers Die Haut ist das flächenmäßig größte Sinnesorgan. Eine Besonderheit des „Hautsinnes“, in der Physiologie als Somatosensorik bezeichnet, ist es, dass hier viele, verschieden spezialisierte Mechanosensoren mit Thermosensoren und Schmerzrezeptoren (Nozirezeptoren, Nozizeptoren) zusammen zu einer funktionellen Einheit zusammengefasst sind. Dies ermöglicht uns, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen, den Ort eines Körperkontaktes zu ermitteln und wichtige physikalische Eigenschaften eines berührten Gegenstandes in Erfahrung zu bringen.
17.4.1 Die Mechanosensoren der Haut sind in zwei Schichten angeordnet; sie ermöglichen feinfühliges Tasten oder die Wahrnehmung großflächiger Drücke und von Vibrationen Ein Finger möchte feinste Rauigkeiten ertasten und muss mit geringen Reizenergien zurecht kommen. Ein harter Stoß überträgt große Reizenergien und soll warnen. Die Sensoren für feines Tasten liegen in einer oberflächlichen Schicht, die für Drücke in einer tiefen Schicht der Dermis. Beide Schichten enthalten D- und PD-Sensoren (Abb. 17.6).
●
In der oberen für Berührungsreize spezialisierten Hautschicht ermöglichen die Meissner- und Merkel-Körper das feinfühlige Erkennen von Eigenschaften berührter Körper wie Glätte oder Rauigkeit, Weichheit oder Härte. Auch registrieren sie langsame Druckschwankungen zwischen 0,3 und 3 Hz.
●
In der tieferen Schicht reagieren die RuffiniKörper ( Ruffini corpuscles) auf Verspannungen der Haut (was zur Wahrnehmung von Härte beiträgt), während die
●
Vater-Pacini-Körper ( Pacinian corpuscles) Stöße und Vibrationen, beispielsweise eines in unserer Hand zappelnden Frosches, einer Cellosaite, des Fahrzeugmotors oder der abgefahrenen Autoreifen registrieren. Sie haben sich auf Vibrationen zwischen 40 und 1000 Hz spezialisiert. Die vergleichsweise großen, bis zu 4 mm langen Sinnesorgane sind nicht nur in die Unterhaut eingestreut, sondern registrieren auch in Sehnen und Muskeln örtliche Vibrationen.
Unsere Fingerbeeren, neben Lippen und Zunge besonders für differenziertes Wahrnehmen von Objekteigenschaften begabt, sind pro cm2 mit ca. 1500 Meissner-Körper, 750 Merkel-Apparaten, und 75 Pacini- und Ruffini-Körper ausgestattet. Schließlich sind auch viele unserer Haare Teil des Berührungssinnes. Man streichle sacht über Haare (z. B. des Unterarms), ohne die Haut zu berühren. Was kann der Tastsinn in seiner Gesamtheit nicht alles leisten! Wir erfassen mit unseren Händen Form und Größe eines Gegenstandes, seine Härte oder Weichheit, die Textur seiner Oberfläche, ob er glitschig ist oder rau, seine Bewegungen. Allein durch Tasten können wir nachts den Zipfel der Bettdecke, den Wecker oder den Lichtschalter erkennen.
17.4.2 Auch Thermosensoren und Schmerzrezeptoren tragen zum Erkennen von Objekten bei Die Mechanorezeptoren der Haut sind vergesellschaftet mit Schmerz- und Temperaturrezeptoren (s. Abb. 17.6), die sich anatomisch kaum von Dehnungsrezeptoren unterscheiden. Sie tragen zum
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418
17 Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung
erlebten Gesamteindruck bei: Der Pullover ist mollig weich und warm; die Herdplatte hart und kühl – oder schmerzhaft heiß; die Eisfläche ist bei 0°C glitschig, nass und kalt. Wer wäre sich dessen bewusst, dass unser mentales Ich Meldungen von Hunderten verschiedener Sensoren integriert, um es uns Sehenden, und noch mehr dem Blinden, zu ermöglichen, im Dunkeln tappend doch ein nützliches, wenn auch unzureichendes Abbild der Umwelt zu verschaffen. Auch Nässe ist etwas, was unsere mentale Somatosensorik erzeugt. Wer bringt Nässe schon mit unserem Hautsinn und zugehörigen Gehirnfunktionen in Beziehung? Für uns ist, meinen wir, Nässe doch eine Eigenschaft von H2O. Man narkotisiere die Haut der Hand: sie fühlt keine Nässe mehr.
17.4.3 Somatotopie: zur Verarbeitung der ins ZNS eingespeisten Information stehen in der Großhirnrinde Areale bereit, die Körperregionen repräsentieren Die von den Sensoren unserer Hand gelieferten Meldungen erreichen über die Spinalganglien das Rückenmark, werden zum Thalamus des Zwischenhirns weitergeleitet und einem somatosensorischen Areal in der Großhirnrinde zugeführt, das alle von der Hand gelieferten Daten auswertet, von welchem sensorischen Rezeptortyp sie auch stammen. So können die Meldungen der verschiedenen Sensoren integriert und der Hand zugeordnet werden. Entsprechend haben auch der Fuß und alle anderen Körperbereiche das ihnen zugeteilte Gebiet der Datenverarbeitung. Die Größe dieser Areale im somatosensorischen Cortex spiegelt die Zahl und Dichte der Sensoren wieder: Lippen und Finger sind auf großen Flächen, die wenig empfindlichen Beine und der Rumpf auf vergleichsweise kleinen Flächen repräsentiert. Diese Projektion der Körperregionen auf für sie zuständige Auswertbezirke nennt man Somatotopie (Griech.: soma = Körper; topos = Ort). Benachbarte Areale im somatosensorischen Cortex nehmen sich der Meldungen an, die von den Propriorezeptoren der Muskeln (Muskelspindeln, Kap. 16; Sehnen- und Gelenksensoren, Kap. 18) geliefert werden.
17.5 Mentale Perzeption: konstruierte Welt und Erfahrung unseres eigenen Körpers 17.5.1 Die Empfindung wird in unserer Erlebniswelt an den örtlichen Ursprung des Reizes projiziert Erst durch Nachdenken, oder im medizinischen Sonderfall durch unliebsame Erlebnisse, wird uns bewusst, dass unser Gehirn eine verblüffende Leistung erbringt. Ich schaue aus dem Fenster und sehe draußen eine Landschaft mit grasenden Pferden, überwölbt von einem Regenbogen. Doch das Bild wird ja im Gehirn erzeugt. Auch wenn der Neurologe mittels Magnetfeldern bestimmte Gehirnbereiche stimuliert oder der Chirurg während einer Gehirnoperation solche Areale elektrisch reizt, werden die evozierten Halluzinationen außerhalb des Körpers gesehen, ebenso wie die herumschwirrenden Sterne, deren sekundenlange Existenz dem mechanischen Impuls eines Faustschlags auf das Auge zu verdanken ist. Mancher erfährt diese Fähigkeit des Gehirns, die Empfindung an den (vermeintlichen) Ursprung des Reizes zu verlagern, leidvoll als Phantomschmerz. Noch lange spürt der unglückliche Beinamputierte den nicht mehr vorhandenen Fuß. Erst über Monate oder Jahre verringern sich Entfernung und Dimension des gefühlten Fußes und die schmerzende Stelle rückt allmählich zum Ort der Amputation, wo das Chaos der Narben und Blutstau eine permanente Reizung von Tast- und Schmerzsensoren verursachen können. Der Blinde jedoch profitiert von diesem Verlagerungsvermögen. Er spürt nach langer Übung die Bordsteinkante exakt an der Spitze seines Taststocks.
17.5.2 Die Hautsinne ermöglichen auch eine Wahrnehmung unserer Körpergrenzen und eine Scheidung von Selbst und Nichtselbst Es gibt nicht wenige blinde und taube Menschen, jedoch extrem selten Menschen ohne Schmerzoder Temperatursinn und gar keine ohne Tastsinn. Augenscheinlich sind Menschen ohne Tastsinn schon im Mutterleib so gehirngeschädigt, dass sie nicht überleben. Es gibt jedoch im späteren Leben
Zusammenfassung des Kapitels 17
bemerkenswerte Ausfälle, wenn der Schläfenlappen in der seitlichen Gehirnregion durch eine Kopfverletzung geschädigt ist, und es gibt seltsame Erlebnisse, wenn magnetische Wechselfelder (s. Box 23.1) diese Region reizen. Bei partiellem Ausfall der zentralnervösen Integration kann der im Dunkeln ertastete Wecker nicht mehr erkannt und zum Schweigen gebracht werden, und auch der getastete langjährige Partner ist ein unbekanntes Objekt. Mehr noch, es können selbst die Grenzen des eigenen Körpers unsicher werden, verschwimmen oder ganz verschwinden. Wenn dann noch die Integration der in den Schläfenlappen abgezweigten Meldungen der Muskeldehnungssensoren (Kap. 16) und Gelenksinne (Kap. 18) misslingt, verliert man die Fähigkeit, ohne Zuhilfenahme der Augen die Stellung der Glieder wahrzunehmen und die Dimensionen des eigenen Körpers abzuschätzen. Die
Zusammenfassung des Kapitels 17 Rezeptoren oder Sensoren im Sinne von Sinneszellen absorbieren „Reize“, das heißt physikalische Energien oder chemische Substanzen, die Information über Zustände und Vorgänge in der äußeren Welt (Exterorezeptoren) oder im eigenen Körper (Propriorezeptoren, Enterorezeptoren) liefern. Die Reizinformation löst „Erregung“ aus, das heißt die Erzeugung bioelektrischer Signale. Hierbei codieren die Rezeptoren als Signaltransducer die aufgenommene Information in der Einheitssprache des Nervensystems. Primär wird die Information über Intensität und Zeitverlauf der Reizeinwirkung in einer Amplitudenmodulation des Rezeptorpotentials codiert; sekundär zur Weiterleitung der Information wird sie in der Frequenzmodulation normierter Spikepotentiale umcodiert. Über Art des Reizes (Modalität wie Licht oder Schall, und Qualität wie Blau- oder Rotlicht) gibt der jeweilige ins ZNS einmündende Datenkanal Auskunft (festliegende Systeminformation). Sinneszellen sind in aller Regel durch Filter und spezifische Verstärkermechanismen auf eine „adäquate“ Reizart spezialisiert. Exterorezeptoren wie Licht- und Schallrezeptoren haben eine logarithmische Kennlinie: sie erfassen einen weiten
Körperrepräsentation oder das Körperschema ( own-body imagery) und das „Das-bin-ich-selbst“Gefühl (Ich-Wahrnehmung, self-processing) wird unzuverlässig oder geht gar verloren. Auflösung der eigenen Person, seine Verschmelzung mit der Umgebung sind Erlebnisse, von denen Mystiker, Menschen in Trance oder unter Drogeneinfluss berichten. Man verlässt seinen Körper ( outof-body experience), fühlt sich eins mit anderen Menschen, mit dem Universum, mit Gott. Neurologen berichten in jüngsten Publikationen, ähnliche Erlebnisse ließen sich durch Stimulation des Schläfenlappens mit Magnetwechselfeldern bestimmter Intensität und zeitlicher Struktur auslösen (z. B. Blanke et al. 2005). Unsere mentalen Fähigkeiten werden im übergreifenden Rahmen des Leib-Seele-Problems später nochmals in Box 23.2 diskutiert
Intensitätsbereich bei allerdings geringer Unterschiedsempfindlichkeit in hohen Intensitätsbereichen. Enterorezeptoren wie Blutdruckmesser und Muskeldehnungssensoren haben eine lineare Kennlinie: Ihr Arbeitsbereich ist eng, doch haben sie eine gute und über den ganzen Arbeitsbereich konstante Unterschiedsempfindlichkeit. Sie werden als Fühler in Regelkreisen eingesetzt. Der zeitliche Verlauf eines Reizes wird proportional zum jeweiligen Istwert der Reizintensität dem ZNS mitgeteilt (P- oder tonische Rezeptoren), oder es wird nur die Geschwindigkeit einer Änderung mitgeteilt (D- oder phasische Rezeptoren), oder beides (PD- oder phasischtonische Rezeptoren). Dieses Verhalten der Sensoren wirkt sich auch in unserer Wahrnehmung aus, so in der Geschwindigkeit einer Adaptation. Die genannten Prinzipien werden illustriert am Beispiel der vielfältigen Hautsinne. Man findet in die Haut eingestreut eine große Zahl von Miniatursinnesorganen (Meissner-, Ruffini-, Pacini-Körper, Merkel-Zellen, Haarfollikelsensoren), die bei aller Unterschiedlichkeit sensorische Fasern von Neuronen („freie Nervenendigungen“) als Transducer für mechanische Reizparameter enthalten. Sie registrieren Berührung, Druck, Hautverformung und Vibrationen und repräsentieren in ihrer Gesamtheit
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17 Allgemeine Sinnesphysiologie, gefühlte Welt und Körperwahrnehmung
den Tastsinn. Dazu gesellen sich Warmrezeptoren, die Wärme-Zufuhr, und Kaltrezeptoren, die Wärme-Entzug registrieren, sowie Nozizeptoren (Schmerzsensoren), welche auf ein breites Spektrum von Gefahrindikatoren reagieren. Die aus einer bestimmten Körperregion, z. B. der Hand, einlaufenden Meldungen werden zur Auswertung in ein sensorisches Gehirnareal geleitet, das speziell dieser Körperregion zugeordnet ist (Somatotopie). Die Meldungen aller Sensoren der Hand zusammen ermöglichen es beispielsweise
dem somatosensorischen Cortex, Größe, Form, Härte, Temperatur und Bewegungen eines in der Hand gehaltenen Etwas zum Objektbild Tennisball oder Frosch zusammenzufassen. In der mentalen Perzeption wird das Erleben an den Ort der Reizquelle projiziert, sodass der Finger fühlt und der Fuß wehtut, und nicht das Gehirn, das die Empfindungen erzeugt. Die Hautsinne vermitteln aber auch die Fähigkeit, die Grenzen des eigenen Körpers zu erkennen und das Ich von seiner Umwelt zu unterscheiden.
18 Mechanische Sinne I: Strömungs-, Bewegungs-, Gleichgewichtssinne – und manche mehr
18.1 Vielfalt der mechanischen Sinne Sinneszellen und Sinnesorgane, die mechanisch einwirkende Kräfte als Quelle von Information nutzen, gibt es in großer Zahl und in vielfältiger konstruktiver Ausführung. Vielfältig ist die Struktur der Sensoren, die ihr elektrisches Membranpotential durch Zug- oder Druckkräfte modulieren lassen. Vielfältig sind auch die Hilfseinrichtungen, welche die Reizflut filtern und selektionieren. Vielfältig sind schließlich auch die Empfindungen, die in unserer inneren Erlebniswelt ausgelöst werden. 18.1.1 Mechanische Sinne reichen von unbewusst operierenden Enterorezeptoren bis zum Gehör ●
Blutdruckmesser beispielsweise sind Enterorezeptoren, die keinerlei wahrnehmbare Empfindung vermitteln. Es handelt sich um Dehnungsrezeptoren, die die blutdruckbedingte Dehnung der Herzvorhöfe und der großen Arterien messen.
●
Muskelspindeln sind Propriorezeptoren, die einerseits die Muskellänge messen, ohne dass dies uns bewusst würde. Andererseits vermitteln sie gemeinsam mit anderen Mechanorezeptoren (Sehnenorgane, Druckrezeptoren der Unterhaut) auch den mehr oder weniger spürbaren Gewichtssinn, und sie lassen uns in Kooperation mit dem Gleichgewichts- oder Lagesinn des Labyrinths im Innenohr nur selten im Unklaren, wo uns der Kopf steht.
●
Die Arbeitsweise der Mechanorezeptoren des Labyrinths im Innenohr wird uns kaum gewahr, obwohl sie dem Gehirn – und weniger deutlich unserer Empfindung und unserem Bewusstsein – signalisieren, ob wir vom anfahrenden Auto oder drehenden Karussell beschleunigt werden oder ob die von der Erdkugel ausgehende Gravitationsbeschleunigung dabei ist, uns auf die Schnauze fallen zu lassen.
●
Das Gehör soll in einem eigenen Kapitel (s. Kap. 19) unser Gehör und unser Interesse finden.
18.1.2 Bei Fischen, Insekten und anderen Tieren gibt es noch viel Erstaunliches zu erforschen und zu entdecken Auch altbekannte Sonderleistungen sind immer wieder erstaunlich und ihre anatomischen und physiologischen Grundlagen noch keineswegs ausreichend bekannt. Warum stößt der Fisch auch nachts nie an die Scheibe des Aquariums? Wie ortet der Fisch bei schlechter Sicht ein Insekt, das auf die Wasseroberfläche gefallen ist? Wie merkt eine Spinne, dass eine kleine Fliege im Netz zappelt? Woher weiß die Biene im dunkeln Stock, welches die exakte Lotrechte ist? Die Lotrechte muss sie kennen, um mit ihrem Tanz ihren Stockgenossinnen mitteilen zu können, in welcher Himmelsrichtung die entdeckte Futterquelle zu finden ist (s. Kap. 24). Wie steuert der Schmetterling, dessen Flügel beim leisesten Lufthauch ins Flattern geraten, seinen Flug?
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18 Mechanische Sinne I: Strömungs-, Bewegungs-, Gleichgewichtssinne – und manche mehr
18.2 Mechanische Sinne zur Kontrolle des Körpers und zur Detektion von Objekten in Dunkelheit und Stille 18.2.1 Mehrere innere Mechanorezeptoren helfen, die Stellung unserer Gliedmaßen und das Gewicht einer Last wahrzunehmen Auch wenn in der klassischen Aufzählung der Sinne nicht davon die Rede ist: Wir wissen auch im Dunkeln und ohne dass wir etwas berühren, ob unser Arm angewinkelt ist und in welchem Winkel, wir spüren das Gewicht des Babys, das wir im Arm halten, ohne dass dabei unser Gravitations- und Gleichgewichtssinn des Innenohrs im Spiele wäre, und wir wissen, sofern wir nüchtern sind, wo uns der Kopf steht. Um solche Leistungen erklären zu können, setzen wir statt den Unbekannten X und Y bereits bekannte Sensoren ein, so die ●
Ruffini-Körper (Abb. 18.1), welche in Gelenkkapseln eingelassen sind und als Sensoren für Zugspannung in allen Raumrichtungen dienen. Ihnen wird der Gelenksinn zugesprochen. Weiterhin beachten wir die
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Muskeldehnungssensoren, das sind die Muskelspindeln (s. Kap. 16, Abb. 16.10 u. 16.13) und dazu die Golgi-Sehnen-Organe (Abb. 18.1).
Diese Sinne können aber auch in Kooperation mit den Druckrezeptoren des Tastsinnes als Exterorezeptoren dienen, wenn sie uns die Schwere einer Last mitteilen (Gewichtssinn). Dafür wären die oftmals und missverständlich als „Schweresinn“ bezeichneten Maculaorgane des Innenohrs (s. Abschn. 18.7) ungeeignet. Diese geben uns zwar die Richtung der Schwerkraft und damit beim Tauchgang die Richtung nach unten und oben an, helfen aber nicht, wenn wir die Schwere einer Last abschätzen wollen. 18.2.2 Auch Haare können, vor allem bei Tieren, erstaunlich leistungsfähige Detektoren sein Wir greifen als Beispiel ein Sinnesorgan heraus, das man leicht unterschätzt, weil es ja doch nur Haare sind: die Vibrissen (Schnurrbarthaare, Sinushaare) der Säugetiere. ●
Ratten lassen bei Nacht unablässig ihre Vibrissen vibrieren mit ca. 6 Pendelbewegungen in der Sekunde. Schon eine Abbiegung von wenigen Na-
Golgi-Sehnen-Organ
Ruffini-Körperchen aus Gelenkkapsel
Muskelfasern afferente Nervenfasern
Abb. 18.1. Gelenk- und Schweresinn. Miniatursinnesorgane in den Sehnen und in den Gelenkhäuten registrieren Zugspannungen. In Kooperation mit den Muskelspindeln (Muskeldehnungssensoren) und dem Druckrezeptoren der Haut registrieren sie die Winkelstellung der Gliedmaßen und das Gewicht einer Last
dendritische Nervenfasern dendritische Nervenendigungen
Sehnenfasern
Kollagenfasern
18.3 Vielfalt mechanosensorischer Messgeräte am Beispiel der Sensillen der Insekten Abb. 18.2. Vibrissen (Schnurrhaare) eines Sehhundes ertasten die Wirbelbahn, die ein Fisch hinterlassen hat. Die Beute kann auch in trübem Wasser geortet werden
nometern oder 0,1° bis 0,2° verursacht eine Meldung ins Gehirn. ●
Robben haben höchstempfindliche Schnurrhaare, deren Schaft von 1600 Nervenfasern umsponnen ist und die Wasserbewegungen von wenigen Tausendstel Millimeter wahrnehmen können. Mit seinem Schnauzbart kann der Seehund auch im trüben Wasser einen meterweit entfernten Fisch verfolgen, indem er die Wirbelbahn ertastet, die der schwimmende Fisch oder – im Versuch – der Propeller eines Mini-Unterseeboots erzeugt hat (Abb. 18.2).
18.3 Vielfalt mechanosensorischer Messgeräte am Beispiel der Sensillen der Insekten und anderer wirbelloser Tiere 18.3.1 Cuticularhaare: vom Tastsinn bis zum Registrieren der Schwerkraft und zum Hören Bei Insekten und anderen Arthropoden können wir bewundernd erfahren, wie gleiche oder geringfügig modifizierte Grundtypen von Sinnesorganen zu den unterschiedlichsten Zwecken tauglich sein können. Umgekehrt können für eine Funktion, beispiels-
weise zur Registrierung der Lotrechten oder zur Perzeption von Schall, unterschiedlich konstruierte Sinnesorgane eingesetzt werden. Bei Arthropoden – Insekten, Spinnen, Krebsen – findet man oft Miniatursinnesorgane, die man Sensillen nennt. Dieser Ausdruck wäre durchaus auch passend für die Miniatursinnesorgane in unserer Haut (wie z. B. Merkelsche Tastkörperchen oder Vater-Pacini-Körperchen oder Tasthaare), wird aber im Regelfall nur bei Arthropoden gebraucht. Ein typisches Sensillum ist das gelenkig in die Cuticula eingebettete Cuticularhaar (Abb. 18.3 u. 18.4). Seine Ablenkung wird von Sinneszellen registriert, die im Elektronenmikroskop Restkomponenten einer Cilienstruktur erkennen lassen. Eine solche Restkomponente ist der Tubularkörper, der sich dort befindet, wo das reizaufnehmende (ehemalige) Cilium Zug-, Druck- oder Biegekräften ausgesetzt ist. (Die Mechanismen der Transduktion sind im Einzelnen noch ungeklärt.) Solche Haarsensillen werden verwendet als ●
Tastsensoren,
●
Propriorezeptoren im Umfeld von Gelenken, um die Winkelstellung von Gliedern oder Körperteilen zueinander zu registrieren,
●
Schwerkraftsensoren, um die Lotrechte auszumachen, um also herauszufinden, wo oben ist
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18 Mechanische Sinne I: Strömungs-, Bewegungs-, Gleichgewichtssinne – und manche mehr
Einsatzmöglichkeiten: Luftströmung
mechanorezeptives Cuticularhaar
Schall (Schallschnelle)
elastische Cuticulamembran
Erschütterungen Vibrationen
Tubularkörper, hohe Dichte von Mikrotubuli
Lymphraum
Scolops-Manschette Cilium mit Mikrotubuli
Basalkörper + Cilenwurzeln
Hüllzelle
elast. Membran mit "Gummifäden" Cilium
tormogene Sockelzelle
Abb. 18.3. Mechano-sensorisches Cuticularhaar eines Insekts. Modell steht hier eine Tastborste von Drosophila. Nach Gillespie (2001) ergänzt nach Illustrationen in anderen Quellen
und wo es nach unten Richtung Erdmittelpunkt geht. Diesen Aspekt diskutieren wir im nachfolgenden Abschn. 18.4 näher. ●
Windmesser; hierzu eignen sich Cuticularhaare (oder Antennen), die sehr leicht sind und sehr beweglich in die Cuticula eingelassen sind (Abb. 18.4).
●
Vibrations- oder Schallempfänger; die eben erwähnten leicht beweglichen Haare können bisweilen so leicht ins Zittern und Schwingen geraten, dass sie feinsten, hochfrequenten Schwingungen des Bodens oder der Luft folgen können. Als Hörorgane gehören Cuticularhaare zum Typus der Schallschnelle-Empfänger (s. Kap. 19). 18.3.2 Torsionsmesser, Vibrationsmesser und ein Kreisel-Flugüberwachungsgerät
Das Inventar der Sensillen umfasst auch Messorgane, die Verwindungen der Cuticula registrieren.
Abb. 18.4. Ein Cuticularhaarsensillum, das leicht beweglich aufgehängt ist, kann verschiedene Sinnesfunktionen vermitteln. Je nach Detailkonstruktion und Position am Körper kann ein solches Haar Luftbewegungen, die Flugeigengeschwindigkeit und auch Luftbewegungen in Form von Schall im Resonanzbereich des Haares registrieren
Solche Torsionsmesser sind die Kuppelsensillen (campaniformen Sensillen) der Insekten. Eine dünnwandige Kuppel aus Chitin wird durch Zugoder Schubkräfte, die auf die Cuticula einwirken, hochgewölbt oder abgeflacht (Abb. 18.5). Dies wird von dehnungsempfindlichen Rezeptoren registriert. So kann der Schmetterling erfahren, wie der Wind an seinen Flügeln zerrt. Zu den erstaunlichsten Sensoren des Tierreichs gehören die Schwingkölbchen (Halteren; Betonung auf te) der Dipteren (Fliegen, Mücken, Schnaken). Halteren sind ehemalige Hinterflügel, die in der Evolutionsgeschichte der Dipteren zu keulenförmigen Gebilden reduziert worden sind. Die Schwingkölbchen werden im Flug synchron mit den Flügeln (aber in Gegenphase) in hochfrequente Schwingungen versetzt. Die Keule wird zu einer Schwungmasse. Obzwar die Keulenspitze keinen exakten Kreis, sondern eine 8-förmige
18.3 Vielfalt mechanosensorischer Messgeräte am Beispiel der Sensillen der Insekten Abb. 18.5a–d. Auf Zugspannung spezialisierte Sensillen. Ein Scolopidium, wie von den Flügeln und Palpen von Drosophila-Fliegen beschrieben (nach Hartenstein u. Posakony 1989). Im Prinzip ähnlich sind Chordotonalorgane gebaut (a). Typische Funktion von Chordotonalorganen als Streckrezeptoren; hier wird die Winkelstellung von Beingliedern gemessen (b). Torsionsmesser in der Cuticula von Arthropoden. Campaniforme Sensillen (Kuppelsensillen) an der Basis der Halteren (Schwingkölbchen) einer Fliege (c). Spalt-Sensillen auf den Extremitäten der Spinne. Mehrere Spaltsensillen können zu einem lyriformen Organ zusammengefasst sein. Die Sensillen messen primär die Verwindungen und Verzerrungen der Cuticula (d)
Verankerungsstruktur (Zelle oder Cuticula)
Femur
Kappe Extensor
Ciliäres Außenglied mit Mikrotubuli
Gelenk
Chordotonalsensillen Flexor
Cilienwurzel
Tibia
Manschette (Scolops) Hüllzelle (Scolopalzelle)
b Chordotonalorgane als Propriorezeptoren zur Messung der Winkelstellung von Gelenken (Hilfszellen nicht dargestellt)
a Auf Zugspannung spezialisierte Sensillen: z.B. Campaniforme S., Chordotonalorgane
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Sie sind über dem ganzen Körper verstreut zu finden, in besonders hoher Dichte auf den Extremitäten in der Nähe der Gelenke. Spaltsensillen können zu lyriformen Organen gruppiert sein, bei denen die Länge und Resonanzfrequenz der Spalten wie die Länge und Schwingungsfrequenz der Saiten einer Lyra abgestuft sind. Lyriforme Organe reagieren auf allerfeinste Erschütterungen und Vibrationen, wie sie z. B. von den Fäden des Netzes ausgehen, wenn eine kleine Fliege, die sich im Netz verfangen hat, verzweifelt mit den Flügeln schlägt.
Halteren als Gyroskop
windbedingte Torsion des Körpers raumfeste Schlagbahn der Halteren
Felder mit campaniformen Sensillen Abb. 18.6. Die Halteren einer Fliege als Gyroskop zur Registrierung von Dreh- und Kippbewegungen einer Fliege im Flug. Dank der keulenförmigen Gestalt der Halteren und der hohen Geschwindigkeit der Keulenspitze ist die Schlagbahn ähnlich der Drehimpulsachse eines Kreisels raumfest. Felder mit campaniformen Sensillen an der Halterenbasis registrieren Cuticulaverformungen, die bei plötzlicher Auslenkung des Fliegenkörpers auftreten
Figur beschreibt, erhält die Keule soviel Impuls und kinetische Energie, dass ihre Figurenachse wie die Figurenachse (Drehimpulsachse) eines Kreisels raumfest wird. Die Halteren werden zu einem Gyroskop, einem Kreisel-Flugüberwachungsgerät. Wenn der Fliegenkörper durch einen Windstoß um seine Längs- oder Querachse rotiert, behält die Figurenachse des Kreiselgeräts ihre Lage im Raum. (Abb. 18.6). Es kommt zu Verwindungen der Cuticula an der Basis der Halteren. Diese Verwindungen werden durch Felder aus campaniformen Sensillen registriert. Die Steuerung der Flugmotorik wird versuchen, die so registrierten Störungen der Fluglage auszugleichen. Eine hochsensitive Variante des cuticulären Torsionsmessers sind die Spaltsensillen der Spinnen.
18.4 Schwerkraftmesser und Gleichgewichtssinn 18.4.1 Schwerkraftrezeptoren funktionieren in seltenen Fällen nach dem Prinzip der Wasserwaage, oft nach dem Prinzip des Lotes Organismen sind seit Jahrmillionen der Gravitationsbeschleunigung ausgesetzt, die von der Erdmasse ausgeht. Sie haben vielfältige Möglichkeiten gefunden, die Richtung der Schwerkraft zu bestimmen, um in der Tiefe des dunklen Ozeans, im trüben Gewässer, in der Finsternis des Erdbodens oder in der Dunkelheit einer bewölkten Nacht herauszufinden, wo es nach oben oder unten geht. Vor allem werden Schwerkraftrezeptoren gebraucht, um den Körper bei Störungen ins Gleichgewicht zurückrudern zu können (Abb. 18.7, 18.8 u. 18.9). Die Gleichung Schweresinn = Gleichgewichtssinn geht vermutlich fast immer auf. Manche Wassertiere ermitteln Lotrechte und Waagrechte nach dem Prinzip der Wasserwaage mittels einer Gasblase (Pneumatophore mancher Staatsquallen; Schwimmblase von Fischen). In allen anderen Fällen wird das Prinzip des spezifisch schweren Körpers genutzt, der nach dieser oder jener Seite rollen oder pendeln kann, und dessen Bewegungen von Tastsensoren registriert werden. Ein Lot hängt umso zuverlässiger senkrecht, ungeachtet aller Wasser- oder Luftströmungen, je größer sein spezifisches Gewicht (Massendichte) im Vergleich zur Dichte des umgebenden Mediums ist. Seeleute verwenden Lote aus Blei.
18.4 Schwerkraftmesser und Gleichgewichtssinn Abb. 18.7. Schwerkraftrezeption bei der Biene. Tasthaare im Bereich der Gelenke registrieren, wie Kopf und Abdomen durch die Schwerkraft lotrecht nach unten gezogen werden
Wasserturbulenzen sie aus dem Gleichgewicht geworfen haben. Forscher aus der Gründerzeit der Tierphysiologie machten sich einen Spaß daraus, den Krebsen nach der Häutung Eisenspäne anzubieten – und dann die Krebse mittels eines Magneten an der Nase herumzuführen.
18.4.2 Statolithen, Klöppel und hängende Körperteile: das Prinzip des massedichten Körpers wird im Einzelfall unterschiedlich zum Ermitteln der Lotrechten genutzt ●
Ein schwerer Körper aus massedichten Mineralien (Statolith) in einer kugelförmigen Statocyste biegt die Cilien sensorischer Zellen ab. Je nachdem, wohin der Statolith abgleitet, bekommen ihn diese oder jene Sinneszellen zu spüren. Sehr schöne Statocysten findet man bei marinen Nacktschnecken, besonders bei solchen, die nicht bloß auf einer Fläche kriechen, sondern sich auch im dreidimensionalen Raum schwimmend bewegen (Abb. 18.9).
●
In anderen Fällen hängt der schwere Körper wie der Klöppel einer Glocke beweglich nach unten. Beispiel: die Sinneskolben (Rhopalien) der Quallen. Wird die Glocke, der Schirm der Qualle, durch Wasserbewegungen ins Schaukeln gebracht, registrieren Sinneszellen mit sensorischen Cilien den Anschlag des Klöppels (Abb. 18.9).
●
Dekapode Krebse (Flusskrebse, Hummer) haben im Basisglied der ersten Antennen eine Grube, die mit sensorischen Cuticularhaaren ausgekleidet ist. Nach jeder Häutung stopfen die Krebse kleine Steinchen in die Grube, die dadurch zu einer halbartifiziellen Statocyste wird (s. Abb. 18.8). Sie benutzen ihre zwei Lotmesser, um sich wieder gerade auf die Beine stellen zu können, wenn
●
Bei Bienen hat man lange vergeblich nach spezifischen Schwerkraftrezeptoren gesucht, die nach Meinung der Forscher hochspezifisch nur die Schwerkraftrichtung rezipieren sollten. Bienen brauchen empfindliche Schwerkraftrezeptoren nicht nur im Flug, sondern auch im dunklen Stock, wenn sie auf der senkrechten Wabe ihre Tänze vorführen. Tanzrichtung nach oben, exakt der Schwerkraft entgegengerichtet, sagt den nachfolgenden Bienen: „Fliegt exakt Richtung Sonne“. Tanzrichtung nach unten sagt: „Fliegt mit der Sonne im Rücken“.
Ob ein Insekt geht oder fliegt, immer ist es der Thorax, der gegen die Schwerkraft abgesichert ist, sei es, dass er von den Beinen gestützt wird oder dass er an den Flügeln hängt. Kopf und Hinterleib dagegen können herunterhängen; an ihnen setzt die Schwerkraft erfolgreich an, um sie herabzuziehen und gegen den Thorax abzuwinkeln, wie und wo das Insekt sich auch bewegt (s. Abb. 18.7). Wieder kommt das Klöppelprinzip zum Zuge. Sensorische Cuticularhaare im Bereich des Halsgelenkes und des Gelenkes zwischen Thorax und Abdomen registrieren propriorezeptiv den Winkel des Gelenkes und damit auch die Richtung der Schwerkraft.
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Abb. 18.8. Statocysten als Schwerkraftrezeptoren und Gleichgewichtsfühler bei dekapoden Krebsen. In die offene Grube (Statocyste) im Basisglied der ersten Antenne hat der Krebs Steinchen gestopft, deren Lage laufend durch sensorische Cuticularhaare
18.5 Die erstaunliche Nesselzelle 18.5.1 Sensor und rekordverdächtiger Effektor in einem Die Nesselzelle der Cnidarier (Korallen, Quallen und Scyphopolypen, Hydrozoen) gilt unter den Cytolo-
registriert wird. Wenn die rutschenden Steinmassen eine Kippbewegung des Körpers signalisieren, versucht der Krebs, durch Ruderbewegungen mit den Extremitäten das Gleichgewicht zurückzugewinnen
gen als komplizierteste tierische Zelle (Abb. 18.10). Der Physiologe hat erstaunliche Angaben hinzuzufügen. Im Kapselraum befindet sich enzymatisch hergestelltes Poly-γ-L-Glutamat, das als Polyanion mit Kalium-Kationen vergesellschaftet ist. Beide zusammen bilden eine osmotisch hochwirksame Explosivmasse. Tritt Wasser in den Kapselbinnenraum, entfaltet sich ein Druck von 150 bar (1,5 × 107 Pa).
18.5 Die erstaunliche Nesselzelle
Hydromeduse Aglantha digitale Hydromeduse (Leptomeduse)
Scyphomeduse (Qualle)
Rhopalium
Statocyste Rhopalium Schirm ra
nd
Klöppel Cilie (Kinocilium) Rhopalonema Ocellus (Miniauge)
Mikrovilli (Stereovilli) Haarsinneszelle
a
Klöppel mit Statolith
b
Augen
Cubomeduse Tripedalia cystophora
c
Statolith
Statocyste Ganglien
d
Statocyste von Aplysia ("Seehase", Nacktschnecke)
Abb. 18.9a–d. Schwerkraft- und Gleichgewichts-Rezeptoren bei weiteren Wirbellosen: Statocyste einer Hydromeduse (a), Sinneskolben (Rhopalium) bei einer Qualle (b), einer von vier Klöppeln
mit Augen, Statolith und mechanorezeptivem Feld bei einer Cubomeduse (c), Statocyste einer marinen Nacktschnecke (d)
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Unter diesem enormen Druck, der jeden Autoreifen in Tausende von Fetzen zerreißen würde, wird der Schlauch nach außen geschleudert, sobald der Deckel der Kapsel aufspringt. Unterstützt wird der osmotisch erzeugte Druck durch Energie, die in der elastischen Wand der Kapsel und des Schlauches wie in einer Feder gespeichert ist. Obwohl der Schlauch umgestülpt werden muss, fliegt er mit einer (errechneten) Beschleunigung von 40 000 m/s2 aus der Kapsel, um mit einem Stilett den Cuticularpanzer eines kleinen Krebses zu durchschlagen (z. B. Nesselkapseltyp Stenotele einer Hydra). Durch den Schlauch wird alsdann lähmendes Gift in das Opfer injiziert. 18.5.2 Der sensorische Apparat erinnert an die „Haar“Sinneszelle der Wirbeltiere Das Harpunengeschoss der Nesselkapsel muss über einen sensorischen Apparat ausgelöst werden, der
auf eine Kombination von mechanischem und chemischem Reiz anspricht. Dieser sensorische Apparat besteht aus einem Cilium (Kinocilium) und einer Gruppe von kreisförmig angeordneten Mikrovilli (Stereovilli, Abb. 18.10). Eine ähnliche Struktur findet man bei den „Haarsinneszellen“ der Wirbeltiere (s. Abschn. 18.6). Gewiss gibt es keine direkte evolutive Linie von Nesselzellen zu Rezeptoren der Wirbeltiere. Man findet jedoch die Kombination Cilium plus Gruppe von Mikrovilli auch bei Mechanorezeptoren von Cnidariern, die nicht mit einer Nesselkapsel beladen sind, beispielsweise bei den Sensoren, die die Pendelbewegungen der Rhopalien registrieren (s. Abb. 18.9). Sogar bei einzelligen Choanoflagellaten finden sich ähnliche Strukturen. Eine evolutive Beziehung zwischen ihrem sensorischen Apparat und ähnlich strukturierten Rezeptoren in den verschiedenen Tierstämmen ist daher nicht auszuschließen.
Cnidocil = Stereocilium
Mikrovilli
Operculum
Wassereinstrom Osmotisch aktiv: Polyglutamat + Kalium-Ionen
Abb. 18.10. Nesselzelle (Cnidocyte, Nematocyte) des Süßwasserpolypen Hydra (Typ Stenotele). Rechts: Momentaufnahme während der Entladung (Exocytose). Unter hohem Druck wird der Schlauch ausgeschleudert und umgestülpt. Kinocilium und Stereovilli dienen als sensorischer Auslöseapparat
Cnide (Cnidocyste)
Cnidocyte = Nematocyte; Typ: Stenotele
18.6 „Haar“-Sinneszellen und Neuromasten der Wirbeltiere
18.6 „Haar“-Sinneszellen und Neuromasten der Wirbeltiere Wir begegnen einem Rezeptortyp, der von Wirbeltieren vielseitig eingesetzt wird und Sinnesleistungen vom Strömungssinn der Fische bis zum Hören einer Bach‘schen Fuge vermittelt. 18.6.1 „Haar“-Sinneszellen haben eine Richtcharakteristik und reagieren auf vektorielle Kräfte Warum „Haar“ in Anführungszeichen? Die Rezeptoren, mit denen wir es nunmehr zu tun haben, sind nicht in oder an unseren Haaren lokalisiert. Der gänzlich missglückte Ausdruck bezieht sich auf den Schopf von „Haaren“, den man im Lichtmikroskop auf der apikalen Oberfläche der Zellen sah. Diese „Haare“ erwiesen sich später im Elektronenmikroskop als ●
●
ein Cilium, das Cilien-typische 9 + 2 Mikrotubulipaare enthält und deshalb als beweglich betrachtet wird und Kinocilium genannt wird (griechisch: kinein = bewegen); das Cilium kann auch mal fehlen, so in den Haarsinneszellen der Gehörschnecke von Säugetieren; eine Gruppe von Mikrovilli, üblicherweise Stereocilien, besser Stereovilli genannt. Die Zahl der Stereovilli kann über 100 pro Zelle betragen.
„Stereo“ heißt in diesem Fall nicht räumlich, sondern steif. Der Ausdruck „Cilium“ ist bei den Stereovilli fragwürdig, weil diese Strukturen, im Gegensatz zum Kinocilium, nicht mit einem 9 + 2 Mikrotubuli-Apparat ausgestattet sind, sondern von Actinfilamenten versteift werden, wie dies bei Mikrovilli üblich ist. Dies gilt jedenfalls für die Haarzellen der Wirbeltiere. Übergangsformen bei Wirbellosen mit Relikten von Cilienstrukturen in den Villi lassen allerdings vermuten, dass die Stereocilien tatsächlich aus Cilien hervorgegangen sind. Im Innenohr der Säuger degeneriert nach der Geburt das Kinocilium, und der „Haar“besatz besteht nur noch aus Stereocilien/villi. Um Missverständnisse zu vermeiden, bevorzugen wir in diesem Buch, wie manch andere Autoren auch, den Ausdruck Stereovilli.
Haarsensoren sind sekundäre Sinneszellen ohne eigenes ableitendes Axon. Sie entwickeln ein Amplituden-moduliertes Rezeptorpotential, übergeben aber ihre Meldung nicht elektrisch, sondern mittels des Transmitters Glutamat an ein Neuron, das die Meldung in Form frequenzmodulierter Aktionspotentiale ins ZNS weiterleitet. Dieses Meldeneuron wird von der Haarsinneszelle auch im Ruhezustand zum Feuern stimuliert – in mäßiger Frequenz. Werden aber die Mikrovilli durch seitlich angreifende Scherkräfte abgebogen, setzt die Sinneszelle im Vergleich zur Ruhelage mehr oder weniger Transmitter frei. Entsprechend steigt oder fällt die Sendefrequenz des nachgeschalteten Neurons (Abb. 18.11). Die Kombination Sinneszelle plus fortleitende Nervenzelle hat eine ausgeprägte Richtcharakteristik. Ablenkung der Villi in Richtung des Ciliums führt zur Erhöhung der Sendefrequenz, Auslenkung in Gegenrichtung zum Absenken der Frequenz. Es wird also nicht nur die Stärke einer ablenkenden Kraft codiert, sondern auch ihr Vektor. 18.6.2 Ein gegenwärtig favorisiertes Modell der Transduktion lässt Ionenkanäle der Stereovilli durch ein Zugseil öffnen Im Falle der Haarsinneszellen des Utrikels (s. Abschn.18.7.3) glauben gegenwärtig führende Forscher (Hudspeth et al. 1985) den Prozess der Transduktion verstanden zu haben. Zwar sind die Transduktionskanäle, die bei Auslenkung der Stereovilli geöffnet werden, bisher noch nicht identifiziert worden, aber es hat sich in der Forschergemeinde eine schon sehr detaillierte Vorstellung etabliert, wie sie denn geöffnet werden. Elektronenmikroskopische Studien haben gezeigt, dass alle Stereovilli durch dünne Proteinfäden (tip links) nahe ihrer oberen Enden miteinander verbunden sind. Wenn ein Stimulus auf die Haarzelle einwirkt, reagiert deshalb der gesamte Schopf als funktionelle Einheit. Bei seiner Ablenkung in die Richtung, die eine Depolarisation der Zelle zur Folge haben wird, straffen sich die Proteinfäden und öffnen Transduktionskanäle genau an der Stelle, wo die Tip-links an den Stereovilli befestigt sind (Abb. 18.12). Die Kanäle werden von den Tiplinks durch Zug geöffnet; es kommt zum Einstrom von Kationen und dadurch zur Depolarisation. Bei
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Cupula
Stereovilli
Kontrolle durch ZNS
Kinocilium
0 -90 mV
Depolarisation Hyperpolarisation
Information zum ZNS
0 -90 mV
Abb. 18.11. Haarsinneszelle der Wirbeltiere und ihre bidirektionale Arbeitsweise
Rückstellung der Stereovilli entspannen sich die Tiplinks, und die Elastizität des Systems bewirkt das Schließen der Kanäle. Zur Adaptation des Systems an die Stärke der angreifenden Biegekräfte klettert ein Myosinmotor im Innern der Stereovilli mit dem Anheftungspunkt eines Tip-links an den Actinfilamenten empor und stellt so dessen Sollspannung ein. Der große Vorteil dieses Zugseil-Mechanismus ist, dass vom Eintreffen des Reizes (Auslenkung der Stereovilli) bis zur
elektrischen Reaktion der Haarzelle (Öffnung der Kanäle) nur Nanosekunden vergehen. Die Haarzelle kann extrem schnell reagieren – sie ist die schnellste aller Sinneszellen. Darüber hinaus wird bei Haarsinneszellen allgemein beobachtet, dass eine efferente Zuleitung vom ZNS zurück zu der Haarsinneszelle eine Empfindlichkeitseinstellung durch das ZNS ermöglicht. Im Bedarfsfall, wenn seine Meldung stören könnte, kann ein Rezeptor ausgeschaltet werden.
18.6 „Haar“-Sinneszellen und Neuromasten der Wirbeltiere
tip link
Myosinmotor
+
Na , K
+ Actin
Abb. 18.12. Mechano-elektrische Transduktion eines Abbiegereizes in eine Erregung. Bei einer Ablenkung der Stereovilli Richtung Kinocilium erweitern die Federzüge der tip links im Nachbarvillus den Öffnungszustand von Kationenkanälen. Mittels Myosinmotoren kann die Position der Kanäle entlang der Mikrovilli verschoben werden. Verschiebung Richtung Basis soll der Adaptation zugrunde liegen. Modellvorstellung nach Untersuchungen an Haarsinneszellen der Macula utriculi des Ochsenfrosches (Nach Hudspeth 1989)
18.6.3 Die Stereovilli mehrerer Haarsinneszellen können durch eine extrazelluläre Matrix gebündelt sein und reagieren dann kooperativ Man findet Haarsinneszellen in aller Regel nicht solitär, sondern in Gruppen zusammengefasst. Die sensorischen Apparate mit Kinocilium und Stereovilli der Mitglieder einer Gruppe ragen in eine gemeinsame, gallertige extrazelluläre Matrix (Cupula). Die sensorischen Apparate einer Gruppe werden also gemeinsam in gleiche Richtung abgebogen. So kann die Empfindlichkeit und Zuverlässigkeit des Gesamtorgans gesteigert werden. Mikroskopische Wasserturbulenzen sind als Störquelle und Ursache eines undefinierbaren Rauschens ausgeschaltet. Eine relativ kleine, auf einer Anhöhe postierte Gruppe von Haarsinneszellen heißt Neuromast (Abb. 18.13).
Abb. 18.13. Seitenlinienorgane beim Krallenfrosch Xenopus. Die Haarsinneszellen liegen in der Oberhaut und sind zu Gruppen (Neuromasten) zusammengefasst; Kinocilien und Stereovilli einer Gruppe ragen in eine gallertige Cupula, die von Wasserströmungen abgelenkt werden kann. Hügel zwischen den Cupulae können Wasserströmung bzw. Druckwellen auf zwei Cupulae zuleiten, die alsdann gegensinnig abgelenkt werden
18.6.4 Die Seitenlinienorgane der Fische und Amphibien als Sinn für Wasserströmungen, Ferntastsinn und niederfrequenten Wasserschall Warum stößt der ständig – auch in der dunklen Nacht und im Schlaf – schwimmende Fisch nicht gegen die Aquarienwand? Wie merkt er, auch wenn er hinter Wasserpflanzen verborgen ist, dass wir unsere Hand
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ins Becken tauchen? Fische, Kaulquappen und ständig im Wasser lebende Amphibien wie der Krallenfrosch Xenopus (Abb. 18.13) haben Seitenlinienorgane, mit denen sie Wasserströmungen und ihre eigene, relative Schwimmgeschwindigkeit registrieren. Seitenlinien sind entlang von Linien in Reih und Glied angeordnete Gruppen von Haarsinneszellen (Neuromasten). Sie können nicht nur Wasserströmungen, sondern auch Druckwellen wahrnehmen und dienen damit als Ferntastsinn. Druckwellen, die von den ständig wedelnden Brustflossen erzeugt werden, die der Schwanz zur Seite schleudert oder die der ruckartig vorschwimmende Fisch vor sich herschiebt, werden von der Aquarienwand reflektiert und von Neuromasten auf der Haut des Fisches oder Amphibs registriert. Grundsätzlich eignen sich die Neuromasten auch zur Perzeption von niederfrequentem Wasserschall. Die Neuromasten sind im Regelfall auf der Hautoberfläche entlang von Linien gruppiert, unter denen die ableitenden nervalen Leitungen verlaufen. Die ganze Körperoberfläche wird zum Sinnesorgan, dessen räumliches Auflösungsvermögen von der Dichte der Rezeptoren abhängt. Bei schnell schwimmenden Fischen sind die Neuromasten der vorderen Körperhälfte (teilweise) in Kanäle versenkt, die unter den Schuppen verlaufen (Abb. 18.14). Die sensorischen Apparate eines jeden Neuromasten sind durch eine gallertige Fahne zu einer Cupula zusammengefasst. Genau die gleichen Gebilde finden wir in unseren Bogengängen wieder. Kein Wunder; denn die Bogengänge und darüber hinaus das ganze Labyrinth des Innenohrs sind evolutionsgeschichtlich aus den Seitelinienorganen der Fische hervorgegangen! In der Embryonalentwicklung eines Wirbeltieres entsteht das Labyrinth auch heute noch, ebenso wie der Kanal eines in die Unterhaut abgesenkten Seitenlinienorgans, aus einer Einsenkung des Ektoderms (Plakode).
18.7 Das Labyrinth des Innenohrs: Dreh- und Schwerkraft- und Gleichgewichtssinn 18.7.1 Der Vestibularapparat des Labyrinths umfasst mehrere Sinne, die als Bewegungs- und Lagesinn zusammengefasst werden Mit dem Ohr hört man. Wagt man, nach weiteren Sinnen zu fragen, die im Innenohr lokalisiert sind,
Seitenlinien-Kanal mit internen Neuromasten (Ampullen)
Öffnungen
Neuromasten auf Oberfläche
Schuppe
Kanal unter der Haut Neuromast (Crista) mit Cupula
Abb. 18.14. Seitenlinienorgane bei einem Fisch. Im vorderen Körperbereich sind Neuromasten mit ihren Cupulae in Kanäle versenkt, die unter der Haut längs des Körpers verlaufen. Zuführende Stichkanäle durchbohren die Schuppen. Sie leiten Druckwellen in die Längskanäle
werden Antworten nicht selten unsicher und unpräzise. Das ist verständlich. Das Labyrinth des Innenohrs (Abb. 18.15) verwirrt nicht nur manchen Studienanfänger. Einerseits hat das Labyrinth mit seinem Vestibularapparat eine komplizierte Struktur, die Ansprüche an unser räumliches Vorstellungsvermögen stellt. Andererseits werden diesem Organ mehrere Sinne zugeschrieben, von denen man ahnt, dass sie irgendwie miteinander
18.7 Das Labyrinth des Innenohrs: Dreh- und Schwerkraft- und Gleichgewichtssinn
18.7.2 Die Bogengänge registrieren Drehbeschleunigungen
Labyrinth (Vestibularapparat) 1. Bogengänge Drehbeschleunigungen
Ampullen 90 o
2. Gleichgewicht Linearbeschleun. Macula utriculi Macula sacculi
3. Lagena
Cochlea Gehör
Abb. 18.15. Labyrinth (Vestibularapparat und Schnecke = Cochlea) eines Säugers. (Bei Fischen, Amphibien und Reptilien ist die untere Aussackung noch kurz, heißt statt Cochlea Lagena und enthält eine Macula ähnlich wie der Sacculus)
zusammenhängen, die aber gerade deshalb schwer auseinander zu halten sind: Ist das Labyrinth nun ein Gleichgewichtssinn, ein Bewegungssinn, oder ein „statischer Sinn“ (– die unglücklichste aller Bezeichnungen), ist es ein Schweresinn, ein Gravitationssinn, ein Lagesinn oder was? Es ist alles in einem. Wir gliedern das Gebilde in seine anatomischen und funktionellen Untereinheiten auf: Labyrinth I. Vestibularapparat 1. Bogengänge – Drehbeschleunigung = Winkelbeschleunigung = Rotationssinn 2. Maculaorgane (Macula utriculi, Macula sacculi) − Linearbeschleunigung − Schwerkraft − Gleichgewichtssinn II. 3. Cochlea = Schnecke: Gehör
Die Bogengänge eines Labyrinths sind bogenförmige, miteinander verbundene, häutige Schläuche (Kanäle), die mit Flüssigkeit (Endolymphe) gefüllt und in die Strömungsmesser eingebaut sind. Beim Menschen hat ein Bogengang einen Durchmesser von 6 mm. Die drei Bogengänge eines Labyrinths stehen in den drei Raumrichtungen senkrecht zueinander. Zwei sind vertikal angeordnet, im Winkel von 90° gegeneinander versetzt. Der dritte Bogengang ist horizontal gelagert (Abb. 18.15). Nahe der Einmündungsstelle zum gemeinsamen, zentralen Hohlraum, dem Utriculus, sind die Kanäle zu einer Ampulle erweitert. In diese Ampulle ragt ein kleiner Kamm (Crista) hinein, auf dem als Strömungssensor ein Neuromast, also eine Gruppe von Haarsinneszellen, aufsitzt. Die Kinocilien und die reizempfindlichen Mikrovilli der Haarsinneszellen sind mit einer gallertigen Fahne, der Cupula, zu einer funktionellen Einheit zusammengefasst. Die Fahne der Cupula ist an ihren Rändern mit der Kanalwandung verklebt, ist aber beweglich und elastisch genug, um im Spiel bewegender Strömungen leicht hin und her pendeln zu können. Bewegende Kräfte gehen von der Endolymphe aus. Wird der Kopf ruckartig gedreht, und mit ihm der fest im Schädelknochen verankerte häutige Bogengang, so bleibt während des Andrehens – d. h. in der Phase der positiven Beschleunigung – die Endolymphe aufgrund ihrer Trägheit zurück. Es kommt zu einer Bewegung der Flüssigkeitssäule relativ zur weggedrehten Kanalwand. Als Folge dieser Verschiebung drückt die Flüssigkeitssäule von einer Seite auf die Cupula; auf ihrer anderen Seite entsteht ein Unterdruck: Die Cupula wird ausgebeult (Abb. 18.16). Beim Abbremsen einer Drehbewegung – in der Phase der negativen Beschleunigung – kommt es zur Ablenkung der Cupula in Gegenrichtung. Wir kommen auf dieses Phänomen bald nochmals zurück, wenn wir während des Drehens auch noch auf die Augen schauen. Da gibt es Interessantes zu beobachten (s. Abschn. 18.8). So plausibel die Physik der Bogengänge nach diesen Basisüberlegungen zu sein scheint, so kompliziert werden die Phänomene, wenn man fachkundig an die Dinge herangeht. Die Strömungsverhältnisse in den von den Cupulae unterbrochenen Kanälen sind schwer zu berechnen und die Ebene aller drei
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18 Mechanische Sinne I: Strömungs-, Bewegungs-, Gleichgewichtssinne – und manche mehr
Bewegen wir unseren Körper ruckartig nach vorne, bleibt die schwere und träge Kristallmasse auf der wabbeligen Gallerte relativ zurück. Den Kristallen wird der Boden unter den Füßen weggezogen; die „Haar“-Schöpfe der Sinneszellen werden abgebogen (Abb. 18.17 u. 18.18). Maculae als Hörorgane. Bei Fischen kann ein spezifisch schwerer Otolith auf einer extrem wabbeligen Gallerte auch durch niederfrequente Schallwellen ins Zittern versetzt werden. Wasserschall dringt durch Haut und Knochen bis ins Innenohr.
Linearbeschleunigung des Körpers
Trägheits-bedingte Relativbewegung der Otolithen Gallerte
Abb. 18.16. Horizontaler Bogengang in Funktion. In den Kopf hinein vergrößert ist einer der beiden horizontalen Bogengänge. (Nach Thews et al.)
Bogengänge (aller sechs, wenn man die Labyrinthe beider Körperseiten betrachtet) ist ja verschieden und bei Bewegungen des Kopfes nicht konstant.
Erdbeschleunigung
18.7.3 Die Maculaorgane: Sie eignen sich zur Ermittlung geradliniger Linearbeschleunigungen Im zentralen Raum des Labyrinths, in den alle drei Bogengänge einmünden, ist auf dem Boden ein Feld von etwa einem Millimeter Durchmesser mit regelmäßig angeordneten Haarsinneszellen besetzt. Dieses Feld heißt Macula utriculi (Macula des Utrikels). Die Mikrovilli dieser Sinneszellen sind mit einer gallertigen Schicht abgedeckt. Auf der wabbeligen Masse dieser Deckschicht liegen Otokonien, das sind schwere Calcitkristalle (bei Nicht-Säugern meistens ein einheitlicher großer Otolith).
Abb. 18.17. Macula utriculi als Organ zur Wahrnehmung einer horizontalen Linearbeschleunigung
18.7 Das Labyrinth des Innenohrs: Dreh- und Schwerkraft- und Gleichgewichtssinn Abb. 18.18. Schwerkraftund Gleichgewichts-Wahrnehmungsorgane. Lage der Maculae im Kopf bei gerader und bei schräger Kopfhaltung. In den unteren Diagrammen zeigen die Pfeile an, in welcher Ablenkrichtung der Stereovilli die maximale Erregung gemessen wird
Maculae der Utriculi
Maculae der Sacculi
Muster der maximalen Richtungsempfindlichkeit
cula Ma
s culu Sac s de
Macula des Utriculus
Die anderen Maculae, die Maculae sacculi, sind bei der Wahrnehmung von Linearbeschleunigung jeglicher Richtung durchaus auch beteiligt. Der Einfachheit halber ziehen wir sie nur in die Betrachtung mit ein, wenn es um die Wahrnehmung der Schwerkraft und die Einstellung des Gleichgewichts geht.
18.7.4 Hauptfunktion der Maculaorgane ist die Ermittlung der Lotrechten, damit wir stets ins Gleichgewicht zurückfinden Eine stets wirksame Linearbeschleunigung ist die Gravitationsbeschleunigung, die von der Erdmasse ausgeht. Sinnesorgane, welche die Richtung der Erdbeschleunigung registrieren, werden in der Regel einem „Schweresinn“ oder Schwerkraftsinn zugeordnet. Der Begriff „Schweresinn“ ist zweideutig, der Begriff Schwerkraftsinn auch nicht eindeutig. Meistens meint das Wort „Schweresinn“ einen Sinn, mit dessen Hilfe die Richtung der Schwerkraft, also die Lotrechte, ermittelt werden kann. „Schweresinn“ kann aber auch die Fähigkeit meinen, das Gewicht einer Last abzuschätzen. Hierfür zieht das Gehirn die Meldungen von Druckrezeptoren der Haut, von Muskelspindeln und von Sehnenorganen zurate.
Wird der Kopf schräg zur Horizontalen abgewinkelt, rutscht die beschwerte Gallertmasse über der Macula des Utrikels schräg ab und die Mikrovilli werden abgebogen. Das Abrutschen wird von der Schwerkraft bewirkt. Daher eignen sich die Maculaorgane zur Ermittlung der Richtung der Schwerkraft (Lotrechten). Für die exakte Ermittlung der Lotrechten bei jeder beliebigen Raumlage des Kopfes stehen die Macula utriculi (Macula des Utrikels) beider Labyrinthe und die Macula sacculi (Macula des Säckleins) zur Verfügung. In der Normallage des Kopfes beim aufrechtstehenden Körper sind die Maculae der Utrikel horizontal gelagert; die Maculae der Sacculi hängen wie ein gerahmtes Bild senkrecht an der Wand (Abb. 18.18). Jede beliebige Kippung kann exakt registriert werden, wenn das Gehirn die Meldungen aller Maculae miteinander verrechnet. Gleichgewichtssinn. Man spricht vom Gleichgewichtssinn, weil die Meldungen der Maculae (und der Bogengänge) vom Gehirn unverzüglich verrechnet werden, um beim drohenden Verlust des Gleichgewichts über Befehle an die Muskulatur Gegenreaktionen einzuleiten. Sie sollen uns wieder ins Lot bringen. Beim Menschen liegt der Schwerpunkt des Körpers oberhalb der Hüftgelenke. Seine
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18 Mechanische Sinne I: Strömungs-, Bewegungs-, Gleichgewichtssinne – und manche mehr
Haltung ist höchst instabil; leicht gerät er ins Wanken und Stolpern. Allerhöchste Anforderungen an den Vestibularapparat werden auch bei Vögeln bei ihren Flugmanövern, bei Delphinen bei ihren Drehsprüngen und bei Fischen in turbulentem Wasser gestellt.
18.8 Einfluss der Dreh- und Gleichgewichtssinne auf das Sehen 18.8.1 Das Labyrinth hilft dem Auge in einer unruhigen Welt, ein Bild in Ruhe betrachten zu können Beobachtet man Tiere, oder seine eigene Erlebniswelt, kann man seltsame Dinge wahrnehmen: ●
●
Tiere drehen, wie immer man ihren Körper dreht und wendet, ihren Kopf – wenn nur irgend möglich – in die Horizontale. Der menschliche Säugling macht das ebenso (Abb. 18.19). Nach einem ausgiebigen Walzertanz scheint sich die Umwelt zu drehen.
Abb. 18.19. Kopfstellreflex. Der Kopf und die Augäpfel werden nach Möglichkeit horizontal gehalten, um eine Verdrehung des Bildes auf der Netzhaut zu vermeiden
●
Im kurvenden Flugzeug kippt der Horizont. Die gesehene Welt wird offensichtlich von einer mechanischen Kraft, der Fliehkraft, beeinflusst.
Physiologischer Zweck der reflektorischen Waagrechtstellung des Kopfes ist der „Wunsch“ des Auges, das Bild auf der Retina möglichst konstant zu halten. Nur wenn das Bild nicht dauernd hin und her pendelt und die räumlichen Beziehungen der Hauptelemente des Bildes sich nicht allzu schnell verändern, kann das Bild gut ausgewertet werden. Vor allem aber werden bewegliche Objekte nur dann als beweglich erkannt, wenn die Hauptbildelemente der Umgebung in Ruhe sind.
18.8.2 Nichts als Schwindel: der vestibuläre Nystagmus und die Welt, die sich nach dem Tanze dreht Wir blicken unseren Mitreisenden in die Augen, wenn sie im fahrenden Zug aus dem Fenster sehen. Ihr Blick fixiert einen beliebig und meistens unbewusst ausgesuchten Bildpunkt. Interessante Bildelemente sollen in der Fovea centralis der Netzhaut, dem Ort des schärfsten Sehens, abgebildet bleiben. Um den Punkt im Auge zu behalten, bewegt sich der Augapfel langsam entgegen der Fahrtrichtung solange, bis der Punkt aus dem Gesichtsfeld verschwindet oder das Auslenkmaximum des Augapfels erreicht ist. Dann springt das Auge zurück, erfasst einen neuen Bildpunkt und dreht sich wieder langsam entgegen der Fahrtrichtung. Diese Blickbewegungen – langsames Hin, schnelles Zurück – heißen Sakkaden oder Nystagmus. Sie dienen, ebenso wie die Horizontalstellung des Kopfes, dazu, das Bild auf der Retina möglichst lange unbewegt zu halten, damit es in Ruhe ausgewertet werden kann. Solche kompensatorischen Augenbewegungen werden durch die Bildverschiebung auf der Retina selbst ausgelöst. Man spricht vom optokinetischen Nystagmus. Der Vestibularapparat ist hierbei nicht involviert, jedenfalls solange nicht, wie man den Kopf ruhig hält. Der Vestibularapparat kommt aber ins Spiel, wenn sich unser Körper nicht mit gleichförmiger, geradliniger Geschwindigkeit bewegt, sondern plötzlich beschleunigt oder gedreht wird – oder wenn wir aktiv unseren Kopf bewegen.
18.8 Einfluss der Dreh- und Gleichgewichtssinne auf das Sehen
Gleichgewichtsorgane
Pilot im Segelflugzeug
v=x
90 o
v = 3x
ltie
ren
de
Fliehkraft
su
Kompensation bei (passiver) Drehung des Kopfes. Das visuelle Auswertsystem in unserem Gehirn lässt sich vom Drehsinn mitteilen, in welche Richtung unser Kopf gedreht wird. Über Befehle an die Zugmuskeln des Augapfels versucht das Wahrnehmungssystem, eine Verschiebung des Retinabildes zu vermeiden. Wenn dies nicht mehr gelingt, wird das von der Retina gelieferte Bild in der mentalen Welt des Sehens kompensatorisch zurechtgerückt, um es als Abbild einer unbewegten Umwelt werten zu können. Sitzt man auf dem Drehstuhl und lässt sich – nicht allzu schnell – im Kreise drehen, rollt man die Augen nach dem Muster des Nystagmus – langsam hin, rasch zurück. Wir nehmen an, dass es sich um einen optokinetischen Nystagmus handelt. Nun schließt man die Augen. Mit unserem Finger auf dem Augenlid spüren wir, wie die Augäpfel ihre Zick-Zack-Bewegungen noch einige Sekunden lang fortsetzen, obwohl das Auge kein Bild empfängt. Wir erspüren mit unseren Fingern den vestibulären Nystagmus. Lässt man sich gleichförmig weiterdrehen, wird die Endolymphe in den Bogengängen bald mit gleicher Winkelgeschwindigkeit wie die Kanalwandung selbst rotieren. Die sperrige Cupula und die Reibung an der Kanalwand haben einen starken Mitnahmeeffekt. Schließlich, nach wenigen Sekunden Drehzeit, sind Endolymphe und Kanalwand gleichförmig bewegt; die Cupula wird nicht weiter abgelenkt und kehrt aufgrund ihrer Elastizität in ihre Ausgangslage zurück. Das Gefühl, gedreht zu werden, schwächt sich ab oder verschwindet ganz und der vestibuläre Nystagmus kommt zum Stillstand. Wird dann der Drehstuhl plötzlich abgebremst, dreht sich die träge Endolymphe im horizontalen Bogengang einen Moment lang in der bisherigen Richtung weiter, während der Kopf, und mit ihm die Wandung des Bogengangs, schon zum Stillstand gekommen ist. Die Cupula wird wieder abgelenkt, aber in entgegengesetzter Richtung wie zuvor.
Öffnet man nun die Augen, scheint sich die Welt rhythmisch in Gegenrichtung weiterzudrehen. Es ist die gesehene Welt, die sich scheinbar dreht! In Wirklichkeit sind es die Augen, die sich nystagmisch
Re
Kompensation bei aktiver Augenbewegung. Wenn wir nach eigenem Willen unsere Augen bewegen, „weiß“ unser Gehirn von vornherein, dass eine Verschiebung des Retinabildes eintreten wird, eine Verschiebung, die gar nicht von einer bewegten Umwelt, sondern vom bewegten Auge herrührt. Das Gehirn ignoriert bzw. kompensiert diese Verschiebung.
90o Schwerkraft 90o Ho
riz
on
t
Abb. 18.20. Scheinbares Kippen des Horizontes im kurvenden Flugzeug. Außer der Schwerkraft zerrt auch die Fliehkraft an den Otokonien auf der Gallertmasse der Maculae. Der Einfachheit halber sind nur die normalerweise horizontal gelagerten Maculae utriculi berücksichtigt; sie sind links und rechts des Kopfes herausvergrößert. Die Achsenrichtung der Stereovilli (rote Bürste) definiert die Lotrechte in unserer Wahrnehmung. Diese Achsenrichtung der Villi ist parallel zur Resultierenden zwischen Flieh- und Schwerkraft. Als Horizontlinie definiert unser Wahrnehmungssystem eine Gerade im 90° Winkel zu dieser vermeintlichen Lotrechten
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18 Mechanische Sinne I: Strömungs-, Bewegungs-, Gleichgewichtssinne – und manche mehr
drehen – blind den Pseudomeldungen der Bogengänge folgend im Bestreben, trotz (vermeintlicher) Drehung des Körpers einen fixen Bildpunkt auf der Fovea centralis festzuhalten. Das optische Auswertsystem wiederum erwartet eine rhythmische Verschiebung des Bildes auf der Retina und dreht das innere Sehbild kompensatorisch in Gegenrichtung. Diese zentralnervöse Gegendrehung des inneren, im Kopf erzeugten Bildes „sehen“ wir, glauben aber, es sei die gesehene Umwelt, die sich dreht. Der Schwindel hält an, bis die Endolymphe der Bogengänge zur Ruhe gekommen ist. 18.8.3 Warum beim Blick aus dem kurvenden Flugzeug die Welt kippt Um bei jeder Kipp- und Drehbewegung des Kopfes oder der Augen das Bild auf der Retina in die richtige Lage rücken zu können, muss eine WaagZusammenfassung des Kapitels 18 Mechanorezeptoren werden nicht nur für erlebnisintensive Sinnesleistungen wie Tastsinn und Gehör eingesetzt. Sie vermitteln als Proprio- und Enterorezeptoren viele Informationen über unseren Körper, die nur mit unauffälligen oder unbewussten Wahrnehmungen verbunden sind. Mechanorezeptoren registrieren beispielsweise den Blutdruck, die Winkelstellung unserer Gliedmaßen (Gelenksinn), melden Druck- und Zugspannungen und damit auch die Schwere von Lasten (Druck: Tastsinn; Zugspannungen: Muskelspindeln, Sehnenorgane, Gelenksinn). Große Funktionsvielfalt wird auch bei Wirbellosen gefunden. Beweglich verankerte, haarförmige Cuticulastrukturen der Arthropoden dienen als Tastsensillen, um die Stellung der Körperteile gegeneinander zu registrieren, oder als Schwerkraftrezeptoren. Bei Nicht-Arthropoden werden hierzu oftmals Cilien eingesetzt, die in Statocysten die schwerkraftbedingte Ablenkung eines schweren Körpers registrieren. Haarsensillen passender Konstruktion werden von Insekten auch eingesetzt zur Wahrnehmung von Luftströmungen, der Fluggeschwindigkeit, von Vibrationen und Schall. Ande-
rechte definiert werden, an der die Linie des Horizontes ausgerichtet werden kann. Eine Waagrechte ist definitionsgemäß eine Gerade, die senkrecht zur Lotrechten steht. Also eignen sich die Meldungen der Maculaorgane, um zuverlässig die Horizontlinie festzulegen – es sei denn, man setzt sich auf dem Karussell oder im Flugzeug unnatürlich großen Fliehkräften aus. Fliehkräfte zerren an den Otolithen der Maculae ebenso wie die Schwerkraft, nur in waagrechter statt in lotrechter Richtung. Fliehkraft und Schwerkraft mitteln sich zu einer Resultierenden. Diese wird vom Sinnessystem als Lotrechte missdeutet. Da nun aber der Horizont unserer Sehwelt im Winkel von 90° zur (vermeintlichen) Lotrechten gezogen wird, ist der gesehene Horizont gegenüber dem echten Horizont gekippt. Je größer die Winkelgeschwindigkeit des Flugzeuges, desto größer die Fliehkraft; desto stärker ist der gesehene Horizont gekippt (Abb. 18.20). re, in die Cuticula eingelassene Sensillen reagieren auf Verwindungen der Cuticula (z. B. campaniforme Sensillen). Sie dienen der Fliege als Torsionsmesser im Flug und verraten als Spaltsensillen der Spinne das im Netz zappelnde Insekt. Bei Wirbeltieren wird die „Haarsinneszelle“ besonders vielseitig eingesetzt. Ihr apikaler Haarbesatz besteht aus einem Kinocilium und vielen Stereovilli, die mit mechanosensitiven Ionenkanälen bestückt sind. Haarsensillen haben eine Richtcharakteristik; sie beantworten je nach Einfallsrichtung des Reizes die Scherung der Stereovilli mit einer Senkung oder Erhöhung der Frequenz unablässig losgeschickter Spikes. Haarsensillen sind die reizaufnehmenden Elemente der Seitenlinien, einem Sinnesorgan, mit denen Fische und im Wasser lebende Amphibien Wasserströmungen, Druckwellen und niederfrequenten Schall registrieren. Haarsinneszellen finden sich in großer Zahl in unserem Innenohr, dem Vestibularorgan (Labyrinth), das drei Sinnesorgane enthält: 1. Die Bogengänge, Sinn für Drehbeschleunigung. In den Ampullen der Bogengänge registrieren Haarsinneszellen die durch Drehbeschleunigungen des Kopfes entstehenden Relativbewegungen der Endolymphe.
Zusammenfassung des Kapitels 18
2. Die Maculaorgane. Hier erfassen die mit einer gallertigen Masse und Calcitkristallen bedeckten Haarsinneszellen (a) Linearbeschleunigungen, die unser Körper bei einer beschleunigten Vorwärtsbewegung erfährt, und sie registrieren (b) die Richtung der Erdbeschleunigung (Schwerkraft). In dieser Funktion vermitteln die Maculaorgane den Gleichgewichtssinn. Die Sinne der Bogengän-
ge und Maculaorgane arbeiten mit dem Sehsinn zusammen, was sich im Sonderfall als Sinnestäuschung bemerkbar macht (z. B. Kippen des gesehenen Horizonts beim Kurvenflug des Flugzeugs). 3. Dem dritten mit Haarsinneszellen ausgestatteten Sinnesorgan des Innenohrs, dem Gehörorgan, ist das folgende Kap. 19 gewidmet.
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Farbtafeln 17–24
Tafel 17 Augen I. Linsen-Blasenaugen. A Meduse Cladonema radiata mit punktförmigen, roten Augen an Antennenbasis. B Augen eines transparenten Tiefseecephalopoden. C Augen der Springspinne Hentzia palmarum. D Auge vom Mantelrand der Muschel Pecten. E Auge eines Greifvogels. F Auge eines Octopus. Bildquellen: A Volker Schmid, aus Müller & Hassel: Entwicklungsbiologie, 2006; B unbekannter Herkunft; C Opo Terser, www.flickr.com; D Bildarchiv Meeresstation Woods Hole; E, F unbekannter Herkunft Tafel 18 Augen II. A Mikroskopisches Bild einer Mücke. B Holcocephala fusca. C Schnitt durch ein Auge von Drosophila. D Fliegenauge. F Augen eines marinen Krebses (Stomatopode, Mantis-shrimp). Bildquellen: A wiredscience; B Opo Terser; www. flickr.com; C Nikoninstruments-Archiv; D Raija Peura, University of Oulu, Institute of Electron Optics; F Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Roy L Caldwell, University of California, Berkely Tafel 19 Abbildungen zu Kap 22 I Tafel 20 Abbildungen zu Kap 22 II Tafel 21 Farbtest. A Test auf Rot-Grün-Schwäche (Protanopie); Normalsichtige sehen eine 8. B Falls man nur 1 sieht besteht Rotschwäche, falls nur 2 Grünschwäche; Normalsichtige sehen 12. C Rotblinde erkennen die 2, Grünblinde die 4, Normalsichtige 42. D Normalsichtige sehen 74; wer 21 sieht hat vermutlich eine Störung in einem oder zwei Zapfentypen. E Wer nur die 8 sieht, hat eine RotGrünblindheit zu befürchten; wer nur eine 12 sieht, hat eine Blau-Gelb-Störung; wer 182 sieht, kann zufrieden sein. F Hier sollte man H8 oder N8 sehen
Tafel 22 Farb- und Helligkeitswahrnehmung. Beeinflusst je nach Umfeld, Beleuchtungsstärke und unserer Erwartung. Die in jedem Teilbild mit Pfeil gekennzeichneten Felder sind physikalisch identisch. Beispiel B: Das braun bzw. gelborange erscheinende Feld im Zentrum der oberen bzw. seitlichen Fläche haben physikalisch dieselbe Farbe. D Eingebildete Farben. Das Bild enthält nur grüne und rote Pixel gleicher Art und nicht zwei verschiedene Rottönen. Bildquellen: A ursprünglich entworfen von Edward H. Adelson; D scienceblogs.com, Bildautor nicht genannt. Alle anderen Bilder stammen von Experimenten aus dem Labor von Prof. Lotto (www. lottolab.org); mit freundlicher Genehmigung von Prof. R. Beau Lotto, University College London Tafel 23 Optische Illusionen I. Irrige Sichtweisen, zweideutige Figuren. A Die orange Kreisflächen links und rechts sind gleich groß. B Die waagrechten Linien sind physikalisch gerade und nur scheinbar gekrümmt oder schräg verlaufend. Prüfe mit einem Lineal! C Zweideutige Bilder: C1: Gesicht oder Blumen? C2: Alte oder junge Dame?. D Scheinbare Wölbung; man prüfe mit einem Lineal nach! E Gipsportrait des einstigen Tennisstars Björn Borg. Es handelt sich um eine konkave Hohlmaske, die in unserer Wahrnehmung aus dem Zusammenspiel von geschickter Beleuchtung und unserer Erwartung zu einem erhabenen (konvexen) Relief wird. F Ebener Fliesenboden, Blöcke vortäuschend. G Kuben nach dem Prinzip des Neckerwürfels von Victor Vasarely. Bildquellen: A-D weit verbreitete Quellen ohne ©; E University of Uppsala; G Explora-Museum im Science Center Frankfurt (www.explora.info)
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Farbtafeln 17–24
Tafel 24 Optische Illusionen II. Scheinbewegungen, Scheinlinienverläufe. A, B Bei ungenauem Hinschauen entstehen Scheinbewegungen. Beim Fixieren hören die Scheinbewegungen auf. A Die blauen Ovale bewegen sich scheinbar zum schwarzen Loch hin. B Die Kreise drehen sich. Scheinbewegungen funktionieren bei großem Bild auf dem Bildschirm des PC viel besser als bei Papierbildern, daher Verweis auf Internetquellen. C Eine Spirale?
Achtung! Man markiere auf einer Linie einen Ausgangspunkt und fahre dann der Linie entlang. Wo endet man? Bildquellen: Bild A ist zu finden unter www. flickr.com - fotostream von krandolph (Bild hier wiedergegeben mit Erlaubnis von Kerry Randolph). B www.flickr.com, fotostream von son of twins, Album creative stuffs. C Lehrbildsammlung
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Tafel 17
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19 Das Gehör
Unser Gehör vermittelt nicht nur reichhaltige Information, die aus unserer Umwelt oder dem Munde unseres Gesprächspartners unser Ohr erreicht. Schall, Töne, Klänge, Melodien und Rhythmen vermitteln auch vielerlei Empfindungen und beleben
unsere Gefühlswelt. Bevor wir ins Innenohr hineinschauen, lassen wir uns erst vom Physiker und Wahrnehmungspsychologen sagen, was er über Hören und Gehörtes zu sagen weiß (Box 19.1); denn dann wissen wir erst, was die Physiologie alles erklären sollte.
BOX 19.1
Zu Physik und Biophysik von Schall, Ton und Hören Begriffe der Akustik, der Physiologie und der Wahrnehmungspsychologie überlappen sich Begriffe wie Ton, Klang, Geräusch und Lautstärke entstammen der mentalen Welt unserer Empfindung, unserer inneren Hörwelt. Ist diese Hörwelt gemeint, verwendet man Adjektive wie auditorisch oder auditiv. Begriffe wie Frequenz, Schalldruck, Schallintensität und Dezibel entstammen der Welt der Physik. Hier ist das Adjektiv akustisch angebracht. Im Alltag werden die Begriffe aber keinesfalls sauber getrennt gebraucht, auch nicht in den Wissenschaften. Tonhöhe meint in der Regel sowohl den gehörten Ton wie die physikalisch messbare Frequenz einer Luftdruckschwingung, die im Regelfall den gehörten Ton hervorruft. So spricht man von einem „Ton von 440 Hz“. Dass diese Vermischung zweier Welten, der physikalischen Welt der Schwingungen und der mentalen Welt des Hörens, nur selten zu Missverständnissen führt, rührt daher, dass es nachvollziehbare und leidlich zuverlässige Zuordnungen zwischen beiden Welten gibt. Luftschwingungen der Frequenz 440 Hz erzeugen eben bei intaktem Gehör zuverlässig einen Ton, dem man den Namen Kammerton a gab. Dass im Prinzip Hörwelt und physikalische Akustik getrennte Welten sind, zeigen Phantomstimmen, die mancher psychisch Kranke hört. Bisweilen aller-
dings hört auch der gesunde Mensch Töne rätselhafter physikalischer Herkunft, so beispielsweise beim Glockenklang und Orgelspiel. Solche Töne rätselhafter Herkunft sind für den Physiologen, den Akustiker und den Musiker gleichermaßen interessant. Ein einfaches physikalisches Modell soll helfen, grundlegende Schallparameter zu verstehen und zu definieren Gegeben sei eine Röhre, an deren einem Ende ein beweglicher Stempel (oder die Membran eines Lautsprechers) die Luft in der Röhre in raschem aber regelmäßigem Tempo durch Vorwärtsstoßen und Rückwärtsschwingen abwechselnd komprimiert und wieder verdünnt. So erzeugt der Stempel eine Folge von Kompressions- und Verdünnungswellen (Abb. 19.1). Bei jedem Stoß nach vorne gibt der Stempel den Luftmolekülen einen Impuls mit. Die Luftmoleküle fliegen ein Stück voran, stoßen auf Nachbarn, übergeben ihnen den Impuls. Bewegt durch den Stoß fliegt das Nachbarmolekül selbst ein Stück voran und stößt auf das nächste Molekül. Auf diese Weise pflanzt sich die Verdichtungswelle und mit ihr der Impulsstrom fort. Hinter dem Ausgang des Rohrs befinde sich eine bewegliche Membran, nennen wir sie Trommelfell. Immer wenn eine Verdichtungswelle auf die Membran prallt, übergeben die Moleküle ihren Impuls der Membran. Die Gesamtheit der stoßenden Luftmoleküle erzeugt Druck; die Membran
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19 Das Gehör
BOX 19.1 (Fortsetzung)
den Hörbereich eingrenzt. Zur Übertragung hoher Schallfrequenzen muss ein Schallübertragungssystem massearm und steif sein. Die Trommelfellmembran ist dünn und straff gespannt. Fortbewegung einer Schallwelle. Man könnte meinen, die Moleküle, denen wir mit unserem Stempel einen Stoß versetzt haben, seien auch die, die etwas später am anderen Rohrende auf die Membran prallen. Das ist nicht so. Wenn ein Molekül an seinen Nachbarn gestoßen ist und ihm den Impuls weitergegeben hat, schwingt es wie ein Pendel zurück bis es durch den nächsten Stoß wieder nach vorn geworfen wird. Die Welle der Verdichtung als solche, nicht aber die Schar der Luftmoleküle, breitet sich als elastische Longitudinalwelle aus. (Dass solche Wellen auch mal von einem drehenden Geräuscherzeuger ausgehen und sich kugelförmig ausbreiten können, beweist der penetrant singende Ton des Zahnbohrers.)
Druckmax.
Schnellemax.
Druckmax.
Abb. 19.1. Schallwellen. Erzeugung durch einen beweglichen Stempel und Pendelbewegungen einzelner Luftmoleküle
wird ausgebeult. Der Druckzone folgt eine Verdünnungszone, d. h. eine Zone erniedrigten Luftdrucks. Die Membran schwingt zurück. Die Membran reagiert auf Luftwechseldruck = Schall, indem sie hin und her schwingt. Eine Luftdruckwelle mit Verdichtungs- und Verdünnungszone erzeugt eine Schwingungsperiode mit Hin-und Rückbewegung des Trommelfells. Eine Schwingung wird gekennzeichnet durch ihre Frequenz und ihre Amplitude, d. h. ihre Schwingungsweite. Eine Frequenz von 1000 Hz bedeutet, dass das Trommelfell pro Sekunde 1000mal vor und zurück schwingt. Frequenzeinheit: 1 Hz = 1 Schwingung/s. Schwingungsdauer: Bei f = 5 Hz ist die Schwingungsdauer T =1/5 s. Generell gilt: f = 1/T und umgekehrt. Die physikalischen Eigenschaften der Trommelfellmembran sind ein erstes Filtersystem, welches
Schall(-Ausbreitungs)-Geschwindigkeit (Phasengeschwindigkeit). Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Druckwelle ist eine Funktion des tragenden Mediums (in gewissem Ausmaß auch der Wellenlänge eines Tons und der Temperatur des Mediums, was wir hier vernachlässigen wollen): ●
Luft: 330 m/s
●
Wasser: 1480 m/s
●
Aluminium: 5000 m/s
Schallschnelle. Das Beispiel eines metallenen Schallträgers zeigt schon, dass es nicht das einzelne Atom oder Molekül sein kann, das in die Ferne fliegt. Das einzelne Aluminiumatom oder Luftmolekül pendelt hin und her. Und wie beim schwingenden Pendel ist seine augenblickliche Geschwindigkeit in der Mitte zwischen den Wendepunkten seiner Pendelbahn am größten. Diese Augenblicksgeschwindigkeit der hin und her schwingenden Luftmoleküle ist die Schallschnelle (Abb. 19.1). Ein besserer, weil weniger der Gefahr von Missverständnissen ausgesetzt, ist der Ausdruck Partikelbeschleunigung. Schallschnelle-Empfänger versus Schallwechseldruck-Empfänger. Zoologen unterscheiden
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19 Das Gehör
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BOX 19.1 (Fortsetzung)
zwischen Schallschnelle- und SchallwechseldruckEmpfängern. Als Schallschnelle-Empfänger kommen Strukturen in Betracht, die extrem leicht hin und her schwingen können gemeinsam mit einer Schar von Luftmolekülen. Solche Strukturen können Cuticularhaare (s. Abb. 18.4) sein oder Antennen, deren Basis an feinsten Gummifäden aufgehängt ist. Die Mehrzahl aller Hörorgane, darunter auch die Tympanalorgane der Insekten und unser Ohr, sind Schallwechseldruck-Empfänger. Sie sind daran zu erkennen, dass die Schallenergie wie am Ende unseres Modellrohrs mit einer Membran, einem Trommelfell (Tympanum), aufgefangen wird. Frequenz – Tonhöhe. Wir können in unserem Modellrohr den Stempel langsam oder rasch hin und her schieben. Entsprechend schicken wir wenige Druckpulse pro Zeiteinheit auf den Weg oder viele. Im Mindestfall schicken wir 16 Druckpulse pro Sekunde auf den Weg, im zweiten Fall 1000, im dritten 16 000. Bei gleichförmiger Arbeit erzeugen wir gleichförmige Sinuswellen. Wäre die Membran am Rohrende unser Trommelfell, hörten wir bei 16 Hz einen tiefen, vibrierenden Brummton, bei 1000 Hz einen hohen, bei 16 000 Hz (16 000 Schwingungen/ s = 16 kHz) einen sehr hohen, kaum mehr wahrnehmbaren Piepston. Schwingungen unterhalb 16 Hz (Infraschall) erzeugen allenfalls noch schwer wahrnehmbare Einzellaute oder mit der Haut tastbare Vibrationen, aber keinen kontinuierlichen Ton mehr. Das Hören von Ultraschall jenseits von 20 kHz ist einigen Tieren (u. a. Spitzmäusen, Fledermäusen, Delphinen) vorbehalten. Die menschliche Sprache enthält überwiegend tiefe Schallfrequenzen. Die Stimmbänder des Mannes senden auf Frequenzen ab 120 Hz, die Stimmbänder der Frauen auf Frequenzen ab 240 Hz. Freilich sprechen wir keinen Ton, auch wenn wir nicht gerade schweigsam sind, sondern erzeugen Geräusche, bestenfalls Klänge; und das Spektrum der Frequenzen in der Sprache reicht über 3000 Hz hinaus. Druckamplitude – Tonstärke. Bei gleicher Frequenz, sagen wir 1000 Hz, stoßen wir den Stempel jeweils nur ein kleines Stückchen oder tief ins Rohr. Im ersten Fall bei geringer Schwingungsweite ist die Verdichtung gering, im zweiten Fall bei hoher
Schwingungsamplitude schieben wir viele Luftmoleküle zusammen, die Verdichtung (= Druckamplitude) ist hoch. Bei gleicher Frequenz hören wir bei geringen Druckamplituden einen leisen, bei hohen Druckamplituden einen lauten Ton gleicher Tonhöhe. Die Druckamplitude ist die Differenz zwischen dem höchsten und dem tiefsten Luftdruck eines Wellenzugs. Die Schwingungsamplituden, die unser Trommelfell vollführt, sind äußerst gering und können im Bereich von 3 kHz kleiner als der Durchmesser eines Luftmoleküls sein. Töne und Klänge. Auch eine „rein“ singende menschliche Stimme und ebenso ein Musikinstrument erzeugen in der Regel keine reinen Sinusschwingungen, sondern eine Summe sich überlagernder Sinuswellen, die wir als Klang empfinden, sofern das Überlagerungsmuster nicht allzu chaotisch wird. Ein angenehmer Ton kann stets durch Überlagerung von Sinusschwingungen einer bestimmten Grundfrequenz (z. B. 440 Hz) und ihrer ganzzahligen Vielfachen, den Oberschwingungen oder Obertönen dargestellt werden (hier 440 Hz, 2 × 440 Hz, 4 × 440 Hz etc.; Fourierreihe). Die Begriffe Grundschwingung (oder Grundton) und Oberschwingung (oder Oberton) werden mehr und mehr durch den Begriff Teilton oder den Begriff der Harmonischen ersetzt: ●
Grundton = 1. Harmonische
●
Oberton = 2. Harmonische
●
Oberton = 3. Harmonische, usf.
Die im Frequenzgemisch enthaltene Schwingung mit der niedrigsten Frequenz bestimmt die gehörte Tonhöhe, sofern diese Grundschwingung nicht schwächer als die der Oberschwingungen ist. Die Stärke, mit der die einzelnen Oberschwingungen (Teiltöne) vertreten sind, bestimmt die Klangfarbe. Der Kammerton a (440 Hz) des Kammersängers klingt anders als der gleich hohe Ton der Flöte oder der Geige. Harmonische Klänge und Intervalle. Dem altgriechischen Mathematiker Pythagoras und seinen Schülern wird die Erkenntnis zugeschrieben, dass zwei gleichzeitig angeschlagene, gleich gespannte Saiten dann einen angenehmen, har-
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19 Das Gehör
BOX 19.1 (Fortsetzung)
monischen Klang erzeugen, wenn ihre Längen im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen zueinander stehen (Tabelle 19.1). Eine Halbierung der Saitenlänge erzeugt einen Ton, der um eine Oktave höher liegt. Tabelle 19.1. Pythagoräische musikalische Intervalle Saitenunterteilung
es erklingt die
Beispiel
1:2 2:3 3:4 4:5 8:9 (dissonante)
Oktave Quinte Quarte (große) Terz große Sekunde
c–c’ c–g c–f c–e
Für eine effektive Unterteilung muss die Saite nicht mit der Beißzange getrennt werden; es genügt der aufgedrückte Finger des Spielers. Man hört einen Klang, wenn eine ungeteilte und eine geteilte Saite gleichzeitig angeschlagen werden; man hört ein Intervall, wenn sie kurz nacheinander angeschlagen werden Der französische Geistliche und Mathematiker Mersenne (1588–1642) erkannte, dass bei einem um eine Oktave erhöhten Ton die Saite mit doppelter Frequenz schwingt. Die Oktave entspricht also dem 1. Oberton in einem Klang. ●
Wellenlänge des Grundtons = 2 × Saitenlänge
●
Wellenlänge des 1. Obertons = 1 × Saitenlänge – 1. Oktave
●
Wellenlänge des 2. Obertons = 1/2 Saitenlänge – 2. Oktave
●
Wellenlänge des 3. Obertons = 1/4 Saitenlänge – 3. Oktave
Tonleitern. In vielen Kulturen, so auch im alten Ägypten, ist die Oktave siebenfach unterteilt worden, ebenso in der Tonleiter des Pythagoras, welche die Basis der europäischen Musik bildet. Die Tonfolge ist uns bekannt: Beispiel C-Dur Tonleiter: ●
c’ = 264 Hz
●
d’ = 9/8 × 264 Hz = 297 Hz
●
e’ = 10/9 × 297 Hz = 330 Hz
●
f ’ = 16/15 × 330 Hz = 352 Hz
●
g’ = 9/8 × 352 Hz = 396 Hz
●
a’ = 10/9 × 396 Hz = 440 Hz; Kammerton
●
h’ = 9/8 × 440 Hz = 495 Hz
●
c’’ = 16/15 × 495 Hz = 528 Hz = 2 × 264 Hz = Oktave
Temperierung. Mit dem Ganztonschritt von d’ nach e’ gelangt man zu zwei verschiedenen Tönen, je nachdem ob man das Frequenzverhältnis 9/8 oder 10/9 wählt. Der Ton e’ hat in C-Dur 10/9 × 297 Hz = 330 Hz; in D-Dur aber 9/8 × 297 Hz = 289,1 Hz und klingt entsprechend tiefer. Ist ein Instrument in natürlichem C-Dur gestimmt, kann man darauf kein D-Dur spielen. Man hat verschiedene Möglichkeiten eines Ausgleichs entwickelt, sodass innerhalb eines Stückes moduliert und in andere Tonarten transponiert werden kann. Die bekannteste Lösung ist die wohltemperierte Stimmung. In ihr sind alle Ganz- und Halbtonschritte gleich. In der heute gebräuchlichen gleichschwebenden Temperatur wird der Oktavenraum in zwölf gleiche Tonabstände geteilt. Dieses chromatische Zwölftonsystem erlaubt die Transposition einer Melodie in jede andere Tonart, nimmt andererseits ein zwar konstantes aber unreines Verhältnis von 1:1,0594 (1,0594 = zwölfte Wurzel von zwei) zwischen Nachbartönen in Kauf. Kombinationstöne und virtuelle Töne. Keineswegs alle gehörten Teiltöne eines Klangs sind im Spektrum der physikalischen Schwingungen des Schalles repräsentiert. Zum einen kann unser Gehör eine physikalisch nicht vorhandene Grundschwingung aus dem Gedächtnis hinzufügen. Das Telefon überträgt nur Frequenzen oberhalb 300 Hz. Die in unserer Sprache enthaltenen tieferen Frequenzen (beim Mann 120 Hz, bei der Frau 240 Hz) werden mehr oder weniger gut hinzugedichtet. Zum anderen können durch Überlagerung mehrerer Töne bisweilen in unserem Gehör additive Figuren entstehen, die sich periodisch wiederholen. Dann hört man eine Tonhöhe, für die es keinen Grundton gibt (Kombinationston von Orgelpfeifen). Bei der Höhe solcher Kombinationstöne kommt es auf die Periodizität der Schwebefiguren an. Darüber hinaus gibt es Töne, bei denen man nicht einmal eine Figurenperiodizität findet, die aber dennoch nicht reine Illusion sind. Solche virtuellen Töne repräsentieren bestimmte mathematische Beziehungen der Teiltöne untereinander, die dem Ohr helfen, eine Schallquelle zu identifizieren (Terhardt 1989).
Dissonanzen erklingen nach Hermann von Helmholtz, wenn zwischen den Oberschwingungen Schwebungen entstehen. Geräusche, Rascheln, Knall etc. werden von Schallereignissen hervorgerufen, bei denen die
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physikalischen Messinstrumente nicht nur unregelmäßige Schwingungsmuster, sondern mehr noch unregelmäßige Schalldruckschwankungen registrieren. Skalen der Lautstärke. Wir hatten gesagt, dass die Druckamplitude Ρ, d. h. die Differenz zwischen dem höchsten und tiefsten Luftdruck einer Druckwelle, die gehörte Lautstärke bestimmt. Diese Aussage muss in mehrfacher Hinsicht präzisiert und ergänzt werden. Bei einem gegebenen Ton sind die Druckmaxima der einzelnen Wellenberge gleich hoch. Diese Druckmaxima sind es, welche die Auslenkmaxima des Trommelfells bestimmen. Druck wird im SI-System in N/m2 = Pascal Pa angegeben. Wenn man nun die gehörte Lautstärke in Beziehung setzen will zum physikalischen Schalldruck in Pa, so ergeben sich zwei Probleme: (1) Die empfundene Lautstärke ist keine lineare Funktion des Schalldrucks. (2) Die gehörte Lautstärke ist nicht ausschließlich Druck-, sondern auch Frequenz-abhängig. Schallpegel werden in einer Vergleichsmessung quantifiziert und in einer logarithmischen Dezibel-Skala angegeben Um beispielsweise für Lärmschutzmaßnahmen objektive Zahlenwerte in der Hand zu haben, ermittelt man den Schalldruckpegel einer Schallquelle. Der Begriff Pegel sagt aus, dass der abgestrahlte Schalldruck, der geprüft werden soll, ins Verhältnis gesetzt wird zu einem normierten Standardschalldruck. Dieser Standarddruck wird mit 1000 Hz erzeugt und beträgt vereinbarungsgemäß 2 × 10−5 Pa. Er repräsentiert die untere Hörschwelle eines empfindlichen Ohrs. Allein schon wegen des großen Umfangs der hörbaren Schalldrücke hat es sich als zweckmäßig herausgestellt, zur Quantifizierung überschwelliger Drücke eine logarithmische Skala zu verwenden. Bei der Korrelation zwischen dem physikalischen Schalldruckpegel und der gehörten Lautstärke kommen die Weber-Fechner-Beziehungen zur Geltung (s. Kap. 15). Schalldruckpegel werden in Dezi-Bel (dB) angegeben. Man misst den Lärmpegel z. B. am Straßenrand und setzt ihn ins Verhältnis zum normierten Vergleichspegel des Messgerätes. Den erhaltenen
Quotienten logarithmiert man dekadisch und multipliziert den Wert mit 20. Schalldruckpegel = Sound Pressure Level SPL einer Schallquelle: SPL = 20 × log (ΔPx/P0); in dB Praktisch bedeutsam sind Werte zwischen 0 und 120 dB. Logarithmische Skala bedeutet, dass sich hinter wenigen Dezibel Zunahme eine enorme Zunahme des realen Lärmpegels verbirgt (Tabelle 19.2). Eine Steigerung oder Minderung des Schalldrucks um 20 dB bedeutet eine Steigerung oder Minderung des Schalldrucks um eine Zehnerpotenz. Steigt der Schalldruck um 80 dB, bedeutet dies eine Zunahme um 80/20-Zehnerpotenzen, also um den Faktor 10 000. Tabelle 19.2. Lautstärke von Schallquellen Schallquelle
Schallpegel in dB
Bezugsschalldruck 0 mittlere Hörschwelle 3 bei 1000 Hz Klavier piano-pianissimo 30 bei 1000 Hz leises Gespräch 40 normales Gespräch 60 Straßenlärm, fortissimo 80 Presslufthammer, 100 (bis 135) Techno-Sound Schuss, naher Donner 120 Düsentriebwerk (ältere 140 Maschinen)
Faktor 1 1,4
100 1000 10 000 100 000 1 Million. 10 Millionen.
Unter Berücksichtigung der Frequenzabhängigkeit unserer subjektiven Lautstärkeempfindung kommt man zur dB(A)- oder Phon-Skala. Eine wichtige Messkurve ist die HörschwellenIsophone In der Hörprüfung (Audiometrie) benutzt man ein halb physikalisches, halb physiologisches Verfahren, um Lautstärken quantitativ angeben zu können und um zu prüfen, wie gut man noch (hohe) Töne wahrnimmt. Denn unser Ohr ist bei verschiedenen Tonhöhen nicht gleich empfindlich. Das Verfahren sei für die Ermittlung der Hörschwellen-Isophone beschrieben. Ein elektronisches Tonaudiometer liefert über einen Kopf-
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hörerreine Sinustöne. Als Standardton wird ein Ton von 1000 Hz gewählt. Ihn stellt man auf den Schwellen-Schalldruck P0 (ca. 2 × 10−5 Pa) ein, bei dem der Ton gerade eben deutlich wahrgenommen wird. Dann wird der zu prüfende höhere oder tiefere Ton ausgespielt und sein Schalldruck Px von Null beginnend solange hochgedreht, bis auch er gerade eben wahrgenommen wird. Hat man so den hörbaren Bereich zwischen den Grenzfrequenzen 16 Hz und ca. 16 000 Hz abgetastet, hat man die Hörschwellen-Isophone für die verschiedenen Tonhöhen bestimmt. In einer erweiterten Audiometrie wird im nächsten Durchlauf der Vergleichston lauter eingestellt (z. B. „doppelt so laut“ wie der Schwellenton) und die Messreihe wird durch das ganze Tonspektrum wiederholt. Jeder Prüfton wird solange reguliert, bis er gleich laut empfunden wird wie der Referenzton von 1000 Hz. Man erhält auf diese Weise eine Isophonen-Schar (Abb. 19.2). Im graphischen Diagramm kann man die Ordinate nun in verschiedener Weise skalieren: in Pa, in dB, oder in einer dritten Skala, welche die Frequenzabhängigkeit so umformt, dass aus den kurvigen Isophonen mehr oder weniger brave Geraden werden. Diese umgeformte Skala erhält, je nach der Verfahrensweise des Umformens, die
Bezeichnung dB(A) oder Phon. [Zwischen dB(A) und Phon sind die Unterschiede gering und nur für Fachleute von Interesse]. Bei 1000 Hz stimmen übrigens (per definitionem) Phon- und dB-Werte überein (Abb. 19.2). Ein Düsentriebwerk erzeugt beim Ton von 1000 Hz einen Lärm von 140 dB = 140 dB(A) = 140 Phon. Es sind noch zwei weitere Maßsysteme im Gebrauch, eine rein wahrnehmungspsychologische (Son) und eine rein physikalische (Schallintensität) ● Son. Der Versuch, eine rein wahrnehmungspsycholo-
gische Lautheits-Skala einzuführen, hat Praktiker offenbar wenig überzeugt. Beim Son wird angegeben, ob ein Laut doppelt, dreifach, vierfach etc. so laut gehört wird wie ein Vergleichslaut von 1000 Hz und 40 Phon Lautstärke. ● Schallintensität = Schallstärke. Hier wird nicht an-
gegeben, wieviel Druck in Pa auf das Trommelfell wirkt, sondern wieviel Energie durchs Trommelfell hindurchtritt und ins Innenohr weitergegeben wird. Schallintensität in diesem Sinn wird in Watt/m2 oder Watt/cm2 angegeben (cm2 statt m2 deshalb, weil die Fläche des Trommelfells ca. 1 cm2 beträgt). Bei der Messung von Schallintensitäten wird die unglaubliche Empfindlichkeit unseres Gehörs deutlich. Schallstärke in W/m2 kann auch auf den Ultraschallempfang der Fledermäuse und Delphine, die uns ihre subjektive Lautstärkeempfindung nicht bereitwillig und leicht verständlich mitteilen, angewandt werden.
Kurven gleicher Lautstärkenpegel (Isophonen) Schalldruck Schalldruckpegel in Pascal (sound pressure level SPL) (N/m2) dB
20
120
2
100
au
130
Düsentriebwerk starker Schmerz Hörschäden
80
lauter Straßenlärm
L
140
e ich gle
200
Phon
0,2
80
0,02
60
0,002
40
2 x 10-4
20
2 x 10-5
0
ts tä rk ew
ie 10 00H z-
Ton vo
n 80 d
B
forte 60
leises Gespräch
piano
Abb. 19.2. Isophone, Kurven gleicher gehörter Lautstärke bei verschiedenen Tonhöhen
4
2 x 10-6
16
32
63
125
250 500 1000 2000 4000 8000 16000 Schallfrequenz (Hz)
Hörschwelle
19.1 Unser Gehör: seine Bedeutung und unglaubliche Empfindlichkeit
19.1 Unser Gehör: seine Bedeutung und unglaubliche Empfindlichkeit 19.1.1 Das Gehör vermittelt sprachliche Kommunikation Nach dem Auge vermittelt das Gehör die detailreichsten Informationen über unsere Umwelt. Schall ermöglicht auch im optischen Dickicht eines Urwaldes Kommunikation über große Distanzen. Seine überragende Bedeutung gewinnt das Gehör indes beim Menschen durch seine Rolle bei der sprachlichen Kommunikation. Der Taube ist, wenn ihm nicht mühsam alternative Möglichkeiten der Kommunikation erschlossen werden, weitgehend sozial isoliert – und er bleibt selbst stumm. Aber nicht nur für die sprachliche Kommunikation ist das Gehör von elementarer Bedeutung: Auch Musik vermittelt Gefühle und Erlebnisse, und lässt uns, soweit dies überhaupt möglich ist, am Innenleben anderer teilhaben. Zum Unterschied von Sprache wirkt Musik nicht (nur) über ihren Symbolgehalt, sondern unmittelbarer auf unsere innere Erlebniswelt. Sprachliche (oder der Musik ähnliche) Kommunikationsformen wird man mutmaßlich auch Delphinen und Walen zubilligen müssen. Ihr Beispiel macht deutlich, wie schwer es ist, eine Sprache überhaupt als solche zu erkennen, wenn uns die symbolische Bedeutung von Lauten verschlossen ist oder die Laute nicht unsere eigene Empfindungswelt aktivieren.
19.1.2 Die Empfindlichkeit des Gehörs für Lautstärken ist bis an die Grenze des Sinnvollen gesteigert Die Schalldruckamplituden, d. h. die Amplituden der periodisch auf das Trommelfell einfallenden Luftdruckschwankungen, sind in der Nähe der Hörschwellen außerordentlich gering, etwa das 10−10 Fache des Atmosphärendrucks. Wäre unser Gehör geringfügig empfindlicher, würden wir thermisches Rauschen hören und in einem Meer von Geräuschen versinken. Im empfindlichsten Frequenzbereich um 3000 Hz, den das brüllende Baby weidlich zu nutzen weiß, ruft bereits ein Energiestrom von 0,5 ×
10−16 W, der auf die Fläche von 1 cm2 des Trommelfells trifft, einen wahrnehmbaren Ton hervor. Man hat kalkuliert, dass hierbei die Flüssigkeit in den Gängen des Innenohrs mit Amplituden schwingt, deren Größe geringer ist als der Durchmesser eines Wasserstoffatoms. Bei Haarsinneszellen, wie wir sie im Innenohr finden und die letztendlich den Reiz aufnehmen, löst bei der Hörschwelle eine Abbiegung der Stereovilli von 0,003° schon eine überschwellige Änderung des Membranpotentials aus. Dies entspricht der Ablenkung der Eiffelturmspitze um Daumenbreite. (Die echte Eiffelturmspitze schwankt mit meterweiten Amplituden.) 19.1.3 Auch das Vermögen, Tonhöhen zu unterscheiden, ist erstaunlich gut Das geschulte Ohr des Musikers vermag Frequenzunterschiede von ca. 0,1 bis 0,3% zu unterscheiden, sofern beide Töne kurz nacheinander zum Vergleich angeboten werden. Ein gesundes, empfindliches Ohr sollte also in der Lage sein, im wiederholten Test 1003 Hz und 1000 Hz oder gar 1001 Hz von 1000 Hz statistisch signifikant als verschieden wahrzunehmen. Unterstellt man, dass gemäß einer logarithmischen Kennlinie das prozentuale Unterscheidungsvermögen über den ganzen Frequenzbereich bis 16 000 Hz gleich ist, kann man etwa 530 bis 1600 verschiedene Tonhöhen unterscheiden. Auch das geschulte Ohr kann bei diesen geringen Unterschieden von 0,1–0,3% aber noch nicht erkennen, welcher der beiden nacheinander gehörten Töne der höhere ist. Bei gleichzeitigem Erklingen zweier eng benachbarten Töne wird ein Mittelton gehört. Bei einer Differenz von einer Terz ist eine sichere Unterscheidung auch bei simultanem Angebot der Töne möglich.
19.1.4 Beim Hören mit zwei Ohren werden geringste Intensitäts- und Laufzeitunterschiede wahrgenommen Schallwellen, die von einer seitlichen Schallquelle ausgesandt werden, erreichen das eine Ohr früher und mit höherem Schalldruck als das andere.
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19 Das Gehör
Das Gehör des Menschen wertet zur Ortung einer Schallquelle Unterschiede im Schallpegel von 1 dB und Laufzeitdifferenzen von 3/100 000 s aus. Hierfür sind trickreiche zentralnervöse Auswertsysteme zuständig, die wir im Abschn. 16.5 diskutieren.
19.2 Schwierige Untersuchungen, Modelle Das Innenohr ist einerseits extrem sensitiv – man sollte deswegen als Physiologe winzigste mechanische Verformungen aller schwingfähigen Elemente messen können. Andererseits sind die Mikroanatomie und mehr noch die Mikroakustik des gewundenen, im härtesten Knochen des Körpers eingebetteten häutigen Labyrinths äußerst vertrakt. Folgendes wurde unternommen: ● Möglichst exakte Messungen der Dimensionen und
Elastizitäten der Strukturen des Innenohrs im herausoperierten Präparat. ● Schwingungsmessungen an der freigelegten Schnecke
mit stroboskopischem Mikroskoplicht (von Bèkèsy). Dabei sind die sogenannten Wanderwellen entdeckt worden, freilich im toten und gefensterten Ohr. Die aktive Leistung des Gehörs kommt dabei nicht zur Geltung. ● Neuerdings macht man Schwingungsmessungen mit La-
serlicht am lebenden Ohr, wobei wieder der umhüllende Knochen beschädigt werden muss und nur wenige Teilstrukturen erfasst werden können. ● Elektrophysiologische
Messungen an überlebenden Haarzellen, die man enzymatisch aus dem Labyrinth freigelegt hat. Man sucht sich die Haarzellen aus den Maculaorganen von Amphibien heraus, weil diese größer und leichter zugänglich sind als die Haarzellen der Corti-Organe in der Gehörschnecke.
● Neuerdings gewinnen zunehmend molekularbiologische
Verfahren an Gewicht. Welche Gene werden in den Hörzellen exprimiert; welche ungewöhnlichen Proteine sind zu entdecken?
Aus all solchen Einzeluntersuchungen versucht man unter Zuhilfenahme von Computersimulationen Modelle zu entwickeln. Wenn man liest, wie schwer sich Akustiker tun, die Akustik eines geometrisch viel einfacheren Konzertsaales zu berechnen, wird es verständlich, dass heutige Berechnungen der
Innenohr-Verhältnisse nur vorläufig sein können. Dieses Buch, wie jedes andere Lehrbuch und jeder Übersichtsartikel auch, kann nur mehr oder weniger fantasiereiche Modellvorstellungen wiedergeben und diskutieren.
19.3 Die Übertragung des Schalls ins Innenohr 19.3.1 Schall wird im Ohr von Luft in Wasser geleitet. Trommelfell und das Gelenk der Gehörknöchelchen erwirken eine physikalische Anpassung von Schallparametern Die bei den meisten Säugetieren dreh- und neigbaren Ohrmuscheln wirken als Richtantennen. Die von der Ohrtrompete eingefangenen Schallwellen werden gebündelt und von einer trichterförmigen Lautsprechermembran mit vorzüglichen akustischen Eigenschaften aufgefangen: dem dünnen und straff gespannten äußeren Trommelfell. Die Schwingungsamplituden des äußeren Trommelfells sind bei kaum noch wahrnehmbaren Tönen unglaublich gering. Im empfindlichsten Frequenzbereich um 3 kHz wird an der Hörschwelle das Trommelfell um 10 Picometer, das Hundertmillionstel eines Millimeters, ausgelenkt. Diese Schwingungsweite ist geringer als dem Durchmesser eines Luftmoleküls entspricht. Bei sehr lautem Schall an der Schmerzgrenze hingegen ist die mit Laser-Holographie gemessene Auslenkung des Trommelfells mit ungefähr 1 μm (einem Tausendstel eines mm) hunderttausendmal größer als bei leisen Tönen. So hohe Schwingungsamplituden müssen reduziert werden. Als nächstes geht es darum, den luftgefüllten Hohlraum des Mittelohrs, die Paukenhöhle, zu überbrücken (Abb. 19.3 u. 19.4). Dabei wird nun nicht mehr die Luft als Tonträger benutzt, sondern die Kette der Gehörknöchelchen Hammer (Malleus), Amboss (Incus) und Steigbügel (Stapes) bildet eine Hebelkette. Bei dieser Übertragung soll der Schall nicht amplitudengetreu übertragen, sondern an die akustischen Bedingungen im Innenohr angepasst werden. Es gilt Schallenergie, die über das kompressible, schallweiche Medium Luft an-
19.3 Die Übertragung des Schalls ins Innenohr
Scala vestibuli äußeres Trommelfell
Scala media (Duct. cochl.)
Schneckengang (Ductus cochlearis) ovales Fenster rundes Fenster
Schnitt
Corti-Organ Scala tympani des perilymphatischen Gangs
Corti-Organ perilymphatischer Gang (Scalen)
Paukenhöhle
Eustachische Röhre ( zum Rachenraum führend) Abb. 19.3. Gehörgang (Cochlea, Schneckengang) mit Corti-Organ und mit dem begleitenden, U-förmigen perilymphatischen Kanal. Die Paukenhöhle hat drei mit Membranen (Trommelfellen) verschlossene Fenster
Hammer-Amboss-Steigbügel Trommelfell ovales Fenster
ovales Fenster
äußeres Trommelfell
Abb. 19.4. Schallübertragung vom äußeren Trommelfell auf das innere Trommelfell im ovalen Fenster durch das System der Gehörknöchelchen
Druckübersetzung
Amplituden-Untersetzung
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19 Das Gehör
geliefert worden ist, auf das nahezu inkompressible, schallharte Medium Wasser (Perilymphe) zu übertragen. (In der Fachliteratur spricht man auch von Impedanzanpassung, d. h. Anpassung an den Wechseldruck-Widerstand). Ohne eine solche Anpassung würde an der Grenzfläche zur Perilymphe fast alle Schallenergie reflektiert. Die Anpassung besteht ●
in einer Untersetzung der Schallamplitude durch die Gelenke zwischen Hammer, Amboss und Steigbügel,
●
in einer Druckübersetzung durch die Übertragung des Drucks vom großflächigen äußeren Trommelfell (Tympanum) auf das kleinflächige innere Trommelfell (ovales Fenster). Die vom Trommelfell auf einer Fläche von 60 mm2 eingefangene Energie wird auf die 3,5 mm2 große Fläche der Steigbügelplatte konzentriert. Die Steigbügelplatte ihrerseits übergibt den verstärkten Schalldruck der Membran des ovalen Fensters (inneres Trommelfell), hinter der die Perilymphe beginnt. Die Kraftübersetzung ist beträchtlich, beim Menschen 17:1, bei der Katze 35:1, bei manchen Fledermäusen 50:1.
Ohne diese (und weitere) Anpassungen würden 98% der Schallenergie beim Übergang von Luft auf Wasser (Endolymphe) reflektiert werden und verloren gehen. Mit diesen Anpassungen gehen noch 30% verloren. Die Energie, die bei geplatztem oder steifem Trommelfell das Innenohr noch erreicht, wird vom inneren Trommelfell eingefangen oder vom Schädelknochen ins Ohr geleitet. Anpassung an Schallstärke. Schall kann auch fürchterlich laut sein. Bei lautem Schall ist eine Kraftübersetzung nicht erwünscht. Spezielle Muskeln des Mittelohrs können die Schwingungen der Gehörknöchelchen bremsen und so den Schall dämpfen. Frequenzfilter. Die Verstellbarkeit der Übertragungsapparatur durch Muskeln beeinflusst auch die Übertragung von Frequenzen. Eine Versteifung verbessert die Übertragung hoher Frequenzen, filtert andererseits niederfrequente Schwingungen aus dem Schall heraus. Insgesamt wirken Trommelfell, Übertragungsapparatur und die räumliche Dimension des Mittelohrs und seine knöcherne Kapsel als Bandpassfilter, der unser Gehör vor Lungen- und
Herzgeräuschen und den Geräuschen des strömenden Blutes weitgehend abschirmt. Knochenleitung. Schallübertragung über den Schädelknochen ist für das Hören der eigenen Stimme von Bedeutung. Da das inkompressible Material des Knochens anders leitet als Luft, klingt die eigene Stimme für uns selbst anders als für unsere Mitmenschen. Für das Hören anderer Schallquellen ist nach heutiger Auffassung Knochenleitung von untergeordneter Bedeutung. Luftdruckausgleich und Ohrendruck. Der Raum des Mittelohrs, in dem sich der Übertragungsapparat der Gehörknöchelchen befindet, die Paukenhöhle, ist selbst mit Luft gefüllt. Das äußere Trommelfell würde bei jeder Änderung des äußeren Luftdrucks wie die Membran eines Dosenbarometers reagieren, würde nicht der Luftdruck in der Paukenhöhle über die Eustachische Röhre an den Luftdruck der Außenwelt angepasst. Diese Röhre verbindet die Paukenhöhle mit dem Rachenraum. Wenn irgend ein Katarrh die Belüftung der Paukenhöhle durch die Röhre verstopft, empfindet man im schnell fahrenden Aufzug unbehaglichen Ohrendruck; im sinkenden oder steigenden Flugzeug, dessen Druckausgleichssystem allzu träge funktioniert, können brüllende Schmerzen den mangelhaften Druckausgleich signalisieren. 19.3.2 Die Schnecke ist begleitet von zwei parallelen perilymphatischen Gängen; der eine nimmt die Schallenergie auf und übergibt sie dem Schneckengang, der andere führt restliche Schallenergie ab Die Anatomie der Schnecke wird aus ihrer Entwicklungsgeschichte her verständlich. Aus dem Labyrinth wird der Schneckengang (Ductus cochlearis; Scala media) als blind endigender Schlauch herausgezogen. In diesem Schlauch entwickelt sich das eigentliche Sinnesorgan, das die Schallinformation in die Sprache des Nervensystems übersetzt, das Corti-Organ. Der Schlauch der Cochlea wird begleitet von einem zweiten Schlauch, dem perilymphatischen Schlauch. Dieser läuft parallel dem Schneckengang entlang, kehrt an dessen Spitze haarnadelförmig um und läuft dem Schneckengang entlang zurück, um
19.3 Die Übertragung des Schalls ins Innenohr
an der Paukenhöhle zu enden (s. Abb. 19.3). Die beiden Schenkel des perilymphatischen Schlauches nehmen den zentralen Schneckengang in die Zange, sodass dieser im Querschnitt dreieckig wird. Input-Schlauch. Der aufsteigende Schenkel des perilymphatischen Schlauches beginnt am ovalen Fenster und übernimmt dort vom inneren Trommelfell die Schallwellen. Der Schenkel heißt Scala vestibuli (Treppe des Vorhofs) und zieht von der Paukenhöhle oberhalb des Schneckengangs bis zur Schneckenspitze (Helicotrema). Output-Schlauch. Der von der Schneckenspitze zur Paukenhöhle zurückführende Schlauch läuft unterhalb des Schneckengangs und heißt Scala tympani (Treppe des Pauke). Beginnt der zur Spitze hochführende Schenkel der Scala vestibuli mit einem Trommelfell, dem ovalen Fenster, so endet der herabführende Schenkel der Scala tympani ebenfalls mit einem Trommelfell. Es ist im runden Fenster ausgespannt. Dieses – insgesamt dritte – Trommelfell nimmt jedoch nicht Schall auf, sondern strahlt restliche Schallenergie ab. Kleine Gedächtnishilfen: In ein ovales Fenster passt ein Steigbügel besser als in ein rundes. Und: ein Vorhof kommt zuerst; eine Pauke kommt beim Finale zum Zug.
Zu betonen ist: obwohl es also insgesamt drei Trommelfelle gibt, hat der Schneckengang selbst, in dem sich das eigentliche Hörorgan befindet, kein Trommelfell – es sei denn, man betrachtet die obere Wandung des Schneckenschlauches, die ReißnerMembran, in ihrer ganzen Länge als eine Art intraaurales, langgestrecktes Trommelfell.
19.3.3 Die Schallenergie wird vom Schneckengang übernommen und führt zu Transversalschwingungen (Wanderwellen) der Basilarmembran, auf der das Corti-Organ sitzt Schalldruckwellen laufen nicht die ganze aufsteigende Scala hinauf und die ganze absteigende Scala wieder zurück. Vielmehr finden sie eine Abkürzung. Der Einfachheit halber verfolgen wir eine einzelne Druckwelle, die vom vorstoßenden Steigbügel in die Scala tympani geschickt wird.
Druck hat die Tendenz, sich nach allen Seiten auszubreiten, weil die Moleküle nicht alle exakt nur in der Ausbreitungsrichtung des Schalls schwingen. Unsere Druckwelle drückt auch auf die seitlichen Wände des perilymphatischen Schlauches. Die häutige Wand der gebogenen Scala vestibuli grenzt entlang ihrem Außenbogen an den harten, unnachgiebigen Schädelknochen. Entlang dem Innenbogen grenzt sie an die elastische Wand des Cochlea-Schlauchs. Beide aneinandergrenzenden häutigen Wände, die der Scala vestibuli und die der Scala media, bilden zusammen die Reißner-Membran. Diese wird von der Druckwelle ausgebeult in das Lumen des Schneckengangs hinein (Abb. 19.5). Damit wird Schallenergie in die Flüssigkeit des Schneckengangs übertragen. Andererseits schwächt sich die Druckwelle in der Scala vestibuli wegen dieses Energieverlustes mehr und mehr ab und erlischt. Dass dieser Energieübergang hydrodynamisch nur in einem begrenzten Bereich der Reißner-Membran möglich ist und nicht ganz glatt verläuft, und die Membran dabei ins Flattern gerät, betrachten wir später (Wanderwellen). Unsere Druckwelle ist über die Reißner-Membran hinweg in den Schneckengang gelangt. Sie hätte diesen Weg nicht so leicht finden können, wenn die inkompressible Flüssigkeit im Schneckengang nicht ihrerseits den Druckpuls hätte weitergeben können. Die Druckwelle im Schneckengang beult nämlich ihrerseits die Basilarmembran aus. Diese kann nach unten in die Scala tympani ausweichen. Obwohl sich auch dort inkompressibles Wasser befindet, geht das, weil das Wasser den Druckpuls an das runde Fenster weiterleitet. Dieses strahlt die Restenergie des Druckpulses in die widerstandsarme Luft der Paukenhöhle ab. Der beschriebene Weg vom ovalen zum runden Fenster ist kurz. Noch während sich das ovale Fenster einwärts dellt, fängt das runde Fenster schon an, sich nach außen zu beulen. Einer Druckwelle kann sogleich eine zweite folgen. Die Reißner-Membran und fast synchron mit ihr die Basilarmembran geraten an der Stelle des Druckübergangs in oszillierende Auf- und Abschwingungen (Transversalschwingungen) in der Frequenz der Schallwellen. Diese Transversalwellen werden zu transitorischen Wanderwellen, die ein Stück die Basilarmembran entlang laufen.
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19 Das Gehör Abb. 19.5. Transmission der Schallenergie vom ovalen zum runden Fenster über den Vorhofsgang, Schneckengang und Paukengang hinweg. Die Schallwellen bringen dabei die Trennmembranen (Reißner-Membran, Basilarmembran) in Schwingungen, deren Amplituden sehr stark überhöht dargestellt sind. Die Schwingungen wandern ein Stück über die Membran und schwingen aus, weil die Energie über die benachbarten Kanäle und das runde Fenster aus dem System entweicht
Schneckengang Basilarmembran
Wanderwellen. Eine Aufschwingung beginnt an einer Stelle nahe dem runden Fenster; der Wellengipfel wandert dann unter Aufsteilung ein Stück über die Membran und klingt dann wieder ab (Abb. 19.6). Die Basilarmembran vollführt also Bewegungen, die zwei Komponenten haben: einen Transversalvektor (auf, ab) und einen Longitudinalvektor (ein Stück Richtung Schneckenspitze laufend). Mit der Basilarmembran schwingt das Corti-Organ auf und ab. Die Amplituden dieser Wellen sind allerdings, anders als Abb 19.5 und 19.6 suggerieren, extrem gering und liegen im Nanometerbereich.
19.3.4 Das Corti-Organ: Hier erreicht die Schallenergie die Sinneszellen; es gibt zwei Gruppen davon: äußere und innere Haarzellen Die Basilarmembran ist der Boden der Scala media, des Schneckengangs. Sie ist mit querverlaufenden Fasern versteift und trägt das Corti-Organ. Dieses ist ein schmaler Streifen epithelartigen-Gewebes; die Haarzellen sind Komponenten dieses Epithels. Zwischen ihnen befinden sich Stützzellen, die ein
starres Gerüst bilden. Die Basilarmembran ist einer dünnen Trommelbespannung oder der vibrationsfähigen Zunge eines Blasinstrumentes vergleichbar. Die Schwingungen der Basilarmembran müssen zu periodischen Ablenkungen der Mikrovillibündel der Haarzellen führen. Wie eine Auf-Ab-Bewegung der Basilarmembran ein Hin-Her-Pendeln der Stereovilli bewirken kann, ist für die äußeren Haarzellen (die Unterscheidung zwischen äußeren und inneren Haarzellen wird nachfolgend erläutert) leicht zu verstehen: Man legt auf die Villi behutsam die gallertige Deckmembran (Tektorialmembran). Die Tektorialmembran transformiert AufAb-Bewegungen in horizontale Scherbewegungen (Abb. 19.7). Probleme bereitet die hohe Frequenz, in der die „Haar“büschel der Zellen hin und her flattern müssten, wenn denn die elektrische Aktivität der Haarzellen direkt die Tonhöhen widerspiegeln sollte. Und wie wird die Schallstärke codiert? Das in Abb. 19.7 gezeigte Modell lässt unschwer erkennen, dass der Ablenkungsgrad der Mikrovilli von der Schwingungsamplitude der Basilarmembran abhängt, während die Schallfrequenz sich vielleicht in der Frequenz widerspiegeln könnte, in der die Mikrovilli hin und her pendeln. Was also codieren die
19.3 Die Übertragung des Schalls ins Innenohr
Orte, an denen eine Wanderwelle entsteht und wieder verschwindet
t t1 2 t 3
Umhüllende
hoher Ton
mittlerer Ton
erforderliche Schallstärke (Schwellenreizintensität)
tiefer Ton Tuningkurven
db 80 60 40 20 16.000
300 Hz 2.000 Lokale Bestfrequenzen der inneren Haarzellen entlang der Basilarmembran
Abb. 19.6. Wanderwellen über die Reißner- und Basilarmembran hinweglaufend. Die Amplituden sind extrem überhöht gezeichnet. Für die Tonhöhenanalyse ist bedeutsam, dass der Ort der maximalen Amplitude abhängig von der Schallfrequenz ist.
Am Ort der maximalen Amplitude befinden sich Haarzellen, die besonders empfindlich bei dieser Frequenz (Bestfrequenz) reagieren
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19 Das Gehör
des Schneckenganges ergeben sich drei parallele Reihen mit insgesamt 3 × 3500 = 10 500 äußeren Haarzellen; ●
Abb. 19.7. Auf-Ab-Bewegungen der Basilarmembran und Umwandlung des Schallreizes in den Nutzreiz, d. h. in eine Abbiegung der Stereovilli der äußeren Haarzellen
Haarzellen? Tonhöhe oder Tonstärke, oder beides? Die Antwort auf diese Fragen kann erst gefunden werden, wenn wir die räumliche Anordnung der Haarzellen und ihre unterschiedlichen speziellen Funktionen näher unter die Lupe nehmen.
Dass die Aufreihung der Haarzellen in lange Kolonnen etwas mit der Tonunterscheidung (Frequenzanalyse) zu tun hat, ist leicht zu erraten. Was aber bedeutet die Zweiteilung in äußere und innere Haarzellen? Besonderheiten bei der Art, wie Stereovilli abgelenkt werden. Nur die Stereovilli der äußeren Haarzellen sind mechanisch mit der Tektorialmembran gekoppelt; diese Koppelung schränkt ihre Freiheit ein und lässt eine mindere räumliche Auflösung vermuten. Die Villi der inneren Haarzellen hingegen scheinen keinen physischen Kontakt mit ihr zu haben. Gerade die inneren, nicht mit ihren Nachbarn gekoppelten Haarzellen werden, wie noch erläutert wird, für die Rezeption der Schallfrequenz, also für unsere Fähigkeit der Tonhöhenunterscheidung, verantwortlich gemacht. Augenscheinlich erreicht die Schallenergie ihre Stereovilli über das flüssige Medium. Potentiell kann die innere Haarzelle anders reagieren als die drei äußeren, und tut es auch. Äußere und innere Haarzellen und ihre neuronale Verkabelung ●
Die inneren Haarzellen liefern ihre Information getrennt an ihnen individuell zugeordnete Fernmelde-Neurone. Es können bis zu 20 solcher Neurone die Information einer einzelnen Haarzelle abgreifen und dem ZNS zuführen; innere Haarzellen haben also etwa 20 afferente Synapsen.
●
Die von den drei Reihen der äußeren Haarzellen in Form von Transmitterpulsen gelieferte Information wird von nachgeschalteten ableitenden Nervenzellen gruppenweise gesammelt und zusammen dem ZNS zugeleitet. Erstaunlich ist, dass in umgekehrter Richtung vom ZNS zu den äußeren Haarzellen mehr efferente Fasern verlaufen als afferente von den Haarzellen zum Gehirn. Offensichtlich sind diese Haarzellen nicht nur Sender, die dem ZNS irgendwelche Mittei-
19.3.5 Äußere und innere Haarzellen haben unterschiedliche Teilfunktionen bei der Aufbereitung und Codierung der Schallschwingungen Jede Theorie der Hörens, die erklären will, wie man hunderte verschiedene Schallintensitäten, hunderte verschiedene Schallfrequenzen und unzählige Klänge und Klangfiguren unterscheiden kann, muss die Mikroanatomie des Innenohrs berücksichtigen (Abb. 19.8). Im Corti-Organ des Schneckengangs finden wir ●
zum Außenrand der Schnecke hin im Querschnitt drei äußere Haarzellen; in Längsrichtung
zum Innenrand der Schnecke hin findet man im Querschnitt eine einzelne innere Haarzelle; in Längsrichtung addieren sich diese inneren Zellen zu einer Reihe von ca. 3500 Zellen.
19.4 Tonhöhen-Unterscheidung (Frequenzanalyse) Abb. 19.8. Corti-Organ auf der Basilarmembran. Ausschnitt
Deckmembran (Tektorialmembran)
zum ZNS vom ZNS innere Reihe von Haarzellen
lungen über Schallparameter machen, sondern auch Effektoren, die Befehle vom ZNS entgegennehmen. Diese Effektorfunktion diskutieren wir nachfolgend im Abschn. 19.4.3.
19.4 Tonhöhen-Unterscheidung (Frequenzanalyse) 19.4.1 Ortsanalyse versus Periodizitätsanalyse: Ortsanalyse ist immer dabei Wir werden beim Gehör, wie später auch beim Auge, mit dem Problem konfrontiert, wie Nervenzellen zwei verschiedene Reizparameter – hier Tonhöhe und Schallstärke – dem ZNS melden können, obwohl der Fernmelde-Zelle nur die Frequenzmodulation zur Codierung von Information zur Verfügung steht. Es sind zwei basale Hypothesen entwickelt worden: Die Ortsanalyse (Frequenz-Orts-Abbildung). Es gibt Haarzellen, die für tiefe Töne zuständig sind und deren Schallintensität messen; andere sind für
CortiPfeilerKanal zellen
äußere Haarzellreihen
hohe Töne zuständig und messen deren Schallintensität. Die für tiefe und hohe Töne zuständigen Haarzellen stehen an verschiedenen Orten entlang dem Schneckengang, die Hochtonspezialisten am Schneckenanfang, die Tieftonspezialisten an der Schneckenspitze. Zwischen den Extremen stehen Haarzellen, die wie die Tasten des Klaviers der Reihe nach für die Zwischentöne der Tonleiter zuständig sind. Das ZNS wertet dann die Herkunft der Aktionspotentiale (welche Klaviertaste?) als Tonhöhe, die Frequenz der Aktionspotentiale (wie stark war der Anschlag?) als Schallintensität. Die räumliche Abbildung der Frequenzen auf der Länge des CortiOrgans wird als Tonotopie bezeichnet. Periodizitätsanalyse. Die Haarzellen, und mit ihnen die Fernmelde-Nervenzellen, feuern in Salven ( bursts). Der zeitliche Abstand (Intervall) zwischen den Salven entspreche dem Abstand zwischen zwei Druckwellen des Schalls. Dessen Kehrwert ist die Frequenz. Die Periodizität der Salven codiere also die Tonhöhe. Die Schallintensität sei darin codiert, wie viele Aktionspotentiale eine einzelne Salve enthalte. Diese Hypothese kann für sich anführen, dass man vom Hörnerven tatsächlich periodisch gegliederte Salven ableiten kann – allerdings nur bei tiefen Tönen. Da die Sendefrequenz der Nervenzel-
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19 Das Gehör
len kaum 300 Hz überschreitet, kann die Periodizitätsanalyse allenfalls für tiefe Schallfrequenzen zum Zuge kommen. Unbeschadet davon, ob das ZNS eine Periodizitätsanalyse durchführt – warum sollte es diese Möglichkeit nicht auch nutzen? – kommt in jedem Fall auch die Ortsanalyse zum Zuge; denn tiefe, mittlere und hohe Töne können schon aus rein physikalischen Gründen nur örtlich getrennte Haarzellen erreichen. 19.4.2 Vom Resonanzprinzip bis zur aktiven Mitarbeit: überraschende Befunde motivieren zu spannenden Hypothesen Wir lassen eine mögliche Periodizitätsanalyse außer Betracht. Das auf den ersten Blick so schlichte Ortsprinzip ist bei näherer Betrachtung spannend genug. Nach diesem Ortsprinzip werden also tiefe, mittlere und hohe Töne an verschiedenen Orten entlang des Schneckengangs wahrgenommen. Tatsächlich ist dies so: hohe Töne werden von der Basilarmembran früh aufgegriffen und reizen Haarzellen nahe dem (inneren) Trommelfell, tiefe Töne dringen weiter in die Schnecke und reizen Haarzellen nahe der Schneckenspitze (Abb. 19.9 u. 19.10). Dem Frequenzabstand von jeweils einer Oktave entspricht ein gleich langer Abstand auf der Basilarmembran. Wenn die Oktave von 120 bis 240 Hz eine Strecke von 2 mm beansprucht, dann auch die Oktave von 240 auf 480 Hz usf. (Beachte: Dabei gelangt man zu einer logarithmischen Skala!) Aufgepasst! Intuitiv neigt man dazu, tiefe Töne dem weiten Eingangstor des Schneckengangs, hohe Töne der engen Spitze der Schnecke zuzuordnen. Dass dies nicht so ist, sondern gerade umgekehrt, ist eine Überraschung. Eine erste Erklärung für dieses paradox erscheinende Phänomen lieferte Herrmann von Helmholtz.
1. Die Resonanztheorie des Physiologen und Physikers von Helmholtz. Der bedeutende und vielseitige Anatom, Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz (1821–1894) berücksichtigte in seiner Resonanztheorie einen überraschenden anatomischen Befund: Obwohl die Weite des Schneckenganges wie bei jeder Schnecke von der Mündung bis zur Schnecken-
spitze abnimmt, nimmt die Breite der Basilarmembran zu. Nach neueren Messungen wird sie auch schlaffer und massereicher. Kurze, straff gespannte und dünne Saiten klingen hoch und haben eine hohe Resonanzfrequenz. Lange, schlaff gespannte und dicke Saiten haben eine tiefe Eigen- und Resonanzfrequenz. Die Basilarmembran verhalte sich wie ein Klavier, dessen Saiten man durch Singen zum Mitschwingen und Mitklingen bringt. In einem solchen reinen Resonanzsystem müssten alle Saiten unabhängig von den anderen schwingen können. Dies ist bei der Basilarmembran nicht so. Schon deshalb sagen die meisten heutigen Lehrbücher, die Resonantheorie sei hinfällig – um sie dann in veränderter Form (und ohne es explizit zu sagen) munter weiter leben zu lassen. Auch wir lassen sie, in veränderter Form, weiterleben. Zusätzlich kommt nach neuesten Auffassungen hinzu, dass auch die gallertige Deckmembran ein System von Resonatoren darstellt. Ebenso wie auf der Basilarmembran stimmen die Resonanzfrequenzen der schwingenden Deckmembran nahe der Basis der Cochlea mit den höchsten Schallfrequenzen überein, nahe der Schneckenspitze mit den tiefsten. 2. Die Wanderwellentheorie des Physikers von Bèkèsy. Georg von Bèkèsy (1899–1972): beobachtete die oben beschriebenen Wanderwellen. Die Basilarmembran gerät in Transversalschwingungen, die sich aufschaukeln und wieder abklingen und dabei ein Stück die Schnecke hochlaufen. Eine Abbildung der Frequenzen ist insofern gegeben, als bei hohen Tönen die Wanderwellen ihr Amplitudenmaximum schon nahe dem ovalen Fenster an der Schneckenmündung, tiefe Töne erst weiter zur Schneckenspitze hin erreichen. Dafür sind jene elastischen Eigenschaften der Basilarmembran verantwortlich, die auch für Resonanzschwingungen bestimmend sind. Dazu kommt eine seitliche Kopplung der elastischen Elemente. Ein großes Problem hat die ursprüngliche Wanderwellen-Theorie nicht lösen können, sondern erst aufgeworfen: Wie kommt es, dass wir mehrere hundert Tonhöhen unterscheiden können, obwohl die Wanderwellen weite Strecken überstreichen? Nimmt man an, ein gutes Gehör unterscheide 1600 Töne und die Zahl der inneren
19.4 Tonhöhen-Unterscheidung (Frequenzanalyse) Endocholeäres Potential + 80 mV Scala vestibuli - 70mV
Bei Stimulierung Rezeptorpotential oszillierend
+
Cochleagang
- 40 -70 mV
K
+
RuheRezeptorpotential
150 mM
_ K+ - 70mV
- 40mV Depol. Moment 2
a
Repol. K+ Prestin komprimiert
Moment 1 und Ruhe Prestin geweitet
K+ 3 mM Scala tympani
tip links
b
Stereovilli
Abb. 19.9a, b. Transduktionsprozesse in den äußeren Haarzellen. Ein sekretorisches Epithel (Stria cochlearis) reichert die Endolymphe im Cochleagang mit Kalium an und sorgt für ein hohes, positives elektrisches Potential (+80 mV) in diesem Gang (a). Die Abscherung der Stereovilli öffnet über die steifen Tiplinks mechanisch-gesteuerte Kalium-Kanäle in der Membran der Stereovilli (b). Getrieben von der elektrischen Potentialdifferenz zwischen Endolymphe (+80 mV) und dem Zellinneren (−70 mV) strömen K+-Ionen in die Haarzellen und, ihrem Diffusionsdruck folgend, durch K+-Leckkanäle an der basolateralen Seite der Zellen weiter über Lücken in der Basilarmem-
bran in die Scala tympani des perilymphatischen Kanals. Durch das schallinduzierte rhythmische Hin- und Herpendeln der Stereovilli und das damit gekoppelte Öffnen und Schließen der apikalen K+-Kanäle erfährt das Rezeptorpotential rhythmische Depolarisationen und Repolarisationen zwischen −70 mV und −40 mV. Weitere Ionen sind in diesem stark vereinfachenden Modell nicht berücksichtigt, doch ist bekannt, dass auch Ca2+Kanäle und spannungsgesteuerte K+-Kanäle, und selbstredend auch Anionen wie Chlorid von Bedeutung sind. Zur Rolle der sich im Rhythmus des Rezeptorpotentials sich abwechselnd dehnenden und kontrahierenden Prestinmoleküle siehe Haupttext
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19 Das Gehör
ge der inneren Haarzellen von einem Ton gerührt werden. Aber wie? Die Sache bleibt spannend.
16 Hz
19.4.3 Die äußeren Haarzellen vibrieren, von elektrischen Wechselströmen stimuliert, aktiv im Rhythmus der Schallwellen und verstärken sie 16 000 Hz
Tiefer Ton (Grundton)
Mittlerer Ton (1.Oberton)
Hoher Ton (2. Oberton) Klang Abb. 19.10. Ortsprinzip der Tonhöhenanalyse und Breite der Basilarmembran entlang der Schnecke
Haarzellen entlang dem Schneckengang sei 3500, dann kämen zwei Haarzellen auf einen Ton. 3. Die aktive Mitwirkung des Ohrs. Von Bèkèsy hatte seine Messungen der Wanderwellenbewegung am Ohr von Leichen durchgeführt. Im lebenden Ohr sind die Wanderstrecken viel kürzer. Augenscheinlich gibt es aktive Mechanismen, die Hydrodynamik des Ohres im Reizbereich zu verstellen. An irgendeiner eng umschriebenen Stelle im Ausbreitungsbereich einer Wanderwelle werden die Haarzellen aktiv zum Empfang einer bestimmten Bestfrequenz (BF) eingestimmt (getunt), und es wird die Mikroakustik verändert. Für diese aktive Verstärkung werden die äußeren Haarzellen verantwortlich gemacht, zu denen ja reichlich vom Gehirn ausgehende, efferente neuronale Befehlsleitungen führen. Ihr aktives Mitwirken sollte die Hydrodynamik ihrer Umgebung verändern und sicherstellen, dass nur weni-
Im Ohr entstehen unentwegt Schwingungen. Ein empfindliches Mikrofon auf der Außenseite des Trommelfells registriert Geräusche, sogenannte otoakustische Emissionen. Sie werden dauernd ausgestrahlt, verstärkt aber als Echo auf exogenen Schall. Die Forschung der letzten Jahre hat die Quelle dieser abgestrahlten Schwingungen ausfindig gemacht. Es sind die äußeren Haarzellen. Sie verändern periodisch ihre Länge in hoher Frequenz. Man stellt sich vor, dass die äußeren Haarzellen im Einflussbereich einer Wanderwelle nicht nur passiv ins Schwingen versetzt werden, sondern selbst aktiv zu oszillieren beginnen und bestimmte Komponenten der passiven Schwingungen aktiv verstärken. Die lokale Schallstärke am Ort der Bestfrequenz wird nach Berechnungen um 40 dB, das heißt um das 100-fache, erhöht. Dass hier nicht nur die blühende Fantasie von Forschern Daten in den Rechner eingibt, beweist das Mikrophon. Auf einen kurzen Klicklaut antwortet das Ohr mit einem Echolaut (evozierte otoakustische Emission), den manche Leute sogar hören können. Sehr empfindliche Mikrophone melden auch bei äußerer Stille unterschwellige Stand-by-Laute. Das Ohr ist in ständiger Bereitschaftsstellung, um unverzüglich auf äußere Laute reagieren zu können. Die Stand-by-Aktivität erniedrigt die Auslöseschwelle: Mit kaum registrierbarer Verzögerung werden exogene Schallereignisse mit erhöhter Schwingungsamplitude verstärkt. Man nimmt an, dass bei einer bestimmten Tonhöhe jeweils nur 1–3 Querreihen äußerer Haarzellen mit verstärkten Vibrationen antworten. Nach heutiger Modellvorstellung läuft Folgendes ab: In der Endolymphe ist die K+-Konzentration ungewöhnlich hoch, viel höher als in der Perilymphe. Darin steckt ein hohes Diffusionspotential (auch als chemisches Potential bezeichnet; s. Kap. 14), welches in einer Nernst’schen elektrischen Spannung zwischen der Endolymphe
19.4 Tonhöhen-Unterscheidung (Frequenzanalyse)
des Schneckengangs und der Perilymphe des Paukengangs seinen messbaren Ausdruck findet (Abb. 19.9). Man spricht von einem „endocochleären“ Potential. In den Stereovilli der Haarzellen befinden sich mechanisch gesteuerte K+-Kanäle, an der Basis der Haarzellen K+-Leckkanäle. Wenn ein Bezirk der Basilarmembran schwingt, werden in den Stereovilli durch die Scherbewegungen der gemeinsamen Deckmembran synchron die K+-Kanäle der Stereovilli geöffnet, und ein K+-Strom fließt von der Endolymphe durch die Haarzellen zur Perilymphe. Klappen die mechanisch gesteuerten K+-Kanäle wieder zu, wird der Strom unterbrochen. Wenn nun die Stereovilli hin und her schwingen, werden ihre mechanisch gesteuerten K+-Kanäle geschlossen, geöffnet und geschlossen – im Rhythmus der Schallwellen. Es entstehen oszillierende K+-Ströme. Ein Ionenstrom ist zugleich ein elektrischer Strom. Es entsteht also ein elektrischer Wechselstrom (AC = alternating current) durch die gereizten Haarzellen hindurch, dessen Schwingungsfrequenz nicht wie der der AC-Strom aus der Steckdose konstant 50 Hz beträgt, sondern von der Frequenz der Schallwellen abhängt. Synchron mit den Schwingungen dieses Wechselstroms ändern die Haarzellen ihre Länge; sie vibrieren. Außerhalb des Ohres lassen sich solche mechanische Vibrationen der Haarzellen auslösen, wenn sie einem elektrischen Wechselfeld ausgesetzt werden, das solche K+-Ströme erzwingt. Die vibrierenden Haarzellen werden als lokale Schallverstärker angesehen, welche das Amplitudenmaximum der Membranschwingungen an einem eng begrenzten, frequenzkonformen Ort um das Hundertfache verstärken.
19.4.4 Die Zellmembran der äußeren Haarzellen ist mit ungewöhnlichen molekularen Motorproteinen ausgestattet Wenn man von bekannten Mechanismen ausgeht, wird man Längenveränderung von Zellen auf Mo-
torproteine wie Myosin, Dynein oder Kinesin zurückführen wollen, Motorproteine, die alle ATP verbrauchen. Haarzellen verbrauchen aber bei ihren Vibrationen kein ATP, und sie verkürzen und verlängern sich viel rascher als es bekannte Motorproteine ermöglichen könnten. Außerhalb des Ohres lassen sich Vibrationen der Haarzellen bis zu 80 000 Hz auslösen, wenn sie einem elektrischen Wechselfeld entsprechender Frequenz ausgesetzt werden. Die äußeren Haarzellen sind demnach elektro-mechanische Energiewandler, die elektrische Wechselfelder in mechanische Schwingungen transformieren. Beim Vergleich der Proteinausstattung von vibrationsfähigen äußeren und passiven inneren Haarzellen (je 1000 Zellen aus dem Innenohr der Wüstenspringmaus) kam man dem Protein Prestin auf die Spur. Es ist in die Zellmembran eingebettet, wobei zahlreiche Moleküle übereinander gestapelt sind. Ein Prestinmolekül verändert seine räumliche Konfiguration im Rhythmus elektrischer Spannungsschwankungen (Abb. 19.9). Wenn Prestinmoleküle übereinandergestapelt sind, addieren sich die einzelnen minimalen Dimensionsänderungen zu einer konzertierten Schwingung der gesamten Zelllänge. Woher rühren die elektrischen Spannungsänderungen? Es sind die mit den oben beschriebenen Wechselströmen verbundenen endocochleären Wechselspannungen. Die Prestinmoleküle sind umgewandelte Chloridtransporter; sie nehmen bei Depolarisation Chlorid auf und werden dadurch voluminöser. Durch die Wechselspannungen erfahren sie periodische Konformationsänderungen. Die synchronen Konformationsänderungen der aufeinandergestapelten Prestinmoleküle bewirken periodische Längenänderungen der Haarzellen im Rhythmus der Schallwellen. Die Längenschwankungen geschehen also bei den extremen Tieftonspezialisten mit 16 Hz, bei den Höchsttonspezialisten mit 20 000 Hz. Mit diesen Vibrationen verstärken die äußeren Haarzellen die lokale Amplitude der Basilarmembranschwingungen. Diese verstärkten mechanischen Schwingungen werden ihrerseits auf die Endolymphflüssigkeit übertragen, die ihrerseits in Strömung versetzt wird und die inneren Haarzellen erregt. Die efferente Kontrolle der Haarzellen durch das ZNS scheint hemmend zu sein. Bei zu großer
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Lautstärke wird die Verstärkerfunktion der äußeren Haarzellen gedrosselt.
19.4.5 Die Tonhöhen-Unterscheidung wird von den inneren Haarzellen geleistet; Techno-Sound bringt sie per Tod zum Schweigen Die inneren Haarzellen werden nach derzeitiger Vorstellung von Mikrozirkulationsströmungen gereizt, die unter anderem von den vibrierenden äußeren Haarzellen erzeugt und auf eine innere Haarzelle fokussiert werden. Die Frequenzanalyse des Schalls wird also von der Einerreihe der inneren Haarzellen geleistet. Sie sind ja alle durch individuelle Telefonleitungen mit der Auswertzentrale des Gehirns verbunden. Der Nachweis gelingt im unfreiwilligen Experiment. Wird das Ohr mit einem reinen Ton sehr hoher Intensität beschallt, sterben die für diesen Ton zuständigen, überreizten Haarzellen ab. Es entsteht eine Lücke in der Tonleiter. Abgestorbene Haarzellen werden (anders als Riechzellen) nicht regenerativ ersetzt. Die Generation Techno-Fans wird dem Ohrenarzt willkommene Einkünfte verschaffen. Auch wer Lärm meidet, aber überreichlich Stress konsumiert, kann unangenehme Hörprobleme bekommen. Es kann zu einseitiger Schwerhörigkeit („Hörsturz“) kommen, oder man hört dauernd quälende, hohe Töne (Tinnitus). Diese Symptome können verschiedene Ursachen haben. Auch ohne Information vom Ohr kann ein erkranktes Hörzentrum im Gehirn Töne und Stimmen erzeugen. Die Medizin unterscheidet objektiven und subjektiven Tinnitus. Objektiver Tinnitus. Hier gibt es tatsächlich Geräusche, die auch ein Mikrofon vom Ohr abhören kann. Ursache können übersteigerte otoakustische Emissionen und akustisch nicht ausreichend abgeschirmte Pulsationen des arteriellen Blutstroms sowie gestörter Blutfluss sein. Subjektiver Tinnitus. Obwohl von außen die Geräusche nicht zu hören sind, hört sie doch der Patient in seiner vom Gehirn erzeugten subjektiven Hörwelt. Ursachen der Geräuschempfindungen können nachwirkender Lärmstress sein, hoher Binnendruck der Endolymphe, hoher Blutdruck, Nervenentzündungen, Allergien, Medikamente wie hohe Dosen von Aspirin, Empfängnisverhütungsmittel, und vieles mehr.
19.5 Zur Perzeption: Tonotopie und Lokalisation einer Schallquelle Wir hören, wer in der Familie eben welche Tür geschlossen hat und mit welcher emotionalen Befindlichkeit. Bruchstücke einer Melodie genügen, um ein großes Werk zu identifizieren, und wir hören mit der Stereoanlage den (vermeintlichen) Ort eines Instruments in der Klangvielfalt des Orchesters. Schallereignisse werden in einer umfassenden Spektralanalyse auf ihre komplexe Zusammensetzung aus Frequenzen und Intensitäten hin untersucht und ihre zeitliche Struktur wird präzise ausgewertet. Alle diese Auswertergebnisse werden in Bruchteilen einer Zehntelsekunde mit im Gedächtnis gespeicherten Mustern verglichen. Es versteht sich von selbst, dass die für all diese hochkomplexen Leistungen zuständigen zentralnervösen Instanzen noch unzulänglich erforscht und ihre Arbeitsweisen nur ansatzweise verstanden sind, und es versteht sich wohl auch von selbst, dass dieses einführende Lehrbuch nur Bruchstückhaftes wiedergeben kann. 19.5.1 Tonotopie: Die räumlich auseinandergezogene Abbildung der Schallfrequenzen in der Cochlea spiegelt sich in einer korrespondierenden räumlichen Ordnung der zentralen Auswertinstanzen wieder Bei der Besprechung des Tatsinnes (Abschn. 17.4.3) erfuhren wir vom Prinzip der Somatotopie: Verschiedene Bezirke der reizaufnehmenden Körperoberfläche werden in verschiedenen Bezirken der Großhirnrinde ausgewertet. Vergleichbares gilt für die Tonhöhenwahrnehmung. Die aufsteigende Hörbahn durchquert bei Säugetieren einen paarigen Colliculus inferior auf der Vierhügelplatte des Mesencephalon. Dort sind bei Katzen wie bei Fledermäusen Neurone identifiziert worden, die auf Modulation der Schallfrequenz reagieren. Neurone mit gleicher Bestfrequenz sind zu Schichten gruppiert. Verschiedene Schichten sind mit der Analyse verschiedener Frequenzbereiche betraut. Tiefe Frequenzen werden im dorso-medialen Colliculus, hohe Frequenzen im ventro-lateralen verarbeitet.
19.5 Zur Perzeption: Tonotopie und Lokalisation einer Schallquelle Abb. 19.11. Ortung einer Schallquelle mittels Koinzidenzneuronen in den oberen medialen Oliven nach dem Jeffress-Modell. Nur Neurone feuern, die exakt gleichzeitig Signale der gleichen Art von beiden Ohren erhalten. Bei seitlichen Schallquellen sind die Ankunftszeiten der Schallereignisse bei beiden Ohren unterschiedlich. Zum Ausgleich dieser ITD müssen die Meldungen des schallnahen Ohrs verzögert werden, um gleichzeitiges Eintreffen der Signale an den Koinzidenzneuronen zu ermöglichen. Dies wird durch längere Leitungswege erreicht. Die notwendigen Verzögerungszeiten sind abhängig vom Einfallswinkel des Schalls und geben daher Auskunft über die Richtung der Schallquelle
Zeitdifferenz
Lokalisation der Schallquelle Phasendifferenz Intensitätsdifferenz li Ohr - re Ohr
Zeitdifferenz li - re Ohr
0° 0° 45°
45°
90°
90°
Horizontale (Azimut 0°) ITD inter-aural time difference
re Ohr
li Ohr
90°
45°
0°
Delay line re Ohr
li Ohr Delay line
0°
45°
90°
Koinzidenzneurone in der medialen superioren Olive MSO Längere Zuleitungen kompensieren kürzere Schallwege
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Bei Katzen erfasst eine Schicht eine Vierteloktave. Auch in unserem auditorischen Cortex werden die einzelnen Frequenzbereiche räumlich auseinandergehalten; auch hier herrscht Tonotopie. 19.5.2 Schall-Lokalisation: Millionstel Sekunden Zeitdifferenzen zwischen beiden Ohren sollen mittels eines zentralnervösen Koinzidenzanalysators gemessen werden können Zur Ortung von Schallquellen werden die Differenzen ausgewertet, mit denen Schallwellen das linke und rechte Ohr erreichen. Ihre Amplituden (Energiedichten) sind im schallfernen Ohr geringfügig niedriger als im schallnahen und charakteristische Schallereignisse wie Beginn des Schalls und Intensitätsspitzen treffen mit minimalen Zeitdifferenzen ein. Auch treten geringe Phasenverschiebungen in fortlaufenden Wellenzügen auf, welche die beiden Trommelfelle in phasenverschobene Schwingen bringen (Abb. 19.11). Mit der Ortung von Lautquellen ist ein anderes Gebiet des Gehirns betraut als mit der Frequenzanalyse. Es sind die paarigen Olivenkerne im Stammhirn nahe der Einmündung der Hörnerven im Übergangsbereich von Gehirn und Rückenmark. Die Oliven gliedern sich wie folgt. ●
MSO, die mediale superiore Olive. Ihr wird die Aufgabe zugeordnet, Differenzen in den Ankunftszeiten von Schallereignissen auszuwerten; diese haben vor allem bei der Auswertung tiefer Frequenzen, wie sie beim Sprechen erzeugt werden, Bedeutung.
●
LSO, die laterale superiore Olive. Sie soll sich mehr mit der Auswertung von Intensitätsunterschieden und der Phasenverschiebung bei höheren Schallfrequenzen befassen.
Wir beschränken uns auf die Auswertung von interauralen Zeitdifferenzen ITD (lat.: inter = zwischen, aures = Ohren) in den MSO. Das menschliche Gehör kann Zeitdifferenzen von nur 5 μs (μs = Millionstel Sekunden!) erfassen, Fledermäuse sollen gar noch Echodifferenzen im ns-Bereich (Milliardstel s) erfassen können. Wie ist das möglich, wenn eine synaptische Signalübertragung schon 1 ms dauert?
Eine erste Spezialität sind besonders große und schnelle Synapsen (Held’sche Endkolben ( endbulbs) und Kelchsynapsen ( calices)). Beteiligte Ca2+-Kanäle öffnen und schließen extrem schnell. Doch zu einer zeitlichen Auflösung von unter 0,5 ms kommt man damit allein nicht. Ein vieldiskutierter Trick ist ein hypothetischer Koinzidenzanalysator. Bereits vor über einem halben Jahrhundert hat ein Neurobiologe namens Jeffress ein Modell zur Ermittlung geringer Zeitdifferenzen vorgeschlagen. Ein Ohr sei der Schallquelle direkt zugewandt, das andere befinde sich im Schallschatten. Koinzidenzneurone würden feuern, so die Annahme, wenn exakt gleichzeitig Signale vom linken und rechten Ohr einträfen. Solche Koinzidenzneurone finden sich in großer Zahl in den MSO. Erregende Signale treffen dort in der Tat von beiden Ohren ein. Nun aber treffen aus seitlicher Richtung kommende Schallereignisse an beiden Trommelfellen mit einer Zeitdifferenz ein, die umso größer ist, je mehr der Schall nicht von direkt vorn (0°-Einfallswinkel), sondern von der Seite kommt. Der Unterschied ist maximal, wenn die Schallquelle 90° seitlich vom Kopf lokalisiert ist (Abb. 19.11). Das vorgeschlagene Modell („Jeffress-Modell“) nimmt an, eine Kette von Koinzidenzneuronen sei für zunehmende Schalleinfallswinkel zuständig. Damit Koinzidenz aber möglich werde, würden Zeitdifferenzen in den Schallereignissen dadurch kompensiert, dass die Zuleitungen vom schallnahen Ohr länger seien als die vom schallfernen Ohr. Minimal längere Axone hätten eben minimal längere Laufzeiten der Spikepotentiale zur Folge. In der Kette der Koinzidenzneurone wären die verschiedenen Schalleinfallswinkel abgebildet. Das Koinzidenzneuron, das maximalen Ausgleich der Zeitdifferenzen benötigt, um gleichzeitig von beiden Seiten zum Feuern stimuliert zu werden, identifiziert eine Schallquelle 90° seitlich vom Kopf, das Neuron, das ohne Leitungsverzögerung von beiden Seiten zum Feuern veranlasst werden kann, signalisiert eine Schallquelle von vorn (0°). Physiologie, insbesondere Neurophysiologie, lebt nicht nur von Messwerten, sondern auch von der Fantasie derer, die sich Möglichkeiten einer Problemlösung ausdenken. Das vorgeschlagene Modell besticht durch seine Einfachheit und Plausibilität, auch wenn die Gültigkeit der Annahmen noch nicht bewiesen ist.
19.6 Hören und Ultraschallortung bei Tieren
19.6 Hören und Ultraschallortung bei Tieren 19.6.1 Hörvermögen ist weiter verbreitet als man meint; auch viele Fische und manche stummen Nachtschmetterlinge hören Wenn man wissen will, welche Tiere hören können, muss man erst definieren, wie Hören gegen den Vibrationssinn (Substratschall) abgegrenzt werden könnte. Wenn der Untergrund vibriert, reagieren unzählige Tiere mit verändertem Verhalten, beispielsweise mit Rückzugsreflexen. Definiert man Hören, wie dies üblicherweise in Analogie zu unserem eigenen Hörvermögen getan wird, als Wahrnehmung periodischer Druckwellen in Luft oder Wasser, so hören fast alle Tetrapoden, viele Fische und eine Reihe von Insekten (Abb. 19.12). Bei Fischen sind verschiedenartige Gehörorgane erfunden worden und im Gebrauch. Zwei Beispiele: ●
Maculaorgane, auf deren Haarsinneszellen ein schwerer Otolith lagert. Während der Fisch selbst mit seiner Dichte, die der des Wassers nahe kommt, im Rhythmus der Schallwellen vibriert, bewegt sich das träge, massendichte Gewicht mit geringerer Amplitude in Gegenphase. Diese Bewegungen werden von Haarsinneszellen registriert. Das Organ funktioniert wie ein Gerät zur Registrierung seismischer Beben.
●
Gasgefüllte Schwimmblasen sind bei einer Reihe von Fischen vorne mit einer dünnen Membran versehen, die auf Schalldruck-induzierte Volumen/Druck-Schwankungen durch Auslenkung reagiert. Bei Ostariophysen (Karpfen, Salmler, Welse) überträgt der von Wirbeln abgeleitete Webersche-Apparat die Schwingungen der Membran in die Perilymphgänge des Innenohrs.
Nicht minder vielseitig sind Gehörorgane bei Arthropoden. Bemerkenswert ist, dass nicht nur Insekten hören können, deren Artgenossen selbst Laute erzeugen, sondern auch einige stumme Nachtfalter. Sie entdecken mit ihren Tympanalorganen ihren Todfeind, die Fledermaus, die mit ihren Ultraschall-Lauten suchend ihre nächtliche Umgebung abtastet.
19.6.2 Aktive Echoortung mit selbsterzeugtem Ultraschall (Sonar) wird von Fledermäusen zur Orientierung im Dunkeln und zur Jagd betrieben, von Delphinen zum Fischfang Es war der neugierige Bischof von Pavia, Lazzaro Spallanzani (1729–1799), der zur Zeit des Rokoko und der aufblühenden neuzeitlichen Naturwissenschaft mit Fledermäusen experimentierte und verwundert bemerkte, dass sie auch im dunklen Studierzimmer zielsicher durch einen Vorhang von Fäden flogen, an denen kleine Glöckchen hingen. Er war es auch, der ihnen diese Fähigkeit raubte, indem er ihre Ohren verstopfte. Dass sie bei ihrem Flug Ultraschall-Laute aussenden, musste ihm allerdings verborgen bleiben; denn schließlich gab es damals noch keine technischen Möglichkeiten, Ultraschall zu detektieren. Fledermäuse haben Dämmerung und Nacht zu ihrer ökologischen Nische machen können, weil sie sich dank ihres leistungsfähigen Sonarsystems auch im Dunkeln zurechtfinden und sogar leise flatternde Nachtschmetterlinge orten können, um sie als Beute zu jagen. Fledermäuse haben vielleicht das perfekteste Sonarsystem entwickelt; aber sie sind nicht die einzigen, die das Echo selbsterzeugter UltraschallLaute nutzen, um Hindernisse zu orten. Es gehören Nachtschwalben (Ziegenmelker) dazu sowie Delphine und andere Zahnwale, die in den finsteren Ozean abtauchen. Delphine nutzen die enorme Geschwindigkeit der Schallausbreitung im Wasser, um Fische zu orten und sich wechselseitig in einer Art Sprache zu verständigen. 19.6.3 Ultraschall-Laute können wie der Schein einer Taschenlampe eng gebündelt abgestrahlt werden Druckimpulse, auch wellenförmige Luftdruckschwankungen, breiten sich im Allgemeinen nach allen Raumrichtungen aus: Wir hören unser Radio, wo immer es auch steht, vor uns, hinter uns, oder seitlich von uns. Der Hi-Fi-Fan weiß aber auch, dass der Hochtöner seiner Zwei- oder Dreiwegebox weit mehr zum räumlichen Klangbild beiträgt als der Basslautsprecher. Je höher die Schallfrequenz, desto mehr breitet sich die Schallenergie bevorzugt in der Richtung aus, in der der Schall abgestrahlt wird.
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19 Das Gehör
Reihe von Skolopidien auf Tympanalmembran aufgeschnitten natürliche Öffnung in Schlitz
a
Akustisches Trommelfell Stigma: am 1. AbdominalGrillen segment: Trommelfelle Feldheuschrecken, an Vorderbeinen Zikaden; Grillen am Thoraxende: Laubheuschrecken Nachtfalter
Tibia des Vorderbeins quer Trommelfell Ligament
b
Tracheen Gehörorgane der Laubheuschrecken und Grillen im Dienst der Kommunikation Ultraschall-Detektor im Postthorax eines Nachtschmetterlings, geeignet zur Wahrnehmung der FledermausOrtungslaute
Tympanalorgan mit Scolopidien
c
Trommelfell (Tympanum)
Tracheenblase
Gelenk
2
1
Hebelsystem des 3. Gliedes Gelenkknopf des 2. Gliedes
d
3
2
Antenne der Fliege (Drosophila) als Hörorgan (Luftvibrationen)
3
e Scolopidien registrieren die Bewegung des Gelenkknopfes
Die Bewegung des dritten Antennengliedes überträgt sich auf den Gelenkknopf im zweiten Antennglied
19.6 Hören und Ultraschallortung bei Tieren
100
80
CF (constant frequency) für Nutzung des Dopplereffekts Suchen FM Schlussteil für Entfernungsmessung über Echo-Laufzeit
kHz 60
a
40 Fangen FM-Laute Frequenzmoduliert, hier F abfallend
20
b
Zeit
Abb. 19.13a, b. Ultraschallkeule einer ortenden Fledermaus (a); Charakteristik verschiedener Ultraschall-Laute (b). Frequenzmodulierte Laute (kurze „iu“-Laute) werden in der Regel als rasch wiederkehrende Lautfolgen ausgesandt; sie werden in umso rascherer Folge ausgesandt, je näher das Ziel heranrückt. FM Laute sind charakteristisch für Glattnasen (Abendsegler,
Vespertilioniden), die ihre Laute durch den Mund aussenden, CM-FM Laute (lange „iiiiiu“ Laute) senden Hufeisennasen (Rhinolophiden) aus, die Laute durch die Nase ausblasen. CF-FM Laute sind für den Abendsegler charakteristisch. Die Bedeutung der Dopplermessung ist in der folgenden Abbildung erläutert
Die Fledermaus und der Delphin senden Schreie (Einzellaute oder Lautfolgen) aus, die sich in Form einer Schallkeule ausbreiten (s. Abb. 19.13). Für die Bündelung des Schalls sind drei physikalische Phänomene bedeutsam:
●
Abb. 19.12a–e . Gehörorgane bei Insekten. Den hier zusammengestellten Hörorganen ist gemeinsam, dass der Schallreiz mittels Sensillen des Scolopidium-Typs wahrgenommen wird. Gehörorgane mit Trommelfell (Schallwechseldruck-Empfänger) (a, b, c). Bei einigen Insekten, so bei Stechmücken und Fliegen (hier Drosophila), kann die beweglich eingelenkte und mit Haaren versehene Antenne durch Schall bestimmter Frequenzen in Schwingungen versetzt werden. Diese werden durch Scolopidi-
alsensillen im zweiten Antennenglied (Johnston’sches Organ) registriert (c, d). (a, b, c) Nach mehreren Autoren kombiniert, (b) vorzugsweise nach Sickmann et al. (1997); (c) nach Yack (2004), (d, e) nach Boekhoff-Falk (2005), jeweils vereinfacht. Luftvibrationen können auch mit leichtbeweglichen Cuticularhaaren (Abb. 18.4.) wahrgenommen werden
die Höhe der Frequenz; je höher die Frequenz der Ultraschall-Laute, desto geradliniger ihre Ausbreitung (desto rascher aber ihre Dämpfung, was zu Kompromissen zwingt);
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19 Das Gehör Flügelschlag erzeugt Doppler-Effekt
frequenzmoduliertes Echo, 1/10 000 Intensität
Sendetöne 83 kHz, 120 dB
Abb. 19.14. Dopplereffekt. Das vom schlagenden Schmetterlingsflügel reflektierte Echo entspricht einer periodischen Tonfolge mit auf- und absteigenden Tonhöhen ●
die Schalltrichterwirkung des Lautsprechers. Fledermäuse erzeugen ihre Laute mit dem Kehlkopf und senden sie entweder durchs Maul oder durch die Nase aus. Wer die Nase benutzt, wie die Hufeisennasen (Rhinolophidae), hat auch einen Nasenaufsatz als Schalltrichter.
●
Interferenzen zwischen beiden aus den Nasenlöchern ausstrahlenden Schallkeulen können die Vorausrichtung verstärken.
Unser Ohr hört die Laute nicht, obwohl sie mit bis zu 120 dB den Schallpegel eines Presslufthammers erreichen. Die Frequenzen liegen zwischen 20 und 200 kHz. Was an Schallenergie mit dem Echo zurückkommt, ist allerdings sehr gering. Trifft ein Laut von 85 kHz eine 7 m entfernte Wand, kehrt maximal 1/10 000 der Schallenergie zum Sender zurück (s. Abb. 19.14). Räumliche Auflösung. Je höher die Schallfrequenz, desto kleiner die Wellenlänge und desto kleiner die Objekte, die ein Sonarsystem erkennen kann. Das gesuchte Objekt sollte eine Länge haben, die mindestens der Wellenlänge des Ortungslautes entspricht. Die Wellenlänge ist bei 100 kHz in Luft 3 mm, in Wasser 1,5 cm. Die Fledermaus kann Insekten orten, der Delphin einen Fisch.
19.6.4 Die Art der Laute ist dem Biotop und Verwendungszweck angepasst Fledermäuse müssen den für sie optimalen Kompromiss finden. Wer hoch in den Lüften nach Schmetterlingen jagt, wie der Abendsegler, braucht Laute,
die weit reichen. Der Abendsegler wählt relativ tieffrequente Laute um 20 kHZ, die weit reichen, aber nur ein geringes räumliches Auflösungsvermögen haben. Hufeisennasen jagen zwischen Bäumen. Sie wählen komplex gestaltete Lautfolgen mit einer (artspezifischen) Hauptfrequenz um 60, 70 oder 85 kHz. Diese Laute reichen nicht so weit, erlauben andererseits ein differenziertes Hör-Abbild ihrer Umwelt. Die Mehrzahl der Insekten-jagenden Fledermäuse sucht den Nachthimmel mit Folgen von tonartigen Lauten ab, die einzeln jeweils einige ms Länge haben und deren Frequenz mit der besten Hörfrequenz übereinstimmt. Haben sie ein verdächtiges Objekt geortet, werden die Laute in schnellerer Folge ausgesandt, und sie werden kürzer. Die rückkehrenden Echolaute können so stets in die Sendepausen fallen. Besonders kurz sind die Klick-Laute der Fledermäuse, die im Blätterwerk von Bäumen jagen.
19.6.5 Wie man unter Ausnutzung des Dopplereffekts den lautlosen Flügelschlag eines Nachtfalters hörbar macht Hufeisennasen senden Laute mit einem relativ langen frequenzkonstanten Teil (CF-Teil, Tonkomponente) und einem frequenzmodulierten Endabschnitt aus, in dem die Frequenz plötzlich steil abbricht (FM-Teil). In unseren Hörbereich transponiert (z. B. durch langsames Abspielen eines Tonbandes) klingt ein solcher Laut etwa wie „iiiiiiiju“.
19.6 Hören und Ultraschallortung bei Tieren
Der CF-Teil der Laute ist so lang, dass ihr Echo nicht in die Sendepausen fällt, sondern mit den ausgesandten Lauten überlappt. Der kurze FM-Teil „ju“ ermöglicht es aber doch, Zeitdifferenzen zwischen ausgesandtem Laut und dem zurückkommenden Echo exakt zu messen und daraus die Entfernung zum Reflektor zu berechnen. Der lange Tonanteil des Lautes „iiiiiii“ ermöglicht es, den Flügelschlag eines Schmetterlings zu hören. Wie dies? Dopplereffekt. Ein Laut habe 72 000 Hz. Hängt die Fledermaus ruhig an ihrem Ast, kommen von einem ruhenden Reflektor, der Hauswand beispielsweise, auch wieder 72 000 Pulse pro Sekunde zurück. Fliegt die Fledermaus auf eine Hauswand zu, sammelt ihr Ohr die 72 000 in eine Sekunde ausgesandten Pulse in verkürzter Zeit wieder ein; denn die Distanzen zum Reflektor werden laufend kürzer. Der zweite Puls einer Lautfolge erreicht das Ohr eine Idee früher als der erste Puls, der dritte früher als der zweite usf. Wenn die in einer Sekunde ausgesandten 72 000 Pulse in 0,9 Sekunden eingesammelt werden, hört das Ohr einen Ton entsprechend der Frequenz 72 000/0,9 = 80 000 Hz. Allgemein: nähert sich ein Reflektor dem Hörer, ist der gehörte Echolaut höher, entfernt sich der Reflektor, ist der Echolaut tiefer als der Sendelaut. Der Echolaut ist in dieser Hinsicht dem Ton des Martinshorns zu vergleichen, das höher klingt, wenn sich der Krankenwagen nähert, und tiefer, wenn er an uns vorbei gefahren ist und sich wieder entfernt. Das Gehör der Hufeisennase ist so fein, dass sie das minimale Auf und Ab des Echotons erfasst, den der Flügelschlag eines Schmetterlings verursacht, der in 1 bis 2 m Entfernung an ihr vorbeiflattert (Abb. 19.14). Ein solcher Flügel nähert und entfernt sich ja einige Millimeter im Rhythmus des Flügelschlages. Das Erstaunliche ist, dass die Fledermaus dieses Flattern sicher vom Flattern der Blätter eines Baumes unterscheiden kann und sie sich nicht durch ihren extrem lauten Sendelaut selbst stört. Das enorme Leistungsvermögen des Fledermausgehörs basiert unter anderem darauf, dass jede Fledermausart, sogar jedes Individuum, ein Gehör hat, dessen Sensitivität spezifisch auf die Hauptfrequenz (Trägerfrequenz) des eigenen Ortungslautes abgestimmt ist. Die Nutznießer eines Jagdreviers verwenden unterschiedliche Trägerfrequenzen. Die Hörschwellenkurve hat einen Engpassfilter
bzw. ein Engpassfenster eingebaut. Dieses Fenster ist so schmal, dass es die von der Konkurrenz ausgesandten Ortungslaute ausblendet, aber das Echo des eigenen Lautes durchlässt. In diesem schmalen Fenster ist das Gehör extrem empfindlich und in der Lage, feinste Frequenzdifferenzen, wie sie der Flügelschlag eines Falters erzeugt, aufzulösen. Auf der Cochlea des Ohrs ist ein breiter Bereich für diesen Frequenzbereich reserviert (akustische Fovea). Damit nun das Echo stets in dieses Fenster einfällt, auch wenn die sendende Fledermaus rasch fliegt, senkt oder erhöht das Tier die Trägerfrequenz (Hauptfrequenz) des ausgesandten Ortungslautes, um grobe Verschiebungen des Echobildes durch den flugbedingten Dopplereffekt auszugleichen. Das Echo soll schließlich das Fenster nicht verpassen. Es bleibt dann innerhalb des Fensters genug Spielraum, um den Flügelschlag des Insekts zu hören. 19.6.6 Delphine und Wale haben ein eigenes Sende- und Empfangssystem Auch Delphine und andere Zahnwale senden Ultraschall in Form eines Scheinwerfers aus. Die Frequenz der Laute beträgt, ähnlich wie bei Fledermäusen, 56–120 kHz. Das Auflösungsvermögen genügt, um Fische von Heringsgröße orten zu können. Darüber hinaus können Delphine die Reflexionseigenschaften verschiedener Materialien (Aluminium- gegen Kupferbleche) unterscheiden. Die Reichweite des Ultraschallscheinwerfers ist größer als bei Fledermäusen, weil Schall in Wasser viel schneller läuft und weniger gedämpft wird als in Luft. Es gilt jedoch auch in Wasser: Hohe Schallfrequenzen werden stärker gedämpft als tiefe. Für eine Unterhaltung wird die Stimmlage bis in unseren Hörbereich herabgesenkt. Wie erzeugt man Laute tief unter Wasser? Wir würden erst Luft holen wollen – im Wasser ohne Luftflasche eine Fehlleistung, die schwer bestraft würde. Der Delphin hat eine ‚Luftflasche’ dabei. Er nimmt in Luftsäcken des Nasenraums einen Vorrat an Luft mit, und man nimmt an, dass diese Luft im Recyclingverfahren wiederholt durch den stimmgebenden Apparat geblasen wird. Was ist der stimmgebende Apparat? Gewiss der Kehlkopf (Larynx), wenn es um die tiefen Laute der sozialen Kommunikation geht. Für die Produktion der Ultraschalllaute ist aber wohl eine andere
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19 Das Gehör
Einrichtung zuständig: ein System von Klappen und Muskeln im Nasengang selbst (www.dolphins.org). Es ist nicht eben leicht, am lebenden Delphin unter Wasser die Funktion komplizierter innerer Organe zu untersuchen (man setzt Ultraschallmikrofone, Vibrationsmesser und Geräte zur Messung von Muskelpotentialen auf die Haut). Für das Abstrahlen der Schallsignale in das umgebende Wasser ist die „Melone“ von Bedeutung: ein mit öligen Lipiden gefüllter Sack vor der Stirn, der wie eine Linse Schall fokussieren kann (Abb. 19.15). Die Echolaute werden vermutlich eingefangen durch Fettpolster im UnterkieferHalsbereich und fokussiert auf die Bulla ossea, einer ungemein harten Knochenkapsel, die das Innenohr umhüllt. Die Bulla ossea, ist in eine weiche Umgebung eingebettet und nicht am Schädel befestigt. Vieles ist noch frag„würdig“. Beispielsweise: Werden nicht die Luftsäcke beim Tieftauchen zur Unbrauchbarkeit komprimiert? Es bedarf noch vieler Einfälle und neuer technischer Gerätschaften, bis die Sonarortung der Delphine in Grundzügen erklärt und vielleicht auch nachgeahmt werden kann.
19.6.7 Wale, Elefanten und Tauben nehmen Infraschall über riesige Entfernungen wahr Die Skala der Hörfrequenzen, die wir wahrnehmen können, endet unten bei 16 Hz. Tiefere, von uns nicht wahrnehmbare Frequenzen werden als Infraschall bezeichnet. Infraschall kann potentiell durchaus ein wertvoller Träger von Information sein; denn seine langen Wellenlängen werden nicht so rasch gedämpft. Große Wale singen und unterhalten sich mit Infraschall, der im Ozean hunderte von Kilometern weit trägt. Wir hören die vollen Walgesänge einschließlich ihrer tiefen Töne nur, wenn ein technisches Gerät die Frequenzen in unseren Hörbereich transformiert. Die mögliche Reichweite der Gesänge ist unvorstellbar weit: In einer Wasserschicht von −500 bis −3000 m (dem SOFAR channel) breitet sich Infraschall nahezu ungehindert aus. Eine Schallquelle bei der Heard-Insel im Südindischen Meer war über den Atlantik bis Labrador, über den Pazifik bis zur Küste Kaliforniens zu hören. Infraschall nutzen auch Elefanten zur Kommunikation über vermutlich mehrere Kilometer Entfernung (Römer H, in: Barth & Schmid 2001).
Luftsäcke Blas-/Nasenloch Melone (Schall-Linse) Stimmlippen(?) Ultraschall Abb. 19.15. Ultraschallkeule (mutmaßliche Form) eines ortenden Delphins. Das zurückkommende Echo wird vermutlich über einen Ölkanal und die harte Wand der Bulla ossea zum Gehörorgan geleitet, das sich in der Bulla ossea befindet
Gehirn Bulla ossea mit Innenohr Echo
zur Lunge Schall-leitender Ölkanal im Unterkiefer
Zusammenfassung des Kapitels 19
Tauben erzeugen keinen Ultraschall, hören aber den Infraschall, den der von Bergkämmen herabstürzende und von Felsen gebrochene Wind und die Zusammenfassung des Kapitels 19 Box 19.1 führt einleitend in die Physik des Schalls ein und definiert Begriffe der Wahrnehmungspsychologie. Schallwellen sind Serien sich im Raum fortpflanzender Druckschwankungen, welche dünne, straff gespannte Membranen wie das Trommelfell (Tympanum) in Schwingungen versetzen können. Diese Wellen haben Amplituden, denen in der Wahrnehmung die Lautheit des Gehörten entspricht. Die Energien der Schallwellen erzeugen auf einer Aufprallfläche einen Schalldruckpegel SPL, der in der logarithmisch normierten Dezibel-Skala oder einer mehr subjektiven Lautheitsskala, der Phon-Skala, gemessen wird. Das Frequenzspektrum der Schallwellen erzeugt in der Welt unserer Wahrnehmung Töne, Klänge und Geräusche, wobei die Höhe eines Tons von der dominierenden Grundfrequenz, der Klangcharakter vom Spektrum der Obertöne (den Harmonischen) bestimmt wird. Harmonisch werden Klänge empfunden, wenn die Schallfrequenzen in bestimmten ganzzahligen Verhältnissen zueinander stehen. Der Mensch nimmt Schallfrequenzen von 16 bis maximal 20 000 Hz wahr. Schall, der auf das Trommelfell trifft, muss physikalisch vom kompressiblen („schallweichen“) Medium Luft an das inkompressible („schallharte“) Medium Wasser angepasst werden. Die mit Luft gefüllte Paukenhöhle ist mit drei Fenstern versehen, in die Trommelfelle eingespannt sind. Das großflächige äußere Trommelfell ist durch die Kette von Hammer, Amboss und Steigbügel mit dem kleinflächigen inneren Trommelfell verbunden, das im ovalen Fenster an einen wassergefüllten Perilymphgang angrenzt. Dieser Reizübertragungsapparat reduziert einerseits die Amplitude der Schallwellen, verstärkt andererseits ihren Druck durch Übertragung der Schallenergie auf eine kleinere Fläche. Die den Schall aufnehmende Perilymphe füllt einen U-förmigen Kanal, welcher den mit Endolymphe gefüllten Schlauchs des Cochleagangs begleitet. Auf dessen Boden, der Basilarmembran, befindet sich das langgestreck-
Brandung an den Küsten verursachen. Der so gehörte Infraschall ist eine zusätzliche Informationsquelle zur Fernorientierung. te Corti-Organ mit den reizaufnehmenden Rezeptoren, langen Reihen von Haarsinneszellen. Während die Schallwellen den einen Schenkel des Perilymphkanals (Vorhofgang, Scala vestibuli) hochlaufen, wird die Schallenergie auf den Cochleagang und weiter in den absteigenden Schenkel des Perilymphkanals (Paukengang, Scala tympani) übertragen. Restenergie wird an dessen Ende am runden Fenster in die Paukenhöhle abgestrahlt. Die Energieübertragung bewirkt, dass die Basilarmembran auf dem Boden des Cochleagangs in Schwingungen gerät. Es entsteht eine Wanderwelle sehr geringer Amplitude, die, sich aufsteilend, eine kleine Strecke über die Basilarmembran läuft und wieder abklingt. Der Ort, wo dieses geschieht, ist abhängig von der Frequenz des Schalls: Hohe Frequenzen bewirken solche Schwingungen nahe dem Anfang des Schlauches, tiefe nahe der Schlauchspitze (Helicotrema). Für diese Frequenz„abbildung“ sind sich ändernde Resonanzeigenschaften der zum Helicotrema breiter werdenden Basilarmembran zuständig. Die Haarsinneszellen des Corti-Organs sind in parallelen Reihen angeordnet, einer inneren Reihe mit etwa 3500 aneinander gereihten Zellen und drei äußere Reihen mit ebenfalls je 3500 Zellen. Die Stereovilli der äußeren Reihen sind durch eine Deckmembran miteinander mechanisch gekoppelt. Werden sie von Wanderwellen gereizt, entstehen durch rhythmisches Öffnen von Ionenkanälen oszillierende Rezeptorpotentiale und damit elektrische Wechselfelder im Rhythmus der Schallwellen. Die äußeren Haarzellen besitzen die außergewöhnliche Eigenschaft, im Rhythmus dieser Wechselfelder länger und kürzer zu werden. Dafür sind besondere Membranproteine mit Namen Prestin zuständig, deren Dimensionen durch elektrische Spannungen Veränderungen erfahren. Diese Längen-Oszillationen der äußeren Haarzellen erzeugen ihrerseits Schall, der als otoakustische Emission mit dem Mikrophon registriert werden kann. Durch ihre mechanischen Oszillationen verstärken die äußeren Haarzellen die Schwingungsamplitude der Basilarmembran an
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einem scharf begrenzten, frequenzabhängigen Ort und fokussieren Wirbelströme der Lymphe auf wenige Haarzellen der inneren Reihe. Die inneren Reihe codiert die Frequenzen der Schallwellen nach dem Ortsprinzip: Da verschiedene Schallfrequenzen an verschiedenen Orten der Basilarmembran innere Haarzellen stimulieren und deren Meldungen individuell über afferente Nervenfasern dem Gehirn mitgeteilt werden, kann das Gehirn den verschiedenen Ursprungsorten der Datenkanäle verschiedene Tonhöhen zuordnen. Die Reihe der 3500–4000 inneren Haarzellen ermöglicht es, bis zu 1600 verschiedene Tonhöhen zu unterscheiden. Die Frequenzmodulation der Aktionspotentiale in den verschiedenen Fasern des Hörnervs hingegen codiert die Amplituden der Schallreize und ermöglicht es dem Gehirn, den Tönen Lautheit zuzuordnen. Nur bei niederen Schallfrequenzen können auch rhythmisch strukturierte Impulssalven der Nervenfasern zur Codierung der Schallfrequenz beitragen (Zeit- oder Periodizitätsprinzip). Die Auswertstationen im Gehirn sind tonotopisch gegliedert, das heißt, unterschiedliche Schallfrequenzen werden von unterschiedlichen Neuronenschichten des paarigen Colliculus inferior in der Vierhügelplatte des Mesencephalon ausgewertet. Für die Lokalisation einer Schallquelle sind die medialen Olivenkerne im Stammhirn zuständig. Nach der gegenwärtigen Modellvorstellung ortet eine Kette von Koinzidenzneuronen die Schallquelle. Diese Neurone feuern nur, wenn Meldungen von beiden Ohren gleichzeitig einlaufen, was bei seitlich einfallendem Schall nur mög-
lich ist, wenn die Meldungen des schallnahen Ohrs durch längere Zuleitungswege zeitlich verzögert werden. Der Bedarf an Verzögerung entspreche der Zeitdifferenz, in welcher Schallereignisse an beiden Ohren einfallen. Untersucht man das Hörvermögen anderer Tiere, etwa von Insekten, hat man zu unterscheiden zwischen Schallschnelle, den Hin- und HerPendelbewegungen der Luftmoleküle, und Schallwechseldruck, der entsteht wenn Schallwellen auf eine Fläche prallen. Insekten haben sehr verschiedene Hörorgane an sehr verschiedenen Körperstellen: sehr bewegliche Hörhaare als SchallschnelleEmpfänger oder mit einem Tympanum-versehene Schallwechseldruck-Empfänger. Letztere beispielsweise in den Vorderbeinen von Grillen und Laubheuschrecken. Zu den vielfältigen Hörorganen der Fische zählen solche mit schweren Otolithen auf Haarsinneszellen der Maculaorgane, die wie Geräte zur Registrierung seismischer Beben funktionieren. Hörorgane sind in der Evolution mehrfach erfunden worden. Sonar-Ortungsysteme setzen Fledermäuse, Delphine und andere Zahnwale ein. Sie erzeugen Serien kurzer Ultraschalllaute, die sich weitgehend geradlinig fortpflanzen, und werten das Echo aus. Das Ortungssystem der Fledermäuse ist unerhört präzise; denn es gelingt ihnen, im Flug mittels ihres blinkenden Ultraschall-Scheinwerfers fliegende Nachtschmetterlinge zu orten und ihr Flattern von Blattbewegungen zu unterscheiden. Weitreichenden Infraschall nutzen Wale und Elefanten zur Fernkommunikation.
20 Chemische Sinne
20.1 Bedeutung und erste Übersicht 20.1.1 Chemische Sinne dienen der Orientierung, der Nahrungskontrolle und der sozialen Kommunikation Große Worte über die Bedeutung chemischer Sinne für unser Leben zu verlieren, können wir uns ersparen. Es darf aber darauf hingewiesen werden, dass für viele Tiere, insbesondere für nachtaktive Säugetiere und soziale Insekten, chemische Sinne nicht nur zum Suchen und zur Prüfung der Nahrung und nicht nur zur Orientierung in einer duftenden Umwelt dienen, sondern auch im Dienste eines ausgeklügelten chemischen Kommunikationssystems stehen. Auch wenn wir Menschen tausend verschiedene Düfte wahrnehmen können, in der Empfindlichkeit, Diversität und Präzision bei der Identifizierung einzelner Substanzen und der Ortung ihrer Quelle sind uns zahlreiche Tiere, viele Insekten eingeschlossen, überlegen. Trotzdem ist auch heute noch bei nicht wenigen flüchtigen Molekülen die Nase des Chemikers oder professionellen Duftprüfers das leistungsfähigste Analysengerät. Manche Duftstoffe sind in Konzentrationen von bis 10−18 mol/l Luft oder Wasser wirksam, eine unvorstellbar niedrige Konzentration.
man rascher in Konflikte als man meinen möchte. Wo ordnen wir den scharfen Senf ein, wo das Rauchgas, das uns nicht nur in der Nase sticht, sondern auch in den Augen brennt? Wir versuchen, eine Klassifizierung zu treffen: 1. Enterorezeptoren: innere, unbewusste chemsche Sinne Die Rezeptoren für den pO2, den pCO2, den pH und den Zucker-Gehalt (Glucosespiegel) des Blutes kamen in früheren Kapiteln zur Sprache. Wir wollen sie hier nicht weiter behandeln. 2. Allgemeiner chemischer Warnsinn und Trigeminussystem Bei Tieren, die im Wasser leben, vom Einzeller aufwärts bis zu Fischen und Amphibien, findet man über die Körperoberfläche verstreut ChemorezeptoTabelle 20.1. Geruchs- und Geschmacksinn des Menschen im Vergleich Riechsinn Reichweite Funktion
Reiz
Qualitäten
20.1.2 Es gibt nicht nur den Geruchs- und Geschmacksinn, sondern beispielsweise auch einen allgemeinen chemischen Warnsinn Chemische Sinne zweckmäßig einzuteilen, ist so einfach nicht. Wie es in der Physiologie Tradition ist, orientieren wir uns an unserem eigenen Sinnesapparat (Tabelle 20.1). Doch selbst da kommt
Sinneszellen
Geschätzte Zahl der Sinneszellen Lebensdauer der Sinneszellen
Schmecksinn
fern (bis einige 100 m) Orientierung Nahrungssuche Warnung flüchtige Moleküle oft lipophil
nah Mundregion Nahrungsprüfung Warnung
10–30 Tage
8–14 Tag
Elektrolytionen oder hydrophile Moleküle Unzählige in ca. 10 5 (bis ?) Klassen primäre sensor. sekundäre Neurone, DendSinneszellen riten mit Cilien, apikale Mikrovilli eigene Axone ins Information wird Riechhirn abgeholt 30 Mio. 100 000
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20 Chemische Sinne
ren, deren wichtigste Funktion es ist, vor Gefahren zu warnen. Beispielsweise vor zu hohem CO2 oder Ammoniakgehalt, vor Schwefelwasserstoff und vielen anderen Substanzen, die Gefahr bedeuten oder anzeigen. Von diesem allgemeinen Warnsinn leitet sich wohl unser Schmerzsinn ab. Es gibt indes noch andere Relikte dieses Sinnes beim Menschen: In den Schleimhäuten der Augenlider, in der Hornhaut des Auges, und in den Schleimhäuten des Nasen-, Mund- und Rachenraumes sind solche Warnrezeptoren gehäuft lokalisiert. Scharfe Zwiebeln und Senföle lassen nicht nur unsere Nase triefen, sondern auch unsere Augen brennen und tränen, auch wenn Mund und Nase verschlossen sind. Wir kommen darauf im Abschn. 20.4.7 zurück. 3. Fernsinne: Geruchssinne Der allgemeine chemische Warnsinn erlaubt es in der Regel nicht, die Quelle einer Gefahr oder eines möglichen Genusses zu orten. Hingegen erlaubt der klassische Geruchssinn eine Ortung der Reizquelle, wenn oft auch mit nur geringer Präzision. Bei vielen Tieren sind Empfänger für chemische Signale in Gruben oder Höhlungen eingelassen, zu denen das Trägermedium (Wasser oder Luft) nur von einer Seite her Eingang findet. Solche Organe erlauben eine – freilich nur grobe – Ortung der Richtung, aus der die im Wasser gelösten oder im Luftstrom herumfliegenden Moleküle herangetragen werden. Anatomisch lokalisierbare Gruppen von Chemosensoren, die eine gewisse Richtcharakteristik haben, heißen gemeinhin Geruchsorgane (Abb. 20.1 u. 20.2; s. auch Abb. 20.8 u. 20.9). ●
Das allgmeine Riechepithel der Landwirbeltiere und des Menschen ist im Nasenraum untergebracht. Das Riechepithel ist beim Menschen eine gelbe Fläche, nur wenige cm2 groß. Beim Hund ist sie ca. 100-mal größer.
●
Das Vomeronasale Organ (VNO, JacobsonOrgan) ist ein kleines paariges Organ im Gaumendach beiderseits der Basis der Nasenscheidewand. Es ist bei Säugern spezialisiert auf die Wahrnehmung von Pheromonen, Duft- oder Geschmackstoffen, die im Dienst sozialer und sexueller Kommunikation stehen und eine eigene Sprache sprechen. Bei der Vielzahl solcher Substanzen gibt es allerdings keine strikte funktionel-
Riechepithel Bulbus olfact.
Vomeronasales Organ (Jacobson-Organ)
Nasenhöhle
Zunge
Bereiche mit Geschmacksknospen
Abb. 20.1. Riech- und Geschmacksorgane. Lokalisation
le Trennung zwischen dem Riechepithel und dem VNO (Stowers u. Marton 2005; Baxi 2006). Beim Menschen ist das Vomeronasale Organ gering entwickelt, aber es mehren sich die Indizien, dass das Jacobson-Organ auch beim Menschen nicht als gänzlich rudimentär und funktionslos abgetan werden sollte. Nach seiner Funktion nimmt das Vomeronasale Organ eine Mittelstellung zwischen Geruchs- und Geschmacksorganen ein (s. unten Abschn. 20.3.1); doch wird es in der Regel dem Geruchsinn zugeordnet, weil seine Sinneszellen ähnliche molekulare Rezeptoren wie die des Riechepithels hat und seine Meldungen ins Riechhirn (Bulbus olfactorius) gelangen, allerdings in eine andere Subregion. Auf das Thema Pheromone gehen wir im Kap. 25, das sich (auch) mit Kommunikation zwischen Individuen befasst, näher ein. 4. Nahsinn: der Geschmackssinn Der Geschmackssinn ist ein Sinn zur Prüfung der Nahrung. Die zuständigen Rezeptoren sind beim Menschen auf der Zunge und im hinteren Rachenraum lokalisiert.
20.2 Der Geruchsinn des Riechepithels Riechepithel Atemluft Bulbus olfactorius des Vorderhirns
Atemluft
Akzessorischer Bulbus
Hauptriechepithel
Aerosole mit Urin
JacobsonOrgan
Septalorgan Vomero(Masra-Organ) Gaumen nasales Organ
a
Antilope, flehmend
Abb. 20.2a, b. Flehmen: Exposition des Jacobson-Riechorgans (Vomeronasales Organ) (a). Riechorgane der Nager (b). Außer dem Riechepithel und dem vomeronasalen Organ, das offenen Zugang zum Nasenraum hat, gibt es noch ein Masra-Organ, das
20.2 Der Geruchsinn des Riechepithels 20.2.1 Das Sekret der Riechschleimhaut fängt mittels Bindeprotein Duftmoleküle ein und lässt sie über die Cilien von Sinneszellen strömen Duftmoleküle der Atemluft werden zunächst mit einem Schleimstrom eingefangen; dieser fließt über die Cilien hinweg, führt Duftmoleküle heran und spült sie wieder fort (Abb. 20.4). In diesem Schleimstrom sind besondere Proteine enthalten, welche mögliche Duftmoleküle binden. Man nennt sie Duftstoffbindeproteine oder odorant-binding proteins OBP. Unklar ist noch, wie es um die Spezifität dieser OBPs bestellt ist, wie viele verschiedene solcher OBPs die Drüsen des Riechepithels erzeugen müssen, um Tausende verschiedener möglicher Duftstoffe zu binden. Vermutlich binden OBPs nicht nur eine bestimmte Substanz, sondern eher Substanzen einer Klasse. Jedenfalls lagern sich je zwei OBP zum Dimer und bilden eine zentrale Tasche, in die nicht nur ein bestimmtes Duftmolekül eingeschlossen werden kann. Unklar und kontrovers diskutiert ist auch die Funktion der OBP. Führen die OBP Duftmoleküle an die Cilien der Chemosensoren heran? Oder dienen sie der Reinigung der Schleimhaut von ‚alten‘ Duftstoffen, um es den Chemosensoren zu ermöglichen, einen erneut in die Nase steigenden
b
Riechsystem der Maus und anderer Nager
am Septum befestigt ist. Die Axone der Riechzellen des Riechepithels und des Masra-Organs projizieren zum Bulbus olfactorius, die Axone aus dem vomeronasalen Organ münden in einem akzessorischen Bulbus olfactorius
Duft gleicher Art als neues Ereignis registrieren zu können? Oder haben die OBP beide Funktionen: Heranführen eines Duftstoffes an die molekularen Rezeptoren und dann Beseitigung zur Begrenzung der Reizzeit? Darüber hinaus enthält der Schleimstrom viel Cytochrom P450. In der Leber dient das Enzym dazu, lipophile Substanzen wasserlöslich zu machen. Hier wohl auch, doch wozu? Damit sie besser an die molekularen Rezeptoren diffundieren können, oder zur Begrenzung der Reizzeit? Gewiss ist, dass alle Stoffe, die mit der Atemluft in die Nase gelangen, nicht nur wahrgenommen, sondern auch wieder entsorgt werden müssen. Dazu verfügt das Riechepithel über ein ähnliches Arsenal giftbeseitigender Enzyme wie die Leber. 20.2.2 Riechsensoren sind spezialisierte Neurone und gehören zu den wenigen, die zeitlebens durch neu geborene ersetzt werden Die vielen Millionen Chemosensoren der Riechschleimhaut besitzen eigene axonale Outputfasern, um ihre Meldungen durch die Löcher des Siebbeins hindurch in das Gehirn einzuspeisen. Sie werden der Kategorie primärer sensorischer Neurone zugeordnet. Als reizaufnehmende Strukturen dienen Cilien, die dem Dendriten entspringen. In der Cilienmembran sind mit der Patch-clamp Technik (s. Kap. 14) die für die Erregungsbildung wichtigen
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20 Chemische Sinne
Duftstoff
cAMP-gesteuerter Calcium-gesteuerter Kationenkanal Chloridkanal
Ca2+
G ATP
AC 1
cAMP
-3
2
2
3
Cl
-
4 PDE AMP
Sensorische Cilien Rezeptorpotential
Cl -Strom
Aktionspotentiale
Abb. 20.3. Riechzelle und die registrierbaren elektrischen Signale. Oben: Signaltransduktion in einer Cilie
Ionenkanäle entdeckt worden. In ihrer Nachbarschaft dürften auch die molekularen Rezeptoren lokalisiert sein, welche die Duftmoleküle auffangen (Abb. 20.3). Merkwürdig ist die kurze Lebensdauer der Sensorzellen. Vermutlich ist der Grund dafür, dass Riechzellen die einzigen Neurone sind,
die Kontakt zur Außenwelt haben. Nach ein paar Wochen sind sie schlicht vergiftet und sterben ab, wobei sie sich dem programmierten Zelltod (Apoptose) unterwerfen. Das Riechepithel gehört zu den wenigen neuronalen Geweben im erwachsenen Organismus, in denen laufend in großer Zahl aus Stammzellen Neurone nachgebildet werden. Adulte Neurogenese wird ansonsten noch im Bulbus olfactorius (Abb. 20.1) und im Hippocampus (Abb. 23.10) beobachtet. Wie wissen die Nachfolger der verloren gegangenen Neurone, welche Rezeptoren gefragt sind und welchen Glomerulus ihre Axone anzusteuern haben? Spannende Fragen, zu denen die Entwicklungsbiologie eine verblüffende Entdeckung beigetragen hat: Die molekularen Rezeptoren, die im Cilium ein Duftstoff einfangen, werden auch in der Membran des Axons exponiert. Nach der Hypothese der Entdecker helfen diese Rezeptoren, dass sich die Axone gleicher Duftstoffklasse finden und gemeinsam „ihren“ Glomerulus finden können (Feinstein et al. 2004). 20.2.3 1000 Gene codieren für 1000 molekulare Rezeptoren die schier unendlich viele verschiedene Gerüche vermitteln – dabei gibt es manche Überraschung Vielfalt der Reize. Der Geruchssinn soll nach Meinung mancher Autoren der differenzierteste aller Sinne sein. Ein Artikel (Axel 1995) schätzt, der Mensch könne 10 000 verschiedene Düfte wahrnehmen und verweist auf die Meinung anderer, es könnte auch ein Vielfaches davon sein. Gibt es entsprechend viele verschiedene sensorische Riechneurone, die mit unterschiedlichen molekularen Rezeptoren (molekularen Antennen) ausgestattet sind? Gene für die molekularen Rezeptoren. Bei der Suche nach den molekularen Rezeptoren hat man sich von der Vorstellung leiten lassen, das Einfangen von Duftmolekülen sei gleichzusetzen mit dem Einfangen eines Hormons oder Neurotransmitters durch seinen Rezeptor. Und man suchte nach Proteinen, die ähnliche Strukturen haben, z. B. mehrere Transmembrandomänen aufweisen. Besonders häufig sind Rezeptoren des Serpentintyps mit 7 Transmembrandomänen. An solche sind GProteine angeschlossen (s. Kap. 12). So nahm man
20.2 Der Geruchsinn des Riechepithels
hoffnungsvoll Gensonden bekannter Rezeptoren, wie sie als Partner von G-Proteinen in der Signaltransduktion auftreten. Der Adrenalin-β-Rezeptor (s. Abb. 12.1) ist ein solcher Modellrezeptor. Man suchte mit der Technik der molekularen Hybridisierung ( polymerase chain reaction, PCR) nach Genen mit Sequenzähnlichkeiten. Die Strategie hatte Erfolg. Es gibt eine Genfamilie, die darauf spezialisiert ist, die Sequenz für Geruchsrezeptoren zu codieren und die mehr als 1000 Mitglieder hat. Eintausend von ca. 35 000 Genen, die der Mensch schätzungsweise hat, also mehr als 4%, sind für die Codierung von molekularen Geruchsrezeptoren OR ( odorant receptors) reserviert. Die Gene sind auf 21 Chromosomen verteilt. Die Zahl der Gene für Geruchsrezeptoren steht noch nicht definitiv fest. Nach jüngsten Angaben sind beim Menschen ca. 800 Gene vorhanden, das heißt aber, es stehen 800 × 2 = 1600 Allele zur Codierung von Rezeptoren zur Verfügung (Nimura u. Nei 2005). Andere Quellen (Shykind 2005) sprechen von >1000 Genen und damit von >2000 Allelen. Für die Maus werden 1200–1400 Gene mit entsprechend doppelter Zahl möglicher Allele angegeben (Godfrey et al. 2004; Nimura u. Nei 2005). (Neueste Daten sind abrufbar unter http://bioportal.weizmann.ac.il/HORDE/). Auf die genaue Zahl kommt es aber gar nicht an; denn viele dieser Gene sind taube Pseudogene (s. unten). Die Zahl der tatsächlich für die Codierung von Rezeptoren abgerufenen Gene kann nur mit aufwändigen Verfahren ermittelt werden. Für eine erste Annäherung isoliert man möglichst alle mRNAs aus dem Nasenepithel, schreibt sie in cDNA um und amplifiziert mit der polymerase chain reaction PCR diejenigen cDNAs, die nach ihrer Sequenz für Rezeptoren codieren sollten. Definitive Klarheit brächten Bindungsstudien an exprimierten cDNAs oder isolierten OR, d. h. an Rezeptorproteinen, mit Geruchsstoffen, wovon es freilich Abertausende gibt – ein Arbeitsprogramm, das niemals vollständig abgeleistet werden kann.
Bemerkenswert sind zwei weitere unerwartete Erkenntnisse: 1. Beim Menschen sind 50–60% der 800–1000 ORGene ( odorant receptor genes) zu tauben Pseudogenen degeneriert, die im Verlauf der Evolution Schäden erlitten haben und heute nutzlos sind. Bei der Maus, einem Makrosmat, wurden 1200–1400 OR-Gene identifiziert, darunter 24% Pseudogene (Glilad et al. 2003b; Godfrey et al.
2004; Nimura u. Nei 2005). Den ca. 1000 intakten OR-Genen der Maus stehen demnach nur ca. 300 intakte OR-Gene des Menschen gegenüber. Dies besagt, dass beim Menschen kein großer Selektionsdruck auf dem Erhalt funktionierender Duftstoffrezeptoren liegt, bei der Maus mit ihrem so sehr von der Nase bestimmten Lebensstil ist er deutlich größer. 2. Es gibt beträchtliche individuelle Unterschiede in der Ausstattung an OR-Genen zwischen Menschen aus verschiedenen Gegenden der Erde, ja auch innerhalb einer Population. Das Geruchsvermögen der Menschen ist folglich allein schon wegen unterschiedlicher genetischer Ausstattung individuell verschieden (Gilad et al. 2003; Menashe et al. 2003). Dazu kommen beim Menschen wechselnde Empfindungsqualitäten im Laufe des Lebens und, speziell bei der Frau, unterschiedliche olfaktorische Sensitivität im Verlauf eines Ovarialcyclus. Und es kommen hinzu unterschiedliche Prägung im frühen Leben und unterschiedliche Erfahrung: Auch Versuchstiere können lebenslange Aversion gegen Speisen entwickeln, die ihnen einstmals böses Bauchgrimmen verursacht hatten; oder die in der Jugend nachweisbare Fähigkeit, den spezifischen Duft der Mutter wahrzunehmen, geht im Laufe des Lebens verloren. Die große Zahl der augenscheinlich allein für den Geruchssinn reservierten Gene wirft weitere Fragen auf: Kann sich dies das Lebewesen überhaupt leisten? Nimmt man noch die zahlreichen Gene hinzu, die zur Codierung der Rezeptoren der Geschmackssensoren benötigt werden, so fragt man sich, was denn noch zur Codierung von Antikörpern und zur Konstruktion von Hunderten verschiedener Körperzellen übrig bleibt. Wahrscheinliche Antwort: Viele dieser Gene werden auch im Körperinneren zu anderen Zwecken gebraucht. Zwei unerwartete Erkenntnisse auch hierzu: (1) Riechsinneszellen exprimieren ihren molekularen Rezeptor nicht nur auf ihren sensorischen Cilien, sondern auch entlang ihrer Axone (Feinstein et al. 2004). (2) Geruchsrezeptoren scheinen auch bei der Chemotaxis der Spermien von Bedeutung zu sein (Vosshall 2004).
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20 Chemische Sinne
20.2.4 Bei der Aufnahme und Transduktion des Reizes kommen bekannte Signaltransduktionssysteme zum Zuge Wenn man schon erfolgreich mit der Arbeitshypothese operierte, die molekularen Rezeptoren könnten G-Protein-gekoppelte Transmembranmoleküle sein, so wird man annehmen wollen, dass entsprechende Signaltransduktionssysteme auch zwischen Signalempfang und dem Auftreten der amplitudenmodulierten Rezeptorpotentiale zwischengeschaltet sind. Entsprechende Hinweise pharmakologischer Art gab es in der Tat schon zuvor und sie waren Anlass, nach solchen Transmembranmolekülen zu suchen. Das Ergebnis der Suche: Die Duftstoffrezeptoren geben, wie erwartet, ihr Signal über ein stimulatorisches G-Protein an eine Adenylatcyclase weiter, und diese besorgt die Synthese von cAMP (Abb. 20.3). Anders als bei den Hormonrezeptoren (Abb. 12.3) wird das Signal aber nicht über die Proteinkinase A vervielfältigt. Das cAMP öffnet direkt Ionenkanäle in der Cilienmembran und lässt Kationen, insbesondere Ca2+ in die Cilien einströmen. In den Cilien öffnet Ca2+ dann Chlorid-Kanäle, die Chlorid-Ionen aus den Cilien heraus strömen lassen, und dieser Ausstrom negativer Ladung verstärkt die Depolarisation der Riechzelle bis zur Auslöseschwelle für Aktionspotentiale. Es liegt hier ein zusätzlicher Verstärkungsmechanismus vor: Der vom Duftstoff induzierte Kationeneinstrom verursacht nur ein geringes Rezeptorpotential (= Minderung des Membranpotentials, Kap. 14), das durch Chlorid-Kanäle verstärkt werden muss, um die Riechzelle zum Feuern zu bringen (Abb. 12.3). 20.2.5 Ein sensorisches Neuron hat wahrscheinlich nur einen molekularen Rezeptortyp; Geruchsinformation wird aber im Aktivitätsmuster vieler Riechzellen codiert Wie kommt die Vielfalt der Geruchsempfindungen zustande? Die Zahl wahrnehmbarer Geruchsnoten ist weit größer als die Zahl molekularer Rezeptoren OR. Deshalb ist von vornherein ein kombinatorisches
Prinzip der Codierung zu vermuten. Kombinatorik ist gewiss im Spiel, wenn das Bukett eines Cocktails und der Duft einer köstlichen Mahlzeit uns zum Zulangen auffordern. Nach momentan vorliegenden Indizien exprimiert jede Riechzelle nur eines der vielen hundert Allele, die für die Codierung von Duftstoffrezeptoren im Genom vorrätig sind (Shykind 2005). Dadurch gewinnt die Riechzelle eine gewisse Duftstoffselektivität, und es scheint, dass der molekulare Dufstoffrezeptor OR der Riechzelle auch dabei hilft, den richtigen Anschluss für ihr Axon im Bulbus olfactorius des Gehirns zu finden; denn die Riechzelle baut (wie oben schon gesagt) ihren spezifischen OR als ihr individuelles Kennzeichen auch in die Membran ihres Axons ein. Alle Riechzellen mit dem gleichen OR-Kennzeichen schicken ihre Axone zur gleichen Verrechnungsstelle im Bulbus olfactorius. Die Zellkörper der Riechzellen gleicher Selektivität sind zwar über das gesamte Riechepithel verteilt – womit die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass ein Duftmolekül auch eingefangen wird; die Axone der Riechzellen werden aber im Bulbus olfactorius sortiert und konvergieren auf wenige nachgeschaltete Neurone, die Mitralzellen (Abb. 20.4). Es kommt also zu einer räumlichen Abbildung der Duftinformation im Gehirn. In Analogie zur Somatotopie der Hautsinne und zur Tonotopie des Gehörs bezeichnen manche Autoren diese räumliche Sortierung nach Duftstoffrezeptor „Odotopie“. Kann ein Tier so viele Duftstoffe auseinander halten wie es OR-Gene besitzt? Also ein Mensch etwa 300–500, eine Maus etwa 1000? So wäre es, wenn es für jedes einzelne Rezeptorprotein OR genau eine chemische Verbindung gäbe, die an diesen OR binden und ihn damit aktivieren kann. Aber so ist es nicht. Elektrophysiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass jede Riechzelle von mehreren unterschiedlichen Duftstoffen stimuliert werden kann: Duftstoffen, die sich in der Regel zwar strukturell ähnlich, aber doch nicht identisch sind. Freilich haben diese verschiedenen Duftstoffe unterschiedliche Affinitäten zum selben OR. Umgekehrt kann auch ein bestimmter Duftstoff mehrere, mit unterschiedlichen ORs ausgestatte Riechzelltypen stimulieren, wenn auch nicht alle mit gleicher Effizienz. Wie kommt es dennoch zur höchst präzisen Unterscheidung chemisch eng verwandter Duftstoffe? Wie kann es sein, dass unser
20.2 Der Geruchsinn des Riechepithels Abb. 20.4. Riechepithel des Nasenraums und erste neuronale Auswertstationen. Die Farbe symbolisiert die Duftstoffselektivität. Beachte: die Meldungen der Sinneszellen gleicher Spezifität werden gebündelt und auf ein und dieselbe Mitralzelle geleitet
Siebbein Schleimdrüse "Glomerulus" 1. Verrechnungsstation im Bulbus olfactorius
Zu höheren Zentren im Gehirn
Mitralzelle
Rachenraum
Gehirn mit den relativ unspezifischen Riechzellen sogar isomere Verbindungen am Geruch unterscheiden kann? Die Antwort liegt in der Art der Informationsverarbeitung, die das Riechsystem einsetzt, um Gerüche zu analysieren. Das Gehirn interessiert sich nicht sosehr für das Signal, das eine einzelne Riechzelle zum Gehirn sendet, sondern es analysiert das Aktivitätsmuster, das durch das stärkere oder schwächere Feuern tausender Riechzellen im Bulbus olfactorius entsteht.
Jede Spezifität hat in der Natur ihre Grenzen. Wie auch das Beispiel der Antikörper zeigt, gelingt es der Natur kaum, Tausende verschiedene Rezeptoren mit so hochgradiger Spezifität auszustatten, dass sie jeweils nur einen einzigen Liganden binden können. Immer findet sich irgendwo in der Natur oder der Retorte des Chemikers ein anderes Molekül, das auch binden kann, wenn vielleicht auch schlechter. Daher gibt es Klassen von Duftstoffen, die jeweils an den gleichen molekularen Rezeptoren hängen bleiben und folglich gleiche Empfindungen auslösen. Eine solche Gruppierung der Duftstoffe in Klassen kann sogar biologisch sinnvoll sein. Beispielsweise könnten chemisch ähnliche Liganden auch ähnliche toxische Eigenschaften haben. Wenn sie dann gleichartig widerlich riechen, kann dies biologisch durchaus zweckmäßig sein.
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20.3 Das Vomeronasale Organ VNO (Jacobson-Organ) 20.3.1 Das Jacobson-Organ ist ein zweites, evolutionsgeschichtlich altes Riech-Schmeck-Organ Wenn eine Schlange züngelt, fängt sie Duftmoleküle auf. Anschließend führt sie ihre gespaltene Zunge in eine Doppelgrube im Dach des Gaumens, um ihre Zunge abzuriechen oder zu schmecken. Das Jacobson-Organ wird bei Amphibien und Reptilien gefunden, nicht bei Vögeln, aber bei Säugern. Bei Säugern wird es Vomeronasales Organ VNO genannt. Das paarige, schlauchförmige Organ hat meistens über eine Öffnung im Gaumen nahe den Schneidezähnen Zugang zur Außenwelt, seltener über die Nasenhöhle (Nagetiere). Das flüssigkeitsgefüllte Hohlorgan ist mit Sinneszellen ausgekleidet. Mit Geruchs-/Geschmacksstoffen beladener Speichel (oder Urin) wird in den Schlauch eingesogen, überprüft und wieder herausgedrückt. Damit ist es möglich, nicht nur flüchtige, sondern auch wasserlösliche Moleküle zu übertragen. Bei männlichen Mäusen enthält der Urin auch Spuren von Peptiden, welche bei weiblichen Mäusen Ovulation stimulieren, also die Funktion von Pheromonen erfüllen. Insoweit als das VNO wasserlösliche Substanzen als Informationsquelle nutzen kann, nimmt es eine Mittelstellung zwischen Geruchsinn und Geschmacksinn ein. Weitere Argumente hierfür liefert der folgende Abschnitt. 20.3.2 Das Vomeronasale Organ der Säuger gilt als ein separates Riechorgan für soziale und sexuelle Signale; die chemosensorischen Sinnes-Nervenzellen exprimieren ähnliche Rezeptoren wie die Chemosensoren des Riechepithels Wenn ein Antilopenhengst flehmt, das heißt seine Lippen schürzt und den Kopf hebt, um den Eingang zum Vomeronasalen Organ freizulegen (s. Abb. 20.2), prüft er, ob die Stute paarungsbereit ist. Zuvor bringt der Hengst gerne seine Schnauzenspitze in Kontakt mit dem Urin der Stute. Diese signalisiert dem Hengst ihre Willigkeit über besondere Duft-/ Geschmacksmoleküle, die sie selbst aus Sexualhor-
monen herstellt und mit dem Urin aussendet. Umgekehrt können von den männlichen Mitgliedern einer sozialen Gruppe Signalstoffe ausdünsten, die bei den Weibchen den Östrus (Hitze, Läufigkeit) induzieren und synchronisieren. Beim domestizierten Pferd ist das Organ nur gering entwickelt. Auch beim Menschen ist es rudimentär. Andererseits sollen Androsteroide im Schweiß der männlichen Achselhöhle zu gewissen Zeiten auf Frauen stimulierend wirken. Die Parfumindustrie wird diese Meinung zu nutzen wissen, für den Physiologen ist eine Beteiligung des vomeronasalen Organs jedoch unbewiesen. Solche im Dienste der Kommunikation stehenden Signalmoleküle heißen allgemein Pheromone (s. Kap. 24). Morphologisch und funktionell nimmt das Vomeronasale Organ eine Mittelstellung zwischen Geruchs- und Geschmacksorganen ein. Die Sinneszellen sind wie im Riechepithel chemosensorische Nervenzellen mit einem eigenen ableitenden Axon; es sind also primäre Sinneszellen. Ihr Dendrit ist jedoch nicht mit einem Cilium, sondern mit Micovilli ausgestattet (Hofer et al. 2000); insofern ähneln sie auch den Geschmackssinneszellen. Auf molekularer Ebene sind die Chemosensoren des VNO mit GProtein gekoppelten Siebentransmembran-Rezeptoren ausgestattet, die denen des Riechepithels ähnlich sind (Levai et al. 2006; Muramoto et al. 2007). Die funktionelle Trennung der beiden Geruchssinne, dem Riechepithel und dem VNO, ist nach neueren Befunden denn auch nicht so scharf, wie zeitweise angenommen. Vielmehr überschneiden sich die Funktionsbereiche. Manche Pheromone werden auch über das Riechepithel perzipiert, manche nicht von Artgenossen ausgehende Düfte auch vom VNO (Stowers u. Marton 2005). Die Axone der Chemosensoren des VNO führen in einen gesonderten Bereich des Bulbus olfactorius. Von dort führen Nervenbahnen in jene Bereiche des Hypothalamus, die mit Sexualverhalten zu tun haben, und in jene Gebiete, die Ekel oder Wohlwollen als Empfindungen generieren (limbisches System). Beim Menschen ist das VNO ein bis zu 1 cm langer Schlauch. Bei vielen Menschen scheint das VNO verkümmert zu sein und keinen Zugang zur Außenwelt zu haben. So denn der Mensch auch Pheromone (unbewusst) wahrnehmen sollte, dann wohl mit der Nase. Der Fetus allerdings hat noch ein VNO, dem man Funktionsfähigkeit zutraut (Takani 2002). Das nährt Spekulationen, dass das Kind schon im Mutterleib von Pheromonen der Mutter geprägt werde.
20.3 Das Vomeronasale Organ VNO (Jacobson-Organ)
20.3.3 Der Individualgeruch der Säuger kann für die Partnerwahl von Bedeutung sein Schon vor über 30 Jahren berichteten japanische Forscher (Yamazaki et al. 1976), dass bei Mäusen der immunologische Personalausweis mitbestimmend für die Partnerwahl sei. Dieser immunologische Ausweis besteht in Proteinmolekülen, die auf der Oberfläche der Körperzellen exponiert werden. Sie heißen Major Histocompatibility Complex MHC, beim Menschen auch HLA (s. Kap. 7). Was hat dies mit Riechen zu tun? Im Urin männlicher Mäuse sind mancherlei niedermolekulare Substanzen enthalten, die bei Weibchen Ovulation, bei anderen Männchen Aggression auslösen (Tabelle in Stowers u. Marton 2005). Neben diesen niedermolekularen Duftstoffen enthält der Urin auch Peptide, die sich vom MHC Klasse I ableiten. Über die Funktion dieser Peptide sind allerlei Hypothesen vorgetragen worden. Beispielsweise nimmt eine Hypothese an, dass weibliche Mäuse jenen Männchen, die keine Nachkommen zeugen konnten, am MHC-Geruch ihres Urins erkennen („olfactory memory“) und sich ihnen künftig verweigern (Thompson et al. 2007). Diese Hypothese ist jedoch, wie andere auch, nicht zwingend begründet. Mäuse lassen sich auf eine persönliche Duftnote dressieren und sie zeigen spontane Präferenzen für bestimmte Dufttypen bei der Partnerwahl. Worin die persönliche Duftnote oder der familientypische Nestgeruch begründet ist, ist nicht bekannt. Mutmaßlich gibt es nicht Abertausende von verschiedenen individualspezifischen Duftmolekülen, sondern individualspezifische Buketts: Diverse Duftstoffe sind in wechselnden qualitativen und quantitativen Kompositionen zu einem einmaligen Duftstrauß gebündelt. Gilt das auch für den Menschen? Der Mensch ist Quelle individualspezifischer Gerüche. Eineiige Zwillinge können auch von trainierten Hunden nicht voneinander unterschieden werden. Selbstredend unterscheidet der brave Hund hingegen unschwer Herrchen von Frauchen und die geschwisterlichen Kinder, die nicht eineiige Zwillinge sind. Wir wissen heute auch noch nicht, welches Geruchsorgan bei den verschiedenen Säugern für die Wahrnehmung des Familien- und Individualgeruchs zuständig ist, das Riechepithel, das vomerona-
sale Organ. Wahrscheinlich sind es beide zusammen (Stowers u. Marton 2005).
20.3.4 Auch der Mensch soll mittels Pheromonen heimliche Botschaften aussenden MHC-korrelierte Gerüche sollen auch beim Menschen die Mutter-Kind-Beziehung, Partnerwahl, Inzestschranke und Fehlgeburtenrate beeinflussen (Hatt 1991). Warten wir ab, was sich als Aberglaube erweist und was als erstaunlicher wissenschaftlicher Befund bestehen bleibt. Vorsicht! Versuche zu diesem Thema sind Mode. Aussagen vereinzelter Forscher finden leicht ein großes Echo in den Medien; doch sind die angeblichen Befunde widersprüchlich. Der MHC-Kopmplex besteht aus sechs tetrameren Proteinkomplexen, die in der Zellmembran verankert sind (s. Abb. 7.14), und kann nicht als Duftmolekül durch die Luft fliegen. Sollten auch beim Menschen wie bei Mäusen MHC-Peptide im Urin auftauchen, so fehlt uns ein Vomeronasales Organ, mit dem wir Urin einsaugen und sensorisch prüfen könnten. Unser Individualduft ist auch kaum der Duft unseres Urins, eher schon der Duft, der von den Schweißdrüsen der Haut ausgeht. Noch fehlt eine plausible Hypothese, wie denn die individuelle MHC-Ausstattung jene Drüsenzellen und ihre Enzyme beeinflussen soll, welche die Duftstoffe herstellen. Es ist jedoch sehr wohl möglich, dass eine Korrelation allgemeiner Art besteht. Beide, der MHC und der Individualgeruch, spiegeln genetische Unterschiede zwischen Individuen wieder. Darauf weist eine genetische Studie hin (Zhang u. Firestein 2007). Da es nun mal Mode geworden ist, stecken so manche Forscher und Versuchspersonen gern ihre Nase in die Achselhöhle ihrer Mitmenschen, bekanntermaßen eine Quelle streng riechenden Schweißes (an dem allerdings eher Bakterien als menschliche Nasen Wohlgefallen finden). In Analogie zu Beobachtungen, über die Tierhalter und experimentierfreudige Tierethologen zu berichten wissen, werden
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20 Chemische Sinne
den Geruchssubstanzen folgende Auswirkungen zugesprochen: ●
Primer-Effekt. Im Wild- und Schafsgehege synchronisieren die Damen in Anwesenheit eines brünstigen Mannes ihren Sexualzyklus („maleeffect“, Gelez 2004). Synchronisation des Menstruationszyklus soll es auch in Mädchenpensionaten geben („male-effect“??).
●
Signaller-Effekt: Geruch soll der Mutter helfen, ihr eigenes Neugeborenes zu erkennen.
●
Andererseits lassen sich neugeborene Säugetiere von Pheromonen der Mutter leiten. Ein konkretes Beispiel: 2-Methyl-2-enal lockt Kaninchenbabies an die Zitzen der Mutter.
●
Gerüche sollen Stimmungen signalisieren.
Auch Stimmungen erotischer Art? Selbstredend stürzt sich die Presse ganz besonders auf solche Berichte (z. B. Grammer 2005). Ob nun solche Berichte auf Gerüchen beruhen oder bloß auf Gerüchten, sie werden gern gelesen, gehört und geglaubt. Und die Parfümindustrien tut vieles, um solchen Glauben zu unterstützen. Ein interessanter Befund hierzu: Androstenon, ein Derivat des männlichen Sexualhormons Testosteron, das auch vom Eber als Pheromon erzeugt und bei Sauen Paarungsbereitschaft stimuliert (Dorries et al. 1995, 1997), erzeugt bei etwa 50% der adulten Bevölkerung einen strengen Geruch (nach Jacob et al. 2005). Ob mehr als nur Geruch, wird nicht gesagt. Weiteres zum Thema Pheromone ist im Abschn. 24.2 zu lesen.
20.4 Der Geschmackssinn 20.4.1 Die letzte Kontrolle der Nahrung wird einigen Tausend Geschmacksensoren überlassen Der Geschmacks- oder Schmecksinn ist spezialisiert auf wasserlösliche Komponenten der Nahrung, die Hinweise auf die Qualität der Nahrung vermitteln, wenn auch nur recht grobe. Der Geschmacksinn wird auch als chemischer Kontaktsinn klassifiziert. Bei Wirbeltieren wird er hauptsächlich vermittelt durch sekundäre Sinneszellen, die morphologisch den Hörzellen ähnlich sind und die gruppenwei-
se zu Geschmacksknospen zusammengefasst sind. Bei Fischen können Geschmacksknospen über die ganze Körperoberfläche verteilt sein; bei Säugern sind sie im Munde konzentriert und vor allem auf der Zunge zu finden (Abb. 20.5 u. 20.6). Beim erwachsenen Menschen sind an der letzten Kontrolle der Nahrung 5000 bis 10 000 Geschmacksknospen mit je ca. 25 Sensorzellen beteiligt. Dieser Job ist offensichtlich so aufreibend, dass die Zellen wie auch die Riechzellen schon nach zwei Wochen Dienstzeit sterben und durch neue ersetzt werden müssen (Nachschub über immortale Stammzellen).
20.4.2 Nach althergebrachter Lehrmeinung verfügt der Mensch über vier Geschmacksqualitäten; sie sagen etwas über die Qualität der Nahrung aus 1. Süß. Diese Qualität gibt Hinweise auf den Kohlenhydratgehalt der Nahrung. Neben den niedermolekularen Kohlenhydraten (Zuckern) schmecken auch einige Alkohole (Glycerin) und Aminosäuren (Glycin) süß. Eine besonders hohe Süßkraft hat ein Protein namens Thaumatin. Es übertrifft die Süßkraft von Kunstprodukten, welche die pharmazeutische Industrie dem Diabetiker anbietet, wie Cyclamat und Saccharin, um mehrere Größenordnungen. 2. Diese (unvollständige) Aufzählung macht schon ein Dilemma der Forschung und Interpretation deutlich. Eine klare Zuordnung von chemischer Struktur und der Empfindung süß ist bisher nicht gelungen. 3. Salzig. Diese Qualität hilft, die notwendigen Ionen zu besorgen, ein Übermaß jedoch zu vermeiden. Sehr geringe Dosen von NaCl und KCl schmecken leicht süß, mittlere Konzentrationen würzig, hohe Dosen von KCl bitter und abschreckend. 4. Sauer. In hoher Dosis eine Mahnung der Pflanzen, ihre noch unreifen Früchte zu schonen. 5. Auch gärende, von Hefepilzen und Bakterien befallene Früchte schmecken sauer. 6. Bitter. Eine oftmals über ihre unbekömmlichen giftigen Alkaloide ausgesprochene Warnung vieler Pflanzen, ihnen nicht zu Leibe zu rücken.
20.4 Der Geschmackssinn Abb. 20.5. Zungenkarte: Verteilung der Papillen, die die Geschmacksknospen tragen. Das traditionell gezeigte Verteilungsmuster der Geschmacksempfindungen (durchgestrichene Adjektive) ist revisionsbedürftig
Papillae circumvalatae Wallpapillen bitter sauer salzig süß umami
bitter
Papillae foliatae Blattpapillen sauer
sauer
salzig
salzig süß
Alle diese vier Qualitäten können im Einzelfall täuschen. Auch Berylliumsalze und Saccharin, das Kunstprodukt der chemischen Industrie ohne Nährwert, schmecken süß. Solchen nährwertfreien oder gar giftigen Süßwaren dürfte der Mensch im Zuge seiner Evolution allerdings nicht oft begegnet sein. Im Allgemeinen konnten sich unsere Vorfahren offensichtlich auf ihren Geschmack verlassen. Der Mensch neigt allerdings mitunter zum Masochismus: Saure, salzige und bittere Nahrungsmittel, in der Jugend noch instinktiv verschmäht, reizen den verwöhnten oder abgestumpften Geschmack des Alters. 20.4.3 Nach althergebrachter Lehrmeinung verfügt der Mensch bloß über vier Geschmacksqualitäten; der „Geschmacksverstärker“ Glutamat brachte dieses Dogma zum Einsturz Wenn alte Tradition von 4 Geschmacksqualitäten spricht, denen sie hypothetisch 4 Typen von Sinnes-
bitter sauer salzig süß umami
Papillae fungiformes Pilzpapillen bitter sauer salzig süß umami
zellen zuordnet, so hat dies einen guten Grund. Fällt beispielsweise die Empfindung „süß“ aus, sei es aufgrund eines Erbdefektes, sei es aufgrund einer pharmakologischen Behandlung, wird keine Substanz mehr als süß empfunden. Nach Darstellungen vieler Lehr- und Schulbücher sollen die 4 Grundqualitäten in verschiedenen Arealen der Zunge wahrgenommen werden, „süß“ beispielsweise an der Zungenspitze, „bitter“ im Zungengrund (Abb. 20.5). Die seit Jahrzehnten gezeigte Zungenkarte ist jedoch falsch. Zwar gibt es Bereiche maximaler Empfindlichkeit für diese oder jene Qualität, doch können mit geeigneter Dosis von Prüfstoffen die 4 Grundqualitäten überall hervorgerufen werden. Dies mahnt, Lehrbuchaussagen nicht den Stellenwert eines Dogmas einzuräumen. Japaner bekunden, das Natrium- oder Kaliumsalz der Aminosäure Glutamat habe für sie eine eigene Geschmacksqualität (umami = köstlich, nach Fleisch schmeckend). Es ist nun auch ein entsprechender molekularer Rezeptor für Glutamat entdeckt worden (s. Abschn. 20.4.4). Na+-Glutamat
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20 Chemische Sinne
Spüldrüse
Geschmacksknospe
Abb. 20.6. Geschmacksknospen in einer Wallpapille (Papilla circumvallata) im hinteren Zungenbereich
wird von der Lebensmittelindustrie ihren Fertigprodukten als Geschmacksverstärker beigegeben. „Geschmacksverstärker“ dürfte allerdings nicht nur für Japaner eine Fehlbenennung sein, die dem alten Glauben an nur 4 Geschmacksqualitäten Tribut zollt. Die Verfasser dieses Buches raten, einmal Mononatrium-Glutamat auf der Zunge zergehen zu lassen. Sie dürften nicht die einzigen Europäer sein, die „Suppen-Gewürz“ oder „Fleischbrühe“ schmecken. Verschiedene Tiere (Mäuse, Ratten) können darüber hinaus eine Reihe weiterer Aminosäuren als besondere Qualität von anderen sauren Substanzen unterscheiden. Viele Versuche belegen jedoch auch, dass die individuellen Unterschiede in der Geschmackswahrnehmung sehr groß sein können. Manche Substanzen schmecken dem einen bitter, der andere nimmt sie gar nicht wahr. Eltern sollten ihrem Kind nicht „gesundes“ Gemüse aufzwängen wollen, das dem Kind bitter aufkommt und zuwider ist, auch wenn es den Eltern selbst bekömmlich sein mag. Der Geschmack ist in der Tat Geschmacksache – und
ändert sich im Laufe des Lebens (wie dies auch für die Empfindungsqualitäten so mancher Gerüche zutrifft). Empfindungen wie scharf, metallisch, laugig, fettig, wässrig sprach man den Charakter einer eigenen physiologischen Geschmacksqualität ab. Sie wurden interpretiert als Mischempfindungen, bei denen Tast-, Schmerz- oder Temperatursinn mit im Spiele sind. Das mag durchaus so sein, doch sind den Verfassern dieses Buches physiologische Belege für diese Auffassung nicht bekannt. Jüngst sind wieder eigene Geschmacksqualitäten für Fettsäuren (Chale-Rush et al. 2007) und eine Qualität metallisch (Stevens et al. 2008) gefordert worden, und es sollte nicht wundern, wenn künftig weitere Geschmacksqualitäten auch in Lehrbüchern Anerkennung finden. Bei gut oder schlecht „schmeckenden“ Gerichten allerdings ist evident, dass der Geruchssinn oft einen größeren Beitrag zum Wohlbehagen oder Widerwillen beiträgt als der Geschmacksinn. Bei total verschnupfter Nase „schmecken“ viele Speisen nicht (Box 20.1).
20.4.4 Beim Geschmackssinn sind, anders als in den Riechzellen, verschiedene Transduktionsmechanismen im Spiel Salzig. Der Geschmack von Kochsalz wird hauptsächlich durch die Na+-Ionen vermittelt. Salz-empfindliche Geschmackszellen haben Na+-Kanäle in ihrer apikalen Membran, die an der Zungenoberfläche liegt. Sind Na+-Ionen in der Nahrung in überschwelliger Dosis vorhanden, dringen sie durch diese Kanäle in die Geschmackzellen und depolarisieren deren Membran (Abb. 20.7). Speichel hat eine sehr niedrige Na+-Konzentration. In Abwesenheit gesalzener Speisen fließt daher kein Na+-Strom, und die Zelle kann ihr Ruhepotential halten. Sauer. Protonen (H+) bzw. Hydronium-Ionen (H3O+) sollen die Kaliumkanäle verschließen und so eine Depolarisation bewirken. Erst vor Kurzem (2008) sind bei der Maus H+-sensitive Ionenkanäle entdeckt worden, ohne die sie nicht auf saure Stimuli dressierbar ist. Da Protonen praktisch alle Ionenkanäle modulieren, kommen auch noch andere
20.4 Der Geschmackssinn
Na+
Na+-Einstrom
Depolarisation
Ca2+
2+
2+
2+
in den sensorischen Mikrovilli der Geschmackszellen. Dieses Rezeptorpaar (T1R2/T1R3, Taste Receptor) gibt das sensorische Signal über ein GProtein in die Zelle weiter und aktiviert das Enzym Phospholipase C. Auf noch nicht genau geklärte Weise führt dies zur Öffnung von Kationenkanälen (TRPM5-Kanälen) und damit zur Depolarisation (Abb. 20.8). Bitter. Bitterrezeptoren reagieren auf sehr geringe Konzentrationen von Bitterstoffen. Solche Stoffe (z. B. Nicotin, Strychnin oder Denatonium) binden an monomere T2RX-Rezeptoren, von denen mehrere Isoformen in einer Zelle vorliegen. Es gibt beim Menschen 25 verschiedene T2RX-Isoformen, wohl um eine Vielfalt bitterer, das heißt oft giftiger, Substanzen rechtzeitig schmecken zu können, bevor man sie mit unangenehmen Folgen herunterschluckt (s. Abschn. 20.4.6). Umami. Auch für den Geschmack von Natriumglutamat hat man ein spezifisches Rezeptorpaar entdeckt (T1R1/T1R3). Geschmackszellen mit dieser Rezeptorkombination reagieren nicht auf Zucker, sondern nur auf Natriumglutamat. Mit dieser Entdeckung ist der Umami-Geschmack eindeutig als eigenständige Geschmacksqualität definiert.
2+ 2+
20.4.5 Die Arbeitsbereiche einzelner Geschmacksinneszellen sind möglicherweise überlappend; erst das Aktivitätsmuster vieler Sinneszellen vermittelt reich differenzierte Empfindungen Abb. 20.7. Antwort einer Geschmackszelle auf Stimulation mit Kochsalz. Die dissoziierten Na+-Ionen strömen durch Na+-Kanäle in die Zelle ein und verursachen so eine Depolarisation. Dadurch öffnen sich spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle in der Nähe der afferenten Synapse und Ca2+-Ionen fließen von außen ins Cytoplasma ein. Diese Ca2+-Ionen werden benötigt, damit an der Synapse per Exocytose Transmitter in den synaptischen Spalt entlassen werden können
Mechanismen in Betracht. Ein akzeptiertes Modell für die Transduktion von Sauergeschmack beim Menschen gibt es noch nicht. Süß. Der Süßgeschmack wird über einen metabotropen Signalweg vermittelt. Sowohl Zucker als auch andere Süßstoffe aktivieren einen dimeren Rezeptor
Wenn KCl im Gegensatz zu NaCl nicht nur salzig, sondern auch bitter schmeckt (und mehr noch das „Bittersalz“ Magnesiumsulfat), so dürfte das daran liegen, dass KCl eben nicht nur die Salzspezialisten stimuliert, sondern auch die Bitterspezialisten. Umgekehrt darf hypothetisch angenommen werden, dass ein und dieselbe Sinneszelle sowohl die Empfangssysteme für Bitterstoffe wie für monovalente Kationen haben kann (und vielleicht noch mehr). Wie aber könnte dann das Gehirn zu einer Unterscheidung von Qualitäten kommen und gar noch von Intensitäten? Das wäre möglich, wenn viele Sensoren mit überlappenden Arbeitsbereichen vorlägen. Die Sin-
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20 Chemische Sinne
Abb. 20.8. Organische Geschmackssubstanzen lösen eine metabotrope Signalkaskade aus (metabotrop = Stoffwechselereignisse steuernd). Die Substanzen werden von 7-Transmembranrezeptoren aufgefangen, die derselben Proteinfamilie angehören, aber in Teilen, besonders den Bindungsstellen für die jeweiligen Geschmacksubstanzen, unterschiedliche Domänen besitzen. Ihnen ist über G-Proteine eine Signaltransduktionssystem des
PI-Typs angeschlossen (s. Kap. 12). Über IP3, das von PIP2 abgespalten wird, werden Calcium-Ionen aus dem ER freigesetzt; diese aktivieren Kationenkanäle vom Typ TRPM5 (transient receptor potential channel M5). Durch diese Kanäle strömen monovalente Kationen (Na+, K+) ein und bewirken eine Depolarisation des Membranpotentials. Nach diversen Autoren (s. Literaturzusammenstellung)
20.4 Der Geschmackssinn
neszellen an dem einen Ende der Skala wären nur mit molekularen Rezeptoren für Bitterstoffe, die am anderen Ende nur mit den Sensoren für Kationen ausgestattet. Zwischen diesen Extremen lägen Mischtypen mit beiderlei Sensoren in steigenden oder fallenden Verhältnissen. Die Auswertstationen im ZNS müssten dann Vergleiche ziehen. Ein Auswertsystem, in dem die Meldungen vieler verschieden spezialisierter Sinneszellen miteinander verglichen und verrechnet werden, hatten wir auch beim Geruchssinn kennen gelernt, und werden wir beim Sehsinn ebenfalls kennen lernen. 20.4.6 Die Evolution hat eine Vielfalt an Bitterrezeptoren auch beim Menschen hervorgebracht Seit langem ist bekannt, dass manche Menschen die Testsubstanz Phenylthiocarbamid als bitter empfinden, andere nicht. Die Identifikation von Genen für Bitterrezeptoren im menschlichen Genom ermöglicht neuerdings umfangreiche populationsgenetische Studien. Bislang sind 25 Gene identifiziert worden. Mit ihren allelen Varianten können sie potentiell 151 verschiedene Bitterrezeptoren erzeugen (Takani 2002). Es zeigt sich, dass in verschiedenen Regionen der Erde Menschen verschiedene Pflanzen als bitter empfinden. Der Genpool einheimischer Populationen enthält ein für diese Region charakteristisches Spektrum an Rezeptorgenen. Erklärungen hierfür liegen auf der Hand. Bitter warnt vor giftigen Pflanzen. In Südafrika, Südostasien und Europa ist die Pflanzenwelt sehr unterschiedlich. Hier ist dieses Spektrum von Rezeptoren, dort jenes von Vorteil. Hier kann auf diesen Typ verzichtet werden, dort auf jenen. Es darf daher erwartet werden, dass auch die Geschmäcker verschieden sind. Die große Zahl von Bitterrezeptoren beginnt allmählich, neue Vorstellungen und eine Änderung der Terminologie anzuregen. Manche Autoren sprechen nun von Bittermodalität, unter der verschiedene Bitterqualitäten zusammengefasst sind (z. B. Zhang 2003; Green 2004; Ozek 2004; Scott 2004). Mit anderen Worten: Man erwägt, ob es nicht verschiedene Bitterempfindungen geben könnte.
20.4.7 Ein weiteres chemosensitives System, das Trigeminussystem, erweitert und ergänzt Geruchs- und Geschmacksinn Warum tut sich die physiologische Wissenschaft so schwer, Empfindungen unserer Alltagserfahrung aufzugliedern und einzelnen Sinnesorganen und ihren Sensoren zuzuordnen? Wie man es drehen und wenden will, so manche Empfindungen waren und sind schwer dem klassischen Geruchs- und Geschmackssinn zuzuordnen. Im Riechversuch beispielsweise lösten diverse Testsubstanzen wie Eukalyptus noch Empfindungen aus, auch wenn der Riechnerv durch lokale Narkose stillgelegt war. Andere Testsubstanzen schienen zu riechen und zu schmecken. Allmählich lösen sich Widersprüche auf. Die Schleimhäute des Nasen- und Mundraumes sind mit dendritischen Fasern des Nervus trigeminus innerviert. (In dieser Aussage steht „Trigeminus“ stellvertretend für weitere Hirnnerven mit sensorischen Komponenten: N. facialis, N. glossopharyngeus und N. vagus). Diese dendritischen Fasern sprechen ohne Vermittlung der traditionellen Geruchs- und Geschmacksensoren auf Substanzen an, die uns vor Gefahrenquellen warnen oder uns abhalten sollen, die Produzenten solcher Substanzen zu verzehren. ●
Stechend-beißend „riechen“ Salzsäure, Chlorgas, Ammoniak.
●
Brennend scharf „schmecken“ Piperidin, Capsaicin und andere Komponenten des Peperoni.
●
Sowohl auf Riechsinneszellen wie auf Trigeminussensoren wirken Eukalyptus, Menthol, Buttersäure.
●
Sowohl auf Geschmacks- wie Trigeminussensoren wirken Chemikalien des Labors wie Chloroform und Pyridin.
Auch die alltägliche, scheinbar jedermann vertraute Welt des Riechens und Schmeckens birgt noch viele Rätsel und hat noch viele Überraschungen bereit. s. Box 20.1
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20 Chemische Sinne
BOX 20.1
Geschmack gefunden? Es gibt noch viel zu entdecken. Nach unserer Empfindung können Speisen vielfältig aromatisch und gar „himmlisch“ schmecken, nach unseren Schulbüchern jedoch ist unser Geschmack nur kärglich ausgestattet: Lediglich süß, sauer, salzig und bitter sind anerkannte Qualitäten; gegen große Widerstände wird allmählich wenigstens den Japanern zusätzlich ein „umami“-Geschmack zugebilligt (wiewohl auch hierzulande die Lebensmittelindustrie seit langem reichlich von „Geschmacksverstärkern“ Gebrauch macht). Dem Geruch hingegen traut man schier Unendliches zu (extrem: Patrick Süskind: Das Parfüm). Findet man bei einer wissenschaftlichen Literaturrecherche unter Stichworten wie „smell, scent, fragrance, odour“ und „olfactory/olfaction“ zahllose Titel, so unter „taste“ und „gustation“ nur wenige. Wie kommt es zu dem Unterschied zwischen subjektivem Empfinden und der Lehrbuchaussage? Das wichtigste Argument ist eine negative Erfahrung: Bei völlig verstopfter Nase schmecken viele Speisen nicht mehr, und so mancher kann mit verbundenen Augen keinen (Säure- und Zucker-armen) Apfel mehr von einer rohen Kartoffel unterscheiden. Sollte sich jemand fragen, weshalb er/sie auch mit verschnupfter Nase verschiedene Fruchtsäfte, von Ananas- bis Zitronensaft, unterscheiden kann, wenn auch mit verminderter Deutlichkeit, wird auf den Nasenrachengang verwiesen. Flüchtige Substanzen könnten auch retronasal vom Mundraum aus und nicht nur „orthonasal“ über die Nasenlöcher die Riechschleimhaut erreichen, und für einige flüchtige Substanzen ist dies auch nachgewiesen (Rozin 1982; Cerf-Ducastel et al. 2001; Sun u. Halpern 2005). Solche Forschungsbefunde wie auch Erkenntnisse, die aus partieller Geschmacksblindheit und pharmakologischen Blockaden abgeleitet sind, belegen, dass der Geruchsinn in großem Umfang auch den „Geschmack“ unserer Speisen und Getränke bestimmt, aber nicht, dass es nur 4–5 Geschmacksqualitäten gibt. Gibt es positive Befunde, welche die traditionelle Lehrmeinung bestätigen, jeder Geschmack sei aus nur 4 bis 5 Qualitäten zusammengesetzt?
Es gab den Vorschlag (v. Skramlik 1937), versuchsweise alle Geschmacksempfindungen durch Mischung von vier Stoffen hervorzurufen, welche die klassischen Qualitäten süß, sauer, salzig und bitter repräsentieren, z. B. (heute oft als Standard benutzt): A = Fructose (Saccharose), B = Kaliumtartrat (Zitronensäure), C = Kochsalz, D = Chininsulfat (oder Phenylthiocarbamid PTC) Die Lösung einer zu prüfenden Substanz werde Mischlösungen nach einer im Prinzip sehr einfachen Mischungsgleichung gegenübergestellt: n (S) ≡ x (A) + y (B) + z (C) + v (D), hierbei sei S die zu testende Substanz, die mit der Molarität n mol/l angeboten wird. Die Molaritäten der anderen Substanzen seien x, y, z, v. Alle Molaritäten seien solange zu variieren, bis die Lösung von S genau so schmeckt wie eine bestimmte Mischung von A + B + C + D. Der Versuchansatz gliche dem erfolgreichen Versuch, durch additive Mischung von drei monochromatischen Lichtern 435 nm („Blau“), 546 nm („Grün“) und 700 nm („Rot“) alle möglichen Farbtöne einschließlich Gelb hervorzurufen, was die trichromatische Theorie des Farbensehens begründete und dem RGB Farbsystem des Fernsehbildschirms zugrunde liegt (Kap. 22). Eine Bitte: Man nehme Salz, Zucker, Chinin und Salzsäure (aber nicht Zitronensäure) und mixe ein Getränk, das nach Zitrone schmeckt. Wer ein Rezept gefunden hat, teile es uns bitte mit (die Autoren dieses Buches). So ganz einfach ist das Auffinden eines solchen Rezeptes nicht. Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen dem Seh- und dem Geschmackssinn. Bestrahlt man das Auge mit 435 nm mit verschieden hohen Intensitäten (Photonenstromdichten), so wird verschieden intensives Blau gesehen; Blau bleibt aber Blau und wird nicht Grün, Rot oder Weiß. Anders beim Geschmackssinn. Die Art einer Geschmacksempfindung hängt auch von der Konzentration einer Substanz ab. Kochsalz schmeckt bei einer Konzentrationen < 0,01 mol/l nicht salzig, sondern schwach süß. KCl 7
20.4 Der Geschmackssinn
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BOX 20.1 (Fortsetzung)
schmeckt bei 0,01 mol/l stark süß, bei 0,04 mol/l bitter und bei 0,2 mol/l gleichzeitig salzig, bitter und sauer (Angaben aus C. von Campenhausen (1981) Die Sinne des Menschen, 1. Aufl.) Offenbar kann eine Substanz mehrere Typen von Sensoren erregen. Man muss also Konzentrationsreihen testen. Da nun aber die Konzentration einer Lösung über mehrere Zehnerpotenzen und in beliebig feinen Abstufungen variierbar ist, ergeben sich schon bei 5 Substanzen praktisch unendlich viele Versuchsmöglichkeiten. Man müsste auch für jede Testreihe mindestens 10 Versuchspersonen haben, um unterschiedliche Empfindlichkeiten und partielle Geschmacksblindheit einzelner Personen herauszumitteln. Weit sind solche psychophysischen Versuche verständlicherweise nicht gediehen, und so ist die alte Lehrweisheit, jeglicher Geschmack beruhe auf einer Mischung der 4 bis 5 kanonischen Grundqualitäten, bis heute weder bewiesen noch widerlegt. Zwar gab es durchaus experimentell begründeten Zweifel am traditionellen Dogma (z. B. Schiffmann u. Erickson 1980; Schiffmann 2000), Lehrbücher der Humanphysiologie wie auch die weitere Forschung nahmen davon jedoch kaum Notiz. Die Einengung auf das traditionelle Schema ist auch darauf zurückzuführen, dass die Forschung sich ganz auf die Geschmackspapillen der Zunge konzentrierte – was schwierig genug ist – und die „Gaumenfreuden“ dem Feinschmecker überließen. Stichwort „Gaumen“. Hier finden sich neben Geschmackspapillen besonders viele dendritische Fasern des Trigeminus. Das Trigeminussystem wird üblicherweise der Somatosensorik zugeordnet, also dem Hautsinn mit seinen Tast-, Kalt-, Warm- und Schmerzsensoren. Unzweifelhaft spielen solche Modalitäten auch beim „Geschmack“ eine Rolle. Menthol empfinden wir (fälschlich) als kühlend, Piperin, ein Scharfstoff des Pfeffers, und Capsaicin, eine Hauptkomponente des Paprikas ( Capsicum annuum) und der Peperoni-Sorten (Chili, Cayennepfeffer, Capsicum frutescens), empfinden die meisten Menschen in höheren Konzentrationen als „scharf-brennend ( hot)“ und „schmerzhaft“. Doch auch dies belegt nicht, dass
es nicht auch Substanz-spezifische Empfindungen gäbe. Capsaicin und verwandte Substanzen in Salben und „Wärmepflastern“ erzeugen keine physikalische Wärme aber doch Wärmeempfindungen; unter die Haut injiziert, erzeugen sie Schmerzen (Iida et al. 2003), aber nirgends im Körper außer im Mund den typischen „Peperoni/Chili-Geschmack“. Dass sich jüngst sogar in RNAs, die aus der Zunge extrahiert worden war, RNA von molekularen Rezeptoren nachweisen ließ, die den Duftrezeptoren gleichen (Durzynski et al. 2005), bestärkt Zweifel. Auch berichten Forscher, die Neurone aus dem Trigeminusganglion von Nagern in Kultur nahmen und elektrophysiologisch befragten, dass es, ähnlich wie bei Riechsinneszellen, Neurone mit unterschiedlicher und spezifischer Ansprechbarkeit auf flüchtige Substanzen gibt (Inouet u. Bryant 2005). (Trigeminusneurone sind mit ihren dendritischen Fasern primäre Sinneszellen, die unmittelbar von Geschmacks-/Geruchsstoffen gereizt werden können und ihre Erregung durch Feuern von Aktionspotentialen mitteilen). Es sind Pionierversuche auf mehreren Ebenen möglich. Einen ersten, lustvollen („hedonic“ in der Fachsprache der Psychophysiker) Vorgeschmack könnte man sich verschaffen, indem man unvoreingenommen von der Lebensmittelindustrie verwendete Geschmacksstoffe, die beispielsweise Speiseeis zum „Ananaseis, Bananeneis, Erdbeereis oder Zitroneneis“ machen oder als „Geschmacksverstärker“ deklariert werden, in chemisch reiner Form und mit verschlossener Nase auf ihren Geschmack prüft. Zeitgemäße professionelle Forschung verlangt jedoch ein Labor, das molekularbiologische und elektrophysiologische Methoden einzusetzen weiß. Man kann cDNA-Banken erstellen (leider kaum vom Gaumendach des Menschen) und mit degenerierten Sonden nach Homologen bekannter Rezeptorsorten suchen (wie Durzynski et al. 2005) oder mit differentiellen Methoden (cDNA-Subtraktion, differential display reverse transcription polymerase chain reaction DDRT-PCR) und mit viel Glück nach neuartigen Rezeptoren fahnden. Man kann das Genom des Menschen oder humane EST-Banken nach Kandidatengenen für Rezeptoren absuchen und mit in-situ-Hybridisierung
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BOX 20.1 (Fortsetzung)
nachsehen, ob sie in Sinneszellen des Mundraums exprimiert werden. Und man kann mit in Kultur genommenen Sinneszellen elektrophysiologisch arbeiten (Inouet u. Bryant 2005). Erfolge sind in
20.5 Geruch- und Geschmacksinn bei Tieren 20.5.1 Wirbeltiere: Makrosmaten lassen uns durch ihre Leistungen erstaunen; bei Lachsen ist eine geruchliche Prägung nachgewiesen Für manche Wissenschaftler besteht Wissenschaft vor allem in der Kunst, bedeutend klingende Fremdworte zu erfinden. Wozu hat der Humanist schließlich Latein und Griechisch gelernt. Für solche Leute gibt es Makrosmaten und Mikrosmaten; der Mensch zählt zu den Mikrosmaten. Ob nun freilich ein Makrosmat mehr verschiedene Düfte als der Mensch oder vielleicht gar weniger aber mit höherer Empfindlichkeit wahrnimmt, verrät der (griechische) Begriff nicht. Hunde sind auf Fettsäuren spezialisiert. Auch ein Gummistiefel ist bald durchlässig genug, um dem Hund eine Spur des Fußschweißes seines Herrn zu legen. Da verschiedene Fettsäuren sich verschieden rasch verflüchtigen, ändert sich die quantitative Zusammensetzung der Spur entlang des Weges. Der erfahrene Hund weiß, in welche Richtung er laufen muss, um den Anschluss an die Jagdgesellschaft wiederzufinden. Lachse und Amphibien finden ihre Laichgewässer unter anderem nach deren Geruch (Geruchsorgan eines Fisches: Abb. 20.9). Jedes Gewässer hat seine besondere Duftnote, die vom Untergrund (Gestein, Boden) und Pflanzenbewuchs bestimmt wird. Sogar wir können einen nahen Teich riechen. Wanderfische und Amphibien werden in ihrer frühen Jugend auf den Geruch ihrer Laichgewässer geprägt. In den USA sind Seelachse in ihrer Jugend im Labor auf Duftstoffe geprägt worden, die in natürlichen Gewässern nicht vorkommen. Die Hälfte der Jungfische wurde auf das heterocyclische Amin
der Wissenschaft nicht leicht zu gewinnen, doch schmecken Erfolg und unerwartete Erkenntnis vorzüglich.
Morpholin geprägt, die andere Hälfte auf Phenylethanol. Während der Prägephase nahm die Sensitivität auf diese Geruchsstoffe spezifisch zu. Die Seelachse wurden in den Michigan-See entlassen. Eineinhalb Jahre später, als die Lachse geschlechtsreif geworden waren, suchten sie, wie es Lachse so an sich haben, Flüsse auf, um zu laichen. In den Zufluss, der mit Morpholin versetzt wurde, wanderten die Morpholin-geprägten Lachse ein, in einen Phenylethanol-markierten Zufluss die Phenylethanolgeprägten Lachse. Auch mit ihrem Geschmacksinn sind manche Tiere dem Menschen überlegen. Mäuse haben Rezeptoren zur Identifizierung von Aminosäuren und von Polysacchariden, wie sie aus der Spaltung von Stärke hervorgehen (Nelson 2002; Scalfani 2004). 20.5.2 Insekten: Sogar die Füße der Fliege tragen Schmecksensillen Duftstoffe verraten einem Insekt, ●
wo es etwas zu fressen und zu naschen gibt,
●
ob eine Pflanze gefährlich sein kann,
●
wo der gesuchte Partner für das Liebesleben zu finden ist,
Abb. 20.9. Nasengrube eines Fisches. Rot: Lamellen mit Riechepithel
20.5 Geruch- und Geschmacksinn bei Tieren ●
wo der heimatliche Wohnbereich ist,
●
wo im dunklen Nest die hungrige Brut zu suchen ist.
Jedes Blatt, jede Blüte und jede Frucht einer Pflanze ist von einer Wolke flüchtiger Substanzen umhüllt. Um eine Sonnenblume schweben über 100 verschiedene Moleküle. Insekten, namentlich die in der Verhaltensphysiologie als willige Mitspieler so geschätzten Bienen, sind in der Lage, bestimmte Duftmoleküle, mit denen das Zuckerwasser versetzt wird, von den isomeren Varianten dieser Duftmoleküle zu unterscheiden. Sie können auch auf komplexe Buketts, auf Kombinationen von Duftreizen, dressiert werden. Besonders bedeutsam für Insekten sind Duftstoffe, die dem Aufbau eines Staates mit seiner Klassengesellschaft oder sonst wie der sozialen Kommunikation dienen. Darauf geht Kap. 25 näher ein. Wenn wir in Analogie zu den Verhältnissen bei Wirbeltieren den Geruchsinn als Fernsinn definieren, den Geschmacksinn als Nahsinn zur Prüfung der Nahrung, werden wir wohl vermuten, der Geruchsinn sei auf den Antennen, der Geschmacksinn im Munde lokalisiert. Unsere Vermutung ist nur zum Teil richtig. Wir finden ●
●
Geruchsensillen auf den Antennen. Antennen sind oftmals federförmig aufgefächert und mit Tausenden von Riechsensillen übersät. Antennen wirken als Molekülfänger. Ein paar Duftmoleküle des weiblichen Pheromons genügen, um dem Faltermännchen den Weg zur Ersehnten zu weisen. Anders als Blüten- oder Blattduft, muss ein Pheromon nicht nur höchst sensitiv, sondern auch hochspezifisch identifiziert werden, will der Falter nicht an der „Nase“ (Antenne) herumgeführt werden.
Wenn eine Fliege über den Tisch läuft, streckt sie augenblicklich ihren Rüssel aus, sobald eines ihrer Vorderbeine auf eine (mehr oder weniger eingetrocknete) Zuckerlösung tapst. Tastborsten im Bereich der Füße sind an ihrer Spitze mit einer Öffnung versehen, zu der die reizaufnehmenden Dendriten von chemosensorischen Neuronen hinführen (Abb. 20.10). Diese Öffnung wirkt auch wie eine dünn ausgezogene Pipette: Wässrige Lösungen werden durch Adhäsions-/Kohäsionskräfte eingesogen. Oft haben Insekten auch Hygrorezeptoren, mit denen sie gasförmiges und flüssiges Wasser aufspüren können. Für die Biene haben verschiedene Zucker eine abgestufte Reizqualität in der gleichen Rangfolge wie beim Menschen: Saccharose ( sucrose) > Fructose = Glucose > Galactose. Wie dem Menschen kann man
Mechano-
Chemorezeptor
Geschmacksensillen − auf den Antennen (Fühlern), die ja beweglich sind und auch in Kontakt zu einem fraglichen Objekt gebracht werden können; − im Mundbereich, vor allem auf dem Labium, − auf dem Rüssel, − auf den Tarsen der Vorderbeine!
Abb. 20.10. Riechsensillum auf der Antenne eines Insekts. Die oben offene Cuticularöhre mit dem Chomosensor saugt über Kapillarkräfte wässrige Lösungen ein. Das Sensillum enthält neben Chemosensoren auch einen Mechanosensor, der die Ablenkung des Cuticularhaares registriert. Gezeigt ist auch eine Möglichkeit, die elektrischen Signale abzuleiten
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20 Chemische Sinne
auch den Bienen mit NaCl die süße Suppe versalzen, und bittere Alkaloide vergällen ihnen den Spaß. Andererseits nehmen viele Raupen und Schmetterlinge bestimmte Alkaloide ihrer Futterpflanzen auf und speichern sie, um selbst ungenießbar zu werden. Man nennt dies Pharmakophagie. 20.5.3 Auf molekularem Niveau findet man überraschende Homologien zwischen Insekten und Wirbeltieren Morphologisch sieht man zwischen den verschiedenen Chemosensillen der Insekten und den chemischen Sinnen der Wirbeltiere keinerlei Homologien. Umso überraschender ist, dass auf molekularem Niveau solche Homologien zutage treten. Es gibt Homologien bei den Odor-binding Proteins OPB und bei G-Protein-gekoppelten Transmembranrezeptoren. 20.5.4 Soziale Insekten verständigen sich mittels einer reichen chemischen Sprache Dem Riechen und Schmecken stehen die Produktion und das Aussenden chemischer Signale gegenüber. Häufig sind es geradkettige, ungesättigte Alkohole
Zusammenfassung des Kapitels 20 Die sich an unserer Erfahrungswelt orientierende Lehrtradition kennt zwei chemische Sinne: den Geruchssinn, der kleine Moleküle einfängt, die aus der Ferne von der Luft (oder von Wasser) herangetragen werden, und den Geschmacksinn, der im Mundraum Natur und Qualität der Nahrung prüft. Es gibt jedoch nicht nur in der Tierwelt eine weiter gefächerte Sammlung chemischer Sinne. So haben wir einen allgemeinen chemischen Warnsinn, der in der Hornhaut des Auges und in der Schleimhaut des Mundes stechende Schmerzen auslösen kann, und wir haben chemische Sinne, deren Meldungen nicht in unser Bewusstsein dringen: Enterorezeptoren, die den Gehalt des Blutes an Glucose und CO2 messen, und wir haben, wie alle Säugetiere, außer der Riechschleimhaut über
und Aldehyde, die Signalfunktion erhalten haben, aber auch komplizierte Moleküle sind im Gebrauch wie beispielsweise Purine, substitutierte Phenole, Cholesterolester (Sonenshine 2006) und Alkaloide, die man sich von Pflanzen besorgt. Besonders soziale Insekten wie Ameisen haben sich, ähnlich wie Säugetiere, chemisch viel zu sagen, beispielsweise ●
sendet man bei Gefahr Alarmpheromone aus,
●
bringt man Duft- und Schmeckproben einer gefundenen Nahrung mit,
●
legt man Spuren, um anderen den Weg zu weisen oder um selbst wie an einem Ariadnefaden wieder heim ins Nest zu finden,
●
macht man sich mit Parfum attraktiv für das andere Geschlecht,
●
grenzt man mit abschreckenden Duftkomponenten sein Territorium ab,
●
macht man sich mit Düften kenntlich als Mitglied einer Kolonie (Familie) oder einer Art.
Gehört man nicht zur gleichen Gruppe, zum gleichen Clan „kann man sich nicht riechen“. Manche sagen, dies gelte nicht nur für Insekten, sondern auch für den Menschen.
dem Gaumen ein Vomeronasales Organ, das bei vielen Säugetieren zum Empfang von Pheromonen spezialisiert ist und im Dienst der sozialen Kommunikation und der Koordination sexueller Aktivität steht, beim Menschen freilich weitgehend degeneriert ist. Dennoch glaubt man, dass auch der Mensch mittels seiner Nase (unbewusst) Pheromone rezipieren könne. In der Riechschleimhaut der Säuger fangen lösliche Duftstoff-Bindeproteine OBP ( odor-binding proteins) der Schleimschicht flüchtige Duftstoffe ein und führen sie an die Cilien sensorischer Neurone heran. Die Cilien eines Neurons sind mit molekularen Rezeptoren besetzt, die Moleküle einer Duftstoffklasse auffangen. Die molekularen Rezeptoren haben, wie viele Hormonrezeptoren, 7 Transmembrandomänen und sind G-Protein-gekoppelt. Bei Säugern gibt es ca. 1300
Zusammenfassung des Kapitels 20
unterschiedliche Gene für Duftstoffrezeptoren, von denen allerdings beim Menschen zwei Drittel funktionslose Pseudogene sind. (1300 Gene können im Extremfall 2600 verschiedene Allele bedeuten). Vermutlich exprimiert jede Riechzelle nur je ein Allel dieser Gene. Alle über die Riechschleimhaut verstreuten sensorischen Neurone mit dem gleichen Duftstoffrezeptor speisen ihre Meldungen in denselben Glomerulus des Bulbus olfactorius ein, der seinerseits die gesammelten Meldungen an verschiedene Zentren des Telencephalon und des Stammhirns weitergibt. Aus den Meldungen der verschiedenen sensorischen Neurone werden in der Empfindung unzählig viele verschiedene Duftbuketts zusammengestellt. Die Informationsverarbeitung im Riechsystem basiert auf dem Prinzip der Musteranalyse. Der Geschmacksinn wird hauptsächlich von sekundären Sinneszellen mit apikalem Mikrovillibesatz vermittelt. Nach traditioneller Lehrmeinung gibt es nur 4 Typen von Sinneszellen, welche die Empfindung süß, sauer, salzig und bitter vermitteln. Das hierzulande als bloßer Geschmacksverstärker eingestufte Natriumglutamat vermittelt die Empfindung „umami“ (würzig, nach Fleisch schmeckend). Nager können Aminosäuren und
diverse Polysaccharide unterscheiden. Für „bitter“, eine Warnempfindung, die vor giftigen Nahrungskomponenten warnt, gibt es auch beim Menschen entsprechend der Vielfalt möglicher Pflanzengifte 25 verschiedene molekulare Rezeptoren. In verschiedenen Regionen der Erde sind einheimische Populationen mit einer unterschiedlichen Auswahl von Rezeptorgenen ausgestattet. Es gibt Indizien, dass zumindest die Qualität „bitter“ besser als Modalität klassifiziert werden sollte, unter des es verschiedene Bitterqualitäten gibt. Eine Reihe unserer Empfindungen, die nicht eindeutig (nur) dem Geruchs- oder Geschmacksinn zugeordnet werden können, wie „scharf “ (wie Peperoni), „brennend“ (wie Chlorgas) oder „Eukalyptus“, wird (auch) von sensorischen Nervenfasern des Nervus trigeminus und anderer Hirnnerven vermittelt, die Nasen- und Mundschleimhaut innervieren. Erstaunlicherweise findet man bei Insekten in den verschiedenen chemorezeptiven Sensillen der Fühler, der Mundregion und der Tarsen molekulare Rezeptoren, die denen der Wirbeltiere homolog sind. Chemische Sinne sind die evolutionär ältesten Sinne und auf molekularem Niveau ist vieles konserviert geblieben.
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21 Wahrnehmung elektrischer und magnetischer Felder; Infrarotortung
Sinnesleistungen, die über unser eigenes Vermögen hinausgehen, faszinieren uns und stimulieren die Frage, ob uns vielleicht unbewusst ebenfalls ein entsprechender Sinn zur Verfügung steht. Der verbreitete, vom Wunschdenken getragene Glaube an verborgene Quellen der Erfahrung hat es andererseits dem Tierphysiologen nicht immer leicht gemacht, seine durchaus erstaunlichen Befunde gegen Legenden und Aberglaube abzugrenzen. Gesichert ist, dass es mehrere Tierarten gibt, die elektrische Felder erspüren können. Andere nutzen das Magnetfeld der Erde zur Navigation. Manche können in der Nacht ihre Opfer orten, weil sie die von Warmblütern ausgehende Wärmestrahlung detektieren können.
21.1 Elektrorezeption 21.1.1 Passive elektrische Ortung: im Wasser können EKG und EMG die Nähe eines tierischen Lebewesens verraten Wir hatten beim Herzen (s. Kap. 16) die Frage erörtert, wie das Elektrokardiogramm, das EKG, an der Außenfläche des Körpers abgreifbar werden kann, obwohl die elektrischen Aktivitäten, die dem EKG zugrunde liegen, im Körperinneren im Herzmuskel ablaufen. Wir erfuhren, dass sich elektrische Spannungen bzw. Spannungsänderungen in Form von Feldern im leitenden Medium ausbreiten, sodass das EKG auch aus dem Badewasser ohne Berührung des Körpers abgeleitet werden könnte. Nicht nur der Herzschrittmacher und der Herzmuskel, jeder tätige Muskel, so auch die Atemmuskulatur, sendet Felder aus, wenn auch recht schwache. Elektromyogramm EMG heißt eine Aufzeichnung solcher myogener Felder. Da man weder Herz noch die Atmung stilllegen kann, ist es schwer, sich verborgen zu halten, wenn der Angreifer mit sensitiven
Voltmessern ausgestattet ist. Besonders in fächelnden Kiemen lassen Ionenströme elektrische Felder entstehen, die sich im umgebenden Wasser ausbreiten. Haie haben im Kopfbereich solche Voltmesser. Grundhaie, wie der Katzenhai und der Hundshai unserer Nordsee, erspüren eine Scholle oder Seezunge, auch wenn sie sich im Sand verborgen hält (Abb. 21.1). Der Hai entdeckt die Scholle auf ca. 15 cm Entfernung; diese sendet Strom von ca. 4 μA aus. Männliche Rochen finden ihre weiblichen Artgenossen, indem sie deren Biopotentiale orten. Passive Elektroortung kennt man von: ●
Knorpelfischen: Haien und Rochen,
●
Aalen, Welsen,
●
Lungenfischen,
●
schwach-elektrischen Fischen (Gymnotiformes, Mormyriformes)
●
dem australischen Schnabeltier (Abb. 21.2) und dem Schnabeligel, eierlegenden Säugern, die mit dem Schnabel bzw. der verlängerten Schnauze Süßwassergarnelen und sonstiges Getier aufstöbern.
Abb. 21.1. Passive Elektroortung beim Hai. Ein Grundhai spürt eine versteckte Scholle auf, indem er deren Atembewegungen wahrnimmt
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21 Wahrnehmung elektrischer und magnetischer Felder; Infrarotortung
Abb. 21.2. Passive Elektroortung beim Schnabeltier, eine versteckte Batterie aufspürend
Die Voltmesser der Haie sind die in die Unterhaut eingebetteten, schlauchförmigen Ampullenorgane (Lorenzinische Ampullen). Sie leiten sich von den Seitenlinien ab. Ihre Sinneszellen sehen ähnlich aus wie die Haarsinneszellen in den Neuromasten der Seitenlinien (s. Abb. 18.14). Sie haben ein einzelnes Kinocilium; wohingegen eine Cupula fehlt. Diese Sinneszellen befinden sich am Ende von Schläuchen, deren Wand gegen die Haut elektrisch isoliert, deren Lumen jedoch mit einer elektrisch gut leitenden, mit K+ angereicherten Gallerte gefüllt ist. 21.1.2 Aktive Elektroortung: man findet sich im Trüben zurecht und funkt elektrische Grüße Wir sprechen jetzt nicht von den stark elektrischen Fischen (Elektrofischen) wie Zitteraal und Zitterrochen, die mit ihren starken Schlägen von bis zu 900 V (Aal) oder 70 A (Rochen) ihre Opfer lähmen oder Angreifer vertreiben (Abschn. 16.6). Wir reden von meist kleinen harmlosen Fischen tropischer Flüsse und Seen. In sieben, evolutionsgeschichtlich nicht näher verwandten Fischfamilien wird aktiv Elektroortung betrieben, mit Spannungen
im Bereich von wenigen Volt. Solche Fische sind nachtaktiv, leben in tropischen Süßgewässern und haben einen Sender, der sich von Muskelzellen ableitet (s. Abb. 16.20). (Ausnahme Apteronotidae, bei ihnen leitet sich der Sender von Nervenzellen ab.) Bekannte, gut in Aquarien zu haltende Formen sind der afrikanische Elefantenrüsselfisch ( Gnathonemus petersii, ein Vertreter der Mormyridae = Nil„hechte“) und der südamerikanische Glas-Messerfisch ( Eigenmannia, ein Gymnotide). Wenn man die Entladungen der Schwachelektriker registriert, erkennt man zwei Typen: die „Summer“ und die „Knatterer“. Summer senden Sinusschwingungen aus mit einer artspezifischen, unerhört konstanten Frequenz im Bereich zwischen 50 und 2000 Hz – wären es Laute, könnte man solche Fische „Tieftöner“ oder „Mitteltöner“ nennen. Zu den Summern zählt der Messerfisch. Seine Sendefrequenz ist so stabil, dass man schwören möchte, der Sender sei ein technisches Gerät. Knatterer senden hingegen pulsförmige Signale mit einem sehr variablen Rhythmus aus. Zu ihnen zählt der in Flüssen Afrikas beheimate Elefantenrüsselfisch. (Abb. 21.3). Wozu dienen diese Signale? ●
Der sozialen Kommunikation. Was dem Vogel sein Gezwitscher, ist dem Fisch sein Elektrofunk. Messerfische zirpen sich beim nächtlichen Ablaichen an, um sich in Stimmung zu bringen und den Laichakt zu synchronisieren.
●
Der Orientierung im trüben Wasser. Eine Momentaufnahme des Nilhechts (Abb. 21.3) zeigt Feldlinien, die vom elektrischen Organ ausstrahlen. Senkrecht zu den Feldlinien verlaufen die Isopotentiallinien bzw. Isopotentialflächen (näher erklärt fürs EKG in Kap. 16). Objekte in der Umgebung, die eine andere Leitfähigkeit (anderen elektrischen Widerstand) als das Wasser haben, verzerren das Feld. Ein Objekt, das eine höhere Leitfähigkeit als Wasser hat, zieht Feldlinien wie eine Sammellinse an; ein Gegenstand mit geringerer Leitfähigkeit drängt Feldlinien wie eine Streulinse auseinander.
Die Verzerrungen der selbsterzeugten Felder durch Objekte der Umgebung wirken auf den Fisch zurück. Das Muster elektrischer Spannungen auf der Haut verändert sich, wenn in der Nähe des Fisches ein Gegenstand auftaucht. Hunderte in die Haut einge-
21.1 Elektrorezeption Abb. 21.3. Aktive Elektroortung beim Elefantenrüsselfisch ( Gnathonemus petersii). Rote Linien: Elektrische Feldlinien in einem bestimmten Moment der Entladung des elektrischen Organs. Schwarze Linien: Isopotential-(Äquipotential-)linien zum selben Zeitpunkt. Roter Ball: Objekt mit höherer Leitfähigkeit als Wasser. Grauer Ball: Objekt mit geringerer Leitfähigkeit als Wasser
Isopotentiallinien
Feldlinien
Metall, wirkt als Sammellinse für Feldlinien
Plastik wirkt als Zerstreuungslinse
bettete und über Kopf und Rumpf verstreute kleine Voltmeter (tuberöse Elektrorezeptoren, Abb. 21.4) registrieren diese Verzerrungen. Der Fachmann unterscheidet: ●
Ampulläre Organe, die in der Haut aller elektrosensitiven Fische vorkommen und den Grundtyp der Sensoren für Elektrolokation repräsentieren. ● Tuberöse Organe der Gymnotiformes und Mormyriformes, die über einen locker mit Zellen gefüllten Kanal in Verbindung zum Wasser stehen. Die tuberösen Organe sind speziell auf die Frequenzen der Wechselfelder abgestimmt, welche diese Fische kontinuierlich aussenden. ● Knollenorgane und Mormyromasten der Mormyriden, beides besonders ausgebaute tuberöse Organe.
Die Fähigkeit der „Nilhechte“ (Mormyriden) und der Gymnotiden, sogar zwischen ohmschem und kapazitivem Widerstand zu diskriminieren, hilft ihnen lebende von unbelebten Objekten zu unterscheiden (kapazitive Widerstände, wie sie Lebewesen darstellen, erzeugen Phasenverschiebungen in den ausgesandten elektrischen Ortungslauten). Man braucht aber nicht auf alle Fälle ein eigenes elektrisches Organ, um seine Haut mit Spannungsmustern zu kitzeln. Wer rasch das Magnetfeld der Erde durchquert, kann Spannungsmuster auf seiner Haut erzeugen, die mit sehr empfindlichen Voltmetern messbar sind. Dazu mehr im folgenden Abschnitt.
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21 Wahrnehmung elektrischer und magnetischer Felder; Infrarotortung
Elektrosensoren des schwachelektrischen Fisches Eigenmannia
Ampulläre Organe Feldlinie
t1 Isopotentiallinie
+
t2
Epidermis
Isolierschicht Kanal mit Gallerte Spannungsgradient
Elektrorezeptoren Synapse
+
t1
t2
Registrieren Wechselspannungen niederer Frequenz (bis 50 Hz, z. B. EKGs anderer Fische)
Lockerer Zellverband
Tuberöse Organe
Isolierschicht
Elektrorezeptoren Stützzellen
ableitender Nerv
Registrieren Wechselspannungen hoher Frequenz (200-400 Hz, d. h. die eigenen Orientierungs-Entladungen)
21.2 Orientierung im Magnetfeld der Erde Das Magnetfeld der Erde kann in mehrerlei Weise Einfluss auf ein Lebewesen nehmen und diesem Möglichkeiten der Orientierung geben, beispielsweise: (a) kraft seiner Fähigkeit, paramagnetische Materialien auszurichten (das kennen wir vom Kompass), (b) kraft seiner Fähigkeit, elektrische Ströme zu induzieren, (c) kraft seiner Fähigkeit elektrochemische Reaktionsgleichgewichte zu beeinflussen. 21.2.1 Meeresströmungen und schnelle Schwimmer erzeugen im Magnetfeld der Erde elektrische Spannungen, die mit hauteigenen Voltmetern abgreifbar sind Meerwasser ist elektrisch leitend, sehr gut sogar. Zieht man einen elektrischen Leiter rasch durch ein Magnetfeld, werden in ihm elektrische Spannungen und damit auch elektrische Ströme induziert. In Meeresströmungen, welche in Ost-West- bzw. West-Ost-Richtung verlaufen und die magnetischen Feldlinien der Erde queren, treten Spannungen im Bereich von μV/cm auf, und das liegt im Messbereich der Elektrosensoren der Knorpelfische (Haie und Rochen). Theoretisch können sie erkennen, in welche Himmelsrichtung eine Meeresströmung verläuft. Nicht nur Meerwasser, auch Lebewesen sind elektrische Leiter. Wer schon mal einen Strom-
Abb. 21.4a, b. Elektrorezeptoren in der Haut des im Amazonasgebiet lebenden, schwach elektrischen Fisches Eigenmannia. Die ampullären Organe erlauben, die eigenen Ortungssignale und die der Kommunikation dienenden Signale von Artgenossen wahrzunehmen. Um die Umgebung auszukundschaften, sendet der Fisch elektrische Wechselstromsignale zwischen 300 und 600 Hz aus, welche Pflanzen und andere Objekte je nach ihrer Leitfähigkeit verformen. Die auf die Haut rückwirkenden Wechselfelder erzeugen elektrische Spannungen, die mittels tuberöser Elektrorezeptoren wahrgenommen werden. Die eingekreisten Plus- und Minuszeichen sollen andeuten, dass die Elektrosensoren einem Wechselspannungsfeld ausgesetzt sind
21.2 Orientierung im Magnetfeld der Erde
schlag erhalten hat, hat dies schmerzlich erfahren. Bei schnellen Schwimmern kann auf der Haut ein Spannungsfeld entstehen, das mit der Schwimmrichtung – längs oder quer zu den Magnetfeldlinien – korreliert ist (Abb. 21.5). So klein Spannungen und Stromflüsse auch sind, die enorme Empfindlichkeit der biologischen Voltmesser könnte für ihre Registrierung genügen. Wir wissen nicht, welche Tiere diese Chancen der Orientierung tatsächlich nutzen. Immerhin ist im Experiment eine Reaktion der Elektrorezeptoren von Haien und Rochen auf Magnetfelder in Erdmagnetfeldstärke gemessen worden. Tiere des Süßwassers und der Luft können wahrscheinlich das skizzierte Induktionsprinzip nicht nutzen; denn die schwach leitende oder isolierende Umgebung erlaubt es nicht, den Stromkreis zu schließen, bzw. den induzierten elektrischen Strom in genügender Stärke zum Tier zurückzuführen.
Bei v = 1 m/s U = 0,4 μV/cm
W
O +
Abb. 21.5. Indirekte Perzeption des Erdmagnetfeldes durch einen schnellen Schwimmer, der die Magnetfeldlinien quert und deswegen entlang seinem Körper durch Induktion ein elektrisches Potentialgefälle (Spannung) erzeugt
21.2.2 Magnetfeldorientierung: Eine Reihe von Tieren haben anscheinend einen Magnetitkompass, manche Vögel sollen das Erdmagnetfeld sehen Über Jahrhunderte wussten es Seefahrer, Expeditionsleiter und Wanderer zu schätzen, mit dem Magnetkompass ein Gerät in der Hand zu haben, das ihnen auch bei bewölktem Himmel und unter fremdem Sternenzelt die Himmelsrichtung weisen konnte. Sollten Fernreisende unter den Tieren sich nicht auch einen Magnetkompass zugelegt haben? Allerdings: die Evolution braucht zum Erfinden und Optimieren eines solchen Gerätes üblicherweise viel Zeit; das Erdmagnetfeld ist aber in geologischen Zeiträumen gesehen instabil und unzuverlässig. Hypothesen über Magnetfeldorientierung bei Tieren waren für kritische Köpfe nicht von vornherein glaubwürdig. Neugier blieb jedoch. Erschwerend für neugierige, unentwegte Forschung aber war, und ist immer noch, dass sich das Erdmagnetfeld nur mit hohem technischen Aufwand ausschalten und manipulieren lässt. Außerdem sind es mehrere physikalische Parameter, die zur Orientierung dienen können und bei der Versuchsplanung zu berücksichtigen sind: 1. Die Nord-Südrichtung der Feldlinien, d. h. eine vektorielle Größe, nach der sich die Nadel eines technischen Kompasses ausrichtet. Die Nadel zeigt an, in welcher Richtung es nach Nord oder nach Süd geht. 2. die lokale Stärke des magnetischen Feldes; 3. die Inklination der Feldlinen, d. h. der Winkel, unter dem sie auf der Erdoberfläche auftreffen und ins Erdinnere eintauchen (Abb. 21.6).
Lokale Stärke und Inklination können Information über die momentane Position liefern und einen Ort auf der Erdhalbkugel charakterisieren. Ein entferntes Ziel zu erreichen, wäre möglich, wenn man auf seinem Weg den Wechsel der Inklination oder der Stärke des Feldes registriert. Eine Ausrichtung oder sonstige Reaktion auf das Magnetfeld der Erde ist nachgewiesen oder vermutet (z. B. aufgrund des Nachweises von Magnetit) für ●
Bakterien, Algen,
●
marine Mollusken,
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21 Wahrnehmung elektrischer und magnetischer Felder; Infrarotortung
Nord
Süd
Abb. 21.6. Inklinationen der magnetischen Feldlinien auf der Erdoberfläche ●
marine Crustaceen: Hummer, Langusten,
●
Insekten: Bienen, Hornissen, Termiten, Drosophila,
●
Lachse, Thunfische, Japanischer Aal,
●
Salamander, Molche,
●
Meeresschildkröten,
●
Vögel, insbesondere Brieftauben und viele Arten von Zugvögeln, aber auch nicht ziehende Arten wie Zebrafinken und sogar das Haushuhn,
●
Delphine, Wale.
Bienen. Bienen greifen mutmaßlich auf ihren Magnetkompass zurück, wenn ein stark bedeckter Himmel eine Orientierung nach dem Sonnenstand erschwert oder unmöglich macht. Bei der Honigbiene ist das anatomische Gerät, das als Kompass dient, mutmaßlich entdeckt. Bienen haben in ihren Abdominalsegmenten sogenannte Trophocyten, die Kristalle von Magnetit, einem paramagnetischen Eisenoxid der Formel Fe3O4, enthalten. Solche Kristalle dehnen sich aus oder schrumpfen, je nach ihrer Orientierung im Magnetfeld. Trophocyten sind zu Gruppen zusammengeballt. Dendritische Fasern sensorischer Neurone umspinnen die Trophocyten. Die Signalkette von der Kristallbewegung bis zur Auslösung neuronaler Impulse ist noch nicht aufgeklärt. Künftige Forschung sollte aber auch auf die Augen der Bienen schauen. Bei der Taufliege Drosophila ist es laut neueren experimentellen Befunden das Auge, welches das Magnetfeld der Erde wahrnimmt, wie dies neuerdings auch für Vögel angenommen wird.
Meeresschildkröten. Über Tausende von Kilometern durchreisen Meeresschildkröten die Ozeane, um schließlich nach Jahren wieder an jenen Strand zurückzukehren, an dem sie einst das Licht der Welt erblickt hatten. An den Küsten Floridas geborene Schildkröten lassen sich vom Golfstrom bis vor die Küsten Portugals treiben. Sie müssen jedoch nach dem Schlüpfen erst einmal ihr Transportvehikel erreichen. Junge Meeresschildkröten wurden in einen Tank gesetzt, der mit einer großen Elektromagnetspule umhüllt war. Computer berechneten die Steuerung von Leistung und Orientierung des Magnetfeldes. Wurde das Feld auch nur um 10% auf einen Betrag erhöht, wie er vor Portugal gemessen wird, schwammen die jungen Schildkröten bevorzugt nach Osten, wo sie im freien Wasser den Golfstrom erreicht hätten. Erniedrigung der Feldstärke um 8% ließ sie bevorzugt nach Westen schwimmen. Meeresschildkröten können, so schloss man, Positionsinformation aus der lokalen Stärke des Magnetfeldes gewinnen. Das zuständige Sinnesorgan ist unbekannt. Vögel. Das Erdmagnetfeld zur Fernorientierung nutzen, so wird angenommen, Vögel, sofern ihnen wohlbekannte Landmarken, die Sonne und oder der Sternenhimmel nicht bessere Orientierungshilfen geben. Insbesondere Zugvögel, die es vorziehen, in der kühlen Nacht oder bei bedecktem Himmel heiße Gebiete zu überfliegen, sollten einen Magnetkompass zu schätzen wissen. Experimente mit Vögeln sind schwierig anzustellen. Zugvögel waren in Käfigen eingesperrt, und diese standen in einem Innenraum, der ihnen die Sicht zur Sonne verwehrte. Sie sollten zur Zeit der Zugunruhe bevorzugt in eine Himmelsrichtung flattern, ohne jedoch frei abheben zu dürfen oder gar erst einmal ihre üblichen Orientierungsrunden drehen zu können. Heute gibt es Möglichkeiten, mittels großer Helmholtzspulen das Magnetfeld um einen Vogel im Versuchskäfig gezielt zu verändern. Freilich, muss der Vogel noch immer durch Hüpfen seine gewünschte Flugrichtung anzeigen (s. Abb. 25.6), frei fliegen kann er nicht. In neuesten Experimenten werden Tauben vor dem Abflug vorübergehend starken, pulsförmig modulierten Magnetfeldern ausgesetzt mit der Absicht, einen vermuteten, auf Magnetit-basierenden Kompass nachhaltig zu verstellen. Man erwartet, dass den Kristallen eine Mag-
21.2 Orientierung im Magnetfeld der Erde
netisierung neuer Ausrichtung aufgeprägt wird. Dann werden die Tauben freigelassen; ihr Heimfindevermögen wird getestet (Review: Wiltschko u. Wiltschko 2006). Welche Rezeptoren kommen in Betracht? Welche Hypothesen werden vorgetragen? Für Brieftauben, den zusammen mit einigen Zugvögeln am meisten untersuchten Vögeln, werden gegenwärtig zwei anatomisch wie funktionell gänzlich unterschiedliche Detektionssysteme diskutiert (Wiltschko u. Wiltschko 2006): ●
●
Ein erster Kompass der Brieftauben ist ein Inklinationskompass (und/oder ein Intensitätsmesser). Er zeigt nicht die Nordrichtung an wie unser Taschenkompass (ein Deklinationskompass), sondern den Einfallswinkel, unter dem die Magnetfeldlinien auf die Erde auftreffen oder aus der Erde austreten (Abb. 21.6). Die magnetische Inklination hat einen charakteristischen Winkel an jedem Breitengrad und gibt damit eindeutige Information sowohl über die Nord-Süd-Achse als auch darüber, wie weit nördlich oder südlich des Äquators man sich befindet. Für die Wahrnehmung der Inklination und/ oder der Feldstärke seien, so wird angenommen, Magnetitkristalle zuständig, die in der Haut des Oberschnabels und nahe dem Siebbein (Ethmoid) gefunden werden (Fleissner et al. 2007). Auch andere Körperregionen und Organe (Gehirn, Innenohr) sind als Sitz des Magnetkompasses in Erwägung gezogen worden (z. B. Harada 2002). Eine definitive Antwort nach dem Installationsort des Kompasses kann gegenwärtig noch nicht gegeben werden. Unabhängig von seiner Lokalisation reicht der mutmaßliche Kompass allein wohl nicht aus, unerfahrenen Tauben den Weg zurück zu ihrem Taubenschlag zu weisen. Jedenfalls sind junge Brieftauben desorientiert, wenn sie verfrachtet werden. Offensichtlich brauchen Tauben eine gewisse Erfahrung und Übung im Nahbereich, bevor sie sich über große Entfernung orientieren können. Als zweites Detektionsystem ist ein Radikalpaarsystem (radical pair system) in die Diskussion gebracht worden. Wenn gewisse photosensible Moleküle durch ein Photon in den angeregten
Zustand versetzt werden, können Magnetfelder durch „Singlet-Triplet-Interconversion“ solchen Molekülen veränderte chemische Eigenschaften verleihen. Wenn erst ein Photon eingefangen werden muss, lohnt es sich, das Auge als mögliches Detektionssystem in Betracht zu ziehen. Nach neuen Berichten sind denn auch manche Zugvögel (z. B. der Graumantel-Brillenvogel Zosterops lateralis), in der Lage, mit ihrem rechten Auge das Erdmagnetfeld zu „sehen“. Wurde das linke Auge zugedeckt, blieben die Vögel orientiert, nicht aber, wenn das rechte abgedeckt war. Die visuelle Wahrnehmung des Erdmagnetfeldes soll jedoch nicht von den Stäbchen und Zapfen der Netzhaut vermittelt werden, die für das normale Sehen zuständig sind. Vielmehr wird vermutet, dass über die Retina verstreute retinalen Neurone (Ganglienzellen) hierfür zuständig sind, und zwar jene, die das Photopigment Cryptochrom enthalten. Cryptochrom hat eine Struktur, bei der solche Radikalpaare vorkommen können. Daher ist die Struktur potentiell durch das Erdmagnetfeld beeinflussbar. Auch absorbiert Cryptochrom im Blaubereich, und dieser Bereich muss im Lichtspektrum enthalten sein, damit der Vogel sein Ziel erfolgreich ansteuern kann. Der visuelle Eindruck, den diese Ganglienzellen vermitteln, soll je nach Blickrichtung des Auges im Magnetfeld verschieden sein (Review: Wiltschko u. Wiltschko 2006). Experimentell nachgewiesen ist dies alles jedoch nicht. Das Rätsel um die – als solche eindeutig nachgewiesene – Magnetorientierung der Tiere ist eines der spannendsten und schwierigsten Forschungsgebiete in der Sinnesphysiologie.
Dem Außenstehenden erscheint es nicht voll befriedigend, dass diese Art der Magnetorezeption nur bei Licht funktioniert, wenn ja auch der Sonnenkompass oder Sternenkompass in Betrieb ist. Man muss annehmen, dass das spärliche Sternenlicht für ziehende Singvögel, welche die heiße Sahara bevorzugt in der Nacht überqueren, ausreicht, um das Magnetfeld der Erde sichtbar zu machen. Meeresschildkröten bleiben auch während der Dunkelheit orientiert. Für Außenstehende ist irritierend, dass von verschiedenen Forschern an verschiedenen Vogelarten mit verschiedenen Methoden erarbeitete und oftmals widersprüchliche Versuchsergebnisse mit reinen Hypothesen erklärt werden. Eine einheitliche, von konkurrierenden Forschergruppen akzeptierte Theorie gibt es derzeit noch nicht.
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21 Wahrnehmung elektrischer und magnetischer Felder; Infrarotortung
21.3 Infrarotortung 21.3.1
Grubenorgan
Infrarotortung heißt Lokalisierung der Quellen von Wärmestrahlung oder Mikrowellen
Infrarotstrahlung ist Teil des Spektrums elektromagnetischer Strahlung, wie es auch sichtbares Licht ist (s. Abb. 22.1). Dennoch gibt es gute Gründe, Infrarotwahrnehmung getrennt vom optischen Sinn zu Abb. 21.7. Infrarotrezeptoren einer Klapperschlange behandeln. Infrarot wirkt anders auf absorbierende Materialien als sichtbares Licht und wird nicht mit ● Klapperschlangen und andere Grubenottern, dem Auge, sondern mit spezialisierten Temperatur● Riesenschlangen (Boa, Python, Anakonda), rezeptoren wahrgenommen. Infrarotlicht wird von rotierenden und ● Vampirfledermaus. schwingenden Atomen oder Molekülen in warmen Körpern emittiert und bringt umgekehrt in Das Grubenorgan der Klapperschlange ist eine der Materie, die Infrarot absorbiert, bewegliche Grube zwischen Nase und Auge. Beide Gruben Moleküle, wie z. B. Wassermoleküle, zum Tanzen blicken als „Infrarotauge“ nach vorne (Abb. 21.7 (Rotationsbewegungen, Pendelbewegungen etc.). u. 21.8). Der verengte Eingang zur Grube macht Der langwelliges Infrarot ausstrahlende Mikro- aus ihr eine Art Lochkamera, zwar kaum geeignet wellenherd erhitzt sehr gut wasserhaltige Speisen, wie eine technische Infrarotkamera ein gut aufgejedoch nur schlecht trockene. Auch in unserer löstes Thermobild zu entwerfen, aber geeignet, die Haut erzeugen von der Sonne oder einem Feuer Quelle der Infrarotstrahlung – im typischen Fall ausgehende Infrarotstrahlen molekulare Vibratio- einen Kleinsäuger – zu orten. Als „Film“ oder Sennen. Diese wiederum erregen unsere Temperatur- sor ist in der Grube eine dünne Membran aufgerezeptoren und es entsteht in unserer Erlebniswelt spannt. Hinter der Membran befindet sich wieder die Empfindung Wärme. Daher spricht man auch ein Hohlraum. Dessen Funktion könnte es sein, die von Wärmestrahlung. Warmblüter senden über- Membran thermisch vom Körper zu isolieren. Die wiegend relativ kurzwelliges Infrarot aus (Wel- Membran ist dicht durchzogen von den Dendriten lenlänge 1,5 μm – 1 mm), der Mikrowellenherd sensorischer Neurone. Offensichtlich reagieren sie längere infrarote elektromagnetische Schwingun- extrem empfindlich auf Temperaturänderungen. Nach Berechnungen reagieren sie schon auf eine gen (in der Regel 12 cm). Das Aussenden von Infrarot verrät ein warm- Temperaturerhöhung von 3/1000°C bei einer Einblütiges Beutetier auch in der Nacht. Die Fähigkeit, wirkzeit von nur 6/100 s. Am effektivsten ist Infraeinen Infrarotstrahler zu orten, ist nachgewiesen rot mit Wellenlängen um 5 μm; doch spricht das Organ auch auf Mikrowellen an. Eine Klapperfür
Abb. 21.8. Infrarotortung. Eine Klapperschlange erspürt einen Warmblüter
21.3 Infrarotortung Abb. 21.9. Infrarotsensoren einer Vampirfledermaus (rot gekennzeichnete Flecken auf dem Nasenaufsatz)
Melanophila acuminata
Infrarotsensor
schlange könnte die Dichtigkeit eines Mikrowellenherdes überwachen. Wie die Sensoren Wärmestrahlung in Erregung umsetzen, weiß man ebenso wenig wie man es von den Temperaturrezeptoren unserer Haut weiß. Riesenschlangen haben Infrarotrezeptoren im Bereich ihrer Lippen, Vampirfledermäuse auf ihrem Nasenaufsatz. Der Vampir (Abb. 21.9) findet in finsterer Nacht mit seinen Infrarot-„Nasenaugen“ die gut durchbluteten Stellen auf seinem Opfer, wo er seinen Biss ansetzen kann.
Brennende Bäume
Infrarot
Exocuticula Mesocuticula, mehrschichtig, durch Erwärmung sich ausdehnend
21.3.2 Ein Käfer, der Waldbrände aufspürt und aufsucht Ein weiteres zoologisches Highlight: Bestimmte Prachtkäfer der Gattung Melanophila, von denen es besonders viele in Australien gibt, spüren mit Infrarotsensoren an der Basis ihres mittleren Beinpaares Waldbrände im Umkreis von bis zu 50 km auf. Nicht um vor ihnen zu fliehen, sondern um sie aufzusuchen. Seine Engerlinge lieben angebranntes Holz und so legt er seine Eier eben an die Lieblingsplätze seiner Nachkommenschaft. Die Infrarotrezeptoren sind ausgeklügelt zu „Grubenorganen“ umgebaute, campaniforme Sensillen, welche minimale Infrarot-induzierte Dehnungen der Cuticula registrieren (Abb. 21.10).
mutmaßliche Druckrichtung
Tubularkörper Cilie mechanosensitive Zelle (Scolopidium)
Abb. 21.10. Infrarotsensoren des Schwarzen Kieferprachtkäfers (auch Feuerkäfer) genannt, der seine Eier in Ritzen angekohlter Bäume ablegt. Von brennenden oder noch warmen Bäumen ausgehende Infrarotstrahlung bewirkt im Sensillum eine Dehnung der Endocuticula. Es kommt zur Umwandlung des elektromagnetischen Fernreizes in einen lokalen, mechanischen Druckreiz. Dieser wirkt auf die Ciliarstruktur eines Scolopidiums
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21 Wahrnehmung elektrischer und magnetischer Felder; Infrarotortung
Zusammenfassung des Kapitels 21
Elektrorezeption, die Fähigkeit elektrische Wechselfelder wahrzunehmen, findet sich bei Wassertieren (Knorpelfische, einige Knochenfische, Schnabeltier); denn nur in leitendem Wasser fließen elektrische Ströme. Quelle solcher Felder können andere Lebewesen sein, z. B. im Sand vergrabene Schollen. Sie verraten sich suchenden, mit empfindlichen Voltmessern ausgestatteten Haien und Rochen durch ihr EKG und die Muskelpotentiale ihrer bewegten Kiemen (passive Elektroortung). Bei der aktiven Elektroortung, die von verschiedenen „schwachelektrischen“ Süßwasserfischen (z. B. Mormyriden = „Nilhechte“, Gymnotiden = Messerfische) betrieben wird, helfen selbst erzeugte Wechselfelder dem Fisch, sich während der Nacht und in trüben Gewässern zu orientieren. Die Felder wirken auf den Fisch zurück und werden von über der Haut verstreuten Miniaturvoltmetern (Elektrorezeptoren) wahrgenommen. Nahe Gegenstände verzerren die Felder nach Maßgabe ihrer Leitfähigkeit und Kapazität. Selbsterzeugte Wechselfelder dienen auch der sozialen Kommunikation. Die hochempfindlichen Voltmeter – Lorenzinische Ampullen im Kopfbereich der Haie, kleine tuberöse Elektrorezeptoren diverser Art der Schwachelektriker – leiten sich von den Seitenlinienorganen ab.
Einen Magnetkompass zur Orientierung im Magnetfeld der Erde ist nachgewiesen für Bienen, Meeresschildkröten und andere marine Organismen, sowie für Brieftauben und verschiedene Zugvögel. Bei Bienen gelten Magnetitkristalle im Abdomen als Detektoren. Brieftauben sollen nach neuen Hypothesen zwei Detektionssysteme nutzen: Magnetitkristalle in der Haut des Oberschnabels sollen Inklination und/oder lokale Stärke des Magnetfeldes messen; mit dem rechten Auge sollen sie mit besonderen Sehfarbstoffen (Cryptochromen) das Magnetfeld sehen, und so die Richtung zum Ziel finden können. Warme Körper senden elektromagnetische Wellen aus, warmblütige Tiere im Infrarotbereich. Dadurch verraten sie ihre Anwesenheit auch in der Nacht. Diese „Wärmestrahlung“ wird von manchen Schlangen (Klapperschlangen und anderen Grubenottern: Boa, Python, Anakonda) mittels membranbespannter Grubenorgane hinter den Nasengruben wahrgenommen, von Vampirfledermäusen mit Infrarotsensoren auf der Nase. Grubenorgane der Schlangen können Temperaturdifferenzen um 3/1000°C registrieren. Einige Prachtkäferarten spüren mit Infrarotsensoren Waldbrände auf, um am angebrannten Holz ihre Eier abzulegen.
Farbtafeln 25–32
Tafel 25 Unmögliche Konstruktionen. Werden die Regeln, nach denen unser Sehsystem aus einem flächigen Bild dreidimensionale Objekte konstruiert, in einzelnen Bildteilen beachtet, aber nicht in allen Bildteilen in gleicher Weise angewendet, kann unser Sehsystem zum Narren gehalten werden und es konstruiert physikalisch unmögliche Objekte. Konstruktionen des Autors WM, inspiriert durch Vorbilder des Altmeisters optischer Fehlkonstruktionen MC Escher Tafel 26 Methoden der Hirnforschung. A und B Experimente aus dem Labor Dr. Thomas Dresbach, Institut für Anatomie und Zellbiologie der Uni Heidelberg. A Immunfluoreszenzdarstellung fixierter Nervenzellen aus dem Hippokampus in Zellkultur. Rot: das neuronenspezifische, dendritische Protein MAP2. Grün: GFP-Neuroligin in einer transfizierten Nervenzelle. B Lebende Nervenzelle aus dem Hippokampus in Zellkultur. Mittels Transfektion wurden zwei Arten DNAs eingeführt: Die erste DNA kodiert für ein rot fluoreszierendes, lösliches Protein, das durch die gesamte Zelle diffundiert und dessen Form wiedergibt. Die zweite DNA kodiert für ein grün fluoreszierendes Protein, GFP-Neuroligin 1. Dieses erscheint in dendritischen Dornen („Spines“), an denen Signale von anderen Nervenzellen empfangen werden. C Fluoreszenzmikroskopische Aufnahme einer lebenden Nervenzelle aus dem Hippokampus in Zellkultur. Die Nervenzelle exprimiert eine GFP-markierte Version von Neuroligin 1. Mutationen in Neuroliginen werden mit der Entstehung von Autismus in Verbindung gebracht. Der Nachweis, dass Neuroligine in dendritischen Dornen lokalisiert sind, unterstützt die aktuelle Vermutung, dass Autismus auf der Fehlfunktion von Synapsen beruhen könnte. D, E fMRI-Aufnahmen ( functional Magnetic Resonance-Imaging) des Gehirns.E: Beispiel für die Kontrolle sensorischer Hirnareale durch Aufmerksamkeit: Aktivierungen im visuellen Cortex, wenn
sich Probanden auf einen kleinen Ausschnitt der linken Gesichtsfeldhälfte konzentrieren (links), wenn sie sich auf einen größeren Ausschnitt konzentrieren (mitte) und wenn sie sich auf Ausschnitte sowohl des linken als auch des rechten Gesichtsfelds konzentrieren (rechts). Aus Müller et al (2003) J Neurosci. D: Aktivierungen bei verdeckter visueller Aufmerksamkeitsverschiebung. Obwohl die Augen bei dieser Studie nicht bewegt werden durften, findet man auch Aktivierung im Colliculus superior (Fadenkreuz), einer Struktur, die für die Kontrolle schneller Augenbewegungen (Sakkaden) entscheidend ist. Bei der verdeckten Verschiebung der Aufmerksamkeit werden offensichtlich ähnliche Strukturen aktiviert wie bei aktiven Augenbewegungen. Aus Müller & Kleinschmidt (2007) J Cog Neurosci. Bildquellen: A, B, C Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Dresbach; D, E mit freundlicher Genehmigung von Doz. Dr. Notger Müller, Neurologische Klinik der Uni Magdeburg Tafel 27 Biolumineszenz I bei Cnidariern. Vom Tageslicht reichen die kurzwelligen Anteile am Weitesten in die Wassertiefe. In Tiefen, in die noch restliches Tageslicht eindringt, herrscht blaue oder grüne Lumineszenz vor; sie kann dazu dienen, die Organismen gegen den blauen Himmel unsichtbar zu machen, doch dürfte es in bestimmten Fällen auch anderen Zielen dienen. Beispielsweise kann nächtliches Blinken Signalcharakter haben (wofür?). In den gänzlich dunklen Wassertiefen herrscht Rotlicht vor; in diesem Fall ist Signalcharakter wahrscheinlich. A Aequorea victoria , eine pazifische Hydromeduse, aus der erstmals die Substanzen Aequorin und GFP ( green-fluorescing Protein) isoliert worden sind B Grüne GFP-transgene Maus. C Tiefsee-Kronenqualle Periphylla periphylla. D Meduse unbekannter Art, vermutlich natürlicherweise GFP exprimierend. E Leuchtende Koralle. F Leuchtende Anthozoe Corynactis californica.
T32
Farbtafeln 25–32
Bildquellen: A Sierra Blakely; B Dr. Andras Nagy, Mount Sinai Hospital Toronto; C Edith Widder, Harbor Branch Oceanographic Institution; D NOAA, Exploration 2002; E unbekannter Herkunft; F Schnitzler CE et al (2008) Marine Biotechnol 10: Cover Photo, mit freundlicher Genehmigung der Autoren und von Springer Science Tafel 28 Biolumineszenz II bei Cephalopen. A juveniles Stadium, B, C ältere Stadien von Sapietta oweniana. D Arme eines Kalmars. Bildquelle: aufgenommen bei Tauchgängen vor der Küste Norwegens von Sven Gust, Bremen Tafel 29 Biolumineszenz III bei Fischen. A Schwarzer Anglerfisch Melanocetus johnsonii. Beachte: Leuchtende Angelspitze, der Anhang am Bauch ist das angewachsene Zwergmännchen (phänotypische Geschlechtsbestimmung). B Photostomias guernei mit eingeschaltetem Scheinwerfer hinter dem Auge. C Man wehrt sich (Tiefseefisch). D Der pazifische Tiefseefisch Dolichopteryx longipes (spookfish) ist mit vier Spezialaugen, darunter zwei ‚Spiegelteleskopaugen’ ausgestattet (D1). Die mit einer großen, orangefarbenen Linsen bewaffneten Röhrenaugen sammeln auf konventionelle Weise von oben kommendes Licht. Die zwei anderen Augen sind nach unten gerichtet, haben keine Linsen, sind stattdessen mit einem Spiegel aus Guaninkristallen ausgestattet. Dieser Spiegel fokussiert besonders schwaches Licht auf eine eigene Retina (D2). Damit kann Gefahr, die beispielsweise von Licht-aussendenden Räubern ausgeht, erkannt werden. Solche Spiegelteleskopaugen sind bisher einmalig im Tierreich. Näheres hierzu in Wagner HJ et al (2009) A novel vertebrate eye using both refractive and reflective optics. Curr Biol 19:108–114. Bildquellen: A, B Dr. Edith Widder, Harbor Branch Oceanographic Institution (HBOI.edu); C Pierre Descamp; D mit freundlicher Genehmigung von Dr. Tamara Frank, HBOI, Visual Ecology Florida Atlantic University (D1) und Prof. Julian Partridge, Zoology University of Bristol, UK (D2)
Tafel 30 Biolumineszenz IV. Leuchtende Insekten: A Larve des einheimischen Käfers Lampyris noctiluca, „Glühwürmchen“ genannt, Lieferant eines Luciferin-Luciferase Cocktails. B Firefly, so werden verschiedene leuchtende Käferarten genannt. Auch sie liefern Luciferin-Luciferase Cocktails. C Larven der Neuseeländischen Pilzmücke Arachnocampa luminosa lassen leuchtende, klebrige Fangfäden von einer Höhlendecke herabhängen. Bildquellen: A Autor namentlich nicht bekannt; B Prof. Emmanuel Maicas, Univ of Sherbrooke, Moncton Canada; C Werbeplakat für die Waitomo-Höhle Tafel 31 Biene. A Tanz auf der Wabe. B Biene durch Karotunnel fliegend; sie registriert die Anzahl pro Zeit der vorbeistreichenden Schwarz-Weiß-Konturen ( optic flow). C Bienen von der Königin Pheromone empfangend. D Heizbiene. Bildquelle: Helga Heinemann aus „Tautz & Heinemann (2007) Phänomen Honigbiene“ mit freundlicher Genehmigung von Frau Heinemann und dem Spektrum-Verlag Heidelberg Tafel 32 Leben unter extremen Umweltbedingungen. Tiere mit außergewöhnlichen Eigenschaften zum Überdauern in extremen Biotopen. A „Bärtierchen“ (Tardigrade), das ohne Weltraumanzug Weltraumbedingungen überstehen kann. Die Arktische Motte (B), der amerikanische Waldfrosch (C) und die Rotwangenschildkröte (D, red-eared slider) überleben vollständiges Eingefrieren. Der Riffhai (E), der in seichten, sich stark erwärmenden Lagunen Südostasiens vorkommt, und F die indische Gans (Streifengans), die über den Himalaya zieht, kommen mit extrem geringem Sauerstoff aus. Bildquellen: A Mit freundlicher Genehmigung von Martin Mach (www.tardigrades.com). B, C, D Lehrbildsammlung WM; E Kolmarden Tropicarium Sweden; F Courtesy Dave Cullen (www.birddb.co.uk)
Farbtafel 25
Tafel 25
T33
T34
Farbtafel 26
Tafel 26
Farbtafel 27
Tafel 27
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Farbtafel 30
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T40
Farbtafel 32
Tafel 32
22 Der Sehsinn
Man mag darüber diskutieren, welcher unserer Sinne für uns Menschen der bedeutendste ist. Manche plädieren für das Gehör, weil es für die frühkindliche Entwicklung der Fähigkeit zur sozialen Kommunikation so wichtig ist. Unzweifelhaft ist jedoch, dass es der Sehsinn ist, der uns die detailreichsten Informationen über unsere Umwelt vermittelt. Er hat die höchste räumliche Auflösung, erzeugt unendlich viele Formen und Farben, reicht bis in Lichtjahre entfernte Galaxien und erschafft sogar eine unerschöpfliche Vielfalt von Bildern, die nicht direkt übers Auge vermit-
telt werden, sondern nur in der Fantasie und im Traum erscheinen. Die besondere Bedeutung des Gesichtssinnes oder optischen Sinnes hat schon früh das Interesse am Sehvorgang geweckt und die Optik als Zweig der Physik entstehen lassen. Physiker wie Newton, Young, Dalton, Maxwell, von Helmholtz und Mach haben Theorien des Farbensehens entwickelt, die in ihrem Kern Gültigkeit behielten, auch wenn wir mehr und mehr erkennen, dass die gesehene Welt ein Eigenkonstrukt unseres Geistes ist, zu dem Physik und Physiologie nur Ausgangsdaten beisteuern.
BOX 22.1
Zur Physik des Lichtes Licht ist Teil des umfangreichen Spektrums elektromagnetischer Wellen. Der in der Technik und naturwissenschaftlichen Forschung genutzte Bereich reicht von den kurzwelligen, hochfrequenten Gammastrahlen, die von radioaktiven Substanzen ausgehen, bis zu den langwelligen, niederfrequenten Radiowellen, die nicht nur von den Sendemasten des Rundfunks, sondern in größerer Bandbreite von Sternensystemen ausgestrahlt werden. Das gesamte Spektrum elektromagnetischer Schwingungen erstreckt sich, wenn man die Wellenlängen λ oder die zugehörigen Frequenzen (1/λ) misst, über mehr als 16 Größenordnungen (Abb. 22.1). Es ist höchst bemerkenswert, dass im Bereich des Lebens ein sehr schmaler Ausschnitt des Spektrums von einer halben Größenordnung eine überragende Bedeutung hat. Ob es um die Photosynthese geht oder um den Sehvorgang, es ist das gleiche schmale Band, das von Bedeutung ist. Beim menschlichen Auge liegt das Spektrum zwischen 400 und 750 nm Wellenlänge: es ist das sichtbare
Licht. Warum ist es gerade dieses Band, das so bedeutungsvoll ist? Licht im Wellenlängenbereich zwischen 300 und 800 nm ist geeignet, bestimmte Moleküle in einen angeregten Zustand zu versetzen, wobei das Licht von diesen Molekülen (ganz oder teilweise) absorbiert wird. Bei einer Anregung springt die Energie des Lichtes auf das absorbierende Molekül (Farbpigment) über, ohne dass das Molekül zerstört würde (was oft bei kurzwelligen UV- und Gammastrahlen passiert) und ohne dass das Molekül allzu sehr in chaotische thermische Tanzbewegungen versetzt würde (was bei Infrarot- und Mikrowellen passieren kann). Die Anregungsenergie wird von einem Teil des Moleküls, das zu Resonanzschwingungen fähig ist, aufgefangen und abgepuffert. Ein organisches Molekül, das sich in den angeregten Zustand versetzen lässt, ist dadurch gekennzeichnet, dass es ein mesomeres System von π-Elektronen besitzt, die hin und her schwingen können. Man sieht dies der Molekülstruktur an: das Molekül enthält mehrere konjugierte Doppelbindungen (Einfach-Doppel-Einfach-Doppel-Bindung etc.). Das 7
506
22 Der Sehsinn
BOX 22.1 (Fortsetzung)
Retinal des Sehfarbstoffes Rhodopsin (Abb. 22.2) ist ein solches Molekül. Die Energie eines einzelnen Photons (Lichtquants) ist am violetten Ende des Spektrums größer als am roten Ende. Die Energie von 1 „Mol“ (6 × 1023; 1 Einstein) Lichtquanten beträgt 300 bis 170 kJ (zum Vergleich: 1 Mol ATP = 30 kJ). Korrelat zur Farbe und Helligkeit und der WelleLichtquant-Dualismus. In Analogie zu den Verhältnissen bei Schallwellen erwarten wir, dass die gesehene Farbe mit der Frequenz des Lichtes, die gesehene Helligkeit mit der Schwingungsamplitude korreliert sei. Hinsichtlich der Farbe trifft unsere Erwartung zu (s. Box 22.2). Hinsichtlich der Helligkeit jedoch muss sich der Physiologe einer anderen Konvention und Sprachregelung anschließen. Der Dualismus Welle versus Quant ist in der Literatur des Physiologen nur dann von Bedeutung, wenn es um eine geeignete Definition der Lichtintensität geht. Licht, das anregen soll, muss eine gewisse Mindestenergie mitbringen. Der über die Schwellenenergie hinausgehende Energiebetrag ist nicht von Belang. Dass Violettlicht mehr Energie mitbringt als Rotlicht, muss bei der Absorption durch konjugierte Systeme wie Chlorophyll oder Rhodopsin nicht berücksichtigt werden. Wohl jedoch ist die Photonenstromdichte (Quantenstromdichte) von Bedeutung. Je höher die Zahl der pro Fläche und Zeiteinheit einfallenden Photonen
3 x 1020 10-12
3 x 1018 10
-Strahlen 1 pm
3 x 1016
-10
10
Röntgen
-8
3 x 1014 10
10 nm
400 nm 500
1 m
Abb. 22.1. Spektrum elektromagnetischer Wellen
Optik. Wie Lichtintensitäten im Einzelnen definiert und gemessen werden können (Strahlungsfluss, Strahldichte, Bestrahlungsstärke, Lichtmenge, Lichtstrom, Lichtstärke, Beleuchtungsstärke etc.), darüber muss das Lehrbuch der Physik informieren, und ebenso über die Gesetze des Strahlengangs, der Reflexion und der Beugung. Zur Psychophysik der Farben siehe Box 22.2.
10-4 Infrarot
600
Terminologie. Wie beim Gehör wird in der Sprache des Alltags oft nicht sauber zwischen der Welt der Physik und der subjektiven Innenwelt des Sehens unterschieden. Man spricht von Rotlicht und meint elektromagnetische Schwingungen mit geringer Frequenz bzw. langer Wellenlänge. Man spricht von Schwarz und meint das Fehlen von Photonen. Man spricht von Helligkeit und meint Lichtintensität, definiert als Photonenstromdichte. Im Allgemeinen bereitet diese terminologische Vermischung keine besonderen Verständigungsprobleme, und so wollen auch wir keine Beckmesserei betreiben.
3 x 1012
-6
UV
ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Kollektiv von Chlorophyll- oder Rhodopsin-Molekülen Photone absorbiert werden. Als Korrelat der Lichtintensität bzw. der gesehenen Helligkeit wird also die Photonenstromdichte gemessen oder errechnet.
3 x 1010 10
Mikrowellen
-2
Radar
100 m 1 mm 1 cm
700
800
3 x 108
3 x 106
10
102 TV
1m
Hz m 104
UKW Radiowellen 100 m
10 km
22.1 Der Primärvorgang: vom Licht bis zum Rezeptorpotential
11
●
Retinal, dem Aldehyd des Vitamins A1 (ein Terpenoid). Retinal ist die chromophore Gruppe des Rhodopsins und für das Einfangen der Lichtquanten zuständig. Es enthält das hierfür erforderliche System konjugierter Doppelbindungen (Abb. 22.2).
●
Opsin, einem Membranprotein mit sieben Transmembrandomänen (wie die Duftrezeptoren!). Das in Membranen eingebundene Opsin hat die Funktion eines Schalters; es aktiviert die Folgereaktionen.
12
11-cis-Retinal
(O) Retinal NH Lysin C Opsin
O H H 2N all-trans-Retinal
Lysin C Opsin
Abb. 22.2. Retinal
22.1 Der Primärvorgang: vom Licht bis zum Rezeptorpotential 22.1.1 Das lichtabsorbierende System ist in allen sehenden tierischen Lebewesen Rhodopsin – mit geringen Varianten Auch wenn eine solche Aussage gegenwärtig noch kühn ist und im Einzelfall noch belegt werden muss, so sprechen zunehmend mehr molekularbiologische Befunde für die Hypothese, dass vom Einzeller bis zum Menschen (nahezu) alle tierischen Organismen dasselbe System molekularer Antennen zum Einfangen von Licht und zum Starten der Folgereaktionen (Erregung) benutzen. (Die einzigen bisher bekannten Ausnahmen sind einige Tiefseefische, deren Photopigmente dem Chlorophyll ähnlich sind.) Rhodopsin. Der molekulare Komplex, der Licht absorbiert und die Kaskade der Folgeprozesse starten lässt, ist das Rhodopsin oder ein homologer Komplex. Er besteht aus dem
Von Opsin gibt es eine Reihe molekularer Varianten, die jedoch alle zur gleichen Proteinfamilie gehören und von homologen Genen codiert werden. Diese Varianten sind für das Farbensehen von Bedeutung; denn sie nehmen Einfluss darauf, ob das Retinal bevorzugt Photone kurzer, mittlerer oder langer Wellenlänge einfangen kann. Von Retinal gibt es offenbar nur wenige Varianten: Bei Süßwasserfischen und Amphibien findet man 3-Dehydro-Retinal, bei Fliegen und Schmetterlingen 3-OH-Retinal. Unterschiede gibt es hinsichtlich der Membranareale, in denen das Rhodopsin gelagert wird. Bei den Photorezeptoren der Insekten (Retinulae) sind die Rhodopsin-Komplexe in Mikrovilli eingelassen, die seitlich aus der Zelle ausgestülpt werden und an der Längsseite der Zelle aufgereiht sind. Die Mikrovillireihe bildet in ihrer Gesamtheit das Rhabdomer. Bei Wirbeltieren hingegen werden die Rhodopsinbestückten Membranbereiche in ein aufgeblähtes Cilium hineinverlagert. 22.1.2 In den Stäbchen und Zapfen der Wirbeltier-Retina sind die Sehfarbstoffe in Membranen eingelagert, die täglich neu gebildet und ins Zellinnere eingestülpt werden Bei den Photorezeptoren der Wirbeltiere (Stäbchen und Zapfen, Abb. 22.3) sind die Rhodopsine in hoher Dichte in Areale der Zellmembran eingelagert, die ins Zellinnere eingefaltet und in Form von Scheiben (Discs) übereinander gestapelt werden. Die Discs werden an der Basis des Außengliedes eingestülpt. Das Außenglied ist jener Teil der Zelle, der sich evolutionsgeschichtlich von einem Cilium ableitet und sinnesphysiologisch die reizaufnehmende Inputregion repräsentiert.
507
508
22 Der Sehsinn
+ K
Na+
Dunkelstrom NatriumKanäle, verschließbar
Außenglied
Außenglied
Ciliarstruktur
Na+ Ca2+
Innenglied Na+ Ca2+
Innenglied
+ Na+- K -ATPase
Präsynapse mit Glutamat
a
K+
Na+
Stäbchen (rod)
Zapfen (cone)
K+
b
Abb. 22.3a, b. Photorezeptoren. Stäbchen und Zapfen aus der Netzhaut der Wirbeltiere (a). Elektrische Ströme = Ionenströme in einem Photorezeptor (b)
Eine zellbiologische Merkwürdigkeit ist zwar für den Sehvorgang unerheblich, verdient aber doch Erwähnung. Die Außenglieder der Stäbchen und Zapfen sind keine statischen Gebilde, sondern werden laufend erneuert. An der Spitze der Außenglieder werden in tagesperiodischen Schüben wie beim programmierten Zelltod (Apoptose) vesikuläre Teile abgeschnürt und von den Zellen des benachbarten Pigmentepithels aufgefressen. Als Ersatz für die verlorenen Teile werden an der Basis der Außenglieder ebenfalls tagesperiodisch neue Discs hergestellt und nachgeschoben. In den Stäbchen beträgt der Umsatz ca. 100 Discs pro Tag.
Ein Stäbchen enthält (im Gleichgewichtszustand) etwa 1000 Scheiben, von denen jede ca. 50 000 Rho-
dopsinkomplexe enthält. Die Einwärtsverlagerung der sensorischen Membranareale hat Konsequenzen hinsichtlich des Transduktionsprozesses: Von den Discs muss innerhalb der Zelle ein Signal zur Plasmamembran geschickt werden, um dort Transduktionskanäle zu steuern. Beim Zapfen sind die Discs zwar nicht gänzlich von der äußeren Zellmembran abgelöst; dennoch ist auch bei ihnen ein besonderer Signalweg erforderlich, der von den Sehpigmenten in den Discs zu den Ionenkanälen der äußeren Zellmembran hinführt.
22.1 Der Primärvorgang: vom Licht bis zum Rezeptorpotential
22.1.3 Ein molekularer Klappmechanismus leitet den Sehvorgang ein Vor dem Einfangen des Lichtquantes liegt Retinal in der abgewinkelten 11-cis Konfiguration vor. Mit dem Einfangen eines einzigen Photons springt es in die gestreckte all-trans-Form um (Abb. 22.2 u.
22.4). Bei Insekten lässt ein zweites Lichtquant das Molekül wieder in die gewinkelte Form zurückspringen. Ein solcher Flick-Flack-Mechanismus ist dem Wirbeltier zu simpel. In seinen Photorezeptoren wird das Retinal enzymatisch von der gestreckten in die gewinkelte Form zurückgeführt. Dazu muss das Retinal vorübergehend vom Opsin abgekoppelt werden.
Stäbchen-Außenglied
cG MP
PDE
1
MP
inaktiv
Gα
cG
G=Transducin
4
Rhodopsin
Na+
Disc Ca2+
GC MP cG cG
MP
Photon
GTP GTP PDE
GMP
aktiviert
2
GuanylatGC cyclase cGMP
GDP
cG
Abb. 22.4. Signaltransduktion in einem Photorezeptor der Wirbeltier-Retina (Stäbchen oder Zapfen)
MP
Arrestin cG
3
MP
P P
PDE
Dunkelstrom Außenmembran
Dunkelstrom
509
510
22 Der Sehsinn
Das Umspringen des Retinals in die gestreckte Form (Isomerisierung) und sein Abkoppeln hat eine Änderung der Absorptionseigenschaft zur Folge. Das gestreckte und abgehängte Retinal absorbiert nicht mehr im sichtbaren Wellenlängenbereich, sondern nur noch im UV. Das vieluntersuchte Rhodopsin der Stäbchen sieht nun nicht mehr rötlichblau aus (Sehpurpur), sondern ist „gebleicht“, d. h. farblos. Lehrbücher der Physiologie listen in der Regel die Zwischenstufen der Rückverwandlung zum farbigen Sehpurpur auf und belegen sie mit eigenen Namen. Zum Verständnis des Sehvorgangs tragen diese Zwischenstufen indessen nichts bei und werden daher in diesem Buch nicht aufgeführt.
Wirbeltiere scheinen umständlich vorzugehen. Die Wiederherstellung der Ausgangsform des Rhodopsins mit abgewinkeltem Retinal dauert seine Zeit, die sich über Minuten bis zu Stunden erstrecken kann, und erfordert Energie in Form von ATP. Ein solch umständliches Verfahren hätte sich in der Evolution wohl kaum etabliert, hätte es nicht auch Vorteile. Ein erkennbarer Vorteil besteht darin, dass über die Rate der Resynthese auch die Menge des aktivierbaren Rhodopsins gesteuert werden kann. Das ist ein wesentlicher Mechanismus der Helligkeitsadapation. 22.1.4 Ein eingefangenes Photon genügt; eine ungewöhnliche Signaltransduktions-Kaskade verstärkt das Signal Die Stapel der Scheiben in den Stäbchen und Zapfen haben den Vorteil, dass Rhodopsinkomplexe in enormer Zahl und Dichte verpackt werden können. Damit wird die Wahrscheinlichkeit, dass ein vorbeistreichendes Photon eingefangen werden kann, gewaltig gesteigert. Betrachten wir im Weiteren allein die Stäbchen im Auge des Säugers. Sie enthalten besonders viele Membranscheiben und sind besonders lichtempfindlich. Das Auge des Menschen enthält (s. auch Tabelle 22.1):
bran. Es ist jedoch die äußere Zellmembran, deren elektrische Spannung zum Rezeptorpotential moduliert werden soll. Nach Berechnungen der Photonenausbeute an der unteren Sehschwelle kann bisweilen ein einziges eingefangenes Photon genügen, um in einem Stäbchen eine messbare Modulation seines elektrischen Membranpotentials auszulösen. Es muss also Mechanismen geben, die ●
einen räumlichen Signaltransfer zwischen den Scheiben im Innenraum und der Zellmembran vermitteln und
●
das Signal verstärken.
Zum Verständnis des folgenden Abschnittes ist es sehr hilfreich, wenn man zuvor die Kap. 12 (Signaltransduktion) und 14 (Elektrophysiologie) gelesen hat. In den Stäbchen und Zapfen enthält die Kaskade der Signaltransduktion gegenüber den in Kap. 12 erörterten Referenzfällen einige ungewöhnliche Teilschritte (Abb. 22.4): 1. Lichtaktivierung des Rhodopsins. Das OpsinProtein ist mit seinen sieben Transmembrandomänen einem molekularen Rezeptor gleichzusetzen. Das Opsin ist äußerlich strukturverwandt mit einem Rezeptor für z. B. Adrenalin oder einen Duftstoff. In der gestreckten Form kann das Retinal mit einem eingefangenen Signalmolekül (Liganden für den Membranrezeptor) gleichgesetzt werden. 2. Aktivierung eines G-Proteins. Im Fall der Photorezeptoren heißt das G-Protein Transducin. Die Aktivierung schließt die Bindung von GTP an das Transducin ein. Die spätere Hydrolyse des GTP zu GDP inaktiviert das Transducin wieder.
●
100 Mio. Stäbchen (und 5–6 Mio. Zapfen),
●
jedes Stäbchen enthält 800 Scheiben
●
und insgesamt >50 Mio. Rhodopsinkomplexe.
3. Vernichtung eines second messengers. Das Transducin aktiviert seinerseits ein Enzym, das einen second messenger nicht erzeugt, sondern vernichtet. Das Enzym ist eine Phosphodiesterase PDE; das vernichtete Botenmolekül ist cyclisches Guanosin-Monophosphat cGMP, das zum 5′-Guanosin-Monophosphat, 5′-GMP, hydrolysiert wird.
Diese Konstruktion hat jedoch auch einen Nachteil: Die Rhodopsinkomplexe der Stäbchen liegen im Zellinneren, getrennt von der äußeren Zellmem-
4. Benachrichtigung der Zellmembran. Wir sind es gewohnt, dass ein Signalmolekül von einem Sender ausgesandt wird und zum Empfänger
22.1 Der Primärvorgang: vom Licht bis zum Rezeptorpotential
hingelangt, wo es seine Botschaft abliefert. Hier ist es nicht so. Die Botschaft besteht darin, dass Botenmoleküle vom Empfänger, der Zellmembran, abgezogen werden. Weil an den Discs Botenmoleküle vernichtet werden, wirken die Discs wie ein Abfluss (engl: sink). cGMP-Moleküle strömen ihrem Diffusionsdruck folgend von einem Ort höherer Konzentration in Richtung Abfluss nach. Dieser Herkunftsort höherer Konzentration ist nun eben die äußere Zellmembran, wo sich im unbelichteten Auge cGMP-Moleküle an Kanälen aufhalten, durch die Na+ in die Zelle einsickern. Verstärkungseffekt. Vermittelt durch die katalytische Wirkung des Rhodopsins und der Photodiesterase kann 1 lichtaktiviertes Rhodopsin die Hydrolyse von bis zu einer Million cGMP bewirken. Dies entspricht einer Signalverstärkung von bis zu 1:106. Tatsächlich wurden 250 000 cGMP pro Photon gemessen. Die Kaskade beginnt also nach dem klassischen Schema, wie wir es vom Rezeptor des Hormons Adrenalin (β-Rezeptor) und von den Rezeptoren der Riechzellen her kennen: molekularer Rezeptor (Rhodopsin), G-Protein (Transducin), Enzym (Phosphodiesterase), second messenger. Das Ungewöhnliche ist nicht so sehr, dass als second messenger nicht cAMP, sondern cGMP fungiert. Das Ungewöhnliche ist, dass es zur Vernichtung des second messenger’s kommt. Ungewöhnlich auch die Konsequenz: Es kommt nicht zu einer Depolarisation, sondern zu einer Hyperpolarisation des Membranpotentials. 22.1.5 Die Photorezeptoren der Wirbeltiere sind ungewöhnlich; sie unterhalten im Dunkeln dauernd einen elektrischen Strom, den sie bei Belichtung abschalten Wie alle erregbaren Zellen herrscht auch über der äußeren Zellmembran der Stäbchen und Zapfen eine elektrische Ruhespannung, bei der das Zellinnere dem Minuspol eines Akkus, das Zelläußere dem Pluspol entspricht. Verantwortlich für diese Spannung ist ein (geringfügiger) Überschuss an unbeweglicher negativer Ladung im Zellinneren und eine Akkumulation von positiv geladenen KaliumIonen an der Membranaußenseite. Diese Kalium-
Ionen waren zuvor aus dem Zellinneren kraft ihres nach außen gerichteten Diffusionsdruckes entwichen und hatten die unbeweglichen negativen Ionen (phosphorylierte Proteine) zurückgelassen. In dunkeladaptierten Photorezeptoren ist die Ruhemembranspannung geringer als in anderen erregbaren Zellen; sie beträgt nur −30 mV statt der üblichen −70 mV. Das rührt daher, dass die Kationen-Kanäle der äußeren Zellmembran nicht ganz geschlossen sind. Sie werden von je vier cGMPMolekülen ein Stück offen gehalten. Es dringen deswegen laufend Na+- und Ca2+-Ionen in das Außensegment der Zelle ein und neutralisieren negative Ladung. Andererseits kann laufend eine entsprechende Menge K+-Ionen aus der Zelle herausströmen – vor allem im Innensegment (Abb. 22.3). Der unablässige Einstrom von Kationen (Na+, Ca2+) in die Zelle und Ausstrom von Kationen (K+) aus der Zelle, ist als Dunkelstrom messbar und hält das Membranpotential bei −30 mV. Ionen-Transporter wie die allgegenwärtige Na+/ K+-ATPase und weitere Kationen-Austauscher im Außensegment sorgen dafür, dass trotzdem die Diffusionsgefälle für Na+, K+ und Ca2+ erhalten bleiben und der Strom nicht zum Erliegen kommt. Dieser nächtliche Ruhestrom – Na+ rein, K+ raus – ist ein Stand-by-Strom, der die Bereitschaft der Zelle indiziert, bei Belichtung den Stromfluss zu modulieren. Wenn nun aufgrund einer Belichtung cGMPMoleküle an den Discs vernichtet werden, verlassen die cGMP an den Natrium-Kanälen dem Massenwirkungsgesetz folgend ihren Platz. Die Kanäle schließen sich (Abb. 22.4). Die Zellmembranspannung steigt von −30 mV auf −80 mV. Man misst statt der üblichen Depolarisation (wie z. B. auch in den Photorezeptoren der Insekten) eine Hyperpolarisation. Diese Hyperpolarisation veranlasst die Stäbchen- oder Zapfenzelle, an ihren Synapsen weniger von dem Transmitter Glutamat freizugeben. Auch wenn nun weniger Transmitter ankommt, wissen die nachgeordneten Nervenzellen, dass dies als positives Signal zu interpretieren ist und reagieren darauf, indem sie ihrerseits ihr Membranpotential modulieren (On-Zellen depolarisieren, Off-Zellen hyperpolarisieren, s. unten, Abschn. 22.4.2). Die Lichtreaktion in den Photozellen muss auch wieder abgeschaltet werden. Negative Rückkopplungsschleifen sorgen dafür, dass sich Transducin
511
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22 Der Sehsinn
selbst inaktiviert. Rhodopsin wird nahe seinem CTerminus phosphoryliert, und an die so markierte Domäne bindet ein Arrestin. Nun wird das Retinal freigesetzt, im Recyclingverfahren enzymatisch in die 11-cis-Form überführt und an neues Opsin gekoppelt.
22.2 Abbildung: Vorbedingung für Musterund Bewegungssehen 22.2.1 Im Tierreich gibt es zwei verschiedene Systeme der räumlichen Abbildung: Facetten- und Kameraauge Licht kommt von unterschiedlichen Quellen ins Auge, von aktiven Sendern und von bloßen Reflektoren. Das meiste und differenzierteste Licht kommt von Gegenständen der Umwelt, die Sonnenlicht nach den Gesetzen der Optik reflektieren, aber einige Komponenten (Wellenlängen) für sich behalten. Die Richtung der einfallenden Lichtstrahlen lässt Rückschlüsse zu über die Position eines reflektierenden Gegenstandes, seine Form und Größe; die spektrale Zusammensetzung des Lichtes gibt Auskunft über seine Farbe, das heißt über sein Vermögen, Licht bestimmter Wellenlängen zu schlucken. Zoologen unterscheiden verschiedene Stufen der Sehfähigkeit, beginnend mit dem bei Wirbellosen verbreiteten flächigen Hautlichtsinn (dermato-optischer Sinn), der nur die allgemeine Helligkeit und grobe Hauptrichtung des Lichteinfalls registrieren kann. Dann folgen Systeme, die präziser die Herkunft der Lichtstrahlen orten und in groben Umrissen ein Helligkeitsmuster der Umwelt widerspiegeln können. Sie leiten über zu den Hochleistungsaugen, die zum Bildsehen befähigen. Bildsehen (Formensehen, Mustersehen) ist nur möglich, wenn die Lichtstrahlen, die von verschiedenen Orten der Umwelt kommen, in gesetzesmäßiger Weise auf verschiedene, räumlich getrennte Photorezeptoren fallen. Das nennt man Abbildung oder Projektion. Man braucht also ein Feld aus mehreren – und möglichst vielen – Photorezeptoren, die Licht von verschiedenen Orten der Umwelt einsammeln. Die datenverarbeitenden Instanzen können dann aus den Meldungen der vielen einzelnen Photorezeptoren ein Bild konstruieren,
ähnlich wie im Bild des impressionistischen Pointilisten viele Pinseltupfer oder auf dem Bildschirm des Computers zahlreiche Pixel das Gesamtbild zusammenstellen. Aus der Stärke, mit der jeder einzelne Photorezeptor erregt worden ist, kann die zentrale Auswertanlage im Gehirn auf die Helligkeit jedes einzelnen Bildpunktes schließen. Im Kameraauge tasten die Photorezeptoren das Abbild nach den örtlichen Helligkeitswerten ab (Abb. 22.5). Selbstredend ist die räumliche Auflösung des Auges umso besser, je kleiner die Rezeptoren sind und je dichter sie beisammen stehen. Auflösungsbegrenzend ist der optische Abstandswinkel α, den die einzelnen Photorezeptoren zueinander haben. Die Sehschärfe ist der Kehrwert 1/α. Sie beträgt beim Menschen (in der Fovea) eine Winkelminute (1/60°); dies entspricht einem mittleren Zapfenabstand von 5 nm. Mustersehen wird unmittelbar zum Bewegungssehen, wenn das System der Datenverarbeitung die zeitliche Veränderung eines Helligkeitsmusters analysiert. Die Natur hat in der Evolution zwei grundsätzlich verschiedene technische Gerätschaften entwickelt, die sich eignen, die räumliche Herkunft des Lichtes zu orten (Abb. 22.5, s. auch Abb. 22.17): 1. Das Facettenauge (Komplexauge): Hier blicken viele Miniäuglein (Ommatidien) getrennt in verschiedene Himmelsrichtungen. Jedes Miniauge misst wie ein Belichtungsmesser integrierend die Helligkeit eines kleinen Ausschnittes der Umwelt. 2. Das Kameraauge, bei dem die Lichtstrahlen auf eine Retina projiziert werden, die in die Tiefe einer Körperhöhle verlagert ist. Evolutionsgeschichtlich lässt sich das Kameraauge in drei Stufen der Vervollkommnung aus dem flächigen Hautlichtsinn ableiten; dies wird in Kap. 22.5 beschrieben und diskutiert.
22.2.2 Gutes Bildsehen setzt konstruktive Lösungen voraus, die nur für die Fovea centralis erfüllt sind Bildsehen ist an mehrere Bedingungen geknüpft: ●
Lichtstrahlen, die von einem Punkt der Umwelt ausgehen, müssen nach dem Durchtritt durch die
22.2 Abbildung: Vorbedingung für Muster- und Bewegungssehen Abb. 22.5a, b. Abbildungsweise in einem Kameraauge (a) und einem Komplexauge (Facettenauge, b)
a
b Auflösung durch Rezeptordichte bestimmt
Linse wieder auf einem Punkt konvergieren. An diesem Punkt muss ein Photorezeptor stehen. ●
Lichtstrahlen, die von verschiedenen Punkten ausgehen, müssen auf verschiedenen Punkten der Retina konvergieren. Nur wenn das von der Linse eingesammelte Licht nach dem Durchtritt durch die Linse wieder fein säuberlich aufgetrennt wird und je nach Herkunftsort auf verschiedene Rezeptoren projiziert wird, sind die optischen Voraussetzungen für Bildsehen erfüllt (Abb. 22.6 u. 22.17).
Bei optischen Systemen mit einem ordentlichen dioptrischen Apparat liegen alle Projektionspunkte in einer Fläche, in der Bildebene. Sie muss im Photoapparat flach und eben sein, weil der Film flach und eben ist. Im Auge sollte die Bild „ebene“ keine Ebene sondern eine gewölbte Fläche sein. Wenn alle Bildpunkte in der (gewölbten) Fläche liegen, in der auch die Photorezeptoren liegen, und wenn Punkte auch Punkte und nicht überlappende Flächen sind, ist das Bild scharf. Optische Unstimmigkeiten lassen es beim Wirbeltierauge nicht zu, ein scharfes Bild über die ganze Retinafläche zu erzeugen. Das optische System beschränkt sich darauf, den interessierenden
Auflösung durch Ommatidiendichte bestimmt
Bildteil auf eine kleine Fläche der Retina zu lenken, wo im Regelfall eine scharfe Abbildung gewährleistet ist. Diese kleine Fläche ist die Fovea centralis („zentrale Grube“). Während überall sonst in der Netzhaut das einfallende Licht erst die funktionell nachgeschalteten Zellen (Bipolar-, Amakrin-, Ganglienzellen) passieren muss, bevor es die Photorezeptoren erreicht (Abb. 22.5), ist in der Fovea alles zur Seite geräumt. Die Netzhaut ist dort wesentlich dünner; das Licht wird geringer gestreut und erreicht auf kurzem Weg die Photorezeptoren. Im kreisrunden, 3–4 mm2 umfassenden Areal der Fovea stehen dicht an dicht (hochgerechnet) ca. 450 000 Zapfen, die alle einzeln über bipolare Nervenzellen mit fortleitenden Ganglienzellen verbunden sind. Das Auge muss auch mit dem Mangel eines blinden Flecks zurechtkommen. Dies ist der Ort, wo die gebündelten Axone der retinalen Ganglienzellen als Sehnerv (Nervus opticus) das Auge verlassen. An der Austrittsstelle des Nerven bleibt kein Platz für Photorezeptoren. Die Natur hat einen Trick gefunden, diesen Mangel zu vertuschen. Bei der exzentrischen Lage des blinden Flecks – er liegt näher zur Mittellinie als die Fovea – fällt Licht von einem Punkt des Sehfeldes nie gleichzeitig auf die blinden
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22 Der Sehsinn Abb. 22.6a, b. Struktur der Retina, stark vereinfacht (a). Dichte der Photorezeptoren in der Retina (b)
Pigmentepithel
Photorezeptoren
Zapfen (cone) Horizontalzellen
Stäbchen (rod)
Rhodopsin als Photopigment
Bipolare Amakrine photosensitive Ganglienzelle mit Melanopsin oder Cryptochrom als Photopigment Ganglienzellen
Papille des Nervus opticus = blinder Fleck
Sehachse beim Fokussieren
Macula lutea (gelber Fleck) und Fovea centralis (zentrale Grube) Ort des schärfsten Sehens
a Licht
Flecke beider Augen. Es bleibt bei einem monokularen Defizit, der in der Regel nicht bemerkt wird. (Ein Versuch, ihn nachzuweisen, ist z. B. beschrieben in: von Campenhausen (1993) Abb. 117).
22.2.3 Augenbewegungen fokussieren die Strahlen in die Fovea centralis und erhöhen die Sehschärfe Drei Arten von Augenbewegungen helfen, das Sehbild einzufangen und auszuwerten:
●
Optokinetische Bewegungen. Hier geht es um Bewegungen des Kopfes und, falls möglich, der Augäpfel, um Bilder einzufangen und auf der Netzhaut eine genügende Weile festzuhalten, damit sie in Ruhe ausgewertet werden können. Unsere Augenmuskeln drehen das Auge reflektorisch so, dass der interessierende Bildausschnitt stets auf die Fovea fällt. Das nennt man Fixieren. Die Gerade von einem fixierten Objekt hin zur Fovea ist die Sehachse (sie stimmt nicht genau mit der physikalischen optischen Achse überein). Bei einer Hand, die man auch nur um 30° von
22.2 Abbildung: Vorbedingung für Muster- und Bewegungssehen
merksamkeit dann wieder eine Weile konzentrieren kann. ●
3
Rezeptordichte x 10 pro mm2
Peripherie
Fovea Fovea centralis
180 Stäbchen
Zapfen
Stäbchen
140
100
60
20
b
25 20 15 10 5 0 5 10 15 20 25 nasal temporal Entfernung von Fovea in mm
Abb 22.6b.
der Sehachse wegbewegt, kann man schon nicht mehr die Finger zählen. ●
Nystagmus und Sakkaden. Wenn wir im Eisenbahnabteil unserem Nachbarn in die Augen blicken, sehen wir in der Regel nur die langsamen Augenfolgebewegungen (Nystagmus), mit denen ein bereits fixiertes, bewegliches Objekt verfolgt wird. Der Nystagmus ist eine optokinetische Reaktion, die bei allen Wirbeltieren mit gut beweglichen Augäpfeln zu beobachten ist. Sie werden ergänzt durch Sakkaden, recht flinken Augenbewegungen zum Erhaschen eines neuen Blickpunktes, auf den sich unsere Auf-
Augenzittern (Mikronystagmus). Von uns selbst und von unseren Nachbarn unbemerkt, macht unser Auge schnellste und feinste Zitterbegwegungen. Sie ermöglichen es, feinste Details besser zu erfassen, als die an sich dürftige optische Qualität des Auges erlauben sollte. Konturen, die sich hin und her bewegen, erzeugen im Auge zeitliche Erregungsmuster, die das Gehirn zur Konstruktion des Bildes mit heranzieht.
Wer aber bestimmt in unserem Gehirn – fast immer ohne unsere bewusste Steuerung – was interessant ist? Diese selbst interessante Frage nach dem Interessanten kann derzeit nicht beantwortet werden. Jedenfalls ist der Neuigkeitswert von Bedeutung, der wiederum dem Vergleich des Gesehenen mit dem im Gedächtnis Gespeicherten entnommen wird. 22.2.4 Im Linsen-Kameraauge muss eine Entfernungseinstellung (Akkomodation) vorgenommen werden; das kann über verschiedene Mechanismen geschehen Die Lage der Bildfläche hinter der Linse ist eine Funktion des Abstandes des Objektes vor der Linse und der Brennweite des dioptrischen Systems. Ein Linsensystem kann nahe und ferne Objekte nicht gleichermaßen scharf in der Retinafläche abbilden, auch nicht in der Fovea centralis. Wir wissen von unserem Fotoapparat, dass bei kurzen Brennweiten (Weitwinkelobjektive) die „Tiefenschärfe“ oder „Schärfentiefe“ groß ist. Die Strahlen sind hinter der Linse nahezu achsenparallel und eng genug gebündelt, sodass Bildpunkte zu Säulen und entsprechend die Bildfläche zu einer tiefen Bildschicht gedehnt sind. Bei solch tiefen Bildschichten kommt es nicht so sehr darauf an, in welcher Ebene genau die Stäbchen und Zapfen liegen; ferne wie nahe Gegenstände werden gleichzeitig ausreichend scharf abgebildet; eine besondere Entfernungseinstellung ist nicht erforderlich. Anders bei Normal- oder gar Teleobjektiven. Hier muss eine Entfernungseinstellung vorgenommen werden. Unser Auge hat eine Brennweite von f = 17 mm. Trotzdem ist es kein Weitwinkelobjektiv, weil der Abstand Linse Retina kürzer ist als der Abstand Linse Filmebene im Fotoapparat. Das f = 17 mm unseres Auges entspricht dem Normalobjek-
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516
22 Der Sehsinn
Ciliarmuskel Zonulafasern
Fisch
Fovea centralis
Nah-Einstellung
fern
nah
Kormoran
hydrostat. Druck
Ringmuskel Fern-Einstellung
a
b
nah unter Wasser
fern in Luft
Abb. 22.7a, b. Akkommodation (Entfernungseinstellung) im Auge des Säugers/Menschen. Beachte den unterschiedlichen Kontraktionszustand des Ciliarmuskels (a). Akkommodation bei einem Fisch und beim Kormoran, bei dem die durch Mus-
kelkraft erzwungene Vorwölbung der Linse nicht nur wie bei anderen Vögeln der Naheinstellung dient, sondern auch (wie bei anderen tauchenden Vögeln) der Anpassung des Auges an das Sehen unter Wasser (b)
tiv mit f = 50 mm beim Fotoapparat alter Art und f ≅ 30 bei Digitalkameras).
Nachlassende Elastizität der Linse im Alter ist Ursache dafür, dass im Alter eine Naheinstellung nicht mehr gelingen will. Man braucht eine Lesebrille. Die Altersweitsichtigkeit ist keine geistige Weitsichtigkeit! Weitsichtig waren indes Thomas Young und Hermann von Helmholtz, die schon im vorigen Jahrhundert die soeben vorgetragene Theorie der Akkomodation aufgestellt haben.
Akkomodation im Auge des Menschen. Die Linse ist über rings ansetzende Faserzüge (Zonulafasern) in einer ringförmigen Fassung, dem Ciliarkörper, aufgehängt. Diese Fassung ist elastisch und von einem Ringmuskel umgeben. In der Einstellung auf die Ferne weitet der hydrostatische Binnendruck im Augapfel den Ring des Ciliarkörpers; die Aufhängefasern sind gespannt, die Linse ist radial gedehnt, ihre vordere Wölbung abgeflacht (Abb. 22.7). Bei der Naheinstellung kontrahiert sich der Ringmuskel, die Linsenfassung wird (nach Art einer Pupille) enger, die Zugspannung auf die Aufhängefasern lässt nach und die Linse nimmt aufgrund ihrer Eigenelastizität eine stärkere Wölbung ein.
Zoologisches zur Scharfeinstellung und Anpassung an den Lebensraum: Es gibt im Tierreich mehrere Möglichkeiten der Entfernungseinstellung (Abb. 22.7b): 1. Die Lage der Linse wird verschoben; zur Naheinstellung wird die Linse ausgefahren und dem Objekt genähert. So machen es der Fotoapparat, der Fisch und der Frosch.
22.2 Abbildung: Vorbedingung für Muster- und Bewegungssehen
2. Die Brennweite der Linse wird verändert. In der Ruhestellung ist die Linse gering gekrümmt und auf die Ferne eingestellt. Zur Naheinstellung wird die Vorderfläche der Linse stärker vorgewölbt; damit wird die Brennweite der Linse verkürzt. Dazu gibt es zwei Untermöglichkeiten: ●
Beispiel Vögel: Die Linse wird über einen Ringmuskel der Iris gequetscht.
●
Beispiel Säuger: Wie oben für den Menschen erläutert, steht die Linse bei Ferneinstellung unter Zugspannung; bei Naheinstellung darf die Linse ihre stärker gekrümmte, entspannte Form einnehmen.
Wassertiere, tauchende Tiere brauchen andere Linsen als Tiere, die in der Luft leben. Die Unterschiede in der Brechkraft zwischen Wasser und Linse sind viel geringer als zwischen Luft und Linse. Zur Kompensation muss eine Linse unter Wasser viel stärker gekrümmt sein. Fische haben nahezu kugelförmige Linsen; eine stärkere Krümmung ist nicht mehr möglich. Daher erfolgt die Naheinstellung durch Vorschieben der Linse. Ein Kormoran quetscht beim Eintauchen ins Wasser sein Auge über Muskeln in einer Weise, dass sowohl die Hornhaut wie die Linse sich stärker vorwölben. Die stärkere Krümmung ermöglicht nicht nur eine Nahakkommodation, sondern passt zugleich das Auge den veränderten Brechkraftverhältnissen unter Wasser an.
von der Sehbahn ab und führt über parasympathische Nervenbahnen zur glatten Muskulatur der Iris. Eine Sollwertverstellung ist möglich. Soweit es die Lichtverhältnisse erlauben, wird die Blende zugezogen, weil damit durch Ausblenden der Randstrahlen das Retinabild an Schärfentiefe gewinnt. Wie beim Fotoapparat ist bei Naheinstellung ein Gewinn an Schärfentiefe besonders vorteilhaft. Unser Auge arbeitet nach einer Belichtungsautomatik, die nach Möglichkeit der Schärfentiefe Vorrang einräumt. In der zweiten Stufe der Anpassung an unterschiedliche Lichtverhältnisse setzen wir Sensoren unterschiedlicher Empfindlichkeit ein. In der Dämmerung schalten wir unsere Schwachlichtrezeptoren, die Stäbchen ein, am hellen Morgen die Starklichtrezeptoren, die Zapfen. In der physiologischen Fachsprache spricht man von skotopischem Sehen (Schattensehen) und photopischem Sehen (Lichtsehen). Der Farbentüchtige bemerkt die Umstellung. Mit dem Einschalten der Stäbchen in der abendlichen Dämmerung verlieren wir die Fähigkeit, Farben zu unterscheiden und sehen nur noch Graustufen. Stäbchen entsprechen einem hochempfindlichen SchwarzWeiß-Film; die Zapfen einem geringer empfindlichen Farbfilm. Aber unser Auge kann viel mehr. Beim Übergang vom Zapfensehen (photopisches System) zum Stäbchensehen (skotopisches System) wird auf mehreren Ebenen ein Gewinn an Lichtausbeute erzielt. ●
Einzelsensitivität: Jedes einzelne Stäbchen hat mehr Discs und mehr Rhodopsin als ein Zapfen. Darüber hinaus kann jedoch bei Bedarf durch Neusynthese von Rhodopsin der Gehalt enorm gesteigert werden. Man braucht allerdings bis zu zwei Stunden Zeit, um sich voll an eine schwach beleuchtete Umwelt anzupassen. Am Ende sind die Stäbchen 1000mal lichtempfindlicher als die Zapfen.
●
Anzahl: Wir haben 100 bis 130 Mio. Stäbchen aber nur 5–6 Mio. Zapfen.
●
Konvergenz: Um die Sensitivität für Schwachlicht weiter zu erhöhen, sind mehrere Stäbchen durch Gap junctions zu funktionalen Einheiten verbunden, und je 130 Stäbchen liefern ihre Meldungen an ein und dasselbe Neuron. Beim nachtaktiven Tiger gar konvergieren je 2500 Stäbchen auf ein Neuron. Damit ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Neuron zum Feuern gebracht wird, entsprechend gesteigert. Die so gewonnene Emp-
22.2.5 Helligkeitsanpassung: Pupille, Inbetriebnahme der Stäbchen oder Zapfen und Steuerung der Rhodopsinmenge erlauben eine Anpassung über mehrere Größenordnungen Zwischen dunkler Nacht und gleißendem Sonnenlicht liegen mehrere Größenordnungen (bis zu elf!) an Intensitäten (wie immer man auch Intensität definiert). Die Irisblende der Pupille erlaubt eine relativ rasche Adaptation. Bei offener Blende gelangt bis zu 80-mal mehr Licht ins Auge als bei zugezogener Blende. Eine reflektorische Verengung der Pupillenöffnung reicht umgekehrt oft schon aus, um bei hellem Licht eine Blendung des Auges zu vermeiden. Die Reflexkette des Regelkreises läuft von den Zapfen der Netzhaut über den Sehnerv, zweigt aber bald
517
518
22 Der Sehsinn
findlichkeitssteigerung geht freilich auf Kosten der räumlichen Auflösung. Der Öffnungsgrad der Gap junctions ist regulierbar. Je nach Bedarf können so mehr oder weniger Stäbchen zu funktionellen Einheiten zusammengefasst werden. Regulierbare synaptische Verbindungen gibt es auch zwischen Zapfen und Stäbchen. Sie dokumentieren die Fähigkeit des Auges, sich dynamisch auf wechselnde Anforderungen einstellen zu können. Diese Dynamik ist die ‚höhere Mathematik‘ des Sehsystems und kann im Rahmen eines einführenden Lehrbuches nicht behandelt werden.
Wo es auf höchste räumliche Auflösung ankommt, in der Fovea centralis, haben alle die dort versammelten 450 000 Zapfen eine eigene Zuleitung zu den höheren datenverarbeitenden Instanzen. In der Dämmerung allerdings wird die Fovea beim Unterschreiten einer kritischen Lichtintensität zu einem zweiten blinden Fleck. (Der erste permanente blinde Fleck kennzeichnet die Stelle, wo der Sehnerv das Auge verlässt und weder Zapfen noch Stäbchen Platz finden.) Zoologisches. Ausgesprochene Dämmerungsund Nachttiere haben in der Regel (fast) nur Stäbchen, so die Fledermäuse. Ausgesprochene Tagtiere wie Geckos und viele Vögel haben umgekehrt die Zahl der Zapfen auf Kosten der Stäbchen erhöht. Tiere, die Tag und Nacht aktiv sind wie Katzen und Kaninchen, und ebenso wir Menschen haben ca. 95% Stäbchen und 5% Zapfen. Retinomotorik. Manche Fische können tagsüber die Außenglieder ihrer empfindlichen Stäbchen aus der Bildebene heraus nach hinten in den Schutzschirm des Pigmentepithels schieben. Nachts ziehen sie die Außenglieder der Stäbchen wieder aus der Pigmentschicht heraus und in die Bildfläche hinein, und schieben stattdessen die Außenglieder der Zapfen in die verdunkelte Schlafkammer hinein. Eine solche Retinomotorik scheint es bei Säugern nicht zu geben.
Wie Stäbchen oder Zapfen ein- oder ausgeschaltet werden, darüber werden gegenwärtig Hypothesen geschmiedet. Sie argumentieren mit der Fähigkeit des Auges, auf der Ebene der Stäbchen und Zapfen die querverbindenden elektrischen Synapsen zu regulieren und auf den nachgeschalteten Ebenen der Neurone auch die Arbeitsweise und Ansprechbarkeit der chemischen Synapsen. Jedenfalls wird darüber hinaus die Menge des Rhodopsins gesteuert. Die Umschaltung wird erfahrbar ●
durch unsere Lichtempfindlichkeit. Schaltet man nachts das Licht an, sind wir geblendet und das Auge schmerzt, bis die Sensitivität der Stäbchen heruntergedrosselt ist. Umgekehrt wird das Einschalten der Stäbchen durch verbessertes Sehen im Dämmerlicht erfahrbar;
●
durch das Purkinje-Phänomen. Stäbchen absorbieren optimal im kurzen Wellenlängenbereich um 500 nm, der beim Tagsehen überwiegend die Blaurezeptoren reizt. Der Pullover, der am hellichten Tag leuchtend rot erscheint, wird in der Dämmerung dunkler und dunkler und schließlich schwarz. Der tagsüber wenig auffallende blaue Pullover hingegen gewinnt an relativer Helligkeit.
●
durch den Verlust oder Gewinn der Farbtüchtigkeit. Nur mit Zapfen können wir Farben unterscheiden und diese brauchen mehr Licht als die Stäbchen. Der Umkehrschluss ist allerdings nicht zulässig. Stäbchen sind nicht notgedrungen tagsüber gänzlich außer Betrieb. Sie könnten sehr wohl dazu beitragen, wieviel Schwarz, Grau oder Weiß der gesehenen Farbpalette beigemischt ist.
BOX 22.2
Zur Psychophysik der Farben Es gibt in der Wissenschaft einen wunderbaren Paradefall für die Entwicklung und das Schicksal wissenschaftlicher Theorien. Dieser Paradefall ist die Entwicklung der Theorie des Farbensehens. Es haben sich zwei konkurrierende Theorien herausgebildet, die eine wurde zur dominierenden Theo-
rie des Schulbuchs, die andere zur wenig beachteten Außenseitertheorie. Das Befriedigende ist, dass in diesem Fall nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung beide Theorien Recht bekamen, keine aber vollständig und beide auf verschiedenen physiologischen Ebenen. Beide trugen komplementäre Kernaussagen zur heutigen Sicht bei. Theorienbildung beginnt meistens mit alltäglichen Beobachtungen. 7
519
22.2 Abbildung: Vorbedingung für Muster- und Bewegungssehen
BOX 22.2 (Fortsetzung)
Reine Psychologie: Urfarben, Farbenkreis und Farbenraum Urfarben. Es gibt im Spektrum der gesehenen Farben vier Farbtöne, die uns rein erscheinen und nicht den Eindruck vermitteln, als wären sie zusammengesetzt. Diese vier Farben sind Blau, Grün, Gelb und Rot. Es sind neben den „unbunten“ Farben Schwarz, Grau und Weiß (und der schwer definierbaren Mischfarbe Braun) die einzigen Farben, die in der deutschen Sprache einen eigenen Namen haben. Alle anderen Farbtöne werden mit Mischworten belegt (Blaugrün) oder man benennt die Farbe nach einem bekannten Objekt, das diesen Farbton aufweist (orange nach Orange, violett nach Viola = Veilchen). Farbenkreis. Eine der bemerkenswertesten Eigenschaften unseres visuellen Systems ist es, dass es die lineare physikalische Wellenlängenskala nicht einfach getreu widerspiegelt. Vielmehr werden die bunten Farbtöne in unserer Empfindungswelt zu einem geschlossenen Kreis verbunden. Erhält man die Aufgabe, nach purem Eindruck Farbtöne zu ordnen, wird man spontan Gelbgrün zwischen Gelb und Grün, Blaugrün zwischen Blau und Grün einschieben. Man wird aber auch violett und Purpur zwischen Blau und Rot einordnen. Man erhält einen geschlossenen Kreis, bei dem der zwischen Blau und Rot vermittelnde Farbton Purpur keiner definierten Einzelwellenlänge entspricht, sondern nur durch Farbmischung erzeugt werden kann. Das diskutieren wir nachfolgend genauer. Zuvor erweitern wir erst den Farbenkreis zur Farbenscheibe und zum Farbenraum. Farbenscheibe. Farbtöne treten in verschiedenen Sättigungsgraden auf; sie können blasser und blasser werden, bis mit Weiß der Sättigungsgrad Null erreicht ist. Zwischen sattem Rot und Weiß liegt Rosa, zwischen sattem Blau und Weiß vermittelt blasses Himmelsblau. Spielt man dies für alle Farben durch, erhält man eine Farbscheibe. In der Peripherie der Scheibe sind die gesättigten Farben aufgereiht, im Zentrum liegt Weiß (Abb. 22.8a). Um die kontinuierlichen Übergänge vom gesättigten Farbton zum Weiß ansprechen zu können, hat
man das Wort der zunehmenden Weißverhüllung geprägt. Der Einfachheit halber beschränken wir uns auf die bunten Farben des Regenbogens und lassen Glanzfarben wie Gold und Silber aus dem Spiel. Auch wollen wir außer Acht lassen, dass das Weiß der Milch sehr verschieden ist vom farblosen Weiß des klaren Wassers. Das Weiß von Milch und Papier reflektiert alle Spektralfarben (100% Reflexion), das Weiß von Wasser und einer Glasscheibe lässt alle Spektralfarben passieren (100% Transmission). Gemeinsam ist allen Spielarten des Weiß, dass weißes Material keine Wellenlänge des sichtbaren Spektrums selektiv absorbiert.
Farbenraum. Das Gegenstück zur Weiß-Verhüllung (Farbhelligkeit) ist die Schwarz-Verhüllung Dunkelstufe). Zwischen Blau und Schwarz vermitteln Dunkelblau und Blauschwarz; zwischen Rot und Schwarz sowie Gelb und Schwarz vermitteln verschiedene Ocker- und Brauntöne. Man erhält wieder eine Farbscheibe, in deren Zentrum nun Schwarz liegt. Will man die verschiedenen Farbtöne mit ihrer Weißverhüllung und ihrer Schwarzverhüllung zusammen darstellen, kann man die Form einer Kugel oder eines Doppelkegels wählen (Abb. 22.9). Auf jeden Fall erfordert die Darstellung ein dreidimensionales Gebilde. Bei der Kugel oder dem Doppelkegel liegt am oberen Pol Weiß, am unteren Schwarz; die vollgesättigten Farben liegen auf dem Äquator. Es gibt weitere Darstellungsformen. Eine beliebte Alternative zum Farbenkreis ist das Farbendreieck. Professionelle Darstellungen, beispielsweise die Normenfarbtafel nach DIN 5033, wählen als zweidimensionale Grundform ein Figur, die zwischen Kreis und Dreieck liegt, mit zwei gebogenen und einer geraden Kante. Diese Normentafel (Abb. 22.8b) berücksichtigt die Ergebnisse der additiven Farbmischung. In der Farbindustrie werden Farben definiert nach (1.) Farbton, (2.) Sättigungsgrad (Weißverhüllung) und (3.) Dunkelstufe (Schwarzverhüllung). Andere Definitionen gehen von den Möglichkeiten reproduzierbarer Farbmischungen aus.
Es kommt Physik mit ins Spiel: additive Farbenmischung und RGB-System Die additive Farbmischung ist dem Laien in der Regel fremd. Es ist die traditionsreiche Labor7
520
22 Der Sehsinn
BOX 22.2 (Fortsetzung)
methode, welche die großen (zumeist britischen) Physiker des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelt haben, und die dem Laien erst mit der Einführung des Farbmonitors als Bildschirm des PC zur Verfügung steht (falls er auch ein entsprechendes Grafikprogramm geladen hat). Man geht von monochromatischem Licht aus, wie es Isaac Newton (1643–1727) mit seinen Prismen zur Verfügung stellte. Monochromatisches Licht ist Licht einer einzigen, definierten Wellenlänge. Den Drei-Projektoren-Versuch (Abb. 22.10), mit dem (in abgewandelter Form) auch heute noch die Farbtüchtigkeit eines Auges untersucht wird, hat der schottische Physiker James Clerk Maxwell entwickelt. Auch Hermann von Helmholtz hat mit der gleichen Grundausstattung an Geräten experimentiert. Man benutzt mindestens zwei, besser drei Projektoren. Anstelle des Dias wird ein (sehr teurer) Filter eingeschoben, das Licht nur einer einzigen Wellenlänge passieren lässt. Die Lichtkegel der drei Projektoren werden nebeneinander oder überdeckend auf eine weiße Projektionsfläche gerichtet (Abb. 22.10). Die Ergebnisse entsprechen teils unserer Erwartung, teils sind sie ganz und gar unerwartet. Es wurden folgende Regeln gefunden: ●
●
Ein bestimmter Farbton lässt sich durch ein monochromatisches Licht erzeugen oder durch das balancierte Mischen zweier oder mehrerer monochromatischer Lichter. Gelbgrün lässt sich durch Mischen von Gelb (575 nm) und Grün (546 nm) erzeugen aber auch durch monochromatisches Licht der dazwischen liegenden Wellenlänge 555 nm. Eine gesehene Mischfarbe muss also nicht auf Mischlicht zurückgehen. Eine Ausnahme bildet Purpur (und das ebenfalls zwischen Blau und Rot angesiedelte Magenta), das nur durch Mischen von Rot (700 nm) und Blauviolett (430 nm) erzeugt werden kann. Verblüffend ist, dass man reines Gelb nicht nur mit 575 nm sondern auch durch Mischen von Rot (700 nm) und Grün (546 nm) hervorbringen kann. Der klassische Versuch Maxwells zur Prüfung einer Rot-Grün-Blindheit beruht auf diesem Effekt. Die neugierige Kandidatin oder
der Kandidat sieht auf der Projektionsfläche ein Referenzgelb, das Projektor Nr. 3 mit 575 nm erzeugt. Neben dem gelben Referenzfeld mischt dann der Proband mit den Projektoren Nr. 1 und Nr. 2 Rot und Grün und variiert deren Intensität solange, bis das Mischlicht den gleichen gelben Farbton hat wie das Referenzlicht. Normalsichtige brauchen stets Rot plus Grün, um Gelb sehen zu können. Fehlsichtigen genügt Grün (Rotblinde) oder Rot (Grünblinde), um den gleichen Farbeindruck zu erhalten, den für sie der Referenzprojektor hervorruft. ●
Je weiter im Farbenkreis zwei Farben auseinanderliegen, desto blasser wird das Mischlicht. Werden zwei einander diametral gegenüberliegende Wellenlängen gemischt, entsteht Weiß. Gegenüberliegende Farben bilden Komplementärfarben, die sich wechselseitig zu Weiß ergänzen. Ein Blick auf den Farbenkreis zeigt, dass es zu reinem Grün keine singuläre Komplementärfarbe gibt; denn dem Grün steht der Bereich des Purpur und Magenta gegenüber, denen keine singuläre Wellenlänge entspricht. Man kann dieses Fehlen einer geeigneten Gegen-Monowellenlänge dadurch kompensieren, dass man zum Grünlicht (546 nm) eine Mischung von 430 nm und 750 nm addiert. In der gesamten Weltliteratur werden trotzdem Rot und Grün als Gegenfarben aufgeführt. Die begangene Sünde ist lässlich. Ersetzt man Rot durch Rotorange und Grün durch Blaugrün, stimmt’s ja.
Die Fülle der in die Millionen gehenden, unterscheidbaren Farbtöne und ihrer verschiedenen Sättigungsgrade kann durch Mischen dreier monochromatischer Farben erreicht werden, die im Farbkreis ein nahezu gleichseitiges Dreieck bilden. Im klassischen Versuch und nach internationaler Norm sind dies ●
Blauviolett (435 nm),
●
Grün (546 nm) und
●
Rot (700 nm).
Das Fernsehen und ebenso der Farbmonitor machen sich die Dreierregel zunutze. Sie erzeugen Farbbilder im RGB-Modus (RGB = Rot, Grün, Blau) und dieser Modus ist ein additives Verfahren.
7
521
22.2 Abbildung: Vorbedingung für Muster- und Bewegungssehen
BOX 22.2 (Fortsetzung)
Der Bildschirm ist von einem Raster aus zahlreichen Dreiloch-Gruppen überzogen. Jede Dreiloch-Gruppe liefert einen Bildpunkt (Pixel) mit einem Blau-, einem Grün- und einem Rot-Subpixel. Diese Subpixel liegen so nahe beieinander, dass sie unser Auge nicht getrennt wahrnehmen kann. Ungleichmäßige Leuchtdichten der drei Subpixel erzeugen einen Farbeindruck, gleichmäßige Leuchtdichten erzeugen hingegen unbunte Bildpunkte von Schwarz über Grau zu Weiß. Sind alle drei Farbkanäle voll aufgedreht, erscheint der Gesamtpixel weiß, sind alle drei Kanäle geschlossen, erscheint der Pixel schwarz. Farben des Alltags: subtraktive Farbmischung und CMYK-System des Grafikers und Malers Es ist schon seltsam, dass bei der additiven Farbmischung Rot und Grün Gelb ergibt. Käufliche rote und grüne Malfarben zusammengerührt ergeben ein schmutziges Braun oder Grau, niemals aber Gelb, egal ob ich Wasserfarben, Dispersionsfarben oder ölige Lackfarben mische. Noch seltsamer: jeder hat schon mal mit dunklem Blau und intensivem Gelb schönste Grüntöne erzeugt aber niemals Weiß, wie es die additive Farbmischung behauptet, erzeugen zu können. Die subtraktive Farbenmischung ist uns vom Alltag vertraut. Ob wir durch ein buntes Glasfenster blicken oder ganz simpel eine Blume betrachten oder in die Landschaft schauen, unterliegen wir den Regeln einer subtraktiven Farbenmischung. Trotz ihrer Alltäglichkeit ist die subtraktive Farbenmischung schwieriger zu verstehen als die pure additive, weil vieles im Verborgenen bleibt und weil sie die Regeln der additiven Farbenmischung mit einschließt. Die Grundregel ist einfach: Man schneidet aus dem Farbenkreis ein Segment heraus und entfernt es (Subtraktion). Nach dem Herausfiltern einer Farbe durch Absorption dominiert in der restlichen, gesehenen Gesamtfarbe die gegenüberliegende Farbe (Gegenfarbe, Komplementärfarbe). Schneidet man Gelb (genauer Orange) aus dem Spektrum aus, sieht der ganze Rest Blau aus! Daher die Aussage, die subtraktive Farbenmischung halte vieles im Verborgenen. Ich kann nicht oder nur schwer unterscheiden, ob der Pullover meines
Nachbarn ausschließlich Licht der Wellenlänge 435 nm reflektiert oder ein breites Spektrum, dem bloß der Gelb-Orange-Anteil fehlt. Entsprechend sind die Ergebnisse von Farbmischungen schwer kalkulierbar. Eine merkfähige (wenn auch ungenaue) Regel sagt: ●
Herausschneiden von Blau ergibt Gelb,
●
Herausschneiden von Gelb ergibt Blau,
●
Herausschneiden von Grün ergibt Rot,
●
Herausschneiden von Rot ergibt Grün.
Auch hier gilt natürlich wieder, dass es zu purem Grün keine exakte Gegenfarbe gibt. Fehlen jedoch Blauviolett und Rot gemeinsam, dominiert im Rest Grün. Für Biologen ist wichtig: Eine Pflanze ist grün, weil sie überwiegend Rot und Blauviolett absorbiert. Die grüne Pflanze schätzt Grün nicht, sondern reflektiert es! Umgekehrt erscheint das Blut rot, weil das Hämoglobin überwiegend Grün absorbiert. Es sollte aufgefallen sein, dass soeben als Gegenpaare die gleichen Farben genannt wurden, die bei der additiven Farbenmischung Weiß ergeben. Das ist gewiss kein Zufall. Es liegt eine Art Waagesystem vor: Halten sich Gegenfarben die Waage, löschen sie wechselseitig ihren Buntton aus; die Helligkeit wird jedoch zum Weiß gesteigert. Wie entsteht nun aus den Malerfarben Blau plus Gelb Grün? Zum leichteren Verständnis untersuchen wir zuerst die Transmission durch ein BlauGlas und ein Gelb-Glas (Abb. 22.11). ●
Das blaue Filterglas absorbiert langwelliges Licht (und verwandelt es in Wärme); es schluckt Gelb und Orange vollständig, Rot nur teilweise. Die nicht-verschluckten kürzeren Wellenlängen, unter ihnen auch Grün, werden hindurch gelassen und treffen unser Auge. Weil Gelb-Orange ganz herausgeschnitten wurde, dominiert in diesem hindurch gelassenen Restgemisch für unser Auge die Gegenfarbe Blau. Grün ist im hindurch gelassenen Licht durchaus auch dabei, wird aber durch Addition mit dem Restrot zum 7
522
22 Der Sehsinn
BOX 22.2 (Fortsetzung)
unauffälligen Gelb modifiziert und kommt visuell nicht zur Geltung. ●
Ein gelbes Filterglas absorbiert die kurzen Wellenlängen Blau und Blauviolett und lässt das Restspektrum passieren, in dem zwar visuell Gelb dominiert, sich aber wiederum versteckte Grünreste befinden.
●
Hält man beide Glasscheiben gleichzeitig und einander überdeckend vor das Auge, so „frisst“ das Blauglas das vom Gelbglas durchgelassene Gelb, das Gelbglas umgekehrt das vom Blauglas hindurch gelassene Blau. Beide Gläser verschmähen Grün und lassen es durch: wir sehen Grün.
Mischt man Pigmentfarben, so ist das Wort Glas durch Pigment zu ersetzen, und das Wort Transmission durch Reflexion. Grafiker und Buchdrucker können auf Papier keine monochromatischen Lichtquellen auftragen. Sie müssen sich mit der schwer durchschaubaren subtraktiven Farbenmischung herumschlagen. Der Buchdrucker bevorzugt im Vierfarbendruck ein System, bei dem Farben gemischt werden, die wie Cyan (C), Magenta (M) und Gelb (Y = Yellow) aussehen; dazu kommt Schwarz. Cyan-Pigmente schlucken Orangerot, Magenta-Pigmente filtern Grün weg, Gelb-Pigmente schlucken Blauviolett. Im Gegensatz zum additiven Mischsystem ergibt eine satte Mischung aller drei Farben nicht Weiß, sondern Schwarz. (Weil das Schwarz nicht immer satt genug ausfällt, wird über den K-Kanal (blacK) noch Schwarz beigemischt; daher CMYKSystem). Das CMYK-Farbmischsystem im Grafikprogramm des PC imitiert die Resultate einer solchen subtraktiven Farbmischung. Eine erste Theorie: die trichromatische Theorie Die Dreifarben- oder trichromatische Theorie des Farbensehens geht auf den Physiker und Arzt Thomas Young (1773–1829) zurück. Sie wurde untermauert und weiterentwickelt durch die Arbeiten der Physiker John Dalton (1766–1844), James Clerk Maxwell (1831–1894) und Hermann
von Helmholtz (1821–1894). Die trichromatische Theorie geht von der Existenz von drei Rezeptortypen aus. Selten haben hypothetische Vorhersagen so gut ins Schwarze getroffen wie diese Vorhersage. Jedes Schulbuch weiß seither, es gäbe drei Zapfentypen: einen für Blau, einen für Grün und einen für Rot. Freilich, noch seltener sind Vorhersagen vollständig perfekt. Dass der sogenannte Rotrezeptor maximal gar nicht im Rot, sondern im Gelbgrün absorbiert, wird im Haupttext erörtert. Die Gegenfarbentheorie des Außenseiters Hering Der Physiologe Ewald Hering (1934–1895) ging in seiner Hypothese vom System der Gegenfarben aus. Danach sollte es ein Blau-Gelb- und ein Rot-Grün-System geben. Gegenfarben sollten antagonistische Reaktionen auslösen (dem Modegeist entsprechend sprach er von „Assimilation“ und „Dissimilation“). Hielte sich ein Rot-Grün-Paar die Waage, löschten sich Rot und Grün zu Weiß aus. Entsprechendes gälte für das Blau-Gelb-System. Als Ergänzung zu den Farbpaaren nahm er ein antagonistisches Schwarz-Weiß Gegensystem an. Hering sah seine Hypothese unterstützt durch die ihm bekannten Fälle der Farbenblindheit, mehr noch durch das Phänomen der Farbkontraste. Farbenblindheit: Ca. 8% der Männer können Rot und Grün nicht unterscheiden, andere (weniger) Menschen haben augenscheinlich Defekte im Gelb-Blau-System. Simultankontrast: Blickt man lange auf eine grellrote Fläche, bekommt sie einen grünen Rand (und umgekehrt). Eine helle gelbe Figur bekommt einen blauen Rand (und umgekehrt). Sukzessivkontrast: Blickt man lange auf eine grellrote Fläche und schaltet dann das Licht aus, sieht man im stockdunklen Raum ein grünes Nachbild (und umgekehrt). Eine gelbe Figur wird von einem blauen Nachbild abgelöst (und umgekehrt). Die Physiologie hat heute befriedigende Hypothesen, wie solche Erscheinungen zustande kommen.
22.2 Abbildung: Vorbedingung für Muster- und Bewegungssehen
sE nd
e
Weiß 480
ge
C
rzw e lli
450
Grü n
lett
Hellgelb
Hellblau
550
Rosa
Vio
ku
500
n ya
Gelb
Purpur
400 570
Weiß
Pink
Blau
Magenta
M ta en ag
600
Rotbraun
Dunkelblau
700
Braun
Rot
lan
a
gw
elli
ges
En
Gelb
Ocker
650
750
ge
Oran
Rot
de
Außenkreis: Heringsche Gegenfarben
Abb. 22.8. Farbenkreis des farbentüchtigen Menschen. Der äußere Ring hebt die Gegenfarben hervor (a). Farb-Doppelkegel, entwickelt aus dem Farbenkreis (Äquatorlinie) zur Darstellung
Schwarz
b
der Helligkeitsgrade (oberer Kegel) und der Dunkelstufen (unterer Kegel) (b)
Gelb
Grün
Abb. 22.9. Farbdreieck (Normfarbtafel nach DIN 5033)
Gelb
Rot
Gelb
Abb. 22.10. Additive Farbenmischung im Drei-ProjektorenVersuch nach Maxwell und Hermann von Helmholtz
523
524
22 Der Sehsinn
Subtraktives Farbensehen durch Glasscheiben
“Gelb” Blau weg
Rot und Gelb weg
“Blau”
Rot weg
“Grün” Blau weg
Abb. 22.11. Subtraktive Farbenmischung mittels zweier farbiger Gläser
22.3 Farbensehen und erste Verarbeitung optischer Information in der Retina Das Wechselspiel zwischen Physik, Physiologie und subjektivem Erleben, zwischen Physis und Psyche, wird bei kaum einem anderen Sinnessystem augenfälliger als beim Farbensehen. Wenn wir von unserer subjektiven, nur jeweils mir oder Dir erfahrbaren Innenwelt absehen und Tiere mit in die Betrachtung einbeziehen, ist Farbensehen die Fähigkeit, ein Lichtbild nicht nur nach dem Muster der Photonenstromdichte (Intensität) sondern auch nach dem Muster der örtlichen spektralen Zusammensetzung auswerten zu können. Diese Fähigkeit ist alles andere als trivial. Farben werden im Grunde nicht gesehen sondern vom Zentralnervensystem erschaffen, allerdings auf der Basis externer Information. Unsere Zapfen im Auge sind keinesfalls physikalische Messinstrumente zum Messen der Frequenz oder Wellenlänge elektromagnetischer Wellen.
22.3.1 Auch wenn ein Sehfarbstoff mehr Licht von dieser als von jener Farbe absorbiert, ist damit ein Farbensehen noch keinesfalls möglich Farbensehen ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit, Licht verschiedener Frequenz bzw. Wellenlänge voneinander unterscheiden zu können (Farbunterscheidung). Es war beiläufig erwähnt worden, Stäbchen absorbierten bevorzugt im kurzwelligen Bereich. Wir untersuchen dies nun näher. Wir bestrahlen intakte Stäbchen oder Zapfen, oder auch bloß Rhodopsin-Extrakte aus den Photorezeptoren mit Licht verschiedener Wellenlänge. Bei jeder neu gewählten Wellenlänge wird die Intensität des Mess-Strahls auf die gleiche Photonenstromdichte einjustiert. Dann misst man, welcher Prozentsatz der eingestrahlten Photonen vom Rhodopsin verschluckt wird (Absorption oder Extinktion). Der Farbstoff nimmt trotz jeweils gleichem Angebot an Photonen je nach der Wellenlänge mal wenig, mal viel, dann wieder wenig Photone auf. Man erhält eine asymmetrische Absorptionskurve (Abb. 22.12). Eine solche Kurve ermöglicht für sich noch keine Farbunterscheidung. Ein Rezeptor würde zwar sein Rezeptorpotential je nach Wellenlänge modulieren. Die Frequenz der letztendlich von den Ganglienzellen der Retina ins ZNS weitergeschickten Aktionspotentiale würde steigen, ein Maximum erreichen und wieder fallen. Das geschähe aber auch, wenn bei gleichbleibender Wellenlänge lediglich die Photonenstromdichte erhöht und wieder gesenkt würde. Die visuellen Zentren im Gehirn könnten nicht herausfinden, ob eine sich ändernde Frequenz der einlaufenden Aktionspotentiale von einer Änderung der Helligkeit oder der Farbe des Lichtes verursacht worden ist. Jede Frequenzmodulation wäre mehrdeutig.
22.3.2 Das grundlegende physiologische Problem ist: Wie kann man verschiedene Reizparameter (z. B. Farbe und Helligkeit) codieren, wenn zur Fernleitung von Information nur die Frequenz der Aktionspotentiale moduliert werden kann? Beim Insektenauge wird ein weiteres Problem hinzukommen: Es werden Farbe, Helligkeit und Polari-
22.3 Farbensehen und erste Verarbeitung optischer Information in der Retina
Monochromatisch erzeugte Farbeindrücke Violett Schwarz
Blau
Stäbchen grau
Grün 540
426
Gelb
Rot
Schwarz
560
100 %
Absorption
Abb. 22.12. Absorptionskurven der Zapfen-Sehpigmente. Einen gleichen Verlauf haben die Kurven der spektralen Empfindlichkeit der lebenden Zapfen. Für die Farbwahrnehmung entscheidend sind die Verhältnisse der Absorptionswerte (relative Balkenlängen)
40
400
450
500
550
600
650
700
Wellenlänge in nm
sationszustand des Lichtes codiert werden müssen. Die Lösung des Prinzips kann nur sein: Es müssen mehrere verschiedene Rezeptortypen (beim Wirbeltier Zapfentypen) eingesetzt werden, denen im Zuge einer Arbeitsteilung verschiedene Aufgaben zugeteilt werden. Die spektralen Arbeitsbereiche der verschiedenen Typen müssen unterschiedlich sein. Damit gewinnt das ZNS die Möglichkeit, eine weitere Informationsquelle zu erschließen. Das Gehirn fragt nicht nur, mit welcher Frequenz feuert eine bestimmte Zuleitung, sondern auch, welche Leitung liefert denn überhaupt eine Meldung? Beim Gehör war das entsprechende Dilemma die Codierung von Tonhöhe versus Lautstärke. Die Lösung des Problems war eine räumliche Abbildung der Töne auf der Cochlea und eine Arbeitsteilung unter vielen Rezeptoren. Die Haarzellen nahe der Schneckenspitze messen die Lautstärke tiefer Töne, die mündungsnahen Haarzellen messen die Lautstärke hoher Töne. Daraus, wer feuert, weiß das Gehirn, welche Tonhöhe der Laut hat. Die Frequenz der Aktionspotentiale spiegelt dann die Lautstärke des jeweiligen Tons wider. Wir erwarten, dass das Auge eine ähnliche Lösung gefunden hat.
22.3.3 Man braucht verschiedene Rezeptoren mit überlappenden Absorptionskurven. Der Vergleich zwischen den Rezeptoren schafft Klarheit Es ist verbreitetes Wissensgut, dass wir drei verschiedene Zapfentypen haben. Die Absorptionskur-
ven der drei Typen haben ihre Maxima in verschiedenen Bereichen (folgender Abschnitt), überlappen sich jedoch sehr stark, was manche Darstellungen in Artikeln und Lehrbüchern unterschlagen oder nicht weiter diskutieren und bewerten. Entgegen unserem spontanen Gefühl ist aber diese Überlappung keine Unvollkommenheit der Natur; sie ist essentiell für unser Vermögen, Farbnuancen zu erkennen und von Helligkeitsdifferenzen zu unterscheiden. Wenn wir im Überlappungsbereich die Wellenlänge des Prüflichtes verändern, wird der eine Rezeptor schweigsamer, der andere gesprächiger. Lassen wir hingegen die Wellenlänge konstant und erhöhen oder senken lediglich die Photonenstromdichte, werden beide Rezeptortypen gleichsinnig verstärkt oder vermindert aktiviert. Auch wenn weißes Licht in verschiedenen Intensitäten angeboten wird, werden beide Rezeptoren gleichartig reagieren. Für das Gehirn gilt: Gleichsinniges Verhalten verschiedener Rezeptortypen bedeutet Änderung der Helligkeit, gegenläufiges Verhalten bedeutet Änderung der Farbe des Lichtes. Wenn dies richtig ist, dürfte außerhalb der Überlappungsbereiche der Absorptionskurven, also am kurzwelligen und langwelligen Ende des Spektrums, eine eindeutige Unterscheidung zwischen Helligkeit und Farbton nicht mehr möglich sein. Und so ist es. Wandert man von 650 nm nach 800 nm, wird das gesehene Rot dunkler und dunkler, auch wenn die Photonenstromdichte konstant gehalten wird, und
525
526
22 Der Sehsinn
verschwindet schließlich im Schwarz. Am kurzwelligen Ende geht Blauviolett ebenfalls in Schwarz über. Der merkwürdige Umstand, dass unterhalb von 400 nm zum Blau wieder etwas Rot hinzukommt (Violett), dürfte darin begründet sein, dass die Absorptionskurve des „Rotrezeptors“ besonders breit ist und bis 380 nm reicht.
22.3.4 Auf der Ebene der Zapfen gilt die trichromatische Theorie: wir haben drei Zapfentypen; es kommt aber auf das Verhältnis der Erregungsstärken an Aus psychophysischen Experimenten und aus der Analyse genetisch bedingter Farbfehlsichtigkeiten sind zwei konkurrierende Hypothesen über die physiologische Basis des Farbensehens abgeleitet worden (s. Box 22.2). Auf der Ebene der Rezeptoren hat die von Physikern und Ärzten (Thomas Young) angeführte Fraktion Recht behalten, die von der Existenz dreier Rezeptortypen ausging. Nach dieser Theorie, die in jedem Schulbuch steht, haben wir ●
„Blau“-Rezeptoren oder Kurzwellen-Sensoren (KW, SR = Short range), Absorptionsmaximum bei 420 nm;
●
„Grün“-Rezeptoren oder Mittelwellen-Sensoren (MW, MR = Medium range), Absorptionsmaximum bei 535 nm;
●
„Rot“-Rezeptoren oder Langwellen-Sensoren (LW, LR = Long range); Absorptionsmaximum bei 565 nm.
Sieht man sich die Absorptionskurven genauer an (Abb. 22.12), so sieht man freilich, dass das Absorptionsmaximum des „Blau“-Rezeptors im Blauviolett, des „Grün“-Rezeptors im Blaugrün, das Maximum des „Rot“-Rezeptors im Gelb oder gar Gelbgrün liegt. Müssen wir die Lehrmeinung korrigieren? Gewiss wäre es korrekter, würde man statt von Blau-, Grün-, und Rot-Zapfen von Kurz-, Mittel- oder Langwellen-Zapfen sprechen. Andererseits kommt es gar nicht darauf an, wo exakt das Absorptionsmaximum liegt. Wenn wir monochromatisches Licht der Wellenlänge 660 nm wählen, das uns rot erscheint, wird jedenfalls der LW-Sensor mit höherer Effizienz Photonen einfangen als der MW-Sensor. Bei Licht der Wellenlän-
ge 520 nm, das uns grün erscheint, hat umgekehrt der MW-Sensor im Vergleich zum LW- (und KW-) Sensor die höhere Effizienz. Werden LW- und MWSensor gleich stark aktiviert, sehen wir Gelb. Ist auch noch der KW-Empfänger mit gleich lauter Stimme im Chor, sehen wir Weiß. Merksatz: Die reinen Urfarben blau, grün, (gelb) und rot werden nicht dort gesehen, wo die Absorptionsmaxima der Sehfarbstoffe liegen, sondern dort, wo die Quotienten der Absorption ein Optimum zugunsten des einen oder anderen Photorezeptors haben. Es kommt auf die Verhältnisse an, mit der die verschiedenen Zapfen erregt werden. Diese Verhältnisse können erst von den nachgeordneten neuronalen Instanzen ermittelt werden. Einfache Modelle des Farbensehens bilden denn auch Quotienten (Abb. 22.13).
22.3.5 Entscheidend ist die Kleinfamilie der Opsingene; die genetische Basis der Rot-Grün und Blau-Gelb Fehlsichtigkeiten ist aufgeklärt Obzwar im Rhodopsin das Retinal für das Einsammeln der Photone zuständig ist, ist die Proteinkomponente, also das Opsin, nicht bedeutungslos. Es bestimmt, welche Längenwellen das Retinal bevorzugt absorbieren kann. Heute kennt man die Opsingene. Das Gen für das „Blaupigment“ liegt beim Menschen auf Chromosom 7, die Gene für die „Rot“- und „Grünpigmente“ liegen auf dem X-Chromosom. Dies war auch erwartet worden; denn die klassische Humangenetik hat schon immer die Rot-Blindheit und Grün-Blindheit dem X-Chromosom zugeordnet. Schließlich zeigt dieser genetische Defekt den klassischen X-Chromosomen-gekoppelten Erbgang. Ist das Gen für das Rot-Opsin oder das Gen für das Grün-Opsin auf dem X-Chromosom defekt, sind Männer mit Rot-Grün-Blindheit behaftet. Sie haben Probleme, das Ampellicht korrekt zu interpretieren (falls sie „vergessen“ haben, welche Lampe des Trios oben angeordnet ist). Ca. 8% der Männer haben solche Defekte. Frauen sind nur dann rot-grün-blind,
22.4 Datenverarbeitung in der Retina
wenn sie sowohl vom ihrem Vater als auch ihrer Mutter ein X-Chromosom mit defektem Rot-Gen oder Grün-Gen geerbt haben (ca. 1% der Frauen). ●
Ausfall des Rot-Gens führt zu Prot-Anopie (Rotblindheit; Rot wird je nach seiner Helligkeit mit Grau oder Schwarz verwechselt).
●
Ausfall des Grün-Gens führt zu Deuter-Anopie (Grün wird wie längere Wellenlängen oder wie Grau gesehen).
●
Ausfall des Blau-Gens führt zur Trit-Anopie. Blau wird mit Grau oder Schwarz verwechselt. Es gibt weitere Formen der Sehschwächen, die z. B. auf veränderte Absorptionsspektren der Pigmente zurückzuführen sind. Es war nicht die zur Molekulargenetik weiterentwickelte klassische Genetik, die zur definitiven Identifizierung der Gene führte, sondern der Umstand, dass alle Pigmente eine weitgehend übereinstimmende Opsin-Komponente enthalten. Die Aminosäuresequenzen der verschiedenen Opsine stimmen zu 40 bis 98% miteinander überein, ob es sich um das Blau-, Grün- oder Rot-Opsin handelt und ob ein menschliches oder tierisches Opsin sequenziert wird. Biochemiker hatten vom Rind ein Rhodopsin isoliert und seine Aminosäuresequenz teilweise entschlüsselt. Nun kam die Molekularbiologie zum Zuge. Nach dem Prinzip der molekularen Hybridisierung konnte mit künstlichen, radioaktiv markierten Oligonukleotid-Sonden (bei reduzierter Stringenz) in cDNA- oder genomischen Banken nach übereinstimmenden Sequenzen gesucht werden. In der menschlichen DNA fand man vier Bereiche mit weitgehender Sequenzidentität. Das Gen für das Stäbchen-Rhodopsin und die drei Gene für die drei Zapfen-Opsine gehen evolutionsgeschichtlich auf ein gemeinsames Urgen zurück. Zuletzt ist wohl nach einer Genduplikation die Aufspaltung des Rot- und Grün-Farbgens erfolgt; sie sind noch sehr ähnlich und kartieren beide hintereinander auf dem X-Chromosom.
22.3.6 Farbensehen bei Tieren: es gibt außer DreiKomponenten-Systemen auch Zwei- und Vier-Komponenten-Systeme Angaben über Farbensehen bei Tieren, und mehr noch Angaben über mangelndes Farbensehen, sind mit viel Unsicherheit behaftet. Lange galten Ratten, Kaninchen, Katzen und Hunde als farbenblind. Hatte man aber die richtige Untersuchungsmethode gewählt? Zieht man die Absorptionsspektren der Zapfen zu Rate, sind die meisten Säugetiere Dichro-
maten; sie haben neben Stäbchen einen Zapfentyp für den kurzwelligen Bereich („blau“) und einen für den langwelligen („orange, rot“). Demnach sollten, von einigen ausgesprochen nachtaktiven monochromaten Tieren abgesehen, Säugetiere ein gewisses Farbunterscheidungsvermögen haben. Farbe dürfte jedoch in ihrem Leben einen geringeren Stellenwert haben als bei Trichromaten. Mit drei Zapfentypen ausgestattet sind außer dem Menschen seine nahen Verwandten, die Altweltaffen (Schimpansen, Bonobos, Gorillas). Farbensehen hilft im allgegenwärtigen Grün des Urwaldes reife Früchte (gelb, rot, blau) ausfindig zu machen. Von der Natur am besten ausgestattet sind indes die Vögel. Von ausgesprochenen Nachtvögeln abgesehen, sind sie Tetrachromaten: sie haben zusätzlich noch UV-Zapfen. Ähnlich wie Bienen, können sie auf Blüten und Früchten Markierungen und Muster erkennen, die unserem Auge entgehen (aber über UVempfindliche Filme entdeckt werden können). Seltsamerweise sind auch viele Fische Tetrachromaten.
22.4 Datenverarbeitung in der Retina 22.4.1 Auf der Ebene der ersten Datenverarbeitung, die schon in der Retina erfolgt, kommt das Gegenfarbensystem zur Geltung Die Dreirezeptoren-Theorie konnte nie befriedigend das Phänomen der Komplementärfarben und das Phänomen des Simultankontrastes erklären. Elektrophysiologen haben die Sachlage in den Grundzügen geklärt und dem Einzelgänger Hering ebenfalls zu seinem Recht verholfen, wenn auch nicht auf der Ebene der Rezeptoren, sondern der nachgeschalteten Nervenzellen. Bereits in der Netzhaut finden wir mehrlagige Schichten von Nervenzellen, die eine erste Datenverarbeitung vornehmen (s. Abb. 22.5c). Der Einfachheit halber beschränken wir uns darauf, die Meldungen zu messen, die von den Nervenzellen der letzten Retinaschicht (Ganglienzellen) codiert und in Form frequenzmodulierter Aktionspotentiale über den Sehnerven ins Gehirn gesendet werden. Diese letzten Nervenzellen heißen Ganglienzellen.
527
528
22 Der Sehsinn
Rezeptive Felder Farb-(und Form-)Systeme
Rezeptive Felder
Umfeld
Zentrum
Zentrum
Umfeld
M-Kanal (Grün)
L-Kanal (Rot)
M-Kanal (Grün)
L-Kanal (Rot)
Ganglienzellen der Retina Rot + Grün -
Hell-Dunkel-System ca.20 Stäbchen Grün Rot
On-Bipolare
Amakrine
Ganglienzellen der Retina
a
Umfeld
Gap junctions im Hellen zu, im Dämmerlicht offen
Weiß + Schwarz -
Abb. 22.13. Ein rezeptives Feld ist die Gruppe von Photorezeptoren, deren Meldungen der gleichen Ganglienzelle zugespielt werden; diese Ganglienzelle „besitzt ein rezeptives Feld“ (a). Farbenanalyse (b). Schema der Datenverarbeitung. Das Schema lässt offen, auf welcher Stufe der Datenverarbeitung (Retina, seitlicher Kniehöcker, primäre Sehrinde) die wechselseitigen
Zentrum
(L+M)-Kanal S-Kanal (Blau)
b
Blau + Gelb -
Grün + Rot Zentrum
Umfeld
(L+M)-Kanal S-Kanal (Blau)
Gelb + Blau -
Hemmungen erfolgen. Spätestens in der Sehrinde kommen spezifisch reagierende Gegenfarbenneurone zum Vorschein, doch sind antagonistisch reagierende Blau-Gelb-Neurone auch in der Retina entdeckt worden. Im Rot-Grün-System reagieren die Neurone der Retina noch wenig differenziert nach dem Schema Rot versus Rest, Grün versus Rest
22.4 Datenverarbeitung in der Retina
Jede Ganglienzelle nimmt Information von (mindestens) zwei Zapfentypen entgegen. Sie erhält diese Information (über Zwischenstufen) von den Zapfen eines kleinen Areals der Netzhaut, das dieser Ganglienzelle zugeordnet ist (Abb. 22.13a). Eine Ganglienzelle ist also die Postsammelstation eines kleinen Netzhautbezirks. Dieser Bezirk heißt rezeptives Feld dieser Ganglienzelle. In der Fovea centralis steht im Zentrum eines rezeptiven Feldes nur jeweils ein einzelner Zapfen; dieser ist umgeben von einigen wenigen Umfeldzapfen (surround cones), die eine andere Farbspezifität haben. Außerhalb der Fovea sind mehrere Zapfen zum Zentrum eines rezeptiven Feldes gebündelt; eine funktionelle Gliederung Zentrum versus Umfeld ist aber auch in der Peripherie des Auges gegeben. Dieser Schluss wird durch die Reaktion der Ganglienzellen nahegelegt (Abb. 22.13b). Eine Ganglienzelle hat eine spontane Grundfrequenz, mit der sie auch im Dunkeln feuert. Sie kann diese Frequenz modulieren. Nun findet man vier funktionale Typen: ●
Typ 1 erhöht seine Frequenz bei Rot, senkt sie bei Grün;
●
Typ 2 erhöht seine Frequenz bei Grün, senkt sie bei Rot;
●
Typ 3 erhöht seine Frequenz bei Gelb, senkt sie bei Blau;
●
Typ 4 erhöht seine Frequenz bei Blau, senkt sie bei Gelb.
Es muss nun aber korrekterweise betont werden, dass eine solch klare Typisierung nur in der didaktischen Präsentation eines Lehrbuches, nicht aber bei aktuellen Messungen an Zellen herauskommt. Die Zahl von Typen erhöht sich, wenn durch zwei sehr kleine Lichtkegel Zentrum und periphere Zone ( surround) des Feldes mal gleich, mal verschieden belichtet werden. Nur wenn der Elektrophysiologe die Sehbahn weiter hinauf ins Gehirn verfolgt, findet er schließlich in der primären Sehrinde (Cortex striatum beim Säuger) Neuronen, die antagonistisch ausschließlich auf Gegenfarben reagieren, und nicht auch auf wechselnde Helligkeiten ansprechen. Er findet dann auch Neuronen, die spezifisch und antagonistisch auf Schwarz oder Weiß reagieren. Wo immer das antagonistische Gegenfarbenprinzip klar zutage tritt, es liefert die Erklärung für
den Simultankontrast im Farben- und im SchwarzWeiß-Sehen. Ein ähnliches – wenn nicht dasselbe – antagonistisch arbeitendes System der Datenverarbeitung ist bei der Auswertung der räumlichen Bilddaten am Werk.
22.4.2 Rezeptive Felder, On- und Off-Neurone bereiten auch das Formensehen vor; die laterale Inhibition ist ein bewährtes Prinzip einer ersten Datenverarbeitung Es hat gute Gründe, wenn Lehrbücher Formen- und Farbensehen getrennt behandeln. Schließlich kann auch eine Person, die nur Stäbchen hat, zwar keine Farben, aber Formen unterscheiden, und der Normalsichtige kann es auch, wenn er beispielsweise nur ein Schwarz-Weiß-Fernsehgerät vor Augen hat. Andererseits sind es beim Normalsichtigen nicht (bloß) die Stäbchen, sondern die Farbrezeptoren, die tagsüber auch das Formensehen vermitteln. Die Prinzipien der Datenverarbeitung in der Retina sind beim Formen- und Farbensehen weitgehend die gleichen. Auch beim Formensehen (Mustersehen) kommen die rezeptiven Felder zur Geltung. Unter jedem Zapfen der Fovea centralis stehen (mindestens) zwei bipolare Nervenzellen, die bei punktförmiger Belichtung des Zentrums oder seines Umfeldes antagonistisch reagieren. Beide Bipolaren zeigen amplitudenmodulierte Rezeptorpotentiale (und noch keine frequenzmodulierten Aktionspotentiale; diese tauchen dann bei den nachgeschalteten Ganglienzellen auf). Wird das Zentrum eines rezeptiven Feldes belichtet, senkt die On-Bipolare ihr Rezeptorpotential, die Off-Bipolare hebt es an. Die nachgeordneten Ganglienzellen melden ins Gehirn: „Licht an“ bzw. „Licht aus“ (Abb. 22.14). Die Belichtung der Peripherie des Feldes evoziert gegenteilige Reaktionen. Dies gilt entsprechend für Reaktionen auf Rot- oder Grünbelichtung bzw. Blauoder Gelbbelichtung (falls der Elektrophysiologe gerade ein Neuron aus der Klasse der „konzentrischen Gegenfarbzellen“ erwischt hat). Wenn Belichtung des Zentrums eine positive Wirkung hat, dann hat die Belichtung der Peripherie eine negative Wirkung. Und umgekehrt. Man spricht von lateraler Inhibition. Wie Abb. 22.15 deutlich zu machen versucht, dient laterale Inhibition der Kontrastverschärfung.
529
530
22 Der Sehsinn Rezeptives Feld, in der Peripherie beleuchtet
Rezeptives Feld, im Zentrum beleuchtet
Surround
Licht
Bildebene
Licht
Hyperpolar.
Surround
Centre
Hyperpolar.
Horizontalzelle Depolarisation
Hyperpolar.
Hyperpolar.
Depolarisation Off On Bipolare
Off On Bipolare
GanglienZellen
On-Antwort On-Antwort Zum Gehirn
a
Zum Gehirn Off-Antwort
Off-Antwort
Metabotroper Glutamatrezeptor
1
Glutamat
Rezeptor
G 2
E 3
4
5
Second messenger (Art unbekannt)
Ionotroper Glutamatrezeptor Off On Bipolare
b
Abb. 22.14a, b. Rezeptive Felder in der Wirbeltierretina und Transformation von der Amplitudenmodulation in Frequenzmodulation in der Neuronenschicht der Retina. Beachte das antagonistische Verhalten der Bipolaren: On-Bipolare versus Off-Bipolare, und Beleuchtung des Zentrums versus Beleuchtung der Peripherie (a). Metabotroper versus ionotroper Glutamatrezeptor an der postsynaptischen Membran von Bipolaren in der Retina (b)
22.4 Datenverarbeitung in der Retina Abb. 22.15. Laterale Inhibition, der Einfachheit halber für eine eindimensionale Reihe von Rezeptoren erläutert
physikalischer Lichtreiz Photorezeptoren
4
4
4
8
8
8
8
-1 -1-1 -1-1 -1 -2 -2 -2 -2 -2 -2-2 -2 -2 2
2
1
5
4
4
4
Erregungsstärke (Hyperpolarisation) Laterale Inhibition Erregungsstärke (Depolarisation) in On-Bipolaren gesehener Lichtreiz
Dies gilt für Farbkontraste ebenso wie für SchwarzWeiß-Kontraste. Grau erscheint auf hellem Untergrund dunkler als auf schwarzem Untergrund. Im Hermann-Gitter erscheinen die (nicht von dunklen Nachbarflächen gesäumten) Kreuzungsstellen der Straßen dunkler als die Straßenabschnitte zwischen zwei dunklen Feldern (Abb. 22.16).
Das Verarbeitungsprinzip der lateralen Inhibition wird nicht nur im Wirbeltierauge angewandt. Es ist am Arthropodenauge (Pfeilschwanzkrebs Limulus) entdeckt worden. Das Auge der Arthropoden, z. B. der Insekten, ist so interessant, dass wir ihm einen eigenen Abschnitt widmen.
Abb. 22.16. Kontrastverschärfung durch laterale Inhibition. Im Hermann’schen Gitter (oben) erscheinen die Kreuzungsstellen nicht so hell wie die schwarzgesäumten Straßen. Ein grauer Kreis erscheint auf schwarzem Untergrund heller (und kleiner) als auf hellem Untergrund
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532
22 Der Sehsinn
Helligkeit, Richtung des Lichteinfalls
+ Abbildung
Cornea + Linse
Becher-, Grubenauge
a
Linsenauge als Lichtkonzentrierer
b
Lochkamera-Auge
c
Abb. 22.17. Stufen von Sehleistungen. Lösungen (a) und (b) erlauben Helligkeitswerte (Lichtintensitäten) wahrzunehmen und die Richtung des Lichteinfalls; das Lochkamera-Auge des Tintenfisches Nautilus (c) und Linsenkamera-Augen (d) mit ge-
Linsenauge
d eigneten Dimensionen ermöglichen Bildsehen, wenn die Brennebene (genauer: die gewölbte Bildfläche) auf die Fläche der Rezeptoren fällt
Ciliärer Typ
Rhabdomerer Typ
Cilie mit Membranausstülpungen
Apikale Zellmembran mit Mikrovilli
PIP2 G
GTP
G
PLC 2
P
P
GTP
PDE
DAG cGMP
P
c-Opsin r-Opsin
P P
IP3
GMP
P
Abb. 22.18. Rhabdomerer und ciliärer Typ von Photorezeptor-Zellen. Nach Arendt 2003 und anderen Quellen
22.5 Erstaunliche Vielfalt der Lichtsinnesorgane, Aspekte der Evolution Auch der Nichtzoologe ist fasziniert von den vielfältigen technischen Lösungen, die der Natur bei der Konstruktion von Sinnesorganen eingefallen sind, und vom Leistungsvermögen solcher Organe (Abb. 22.17–22.22).
22.5.1 In Stufen der Vervollkommnung wird mehr und mehr Information aus Licht gewonnen Der Hautlichtsinn erlaubt kaum mehr als die Wahrnehmung, ob es nun hell oder dunkel ist, ob beispielsweise der kriechende Regenwurm den schützenden Boden verlassen hat und an die gefährliche Oberfläche gelangt ist. Stufen der Vervollkommnung erlau-
22.5 Erstaunliche Vielfalt der Lichtsinnesorgane, Aspekte der Evolution
Die 4x4 Linsenaugen der Würfelqualle Tripedalia:
Helligkeit, Richtung des Lichteinfalls Photorezeptoren und Augen des Anneliden Platynereis
Blickrichtung oben Himmel, Sonne, Mond (?) Uferlinie, Mangrovengrenze (?)
Gehirn, adult
Naupliuslarve Licht 4
3
a
Pigmentbecher-Ocellus mit rhabdomerem Photorezeptor
c
2
1
Ciliärer Photorezeptor
Retina mit ciliären Photorezeptoren 1 Sinneskolben mit 4 Augen am Schirmrand
B
Blick nach unten Wassersäule Meeresboden
Tele-Scanaugen, beweglich Übersicht, vorn Linsen-Kamera
b Weitwinkel Linsen-Kamera
Linsenauge, adult Linse zum Lichtsammeln, keine Abbildung rhabdomere Photorezeptoren
A Abb. 22.19. Vielfalt von Lichtsinnesorganen. (A) Lichtsinnesorgane des polychaeten Anneliden Platynereis dumerilli (nach Arendt 2003, Arendt et al. 2004 und Purschke et al. 2006). (B) Augen der Cubomeduse (Würfelqualle) Tripedalia cystophora, die bevorzugt in Mangrove umsäumten Lagunen lebt. Sie besitzt
C
Linsen-Kameraaugen von Springspinnen
an ihrem Schirmrand 4 Sinneskolben mit je 4 Linsenaugen und einer Statocyste. Die am besten entwickelten Augen könnten ein grobes Bildsehen ermöglichen. Die Funktion der kleinen Augen ist noch ein Rätsel. Nach Kozmik A et al. 2008. (C) Augen einer Springspinne
533
534
22 Der Sehsinn
Octopus
Mensch
Cornea Cornea
Linse Retina evers
Linse
Rezeptoren ciliär
Rezeptoren rhabdomer Iris
Retina invers
Iris
b1 a1 b2
Licht
a2
Licht
Abb. 22.20. Die Augen des Tintenfisches Octopus (a1) und des Menschen (b1) im Vergleich. Als konvergent werden betrachtet die dioptrischen Apparate mit Cornea, Iris, Linse und Glaskörper, aber auch die Retinae, weil sie mit verschiedenen Typen von Rezeptorzellen (a2, b2) bestückt sind. Die Stäbchen und Zapfen im Auge des Menschen (b2) gehören zum ciliären Typ. Die
rhabdomeren Rezeptorzellen im Auge von Octopus (a2, nach Wells 1978) zeigen mit ihrem lateralen Besatz von Mikrovilli bemerkenswerte Parallelen zu den rhabdomeren Rezeptoren der evolutionsgeschichtlich weit entfernt stehenden Athropoden (s. Abb. 22.21)
22.5 Erstaunliche Vielfalt der Lichtsinnesorgane, Aspekte der Evolution Abb. 22.21. Komplexauge (Facettenauge) eines Insekts. Im herausgegriffenen Ommatidium (Längsschnitt) ist der Lichtleitereffekt dargestellt, durch den Randstrahlen wiederholt durch das zentrale Rhabdom gelenkt werden. Im Querschnitt eines Ommatidiums ist die Anordnung der Retinulazellen (Photorezeptoren) bei der Biene dargestellt. Die Rhabdomere (Mikrovillibündel) der acht Photorezeptoren bilden das rechteckige Rhabdom. Der neunte Photorezeptor ist in der gezeigten Schnittebene nicht zu sehen. Die Zuordnung der Farbpräferenzen ist nicht in allen Ommatidien gleich
Linse
Pigmentzelle Lichtleitereffekt Retinulazelle
UV
Grün
Grün
Blau
Blau
Grün
Ommatidium längs
Grün
UV
Ommatidium quer
ben es, mehr und mehr Information aus dem Licht herauszuholen, das aus der Umwelt auf das Lichtsinnesorgan fällt. Drei wichtige Stufen zeigt Abb. 22.17). ●
Das Becherauge wie es beispielsweise Planarien und Amphioxus (Branchiostoma) besitzen. Ein Pigmentschirm erlaubt Lichteintritt nur von der Seite der weit offenen Pupille her. Das schlechte Auflösungsvermögen solcher Augen ermöglicht es gerade mal, die Haupteinfallsrichtung des Lichtes zu bestimmen. Das Becherauge ist lediglich eine Vorstufe eines Kameraauges (Abb. 22.17a).
●
Das Loch-Kameraauge des altertümlichen, in einer Schale hausenden Tintenfisches Nautilus (Abb. 22.17c). Das Auflösungsvermögen eines solchen Auges ist umso besser, je enger die Irisblende zugezogen wird; denn dabei werden die schlecht fokussierten Randstrahlen ausgeblendet. Freilich, desto geringer ist dann die Lichtausbeute.
●
Das Linsen-Kameraauge wie es in höchster Perfektion bei Tintenfischen und Wirbeltieren zu sehen ist. In beiden diesen Augensystemen bilden eine glasklare Hornhaut (Cornea), das vordere Augenwasser, die Hauptlinse und der
535
536
22 Der Sehsinn Lichtausbeute reduziert Auflösung verbessert
Superpositionsauge
Im Hellen Pigmentjalousie herabgelassen
Im Dunkeln Pigmentjalousie hochgezogen
Lichtausbeute erhöht Auflösung geringer
4 5
3
4 5
3 6
2 7
1
2
6 1
7
Querschnitte
4 5
3
6
2 8
1
Retinulazellen im Ommatidium von Drosophila
Abb. 22.22. Typen von Komplexaugen. Im Superpositionsauge wird bei schlechten Lichtverhältnissen durch Hochziehen der Pigmentschirme (Jalousien) Licht, das durch mehrere Linsen einfällt, auf ein einzelnes Rhabdom zentriert. Das DrosophilaAuge ist ein neurales Superpositionsauge, bei dem die Retinulazellen benachbarter Ommatidien neuronal zusammengefasst sind, was ebenfalls der Empfindlichkeitssteigerung dient. Die Retinulazellen 7 und 8 erstrecken sich nicht über die gesamte Länge
gelartige Glaskörper ein mehrgliedriges, bildentwerfendes Linsensystem (dioptrischer Apparat) (Abb. 22.17d u. 22.20). Gemeinsam sind beiden Augen auch eine flächige Retina mit Millionen von Photorezeptoren, aufgelagert auf die Wandung der Augenblase in einem Abstand, der es dem dioptrischen Apparat ermöglicht, das Bild in die Schicht der Photorezeptoren zu projizieren. Bei aller äußerlichen Übereinstimmung zwischen Tintenfisch- und Wirbeltierauge werden bei genauerem Hinsehen aber auch fundamentale Unterschiede sichtbar: Das Wirbeltierauge leistet sich die Kuriosität eines inversen Auges, bei dem die Retina „verkehrt“ auf den Augenhintergrund tapeziert wird. Das Licht muss erst die (durchsichtigen) Nervenzellen und die Innenglieder der Photorezeptoren durchdringen, bevor es die Außenglieder der Stäbchen und Zapfen erreichen kann (s. Abb. 22.6a u. 22.20b). Diese suboptimale Konstruktion erklärt sich aus der ontogenetischen Entwicklung des Wirbeltierauges (Müller u. Hassel 2006, Abb. 4.22). Der Tintenfisch hat dieses Problem nicht, denn er hat ein everses Auge. Es gibt einen weiteren bedeutenden Unterschied in der Feinstruktur und molekularen Ausstattung der Photorezeptoren. Im Tintenfisch findet man Rezeptoren des rhabdomeren Typs, im Wirbeltierauge des ciliären Typs (s. unten Abschn. 22.5.2 u. Abb. 22.18). Zoologische Highlights. Augen mit Linsen gibt es in fast allen Tierstämmen, beispielsweise auch schon bei Medusen und Quallen im Tierstamm der Cnidarier (Abb. 22.19B) Aufsehen erregten in jüngster Zeit die Augen der Cubomedusen, einer Gruppe von Cnidariern, die allerdings wegen der tödlichen Giftigkeit ihrer Nematocytentoxine auch in Verruf geraten ist. Was diese Augen zu leisten vermögen, ist noch Gegenstand von Spekulationen. Eine Linse als solche ermöglicht noch kein Bildsehen. Primär ist eine Linse ein Lichtsammelapparat, der Licht aus einem größeren Ausschnitt der Umwelt einfängt und bündelt. So kann schwaches Licht verstärkt werden. Nur wenn die Schicht der Photorezeptoren in der Brennebene des dioptrischen Apparates liegt, kann die räumliche Herkunft einzelner Lichtpunkte rekonstruiert werden. Es ist dann die Aufgabe des Zentralnervensystems, diese Lichtpunkte zu einem geschlossenen Bild zusammenzufügen.
22.5 Erstaunliche Vielfalt der Lichtsinnesorgane, Aspekte der Evolution
Über ein optisches Hochleistungssystem verfügen die Springspinnen (Abb. 22.19C). Springspinnen besitzen sechs mit Linsen ausgestattete Augen. Die Besonderheit liegt in der Perfektionierung. Die seitlichen Augen wirken als Normal- und Weitwinkelobjektive, mit denen man sich einen ersten Überblick verschaffen kann. Die vorderen Hauptaugen wirken als Makro-Teleobjektive, mit denen eine potentielle Beute näher in Augenschein genommen werden und der Abstand genau gemessen werden kann. Diese Teleobjektiv-Augen sind beweglich und können interessante Einzelheiten abscannen (Scan-Augen). Das ganze optische System ermöglicht ein Bildsehen in fast vollständiger Rundumsicht. 22.5.2 Man findet zwei Typen von Photorezeptor-Zellen: den ciliären und den rhabdomeren Grundtyp Photosinneszellen brauchen großflächige Membranen, in die viele Rhodopsinmoleküle eingebaut werden können. Im einen Fall, den unsere Stäbchen und Zapfen repräsentieren, ist die Membran eines Ciliums gefaltet und vergrößert. Bisweilen sind Membranstapel ins Zellinnere verlagert, so in unseren Stäbchen. Bei rhabdomeren Photosinneszellen ist die apikale Zellmembran durch Mikrovilli vergrößert. Ciliäre Photorezeptoren scheinen zur Signaltransduktion auf Phosphodiesterase zu bauen, rhabdomere auf das PI-PKC-IP3-System (Abb. 22.18). Manche Tiergruppen besitzen beide Typen, so polychaete Anneliden (Abb. 22.19A), daher wird die Auffassung vertreten, die (hypothetischen) Urbilaterier hätten wohl schon beide Typen besessen (Arendt 2004; Arendt et al., 2004). Die erstaunliche Konvergenz in den Linsenkameraaugen der Cephalopoden und der Wirbeltiere (Abb. 22.20) wird dadurch unterstrichen, dass der Tintenfisch rhabdomere Photorezeptoren in everser Orientierung zum Bildsehen einsetzt, das Wirbeltier ciliäre Rezeptoren in inverser Orientierung. Beide Grundtypen bauen aber auf homologe Rhodopsine.
22.5.3 Seit Darwin heftig diskutiert: Homologien oder Konvergenzen? Perfektion bloß durch natürliche Zuchtwahl oder „intelligentes Design“? Wie kann Evolution, in der doch blinder Zufall waltet, so komplexe Organe in verschiedener Ausführung hervorbringen und zur Perfektion optimieren? In allen großen Tierstämmen finden sich einfache Ocellen bestehend aus einem Photorezeptor (oder wenigen Rezeptoren) und einer abschirmenden Pigmentzelle, aber auch Linsenkameraaugen (Abb. 22.17–22.20). Originalton Darwin: Die Annahme, dass sogar das Auge mit allen seinen unnachahmlichen Vorrichtungen, um den Fokus den mannigfaltigsten Entfernungen anzupassen, verschiedene Lichtmengen zuzulassen und die sphärische und chromatische Abweichung zu verbessern, nur durch natürliche Zuchtwahl zu dem geworden sei, was es ist, scheint, ich will es offen gestehen, im höchsten möglichen Grad absurd zu sein. Doch Darwin fährt fort: Als es zum ersten Male ausgesprochen wurde, dass die Sonne still stehe und die Erde sich um ihre Achse drehe, erklärte der gemeine Menschenverstand diese Lehre für falsch. (Darwin: Die Entstehung der Arten, Kap. 6). Er führt Stufen der Vervollkommnung ein, wie oben unter Abschn. 22.5.1 beschrieben.
Heute wäre Darwin wohl beglückt. Bei aller Verschiedenheit in ihrer Struktur und Entwicklung und allen konvergenten Lösungen bei der Herstellung von Hilfsmitteln wie Linsen, zeigen doch alle zur Lichtrezeption befähigten Sensillen und Augen einige fundamentale Homologien. Lichtsinnesorgane sind teils konvergent, teils homolog. Gemeinsam sind allen sequenzhomologes Opsin mit angekoppeltem Retinal als Lichtfänger, eine Palette von homologen Enzymen zum Herstellen von Retinal, dessen allosterische Umwandlung in die gestreckte all-trans-Form und seine Kopplung an Opsin. Die Gene, die hierzu gebraucht werden, sind homologen Selektorgenen (auch Meistergene genannt) unterstellt. Am bekanntesten ist das Selektorgen der Pax-B/Pax-6-Gruppe. Diesen Meistergenen sind dann fallweise in den verschiedenen Tiergruppen verschiedene weitere Gene unterstellt worden. Immerhin: Mit dem Pax-6-Gen
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Torsion
ERG
tischen) Augen der Urbilateria bereits auf über 1000 Gene zurückgreifen konnten, die auch gegenwärtigen, höher entwickelten Tiergruppen noch zur Verfügung stehen (Atsushi et al. 2004). Die (nahezu) perfekte Konstruktion bestimmter Augen verleitet manche Menschen zu der Annahme, dass ein intelligentes Wesen diese Augen geschaffen haben müsse, natürliche Evolution könne sie nicht hervorgebracht haben. Zunehmendes Wissen um Homologien auf molekularem Niveau, um Zwischenstufen in der Konstruktion wie auch um suboptimale Lösungen (z. B. inverses Auge der Wirbeltiere, schlechte optischen Qualität des dioptrischen Apparates) machen Annahmen über „intelligentes Design“ keineswegs zwingend.
22.6 Die Welt mit anderen Augen sehen: das Insektenauge Auch der Nichtzoologe kann fasziniert sein von den vielfältigen technischen Lösungen, die der Natur bei der Konstruktion von Sinnesorganen eingefallen sind, und vom Leistungsvermögen solcher Organe. Dies gilt beispielsweise für den Sehsinn einer Biene.
Abb. 22.23. Optokinetische Reaktion in der sich drehenden Streifentrommel. Durch Drehen des Körpers versucht das Insekt, seine optische Umwelt konstant zu halten
22.6.1 Hinsichtlich des Formensehens müssten wir radikal umdenken: Die Form muss aus Bewegungsmustern erschlossen werden
der Maus kann man in Drosophila zusätzliche ektopische Facettenaugen induzieren, mit dem Pax-6Gen der Fliege umgekehrt zusätzliche Linsenaugen in der Maus hervorzaubern (Näheres in Müller u. Hassel, Entwicklungsbiologie, 2006). Gemeinsam scheinen auch noch einzelne Elemente der Signaltransduktion zu sein, insbesondere die Assoziation von Rhodopsin mit G-Protein. Doch im Anschluss an das G-Protein beginnt die Divergenz in den von der Evolution gefundenen Lösungen für die Signaltransduktion. Immerhin, eine Analyse exprimierter Gene (genauer von EST’s = Expressed Sequence Tags) ergab, dass bei aller Konvergenz in der Großkonstruktion im Auge von Octopus und im Auge des Menschen mindestens 875 homologe, augenspezifische Gene zum Zuge kommen und die (hypothe-
Wenn eine ruhende Biene mit ihren 2 × 5600 Miniäuglein (Ommatidien) in die Umwelt blickt (Abb. 22.21 u. 22.22), könnte sie allenfalls ein grobes Raster von Helligkeitspunkten oder Farbtupfern sehen. Es gibt Hinweise darauf, dass das ruhende Insekt in der ruhenden Umwelt gar nichts sieht. Der Sehnerv ist bei konstantem Umfeld nahezu stumm, und das Tierchen reagiert nur auf bewegte Objekte. Wenn ein Objekt sich jedoch bewegt, feuern die Nervenfasern mit hohen Frequenzen. Optokinetische Reaktion als Indikator für Bewegungssehen. Man kann ein Insekt in eine Arena setzen und eine Wand mit senkrechten SchwarzWeiß-Streifen langsam um diese Arena rotieren lassen (Abb. 22.23). Das Insekt versucht, durch Drehen
22.6 Die Welt mit anderen Augen sehen: das Insektenauge
seines Körpers seine optische Umwelt konstant zu halten und das Streifenmuster auf seinem Auge zu fixieren. Freilich ist das Insekt am Stab eines Torsionsmeters fixiert, sodass es sich nicht mit der Arenawand drehen kann und die Streifen an seinen Augen vorüberziehen. Gleichzeitig registriert der Elektrophysiologe vom Kopf des Insektes das Elektroretinogramm (ERG). Das ERG ist ein Summenpotential ähnlich dem EKG (s. Kap. 16). Ein ERG ist jedoch nur zu registrieren, wenn das Auge eine Bewegung wahrnimmt. Ob man die Wendereaktion des Insekts mit dem Torsionsmeter registriert oder ob man das ERG mit einem Voltschreiber aufzeichnet, man kommt zur gleichen Erkenntnis: Das miserable räumliche Auflösungsvermögen wird wettgemacht durch ein exzellentes zeitliches Auflösungsvermögen. Wenn SchwarzWeiß-Streifen am Auge vorbeiziehen, flackert das ERG auf und ab. Es verschmilzt erst zu einem Kontinuum, wenn die Streifen mit einer Geschwindigkeit vorbeihuschen, bei der wir längst keine Streifen mehr unterscheiden können, sondern nur noch eine öde graue Fläche sehen. Im Kino würde eine Biene noch Einzelbilder sehen, wenn bei uns die Bildfolgen schon längst zu kontinuierlichen Bewegungen verschmelzen. Erst bei hohen Bildfrequenzen verschmilzt auch beim Insekt das rhythmische ERG zu einem Kontinuum. Ein rotierendes Schwarz-Weiß-Streifenmuster löst dann wie eine einheitlich graue Wand keine optokinetische Wendereaktion mehr aus. Formensehen. Insekten werten zentralnervös Hell-Dunkel- und Farbkontraste aus, die übers Auge huschen. Die Form wird aus der Bewegung von Konturen rekonstruiert. Was Insekten sehen, wissen wir nicht. Jedenfalls hat die Biene nicht selten Probleme, im Wahlversuch beim Anflug zwei Formen zu unterscheiden, die für uns sehr verschieden aussehen. Manche Formen hingegen, die uns eher ähnlich vorkommen, lernt sie recht gut, im Anflug zu unterscheiden.
22.6.2 Beim Farbensehen gibt es neben Unterschieden auch verblüffende Übereinstimmungen: Farbenkreis und Komplementärfarben zum Beispiel Wie kann man überhaupt herausfinden, ob eine Biene Farben unterscheiden kann? Der Elektrophysiologe geht mit seinen Gerätschaften zu Werk und
Blaugrün 500
Blau
UV 300
Weiß 550 Grün
BienenPurpur
600
Gelbgrün
Gelb Abb. 22.24. Farbensehen der Biene. Oben ist der klassische Dressurversuch angedeutet, in dem die Biene ein bestimmtes, farblich gekennzeichnetes Futterschälchen ansteuern soll. Unten ist der Farbenkreis für die Biene dargestellt
sieht, ob verschiedene Farblichter verschiedene Antworten hervorrufen. Er bestätigt, was ihm der Verhaltensforscher schon vorher prophezeit hatte: Die Biene reagiert nicht auf Rot, aber auf Grün, Blau und UV. Der Verhaltensforscher (in Gestalt des erfinderischen Karl von Frisch) geht subtiler zu Werk. Sein klassischer Versuch ist der Dressurversuch, der aussagt, ob und wann ein Tier seine potentiellen Fähigkeiten auch nutzt. Wenn Bienen in der Natur rote Blumen anfliegen, kann man recht sicher sein, dass solche Blumen auch UV-Marken tragen, die für unser Auge unsichtbar sind aber mit einem UV-sensitiven Film sichtbar gemacht werden können. Verblüffend ist nun aber,
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dass auch für die Biene die Mischung von Licht vom kurzwelligen und langwelligen Ende des Spektrums einen Farbton ergibt, den sie von allen anderen Farben und von Grauwerten unterscheidet und der nicht von einer Solowellenlänge hervorgerufen werden kann: Die Mischung aus UV und Orange ergibt „Bienenpurpur“. Auch ihre Farbtöne schließen sich zum Farbenkreis (Abb. 22.24). Blaugrün, erzeugt von monochromatischem Licht der Wellenlänge 480 nm unterscheidet sie nicht vom Mischlicht aus 450 und 510 nm. Auf einem Tisch sind farbige Kartons ausgelegt (Abb. 22.24). Auf ihnen stehen Glasschälchen, die fades Leitungswasser enthalten. Nur eines enthält das begehrte Zuckerwasser. Es steht auf dem blauen Karton. Die Position des Zuckerschälchens mitsamt dem darunter liegenden Karton wird immer
wieder gewechselt, sodass die Tierchen sich beim Anflug nur nach der Farbe des Kartons orientieren können. Haben die Bienen ihre Aufgabe perfekt gelernt, kommt die Prüfoder Kontrollphase. Es könnte ja sein, dass der blaue Karton nur wegen seines Helligkeitswertes angesteuert wird. Im Umfeld des blauen Kartons sind Kartons mit verschiedenen Graustufen ausgelegt (und auf ihnen können nun sogar Schälchen mit Zuckerwasser stehen). Die Biene verwechselt nie Blau mit einem Grau, wohl aber verwechselt sie Rot mit einer dunklen Graustufe.
Auch gibt es „Bienenweiß“, das nach gleichen Grundregeln, wie sie für unser Auge gelten, erzeugt werden kann, wenn auch mit anderen, der Biene gemäßen Wellenlängen. Man kann mit drei Lichtern verschiedener Wellenlänge eine Fläche beleuchten und die Biene testen, ob sie die Fläche von einer weißen Fläche, die alles Licht reflektiert, unterscheiden
BOX 22.3
Polarisiertes Licht Licht als elektromagnetischer Wellenzug lässt sich in zwei senkrecht zueinander schwingende Felder zerlegen, in das elektrische Feld (E-Vektor) und in das magnetische Feld (M- oder B-Vektor). Um eine modellmäßige Vorstellung zu gewinnen, kann man sich entlang eines Lichtstrahls zwei Wellenzüge denken, die im rechten Winkel zueinander stehen (Abb. 22.25). Das natürliche Licht besteht aus vielen Wellenzügen, die unabhängig voneinander entstanden sind (inkohärentes Licht). Die Schwingungsrichtungen in diesen Wellenzügen sind nicht koordiniert und daher regellos von Wellenzug zu Wellenzug wechselnd. Wird die Amplitude des E-Feldes in einer Raumrichtung unterdrückt, erhält man partiell oder vollständig polarisiertes Licht. In allen Photonen sind dann die Schwingungsrichtungen gleich. Das kann passieren, wenn Licht an einer spiegelnden Fläche reflektiert wird, beispielsweise auf einer Wasseroberfläche (eine vollständige Polarisierung tritt nur beim Einfall unter einem bestimmten Winkel auf). Eine partielle Polarisierung geschieht aber auch am blauen Himmelszelt dank der Reflexion und Streuung an Luftmolekülen und feinsten Partikeln (Tyndall-Effekt). Das für den Laien Unerwartete ist nun, dass sich am Himmelszelt ein makroskopisches Muster der
vorherrschenden Polarisationsrichtungen einstellt (s. Abb. 22.26). Dieses Muster ist abhängig vom Sonnenstand. Ja sogar unter einer Wolkendecke ist noch ein Polarisationsmuster erkennbar, dessen Struktur vom Sonnenstand abhängt (Pomozi et al. 2001). Man kann das Phänomen mit dem Regenbogen vergleichen. Obwohl sich im Regenvorhang die Brechung des Sonnenlichts in kleinen Wassertröpfchen vollzieht, sieht man einen riesigen Regenbogen über den ganzen Himmel gespannt. Und der Regenbogen verrät den Sonnenstand. Blickt man geradeaus auf den Regenbogen, hat man die Sonne garantiert im Rücken. Um den Regenbogen zu sehen, muss man Farben sehen können, also Photorezeptoren haben, die bevorzugt Photonen eines bestimmten Frequenzbereichs absorbieren. Um das Polarisationsmuster am Himmel zu sehen, kann man Polarisationsfolien in verschiedenen Richtungen vor das Auge halten, die je nach der Schwingungsrichtung des elektrischen Feldes unterschiedlich viel Licht absorbieren oder hindurch lassen (wir sehen dann Helligkeitsmuster). Oder man baut, wie die Insekten, solche Analysatoren ins Auge ein. Polarisationsfolien sind im Insektenauge aus Rhodopsinbestückten Membranen hergestellt.
22.6 Die Welt mit anderen Augen sehen: das Insektenauge
paare sind wie beim Wirbeltiere Ergebnis nachgeschalteter neuraler Verrechnung.
M Absorption (Analysator)
E Keine Absorption
Abb. 22.25. Polarisiertes Licht. Schematisch dargestellt sind zwei Photone, eines, dessen E-Vektor linear polarisiert ist (oben) und eines mit zirkularer Polarisation. Für das Arthropodenauge ist das linear polarisierte Licht, das richtungsabhängig mit einem Analysator aufgefangen und absorbiert werden kann, von Bedeutung. Zirkular polarisiertes Licht mit kreisender Schwingungsrichtung (unten) vermittelt wie regellos orientiertes Licht nur Information über Helligkeit und Farbe, aber keine Information über die Himmelsrichtungen
kann. Werden durch die drei Lichter alle drei Farbsensoren des Bienenauges in einem bestimmten Verhältnis stimuliert (15% UV + 30% Blau + 55% Grün) wird die Biene diese Fläche als weiß werten (für uns sähe sie nicht weiß, sondern farbig aus, weil unsere Farbsensoren andere Arbeitsbereiche haben). Erstaunlicher ist, dass es für die Biene auch Gegenfarbenpaare gibt. Mischlicht aus Farben, die im Kreis einander diametral gegenüber liegen, Blau + Bienepurpur und UV + Blaugrün, addieren sich jeweils zu Bienenweiß. Auch die Subtraktionsregeln gelten entsprechend. Was Wunder, wenn bei dieser Übereinstimmung im Wahrnehmungssystem im Bienenauge drei Rezeptortypen gefunden werden: UV-, Blau- und Grünrezeptoren. Farbenkreis und Gegenfarben-
22.6.3 Bienen und Ameisen sehen am blauen Himmel ein Polarisationsmuster; sie können daraus die Himmelsrichtungen ablesen Es war eine der bewundernswerten Leistungen des Altmeisters Karl von Frisch (1886–1982), bemerkt und nachgewiesen zu haben, dass Bienen Sinnesfunktionen besitzen, die uns fremd sind und an die deshalb zunächst niemand denkt. Bienen haben einen Magnetkompass (s. Kap. 21); Bienen haben einen Sonnenkompass (s. Kap. 24); Bienen haben die Fähigkeit, das Polarisationsmuster des Lichtes am Himmel wahrzunehmen, und diese Fähigkeit ergänzt ihren Sonnenkompass. Das Polarisationsmuster am Himmel ist ein Muster, das sich ergibt, wenn das Sonnenlicht an den Luftmolekülen der Erdatmosphäre gestreut wird (Box 22.3). Am stärksten gestreut wird Licht kurzer Wellenlänge, weshalb uns der Himmel blau erscheint. Folglich tragen UV/Blau am stärksten zu diesem Muster bei. Die Wahrnehmung dieses Musters, kurz „Polarisationssehen“ genannt, ermöglicht es der Biene (und anderen Arthropoden), die Himmelsrichtungen und den momentanen Sonnenstand ausfindig zu machen, auch wenn die Sonne hinter Wolken versteckt ist. Ein Fleck blauen Himmels sollte allerdings sichtbar sein. Bei total wolkenverhangenem Himmel fliegen Bienen höchst ungern, trotz des Magnetkompasses, der ihnen für eine grobe Orientierung noch bleibt. Wenn ein Ausschnitt des Polarisationsmusters (Abb. 22.26) an einem blauen Himmelsfleck zur Orientierung genügt, besagt dies, dass die Biene Kenntnis des Gesamtmusters haben muss und in der Lage ist, das gesehene Puzzle in das irgendwie gespeicherte Gesamtbild einzuordnen. Sie muss eine interne Himmelskarte besitzen, die es ihr ermöglicht, nicht nur den momentanen Sonnenstand zu orten, sondern auch die Himmelsrichtungen richtig zu interpretieren. Es lag nahe anzunehmen, diese Himmelskarte sei im Gedächtnis gespeichert. Das ist aber wohl nicht so. Wo die Karte deponiert ist, verrät der folgende Abschnitt.
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Muster der e-Vektoren (Polarisationsmuster) am Himmelszelt
Zenit
Bogen maximaler Polarisation AntiSolarmeridian Solarmeridian
60° Azimut
Sonnenaufgang anterior
Bienenkompass (Analysatoren in dorsalen Ommatidien) posterior
Abb. 22.26. Polarisationsmuster am Himmelszelt. Die Linie der stärksten Polarisation zieht wie ein Regenbogen über das Himmelsgewölbe
22.6.4 Bienen und Ameisen haben in ihrem Auge eine Himmelskarte, die sie mit dem gesehenen Muster am Himmel vergleichen Wenn Insekten neben Helligkeit und Farbe einen dritten Parameter des Lichtes auswerten und dem Gehirn mitteilen wollen, müssen sie besondere Rezeptoren abstellen, die sich auf das Polarisationssehen spezialisieren. Als Analysator für die Schwingungsrichtung des Lichtes eignen sich Photorezeptoren, deren Mikrovilli über die ganze Länge des Rhabdoms exakt parallel ausgerichtet sind.
In großen Bereichen des Insektenauges ist diese Vorbedingung nicht erfüllt. Die Sehzellen sind um ihre Längsachse verdrillt (twisted). In einem schmalen Feld entlang der oberen Augenregion, POL-Region oder DRA (dorsal rim area) genannt, sind die Sehzellen aber nicht verdrillt. Alle Mikrovilli einer Retinulazelle sind gerade und alle in die gleiche Richtung ausgerichtet. Weil vermutlich auch die Rhodopsinmoleküle in den Membranen der Mikrovilli alle gleichartig ausgerichtet sind, gewinnen die Mikrovilli bzw. Rhabdomere (Mikrovilli-Längsreihen) die Eigenschaft eines Analysators. Wie eine Polarisationsfolie absorbieren solche Mikrovilli Licht
22.6 Die Welt mit anderen Augen sehen: das Insektenauge
Videokamera zum Registrieren des Bienentanzes Lichtquelle mit Polarisator
Plexiglasdom
Fenster mit freiem Blick zum Himmel oder zum Einstrahlen von polarisiertem Licht
Verschiebbare Bienenwabe mit tanzender Biene
Abb. 22.27. Versuchsanordnung zur Analyse des Polarisationssehens bei der Biene. Die Biene tanzt auf einer horizontalen Wabe, wo sie mit ihrem Schwänzeltanz die Himmelsrichtung zu einer Futterquelle anzeigt. Der direkte Blick zum Himmel wird durch eine Plexiglaskuppel verstellt, die zwar Helligkeit durchlässt, aber das natürliche Polarisationsmuster löscht. Über Fenster können der Biene Polarisationsmuster nach der Vorstellung des Experimentators angeboten werden
Abb. 22.28. Polarisationsanalyse des Himmelsmusters durch eine Biene. Die Biene hat durch Drehen ihres Körpers ihren Kompass im dorsalen Augenbereich (POL- oder DRA-Region) in Deckung mit dem Polarisationsmuster am Himmel gebracht
nur einer bestimmten Schwingungsrichtung mit maximaler Effizienz (Abb. 22.28). In einem einzelnen Ommatidium sind die Mikrovilli in zwei Richtungen ausgerichtet, die senkrecht zueinander stehen (s. Abb. 22.21). Wenn die eine Gruppe der Mikrovilli (Rhabdomer) Licht mit maximaler Effizienz einfängt, absorbiert die andere minimal. Das reicht nicht aus, um ein komplexes Muster am Himmel zu erkennen. Nun enthält das Bienenauge jeder Körperseite 5600 Ommatidien. Die POL-Region umfasst zwar nur 2,5% davon; doch das sind immerhin 140 Ommatidien, und die haben unterschiedliche Vorzugsrichtungen. Insgesamt sind die dorsalen POL-Felder der Augen also Raster von Analysatoren, die die E-Vektoren des Himmelslichtes festzustellen erlauben. Sie bilden zusammen einen Apparat, mit dem sie ihren Sonnenkompass einjustieren können. Rüdiger Wehner fand aufgrund von Verhaltensversuchen (Beispiel: Abb. 22.27), dass bei Bienen und Ameisen die Vorzugsrichtungen aller Ommatidien der POL-Region ein Muster bilden, das (in groben Zügen) das Polarisationsmuster am Himmelszelt widerspiegelt. Linkes und rechtes Auge sind spiegelbildlich angeordnet, und ebenso ist der Himmel beidseitig des Himmelsmeridians spiegelbildlich gemustert. Wenn sich die Tierchen drehen bis ihr augeninternes Muster sich mit dem
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Himmelmuster deckt, wissen sie, dass sie die Sonne im Rücken haben (Abb. 22.28), ebenso wie wir wissen, dass die Sonne hinter unserem Rücken steht, wenn wir zum Regenbogen schauen. Einmal mehr wird eine hohe Sinnesleistung dadurch erreicht, dass Rezeptoren mit unterschiedlichen Spezialfunktionen betraut werden und das Gehirn dann die Einzelmeldungen auswertet und zu einem Gesamtbild zusammensetzt. Im Gehirn wird die Hauptarbeit verrichtet. Das kleine Gehirn ist unglaublich leistungsfähig; denn das POL-Muster des Himmels ist nicht orts-
fest, sondern wandert mit der Sonne von Sonnenaufgang über den Zenith bis zum Sonnenuntergang am Himmel. Die Biene hat ein ‚Wissen‘ über diesen Tagesgang, sie hat eine präzise innere Uhr und sie hat einen leistungsfähigen, gut programmierten Computer in ihrem Gehirn. So kann sie berechnen, wo zu jeder Tageszeit Nord und Süd, Ost und West ist. Sie nutzt dies, um den Weg zur der ergiebigen Blumenwiese (und zurück zum Stock) zu finden, die sie selbst (z. B.) am Vortag entdeckt hat oder auf die sie eine Kollegin mit ihrem Schwänzeltanz hingewiesen hat (s. Kap. 24.4).
Tabelle 22.1. Daten zum Sehen Die Retina des menschlichen Auges enthält ● 100–163 Mio. Stäbchen und ● 5–6 Mio. Zapfen ● 60–70 verschiedene neuronale Zelltypen ● 1010 Synapsen, 100 km neuronale Fasern Zapfendichte in der Fovea: 150 000/mm2, Gesamtzahl ca. 450 000 Stäbchen: ● 800 Discs mit ● 65 000 Rhodopsinmoleküle /Disc = 30 000/μm2 = >50 × 106 pro Stäbchen ● täglich werden 100 Discs/Stäbchen erneuert 1 lichtaktiviertes Rhodopsin ● aktiviert bis zu 3000 Transducinmoleküle, ● 3000 Transducine aktivieren 3000 PDE-Enzyme, von denen jedes bis zu 3000cGMP pro Sekunde hydrolysiert Lichtabsorption bewirkt ● in den Photorezeptoren der Wirbeltiere eine Hyperpolarisation von −30 zu – 70 mV, ● in den Photorezeptoren der Arthropoden eine Depolarisation Stäbchen: Absorptionsmaximum bei 500 nm („blau-grün“) Zapfen: Absorptionsmaxima bei ● 420 nm („blau“) ● 540 nm („grün“) ● 560 („gelbgrün“) Bienen: ● Absorptionsmaxima im UV, Blau, Grün ● dazu in der POL-Region des Auges Polarisationszustand des Lichtes (Daten aus Müller u. Kaupp 1986, und verschiedenen anderen Quellen)
Zusammenfassung des Kapitels 22
Zusammenfassung des Kapitels 22 Licht, gequantelte elektromagnetische Schwingungen mit Wellenlängen im Bereich von 400 bis 800 nm, wird in den Photorezeptoren aller tierischen Lebewesen mittels des Sehfarbstoffes Rhodopsin aufgefangen. Rhodopsin ist ein molekularer Komplex bestehend aus ●
Retinal, dem Aldehyd des Vitamins A1 (ein Terpenoid). Retinal ist die chromophore Gruppe des Rhodopsins und für das Einfangen der Lichtquanten zuständig. Es enthält das hierfür erforderliche System konjugierter Doppelbindungen. Beim Einfangen eines Lichtquants geht Retinal von der abgewinkelten 11-cisForm in die gestreckte all-trans-Form über; und
●
Opsin, einem Membranprotein mit sieben Transmembrandomänen (wie die Duftrezeptoren!). Von Opsin gibt es mehrere genetische Varianten (Isoformen); sie bestimmen, in welchem Wellenlängenbereich Rhodopsin maximal Lichtquanten absorbiert.
Rhodopsin ist in hoher Dichte in Membranen eingebaut, in den Stäbchen und Zapfen des Wirbeltierauges in Membranstapeln im Außensegment, einem stark modifizierten Cilium (ciliärer Rezeptortyp), in den Photorezeptoren der Arthropoden im seitlichen Mikrovillisaum (Rhabdomer, rhabdomerer Rezeptortyp). In den Photorezeptoren der Wirbeltiere hat lichtaktiviertes Rhodopsin die Funktion eines Schalters, der die Kaskade der photoelektrischen Transduktion startet: Über ein G-Protein mit Namen Transducin wird in Millisekunden ein Enzym PDE aktiviert, das den second messenger cGMP hydrolysiert. Ein lichtaktiviertes Rhodopsin kann die Hydrolyse von 1 Mio. cGMP auslösen. Dieses cGMP hatte im Dunkeln Na+-Kanäle offengehalten, die einen beständigen Na+-Einstrom in die Zelle ermöglichten, aus der das Na+ mittels der Na+/K+-ATPase wieder herausbefördert wurde. Entfernen des cGMP durch Hydrolyse schließt die Kanäle, der Na+-Dunkelstrom wird unterbrochen, die Zelle erfährt eine Hyperpolaristion und gibt vermindert den Trans-
mitter Glutamat frei. Sehzellen der Arthropoden depolarisieren stattdessen. Optokinetische Reaktionen des Kopfes oder des Auges halten die Bilder zur Auswertung ausreichend lang im Feld der Photorezeptoren fest. Hell-Dunkel-Hellsehen. Das Auge des Menschen erfasst einen Intensitätsbereich (Quantenstromdichten) von 109 Größenordnungen. Außer (1) physikalischer Adaptation durch die Pupille und (2) durch den einstellbaren Rhodopsingehalt der Photorezeptoren ist für die Helligkeitsadaptation (3) der funktionelle Wechsel des Photorezeptortyps maßgeblich. Die Retina des Mensch enthält >100 Mio. Stäbchen als Schwachlichtrezeptoren und 5–6 Mio. Zapfen als Starklichtrezeptoren. (4) Die Meldungen der Photorezeptoren werden verarbeitet von bipolaren Neuronen der Retina, die sich in On- und Off-Neurone untergliedern, und schließlich durch Ganglienzellen gesammelt. Diese integrieren die Meldungen und schicken sie über den Sehnerv in die primären Sehzentren des Gehirns. Alle Photorezeptoren, deren Meldungen von einem bestimmten Neuron integriert werden, bilden zusammen das rezeptive Feld dieses Neurons (Weiteres hierzu s. unten). Eine Ganglienzelle kann die Meldungen von Hunderten von Stäbchen sammeln; dies ermöglicht Sehen auch bei sehr schwachem Licht, wenn auch mit geringer Auflösung. Farbensehen. Da alle Stäbchen dasselbe Rhodopsin enthalten, ermöglichen sie nur Hell-Dunkel-Unterscheidung in Grautönen, aber kein Farbensehen. Als Trichromat besitzt der Mensch jedoch drei weitere Gene, welche die Zapfen mit jeweils einer von drei Opsin-Isoformen ausstatten. Die drei Zapfensorten absorbieren maximal im Blau (420 nm), Grün (540 nm) und Grüngelb (560 nm, üblicherweise „Rot“ genannt). Für den gesehenen Farbeindruck ist jedoch nicht die Position der Maxima entscheidend, sondern das Verhältnis, in dem die drei Zapfensorten Lichtquanten aufnehmen. Diese Verhältnisse werden bereits durch viele Millionen Neurone der Retina ausgewertet. Die Zapfen der Fovea centralis, dem Ort des schärfsten Sehens, sind mit nur wenigen benachbarten Zapfen zu kleinen rezeptiven Feldern verschaltet. Diese Verschal-
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22 Der Sehsinn
tung ist Grundlage dafür, dass die lineare physikalische Wellenlängenskala in der Sehwelt von Blau über Violett zu Rot zum Farbkreis geschlossen wird und die Rot-Grün- und Blau-Gelb-Gegenfarbensysteme etabliert werden. Bei der additiven Farbenmischung, welche zur Prüfung der Farbtüchtigkeit eingesetzt und von TV-Monitoren genutzt wird, werden monochromatische Lichtquellen gemischt; dabei ergeben Grün + Rot = Gelb, und gleichmäßige Reizung aller Zapfen mit hoher Intensität erzeugt Weiß. Gegenfarbsysteme (= Komplementärfarbensysteme) sind von Bedeutung beim subtraktiven Farbensystem, das bei gesehenen Dingen der Alltagswelt von Bedeutung ist. Filtert ein natürlicher oder bemalter Gegenstand beispielsweise Gelb aus dem Regenbogenspektrum heraus, erscheint das vom Gegenstand reflektierte oder durchgelassene Licht blau. In PC-Grafikprogrammen imitiert man additive Farbmischung im RGB-, subtraktive im CMYK-Modus. Zur Datenverarbeitung in der Retina. Rezeptive Felder sind in Zentrum und Peripherie gegliedert. Reagiert das Sammelneuron mit On, wenn die zentralen Stäbchen belichtet werden, so reagiert es mit Off, wenn die peripheren Photorezeptoren belichtet werden, und umgekehrt. In den rezeptiven Feldern der Zapfen kommt das Gegenfarbensystem zur Geltung. Führt Belichtung des Zentrums mit Gelb zur Erregung des Sammelneurons, so Belichtung mit Blau zu seiner Hemmung. Belichtung der peripheren Zapfen eines Feldes hat gegenteilige Effekte. Auch für Simultan- und Sukzessivkontrast ist das neuronale Gegenfarbensystem zuständig. Die weitere Verarbeitung visueller Daten erfolgt im primären Sehzentrum (Kap. 23). Augen hoher Komplexitätsgrade findet man in allen großen Tierstämmen, auch bereits bei Quallen. Zwei Augentypen hoch entwickelter Art dominieren im Tierreich:
Das Facettenauge (Komplexauge): Hier blicken viele Miniäuglein (Ommatidien) getrennt in verschiedene Himmelsrichtungen. Jedes Miniauge misst wie ein Belichtungsmesser integrierend die Helligkeit eines kleinen Ausschnittes der Umwelt. Die geringe räumliche Auflösung wird durch eine hohe zeitliche Auflösung kompensiert. Das Kameraauge, bei dem die Lichtstrahlen auf eine Retina projiziert werden, die in die Tiefe einer Körperhöhle verlagert ist. Beim bildentwerfenden Linsenkamerauge ist eine Entfernungseinstellung (Akkomodation) nötig, um die Bildebene in der Ebene der Photorezeptoren zu halten. Verblüffend ist die hohe Konvergenz der Linsenkameraaugen von Wirbeltieren und Tintenfischen. Beim Vergleich der verschiedenen Photorezeptoren im Tierreich findet man zwei Grundtypen: (1) den ciliären Typ, der Rhodopsinmoleküle in der Membran eines modifizierten Ciliums („Außenglied“) enthält und zu dem die Stäbchen und Zapfen unseres Auges gehören, und (2) den rhabdomeren Typ, der die Rhodopsinmoleküle in der Membran von Mikrovilli eingelagert enthält. Rhabdomere Photorezeptoren haben die Kameraaugen der Tintenfische und die Facettenaugen der Arthropoden. Bienen und Polarisationssehen. Die Ommatidien der Bienen haben ein vergleichbares Farbwahrnehmungssystem wie die Wirbeltiere mit UV-, Blau- und Grünrezeptoren in jedem Ommatidium. Spezielle Ommatidien in der dorsalen POLRegion der Augen können darüber hinaus den Polarisationszustand des Lichtes analysieren. Das Polarisationsmuster des Himmels gibt Auskunft über Sonnenstand und Himmelsrichtung, wobei eine innere Uhr und ein im Gehirn gespeicherter Himmelsatlas bei der Auswertung maßgeblich beteiligt sind.
23 Zur Funktion des Gehirns: Die Sehwelt
23.1 Vom Auge zur gesehenen Welt 23.1.1 Das Gehirn des Menschen ist das komplexeste System des ganzen Universums, von dessen Existenz wir wissen Der Funktion des Gehirns nachzugehen, ist wohl die größte Herausforderung, der sich die Naturwissenschaft heute und in Zukunft stellt. Das Gehirn des Menschen soll nach einer vielzitierten Schätzung 100 Mrd. Nervenzellen enthalten, wobei die einzelne Nervenzelle mit vielleicht 100 bis 10 000 anderen Neuronen synaptischen Kontakt hat. Die Leitungsbahnen summieren sich, so wird geschätzt, auf 750 000 km, der doppelten Entfernung zum Mond. Die Nervenzellen werden begleitet von einigen Milliarden Gliazellen, die die Funktionen der Neuronen unterstützen und modifizieren. Es ist schlechterdings unmöglich, die Funktionen des Gehirns bis in alle Details aufzuschlüsseln. Das wäre vielleicht auch gar nicht sonderlich interessant. Interessanter sind die übergeordneten Strategien der Datenauswertung und die Systemeigenschaften der multizellulären Netzwerke. Wir beschränken uns auf wenige Hinweise im Bereich des Sehens. 23.1.2 Unser Gehirn erzeugt aus zwei Netzhautbildern eine einheitliche Sehwelt Tiere haben in aller Regel paarige Augen. Allerdings überlappen sich die Sehwelten des linken und rechten Auges bei den meisten Tieren nur gering (Abb. 23.1). Immerhin erleichtert es dieser Sektor binokularen Sehens den Tieren, beide Gesichtsfelder passend aneinander zu fügen. Wenn hingegen beide Augen geradewegs nach vorne gerichtet sind, ist die Zone des binokularen Sehens weit und beide Gesichtsfelder sind
weitgehend deckungsgleich. Primaten (und Eulen) haben zwei annähernd deckungsgleiche Netzhautbilder zur Auswertung zur Verfügung. Alles, was in die Fovea (und ihr näheres Umfeld) des einen Auges fällt, ist entsprechend auch in der Fovea des anderen Auges präsent. In unserer subjektiven Sehwelt verschmelzen beide Netzhautbilder zu einem einzigen Bild. Wir sehen, als wären wir Zyklopen. Zur Konstruktion einer einheitlichen Sehwelt und zum optimalen Herausfiltern der in den Bildern enthaltenen Information ist es gewiss von Vorteil, wenn man beide Bilder exakt vergleichen und gemeinsam auswerten kann. Die Verwertung beider Bilder schafft Sicherheit. Geringfügige Unterschiede können erkannt und zur Rekonstruktion der dritten Dimension genutzt werden (s. unten Abschn. 23.2.2). Folglich sollten die Informationen, die beide Augen liefern, in zentralen Instanzen zusammenlaufen. In der Evolution der Wirbeltiere hat die Auswertung der optischen Information immer mehr Leistung verlangt. Das ursprüngliche Sehzentrum der Fische und Amphibien war das Dach des Mittelhirns (Tectum opticum). Mit der Entfaltung des Großhirns in der Evolution der Säuger übernahm die Hirnrinde die Hauptaufgabe in der Auswertung der optischen Information. Das Tectum behielt die Aufgabe, die Aufmerksamkeit auf plötzlich erscheinende Objekte zu lenken. Die Detailanalyse des Bildinhaltes übernahm der Neocortex. Die Hirnrinde im Hinterhaupt (Occipitalregion) wurde zum primären Sehzentrum V1. Einem primären Zentrum sollte nach sprachlicher Logik ein sekundäres Zentrum (und weitere Zentren) folgen. Solche haben sich auch in der Evolution der Primaten etabliert. 23.1.3 Die Sehbahnen führen zusammen, was linkes und rechtes Auge getrennt erfassen Wenn ein Gegenstand am Rande des linken Gesichtsfeldes auftaucht, wird er in der rechten Au-
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23 Zur Funktion des Gehirns: Die Sehwelt
Abb. 23.1. Gesichtsfeld bei Mensch und Vogel, Sehbahn. Rot: Binokulares Gesichtsfeld
genhälfte abgebildet und dies in beiden Augen. Es wird also zweckmäßig sein, die Bahnen, die von beiden rechten Augenhälften kommen, zusammenzuführen. Bei Säugetieren hat die Evolution eine entsprechende anatomische Lösung gefunden. Die aus den Augäpfeln herausführenden Bahnen werden hälftig aufgeteilt und überkreuzt. Die Bahnen, die von der rechten Augenhälfte des rechten Auges herausführen, verbleiben auf ihrer angestammten rechten Seite. Diesen geradeaus verlaufenden ipsilateralen Bahnen gesellen sich kontralaterale Bahnen bei, die von der rechten Hälfte des linken Auges stammen und die Seite gewechselt haben. Entsprechendes gilt für die beiden aus den linken Augenhälften herausführenden Kabelstränge (Abb. 23.1 u. 23.2). Der aus dem Augapfel herausführende Kabelstrang enthält vor seiner Aufteilung ca. 1 Mio. Einzelfasern. Im Chiasma opticum, der Überkreuzungsstelle, wechseln jeweils die von der nasennahen Retinahälfte ausgehenden Bahnen die Seite. Sie tref-
Abb. 23.2. Sehbahn; die Nervenzellen der Retina liefern ihre Information in den seitlichen Kniehöckern ( Corpora geniculata laterale) ab. Jeder Kniehöcker empfängt Information von beiden…Augen, wobei gleiche Retinabezirke des linken und rechten Auges benachbarte Eingänge bedienen (retinotope Projektion). Im Kniehöcker wird (nach einigen Rechenoperationen) auf die primäre Sehrinde umgeschaltet. Die retinotope Projektion bleibt erhalten. Abwechselnd erhält das Sehzentrum Information vom linken und rechten Auge, derart, dass sich die räumliche Ordnung in der Retina im Sehzentrum wiederfinden lässt. Verarbeitet wird die Information in den Dominanzsäulen und weiteren Modulen des primären Sehzentrums (s. Abb. 23.3a)
fen ihre kontralateralen Partner, welche die (weitgehend) gleiche Information vom zweiten Augapfel heranführen, im Thalamus, genauer in den seitlichen Kniehöckern (Einzahl: Corpus geniculatum laterale; Mehrzahl: Corpora geniculata laterale; Engl.: Lateral geniculate nucleus LGN) des Thalamus. In den Kniehöckern kommt es aber noch nicht zur Fusion der Informationen. Die Kniehöcker sind eine Schaltstation, in der synaptisch auf weiterführende Neurone umgeschaltet wird. Dabei werden die Daten in zwei parallele Hauptkanäle verteilt: Daten, die etwas mit dem Ort und der Bewegung von vi-
23.1 Vom Auge zur gesehenen Welt
suellen Reizen zu tun haben, werden über großzellige Neurone weiter in Richtung Scheitellappen geschickt. Daten, die mit Eigenschaften (Form, Farbe) der gesehenen Objekte zu tun haben, werden über kleinzellige Neurone in Richtung Schläfenlappen geschickt (s. Abb. 23.4b). In die primären Sehrinde ( Cortex striatum, striärer Cortex, V1-Region) am Hinterrand des Großhirns laufen dann abwechselnd Bahnen vom linken und vom rechten Auge ein. Dabei wird übersichtliche Ordnung gehalten: Informationen, die
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von einander benachbarten Bildelementen herkommen, werden in Auswertstationen eingespeist, die ihrerseits einander benachbart sind. Man spricht von retinotoper Abbildung oder retinotektaler Projektion. Wie kann man überhaupt solche Verschaltungspläne aus dem unbeschreiblichen Chaos herauslesen? Es gibt verblüffende Untersuchungsmöglichkeiten. Box 23.1 listet einige technische Möglichkeiten auf.
BOX 23.1
Untersuchungsmethoden der klassischen und neueren Neurobiologie Es war einmal: Wandernde Radioaktivität und der Verlauf der Sehbahn Beispiel 1: Eine radioaktive Form der Aminosäure Prolin wird in die Augenkammer injiziert. Im lichtstimulierten, metabolisch tätigen Auge nehmen die Neurone der Retina die Aminosäure auf. Alsdann wandert Radioaktivität, wohl gebunden in Polypeptiden und verpackt in Transportvesikeln, in den Axonen bis zu den Synapsen im Corpus geniculatum laterale und, erstaunlicherweise, sogar über Synapsen hinweg weiter bis in die V1-Region. Beispiel 2: Radioaktiv markierte 2-Desoxyglucose wird in die Blutbahn injiziert. Sie gelangt schnell auch in die Blutkapillaren des Gehirns. Die hungrigen Neurone entnehmen das Glucosederivat dem Blut, je aktiver sie sind, desto mehr und desto schneller. Aktive Neurone füllen sich rasch mit Radioaktivität. Wenn nur ein Auge belichtet wird, strahlen nach kurzer Zeit vor allem die diesem Auge zugeordneten Dominanzbänder (Abb. 23.3); also strahlt jedes zweite Band (Versuche der Arbeitsgruppe Hubel und Wiesel). Versuchstiere mussten in früheren Jahren ihr Leben lassen, damit ein fotografischer Film über die Sehrinde gezogen werden konnte. Man sieht dann auf dem Film nach seiner „Belichtung“ durch die radioaktiven Strahlen und seiner fotografischen Entwicklung (Autoradiogramm), abwechselnd markierte und unmarkierte Bänder: die „Dominanzbänder“
nach Hubel und Wiesel. Heutzutage kann ein Tier am Leben bleiben. Wählt man 15O-markierte Glucose, die neben Elektronen auch Positronen ausstrahlt, kann man Bezirke, die solche strahlenden Neurone beherbergen, mit der Positronen-Emmissions-Tomographie sichtbar machen (s. unten). Auch mittels des functional Nuclear Magnetic Imaging fMRI ist es jüngst gelungen, am unbeschädigten Haupt lebender Personen Dominanzbänder sichtbar zu machen, und dies, ohne dass radioaktive Isotopen eingesetzt werden müssten (Haynes u. Rees 2005). Bessere Auflösung liefert indes ein anderes Verfahren, das freilich beim Menschen wegen mangelnder Transparenz des Schädels nicht anwendbar ist, das Optic Imaging. Optic Imaging: Aktive Neurone leuchten auf Erstaunlicherweise kann man die Auswertstationen der Sehrinde am lebenden Gehirn mit optischen Methoden sichtbar machen, während sie Information verarbeiten, also elektrisch aktiv sind. Methode. Neurone integrieren lipophile Fluoreszenzfarbstoffe in ihre Zellmembran. Man bietet ihnen Farbstoffe an, deren Emissionsspektrum abhängig von der elektrischen Spannung über der Membran ist. Lebende Neurone flackern im Licht des Zweiphotonen-Fluoreszenzmikroskops auf, während sie elektrische Impulse erzeugen. Andere, Ca2+-sensitive, in die Zellen eingebrachte Farbstoffe (z. B. bestimmte Varianten des berühmten greenfluorescent Protein GFP) leuchten auf, wenn an den Präsynapsen Ca2+-Ionen einströmen und die Exocytose der Transmittervesikel auslösen (Baker et al.
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23 Zur Funktion des Gehirns: Die Sehwelt
BOX 23.1 (Fortsetzung)
2005; Friedrich u. Laurent 2004; Liy et al. 2005). Allerdings ist die Technik nur anwendbar, wenn das Schädeldach transparent ist wie beim Zebrafisch Danio, oder wenn beim Makaken ein Sichtloch in der Schädeldecke geöffnet wird und die zu beobachtenden Neurone nahe der Oberfläche liegen (oder wenn man Hirnscheiben mit überlebenden Nervenzellen unter dem Mikroskop liegen hat). Experiment. Beim Makaken wird durch das Sichtfenster mit einer Digitalkamera eine Serie von Bildern der V1-Region aufgenommen, während das linke Auge durch Lichtreize stimuliert wird, das rechte aber abgedeckt ist. Dann wird umgekehrt das rechte Auge belichtet. Die Bildserien für das linke und rechte Auge werden jede für sich gemittelt. Die gemittelten Bilder werden alsdann voneinander subtrahiert. Was auf beiden Bildserien aufleuchtet, also nicht spezifisch vom linken oder rechten Auge herrührt, wird so herausgekürzt. Übrig bleiben auf dem Bildschirm des Computers die Dominanzsäulen des linken oder des rechten Auges. (Bei entsprechend konzipierten Experimenten können auch die Orientierungssäulen kartiert werden.) Auch beim gesunden Menschen, bei dem sich solch invasive Methoden verbieten, sind mit den nachfolgend beschriebenen Verfahren „Einsichten“ in das Gehirn möglich, wenn auch mit geringerer Auflösung. NIRS (Nahinfrarot-Spektroskopie). In der Entwicklung befinden sich optische Verfahren, in denen von tätigen Gehirnbezirken ausgehende Infrarotstrahlen aufgefangen und geortet werden. Das NIRS-Verfahren erlaubt optical imaging (bildgebendes Messverfahren) durch die intakte Schädeldecke hindurch und ist daher auch beim Menschen anwendbar, ebenso wie die nachfolgend beschriebenen Verfahren des EEG, MEG, PET und fMRI. Neuere physikalische Untersuchungsmethoden der Neurologie und kognitiven Psychologie Gegenwärtig ist optisches Imaging zum Sichtbarmachen neuronaler Aktivität nur bei oberflächennahen Cortexschichten möglich. Tiefer kann der
Elektrophysiologe mit seinen haarfeinen Mikroelektroden eindringen. Die elektrophysiologische Ableitung von einzelnen der Abermilliarden Neuronen und ihrer Fäserchen kommt aber auch rasch an Grenzen, wenn man der Sehbahn entlang in die Tiefe des Gehirns vordringt. Wie sollte man gleichzeitig von unzähligen Fäserchen ableiten und auch noch alles schön intakt lassen? Ein Rhesusaffe sieht nicht eben glücklich aus, wenn man ihm gleichzeitig zehn Elektroden ins Gehirn einpflanzt. Und was sind schon 10 Elektroden? Man sucht nach nicht-invasiven Methoden, die man auch bei (freiwillig mitarbeitenden) Menschen anwenden kann, und nimmt die geringe räumliche Auflösung solcher Methoden in Kauf. Im Gebrauch sind EEG und MEG 1. EEG und MEG Elektroencephalogramm EEG. Wie beim Elektrokardiogramm, dem EKG, greift man Potentiale von der (angefeuchteten) Haut ab (Hirnstromkurven). Man registriert Summenpotentiale, die sich aus der Superposition unzähliger Einzelpotentiale ergeben und deren Herkunft nur in groben Umrissen bekannt ist. Gewiss ist, dass die Aktivität eines einzelnen Neurons nicht erfasst werden kann, sondern nur synchrone Potentialänderungen in großen Populationen von Nervenzellen. Bis zu 128 Elektroden greifen die Potentiale von der Kopfhaut ab und überspielen sie dem Computer. In einem typischen Experiment der kognitiven Neuropsychologie werden beispielsweise auf einem Bildschirm Figuren gezeigt. Die Versuchsperson merkt sich die Eigenschaften (Form, Farbe etc.) oder den Ort der Figuren. In einem späteren Versuchsdurchlauf drückt die Versuchsperson rasch auf einen Knopf, wenn ein bekanntes Objekt wieder erscheint – an der richtigen Stelle oder mit den richtigen Eigenschaften. In Bruchteilen von Sekunden, nachdem man ein Objekt zum Sehen angeboten hat, sind Veränderungen im EEG erkennbar. Auch in der Phase der Erinnerung filtert der gut programmierte Computer irgendwelche Veränderungen heraus. Man nennt solche Potentiale Ereignis-korrelierte Potentiale EKP oder Event-Related Potentials ERP. Bei erfolgreicher Er-
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23.1 Vom Auge zur gesehenen Welt
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innerung treten im Detail solcher ERP bestimmte Veränderungen auf (Mecklinger u. Müller 1996). CT, NMR. Konventionelle Röntgenaufnahmen sind für den Neurologen nahezu nutzlos, denn die Schädeldecke schirmt viel Strahlung ab, und was noch durchdringt, trifft auf kontrastarmes Gewebe. Rotieren jedoch Röntgenquelle und Detektor um den Kopf und werden viele Scan-Aufnahmen aus allen Winkelgraden per Computer ausgewertet, so ist man in einem Raum der Klinik, an dessen Tür das Schild angebracht ist „CT“, das Kürzel für Computertomographie. Tomographie heißt Schnittdarstellung. CT-Aufnahmen sind morphologische Aufnahmen – Schnitt für Schnitt wird das Gehirn durchgescannt. Der Neurologe setzt CT ein, wenn er beispielsweise nach einem Gehirntumor fahndet. Bessere Auflösung und am Ende dreidimensionale Bilder liefert die Kernspin- oder NMR-Tomographie; doch dazu mehr unten unter fMRI. Magnetoencephalogramm MEG. Wo elektrische Ströme fließen, entstehen auch magnetische Felder und seien sie auch extrem schwach. Im lebenden Gehirn treten Felder mit Flussdichten auf, die weniger als der zehnmillionste Teil des Erdmagnetfeldes betragen. Heliumgekühlte Großgeräte mit supraleitenden Komponenten (SQUIDs = superconducting quantum interference devices) machen Magnetfeldschwankungen in diesen Größenordnungen messbar. Die Sensoren liegen wie bei der EEG auf der Kopfhaut. Die räumliche Auflösung der MEG ist besser als die der EEG. Mittels MEG, die mit der fMRI (unten) kombiniert werden kann, lässt sich herausfinden, welches sensorische Gehirnareal beispielsweise für die Hand zuständig ist (Somatotopie). Das sehr aufwändige Verfahren wird jedoch gegenwärtig nur an wenigen Institutionen zu Forschungszwecken eingesetzt. Eine Variante ist Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI), die für die nicht-invasive Darstellung von Faserzügen geeignet ist. 2. Metabolische Verfahren: PET und fMRI Diese Verfahren machen nicht elektrische Aktivitäten, sondern Stoffwechselaktivitäten des Gehirns
auf dem Bildschirm des Computers sichtbar. Die Verfahren sind ausgereift, haben aber keine sehr hohe Auflösung und sind relativ träge, erlauben aber, das ganze Gehirn nach Zentren momentaner Aktivität abzusuchen. Die Positronen-Emissions-Tomographie PET ist ein bildgebendes Verfahren, das heute nur noch in Einzelfällen eingesetzt wird. Es ist halbinvasiv und misst lokale Unterschiede in der Hirndurchblutung und der metabolischen Aktivität, nachdem Isotopen-markiertes Wasser (zum Messen der Durchblutung) oder markierte Glucose (zum Messen der metabolischen Aktivität) ins Blut injiziert worden sind. Gewählt wird z. B. Glucose, die mit 15O2 markiert ist und Positronen als Signal aussendet. Die lokale metabolische Aktivität wird gemessen vor und während die Versuchsperson bestimmte Aufgaben löst (z. B. liest). Tätige Hirnareale werden verstärkt mit Blut versorgt und nehmen verstärkt Glucose auf. Man schaut in Echtzeit zu, wo im Gehirn über längere Zeit (Sekunden, Minuten) ausgedehnte Stoffwechselaktivität herrscht. Gegenüber den nachfolgend beschriebenen VerDer Spin der Protonen in den Atomkernen erzeugt ein winziges magnetisches Feld. Wenn keine äußere Kraft Einfluss nimmt, weisen in unserem Körper die Spinachsen der Protonen in den Atomkernen ungeordnet in alle Raumrichtungen. Kernspintomographen erzeugen hohe magnetische Felder bis zu 10 Tesla, ca. 200 000 × stärker als das Magnetfeld der Erde. Wird der Körper einer Person in der Röhre des Apparates solchen Feldstärken ausgesetzt, werden die Spinachsen der Atomkerne parallel ausgerichtet ( alignment). Der Körper wird gewissermaßen zum Stabmagneten. Nun werden Radiowellen ausgesuchter Frequenz in wechselnden Winkeln und Intensitätsgradienten transversal zum Magnetfeld durch den Körper geschickt. Sie versetzen manche Atome in Resonanzschwingungen. Durch die Wahl der Stärke des ersten (statischen) Feldes und die Wahl von Frequenz und Winkel des Transversalfeldes, kann sehr genau bestimmt werden, welche Kerne in Resonanz geraten sollen – hier zielt man auf Sauerstoff. Beide Felder werden vielfach in jeder Sekunde in vorgegebener Reihenfolge ein- und ausgeschaltet. Die in resonante Schwingungen versetzten Sauerstoffatome senden ihrerseits synchron hochfrequente Magnetfelder (minimaler Intensität) aus. Diese erzeugen in den Spulen der rings um die Röhre angebrachten Detektoren elektrische Wechselspannungen, die als Signale vom Computer zur Konstruktion eines Bildes ausgewertet werden.
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BOX 23.1 (Fortsetzung)
fahren bleibt ein Vorteil des PET: Man kann auch substanzspezifischen Metabolismus lokalisieren, beispielsweise bei Parkinson-Patienten den Krankheitsherd mittels radioaktivem Dopamin hervorheben. Die funktionelle magnetische Kernspinresonanz-Tomographie ( functional Nuclear Magnetic Resonance Tomography fMRT), auch functional Magnetic Resonance Imaging fMRI und im Alltag meistens einfach Kernspintomographie genannt, misst die Hirndurchblutung, ohne dass ein Isotop in die Blutbahn eingeführt werden müsste. fMRI misst Kernspin-Resonanzfrequenzen von Sauerstoffatomen in wechselnden Magnetfeldern. Von besonderer Bedeutung ist, dass Hämoglobin nach Abgabe seines Sauerstoffs (deoxyHB) paramagnetisch wird. Wo also Sauerstoff dem Blut entzogen worden ist, sind die magnetischen Felder abgeschwächt. Venös gewordenes Blut unterscheidet sich von unverbrauchtem arteriellem Blut. Man spricht von BOLD-Kontrast (Blood Oxygenation Level Dependent Contrast). Die Quellen der Felder und die Lücken in den Feldern werden mit kreisförmig um den Kopf angeordneten Detektoren geortet. fMRT ermöglicht die räumliche Lokalisation der aktivierten Gehirnareale mit einer Auflösung im Millimeterbereich. Schichtweise das ganze Gehirn aufzunehmen (1 Hirnscan), dauert 1 bis 4 Sekunden. Die Gesamtmessung kann jedoch bis zu 2 Stunden dauern, weil man (wie beim EEG) über viele experimentelle Durchgänge und Hirnscans mittelt. Soll der Proband in der Röhre eine visuelle Aufgabe lösen, wird der Monitor mit den Reizmustern über einen Spiegel für den Probanden sichtbar gemacht. Möglichkeiten der Stimulation: verblüffend (und erschreckend) Elektrische Stimulation. Die elektrische Stimulation bestimmter Gehirnbezirke mit haarfeinen Elektroden ist beim Menschen auf Einzelfälle beschränkt, wenn der Neurochirurg mit Zustimmung des Patienten während einer erforderlichen Gehirnoperation ohne Narkose diese oder jene Gehirnpartie mit elektrischen Impulsen stimulieren
darf. Der Patient sieht dann beispielsweise Halluzinationen, oder es tauchen Erinnerungsbilder in seinem Bewusstsein auf. Elektrische Stimulation wird in der Klinik eingesetzt, um Gehirnareale exakt zu markieren, die bei der operativen Entfernung eines Tumors oder eines Epilepsie-Herdes möglichst nicht geschädigt werden dürfen. So wird man, wenn irgend möglich, das Sprachzentrum schonen. Auch werden Elektroden zur Therapie von schweren Parkinsonerkrankungen oder Zwangsstörungen inzwischen auch dauerhaft implantiert. Eine neue, nicht-invasive Methode der Stimulation ist die TMS. Transcraniale (transkranielle) magnetische Stimulation TMS. Eine 8-förmige Spule erzeugt pulsierende magnetische Felder, die in den Schädel eindringen und in den äußeren Schichten des Cortex Neuronen aktivieren. Das stimulierte Feld kann 1 cm2 klein sein. Mit räumlich gezielt eingespielten repetitiven Pulsen werden lokal Funktionen gestört, also artifizielle, vorübergehende Läsionen gesetzt. TMS wird routinemäßig bei der Diagnose einer Querschnittslähmung eingesetzt. TMS soll zukünftig die berühmt-berüchtigte Elektrokrampftherapie bei schweren Depressionen ersetzen. TMS soll bei sachgemäßer Anwendung keine bleibenden Schäden verursachen. Doch können nicht nur Funktionen unterbrochen, sondern auch Reaktionen ausgelöst werden wie das unwillentliche Heben einer Hand. Geschickten und erfahrenen Neurologen gelingt es auch, psychische Erlebnisse hervorzurufen. Neuerdings werden mehrere Stimulatoren in einen Helm eingebaut, den sich der freiwillige Proband überzieht. Viel in den Medien berichtet und diskutiert: Stimulation eines bestimmten Areals im linken Schläfenlappen löse Erlebnisse aus, die in unserer Kultur der Welt der Spiritualität zugeordnet werden, aber auch in Fieberzuständen, unter Hypnose oder unter dem Einfluss von Drogen auftreten können: Trance, mystische Verzückung, das Einswerden mit der ganzen Welt, Schweben über dem eigenen Körper ( out-of-body experience), Lichterscheinungen und andere, auch als Nahtoderfahrungen bekannt gewordene Erlebnisse.
23.1 Vom Auge zur gesehenen Welt
23.1.4 In der Schaltstation der Kniehöcker spiegeln sich die rezeptiven Felder der Retina wider
Kniehöckern ist noch eine recht genaue retinotope Kartierung ( retinotopical mapping) möglich.
Im vorigen Kap. 22 erfuhren wird, dass bereits in der Retina des Auges Millionen von Nervenzellen mit der ersten Verarbeitung der Bildinformation befasst sind. Ganglienzellen, deren Axone, im Nervus opticus gebündelt, aus dem Auge herausführen, haben Meldungen einer ganzen Gruppe benachbarter Photorezeptoren gesammelt und ausgewertet. Diese Gruppe von Photorezeptoren bildet das rezeptive Feld dieser Sammel-Ganglienzelle. Solche rezeptiven Felder sind in der Regel als „center-surround“-Felder organisiert: Belichtung des peripheren Feldes hat, dank lateraler Inhibition, gegenteilige Effekte gegenüber Belichtung des Zentrums. Solche Felder werden in zwei Hauptklassen zusammengefasst:
23.1.5 In der primären Sehrinde findet man Nervenzellen, die auf bestimmte, erst durch Datenverarbeitung ermittelte Merkmale des Sehbildes reagieren
1. Konzentrische Breitbandzellen ( concentric broad band cells) zum Erfassen von Hell-DunkelKontrasten. Reagiert ein „On-center“-Neuron mit erhöhtem Feuern von Spikepotentialen, wenn das Zentrum seines rezeptiven Feldes belichtet wird, senkt es seine Aktivität, wenn das unmittelbare Umfeld des Zentrums belichtet wird. „Of- center“-Neurone verhalten sich reziprok. 2. Einfache und konzentrische Gegenfarbzellen ( single and concentric opponent cells). Auch findet man in den Kniehöckern farbcodierende Neurone wieder, deren rezeptives Feld das Gegenfarbensystem widerspiegelt. Einfache Zellen: Reagiert ein Neuron positiv, wenn das Feld mit Blau belichtet wird, reagiert es negativ, wenn es mit Gelb (oder Grün + Rot) belichtet wird. (Bei den auch vom Umfeld beeinflussten konzentrischen Gegenfarbneuronen sind die Verhältnisse so komplex, dass auf Abb. 22.13 oder weiterführende Literatur (z. B. Kandel et al. 1996) verwiesen werden muss.) Dies alles wird hier wiederholt, weil sich diese Prozesse im Kniehöcker wiederholen. Greift man die Aktivitäten der postsynaptischen, die Information zur Sehrinde weiterleitenden Neurone ab, während die Netzhaut Punkt für Punkt mit kleinen kreisförmigen Lichtflecken gescannt wird, findet man die rezeptiven Felder der Retina wieder (wenn auch vom Kreis zum Oval verformt). In den seitlichen
Je mehr es Forscher wagen, mit ihren Ableitelektroden in den Sehzentren von Makaken, Katzen und anderen Tieren die elektrischen Signale von Neuronen abzuhorchen (es sind keine Untersuchungen, die dem Tierliebhaber und Tierschützer gefallen, auch wenn das Gehirn als schmerzlos bezeichnet wird), desto mehr werden Neurone gefunden, die nur dann feuern, wenn im Bild auf der Netzhaut bestimmte Merkmale auftauchen. Die Auswertneurone sind bei Primaten in sechs Oberflächen-parallele (‚horizontale‘) Schichten gegliedert; diese sind ihrerseits in viele vertikale Säulen (Kolumnen) unterteilt (Abb. 23.3a, b). Die horizontale Schichtung hat die Anatomen bewogen, dem Sehcortex die Bezeichnung „cortex striatum“ (lat.: = gestreifte Rinde) zu verleihen. Die Auswertmechanismen arbeiten vor allem Kontraste und Konturen heraus, also Kontraste, die entlang einer Strecke konträre Eigenschaften (Hell-Dunkel; Rot-Grün, Blau-Gelb) voneinander scheiden. Den Elektrophysiologen gelang es, drei Hauptgruppen von Neuronen ausfindig zu machen; sie werden als Merkmalsdetektoren ( features detectors) angesprochen: 1. Orientierungsneurone der Schichten 1–3 und 5–6 sind, vertikal gruppiert in Orientierungssäulen. Orientierungsspezifische Neurone feuern, wenn eine Hell-Dunkel-Kontur über einem Netzhautareal eine bestimmte Orientierung hat. Für jede Orientierung gibt es Spezialisten. Die Vorzugsrichtungen ändern sich von Säule zu Säule jeweils um 10° (Abb. 23.3a). Über 18 Kolumnen hinweg drehen sich die Orientierungspfeile um 180°. 2. On- und Off-Neurone. In der Zwischenschicht 4 findet man Neurone, die ähnlich wie die „Licht an“ und „Licht aus“ Bipolaren der Netzhaut mitteilen: „An dem Punkt der Retina, von dem wir Meldungen erhalten, wurde es soeben hell“ oder „dunkel“. Oder
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23 Zur Funktion des Gehirns: Die Sehwelt 0,5 mm
“Blobs” mit Neuronen zur Analyse von Farbe (Rot/Grün; Blau/Gelb) u. S/W-Kontrasten Cortexoberfläche (oberste Schicht 1 entfernt)
2 3 4 Dominanzsäule
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Dominanzsäule
6 Orientierungssäulen Neurone zur Detektion der Orientierung von Linien und Konturen
a Abb. 23.3a. Organisation des primären Sehzentrums V1 in Verarbeitungsmodulen. Auf der Oberfläche der Sehrinde lassen sich 0,5 mm breite Dominanzsäulen bzw. Dominanzbänder ausmachen, die abwechselnd dem linken und rechten Auge zugeordnet sind (a). Überlappungsbereiche erhalten Information von beiden Augen. Senkrecht zu den Dominanzsäulen sind die Orientierungssäulen angeordnet. Sie enthalten Neurone, welche aus dem Gesamtbild Linien und Konturen herausfiltern. Die Neurone einer Kolumne sind auf eine bestimmte Orientierung spezialisiert; von Kolumne zu Kolumne ändert sich die Orien-
tierung um einen bestimmten Winkelgrad (10°). Zwischen den Säulenreihen eingebettet sind „blobs“, das sind Gruppen von Zellen, die sich im mikroskopischen Präparat dank ihres hohen Gehalts an Cytochromoxidase färberisch darstellen lassen. Sie enthalten Neurone, die nach dem Gegenfarbenprinzip auf Farbe reagieren, oder auf Hell-Dunkelkontraste. Die Abbildung ist stark schematisiert und enthält nur eine Auswahl der Informations-verarbeitenden Zellgruppen. Die nur aus Fasern bestehende Schicht 1 des Cortex ist weggelassen, um den Blick auf die Blobs freizulegen
es melden sich Neurone, die das allgemeine Helligkeitsniveau gemittelt haben und anderen Neuronen bzw. Neuronenverbänden mitteilen. (Ober- und unterhalb der Schicht 4 gibt es Übergänge zu den Richtungs-empfindlichen Neuronen der Orientierungsneurone.)
3. Farb- und Schwarz-Weiß-Neurone. Sie werden bei den farbtüchtigen Makaken gefunden. Farbneurone haben errechnet, in welchen Verhältnissen kurze, mittellange und lange Wellenlängen im Farbenspektrum eines kleinen Bildbereichs (in einem rezeptiven Feld der Retina) vertreten
23.1 Vom Auge zur gesehenen Welt
säu
inanz
Orientierungssäule
Dom
Ein Paar benachbarter Dominanzsäulen (linkes + rechtes Auge) mit ihren Orientierungssäulen und blobs bezeichnet man als Hyperkolumne. Eine Hyperkolumne verarbeitet alle Informationen über einen bestimmten Punkt in unserem Sehfeld. Die Merkmalsanalyse findet ihre Fortsetzung in den nachgeschalteten sekundären Sehzentren V2V5. Erwähnt seien nur zwei Beispiele:
)
band
inanz
om len (D
GliaRadialfaser wandernder Neuroblast
b
Neuroepithel auswandernde Neuroblasten
Abb. 23.3b. Zur Entstehung der Dominanz- und Orientierungssäulen in der Embryonalentwicklung und postembryonalen Wachstumsphase des Gehirns (b). Stammzellen des an die Gehirnventrikel angrenzenden Neuroepithels geben Neuroblasten ab, die entlang von Gliafasern Richtung Gehirnoberfläche wandern. Sie gruppieren sich dabei in mehrere Lagen (Schichten). Hier ist nur die erste Lage (spätere Schicht 6) eingezeichnet. Wird nach der Geburt ein Auge verschlossen (Versuche an Katzen), bleiben die diesem Auge zugeordneten Säulen unterentwickelt. Abb. aus Müller & Hassel (2006) Entwicklungsbiologie, 4. Aufl., Abb. 17.14 (hier leicht modifiziert); Springer
sind. Farbneurone reagieren wiederum nach dem Gegenfarbenprinzip. Ein Neuron, das bei Blaulicht heftig feuert, wird bei Gelb (oder bei einer Mischung von monochromatischem Grün + Rot) schweigsam; ein anderes Neuron, das bei gelbem Prüflicht feuert, ist bei blauem Licht still. Den Gelb-Blau-Analysatoren stehen RotGrün-Analysatoren zur Seite. Daneben gibt es S/W-Neurone, die Schwarz-Weiß-Kontraste im gesehenen Bild herausgefiltert haben. Farb- und S/W-Neurone finden sich in Gruppen von Zellen („blobs“), die sich in mikroskopischen Präparaten aufgrund ihres hohen Gehalts an Cytochromoxidase färberisch hervorheben lassen und zwischen die Orientierungssäulen eingeschoben sind (Abb. 23.3a).
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Bewegungsdetektoren. Sie reagieren ähnlich den Neuronen der V1 auf Farb- oder Hell-Dunkel-Kontraste, doch nur, wenn sich solche Kontraste in bestimmter Richtung über die Augennetzhaut bewegen.
●
Ecken. Es gibt Neurone, die nur feuern, wenn sich im Gesichtsfeld eine eckige Kontur bewegt. 23.1.6 Das „Was“ und das „Wo“ eines Objekts werden parallel in verschiedenen Kanälen analysiert
Die primäre Sehrinde V1 und die nachgeschalteten Zentren V2-V5 im Hinterhaupt sind bei Primaten nicht die Endstation der visuellen Datenverarbeitung. Es ziehen Bahnen weiter (1) in den hinteren Scheitellappen und (2) in den unteren Schläfenlappen (Abb. 23.4a, b). Diese haben selbstredend unterschiedliche Aufgaben, aber welche? Wenn Versuchspersonen die Aufgabe erhalten, sich entweder die Eigenschaften einer Figur (Form, Farbe) zu merken oder deren Position im Raum, so kann man aus Differenzen im Elektroenzephalogramm (EEG) (oder im Bild des Kerspintomographen) herauslesen, dass das „Was“ und das „Wo“ in verschiedenen Orten des Gehirns verarbeitet wird. Wird die Position abgefragt, erscheinen andere wellenförmige Potentiale als wenn z. B. nach der Farbe gefragt wird. Die Herkunft der Potentiale lässt sich mit ausgeklügelten Computerprogrammen bestimmten anatomischen Strukturen zuordnen – den sekundären (und tertiären) Zentren visueller Datenverarbeitung (z. B. Mecklinger u. Müller 1996). Auch Untersuchungen an Makaken und an Menschen mit lokalen Hirnläsionen trugen zu dieser Erkenntnis bei. Im hinteren Scheitellappen (posteriore Parietallobus) werden Position und Bewegung eines Objektes analysiert. Der Elektrophysiologe findet hier bei
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23 Zur Funktion des Gehirns: Die Sehwelt
Somatomotorischer Cortex (geplante und gezielt gesteuerte Bewegungen) Somatosensorischer Cortex (Tastsinn, Hautsinne)
Präfrontaler Cortex (Lenkung der Aufmerksamkeit)
Frontal-Lappen Parietal-L. Höhere visuelle Areale V2-V4 Auditorischer Cortex
Okzipital-L.
Primäres Sehzentrum V1, (Analyse von Bildmerkmalen, visuelles Kurzzeitgedächtnis)
Temporal-Lappen
Broca-Areal (Sprechvermögen, Produktion von Wortfolgen Wernicke-Areal (Verständnis des Inhalts nach Syntaxregeln) gesprochener und geschriebener Sprache)
a
Cerebellum (Kontrolle und Korrektur von Bewegungsprogrammen)
Präfrontale Rinde Parietallappen "Wo?" Ort und Bewegung von Objekten
V1
Primäre Sehrinde
V4 V3 V2 (V1-Region)
Temporallappen Amygdala "Was?" -- Eigenschaften Emotionale Bewertung von Objekten dorsale Route - Raumwahrnehmung Position Orientierung
Frontaler Cortex
Raumachsen: oben - unten links - rechts
Distanz Länge
Raum-Arbeitsgedächtnis Objekt-Arbeitsgedächtnis
Objekte Gesichter
b
Farben
V1 primäre Sehrinde
Formen Muster
räumliche Nachbarschaftsbeziehungen
ventrale Route - Objektwahrnehmung
Abb. 23.4a, b. Visuelles Auswert- und Speichersystem. Stationen der Datenverarbeitung (a). Wichtige Bereiche der Gedächtnisbildung (b)
23.2 Wahrnehmungspsychologie: von den Daten bis zum Bewusstsein
Rhesusaffen und anderen Makaken besonders viele Neurone, die richtungsspezifisch auf bewegte visuelle Reize ansprechen. Diese Hirnregion hat auch Verbindung zu jenen motorischen Zentren, deren Aktivität mit Aufmerksamkeit assoziiert ist und die die Augenbewegungen steuern. Im unteren Schläfenlappen (inferiore Temporallobus) werden die Eigenschaften eines Objektes analysiert: seine Form, seine Größe, seine Farbe. Hier hat der Elektrophysiologe Neurone mit erstaunlichen Eigenschaften entdeckt: Neurone, die dann feuern, wenn komplexe Muster wie z. B. eine Hand oder ein Gesicht im Sehfeld des Auges auftauchen. Ein Neuron, das feuert, wenn die Großmutter im Bilde erscheint, nicht aber, wenn Tante Emma erscheint, ist freilich noch nicht entdeckt worden. Vielmehr denkt man, dass Objektkategorien („Hand“ oder „Gesicht“) von Neuronenverbänden verarbeitet werden, die in der Lernphase zu diesem Verband zusammengeschaltet worden sind. Dabei kann ein einzelnes Neuron Mitglied in mehreren Verbänden („neuronalen Netzen“) werden. Gedächtnisausfälle bei Menschen und Tieren mit Gehirnverletzungen bestätigen die Existenz parallel arbeitender Subsysteme. Bei einer Läsion des Schläfenlappens erkennt ein Patient noch, dass sich an einer bestimmten Stelle des Raumes ein Objekt befindet und bewegt, kann es aber nicht mehr von anderen Objekten nach Form oder Farbe unterscheiden. Personen können nicht mehr voneinander unterschieden werden. Die Strategie der parallelen Analyse von Eigenschaften und dem Ort der Objekte dürfte es erleichtern, ein Objekt an seiner Form und Farbe wiederzuerkennen unabhängig davon, wo es sich gerade befindet. Gesichtserkennung und Evolution. Die Vorstellung, dass es Neurone oder – wahrscheinlicher – Neuronenverbände gäbe, die auf das Erscheinen eines bestimmten Gesichts reagieren, ist so abwegig nicht. Neurologen kennen verblüffende Formen der Agnosie, wie sie beispielsweise bei lokalen Durchblutungsstörungen im Schläfenlappen anlässlich eines Schlaganfalles diagnostiziert werden. Es können Gesichter vertrauter Personen nicht mehr erkannt werden (Prosop-Agnosie). Nur Stimme, Bewe-
gungsart und Kleidung helfen, die eigene Frau zu erkennen (Lesenswert: Oliver Sacks 2000 Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, rororo sachbuch 1490). Im Extremfall ist es das eigene Gesicht im Spiegel, das nicht mehr erkannt wird. („At the club I saw someone strange staring at me, and I asked the steward who it was. You’ll laugh at me. I’d been looking at myself in the mirror“, zitiert nach Gazzaniga et al. 2002, S. 227). Dies berichtete ein Mann mit sonst exzellentem Gedächtnis. Primaten, und so auch die Vorfahren des Homo sapiens, leben oder lebten in kleinen Gruppen mit ausgeprägtem Sozialverhalten. Es war wichtig, Gruppenmitglieder von einander und von Fremden zu unterscheiden und die Mimik richtig zu deuten. Dementsprechend sind relativ große Teile des Schläfenlappens bei der Beurteilung eines Gesichts involviert. fMRI-Aufnahmen der BOLD-Antwort (Box 23.1) heben bei solchen Aufgaben Bereiche des ventralen Schläfenlappens der rechten Großhirnhemisphäre als „fusiform face area FFA“ hervor. Bei Makaken haben einzelne Neurone des Temporallappens „rezeptive Felder“, die große Bereiche der Netzhaut abdecken, also auf verarbeitete Information eines großen Bildfeldes reagieren. Von einem einzigen Neuron in einem Heer von Milliarden zu erwarten, es handle sich um das Großmutter-Erkennungsneuron, wäre freilich eine enorme (und groteske) Extrapolation. Gesichter sind komplexe Muster, mit deren Analyse Milliarden von Nervenzellen befasst sind.
23.2 Wahrnehmungspsychologie: von den Daten bis zum Bewusstsein 23.2.1 Die Psychologie hat das letzte Wort: Das Gehirn konstruiert die Sehwelt nach vorgegebenen, in der Evolution bewährten Prinzipien Wer mit einem Vektorgrafikprogramm seines PC ein „Objekt“ erstellt, zeichnet erst eine geschlossene
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23 Zur Funktion des Gehirns: Die Sehwelt Mentale ´Konstruktion von Objekten
Kriterium
oder einer Kontur (Abb. 23.5). Auch sich gemeinsam bewegende Elemente heben sich als Objekt von ihrer unbewegten Umgebung ab.
Ähnlichkeit Nähe
23.2.2 Die Rekonstruktion der räumlichen Tiefe basiert auf Geometrie und Erfahrung
Nähe
Die dritte Raumdimension wird aus den Gesetzen der optischen Geometrie und der Erfahrung rekonstruiert. Umschlossener Bereich
Geometrie, Perspektive ●
Die Bilder beider Augen sind außerhalb der Focusfläche im Zentrum der Fovea nicht exakt deckungsgleich. Das Wahrnehmungssystem erkennt beim Vergleich kleine Unstimmigkeiten (Querdispersionen), die für nahe und ferne Objekte unterschiedlich ausfallen und ausgewertet werden. Im binokularen Gesichtsfeld ist das Tiefensehen erheblich besser als im monokularen. Doch auch monokulares Sehen mit nur einem offenen Auge ermöglicht die Rekonstruktion der Tiefe, auch wenn das Ergebnis flacher ausfällt.
●
Auch beim monokularen Sehen sind nahe und ferne Gegenstände nicht gleichzeitig scharf. Ist unser Auge auf Nähe oder Ferne eingestellt, wenn es ein Objekt fixiert?
●
Schräg verlaufende Linien erzeugen nach angeborenem Schema der Datenauswertung Perspektive, besonders zwingend, wenn die schrägen Linien auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt zulaufen (Abb. 23.6). Das Kriterium der schrägen Linien ist für die Auslösung eines Tiefeneindrucks das wichtigste. Es wird ergänzt durch Erfahrungsregeln.
●
Bewegen sich Objekte, oder streift unser Auge über Objekte, so bewegen sich nahe Objekte im gleichen Zeitraum scheinbar über eine größere Strecke als ferne Objekte. Für das Retinabild gilt dies nicht nur scheinbar, sondern real. Es ergeben sich über das Retinabild hinweg Geschwindigkeitsgradienten. Erfahrung dürfte sagen, wie sie zu deuten sind (Abb. 23.6).
Umschließende Linie oder Kontur Verbindende Linie Zusammenhang
Gleiche Orientierung, Gemeinsame Bewegung
Abb. 23.5. Regeln der Objektkonstruktion im visuellen Wahrnehmungssystem
Linie (z. B. Kreis, Quadrat), kann dann den umschlossenen Bereich mit Farbe füllen und das so geschaffene „Objekt“ verschieben oder verkleinern unabhängig von anderen Objekten. Nach einer ähnlichen Strategie arbeitet unser Gehirn. Wie kann man ein Objekt, eine Blüte, ein Blatt, einen Baum als solches erkennen? Unser Wahrnehmungssystem muss zuallererst herausfinden, welche Merkmale zusammengehören und ein Objekt konstituieren, und wie sich dieses gegen seine Umgebung abgrenzen lässt. Psychologen haben einige grundlegende Regeln herausgefunden, nach denen unser Wahrnehmungsapparat Elemente zu Objekten gruppiert. Man nennt diese Regeln in der Psychologie Gestaltgesetze. Es sind dies die Regeln der Ähnlichkeit (z. B. gleiche Form oder gleiche Farbe), der Nähe, des Umschlossenseins von einer Linie
23.2 Wahrnehmungspsychologie: von den Daten bis zum Bewusstsein
Relativbewegung Blatt Augen
b
a
Geschwindigkeitsgradienten für Bildpunkte
Abb. 23.6. Perspektive und Größenrekonstruktion. Schräge Linien vermitteln den Eindruck der Tiefe. Beachte: Die zwei Pflanzen, die zwei Gitarren und sogar die zwei Saurier sind auf dem Papier gleich groß
Erfahrung ●
Nahe Linien, Konturen und Objekte verdecken entfernte.
●
Objekte bekannter Größe erscheinen umso kleiner, je weiter entfernt sie sind. Das Kleinkind muss zwischen perspektivischer und realer Kleinheit unterscheiden lernen.
●
Die Farbsättigung nimmt mit der Entfernung ab, die Weiß- bzw. Blau-Verhüllung nimmt zu. Der holländische Grafiker M.C. Escher (1898– 1972) kannte die Regeln, nach denen unser Wahrnehmungsapparat Figuren und Tiefe konstruiert, sehr gut. Er hat unter trickreicher Ausnutzung der Regeln Bilder geschaffen, die dem Betrachter auf intelligente Weise nahe bringen, wie sich sein Wahrnehmungsapparat täuschen lassen kann (s. Farbtafel 26). In der Welt des Alltags aber hat sich das Auswertesystem über Jahrmillionen offensichtlich recht zufriedenstellend bewährt – trotz mitunter fataler Irrtümer (z. B. Fata morgana).
23.2.3 Im Zweifelsfall trifft ein Kippmechanismus eine Entscheidung Nicht immer liefern Geometrie und Erfahrung eindeutig interpretierbare Bilder (Abb. 23.7 u. 23.8). Unentschiedenheit kann für Mensch und Tier fatal sein. Im Zweifelsfall gibt eine Zufallsentscheidung zugunsten der einen oder anderen Lösung immer noch die Chance, zu 50% richtig zu liegen. 23.2.4 Unser Wahrnehmungsapparat erzeugt aus Erfahrung Konstanz, wo es zweckmäßig ist In einer wechselvollen Welt sich zurechtzufinden, ist leichter, wenn Veränderliches gegenüber Gleichbleibendem herausgehoben wird. ●
Farbkonstanz. Im rötlichen Abendlicht erscheinen uns Farben nicht viel anders als im Mittagslicht oder unter Kunstlicht. Das Farbfoto mit seinem Rot- oder Blau- oder Gelbstich belehrt
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23 Zur Funktion des Gehirns: Die Sehwelt
Abb. 23.7. Necker-Würfel und unmögliches Dreieck. Beim Neckerwürfel (Drahtwürfel) sind zwei Interpretationsweisen möglich. Unser Wahrnehmungssystem springt übergangslos von der einen zur anderen Interpretation und zurück. Beide möglichen Sichtweisen werden von den rechten kleinen Würfeln vorgestellt. Bei ihnen erzeugen verdeckte Linien Eindeutigkeit. Beim unmöglichen Dreieck stiftet das Prinzip der verdeckten Linien hingegen Verwirrung
uns dann, dass die spektrale Zusammensetzung des Lichtes zu verschiedenen Tageszeiten und von verschiedenen Kunstlichtquellen doch recht unterschiedlich ist. Das Sehsystem dämpft einen uniformen Farbton, der über dem gesamten Gesichtsfeld liegt, damit es umso besser die relativen spektralen Unterschiede herausarbeiten kann, mit denen Licht von Objekten reflektiert wird. ●
Raumkonstanz. Wie auch immer wir den Kopf neigen oder die Augen rollen, wie auch immer sich das Bild auf der Retina dreht und verschiebt, der Kirchturm bleibt aufrecht und an seinem Ort. Das ist nicht trivial. Wenn wir unseren Augapfel mit den Fingern passiv bewegen, verschiebt sich die Welt und kippt.
●
Abstraktion. Wir sehen eine Katze von vorn, von der Seite, von hinten, von oben. Wir sehen sie springend, stehend, liegend, zusammengerollt. Wir sehen nur die Ohren über den Rand des Körbchens ragen. Kein Bild mag dem anderen physikalisch gleichen. Und doch: wir sehen immer unsere Katze. Die Erinnerung hilft uns unbewusst, aus Fragmenten ein Ganzes zu kons-
Abb. 23.8. Zweideutige Figuren. Oben: Zwei Gesichter oder Vase? Unten: Hase oder rückwärts schauende Ente?
truieren, das unabhängig von einem konkreten Raum und einer bestimmten Zeit weiterexistiert (Abb. 23.9).
23.2.5 Es gibt auch unbewusstes Sehen Wir erwarten, dass optische Daten, miteinander in Beziehung gesetzt und verrechnet, letzten Endes eine mentale Sehwelt ergeben, die ins Bewusstsein gelangt. Bewusstsein in diesem Zusammenhang
Abb. 23.9. Abstraktion. Keine Figur gleicht der anderen. Geringste partielle Übereinstimmungen mit gespeichertem Wissen genügen unserem Wahrnehmungssystem, Erinnerungen an ein Objekt wach zu rufen
23.2 Wahrnehmungspsychologie: von den Daten bis zum Bewusstsein
meint: Wir sehen etwas, können es beschreiben, erkennen und benennen. Bei Affen ist man einem verblüffenden Phänomen auf die Spur gekommen. Sie wurden daraufhin dressiert, auf ein Zeichen hin per Knopfdruck mitzuteilen, ob soeben auf einem Bildschirm ein Objekt aufgetaucht war oder nicht. Die Versuchanordnung war so, dass aufgrund der optischen Gesetze nur das linke oder das rechte Sehzentrum etwas „zu sehen“ bekam. Wurde dann beispielsweise das linke Sehzentrum operativ entfernt, wurden Objekte, die dem linken Zentrum angeboten wurden, von den Affen als nicht existent behandelt. Aber die Affen waren trotzdem in der Lage, mit ihren Augen einem solchen „nicht gesehenen“ Objekt zu folgen. Auch für Menschen mit entsprechenden Hirnläsionen sind solche Phänomene beschrieben: Sie sehen, wie sie selbst glaubhaft versichern, nichts, doch folgen ihre Augen dem bewegten Objekt, und sie können es ergreifen. Was sie ergriffen haben, wissen sie nicht. Schon in früheren Jahren hatte der amerikanische Neurologe R.W. Sperry (Nobelpreis 1981, zusammen mit Hubel und Wiesel) von Beobachtungen berichtet, die Verwunderung erregten. Damals konnte manchen Patienten mit schweren und lebensbedrohenden epileptischen Anfällen nur geholfen werden, wenn die Querbrücke zwischen beiden Gehirnhälften (Corpus callosum, ein Bündel von 200 Mio. Fasern) durchtrennt wurde. Verwundert nimmt man zunächst zur Kenntnis, dass solche SplitBrain-Patienten den Eingriff nicht nur überleben, sondern nach dem Eingriff im Alltag ohne auffällige Ausfallserscheinungen zurecht
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kommen. Im gezielten visuellen Experiment wird jedoch ein seltsamer Defekt erfassbar. Den Personen wurden auf dem Bildschirm für kurze Augenblicke Bilder von Gegenständen gezeigt. Die Geometrie der Projektion war so bemessen, dass das Bild nur in den linken oder den rechten Augenhälften auf die Netzhaut fiel. Entsprechend dem Verschaltungsschema der Sehbahn gelangte folglich das neuronal übertragene Bild nur in die rechte oder die linke Hirnhälfte. Im linken Gehirn wurde das Bild gesehen, der gezeigte Gegenstand wurde erkannt und konnte verbal benannt werden. Im rechten Gehirn jedoch wurde der Gegenstand, ein Schlüssel beispielsweise, nicht gesehen und konnte entsprechend nicht erkannt und benannt werden. Dennoch registrierten die Augen offensichtlich den Schlüssel. Die Patienten wurden aufgefordert, unter einer Reihe von konkreten Gegenständen einen auszusuchen. Ihre Augen konnten die Gegenstände nicht sehen; sie waren hinter einer Sichtblende versteckt. Nur ihre Hände konnten die Objekte ertasten. Die Patienten ergriffen bevorzugt den kurz zuvor im Bild gezeigten Gegenstand, z. B. den Schlüssel, ohne sein Bild bewusst gesehen zu haben, und ohne das konkrete Objekt selbst, das hinter der Sichtblende in ihrer Hand lag, sehen, erkennen und benennen zu können. Ob es außersinnliche Wahrnehmung gibt, ist fraglich. Bis heute liegen überzeugende Nachweise nicht vor. Wohl aber gibt es Sehen ohne Wahrnehmung ( without awareness, Gewahrwerden) und ohne dass das Registrierte ins Bewusstsein ( consciousness) käme.
BOX 23.2
Geist und Seele – nichts als Chemie und Physik? Leben zeigt Eigenschaften, die offenbar der leblosen Materie nicht zukommen. Seit Platon und Aristoteles (und vor ihnen in asiatischen Kulturen, welche bis heute den Glauben an „Seelenwanderung“ pflegen) werden Lebewesen als beseelt be-
trachtet, und es ist nach Aristoteles die Seele, die in der ontogenetischen Entwicklung die Gestaltung (Morphogenese) des Lebewesens nach ihrer Vorstellung ( eidos, Idee) lenkt. Die immaterielle Psyche (Seele, das Vermögen des Empfindens und Wollens, und Geist, das Vermögen zu denken) sei eine von der Materie getrennte Wesenheit, lenke
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23 Zur Funktion des Gehirns: Die Sehwelt
BOX 23.2 (Fortsetzung)
jedoch unser Werden und Handeln, könne demnach beispielsweise auch als Wille die materiellen Muskeln aktivieren. Im Bemühen, die Annahme einer besonderen Lebenskraft ( vis vitalis) und gar von außernatürlichen steuernden Kräften in den Biowissenschaften abzuwehren, ist vor allem im 19. Jahrhundert oftmals die Auffassung vertreten worden, Geist und Seele seien bloß Ausdruck materiellen Geschehens und „nichts als Chemie und Physik“. Auch heute vermitteln viele Bücher und Abhandlungen über das Gehirn diesen Eindruck. Es wird in dieser Weltsicht angenommen, die Summe von Chemie + Physik sei gleichzusetzen mit der Gesamtheit alles Natürlichen und entsprechend sei „chemisch-physikalisch“ gleichzusetzen mit „natürlich“. Und weiter wird angenommen, früher oder später sei auch unsere Innenwelt mit den Methoden der Naturwissenschaften und Mathematik/Informatik vollständig erfassbar und erklärbar. Diese Innenwelt wird im Englischen mit „mind“ bezeichnet, in deutschen Übersetzungen wird das Adjektiv „mental“ gebraucht (ein dem „mind“ vollständig äquivalentes deutsches Substantiv gibt es nicht; am ehesten kommt ihm das Fremdwort „Psyche“ gleich). „Mind“ bedeutet: Sinn, Verstand, Bewusstsein, Wahrnehmung, Empfindung, Gefühl und Wille. Gemeinsame Nenner dieser besonders dem Menschen zukommenden Fähigkeiten: Sie sind nur subjektiv erfahrbar und im Tiefschlaf und Koma stillgelegt. Was sind „Chemie + Physik“? Chemie und Physik treffen als Wissenschaften Aussagen über die reale, materielle Welt, sind jedoch nicht mit ihr identisch, und ihre Aussagen betreffen Teilaspekte der Wirklichkeit, die mit Apparaten messtechnisch erfassbar sind und mit Ausdrücken wie „Masse“, „Energie“, „Welle“ oder „Teilchen“ symbolisiert werden. Über die Wirklichkeit mentaler Phänomene treffen sie keine Aussagen. „Liebe, Wut, Hunger“ gehören nicht zum Vokabular der Physik + Chemie. Zwar liest man „Wärme“, „Töne“ oder „Farben“, doch sind damit, wie oftmals auch in der Physiologie, nicht die subjektiven Erlebnisse, sondern ungeordnete kinetische Energie von Molekülen, oszillierende Wechseldrücke oder elektromagnetische Schwingungen eines bestimmten
Frequenzbereichs gemeint. In der Physiologie sind damit im Besonderen Phänomene der Außenwelt gemeint, die als „Reize“ brauchbare Information für die mentale Repräsentation eines engen Ausschnittes der realen Welt liefern. Hält man sich an das, was in Lehrbüchern, Abhandlungen und Originalarbeiten der Chemie und Physik geschrieben und in Hörsälen der chemischen und physikalischen Institute gelehrt wird, wird man gewahr: Kein einziges Gesetz der Chemie und Physik, und nicht einmal eine chemischphysikalische Hypothese, nimmt Bezug auf unsere mentale Innenwelt. Kein Gesetz ist von der Psyche abgeleitet oder versucht, mentale Phänomene zu erklären. Psychophysik (s. Box 17.1) ist eine Sparte der Psychologie und nicht der Physik. Dass einstmals alles Mentale mit den Methoden der Naturwissenschaften und Hilfsmitteln der Technik analysiert und erklärt werden könne, ist (gegenwärtig) bloßer Glaube. Noch fehlt eine anerkannte Theorie, sei es eine physikalische oder eine psychologische oder philosophische, die erklären könnte, wie Mentales unter Bewahrung aller Vorgaben der physikalischen Gesetze möglich ist und geschieht. Wir können als Physiologen und Neurologen nur eine Reihe von Bedingungen nennen, die auch erfüllt sein müssen. Was müsste eine solche Theorie leisten? 1. Die Theorie muss erklären, wie Mentales überhaupt möglich ist, selbstverständlich unter Einbeziehung physikalischer Gesetzlichkeiten. Allerdings erwartet die neurobiologische Fachwelt Lösungsansätze nicht so sehr aus quantenphysikalischen Theorien, sondern eher auf höherer Ebene aus den Eigenschaften bestimmter neuronaler Netze. Aus ihnen ergäben sich, so vermutet man, Wahrnehmungen als emergente Phänomene. „Emergenz“ – statt einer Definition ein einfaches Beispiel: Im Regelkreis ergibt sich die Fähigkeit, einen Wert konstant zu halten, erst aus der Kooperation aller Komponenten, die Information liefern, verarbeiten und auf sie reagieren. 2. Die Theorie muss erklären, warum Mentales nur in einem Teil des Nervensystems erscheint
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23.2 Wahrnehmungspsychologie: von den Daten bis zum Bewusstsein
BOX 23.2 (Fortsetzung)
und nur relativ wenig Information ins Bewusstsein dringt. Man schätzt, dass die Menge an Information, die im Nervensystem unbewusst bearbeitet wird, um viele Größenordnungen höher ist als die Menge an Information, die erlebten mentalen Phänomenen zugrunde liegt. Was also unterscheidet die mit Empfindung, Bewusstsein etc. befassten Gehirnregionen von anderen? Wir erinnern uns: Die Modalität einer Empfindung wird nicht direkt vom Reiz bestimmt. Physikalische Wärmezufuhr auf unsere Hand, die ins warme Wasser taucht, triggert in den dendritschen Fasern der „Wärme-Rezeptoren“ das Losfeuern elektrischer Signale, die zum Gehirn geleitet werden. Dort tritt die Empfindung „Wärme“ als eigenständiges mentales Phänomen auf. Ist man in Narkose, löst warmes Wasser kein Wärmegefühl aus. Andererseits tritt Wärmegefühl auch auf, wenn dieselben sensorischen Nervenfasern chemisch (z. B. mittels Capsaicin) oder elektrisch gereizt werden, oder wenn transkranielle magnetische Stimulation (s. Box 23.1) direkt ein bestimmtes kleines Areal im sensorischen Cortex aktiviert. Was unterscheidet dieses Areal von jenen im Hypothalamus, die Hunger und Durst, und von jenen in der Amygdala, die Wut und Angstgefühle generieren? Was unterscheidet dieses Wärmegefühl vermittelnde Areal von den umfangreichen Gebieten, die Information gänzlich unbewusst verarbeiten und nach heutigen Kenntnissen mit derselben Biochemie und denselben elektrischen Signalen operieren? Selbst wenn man Substanzen oder Muster elektrischer Potentiale fände, die arealspezifisch sind: Substanzen sind keine Empfindung und auch nicht elektrische Potentiale als solche. 3. Ganz besonders rätselhaft ist, wie eine Empfindung, ein mentales Konstrukt an den Ort der Reizquelle projiziert wird. Es gibt keinen Informationsfluss von den zentralen Instanzen zurück in die Peripherie. Kein Bild verlässt das Auge um sich in der Umwelt anzusiedeln, keine Information fliegt zur Ampel, um elektromagnetische Schwingungen in die gesehene Farbe
„grün“ zu verwandeln, keine Phantomempfindung wird in die umgebende Luft hinaus befördert, um das Vorhandensein des amputierten Beines vorzugaukeln. Ein Bild, eine Empfindung, ein Gefühl ist und bleibt Erzeugnis des Gehirns, doch als solches gegenwärtig mit keiner chemischen Analyse und keiner elektrophysiologischen Gerätschaft messbar. 4. Schließlich müsste eine solche Theorie logisch zwingend entscheiden können, ob mentale Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Empfindung und Gefühl grundsätzlich maschinell nachvollziehbar sind oder nicht. Eine essentielle Erkenntnis aller bisherigen Forschung ist: Zwar werden immer mehr Korrelate zwischen den von außen zugänglichen und messbaren Vorgängen im Sinnes- und Nervensystem und mentalen Erlebnissen gefunden, die mentalen Erlebnisse als solche bleiben aber nur subjektiv erfahrbar. Man bleibe ehrlich und bescheiden: Momentan können die Neurowissenschaften zwar durchaus angeben, welche Gehirnregionen bei der Entstehung von gesehenen Bildern, gehörten Lauten und erlebten Gefühlen von essentieller Bedeutung sind. Auch wird man mit physikalischen Geräten wie Computertomographen (s. Box 23.1) und mit weiterentwickelten biochemisch-molekularbiologischen Verfahren (z. B. RNA-Microarray-Chips) immer mehr über die Physiologie der bewusst und unbewusst operierenden Gehirnregionen herausfinden. Es bleiben aber prinzipielle Schranken der Erfahrungsmöglichkeit. Ob Physiologe, Neurologe, Psychologe, Philosoph oder der nicht mit Wissenschaft befasste Mensch: Wie man Verliebtheit empfindet, wie sich „Hänschen klein“ anhört oder wie ein Kugelschreiber aussieht, kann jeder nur subjektiv erfahren. Würde der Schmerzforscher bei seinem Versuchsobjekt nicht bloß chemische Substanzen analysieren und elektrische Potentiale messen können, sondern das Gefühl des Schmerzes selbst wahrnehmen, er würde vermutlich manche Experimentalserie sogleich einstellen. Und in vielen Diskussionen nicht beachtet: Auch der beobachtete Zeiger des Messinstruments,
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23 Zur Funktion des Gehirns: Die Sehwelt
BOX 23.2 (Fortsetzung)
das vom Mikroskop oder Computertomographen gelieferte Bild, die auf die Tafel des Hörsaals gekritzelte chemische Formel, unser Versuch, Messdaten zu interpretieren, mathematische Formeln zu entwickeln oder nachzuvollziehen, sind Konstrukte und Konstruktionsversuche unserer mentalen Innenwelt – und nicht, wie der naive Glaube meint, die „objektive Außenwelt an sich“. Zwar sind wir alle überzeugt, dass eine Außenwelt existiert und Information liefert, die von unseren Sinnen aufgenommen wird und unser Gehirn zur Konstruktion der bewusst erlebten Welt benutzt. Alle Daten durchlaufen aber unabdingbar die Konstruktionsprinzipien unseres Erkenntnisapparates (beispielsweise die „Gestaltgesetze der Psychologie“, Abb. 23.5 bis Abb. 23.9). Diese Regeln zur Konstruktion der erlebten Wahrnehmungswelt aus den von der Außenwelt bezogenen Daten sind von der Evolution geprüfte und deswegen leidlich zuverlässige Übersetzungsregeln (vergleichbar den Übertragungsregeln zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, zwischen gehörter und auf dem Notenblatt fixierter Musik) und unsere Messinstrumente erweitern den Empfangsbereich unserer Sinnesorgane; doch letzte Instanz, der wir vertrauen müssen, sind unsere mentalen Konstrukte. Auch in der momentan modischen Diskussion um die „Willensfreiheit“ – psychologisch um die Prozesse der Abwä-
gung – sollte nicht vergessen werden, dass letztlich alle vermeintlich „objektive“ wissenschaftliche Erkenntnis Konstrukt unserer Innenwelt ist – nicht minder als unser Gefühl der freien Entscheidung. Um Missverständnissen vorzubeugen sei betont: Hier wird nicht einer dualen Weltsicht – hier Materie, da Seele und Geist – das Wort geredet. Auch wenn man nicht wie die traditionelle duale Weltsicht „Seele“ als vom „Leib“ gelöst und unabhängig betrachtet, lehrt der Blick in unsere Innenwelt und in die Bücher der Naturwissenschaften und Psychologie, dass keine Wissenschaft die gesamte natürliche Wirklichkeit erfassen kann. Es lohnt sich, seine Weltsicht zu erweitern und mit Respekt und Aufmerksamkeit zuzuhören, was Psychologen, Psychiater und Philosophen, die mit sich Erkenntnistheorie befassen, zu sagen haben. Und diesen sei angeraten, zuzuhören, was Physiologen einschließlich der Neurologen zu sagen haben. Das hier Diskutierte kann nur eine erste Anregung sein, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, Es ist hier nicht möglich, auf die Geistesgeschichte näher einzugehen, auf den großen Einfluss, den Descartes auf die Weltsicht der Europäischen Intelligenz hatte, auf die vielfältigen Diskussionsbeiträge der analytischen Philosophie und auf die kontroversen Diskussionen um die Möglichkeiten einer künstlichen Intelligenz.
Zusammenfassung des Kapitels 23
Sehbahnen die Meldungen aus den linken Hälften beider Augen in die Sehrinde V1 des linken Großhirns, die Meldungen der rechten Augenhälften in die V1 des rechten Großhirns eingespeist. Die Auswertstationen sind retinotop: Benachbarte Areale auf der Retina werden benachbarten Substrukturen in den LGN zugeleitet und schließlich in benachbarten V1-Stationen ausgewertet. In der linken wie in der rechten V1 sind Subregionen, Dominanzbänder (oder Dominanzsäulen) genannt, alternierend dem linken und rechten Auge zugeordnet. Jeweils zwei Dominanzsäulen bilden eine Hyperkolumne, ein kortikales Modul, das für
Am Beispiel der Sehbahnen werden einige Prinzipien aufgezeigt, nach denen Sinnesinformation durch das Gehirn ausgewertet wird. Die Sehbahnen führen über die Schaltstation der seitlichen Kniehöcker (LGN) des Thalamus zum paarigen primären Sehzentrum V1 der Großhirnrinde im Bereich des Hinterhauptes. Da die Augen der Primaten beide nach vorne gerichtet sind, überlappen sich ihre Sehfelder nahezu vollständig. Damit die Bilder vergleichend ausgewertet werden können, werden durch partielle Überkreuzung der
Zusammenfassung des Kapitels 23
einen gemeinsamen Ausschnitt beider Sehfelder zuständig ist. Die LGN, V1 und die anschließenden weiteren Auswertstationen (V2-V4) enthalten hierarchisch gegliederte Merkmalsdetektoren, die dann feuern, wenn in den betreffenden Augenhälften bestimmte Bildmerkmale enthalten sind. Beispiele: Orientierungsdetektoren. Die vertikalen Dominanzbänder enthalten Querreihen von Säulen mit Orientierungsneuronen. Diese feuern, wenn eine über ein rezeptives Feld der Retina verlaufende Kontur einen bestimmten Winkel zur Horizontalen hat. Für jede Orientierung gibt es Spezialisten; ihre Vorzugsrichtungen ändern sich von Säule zu Säule jeweils um 10°, bis 180° abgedeckt sind. Farb- und Schwarzweiß-Neurone. Zwischen die Orientierungssäulen eingeschoben sind „blobs“ genannte Gruppen von Neuronen, die auf Hell-Dunkel, oder Rot-Grün, oder Gelb-Blau gegensinnig reagieren. WAS- und WO-Kanäle. Die Daten der primären Sehrinden werden über zwei Routen vom Hinterhaupt in die Stirnregion der Großhirnrinde geleitet und unterwegs weiter verarbeitet. Die
durch den ventralen Temporallappen ziehende Route befasst sich mit der Analyse von Objekteigenschaften („Was“-Bahn) und ist bei Primaten speziell auch für die Erkennung von Gesichtern eingerichtet. Die durch den dorsalen Parietallappen ziehende Route ist mit dem Ort eines Objektes und seiner Bewegung befasst („Wo“-Bahn). Für die Zusammenführung von Einzelmerkmalen zu Objekten und zur Rekonstruktion der Raumtiefe geht das Gehirn nach angeborenen Prinzipien und Regeln (Gestaltgesetzen) vor, welche die Psychologie formuliert hat, deren physiologische Korrelate aber noch nicht erschlossen sind. Zur Zuordnung von Objekten mit ihren verbalen Bezeichnungen ist nur die linke Hemisphäre mit seinem Sprachzentrum befähigt. Es gibt auch unbewusstes Sehen. Box 23.1 gibt Auskunft über technische Methoden der Neurobiologie wie Optical Imaging und funktionelle Kernspinresonanz-Tomographie fMRT. Box 23.2 will zum Nachdenken anregen über die prinzipiellen Schranken zwischen dem, was als „Außenwelt“ naturwissenschaftlich analysierbar und dem, was als mentale „Innenwelt“ nur subjektiv erlebbar ist.
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24 Lernen, Gedächtnis, prägende Erfahrung
kurzzeit-Gedächtnis. Es geht fließend über in das Kurzzeitgedächtnis.
24.1 Gedächtnisformen, Erinnerung ●
Das Kurzzeitgedächtnis wird unter funktionellem Gesichtspunkt auch als Arbeitsgedächtnis definiert (s. unten Abschn. 24.2.2). Eine erste Phase des Kurzzeitgedächtnisses umfasst die Spanne, in der man Glockenschläge im Nachhinein nachzählen kann, also einige Sekunden. Die gesamte Spanne des Kurzzeitgedächtnisses wird nach Ausfallserscheinungen bemessen: Bei einer Gehirnerschütterung und kurzfristigen Bewusstlosigkeit wird zum Leidwesen der Polizei und der Versicherung gerade das vergessen, was im Zeitraum von 20 min unmittelbar vor dem Unfall geschah (retrograde Amnesie, zeitlich rückwärts gerichteter Gedächtnisausfall). Über diese Spanne hinaus, die sich mit der Spanne des Arbeitsgedächtnisses deckt, wird bisweilen auch noch der Zeitraum von Stunden bis zu einem Tag dem Kurzzeitgedächtnis zugeordnet. Eine eben gehörte Telefonnummer, ein Gespräch, eine gesehene Person werden bald wieder vergessen, wenn nicht das Langzeitgedächtnis durch Wiederholung oder besondere emotionale Umstände aktiviert wird und die Information übernimmt. Das Kurzzeitgedächtnis übersteht tiefe Bewusstlosigkeit nicht. Seine physiologische Basis sind anhaltende neuronale Aktivitäten, die sich von den primären sensorischen Zentren in andere Hirngebiete ausgebreitet haben und mutmaßlich mit mittelfristigen Veränderungen der synaptischen Übertragung einhergehen (z. B. mit der transienten Phosphorylierung von Ionenkanälen oder anderen Proteinen).
●
Das Langzeitgedächtnis übersteht eine Bewusstlosigkeit. Seine Basis sind dauerhafte Veränderungen an Synapsen, Veränderungen, die permanente Proteinphosphorylierungen und in der Regel auch Proteinsynthese mit umfassen.
24.1.1 Hätten wir nicht ein kurzlebiges Arbeitsgedächtnis und ein Langzeitgedächtnis, könnten wir nicht einmal ein Auto als Auto erkennen Wie sollte ich erkennen, ob bewusst oder unbewusst, dass das, was ich vor einer 1/10 s sah, mit dem identisch ist, was ich im jetzigen Augenblick sehe, gäbe es nicht ein kurzes Nachleuchten des soeben gesehenen Bildes irgendwo in meinem Gehirn? Aus den über die Zeitspanne von 1/10 s identischen Merkmalen rekonstruiert mein Gehirn das bleibende Objekt. Dass das Objekt ein Auto ist, weiß ich aber nur, weil die Erinnerung ähnliche Objekte gespeichert hat und mein Gehirn die Ähnlichkeit (unbewusst) registriert.
24.1.2 Nach der Zeitdauer möglicher Präsenz unterscheidet der Neurophysiologe zwischen Ultrakurzzeitgedächtnis (sensorisches Immediatgedächtnis), Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis ●
Das kurze Momente nachleuchtende sensorische Gedächtnis heißt Ultrakurzzeitgedächtnis oder Immediatgedächtnis. Es ist der Kurzzeitspeicher sensorischer Zentren, der weitgehend ungefilterte Information enthält. So wird dem primären Sehzentrum V1 die Funktion eines visuellen Puffers ( visual buffer) zugeschrieben, von dem aus Information zu den weiteren Zentren dirigiert wird. Physiologische Basis des Ultrakurzzeitgedächtnisses sind anhaltende neuronale Aktivitäten. Alles, was elektrische Aktivitäten von Nervenzellen zum Erlöschen bringt, löscht auch das Ultra-
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24 Lernen, Gedächtnis, prägende Erfahrung
Unterbinden der Proteinphosphorylierung oder der Proteinsynthese durch Pharmaka verhindert eine bleibende Engrammbildung (Engramm = Inschrift). Gedächtnisverlust bedeutet nicht notwendigerweise Verlust des Gedächtnisinhaltes. Es kann auch eine Störung des Erinnerungsvermögens vorliegen, das heißt eine momentane oder langanhaltende Unfähigkeit, gespeicherte Gedächtnisinhalte abzurufen. 24.1.3 Unter funktionellen Aspekten wird auch von Arbeitsgedächtnis und Assoziationsgedächtnis gesprochen Arbeitsgedächtnis. Der Ausdruck Arbeitsgedächtnis ist der Computerwelt entlehnt. Die kurzfristige Speicherung ist zur Planung einer Reaktion auf den Reiz notwendig. Das Arbeitsgedächtnis ist einerseits deckungsgleich mit der Initialphase (bis ca. 20 min) des Kurzzeitgedächtnisses. Es ist jedoch nicht nur Zwischenspeicher auf dem Weg hin zum Langzeitgedächtnis. Es wird auch gebraucht, um Erinnerungen wieder verfügbar und nutzbar zu machen. Auch wenn sich Gedächtnis nicht streng auf bestimmte Gehirngebiete eingrenzen lässt, wird das Arbeitsgedächtnis von der gegenwärtigen Hirnforschung doch hauptsächlich mit dem präfrontalen Cortex in Verbindung gebracht. Das Arbeitsgedächtnis ●
übernimmt die von sensorischen Zentren gelieferte neue Information;
●
vergleicht sie mit gespeichertem Wissensgut, das oftmals mit Hilfe von Symbolen festgehalten wurde (beim Menschen z. B. mit Hilfe sprachlicher Symbole);
●
bewertet die Information, auch mit Hilfe von Zuflüssen aus emotionalen Zentren (Affekten);
●
dirigiert die weitere Aufmerksamkeit;
●
leitet Reaktionen ein, sei es motorische Antworten, sei es Einspeicherung in das Assoziationsgedächtnis.
Versuche zum Arbeitsgedächtnis ähneln sehr den Versuchen, die der Schweizer Psychologe Jean Piaget (1896–1980) entworfen hat, um die Entwick-
lung der Intelligenz im Kleinkind zu verfolgen. Beispielsweise wird in eine Schachtel eine Puppe gelegt, eine zweite Schachtel bleibt leer. Beide Schachteln werden zugedeckt. Nach einer kurzen Ablenkzeit soll sich das Kind erinnern, in welcher Schachtel (Ort oder Farbe oder Kennzeichnung der Schachtel) die Puppe liegt. Ähnliche Versuche lassen sich mit Tieren machen: mit Affen, mit Vögeln, sogar mit Bienen. Assoziationsgedächtnis. In ihm werden Informationen unterschiedlicher Herkunft miteinander in Beziehung gebracht. Es funktioniert auch, wenn kein Reiz unmittelbar anwesend ist, in der Vorstellungswelt oder auch unbewusst.
24.2 Lernen und weitere Einteilungsweisen von Gedächtnis 24.2.1 Lernen: Man unterscheidet prozedurales (implizites) Lernen, dem ein Verhaltens- oder Gewohnheitsgedächtnis zugeordnet ist, und deklaratives (explizites) Lernen, dem ein Wissensgedächtnis zugeordnet ist Was Lernen und Gedächtnis heißt, ist gar nicht so einfach zu definieren. Zum einen ist Lernen die Aufnahme und dauerhafte Speicherung von Information, die (wiederholt) von Sinnesorganen eingesammelt worden ist, in neuronalen Netzwerken. Man spricht auch von Engrammbildung. Lernen kann aber auch der Erwerb einer motorischen, im Endeffekt weitgehend automatisierten Fertigkeit sein. Schließlich können auch affektive Erlebnisse (z. B. Assoziation mit Angst) im Gedächtnis niedergelegt und aus dem Gedächtnis reaktiviert werden. Der Verhaltensforscher, der mit Tieren arbeitet, definiert Lernen als Veränderung im Verhalten als Folge wiederholt gebotener Sinnesreize oder wiederholt vom Tier selbst gemachter Erfahrung. Das veränderte Verhaltensmuster gibt dem Verhaltensforscher erst kund, dass etwas dauerhaft eingeprägt worden ist. Beim Beobachten wie auch im gezielten Tierversuch ist es immer schwierig, Lernen vom bloßen Reifen einer weitgehend angeborenen Verhaltensweise zu unterscheiden. Denn jeder Art von
24.2 Lernen und weitere Einteilungsweisen von Gedächtnis
Lernen liegt auch eine herangereifte Lernfähigkeit und Lerndisposition zugrunde. Auch der Psychologe, der mit menschlichen Kleinkindern arbeitet, sieht, wie Lernerfolg und Lernfähigkeit gemeinsam heranwachsen. Gedächtnis ist Voraussetzung für Lernen. Erinnerung macht Gedächtnis erst nutzbar. So meint man. Sofern Gedächtnis als die Fähigkeit definiert wird, sich bewusst an etwas zu erinnern, gilt das selbstverständlich auch. Vieles lernt man jedoch, ohne dass die Prozedur des Lernens oder das Gelernte uns je zu Bewusstsein käme. Wer würde sich erinnern, wie er zu greifen, zu sitzen, zu gehen, zu sprechen gelernt hat? ●
Das prozedurale Lernen (auch implizites Lernen genannt) ist das Lernen von Bewegungsfolgen. Ihm wird ein Verhaltensgedächtnis (auch prozedurales oder implizites Gedächtnis) zugeordnet. Ein weiterer, zwar unpräziser aber merkfähiger Ausdruck für diese Kategorie von Gedächtnis ist Gewohnheitsgedächtnis. Das Erlernte wird in aller Regel unbewusst rekapituliert. Wer wüsste sich zu erinnern, welche Muskeln er in welcher Reihenfolge betätigen muss, damit aus seinem Mund ein bestimmtes Wort herauskommt oder damit am Ende die Schnürsenkel seiner Schuhe in Schleifen liegen?
●
Beim deklarativen Lernen, dem ein deklaratives oder explizites Wissensgedächtnis zugeordnet wird, werden Verknüpfungen, Assoziationen, zwischen verschiedenen Sinnesreizen hergestellt. Bei physikalischer Anwesenheit oder Vergegenwärtigung von A in unserer Vorstellung taucht die Erinnerung an ein Ähnliches (A‘) oder ein Anderes (B) aus dem Gedächtnis auf. Das deklarative Gedächtnis hilft, Neues als neu, Altes als schon bekannt zu klassifizieren und früher erfahrene Zusammenhänge wieder ins Bewusstsein zu bringen. Es umfasst das Raumgedächtnis; denn in einer räumlich erlebten Welt sind verschiedene Reizquellen in einen räumlichen Kontext gebracht.
●
Man kann, wenn man will, das Wissensgedächtnis weiter untergliedern. So liest man oft von Episodengedächtnis (s. Box 24.1): Manche einmaligen Erlebnisse bleiben trotz ihrer Einmaligkeit im Gedächtnis, weil sie mit besonderen Emotionen
verbunden waren. Episodengedächtnis ist in aller Regel mit Gefühlsgedächtnis verbunden. ●
Das Gefühlsgedächtnis. Psychologen grenzen neuerdings ein besonderes Gedächtnis für Angst, Schrecken und andere Gefühle ab. Jede Einteilungsweise im komplexen Verhalten von Mensch und Tier hat ihre Schwächen und trennt Zusammengehörendes nach mehr oder weniger willkürlichen Kriterien. Wer ein Klavierstück lernt, lernt automatisierte Bewegungsfolgen, aber auch die Assoziation von gesehener Note und gehörtem Ton mit einer bestimmten Fingerbewegung, und er stellt Beziehungen her zu gefühlsbeladenen Erlebnissen. Bei der Wiedergabe des Gelernten verknüpft der Pianist im Allegrotempo die Erinnerung über das visuelle Notenbild, vergleicht die geübte und erinnerte akustische Tonfolge mit der aktuellen und modifiziert seine automatisierten motorischen Bewegungen (Tempo, forte, piano) so, dass vergangene Erlebnisse wach werden. In Sekundenbruchteilen sind alle Arten von Gedächtnis reaktiviert.
24.2.2 Bei der Gedächtnisbildung sind weite Bereiche des Gehirns beteiligt; eine zentrale Funktion kommt dem limbischen System mit Hippocampus und Amygdala zu Studien an Mensch und Tier, die Läsionen des Gehirns überlebten, aber auch Untersuchungen an Lernenden mit allerlei physikalischen Gerätschaften (z. B. EEG, PET, s. Box 23.1), haben erkennen lassen, dass im Gehirn, anders als im PC, nicht einfach an einem exakt abgrenzbaren Platz Speichermodule konzentriert sind. Auch bei einfachen Lernaufgaben sind ausgedehnte Gehirnareale beteiligt. Wohl aber kommt einigen Arealen eine besondere Bedeutung bei der Verteilung der Information, bei ihrer Bewertung und ihrer Langzeitspeicherung zu. Prozedurales Verhaltensgedächtnis. Beim Erlernen und der Langzeitspeicherung von Bewegungsfolgen wird dem evolutionsgeschichtlich alten Stammhirn (Basalganglien mit dem Striatum) und dem Kleinhirn (Cerebellum) überragende Bedeutung zugeschrieben. Schließlich werden im Kleinhirn die Programme für die Aktivierung der einzelnen Muskeln zusammengestellt. Deklaratives Wissensgedächtnis. Dieses Wissen scheint in weiten Arealen der Großhirnrinde deponiert zu werden.
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24 Lernen, Gedächtnis, prägende Erfahrung Abb. 24.1. Lage des Hippocampus und anderer Strukturen, denen eine besondere Funktion bei der Gedächtnisbildung zukommt. Die Lagebeziehungen sind beim Makaken und Menschen nicht sehr verschieden
Innerer Teil des Stirnlappens
Basalganglien (Striatum)
Thalamus mit seitlichem Kniehöcker primäre Sehrinde V1
Mammilarkörper
Kleinhirn (Cerebellum) Hypophyse Amygdala
Hippocampus
Schnittebene
Thalamus
Ventrikel
Seitl. Kniehöcker
Striatum
Querschnitt Hippocampus Amygdala
Hypothalamus
Gehirn eines Makaken
Arbeitsgedächtnis für den Erwerb von Wissen. Beim Affen und Menschen ist ein bestimmtes Areal in der Stirnregion (präfrontaler Cortex) zu einer zentralen Instanz des Arbeitsgedächtnisses erklärt worden (Goldman-Rakic 1994). Allerdings gelangt die Information über die Sehwelt ja erst über die Scheitel- oder Schläfenregion in den präfrontalen Cortex (s. Abb. 23.4). Es ist gewiss nicht unbillig, wenn man diese Regionen (wie auch andere Gehirnareale wie den Hippocampus), ebenfalls als Tätigkeitsfelder des Arbeitsgedächtnisses auffasst. Störungen in diesen Hirngebieten führen, wie erwähnt, zum Symptom der retrograden Amnesie (rückwärts gerichteter Gedächtnisverlust): Alles, was kurz vor der Störung erlebt wurde, ist unauffindbar verloren. Der Hippocampus als Zwischenspeicher. Bei der Organisation des Wissensgedächtnisses wird dem Hippocampus die Funktion einer wichtigen Schaltstation und eines Zwischenspeichers zugeschrieben.
Der Hippocampus (griech.: „Seepferdchen“) ist ein Relikt der alten Hirnrinde (Paläocortex). Im menschlichen Gehirn ist der Hippocampus als halbmondförmig gekrümmter Wulst am inneren Rand des Schläfenlappens zu finden (Abb. 24.1). Da wir zwei Schläfenlappen besitzen, haben wir auch zwei Hippocampi. In ihnen sollen die Gedächtnisinhalte für Minuten bis Wochen zwischengespeichert werden und hier soll die definitive Konsolidierung des Gedächtnisinhaltes in der Großhirnrinde vorbereitet werden. Personen, deren Hippocampi (und Amygdalae) zerstört sind, können Dinge nur noch sehr kurze Zeit behalten – solange das Wahrgenommene im Kurzzeitgedächtnis präsent ist. Der Langzeitspeicher als solcher ist bei solchen Patienten aber augenscheinlich noch intakt. Ihnen steht das vor der Verletzung Gespeicherte noch zur Verfügung. Sie lernen aber nichts Neues mehr, das über Tage oder Wochen Bestand hätte. Sie leiden an anterograder Amnesie (zeitlich vorwärts gerichteter Gedächtnisverlust).
24.2 Lernen und weitere Einteilungsweisen von Gedächtnis
Gefühlsgedächtnis. Bei der Bewertung, welche Information in den Langzeitspeicher übernommen werden soll, sind die Art ihrer Gefühlsbetonung und ihre Affektmächtigkeit von entscheidender Bedeutung. Was erschreckt, Angst oder Freude erregt, wird rascher und dauerhafter festgehalten als emotionsarme Alltagserlebnisse. Bei der Speicherung
und Einspeisung von Affekt-Erfahrung wird dem Mandelkern (Amygdala; Corpus amygdaloideum), der am Vorderrand des Hippocampus liegt, besondere Bedeutung zugeschrieben. Die Amygdalae sind ebenso wie der Hippocampus Teile des limbischen Systems, dem seit langem schon die Welt der Gefühle zugeordnet wird.
BOX 24.1
Formen des Lernens aus der Sicht des Verhaltensforschers
tasie vorausplanend durchgespielt werden und die Folgen einer Handlung im Voraus abgeleitet oder abgeschätzt werden können. Durch Beobachtung („Nach welcher Strategie geht ein Wolfsrudel vor?“) und geschickte Experimente gelingt es dem Verhaltensforscher nachzuweisen, dass auch Tiere mit höher entwickeltem Nervensystem (Vögel, Säuger) zu Handlungen im Vorstellungsraum fähig sind.
Glossar der klassischen Verhaltensforschung ●
Habituation. Die Gewöhnung an Reize, die als unwichtig erkannt werden.
●
Sensibilisierung oder Sensitivierung. Aus Erfahrung wird man bei bestimmten Reizen in besonderem Maß und über längere Zeit aufmerksam (z. B. bei quietschenden Reifen).
●
Prägung ( imprinting). Eine Form des Lernens, bei der in einem engen Zeitfenster des frühen Lebens, in der sensiblen oder sensitiven Phase, jene besondere Reizkonstellation ins Gedächtnis eingeschrieben wird, die später im Leben als Schlüsselreiz zur Auslösung von Instinkthandlungen fungiert.
●
●
Klassische Konditionierung. Assoziation zwischen zwei Reizen, die gleichzeitig oder in kurzen Zeitabständen dargeboten werden. Anfänglich löst nur Reiz A die Reaktion aus, Reiz B wirkt sensibilisierend. Nach mehrfacher Wiederholung löst auch B die Reaktion aus. Operante oder instrumentelle Konditionierung. Lernen durch das Tier oder die menschliche Versuchsperson in Eigeninitiative nach dem Prinzip der Selbstbelohnung oder dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Im Tierversuch bedient man sich oft einer Skinner-Box (s. Abb. 24.2, genannt nach dem amerikanischen Verhaltensforscher B.F. Skinner).
●
Lernen durch Nachahmung.
●
Lernen durch Einsicht ( insight learning). In der inneren Vorstellungswelt ist ein Modell der Umwelt parat, in dem Handlungen in der Fan-
Glossar der neueren kognitiven Psychologie und Neurologie Eine neuere, von Vertretern der Kognitionswissenschaften (Psychologen, Neurologen) eingeführte Einteilungsweise ersetzt die traditionelle nicht, sondern ist zu ihr komplementär. Sie fragt danach, was gelernt wird. ●
Prozedurales oder implizites Lernen. Lernen von Bewegungsfolgen und Handlungsfolgen, die, einmal erlernt, weitgehend automatisch und unbewusst rekapituliert werden.
●
Deklaratives oder explizites Lernen. Mit ihm wird Wissen erworben, z. B. über die Eigenschaften von Objekten, über ihre räumliche Position und über regelhafte Zusammenhänge zu anderen Reizmodalitäten wie z. B. zu Geräuschen.
●
Episodisches und semantisches Gedächtnis. Manche Psychologen gliedern das deklarative Gedächtnis auf in ein episodisches Gedächtnis für autobiografische, zumeist singuläre Ereignisse (z. B. Bruch einer Beziehung, Tod der Eltern) und in ein semantisches Wissenssystem für universelle Ereignisse, Schulwissen und dergleichen. Es sind noch weitere Kategorien von Gedächtnis definiert worden.
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24 Lernen, Gedächtnis, prägende Erfahrung Abb. 24.2. Skinnerbox. Sie ermöglicht eine automatisierte Lernstudie. Drückt das Versuchstier den Hebel, wenn auf dem Bildschirm eine bestimmte Figur erscheint, bekommt sie (nicht immer) zur Belohnung ein kleines Quantum Futter. Eine hungrige Ratte spornt sich selbst an, zum Erfolg zu kommen
% korrekt Lernkurve
Registrierung
t
Futterspender
Zu lernendes oder falsches Zeichen
Steuerung Gibt bei korrekter Wahl Futter frei
24.2.3 Konditionierung ist eine im Tierreich universell vorkommende elementare Form des Lernens, bei der Verknüpfungen zwischen verschiedenen Reizen hergestellt werden Bisher hatten wir Lernen und Gedächtnis von der hohen Warte des Menschen betrachtet. Will man komplexe Phänomene auf elementare Vorgänge zurückführen, braucht man Modellfälle, die überschaubar sind. Der Vorgang soll möglichst auch „am Tiermodell“ durchgeführt oder nachvollzogen werden können. Das Standardlernmodell der Forschung ist seit vielen Jahrzehnten die Konditionierung (Abb. 24.2 u. 24.3). Dies ist ein Lernprozess, bei dem im Nervensystem zwischen zwei häufig zusammenfallenden Sinnesreizen eine funktionale Beziehung, eine Assoziation, hergestellt wird. Die Konditionierung ist in der Regel dem prozeduralen, kann aber auch dem deklarativen Lernen zugeordnet sein. Ob Mensch oder Tier, man lernt wie damals die armen Hunde des Iwan Pawlow (Nobelpreis 1904) ein „Wenn…dann“: „Wenn die Glocke bimmelt, dann steht die Fütterung bevor und es ist Zeit, das Verdauungssystem auf seine Aufgabe einzustellen.“ Bei der Vielfalt und Komplexität tierischen und menschlichen Verhaltens kann man selbstredend weitere Formen des Lernens mit eigenen Begriffen herausheben und betonen (s. Box 24.1).
Hebel für Antwort
Skinner-Box
24.3 Mechanismen von Lernen und Gedächtnisbildung 24.3.1 Gedächtnismoleküle: „Verspeise Deinen Professor!“ Es war einmal – gar nicht solange her, so zwischen 1965 und 1980, als weltweit allen Ernstes nach besonderen Gedächtnismolekülen gefahndet wurde, in denen Gedächtnisinhalte gespeichert sein sollten und mit denen man angeblich sogar das von einem Individuum Gelernte auf ein anderes übertragen konnte. Favoritmoleküle waren Nukleinsäuren. Beispielsweise wurde Planarien mittels Elektroschock beigebracht, in einem Y-förmigen Gangsystem an der Verzweigungsstelle jeweils den linken oder rechten Schenkel zu wählen. Dann wurden die „trainierten“ Planarien untrainierten zum kannibalistischen Mahl vorgesetzt. Und mit Happen aus ihren Kollegen oder mit RNA-Extrakten daraus, sollen die Ungelernten auch die trainierte Lektion in sich aufgenommen haben. „Verspeise Deinen Professor“ war die konsequente Parole einer Zeitung. Mäuse sollten es per Extrakt gelernt haben, bei drohender Folter ein dunkles Loch nicht – wie sie es spontan täten – als Zuflucht aufzusuchen, sondern zu meiden. „Scotophobin“ (Dunkelfurcht) wurde das angebliche Gedächt-
24.3 Mechanismen von Lernen und Gedächtnisbildung Sensor A1: direkter Reiz
Kieme Siphon
Sensor B1: indirekter Reiz
A1 Bahnung (S
Auslösung des Reflexes A2
ng)
Sensor B2: Indirekter Reiz
B2
B1 ensibilisieru
Sensor A2: direkter Reiz
ng
Bahnu
Motoneuron Interneurone
Aplysia KiemenRetraktormuskel
Sensor A1: direkter Reiz
1a
Interneuron A1
direkter (nicht-konditionaler) Stimulus
2
Ca2+
1b c AMP
Transmitter Serotonin verstärkt cAMP-Bildung
Motoneuron
Ca2+
cAMP verlängert Öffnung der Calcium-Kanäle Interneuron setzt verstärkt Transmitter frei
Abb. 24.3. Das Lernmodell Aplysia californica, eine marine Nacktschnecke. Die neuronale Verschaltung ist stark vereinfacht. Ein Motoneuron löst bei Gefahr einen Kiemen-Rückzugsreflex aus. Treffen in einem Interneuron über die Leitung 1a Alarmmeldungen ein von Rezeptoren A1, die echte Gefahr für die Kiemen signalisieren, und gleichzeitig über 1b Meldungen vom Fühler B1, die nicht als unmittelbare Gefährdung der Kiemen gewertet werden müssen, so verstärkt der zweite Eingang 1b die Transmitterfreisetzung durch das Interneuron. Diese Sensibilisierung läuft über den Transmitter Serotonin,
der seinerseits in der Präsynapse des Interneurons das cAMP/ PKA-Signaltransduktionssystem aktiviert. Folge ist, dass in das präsynaptischen Terminal des Interneurons mehr und länger Ca-Ionen einströmen. Weitere Folge ist, dass das Inteneuron mit seinem eigenen Transmitter stärker und länger das Motoneuron stimuliert. Wenn 1a und 1b wiederholt synchron feuern, erhöht und stabilisiert sich der Verstärkungseffekt (durch permanente Phosphorylierung verschiedenen Proteine). Schließlich löst Leitung 1b für sich allein schon den KiemenRückzugsreflex aus
nismolekül genannt, das bei diesem Lernprozess synthetisiert worden sein soll. Das Bedenkliche an dieser modernen Wissenschaftsgeschichte waren die vielen positiven Resultate, von denen plötzlich
alle Welt zu berichten wusste. Das Beruhigende war, dass andererseits viele Wissenschaftler hartnäckige Skeptiker blieben und plötzlich der Spuk zu Ende war.
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24 Lernen, Gedächtnis, prägende Erfahrung gleichzeitiger kurzzeitiger, hochfrequenter Stimulus
Transmitter Glutamat aktiviert NMDA-Rezeptor-Calcium-Kanäle Langanhaltende Aussendung von Aktionspotentialen = Long term potentiation LTP
LTP Zeit
kurzzeitige Stimulation
NO (Stickstoffmonoxid) metabotroper Glutamatrezeptor
NMDA-Rezeptorkanal Glutamat als Transmitter
AMPA-Rezeptorkanal
G PLc DAG PKC PIP2
K+-Kanal Ca2+
Ca2+ IP3 ER
Ca2+
Ca2+
Ca2+
Phosphorylierung von Ionenkanälen und weiteren Proteinen, auch von Transkriptionsfaktoren
Abb. 24.4. Modell einer Hebb-Synapse mit Langzeitpotenzierung LTP. Ein Neuron feuert, weil es (z. B.) an seinen Dendriten durch ein anderes Neuron stimuliert wird. Treffen zugleich von einem zweiten benachbarten Neuron hochfrequente Stimuli ein, antwortet das befeuerte Neuron seinerseits mit langanhaltenden Serien von Aktionspotentialen. Dieses Aussenden von Aktionspotentialen kann die Reizung durch die benachbarten Nervenzellen um Minuten, Stunden, Tage oder gar Wochen überdauern. Diese Langzeitpotenzierung beruht auf langanhaltender Phos-
24.3.2 Heute werden Veränderungen an Synapsen als elementare Prozesse von Lernen und Gedächtnis angesehen; Hebb-Synapsen und NMDA-Synapsen beispielsweise vermitteln Langzeitpotenzierung LTP Die elementaren Ereignisse beim Speichern von Information in Nervennetzen sind Vorgänge an Synapsen.
phatbeladung verschiedener Proteine, einschließlich solcher, die Ionenkanäle formen oder als Transkriptionsfaktoren Genaktivitäten kontrollieren. Von besonderer Bedeutung sind CalciumKanäle, die natürlicherweise durch den Transmitter Glutamat oder künstlich durch das Pharmakon NMDA geöffnet werden. Die Langzeitpotenzierung wird darüber hinaus über Signaltransduktionssysteme stabilisiert, so durch das Pi-PKC-System. Weiterhin sind Signale von Bedeutung, die das LTP-Neuron zurück an seine Nachbarn schickt, wie z. B. Stickstoffmooxid NO ●
Bahnung durch präsynaptische Potenzierung. Elektrische Impulse, die an einem axonalen Terminal einlaufen, bewirken, dass kurz danach einlaufende Impulse vermehrt Transmitter freisetzen. Die bahnenden Impulse und die Folgeimpulse können über denselben Kanal (Axon) einlaufen (zeitliche Bahnung) oder über verschiedene Kanäle (räumliche Bahnung). Präsynaptische
24.3 Mechanismen von Lernen und Gedächtnisbildung
Potenzierung kann die physiologische Basis einer Sensibilisierung und schließlich einer erfolgreich konditionierten Reaktion sein (Abb. 24.3). ●
Potenzierung der postsynaptischen Antwort. Bei wiederholter Befeuerung durch die Transmitter einer vorgeschalteten Zelle reagiert eine nachgeschaltete Zelle, die selbst aktiv ist, zunehmend heftiger und länger anhaltend. Dabei stehen zwei funktionelle synaptischen Verschaltungen im Mittelpunkt der gegenwärtigen physiologischen Hirnforschung: 1. Hebb-Synapsen. Ein Neuron B feuert, weil es vom vorgeschalteten Neuron A Transmitter erhalten hat, aber es feuert zunächst nur mäßig. Wird es aber gleichzeitig von einem benachbarten Neuron C hochfrequent stimuliert wird, sendet Neuron B erheblich mehr und länger Aktionspotentiale aus. Ein solcher vom Konzept her einfacher Schaltmechanismus kann die Basis für konditionales Lernen sein (Abb. 24.4). 2. NMDA-Synapsen mit LTP. Es ist ein spezifischer Typ einer Hebb-Verschaltung, wie er besonders im Hippocampus, aber auch in anderen Cortexarealen gefunden wird (Abb. 24.4).
●
Bildung neuer Synapsen. Auch wenn das Wachstum des Nervensystems abgeschlossen ist und keine neuen Nervenzellen mehr gebildet werden, verlieren Nervenzellen nicht notwendigerweise die Fähigkeit, immer wieder entlang ihrer Axone kleine Seitenzweige aussprossen zu lassen. Benachbarte Zellen bilden an ihren Dendriten passende postsynaptische Gegenstücke (Dornen, Spines) aus.
Solche positiven Reaktionen können durch negative Reaktionen an anderer Stelle ergänzt werden: durch Blockade und Abbau von Synapsen. Durch Aufzählen solcher Elementarvorgänge ist allerdings nicht geklärt, wie ein konkreter Lernvorgang vonstatten geht, wie ein Lerninhalt im neuronalen Netzwerk deponiert wird und wie der Inhalt wieder abgerufen werden kann.
24.3.3 Eine Meeresschnecke steht Modell für simple assoziative Gedächtnisbildung Auch „niedere“ Tiere mit äußerst begrenztem Lernvermögen können Modell stehen für einfache Elemente eines Lernvorgangs. Musterbeispiel ist Aplysia (Abb. 24.3), eine recht große marine Nacktschnecke aus dem Pazifik, deren Nervensystem gerade mal 20 000 Neurone enthält, darunter individuell identifizierbare gewaltig aufgeblähte Riesenneurone. Die Schnecke zieht ihre empfindlichen fächerförmigen Kiemen in eine schützende Tasche (Mantelhöhle), wenn ein Wasserstrahl auf die Kiemen oder das Atemrohr (Siphon) gelenkt wird. Ein solcher stets und schon beim erstmaligen Versuch wirksamer Reiz wird – nicht eben glücklich – unbedingter oder unkonditionierter Reiz genannt. Man kann ihn auch direkten Reiz nennen. Die Leitungsbahnen für diese „unbedingte“ oder direkte Reizinformation von den Mechanosensoren an Kieme oder Atemrohr zu den Rückziehmuskeln wollen wir summarisch Kanal A (A1, A2) nennen. Reizen über Kanäle der Kategorie B (unfreundliches Pieksen der Fühler oder des Schwanzes, bedingter oder konditionierter oder indirekter Reiz) löst die Reaktion zunächst nicht aus. Wird jedoch Kanal B simultan mit Kanal A aktiviert, oder noch besser kurz vor Kanal A, dann verstärkt Kanal B die Effizienz von Kanal A (Sensibilisierung). Durch Wiederholung kann die Sensibilisierung soweit gesteigert werden, dass schließlich Reizung über Kanal B allein schon den Rückziehreflex auslöst. Es hat sich eine Assoziation (Konditionierung) ereignet. In diesem Fall existieren von vornherein Leitungsbahnen von vielerlei Sensoren (über Zwischenneurone) zu den Effektoren. Nur sind viele dieser Bahnen anfänglich nicht selbst durchleitend. Sie eignen sich aber, durch Bahnung oder Hemmung die Effizienz anderer, durchleitender Bahnen zu modifizieren. In unserer Modellschnecke konvergieren Kanal A und B am selben Folgeneuron C, aber nur Kanal A hat eine direkte Synapse mit Neuron C. Kanal B endet nicht direkt an C; seine Synapse sitzt vielmehr der Synapse des Kanals A auf. Ein feuernder Kanal B kann demzufolge nicht direkt C aktivieren; er kann aber die Synapse des Kanals A anregen, vermehrt und längere Zeit Transmitter freizusetzen. Schließlich kann Kanal B mit seiner Synapse die Synapse
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24 Lernen, Gedächtnis, prägende Erfahrung
des Kanals A so nachhaltig stimulieren, dass Kanal A selbst gar keine Aktionspotentiale mehr zum eigenen Synapsenterminal feuern muss; Kanal B besorgt die Arbeit allein. Man hat diese Vorgänge bis in die molekularen Details untersucht. Quintessenz der Untersuchungen ist: Kanal B aktiviert über seinen Transmitter im Terminal des Kanals A Signaltransduktions-Kaskaden (sowohl die cAMP-Kaskade wie auch die PI-PKCKaskade sind im Spiel). Bei wiederholtem Einschalten der Kaskaden werden im Bereich des Terminal A eine Reihe von Proteinen anhaltend mit Phosphat beladen. Diese Phosphorylierung hat zur Folge, dass Synapse A effizienter arbeitet (Kandel u. Hawkins 1994).
24.3.4 Langzeitpotenzierung in Neuronen des Hippocampus gilt als Modell für Gedächtnisbildung im Gehirn der Säuger Rhythmisch wiederholte Stimulation von Neuronen des Hippocampus ruft zunehmend länger anhaltende elektrische Antworten in nachgeschalteten Neuronen hervor: sie feuern ihrerseits verstärkt. Diese Langzeitpotenzierung (Longterm-Potentiation LTP) kann Minuten, Tage, ja Wochen andauern. Eine LTP setzt voraus, dass das rhythmisch stimulierende Neuron A gerade dann feuert, wenn das Folgeneuron B selbst bereits aktiv ist. Dann kommt es zu einem Signalwechselspiel zwischen beiden Neuronen. Das in Hinrichtung von A nach B wirkende Signal ist (häufig, immer?) der konventionelle Transmitter Glutamat. Das Rücksignal von B nach A könnte, jedenfalls an einigen Synapsen, das flüchtige Molekül Stickoxid NO sein. Von besonderer Bedeutung sind Synapsen, deren Glutamatrezeptoren künstlich mit dem Pharmakon N-Methyl-Aspartat NMDA aktiviert werden können (Abb. 24.4). Neurone, die eine LTP nach gleichem oder ähnlichem Muster erkennen lassen, werden zunehmend mehr auch in anderen Regionen des Gehirns gefunden. 24.3.5 Ungelöste Rätsel: Auswahlkriterien, Erinnern, Träume Wer bestimmt nach welchen Kriterien, auf welches Objekt im Gesichtsfeld sich die Aufmerksamkeit
richten soll? Was ist die physiologische Basis der Aufmerksamkeit? Nach welchen Kriterien werden Informationen zur Speicherung ausgewählt? Wie werden sie emotional bewertet? Wie werden Gedächtnisinhalte in Netzwerken deponiert, wie abgerufen und wie mit dem momentan Gesehenen verglichen? Die kognitiven Wissenschaften wissen noch keine Antwort. Im Traum dürfen Fragmente der Erinnerung durcheinander wirbeln und beliebige, flüchtige neue Kombinationen bilden. Sie dürfen es, weil die Motorik abgekoppelt ist und Unfug nicht unbedingt gefährliches Handeln evoziert. Welche physiologische Bedeutung dem Traum zukommt, darüber darf unbeschwert auch im Wachzustand geträumt (spekuliert) werden, weil man nichts weiß.
24.4 Entwicklungsprägende Erfahrung 24.4.1 In der frühkindlichen Entwicklung des Säugers und Menschen kommt es unter dem Einfluss von Umweltreizen zu irreversiblen Änderungen im Gehirn. Darum bleibt die Frage „angeboren oder erlernt?“ brisant Berühmte Experimente mit jungen Katzen durch die amerikanischen Neurologen Torsten N. Wiesel und David H. Hubel (Nobelpreis 1981) haben eindrucksvoll bewiesen, dass das Gehirn des Säugetiers erst nach der Geburt in einer kritischen frühkindlichen Phase im Wechselspiel mit einlaufender Sinnesinformation und wiederholt gemachter Erfahrung seine präzise Ausgestaltung erfährt. Bei Katzen dauert diese Phase einen Monat, bei Primaten ein Jahr, beim Menschen mutmaßlich drei Jahre. Wir kommen zurück auf die Sehbahn und die visuellen Dominanzbänder (s. Abb. 23.1 u. 23.2). Werden Katzen nach ihrer Geburt im Dunkeln aufgezogen, bleiben die rezeptiven Felder der Neurone in der primären Sehrinde unscharf und eine Orientierungspräferenz entwickelt sich nicht. Nach der kritischen Lebensphase ans Licht gebracht, bleiben solche Katzen zeitlebens nahezu blind. Wird nur ein Auge verschlossen, reifen die dem sehenden Auge zugeordneten Dominanzbänder heran und vergrößern sich sogar gegenüber dem Normalzustand auf Kosten derer, die nicht in Anspruch genommen werden. Die
24.4 Entwicklungsprägende Erfahrung
Veränderungen sind irreversibel. Werden während der Reifephase dem Auge nur vertikale Streifen zum Sehen angeboten, sieht die Katze später vertikale Muster, ist aber gegenüber horizontalen weitgehend blind. 24.4.2 Bei Vögeln führen prägende Lernvorgänge zu morphologischen Veränderungen in der Feinstruktur des Gehirns. Diese ist auch noch später im Leben modifizierbar; gilt dies auch für Säuger? Viele Vögel (z. B. die nordamerikanische Singammer Melospiza) erlernen ihren artspezifischen Gesang lange bevor ihr eigener Stimmapparat in der Lage ist, selbst den Gesang wiederzugeben. Ein interner Empfangsfilter sorgt im Allgemeinen dafür, dass ausschließlich oder bevorzugt der artspezifische Gesang ins Gedächtnis eingeprägt wird. Solche Prägungen sind oftmals irreversibel. Neurobiologen, die minutiös die Feinstruktur der akustischen Zentren im Vorderhirn untersuchen und die Zahl synaptischer Verbindungen zählen, meinen nachweisen zu können, dass Prägung mit einer Konsolidierung weniger Synapsen und einer Reduktion vieler überschüssiger einhergehe. Bei einer Reihe von Singvögeln ist das Gesangsmuster nicht stabil und starr eingeprägt. Beim Kanarienvogel muss das Männchen jedes Frühjahr sein Gesangsrepertoire auffrischen. Im zeitigen Frühjahr, wenn fleißig geübt wird, wachsen die im Herbst geschrumpften akustischen Kerngebiete im Vorderhirn unter dem Einfluss des männlichen Sexualhormons Testosteron wieder heran. Stammzellen, die nahe dem Ventrikel liegen, teilen sich und wandern dann in die Kerngebiete ein, wo sie sich zu Neuronen ausdifferenzieren. Dies ist ungewöhnlich,
weil im erwachsenen Wirbeltier das Gehirn in aller Regel keine neuen Nervenzellen mehr generiert, sondern nur noch vorhandene verliert. Neuerdings wurden im Hippocampus und im Bulbus olfactorius (Riechkolben) von erwachsenen Säugern Stammzellen entdeckt, die wenigstens in diesen Hirnarealen eine laufende Erneuerung der Neurone und vielleicht eine postnatale Änderung von Schaltplänen ermöglichen. Die Bedeutung dieser Befunde ist nicht bekannt aber vielleicht beträchtlich.
24.4.3 Angeboren oder erlernt? Eine stets brisant bleibende Frage „Genetisch determiniert oder durch Erfahrung erworben?“ ist eine Frage, die grundsätzlich nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden kann, sondern stets mit sowohl-als-auch zu beantworten ist. Man kann nicht denken ohne Gehirn, und zur Entwicklung eines Gehirns braucht man Gene. Man kann aber auch nicht denken ohne Information, die von außen kommt, beispielsweise von unseren Mitmenschen. Es bleibt jedoch diskussionswürdig, inwieweit Lern- und Denkfähigkeit genetisch vorprogrammiert oder aber frühkindlich geprägt sind. Und es bleibt diskussionswürdig, ob eine feste, irreversible Verdrahtung, die ein festes Verhaltensmuster generiert, sich mit oder ohne Umwelteinfluss einstellt. Die Entwicklung des Gehirns ist ein Prozess der Selbstorganisation. Gene ermöglichen diesen Prozess und insofern ermöglichen Gene auch Verhalten. Von außen kommende Information muss aber in den Prozess der Selbstorganisation dirigierend und korrigierend eingreifen. Die Frage: „Angeboren oder erlernt?“ bleibt brisant und ist wohl nie definitiv zu beantworten.
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24 Lernen, Gedächtnis, prägende Erfahrung
Zusammenfassung des Kapitels 24 Lernen, das Einspeichern von Information in das Gedächtnis, und das Abrufen der Information in der Erinnerung, sind beim Menschen (und Primaten) Leistungen des Zentralnervensystems, die noch im großen Maße von den psychologischen Kognitionswissenschaften untersucht und klassifiziert werden. Drei parallele Klassifikationsschemata herrschen vor: Gedächtnis (Engrammbildung) wird eingeteilt in 1. Ultrakurzzeitgedächtnis (sensorisches Immediatgedächtnis), Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis, 2. Arbeits- und Assoziationsgedächtnis. 3. Es werden unterschieden ●
prozedurales = implizites Lernen: Überführen ins Gedächtnis für automatisierte Bewegungsabläufe, auch Gewohnheitsgedächtnis genannt,
●
deklaratives = explizites Lernen: Überführen ins Wissensgedächtnis, untergliedert in episodisches und semantisches Gedächtnis,
●
Gefühlsgedächtnis.
Die Verhaltensforschung trägt weitere Klassifizierungen bei wie
●
Habituation, Sensitivierung, Prägung, Konditionierung, Lernen durch Nachahmung oder Einsicht.
Neurobiologische Untersuchungen schreiben dem Hippocampus, einer relativ kleinen, äußerlich versteckten Subregion der paarigen Großhirnhemisphären, eine besondere Rolle bei der Konditionierung und dem Überführen von Gedächtnisinhalten in das Langzeitgedächtnis zu. Physiologisch sind Hebb-Synapsen und die ihnen ähnlichen NMDA-Synapsen von besonderem Interesse. Werden bestimmte Neurone, während sie selbst aktiv sind, hochfrequent über Synapsen benachbarter Neurone befeuert, feuern sie selbst auch nach dem Schweigen der Nachbarschaft unentwegt weiter über Minuten bis Wochen. Diese Langzeitpotenzierung LTP ist ein wichtiger Schritt bei der Gedächtnisbildung. Zur Konditionierung: Bei der Meeresschnecke Aplysia ist ein Prozess der Konditionierung, bei dem durch wiederholte Stimulation ein anfänglich nicht direkt durchgängiger Sinneskanal zum direkten Auslösen einer Reaktion durchgeschaltet wird, bis in molekulare Details untersucht worden. Zur Prägung: Frühkindliche Erfahrung führt zu bleibenden Veränderungen in neuronalen Netzwerken und ihren synaptischen Strukturen, eine zur Frage „angeboren oder erlernt“ ungemein wichtige Erkenntnis.
25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation
Kein Lebewesen kann für sich allein bestehen. Das Leben aller Organismen ist eingebunden in ein Netzwerk von Beziehungen. Jeder Organismus ist Mitglied einer Fortpflanzungsgemeinschaft und zugleich Mitglied einer Lebensgemeinschaft, die viele Arten umfasst. Koordination zwischen den Mitgliedern einer Fortpflanzungsgemeinschaft verlangt wechselseitige Absprachen. Man muss aufeinander eingehen. In den Staaten der Insekten und in den Verhaltensmustern eines Affenclans wird die Bedeutung der sozialen Kommunikation auch dem aufmerksamen Laien unmittelbar augenfällig. Das Thema ist freilich zu vielschichtig, als dass es in einem einführenden Lehrbuch der Physiologie umfassend dargestellt werden könnte. Ein Blick in den Bienenstaat lehrt, dass Kommunikation über chemische, akustische und optische Signale und Wegweisung miteinander verschränkte Leistungen sind, die nahezu alle Sinne und das ganze Nervensystem beanspruchen und auch den Themenkreis der Orientierung mit umfasst.
25.1 Selbsterzeugte Lichtsignale Bei der ungeheuren Vielfalt optischer Signale müssen wir eine Selektion treffen. Wir konzentrieren uns auf Signale, die im Dunkeln blinken und per Biolumineszenz erzeugt werden. 25.1.1 Biologisch erzeugtes Licht kann verschiedenen Zwecken dienen: dem Sehen und Gesehenwerden, aber auch der Tarnung Es wird gesagt, der erste Blick des Christopher Columbus auf die neue Welt sei die Sicht eines Leuchtens gewesen, das ihn an das Flackern vieler
Kerzen erinnerte. Es war wohl erzeugt vom Polychaeten Odontosyllis, der entlang der Küste Bahamas beheimatet ist. Die große Mehrzahl leuchtender Organismen lebt im Meer (Tafeln T27–29). Das Leuchten in den Weiten und Tiefen der Ozeane kann verschiedenen Zwecken dienen: ●
dem Schwarmzusammenhalt in der Finsternis der Nacht oder der Tiefsee,
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der Verwirrung potentieller Räuber; sei es, dass ein Räuber durch das unerwartete Aufblitzen eines Lichtes erschreckt wird, sei es, dass der Räuber im Gewirr blinkender Lichter nicht mehr weiß, worauf er sich stürzen soll.
●
Häufig dient Leuchten, erstaunlicherweise, der Tarnung. Zahlreiche frei schwebende und frei schwimmende marine Organismen tarnen sich durch einen transparenten Körper. Größere, kompakte Organismen wie Fische, Tintenfische und größere Krebse können sich jedoch nicht mehr vollständig transparent machen. Um sich trotzdem möglichst unsichtbar zu machen, gestalten Fische, die in mittleren Wasserschichten leben, ihre Rückenseite dunkel. Für den Räuber, der von oben herab blickt, heben sich dunkle Rücken kaum vom dunklen Untergrund ab. Der Bauch ist indes weiß oder silbrig: Die Silhouette des Fisches hebt sich für einen tiefer schwimmenden Räuber nur gering gegen den hellen Himmel ab. In tieferen Wasserschichten gibt es aber nicht mehr genug Streulicht, um mit einem silbrigen Spiegel die Bauchseite aufhellen zu können. Schwaches, nach unten abgestrahltes Biolumineszenzlicht kann hier nachhelfen. Die Bauchseite wird gerade soweit aufgehellt, dass sie sich nicht mehr vom hellen Wasserspiegel abhebt. Viele Fische, Tintenfische und Krebse verfolgen diese Taktik.
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25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation ●
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Starke punktuelle Lichtquellen können andererseits als Signalgeber eingesetzt werden, zum Anlocken eines Sexpartners (z. B. bei Garnelen und Ringelwürmern) – oder zum Anlocken einer irregeführten Beute (Anglerfisch, der Garnelen und Ringelwürmer täuscht). Ein sehr starkes Leuchtorgan kann sogar als Scheinwerfer dienen und dem Tiefseebewohner, z. B. dem Tiefseefisch Pachystomias, ein Sehen ermöglichen.
An Land erregen insbesondere Leuchtkäfer („Glühwürmchen“) unser Interesse, obzwar die Signale nicht uns gelten, sondern dem gesuchten Sexpartner. Die Bezeichnung Glüh„wurm“ bezieht sich auf das leuchtende, flügellose und daher larvenähnliche Weibchen mancher Arten. Die flugunfähigen Weibchen des einheimischen Leuchtkäfers Lampyris noctiluca erklettern in der Abenddämmerung erhöhte Standorte, um von dort ein leuchtendes und daher verlockendes Ziel für den Suchflug des Männchens abzugeben (Tafel 30). Bei manchen Arten (z. B. der Gattung Photinus) leuchten auch die Männchen. Im Flug blinkend fordern sie die Weibchen auf, ihrerseits ein artspezifisches Leuchtprogramm zu senden. Dies erleichtert es den Männchen, selbst dann noch das richtige Ziel anzusteuern, wenn noch andere Lichtquellen (z. B. Pilzmücken) im Gelände sind. 25.1.2 Licht kann man selbst erzeugen, oder man borgt sich eine Lichtquelle Glühwürmchen erzeugen, wie die Mehrzahl der leuchtenden Arthropoden (Krebse, Pilzmücken), ihr Licht selbst (primäres Leuchten). Auch Coelenteraten wie Quallen und Seefedern sind selbstleuchtend. Viele Fische und Tintenfische hingegen züchten in besonderen Räumen symbiontische Bakterien, die das biochemische Rüstzeug zur Lichtproduktion besitzen (sekundäres Leuchten).
25.1.3 Biologisch erzeugtes Licht ist kalt; zu seiner Erzeugung gibt es zwei sehr verschiedene biochemische Möglichkeiten Über biochemische Reaktionen erzeugtes Licht ist kalt. Kalt ist hier im doppelten Sinn des Wortes gemeint: Das Licht ist ohne Beimengung von Infrarot und erzeugt daher im Empfänger keine erhöhte Temperatur. Es ist kalt auch im psychologischen Sinn, weil es meistens bläulich grün schimmert. Kalt in diesem Sinn gilt selbstverständlich nur für uns zuschauende Menschen. Das GlühwürmchenMännchen reagiert höchst angeregt. Zur Erzeugung von Licht benötigt man ähnliche Moleküle wie zur Absorption von Licht. In der Evolution sind unabhängig voneinander mehrere verschiedene Leuchtsysteme erfunden worden. Sie arbeiten jedoch, soweit heute erforscht, nach ähnlichen Prinzipien. Luciferin-Luciferase Systeme: Luciferin ist keine chemisch definierte Substanz, sondern Sammelbegriff für Substanzen, die als Chromophor fungieren und Energie in Form von Photonen abstrahlen können. Als Chromophor eignen sich mehr oder weniger komplizierte Ringstrukturen (Aromate) mit konjugierten Doppelbindungen (Abb. 25.1). Luciferine ließen sich auch in die Kategorie der Coenzyme einordnen. Sie kooperieren mit einem Enzym oder Enzymen, die man kollektiv Luciferase nennt. Wird ein Luciferin mittels Luciferase in geeigneter Weise modifiziert, sendet es einen Lichtblitz aus. Die häufigste Modifikation ist eine Oxidation durch freien Sauerstoff O2. Man braucht also folgende Ingredienzien: ●
ein polycyclisches (aromatisches) Luciferin,
●
ein Protein mit Enzymfunktion (Luciferase),
●
molekularen Sauerstoff O2,
●
manchmal noch ATP, so im Falle des Luciferins aus den Leuchtkäfern.
Fluoreszierende Lichtfarbenwandler Aequorin und green-fluorescent Protein. In leuchtenden Extrakten aus Hydromedusen, (z. B. aus der pazifischen Aequorea victoria; siehe Farbtafel 27) findet man ein klassisches Luciferin mit aromatischer Ringstruktur (Coelenterazin). Dieses ist
25.1 Selbsterzeugte Lichtsignale
Protein Ca 2+
O
O N
O
Ca 2+
N OH
Ca 2+
N
HO
Blaulicht 94
Glutamin
Aequorin
NH2
Arginin96
NH2 O
Gly
N N
148
His
O N
Grünlicht
Phe
OH O 222
Glu
Green-fluorescent protein GFP Abb. 25.1. Erzeugung biologischer Lichtsignale am Beispiel von Medusen (Kleinquallen, Tierstamm Cnidaria, Klasse Hydrozoa). Das Aequorin der pazifischen Meduse Aequoria victoria hat einen Proteinteil und ein Chromophor, das dem Luciferin Coelenterazin sehr ähnlich ist. Der Komplex sendet Blaulicht aus, wenn der intrazelluläre Calciumspiegel ansteigt und der Proteinteil des Moleküls Ca2+ bindet. Das Blaulicht kann von einem zweiten Photoprotein, dem green-fluorescent Protein
GFP, aufgefangen werden. Es hat intramolekular aus drei Aminosäuren eine eigene chromophore Gruppe (Fluorophor) gebildet. Die absorbierte Lichtenergie wird vom GFP als Grünlicht abgestrahlt. Für Forschungszwecke hergestellte Varianten des GFP senden, wenn sie mit UV/Blau bestrahlt werden, Fluoreszenzlicht auch anderer Farbe aus. Struktur der Chromophore bzw. Fluorophore nach Youvan u. Michel-Beyerle (1996) und Jones et al. (1999)
assoziiert mit einem Photoprotein, das die Qualität des Lichtes verändert. Der Komplex ist bekannt als Aequorin. Kommt ein Ca2+-Ion hinzu, kommt es zu einer transienten Anregung des Chromophors. Wenn es in den Grundzustand zurückfällt, wird ein primär unsichtbares Lichtquant abgestrahlt. Durch den Einfluss des Aequorins wird die Wellenlänge des abgestrahlten Photons in den sichtbaren Bereich verschoben; das Licht hat einen bläulichen Farbton. Aequorea, aber auch andere Hydromedusen sowie einige echte Quallen (Scyphomedusen), lassen bewegte Leuchtmuster über ihren Schirm aufblitzen, wenn sie mechanisch gereizt werden.
Aequorin wird in der Forschung gern zum leuchtenden Nachweis von Calcium benutzt. In Muskelzellen injiziertes Aequorin blitzt auf, wenn bei Stimulation der Kontraktion Calcium-Ionen aus dem Endoplasmatischen Reticulum heraus ins Cytosol strömen. Manche Leuchtzellen enthalten neben Aequorin ein weiteres Photoprotein mit seltsamen Eigenschaften: das green-fluorescent Protein GFP. Obwohl GFP nicht mit einem speziellen aromatischen Chromophor assoziiert ist, sondern nur aus Aminosäuren synthetisiert wird, fängt es das vom Aequorin abgebene Blaulicht auf und strahlt es als Grünlicht
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25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation
wieder ab (Fluoreszenz). Das Protein hat die Fähigkeit, ohne Mithilfe von Enzymen oder Cofaktoren intramolekular aus drei benachbarten Aminosäuren der Sequenz Ser-Tyr-Gly ein eigenes cyclisches Fluorophor zu bilden (Abb. 25.1). GFP ist heute in der Zell-, Entwicklungsund Molekularbiologie als Reportermolekül geschätzt. Man schleust die mRNA oder das Gen des GFP (oder ein Fusionsgen für ein GFPHybridprotein) in die Zelle seiner Wahl. Dem GFP-Gen wird der Promotor eines anderen Gens vorangestellt, das in der interessierenden Zelle exprimiert wird. Die Empfängerzelle produziert dann selbst leuchtfähiges Protein. Der Molekularbiologe sieht in der lebenden Zelle, ob das Gen exprimiert worden ist. Der Entwicklungsbiologe markiert mit GFP dauerhaft lebende Zellen. GFP-markierte Zellen und ihre Nachkommen leuchten hellgrün auf, wenn sie mit einem schwachen blauen Anregungslicht bestrahlt werden. Als Quelle des Anregungslichtes wird nicht Aequorin, sondern die Lampe eines Fluoreszenzmikroskops benutzt. Künstlich im Labor erzeugte Varianten des GFP leuchten in verschiedenen Farben. So ist es möglich geworden, über entsprechende Fusionsgene gleichzeitig mehrere Zellkomponenten mit verschiedenen Farben zu markieren. Es gibt auch Ca2+-bindende Varianten des GFP, die direkt Licht aussenden, falls sie bei einem plötzlich erhöhten Calcium-Spiegel Ca2+ einfangen. Ein plötzlicher Anstieg des Ca2+ im Cytosol ist eine häufige Art, wie externe Signale in interne umgesetzt werden (Abschn. 12.2.4). Die Entdecker des GFP und die Erfinder neuer Varianten (gebürtige Japaner) sind 2008 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden.
25.2 Chemische Signale: Pheromone 25.2.1 Kommunikation und Wegweisung mittels chemischer Signale gibt es schon bei Einzellern Kommunikation über chemische Stoffe ist die evolutionsgeschichtlich älteste Form der Informa-
tionsübermittlung zwischen den Mitgliedern einer Fortpflanzungsgemeinschaft. Chemische Signale tauschen schon Bakterien und Einzeller aus. Mit der Entfaltung der vielzelligen Organisation wurden solche Signalsubstanzen, insoweit sie Botschaften innerhalb des vielzelligen Verbandes vermittelten, zu Hormonen und Transmittern. Andererseits blieb auch chemische Kommunikation zwischen verschiedenen vielzelligen Verbänden über die Außenmedien Wasser oder Luft erhalten. Beispielsweise dienen chemische Signale auf mehreren Ebenen der sexuellen Fortpflanzung. Unbewegliche, mit materiellen Ressourcen vollbeladene weibliche Gameten (Makrogameten, Eier) senden flüchtige Stoffe aus, um die kleineren, beweglichen Gameten (Mikrogameten, Spermien) anzulocken. Man nennt solche zwischen Gameten wirksame Sexuallockstoffe Gamone. Gamone wiederum zählen zu den Pheromonen. Zu diesen zählen auch die Sexuallockstoffe, die ein Rendezvous zwischen den Produzenten der Gameten vermitteln. 25.2.2 Pheromone vermitteln Botschaften zwischen den Mitgliedern einer Art Pheromone lassen sich je nach Wirkungsbereich in vier Klassen einteilen: Definition: Pheromone sind Signalsubstanzen, die von einem Individuum nach außen abgegeben werden und bei anderen Individuen der gleichen Art spezifische, vorprogrammierte Reaktionen auslösen. Allomone sind Signalsubstanzen, die an Organismen anderer Art gerichtet sind, wie z. B. Blütenduftstoffe, die Bestäuber anlocken. 1. „Primer“-Pheromone haben Einfluss auf die Entwicklung, bestimmen beispielsweise, ob eine Bienenlarve zur Königin oder zur Arbeiterin wird. Auch die Königinsubstanz der Honigbiene, die dafür sorgt, dass keine Konkurrentin herangezogen wird (s. Abschn. 25.3.1), kann in diese Kategorie eingeordnet werden. Primer-Hormone bestimmen so die künftige soziale Stellung eines Individuums im Insektenstaat oder dem Clan.
25.2 Chemische Signale: Pheromone
2. „Releaser“-Pheromone lösen instinktive (angeborene) Verhaltensweisen; dies tun z. B. Sexuallockstoffe, die Männchen und Weibchen zusammenführen. 3. Pheromone können hormonale Wirkungen haben; dies tun z. B. Pheromone, die Fortpflanzungscyclen synchronisieren. 4. Pheromone können als Signale der sozialen Kommunikation dienen, indem sie beispielsweise Paarungsbereitschaft signalisieren oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (Bienenvolk, Familie, Clan, Horde). Pheromone können auch Alarmfunktion haben und Artgenossen vor Fressfeinden warnen (z. B. Schreckstoffe verletzter Fische). 5. Pheromone mögen psychische Reaktionen (z. B. Angst, Zuneigung) modulieren. Dies wird für die vermuteten Pheromone des Menschen diskutiert.
Das erste chemisch identifizierte Pheromon mit verhaltenssteuernder Wirkung war der Sexuallockstoff des Seidenspinners Bombyx mori (isoliert und identifiziert aus Tonnen von weiblichen Faltern durch Adolf Butenandt u. Mitarbeitern 1959). Die Substanz, Bombykol, zeigt in ihrer chemisch-physikalischen Struktur (Abb. 25.2) die Charakteristik vieler solcher Signalsubstanzen. Was durch die Lüfte fliegen soll, sollte flüchtig sein. Flüchtig sind niedermolekulare, lipophile (apolare oder gering polare) Substanzen. Allerdings: Je höher die Flüchtigkeit, desto schneller ist ein Stoff vom Winde verweht. Die Mehrzahl der bisher identifizierten Pheromone sind keine ausgesprochen niedermolekularen Gase, sondern Fettsäuren, oder flüchtige Derivate von Fettsäuren oder Kohlenwasserstoff-Ketten mit Doppelbindungen an dieser oder jener Stelle. Auch Purine, Phenole, Cholesterolester und Steroide sind als Pheromone identifiziert worden (Sonenshine 2006).
25.2.3 Die Pheromone der Insekten bilden eine wortreiche chemische Sprache In Insektenstaaten (Termiten, Ameisen, Bienen) sind derart viele chemische Signalsubstanzen im Gebrauch, dass man von einer chemischen Sprache sprechen kann. Einer einzigen Ameise stehen
Bombykol OH
O COOH Biene: Königinsubstanz Abb. 25.2. Pheromone. Zwei Beispiele
schätzungsweise an die 30 Pheromone zur Verfügung, mit denen sie Botschaften an ihre Genossinnen übermitteln kann. Wenn man optischen und akustischen Signalen Symbolcharakter zuschreiben kann, warum nicht auch chemischen Signalen, die Botschaften vermitteln wie „Folge mir“, „Hau ab“? Zu den Pheromonen der staatenbildenden Insekten gehören auch jene Substanzgemische, die den besonderen Stock- bzw. Familienduft einer Kolonie ausmachen. 25.2.4 Säuger: Während im Körperinneren Hormone herrschen, haben in den sozialen und sexuellen Beziehungen der Individuen untereinander Pheromone das Sagen Die Mehrzahl der Säugetiere in unseren geographischen Breiten verfolgt eine Überlebensstrategie, die sichert, dass Junge zeitig im Frühjahr zur Welt kommen. Das Fortpflanzungsverhalten muss in die Jahreszeit eingepasst werden. In seinen groben Zügen wird der Jahrescyclus der Fortpflanzung von der Photoperiode gesteuert. Doch auch Pheromone sind im Spiel, wenn es um die Feinregulation und
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25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation
die exakte Synchronisation geht. Häufig beobachtet man folgende Sequenz: ●
Die Männchen erobern sich ein Revier und grenzen es mit Duftmarken ab. Solche Duftstoffe dürfen nach ihrer Funktion als Pheromone klassifiziert werden.
●
Ein Männchen, das sich ein Revier eingerichtet hat, verlockt mit der besonderen Qualität seines Pheromonduftes Weibchen, in sein Revier einzuwandern (männliche Sexuallockstoffe). Das männliche Parfum kann darüber hinaus die Damen des angeworbenen Harems dazu bringen, zeitig Eier in den Ovarien heranreifen zu lassen. Das Follikel-stimulierende Hormon FSH vermittelt zwischen Geruchssinn und Ovar: Das stimulierte Riechorgan sendet Signale ins Zwischenhirn, dieses regt seinerseits mittels Releasing-Neurohormonen die Hypophyse an, FSH in die Blutbahn zu entlassen.
●
Das Weibchen demonstriert schließlich seine Bereitschaft, es gerne mit sich geschehen zu lassen, nicht nur mit Gebärden, sondern auch mit Wohlgerüchen, die dem Herrn ihren Östrus anzeigen. Östrus („Hitze, Läufigkeit“) ist jene Phase im Sexualzyklus, in der ein Eisprung (Freisetzung des Eis aus dem Ovar in den Eileiter) bevorsteht oder eben gerade stattgefunden hat.
●
Ist schließlich ein Junges geboren, gerät nicht nur das Kind, sondern auch die Mutter in eine Phase der Prägbarkeit. Der Individualduft des Kindes und der Individualduft der Mutter werden zum bleibenden Bindeglied zwischen Mutter und Kind.
25.2.5 Die chemische Struktur der Pheromone ist sehr vielfältig. Bei Säugern sind Derivate der Sexualhormone Komponenten stimulierender Parfums Die Vielfalt der Signaldüfte macht es schwer, bestimmte Moleküle mit bestimmten Verhaltensweisen in eine lehrbuchgemäße Beziehung zu bringen.
Viel wird ein Pionier- und Paradefall der Pheromonforschung zitiert: Der Eber produziert sein männliches Parfum, mit dem er um die Damen seines Reviers wirbt, im Hoden aus den gleichen Steroid-Grundformen, aus denen auch die männlichen Sexualhormone hergestellt werden. Diese Steroidmischung soll nach Moschus und Trüffel riechen. Um sein Parfum an die Umworbene zu bringen, werden die Steroide (nach einer Zwischenlagerung im Fettgewebe) über die Blutbahn zu den Speicheldrüsen transportiert. Im Maul „patscht“ (Jägersprache) der Eber einen parfümierten Speichelschaum zusammen. Die aus seinem Maul triefenden Flocken (Tafel 8) sind der Sau ein Wohlgefallen, und vielleicht sind es auch die nachfolgenden Aktivitäten des Ebers. Schweißdrüsen und Harnröhre sind andere Parfumzerstäuber, mit denen Säuger ihre Botschaften verbreiten; Terpenoide und diverse Fettsäurederivate sind weitere Duftkomponenten mit Signalcharakter.
Ein spannendes Thema ist die Geschichte mit dem MHC: Familien- und Individualduft sollen nach einer aufsehenerregenden Hypothese in Peptiden codiert sein, die sich vom Major Histocompatibility Complex MHC ableiten und sich im Urin finden. Da Peptide nicht flüchtig sind, müssen Aerosole die Botschaft durch die Luft tragen. Nachgewiesen ist das Vorkommen von Peptiden, die sich vom MHC I ableiten, im Urin männlicher Mäuse (s. Kap. 20). Bei Säugetieren, die mit einem zweiten Riechorgan, dem Vomeronasalen Organ VNO, ausgestattet sind, ist auch eine Übertragung von MHC-Peptiden durch UrinAerosol möglich; es wird in den Schlauch des VNO eingesogen. Beim Menschen ist dieses zweite Riechorgan verkümmert und es ist nicht üblich, seine Nase in den Urin anderer Leute zu stecken. Doch es gibt Berichte und Pressemeldungen, der MHC spiele auch beim Menschen eine Rolle, wenn er eine Person „riechen“ oder „nicht riechen“ könne. Freilich gibt es noch keine plausible Erklärung dafür, wie denn solche Peptide im Riechorgan des Empfängers eine spezifische, unverwechselbare Duftnote bewirken sollten. Es gibt weitere Gründe, solchen Meldungen, die immer wieder mal durch die Medien Verbreitung finden, nicht sogleich Glauben zu schenken. Weiteres zu diesem Thema und zur vermuteten Bedeutung von Pheromonen für das Verhalten des Menschen ist im Abschn. 20.3 ausgeführt.
25.3 Im Staat der Bienen
25.2.6 Pheromonähnliche Allomone wirken als – oftmals falsche – Signale zwischen verschiedenen Arten Dass die Sau so gerne den Duft von Steroiden riecht, die den Sexualhormonen des Ebers ähneln, hat sich der Trüffelpilz zunutze gemacht. Er produziert ein chemisch sehr ähnliches, und ähnlich riechendes, Allomon, lässt sich vom Wildschwein aufstöbern und sogar fressen. Seine Sporen überleben aber den Transport durch den Verdauungstrakt und werden verbreitet. Viele Pflanzen imitieren tierische Lockstoffe: die Fliegenwurz die Sexuallockstoffe bestimmter Fliegen; Baldrian und Katzenminze machen Katzen munter – vielleicht nur ein Irrtum der Natur, ohne Nutzen für die Pflanzen, nur „für die Katz“. Zu den Allomonen, die oftmals auch wir Menschen mit angenehmen Empfindungen wahrnehmen, gehören die Duftstoffe von Blüten, die Bestäuber anlocken sollen.
25.3 Im Staat der Bienen Bienen verdienen unser Interesse und unseren Respekt nicht bloß als fleißige Honigsammlerinnen. Angesichts der perfekten Organisation eines Bienenstaates und den unwahrscheinlichen Leistungen ihrer Augen und ihres kleinen Gehirns kann man nur in ehrfürchtiges Staunen geraten. 25.3.1 Als erstes wird von der Königin die künftige soziale Rolle eines neuen Mitgliedes festgelegt. Dabei spielen chemische Signale eine Rolle Kurz bevor die Königin ein Ei legt, entscheidet sie erst einmal über das genetische Geschlecht des Nachkommen. Ein unbefruchtetes Ei wird zum haploiden Drohn, ein befruchtetes zum genetischen Weibchen. Doch solange sie selbst ihres Amtes waltet, gute und viele Eier produziert und das Volk noch nicht an Platzmangel im Stock leidet, soll keines dieser Weibchen zur Konkurrentin werden. Sie sollen
sich fügen und als Arbeiterinnen den Nachwuchs der Königin pflegen. Die geschäftig herumkrabbelnden Arbeiterinnen sind keine Konkurrentinnen. Sie sind irreversibel auf ihre dienende Rolle festgelegt. Wohl könnte es den Arbeiterinnen einfallen, eine neue große Königinzelle (Weiselzelle) anzulegen und darin mit ihrer Ammenmilch eine neue Königin hochzuziehen. Damit dies nicht geschieht, sondert die Königin eine Königinsubstanz (queen substance) ab: eine Kollektion von ungesättigten Fettsäuren mit 10 Kohlenstoffatomen und einer Ketogruppe am Kohlenstoffatom Nr. 9 (9-Oxo-2-dekensäure, Abb. 25.2). Die Königinsubstanz ist ein Pheromon mit hormonaler Wirkung und zugleich eines der seltenen Pheromone, das im Empfänger nicht über ein Geruchsorgan wirksam wird. Die Substanz bzw. das Substanzgemisch wird über die Mandibulardrüse ausgepresst. Die Arbeiterinnen lecken das Sekret auf (Tafel 31). Es verhindert in ihnen die Auslösung eines instinktiven Verhaltensprogramms, das zur Aufzucht einer neuen Königin führen würde. Larven, deren Schicksal es sein soll, Arbeiterin zu werden, bekommen nur drei Tage lang reine „Ammenmilch“. Dann werden Pollen und Honig zugemischt und der Gehalt an Hexosezuckern wird von 35 auf 10% reduziert. Vermutlich werden dem Futter auch noch Pheromone zugemischt. So großgezogene Bienen erheben keinen Anspruch auf den Thron. Sie werden als Arbeiterinnen ihr ganzes Leben damit verbringen, selbstlos den Nachwuchs ihrer königlichen Mutter (oder Schwester) zu pflegen. Ist die Königin zu alt, um ausreichend Königinsubstanz zu produzieren, oder ist das Volk zu groß, sodass nicht mehr alle Arbeiterinnen ausreichend von dem drogenversetzten Trank mitbekommen, werden wach gewordene Arbeiterinnen Königinnenzellen (Weiselzellen) anlegen. Das geschieht auch, wenn beim Schwärmen im Frühjahr die alte Königin mit einem großen Teil der Arbeiterinnenschar ihre Heimat verlässt. Das zurückbleibende Volk legt Weiselzellen an. Künftige Königinnen werden mit purer Ammenmilch (jetzt Gelee royale genannt) aufgezogen. Geschäftstüchtige Imker haben gutgläubige Kunden überzeugt, teures Gelee royale verhindere Altern.
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25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation
25.3.2 Eine junge Königin macht durch Gesänge auf sich aufmerksam; ihre Gefolgschaft antwortet im Chor Aufnahmen mit moderner Tontechnik haben ein erstaunliches Konzert für unser Ohr hörbar gemacht: Eine junge Königin meldet sich mit einem besonderen Sologesang. Mittels ihrer Flugmuskulatur erzeugt sie Vibrationen, die sich als Substratschall über die Bienenwabe ausbreiten. Dem „Tüten“ der Königin antwortet die Arbeiterinnenschar mit „Quaken“. Ob die Königin auch potentielle Freier anlockt? Jedenfalls geht es bald auf den Hochzeitsflug. Ist er erfolgreich, werden Eier produziert. Bald wird der erste eigene Nachwuchs der Königin zu Dienste stehen.
25.3.3 Ein Arbeitskalender bestimmt den Lebenslauf Eine Arbeiterin übernimmt in den ersten 30 Tagen ihres Lebens in geregelter Reihenfolge mehrere verschiedene Arbeitsdienste, vom Reinigungsdienst bis zur Sammeltätigkeit im Außendienst (Abb. 25.3). Von dieser Dienstlaufbahn kann im Bedarfsfall abgewichen werden. Wenn allzuviele Sammlerinnen der Unbill des Wetters oder Räubern zum Opfer gefallen sind, kürzen Jungbienen den Innendienst ab. Kommen andererseits die Ammen mit dem Füttern der Larven nicht mehr nach, können Sammlerinnen ihre Ammendrüsen reaktivieren und beim Füttern behilflich sein. Vermutlich geschieht die
Lebenstag 1 Reinigen der Zellen Brutpflege,
Ammenmilch 5
aus Nektar Honig herstellen,Pollen einstampfen 10
Waben bauen 15
Luftstrom erzeugen Heizen Kühlen
Wachsdrüsen 20
Wächter am Stockeingang
Honig-Kropf 25
Ventil
Sammeln
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Abb. 25.3. Lebenslauf einer Bienenarbeiterin
einige weitere Wochen
Magen
25.4 Orientierung und Tanzsprache der Bienen
bedarfsorientierte Feinregulierung der Dienstzeiten über chemische Kommunikation. Sorgfältige Beobachtung findet immer wieder Neues und Erstaunliches. Ein Beispiel: Bei kalter Witterung machen sich Heizbienen bereit, durch unablässiges Zittern ihrer Flugmuskulatur Wärme für die Wohnung zu erzeugen. Damit die Heizbienen nicht gleich erschöpft sind, werden sie von anderen Bienen Mund-zu-Mund mit Honig betankt. Bienen können gar die Bruttemperatur regeln, mit der Larven aufgezogen werden. Mit niederen Temperaturen aufgezogene Bienen widmen sich bevorzugt dem Innendienst, wärmer aufgezogene Bienen sind im Außendienst besonders tüchtig (Tautz 2007). Nach dem Ableisten des Innendienstes folgt endlich der befreiende Erstflug zu den Honigtöpfen. Man fliegt berauscht von Blume zu Blume; doch wie findet man zurück?
25.4 Orientierung und Tanzsprache der Bienen 25.4.1 Sonnenkompass, innere Uhr, Tanzsprache: ein erster Überblick Der aus dem Salzburgischen Land stammende, lange als Professor für Zoologie in München lehrende Karl von Frisch (Nobelpreis 1973; gemeinsam mit K. Lorenz u. N. Tinbergen) wusste aus seinen Forschungen immer wieder Erstaunliches zu erzählen: ●
●
Bienen können bei ihren Flügen einen bestimmten Winkel zur Sonne einhalten (Sonnenkompass; allgemein: Menotaxis = bleibende Winkeleinstellung zur Informationsquelle). Bei dieser Winkeleinstellung kommt es vor allem auf den Azimut an; das ist der Winkel auf dem Horizontkreis zwischen der Sonne und dem Anflugsziel. Im Bedarfsfall, wenn der Zielpunkt beispielsweise auf einer Bergeswand oder unter dem Dachfirst liegt, kann auch ein bestimmter Höhenwinkel eingehalten werden. Zum Rückflug kann jeder Winkel um 180° gedreht werden. Die Biene weiß jedoch auch, dass man nicht den ganzen Tag den gleichen Winkel zur Sonne einhalten darf, wenn man das Ziel nicht verfehlen will. Hat die Biene morgens eine ergiebige Tracht gefunden, findet sie diese auch am späten Nach-
mittag, selbst wenn sie mittlerweile wegen Sturm und Regen im dunklen Stock warten musste. Sie kennt den Lauf der Sonnenbahn. Sie „weiß“ (wahrscheinlich gänzlich unbewusst), dass die Sonne auf ihrer Kreisbahn über den Himmel sich pro Stunde um 15″ weiterbewegt. ●
Um im dunklen Stock die Sonnenwanderung entlang dem Azimut vorausberechnen zu können, braucht die Biene eine präzise innere Uhr. Verlässt die Biene am Nachmittag wieder den dunklen Stock, weiß sie, welchen neuen Winkel beim Abflug sie einhalten muss, um das am Morgen entdeckte Ziel wiederzufinden.
Einer der vielen einfallsreichen Versuche von Karl von Frisch war folgender: Einer Biene wird nach längerer winterlicher Hungerzeit gegen Abend eine ergiebige Futterquelle angeboten. Sie will diese Entdeckung unbedingt ihren Kolleginnen im Stock mitteilen und tanzt die ganze Nacht; dabei dreht sie synchron mit dem Stundenzeiger der Uhr ihre Tanzrichtung, sodass morgens ihre Anweisung direkt zum Ziel führt. Schwänzeltanz und Transposition. Die Entdeckung und Entschlüsselung der Tanzsprache durch Karl von Frisch ist damals zu Recht als Sensation ersten Ranges empfunden worden. Bienen haben eine Symbolsprache, die es ihnen erlaubt, im dunklen Stock ihren Genossinnen mitzuteilen, wo eine ergiebige Futterquelle (Tracht in der Sprache der Imker) zu finden ist. Die Kommunikationsmittel der Biene sind von unterschiedlichem Komplexitätsgrad, je nach erforderlicher Präzision. In der höchsten Stufe der Kommunikation, verwirklicht im Schwänzeltanz, teilt die Biene mit, in welchem Winkel zur Sonne man fliegen muss, um ein angepriesenes Ziel anzusteuern; dabei macht die Biene etwas Unglaubliches: Da sie im dunklen Stock nicht direkt auf die Sonne zeigen kann transponiert die Biene den Winkel zur Sonne in einen Winkel zur Schwerkraft. ●
Im Verlauf ihres Schwänzeltanzes teilt die tanzende Biene auch mit, in welcher Entfernung die angepriesene Futterquelle liegt, wie gut sich ein Flug lohnt. Und dafür benutzt sie eine akustische Sprache – wie Delphin und Mensch. Einzelne dieser aufgelisteten Leistungen betrachten wir im Folgenden näher.
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25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation
25.4.2 Bei nahen Zielen genügen der werbende Rundtanz, Duftproben und Duftmarken Fündige Suchbienen bringen eine Duftprobe mit, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und um es den Genossinnen, die sie anwerben will, zu ermöglichen, die angepriesene Futterquelle per Geruchssinn zu identifizieren. Um die Ortung des Ziels zu erleichtern, hat sie nicht nur eine Duftprobe mitgebracht, sondern umgekehrt vor ihrem Heimflug besonders ergiebige Blumen mit einer eigenen Duftmarke versehen. Diese Marke ist definitionsgemäß ein Pheromon; chemisch ist es der Terpenalkohol Geraniol. Ist die Tracht nicht mehr als 100 m weit, begnügt sich die Heimkehrerin mit einem einfachen, werbenden Rundtanz, um weitere Sammlerinnen zu rekrutieren. Sie dreht Kreise mit plötzlichen Kehrtwendungen (Abb. 25.4). Die mitgebrachte Duftprobe und die ausgebrachten Duftmarken genügen in der Regel den ausfliegenden Sammlerinnen, die Tracht zu finden. Mitunter fliegt die Vortänzerin auch los und geleitet persönlich nachfolgende Sammlerinnen zur Futterquelle. Es gibt eine zweite Situation, bei der der Rundtanz gezeigt wird: nach der erfolgreichen Suche einer Nisthöhle. Ein Schwarm, der den Heimatstock verlassen hat, hängt wartend als Traube an einem Baumast, um die neue Königin geschart. Suchbienen schwärmen aus, um nach einer geeigneten Nisthöhle Ausschau zu halten. Haben sie eine mögliche Unterkunft entdeckt, teilen sie dies, auf der Oberfläche der Schwarmtraube tanzend, anderen Bienen mit. Diese sollen ihnen nachfliegen und den Platz ebenfalls inspizieren. Sind ausreichend viele Bienen von der Qualität der potentiellen Nisthöhle überzeugt, regt ihr gemeinschaftlicher lebhafter Tanz den Schwarm an, ihnen zur neuen Heimat zu folgen.
25.4.3 Der Schwänzeltanz: eine komplexe Symbolsprache, bei der Tanz und Gesang Richtung und Entfernung einer Tracht angeben. Zur korrekten Interpretation der Sprache braucht man auch noch eine Uhr Wie kann man auf einer lotrecht hängenden Wabe anderen mitteilen, in welcher Himmelsrichtung eine entfernte, ergiebige Tracht zu finden ist? Wir sehen uns erst die Grundfigur des Tanzes an.
Rundtanz: Sucht in nächster Umgebung Abb. 25.4. Rundtanz der Honigbiene
Grundfigur des Schwänzeltanzes. Die tanzende Biene durchläuft eine Achterfigur (Abb. 25.5). Zuerst durchläuft sie eine gerade Strecke; dabei schwänzelt sie mit ihrem Hinterleib (Abdomen) hin und her. Am Ende der Gerade biegt sie ab und läuft im Halbkreis ohne zu schwänzeln zum Startpunkt zurück. Nun durchläuft sie die gerade Strecke ein zweites Mal, wieder schwänzelnd. Wenn sie dann erneut zum Startplatz zurückläuft, wählt sie die Gegenseite. War sie das erste Mal nach rechts abgebogen und im Uhrzeigersinn zurückgelaufen, kehrt sie nun auf dem linken Halbkreis zurück. Bei jeder vollen Tanzfigur wird also nur die gerade Mittelstrecke zweimal durchlaufen und nur auf dieser Mittelgeraden wird geschwänzelt. Direkte Richtungsangabe auf der horizontalen Tanzfläche. Befindet sich vor dem Flugloch eine horizontale Start- und Landebahn, kann die Biene die Flugrichtung relativ einfach durch die Winkelstellung der Mittelstrecke anzeigen. Man soll im Flug den gleichen Winkel zur Sonne einhalten, den die Mittelgerade der Tanzfigur vorzeichnet. Transposition auf der vertikalen Wabe. Transposition nennt man die Umcodierung von Botschaften in eine Symbolsprache. Die tanzende Biene transponiert die Richtung zur Sonne in eine Richtung zur Schwerkraft. Bei jeder Tanzfigur des vertikalen Schwänzel-
25.4 Orientierung und Tanzsprache der Bienen
Fliegt direkt Richtung Sonne
Fliegt mit der Sonne direkt im Rücken
o
= 68 =
60
o
= 60 o
= 68
Haltet Kurs 60 Grad rechts von der Geraden zur Sonne (60 Grad rechts vom Solarmeridian)
Abb. 25.5. Schwänzeltanz der Honigbiene
o
Haltet Kurs 68 Grad links der von der Sonne wegführenden Geraden (68 Grad links vom Antisolarmeridian)
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590
25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation
tanzes hat die Mittelgerade den gleichen Winkel – nur eben nicht zur unsichtbaren Sonne, sondern zur Lotrechten. Tanzrichtung nach oben heißt: fliegt geradewegs Richtung Sonne, Tanzrichtung nach unten heißt: fliegt geradewegs so, dass ihr die Sonne exakt im Rücken habt. Die genaueren Regeln sind in den Abbildungen (Abb. 25.5) erläutert. Die Richtung der Schwerkraft wird mittels Tasthaaren festgestellt. Wenn die Biene einen Winkel zur Lotrechten läuft, werden die nicht von Beinen gestützten, beweglich aufgehängten Körperteile (Kopf und Abdomen) gegenüber dem beingestützten Thorax abgelenkt. Diese Ablenkung wird von Tasthaaren registriert (s. Abb. 18.9). Entfernungsangabe. Um eine Stelle im entfernten Gelände zu kennzeichnen, genügt eine Angabe der Richtung nicht. Als zweites muss die Entfernung angegeben werden. Lange glaubte man, Bienen würden die Entfernung nach der Menge des Treibstoffs messen, die man bis zum Zielort verbraucht. Neue experimentell gewonnene Daten geben gewichtige Hinweise auf einen optischen Kilometerzähler: Je weiter sie fliegt, desto mehr Helligkeits- und Farbkonturen überstreichen ihre Augen („optischer Fluss“). Muss die Biene durch einem Tunnel mit schwarz-weiß gemusterten Wänden fliegen, gibt sie eine Entfernung an, die mit der Anzahl der überflogenen Schwarz-Weiß-Konturen korreliert (Tautz 2007, Tafel 31). Die Angaben über die Entfernung und den zu erwartenden Kraftstoffverbrauch kann der menschliche Spion aus folgenden Beobachtungen entziffern: ●
Man zählt, wie oft pro Zeiteinheit eine Biene die Mittelstrecke durchläuft, wie oft sie also eine vollständige Tanzfigur vorführt (Tabelle 25.1).
●
Man ermittelt die Häufigkeit, mit der die Tanzbiene beim Durchlaufen der Mittelstrecke pro Zeiteinheit „schwänzelt“, d. h. mit dem Abdomen hin und her wackelt.
Tabelle 25.1. Korrelationen zwischen der Entfernung einer Tracht und der Anzahl der Tanzfiguren im Zeitraum von 15 s n Durchläufe 10
Entfernung 100 m
6 4 3
500 m 1000 m 5000 m
●
Man nimmt mit Mikrofon und Tonträger die schnarrende Laute auf, die die Biene beim Schwänzeln erzeugt. Und man registriert mit einem Laser-Doppler-Vibrometer die beim Schwänzeln erzeugten Vibrationen der Tanzfläche.
Akustische und Vibrationssignale. Wie können die Folgebienen in der Dunkelheit des Stockes überhaupt die Tänzerin wahrnehmen und ihr Schritt um Schritt folgen? Früher glaubte man, sie würden die Bewegungen ihrer Vortänzerin ertasten. Heute ist nachgewiesen, dass die Folgebienen ihre Vortänzerin abhören – in zweierlei Weise: 1. Während des Schwänzelns schwirrt die Tanzbiene mit den Flügeln und erzeugt leise, niederfrequente Laute von 250 bis 300 Hz Die Folgebienen strecken ihre Fühler nahe an die Schallquelle. Ihre Fühler enthalten Riechsensillen und im zweiten Antennenglied ein Gehörorgan (Johnston-Organ). 2. Während die Tanzbiene schwirrt und schwänzelt, d. h.15 mal in der Sekunde ihren Hinterleib hin und her wirft, hält sie in ihrem Lauf inne und klammert sich mit ihren klauenbewehrten Beinen an der Wabe fest. Die Vibrationen breiten sich als Bodenschall auf der Wabe aus und alarmieren auch entfernte Bienen (Tautz 2007).
Rückfragen und Bitten der Folgebienen. Ein Bienentanz ist keine akademische Vorlesung. Die Nachtänzerinnen dürfen unterbrechen und nachfragen. Gelegentlich klopfen sie unter Abgabe eines Piepstones auf die Unterlage. Das Vibrationssignal mahnt die Tanzbiene innezuhalten und aus ihrem Mund eine Kostprobe des gesammelten Futters herauszugeben. Die interessierten Folgebienen wissen dann, wie der angepriesene Nektar duftet und schmeckt.
25.4.4 Auch ohne direkte Sonnensicht findet die Biene die korrekte Himmelsrichtung. Sie besitzt einen Kompass, der auf das Polarisationsmuster am Himmel geeicht ist, dazu noch einen Magnetkompass und in ihrem Gedächtnis eine Landkarte Die Stellung der Sonne am Himmel kann die Biene aufgrund zweier verschiedener Parameter ermitteln:
25.5 Fernorientierung und Navigation ●
Die spektrale Zusammensetzung des Lichtes: Die Sonne ist für die UV-Rezeptoren in den Ommatidien ein Fleck, der dunkel erscheint, wohingegen die Grünrezeptoren einen hellen Fleck registrieren.
●
Das Muster des polarisierten Lichtes am Himmelsgewölbe. Mittels dieses Musters kann die Position der Sonne auch ermittelt werden, wenn die Sonne selbst von Wolken verdeckt ist, aber irgendwo zwischen den Wolken der blaue Himmel hervorlugt. Ja sogar unter einer Wolkendecke ist noch ein Polarisationsmuster erkennbar, dessen Struktur vom Sonnenstand abhängt (Pomozi et al. 2001). Dieses Polarisationssehen ist im Abschn. 22.5.4 vorgestellt worden. Wir fassen hier einige wichtige Punkte zusammen.
Durch Streuung an Molekülen der Atmosphäre entsteht am Himmel ein bestimmtes Muster in den örtlichen Richtungen, in denen das Licht bevorzugt schwingt (Polarisationsmuster, s. Abb. 22.22). Links und rechts des Himmelmeridians, der durch die Sonne geht, ist das Polarisationsmuster symmetrisch, sodass der Meridian unschwer abgelesen werden kann. Darüber hinaus bilden die Polarisationsrichtungen konzentrische, um die Sonne laufende Ringe. Der Grad der Polarisation ist gering in Sonnennähe, maximal auf einem Kreis, der den Antimeridian schneidet und wie ein Regenbogen den Himmel umspannt. So wie ein echter Regenbogen, der durch Lichtbrechung an Wassertropfen entsteht, nur zu sehen ist, wenn man der Sonne den Rücken kehrt, so sieht auch die Biene den Bogen maximaler Polarisation nur, wenn sie die Sonne hinter sich hat. Die Biene kann das Polarisationsmuster sehen, weil ihre Augen Analysatoren für Schwingungsrichtungen enthält. Sie besitzt einen Sonnenkompass, bestehend aus einem relativ kleinen Feld von Ommatidien am dorsalen Rand jedes der beiden Komplexaugen (POL-Region oder DRA, dorsal rim area). In jedem Ommatidium dieser Region sind die UV-Rezeptoren so angeordnet, dass sie auf Licht einer bestimmten Schwingungsrichtung maximal reagieren. Jedes Ommatidium hat seine bestimmte Vorzugsrichtung (s. Abb. 22.24). Der Trick des Ganzen ist nun der: Dem Himmelsgewölbe steht das gewölbte Komplexauge gegenüber. Das Muster der Vorzugsrichtungen in den Omma-
tidien ist eine (vereinfachte) Kopie des Polarisationsmusters am Himmel. Mit anderen Worten: Es gibt ein bestimmtes Muster am Himmel und ein ähnliches im Auge. Durch Drehen um die vertikale Körperachse scannt die Biene das Himmelsmuster ab, bis die Musterkopie in ihren Augen mit dem Originalmuster am Himmel zur Deckung kommt. Ist dies der Fall, sieht die Biene ein scharfes HellDunkel-Muster, andernfalls ist das gesehene Muster flau und verzerrt. Sie bringt also ihre Kopie mit dem Original am Himmel zur Deckung und weiß dann, in welcher Richtung die Sonne liegt. Ist maximale Deckung erreicht, weiß sie, dass ihr Kopf momentan der Sonne abgewandt, ihr Hinterleib der Sonne zugewandt ist (s. Abb. 22.24). Alsdann kann sie den gewünschten Winkel zur Sonne einstellen. Ein Problem besteht allerdings darin, dass das Muster in den Augen anatomisch fixiert und deshalb starr ist, nicht aber das Himmelsmuster. Dieses ändert sich mit der Sonnenhöhe (mittags anders als morgens und abends) und damit auch mit der Jahreszeit (am Mittag des 21. Juni anders als am Mittag des 21. August). Aber es bleibt dabei, dass das Polarisationsmuster am Himmel symmetrisch ist und die Polarisation stärker in dem Teil des Himmelszeltes, der der Sonne gegenüber liegt (in der Hemisphäre des Anti-Sonnenmeridians). Auch wenn der Kompass der Biene nie perfekt zum Himmelsmuster passt, so ist doch stets die jeweils beste Passungsgüte dann gegeben, wenn die Biene ihren Körper parallel zum Himmelsmeridian stellt.
Die Kursbestimmung mit dem Augenkompass funktioniert auch, wenn die Sonne hinter Wolken versteckt ist, aber anderswo ein Stück blauer Himmel hervorlugt. Schlimmstenfalls, bei ganz bedecktem Himmel, steht der Biene ein Magnetkompass zur Verfügung. Er ist im Abdomen lokalisiert (s. Kap. 21). Außerdem hat die erfahrene Biene ein vorzügliches Gedächtnis und hat sich bestimmte Landmarken eingeprägt.
25.5 Fernorientierung und Navigation Das Überleben in geografischen Lebensräumen mit Sommer und Winter, Regen und Trockenzeiten und entsprechend wechselhaftem Angebot an Nahrung zwingt viele tierische Organismen zu Wanderun-
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25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation
gen. Der gemeinschaftliche Zug der Schwalben im Herbst verlangt wechselseitige Verständigung, er verlangt Orientierung im nahen Umfeld und Navigation in Kontinent-übergreifenden Dimensionen. 25.5.1 Wander- und Flugrouten können sich über Tausende von Kilometern erstrecken und geben noch viele Rätsel auf Viele Tiere unternehmen ausgedehnte Ausflüge und Wanderungen: ●
Jährlich überqueren Millionen Zugvögel Alpen, Mittelmeer und bisweilen mehr als die Hälfte des afrikanischen Kontinents, um südlich der Sahelzone zu überwintern.
●
Monarchfalter ( Danaus plexippus) fliehen vor Wintereinbruch die unwirtlich werdenden Regionen der USA und Kanadas und sammeln sich nach einer Reise von bis zu 3000 km zu Millionen in einem von immergrünem Nadelwald umstandenen Talkessel in der Sierra Madre in Mexiko. Möglicherweise sind die Falter, die im Frühsommer in den Norden zurückkommen, nicht die, die im vergangenen Spätsommer in den Süden zogen, sondern ihre Kinder und Kindeskinder. Wer hat sie die Route gelehrt?
●
●
Langusten ( Palinurus argus) vor den Bahamas verlassen ihre Wohnhöhlen und wandern zunächst einzeln, dann in langen Karawanen bis zu 12 km zu bestimmten Sammelplätzen. Ihre nächtlichen Exkursionen beenden sie mit ihrer Heimkehr in ihre angestammten Wohnhöhlen. Sie halten ihren Kurs auch im trüben Wasser oder geblendet ein. Lachse und Meerforellen finden aus den Weiten der Hochsee zurück in Flüsse und Bäche, wo sie einst das Licht der Welt erblickten. Europäische Aale laichen in der Sargasso-See vor der Karibik. Die Larven schlüpfen aus der Eihülle in den Weiten der Ozeane, lassen sich als Junglarven von den Laichgründen durch Meeresströmungen forttreiben, finden als unerfahrene Jungfische in Flüsse Europas, von deren Existenz sie nicht wissen können, und wandern als Erwachsene aus den Flüssen zurück zu jenen ozeanischen Laich-
gründen, die auch ihre Eltern aufgesucht hatten (s. Abb. 27.6). Unglaublich weite Wanderrouten und Entfernungen lassen erahnen, dass das Orientierungsverhalten der Tiere mitunter Rätsel aufgibt, deren Lösung das technische Rüstzeug und die finanzielle Kapazität der Forschung heute noch überfordert. Wer kann schon den Lebensweg einer einzelnen Aallarve über die Weiten der Ozeane verfolgen? Wer findet ein im Labor durchführbares und aussagekräftiges Experiment, das Auskunft gibt, ob sich eine Grasmücke, wenn sie afrikanische Gefilde ansteuert, nach dem Magnetfeld der Erde oder nach dem Sternenhimmel orientiert? Wer findet eine bezahlbare Möglichkeit, das Orientierungsverhalten eines Wals in der Tiefsee experimentell zu studieren? 25.5.2 Je ferner das Ziel, desto mehr muss mit Gehirn gearbeitet werden Wenn es nur darum geht, von einem Ausflug in die nächste Umgebung heimzufinden, hat ein Tier, ob Ameise oder Säuger, manche Möglichkeiten, den rechten Weg zu finden: ●
Duftspuren, selbst gelegt oder von Artgenossen, erfordern als Sonderleistung nur, dass man aus der sich ändernden Zusammensetzung der Duftkomponenten die Wegrichtung herauszulesen vermag (was z. B. der Hund kann).
●
Wegintegration (Vektornavigation) erfordert schon hohe Rechenleistungen, kommt aber im Prinzip auch für Flieger und Schwimmer in Betracht, für die keine Duftspuren gelegt werden können.
Man misst beim Ausflug jeden Winkel, den man einschlägt, und die Länge jeder Teilstrecke, die man zurücklegt. Für den Heimweg werden die Winkel gedreht: Hat man sich beim Hinlauf im Uhrzeigersinn gedreht, dreht man sich beim Rücklauf um den gleichen Winkelgrad entgegen dem Uhrzeigersinn. Die Teilstrecken werden um gleiche Distanzen in umgekehrter Reihenfolge durchlaufen. Vorteil: man ist unabhängig von Ortssignalen. Nachteil: rechenintensiv, sehr störanfällig, kleine Winkelabweichungen genügen, das Ziel zu ver-
25.5 Fernorientierung und Navigation
BOX 25.1
Glossar der Verhaltensforschung zum Thema Orientierung Es sind in der Vergangenheit mehrere Versuche unternommen worden, das Orientierungsvermögen der Tiere zu klassifizieren und mit Begriffen zu belegen. Kein System ist zum definitiven Einteilungssystem avanciert. Es kehren jedoch bestimmte Begriffe immer wieder. Hier einige dieser Begriffe: ●
Tropismen. Wachstums- und Wendebewegung festsitzender Organismen
●
Taxien. Aktive Bewegung, ausgerichtet an einer externen Reizquelle. Je nach der Reizquelle spricht man von Photo-, Chemo-, Geo-, Galvano- (= Elektro-), Thigmo- (= Berührungs-), Rheo- (= Strömungs-), Anemo (= Wind-), Phono-( Schall-)Taxis
fehlen. Bei kurzen Entfernungen in vertrauter Umgebung brauchbar. Da solcherlei Orientierung Gedächtnis verlangt, wird sie bisweilen auch Mnemotaxis, Gedächtnisorientierung, genannt (nicht zu verwechseln mit Menotaxis, s. Box 25.1). Vektornavigation für Fortgeschrittene. Bienen und Ameisen sind zu besonderen Rechenleistungen fähig. Die Biene kann im Pendel- und Zickzackkurs von Blume zu Blume fliegen, kehrt aber dann, wenn der Honigmagen voll und die Pollenhöschen gestopft sind, auf direktem Weg in den Stock zurück. Die Wüstenameise Cataglyphis bicolor verlässt ihr unterirdisches Nest, läuft mit ihren langen Beinen im Zickzackkurs bis zu 200 m über den heißen Wüstensand, um Insekten einzuholen, die dem Hitzschlag erlegen sind. Ist ein solches entdeckt und in die Zange der Mandibeln genommen, gilt es, schleunigst auf kürzestem Weg ins Nest zurückzueilen, bevor man selbst verbrennt. Allein aus dem Gedächtnis heraus sind solche Leistungen nicht zu erklären. Wie misst man denn den Winkel, um den man gerade seinen Kurs ändert? Wegstrecken-Integration muss mit einer der nachfolgend diskutierten Orientierungsmöglichkeiten verknüpft sein, mit Kursbestimmung nach
●
Mnemotaxis. Wiederholung einer Bewegungsfolge aus dem Gedächtnis, zur Rückkehr mit um 180( gedrehten Wendewinkeln oder mit geradliniger Abkürzung (Vektornavigation)
●
Menotaxis = Kompassorientierung. Einstellen eines Kurses im bestimmtem Winkel zur Reizquelle, bei der Sonnenkompass-Orientierung eventuell mit Korrektur des Winkels im Tagesverlauf
●
Navigation. Fernorientierung ohne direkte Sicht oder sonstige Wahrnehmung des Ziels. Beinhaltet eine Orientierung nach einem Wegweiser, der nicht selbst das Ziel ist, z. B. eine Sonnenkompass- oder eine globale Magnetfeld-(Kompass-)Orientierung
bekannten Landschaftsmerkmalen oder mit Kursbestimmung mittels eines Kompasses. Kursorientierung nach Landmarken. Auch hier spielt das Gedächtnis die zentrale Rolle. Zur Erstellung einer inneren Landkarte werden möglicherweise nicht nur optische Kennzeichen benutzt. Tauben sollen auch charakteristische Düfte in ihr Landschaftsbild integrieren können. Bestimmung der Himmelsrichtung mittels Kompass. Das Ziel selbst braucht nicht in Sichtweite oder der Reichweite anderer Sinnesorgane zu sein. Man orientiert sich an geophysikalischen Umweltparametern oder Himmelsbildern, die sich nach Zeit und Ort systematisch verändern, um im Nonstop-Flug oder nach Zwischenlandungen zum Ziel zu kommen. Im Blickpunkt des Interesses liegen Sonnenkompass, Sternenkompass und Magnetkompass. Navigation (Fernorientierung). Liegt das angestrebte Ziel außerhalb des täglichen Aktionsradius und kann das Tier das Ziel weder sehen, noch hören, noch sonst wie direkt orten, spricht man von Fernorientierung. Ist gar das Ziel in geografisch entfernten Regionen der Erde, so spricht man gern von
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25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation
Navigation. Eine Fernorientierung oder Navigation setzt voraus: ●
eine Möglichkeit, den Kurs nach einem angeborenen oder erlernten Sollkurs auszurichten (Kompassorientierung), und
●
das Erreichen des Endpunktes festzustellen. Das kann im Prinzip auf verschiedene Weise geschehen. Man hat Kenntnis über die Entfernung des Zielortes und misst die Wegstrecke, die man zurückgelegt hat, oder man hat Kenntnis über eine charakteristische Eigenschaft des Zieles. Bienen messen die Entfernung, die sie im Flug zurücklegen, auch anhand des Treibstoffverbrauchs, und wissen aber auch, wie die gesuchte Blüte riecht; denn die erfolgreiche Suchbiene hat bei ihrem Heimflug in den Stock eine Duftprobe mitgebracht.
Beim Thema Fernorientierung wird häufig als Arbeitshypothese angenommen, dass außer der Fähigkeit, mittels Kompass einen bestimmten Kurs einzuhalten, auch eine im Gehirn gespeicherte Landkarte von Bedeutung sei. Wahrscheinlich prägen sich Tiere mit leistungsfähigen Sinnesorganen und Gedächtnis schon beim ersten Ausflug charakteristische Merkmale der Landschaft ein. Nachgewiesen ist eine Orientierung nach Landmarken nicht nur für Vögel und Säugetiere, sondern auch für Ameisen und Bienen. Eine innere, im Gedächtnis deponierte Landkarte wird immer hilfreich sein, ist aber nicht immer notwendig. Brieftauben, die man über hunderte von Kilometern an einen unbekannten Ort ausfliegen ließ, benutzten zur Heimkehr die direkte Route, die sie nie zuvor gesehen hatten. Geomagnetische Fernorientierung. Gibt es Tiere, die echte, auf das Magnetfeld der Erde ansprechende Kompasse haben? Die Antwort lautet ja (s. Abschn. 21.2). Wir rekapitulieren kurz Ausführungen zu diesem Thema aus Kap. 21. Im geomagnetischen Feld sind es drei Parameter, die als Informationsquellen in Betracht kommen: ●
Nord-Südrichtung der Feldlinien, d. h. eine vektorielle Größe, die es erlaubt, die NordsüdRichtung zu registrieren, wie es unser Nadelkompass tut.
●
lokale Stärke des magnetischen Feldes,
●
Inklination der Feldlinen, d. h. der Winkel, unter dem sie auf der Erdoberfläche auftreffen und ins Erdinnere eintauchen. Lokale Stärke und Inklination können Information über die momentane Position liefern.
Davon unabhängig gibt die Physik Anlass, grundsätzlich zwei Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, wie das geomagnetische Feld als Orientierungshilfe genutzt werden könnte: 1. Das geomagnetische Feld nimmt Einfluss
auf die Struktur oder Orientierung magnetischer Materialien (Magnetit) oder von Photopigmenten. Hier können die genannten Parameter des Erdmagnetfeldes relativ direkt zur Wirkung kommen. Bei der Biene übt der im Abdomen lokalisierte Kompass aus Magnetit mutmaßlich Zugspannungen auf mechanosensitive Sinneszellen aus (s. Abschn. 21.2.2). Bei Vögeln wurden schon mancherlei Vorschläge gemacht und Glaubensbekenntnisse veröffentlicht, wo denn der Magnetkompass zu finden sei: Gehirn, Gehörorgan, die Haut über dem Oberschnabel, das Auge (s. ausgewählte Literaturangaben für Kap. 21 u. 24). Magnetitkristalle, die man in der Haut von Brieftauben oberhalb des Schnabels findet, sollen es ermöglichen, über die Inklination und/oder lokale Intensitäten des geomagnetischen Feldes die Position zu orten, in der man sich gerade befindet. Nach neueren Hypothesen soll es, bei bestimmten Zugvögeln jedenfalls, einen zweiten Kompass im rechten Auge geben. Radikalpaar-Prozesse in bestimmten Photopigmenten – gedacht ist an Cryptochrome, die in retinalen Ganglienzellen vorkommen – sollen durch Magnetfelder beeinflussbar sein und es ermöglichen, die Richtung der Feldlinien zu wahrzunehmen (Wiltschko u. Wiltschko 2006). 2. Induktion von elektrischen Spannungen und
Strömen in elektrischen Leitern, die sich quer zu den Feldlinien des geomagnetischen Feldes bewegen. Dies kommt bei schnell schwimmenden Meeresfischen in Betracht, auf deren Haut sich als Folge der Induktion Muster elektrischer Spannungen bilden. Hautsinnesorgane, die als Voltmesser arbeiten, sind bekannt (s. Abschn. 21.2.1).
25.5 Fernorientierung und Navigation
25.5.3 Brieftauben: Ihr Heimfindevermögen beruht auf der Leistung mehrerer Sinnessysteme Brieftauben haben es dem Laien wie dem Forscher angetan und manchen Züchter zum leidenschaftlichen Forscher gemacht. Tauben werden in geschlossenen Verschlägen über hunderte von Kilometern verfrachtet und am fremden Orten freigelassen. Gewinner sind die Tauben, die am schnellsten in ihren Heimatschlag zurückkehren. Der Wettbewerb der Züchter hat aus der Ringeltaube die besonders begabte Brieftaube herausgezüchtet. Beim Wettbewerb der Züchter hat freilich nicht immer die Begeisterung ihre Grenzen in der Genauigkeit der Analyse und in gebotenen Kontrollversuchen gefunden. Wie beim Jäger und Angler, ist mancher Bericht in „Latein erzählt worden“. Nach heutigem Stand ist die Brieftaube ein Modellbeispiel einer multimodalen Navigation, d. h. es werden viele Sinnesmodalitäten zu einer Gesamtleistung zusammengefasst, wobei – so es die Natur ermöglicht – zuverlässige Orientierungsparameter über weniger zuverlässige dominieren. ●
Bei Sonnenschein dominiert der Sonnenkompass (Budzynski et al. 2000).
●
Unterstützt wird der Sonnenkompass durch einen Magnetfeldkompass (oder zwei Detektionssysteme für das geomagnetische Feld, s. Abschnitt oben oder Abschn. 21.2.2).
●
Ergänzt wird die Grundorientierung nach der Himmelsrichtung durch akustische, optische und olfaktorische Landmarken. Das ist natürlich nur im vertrauten Gebiet möglich.
Akustisch besagt: Schon über viele, vielleicht hundert Kilometer Entfernungen hört die Taube die Brandung entlang von Küsten und die von Bergkämmen herabstürzenden Winde; denn diese erzeugen weitreichenden Infraschall, den Tauben hören können (Hagstrum 2000). Düfte? Eine heiß und lang diskutierte Möglichkeit; denn Winde, den unvermeidbaren eigenen Flugwind eingeschlossen, wirbeln Düfte rasch durcheinander. Andererseits kann man sich vorstellen, dass die Taube beispielsweise gelernt hat: Wenn in meinem Heimatgebiet Fichtenduft
heranströmt, dann von Westen; wenn Seeluft heranweht, dann von Osten. Die Aussagekraft von Experimenten wird oft von ihrer Grobheit beeinträchtigt. Wenn der Riechnerv oder ein anderer Nerv durchtrennt wird, ist dies ein so schwerwiegender Eingriff, dass die Taube möglicherweise wenig zum Flug motiviert und nicht mehr zu Hochleistungen fähig ist.
25.5.4 Zugvögel: Auch sie benutzen wahrscheinlich mehrere Kompass-Systeme; sie brauchen aber auch eine gründliche Reisevorbereitung Zahlreiche Wiederfunde beringter Zugvögel haben ein recht gutes Bild darüber vermittelt, wohin unsere mitteleuropäischen Zugvögel im Winter ziehen. Afrikareisende bevorzugen zwei Hauptrouten: eine Westroute über Gibraltar oder eine Ostroute über Istanbul, Syrien und Ägypten. Die Überwinterungsgebiete der einzelnen Arten streuen aber über ganz Afrika. Aus Wanderzielen und Wanderrouten kann man Arbeitshypothesen ableiten, wie Zugvögel ihre Ziele ansteuern und ihren Zielort finden könnten. Echte physiologische Untersuchungen und Experimente sind jedoch nur schwer möglich. Man untersucht gern Kleinvögel wie Grasmücken, die man im Labor halten und unterschiedlichen Belichtungscyclen aussetzen kann. Ein solch gewaltiges Unterfangen wie der Flug nach Afrika muss schließlich vom Vogel gründlich vorbereitet werden. Er muss sich Energiereserven anfressen, er muss sein Gefieder in besten Zustand bringen (Mauser) und manches mehr an Reisevorbereitungen treffen. Das alles zur rechten Zeit. Der Vogel braucht einen Kalender in Form einer circannualen inneren Uhr. Was der Physiologe messen kann sind z. B. Gewichtszunahme, Zeitpunkt der Mauser, Hormonstatus und dergleichen mehr. Aus solchen Untersuchungen, die als solche noch nichts über die Physiologie der Navigation aussagen, kann man schon einiges Interessantes zum Thema Vogelzug aussagen: ●
Jahresperiodisch wird die Reise von langer Hand vorbereitet.
●
Kommt die Reisezeit, verfallen die Vögel in nervöse Zugunruhe.
595
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25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation ●
Die Dauer der Zugunruhe ist ein grobes Maß der Entfernung, die ein Vogel zurücklegen muss. Bei Grasmücken fand man eine positive Korrelation zwischen der Anzahl der Stunden, die im Käfig gehaltene Vögel in Unruhe sind, und der Entfernung, welche die Tiere im Flug hätten zurücklegen müssen, um im Zielgebiet zu landen. Die Entfernungsmessung könnte demnach darauf basieren, dass vom Vogel mittels einer inneren Uhr die Flugzeit gemessen oder der Treibstoffverbrauch als indirektes Maß der Flugstrecke gewertet wird. Schließlich kann der erreichte Ort Merkmale aufweisen, die den Vogel zum Verweilen anregen. Um solche Erklärungshypothesen fundiert erstellen zu können, eignet sich der Laborversuch in Verbindung mit populationsgenetischen Studien durchaus. Was hingegen noch immer äußerst schwierig und noch immer nicht befriedigend gelöst ist, sind aussagekräftige Experimente zur Navigation. Gemeinhin wird die sogenannte Zugunruhe der Vögel ausgenutzt. Im Frühjahr und Herbst, wenn die Wanderzeit gekommen ist, verfallen im Käfig gehaltene Zugvögel in große Unruhe, hüpfen von Stange zu Stange und versuchen, wenn man ihnen die Möglichkeit lässt, davonzufliegen. Klassische Untersuchungen zur Orientierung versuchen, in diesem Fluchtverhalten eine Vorzugsrichtung herauszufinden in der Hoffnung, diese Vorzugsrichtung würde zusammenfallen mit der Himmelsrichtung, die beim freien Flug ins Zielgebiet führen würde. Dass Vögel in dieser Zwangssituation zunächst eher die Freiheit als Afrika im Sinne haben könnten, und im freien Flug nicht immer das Ziel direkt angesteuert wird, sind viel vorgetragene Einwände gegen diese Art von Versuchen. Immerhin sind mehrfach statistische Korrelationen publiziert worden, die Sinn zu geben scheinen. Gartengrasmücken ( Sylvia borin) z. B. sollen im Käfig, der in Süddeutschland stand, im Verlauf des Septembers und Oktobers ihre spontane Abflugtendenz von Südost („Richtung Gibraltar“) nach Süd („jetzt Richtung Niger und Kongo“) gedreht haben (Abb. 25.6).
Folgende Möglichkeiten der Fernorientierung werden gegenwärtig diskutiert: ●
Sonnenkompass. Gewiss die naheliegendste Möglichkeit, aber unzureichend, wenn Vögel auch nachts ziehen oder im fensterlosen Raum eines Forschungslabors flattern müssen. Vielleicht wird auch das Polarisationsmuster am Himmelszelt analysiert, wozu manche Vögel fähig zu sein scheinen.
S O
W
Stempelkissen Orientierungskäfig Abb. 25.6. Orientierungskäfig nach Schmidt-Koenig (1979). Beim Bestreben, davon zu flattern, hinterlässt der Vogel Fußspuren auf der Wand des Trichters
●
Sternenkompass. Es ist schwer vorstellbar, dass Vögel, die hierzulande auf die Welt kommen, angeborenermaßen wissen, wie der Sternenhimmel aussieht und nicht nur hier auf der Nordhalbkugel, sondern auch am Südhimmel jenseits des Äquators. Auch dreht sich der Himmel während der Nacht. Doch es ist nicht ausgeschlossen, dass Zugvögel sich bestimmte Sternmuster auf ihren Flugrouten einprägen können. Grasmücken und andere Zugvögel sind in Planetarien verfrachtet worden, wo ihr Bemühen, davonzufliegen, in Korrelation zum gezeigten Sternenhimmel gebracht wurde. In der Weiterentwicklung solcher Versuche wurden die Vögel per Belohnung darauf hin dressiert, im Käfig bevorzugt in Richtung einer gezeigten Sternfigur zu hüpfen. Neue Versuche kommen zu dem Schluss, dass Singvögel (speziell Ficidula hypoleuca und Sylvia atricapillata) in der Lage sind, eigenständig Sternbilder im Gedächtnis zu speichern und im kreisenden Sternenhimmel den ruhenden Nordpol ausfindig zu machen. Andererseits können sie dem Sternenhimmel wohl nicht entnehmen, wo es nach S, O oder W geht. Wie kann man (im Planetarium und anderswo) trotzdem die natürliche Himmelsrichtung bestimmen? Mit einem Magnetkompass!
25.5 Fernorientierung und Navigation ●
Magnetfeldorientierung. Dies ist in diesem Buch schon öfters erläutert und diskutiert worden, besonders eingehend in Abschn. 21.2.2.
●
Landmarken und andere optische Wegweiser. Sie werden gewiss von erfahrenen Vögeln benutzt. Charakteristische Bergsilhouetten und spiegelnde Wasserflächen sind auch in sternklaren Nächten wieder zu entdecken. Jungvögel ziehen im Schwarm der Altvögel mit und werden manche Reiseeindrücke im Gedächtnis behalten. Nach und nach sind sie selbst die erfahrenen Altvögel.
Es gibt indes noch manche Rätsel. Wer sagt den Vögeln, wohin die Reise gehen soll? Ist das Ziel Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, oder ist die Kenntnis des Ziels irgendwie angeboren? Vermutlich navigieren verschiedene Zugvogelarten nicht nach einem einheitlichen Orientierungssystem; sondern nutzen ein artspezifisches Spektrum von Möglichkeiten (Muheim et al. 2006). Europäische Störche (Weißstorch Ciconia ciconia) gliedern sich in zwei Subpopulationen, die auf verschiedenen Flugrouten ihre Winterquartiere in Afrika aufsuchen. Die Westeuropäer wählen die Route über Spanien und die Straße von Gibraltar, um ihre Winterquartiere in den Flussregionen von Niger und Kongo anzufliegen. Die Mittel- und Osteuropäer ziehen über die Türkei, Israel und Ägypten in die Sumpfgebiete des oberen Nil im südlichen Sudan oder zu den ostafrikanischen Seen (Abb. 25.7). Junge, osteuropäische Störche sind in Gefangenschaft aufgezogen und dann nach Westeuropa verfrachtet worden. Sie wählten eine südöstliche Route, obwohl keine Eltern als Führer die Richtung vorgaben. Auch dann, wenn Jung und Alt zusammenfliegen, ist es gewiss von Vorteil, wenn alle in etwa wissen, wohin die Reise gehen soll. Allzu leicht hat man einmal den Anschluss verloren. Wie und was ist nun aber instinktiv vorgegeben? Was kann denn überhaupt genetisch fixiert sein? Schließlich beherbergt die DNA Information, wie man definierte Proteine herstellt, aber nicht, wie die Erde aussieht. 25.5.5 Noch einige Hochleistungen: Aale, Lachse Wie finden Aale, die in Flüssen oder Küstennähe sich zum Blankaal (s. Abb. 27.6) voll gefressen
25. 8.
26. 9. 7.10.
19.10.
Abb. 25.7. Zugrouten europäischer Zugvögel. Der Kleinvogel repräsentiert eine Gartengrasmücke ( Sylvia borin), die den Weg über Gibraltar wählt. Die dicken Pfeile mit Datumsangaben geben die Vorzugsrichtungen an, die Gartengrasmücken im Orientierungskäfig zeigten. Dieser stand in einem geschlossenen Raum in Süddeutschland. Die geografischen Positionen der Pfeile wurden gewählt aufgrund der Annahme, bei freiem Flug könnten sich die Vögel in diesen Gebieten befunden haben
haben, über Tausende von Kilometern zu ihren Laichgebieten im Atlantik zurück? Gewiss kommen wie bei Zugvögeln mehrere Sinnesmodalitäten zum Zuge. Sowohl den Lachsen wie den Aalen wird ein unglaublich gutes Riechvermögen nachgesagt. Lachse prägen sich den besonderen Geruch ihres Heimatflusses ins Gedächtnis ein, wenn sie als Jungfisch den Fluss Richtung Meer verlassen. Dieser Geruch verliert sich doch spätestens im Meer. Um
597
598
25 Verhalten: Kommunikation, Orientierung, Navigation
von der Hochsee aus die Mündung der Flüsse wiederzufinden, dürften weitere Richtungsgeber hilfreich sein. Man glaubt, dass ●
Lachse einen Sonnenkompass,
●
Aale einen indirekten Magnetkompass nutzen, indem sie die in den Meeresströmungen durch
Zusammenfassung des Kapitels 25 Zum Thema Kommunikation werden schwerpunktmäßig behandelt (1) Lichtsignale durch Biolumineszenz und Fluoreszenz, (2) Pheromone und (3) Tanzsprache der Bienen. Biolumineszenz beruht entweder auf der Emission von Photonen bei der Oxidation eines allgemein „Luciferin“ genannten Chromophors durch eine Luciferase, oder auf der Lichtemission eines Ca2+-bindenden Photoproteins beim pulsförmigen Anstieg des cytosolischen Ca2+. Das in der Forschung viel verwendete, aus leuchtfähigen Hydromedusen stammende green-fluorescent Protein GFP wandelt sekundär das von einem Photoprotein (Aequorin) emittierte UV/Blau in grünes Fluoreszenzlicht. Licht wird vor allem von marinen Organismen als attraktives oder abschreckendes Signal oder zur Tarnung ausgesandt. Während Cnidarier und Leuchtkäfer selbst Licht erzeugen können, sind es in den Leuchtorganen der Fische und Cephalopoden symbiontische Bakterien, die Licht aussenden. Bei Leuchtkäfern dienen Lichtsignale dazu, den Männchen die Position eines Weibchens anzuzeigen, wozu sonst Pheromone eingesetzt werden. Pheromone sind an Individuen der eigenen Art gerichtete chemische Signale, während Allomone an Artfremde gerichtet sind. Pheromone sind zahlreich bei sozialen Insekten und bei Säugetieren in Gebrauch. Sie lösen als Releaser instinktive Verhaltensreaktionen aus (z. B. Sexualpheromone das Aufsuchen des Geschlechtspartners) oder sie triggern als Primer Entwicklungsprogramme (z. B. Entwicklung zur Arbeiterin im Bienenstaat
das Erdmagnetfeld induzierten elektrischen Ströme messen (s. Kap. 21). ●
Aale scheinen tiefe Rinnen zu bevorzugen. Vielleicht werden deshalb keine auf ihrer Rückreise zum Laichgebiet im Atlantik gefangen.
durch summarisch „Königinsubstanz“ genannte Pheromone, Synchronisation der Sexualzyklen bei weiblichen Säugetieren). Zu den Pheromonen werden auch Familienduft und die Mutter-KindBindung fördernden Duftstoffe gezählt. Beim Schwänzeltanz informiert die Tänzerin ihre Stockgenossinnen über den Winkel, den sie zur Sonnenrichtung einzuhalten haben, um eine Tracht zu finden. Sie transponiert im dunklen Stock diesen Sollwinkel in einen Winkel zur Lotrechten. Darüber hinaus codiert die Tänzerin durch akustische Signale die Entfernung der Tracht. Unter den Mechanismen der Fernorientierung ist die Kompassorientierung (Menotaxis) von besonderer Bedeutung. Vögel, Bienen und viele andere Organismen können einen bestimmten Winkel zur Sonnenrichtung einhalten, Bienen auch zum Polarisationsmuster des Himmelsgewölbes, unter Korrektur des Tagesganges der Sonne mittels ihrer inneren Uhr und einer inneren Himmelskarte. Die Wahrnehmung geophysikalischer Größen wie Orientierung, lokale Inklination und Intensität des Erdmagnetfeldes, die angeborene oder erlernte Kenntnis der Sonnenbahn, eine erlernte Kenntnis des Sternenmusters und von Landmarken ermöglichen Navigation zu fernen Zielen, die selbst nicht wahrnehmbar sind. Zur Navigation sind Fernwanderer wie Zugvögel, Monarchfalter und Wanderfische wie Aale fähig. Inwieweit die Kenntnis der Sollkurse angeboren, inwieweit sie durch Lernen tradiert ist, bleibt im Einzelfall zu prüfen
26 Biorhythmik II: Jahres-, Mond-, Gezeitenrhythmen
Lebensläufe müssen den Umweltgegebenheiten angepasst sein. Dazu gehört auch eine Anpassung der biologischen Zeiten an die Naturzeiten. Augenfällig wird eine solche Anpassung, wenn die Lebensläufe der Individuen wenigstens zeitweise synchronisiert sind, beispielsweise alle geschlechtsreifen Mitglieder einer Art oder einer Population zur selben Zeit Hochzeit machen. Neben der Tagesrhythmik (Kap. 13) sind es drei Langzeitcyclen, die auffallen (es sind aber nicht die einzigen, die es gibt!): ●
Jahrescyclen (circannuale Periodik),
●
Mondcyclen (lunare und semilunare Cyclen),
●
Gezeitencyclen (Tidenperiodik).
26.1 Jahresrhythmen (circannuale Periodik) 26.1.1 Die Fortpflanzungs- und Geburtstermine zahlreicher Lebewesen sind in den Jahresverlauf eingepasst; diese Einpassung ist mit einer Jahresperiodik vieler physiologischer Funktionen gekoppelt In allen geografischen Breiten, die Sommer und Winter oder Trockenzeit und Regenzeit kennen, müssen das Fortpflanzungsgeschäft und darüber hinaus die ganze Lebensweise auf den Wechsel der Jahreszeiten eingestellt sein. Unterschiede in den Jahreszeiten und im wechselnden Verhältnis von Tages- und Nachtlänge sind umso ausgeprägter, je weiter sich Lebewesen vom Äquator Richtung Nordpol oder Südpol vorwagen. Länge von hellem Tag (H) und dunkler Nacht (D): ●
am Äquator ganzjährig 12H:12D,
●
in Mitteleuropa zum Zeitpunkt der beiden Äquinoktien (Tagundnachtgleichen) um den 21. März und 21. September ebenfalls 12H:12D,
●
zur Sommersonnenwende um den 21. Juni hingegen 18H:6D,
●
und zur Wintersonnenwende um den 21. Dezember umgekehrt 6H:18D.
Je mehr man sich den Polen nähert, desto länger und kälter werden in der Winterzeit die Nächte, bis schließlich in den nördlichen Polarregionen Mitte Dezember und der südlichen Antarktis Mitte Juni lebensfeindliches Dauerdunkel und Eiseskälte Leben über dem Meeresspiegel unmöglich machen. In unseren mitteleuropäischen Gefilden tun Vögel gut daran, ihre Jungen zeitig im Frühjahr zur Welt zu bringen, damit diese bei Einbruch des nächsten Winters groß und fett genug sind, um nach Afrika zu fliegen oder sich hierzulande durch den harten Winter zu schlagen. Beobachtet man das Leben in der Natur, wird man bei zahlreichen Tieren, Wirbeltieren und Wirbellosen, Jahrescyclen in der Fortpflanzungsperiodik entdecken. Phasen hoher Aktivität, die den Organismus voll in Anspruch nehmen, wechseln mit Phasen der Konsolidierung des Erreichten und der Regeneration. Oftmals müssen gar in den Lebenslauf Phasen eingeschoben werden, wo alles im Organismus darauf eingestellt sein muss, die tödliche Gefahr einer harschen Jahreszeit zu überdauern. Stichworte: Winterschlaf, Diapausen. Jahresperiodische Ereignisse treten nur selten mit hoher zeitlicher Verlässlichkeit auf. Vor allem gibt es im Vergleich zum Tageslauf viel örtliche Variabilität: In den großen fruchtbaren Talauen der Alpen sieht es anders aus als auf den Almen, in den Hangwäldern oder im kargen Hochgebirge. Da die Verhältnisse von Ort zu Ort stark schwanken, sind Jahresrhythmen oft nicht sehr präzise. Der Ausdruck circannuale Periodik (ungefähr ein Jahr dauernde Periodik) ist wohl angebracht. Andererseits sind jahresperiodische Veränderungen oft gravierend und zwingen zu fundamentalen Änderungen der Lebensweise oder zu periodischem Auswandern.
600
26 Biorhythmik II: Jahres-, Mond-, Gezeitenrhythmen
Die Fortpflanzungscyclen sind daher häufig mit weiteren periodisch wiederkehrenden Ereignissen gekoppelt: Wechsel des Haar- oder Federkleides, Wechsel in den Insignien der Macht (Geweih etc.), Wanderungen, Flugreisen. Bei Amphibien, Vögeln und Säugetieren sind jahresperiodische Aktivitäten und Trachten so augenfällig, dass sich eine Aufzählung erübrigt. Doch auch im Verborgenen können lebenserhaltende Anpassungen an Jahreszeiten vonstatten gehen.
Winterhöhle ihr Junges zur Welt zu bringen. In der Höhle geschützt und mit fetter Muttermilch ernährt, ist das Junge zeitig bereit, schon mit dem Ende des Winters seiner Mutter in die raue Außenwelt zu folgen. Doch auch beim Bären hatte eine embryonale Diapause eine allzu frühe Geburt verhindert.
26.1.2 Bei Säugetieren kann eine embryonale Diapause einen günstigen Geburtstermin ermöglichen
Ebenso wie der Lebenslauf eines Amphibs muss auch der Lebenslauf eines Insekts in den Jahresgang eingepasst werden. Sowohl in Anpassung an winterliche Kälte wie an sommerliche Hitze können Phasen der Dormanz in den Lebenslauf eingeschoben werden. Besonders viele Beispiele liefert die Welt der einheimischen Insekten.
Mitten im strengen nördlichen Winter Junge zur Welt zu bringen, können sich in freier Wildbahn lebende Säugetiere nicht leisten; wie sollte auch ein noch feuchtes Frischgeborenes Eiseskälte überleben? Andererseits sind Paarungszeiten keineswegs so terminiert, dass bei normaler Entwicklungszeit winterliche Geburtstermine ausgeschlossen wären. In all solchen Fällen kann eine embryonale Diapause einen späteren Geburtstermin ermöglichen. Embryonale Diapause besagt, der Embryo legt in der Winterzeit einen Entwicklungsstopp ein. In der Regel kommen bereits in der Blastocyste, die sich noch in ihrer Hülle befindet und im Eileiter eingekapselt wird, Zellteilungen zum Stillstand. Dies geschieht, obwohl sich der Embryo im wärmenden Mutterleib befindet. Es ist die Photoperiode, die Zeit der langen Nächte, die über das Hormonsystem der Mutter in noch nicht bekannter Weise den Entwicklungsstopp auslöst (Lopes et al. 2004). Der Säugetierbiologe unterscheidet fakultative und obligatorische embryonale Diapause. Fakultativ ist sie bei Nagern und Beuteltieren. Hier ist es nicht nur eine bevorstehende ungünstige Jahreszeit, auch das noch säugende oder im Beutel eingenistete Junge des vorigen Wurfs kann eine Diapause im jungen Embryo auslösen und so das Heranwachsen eines Konkurrenten um die Muttermilch hinauszögern. Obligat ist eine Diapause bei Bären, Musteliden (Marder, Skunks, Wallaby), einigen Robben, bei Cerviden (Rehe, Hirschkühe, Elche, Moschustiere), bei Gürteltieren und einigen Fledermäusen. Die Bärin kann es sich zwar erlauben, noch in ihrer
26.1.3 Im Wechsel der Jahreszeit werden nicht nur modische Kleider gewechselt. Viele Insekten werden zu ganz neuen Individuen
Der Ökophysiologe unterscheidet: ●
Die Quieszenz: Eine Entwicklungshemmung, die unmittelbar von der Temperatur bestimmt ist und graduell sein kann.
●
Die Dormanz oder Diapause: Ein Entwicklungsstopp, der genetisch festgelegt ist, durch Umweltfaktoren ausgelöst wird und in Vorbereitung (prospektiv) auf zu erwartende widrige Bedingungen in den Lebenslauf eingeschoben wird.
Schmetterlinge überwintern ●
als Ei oder
●
als Puppe (Diapausepuppe) oder
●
als Imago (Falter).
Der einheimische Schmetterling Araschnia levana, das Landkärtchen (Abb. 26.1), ist in mehrerlei Hinsicht beachtens- und betrachtenswert. Wie bei vielen Pflanzen und Tieren in unseren geographischen Breiten richtet sich seine Vorsorge für den Winter nach der Photoperiode, genauer: nach der Länge der Nacht. Bei den schwarzen, auf Brennesseln lebenden Raupen bewirken die kürzer werdenden Nächte des Frühsommers (Langtag, D < 12 h), dass die Raupen sich in Puppen verwandeln, die sich keine Ruhephase gönnen. Aus der Puppenhülle schlüpft sogleich die schwarz-weiß-gefleckte Sommerform.
26.1 Jahresrhythmen (circannuale Periodik) Abb. 26.1. Landkärtchen Araschnia levana. Lebenscyclus, eingepasst in den Lebenslauf. LT Langtag (Licht > 12 h), KT Kurztag (Licht < 12 h)
Araschnia levana Landkärtchen
Winter Diapausepuppe
Frühjahrsfalter
LT
KT
Sommerfalter KT
LT
Subitanpuppe
Der weibliche Sommerfalter legt Eier; die Eier werden zu Raupen und diese geraten im Herbst in den Kurztag mit D > 12 h. Die lange Nacht löst eine Diapause-Verpuppung aus. Die Diapause-Puppe überwintert; aus ihr schlüpft im Frühjahr die rote Frühjahrsform. Die Kinder der Frühjahrsfalter wiederum werden Nicht-Diapause-Puppen. Der Kreislauf ist geschlossen. Es gibt also in Anpassung an die Jahreszeiten zwei Sorten von Puppen, aus denen zwei Sorten von Faltern schlüpfen. Bei der Steuerung dieser Polyphenie (Vielgestaltigkeit), hier auch Saisondimorphismus genannt, ist das Hormonsystem involviert. Bei afrikanischen Faltern ( Bicyclus anynana), die einen Saisondimorphismus zeigen, wurde durch Ecdysoninjektion in die frühe Puppe die Puppe veranlasst, statt einen Trockenzeitfalter einen Regenzeitfalter zu entwickeln.
26.1.4 Weitere Gründe für eine Langzeitperiodik können sein: Erhöhung der Chancen, beim gemeinschaftlichen Hochzeitstermin einen Partner zu finden, Sicherung der Befruchtung, Erhöhung der Chancen, Fressfeinden zu entkommen Nicht immer sind es auffallende Umweltgegebenheiten, die zu synchronem Handeln Anlass geben.
Einige Beispiele lassen unschwer weitere Gründe erkennen: Hochzeits- und Geburtstage. Tiere aus den Weiten der Ozeane treffen sich regelmäßig an bestimmten Plätzen, wo sie die Chance haben, einen Partner für das Fortpflanzungsgeschäft zu finden. Seevögel treffen sich in einem bestimmten Monat auf bestimmten Vogelinseln. Aale versammeln sich in der Sargassosee um die Bermudainseln oder in der Karibik im Bereich der Antillen zum Laichgeschäft. Die zum Laichen in ihre Heimatflüsse ziehenden Lachse oder die am Strand aus den Eiern schlüpfenden Meeresschildkröten erscheinen plötzlich so zahlreich, dass Fressfeinde zwar vieles aber nicht alles vertilgen können. Die Zahl möglicher Fressfeinde ist begrenzt durch das Nahrungsangebot übers ganze Jahr. Auch die Forschung des europäischen Fischereiwesens weiß von jahresperiodischen Laichzeiten und von Wanderungen zu berichten. Die Schollen der Nordsee wandern alljährlich im Herbst in den östlichen Ärmelkanal zwischen Rhein- und Themsemündung, um dort ihren Laich abzusetzen. Die Jungfische lassen sich mit der Meeresströmung in die Nordsee treiben. Synchrones Ablaichen. Wenn, wie bei der Mehrzahl der Wassertiere, kurzlebige Eier und Spermien ins freie Wasser abgegeben werden, muss auch das
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26 Biorhythmik II: Jahres-, Mond-, Gezeitenrhythmen
Laichgeschäft als solches exakt synchronisiert werden. Berühmte Beispiele: Korallen und der Palolo; s. unten. Überleben durch plötzliches, massenhaftes Auftreten (oder Auffliegen). Zu diesem Thema geben nicht nur Fisch- und Vogelschwärme, sondern auch die Eintagsfliegen eindrucksvolle Beispiele. Eintagsfliegen. Das massenweise synchrone Schlüpfen der Eintagsfliegen ( Ephemeroptera; engl,: may flies) an wenigen Tagen des Jahres ( Ephemera vulgata im Mai bis August; Cloeon dipterum irgendwann vom Juni bis Oktober) und ihr kurzes Leben als beflügelte Wesen sind sprichwörtlich und machen dieses Prinzip besonders augenfällig. Die Larven leben in Süßgewässern. Die Imagines schlüpfen wie auf Kommando während der Nacht binnen weniger Minuten aus der Cuticulahülle des letzten Larvenstadiums. Manche Populationen schwärmen zu einer bestimmten Mondphase, die Rhein-Eintagsfliegen ( Oligoneuria rhenana) bei Basel beispielsweise bei Vollmond. Zu Abertausenden umschwärmen die grauweißen, schmetterlingsähnlichen Imagines in Gewässernähe die Straßenbeleuchtung. Man könnte meinen, es schneit oder der Wind habe Blütenblätter zusammengetrieben. Bald liegen die Eintagsfliegen tot herum. Sie sterben, nachdem sie sich gepaart haben und die Weibchen ihre Eier ins Wasser fallen ließen. Kein Vogel und kein Fisch kann das plötzliche überreiche Nahrungsangebot voll ausschöpfen.
26.2 Mond- und Gezeitenrhythmen 26.2.1 Mond und Gezeitenrhythmen werden vor allem bei marinen Organismen registriert Es sind nicht nur die Fischer mit ihren Booten, die ihren Aktivitätsrhythmus nach dem Tidenkalender ausrichten müssen. Organismen des Wattenmeeres oder der Kanalküste, die in besonders starkem Maße dem Wechsel von Ebbe und Flut ausgesetzt sind, müssen sich lebensnotwendig diesem Wechsel anpassen. Man zieht sich bei ablaufendem Wasser in sein Gehäuse oder seine Höhle zurück oder vergräbt sich im Sand. Doch auch in Gebieten ohne nennenswerten Tidenhub kann es zweckmäßig sein, mondabhängige Ereignisse als Zeitgeber zu nutzen. In den tropischen Meeren gibt es nicht viele potentielle Zeitgeber.
Eine Mondperiodik (lunare Periodik) liegt vor, wenn das Mondlicht als solches bestimmend ist und/oder das registrierte Ereignis stets auf eine bestimmte Mondphase fällt. Es kehren Ereignisse wieder entweder ●
alle 30 Tage (genauer: gemäß dem synodischen Monat 29 Tage, 12 h, 44 min), z. B. stets bei Neumond oder Vollmond: lunare Periodik, oder
●
alle 15 Tage (genauer: 14,77 Tage), z. B. stets bei zu- und bei abnehmendem Halbmond: semilunare Periodik.
Gezeitenperiodik (s. auch Box 26.1). Ereignisse treten halbtägig oder ganztätig im Rhythmus der Gezeiten ein. An den Küsten des Nordatlantiks und der Nordsee kommen Tiden in Abständen von 12 Stunden und 25 Minuten. Die heutige um 12:00 Uhr auflaufende Flut wird folglich am morgigen Tag um fast eine Stunde (2 × 25 min) verschoben um 12:50 Uhr eintreffen. Örtliche Gegebenheiten und Wetterverhältnisse wie Windrichtung modifizieren Rhythmik und Tidenamplitude beträchtlich, sodass man sich nicht bloß auf seine Uhr verlassen darf, sondern im Bedarfsfall einen Tidenkalender zu Rate ziehen muss. Trotzdem: Da die Gezeiten von örtlichen Gegebenheiten nur modifiziert, aber letztendlich von der Gravitation des Mondes (und der Sonne) verursacht werden, sind Gezeitencyclen indirekt (auch) Mondcyclen. Von Mondcyclen im engeren Sinn spricht man jedoch in der Regel nur, wenn Ereignisse gemäß dem synodischen Monat (s. Box 26.1) alle 29,53 Tage mit einer bestimmten Belichtungsphase des Mondes zusammenfallen. Mondlicht steht, wenn es die Bewölkung erlaubt, auch Landtieren zur Verfügung und ist in den Tropen ein durchaus gefragter Zeitgeber, wiewohl die verfügbare Literatur mehr Meeresorganismen mit mutmaßlich Mondlicht-gesteuerter Lebensweise auflistet. Echte lunare oder semilunare Cyclen sind angezeigt in Hochseeregionen und Wassertiefen, in denen Gezeiten kaum bemerkbar sind. Ist hingegen in Küstenregionen mit ausgeprägten Gezeiten beispielsweise der Laichacht mit einer Periode von 12,77 Tagen auf die Zeit einer Spring- oder Nipptide terminiert unabhängig davon, ob Mondlicht zu sehen ist oder nicht, wird man auch ohne experimentellem Nachweis von tidalen Ereignissen sprechen.
603
26.2 Mond- und Gezeitenrhythmen
BOX 26.1 Geophysikalisches zu Mond- und Gezeitenrhythmen, nebst einer Empfehlung für Exkursionen ins Watt
Die Masse der Erde und die Masse des die Erde umhüllenden Wassermantels (Hydrosphäre) unterliegen verformenden Kräften: ●
Fliehkräften, die aus der Rotation des ZweiKörper-Systems Erde-Mond resultieren,
●
der Massenanziehung (Gravitation) von Mond und Sonne auf die Erde.
Für das Zustandekommen der Gezeiten mit Ebbe und Flut ist vor allem die Anziehungskraft des Mondes maßgebend; denn die Sonne hat zwar eine millionenfach größere Masse als der Mond, wegen ihrer großen Entfernung aber nur knapp die halbe Anziehungskraft. Die Rotation der Erde um ihre eigene Achse können wir fürs erste aus dem Spiel lassen; denn sie bewirkt rotationssymmetrische Fliehkräfte. Sie sind zwar am Äquator größer als auf dem Polarkreis, doch rings um die Erde gleich. Bedeutsam für die Entstehung periodisch wechselnder Kräfte und damit von periodischen Gezeiten ist eine zusätzliche Fliehkraft, die sich aus der Rotation des Erde-Mond-Paares um einen gemeinsamen Schwerpunkt S ergibt. Da die Erde die ca. 81 fache Masse des Mondes hat, liegt dieser Schwerpunkt noch innerhalb der Erdkugel nahe ihrer Peripherie (bei 4 600 von 6 000 km Radius, Abb. 26.2). Um diesen S-Punkt rotiert das Erde-Mond-Paar unablässig in Perioden von 27 Tagen, 7 h, 43 min. Siderischer und synodischer Monat. Wir blicken in Abb. 26.2 auf den Neumond. Hat der Mond nach 27 Tagen, 7 h und 43 min seine Kreisbahn mit 360° vollendet, ist ein siderischer Monat verstrichen. Dennoch sehen wir zu diesem Zeitpunkt nicht wieder einen völlig dunklen Neumond, sondern noch eine abnehmende Mondsichel. Warum? Die Erde ist inzwischen auf ihrer Bahn um die Sonne weiter gewandert und ihr folgt der Mond. Erst 2 Tage + 6 Stunden später hat er wieder eine Position erreicht, an der von seiner beleuchteten Seite nichts mehr zu sehen ist. (Wenn in diesem
Moment seine gegenüber der Erdbahnebene um 5° gekippte Umlaufbahn exakt über die Sonne streicht, sehen wir eine Sonnenfinsternis). Die Zeitspanne von Neumond zu Neumond mit insgesamt 29 Tagen, 12 h, 44 min heißt synodischer Monat. Er ist für all jene Lebewesen wichtig, die ihr Verhalten nach der Belichtungsphase des Mondes richten, beispielsweise dunkle Neumondnächte als Hochzeitstermin wählen (z. B. der Polychaet Platynereis dumerilii). Gezeiten mit Flut und Ebbe. Durch die ständige Rotation des Erde-Mond-Paares um den Schwerpunkt S entstehen in der Erde und im Mond weitere Fliehkräfte, deren Vektor vom Punkt S zentrifugal nach außen weist, und die deshalb der Anziehungskraft des Mondes entgegen wirken. Zwar halten sich im Mittelpunkt des Mondes und auch im Mittelpunkt der Erde Fliehkraft und Anziehungskraft die Waage (wäre dies nicht so, stürzte der Mond auf die Erde oder flöge davon); dieses Gleichgewicht gilt aber nur für die Summe dieser Kräfte. ●
Da die von einer Masse ausgehende Gravitation mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, wirkt die Anziehungskraft des Mondes auf mondnahe Massenpunkte der Erde stärker als auf mondferne; dies gilt auch für Wassermassen. Der Mond erzeugt in dem ihm zugewandten Ozean einen Flutberg.
●
Die zusätzlichen Fliehkräfte sind, weil der Punkt S nicht im Erdmittelpunkt liegt, asymmetrisch: Am Äquator ist der vom Mond wegweisende Vektorarm ungleich länger als der zum Mond hinweisende, und jenseits der Wendekreise weisen alle Fliehkräfte ohnedies vom Mond weg (Abb. 26.3). Da nun dieser Punkt S nicht stationär an einen bestimmten Massenpunkt der Erde gebunden ist, sondern bloß ein virtueller mathematischer Drehpunkt ist, umkreist er synchron mit dem Mond den Erdmittelpunkt. Deswegen überwiegen die Fliehkräfte stets auf der dem Mond abgewandten Seite. Dem gravitationsbedingten Flutberg auf der einen Seite der Erdkugel steht ein fliehkraftbedingter Flutberg auf der anderen Seite gegenüber.
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26 Biorhythmik II: Jahres-, Mond-, Gezeitenrhythmen
BOX 26.1 (Fortsetzung) Abb. 26.2. Der die Erde umkreisende Mond als Quelle von Gravitations- und Fliehkräfte, die auf die Wassermassen des Meeres einwirken. Beachte, dass der gemeinsame Schwerpunkt des Erde-Mondpaares zwar innerhalb der Erdkugel liegt, aber mit dem Mond um den Erdmittelpunkt kreist. Weitere Erläuterung in Box 26.1
Gemeinsamer Schwerpunkt des Paares Erde-Mond umkreist mit Mond Erdmittelpunkt eit 1 Ja Pol hr
Umlaufz
ge
7,3 Ta
fzeit 2
Umlau
Anziehungskraft
Fliehkraft
Neumond
a Pol
Anziehungskraft
Fliehkraft
Vollmond
b Pol Nächster Vollmond
Letzter Neumond
Nächster Neumond Umlaufzeit für 360° + 2 Tage, 6 h (= synodischer Monat)
c Soweit theoretisch auf dem Momentbild des Papiers. Wenn wir nun aber in unserer Vorstellung eine Animation wagen, wird es kompliziert. Die Erde rotiert in 24 h um ihre Achse, der Mond braucht einen Monat, um sie in gleicher Richtung zu umrunden. Die rotierende Erde schleppt den auf ihrer Mondseite entstandenen Flutberg mit und zieht ihn (verzögert) aus dem Anziehungsbereich des Mondes heraus; der Flutberg auf der Gegenseite wird entsprechend aus dem Fliehkraftbereich geschleppt. Beide Flutberge brechen zusammen und werden zu Wellentälern, die ihrerseits mit der Erdrotation weiter wandern. Gleichzeitig geraten neue Wassermassen aus den vorigen Wellentälern in den An-
Umlaufzeit für 360° 27 Tage, 7 h, 43 min (siderischer Monat) Neumond-Neumond Intervall 29 Tage, 12 h, 44 min (synodischer Monat)
ziehungsbereich des Mondes bzw. den Fliehkraftbereich und werden zu Wellenbergen. Da nun der Mond langsam um die Erde kreist und deshalb von uns gesehen täglich 50 min (genauer fast 51 min) später auf- und untergeht (Abb. 26.3), erreicht jeder rotierende Wellenberg einen bestimmten Punkt der Erde jeden Tag 50 min später als am Vortag. Es sind jedoch zwei Wellenberge unterwegs. Folglich überstreicht zweimal am Tag ein Flutberg (Hochwasser) eine bestimmte Stelle der Erde, jeweils gefolgt von einem Ebbetal (Niedrigwasser). Das Intervall zwischen Flutberg und Flutberg, und entsprechend zwischen Ebbe und Ebbe, entspricht mit 12 h, 25 min einem halben „Mondtag“ von 24 h, 50 min.
7
605
26.2 Mond- und Gezeitenrhythmen
BOX 26.1 (Fortsetzung) Anziehungskraft des Mondes
Fliehkraft durch Umkreisen der Erdmasse um den Erde-Mond-Schwerpunkt
Schwerpunkt kreist mit Mond um Erdmittelpunkt Fliehkraft deshalb stets mondabgewandt Anziehung mondzugewandt
Pol
‘Wellental’
‘Wellenberg’
a
Aus Anziehungskraft und Fliehkraft resultierende Gezeitenkraft und induzierte Meeresströmungen Blick von oben Sieht Monduntergang morgen erst, wenn sich die Erde gegenüber heute 51 min weiter gedreht hat Sichtlinie morgen Mond, morgen Sichtl inie h eute
51 min
Pol 24 h
Mond, heute 13° 24 h te ie heu Sichtlin
Sichtlinie gester n
b
Mond, gestern
Sieht Mondaufgang heute 51 min später als gestern
Flutberge umkreisen mit dem Mond die Erde und erreichen gleiche Stelle der Erde dem späteren Mondaufgang entsprechend täglich 51 min später
Abb. 26.3a, b. Gravitations- und Fliehkräfte, die aus der Umdrehung von Erde und Mond um einen gemeinsamen Schwerpunkt resultieren und die beweglichen Wassermassen der Meere in Bewegung versetzen. Einer der alle 12 h + 50 min eintretenden Flutberge wird von der Gravitation des Mondes,
Mondposition jeweils zur selben Uhrzeit
der andere von der Fliehkraft erzeugt. Die Mondumlaufbahn ist um der Übersichtlichkeit willen nur zur Hälfte angezeigt (a). Der Blick von oben auf den Nordpol soll deutlich machen, weshalb sich der Eintritt einer Flut (und in ihrem Gefolge der nächsten Ebbe) täglich um 50 min verschiebt (b)
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26 Biorhythmik II: Jahres-, Mond-, Gezeitenrhythmen
BOX 26.1 (Fortsetzung)
Anziehungskraft der Sonne Je nach der Position der drei Gestirne kann die Anziehungskraft der Sonne mal diesen, mal jenen Flutberg erhöhen oder vermindern. In Neumondposition wird der mond-/sonnennahe Flutberg zum Springflutberg erhöht, der mondferne hingegen geringfügig vermindert. In Vollmondposition wird der sonnennahe Flutberg zur Springflut verstärkt. Steht hingegen die Achse Sonne-Mond senkrecht zur Achse Erde-Mond wird überall eine Nipptide mit geringem Tidenhub registriert. Zweimal pro synodischem Monat tritt im Abstand von 12,77 Tagen eine Springtide, zweimal eine Nipptide auf. Weitere geophysikalische Variablen wie die Neigung der Bahnebenen von Erde und Mond, die Schiefstellung der Erdachse und Corioluskräfte lassen wir aus dem Spiel. Ein Geophysiker wird ohnedies mit der bisher gegeben Erklärung unzufrieden sein. Er weist darauf hin, dass es nicht sosehr die vertikalen Komponenten der Kräfte sind, welche Wassermassen auftürmen; denn die Anziehungskraft des Mondes beträgt nur etwa Neunmillionstel der Erdanziehungskraft, welche die Wassermassen auf der Erde festhält. Vielmehr entwickeln sich aus der Interaktion von Anziehungs- und Fliehkräften tangentiale Kräfte (angedeutet in Abb. 26.3). Sie bewegen Wassermassen in der Horizontalen, drängen sie zu Bergen zusammen oder ziehen sie zu Mulden auseinander, und wandernde Wellenberge und Wellentäler werden auch zu Strömen (anders als bei reinen Wellen, wo Wassermoleküle nur in der Vertikalen auf- und abtanzen, sich aber nicht in der Horizontalen bewegen, auch wenn die Welle als solche wandert). Ein auf einen flachen Küstenbereich zulaufender Flutstrom wird schließlich dank der
im Flachen stärker werdenden horizontalen Komponente zum „auflaufenden Wasser“. Das auflaufende Wasser kehrt nach einer kurzen Ruhephase von ca. 1 Stunde um und wird zum „ablaufenden Wasser“, bis nach einer kurzen Ruhe bei Ebbe die Wasser wieder zurückpendeln. Die Flutfront erreicht alle 12 h und 25 min den oberen, küstennahen Wendepunkt. Man darf sich jedoch nicht auf seine Uhr verlassen, sondern sollte eine Gezeitentabelle zu Rate ziehen. Denn es kommen noch orts- und zeitspezifische Gegebenheiten von hohem Gewicht hinzu. Ein Flutstrom wird in seinem Verlauf von Meeresströmungen beeinflusst, die durch andere Kräfte wie Winde und Unterschiede in der Temperatur und Salinität getrieben werden. Flutströme werden von Landmassen aufgehalten und abgelenkt. In der Nordsee fangen die alle 12,77 Stunden über Schottland hereinströmenden Wasserberge an zu kreisen (Kreiseltide), sodass jeder Flutberg wie ein Uhrzeiger die Küste entlang streift – allerdings entgegen dem Uhrzeigersinn. Hochwasser erreicht Amrum früher als Sylt, das am südlichen Ende von Sylt gelegene Hörnum früher als das am Nordende gelegene List. Die über den Ärmelkanal hereinströmenden Wassermassen erzeugen durch Staueffekte die hohen Tidenhübe der Bretagne und Normandie, wirken sich aber an der Nordseeküste nur noch gering aus. Hingegen sind Winde zu beachten. Starke Ostwinde halten entlang der Westküste Schleswig-Holsteins (z. B. im Watt bei List/Sylt) Fluten ab, verstärken die Ebbe, Westwinde hingegen verstärken die Flut, verhindern das Ablaufen des Wassers. Für Wattexkursionen sind Tage mit Ostwind besonders günstig, bei starkem Westwind hingegen sind Wattwanderungen nicht selten unmöglich.
26.2 Mond- und Gezeitenrhythmen
Oftmals überlagern sich Tages- (circadiane, diurnale), Gezeiten- (tidale), Mond- (lunare) und Jahres(annuale)-Rhythmen. Eine kleine Auswahl: Korallen. In vielen Riffen werden die Gameten (oder die Planulalarven, die sich aus befruchteten Eiern in Körperhöhlen entwickelt haben), zu einer bestimmten Mondphase durch den Mund ins freie Wasser ausgestoßen. Im Great Barrier Reef vor der Ostküste Australiens laichen über 100 verschiedene Korallenarten in einem Massenlaichen einmal im Jahr im Oktober/November, jeweils in 3–6 Nächten nach Vollmond. Das Ausspucken des Laichs geschieht bei allen Arten und Individuen zeitgleich 2–4 Stunden nach Sonnenuntergang. Es treiben dann riesige Wolken von Laich an die Wasseroberfläche und werden von Strömungen fortgetragen. (In anderen Regionen der Welt, namentlich in der Karibik, gibt es Indizien, dass auch die Dauer und Intensität der Sonneneinstrahlung Auslöser des Ablaichens sein kann.) Erstaunlich ist, dass bei Korallen auch von Säugern bekannte Hormone wie Testosteron und Östradiol vorkommen und in ihrer Menge mit dem Fortpflanzungscyclus schwanken (Twan et al. 2006). ● Der Palolo ( Palola viridis, auch Eunice viridis). Dieser Riesenwurm des Pazifiks (z. B. Samoa) zählt zu den mit vielen Ruderfüßen ausgestatteten Borstenwürmern (Polychaeten). Er lebt in Gängen von Korallenriffen, die er nur vorübergehend, vor allem in der Nacht, zum Abweiden der Umgebung verlässt. Seine Geschlechtsprodukte reifen im Hinterleib heran. Wenn sie dann reif sind, koppelt der Wurm schlichtweg seinen Hinterleib („Palolo“) ab. Der macht sich selbstständig, kriecht aus der Wohnröhre und schwimmt, geführt von seinen vielen Bauchaugen, zur Wasseroberfläche. Dort treffen sich Abertausende von Palolos, um kreisend umher zu schwirren und ihre Eier oder Spermien ins Wasser zu entlassen. Dies geschieht nur einmal im Jahr. Vereinbarter Laichtermin ist eine Nachtstunde im späten Oktober oder frühen November, wenn der Mond im letzten Viertel steht. Solche synchronen Laichakte ermöglichen hohe Befruchtungsraten, erhöhen aber auch die Überlebenschancen der Embryonen. Wer könnte auf einmal Abermillionen von Keimen verschlucken? ● Platynereis dumerilii. Ein ca. 4 cm langer Polychaet, Population aus Neapel, im Labor untersucht: Circalunares Schwärmen der geschlechtsreifen Individuen bei Neumond. ● Clunio. Es gibt eine Mückengattung namens Clunio, verwandt mit den Zuckmücken. Die Larven leben in Gewässern, bei manchen Arten sogar im Meer, speziell an Felsküsten. Beispielsweise leben Mückenlarven der Art Clunio marinus auch in Rotalgenpolstern des „Felswatts“ vor Helgoland. Die Imagines schlüpfen aus den Puppenhüllen, wenn die Felsbänke trocken fallen und das Meer den Luftraum freigibt. Das ist bei Helgoland zur Springzeit der Fall, also etwa alle 15 Tage zweimal am Tage für wenige Stunden. Die Imagines nutzen zum ●
Schlüpfen einen von zwei Terminen: die eine Kohorte schlüpft während der Springebbe kurz nach Vollmond, die andere kurz nach Neumond. Die geschlüpften Imagines leben wie die Eintagsfliegen nur wenige Stunden, die geflügelten Männchen, um die Weibchen zu begatten, die ungeflügelten Weibchen, um nach der Begattung ihre Eischnüre abzulegen. Eine amerikanische Art der Gattung Clunio schwärmt nur in Vollmondnächten. ● Winkerkrabben. Bei allen Arten lunare oder semilunare Aktivitäten; beispielsweise winken werbende Männchen der Art Uca musica terpsichores Panamas besonders intensiv zu Zeiten des Vollmondes. ● Gewöhnliche Strandschnecke (Littorina neritoides) und Auster ( Ostrea edulis) an der Kanalküste: Semilunarer Laichrhythmus. Maxima bei oder kurz nach Vollmond und Neumond. ● Der Gezeiten-Ährenfisch Grunion ( Leuresthes tenuis; amer.: Silverslide) bietet spektakuläre Szenen, die nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Touristen anlocken. Das silbrig gestreifte, 10–15 cm lange Fischchen lebt unauffällig vor der sandigen Küste Südkaliforniens in Wassertiefen von 45 bis 120 Metern. Im Sommerhalbjahr machen sich an zwei Terminen jeden Monats die geschlechtsreifen Individuen auf die Hochzeitsreise, erscheinen zu Tausenden in dichten Schwärmen am Küstensaum und lassen sich nächtens bei Flut von den auflaufenden Wellen der Brandung auf den Strand werfen. Tausende der Fischchen liegen kurzzeitig am Strand und verwandeln ihn in eine silbrige Fläche. Die Grunions haben den seltenen Brauch entwickelt, ihren Laich nicht im Wasser, sondern im Sand des Strandes abzusetzen. Die Weibchen graben sich, gefolgt von einigen Männchen, Schwanz voraus bis an die Brustflossen in den feuchten Sand, und legen ihre Eier ab, umringt von den besamenden Männchen. Dann schlängeln sich die Fische wieder aus dem Sand heraus und lassen sich von ablaufenden Wellen ins Wasser zurücktragen. Das Bemerkenswerteste an diesem Ereignis ist der exakte Zeitplan. Die Grunions kommen zweimal im Mondmonat während drei bis vier Nächte jeweils nach Vollmond und Neumond am Strand an. Die zwei täglichen Fluten sind in Kalifornien verschieden hoch. Im Frühling und Sommer fällt die höhere Flut in die Nacht. Die Fischchen „wissen“ das und sie kennen auch die genaue Uhrzeit, wann sie sich am besten an Land schwemmen lassen können. Aber auch die Jungfische schlüpfen etwa 14 Tage später zur rechten Zeit, um sich nach dem Kulminationspunkt einer Flut von ablaufenden Wellen freischaufeln und ins Meer tragen zu lassen.
26.2.2 Gibt es beim Menschen eine Mondperiodik? Da beim Menschen der Ovarialcyclus ca. 29 Tage dauert, sieht mancher Mondgläubige im Cyclus der Frau einen Mondcyclus. Freilich, jede Frau hat ihren
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26 Biorhythmik II: Jahres-, Mond-, Gezeitenrhythmen
Individualcyclus und bei keiner treten Eisprung und Menstruation das ganze Jahr über zur gleichen Mondphase ein. Die Cyclen der Frau sind freilaufend, also nicht an die Mondphasen gekoppelt. Besonders in Kreisen, die Biologischen Landbau pflegen oder der Esoterik nahe stehen, wird der Glaube an einen Einfluss des Mondes und der Gestirne auf alle Lebewesen, den Menschen inbegriffen, gepflegt. Doch auch nicht wenige Menschen, die dies für Aberglauben halten, meinen aus Selbstbeobachtung sagen zu können, bei Vollmond sei ihr Schlaf gestört. Solche Selbstbeobachtungen leiden an einem methodischen Mangel. Man wird gewahr, dass Vollmond ist, wenn der Himmel klar ist, und er ist klar, wenn Hochdruck herrscht. Bei Tiefdruck und stark bewölkten Himmel nimmt man den Vollmond gar nicht erst wahr, zumal Tiefdruck das Schlafbedürfnis fördert. Solche Tage bzw. Nächte kommen nicht in Erinnerung. Bisher gibt es kein unumstrittenes Indiz für eine mondabhängige Rhythmik oder ein besonderes mondabhängiges Verhalten beim Menschen. Gewiss kann ein heller Mond den Schlaf stören oder den Autofahrer ablenken (Polychronopoulos et al. 2006), doch der alte Volksglaube, Geburtenraten seien von der Mondphase abhängig und Somnabulismus werde vom Vollmond ausgelöst, gilt als wissenschaftlich widerlegt (Morton-Pradhan et al. 2005, Wikipedia).
26.3 Zu den inneren, physiologischen Ursachen der Langzeitcyclen 26.3.1 Die Ovarialcyclen als solche sind vermutlich nicht primäre Ursache der Langzeitcyclen; wohl aber sind die Ovarialcyclen an endogene Uhren gekoppelt Dies gilt jedenfalls für Säugetiere und Vögel. Die Periodendauer für den Ovarialcyclus der Säuger schwankt zwischen 4 Tagen (kleine Nager) und 60 Tagen (Menschenaffen). Auch bei Vögeln kann der Cyclus weit kürzer sein als die normale Fortpflanzungsperiodik erkennen lässt. Geht eine frühe Brut daneben, kann bisweilen kurz darauf eine zweite nachgeschoben werden. Im Sommer freilich schrumpfen bei einheimischen Vögeln die Gonaden und erreichen im Herbst ein Minimalgewicht. Diesem Cyclus liegt nach experimentellen Indizien eine endogene Komponente zugrunde. Beispielsweise durchläuft der Gonadencyclus beim Schwarzkehlchen ( Saxicola torquate) eine
Jahresperiodik, die im Labor bei gleichbleibendem Belichtungscyclus fortdauert. Die afrikanische Unterart, ein Standvogel, hat eine kürzere freilaufende Periodenlänge als die europäische Unterart, die ein Zugvogel ist. (Zur Bedeutung des Ausdrucks „freilaufend“ s. Abschn. 26.3.2 oder Kap. 13.) Aus der Kreuzung der afrikanischen und europäischen Unterart hervorgegangene Hybride der F1 zeigen eine intermediäre Periodenlänge (Gwinner 1996). Auch bei Säugern, speziell beim Lieblingstier der Biorhythmikforscher, dem Dsungarischen Zwerghamster, beobachtet man neben einem Wechsel der Fellfarbe von Dunkelgrau nach Weiß und anderen Veränderungen eine Reduktion der Gonaden im Herbst (Heldmaier et al.1986, 2002).
26.3.2 Wie bei der circadianen 24-Stunden-Uhr müssen auch Langzeitlaufwerke durch äußere Zeitgeber nachgestellt werden. Wichtigster Zeitgeber ist die Photoperiode Der Ausdruck „freilaufende“ Rhythmen besagt, dass Rhythmen bei fehlenden äußeren Taktgebern wegen der unzureichenden Präzision des inneren Uhrwerks zunehmend mehr von der geophysikalischen Periodik abweichen. Dabei kann jedes Individuum einen privaten Spontanrhythmus zum Vorschein bringen. Soweit experimentelle Daten vorliegen, bestätigen sie die naheliegende Vermutung, dass bei Tieren unserer geographischer Breiten der wichtigste Zeitgeber für annuale Reproduktionscyclen die verlässliche Photoperiode (Dauer der täglichen Licht- und Dunkel-Phasen) ist, während der wenig verlässliche Verlauf der Temperatur lediglich beschleunigend oder verzögernd Einfluss nimmt. Ein schon genanntes Beispiel ist das Landkärtchen (Abb. 26.1). Ein Problem ergibt sich freilich aus dem Umstand, dass die Photoperioden im Herbst und im Frühjahr um die Zeit der Äquinoktien gleich sind. Hier muss der Organismus auf die Veränderung von Tag zu Tag achten: Nimmt die Länge der Nacht zu, ist es Herbst, nimmt sie ab, ist es Frühjahr. Dabei kann im Herbst der vergangene Langtag auch insoweit als Referenz wirken, als er auf Verlängerung der Dunkelphase sensibilisiert. Im Frühjahr gilt das Reziproke.
Zusammenfassung des Kapitels 26
26.3.3 Sitz und Physiologie der Langzeituhren sind noch in keinem Fall genau bekannt Langzeitrhythmen zu untersuchen ist unerquicklich. Es dauert so schrecklich lang, bis Ergebnisse vorliegen. Bei Vögeln und Säugern sind darüber hinaus tierfreundliche Experimente nicht leicht zu konzipieren. Dass bei Langzeitrhythmen das Hormonsystem involviert ist, überrascht nicht. Wo aber sitzt das entscheidende Uhrwerk? Bei vielen Wirbeltieren bis hin zum Menschen einschließlich sendet das Pinealorgan (= Epiphyse) in den Winternächten mehr Melatonin-Hormon aus als in den Sommernächten. Ist dieses Organ aber auch Sitz der Langzeituhr? Nach Untersuchungen an Schafen durch mehrere Arbeitsgruppen ist ein weiteres Hormon ins Gespräch gekommen, das ebenfalls in jahresperiodisch an- und abschwellenden Schüben freigesetzt wird: das Prolactin, das von der Adenohypophyse in die Blutbahn freigesetzt wird (Gomez-Brunet et al. 2008). Daraus hat eine Arbeitsgruppe ein allerdings sehr hypothetisches Modell der jahreszeitlichen Zusammenfassung des Kapitels 26 Es werden circannuale Jahrescyclen, Mondlichtabhängige lunare Cyclen (Periode im synodischen Monat 29 Tage), semilunare (Periode 14,77 Tage) und tidale (Gezeiten-)Rhythmen mit Perioden von 12 Std + 25 min (oder einem Mehrfachem davon) besprochen. Organismen, die außerhalb der Äquatorzone leben, müssen ihren Lebenslauf an wechselnde Jahreszeiten und wechselnde Tag-Nachtlängen anpassen. Häufig sind Teile des Fortpflanzungsgeschäftes auf eine bestimmte Jahreszeit konzentriert. Bei vielen Säugern kann ein winterlicher Geburtstermin durch Einschalten einer embryonalen Ruhephase (Diapause) vermieden werden. Diapause-(Dormanz-)Phasen in verschiedenen Entwicklungsstadien (Ei, Puppe, Imago) helfen auch Insekten, unwirtliche Jahreszeiten zu überstehen. In den geographischen Breiten Europas ist Auslö-
Steuerung (beim Schaf) entwickelt. Das Melatonin der Epiphyse werde von Uhrzellen des Hyopothalamus aufgefangen. In deren Nachbarschaft befindliche, Prolactin produzierende Zellen sollen von diesen Uhrzellen angeregt werden, ihrem tagesperiodischen Rhythmus der Prolactin-Ausschüttung eine Jahresperiodik überzuordnen, sodass in der passenden Jahreszeit das Fortpflanzungsgeschäft in Gang kommt (Lincoln et al. 2006). Allerdings hat in weiteren Untersuchungen die Melatonin-Konzentration des Blutes nicht die erwartete saisonale Rhythmik gezeigt (Gomez-Brunet et al. 2008). Noch ist also offen, wo der Sitz der circannualen Kalenderuhr ist, wenn auch manches auf den Hyopthalamus weist, in dem ja auch der SCN mit seiner 24-Stunden-Zentraluhr lokalisiert ist (Kap. 13). Über ihre molekulare Funktionsweise liegen noch keine Hypothesen vor, doch legen die Studien fürs erste eine Wechselwirkung der Kalenderuhr mit der 24-Stunden-Uhr im SCN und der Epiphyse nahe. Für eine Kopplung von externer Photoperiode und interner 24-Stunden-Uhr spricht, dass ein kurzer Lichtpuls während einer langen Nacht ausreicht, dem Organismus einen Langtag vorzutäuschen. ser einer Diapause in der Regel eine Photoperiode mit Nächten > 12 h. Bei Insekten gibt es bisweilen auch einen Saisonpolymorphismus mit jahreszeitlich verschiedenen Gestalten (z. B. Frühjahrsund Sommerfalter). Massenlaichtermine (z. B. Korallen, Fische) oder Massenschlüpftermine (z. B. Eintagsfliegen) sichern, dass Räuber etwas übrig lassen müssen, weil Regulativ ihrer Populationsstärke nicht ein bloß kurzfristig hohes Nahrungsangebot sein kann. Mondlicht-gesteuerte lunare und semilunare Rhythmen, sowie an den Wechsel der Gezeiten angepasste tidale Rhythmen, sind von vielen Meeresorganismen bekannt. Die physiologische Konstruktion endogener Uhren für Langzeit-Biorhythmen ist weitgehend unbekannt. Eine Kalenderuhr für Jahrescyclen wird in der Adenohypophyse vermutet. Zusätzliche geophysikalische Erläuterungen zu Mond- und Gezeitencyclen gibt Box 26.1.
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27 Ökophysiologie: Anpassungen an extreme und wechselnde Lebensräume
dichten Schwarm (und lassen ihre Flugmotoren im Leerlauf surren).
27.1 Leben und Überleben in der Kälte Es sind nicht nur Minusgrade, die lebensgefährlich sein können. Fällt die Aquarienheizung aus und kühlt das Wasser von 23°C auf 10°C ab, kippt unser Guppy wie andere Warmwasserfische tot um. Ab 0°C wird es aber für alle Lebewesen gefährlich. Eine Strategie, die Unbill des Winters zu überleben, ist die schlichte Vermeidungsstrategie. Zugvögel und Zugschmetterlinge weichen in den Süden aus. Kröten und viele Insekten vergraben sich tief in lockerer Erde. Frösche, Molche und Schildkröten überwintern im tiefen Wasser bei Temperaturen und Stoffwechselraten, die sich nur wenig über dem Nullniveau bewegen.
●
Wichtig ist eine gute Isolierschicht aus Fettschicht, Feder- und Haarkleid. Gleichwarm (homoiotherm, isotherm) sind Vögel und Säuger. Bei ihnen werden Größe und gedrungene Gestalt wirksam von einer guten Isolierschicht unterstützt. Wale und Robben haben eine derart vorzügliche Fettisolierschicht, dass ihre Haut die Temperatur des eisigen Meerwassers annehmen kann. Entsprechend dem geringen Temperaturgefälle zwischen Haut und Umgebung ist auch der Wärmeverlust gering.
●
Es muss Heizmaterial zur Verfügung stehen. Fettschichten sind auch Speicher für Heizmaterial, freilich mit dem Nachteil, dass mit dem Verbrauch des Vorrats auch die Isolierung geschwächt wird. Den nackten Meeressäugern der arktischen Ozeane tut dies insoweit keinen Abbruch, als ganzjährig reichlich Nahrung zum Nachfüllen der Fettdepots zur Verfügung steht.
●
Eine vorzügliche Regelungstechnik ist immer notwendig. Die Heizleistung muss dem Bedarf angepasst werden. Dies ist besonders wichtig bei terrestrischen Tieren, die stark schwankenden Temperaturen ausgesetzt sind.
27.1.1 Wer sich den Luxus leisten kann, heizt; eine gute Isolierung hilft Heizkosten sparen Wer kann sich eine Heizung leisten? ●
Von Vorteil sind Größe und gedrungene Gestalt; denn der Wärmeverlust ist eine Funktion der Oberfläche (und natürlich des Temperaturgefälles). Große, gedrungene Körper haben eine relativ kleinere Oberfläche als kleine und vielgliedrige Körper (s. Abb. 2.9). Der trotz eisiger Schneestürme weit ins Binnenland der Antarktis vordringende Kaiserpinguin ist mit 1 m der größte Pinguin; der Galapagos-Pinguin im kühlen Humboldtstrom misst 50 cm; der Zwergpinguin an den Küsten Australiens 30 cm. Zusammenkuscheln hat die gleiche Wirkung wie Größe. Im Bau der Murmeltiere dürfen Kinder und Mutter im Zentrum liegen, Großeltern und unverheiratete Onkel und Tanten liegen in der gefährdeten Peripherie. Bienen bilden einen
Heizöfen sind in erster Linie die stoffwechselintensiven Organe, Leber, Niere, Herz. Die Wärmeproduktion der Leber kann ohne viel Aufwand variiert werden. Im Bedarfsfall verheizt die Leber Fettsäuren. Noch besser heizt das braune Fettgewebe der Winterschläfer, in dem durch Abkoppeln der ATP-Synthesemaschinen die ganze Energie des oxidativen Fettsäureabbaus in Wärme überführt werden kann (s. Abb. 10.10 u.10.11). Reicht die Wärmeproduktion der Leber und des Fettgewebes nicht aus, muss Muskelzittern nachhelfen. Mechanische Energie wird verpulvert, ohne Arbeit zu verrichten.
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27 Ökophysiologie: Anpassungen an extreme und wechselnde Lebensräume
27.1.2 Eine Gegenstrom-Wärmeaustausch-Technik spart Wärme, verhindert aber auch das Erfrieren des Vogelbeins Enten strecken ihre Beine beim Schwimmen ins eiskalte Wasser oder stehen gar, unbesorgt schlafend, mit bloßen Füßen auf blankem Eis (s. Abb. 10.9). Wie verhindern sie zu großen Wärmeverlust und das Einfrieren der Beine? Ähnliche Probleme, wenn auch in abgemildeter Form, haben Meerestiere, die von warmen in eiskalte Gewässer ziehen wie viele Delphine: Großer Tümmler, Weißseitendelphin, Weiß-, Schweins- und Narwal sowie Killerwal (= Schwertwal, Orca). Vögel wie Delphine haben eine interessante Gegenstrom-Wärmeaustausch-Technik erfunden, die zu hohen Wärmeverlust auf kaltem Untergrund oder in kalten Gewässern zu vermeiden hilft. Man lässt das am meisten gefährdete Körperteil – das Bein des Vogels, die Flosse des Delphins – getrost auf nahe 0°C abkühlen. Das hat den Vorteil, dass das Wärmegefälle zur Umgebung klein und entsprechend der Wärmeverlust gering ist. Damit nun aber in die kühle Extremität nicht mehr als nötig mit dem Blut Wärme nachströmt, wird die Wärme dem Blut entzogen, bevor es den Fuß oder die Flossenspitze erreicht. Beim Delphin beispielsweise ist die Arterie, die in die schlecht isolierten Flossen zieht, rings umgeben von Venen, die von der kalten Flosse
in den Körper zurückführen. Wärme tritt von der Arterie in die Venen über und wird so in den Körper zurücktransportiert (Abb. 27.1). Da das arterielle Blut seine Wärme großenteils dem venösen Blut übergeben hat, noch bevor es in die Flossen gelangt, bleiben die Flossen zwar recht kalt (ohne freilich zu gefrieren), verlieren aber auch kaum Körperwärme ans Meerwasser.
27.1.3 Kleine Tiere sparen Energie im Schlaf: Winterschlaf und Torpor Kleine Säuger verlören im Winter viel zu viel Energie in Form von Wärme, würden sie eine Körpertemperatur von 37°C der kalten Umgebung aussetzen. Und dann kommt noch der Nahrungsmangel der Winterzeit hinzu. Der Hase ist der kleinste Säuger Mitteleuropas, der ungeschützt in der freien Landschaft den Winter übersteht. Spitzmäuse, Mäuse und manch andere Kleinsäuger verkriechen sich in den Untergrund und in geschützte Nester, um zusammengerollt besseren Zeiten entgegen zu dösen. Winterschlaf. Viele Kleinsäuger verfallen in einen energiesparenden Winterschlaf: Fledermaus unter den Chiropteren und Igel unter den Insektenfressern; Hamster, Siebenschläfer, Haselmaus, Ziesel, Murmeltier unter den Nagern. Mit dem Ziegenmelker stellen auch die Vögel ein Mitglied des Winter-
Sinus Wärmetauscher Nasenschleimhaut Kühler
Abgekühltes arterielles Blut Gehirn
Kühles venöses Blut
Heißes arterielles Blut
Abb. 27.1. Gegenstrom-Wärmeaustausch. Delphin: zur Reduzierung des Wärmeverlusts; Gazelle: zum Kühlen des Gehirns
27.1 Leben und Überleben in der Kälte
schläfervereins. Schließlich umfasst Liste auch eine amerikanische Klapperschlange. Der echte Winterschlaf (Hibernation) ist ein gut vorbereitetes Langzeit-Energiespar-Unterfangen, das jahresperiodisch in den Herbstmonaten in die Wege geleitet wird. Winterschlaf ist von der Winterruhe des Bären durch eine Reihe spezieller physiologischer Anpassungen unterschieden. Der Bär schläft zwar viel, senkt seine Körpertemperatur aber nur gering, und die Bärin gebiert sogar in der Winterhöhle ihr Junges. Im Winterschlaf wird nicht bloß durch Ruhe Energie gespart. Mindestens ebenso bedeutsam ist das tiefe Absenken der Körpertemperatur. Dies geschieht in der Regel nicht kontinuierlich über den ganzen Winter, sondern geschieht in einer Abfolge von Episoden. Der Zustand tiefer Körpertemperatur und der damit erreichten Reduktion des Energieverbrauchs heißt generell Torpor. Die Bedeutung der zwischen die Episoden eingeschalteten Wachphasen ( arousal) ist nicht bekannt. Das Absenken der Körpertemperatur hat zwei sich überlagernde Spareffekte: ●
Es geht weniger Energie in Form von Wärme verloren, weil die Temperaturdifferenz zwischen Körper und Umwelt geringer ist, und
●
weil eine tiefere Betriebstemperatur gemäß der RGT-Regel (Reaktionsgeschwindigkeit-Temperatur-Regel, s. Kap. 1) ein allgemeines Absenken der Stoffwechselraten und des Energieumsatzes zur Folge hat. Darüber hinaus gibt es spezielle, den Energieumsatz drosselnde Maßnahmen.
Die Fledermaus als typisches Beispiel: ●
Vorbereitet wird der Winterschlaf durch das Aufsuchen geeigneter Überwinterungshöhlen.
●
Ausgelöst wird der Winterschlaf, wenn eine (artspezifische) kritische Temperatur über mehrere Tage unterschritten wird. Die Verkürzung der Tageslänge im Herbst dürfte, wie bei anderen Tieren auch, bei der Vorbereitung und Auslösung mitwirken.
●
Hypothermie. Wenn die kritische Körpertemperatur unterschritten ist, wird gar nicht mehr lange gegen Unterkühlung angeheizt; vielmehr folgt die Körpertemperatur passiv der Außentemperatur bis herab zu einer artspezifischen Minimaltem-
peratur von 5 bis 0°C. Nur wenn diese Minimaltemperatur unterschritten wird, wird vorübergehend die Körperheizung eingeschaltet. ●
Unterbrochene Atmung (Cheyne-Stokes Atmung). Es werden Atempausen bis zu 40 min eingeschoben, und man registriert eine
●
Bradykardie. Das Herz schlägt langsam, statt mit 400 Schlägen/min nur noch mit 11 bis 25 Schlägen/min.
●
Der Sauerstoffverbrauch sinkt auf 1/20 (Murmeltier) bis 1/100 (Kleinsäuger) des Normalwertes.
●
Die Harnproduktion fällt auf 1% des Wachwertes.
●
Der Blutzuckerspiegel ist abgesenkt.
●
Der Energiestoffwechsel ist auf Fettverwertung eingestellt; der Respiratorische Quotient (s. Kap. 2) liegt bei 0,7. Verheizt wird das Fett in der Zentralheizung des braunen Fettgewebes.
●
Aktive Drosselung des Energieverbrauchs. Der Energieverbrauch sinkt weit mehr, als es nach der RGT-Regel zu erwarten wäre. Bei 2°C verbraucht die Fledermaus in 7 Monaten gerade mal 1,6 g Fett.
●
Die Höchstdauer ist 7 Monate.
Tagestorpor (Tageslethargie, daily torpor). Manche kleinen Warmblüter, so Fledermäuse und Kolibris, verlören auch im Sommer in kühlen Nächten und an kühlen Tagen mit ihrer normalen Körpertemperatur durch Wärmeabstrahlung mehr Energie, als sie durch Nahrung einsammeln können. Um zu einer positiven Energiebilanz zu kommen, müssen sie in den Aktivitätspausen Körpertemperatur und Stoffwechselintensität absenken. Diesen Zustand einer reduzierten Körpertemperatur und eines reduzierten Energiebedarfs und -verbrauchs in Phasen der Ruhe heißt, wie oben schon definiert, Torpor. Anders als beim Winterschlaf geht es hier um kurzfristige Sofortmaßnahmen, die auch schnell wieder beendet werden können. Winterstarre. Bei Amphibien und Reptilien wird der durch die Außentemperatur passiv erzwungene Zustand der Inaktivität Winterstarre genannt.
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27 Ökophysiologie: Anpassungen an extreme und wechselnde Lebensräume
27.1.4 Das braune Fettgewebe: eine spezielle Körperheizung Säugetiere – nicht nur winterschlafende, die aber in besonderem Umfang – besitzen eine spezielle Zentralheizung. Sie wird bei Winterschläfern neuronal über sympathische Leitungen und hormonal über Noradrenalin angeworfen, wenn die Körpertemperatur unter 0°C zu sinken droht, wenn man vorübergehend aufwacht, um sein Geschäft zu verrichten, oder wenn man sich im Frühjahr anschickt, definitiv aufzuwachen und munter zu werden. Diese Heizung ist das braune Fettgewebe. Wie es funktioniert, ist in Abschn. 10.4.6 beschrieben. Aufwachen heißt heutzutage übrigens arousal. 27.1.5 Auch Bienen (und andere Wechselwarme) können heizen Thunfische und manche großen Haie können ihre Körpertemperatur über der Temperatur des Meerwassers halten. Das in den Kiemen abgekühlte Blut wird aufgeheizt, indem dem kühlen Blut in parallel gelagerten Blutgefäßen erwärmtes Blut entgegenströmt (Gegenstrom-Wärmetauschersystem, ähnlich Abb. 27.1). Bienen kommen ihr soziales Verhalten und ihre Vorratswirtschaft zugute. Im Winter kuscheln sie sich zusammen, um gemeinsam die Fläche des Wärmeverlusts zu reduzieren Besondere Heizbienen (Tafel 31) heizen durch Muskelzittern, wobei sie ihren Flugmotor im Leerlauf laufen lassen. Heizmaterial haben sie als Honig auf Vorrat angelegt. (Wenn ihnen der Imker den Vorrat stiehlt, muss er ihnen Zuckerwasser als – minderwertigen – Ersatz anbieten, sonst erfrieren sie.) 27.1.6 Gefrierschutzmittel helfen wechselwarmen Tieren, Frostperioden und extreme Kälte zu überstehen Arktische Meere sind ganzjährig mehr als eiskalt; Meerwasser gefriert erst bei ca. −3 bis −20°C. An Land sinken die Temperaturen in Regionen der Antarktis und Sibiriens bis −65°C. Extreme Kälte bis −40°C kann mit sibirischen Hochdruckzonen auch
nach Mitteleuropa vordringen. Gewiss, bei solch extremer Kälte können nur Warmblütler „leben“ und aktiv sein; aber es überleben auch zahlreiche Mikroorganismen, Protozoen, Bärtierchen (Tardigraden), Spinnen und Insekten. Auch wenn sich solche Kleinlebewesen unter Laub, Baumrinde und in sonstigen Schutzräumen verstecken, einen Ort, der ständig über 0°C bleiben wird, werden sie kaum finden, jedenfalls nicht in Sibirien. Selbst in 0,5 bis 1 m Tiefe gefriert dort der Boden. Noch tiefer sich einzugraben hat wenig Sinn. Man gerät in die Zone des ewigen Frosts (Permafrost). Zwar ist Überwintern im Boden allemal leichter als über dem Erdboden in der schneidenden Luft einer sibirischen Winternacht. Aber der Boden gefriert dennoch überall. Trotzdem überleben eingegrabene Tiere; selbst Amphibien überleben sibirische Kälte. Weltrekord, soweit bekannt, hält da wohl der schwarze sibirische Salamander (sehr ähnlich unserem Alpensalamander), der im gefrorenen Boden bei Temperaturen bis zu −50°C wohlbehalten überwintert, sofern er Zeit hat, sich allmählich auf frostige Kälte einzustellen. Auch andere Amphibien wie der amerikanische Waldfrosch Rana sylvatica (Tafel 32) überleben im gefrorenen Boden. Frostschutzmittel gewährleisten ihr Überleben. Frostschutzverfahren und -mittel. Es muss vor allem die gefährliche Eisbildung unterdrückt werden. Expandierendes Eis und spitze Eisnadeln zerstören Zellen und Gewebe. Organismen können, wenn sie rechtzeitig vor bevorstehendem Frost gewarnt sind, in ihren Zellen Frostschutzmittel anreichern. Es ist eine größere Zahl von Gefrierschutzmitteln bekannt (Abb. 27.2): ●
Absenkung des Gefrierpunktes durch Erhöhung des osmotischen Wertes. Vereiste Straßen lassen sich durch Salz abtauen. Das physikalisch einfachste Verfahren, das Eingefrieren zu verhindern, ist die Erhöhung des osmotischen Wertes durch Anreicherung des Lösungsmittels mit Salzionen oder anderen niedermolekularen, hydrophilen Substanzen. Der Waldfrosch Rana sylvatica spaltet Glykogen und reichert Blut und Zellflüssigkeit mit viel Glucose an. Der Gefrierpunkt einer Lösung ist eine Funktion ihres osmotischen Wertes und dieser ist eine Funktion der Zahl gelöster Teilchen. Eine ideale, einmolare Lösung einer Substanz erzeugt eine
27.1 Leben und Überleben in der Kälte Ethylenglykol
OH
Glycerol (Glycerin)
OH
OH
- Ala-Ala - Thr - Ala-Ala - Thr - Ala-Ala - Thr - Ala -
OH OH
Gal-Gal
Sorbitol (Glucitol)
OH OH
OH
OH OH
O
polare Gruppe
OH
OH Inositol
Anti-freeze-Protein
OH
OH OH
OH
Gal-Gal
OH Eiskristall
OH
Gal-Gal
Beispiel eines Gefrierschutzproteins (Anti-freeze protein AFP)
OH
OH OH
Glucose
apolare Gruppen
OH polare Gruppe apolare Gruppen
H O H
H O H
H O H
O H H
O H H
O H H
polare Gruppe
O H H
O H H
Eisbildung Eiskern mit Protein-Ummantelung
Abb. 27.2. Gefrierschutzmittel
Gefrierpunktserniedrigung von −1,86°C (das Phänomen der Unterkühlung nicht berücksichtigt). Die extrazelluläre Flüssigkeit zwischen den Zellen und das Blut der Wirbeltiere haben eine Osmolalität von ca. 300 bis 400 mosmol/l und einen Gefrierpunkt von −0,56 bis −0,8°C. Die intrazelluläre Flüssigkeit (Cytosol) der Säugerzelle hat einen Gefrierpunkt, der näherungsweise einer einmolalen Lösung entspricht, ebenso wie Meerwasser (Gefrierpunkt ca −1,8 bis −3°C, falls keine Unterkühlung eintritt). Durch zusätzliche physikalische Gegebenheiten bleiben lebende Zellen oft bis −10°C ungefroren. Organismen können den Gefrierpunkt des Zellwassers weiter herabsetzen, indem sie vermehrt Ionen oder verschiedene Zucker aufnehmen, oder umgekehrt, indem sie ihre Zellen entwässern. Noch nicht durchgefrorene Zellen, die an kalte Luft oder an Eis grenzen, entwässern von selbst. Sie
haben in der Regel einen höheren Dampfdruck als der angrenzende extrazelluläre Raum oder das benachbarte Eis. Wasser entweicht als Wasserdampf; die Zelle trocknet aus; ihr osmotischer Wert steigt und ihr Gefrierpunkt sinkt. Das Prinzip, uns unwillkommen bekannt von der vereisenden Tiefkühltruhe mit den eingelagerten, austrocknenden Speisen, kommt aber bald an Grenzen: Bei allzu hohem Ionengehalt denaturieren Proteine und die Zelle stirbt. Hier helfen nur Substanzen weiter, die den Gefrierpunkt stärker herabsetzen als es der pure osmotische Wert erwarten lässt. ●
Niedermolekulare Gefrierschutzmittel. Gefrierschutz kann erreicht werden durch wasserlösliche, die Eiskristallbildung störende Substanzen. Dazu eignen sich vor allem mehrwertige Alkohole, das sind Substanzen mit mehreren Hydroxy-(OH-)Gruppen (Abb. 27.2). Verbreitet findet
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27 Ökophysiologie: Anpassungen an extreme und wechselnde Lebensräume
man Glycerol (Glycerin), das man auch bei der Tiefkühllagerung von Enzymen, Sperma und Zellen zum Schutz vor Gefrierschäden einsetzt. Das Verfahren, Glycerol beizumischen, haben schon Insekten als Möglichkeit entdeckt, z. B. Diapausepuppen von Schmetterlingen. Glycerin kann relativ einfach in einem Nebenweg der Glykolyse aus Dihydroxyaceton-Phosphat hergestellt werden. Auch wird bei der Fettspaltung Glycerin frei (Fett = Triglycerid!). Ethylenglykol (als süßes Weinpanschmittel in Verruf gekommen) wird natürlicherweise in Borkenkäfern gefunden. Eine andere, von Insekten benutzte Substanz ist Sorbitol. Zu den Eisbildung-hemmenden Polyalkoholen gehören auch ringförmige Strukturen wie Inositol. Ihnen können die Zucker (Saccharide) an die Seite gestellt werden, da auch sie am Ring OH-Gruppen tragen. In der Hämolymphe von Insekten werden denn auch hohe Konzentrationen verschiedener Saccharide (z. B. von Glucose und Trehalose) gefunden. Schließlich ist auch Harnstoff (Urea) ein brauchbares Frostschutzmittel. Das Cytoplasma des Waldfroschen enthält zur Winterszeit außer viel Glucose auch viel Harnstoff. ●
Spezifische Gefrierschutzproteine. Man nennt sie auch AFP (Anti-Freeze Proteins). AFP‘s lagern sich an kleine Eiskristalle, ummanteln sie und verhindern ihr weiteres Wachstum (Abb. 27.2). Solche, z. T. hochwirksame Proteine sind in Fischen der Arktis und Antarktis (auch im Hering) und ebenso in Insekten entdeckt worden, ein besonders wirksames in Motten der Arktis ( Choristoneura (Tafel 32)). Gefrierschutzproteine bilden keine einheitliche Proteinfamilie. Ihre Aminosäuresequenzen können sehr unterschiedlich sein. Wohl aber haben AFP‘s die Eigenschaft, sich an submikroskopische Eiskeime anzulagern und ihr Weiterwachsen zu verhindern. Das gemeinsame Strukturprinzip der AFP ist eine regelmäßige Abfolge hydrophiler und hydrophober Bereiche entlang der Polypeptidkette. In einigen der analysierten AFP‘s ist die häufigste AS das hydrophobe Alanin. Hydrophobe Alaningruppen halten hydrophile Gruppen aus polaren Aminosäuren auf regelmäßige Distanz. Beispielsweise kehrt in einem bestimmten AFP die hydrophile Dreiergruppe Asp, Thr, Leu in Perioden von je drei Helixwindungen wieder.
Man kennt glykosylierte AFP und nichtglykosylierte. Ein bestimmtes glykosyliertes AFP aus arktischen Fischen enthält als hydrophile Komponenten regelmäßig wiederkehrendes Threonin, an das ein Zucker (Galactose-Disaccharid) angekoppelt ist. Die Threoninreste werden wieder mittels Alaninsequenzen auf Distanz gehalten (Abb. 27.2). Andere AFP freilich sehen ganz anders aus, zeigen aber ebenfalls regelmäßige Periodizitäten in ihrer Tertiärstruktur. 27.1.7 Manche Insekten und Amphibien überleben sogar im augenscheinlich gefrorenen Zustand Extrazellulär vereist, intrazellulär flüssig. Wenn der sibirische Salamander aus dem durchgefrorenen Boden ausgegraben wird, krabbelt er bald munter herum. Er hat sowohl sein Blut als auch das Cytosol seiner Zellen wirksam mit Gefrierschutzmitteln versorgt. Auch ein Laubfrosch ( Hyla versicolor), der schutzlos am Busch klebend überwintert, reichert Zellen und Blut mit Glycerin an. Manche Frösche (z. B. der schon mehrfach erwähnte amerikanische Waldfrosch Rana sylvatica), manche SüßwasserSchildkröten ( Trachemys scripta elegans (Tafel 32)) und arktische Motten ( Choristoneura -Arten) gefrieren aber stocksteif und überleben trotzdem. Tatsächlich zu Eis gefroren sind allerdings nur die extrazellulären Flüssigkeiten einschließlich Blut und Lymphe. Die extrazelluläre Eisbildung wird sogar durch spezielle, die Eiskristallbildung fördernde Proteine unterstützt. Damit wird eine erwünschte Folgereaktion ausgelöst. Bei der Eisbildung im Außenraum sinkt der Dampfdruck des Außenraums unter den Dampfdruck des Zellinneren. Wassermoleküle wechseln vom Cytosol ins Blut, der osmotische Wert des Cytosols steigt, sein Gefrierpunkt sinkt (Abb. 27.3). Am Ende ist das Blut gefroren, das Zellinnere bleibt flüssig. Mit steigendem osmotischem Wert wird freilich auch der Dampfdruck im flüssigen Cytosol geringer. Das ist willkommen; denn sonst würde die Zelle schließlich gänzlich austrocknen. So wird aber nun ein Dampfdruckgleichgewicht erreicht, bei dem die extrazelluläre Umgebung gefroren ist, aber die intrazelluläre Lösung flüssig bleibt (Abb. 27.3). Glykolverbindungen, Glucose und Harnstoff im Cytosol tun ein Übriges.
27.2 Anpassung an extreme Hitze
die Tiere zugrunde. Demgegenüber sind einige wenige Arten
organischer Kristallisationskeim
Extrazelluläre Flüssigkeit
Dampfdruck gering
Cytosol, normaler osmotischer Wert
Dampfdruck gering
Eis
Extrazelluläre Flüssigkeit
Cytosol, erhöhter osmotischer Wert zusätzliche Gefrierschutzmittel
Abb. 27.3. Gefrierschutz durch Konzentrierung einer Lösung. Wassermoleküle wechseln über die Gasphase gemäß dem Dampfdruckgefälle von der Lösung zum Eisbehälter
Es scheint spezielle Kälteschockproteine zu geben, die (nur?) bei Kälte exprimiert werden. Trotz all der genannten Schutzmechanismen können nur wenige Organismen genannt werden, die ausgesprochen gefriertolerant sind. Man kann gefrierresistent oder gefriertolerant sein. ●
Gefriertolerant. Sogar Eisbildung innerhalb der Zellen wird verkraftet, vielleicht weil durch besondere (unbekannte) Tricks sich nicht kristallines, sondern glasartiges Eis bildet (wie wenn Wasser mit flüssigem Stickstoff schockgefroren wird). Arktische rote Zuckmücken (Gattung Chironomus) vertragen, aus welchen Gründen auch immer, wiederholtes Gefrieren und Auftauen.
●
Kryptobiose. Weltrekordhalter in der Toleranz gegenüber extremer Kälte sind die winzigen Tardigraden („Bärtierchen“), die man beispielsweise auf Moosen findet und die im Winter (oder bei Trockenheit) in einen Kryptobiose genannten, todesähnlichen Zustand verfallen, in dem keine Stoffwechselaktivität mehr gemessen werden kann. Sie entwässern sich vollständig (anhydrobiotischer Zustand), als wären sie gefriergetrocknet. In diesem Zustand überdauern sie auch die extrem niedrigen Temperaturen des Weltalls (unter 30 K/−243,15°C). Sie überstehen aber auch sehr hohe Temperaturen (bis 77°C) und kommen in allen Extremregionen der Erde vor, von der Arktis und Antarktis bis in die Wüstenregionen.
Dampfdruck hoch
Dampfdruck gering
Eis
●
Gefrierresistente Organismen überdauern Frost, vertragen vielleicht auch das Gefrieren des Blutes, sie vertragen es aber nicht, wenn im Zellinneren sich Eis bildet. Wenn ihre Gefrierschutzmittel nicht genügen, um auch bei extremer Kälte intrazelluläre Eisbildung zu verhindern, gehen
27.2 Anpassung an extreme Hitze 27.2.1 Hitzeschockproteine helfen fast allen Organismen, mittäglichen Hitzestress und andere StressSituationen zu überleben Nahezu alle Organismen, von Bakterien bis zum Menschen, erzeugen unter kurzem, nicht allzu brutalem Hitzestress besondere Hitzeschockproteine (heat shock proteins, hsp), die ihnen verbesserte Thermotoleranz verleihen. Da viele dieser Proteine auch in anderen Stress-Situationen, beispielsweise unter Schwermetallbelastung oder bei Infektionen, hergestellt werden, nennt man diese Proteine auch Stressproteine. Das bekannteste, allenthalben vorkommende Stressprotein ist hsp70. Die Expression dieses Proteins zeigt eine lebensbedrohliche Situation an.
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27 Ökophysiologie: Anpassungen an extreme und wechselnde Lebensräume
Eine wichtige Funktion der Hitzeschockproteine ist die Beseitigung denaturierter Proteine. Manche „kleinen“ Hitzeschockproteine (hsp20–27) sind Komponenten des Proteasoms, eines hochmolekularen Komplexes, der mehrere Proteinasefunktionen in sich vereinigt. Das Proteasom ist ein intrazelluläres Verdauungssystem, das unter anderem denaturierte Proteine beseitigt. Eine aufbauende Funktion einiger Hitzeschockproteine ist ihre Mitwirkung bei der Herstellung neuer, korrekt gefalteter Proteine (Chaperonfunktion). Bei dieser Funktion dominieren die „großen“ Hitzeschockproteine, namentlich hsp70 und hsp60.
27.2.2 Wer dauernd in der Wüste lebt, muss lernen, mit Wassermangel umzugehen Vermeidungsstrategien. Die Mehrzahl der Wüsten- und Steppentiere verkriecht sich vor der Mittagssonne. Man verlässt sein schattiges Versteck nur frühmorgens und abends oder führt ein nächtliches Leben. Leben in der Wüste bedeutet aber nicht nur Umgang mit ungemütlichen Temperaturen, sondern auch Umgang mit Wassermangel. Ohne besondere Anpassungen geht es nicht. Wie man dem Wassermangel beikommt: ●
Schutz vor Austrocknen. Insekten, Spinnen, Reptilien haben eh eine Körperhülle, die wenig Wasser(dampf) durchlässt. Säuger verschaffen sich eine ledrige, keratinreiche Haut. (Freilich, Undurchdringlichkeit der Körperhülle für Wasser verhindert auch Abkühlung durch Verdunstung.) Bei Lungenatmern entweicht der meiste Wasserdampf mit dem Atem. Auch mit dem Urin wird unvermeidlich Wasser verloren.
●
Absorption von Wasserdampf. In der Kühle der Nacht kann sich auch in der Wüste (besonders in Küstennähe) Wasserdampf in Form von Tau auf kühlen Flächen niederschlagen. Manche Arthropoden (Asseln, Insekten, Spinnen) haben spezielle Einrichtungen, solches Wasser zu absorbieren. Haarpolster und Rinnen wirken wie Fließpapier, adsorbieren also Wasser unter Ausnutzung von Kapillar- und Kohäsionskräften.
●
Wassersparen bei der Exkretion. Insekten, Reptilien und Vögel scheiden Stickstoff in Form der schwerlöslichen Harnsäure aus. Diese kann fast
trocken als weißer Brei ausgeschieden werden. Säuger entwickeln in ihren Nieren besonders lange Henle’sche Schleifen; ihr Harn ist hochkonzentriert. ●
Wasservorrat. Wasservorrat kann indirekt auch in Form von Fett angelegt werden. Fett enthält, wenn man die Zahl der Kohlenstoffatome als Referenz wählt, und noch deutlicher, wenn man das spezifische Gewicht als Vergleichsbasis nimmt, viel Wasserstoff. Werden Fettsäuren im Stoffwechsel oxidativ abgebaut, entsteht als Endprodukt neben CO2 auch relativ viel H2O. Um 100 ml Oxidationswasser zu gewinnen, müssen 180 g Kohlenhydrat, aber nur 100 g Fett verbrannt werden. Pro Gramm Fett gewinnt man 1 g (1 ml) Oxidationswasser. Deswegen ist im Wüstenklima fettreiche bzw. ölhaltige Kost durchaus von Vorteil. Ein Versteck in einer kühlen Bodenhöhle und fettreiche Samenkost ermöglicht es der amerikanischen, wüstenbewohnenden Känguruhratte ( Dipodomys spectabilis), gänzlich ohne Trinken auszukommen.
27.2.3 Wie man einen kühlen Kopf behält Überhitzung stört die Funktion des Gehirns. Wer schutzlos der Hitze ausgesetzt ist, berichtet von Schwindelgefühlen, flimmernden und verschwimmenden Bildern, Halluzinationen, Unfähigkeit, einen sinnvollen Gedanken zu fassen. Man wird verwirrt und stirbt, wenn nicht Hilfe kommt. Die Gazelle in der Nähe hingegen ist wach und munter, trotz Sonnenhitze. Selbst wenn sie flieht und zusätzlich Körperwärme produziert, fällt sie nicht dem Hitzschlag zum Opfer. Wüstenbewohnende Säuger haben besondere Mechanismen, ihr Gehirn relativ kühl zu halten. Sie verfügen über einen kühlenden GegenstromWärmetauscher, nicht um Wärme zu sparen wie der Delphin, sondern um Wärme loszuwerden (s. Abb. 27.1). Kühler ist die Nasenschleimhaut. Antilopen, Gazellen, Schafe, aber auch Hunde, haben in der Regel lange Schnauzen, in denen sich eine großflächige Nasenschleimhaut in viele Falten legt. Die Ober-
27.3 Anpassungen an Sauerstoffarmut
fläche dieser Schleimhaut kann größer sein als die Körperoberfläche (Hund). An dieser feuchten Oberfläche wird durch Verdunstung Kühle erzeugt. Der Wasserverlust wird teilweise dadurch kompensiert, dass die aus der Lunge kommende wasserdampfgesättigte Atemluft beim Vorbeistreichen an den kühlen Schleimhautfalten kondensiert. So gibt die Atemluft das in der Lunge dem Körper entnommene Wasser in der Nase teilweise wieder an den Körper zurück. Bei der Kondensation wird allerdings auch wieder Wärme frei. Diese Abwärme reduziert den Kühleffekt der Verdunstung. Das Tier muss einen optimalen Kompromiss zwischen Kühlung und Sparen von Wasser finden. Unter der gekühlten Schleimhaut sammeln Venen gekühltes Blut und führen es einem zentralen Wärmetauscher zu. Unterhalb des Gehirns münden die Venen in einen ballonförmigen Blutsinus (Sinus cavernosus). Die Halsschlagader, die zum Gehirn zieht, wird durch das Kühlbad dieses blutgefüllten Hohlraums hindurchgeführt (Abb. 27.1). Dabei gabelt sich die Arterie zur Verbesserung des Wärmeaustausches in viele Kapillaren auf, die dann wieder zusammengeführt werden. Man spricht in solchen Fällen von einem Wundernetz (rete mirabile). Das arterielle Blut wird um 2 bis 3°C gekühlt. Kamele sind Meister der Überlebenskunst, die viele Tricks entwickelt haben. Auch sie können das Gehirnblut kühlen. Nicht nur deshalb können sie den ganzen Tag (manche Wüstenameisen wenigstens ein paar Minuten) im Passgang auf ihren Schwielenfüßen über heißen Sand laufen. Ihre langen Beine heben den Körper vom heißen Sand ab. Kamele saufen an der Tränke bis zu 100 l Wasser, das sie im ganzen Leib verteilen. Sie haben zudem einen kleinen Wasservorrat in Form des Höckerfetts. Gewiss ist dieses Fett in erster Linie ein Energievorrat. Immerhin, 40 kg Höckerfett ergeben theoretisch 40 l Oxidationswasser. Das afrikanische Kamel, auch als Dromedar bekannt, kann bis zu 14 Tagen ohne Tränke auskommen. In 8 Tagen Wüstenmarsch verliert es mit ca. 100 kg 22% seines Körpergewichts. (Der Mensch wird schon bei einem Flüssigkeitsverlust von 12% des Körpergewichts Opfer der Austrocknung und des Hitzschlags.) Das Eindringen von Flugsand in die Augen und Nüstern des Dromedars wird vermindert, indem Augen und Nasen verschlossen
werden. Das Augenlid ist transparent; die Nasenöffnungen werden mit einer Hautfalte verschlossen.
27.3 Anpassungen an Sauerstoffarmut Große Höhen im Gebirge, die Tiefen der Ozeane, die schlickigen Gründe des Wattenmeers und die Gärkammer des Wiederkäuerpansens haben eines gemeinsam: das Angebot an Sauerstoff ist gering. Die Wissenschaft spricht von Hypoxie (Sauerstoffarmut) und Anoxie (Sauerstoffmangel). Zwei Strategien werden verfolgt, um mit diesem Mangel fertig zu werden: ●
Bei der ersten Strategie benutzt man anaerobe (anoxische) Stoffwechselwege. Diese versagen auch bei gänzlichem Sauerstoffmangel (Anoxie) nicht.
●
Bei der zweiten Strategie wird versucht, beim energetisch ergiebigen oxidativen Stoffwechel zu bleiben und das geringe Sauerstoffangebot durch leistungsfähige Sauerstofftransportsysteme zu kompensieren.
27.3.1 Man kann auch mit anaeroben Stoffwechselwegen mehr ATP gewinnen als die Standard-Glykolyse ermöglicht Die biotopbedingte Anaerobiose (Leben unter Luftabschluss) ist recht verschieden von der funktionsbedingten Anaerobiose des tätigen Muskels. Die biotopbedingte Sauerstoffarmut kann Stunden, Tage, ja ein ganzes Leben lang anhalten. Dem muss der Stoffwechsel Rechnung tragen. Wenn im Teich vorübergehend Sauerstoffarmut herrscht, wird der Goldfisch träge und reduziert seinen Sauerstoffverbrauch auf 20% des Normalwertes. Dabei können, wie oben erwähnt, der Karpfen und der Goldfisch Ethanol als Endprodukt der Glykolyse gewinnen (und sich so in wohligen Rausch versetzen?). Organismen, die im Schlick langanhaltender oder immerwährender Hypoxie (Sauerstoffunterversorgung) oder Anoxie (gänzlicher Mangel an
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27 Ökophysiologie: Anpassungen an extreme und wechselnde Lebensräume
Glucose
ATP Glykolyse
Alanin
Alano-Opin
Pyruvat
CO2
ATP
PEP
CO2-Fixierung
Arginin
Oxalacetat
Octopin
Pyruvat
ATP
Pyruvat
Malat
Lactat
Milchsäure
CO2 Ethanol
CO2 Butyrat
Acetat Acetyl-CoA
Acetat
Buttersäure
Essigsäure Oxalacetat
Malat CO2 Fumarat
ATP
CO2
Succinat
Succinyl-CoA
CO2 Pyruvat
CO2
GTP Propionat
Propionsäure
Acetat Essigsäure
ATP Methylbutyrat Methylbuttersäure
Abb. 27.4. Anaerober Stoffwechsel mit modifizierter Glykolyse (Produktion von Opinen statt Lactat) und Erzeugung von organischen Säuren unter Einbeziehung von Teilstrecken des Citratcyclus. Die ATP-Ausbeute ist 2 bis 3 mal so hoch wie bei der konventionellen Glykolyse
27.3 Anpassungen an Sauerstoffarmut
Sauerstoff) ausgesetzt sind, haben Wege gefunden, die Glykolyse nicht mit dem sauren Lactat zu beenden. Sie haben Möglichkeiten gefunden, die Glykolyse noch ein Stückchen zu verlängern und die Energieausbeute zu verbessern. Viele Anneliden und Mollusken der Wattenmeere erzeugen, um aus NAD:H das NAD+ zurück zu gewinnen, aus Pyruvat Opine statt Lactat. Opine entstehen aus der reduktiven Kondensation von Pyruvat mit einer Aminosäure (Abb. 27.4). Mehr ATP wird dabei nicht gewonnen; es bleibt bei 2 ATP pro eingesetzter Glucose.
Bis zu sieben ATP werden gewonnen, wenn der Citratcyclus mit in den anaeroben Stoffwechsel einbezogen wird. Die Glykolyse endet schon beim PEP (Phosphoenolpyruvat), also einen Schritt vor dem Pyruvat. Unter Aufnahme von CO2 wird alsdann noch außerhalb der Mitochondrien aus PEP Oxalacetat, das (unter Rückgewinnung von NAD+) zu Malat reduziert und dann in die Mitochondrien geschleust wird. In den Mitochondrien wird der Citratcyclus unter Ausnutzung des Massenwirkungsgesetzes ein Stück rückwärts getrieben (Abb. 27.4). Oxalacetat wird schließlich zu Succinat reduziert. Normalerweise verlangen Reduktionen eine Einspeisung von Energie in das reduzierte Produkt. Unter den Bedingungen des Sauerstoffmangels kann es auch mal anders sein, und es wird Energie freigesetzt. Es gelingt diesen Organismen sogar unter teilweiser Ausnutzung der Atmungskette etwas ATP herzustellen. Die Details der Reaktionen sind zu kompliziert, als dass sich ein einführendes Buch damit befassen könnte. Endprodukte sind jedenfalls flüchtige organische Säuren: Bernsteinsäure (Succinat), Propionsäure, Buttersäure (Butyrat) und Methylbutyrat (Tabelle 27.1). Es wird sauer (Azidose) und stinkt, doch das bekümmert die Produzenten nicht. Eine verbesserte ATP Ausbeute durch solche Modifikationen des Basisstoffwechsels ist wattbewohnenden Würmern und Mollusken gelungen, aber auch parasitischen Leberegeln und Bandwürmern unter den Plathelminthen und den Symbionten im Pansen der Wiederkäuer (s. Abb. 4.16). Auf etwas anderem Weg kann auch Essigsäure (Acetat) entstehen.
Tabelle 27.1. Endprodukte des Stoffwechsels bei Sauerstoffmangel Endprodukt
Organismen, die diese Endprodukte erzeugen
Milchsäure (Lactat) Octopin
Tiere in Muskeln, Bakterien Spielt in den Muskeln vieler Wirbellosen (z. B. Tintenfisch Octopus) eine ähnliche Rolle wie Lactat im Wirbeltiermuskel Parasiten, viele Schlickbewohner Bakterien, Pansensymbionten der Wiederkäuer, Darmsymbionten, Schlammbewohner Hefen
Bernsteinsäure (Succinat) Essigsäure, Propionsäure Buttersäure, n-Butanol, Methan (CH4), CO2 + H2 Ethanol + CO2
27.3.2 In der Not schnappt man nach Luft Wenn sich der Karpfen im winterlichen Teich in den Schlamm vergräbt, genügt ihm das vorhandene minimale Sauerstoffangebot. Ohnedies sind bei winterlichen Temperaturen die Stoffwechselraten sehr gering. Aktiv in warmen Gewässern schwimmende Fische hingegen geraten schnell in Atemnot. Bei Fischen findet sich als Anpassung an sauerstoffarme Gewässer häufig Luftatmung. Flussniederungen erfahren häufig Überschwemmungen, denen Perioden des Austrocknens folgen. Besonders ausgeprägt und riesige Gebiete umfassend treten periodische Überschwemmungen im Amazonasbecken auf. Wenn dann in Trockenzeiten die Wasserstände sinken und die Temperaturen steigen, kommt es zu einer Verarmung an Sauerstoff. Viele Fischarten schnappen dann nach Luft. Sie wird meistens in Höhlungen des Vorderdarms verschluckt. Aus solchen Höhlungen sind in der Evolution auch die Lungen entstanden. Die rezenten Lungenfische sind Belege für das Funktionieren dieses Prinzips: Neoceratodus in Australien überlebt luftschnappend in Pfützen. Protopterus in Afrika und Lepidosiren im Amazonasgebiet hüllen sich im austrocknenden Schlamm in eine Schleimkapsel und atmen nur noch Luft.
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Der an den Mangrove-Ufern des Indopozafiks lebende Schlammspringer Periophtalmus, der mit seinen Flossen munter auf dem schlammigen Ufer herumhüpft, hat die Kiemenhöhlen zu einer Art Lunge erweitert. Ebenso hat der in Südostasien lebende Kletterfisch Anabas im Bereich des Kiemendarms eine Atemkammer entwickelt. Die reichgefaltete Oberfläche der Kammer verlieh ihr den Namen „Labyrinth“. Auch der elektrische Aal des Amazonasgebietes kann Luft schnappen. Der europäische Schlammpeizger (Schmerle) atmet die verschluckte Luft im Darm. Vorn wird sauerstoffreiche Luft verschluckt, hinten kohlendioxidreiche Luft ausgestoßen.
27.3.3 Manche Wirbeltiere können zeitweise ganz ohne Sauerstoff leben Mehrere Lebewesen mit der außergewöhnlicher Fähigkeit, bei Sauerstoffmangel Stunden, Tage oder gar Monate zu überleben, sind bekannt geworden und haben das Interesse der Ökophysiologie gefunden: ●
Ein Grundhai ( Hemiscylium ocellatum, Tafel 32); er sucht Nahrung in sauerstoffarmen Gezeitentümpeln tropischer Meere, die tagelang von Frischwasserzufuhr abgeschnitten sein können.
●
Unter den Fischen können Karauschen ( Carassius carassius, engl.: crucian carp) in Tümpeln mit fauligen, nahezu sauerstofffreiem Wasser bis zu fünf Tagen überleben, im Winter gar monatelang, ebenso ihre Verwandten, die Goldfische.
●
Auch Süßwasserschildkröten (Gattung Trachemys and Chrysemys (Tafel 32)) können mehrere Monate im Faulschlamm überwintern.
●
Eine Gans ( Anser indicus (Tafel 32)), fliegt von Nepal auf über 10 000 m über den Himalaya nach Indien, um dort zu überwintern.
Die Strategien des Überlebens sind verschieden und erstaunlich: Schildkröten legen ihr Gehirn lahm und verfallen in ein Koma, indem sie Ionenkanäle der Gehirnneurone schließen. Karauschen und Goldfische haben einen exotischen Stoffwechselweg erfunden und können auch im schlammigen Teich aktiv bleiben; ihr Stoffwechselendprodukt ist Ethanol. Die den Himalaya überfliegende Gans hat in Muskeln (Myoglobin) und Blut (Hämoglobin) Sauerstoff gespeichert und ein Hämoglobin mit ungewöhnlich starker Affinität zu Sauerstoff.
27.3.4 Von der Taube bis zum Fetus: Eine erhöhte Sauerstoffaffinität des Hämoglobins kann hilfreich sein Wie kommt man zu Hämoglobin mit höherer Affinität zu Sauerstoff? Von den tetrameren Hämoglobinen (Hb), die den Wirbeltieren zum Speichern von Sauerstoff zur Verfügung stehen, gibt es mehrere Isoformen. Das Genom der Wirbeltiere enthält mehrere Gene, die durch Duplikation aus einem Urgen hervorgegangen sind und in wechselnder Kombination für die Produktion der vier Ketten des Globins herangezogen werden können. Die verschiedenen Isoformen, die man bei verschiedenen Tierarten aber auch bei ein und demselben Individuum antrifft, unterscheiden sich in der Kettenlänge und in Details der Aminosäuresequenz. Obzwar die Unterschiede gering sind, reichen sie aus, die Affinität des Häms zum Sauerstoff zu modifizieren. Warum aber hat die Evolution nicht alle Organismen mit Hämoglobin höchster Bindeaffinität ausgestattet? Hohe Affinität hat auch Nachteile. Hochaffines Hb gibt den Sauerstoff nicht mehr gerne her. Es muss ein Gefälle in der Affinität zwischen Hämoglobin und den intrazellulären Abnehmern des Sauerstoffs – Myoglobin und Cytochrome – erhalten bleiben. Jeder Organismus muss einen optimalen Kompromiss finden, der je nach Biotop verschieden ausfallen wird. Die Varianten der Globin-Allele ermöglichen ökophysiologische Anpassungen. Den (derzeitigen) Rekord an Variantenreichtum halten die (roten!) Zuckmückenlarven der Gattung Chironomus. Hier sind bis zu 12 Hb-Varianten gefunden worden und es dürfte sich darin die ökologische Varianz der (als Fischfutter beliebten) Zuckmückenlarven widerspiegeln. Chironomiden kommen in vielen Gewässern vor: in schlickig-stinkenden Schlammgründen ebenso wie in klaren Wiesenbächen. Auch viele Tiefseebewohner haben Hämoglobin entwickelt, das der großen Sauerstoffarmut in den Tiefen der Ozeane Rechnung trägt. Bei Vögeln, die sich in hohe Lüfte erheben, und ebenso bei Yaks und Lamas im Hochgebirge, ist die Binde- und Dissoziationskurve des Hb im Diagramm gegenüber der Kurve für das Menschen Hb nach links verschoben. Das besagt: ihr Hb bindet O2 stärker als das menschliche Hb; schon bei geringe-
27.4 In der Tiefsee
rem Partialdruck ist die Sättigungskapazität des Blutes erreicht. Der Mensch hat vor seiner Geburt ein Hämoglobin (Hb) mit ähnlich hoher O2-Affinität. Nach der Geburt stellt der Säugling vom fetalen Hb auf das adulte um (s. Abb. 8.9). In der frischen Luft findet er doch mehr Sauerstoff, als die Mutter ihm zur Verfügung stellen konnte. Daher kann sich der Säugling jetzt ein Hb mit geringerer O2-Affinität leisten. Er gewinnt durch die Umstellung auf adultes Hb den Vorteil, dass das Affinitätsgefälle zum Myoglobin und den Cytochromen höher wird. Leider kann der Mensch im Hochgebirge die Entwicklung nicht zurückdrehen und zum fetalen Hämoglobin zurückkehren. Eingeborene Bewohner der Hochgebirge haben augenscheinlich genetisch bedingte Anpassungen. Bemerkenswert ist, dass Bewohner der Anden und des Himalaya anscheinend teils konvergente, teils verschiedene Anpassungen erworben haben. Bei Tibetanern wird eine erhöhte Sauerstoffkapazität des Blutes gemessen (Wu u. Kayser 2006) Nach populationsgenetischen Studien haben sie ein dominantes Gen, das eine erhöhte Sauerstoffsättigung des arteriellen Blutes ermöglicht (Beall 2007). Die molekulare Basis hierfür, ob sie ein mutiertes Hämoglobin oder sonst eine Besonderheit in ihrer Atmungsphysiologie haben, konnten die bisherigen Studien noch nicht ausfindig machen. Beiden Populationen scheint gemeinsam zu sein (Wu u. Kayser 2006; Brutsaert 2007): ●
größere Lungen, verstärkte Ventilation,
●
vergrößertes Herz, höherer Puls, verbesserte Blutversorgung des Körpers durch den Kreislauf,
●
größere Mitochondrien in ihren Zellen.
Doch auch für Eingeborene der Species Mensch ist ein Daueraufenthalt >5000 m nicht möglich. 27.3.5 Auch der Flachländer, jeder Mensch hat Möglichkeiten der Anpassung; der Transkriptionsfaktor HIF ( Hypoxia-inducible factor) hilft für eine physiologische Einstellung auf Sauerstoffarmut Sportler trainieren vor großen Ereignissen gern auf Höhen über 2000 m. Der erniedrigte Sauerstoff-
Partialdruck regt die Niere und andere Organe an, das Hormon Erythropoietin (EPO) freizusetzen. Dieses regt eine vermehrte Bildung von Erythrocyten an; der Hämatokrit steigt. Man fand in Wirbeltieren, so auch beim Menschen, einen Transkriptionsfaktor, der das Epo-Gen einschaltet. Er heißt HIF ( Hypoxia-inducible factor). Dann stellte sich heraus, dass dieser Faktor all überall im Körper bei geringem Sauerstoffangebot in den Zellen spezifische Reaktionen auslöst. Es werden besondere genetische Programme eingeschaltet (Smith et al. 2008; Kenneth u. Rocha 2008). Diese zu analysieren und zu charakterisieren ist Aufgabe künftiger Forschung.
27.4 In der Tiefsee 27.4.1 In den Tiefen der Ozeane ist Sauerstoffarmut mit Kälte und enormem Druck zu einem Problem besonderer Art gebündelt ●
Druck komprimiert Gase.
●
Druck erhöht die Löslichkeit von Gasen.
●
Druck beeinflusst die Fluidität von Membranen.
●
Druck verändert die räumliche Konfiguration von Makromolekülen und kann ebenso wie erhöhte Temperatur zur Denaturierung von Proteinen führen.
Meerwasser ist 1000-mal dichter als Luft. Zehn Kilometer unter dem Meeresspiegel ist der Druck 100 000-fach höher als der Luftdruck in Höhe des Meeresspiegels und beträgt 1000 atm (bar) oder 108 Mio. Pa. Unter solchen Drücken denaturieren die meisten Proteine; Actinfilamente und Mikrotubuli zerfallen in Monomere. Die Temperatur beträgt ca. 2°C; Sauerstoff ist kaum vorhanden. Gewiss, in den tiefsten Tiefseegräben gibt es nur sehr wenig Leben. Doch auch benthische (bodenlebende) Lebewesen durchschnittlicher ozeanischer Tiefen müssen in besonderer Weise den erhöhten Drücken angepasst sein. Die entsprechenden Anpassungen zu erforschen, wird wenigen Spezialisten vorbehalten bleiben. (Die erforderlichen Hochdruckkammern sind aufwändig, teuer und der
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Forscher selbst kann sich darin nicht aufhalten.) Immerhin, man hat schon eine Reihe exotischer Substanzen entdeckt, die es den Zellen ermöglichen, den hohen hydrostatischen Drücken hohe osmotische Drücke entgegenzusetzen (Yancey et al. 2002). Die lebensfeindlich Tiefsee erfordert weitere Anpassungen, z. B. an
●
Man reichert das Gewebe mit Substanzen geringer Dichte an, beispielsweise mit Lipiden geringer Dichte (Fischtran mit Ölsäure und anderen ungesättigten Fettsäuren) oder mit Glycosaminoglycanen, leichten und weitgehend transparenten Substanzen, welche die Hauptmasse der Medusen und anderer transparenter Organismen ausmachen.
●
die zunehmende Sauerstoffarmut und ihren hohen Gehalt an toxischen Sulfiden und Schwermetallen. Zu den besonderen Anpassungen tierischer Lebewesen gehören Varianten des Hämoglobins mit hoher Affinität zu Sauerstoff und einem starken Bohr-Effekt (Hourdez u. Weber 2005).
●
●
Wechselnde spektrale Zusammensetzung des Lichtes. Mit zunehmender Tiefe verschwinden Rot und Gelb aus dem Spektrum des Tageslichtes. Solange noch Restmengen an Grün- und Blaulicht in die Tiefe dringen (bis max. 1000 m), helfen besondere Augen: Große Linsen, ein spiegelndes Tapetum im Augenhintergrund, besondere Photopigmente, die auf in der Regel auf kurze Wellenlängen abgestimmt sind.
●
Biolumineszente Organismen senden in der Regel kurze Wellelängen im Blau- oder Blaugrünbereich aus (s. Kap. 25). In großer Tiefe, in die keine langen Wellenlängen vordringen, wird auch konkurrenzloses rotes Licht erzeugt und teilweise von Scheinwerfern abgestrahlt (Farbtafeln 27–30).
Das Volumen eines gasgefüllten inneren Auftriebtanks wird erhöht. U-Boote treiben Wasser aus den Tanks und stattdessen Abgase in die Tanks hinein. In der Schwimmblase wird der Gasdruck erhöht. Das ist beachtenswert; denn immerhin gibt es Fische mit Schwimmblasen, die bis in 4000 m Wassertiefe abtauchen. Dort steht die Schwimmblase unter einem Druck von 400 atm (400 bar). Der Vergleich mit dem Autoreifen, der nur 2 bis 3 atm zu verkraften hat, ist allerdings insofern irreführend, als in der Schwimmblase keine oder nur minimale Druckdifferenzen zum umgebenden Medium herrschen, während den 2 bis 3 atm des Autoreifens der Außenluftdruck von 1 atm gegenübersteht. Immerhin muss der Fisch Gas in seine Schwimmblase freisetzen bei einem Druck, bei dem die physikalische Löslichkeit sehr hoch ist und entsprechend die Löslichkeit erst bei sehr hohen Gaskonzentrationen überschritten wird.
●
Unter 1000 m totale Dunkelheit: Man muss sich ganz auf seinen Tastsinn und seine Chemosensoren verlassen.
27.4.2 Für Vertikalwanderungen ist eine spezielle Auftriebsregelung notwendig Vertikalwanderungen frei lebender Arten verlangen spezielle Auftriebsregelungen. Rasches Hochholen überleben Tiefseetiere nicht. Bei der Auftriebsregelung geht es darum, die Dichte (spezifisches Gewicht, Masse pro Körpervolumen) zu variieren. Um Auftrieb zu erzeugen gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
Erstaunlicherweise ist es Sauerstoff, der in die Schwimmblase durch eine tiefrot gefärbte Gasdrüse abgeschieden wird. In dieser Drüse wird anaerob Milchsäure erzeugt; die freien Protonen H+ setzen aus dem Hämoglobin des Blutes, das die Drüse durchströmt, das gebundene O2 frei (Bohr-Effekt!). Damit nun dieses O2 nicht, seinem Partialdruckgefälle folgend, ins Blut übertritt, sondern in die Schwimmblase, sorgt ein Gegenstromsystem dafür, dass der in den venösen Kapillaren entweichende Sauerstoff über arterielle Kapillaren wieder in die Schwimmblase zurückgeführt wird (Abb. 27.5). Steigt ein Fisch aus tieferen Wasserschichten auf, dehnt sich die Blase; die Dichte des Fisches wird geringer; der Fisch droht wie ein losgelassener Korken an die Wasseroberfläche hochgetrieben zu werden. Der Fisch muss Gas ablassen, sei es durch den Mund (Physostomen), sei es vermittelt durch das Blut (Physoclisten). Durch Erzeugen oder Ablassen von Gas versucht der Fisch, seine Dichte so einzuregulieren, dass er in jeder Wassertiefe ohne Kraftaufwand schwebt.
27.5 Wechsel von Salzwasser zu Süßwasser und umgekehrt
Schwimmblase Gasdrüse
O2
HbO 2
O2
O2
O2
HbH +
O2
O2
O2 HbH +
O2
HbO 2 O2 H
Milchsäure
+
O2 O2
Glucose
Abb. 27.5. Gassekretion in der Schwimmblase zur Auftriebsregulation. Aus dem Blut wird Sauerstoff gasförmig in die Schwimmblase freigesetzt
27.5 Wechsel von Salzwasser zu Süßwasser und umgekehrt 27.5.1 Lachse, Aale und andere Fische wechseln das Lebensmilieu zweimal im Leben Fische, die im Verlauf ihres Lebens vom Süßwasser ins Meer oder umgekehrt vom Meer ins Süßwasser wandern, haben beträchtliche physiologische Leistungen zu erbringen. Ihre Wanderrouten sind weit, und es wird gesagt, dass Lachse von den Weiten der Ozeane an den Ort ihrer Geburt in einem ganz bestimmten Bergbach zurückkehren. Das verlangt ein unglaubliches Orientierungsvermögen. Darüber hinaus haben sich solche Wanderer zwischen zwei Welten an extrem unterschiedliche Salzgehalte des Wassers anzupassen. Im Salzwasser ist ihr Körperinneres hypoosmotisch. Das umgebende Meerwasser droht ihnen Wasser zu entziehen, die Fische sind in Gefahr wie ein schiffbrüchiger Mensch inmitten des Ozeans zu verdursten und auszutrocknen. Im Süßwasser ist ihr Körperinneres hingegen hyperosmotisch. Die Fische drohen von einströmendem Wasser aufgebläht zu werden und zu zerplatzen. Der Ichthyologe (Fischkundige) hat seine speziellen Begriffe:
●
Diadrome Fische wechseln zwischen Süß- und Salzwasser. − Katadrome Arten durchlaufen ihre Embryonalentwicklung und frühe Jugend im Meer, wandern zum Großwerden in Süßwasserläufe und kehren zum Laichen in das Meer zurück. Bekannteste Arten: die Süßwasseraale (Abb. 27.6). − Anadrome Arten schlüpfen im Süßwasserbach aus dem Ei, wandern als Jungfische die Flüsse herab ins Meer, um sich dort groß zu fressen. Voll mit Eiern oder Sperma kehren sie in die Flüsse und Bäche zurück. Beispiele: Neunaugen, Störe, Maifische und die Lachsartigen: Lachse, Meerforellen, Wandersaiblinge.
Aale haben gegenüber Lachs und Meerforelle ihre Lebensverhältnisse umgekehrt. Sie werden im Meer geboren, aber wo? Nach der am häufigsten vorgetragenen Auffassung kommen alle amerikanischen und europäischen Aale in der Sargassosee zur Welt. Die Sargassosee liegt südöstlich von Florida zwischen Hochatlantik und Karibik und umgibt die Bermuda-Inseln. Wo auch immer inmitten des Atlantiks die Aallarven schlüpfen, sie gehen einem abenteuerlichen Leben entgegen. Die durchsichtigen planktischen Larven ( Proleptocephalus, Leptocephalus), früher als eigene Tierarten betrachtet, lassen sich mit dem Lachse und Meerforellen sind sehr nahe miteinander verwandt und nur vom geübten Auge voneinander zu unterscheiden. Die Eier werden im Kiesbett klarer Bergbäche abgesetzt. Das laichende Weibchen schlägt eine Grube in das Kiesbett und setzt die Eier ab; das Männchen gießt seinen Samen darüber; die Grube wird mit feinem Kies abgedeckt. Der Jungfisch hält sich 1 bis 5 Jahre im Süßwasser auf und wandert dann ins Meer ab. Wohlgenährt und voller Eier oder Sperma kehren die Lachse in die Süßwasserflüsse und Bäche zurück, ohne sich mit Fressen aufzuhalten und ohne Hindernisse zu scheuen. Sie verlieren dabei ca. 40% ihres Gewichts. Eine Reihe von Markierungs- und Versetzungsstudien hat ergeben, dass zwar nur 100 von 1000 der einstmals ins Meer gewanderten Lachse es schaffen, zum Laichplatz zurückzukehren, dass diese 100 aber fast alle ihren Heimatbach wiederfinden. Seeforellen wandern von Bächen in Binnenseen und zum Laichen vom Binnensee in die Bäche zurück. Bachforellen bleiben ortstreu in Bächen. Regenbogenforellen sind Hybride zwischen einer amerikanischen Bachforelle und einer Meerforelle, ihr Wanderverhalten ist unberechenbar. Bisweilen wandern sie zum Leidwesen des Züchters und Anglers flussabwärts.
625
626
27 Ökophysiologie: Anpassungen an extreme und wechselnde Lebensräume Abb. 27.6. Aal: Entwicklung und Wanderungen
Laichgebiet Sargassosee (Karibik) für nordamerikanische Aale europäische ? Larve Hochsee
Glasaal an Küste
Küstenform, überwiegend männlich
Weg? Steigaal in Flüssen, überwiegend weiblich
Rückwanderung, darmlos
Gelbaal
Blankaal
Golfstrom im Uhrzeigersinn Richtung Amerika und Europa treiben, um dann die Flüsse an der Ostküste Nordamerikas oder die Flüsse an den Westküsten Europas und Nordafrikas zu besiedeln. Während ihrer Verfrachtung im Atlantik machen die Aallarven eine Metamorphose zum Glasaal durch und in der Schelfzone vor den Küsten eine Umwandlung zum Steigaal. Ein Jahr soll es dauern, bis die Aale vor
Genetische Studien machen eine bereits 1925 von einem Johannes Schmidt aufgestellte Hypothese wieder interessant, der amerikanische und europäische Aale für zwei Populationen hielt, zwischen denen es wenig, aber gelegentlich doch, Genaustausch gibt. Die amerikanische Population (geografische Rasse) habe ihr Geburtsareal in der Sargassosee, die europäische mutmaßlich nicht allzu weit davon entfernt. Bis heute ist der genaue Laichplatz der europäischen Aale unbekannt.
27.5 Wechsel von Salzwasser zu Süßwasser und umgekehrt
die Mündungen der amerikanischen Flüsse getrieben seien, drei Jahre bis zum Erreichen der europäischen Küste. Während die Männchen überwiegend in Küstennähe bleiben, dringen die Weibchen in die Süßwasserflüsse vor. In den Flüssen wächst der eingewanderte Steigaal zum Blankaal, auch Silberaal genannt, heran. Voll herangewachsen, ziehen die Flussaale wieder meerwärts. Männliche Meeraale wie weiblicher Flussaale verlieren ihren Darm und lassen auf seine Kosten die Gonaden heranreifen. Ohne Nahrungsaufnahme sollen die Aale zurück in die Sargassosee wandern. Freilich, gesehen hat sie noch niemand auf ihrer Rückreise. Erstaunlich bleiben zwei physiologische Leistungen allemal: die osmotische Adaptationsfähigkeit und die navigatorische Leistung (s. Kap. 24). 27.5.2 Man muss eigene Seewasser-Entsalzungs- und Salzgewinnungsanlagen haben Im Meer sind Blut und Cytosol der Zellen der Wanderfische, wie die Zellen der Knochenfische allgemein, gegenüber dem Seewasser hypoosmotisch. Der osmotische Wert des Fischfleisches liegt bei 300 bis 400 mosmol, der des Seewassers bei 900 bis 1300 mosmol. Das Meerwasser droht dem Fisch Wasser zu entziehen, andererseits dringen Ionen wie Na+ und Cl− in den Fisch ein. Was macht der Fisch? Fürs erste ist seine Haut, so glitschig und wässrig sie sich auch anfühlt, keineswegs wasserdurchlässig. Eine mächtige Schicht von Glykoproteinen bindet zwar viele Wassermoleküle, lässt sie aber nicht so leicht passieren. Das kommt dem Fisch im Salz- und im Süßwasser gleichermaßen zugute. Darüber hinaus kommt es zu aktiven Leistungen, die der Umgebung angemessen sind. Im Meer tut der Fisch etwas, was uns dringend abgeraten wird: Der Fisch trinkt Meerwasser. Er kann es tun, weil er Meerwasser entsalzen kann. Er befördert – wider unsere Erwartung – Na+ und Cl− über das Darmepithel ins Blut, H2O dringt nach. Dann jedoch werden in den Kiemen die aufgenommenen Ionen und dazu noch HCO3− und NH4+ hinausgepumpt, ohne dass zugleich Wasser im entsprechenden Ausmaß nach draußen herausgelassen wird. Verantwortlich für das wasserfreie Hinausbefördern der Ionen sind spezielle Zellen des Kiemen-
epithels, die man Chloridzellen (besser Ionocyten) nennt. Die Leistungsfähigkeit der Pumpen ist groß genug, um mit dem deionisierten Wasser auch den osmotischen Wasserverlust ausgleichen zu können. Auch Meeresvögel und Reptilien, die salzreiche Kost zu sich nehmen ohne Süßwasser zum Nachspülen zur Verfügung zu haben, besitzen eine Entsalzungsanlage: Es sind modifizierte Tränendrüsen (Abb. 27.7). Wenn Lachse oder Aale ins Süßwasser eindringen, wird die Arbeitsrichtung der Pumpen umgekehrt. Das Blut und die Körperzellen können auf 300 mosmol gehalten werden, weil die Ionenpumpen dem umgebenden Flusswasser Ionen entziehen und ins Blut befördern. Bei Bedarf wird nicht nur die Arbeitsrichtung der Pumpen, sondern auch die Zahl der Ionocyten erhöht. Beim adaptiven Wechsel von Salz- zu Süßwasser und umgekehrt wird eine hormonale Steuerung vermutet, wobei Cortisol und Prolactin eine antagonistische Funktion ausüben sollen. Prolactin wird auch als hormonelles Steuersignal gebraucht, wenn Amphibien ihren Lebensraum wechseln.
Entsalzungsorgane Abb. 27.7. Entsalzungsorgane beim Seevogel und Fisch (Aal)
627
628
27 Ökophysiologie: Anpassungen an extreme und wechselnde Lebensräume
27.6 Wechsel von Land zu Wasser und umgekehrt: Beispiel Amphibien
●
Magnetkompass zur Anfangsorientierung (Evidenzen gibt es für die Erdkröte Bufo bufo), dann der
●
Geruch. Auch wenn der Teich frisch zugeschüttet ist, haben doch das umgebende moorige Gelände, modrige Pflanzenreste und verbliebene Sumpfpflanzen charakteristische Gerüche. Man kann sich selbst davon überzeugen: Manche Sumpfpflanzen riechen intensiv, ja stechend, und möglicherweise könnte auch ein geübter blinder Mensch einen nahen Teich mit der Nase finden. Seen und Meere riechen auch, aber anders.
●
In der Nähe schließlich kann man sich optisch orientieren.
27.6.1 Metamorphose beinhaltet nicht nur einen tiefgreifenden Wandel der Gestalt, sondern auch der Physiologie und Lebensführung Eine Kaulquappe verwandle sich in einen Frosch oder eine Kröte. Dem Leben im Wasser folgt ein Leben in feuchter oder gar trockener Luft. Die ökologische Nische einschließlich der Nahrung wird gewechselt. Die Metamorphose erfordert eine Umgestaltung auf jedem organismischen Niveau: von der äußeren Morphologie über die Physiologie bis zur Änderungen in der Enzymausstattung der Zellen. Diese Totalumstellung wird hormonal über die Hormone Thyroxin und Prolactin gesteuert. Eine Zusammenfassung findet sich in Abb. 11.21. 27.6.2 Adulte Amphibien kehren jährlich in ihr Heimatgewässer zurück – mit Ausnahmen Was motiviert Salamander und Molche, Kröten und Frösche in jedem Frühjahr an bestimmten Tagen ihr Heimatbächlein oder ihren Heimattümpel aufzusuchen? Und wie finden die ortstreuen Seelen den Weg zum angestammten Heimatgewässer zurück? Wenn nach dunklen und kalten Tagen die Lichtintensität wieder zunimmt und die Temperatur gegen 10°C steigt, setzt die Hypophyse TSH und Gonadotropine frei. Als Folge sendet die Schilddrüse Thyroxin (T4, dann T3) aus und die Gonaden produzieren Östrogene oder androgene Steroidhormone. Bei einer Umgebungstemperatur von 10°C und hoher Luftfeuchtigkeit (Regen) beginnt die Wanderung, bevorzugt nachts. Der heimatliche Tümpel mag 3 km entfernt sein. Optische Ortung kommt also zunächst nicht in Betracht. Sogar (beim Straßenbau) zugeschüttete Tümpel werden angesteuert. „Riechen von Wasser“ – im Regen problematisch – kann auch nicht zum Ziel führen. Eine Mischung von experimentellen Daten und Spekulation führt zur derzeitigen Auffassung, dass mehrere Sinnesmodalitäten von Bedeutung sind:
Allzu große Ortstreue ist biologisch nicht erwünscht; sie würde zur Inzucht führen. Und so kommt es, dass bisweilen doch ein fremder Frosch oder Molch im Gartenteich auftaucht.
27.7 Wechsel der Lebensweise: freier Vagabund oder sesshaft 27.7.1 Erst lebt man frei, dann sitzt man: vom pelagischen zum sessilen Leben In unseren Meeren gibt es viele sessile Lebewesen. Man denke an ein Korallenriff. Man denke an Felsen und Steine der Uferzone, an Buhnen und Pfähle im Hafenbecken, und an Schiffswände und Schiffsböden: Sie sind überzogen von Schwämmen, Stöcken von Hydrozoen, solitären Weichkorallen (Seerosen etc.), kolonialen Weich- und Hartkorallen, solitären und kolonialen Seescheiden (Tunicata: Ascidia), von Bryozoen (Moostierchen) und vielen weiteren Tieren, die nur der zoologisch gebildete Meeresbiologe sogleich als Tier erkennen und mit Namen belegen kann. Dem Taucher sind solche Welten eine Freude, dem Schiffseigner und Kapitän ein Greuel, weil sie den Strömungswiderstand der Schiffe beträchtlich erhöhen (fouling-Problem = Aufwuchsproblem). Im Lebenscyclus sessiler Arten gibt es stets Formen, die frei beweglich sind. Im Generationswechsel der Scyphozoen sind es die Großformen der Quallen,
27.7 Wechsel der Lebensweise: freier Vagabund oder sesshaft
die ihrerseits Eier oder Sperma produzieren. Aus den befruchteten Eiern entstehen kleine, einfach strukturierte aber frei bewegliche Planulalarven. Auch wenn kein Generationswechsel vorliegt, gibt es im Lebenszyklus aller sessilen tierischen Organismen stets eine frei lebende Larve, die sich dann im Zuge einer Metamorphose in die sessile Adultform verwandelt. Diese Larve hat die Aufgabe, einen geeigneten Lebensraum für die Adultphase ausfindig zu machen. Nach der Metamorphose kann der festgewachsene Organismus eine falsche Wahl nicht mehr korrigieren. Wie findet die Larve den geeigneten Lebensraum? Die Lösung des Problems sind spezifische, entwicklungssteuernde Schlüsselreize, die von besonderen Sinneszellen wahrgenommen werden.
kleine Hydra aussehen, und aus Geschlechtspolypen. Die Entwicklung dieses sessilen Lebewesens wird mehrfach durch externe und zum Schluss durch ein internes Triggersignal gesteuert (Abb. 27.8): ●
Das Licht der aufgehenden Sonne löst das Ablaichen aus. Aus den befruchteten Eiern entwickeln sich frei bewegliche Planulalarven, die auf dem Untergrund umherkriechen.
●
Zieht ein Einsiedlerkrebs sein Gehäuse an der Larve vorbei, veranlasst ein mechanischer Reiz die Larve, aus bestimmten Nesselkapseln Haftfäden auszuschleudern: die Larve klebt an der Schneckenschale.
●
Chemosensorische Sinnesnervenzellen am Vorderpol der Larve prüfen die Oberfläche der Schneckenschalen. Diese neurosensorischen Zellen können anhand einer charakteristischen Substanz die Anwesenheit bestimmter Bakterien erkennen. Bei diesen Bakterien handelt es sich ihrerseits um sessile Formen, die sich vom organischen Periostrakum der Schneckenschalen ernähren.
●
Haben die sensorischen Nervenzellen der Larve die Anwesenheit solcher Bakterien festgestellt, setzen sie am Ende ihrer Axone ein Neuropeptid frei.
27.7.2 Das Sesshaftwerden ( settlement): ein unauffälliges Ereignis und doch kommt nochmals die ganze Physiologie zum Zuge Ein Beispiel: In den Wattenmeeren der Nordsee findet man häufig Schneckenschalen, die von Einsiedlerkrebsen bewohnt und von einer Hydrozoenkolonie überzogen sind. Die Hydrozoenkolonie, Hydractinia echinata, besteht aus Nährpolypen, die wie eine
2
Abb. 27.8. Physiologie im Kleinformat. Settlement, Metamorphose, Gründung einer Kolonie und Beginn einer (fakultativen) Symbiose bei dem Hydrozoon Hydractinia echinata. Die frei lebende Larve nimmt mit Mechanosensoren das Vorbeigleiten eines Wohnmobils wahr, verankert sich auf ihm und erspürt dort mit Chemosensoren die Präsenz bestimmter Bakterien, die ihr günstige Lebensbedingungen anzeigen. Die Chemosensoren entlassen ein Neurohormon als internes Startsignal der Metamorphose. Der aus der Metamorphose hervorgehende Hydropolyp wird zum Gründer einer neuen Kolonie
Freisetzung von Neuropeptiden
4 Gründerpolyp 3 Metamorphose
Neurosekretorische Chemosensoren Einsiedler
AlteromonasBakterien
5 1
1 Junge HydractiniaKolonie
Haft-Nesselfäden Planula
Chemosensoren
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27 Ökophysiologie: Anpassungen an extreme und wechselnde Lebensräume ●
Das Neuropeptid fungiert als internes hormonartiges Signal. Es triggert und synchronisiert die Metamorphose.
In ähnlicher Weise wird die Metamorphose der Larven von Scyphopolypen ( Cassiopea), Austern, Seescheiden und Seeigeln durch chemische, von Bak-
Zusammenfassung des Kapitels 27 Extreme Lebensumstände erfordern spezielle physiologische Anpassungen. In großer Kälte werden Heizöfen gebraucht wie braunes Fettgewebe, in dem der oxidative Stoffwechsel der Mitochondrien durch Entkopplung der ATP-Synthese Wärme produziert. Wärme-Gegenaustauschsysteme im Blutkreislauf vermindern Wärmeverlust in exponierten Körperteilen, z. B. im Vogelbein oder der Delphinflosse. Erniedrigung der Körpertemperatur (Torpor) im Winterschlaf hilft Fledermäusen und anderen Kleinsäugern Energie zu sparen, ebenso wie täglicher, vorübergehender Torpor, den auch Kolibris zum Überleben der kühlen Nacht einschalten. Gefrierschutzmittel ermöglichen Fischen, Amphibien und Insekten den Winter zu überstehen. Besonders effektiv sind niedermolekulare Substanzen mit vielen OH-Gruppen wie Glycerol und spezielle anti-freeze-Proteine AFP, die Eisbildung verhindern. Sehr seltene gefriertolerante Arten vertragen gar vollständiges Eingefrieren. In extremer Hitze lebende Säuger wie Gazelle und Kamel haben Wärmetauscher im Nasenraum, die für die Kühlung des Blutes vor dessen Eintritt ins Gehirn sorgen und Wasser aus der Atemluft zurückgewinnen. Fett ist ein indirekter Wasservorrat, weil die Oxidation von 1 g Fett 1 ml Wasser liefert. Bei biotopbedingter Sauerstoffarmut (Hypoxie) oder Sauerstoffmangel (Anoxie) werden anareobe Stoffwechselwege mit modifizierter Glykolyse eingeschaltet, die zu Opinen statt zu Lactat führen, unter Einbeziehung von Teilen des Citratcyclus weitergeführt werden und bei organischen Säuren wie Butter-, Essig- oder Propionsäure enden. Die ATP-Ausbeute ist 2 bis 3 mal so hoch wie bei der konventionellen Glykolyse. In großen Höhen mit ihrem geringen O2Gehalt lebende Säuger wie Yak und Lama, und
terien der Umwelt ausgehenden Signalen ausgelöst und gesteuert. In anderen Fällen gehen die Signale von Algen oder sonstigen Substraten aus. Bei der Auslösung der Metamorphose all dieser Organismen überlagern sich Sinnesphysiologie, Endokrinologie und Entwicklungsbiologie.
ebenso Vögel haben Isoformen des Hämoglobins mit erhöhtem O2-Bindevermögen. Als Fetus im Mutterleib hat auch der Mensch solch hochaffines Hb, tauscht es aber nach der Geburt gegen adultes Hb, weil dieses Sauerstoff zwar schlechter bindet, aber besser wieder abgibt. Viele Fische in warmen, austrocknenden Gewässern haben Möglichkeiten der zusätzlichen Luftatmung entwickelt, darunter auch Lungen (Lungenfische). Hingegen können manche Fische durch Sekretion von O2 in ihre Schwimmblase hinein Auftrieb erzeugen. Die Tiefsee mit ihrem enormen Druck erzwingt Anpassungen selbst auf molekularem Niveau, weil viele normale Zellstrukturen wie Mikrotubuli bei hohen Drücken zerfallen. Diadrome Fische wechseln zwischen Salzund Süßwasser. Unter ihnen verbringen die katadromen Arten wie die Süßwasseraale ihre Jugend im Meer, die anadromen wie Lachs, Meerforelle und Maifisch hingegen im Süßwasser. Die Anpassung an den jeweiligen osmotischen Wert des Wassers geschieht mittels Ionenpumpen, die im Darm- und Kiemen-Epithel lokalisiert sind und je nach Bedarf als Seewasserentsalzungsanlagen oder Salzgewinnungsanlagen funktionieren. Benthische, sessile Lebewesen wie Kolonien von Schwämmen, Korallen, Hydrozoen und Tunikaten besitzen durchweg frei bewegliche Larven, denen die Aufgabe zukommt, einen geeigneten Lebensraum ausfindig zu machen. Sie orientieren sich an bestimmten Schlüsselreizen der Umwelt, oft am spezifischen bakteriellen Überzug des besiedlungsfähigen Substrates. Die mittels Sinneszellen wahrgenommenen Schlüsselreize führen zur Freisetzung interner, die Metamorphose einleitender Signale, beispielsweise von Neurohormonen, wie am Beispiel des in der Nordsee vorkommenden Hydrozoons Hydractinia aufgezeigt wird.
Anhang: Maßeinheiten und einige Standardwerte der Physiologie
Maßeinheiten Grundsätzlich werden in der Physiologie die Internationalen Einheitensysteme (Système Internationale d’Unité; SI-Einheiten) benutzt, wie sie vom Physikbuch der Schule geläufig sind.
Volumina:
1 l (Liter) = 1000 ml = 106 μl 1 ml (Milliliter) = 1000 μl = 106 nl
Masse:
1000 kg = 1 Tonne 1 kg = 1000 g; 0,1 kg = 100 g 1 g = 1000 mg = 106 μg
Molekularmasse: mol (Erläuterung siehe unten)
Basiseinheiten Masse Länge Zeit Elektr. Stromstärke Temperatur Substanzmenge
Kilogramm Meter Sekunde Ampere Kelvin Mol
kg m s A K mol
Aus Basiseinheiten abgeleitet: Kraft (F) = Masse × Beschl.: N (Newton) kg × m/s2 Energie (E), Arbeit (W): J (Joule) N × m kg × m2/s2 Leistung (P) =
Masse × Beschl. × Weg Arbeit = Zeit Zeit
Konzentration: M = mol/l mM = 10–3 M = 1 mmol/l μM = 10–6 M = 1 μmol/l Frequenz:
Hertz (Hz) = Ereignisse/s
Stoffmengen und Konzentrationen Wo immer möglich, werden Stoffmengen in mol und Stoffkonzentrationen in mol/Liter (Molarität) oder mol/kg (Molalität) angegeben. Massenmengen, z. B. 100 g Fett, oder Massenkonzentrationen, z. B. 1 ng Substanz X /ml, sollten nur verwendet werden, wenn die Molekularmasse (Molmasse, Molekulargewicht) nicht definierbar ist (Fett ist kein einheitliches Molekül) oder noch unbekannt ist (Substanz X).
P = m2 × kg/s3 = Joule/s = Watt Druck (p): auch:
1 Pa (Pascal) = 1 N/m2 = 1 kg/m/s2 1 bar = 100 kPa 1 atm = 101 kPa 1 mmHg = 1 Torr = 133,3 Pa 1 mm H2O = 9,8 Pa
Wärmemenge: Wird angegeben in J (Joule) auch: Kalorie 1 cal = 4,19 J Temperatur in Celsius: K (Temperatur in Kelvin) – 273,15
Wie man die Molekularmasse 1 mol errechnet Man muss die Summenformel eines Moleküls kennen und die relativen Atommassen der Atome, aus denen ein Molekül besteht. Die Summenformel errechnet man aus der Struktur des Moleküls (s. Biochemie-Lehrbuch), die Atommassen entnimmt man einer Tabelle (im Kopf oder der Tabelle A2).
632
Anhang: Maßeinheiten und einige Standardwerte der Physiologie
Berechnung der Molekularmasse (Molmasse, „Molekulargewicht“),
Hinweise ●
Es wird in Schritten von je drei Zehnerpotenzen skaliert. In welchem Bereich der Skala man sich befindet, wird durch die Vorsilbe angegeben. Die Standardvorsilben sind in Tabelle A1 aufgelistet. Aus der Skalierung folgt, dass z. B. 0,1 mg = 100 μg sind.
●
Bei biologischen Wirksubstanzen gelten Konzentrationen als physiologisch vertrauenserweckend, wenn sie im mikro-, nano- oder picomolaren Bereich liegen.
Beispiel Glucose: Summenformel C6H12O6 Kohlenstoff: rel. Masse 12 × 6 = 72 Wasserstoff: rel. Masse 1 × 12 = 12 Sauerstoff: rel. Masse 16 × 6 = 96 Summe Molekularmasse Mr = 180 (Veraltet: 180 Dalton; Dalton = 1/12 Masse des Kohlenstoffs)
Ionen-Mengen und Konzentrationen
Daraus abgeleitete Substanzmengen, Beispiel Glucose
Bei Ionen sind neben mol auch val im Gebrauch, wobei das val die Wertigkeit (Valenz) eines Ions berücksichtigt. 1 mol Natrium-Ionen (einwertig) = 1 val Na+ = 23 g 1 mol Calcium-Ionen (zweiwertig) = 2 val Ca2+ = 40 g 1 mol Calciumchlorid CaCl2 = 40 + 2 × 35,5 =111 g 1 molare Lösung von CaCl2 = 111 g/l
1 mol = 100 mol = 180 g 1 mmol = 10–3 mol = 180 mg 1 μmol = 10–6 mol = 180 μg 1 nmol = 10–9 mol = 180 ng
Wie man Lösungen einer bestimmten Konzentration herstellt Molekularmasse Mr/l; Beispiel Glucose Mr = 180
Einige Hinweise, wie man mit Messwerten umgeht
180 g/l = 1 M = 1 molare Lösung 180 mg/l= 1 mM = 10–3 M =1 millimolare Lösung 180 μg/l = 1 μM = 10–6 M =1 mikromolare Lösung 180 ng/l = 1 nM = 10–9 M =1 nanomolare Lösung 180 pg/l = 1 pM = 10–12 M =1 picomolare Lösung
Streubreiten und Standardabweichung. Messungen sind grundsätzlich mehrfach zu wiederholen. Bei Wiederholungen werden die Messwerte aus vielerlei Gründen nicht exakt gleich ausfallen. Man muss mit einer gewissen Streuung der Werte leben. Die Streubreite wird im Text z. B. so angegeben: Herzschlagfrequenz 70 ± 16; im Graphen wird ein senkrechter Fehlerbalken eingezeichnet, der vom gemittelten Wert (hier 70) nach oben zeigt, und ein
Tabelle A1. Vorsilben und Symbole für die Skalierung von Maßen Vielfaches
Bruchteile
Vorsilbe
Symbol
Faktor
HektoKiloMegaGigaTera-
H k M G T
102 103 106 109 1012
Hundert Tausend Million Milliarde Billion
Vorsilbe
Symbol
Faktor
ZentiMilliMikroNanoPico-
c m μ n p
10−2 10−3 10−6 10−9 10−12
Hunderstel Tausendstel Millionstel Milliardstel Billionstel
Anhang: Maßeinheiten und einige Standardwerte der Physiologie Tabelle A2. Relative Atommassen (gerundete Werte) Kohlenstoff Wasserstoff Sauerstoff Stickstoff Phosphor Schwefel
12 (vereinbarte Referenz) 1 16 17 31 32
Natrium Kalium Calcium Magnesium Chlor(id)
Fehlerbalken, der nach unten zeigt. Diese so gekennzeichnete Streubreite gibt nicht die gemessenen Extremwerte (Variationsbreite) wieder, sondern in aller Regel die Standardabweichung, d. h. der Bereich, in dem 68% der Messwerte liegen. Im vorliegenden Fall liegen 68% der Messwerte im Bereich von 54 bis 86 (70 − 16 bis 70 + 16); der Mittelwert ist 70. Dosis-Wirkungskurven. Wird die Funktion einer Substanz getestet, beispielsweise der Einfluss von Adrenalin auf die Herzschlagfrequenz geprüft, so ist man stets bemüht, Dosis-Wirkungskurven zu erstellen. Die zu testende Substanz wird in verschiedenen Konzentrationen zugeführt und die Reaktion auf jede einzelne Konzentration mehrfach gemessen. Bei der graphischen Darstellung der gemittelten Messwerte (mit Standardabweichung) ergeben sich nicht selten Optimumskurven, d. h. eine bestimmte mittlere Konzentration liefert den stärksten Effekt. Noch häufiger sind Sättigungskurven: Im Bereich geringer Konzentrationen nimmt mit steigender Dosis (Dosis: verabreichte Menge) die Reaktion, z. B. die Herzfrequenz, deutlich zu, im Bereich hoher Dosen sind jedoch mit weiter steigender Dosis zunehmend geringere Zugewinne zu erzielen. Zur Darstellung solcher Zusammenhänge eignen sich Graphen mit logarithmischer Einteilung einer oder beider Koordinaten. Beispielsweise wird
die applizierte Dosis auf der Abszisse (X-Achse) in einer Skala wiedergegeben, in der die Dosis von Skalenstrich zu Skalenstrich um je 1 Zehnerpotenz zunimmt, während die Ordinate (Y-Achse) die gemessene Reaktion in linearer (oder ebenfalls in logarithmischer) Skala wiedergibt. Potenzen und Logarithmen, Erinnerungen an den Schulunterricht. Logarithmische Skalen bzw. Skalen mit Einteilungen in (Zehner-)Potenzen sind in den Naturwissenschaften im Allgemeinen und in der Physiologie im Besonderen sehr häufig. Die bekannteste logarithmische Skala dürfte die pH-Skala sein (Tabelle A3). Potenzen. Den Umgang mit Potenzen rufen wir mit einigen Beispielen in unser Gedächtnis zurück: 100 = 1; 101 = 10; 102 = 100; 103 = 1000; 104 = 10000; usf. 100 = 1; 10–1 = 0,1; 10–2 = 0,01; 10–3 = 0,001; usf. 1000 = 103 = 10 × 102 1243 = 1,243 × 103 = 12,43 × 102 0,001 = 10–3 = 10 × 10–4 0,045 = 4,5 × 10–2 = 45 × 10–3 102 × 103 = 102+3 = 105 10–5/10–6 = 10–5–6 = 10–11
Tabelle A3. pH-Werte und zugehörige H+- bzw. OH–-Konzentration pH Wert Konz. H+ in mol/l Konz. OH– in mol/l 1 2 2,6 4,7 7 7,2–7,6 8 8,0–8,4 8,3 11 11,3 12 13
10−1 10−2
10−13 10−12
10−7
10−7
10−8
10−6
10−11
10−3
10−12 10−13
10−2 10−1
23 39 40 24 35,5
Beispiele 0,1 M Salzsäure HCl 0,01 M Salzsäure HCl 0,1 M Citronensäure 0,1 M Essigsäure + 0,1 M Na-Acetat reines, entgastes H2O Blut 0,1 M Kaliumhydrogencarbonat Meerwasser 0,1 Natriumhydrogencarbonat 0,1 Natriumcarbonat 0,1 M Ammoniakwasser 0,01 Natronlauge NaOH 0,1 M Natronlauge NaOH
633
634
Anhang: Maßeinheiten und einige Standardwerte der Physiologie ●
Herz-Ruhepuls:
●
Arterieller Blutdruck:
●
Herzminutenvolumen: 5 l/min (Ruhe) bis 25 l/min (maximal)
●
Blutvolumen:
4,5 l (Männer), 3,6 l (Frauen)
●
Erythrozyten/μl:
Logarithmen. Man rechnet nur mit den Hochzahlen (Exponenten) und denkt sich die Basis hinzu.
4,6–6,2 × 106 (Männer), 4,2–5,4 × 106 (Frauen)
●
Sauerstoffkapazität:
180–200 ml O2/l Blut
●
Beim dekadischen Logarithmus log (oder lg) ist die Basis 10;
●
Blut-Glucose:
4–5 mmol/l
●
Cholesterin:
<200 mg/dl
●
Beim natürlichen Logarithmus ln ist die Basis e = 2,718.
●
Triglyceride:
<150 mg/dl
●
Osmolalität:
280–300 mmol/kg H2O
Tabelle A4. Umgang mit dem dekadischen Logarithmus log 1 = 0 log 10 = 1 log 100 = 2; log 100 = 3; usf. log 0,1 = – 1 log 0,01 = –2; log 0,001 = – 3; usf log (ab) = log a + log b log (a/b) = log a – log b log ab = b log a
Beispiele mit dekadischem Logarithmus: 100 = 102; log 100 = 2 1000 = 103; log 1000 = 3 1243 = 1,243 × 103; log 1243 = 3,094471 (laut Taschenrechner); weitere Beispiele s. Tabelle A4
● ● ●
Einige Normwerte, gültig für den erwachsenen Menschen
●
Atemfrequenz in Ruhe:
16/min
●
Atemtotalkapazität:
7,0 l (Männer), 6,2 l (Frauen)
●
Atemzugvolumen in Ruhe:
0,6 l (Männer), 0,5 l (Frauen)
●
Atemzugvolumen maximal:
5,6 l (Männer), 5,0 l (Frauen)
120 mmHg systolisch, 80 mmHg diastolisch
Sonstige Flüssigkeitsmengen
●
Atmung-Herz-Kreislauf-Blut
60–75/min
Magensaft: 2–3 l/d Magen pH: 2–3 Pankreassaft: 2 l/d Harnmenge: 0,5–2,7 l/d Energieumsatz
Ruhegrundumsatz: in Watt: Schwerarbeit: in Watt: 100-m-Lauf:
Männer 7100 kJ/d 85 W 20000 kJ/d 240 W 2000 W
Frauen 6200 kJ/d 75 W 15000 kJ/d 180 W
Nervensystem ● ●
Sendefrequenz in Nervenfasern: Leitungsgeschwindigkeit:
bis 300 Hz bis 90 m/s
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Sachverzeichnis Seitenzahlen mit A = Abbildung Tafel = Farbtafel
Aale, Entwicklung, Wanderungen 597–598, 601, 625–627, 626A Ableitung bioelektrischer Signale 334A–335A, 337A AB0-Blutgruppen 183, 188 Abstraktion beim Sehen 560 Abwehrsysteme gegen Viren u. a. 178–179, 187; s. auch Immunologie 157ff Acetat, Essigsäure als Stoffwechselprodukt 41, 620A Acetessigsäure 111, 116A Aceton bei Diabetes 116A, 123 Acetylcholin 242A, 248–249, 250, 358, 361, 362A, 363, 368A, 402 Acetylcholinesterase 360 Acetylcholin-Rezeptor ACH-R 363, 368A–369A, 390A, 402 – nicotinischer 363 – muscarinischer 363, 390A Acetyl-CoA, aktivierte Essigsäure 32, 36A, 38, 41, 74, 108, 110A, 111, 116A, 118A, 123 ACH, ACH-R; s. Acetylcholin, Acetylcholin-Rezeptor Achillessehnen-Reflex 386A, 387 Acetaldehyd 122 ACTH Adrenocorticotropes Hormon 268A, 270A, 272, 274 – Tagesschwankungen 272, 323A, 324 Actin, Actinfilament 56, 58A, 57, 374A–375A, 376ff Actin-Myosin-Motor 57–59, 58A, 375A, 375–380, 378A, 401 Adaptation, Anpassung – an Helligkeit 510, 517–518, 545 – an Hitze 617–619 – an Höhen 213, 214, 623 – an Kälte 611–617 – an Salzgehalt 625–628 – an Sauerstoffarmut 619–623 – an Wassertiefe 623–625 – im Nervensystem 367 Adenohypophyse, Hypophysenvorderlappen 267A, 268, 273, 298, 299 Adenosin als Schlafhormon 325 Adenylatcyclase 303, 304A ADH Adiuretin, Antidiuretisches Hormon 153–154, 156, 260, 267A–268A, 270A, 272, 277, 299–300 – Tagesschwankungen 323 Adipocyte 111, 115A, 279A ADMR, average daily energy expenditure 48 Adrenalin 114, 116, 224, 233, 241, 245, 249, 255, 271A, 281, 282A, 300 Adrenalin-Rezeptoren 249, 302A Alkohol (Ethanol) 122, 154, 620A, 622, -dehydrogenase 320
adrenerg 249, 363 Aequorea victoria 360, 580, Tafel 27 Aequorin 360, 581A Afferenz 387 Aflatoxin 118 AFP Anti-freeze proteins 615A, 616, aglanduläres Hormon 273, 298; s. auch Gewebshormon Agnosie 557 AIDS, acquired immunodeficiency symptoms 179, 188 Akklimation an Höhen 215–216 Akkommodation des Auges 515, 516A Akromegalie 273 Aktionspotentiale 336, 349–353, 350A, 352A, 380, 381A – im Herz 396–397 Aktionsspektrum 317 aktiver Transport 67–68, 102 Aktivierungsenergie 23 Alanin als Stickstoff-Träger 120, 121A, 129, 155 Alano-Opin 620A Albumin 117 Aldosteron 153–154, 277, 282, 298, 300 Allantoin, Allantoinsäure 127 Allergene, Allergie 171, 185–186 Alles-oder-Nichts-Prinzip 352 Allomone 582, 585 Allosterie, beim Hämoglobin 199, 199A, 214 alpha-(α-)Ketoglutarat 36A, 41, 74, 78, 110A, 120 alpha-(α-)Zellen, A-Zellen des Pankreas 278, 279A alpha-Reductase 284A alpha-Rezeptoren für Adrenalin 250A Alveolen 196A AM, Amplituden-Modulation, AM-Potentiale 353, 355, 364, 365A, 371, 406A, 409 Amakrine, amakrine Neurone 528A AMFD Anti-Müllerian-duct factor 283 Amine, biogene 361 aminerg 363 Aminosäuren AS als Nahrung 71, 73, 105, 108A, – essentielle 71A – Exkretion 125, 135, 137, 146, 155 – glucogene 110A, 123 – Transmitter 358, 361, 362A Aminosäuren-Derivate – als Hormone 262, 299 – als Transmitter 361, 362A Ammoniak 121, 125, 126A, 127, 127A, 128–129, 155 Ammoniotelie, ammoniotelische Tiere 126A, 129, 155
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Sachverzeichnis Ammonium-Ion 120, 127, 127A, 128, 150 – als Nervengift 128 Amnesie, anterograde, retrograde 567, 570 AMPA-Rezeptor(kanal) 364, 574A Amplituden-Modulation AM, AM-Potentiale 353, 355, 364, 365A Ampullen der Bogengänge 435, 435A–436A, 440 Ampullenorgane, Elektrosensoren 496–497, 498A Amygdala 269, 569, 570A Amylasen 87, 98A Amylose, Amylopektin 93A, 98 anadrome, diadrome, katadrome Fische 625– 626 Anaerobiose 40, 619–621 – anaereober Stoffwechsel 620A Androgene Sexualhormone 282, 284A–285A – Androstendiol, -dion 284A – Androstenon 284A, 482 – Androsteroide 284A, 480 angeboren kontra erlernt 576–577 Angina pectoris 247 Angiotensin 135, 152, 153A, 154 animal, Definition 71 Anionen, Kationen 62, 73, 330, 338 Anode, Kathode 324 Anopien 527 Anoxie, Anoxybiose 40 Antennen der Insekten 491 Anti-freeze proteins AFP 615A, 616 Antigene 164, 164A, 165, 187 Antigen-präsentierende Zellen APC 175A–176A, 175–177, 182A, 187, 310 Antikörper 162, 164, 166A, 187 – Funktionen 168ff – genetische Programmierung 166–168, 166A – monoklonale 186 antimikrobielle Peptide 159 Antiport 67, 67A, 102, 137A APC antigen-presenting cells 175A–176A, 175–177, 182A, 187, 310 Apis mellifica; s. Biene Aplysia californica 429A, als Lernmodell 573A, 674A Apnoe, apnoisches Tauchen 209, 210 apolare, polare Substanzen 61 Apolysis 295 Apolipoprotein 101 Apoptose in Darmzotten 87; im Immunsystem 182, 188 Appendix, Blinddarm-Wurmfortsatz 96, 163 Appetit, Appetitzentrum 104A, 279, 280A Aquaporine (Wasserkanäle) 62, 129, 138A, 149, 156 Arachidonsäure 71, 247, 263, 271A, 305A Arachidonsäure-Derivate 247, 263, 271A, 299 Araschnia levana, Landkärtchen 600, 601A Arbeit, physikalische, physiologische 9ff Arbeitsgedächtnis 568, 570 Aromatase 284A, 285A Arrestin 509A, 512 Arterien, Arteriolen 226A, 233 Arteriosklerose 117, 119A
Ascorbinsäure 80; s. auch Vitamin C Aspartat als Transmitter 361 Assimilation 1 Assoziation 572, 575 Asthma bronchiale 251 Astrocyten 368 Atemgase 195A Atemmechanik 203–205, 204A, 207A, 214 Atemmuskulatur 204A Atemorgane 193, 202–206 Atem-Rhythmusgenerator 206, 214, 243A, 246 Atemventilation 189, 194, 195A Atemzugvolumen 203 Atherosklerose 117, 119A Atmung, äußere 189–214 Atmung, innere 2, 41–46 Atmungskette 31–32, 34, 71, 42–43, 195A Atmungspumpe 229, 233 Atmungsregelung,-steuerung 206, 214, 243A ATP, ADP 1, 26, 32, 33A, 34, 37, 40, 42, 44, 53, 151, 214 – ATP-Synthase,-Synthese 34, 36A, 42–44, 53, 56A – ATP-Tagesumsatz 48 – im Muskel 377–379, 378A – im anaeroben Stoffwechsel 620, 621 – als Transmitter 361, 362 ATPasen, P-Typ, V-Typ, F-ATPase 34, 56, 68–69, 137A Atropin, Atropa belladonna 369A Attacine 159 Audiometrie 447 auditiv, auditorisch 443 Auditorischer Cortex 556A Auerbachsche Plexus, myenterischer Plexus 86, 244 Auge der Insekten 538–546 Auge der Wirbeltiere – Abbildung 408 – Absorptionskurven 524, 525A – Akkommodation 515, 516A – Augenbewegungen; s. Nystagmus, Sakkaden – Augentypen 512–513, 532A–534A – evers, invers, Octopus, Mensch 534A, 536 – Evolution 532A, 537–538 – Bild-, Formen-, Muster-, Bewegungssehen 512–515 – dioptrischer Apparat 513, 536 – Fovea centralis 513, 514A–515A, 529, 545 – blinder Fleck, Macula lutea 513, 514A, 518 – Helligkeitsadaptation 510 – Lichtempfindlichkeit 517–518 – Nystagmus 438, 515 – Retina, Netzhaut 514A, 515A, evers, invers 534A – Sakkaden 515 – Sehfarbstoff 78, 105, 302A, 507A, 507–509, 509A – Sehschärfe, Auflösung 513A Autoimmun-Krankheit, -Reaktion 184–185, 188 Autokatalyse 25, 97 autokrin, Definition 263, 264A, 298 Autonomes, autarkes Nervensystem 133, 240–251
Sachverzeichnis Autophosphorylierung 308 autotroph 71 AV-(Atrioventrikular)-Knoten 396, 397A Avogadro-Gesetz, -Konstante 191 Axon 349, 352, 359A, 365A, 406A Axonhügel 349, 359A Azidose 389, 621 Bahnung an Synapsen 574 bakterizide Peptide 159, 187 Ballaststoffe 94 Barorezeptoren 243, 247 Barotrauma 211 Basalganglien 569, 570A Basedow-Syndrom 275 Basilarmembran im Innenohr 453, 454A–456A, 471 Bauchspeicheldrüse, Pankreas 86, 87A, 98, 106, 114, 115A, 299 BCR, B-Zell-Rezeptor 165, 166A, 167, 176, 178, 180A, 187 BDNF brain-derived-neurotrophic factor 362; s. auch Neurotrophine Begleitarterie 229A, 233 Bekesy, Georg von 458 Belegzelle 88A Bernoulli-Effekt, -Gesetz 218, 219A, 233 Bernsteinsäure; s. Succinat Bestfrequenz BF 455A, 460 beta-(β-)Endorphin 269, 270A; s. auch Endorphin beta-(β-)Glucane 158 beta-(β-)Hydroxybuttersäure 116A beta-(β-)Mikroglobulin beta-(β-)Oxidation 38 beta-(β-)Zellen, B-Zellen des Pankreas 278, 279A Bewegungsdetektoren 555 Bewusstsein 561ff Bicarbonat; s. Hydrogencarbonat Biene, Honigbiene Apis mellifica 585–591, 586A, T31 – Ammenmilch 585 – Bienenstaat 585ff – Farbensehen 535, 539–540, 539A, 545 – Königinsubstanz 583A, 585 – Magnetfeldorientierung 500, 591 – Orientierung 587–591 – Polarisationssehen 541–543, 542A–543A, 546, 591 – Sonnenkompass 591 – Schwerkraftrezeption 427A – Tanzsprache 587–589, 588A–589A, T31 – Wärmeproduktion 251, 614 Bildsehen; s. Sehen Bilirubin, Biliverdin 120, 120A Bioassay für Hormone 261–262 bioelektrische Signale 329–354 – Physik dazu 330–337 biogene Amine 361 biologische Uhren 313–327 – molekulare Konstruktion 316–319 Biolumineszenz 579–591, 598, 624
Biorhythmen 313–327 – circadiane, Tages- 313–327 – circannuale, Jahres- 599ff, 609 – Mond-, Gezeiten- 599–609 Biotransformation von Substanzen 118 Bipolare, bipolare Neurone 528A Bitterrezeptoren 486A, 487 Blasensteine 130 Blinder Fleck, Macula lutea 513, 514A, 518 Blobs 554–555 Blut 217ff, 233 Blutdruck 218, 226–230, 247 – -Regelung 229, 236, 246–247, 250 – -Rezeptoren, Sensoren 243A, 421 – Tagesschwankungen 320 Blutfarbstoff, roter; s. Hämoglobin Blutfluss-Regelung 250 Blutfette 101, 110, 123; s. auch HDL, LDL, VLDL Blutgefäße 228–229; s. auch Kreislauf Blutgerinnung 230–231, 231A Blutgerinnsel, Blutpropf, Thrombus 230, 231A, 233 Blutgruppensystem 183, 183A Blut-Hirn-Schranke 181 Blut-Hoden-Schranke 183 Blutkapillaren 226, 228–229 Blutkörperchen 157, 162A – rote; s. auch Erythrocyten – weiße; s. auch Lymphocyten (Granulocyten, Makrophagen, B-Zellen, T-Zellen) Blutkreislauf 195, 217–230, 221A–222A Blutplättchen, Thrombocyten 162A, 230, 231A Blutproteine 108A, 116–117 Bluttemperatur, Tagesschwankungen 257 Blutzellen 162A, Tafel 5 Blutstammzellen, hämatopoiet. Stammzellen 162A, 163; s. auch Erythro-, LymphoBlutzucker 38–39, 104A, 108A, 109, 113, 123, 279; s. auch Glucose Blutzuckerspiegel, Regelung 113–116, 236, 279A BMAL1-Protein der circadianen Uhr 318, 319A BMR, basal metabolic rate 48 Bogengänge 434–436, 435A, 436A, 440 Bohr-Effekt 201, 202, 214, 624 BOLD-Kontrast 552 Bombykol 583, 583A Bombyx mori (Seidenspinner) Botulinum-Gift 369A Bowman-Kapsel in Niere 132, 133A, 155 Boyle-Mariotte-Gesetz 207 Bradykardie 210, 613 Bradykinin 247 Brand-, Feuerkäfer Melanophila 503 Braunes Fettgewebe 44, 255–256, 255A, 256A, 611 Breitband-Neurone 553 Brennwert, physiologischer 11, 47 Brenztraubensäure 38–39; s. auch Pyruvat Brieftauben, Orientierung 501, 595 Broca-Areal 556A
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Sachverzeichnis Brownian ratchet 65, 66A Brunft 286–287 Bulbus olfactorius 474, 475A, 476, 493 Bungarotoxin 369A Bursicon 294A, 296 Butenandt Adolf 291, 583 Buttersäure, Butyrat 41, 95, 620A B-Stammzellen 162A B-Zellen, B-Lymphocyten 162A, 163, 170A, 175, 176A, 187 B-Zell-Rezeptor BCR 165, 166A, 167, 176, 178, 180A, 187 Caissonkrankheit 211 Calciferol 77, 79, 262, 278 Calcitriol 278 Calcitonin 277, 277A Calcium, Calcium-Ionen Ca2+ – Kanäle 308, 354, 360, 361A, 476A, 574 – L-Typ-Kanal 381A, 401, Ryanodin-Typ-Kanal 381, 401 – Nachweis 308–309 – Oszillationen 306 – Puls/Signal/Transient 308, 360, im Muskel 380, 381A, 390 – Pumpe 381A, 382 – Regelung des Ca2+-Haushalts 276–277, 277A Calmodulin 310, 390A cAMP, cyclisches Adenosinmonophosphat 304A – cAMP-gesteuerter Kanal 476A cAMP-PKA-System 260, 301, 303–306, 304A, 312, 476A, 576 Campaniforme Sensillen, Kuppelsensillen 424, 425A, 503A Capsaicin 487, 489 Carbamino-Hämoglobin 201, 214 Carbamoyl-Phosphat 121A Carboanhydrase 201, 202A, 214 Cardiolipin 158 Carotiden, Halsschlagadern 243A, 246, 247 Carrier 39, 62, 67A, 106, 137A; s. auch Permeasen, Transporter Cataglyphis bicolor (Wüstenameise) Cataglyphis 593 Catechol, Catecholamine 271A, 361, 362A CCK Cholecystokinin 91, 92A, 106, 119, 264, 266, 280A Cecropine 159 Cellulose 93, 94A, 96, Cellulase 95–96, 106 Center-surround Felder 529, 530A, 553 Cerebellum 569, 570A cGMP, cyclisches Guanosinmonophosphat 509–511 Chemische Sinne 473–493 Chemischer Warnsinn 473–474, 492 chemisches Potential 5–6, 340 Chemorezeptoren, Chemosensoren 91, 243A, 246 Cheyne-Stokes-Atmung 213, 613 Chiasma opticum 548 Chironomus (Zuckmücke) 197, 622 Chitin 94, 94A – als Exkretionsprodukt 130 Chitinase 94 Chloridkanal 476A Chloridzellen 637 Chlorocruorin 197 Cholecalciferol, Vitamin D3 79, 262
Cholecystokinin CCK 91, 92A, 106 Cholesterin 99A, 100, 110–111, 112A, 117, 118A, 119, 123 cholinerg 363 Cholsäure 100A, 118A Chordotonalorgan 425A Chorion-somato-mammo-tropin CS 289 Chylomikron 101A, 103, 106, 112A Chymotrypsin 87, 97, 106 Ciconia ciconia (Weißstorch) 597A Ciliarmuskel des Auges 516A Cilienmotor 60A Cilium, sensorisches 424, 424A–425A, 429A Circadiane Rhythmik, Uhr 313–327 – Definition 314 – molekulare Konstruktion 316–319 Circannuale Periodik 599ff Citrat 36a, 41, 110A Citratcyclus 31, 32, 36A, 41–42, 53, 71, 74, 78, 108A, 128, 195A, 620A Clearancewert 135, 136A, 148, 155 CLOCK, clock 317, 318A–319A Clostridium, Botulinum-Gift Clunio marinus (Mücke) 607 CMYK-System der Farben 521 Cnidocyte, Nematocyte 429–430, 430A CNS; s. ZNS, Zentralnervensystem CO Kohlenmonoxid 198, 310 CO2, Kohlendioxid 1–3, 32, 36A, 41–42, 47, 125, 189, 201 – Abgabemenge 47 – Transport 201–202, 214 Cochlea, Gehörschnecke 435A, 451, 459A–460A, 471 Codierung in Sinneszellen 408 Coelenterazin 580 Coenzym 41–42, 74, 78 Colliculus inferior 462 Colon 87A, 88, 96A Computertomographie CT 551 Conotoxin 369A Converting enzyme 153–154 Convolut 145, 148; s. auch Nephron-Tubulus Cornea 534A Corpora allata 264, 294A Corpora cardiaca 264, 294A Corpora geniculata laterale 548 Corpus luteum, Gelbkörper 288A–289A Cortex striatum 549, 553 Cortex, Großhirnrinde, s. Gehirn Corticoliberin, Corticotropin-releasing Hormon CRH 272 Corti-Organ 451A, 452, 457A, 471 Cortisol 251, 266, 268A, 271A, 274, 281–282, 282A, 300 – Tagesschwankungen 266, 323A – Wirkung auf Immunsystem 185–186, 281–282 Cortison 251, 281 Cotransport 67 Cranialganglien 241 CREB-Element 303 CRH Corticoliberin, Corticotropin-releasing Hormon 272 Crista 435
Sachverzeichnis Cry, Cryptochrome 317, 318A–319A, 326, 501 CT, Computertomographie 551 Cupula 432A–434A, 434–435 Curare 369A Current clamp, Stromklemme 33A, 336 Cuticularhaare, Cuticularsensillum 424A, 428A, 491A CYC, cycle 317, 318A CYC/CLOCK-Komplex 317, 318A Cycloxygenase 271 Cytochrom 196; s. auch Atmungskette – Cytochrom P450 83, 118, 120, 123, 475 Cytochromoxidase 36, 42 Cytokine 180, 188, 264, 276A Cytoneme 311A, 312 C-Zellen der Schilddrüse 276, 277A, 300; s. auch Ultimobranchialzellen DAG, Diacylglycerol 99A, 305A, 306, 390 Danaus argus, Monarchfalter 592 Darmkrypten 89A Darmzotten, Darmvilli 87, 89A, 99, 106 DBT, double time 317, 318A Decarboxylierung, oxidative 41 Deckmembran, Tektorialmembran 454, 457A Defensine 159 Dehnungssensor, -rezeptor 246; s. auch Muskelspindeln Dekrement 352 Delphine – Gegenstrom-Wärmeaustausch 148A, 253, 254A, 612A, 614 – REM-Schlaf – Ultraschallortung 469, 470A, 472 Dendrit 359A, 406A Dendritische Zellen 161, 162A, 175–176, 181, 182A, 187–188 Depolarisation 343, 351, 355; s. auch EPSP Dermaoptischer Sinn 512 determinante Gruppe; s. Antigen Deuter-Anopie 527 Dezibel-Skala 447 D-Hormon 278 DHP-, Dihydropyridin-Kanäle, -Rezeptoren 380, 381A DHT, Dihydroxytestosteron 284A, 286 Diabetes insipidus 154 Diabetes mellitus 45, 113, 116, 123, 299 – als Autoimmunkrankheit 184, 188 Diacylglycerol DAG 62A, 305A, 306 diadrome, anadrome, katadrome Fische 625–626 Dialyse 140A, 143 Diapause 600–601 – embryonale Diapause der Säuger 600 Diastole 223 Dichromaten 527 Diencephalon Differential-(D-)Empfänger/Transducer 410–411 Diffusion 63–65, 189, 192–195 – erleichterte, gebahnte, katalysierte, 64, 113 – kanalisierte 65, 311A
Diffusionsdruck 339–340, 341A, 342, 344A, 349 Diffusionskoeffizient 192 Dihydrotestosteron DHT 284A, 286 Di-Hydroxy-Aceton-Phosphat, DHAP 35A Dihydroxy(chole)calciferol 77, 79A, 278 dioptrischer Apparat 513 Diphosphoglycerat, DPG 35A, 39, 201, 214 Dipodomys spectabilis (Känguruhratte) Dissimilation 2 Diurese 154 Dominanzbänder, -säulen 549, 554A, Donnan-Gleichgewicht 142, 341; s. auch Gibbs-Donnan Dopamin 361, 362A Dopplereffekt 468, 468A Dornen-Synapsen, Spines 359A Dormanz 600 DPG, Diphosphoglycerat 35A DRA, dorsal rim area 542, 591 Drehbeschleunigungssinn, Drehsinn 435, 436A Drucksensoren, -rezeptoren 411, 412A DSPS delayed sleep phase syndrome 314 Dsungarischer Zwerghamster 608 Ductus cochlearis 435A, 451A, 451, 459A–460A Duftrezeptoren, Odorant-Rezeptoren 476–479 Dunkelstrom 509A, 511, 545 Dünndarm 87, 96, 106 Duodenum 86, 87A Dynein, Dynein-Motoren 59–60, 59A–60A, 359A Dynorphine 269, 271 Ecdysis 296 Ecdysis-triggering hormone ETH 294A, 296 Ecdyson 264, 294A, 295, 300 Ecdysteron, 20-OH-Ecdyson 294A ECH, Eclosionshormon 294A EEG Elektroencephalogramm 550 Efferenz 387 Eicosanoide 263, 271 Eigenmannia, Messerfisch 496, 498, Farbtafel Eigenreflex 387 Eintagsfliegen 602 Einwärtsstrom 330 Eisen, Eisenion Fe2+ 71, 197A Eiweiß 73; s. auch Protein Eiweißverdauung 83 EKG, Elektrokardiogramm 397–399, 397A, 399A, 402, 495 EKP, Ereignis-korrelierte Potentiale 550 Ektoenzyme 87, 89A, 106 ektotherm 256, ektotherme Tiere 251 Elastase 97 Elektrische Fische 400A, 401–402, 495–498, 497A, Tafel 12 – Impulserzeugung 400A – Orientierung 496–498, 497A, 498A elektrische Impulse, Signale 337ff, 355; s. auch Aktionspotentiale Elektrische Organe, Elektroplaxe 400, 400A Elektrischer Sinn 495–498, 495A–498A elektrisches Potential 330–336, 355
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Sachverzeichnis elektrochemisches Potential 340 Elektroden 333 elektrogen 138A, 338 Elektrokardiogramm EKG 397–399, 397A, 399A, 402, 495 Elektrolyte 62 elektromechanische Energiewandler 461 elektromechanische Koppelung 380 elektromotorische Kraft 342 Elektromyogramm EMG 495 Elektronentransfer, -übertragung 31 Elektronentransportkette; s. Atmungskette Elektronentransport-Phosphorylierung 34 Elektroortung 495–498, 495A–497A, 504 Elektrophysiologie 329–355, Tafel 14; s. auch EKG, elektrische Fische Elektroplaxe 400, 400A Elektrorezeptoren 496–498, 498A, 504 Elektroretinogramm ERG 539 Embden-Meyerhof-Parnas-Weg 38; s. auch Glykolyse Empfindlichkeit von Sinneszellen 406, 407 Empfindungen 404, 418, 477, 487, 488–490 Empfindungsstärke 425, 416A endergon(isch) 19, 26 Endo-, Entero-, Intero-rezeptoren 404, 419, 473 Endocochlea-Potential 459A Endocytose 69 endokrin, Definition 263, 264A, 298 endokrine Disruptoren 291 Endolymphe 435 Endometrium; s. Uterus Endopeptidasen 97 Endoplasmatisches Reticulum ER; s. auch sarkoplasmatisches R. Endorphine, Endomorphine 267, 269, 270A, 271, 299, 368, 370A endotherm 6, 10 – chemischer Prozess 6 – endotherme Tiere 49, 251 Endprodukthemmung 25 Energetik, Energie, Energieumwandlung 4–29 – Energie, freie, Gibbs’sche 6–8, 13, 18, 340 – Energiefluss 3, 5, 27 – Energiehaushalt 31–54 – Energiepotential 16, 53 – Energiestoffwechsel 31–54 – Energieträger 71A, 83 – Energieumsatz 46–53, 50A Engrammbildung 568 Enkephaline 269, 271 ENS, Enterisches Nervensystem 241A, 244 Entero-, Endo-, Intero-rezeptoren 404, 419 enterohepatischer Kreislauf 117, 118 Enthalpie, Reaktionsenthalpie 5–7, 11–13, 18, 29 Entkoppelungsproteine 44 Entrainment 315, 322, 324 Entropie 4–18 – Entropievermehrung im Stoffwechsel 37, 40
Entsalzungsorgane 627, 627A Entzündungen 185 Enzyme 23 – der Verdauung 90, 92–96 Epinephrin; s. Adrenalin Epiphyse, Pinealorgan 266, 321–322, 322A–323A, 326 Epithelkörper 277, 277A Epitheloide Granulosazellen in Niere 152, 153A Epitope; s. Antigen Epitracheale Drüsen 294A EPO, Erythropoietin 154–155, 212, 276A EPSP, excitatorisches postsynaptisches Potential 364, 365A, 406A ERG, Elektroretinogramm 539 Ergocalciferol, Vitamin D2 79, 262, 278 ergotrope Reaktion 250 ERP, event-related potentials 550 Ernährung 31ff Erregung, excitation, Definition 405 – Erregungsleitung 405 Erythroblast 155, 162A Erythrocyt 155, 157, 162A – und Blutgruppensystem 183A, 184A – Entsorgung – O2 und CO2 Transport 201–202, 202A, 214 Erythropoetin Epo 154–155 essentielle Nahrungsbestandteile 71–73 ETH, Ecdysis-triggering hormone 294A Ethylenglykol 615A, 616 Eunice viridis, Palolo 607 Eustachische Röhre 451A, 452 exergon(isch) 19, 26A Exkretion 125–156 – exkretorische Funktion der Leber 109–125 – Exkretionsorgane 126A, 131, 131A, 132ff – Nierenfunktion 132ff Exocytose, Exocytose-Vesikel 69, 359A, 361A Exopeptidasen 97 exotherm 6, 10 – chemische Reaktion 6 – exotherme Tiere 49 Exspiration 203 – Exspirationszentrum 246 Exterorezeptoren, Begriff 404, 419 Facettenauge, Komplexauge 512, 513A, 535A–536A, 546 FAD 317 F-ATPasen 69 Farben, Farbensehen 518–546 – additive, subtraktive Farbenmischung 519–522, 546 – Farbendreieck, Farbenkreis, Farbenscheibe 519, 523A – Farbenraum 519, 523A – Gegenfarbentheorie/-system 522, 527, 528A, 529, 546 – RGB-/CMYK-System 519–522, 546 – trichromatische Theorie 522, 526 – Urfarben 519, 526 – zentrale Datenverarbeitung
Sachverzeichnis Farbenblindheit 522, 526, 528 Farbkonstanz beim Sehen 559 Farbneurone 554 FASPS familial advanced sleep phase syndrome 314 Fe, Eisen, Eisenion Fe2+ 71, 197A Fett(e) 31, 32, 38, 44–45, 99, 99A, 111 – als Energielieferant 44–45, 111 – als Wasserlieferant 45 – Fettverdauung 99–101 Fettsäuren 32, 71, 73, 92, 101A, 108, 111, 116 – essentielle 71A, 105 – Fettsäuren als Muskelnahrung 279A, 389 Fettsäure-Synthase 111 Fettzellen 112A, 115A, 116, 279A; s. auch Adipocyten Feuerschwelle, firing level, firing threshold 365A, 349 FFA, fusiform face area 557 Fibrin 230, 231A, 233 Fibrinogen 117, 123, 230, 231A, 233 Fick’sches Diffusionsgesetz 192–194 Fight-and-flight Syndrom 249, 271 Fischwanderungen, s. Aal, Lachs, Wanderfische Fledermäuse 50 – Torpor, Winterschlaf 50, 613 – Ultraschallortung 365–469, 467A–468A Flehmen 475A, 480 Flexor 387 Fliegen, Vogelflug 392–396 Fließgleichgewicht 23, 24A, 25 Flugmuskeln der Insekten 390–391, 391A Fluoreszenz, Fluorophor; s. Biolumineszenz FM, Frequenz-Modulation in Axonen 353, 355, 365A, 371, 406A, 409 fMRI, fMRT funktionelle Kernspintomographie 552 Follikel im Ovar, Graaf ’scher 285A, 286, 288A Follikel-stimulierendes Hormon FSH 268A, 272, 283, 285A, 287, 288A–289A, 584 Follitropin; s. FSH Forellen 625 Fovea centralis 514A–516A Freie Nervenendigung, Sinnes-Nervenzelle 406A freilaufende Rhythmen 313–314, 608 Frequenz-, Tonanalyse im Ohr 457, 460A, 471 Frequenzmodulation FM, in Axonen 352, 353, 365A, 406A Frisch, Karl von 539, 541, 587 Fructaner 81 Fructose 94A, 98, 111 Fructose-1,6-Diphosphat, FDP 35A, 39 FSH, Follikel-stimulierendes Hormon 268A, 272, 283, 285A, 287, 288A–289A, 584 Fugu-Fisch 359A Fumarat 36A, 110A Fundusdrüsen 88A, 106 funktionelle Kernspintomographie fMRT 552 GABA, Gamma-Aminobuttersäure 361, 362A Galle, Gallenblase 87, 91, 92A, 106, 108 Gallenfarbstoffe 108, 120, 120A, 123 Gallensäuren 87, 99, 100A, 106, 108, 118A, 123
Gallensteine 119 Galvani Luigi 329 Gamone 582 Gap junctions 69, 310, 311A, 312, 357–358, 358A, 371 – in glatter Muskulatur 390A – im Auge 517, 518 – im Herzen 396, 402 GAP Glycerin-Aldehyd-Phosphat 35A, 39, 111 Gärung 40, 620A Gasaustausch 189, in Schwimmblase 625A Gastrin 91, 92A, 106, 264 Gastrovaskularsystem 194, 217, 233 GDP, GTP 509A, 510, 511 Gedächtnis, -bildung, -formen 567–569 – Arbeits- 567–568, 570 – Assoziations- 568 – deklaratives 569, 571 – episodisches 571 – explizites 659, 571 – Gefühls- 569, 571 – Gewohnheits- 569 – Immediat- 567 – implizites 571 – Kurzzeit-, Ultrakurzzeit- 567 – Langzeit- 569 – prozedurales 571 – Raum- 569 – semantisches 571 – sensorisches 567 – Wissens- 569 Gedächtniszellen, immunologische 168, 169A, 181, 182A, 187 Gefäßverkalkung, Arteriosklerose 117, 119A Gefrierresistenz 617 Gefrierschutzmittel 614–616, 615A Gefriertoleranz 617 Gegenfarben, Gegenfarbentheorie 527, 528A, 529, 541 Gegenfarben-Neurone 528, 553 Gegenstromaustausch 143–144, 146, 148A, 205A, 612 Gegenstromkonzentrierung 143–144 Gegenstrommultiplikation 144, 146–148, 149A, 156 Gegenstrom-Wärmeaustausch 144, 148A, 612A Gehirn 556A, 570A – Untersuchungsmethoden 549–552, Tafeln 15, 16 Gehirnfunktionen 547–565 Gehör 443–472 Gehörknöchelchen 450, 451A Gehörorgane – Fische 464, 465 – Insekten 466A, 472 – Mensch 443–462 Geist-Seele 561ff Gelbkörper, Corpus luteum 285A, 287, 288A–289A Gelenksinn 422, 440 Gene für Duftrezeptoren 476–479, 493 Generatorpotential 406A, 408, 410 Geraniol als Pheromon 570
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Sachverzeichnis Geruchsinn, Geruchorgane 474–482, 475A, 492 – Geruch-Orientierung – Geruchsrezeptoren 302A, 476A, 475–478 – bei Tieren 490, 492 – Geruchsensillen der Insekten 491A – Septal-(Masra-)-Organ 475A Geschlecht, Geschlechtshormone 283–286 Geschmacksinn 483–493 – Geschmacksknospen 483A–484A – Geschmacksqualitäten 483–489 – Geschmacksensillen der Insekten 490, 491A – Geschmacksverstärker 483 – TIR2/TIR3 taste receptor 485, 486A Gesetz der spezifischen Sinnesenergien 407 Gesetz der spezifischen Stoffwechselreduktion 50–52, 54 Gesetz von – Avogadro 191 – Bernoulli 218, 219, 233 – Boyle-Mariotte 309 – Fick 192, 193, 194 – Hagen-Poiseuille 218, 229 – Henry 207 – Weber-Fechner 415 – Ohmsches 218, 332 Gesichtserkennung 557 Gesichtsfeld 548A Gestagene 283 Gestaltgesetze, psychologische 557–561, 558A–560A Gewebeunverträglichkeit 173; s. auch MHC Gewebshormone 91, 92A, 106, 121, 247, 264; s. auch aglanduläre Hormone Gewichtssinn 421, 422 Gezeiten-Ährenfisch Grunion 607 Gezeiten-Rhythmen 602–607 GFP green fluorescent protein 317, 320, 549, 581A, 582, T27 GFR glomeruläre Filtrationsrate 136, 152, 156 GH growth hormone; s. Wachstumshormon, Somatotropin 266, 268A, 273, 276A Ghrelin 104A, 105, 106, 279–280 Gibbs Joshua Willard 7, 13, 18 Gibbs-Donnan-Gleichgewicht 142, 340, 341, 355 Gibbs-Donnan-Gleichung 341A Gifte, neurotoxische 369A Gigantismus 273 GIP, Glucose-dependent insulin-releasing peptide 92A, 106 glandotrope Hormone 266, 268, 268A, 298 Glatte Muskelfasern 389–390, 390A, 402 Gleichgewichtspotential 340 Gleichgewichtssinn, Lagesinn 426ff, 437ff, 441 – Wirbellose 426–428, 427A–429A – Wirbeltiere 437–438, 437A, 439A Gleichrichtereffekt 351 gleichwarme Tiere 49, 251, 611 Glia, Gliazellen 368 – Funktion an Synapsen 368–369 Globin 196, 216 Glomerulus des Nephrons 132, 133A, 146, 152, 153A, 155
Glomerulus des Bulbus olfactorius 479A, 493 glomeruläre Filtrationsrate GFR 136, 152, 156 GLP-1 Hormon 105–106, 280A Glucagon 114, 115A, 116, 123, 278–279, 279A, 282A, 299 – Signaltransduktion 260 – Glucagon-Rezeptor 302A Glucagon-like peptide GLP 277 Glucocorticoide 281, 282, 300 – Tagesschwankungen 323A, 324 glucogene Aminosäuren 109, 110A, 282A Gluconeogenese 37, 40, 108–109, 110A, 123, 279A, 281–282, 282A Glucose 1, 2, 29, 32, 35A–36A, 39, 44, 94A, 104, 107, 108A, 109–111, 113–116, 123, – Glucosespiegel im Blut 278, 279A – Glucosetransport in Niere 135, 137A, 146 Glucose-Carrier 39, 279, 307A; siehe auch GLUT Glucose-6-Phosphat, G6P 35A Glucose-dependent insulin-releasing peptide GIP 92A Glucose-Rezeptoren im Hypothalamus 104A, 106 Glucosetransporter GLUT 38, 113, 114A, 123, 279A, 307A – und Insulin 114A–115A, 279A, 307A Glucosidasen 98A Glühwürmchen (Leuchtkäfer Lampyris noctiluca) 320, 580, Tafel 30 GLUT Glucosetransporter 113, 114A, 123, 279A, 307A. Glutamat, Glutaminsäure 120, 127A, 128, 150 – als Geschmacksstoff, „Geschmacksverstärker“ 483–484 – als Transmitter 358, 362A, 364, 545, 574A Glutamat-AMPA-Rezeptor 364, 574A Glutamat-NMDA-Rezeptor 364, 574A, 574–575 Glutamatrezeptor, metabotroper 530, 574 Glutamin 127A, 129, 150, 150A, 155 Glutaminase 127A, 150 Glutaminsäure; s. Glutamat Gluten, Glutenenteropathie 82 Glycerinaldehyd-Phosphat, GAP 35A Glycerol, Glycerin 35A, 62, 615 Glycin, als Transmitter 358 Glykogen, Glycogen 31, 35A, 38, 45, 93A, 94A, 98, 107–108, 111, 115, 123, 279A, 307A, 388 Glykolyse 31, 32, 35A, 38–40, 53, 71, 74, 78, 108–109, 620A Glyoxylat-Cyclus 111 Gnathonemus petersii (elektrischer Fisch) 496, Tafel 12 GnRH, Gonadoliberin, Gonadotropin-releasing Hormon 266, 272, 285A, 287, 288A–289A Goldmann-Hodgkin-Katz-Formel 343 Golgi-Sehnenorgane 385, 422A Gonaden als Hormon-Empfänger und -Produzenten 285A, 288A–289A Gonadoliberin GnRH 266, 272 gonadotrope Hormone, Gonadotropine 268A, 298, 300 Gonyaulax (Einzeller) tagesperiodische Lumineszenz 316 G-Proteine 303, 304A–305A, 309–310, 476A, 478, 486A, 509A, 510, 532A G-Protein-gesteuerte Kanäle 347 Granulocyten 94, 98, 157, 161, 162A, 185 Granulosa im Ovar 285A, 286
Sachverzeichnis Granulosazellen, epitheloide in Niere 152, 153A Gravitationsrezeptoren; s. Schwerkraftsinn Grenzstrang sympathischer, Grenzstrangganglion 241A–242A, 245A Grubenorgan, Grubenottern 502A, Tafel 13 Grundumsatz 23, 48, 49A, 53 – Einfluss von Thyroxin 275 Grunion-Fisch 607 GTP, GDP 309, 509A, 510–511 Guanin 128A, 130 Guanosin-Mono-, -Di-, -Tri-Phosphat GMP, GDP, GTP 309, 509A, 510–511 Gymnotiden 496–497, 498A, 504 Gyroskop der Fliege 426A Haarfollikelsensor 412A Haarsensillen der Arthropoden; s. Cuticularhaare Haarsinneszelle, Haarzellen 431–436, 432A–433A, 440 – im Gehörorgan, äußere, innere 456, 457A, 471 Habituation 571 Hagen-Poiseuille-Gesetz 218 Halteren, Schwingkölbchen 424, 426A Hai, Elektroortung 495A, 496 Häm 120, 120A, 196, 197A, 214 Hämatokrit 197, 212 Hämerythrin 197 Hammer-Amboss-Steigbügel 451A, 471 Hämocyanin 197 Hämodialyse 143 Hämoglobin Hb 108, 120, 134, 196–201, 196A, 199A, 214 – Carbamino-Hb 201, 214 – Evolution 196–107 – foetales HbF 200, 214 – Kooperativität 199, 199A, 214 – Sauerstoffaffinität 198, 200–202, 622, 624 – Sauerstoff-bindungs-, -dissoziationskurve 198A, 200A, 214 Hämolin 160 Hämolymphe 217, 233 Hämophilie 230 Hapten; s. Antigen Harmonische, Oberton 445, 471 Harn, Primärharn, Endharn 132,145, 147, 149–150, 155 harnpflichtig 147, 151 Harnsäure 126A, 127A, Harnstoff 95–96, 121A, 122, 125, 126A, 127, 128A, 129–130, 149, 155 – als Gefrierschutz – Harnstoffkreislauf in der Niere 149, 150A – Harnstoffsynthese, -zyklus 108, 121A, 122 Hautlichtsinn 512, 532 Hautsinne 412, 412A, 419 Hb, HbO2; s. Hämoglobin HCG human chorionic gonadotropin 134, 289, 289A–290A, 300 HDL high density lipoprotein 112A, 113, 115A, 117, 123 Hebb-Synapse 575 Held’sche Endkolben 463
Helicobacter pylori (Bakterium) 90 Helicotrema; s. Cochlea Helligkeitsadaptation 517–518 Helmholtz, Hermann von 7, 13, 18, 458, 520, 522 Henlesche Schleife 133–134, 146ff, 150A, 153A, 155–156 Henry-Gesetz 207–208 Hepatocyten 116A; 123, 279, 321; s. auch Leber, Leberzelle Hepta-helikaler Rezeptor 302A, 303 Hering Ewald 522 Heroin 269, 270 Herz 221–225, 222A–223A, 396–399 – Herzklappen 222A–223A – EKG 397–399, 397A, 399A – Herzinfarkt 119, 227, 230, 389 – Herzschrittmacher 225, 243, 396–397, 397A – myogene Herzen 391, 396 – neurogene Herzen 391 Herzvorhof als Hormonproduzent 277 heterotroph 3 Hexokinase 34, 39 Hibernation 256, 612–613; s. auch Winterschlaf HIF hypoxia-inducible factor 214–215, 623 Hippocampus 569, 570A, 570 Hippursäure 130, 131A, 135 His’sches Bündel 397, 397A Histamin 173, 185, 362A Histokompatibilität; s. MHC Hitzeschockproteine 617 HIV, human immunodeficiency virus 179, 188 HLA, human leucocyte antigen 173, 174A, 177A, 481; s. auch MHC Hoden 285A Höhenanpassung 213–214 Höhenkrankheit 212–213 homoiotherm, isotherm 49, 251, 611 Hörbereich, Tonbereich 448, 449 Hormondrüsen 117, 265A, 267A–268A Hormone, tagesperiodische Schwankungen 320–323, 323A Hormone, Hormonsysteme 259–300, Tafeln 7, 8 – Allgemeines, Definition 259–265, 263, 261A, 264A, 298 – chemische Klassen 262 – Gewebshormone 264 – glanduläre, aglanduläre 263, 298 – glandotrope 266 – gonadotrope 268A, 298, 300 – Hormondrüsen, -produzenten 117, 264A–266A, 285A, 288A–289A – Hypophysenhormone 267A–268A, 269, 276A, 285A, 287 – neuroendokrine, Neuro-Hormone 91, 263, 266, 267A, 269 – Regelung der Nahrungsaufnahme 103–105, 104A – Regelung der Nierenfunktion 151–155, 153A – Regelung des Blutzuckerspiegels 113, 234 – Regelung des Menstruations-, Ovarialzyklus 287–289, 270A, 608 – Renin-Angiotensin-System 153A, 152–154, 156, 278, 300 – und Genregulation 296–298
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Sachverzeichnis – und Metamorphose 275, 291–296, 628 – und Schwangerschaft 289–291 – und Sexualentwicklung 283–286 – Wirkung auf Gehirn 266, 286; s. auch Oxytocin, Prolactin Hormonrezeptoren 260, 296–298, 297A – nukleäre 297A – mit Signaltransduktion 260; s. auch Signaltransduktion Hörorgane – Mensch 443–464 – Tiere 464–470 Hörschwellen-Isophone 447–448, 448A Hörsturz 462 HPL Human placental lactogen 289, 290A, 300 HRE Hormone responsive element 297, 297A Hubel David H 549, 576 Human chorionic gonadotropin HCG 289, 290A, 300 Human placental lactogen HPL 289, 290A, 300 Hunger 103–104, 106, 269, 280 Hungerzentrum 104A, 280A Hybridomazellen 186 Hydractinia echinata (Hydrozoenkolonie) 629A hydrodynamisches Paradoxon; s. Bernoulli Hydrogencarbonat 87, 88A, 106, 121A, 201–202, 214 Hydrolasen 74, 98 Hydroxyfettsäuren 247, 263, 271 Hydroxytryptamin, Serotonin 322, 361, 362A hydrophile, hydrophobe Substanzen 61 Hygrorezeptoren 491 Hyperkolumne 555 Hypermutation 165, 167 Hyperpolarisation 343, 355, 366, 545; s. auch IPSP hyperton, hypoton 66, 141 Hyperventilation, Hypoventilation 206, 213 Hypervitaminosen 74, 77 hypophysärer Zwergwuchs 273 Hypophyse 266, 267A–268A, 276A, 285A, 287, 299 Hypophysenhormone 267A–268A, 276A, 285A, 287, 299 Hypothalamus 103–104, 114, 238, 252, 264, 266, 267A, 269, 271, 280A, 287, 298–299, 322 Hypothalamus-Hypophysen-Achse 266, 267A Hypothermie 210, 613 Hypoxie 619 Ich-Wahrnehmung, self-processing 418–419 ICSH, FSH 268A, 285A IgA, IgE, IgG, IgM 170A, 171, 173A, 185 IGF insulin-like growth factor 117, 123, 273, 276A, 299 Imago, Imaginalscheiben 295 Immunfluoreszenz 186 Immunglobuline, Ig 170, 170A, 179 Immunglobulin-Superfamilie 179, 180A Immunisierung, Immunität 164, 180 Immunologische Synapse 176A, 188, 312 Immunologisches Gedächtnis 181 Immunsystem, Immunologie 157–188 – adaptives = lernfähiges 157, 163–188 – angeborenes 157, 161–162
– humorales 164 – Virenabwehr 178A, 178–179, 187 – der Insekten 159–160 Immuntoleranz 181 Impedanzanpassung im Gehör 452 Imprinting, Prägung 576–577 Informationscodierung im Sinnes-Nervensystem 353, 365–367, 403, 406A; s. auch AM- und FM-Codierung Informationsleitung in Nerven-, Muskelfasern 365A, 403, 406A; s. auch Aktionspotentiale Infrarot-Sensoren, -Ortung 502–504, 502A–503A, Tafel 13 Infraschall-Kommunikation 470 Infundibulum 267A Inhibine 268, 271–272 Inositol 616 Inselorgane; s. auch Langerhans-Inseln 114, 115A, 123, 279A Inspiration 203 – Inspirationszentrum 246 Insulin 92, 104, 114, 116, 123, 278, 279A, 280A, 299, 312 – Insulinrezeptor 302A, 307A – Insulin-Signaltransduktion 307A Insulin-like growth factor IGF 117, 273 Interferon 178, 180, 185 Interleukine 171, 177–178, 180, 185, 188, 264 Intermediärstoffwechsel 31; s. auch Leber Intero-, Entero-, Endo-Rezeptoren 404 Intervallmodulation 353 Inulin für Nierendiagnose 134, 136 Ionenhaushalt, hormonale Regelung 277–278 Ionenkanäle 330, 337A, 344–352, 346A – Leck-Kanäle, leak channels 340, 344, 345A, 355 – Liganden-gesteuert ligand-gated 345A, 346A, 347 – Second-messenger-gesteuert 345A, 347 – Spannung-gesteuert voltage-gated 345A, 347, 348A, 361A – für Ca2+ 345, 381A, 382, 574A – für K+ 340, 345, 347A–349A, 574A – für Na+ 345, 346A, 348A–349A, 508A – Ionenselektivität 347A – Ionenkanal-Rezeptor 302A Ionentransport-ATPasen, Ionenpumpen 67, 67A–68A Ionocyten 627 Ionophorese, elektrophorese 65, 65A ionotrop, ionotrope Synapsen 363 IP3, Inositoltrisphosphat 305A, 306, 390 ipsilateral, kontralateral 548 IPSP, inhibitorisches postsynaptisches Potential 364, 365A Iris 517, 534A Ischämie 247 Isocitrat 36A, 110A, isometrische Kontraktion 379 Isophone 448A isotherm, homoiotherm 251, 611 isoton 141, 150 ITD Interaural time differences 463A, 464 Jacobson-Organ, Vomeronasales Organ VNO 474, 475A, 492 Jeffress-Modell 463, 464A
Sachverzeichnis Jet lag 315, 321 Jod 274 Johnston-Organ 590 Juvenilhormon 263, 294A, 295, 300; s. auch Prolactin Juxtaglomerulärer Apparat JGA 152, 153A, 156 Kalium-Gleichgewichtspotential 341A, 342 Kalium-Kanäle 340, 345, 347A, 348A, 349A Kaloriengehalt der Nahrung 11, 73, Kalorimeter, Kalorimetrie 6, 11, 46A Kälteanpassungen 611–617 Kaltrezeptoren 412A, 414–415, 420 Kamel, Anpassungen 46, 619 Kameraauge 532A–534A, 546; s. auch Auge Kanäle, Kanalproteine – Ca-, K-, Na-Kanäle, s. Ionenkanäle – Acetylcholin-gesteuert 346A, 347 – Chloridkanal 365 – G-Protein-gesteuert 347 – Liganden-gesteuert 345A–346A, 347 – TRPM5 Kationenkanal 486A – Voltage-(Potential-, Spannungs-)gesteuert 345A, 346–347, 348A, 361A, 381, 361A – Wasserkanal, Wasserpore 129, 138A, 150A Kandel Eric R 576 katabol, Katabolismus 31 Katadrome, anadrome, diadrome Fische 625 Kathode, Anode 334 Kationen, Anionen 62, 330, 334, 338 Kelchsynapsen 463 Kennlinien von Sinneszellen 412–414, 416A, 419 Kerntemperatur; s. auch Temperaturregelung 252 Kernspintomographie NMR 551; s. auch fMRT alpha-(α-)Ketoglutarat 36A, 74, 78, 110A, 111, 127–128 Ketonkörper, Ketose(n) 45, 116, 123 Kiemen 204, 206A, 220 Killerzellen, natürliche 162A, 177, 188 Kinase(n) 34, 37, 301 Kinesin, Kinesinmotoren 60, 61A Kinetik 64 Kinocilium 430, 430A, 431, 432A Klang 445–447 Klapperschlange, Infrarotrezeption 502–504, 502A–503A, Tafel 13 Klon-Deletion, -Elimination, -Expansion, -Selektion 165, 168, 169A, 181, 187 Kniehöcker, seitliche 548, 553, 570A Knochenmark 162A, 165, 169 Kohlendioxid CO2 1–3, 111, 189 – -gehalt der Luft 3, 190, 192–193, 195 – -gehalt von Wasser 192 – Transport 201–202, 202A, 214 Kohlenhydrate 1, 31–32, 44–45, 53, 71, 92–93 – chemische Struktur 93A – als Nahrung 31, 71 – Verdauung Kohlenmonoxid CO 198
Kohlensäure 201–202, 214 Koinzidenzanalysator, -neurone 463, 464A, 472 Koinzidenzprinzip 407 kolloidosmotischer Druck 232 Kommunikation 580ff Kompassorientierung 587ff, 598 Komplement, -faktoren, -system 117, 159, 171, 178A, 187 Komplementärfarben, Gegenfarben 520–521, 523A, 527, 546 Komplexauge, Facettenauge 512, 513A, 546 Konditionierung 571–572, 572A–573A, 575 Königinsubstanz 583A, 585 kontralateral, ipsilateral 548 Kooperativität, beim Hämoglobin 199, 199A, 214 Kopfstellreflex 438A Korallen, Ablaichrhythmik 607 Körper-Erfahrung, -Repräsentation 419 Körpertemperatur 252, 257; s. auch Thermoregulation Kreatin, Kreatinphosphat 40, 212, 388 Kreatinin 130, 135 Kreatinkinase 389 Krebszyklus 37, 41; s. auch Citrat-Cyclus Kreislauf, Blutkreislauf 217–233, 221A–222A – großer-kleiner 220 – Lungenfische 203, 205A, 220, 221A, 621 – Säuger, Mensch 221A–222A – Kreislaufzentrum, -regelung 224, 243A Kretinismus 276 Kryptobiose 617 Kupffer-Zellen 161 Kuppelsensillen, Campaniforme Sensillen 424, 425A Kurztag, Langtag 599, 601 Kurzzeitgedächtnis 569 Kuschelhormon 272–273 Kybernetik 236 Labferment 86 Labmagen 96, 96A Labyrinth 434, 434A Lachse – Wanderungen 592, 597, 598, 601, 625 – Riechvermögen 490 Lactase 95 – Lactase-Defizienz 95 Lactat, Milchsäure 35A, 38–39, 108A, 109, 110A, 123, 201, 214, 246, 620A Lactose 94A, 98 – Lactose-Intoleranz 95, 106 Lagena 435A Lagesinn, s. Gleichgewichtssinn Lampyris noctiluca (Leuchtkäfer, Glühwürmchen) 320, 580, Tafel 30 Landkärtchen Araschnia levana 600, 601A Langerhans-Inseln des Pankreas 114, 115A, 123, 279A, 299 Langerhans-Zellen der Haut 161 Langzeitdepression 368 Langzeitgedächtnis 569 Langzeitpotenzierung LTP 367A, 368, 574A, 576 Laterale Inhibition 529, 531A, 553
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Sachverzeichnis Lautstärke, Lautstärke-Pegel, -Skalen 447–448, 471 Lavoisier AL 46 LDL light density lipoproteins 112A, 113, 115A, 116–117, 123 Leak channels, Leckkanäle 344, 345A Leber, Leberzelle, Hepatocyt 92, 106–123, 116A, 279A – Blutzucker, Gluconeogenese 110A, 123, 279A – Blutfette, Blutproteine 108, 116–117, 123 – Cholesterin-Derivate 118A – Gallensäuren, Gallenfarbstoffe 108 – Entgiftungsfunktionen 108A, 119, 122 – Harnstoffsynthese, Stickstoffentsorgung 109, 119–120, 121A, 125ff – Ketonkörper 116, 116A – Hormonproduktion 117, 276A – Reaktion auf Insulin und Glucagon 114, 115A, 279A Leistungsumsatz 48 Leitungsgeschwindigkeit in Nervenfasern 354 Lektine 158, 161, 172 Leptin 104, 278, 280A, 299 Lernen, Formen des Lernens 569–578; s. auch Gedächtnis Leuchtkäfer, Lampyris 320, 580, Photinus 580, Tafel 30 Leuchtorgane; s. Biolumineszenz Leukotriene 247, 263, 271 Leydig-Zwischenzellen 283, 285A LGN lateral geniculate nucleus; s. Kniehöcker LH luteinisierendes Hormon, Luteotropin 268A, 272, 283, 285A, 287, 288A–289A Liberine 268, 271 Licht – Physik 505–546 – polarisiertes 540, 541A – biologische Lichtproduktion, -signale 579, 582 Lichtsinnesorgan 533A, 534A; s. auch Augen Liganden-gesteuerter Kanal, ligand-gated channel 345A–346A, 347 Limbisches System 269, 569 Linolsäure, Linolensäure 71, 99A Linsenaugen 532A–534A Lipasen 74, 87, 100A, 105 Lipide, diverse 31–32, 53, 99 – chemische Strukturen 99A – Verdauung 99–101 – Resorption 101A, 100, 103 lipophile, lipophobe Substanzen 61 Lipopolysaccharide LPS 158, 160, 172, 187 Lipoproteine mit LDL, HDL, VLDL 108A, 111–113, 123 Lipoteichinsäure 158 Lipotropin 270A Lipoxygenase 271 lokale Potentiale; s. Amplituden-modulierte AM-Potentiale Loligo, Kalmar 338, 339A Lorenzinische Ampullen 496 Löslichkeitskoeffizient 193, 208 LPS Lipopolysaccharide 158, 160, 172, 187 LSO Laterale superiore Olive 464 LTP, Langzeitpotenzierung Long term potentiation 574A, 576 L-Typ-Kanäle, -Rezeptoren 381A, 401
Luciferin-Luciferase 320, 580 Luft, Luftgase 190, 193, 195A Luftdruck 190–191, 193, 213A Luftatmung bei Fischen 621 Luftströmungssensoren 424 lunare Rhythmen 602–607 Lunge 202–206 – Alveolen 196A – Atemmechanik 204A – Evolution 203, 205A–206A, 220 – Ödeme; s. Höhenkrankheit, Tauchen – Vogellunge 207A Lungenfische 220–221 Lupus erythematodes 185 Luteotropin, luteinisierendes Hormon LH 268A, 272, 283, 285A, 287, 288A–289A lymphatische Organe 163 Lymphe, Lymphgefäß, Lymphsystem 89, 106, 217, 231–232, 222A – Lymphherzen 232 – Lymphknoten 163, 222A, 232–233 Lymphoblasten, Lymphocyten 162A–163A, 163, 165–166, 169A, 187 Lymphokine 180, 264 Lyriforme Organe, Spaltsensillen 425A Lysin 71, 81 Lysozyme 159 Macula densa in der Niere 153A Macula lutea im Auge 514A Maculaorgane, Macula utriculi, Macula sacculi 435A, 436–437, 437A, 441 Magen 86, 88A, 105 – Magen-Fundus 88A, 106 Magen-Darm-Trakt 87A, 92A, 96A, 99 Magersucht 280 Magnesium, Magnesiummangel 277, 382 Magnetfeld-Kompass, -Orientierung, -Sensoren 498–501, 499A–500A, 592, 594–595, 628 Magnetoencephalogramm MEG 551 Magnetit 500, 501, 594 Major Histocompatibility Complex MHC 171, 173–177, 174A, 177A, 178, 180A, 182A, 584 Makrophagen 94, 98, 157, 161, 162A, 171A, 185, 187, 196A – als Hormonempfänger 185–186, 270–271 Makrosmat, Mikrosmat 490 Malat 36A, 110A Malphigische Gefäße, Schläuche 131 Maltose 94A, 98 Mandelkern; s. Amygdala Mandeln, Tonsillen 163 Manduca sexta (Tabakschwärmer) 295, Tafel 8 Massenwirkungsgesetz 8 Mastzellen 173A, 185 Maus-Elefanten-Kurve 49, 49A Maxwell James Clerk 520, 522 MCH melanin-concentrating hormone 267, 278, 278A Mechanische Sinne 421–441; s. auch Gehör, Tastsinn
Sachverzeichnis – mechano-elektrische Transduktion 409, 459A – Mechanosensoren, -rezeptoren 91, 409A, 440 – Mechanosensoren der Haut 412A Mediator 264 Medulla oblongata 238, 246 – Atemzentrum 206, 214, 243A, 246 Melanin-concentrating hormone MCH 269 MEG Magnetoencephalogramm 551 Meeresschildkröten, Wanderungen, Orientierung 500 Meerforellen, Wanderungen 625 Meerwasser; s. Seewasser Meissner Körper 412A, 417 Melanin, Melaninsynthese 160A Melanocortin 281 Melanocyten-stimulierendes Hormon MSH 269, 270A, 280A, 281, 321 Melanophila (Brand-Kieferprachtkäfer) 503A Melanopsin 318, 324, 327 Melatonin 321–322, 322A, 326, 609 Membrana tectoria Deckmembran, Tektorialmembran 454, 457A Membranpotential, elektrisches 37, 329ff, 344A – in Mitochondrien 43 memory cells im Immunsystem 168, 169A, 181, 182A, 187 Menotaxis 587, 593 Menstruationszyklus, Ovarialzyklus 287–289, 270A, 608 – und Körpertemperatur mental, mind, Innenwelt 561–563 Merkel-Körper, -Zellen 412A, 417 Merkmalsdetektoren 553 Mesangial-, Mesangiumzellen 135, 153A Messenger, primäre, sekundäre, tertiäre 301 Messerfische Eigenmannia 496, 498, Tafel 12 Metabolismusrate 49 Metaboliten 31 metabotrop, metabotrope Synapsen 363, 530, 574 Metamorphose, mit hormonaler Kontrolle 292ff, Tafel 12 – Amphibien, Frosch 292–293, 292A – Cnidarier, Hydractinia 629A – Schmetterlinge 293–296, 294A, 295A Metanephridien 131 Methadon 269 Methan 41, 90, 96 Methionin 71 Methylbutyrat 620A MHC, Major Histocompatibility Complex 171, 173–177, 174A, 177A, 178, 180A, 182A – MHC und Pheromone 481, 584 Micelle 100, 100A–101A, 103, 106 Mikroglia 161 Mikrosmat, Makrosmat 490 Mikrotubuli 56, 57A, 59A–61A Milch – Antikörper 173, 187 – -Eiweiß 96 – -Unverträglichkeit 95, 106 Milchsäure 38–39, 109, 201, 389, 620A; s. auch Lactat
Milchzucker; s. Lactose Milz 163 Mineralocorticoide 153–154, 277, 282, 298, 300 Mitochondrium 1, 36A, 43–44, 53 – Citratcyclus, Atmungskette 32, 36, 74, 41–44, 53, 195A – Rolle bei Stickstoff-Entsorgung 121A – Rolle bei Wärmeproduktion 255–256, 256A MIS Müllersche-Gang-inhibierende Substanz 283 Mitralzellen 479A Mnemotaxis 593 molekulare Motoren 55–60 Monarchfalter Danaus argus 592 Mondrhythmen 602–607 Monoamine 361 Monocyten 161, 162A; s. auch Makrophagen Monooxygenasen 122 monosynaptischer Eigenreflex 387 Mormyriden 495, 496, 497A, 504, Tafel 12 Mormyromasten 497 Morphin 269–270, 368, 370A Morpholin 490 Motoneuron 386A Motoren, molekulare 55–60, 70 motorische Neurone, Axone, Fasern 385, 386A Motorische Endplatte 356, 368A, 380; s. auch neuromuskuläre Synapse MSH Melanocyten-stimulierendes Hormon, Melanocortin 269, 270A, 281 MSO Mediale superiore Olive 464 Mucosa 86 Müller Johannes 407 Multiple Sklerose 185, 188 Muscarin, muscarinisch 363, 369A, 390 Muskelfasern, -kontraktion, -motoren, -zelle 373–382, 402 – Muskelfasern, glatte 373, 389–390, 390A – Muskelfasern, quergestreifte 373–382, 401 – Muskelfasern, rote, weiße 389, 402 Muskeln als Organ 382–402 – Antagonisten 387–388 – Dauerkontraktion, tetanusische 382, 383A – Energiestoffwechsel 388–389 – Flugmuskel der Insekten 390 – Kraftentfaltung 384A – Muskelkater 389 – Muskelkrämpfe 277 – Muskelmotorik-Steuerung 385–388 – Muskulatur glatte 389–390, 390A, 402 – Muskulatur rote, weiße 389, 402 – Muskelzuckung 382–383 – Schließmuskel 390 – Stickstoffentsorgung 120, 121A, 129, 155 Muskelpumpe 229A, 233 Muskelspindeln 385–388, 385A–386A, 402, 421, 431 Muskelzittern 611 Myelinhülle, -scheide 354 myenterischer Plexus 244 Myofibrillen 374A, 374–375, 375A, 401
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Sachverzeichnis Myoglobin 134, 196–198, 196A, 212, 214, 388 Myosin, -filament, -motor 57–59, 58A, 374A, 375A Myosin-LK-Kinase 390A Myotubus 373 Na+/K+-ATPase 68A, 145, 151, 155, 338, 340, 349A, 355, 508A, 545 Na+-Kanäle 345, 346A, 348A–349A, 508A–509A N-Acetyltransferase 322 NAD, Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid 31–32, 33A, 36A, 40, 42 NADPH 33 Nahrung, Nährstoffe 31ff, 71ff, Tafel 2 Nahrungsaufnahme, Regelung 103–105, 104A Nahrungskette 28, Tafel 1 Nasengrube Fisch 490 Natrium-Kalium-ATPase 68A, 145, 151, 155, 338, 340, 349A, 349 Natriuretisches Hormon, Peptid 154, 277 Natürliche Killerzellen NK 177, 178–179 Navigation 591–598; Definition 593 Nebennierenmark 241, 245A, 281, 300 Nebennierenrinde 153A, 281, 298, 300 Nebenschilddrüse, Parathyreoidea 276–277, 277A, 300 Necker-Würfel 560 Neher Erwin 336 Nematocyte, Cnidocyte 429–430, 430A Nephron 132ff – -Kanal, -Tubulus 133–134, 145–151, 149A–150A, 155 Nernst-Gleichung 340, 342 Nernst-Potential, -Spannung 341A, 342 Nervengifte, Neurotoxine 369 Nervensystem – autarkes, autonomes 235, 240–251 – enterisches ENS 241A – peripheres PNS 240–251, 241A–243A, 245A – vegetatives 226, 235, 240–251, 241A–243A, 245A – zentrales ZNS 240 Nervenzelle, Neuron, funktionelle Gliederung 359A Nervus – opticus – trigeminus 473–474, 493 – vagus 241, 242A, 244–245, 248 Nesselzelle, Cnidocyte, Nematocyte 429–430, 430A Netzhaut; s. Retina Neuralleisten 240, 241A neuroendokrin, neurosekretorisch 263, 264A, 266, 268 Neurohämalorgan 264A, 266–267, 298 Neurohormone 266, 268A, 268, 298; s. auch Neuropeptide Neurohypophyse, Hypophysenhinterlappen 153A, 264A, 266, 267A, 299 Neuromast 434A Neuromodulatoren 363, 368, 370A Neuromuskuläre Synapse, motorische Endplatte 357, 368A, 380 Neuron, Nervenzelle 359A
– großzellige, kleinzellige 549 Neuropeptide 269, 280, 320 – CCK 92A, 106, 280A – Gastrin 91, 92A, 106 – GIP, GLP-1 280A – NPY, PYY, VIP 280A, 281 – Opioide 269–271, 299 – Sekretin, Secretin 91, 92A, 106, 264 – Transmitter 358, 359 Neurophysine 272 Neurosensorische Zelle 406A Neurotoxine 369A Neurotrophine 241, 360 Neurovegetative Steuerung 247ff NGF, Nerve-growth factor 241, 360 Nicotin, nikotinisch 363, 369A Nicotinamid 33A; s. auch Vitamine Nidationshemmer 291 Niere 132–156 – Nierenfunktion, Regelung 151–156, 153A – Niere als Hormonproduzent 152, 154 – künstliche 140A, 143 Nierenbecken 134 Nierenkörperchen 133; s. auch Glomerulus Nierensteine 130 Nilhecht Gnathonemus 486, 497A, Tafel 12 NIRS Nahinfrarot Spektroskopie 550 Nitrogen; s. Stickstoff NK, natürliche Killerzellen 162A, 177, 188 NMDA, N-Methyl-Aspartat – NMDA-Rezeptor(kanal) 364, 574A, 574–575 – NMDA-Synapse 574A, 574–576 NO, Stickstoffmonoxid, Stickoxid 263, 299, 310, 368, 574A, 576 Nociceptine 276, 277, 268 Noradrenalin 249, 250, 255, 256A, 271A, 282A, 361, 362A Nozirezeptoren 417, 420; s. auch Schmerz NPY, Neuropeptid Y 249 Nucleasen, Nukleasen 87, 98, 99A, 106 Nucleinsäuren – als Nahrungsbestandteil 31, 98 – Verdauung 98–99 Nucleus (Kerngebiet des Gehirns) – paraventricularis 267A – praeopticus 267A – suprachiasmaticus 267A Nullstrompotential 342 Nystagmus – optokinetischer 438 – vestibulärer 439 O2, 1, 2, 3, 36A, 42–43, 125, 189ff; s. weiter Sauerstoff – O2-Transport 186–201, 214 – O2-Partialdruck 189, 198A, 200A, 202 Objektwahrnehmung 557 Obösität, obesity 278 OBP odorant-binding proteins 475, 492
Sachverzeichnis Octopin 40, 620A, 621 Octopus Auge 534A Odorant-Rezeptoren OR 476–479 Ohmsches Gesetz 218, 332 Ökophysiologie 599–610, 611–630 Ökopyramide 28A Ökosysteme, Energieflüsse in 17, 26–30, 27A Oleamid als potentielles Schlafhormon 325 Olivenkerne 462–463 Ommatidium 512, 513A, 535A, 546 onkotischer Druck 135 On-Off-Neurone 511, 530A, 545–546, 553 Opine 621 Opioide 269 Opsin 507, 509A, 532A – Opsingene Opsonisierung 158, 161, 171, 187 Optic(al) Imaging 549 Optokinetische Bewegungen, Reaktion 514, 538A, 545 Optokinetischer Nystagmus 438 OR, odorant receptors 302A, 476A, 475–478 Orexin 280 OR-Gene, odorant receptor genes Orientierung – im Magnetfeld 499–501, 592, 594–595 – Orientierungskäfig 596A – Orientierungsweisen, Glossar Orientierungsneurone, -säulen 553 Ornithin, Ornithincyclus 121A Ortsabbildung, Ortsanalyse, Ortsprinzip im Gehör 457–458, 460A, 471 Osmoregulation 153, 274 Osmorezeptoren 153A Osmose 66, 138, 139–142, 149 – Definition als Diffusion freier Wassermoleküle 139 – Osmose und Dialyse 140A – osmotische Anpassungen 623–626 – osmotischer Druck 66–67, 139–141 – osmotischer Wert 138–139, 145, 146 Östradiol 268A, 284A–285A, 286, 290A, 290, 300 Östrogene 283, 286 Östron 284A, 286 Östrus 286–287 Oszillator 24A, 317, 320; s. auch Rhythmusgenerator Otoakustische Emissionen 460, 471 Otokonien, Otolithen 436, 436A out-of-body Erfahrung 419, 552 Ovales Fenster 451A, 471 Ovar 285A, 287, 288A–289A Ovarialzyklus 608 Ovo-Lacto-Vegetarier 81 Ovulationshemmer 290 own-body imagery 419 Oxalacetat 36A, 41, 110A Oxidation, biologische, Definition 2, 10, 31 beta-(β-)Oxidation der Fettsäuren 38, 111, 123 Oxidationswasser 44 Oxidative Decarboxylierung 41
Oxidative Transaminierung 120–121 Oxygen; s. Sauerstoff Oxytocin 267A–268A, 270A, 272, 290A, 299–300 P- (Proportional) Empfänger/Transducer 410–411 P450, Cytochrom 83, 118, 120, 123, 475 Palolo, Eunice viridis 607 p-Amino-Hippursäure 130, 141A, 135–136 PAMPs pathogen-associated molecular patterns 158, 161 Pankreas, Bauchspeicheldrüse 86, 87A, 91, 99, 106, 114 – Pankreas-DNAse, RNAse 99A – Pankreas-Inseln, Langerhans-Inseln 114 Pansen 95, 96A, 106 Papillae circumvalatae, foliatae, fungiformes 483A Parabronchien 205, 207A parakrin, Defintion 263, 264A, 298 – parakrine Gewebshormone 263, 264 Parasympathicus, parasympathisches System 92, 224–251, 241A, 243A, 245A, 247–251 Parathormon, Parathyrin 277, 277A Parathyreoidea, Nebenschilddrüse 276–277, 277A Parietalorgan 321 Pars intermedia der Hypophyse 268 Partialdruck 189, 190–191, 198A, 200A, 202 Patch-clamp Technik 336, 337A Patellarreflex 386A, 387 Pattern recognition receptors PRR 158, 161 Paukengang 451A, s. auch Scala tympani Paukenhöhle 451A, 452 Pawlow Iwan 572 pCO2 189ff – -Rezeptoren 243A, 245 PD (Proportional/Differential) Empfänger/Transducer 410, 411 PDE, Phosphodiesterase 509A, 510, 532A PEP, Phosphonenolpyruvat 26, 34, 35A, 110 Pepsin, Pepsinogen 86, 90, 92, 97A, 106 Peptidasen 97; s. auch Proteasen Peptide, als Transmitter 358, 362 peptiderg, Definition 363 Peptidhormone 262, 269, 270A, 298; s. auch Neuropeptide – des Magendarmtrakts 91, 92A, 104A, 106 per, period, PER 316–317, 318A–319A, 326 PER/TIM-Komplex 318A Perforine 178A Perfusion in Lunge, Kreislauf 189, 194, 195A Perilymphatischer Gang 451A, 452, 471 Periodizitätsanalyse 457 Peripheres Nervensystem PNS 240–251, 241A–243A, 245A Peristaltik 86 Permeabilität, Koeffizient 192, 343 Permeasen 62 Permeation 63, 64A Perspektive beim Sehen 558, 559A Perzeption, Wahrnehmung, Begriff 403A, 406, 418, 420 PET, Positronen-Emissions-Tomographie 552 Peyersche Plaques 163
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Sachverzeichnis Pfortader-, Portalgefäße 102, 105, 107A, 123, 268 Phagocytose 158 Phagocyten, professionelle 161, 187 Phantomschmerz 418 Pharmakophagie 492 Phase-response, -advance, -delay im circadianen Rhythmus 315 phasisch, Definition 388, 411 phasisch-tonisch 388, 411 Phenylalanin 71, 160A Phenylethanol 490 Phenylthiocarbamid PTC 487 Pheromone 259, 263, 480–482, 582–584, 583A, 598 – Definition 263, 480, 582 – Primer-Wirkung 482, 582 – Releaser-Wirkung 583 – Signaller-Wirkung 482, 583 Phon 447–448, 471 Phosphagene 388 Phosphat, Pi 37, 39 Phosphatitylcholin 62A Phosphatidylinositol-bisphosphat PIP2 305A, 306, 390 Phosphatübertragung, Phosphorylierung 34 Phosphodiesterase PDE 509A, 510 Phosphoenolpyruvat PEP 26, 35A, 39, 110 Phospholipase C, PLC 305A, 486A, 532A Phospholipide 32, 99A, 110. – der Zellmembran 62A Phosphorolyse, Phosphorylase 39 Photinus Leuchtkäfer 580 Photoperiode 317, 608 Photopigmente; s. Sehfarbstoffe Photopisches Sehen 517 Photoprotein 581 Photorezeptoren 508, 532, 546 – ciliärer, rhabdomerer Typ 532A, 536–537, 546 – Retinulazellen des Ommatidiums 507, 535A – Stäbchen und Zapfen der Wirbeltierretina 508A–509A, 514A–515A, 545 – Pinealocyt 322 Photosynthese 1–3 physiologischer Brennwert 11, 47 Physoclisten, Physostome Fische 624 Pille 290–291 Pinealocyt 322A Pinealorgan, Epiphyse 266, 321–322, 322A–323A, 326 PIP2 Phosphatidyl-inositol-bisphosphat 306, 486A, 532A; s. auch PI-PKC-System PI-PKC-System 260, 304, 305A, 306–307, 312, 363, 390, 532A, 574A, 576 PKA, Proteinkinase A 301, 304A PKC, Proteinkinase C 301, 305A, 306 Plasmazelle 162A, 168, 169A, 170A Plasminogen, Plasminogenaktivator 231 Plättchenfaktor 231A Platynereis dumerilii (Polychaet) 603, 607 Plazenta, als Hormonproduzent 290A, 300
PLC Phospholipase C 305A Plexus, myenterischer, submucosus, Auerbach-, Meissner- 86, 244 Pneumothorax 203 PNS, peripheres Nervensystem 240–251, 241A–243A, 245A PO, Prophenoloxidase 160, 160A pO2 189ff pO2-Rezeptoren 243A, 246 Podocyte 135, 133A, 134, 153A poikilotherm, Poikilothermie 251, 256 POL-Region des Komplexauges 542, 542A, 546, 591 Polarisationssehen 540–541, 541A–543A, 546, 591 Polygenie, Polymorphismus des MHC 174 Polyneuritis 74, 105 POMC, Pro-Opio-Melano-Cortin 270A, 274 – POMC-Gen 270A Porine 159, 172 Porphyrinring 197A Portalgefäße 268 Postsynapse, postsynaptische Membran 361A postsynaptisches Potential PSP 336, 364, 365A, 406A Potential – chemisches 5–6, 340 – elektrisches 340, 344A – elektrochemisches 340 – Gleichgewichtspotential 340 Potentiale, Formen elektrischer Potentiale – Aktions-, Spike 349–353, 350A, 352A, 406A – im Herzen 397–399, 397A – EPSP 364, 365A, 406A – IPSP 364, 365A – Ruhe- 329, 337–338, 344A, 355 Potentialdifferenz 331, 333, 336, 340 Potential-gesteuerte Kanäle, voltage-gated channels 345A, 346–347, 348A, 361A, 381, 361A Potenzierung an Synapsen – Langzeit-P., LTP 367A, 368, 574A, 576 – postsynaptische 575 – präsynaptische 574 Prachtkäfer Melanophila (Feuerkäfer) 503A, 504 Präfrontaler Cortex 556, 568 Prägung, imprinting 576–578 Präsynapse, präsynaptische Membran 361A Pregnenolon 118A, 284A Pressorezeptoren 243A, 247 Prestin-Protein 459A, 461, 471 Primäres Sehzentrum V1 547, 554A Primer-Effekt 482, 582 probes, Sonden 333 Progesteron 268A, 284A–285A, 286, 288A–290A, 300 Prohormon 270A Prolactin 266, 268, 273–274, 290A, 292A, 293, 300, 609 – Prolactin-Rezeptor 302A – Tagesschwankungen 323 Prophenoloxidase, PO 159, 160A Propionat, Propionsäure 620A Proportional-Transducer 410–411
Sachverzeichnis Propriorezeptoren, Definition 405, 419 Prosop-Agnosie 557 Prostaglandin D2 als potentielles Schlafhormon 325 Prostaglandine 173, 185, 247, 263, 271 Prot-Anopie 527 Proteasen 74, 87, 97, 97A Protein, Proteine, als Nahrungsbestandteil 31, 71, 81, 38, 53 – Protein-Abbau, -Verdauung 97A, 98A – Proteine als Hormone 262, 298 – Proteine als Transmitter 362 Proteinkinase 34, 301, 303, 312 Proteinurie 135 Prothorakotropes Hormon PTTH 294, 294A Prothoraxdrüse 264 Protonephridium 131A PRR, pattern recognition receptors 158, 161, 187 PSP, postsynaptisches Potential 336, 364, 365A, 406A Psychophysik 415–416 Pteridine 130, 131A PTTH Prothorakotropes Hormon 294, 294A P-Typ-ATPasen 68 Pubertät. hormonale Steuerung 283 Puls, Pulswelle 225 Pupille 517, 545 Purinbasen, Pyrimidinbasen, Entsorgung.127, 128A Purkinjefasern im Herz 397, 397A Purkinje-Phänomen 518 Pyrimidinbasen; Entsorgung 127, 128A Pyruvat 32, 35A, 36, 38, 42, 74, 108A, 110A, 121A, PYY Neuropeptid 105, 106, 280A, 281 Quergestreifte Muskelfaser 373–382, 401 Quieszenz 600 Ranvier’scher Schnürring 353A, 354 RAR, retinoic acid receptors 78 Raumkonstanz beim sehen 560 Rathke’sche Tasche 265A, 267 Reaktionsenthalpie; s. Enthalpie Redox-potential, -enzym, -system, -reaktion 8, 53, 74, 196 5α-Reduktase 286 Reduktion, Definition 10 Reduktionsäquivalent 33 refraktär, Refraktärzeit 351 Refraktärperiode, im Herz 397 Regelkreis, Regler, Definition Regelung 235–240 Längenregler im Muskel 386–388, 386A Reißner-Membran 453 Reiz, stimulus, Definition 403A, 405, 419 adäquater, inadäquater 407 bedingter, unbedingter, konditionierter, unkonditionierter 575 Reizleitung, Definition 405 Rekombination, somatische 166A, 166–168, 187 Releasing Hormone 268, 271 REM-(rapid eye movement)-Schlaf 325 Renaler Plasmafluss RPF 135 Renin-Angiotensin-System 152, 153A, 154 Repolarisation 351
Residualvolumen der Lunge 203, 209 Resonanztheorie der Tonwahrnehmung 458 Resorption 87, 102–103 Respirationskalorimeter 46, 46A, 47A Respiratorischer Quotient RQ 45, 53, 189, 613 Respirometer 203A Rest and digest 249 Resting potential, Ruhemembranspannung 329, 337–38, 355 Retina, Netzhaut 514A–515A – Datenverarbeitung in 527ff Retinal, Retinol, Retinsäure 78, 105, 297 – Retinal als Sehfarbstoff 78, 105, 507A, 507–510, 509A, 545 Retino-hypothalamischer Nerventrakt 324 Retinomotorik 518 Retinotektale (retinotope) Projektion 549 Retinotope Abbildung, Kartierung 549, 553 Retinsäure (retinoic acid) 78, 105, 297 Retinulazellen des Ommatidiums 507 Rezeption, reception, Definition 403A, 405 Rezeptives Feld 407, 528–529, 528A, 530A, 546, 553 Rezeptor als Sinneszelle, Sensor 405–406, 419 Rezeptoren, molekulare 296, 299, 302A – alpha/beta Rezeptoren für Adrenalin 249, 302A – Membran-ständige 296, 302A – Kern-ständige 297A Rezeptor-Ionenkanal 302A, 361A Rezeptorpotential 336, 406A, 408–410, 459A RGB-System der Farben 519–521 RGT-Regel, Reaktions-Geschwindigkeit-Temperatur- Regel 26, 29, 613 Rhabdom, Rhabdomer 507, 537 Rhesusfaktor 183–184, 184A Rhodopsin 78, 302A, 507, 509A, 532A, 545 Rhombencephalon; s. Medulla oblongata Rhopalium, Sinneskolben 427, 429A Rhythmik, biologische – circadiane 313–327 – circannuale 599ff, 609 – freilaufende 313–314 – lunare, seminulare, Gezeiten-Rhytmik 602–607 Rhythmusgeneratoren im ZNS 246, 319–324, 326 Richtcharakteristik von Sinneszellen 411, 432A, 440 Riechsinnn; s. auch Vomeronasales Organ – Riechepithel, Riechsinneszellen 475–480, 476A, 479 – Riechsensillen der Insekten 491A – Riechvermögen von Tieren 474 Riesenaxon des Tintenfisches 338, 339A, 343 RMR, resting metabolic rate 48 Rotationssinn; s. Bogengänge Rot-Grün-Fehlsichtigkeit, Anopie 526 Ruffini Körperchen 412A, 417, 422A Ruhepotential (resting potential), Ruhemembranspannung 329, 337–338, 355 Ruheumsatz 48 Ruminantia 95, 96 rundes Fenster 451A, 471
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Sachverzeichnis Rundtanz der Biene 588A Ryanodin-Rezeptoren 381A Saccharose, Sucrose 94A, 98 Sacculus 435A, 437A Sakmann Bert 336 Saisondimorphismus 601 Sakkaden 438 Saltatorische Leitung 354–355 Salzsäure des Magens 86, 88A, 90, 105 Sarkolemm 374 Sarkomer 374, 374A–375A, 401 Sarkoplasmatisches Reticulum 375 Sättigungskinetik 64, 64A Sättigungs-, Sattheitszentrum 104A, 106, 269, 280A Sauerstoff 1–3, 42–43, 53, 169 – als Elektronenakzeptor in der Atmungskette 32, 36A – Sauerstoffarmut; s. Hypoxie; in der Höhe 213A – Sauerstoffbedarf, der Niere 151 – Sauerstoffgehalt der Luft 3, 190, 192–193, 213A – Sauerstoffgehalt von Blutplasma, Wasser 192, 195 – Sauerstofftransport 196–200 – Sauerstoff-bindende Pigmente 195–200 – Sauerstoff-Bindungs-Dissoziationskurve 198A, 200A – Sauerstoffradikal 43, 53 – Sauerstoffverbrauch 47, der Niere 151 Scala vestibuli, Scala tympani, Scala media 451A, 459A Schläfenlappen, Temporallappen 547 Schall, Physik 443–448 – Bodenschall 590 – Schallamplitude 445 – Schall-Ausbreitungsgeschwindigkeit 444 – Schalldruckpegel 447 – Schallfrequenz 444–445, 471 – Schallkeule bei Echoortung 467A, 470 – Schall-Lokalisation 462–464, 464A – Schallschnelle-Empfänger 424, 424A – Schallstärke 445, 447 – Schallübertragung im Innenohr 450–452, 451A – Schallwechseldruck-Empfänger 444 Schaumzelle 119 Schilddrüse, Thyreoidea 264, 265A, 275, 275A, 292A, 298–299 Schlafhormone 325 Schlaf-Wach-Rhythmus 325-326 Schlaganfall 119, 227, 230 Schließmuskel der Muschel 390 Schluckvorgang 85A Schmerzsensoren, Schmerzsinn 370A, 405 Schneckengang des Ohrs, Cochlea 435A, 451A, 454A, 459A–460A Schnorcheln 210, 210A Schnurrhaare,Vibrissen 422, 423A Schrittmacher 225, 397A, 402 Schwangerschaft und Hormone 134, 289–291 Schwann’sche Glia, Scheide 353A, 354 Schwänzeltanz 587, 589, T31 Schwarz-Weiß-Neurone 554
Schweißdrüsen, Schwitzen 253 Schwerkraftsinn, Gleichgewichtssinn 426ff, 437ff, 441 – Wirbellose 426–428, 427A–429A, – Wirbeltiere 437–438, 437A Schwimmblase 220, 426, 465, 624, 625A Schwingkölbchen, Halteren 424, 426A SCN suprachiasmatischer Nucleus 267A, 322–325, 327 Scolopidium 425A, 466A, 503A Second messenger 301, 310, 312 Secretin, Sekretin 91, 92A, 105 Seele, Psyche, mind 403, 561ff Seewasser-Entsalzung, -Trinken 141–142, 150–151, 627A Sehbahn 547, 548A Sehen 505–532, (Mensch), 535–546 (Insekten) – Bild-, Formen-, Bewegungssehen 512–517, 529 – Farbensehen 518–529, 539–541 – Hell-Dunkelsehen 517, 529 – perspektivisches 558, 559A – photoelektrische Transduktion 509A – photopisches 517 – Primärprozesse 507–512 – skotopisches 517 – unbewusstes 560 Sehfarbstoff, Sehpurpur 510; s. auch Retinal, Rhodopsin, Melanopsin – Absorptionskurven 524, 525A Sehnenorgane 422A Sehrinde, Sehcortex, Sehzentrum 553–555, V2–V5 555 – primäres Sehzentrum V1 549, 554A, 555 Seitenlinienorgane 433A, 434, 434A, 440 Sekundäre Pflanzenstoffe 82 Selbstorganisation 21ff semilunare Rhythmen 599, 602, 609 semipermeable Membran 342 Sensibilisierung 367, 571, 575 Sensillen, Definition 423 sensorisches Cilium 423, 431, 476A, 475–476, 492; s. auch Stäbchen, Zapfen Serin 301, 303 Serinproteasen 97, 230–231 Serotonin, 5-Hydroxytryptamin 322, 361, 362A Serpentinrezeptoren 302A, 303, 476, 486A Sexualentwicklung 283–286 Sexualhormone 266, 283–286 – Synthese, Struktur 284A Sexuallockstoffe 582, 583; s. auch Pheromone Signaller-Effekt 482, 583 Signalpropagation, Signaltransmission 260, 310–312, 403A, 406 Signaltransduktion 299, 301–310, 312; s. auch Transduktion – Definition 260, 301, 406, 408 – Transduktionssysteme 303–310 – in Photorezeptor 509A – in Riechsinneszelle 476A Simultan-, Sukzessivkontrast 522, 529, 546 Sinne, Allgemeines 404ff – Sinnesmodalität, Sinnesqualität 404
Sachverzeichnis – Sinnesorgan, Begriff 407–408 Sinneskolben, Rhopalium 427, 429A Sinneszelle – Arbeitsbereich 416A, 419 – Arten (Nerven-, primäre, sekundäre) 406A – Empfindlichkeit 517–518 – Kennlinien 416A, 419 – Sinnes-Nervenzelle 406A Sinushaare, Vibrissen 422, 423A Sinusknoten als Herzschrittmacher 243A, 396, 397A Skinnerbox 572A Sklerotisierung 296 Skotopisches Sehen 517 Sliding-filament Modell 375A, 377 SMR, standard metabolic rate 48 SNARE-Komplex an Synapse 361A Solvent drag 102, 143, 146 somatische Rekombination 165–168 Somatomedine 117, 123, 273, 276A Somatomotorischer Cortex 556A Somatosensorik 417–420 – Somatosensorischer Cortex 418, 556A Somatotopie 418, 420 Somatostatin 268A, 272–273, 276A Somatotropin, Somatotropes Hormon STH 117, 266–267, 268A, 273 Son 448 Sonar 465–470, 472 Sonnenkompass 543, 587, 591, 596 Sorbitol 615–616 Sound pressure level SPL 447 Spaltsensillen, Lyriforme Organe 425A Spannung, elektrische 331ff, 344A Spannungs-, Potential-gesteuerte Kanäle 336 – für Ca2+ 361A – für Na+ 345, 346A, 348A, 349A 361A Spannungsklemme, Voltage clamp 334, 335A, 336 Sperry RW 561 Spike-generierende Zone 349 Spikepotential 337, 351; s. auch Aktionspotential Spinalganglien 241, 241A–242A Spines, Dornen-Synapsen 359A SPL Sound pressure level 447 Split-brain-Patienten 561 Spontanaktivität, -frequenz von Sinneszellen 410A, 411 Sprue 82 Spurenelemente 71 sry-Gen, SRY-Faktor 283 Stäbchen der Netzhaut 508A–509A, 514A–515A, 545 Stammhirn 569 Stärke (Nahrung) 1, 31, 93, 98, 111 Statocyste, Statolith 427, 428A–429A, 440 Steigbügel 451A, 471 Stereocilien, Stereovilli 430, 430A, 431, 432A, 459A Sternenkompass 596 Steroide 119A, 262, 299 Steroidhormone 119, 260, 262, 271A, 299 – Ausscheidung der 119–120
– Gen-regulatorische Funktion 297, 297A – Struktur 118A, 271A Stevens’sche Potenzfunktion 416 STH, somatotropes Hormon 266, 267, 273, 276A Stickstoffentsorgung 121–122, 125–130 Stickstoffmonoxid NO 263, 368 Stickstoffnarkose 211 Stoffwechsel – Grundstoffwechsel der Zelle 31–46 – Stoffwechselreduktion, spezifische 50–52, 50A – Intermediärstoffwechsel; s. Leber Stoffwechselendprodukte 621; s. auch Exkretion Stoppuhren, physiologische 326 Störche, Zugrouten 597 Stress 249, 270, 274, 282A – Stresshormone 251, 272, 282A, s. auch ACTH, Adrenalin, Cortisol, CRH – Wirkung auf Immunsystem 183, 270–271 Stromklemme, Current clamp 335A, 336 Strömungsphysik 218–219 Strömungssinn 433A, 434A Substratstufen-Phosphorylierung 34 Succinat 36A, 110A, Succinyl-CoA 36A, 74, 110A, 111 Sucrose; s. Saccharose Sukzessivkontrast 522, 546 Summation, Subtraktion an Synapsen 366, 366A–367A – Summation beim Muskel 383 Summenpotential 399, 539, 550 Superpositionsauge 536A Suprachiasmatischer Nucleus SCN 267A, 322–324, 327 Symbionten im Verdauungstrakt 41, 88, 95ff, 106 Sympathicus, sympathisches System 224–251, 241A, 243A, 245A, 247–251, 270, 282A, Tafel 7 Symport, Symporter 67, 67A, 102, 137A, 145, 155 Synapsen 357–371 – axosomatische 359A – chemische 358–371 – Datenverarbeitung 366, 366A–367A – Dornen-Synapse 359A – elektrische 357–358, 358A – immunologische 176A, 188, 312 – neuromuskuläre 357, 368A, 380 – Synapse en passant, Varikose 242 – synaptische Vesikel 359, 361A Systeme, offene 17, 21–25 Systole 223 T3, Trijodthyronin 274, 275A T4, Tetrajodthyronin 274, 275A, 295 T1R, T2R-Rezeptoren von Sinneszellen Tageslethargie, Tagestorpor 50, 256, 613 Tagesperiodik physiologischer Werte 320–321; s. auch circadiane Rhythmik Tanzsprache der Biene 587–589, T31 Tastsinn 407, 412A, 434 – Tastpunkte 407, 413A
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Sachverzeichnis – Tastscheiben 412A – Tastsensillen 424A, 428A, 491A Tauchen, Physiologie 206–209, 208A, 214 – tauchende Tiere 209, 211–212 – Tauchglockenprinzip 209 – Tauchreflex 210 – Tauchtiefen, -zeiten 209 Taxien 593 TBG, Thyroxin-bindendes Protein 274, 275A TCR, T-Zell-Rezeptor 165, 167, 168, 177A, 180A, 182, 187 Tcyt, cytotoxische T-Zellen 162A, 182A, 188 TDF, Testis-determining Faktor, SRY-Faktor 283 Tectum opticum 547 Tektorialmembran 454, 457A Temperatursinn 412A, 414A, 414–415 Temperaturstrahlung, s. Infrarot Temperaturregelung, Thermoregelung 236, 251–257, Tafel 6 Temporallappen, Schläfenlappen 556A Terpene, Terpenoide – Juvenilhormon 263, 274, 299 – Vitamin A, Retinal 78, 105 Testosteron 268A, 283, 284A, 300 tetanische Kontraktion 383A Tetanus 382 Tetrachromaten 527 Tetrajodthyronin T4 274, 275A Tetrapyrrol, Tetrapyrrolring 120A, 197, 214 Tetrodotoxin 369A Thalamus 548, 570A Thaumatin 482 Thecazellen 285A T-Helferzelle, TH 171, 177A–178A, 179–180, 182A Thermodynamik 4–14 Thermogenese 252, 254–256 Thermogenin 255–256 Thermoregulation 236, 251–257 Thermorezeptoren, Thermosensoren 412A, 414A, 414–415, 417 Thiamin, Thiaminpyrophosphat TPP; 74, 78A s. auch 41, Thrombin 231A, 233 Threonin 71, 303 Thrombocyten 231, 233; s. auch Blutplättchen Thromboxane 263, 271 Thrombus 230, 231A Thymosin, Thymopoetin, Thymulin 265 Thymus 163A, 173, 188, 265 Thyreoglobin 274, 275A Thyreoidea, Schilddrüse 264, 265A, 274, 276A, 292A, 299 Thyreotropin, TSH 267, 268A, 276A, 292A, 293, 628 Thyroxin 44, 255, 260, 264, 268A, 274–276, 275A, 292A, 293, 295, 299, 628 – Thyroxin-bindendes Protein TBG 274, 275A – Thyroxin-Rezeptor 276, 297A – Thyroxin-Synthese 275A tidale Rhythmik 602–606 Tiefsee-Anpassungen 623–625 tim, timeless, TIM 316–317, 318A–319A, 326
Tinnitus 462 Tintenfisch-Auge 534A Tip link 431–432, 433A, 459A Titin 375A, 376 TIR2/TIR3 taste receptor 485 TLR Toll-like receptors 159, 161 TMS, Transkraniale magnetische Stimulation 552 TNF Tumor-Nekrose-Faktor 161 TNT tunneling nanotubes 311A, 312 Toll-like receptors TLR 159, 161 Ton, Tonhöhe 445, 446 – Tonhöhen-Unterscheidung 449, 457–460, 460A – Tonumfang Mensch 445, 471 tonisch, Definition 388 Tonotopie 457, 462, 472 Tonsillen, Mandeln 163 Torpor 50, 256, 613 Tracheen 197 Transaminierung 38, 120, 121A Transcraniale magnetische Stimulation TMS 552 Transcytose 69A, 70, 173A, 311A Transducin 509A, 510, 511, 545 Transduktion in Sinneszellen 406, 408, 431, 433A, 459A – Definition 406 – in Geschmackszellen 484–485, 485A–486A – in Haar(sinnes)zellen 431–432, 432A, 459A – in Photorezeptoren 508A – in Riechzelle 476A, 478 Translokatoren 61–62, 102, 132, 135 Transmembranrezeptoren 302A, 476A, 478, 486A, 509A, 510; s. auch Chemorezeptoren, Opsin Transmission, Definition 260 Transmitter 358–364, 362A, 371 Transporter 102 Transposition in der Bienensprache 587–588 Traubenzucker; s. Glucose Trehalose 616 Tretmühlmethode (treadmilling) 57 TRH, Thyreotropin-releasing Hormon 270A Triacylglyceride, -glycerine 99A, 111, 114; s. auch Fette Triade 376, 381A Tricarbonsäure-(TCA)-Zyklus 41–42; s. auch Citrat-Cyclus Trichromaten 527, 545 Trichromatische Theorie des Farbensehens 522, 526 Trigeminussystem 472–474, 487, 493 Triglycerine, Triglyceride 31, 38, s. auch Lipide, Fette Trijodthyronin T3 274, 275A, 295 Trimethylamin, Trimethylaminoxid 130, 131A Trit-Anopie 527 Trommelfell, Tympanum 445, 451A, 452, 471 – äußeres, inneres ovales, rundes 451A, 452 – bei Insekten 466A Trophiestufen 28 Trophocyten der Biene 500 trophotrope Reaktion 250 Tropismus 593 Tropomyosin 376, 381A Troponin, Troponin-Komplex 376, 381A, 401
Sachverzeichnis TRPM5 Kationenkanal 486 Trypsin, Trypsinogen 87, 91A, 97, 106 Tryptophan 71, 81, 262, 322 TSH, Thyreotropin 267, 268A, 276A, 292A, 293, 628 Tuberöse Organe, Elektrosensoren 498A T-Tubulus, transversale Tubuli 374A, 376, 381A Tumor-Nekrose-Faktor TNF 161 Tympanum; s. Trommelfell Tuningkurven 455A Tyrosin 37, 71, 160A, 271A, 301, 303A Tyrosinkinase-Rezeptor 302A, 312 Tyrosinoxidase 160 T-Zellen 162A, 163, 173, 176, 177A, 177–178, 187 – T-Zell-Rezeptor 167–168, 177A UCP, uncoupling protein 255, 256A Ultimobranchialkörper 277, 277A; s. auch C-Zellen Ultrakurzzeitgedächtnis 367, 567 Ultraschallortung 445, 464–470, 467A, 468A, 470A, 472 Umami-Geschmack 483–484 Umkehrosmose 140A, 141–142, 146, 149A Urea, Harnstoff 121A, 122, 126A, 616 Ureotelie, ureotelisch 126, 129, 155 Uric acid, Harnsäure, Urat 127A, 128A, 150, 155 Uricase 128 Uricotelie, uricotelisch 126A, 130, 155 Urin 129 Uterus 287, 288A–289A Utriculus, Utrikel 435; s. auch Maculaorgane V1-Sehzentrum des Gehirns 547, 554A Vagus, Nervus vagus 241, 242A, 244–245, 248 Valin 71 Vampirfledermaus, Infrarotsensor 503A, Tafel 13 van’t Hoffsche Regel 26 Varikose, Varikosität 242, 389 Vasopressin 153; 154, 272, s. auch Adiuretin Vater-Pacini Körper 412A–413A, 417 Veganer 81 Vegetarier 81 vegetativ, Definition 71, 235 vegetatives Nervensystem 226, 235, 240–251, Tafel 7 Vektornavigation 592, 593 Vena portae; s. Pfortader Venen, Venolen 226A, 229, 233; kontraktile 229 Venenklappen 229 Ventilation der Lunge 189, 194, 195A, 214 Verdauung 86ff – Verdauungsenzyme 90, 92–96 – Verdauungstrakt 86ff, 87A, 92A – Regelung 90–92, 245A, Vestibularapparat 434, 435 Vestibulärer Nystagmus 439 Vibrationssin 424, 425A; s. auch Vater-Pacini-Körper Vibrationssignale 590 Vibrissen, Schnurrhaare 422, 423A VIP, Vasoactive intestinal Polypeptide 249 Visuelle Areale im Gehirn; s. Sehzentrum
Vitalkapazität der Lunge 203 Vitamine 73–80, 102, 105 – Vitamin A 74, 79A, 81, 105 – Vitamin B1 41, 74, 78A, 105; s. auch Thiamin – Vitamin C 76, 80 – Vitamin D 74, 77–78, 79A, 262, 278 – Vitamin D2, D3 77, 79, 262, 278 – Vitamin E 77–78 – Vitamin F 74 Vitellogenine 117, 123 VLDL, very light density lipoprotein 108A, 112A, 113, 115A Vögel – Fliegen, Flugphysik 392–396 – Lunge 207A – Magnetfeldorientierung 500–501 Voltage-clamp, Spannungsklemme 334, 335A, 336 Voltage-gated channels – für Ca2+ 381, 361A – für Na+ 345A, 347, 348A Vomeronasales Organ VNO, Jacobson Organ 474, 475A von Frisch, Karl 539, 541 V-Typ-ATPasen 69 Wachstumshormon, Somatotropin, GH 266–267, 273, 276A – Rezeptor 302A – Tagesschwankungen 323 Wahrnehmung, Perzeption, Definition 403A, 406, 418, 420 Wahrnehmungsprinzipen, psychologische 557ff Wanderfische 625, 627 Wanderwellen, -theorie 454, 458 warmblütig; s. homoiotherm, isotherm, endotherm Wärme, Wärmeerzeugung 3, 5, 44, 53, 252, 254–256 – Wärmeaustauscher 148A, 253, 254A, 612A, 614, 619; s. Gegenstrom – Wärmeentzug 253, als Reiz 413A–414A, 414–415 – Wärmeleitung 253 – Wärmeproduktion 44, 252, 254–256 – Wärmesensoren, Warm-Rezeptor 413A–414A, 413–414, 420 – Wärmestrahlung, Infrarot 502 Was?, Wo?-Bahnen/Kanäle 555, 556A Wasseraktivität 66 Wasserhaushalt 153A, 154–155, 277–278, 618 Wasserkanäle (Aquaporine) 62, 129, 138A, 149, 153A, 156 Wasserpotential 138 Wasserrezeptoren 491 Wasserspeicher, -sparen 138, 151, 618 Wassertransport 138A Weber-Fechner Gesetz 415, 447 Weber-Gesetz 415 Weberscher Dreischalen-Versuch 414A wechselwarme Tiere 251, 256 Wegintegration, Vektornavigation 593 Wernicke Areal 556A Wiederkäuer, Wiederkäuermagen 95, 96A, 106 Wiesel Torsten N 549, 576 Windkesselfunktion 225–226
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Sachverzeichnis Windmesser 424 Winterruhe 613 Winterschlaf, Winterschläfer 44, 255A, 255–256, 612–613 Winterstarre 613 WO?-Bahn/Kanal 555, 556A Wüstenameise Cataglyphis 593 Xenopus, Seitenlinienorgan 433A Xenöstrogene 291, 300 Young Thomas 522 Zapfen der Netzhaut 508A, 509A, 514A–515A, 545 Zeitgeber 315, 317 Zellatmung 2 Zentralnervensystem ZNS 240
Zentraluhren, biologische 321–324, 326 Zirbeldrüse, Epiphyse, Pinealorgan 266, 321–322, 322A–323A Zitteraal, Zitterrochen, Zitterwels 400A, 401, 496 ZNS; s. Zentralnervensystem Zöliakie 82 Zonulafasern des Auges 516, 516A Z-Scheiben; s. Muskelfaser Zucker, diverse 31, 71, 32s. auch Saccharose, Sucrose, Maltose, Lactose Zuckerkrankheit; s. Diabetes mellitus 45, 109, 116, 123, 299 Zugvögel 46, 595–597, 597A Zunge, Geschmacksknospen 483A Zwergwuchs, hypophysärer 273 Zwischenhirn; s. Diencephalon, Hypothalamus, Thalamus Zwölffingerdarm 86 Zymogen 90, 97, 106