Cover
DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Tom Wittgen Tiefenprüfung
Kriminalroman
Konrad Wehle...
8 downloads
128 Views
782KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cover
DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Tom Wittgen Tiefenprüfung
Kriminalroman
Konrad Wehler, ein schwerkranker Mann, quält sich vor Eifersucht. In einem Moment höchster Erregung beschließt er, seinen Nebenbuhler zu beseitigen, ein für allemal. In der Nacht darauf muß Konrad Wehler ins Krankenhaus eingeliefert werden, seine Frau steht am nächsten Morgen vor Gericht, und der andere Mann wird in einem Lagerschuppen aufgefunden – erschlagen. Eine Dreiecksgeschichte? Auch das. Wie und wo diese Affäre jedoch noch mit Angelegenheiten anderer Personen in Berührung oder gar Kollision kommt, versucht Astrid Funke, Leutnant bei der Kriminalpolizei, herauszufinden. Dank ihrem Einfühlungsvermögen gelingt es der jungen Frau, jenen Ariadnefaden zu packen, der ihr hilft, ein Knäuel raffinierter betrügerischer Manipulationen größten Ausmaßes zu entwirren.
Tom Wittgen
Tiefenprüfung
Verlag Das Neue Berlin
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1978 Lizenz-Nr.: 409-160/135/78 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 383 2 DDR 2- M
I. KAPITEL
1. Der Raum lag im Morgendämmerlicht. Er wirkte kleiner, als er war, und gemütlicher, als ihm zukam. Es war der Raum 112 im ersten Stockwerk des Polizeipräsidiums von Korbeck. Leutnant Astrid Funke hatte ihn als Arbeitszimmer zugewiesen bekommen und wie ein Wohnzimmer eingerichtet. Hinweise ihrer Vorgesetzten auf das Ungewöhnliche daran quittierte sie mit einem charmanten Lächeln. Selbst Major Tröttger, der kaum Wert auf äußerliche Dinge wie Kleidung und Wohnkomfort legte, empfand die anheimelnde Atmosphäre als angenehm. Er hatte sogar – wenn Astrid Funke ihn anlächelte – das Gefühl, irgend etwas in seinem Leben versäumt zu haben. Ohne es sich anmerken zu lassen, bewunderte Tröttger seine Mitarbeiterin, weil die es fertigbrachte, sachlich und nüchtern zu arbeiten in einem Beruf, der noch größtenteils Männern vorbehalten war, und dennoch nichts an weiblichem Charme einzubüßen. Eben hatte er ihr einen Fall übertragen. Den dazu gehörenden Aktenordner legte er auf ihren Schreibtisch. Scheinwerferlicht vorüberfahrender Autos wischte durchs Zimmer, erfaßte die „Landschaft mit Zypresse“ von van Gogh, das Blattgerank daneben, die Tür, breit genug, um einen Elefanten durchzutreiben, den Rollschrank mit Holzkrügen darauf und zerplatzte im Nichts. Leutnant Astrid Funke erhob sich und ging auf den Lichtschalter zu. „So“, sagte sie, „ich soll also diesen Fall übernehmen. Als Frau.“ Das Licht flammte auf. Major Tröttger zog die Unterlippe zwischen die Zähne und wünschte in seinem schmucklosen Zimmer zu sit6
zen, und sei es auch über dem kniffligsten Fall, der ihm je untergekommen war. Nur fort von dieser Mitarbeiterin, die jetzt mit spöttisch heruntergezogenen Mundwinkeln wiederholte: „Als Frau!“ Wenn sie Unbeherrschtheit, Ärger zeigen würde, dachte Tröttger, wäre man weniger schuldbewußt. Doch sie erinnert mit ihrer spöttischen Ruhe geradezu erbarmungslos an frühere Situationen, in denen diese beiden Worte auch gefallen sind. Zuerst, als sie dieses Zimmer bezogen und er gegen das Brimborium losgewettert hatte, das sie persönliche Note nannte. „Als Frau habe ich das Bedürfnis nach einer geschmackvollen Umgebung.“ „Sie sind nicht als Frau, sondern als Mitarbeiterin der Kriminalpolizei hier angestellt“, antwortete er. Später einmal, als sie den aggressiven achtzehnjährigen Ladendieb vernehmen mußte, dessen Antworten Frechheiten waren: „Lassen Sie mich als Frau mit ihm reden“, schlug Astrid Funke vor. Der Major empfahl ihr, sie möge endlich begreifen, daß es hier keinen Männeroder Frauenverein gäbe, sondern ausnahmslos Kriminalisten. Doch der Bursche war manierlich geworden, als sie ihn in ihr Zimmer geholt und mit ihm gesprochen hatte. Vor einem Monat kam sie zu Tröttger und teilte ihm mit, daß sie die Vertretungen kranker Kollegen, die Bereitschaftsdienste und Nachteinsätze nicht durchstehe. „Ihr Männer könnt abends die Beine unter den Tisch stecken, wenn ihr nach Hause kommt. Ich muß für mich und mein Kind einkaufen, Wäsche waschen, die Wohnung in Ordnung bringen, Hausaufgaben kontrollieren und einiges mehr, was Ihnen Ihre Frau abnimmt.“ „Oberleutnant Riedel lebt auch allein“, erwiderte der Major. „In Untermiete. Läßt sich von seiner Wirtin verhätscheln. Seine Kinder zieht die geschiedene Frau groß.“ 7
Tröttger befreite Astrid Funke von einigen zusätzlichen Belastungen und schwor sich, ihr die Leviten zu lesen, falls sie noch einmal „als Frau“ bei ihm anklopfte. Nun aber hatte er selbst sie „als Frau“ angesprochen, und sie stand da, grazil, selbstbewußt, mit diesem unnachahmlichen Spott um die Mundwinkel. Sie wußte genau, welche Erinnerungen sie in ihm heraufbeschwor. „Der Fall Gudrun Wehler ist eine Ausnahme“, sagte er und erhob sich ebenfalls. „Diese Frau sitzt bei den Vernehmungen entweder stumpfsinnig da und schweigt, oder sie weint. Vielleicht finden Sie …“ Er stockte, verbiß sich gerade noch die Worte „als Frau“ und fuhr fort: „… leichter Zugang zu ihr. Sie übernehmen die Angelegenheit bis zum Abschluß. Eingeweiht sind Sie ja bereits.“ Astrid Funke ging zum Schreibtisch zurück, setzte sich, klopfte mit dem Finger auf den Aktendeckel und sagte ernsthaft: „Das geht in Ordnung.“ Der Major verließ das Zimmer. Leutnant Funke schlug den Aktendeckel auf und blätterte im Vernehmungsprotokoll. Es bestand aus Fragen, nur Fragen, keine Antwort. „Mist“, fluchte sie leise und ging zum Spiegel. Mit hellrotem Stift zog sie die Lippen nach, schnippste ein Fädchen vom Ärmel ihrer kobaltblauen Bluse und sagte zu ihrem Spiegelbild: „Na, komm. Versuch’s mal – als Frau.“ Sie saß wieder hinter dem Schreibtisch, als der Wachtmeister Gudrun Wehler ins Zimmer führte, ignorierte sein mitleidiges Lächeln und bot Frau Wehler Platz an. Sie ließ die Frau nicht aus den Augen, bemerkte deren sehnsüchtigen Blick nach den Zigaretten auf dem Schreibtisch und reichte ihr die Schachtel hin. Frau Wehler griff wortlos zu. Sie bedankte sich nicht. Astrid Funke gab ihr Feuer und beobachtete, wie sie schweigend rauchte. Diese fünfundvierzigjährige Frau wirkte gepflegt und bieder zugleich. Sie war ein wenig füllig, trug ein streng8
geschnittenes Kostüm, hatte das Haar sorgsam in regelmäßige Wellen gelegt und im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Ihr Make-up war sparsam und ohne Phantasie aufgetragen. Sie rauchte hastig und ungeschickt, ab und zu warf sie einen kummervollen Blick auf Astrid Funke, die einfach dasaß und sie anblickte. Gudrun Wehler rutschte auf ihrem Stuhl herum, fingerte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und rieb es zwischen den Fingern. „Warum quälen Sie sich nur so“, sagte Astrid Funke, leise, teilnahmsvoll. Ihr seid es, die mich quälen, antwortete die Frau in Gedanken. Jeden Tag im Kaufhaus die gleiche demütigende Bitte um Freistunden, weil ich zur Polizei bestellt bin. Jeden Tag dieselben Fragen: Warum haben Sie es getan? Wer steckt dahinter? Um das zu begreifen, müßtet ihr euch eine lange Geschichte anhören. Aber ich will sie nicht erzählen. Euch nicht. Keinem! „Manchmal verbiestert man sich so in eine Sache, daß man die Lösung nicht sieht, obwohl man sie vor der Nase hat“, sagte Astrid Funke. Was für eine Lösung soll es denn geben, dachte die Frau verbittert. Ich habe Geld unterschlagen, und ihr sperrt mich ein deshalb, fertig. Für euch … „Frau Wehler, haben Sie in den letzten Wochen einmal einem Menschen Ihr Herz ausschütten können, jemandem anvertraut, was Sie bedrückt, was Sie fürchten und hoffen?“ „Nein. Wem denn?“ Sie lauschte dem Klang der Stimme nach, verwirrt, weil es ihre Stimme war. Sie wollte doch schweigen! Schweigen zur Vernehmung, schweigen vor Gericht. Wer nichts sagt, kann nichts verraten. „Es muß doch in Ihrem Leben irgendeinen Menschen geben, bei dem Sie sich einmal alles von der Seele reden können.“ Ich hätte es getan, gestand sich Frau Wehler ein, es 9
hätte sich gewiß ergeben, wenn ich noch mit Anton Zinn zusammen in einem Kaufhaus wäre, aber … „Jetzt nicht mehr“, sagte sie resignierend. „Fühlen Sie sich auf Ihrer neuen Arbeitsstelle nicht wohl?“ „Da ist alles so fremd. – Aber das macht nichts“, fügte sie schnell hinzu. „Na, ich weiß nicht“, meinte Astrid Funke, „wenn’s bei mir mit der Arbeit nicht klappt, fühle ich mich wie ein Karpfen auf dem Trockenen.“ Ja, genau so, dachte Frau Wehler. Man schnappt nach Luft, zappelt, hat Angst und weiß nicht, wie lange man noch durchhält. Man möchte dahin zurück, wo man hergekommen ist. „Als was arbeiten Sie denn jetzt?“ „Als Verkäuferin.“ Leutnant Funke blätterte in der spärlichen Akte, las etwas nach. „Vorher waren Sie in der ‚Hochzeitskutsche‘ angestellt. Als Hauptkassiererin. Sagen Sie, ist das nicht eine langweilige Tätigkeit?“ „Aber nein! Wo denken Sie hin?“ Frau Wehler ließ das Taschentuch auf dem Schoß liegen. „Ich hatte doch nicht nur mit Geld, sondern auch mit Menschen zu tun, mußte Kassiererinnen anlernen, beaufsichtigen, und abends rechneten alle bei mir ab.“ „Aha, so ist das. Man weiß oft viel zuwenig über die Arbeit anderer und reimt sich was zusammen. – In der ‚Hochzeitskutsche‘ hatten Sie wohl Kollegen, mit denen Sie mal über persönliche Dinge sprechen konnten?“ „Ja, das stimmt.“ „Und das Verhältnis zu Ihren Vorgesetzten? War das recht förmlich oder gar gespannt?“ „Im Gegenteil. Herr Zinn behandelt alle Angestellten freundlich und hat für jeden ein offenes Ohr.“ „Frau Wehler, hat Ihre Arbeit als Hauptkassiererin Sie in irgendeiner Weise überfordert?“ 10
„Keineswegs. Sie hat mich ausgefüllt, ich habe sie gern getan.“ „Sehen Sie, da ergibt sich für mich ein Widerspruch. Sie hatten ein gutes Arbeitsklima, hatten Menschen um sich, die Sie mochten, eine Tätigkeit, der Sie gewachsen waren und die Ihnen Spaß machte. Aber Sie haben das alles aufs Spiel gesetzt und – verloren. Warum nur?“ „Ich – brauchte Geld.“ „Wer braucht das nicht? Sicherlich gab es auch in der ‚Hochzeitskutsche‘ Kollegen und Vorgesetzte, die gern ein bißchen mehr Geld gehabt hätten, als in der Lohntüte steckte. Haben die sich alle durch Unterschlagungen bereichert?“ „Ich bitte Sie! Wie kommen Sie denn auf so etwas!“ Wie ihre Hände zittern, dachte Leutnant Funke, wenn ihr etwas unter die Haut geht. Sie versucht offenbar, etwas zu vertuschen. „Sie brauchten also Geld. Na schön. Bleibt die Frage, warum Sie es sich auf diese Art und Weise beschafft haben.“ „Es war – naheliegend.“ „Nicht für Sie, Frau Wehler.“ „Doch“, entgegnete sie beinahe trotzig. „Als Hauptkassiererin hatte ich da gewisse Möglichkeiten.“ „Das meine ich nicht. Es paßt nicht zu Ihnen, daß Sie stehlen, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet, daß Sie Ihre Arbeit aufs Spiel setzen und sich der Verachtung Ihrer Kollegen preisgeben …“ „Nein!“ Frau Wehler begehrte auf. „Niemand wird mich verachten!“ „Das wäre aber eine ganz normale Reaktion – zumindest von Kollegen, die sich selbst nichts vorzuwerfen haben.“ Die Frau schwieg. „Frau Wehler, die Unterschlagungen im Kaufhaus sind erschreckend hoch. Ich kann nicht glauben, daß Sie die einzige Übeltäterin waren.“ 11
Wer nichts sagt, verrät nichts, dachte die Frau, aber ich habe mich hineingeredet, nun muß ich versuchen, mich wieder herauszureden. „Doch. Das – war ich allein. Aber … Glauben Sie mir, ich wollte nichts Schlechtes tun.“ Viel zu unbeholfen, schalt sie sich. „Das glaube ich Ihnen sogar“, erwiderte Astrid Funke, „obwohl es absurd ist angesichts der Tatsachen. Aber ich nehme an, Sie sind aus Unüberlegtheit oder was weiß ich für einem Grund in diese Geschichte hineingeraten. Es wäre gut für Sie, mir zu erzählen, wie das geschehen konnte. Vielleicht gibt es da Motive und Erwägungen, über die Sie sich selbst noch nicht bis ins letzte klargeworden sind. Glauben Sie mir, es wird Sie erleichtern, wenn Sie einmal alles frei herauserzählen.“ Sie trifft immer wieder genau den Punkt, dachte die Frau verzweifelt. Sie rät mir genau das, was ich schon längst möchte. Reden, nicht mehr alles mit mir allein herumschleppen müssen. „Da ist noch etwas, Frau Wehler. Ihr Mann. Wir wissen, daß er schwerkrank ist, und haben aus diesem Grunde Ihre Straftat vor ihm geheimgehalten. Aber wenn Sie nicht sprechen, müssen wir ihn um Rat fragen.“ „Nein! Ich bitte Sie, tun Sie das nicht!“ „Ich will es nicht tun, Frau Wehler. Aber wir haben Ihnen Zeit gelassen, alles selbst mit ihm zu besprechen. Wie haben Sie diese Zeit genutzt? Sie schweigen – Ihrem Mann gegenüber, uns gegenüber. Dabei leiden Sie. Leiden mit einem unerklärbaren Trotz.“ Frau Wehler schluchzte. „Bestrafen Sie mich“, sagte sie, „aber lassen Sie meinen Mann aus dem Spiel …“ Sie hielt plötzlich inne, als sei ihr ein unfaßbarer Gedanke gekommen. „Das ist grotesk. Noch nie hat eine Frau meine Ehe bedroht, und nun geschieht es auf diese Weise.“ 12
„Ich will nicht Ihre Ehe gefährden, Frau Wehler, sondern dahinterkommen, weshalb Sie Dinge getan haben, die einfach nicht zu Ihnen passen.“ Frau Wehlers Antwort waren Tränen und Schweigen. „Ich denke“, sagte Astrid Funke behutsam, „Sie sind auf eine besonders schlimme Weise einsam.“ „Warum sagen Sie so etwas? Oh, mein Gott, warum sagen Sie das?“ „Sie leiden wegen Ihres Mannes, nicht wahr?“ „Er ist krank, körperlich und seelisch. Er braucht jemanden, der ihm Hoffnung macht und Mut, an dem er all seine Ängste und Launen auslassen kann.“ „Und Sie haben sich daran gewöhnt.“ „Ich habe immer nur für ihn gelebt.“ „Vielleicht war das ein Fehler“, gab Astrid zu bedenken. „Ich weiß nicht. Ich kann mit keinem Menschen darüber sprechen. Meine Kolleginnen raten mir, ab und zu auszugehen. Tapetenwechsel, sagen sie. Meine Anhänglichkeit an diesen kranken Mann verstehen sie nicht, sie halten mich wahrscheinlich für altmodisch. Aber ich habe meinem Mann einiges zu verdanken und trage diesen Dank jetzt ab.“ „Diese Art von Dankbarkeit kann auf Ihren Mann demütigend wirken, Frau Wehler.“ „Ich habe versucht, von dieser Rolle loszukommen, ganz in der Arbeit aufzugehen, aber ich bin wohl nicht der Typ dafür. Ich brauche jemanden, an den ich mich ein bißchen anlehnen kann. Im Kaufhaus ist Herr Zinn der einzige Mensch gewesen, zu dem ich eine Art Vertrauensverhältnis hatte. Er kennt meine Probleme. Er versuchte nie, mir einzureden, ich solle mich auf billige Art davon ablenken. Durch ihn bin ich selbstbewußter geworden.“ Anton Zinn, dachte Astrid Funke, sie nennt diesen Namen schon zum zweiten Mal. Dann lauschte sie wei13
ter Frau Wehlers Worten. Die sprach jetzt stockend, wie gegen ihren Willen, über die Unterschlagungen im Warenhaus.
2. Hilfesuchend blieb Gudrun Wehler unter der Uhr im Hauptgang stehen. Noch hatte sie eine Viertelstunde Zeit bis zur Verhandlung, doch wenn sie weiterhin umherirrte, würde sie trotzdem zu spät kommen. Hinter ihr wurde eine Tür geöffnet. Gudrun Wehler wandte sich um, streckte der jungen Frau, die mit einem Aktenordner unter dem Arm in den Flur trat, ihre Vorladung entgegen. „Ach bitte, ich finde mich nicht zurecht …“ Die Frau warf einen flüchtigen Blick auf das Papier und nickte, als sei es alltäglich, daß man sich hier nicht zurechtfand. „Zimmer dreihundertzweiundachtzig. Da müssen Sie zum Quergang acht.“ Sie beschrieb den Weg und nickte wieder, als Gudrun Wehler dankte. Wenn er mich sehen könnte, dachte Frau Wehler im Weitergehen, und dieser Gedanke galt Konrad, ihrem Mann. Wenn er wüßte, wie ich mich von Quergang zu Quergang schleppe. Und vor allem – warum. Ich habe Leutnant Funke versprochen, es ihm endlich zu sagen. Nun sitzt er zu Hause, zieht seine Insulinspritze auf, rechnet aus, wieviel Einheiten er zum Frühstück zu sich nehmen darf und woraus sich die übrigen Mahlzeiten zusammensetzen sollen. Er zählt die Herztabletten ab, die er im Laufe des Tages schlucken muß … Das ist sein Leben. Jede Aufregung, sagt der Arzt, kann eine Katastrophe auslösen, psychisch oder physisch. Aus diesem Grunde sah die Kriminalpolizei bisher auch davon ab, in Wehlers Wohnung zu kommen. Leut14
nant Astrid Funke legte aber der Frau nahe, vor der Verhandlung mit ihrem Mann zu sprechen, vor allem, bevor sie verurteilt wurde. Doch ihr hatte die Kraft dazu gefehlt. Gudrun Wehler bemerkte von weitem eine Menschenansammlung und ging zögernd weiter. Sie erkannte Verkäuferinnen, Kassiererinnen, den BGL-Vorsitzenden und Michael Hagedorn, den Direktor. Waren sie alle gekommen, um den Stab über sie zu brechen? Über diejenige, die ihr schwarzes Schaf geworden war? Sie blieb stehen, lehnte sich gegen die Wand und schloß die Augen. Durchhalten, befahl sie sich. Leutnant Funke meinte, man würde mich gerecht beurteilen. Aber mein Fall sei wie ein Steinchen, das eine Lawine ins Rollen bringen kann. Mag sein. Ich habe hier nichts anderes zu tun, als alle Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten, sagte sie sich und dachte, hoffentlich gelingt es mir im Beisein derjenigen, die ebensogut wie ich die Wahrheit kennen und sie verleugnen. Sie hörte jemanden auf sich zukommen, atmete tief und öffnete die Augen. Anton Zinn, stellvertretender Direktor und ihr ehemaliger Chef, streckte ihr beide Hände entgegen. „Gudrun!“ Frau Wehler kämpfte gegen Tränen an. „Komm, wir setzen uns einen Augenblick. Es ist noch Zeit.“ Er führte sie zu einer der Bänke, die im Gang aufgestellt waren. „Gut, daß du gekommen bist, Anton.“ Diese Worte waren keine Höflichkeitsfloskel. „Das ist doch selbstverständlich. Wir lassen dich nicht im Stich. Keiner von uns.“ „Seid ihr … deshalb alle hier?“ fragte sie zögernd. Er nickte. „Wenn wir auch in diesem Rahmen …“, sein Blick deutete ebenso wie seine Armbewegung an, daß damit das gesamte Gerichtsgebäude gemeint war, 15
„nicht allzuviel für dich tun können, möchten wir zumindest als moralische Rückenstütze fungieren.“ Frau Wehler schlug die Hände vors Gesicht. O Gott, dachte sie, was habe ich getan! Anton Zinn deutete ihr Schluchzen falsch. „Du mußt dich zusammennehmen, Gudrun, mußt jetzt stark sein.“ Er hielt ihr sein Taschentuch hin und lächelte. „Ein paar Tränen dürfen selbstverständlich fließen, das beeindruckt, deutet Bedauern und Reue an. Nur laß dich nie hinreißen. Behalte einen kühlen Kopf. Übrigens haben wir eine sehr gute Beurteilung für dich geschrieben … Komm, der Saal wird aufgeschlossen.“ „Bringst du mich ’rein?“ „Das geht nicht. Ich bin als Zeuge geladen. Ich muß warten, bis ich aufgerufen werde.“ Sie schluckte. „Was sollst du denn bezeugen?“ „Ich weiß nur, was ich bezeugen will“, sagte er dicht an ihrem Ohr, „nämlich daß du die beste und zuverlässigste Hauptkassiererin warst, an die ich mich erinnern kann, und daß es deine persönliche Lebenssphäre gewesen sein muß, die dich derart verwirrt hat …“ „Bitte, Anton, laß meinen Mann aus dem Spiel.“ „Wie du möchtest. Also: Von uns wirft keiner einen Stein auf dich.“ Er legte ihr die Hände auf die Schultern. „Sei tapfer und klug. Ich drück’ dir die Daumen.“ Unter der Tür zum Gerichtssaal sah sie sich noch einmal um und bemerkte erst jetzt, daß er wie immer tadellos gekleidet war. Er trug zur dunklen Hose ein großkariertes Sakko, zartblaues Hemd und einen in Farbe und Muster sorgfältig auf das Ensemble abgestimmten Schlips. Das Haar war nach hinten gekämmt, die leicht angegrauten Koteletten kamen gut zur Geltung. Er zwinkerte Frau Wehler zu, weder zu keß noch zu vertraulich, nur so viel, daß es ihr Mut gab, endlich die Tür hinter sich zu schließen. Der Saal war nicht groß, die Besucherplätze waren 16
fast alle besetzt. Frau Wehler blieb verwirrt neben der Tür stehen, hörte wie im Traum von weit her ihren Namen rufen und hob den Kopf. Eine junge Frau trat auf sie zu. „Sie sind Frau Wehler? Bitte, kommen Sie mit nach vorn, und nehmen Sie auf der Anklagebank Platz.“ Anklagebank, dachte sie. Sie schluchzte. „Na, na“, machte die junge Frau beruhigend. „Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?“ Gudrun Wehler schüttelte zwar den Kopf, doch die Frau wandte sich schon der Tür zu. Der Rechtsanwalt begrüßte Frau Wehler, ermahnte sie, ihm Bescheid zu sagen, falls es ihr nicht gut gehe und sie der Verhandlung nicht mehr folgen könne. Der Staatsanwalt trat ein, streifte mit einem Blick die Zuschauer und nickte flüchtig zu ihr hin, doch sie war nicht sicher, ob er nicht eher den Rechtsanwalt gemeint hatte, der hinter ihr saß. Die junge Frau kam mit einem Glas Wasser zurück, dann schloß sie die Türen, die zum Gang hinausführten. Wie auf Kommando wurde es plötzlich still. Durch eine Tür, die Frau Wehler vorher nicht bemerkt hatte, trat das Gericht ein, der Vorsitzende und zwei Schöffen. Alle im Saal erhoben sich, die Schöffen legten Aktenbündel auf den Tisch, und der Vorsitzende sagte: „Bitte nehmen Sie Platz.“ Stühle wurden gerückt, Sitze knarrten. „Ich eröffne hiermit die Verhandlung des Strafsenats gegen Frau Gudrun Wehler. Ich bitte den Staatsanwalt, seine Anklage zu erheben.“ „Hohes Gericht, werter Herr Rechtsanwalt, wir haben heute einen Fall zu verhandeln …“ Staatsanwalt Martin Kabelitz war aufgestanden, sprach mit ruhiger, sonorer Stimme abwechselnd dem Vorsitzenden, dem Rechtsanwalt und der Frau, die er anklagte, einen Blick zuwerfend. Frau Wehler meinte, er sähe nur sie an. Er sprach von 17
einem Fall, der Unterschlagung und betrügerische Manipulationen umfaßte, Frau Wehler erinnerte sich an Leutnant Funkes Worte von dem Steinchen, das eine Lawine ins Rollen bringen kann, und der Gedanke ängstigte sie, selbst von dieser Lawine verschüttet zu werden. Der Staatsanwalt hatte wieder Platz genommen, der Vorsitzende bat Frau Wehler, nach vorn zu kommen. „Sie heißen Gudrun Wehler geborene Biehlau. Wann sind Sie geboren?“ „Am dritten Januar neunzehnhundertdreißig.“ „Schildern Sie dem Gericht Ihren Lebensweg.“ Meinen Lebensweg, dachte Gudrun Wehler, da müßte ich Tag und Nacht erzählen, wenn ihr euch ein Bild von mir machen wolltet. Was habt ihr davon, wenn ich sage: Grundschule, ein Jahr Arbeitsdienst, in den Hungerjahren Hilfsarbeiten bei Großbauer Härtel für zwanzig Mark im Monat und freies Essen. Jeden Abend Pellkartoffeln und Quark. In den ersten vierzehn Tagen war das geradezu ein Genuß nach den Hungermonaten, die ich hinter mir hatte, dann aber wurde das Magenknurren fast wieder angenehmer als Pellkartoffeln und Quark. Manchmal bin ich heimlich in die Wurstkammer geschlichen … Das mit den Hungerjahren und dem Quark lasse ich weg. Klingt nach Sich-entschul-digen-Wollen mit der schweren Zeit damals. Die heimlichen Gänge in die Wurstkammer könnten außerdem als erste Abwege gedeutet werden. Also: Nach fünfundvierzig Hilfsarbeiterin in der Landwirtschaft, dann Lehrgang in Steno, Schreibmaschine, Buchführung. Erste Anstellung als Sekretärin des Abteilungsleiters Konrad Wehler in einem volkseigenen Betrieb. Neunzehnhundertfünfzig Heirat mit Konrad Wehler. – Er ist zwanzig Jahre älter als ich, war gutaussehend, angesehen und finanziell gut gestellt. Ich war aus dem Schneider. Aber das ist wieder nichts fürs Protokoll. – Nach der Hochzeit Hausfrau. 18
„Wie lange?“ „Fast zehn Jahre.“ Es waren nur sechs, denn vier Jahre lang war ich Krankenschwester für Konrad Wehler. Er war fertig. Es kam mit einemmal. Das Herz machte nicht mehr mit, dazu die Diabetes. „Warum haben Sie nach zehn Jahren wieder eine Arbeit aufgenommen?“ „Mein Mann wurde krank und vorzeitig Rentner.“ Es war nicht wegen des Geldes, sondern weil ich es nicht mehr ausgehalten habe zu Hause, die Spritzen, die stummen Vorwürfe, die Herzattacken, das Siechtum. „Ich habe nochmals einen Lehrgang besucht und wurde in einem Warenhaus als Kassiererin eingestellt. Fünf Jahre arbeitete ich als Hauptkassiererin in der ‚Hochzeitskutsche‘.“ „Und jetzt?“ „Bin ich bei ‚Chic und Charme‘ als Verkäuferin.“ Sie durfte sich setzen. Ihre Beurteilung wurde verlesen. Das Kollektiv des Kaufhauses „Zur Hochzeitskutsche“ schätzte sie als hilfsbereit, zuverlässig und durchaus vertrauenswürdig ein und konnte sich nicht erklären, wieso sie Geld unterschlagen hatte. In einigen Formulierungen wie „Über ihr Aufgabengebiet hinaus entwickelte sie Initiative bei der Verbesserung der Verkaufskultur und bei der Erfüllung von Sonderaufgaben jeglicher Art“ erkannte sie Anton Zinns Federführung. Die Beurteilung wurde von Frau Schmittchen vorgelesen, Sekretärin der Geschäftsleitung, zehn Jahre jünger als Frau Wehler. Die beiden Frauen waren sich nie sympathisch gewesen. Frau Schmittchen hielt Gudrun Wehler für prüde und hausbacken, beneidete sie aber im stillen um ihre damenhafte Gelassenheit, mit der sie zu beeindrucken wußte, und um ihr fachliches Können als Hauptkassiererin. Für Gudrun Wehlers Geschmack wiederum umgurrte 19
die Schmittchen Herrn Anton Zinn zu sehr, schrieb miserabel Maschine, Steno im Schneckentempo und verdankte die exponierte Stellung vorwiegend den Dekolletés ihrer Kleider. In einer bösen Stunde hatte sie sie einmal Frau Flittchen genannt. Solche persönlichen Meinungsverschiedenheiten kamen vor dem Gericht natürlich nicht zur Sprache. Fakt blieb, daß Frau Wehler einen überaus guten Leumund besaß und niemand sich vorstellen konnte, sie wäre einer Unkorrektheit fähig. „Wir beginnen mit der Beweisaufnahme“, sagte Richter Lohstett, „ich bitte die Angeklagte, nach vorn zu kommen. Sie werden beschuldigt, mehrere tausend Mark unterschlagen zu haben, indem Sie falsche Summen in die Kassenlisten eintrugen. Stimmt das?“ „Es stimmt“, antwortete Gudrun Wehler leise. „Bitte, sprechen Sie laut und deutlich“, ermahnte Lohstett die Frau, „damit jeder im Saal und besonders der Herr Verteidiger Sie verstehen kann. Sie sagen also, das stimme. Seit wann haben Sie falsche Summen eingetragen?“ „Ich – weiß es nicht genau. Seit einiger Zeit.“ „Vielleicht seit Sie Hauptkassiererin sind?“ „Nein! Erst kurze Zeit …“ „Wie sind Sie daraufgekommen?“ „Wir hatten verschiedene Anschaffungen, darunter ein Grundstück. Mein Mann verbringt den Sommer dort, er kann nicht verreisen. Der Bungalow mußte wohnlich eingerichtet werden – plötzlich reichte das Geld nicht mehr.“ „Hm.“ Lohstett nickte. „Das ist so eine Eigenschaft des Geldes. Es reicht nie. Aber das meine ich nicht. Wie sind Sie daraufgekommen, daß es gut gehen müßte, wenn Sie falsche Summen eintragen? Hatten Sie keine Angst, das könnte bei einer Überprüfung ans Licht kommen?“ 20
Der Staatsanwalt, der bisher den Blick auf die Akten geheftet hatte, hob bei dieser Frage den Kopf und sah Frau Wehler erwartungsvoll an. Weshalb sollte ich Angst gehabt haben, dachte sie. Anton Zinn meinte, da machen andere ganz andere Sachen – er hat natürlich auch gesehen, wo er bleibt –, schließlich gehe alles aus dem großen Topf. Was werde zum Beispiel für Stoff verpfuscht durch falsches Zuschneiden, schlechtes Nähen, viele Waren leiden durch unsachgemäßen Transport oder schlechte Lagerbedingungen. Da wäre es doch kein Verbrechen, wenn eine Verkäuferin einen angeschmutzten BH, den sie sich genommen hat, abzurechnen vergäße … „Antworten Sie, Angeklagte.“ „Ich – ich weiß nicht.“ Ihre Stimme flatterte. „Aha, Sie wissen also nicht mehr, ob Sie Angst hatten.“ Lohstett sah sie ein Weilchen nachdenklich an. „Weshalb haben Sie sich gerade auf diese Weise einen ‚Zuschuß‘ verschafft? Sie hätten doch ab und zu einen Fünfzigmarkschein aus der Kasse nehmen können.“ „Da wäre ein sehr deutlich sichtbarer Fehlbetrag entstanden.“ „Sehr deutlich sichtbar“, wiederholte der Vorsitzende, „demnach haben Sie genau überlegt, wie Sie ohne großes Risiko betrügen können.“ „Es war Zufall“, sagte Gudrun Wehler schnell. Sie war eines Tages nach Kassenschluß zu Herrn Zinn ins Büro gerufen worden. An diesem Tag hatte sie ihn daran erinnert, daß er noch einen Anzug bei ihr abzurechnen hätte, und sie fürchtete, Herr Zinn werde ihr vorhalten, dieser Hinweis sei ebenso unnötig wie anmaßend. Doch darüber fiel kein Wort. Er lobte sie wegen ihrer exakten Buchführung. Die Kassenprüfung habe keinerlei Beanstandung ergeben. Der Prüfer, Herr Heitmann, vergleiche die Eintragungen sehr genau, und 21
da sie stimmten, rechnete er nie die riesige Zahlenschlange nach … Anton Zinn brachte sie darauf, wie sie fast ohne Risiko ihr Gehalt aufbessern könnte. Er hatte ihr den Löffel in die Hand gedrückt, mit dem sie aus dem großen Topf schöpfen konnte – und sie hatte bereitwillig zugegriffen. „Zufall?“ fragte Richter Lohstett skeptisch. „Wir werteten die Kassenüberprüfung aus. Dabei fiel mir auf, daß der Prüfer nur die einzelnen Überträge, nicht aber die Gesamtsumme kontrollierte.“ „Bitte, erklären Sie das dem Gericht in allen Einzelheiten.“ „Die Kassiererinnen rechneten jeden Abend bei mir ab. Die Summen trug ich in die sogenannte Kassenleiste ein, und zwar sehr korrekt, denn der Prüfer verglich diese Kassenleisten stets mit den Abrechnungsunterlagen der Kassen. Aber er rechnete nie die Gesamtsumme auf der Leiste nach. Das habe ich mir zunutze gemacht und mich beim Addieren hin und wieder zu meinen Gunsten verrechnet.“ „Danke“, sagte Richter Lohstett. „Herr Staatsanwalt, haben Sie Fragen an die Angeklagte?“ Martin Kabelitz erhob sich. „Angeklagte, Sie wissen angeblich nicht mehr, seit wann Sie diese Unterschlagungen begangen haben. Doch Sie erinnern sich daran, daß Sie durch eine Kassenprüfung daraufgekommen sind. Wann war das?“ „Vor einem Jahr ungefähr.“ „Demnach begehen Sie diese Unterschlagungen seit einem Jahr?“ Gudrun Wehler nickte. Was der Staatsanwalt herausfand, mußte sie zugeben. Aber nur das. „Wie hoch waren die Summen, die Sie jeweils abgezweigt haben?“ „Zwischen fünfzig und vierhundert Mark“, antwortete sie bereitwillig, denn das war längst nachgeprüft. 22
Kabelitz beugte sich vor und ließ Gudrun Wehler nicht aus den Augen, als er sagte: „Demnach haben Sie diesen ‚Zufall‘ sehr geschickt genutzt. Zu geschickt, um überzeugen zu können, Sie seien zu einer unredlichen Handlung verführt worden. Sie haben sehr berechnend über einen längeren Zeitraum hinweg kleinere Beträge abgezweigt …“ „Einspruch, Herr Vorsitzender!“ Rechtsanwalt Treike war aufgesprungen. „Der Herr Staatsanwalt unterstellt meiner Mandantin Dinge, die höchstens das Resultat einer exakten Beweisführung sein könnten.“ Der Richter winkte ab. „Außerdem gehören derartige Wertungen ins Plädoyer“, fügte Treike hinzu. „Einspruch abgelehnt“, entschied Lohstett, „der Herr Staatsanwalt hat nur Tatsachen genannt, die dem Gericht schwarz auf weiß vorliegen und die auch Sie wissen sollten: Die Angeklagte hat seit einem Jahr in bestimmten Abständen Geld unterschlagen.“ Zu Kabelitz gewandt, forderte er: „Fahren Sie fort, Herr Staatsanwalt, aber achten Sie darauf, daß Sie Ihr Plädoyer nicht vorwegnehmen.“ „… und ich frage die Angeklagte“, sprach Kabelitz ruhig weiter, als hätte es keinerlei Zwischenspiel gegeben, „weshalb sie so sicher war, daß der Prüfer nicht doch eines Tages die Summen einmal addieren könnte.“ Worauf will er hinaus? dachte Gudrun Wehler. Was weiß er? „Antworten Sie“, mahnte Lohstett. „Woher soll die Angeklagte wissen, was im Kopfe eines Wirtschaftsprüfers vorgeht!“ rief Treike mokant. „Sie sind noch nicht an der Reihe, Herr Rechtsanwalt. Enthalten Sie sich bitte Ihrer Bemerkungen.“ „Angeklagte“, sagte Kabelitz, „eines Tages wurden Ihre Unterschlagungen doch entdeckt. Von wem?“ „Von Herrn Dannhoff, dem Wirtschaftsprüfer.“ 23
Zum Vorsitzenden sagte Kabelitz: „Herr Dannhoff ist für morgen als Zeuge geladen.“ Lohstett nickte und warf Gudrun Wehler einen fragenden Blick zu. „Demnach hat er die Summen doch addiert.“ „Ja. Dannhoff ja.“ „Angeklagte“, sprach Kabelitz weiter, „wurde damals nur Ihre Hauptkasse kontrolliert, oder fand diese Kontrolle im Rahmen einer größeren Überprüfung des Warenhauses statt?“ „Einspruch! Diese Frage hat nichts mit der Anklage gegen meine Mandantin zu tun.“ Richter Lohstett zögerte einen Augenblick. „Wir sind hier, die Wahrheit zu finden“, sagte er schließlich, „das erfordert, den Fall so tief auszuloten, wie es uns nur möglich ist. Angeklagte, beantworten Sie die Frage.“ „Damals fand eine allgemeine Kontrollinventur statt.“ „Mit welchem Ergebnis?“ „Einspruch!“ Treike sprang wieder auf. „Ich bestehe darauf, daß meine Mandantin nur zu ihrer eigenen Anklage befragt wird.“ „Einspruch stattgegeben. Stellen Sie Ihre Fragen bis morgen zurück. Der Zeuge Dannhoff mag sie Ihnen beantworten.“ Schade, dachte Kabelitz. Aber gut, morgen ist auch noch ein Tag. „Wenn die Anklagevertretung keine Fragen mehr hat …“ „Doch“, entgegnete Kabelitz hastig, fing vom Richter einen Blick auf, der ihn mahnte, etwas schneller zu reagieren, und wandte sich wieder Gudrun Wehler zu. „War es denn immer Herr Dannhoff gewesen, der Ihre Kasse überprüfte?“ „Nein. Er war zum ersten Mal bei uns.“ „Und vorher?“ „Vorher kam Herr Heitmann. Er war jahrelang Wirtschaftsprüfer der Verkaufsstelle gewesen.“ 24
„Danke“, sagte Kabelitz und setzte sich. Er hoffte, die Fragen, die noch offenblieben, würden Lohstett oder der Verteidiger stellen. Ihm würden sie nur Treikes Einspruch einbringen, denn Heitmanns Schicksal gehörte nicht unmittelbar zum Fall Gudrun Wehler, wohl aber zu den Hintergründen, auf die man stieß, wenn man diesen Fall einer Tiefenprüfung unterzog.
3. Vor Jahren war die „Hochzeitskutsche“ ein kleines Geschäft gewesen, in dem man nur gegen Vorlage des Aufgebotscheines einkaufen durfte. Otto Heitmann, der Verkaufsstellenprüfer, kannte es aus jenen Jahren. Er hatte miterlebt, wie es sich ausdehnte und mauserte. Angrenzende Büroräume wurden dazugekauft, umgebaut, der Warenbestand erweitert, Aufgebotscheine waren bald nicht mehr aktuell. Schließlich mietete man noch die erste und zweite Etage dazu, so war die „Hochzeitskutsche“ allmählich ein respektables Warenhaus geworden. Es bot zwar noch immer Brautschleier und Eheringe an, doch darüber hinaus fast alles, was man in einem Warenhaus zu finden gewohnt ist. Natürlich dauerten Kontrollen und Revisionen jetzt länger als früher, doch Heitmann fühlte sich dieser Mehrarbeit gewachsen, zumal die Bücher stets ordentlich geführt wurden, der Bestand an Ware und Geld übersichtlich blieb und jeder Nachprüfung standhielt. Das war so bis ungefähr vor einem halben Jahr, sinnierte Heitmann, bis dieser Anton Zinn kam, ein freundlicher Mensch, einer, auf dessen Freundlichkeit man leicht hereinfällt. Und Heitmann hatte das Gefühl, bei der letzten Kontrolle sogar tüchtig hereingefallen zu sein. Er hatte jedoch keine Beweise dafür. Die Kontrolle wurde mit einem guten Ergebnis abgeschlossen, wie 25
immer in diesem Haus. Aber das Empfinden, man habe ihn hinters Licht geführt, bedrückte den Prüfer seitdem. Diesmal würde er die Augen offenhalten! Otto Heitmann stieg zur dritten Etage hoch, keuchend, auf jedem Treppenabsatz verharrend, um nach Luft zu ringen. Er massierte die Herzgegend, trat ans Fenster, atmete tief und ruhig. Kunden kamen und gingen. Ein Bursche winkte einem langaufgeschossenen Jungen zu, der die Treppe heraufstürmte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Habe ich früher auch nicht anders gemacht, dachte Heitmann wehmütig. „Laß dir Zeit, kommst ohnehin zu spät“, rief der Bursche. „Die vorletzten Jeans habe ich erwischt, und um die letzten gab es einen kleinen Ringkampf.“ „Mist. Wer weiß, wann die noch mal welche reinkriegen.“ Heitmann hatte sich wieder in der Gewalt und stieg langsam weiter die Treppe hinauf zum Büro des stellvertretenden Direktors. Anton Zinn schnellte vom Schreibtischsessel, eilte dem Wirtschaftsprüfer entgegen und nahm ihm den Mantel ab. „Um Himmels willen, Herr Heitmann, Sie sind ja ganz außer Puste. Ist der Fahrstuhl wieder kaputt?“ „Ich – weiß nicht“, erwiderte der alte Mann verlegen, „bin gar nicht auf die Idee gekommen …“ Er mied Fahrstühle und Paternoster, er fühlte in engen Räumen Beklemmungen, die sich neuerdings zu Angstzuständen auswuchsen. Aber er sprach zu niemandem darüber, nicht einmal zu seinem Arzt. „Bitte schön, Herr Heitmann.“ Anton Zinn führte ihn zu einer gemütlichen Sitzecke und drückte ihn sanft in einen der weichen bequemen Sessel. „Ein Verschnaufpäuschen …“ Heitmann kannte diese Päuschen. Gewöhnlich dauer26
ten sie eine geschlagene Stunde. Er hatte sich vorgenommen, heute zu widerstehen und sich sofort die Bücher bringen zu lassen, doch Zinns freundlicher Aufdringlichkeit war er nicht gewachsen, außerdem mußte er ohnehin erst wieder zu Atem kommen. Fräulein Schmittchen, die Sekretärin, brachte Kaffee und einen Teller mit belegten Brötchen. Zinn holte eine Flasche „Helferich“ aus dem Schrank. „Stärken wir uns für die Arbeit. Sie kennen doch meine Devise: Nur die Ruhe bringt Gewinn, von A bis Z – wie Anton Zinn.“ Natürlich kannte Heitmann diesen albernen Vers, und zu seinem Ärger grinste er pflichtschuldig, als Zinn ihn deklamierte. „Greifen Sie zu, lieber Heitmann. Wieder zu stark, der Kaffee? Ich sehe, Sie nippen nur.“ Heitmann zuckte verlegen die Schultern. „Fräulein Schmittchen“, rief Anton Zinn, „bitte etwas heißes Wasser für unseren Gast!“ „Aber ich bitte Sie …“, stammelte Heitmann. „Vielleicht würde Ihnen ein Glas Most gut bekommen? Was bevorzugen Sie? Sanddorn? Kirsch?“ „Das ist durchaus nicht nötig …“ „Und ob, lieber Heitmann, wir haben einen langen, schweren Arbeitstag vor uns.“ Heitmann ließ sich ein Glas Sanddornsaft bringen. Anton Zinn wechselte von einem Gesprächsthema zum anderen, beklagte, daß die Mode wieder längere Röcke vorschrieb, erzählte von einer Frau, die ihren Kater so dressierte, daß er wie ein Hund an der Leine spazierte, und Heitmann überhörte, ob es sich etwa um die Dressurleistung von Zinns Ehefrau handelte. Während des Gesprächs schenkte Zinn ab und zu einen „Helferich“ ein und mahnte zum Trinken. Schließlich erhob er sich. „Ich glaube, wir kommen nicht umhin …“ Statt den Satz zu beenden, seufzte er. Otto Heitmann fühlte sich schläfrig nach dem Essen 27
und dem Weinbrand. Am liebsten wäre er im Sessel sitzen geblieben, hätte die Beine ausgestreckt, den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Er erhob sich schwerfällig. Zinn faßte sofort zu und stützte ihn. „Jaja“, sagte er lachend, „diese Sessel halten einen förmlich fest.“ Er begleitete Heitmann zum Schreibtisch. „Bitte schön, die Bücher liegen bereit. Ich bin im Nebenzimmer und stehe Ihnen sofort zur Verfügung, falls Sie mich benötigen.“ „Danke.“ Wenn mir etwas nicht koscher erscheint, werde ich dich fragen, sagte sich Heitmann, so lange, bis ich eine akzeptable Antwort erhalte. Und es soll dir nicht glücken, mich davon abzulenken. Heitmann überwand seine Müdigkeit, begann zu arbeiten und fühlte sich jetzt durch den Alkohol auf eine wohltuende Art angeregt. Er verglich Wareneingänge, Quittungen, Belege. Er kam nur mühsam voran. Die Einträge in die Bücher waren ungenau, mehrere Beträge durchgestrichen und mit dem Hinweis auf ein anderes Datum versehen. Doch dort war der Posten entweder überhaupt nicht aufgeführt oder so undeutlich vermerkt, daß kein Mensch daraus schlau werden konnte. Heitmann klingelte nach Anton Zinn. „Ich muß Sie auf etwas hinweisen“, sagte er tadelnd, „die Bücher werden nicht mehr so ordentlich und übersichtlich geführt, wie ich das in diesem Hause gewohnt bin.“ Er schob seine Lesebrille auf die Stirn und blickte fragend zu dem stellvertretenden Direktor auf. Anton Zinn senkte den Blick, schwieg ein Weilchen, ehe er erwiderte, und es klang, als sei er peinlich berührt von Heitmanns Worten, als er schließlich hervorbrachte: „Das ist ein sehr ernst zu nehmender Vorwurf.“ Heitmann tat es fast leid, mit solcher Strenge gesprochen zu haben. „Sie – sagten, nicht mehr so ordentlich“, bemerkte Zinn zögernd. „Ich bitte Sie, berücksichtigen Sie den Per28
sonalmangel und die Neubesetzungen einiger Planstellen. Da werden aus Unkenntnis und Zeitmangel Ein- oder Verkaufsrechnungen mit Hinweisen versehen, die später niemand mehr beachtet. Zu guter Letzt hat aber alles gestimmt, nicht wahr?“ „Na ja …“ „Und – was die Übersichtlichkeit betrifft: Lieber Kollege Heitmann, messen Sie da nicht mit Maßstäben, die aus einer Zeit stammen, zu der die ‚Hochzeitskutsche‘ ein Laden, aber kein Warenhaus war?“ Anton Zinn lächelte wohlwollend, nachsichtig, klopfte Heitmann ermunternd auf die Schulter und verließ das Zimmer. Unter der Tür wandte er sich noch einmal um und fragte besorgt, ob der Kollege eine Erfrischung wünsche. Heitmann verneinte und ärgerte sich, daß diese Ablehnung wieder viel zu grob ausgefallen war. Er arbeitete weiter, bis Zinn ihn liebenswürdig bat, zum Mittagessen sein Gast zu sein. „In den ‚Gutenbergstuben‘ sind Plätze für uns reserviert“, sagte Anton Zinn. Ohne auf Antwort zu warten, holte er die Mäntel aus dem Schrank. Heitmann hätte am liebsten gekniffen, doch ihm fiel kein Grund ein, die Einladung abzulehnen, andererseits lockte ihn die Aussicht, ein saftiges Steak bestellen zu können. Er schloß die Augen, als die Fahrstuhltür zuschnappte, atmete tief und fühlte, wie ihm Schweiß auf der Stirn perlte. Sein Herz raste, er hatte das Gefühl, in die Tiefe zu stürzen. Er stand noch mit geschlossenen Augen, nachdem Zinn die Tür längst wieder geöffnet hatte. „Kollege Heitmann“, rief Zinn besorgt, „Sie sehen recht mitgenommen aus …“ „Es ist nichts. Höchstens die trockene Zimmerluft. Gleich fühle ich mich wohler, Sie werden sehen.“ Doch es wurde schlimmer, die Schmerzen in der 29
Herzgegend stellten sich wieder ein, und er wäre viel lieber zu den „Gutenbergstuben“ gelaufen, statt sich in Zinns Fiat zu setzen. Er besaß jedoch nicht die Kraft, Anton Zinn zu widerstehen, er hatte damit zu tun, gegen den Schmerz anzukämpfen. Während des Essens wurde ihm besser. Ich halte schon durch, dachte er, und ich lasse mir auch nichts vormachen. „Ich bin heute vormittag auf einen Zieleinkauf gestoßen“, begann er, „dessen Rechnung über fünfzigtausend Mark storniert wurde, aber die Summe hat man trotzdem eingetragen.“ „Seltsam“, murmelte Zinn. „Was nehmen wir denn als Nachtisch? Kompott, Ananastörtchen, Eisbecher?“ Heitmann entschied sich schnell für Erdbeerkompott und bohrte weiter. „Wie erklären Sie sich den Umstand, daß eine stornierte Rechnung …“ „Aber lieber Kollege“, tadelte Zinn mit gespielter Empörung, „Sie treiben ja Raubbau mit Ihrer Gesundheit! Man sollte ein Gesetz erlassen, das verbietet, während der Pausen an Arbeitsprobleme auch nur zu denken. Genießen Sie dieses vorzügliche Mahl. Übrigens – man ißt hier immer gut.“ Heitmann löffelte seine Erdbeeren und ließ ihn schwätzen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, dachte er. Fünfzigtausend werde ich jedenfalls nicht unter den Tisch fallen lassen. Nach dem Essen mußte er noch einmal die Qual des Fahrstuhlfahrens durchstehen und war deshalb nicht in der besten Verfassung, als er endlich wieder hinter dem Schreibtisch saß. Trotzdem bestand er darauf, sofort Rechenschaft über den Verbleib des Geldes zu erhalten. Anton Zinn brachte ihm einen Packen Rechnungen mit Beträgen zwischen zwanzig und fünfhundert Mark. „Bitte schön, des Rätsels Lösung!“ erklärte er aufgeräumt. „Für die stornierten Fünfzigtausend wurden Einzelrechnungen geschrieben.“ 30
Heitmann starrte auf den Stapel. Die Wut, die in ihm hochstieg, ließ sein Herz wieder schneller schlagen. Vergebens bemühte er sich, ruhig zu bleiben. Auf diese Weise also versuchst du mich auf den Arm zu nehmen, dachte er erbost. Erlaubst du dir solche Frechheiten, weil ich ein alter Mann bin, oder würdest du jedem anderen gegenüber auch so auftreten? „Wie stellen Sie sich das eigentlich vor, Herr Zinn?“ Die Stimme gehorchte ihm nicht, sie klang zittrig und schnappte über. Er kam sich lächerlich vor. „Was ist denn, Kollege Heitmann?“ „Das ist doch unmöglich, diesen Kleinkram auf Herz und Nieren zu prüfen. Ich brauche einen ganzen Tag zusätzlich, um dieses Kilo Papier einzusehen!“ „Aber regen Sie sich um Himmels willen nicht so auf, lieber Kollege! Ruhe bewahren von A bis Z. Kein Mensch verlangt, daß Sie jeden dieser Zettel kontrollieren.“ „Vielleicht verlangt das kein Mensch, aber die Pflicht und meine Berufsehre verlangen es.“ „Das nenne ich einen Standpunkt!“ lobte Anton Zinn. „In einer Zeit, in der jeder danach strebt, sein Säckel zu füllen, hält unser lieber Kollege Heitmann das Banner der Berufsehre hoch. Alle Achtung! Nur …“ Anton Zinn legte eine kleine Pause ein und sprach dann im Tone tiefsten Bedauerns weiter: „Ihre Argumente erscheinen mir leider stichhaltig. Man kann tatsächlich nicht jeden dieser Zettel unter die Lupe nehmen. Darf ich Ihnen einen Rat geben? Denken Sie mal daran, daß der Direktor der ‚Hochzeitskutsche‘ seit einem Jahr die Auszeichnung als bester Leiter eines Warenhauses trägt und daß uns das seither eine Verpflichtung ist. Lassen Sie getrost alle Befürchtungen fallen, daß die Endsumme etwa anzuzweifeln sei. – Gegenseitiges Vertrauen. Das muß schon sein, lieber Kollege. Wo kämen wir sonst hin?“ Mit ernster Miene verschwand Anton Zinn ins Nebenzimmer. Was ist das nur für ein Mensch, dachte Heitmann. Ich 31
bin ihm einfach nicht gewachsen. Zum Glück gibt es noch jemanden, dem auch er Rechenschaft schuldig ist – den Direktor. Der Gedanke an Michael Hagedorn ließ den Prüfer ruhiger werden. Er hatte stets Sympathie empfunden für diesen wortkargen, sachlich wirkenden Mann. Nach Heitmanns Dafürhalten wußte Hagedorn nicht, daß sein Stellvertreter von A bis Z ein Windhund war, sondern vertraute ihm wie seiner rechten Hand. Am nächsten Morgen wiederholte sich die Zeremonie des langsamen, qualvollen Treppensteigens und der ausgedehnten Frühstückspause. Je mehr sich Heitmann aber in die Bücher vertiefte, um so weniger fand er sich darin zurecht. Nein, dachte er, das hat nichts zu tun mit Sortimentserweiterung und größerem Umsatz als früher, das ist einfach Schlamperei. Am Nachmittag schaute Direktor Hagedorn zu ihm herein, begrüßte ihn ernst und freundlich, wie es seine Art war. Heitmann geriet in Versuchung, mit ihm über das Durcheinander in den Büchern zu sprechen, doch da betrat Zinn das Zimmer, überschwenglich Heitmanns Arbeitseifer und Gewissenhaftigkeit lobend. „Ich hoffe“, sagte Hagedorn, als Zinn endlich den Mund hielt, „daß unser Haus auch nach dieser Kontrolle seinem guten Ruf alle Ehre erweist. Wie weit sind Sie denn?“ „Ich bin dabei, die Hauptkasse zu prüfen“, erwiderte Heitmann. „Bitte, achten Sie darauf, daß jeder Posten, der von den Kassiererinnen abgerechnet wurde, von der Hauptkassiererin ordnungsgemäß in die Kassenleiste übertragen worden ist. Ich schätze Frau Wehler als versierte und zuverlässige Kraft, aber Irren ist menschlich. Versehentlich eine Zahl falsch übernommen – das kann erheblichen Schaden anrichten.“ „Diesbezüglich“ – Heitmann betonte das Wort und hoffte eine Zweideutigkeit hineinzulegen, die Hagedorn 32
zu denken geben sollte – „können Sie beruhigt sein. Ihre Hauptkassiererin hat Summe für Summe gewissenhaft übertragen.“ Wenn alles so übersichtlich wäre wie Frau Wehlers Buchführung, dachte er, bliebe mir eine Menge Ärger erspart. Trotzdem sollte ich die Summen einmal addieren. Doch die Zeit reicht einfach nicht aus, auch noch Dinge nachzuprüfen, die anscheinend in Ordnung sind, wenn man nicht einmal den offensichtlichen Schlampereien auf den Grund gehen kann. Kommt mir aber noch mehr derartiges unter die Finger, werde ich eine Kontrollinventur beantragen. „Einen erfolgreichen Arbeitstag noch“, wünschte Hagedorn. „Bitte, informieren Sie mich so schnell wie möglich vom Ergebnis Ihrer Prüfung.“ Anton Zinn riß die Tür für seinen Vorgesetzten auf, lächelte dem Wirtschaftsprüfer vielsagend zu und verließ ebenfalls das Zimmer. Als letzten Posten prüfte Heitmann die Sonderfälle des Warenverkaufs, wie Verkäufe auf Rechnung, gegen Schecks und Gutscheine sowie Verkäufe an das Personal. Es fehlten noch die Unterlagen der Schaufensterdekorationen. Anton Zinn brachte sie sofort, als Heitmann danach fragte. Das betrug eine Warenmenge, die ein kleines Depot gefüllt hätte, und es war eine Unverschämtheit, fand Heitmann, ihm das so anzubieten. Er entdeckte überdies Lieferscheine darunter, die ihm bereits vorgelegt worden waren. Er achtete nicht mehr auf sein Herz, das wieder viel zu schnell schlug, ignorierte auch die stärker werdenden Schmerzen. Bevor er nach dem stellvertretenden Direktor klingelte, nahm er sich vor, die Auseinandersetzung mit Anton Zinn so unerbittlich zu führen, wie das die Situation erforderte. Anton Zinn kam, hörte sich die Vorwürfe gelassen an und sagte beschwichtigend: „Ein Mißverständnis, lieber 33
Kollege Heitmann. Was ich Ihnen vorgelegt habe, gehört tatsächlich alles zur Schaufensterware. Da wir in unserem Angebot sehr aktuell sind, wechseln wir die Dekorationen häufig. Daher die relativ großen Posten.“ „Die Ware, die nach Dekorationswechsel herausgenommen wurde, ist verkauft. Die Belege darüber habe ich längst eingesehen. Und nun …“, jetzt ereiferte sich Heitmann doch, „nun wollen Sie sie ein zweites Mal aufnehmen!“ „Sie irren sich, mein Lieber.“ Das war alles, was Anton Zinn in aller Freundlichkeit dazu sagte. „Das ist doch der Gipfel der Unverschämtheit! Ich werde sofort Ihren Direktor informieren und außerdem eine Kontrollinventur beantragen. Wird dadurch nicht alles geklärt, kommt es zur Tiefenprüfung. Sie kennen den Gang der Dinge. Spätestens dann wird Zeit und Gelegenheit sein, Herkunft und Verbleib des kleinsten Betrages festzustellen. Ich werde …“ „Sie werden sich erst einmal beruhigen, lieber Kollege Heitmann. In solch einem Zustand kann man doch keinen klaren Gedanken fassen. Also bitte …“ Anton Zinn drückte den Wirtschaftsprüfer sanft auf den Sessel zurück, von dem er aufgesprungen war. „Ihr Eifer in allen Ehren, aber ich glaube, jetzt schießen Sie übers Ziel hinaus. Noch fehlen ja die Unterlagen über unsere Personalverkäufe. Ich habe sie bereitgelegt. Vielleicht ist es vorteilhaft, Ihnen ins Gedächtnis zu rufen, was wir unter Personalverkäufen verstehen?“ „Was soll das?“ fragte Heitmann ungeduldig zurück. „Es ist üblich“, erklärte Anton Zinn freundlich, ohne den Einwand des Wirtschaftsprüfers zu beachten, „daß das Personal des Hauses bevorzugt Ware auswählen, mit nach Hause nehmen und bei Gefallen kaufen kann.“ „Weshalb erzählen Sie mir das?“ entgegnete Heitmann verärgert. „Aber mein lieber Heitmann! Per-so-nal-ver-käu-fe! 34
Sagt Ihnen denn das gar nichts? Wußten Sie wirklich nichts von unserer Großzügigkeit, den Begriff Personal in einem sehr weiten Sinne zu fassen? Wir haben zum Beispiel der Tochter eines Mannes, den wir als langjährigen Verkaufsstellenprüfer schätzen und als zum Hause gehörend betrachten, die gleichen Vergünstigungen eingeräumt wie unserem Personal und haben auch nicht auf sofortige Bezahlung gedrängt …“ „Was – soll das heißen?“ „Nichts Besonderes, lieber Heitmann. Ich meine nur, es wäre peinlich, wenn bei einer eventuellen Überprüfung unbezahlte Bekleidungsstücke aus unserer Kollektion im Schrank dieser Dame gefunden würden … Aber ich sehe, Sie haben eine Erfrischung nötig, ich lasse Ihnen sofort ein Glas Sanddornsaft bringen … Tragen Sie bitte erst mal die Schaufensterware ein, dann lege ich Ihnen die restlichen Unterlagen über die Personalverkäufe und einige Diverse vor.“ Otto Heitmann schloß die Augen. Ihn schwindelte, daß er fürchtete, vom Stuhl zu kippen. Das ist Erpressung, dachte er immer wieder. Dieser aalglatte Hund! Er hat uns eine Falle gestellt. Angelika ist hineingetappt und zieht mich hinterher. Angelika! Eitles, leichtsinniges, gutes Mädchen. Wer weiß, was der Schuft dir vorgemacht hat! Jedenfalls ist er sicher, daß ich alles tun werde, was dich davor schützt, als Ladendiebin dazustehen. Ja, da ist er ganz sicher, dieser Ehrenmann von A bis Z! Heitmann preßte die Hände gegen die Brust. Der Schmerz wurde wütender. Durchhalten, redete sich Heitmann zu. Nur noch ein paar Monate. Sollen diejenigen, die nach mir kommen, hier Ordnung schaffen. Heitmann schluckte Tabletten, trank Sanddornsaft, dann nahm er die Schaufensterware auf und außerdem über 60 000 Mark Diverse ohne den geringsten Anhaltspunkt dafür, was es damit auf sich hatte. Und das 35
war eine noch größere Gaunerei als die Geschichte mit der Schaufensterware, meinte Heitmann. Zuletzt zeichnete er die Personalkäufe als exakt abgerechnet ab. Endlich konnte er das Warenhaus verlassen. Er kam sich um Jahre gealtert vor und fühlte sich nicht in der Lage, in diesem Zustand seiner Tochter unter die Augen zu treten. Er ging zu Reinhard Quitte, dem Hauptbuchhalter des Warenhauses, den er seit Jahren kannte und dem er als Verkaufsstellenprüfer ohnehin Rechenschaft schuldig war. „Was ist denn mit dir los?“ fragte Quitte erstaunt, als er dem Alten die Tür öffnete. „Komm rein, aber sag mir, warum du nach Feierabend und in diesem Zustand nicht lieber nach Hause gehst.“ „Nicht nach Hause“, flüsterte Heitmann, „bitte, ich steh’ das jetzt nicht durch.“ „Was stehst du nicht durch, Otto?“ „Noch eine Aufregung. Meine Tochter …“ Er warf Quitte einen prüfenden Blick zu. „Dieser Anton Zinn, der Stellvertreter, stehst du gut mit dem, Reinhard?“ „Du stellst vielleicht Fragen! Was hat das mit deiner Aufregung zu tun? Also – Anton Zinn gehört zu meinem Kollegenkreis, das ist alles.“ „Du als Hauptbuchhalter mußt ihn doch besser kennen als die anderen, du mußt auch wissen, wie die Bücher geführt werden …“ „Ich weiß nur eins, Otto, nämlich daß mir manches nicht geheuer vorkommt in diesem Haus. Aber ich kann nichts beweisen und kriege immer wieder zu hören, wir haben den besten Warenhausleiter und das kleinste Manko bei Überprüfungen. Deshalb habe ich gehofft, wenn etwas nicht sauber ist, wirst du das herausfinden. So, und jetzt setz dich aber erst mal auf die Couch und trink in Ruhe ein Glas Rotwein.“ Heitmann gehorchte fast willenlos. Er hatte nur das Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden. 36
„Bis jetzt“, sagte Quitte nachdenklich, als Heitmann schwieg, „habe ich Anton Zinn bloß für einen Windhund gehalten, was er allerdings heute mit dir gemacht hat, weist ihn als Gauner und Erpresser aus.“ „Da müssen mehrere dahinterstecken.“ „Das zu beweisen schaffen wir beide nicht, und das ist auch nicht unsere Aufgabe. Ich kann dir nur sagen, Zinn ist beliebt. Für den stehen alle ein, von der kleinsten Verkäuferin bis zum Vorstand. Anton Zinn ist umgänglich, beflissen, auf die Zufriedenheit von Mitarbeitern und Kunden bedacht und hält seine wohlgeformten Hände über manche Schweinerei. – Sag mal, wie ist überhaupt das Ergebnis der Kontrolle?“ „Passabel wie immer“, erwiderte Otto Heitmann müde. „Das Manko beträgt null-Komma-zwei Prozent vom Gesamtumsatz, kaum der Rede wert. Aber die Kontrolle war geschoben.“
4. Rechtsanwalt Treike wußte, Fakten ließen sich nicht wegdiskutieren, wohl aber interpretieren, deshalb richtete er seine Verteidigungstaktik darauf, das Gericht zu der Einsicht zu bringen, Gudrun Wehler sei animiert, ja verführt worden durch die Gegebenheiten an ihrem Arbeitsplatz, und besonders durch die lasche, unsachgemäße Kontrolle. Doch Kabelitz nahm ihm den Wind aus den Segeln, indem er Gudrun Wehler nachwies, wohlbedacht und berechnend vorgegangen zu sein. Nun versuchte Treike wieder Kurs auf seine Verteidigungslinie zu nehmen. „Wäre die Hauptkasse immer nach Herrn Dannhoffs exakter Methode kontrolliert worden, hätten Sie dann auch in Erwägung gezogen, zu Ihren Gunsten falsch zu addieren?“ fragte er. „Niemals“, entgegnete Frau Wehler fest. „Es ist nur so 37
gekommen, weil mir Herrn Heitmanns Art vertraut war und weil ich sicher war, daß er sie nicht ändern würde.“ „Ihre Frage, Herr Rechtsanwalt“, bemerkte Richter Lohstett nachdenklich, „ist reichlich spekulativ. Wer sagt uns denn, daß die Angeklagte bei einer anderen Art der Kontrolle nicht eine andere Möglichkeit des Betrugs gefunden hätte? Die Unterschlagungen der Angeklagten bleiben Fakt, und über die verschiedenen Methoden, eine Hauptkasse zu kontrollieren, sollten sich die dafür Verantwortlichen gelegentlich unterhalten.“ Er sah zu Kabelitz hinüber. „Mir scheint, es wäre nützlich, auch den Wirtschaftsprüfer Heitmann als Zeugen zu hören.“ Das wäre sehr nützlich, bestätigte Kabelitz in Gedanken und sagte: „Leider ist das nicht möglich. Der Wirtschaftsprüfer Heitmann ist tot.“ Das Gericht ordnete eine Verhandlungspause von zwanzig Minuten an. Martin Kabelitz spazierte in einem der etwas abgelegenen Quergänge auf und ab, rauchte Pfeife und überdachte die Vorgeschichte des Falles Gudrun Wehler. Für ihn begann sie mit Heitmanns letzter Kontrolle in der „Hochzeitskutsche“. Heitmann hatte dem Hauptbuchhalter Quitte alle Einzelheiten dieser Kontrolle geschildert, so als habe er geahnt, daß es seine letzte Möglichkeit war, darüber zu sprechen. Er wußte, daß er an Angina pectoris litt. Vielleicht haben die Aufregungen, der Ärger über Anton Zinn und die Erbitterung darüber, erpreßt zu werden, zu einem Anfall geführt, von dem er sich nicht mehr erholte, dachte der Staatsanwalt. Doch dafür ist strafrechtlich niemand verantwortlich zu machen. Heitmann wurde ins Krankenhaus gebracht und starb dort an den Folgen eines Herzinfarktes. Reinhard Quitte war ein Jugendfreund von Kabelitz. Ihre jahrelange Bekanntschaft gab den Ausschlag dafür, daß Quitte eines Tages den Staatsanwalt aufsuchte. 38
„Ich kann dir nichts Konkretes auf den Tisch legen“, sagte er zögernd, „ich komme mit der Geschichte eines Mannes, der verstorben ist, und mit einigen Vermutungen. Zu einem Fremden würde ich gar nicht darüber sprechen. Du weißt, ich gebe mich am liebsten mit handfesten, nachweisbaren Dingen ab, mit Rechnungen und Protokollen. Aber das hier ist wie ein Nebel, der sich so verdichtet, daß man nicht sehen kann, was dahinter vorgeht.“ „Hast du mit Heitmanns Tochter gesprochen?“ „Sie beteuerte, Herr Zinn habe ihr die Kleider und Mäntel mit dem Hinweis in den Arm gedrückt, sie möge zu Hause in Ruhe auswählen. Die Rückgabe habe keine Eile.“ „Hat sie Zeugen für dieses Gespräch?“ „Dafür ist Anton Zinn zu schlau. Das wiederum wußte Heitmann. Für ihn war diese Erpressung kein Bluff.“ „Was hältst du davon, wenn ich eine Durchsuchungsanordnung ausschreibe und Zinn vorläufig festnehmen lasse?“ „Nichts, Martin, nichts halte ich davon!“ erwiderte Reinhard Quitte. „Betrug und Korruption stecken an wie eine gefährliche Krankheit. Anton Zinn kann nicht das einzige schwarze Schaf sein, das wäre in einer Herde längst aufgefallen! Vielleicht hat er dafür gesorgt, daß in der ‚Hochzeitskutsche‘ alle ein bißchen eingefärbt werden, so daß einer dem anderen nichts vorwerfen kann. Möglicherweise ist er nicht einmal der Initiator für diese Betrügereien.“ „Denk nach, Reinhard, vielleicht fällt dir noch etwas ein, das uns weiterhilft.“ Reinhard Quittes Kopfschütteln drückte Resignation aus. „Mir fällt nur ein Beispiel dafür ein, daß es unmöglich erscheint, Anton Zinn etwas nachzuweisen.“ „Erzähl’s trotzdem.“ „Eines Tages – damals lebte Otto Heitmann noch – 39
kam Frau Küster zu mir. Sie leitete die Schuhabteilung, und ich kenne sie seit Jahren. ‚Reinhard‘, sagte sie, ‚in diesem Hause bleibe ich nicht länger.‘ Ich habe sie ein bißchen gefoppt und fragte: ‚Nanu, Erna, was ist denn passiert? Du ohne deinen Schuhladen, das wäre doch wie ein Karpfenteich ohne Karpfen. Hat dich jemand gekränkt?‘ Das wäre kein Ausdruck für das, was ihr widerfahren sei. Da komme doch Anton Zinn, wie es so seine Art sei, ins Schuhlager und hole sich etliche Paar Schuhe heraus. Sie macht ihn darauf aufmerksam, daß er noch drei Paar zurückzubringen oder abzurechnen habe. Daraufhin fragt er recht pikiert, ob sie neuerdings Direktor des Hauses oder vielleicht die Hauptkassiererin wäre, bei der man abzurechnen habe. Sie verteidigt sich. Schließlich trage sie die Verantwortung für die Schuhabteilung, sie werde zur Rechenschaft gezogen, falls etwas nicht stimme. Es gehöre sich einfach, ihr mitzuteilen, ob die entnommene Ware abgerechnet sei. ‚Falls etwas nicht stimmt‘, habe Zinn erwidert, ‚aber bei uns stimmt alles, liebe Frau, es sei denn, Sie … aber das halte ich für ausgeschlossen.‘ Frau Küster ist eine resolute Frau“, versicherte Reinhard Quitte, „sie marschierte zum Vorsitzenden. Der hörte ihr zu, aufmerksam, besorgt, und er versprach ihr, diese heikle Angelegenheit zu prüfen. Am nächsten Tag erhielt sie wieder Besuch von Anton Zinn. ‚Der Hang zum Denunzieren‘, sagte er, ‚ist eine so häßliche Eigenschaft, daß sie alle vorhandenen guten überschattet. Außerdem gäbe es dazu ein treffendes Sprichwort: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.‘ Die Frau empörte sich, wollte wissen, was denn ihr Glashaus wäre. – Wieviel Paar Schuhe sie kürzlich als fehlerhaft verrechnet und ihrer großen Familie habe zukommen lassen? fragte Anton Zinn da freundlich zurück. 40
Sie verteidigte sich. Diese Schuhe wären fehlerhaft gewesen. Er selbst hätte ihr geraten, den ganzen Kram mitzunehmen, und sie hätte ordnungsgemäß bezahlt. Hoffentlich ließe sich das nachweisen, meinte er, die Fehler an den Schuhen nämlich, denn die Schuhe würden ja schon eine Weile getragen von Familie Küster, den Söhnen, den Schwiegertöchtern, den Neffen und Nichten. Lächelnd, als hätte er eine frohe Botschaft hinterlassen, verschwand Anton Zinn danach aus dem Schuhlager. Ich habe meine ganze Hoffnung in diese vorbeugende Kontrolle gesetzt“, beteuerte Reinhard Quitte, „ich war sicher, die würde an den Tag bringen, was in der ‚Hochzeitskutsche‘ eigentlich gespielt wird. Hätte Otto Heitmann ein einigermaßen bemerkenswertes Manko aufgedeckt, konnte ich Frau Küster unterstützen, die Wahrheit über Anton Zinns Geschäftsführung und Personaleinkäufe ans Licht zu bringen. Doch es gab kein Manko. Damit war Frau Küsters Verdacht gegen den stellvertretenden Direktor gegenstandslos geworden. Sie kündigte kurz nach Heitmanns Tod.“ „Du hast recht“, räumte Kabelitz ein, „es führt zu nichts, Anton Zinn festzunehmen, ohne Beweise gegen ihn in der Hand zu haben. Alle, die eventuell mit ihm unter einer Decke stecken, wären durch seine Verhaftung gewarnt.“ „Und mich lassen die nicht in ihre Karten gucken“, sagte Quitte deprimiert. „Sobald ich anfange, mich genauer für etwas zu interessieren und nachzuprüfen, nehmen sie sich vor mir in acht. Die würden sicherlich so weit gehen, mich als Hauptbuchhalter wegzuloben.“ „Du kannst trotzdem helfen, die Sache ans Licht zu bringen.“ Martin Kabelitz fuhr sich mit gespreizten Fingern durch seinen rötlichbraunen Haarschopf, ein Zeichen dafür, daß er von einer Idee gepackt war. „Hör zu, die Staatsanwaltschaft wird eine Kontrollinventur anset41
zen. Dazu habe ich das Recht, da die vorbeugende Kontrolle von Otto Heitmann Fragen offengelassen hat.“ „Direktor Hagedorn wird ebenso wie sein Stellvertreter bezeugen, daß Heitmann nichts zu bemängeln hatte“, warf Eberhard Quitte ein. „Eben deshalb kommt es auf dich an. Heitmann war dir gegenüber rechenschaftspflichtig und sprach zu dir von Unregelmäßigkeiten, auf die er bei der Kontrolle gestoßen war, die er aber aus bestimmten Gründen nicht ins Protokoll aufnahm. Genaueres konnte er dir nicht mehr berichten, dazu war er schon zu krank. Der Widerspruch zwischen deiner Aussage und dem, was die Direktion vorbringt, rechtfertigt das Eingreifen der Staatsanwaltschaft. Als Leiter dieser Kontrollinventur setze ich Joachim Dannhoff ein. Der ist ein unbestechlicher, mit allen Wassern gewaschener Wirtschaftsprüfer. An dem beißt sich Anton Zinn die Zähne aus!“ „Als nächstes wollen wir feststellen, was am fünfzehnten und sechzehnten Mai neunzehnhundertfünfundsechzig in der ‚Hochzeitskutsche‘ geschah“, sagte Richter Lohstett nach der Verhandlungspause. „Angeklagte, kommen Sie wieder nach vorn.“ Gudrun Wehler erhob sich. „Sie werden beschuldigt, mit Bekleidung und Wäsche manipuliert zu haben, die durch einen Wasserrohrbruch beschädigt wurde …“ „Das ist nicht wahr!“ „Angeklagte, Sie dürfen nur sprechen, wenn ich Ihnen das Wort erteile.“ Frau Wehler stammelte eine Entschuldigung. Ich muß mich zusammennehmen, dachte sie, in meiner Aufregung verderbe ich noch alles. Nichts von dem, was sie mir jetzt vorwerfen werden, können sie beweisen. „Und nun erzählen Sie dem Gericht, was am fünfzehnten Mai geschehen ist.“ 42
„Es war gegen Abend, kurz vor Ladenschluß. Einige Kassiererinnen rechneten schon ab. Plötzlich rief jemand, der Keller stehe unter Wasser. Wenig später, ich hatte die Abrechnung eben beendet, bat mich der stellvertretende Direktor, mit in den Keller zu kommen. Da sah es wüst aus. Bettwäsche lag in Pfützen, auf den Ständern hingen Kleider und Anzüge, manche tropfnaß. Der Wasserstrahl war in hohem Bogen aus dem Rohr geschossen.“ „Was haben Sie und der stellvertretende Direktor im Keller getan?“ „Die Wäsche aus den Pfützen gezogen, alles, was auf der Erde lag, aufgehoben.“ „Wie lange waren Sie im Keller?“ „Eine Stunde ungefähr.“ „Nur im Keller?“ Frau Wehler kramte ihr Taschentuch aus der Handtasche. „Ja“, sagte sie fest. „Oder sind Sie zwischendurch in den Verkaufsraum zurückgegangen?“ „Ich kann mich nicht daran erinnern.“ Lohstett warf dem Staatsanwalt einen kurzen Blick zu. „Na schön. Erinnern Sie sich daran, was am nächsten Tag geschah?“ „Am Morgen kamen zwei Kollegen von der Betriebsstellenprüfung und haben zusammen mit uns den Schaden festgestellt.“ „Wer war von der ‚Hochzeitskutsche‘ dabei?“ „Herr Zinn und ich. Direktor Hagedorn kam für ein paar Minuten herunter, um sich einen groben Überblick zu verschaffen.“ „Wie ging dieses Schaden-Feststellen vor sich?“ „Wir legten die Ware Stück für Stück vor, zählten, stellten Verschmutzung und Wasserflecken fest, begutachteten, ob wir sie abschreiben mußten oder in die Reinigung geben konnten. Danach schätzten die Prüfer ein, um wieviel Prozent sich der Wert des Stückes minderte.“ 43
„Wofür war das wichtig?“ „Einmal für die Versicherung, die für den Schaden aufkommt, zum anderen mußten die Preise neu festgesetzt werden.“ „Beteiligten Sie sich auch daran?“ „Nein. Das geschah viel später, als die Ware aus der Reinigung oder Färberei zurückkam.“ „Wer legte denn die Stücke vor, und wer schrieb auf?“ fragte Richter Lohstett. „Herr Zinn und ich zählten vor. Wir wiesen bei jedem Stück auf die Schäden hin. Die Kollegen von der Betriebsstellenprüfung schrieben auf.“ „In welcher Weise haben Sie nun mit dieser beschädigten Ware manipuliert?“ „In keiner Weise.“ „Sie sind aber angeklagt, siebzig Kleider, drei Dutzend Frottiertücher und zwanzig Garnituren Bettwäsche zuviel angesagt zu haben.“ „Das ist ganz ausgeschlossen.“ „Vor der Polizei haben Sie das eingestanden. Können Sie sich erinnern?“ „Nein!“ Ihre Stimme gehorchte nicht mehr. Sie verschränkte die Arme krampfhaft vor der Brust, um ihre Hände zu verstecken. „Dann lese ich Ihnen Ihre Aussage vor.“ Lohstett ließ sich von einem der Schöffen ein Aktenbündel reichen, blätterte darin und las laut: „Ich weiß nicht, wie viele Kleider, Handtücher und Garnituren Bettwäsche es waren, aber ich habe etliche zweimal vorgezeigt. Frage der Kriminalistin: Wie war das möglich? Antwort: Es herrschte ein ziemliches Durcheinander, da auch die Handwerker im Keller arbeiteten. Sie besserten die Rohre aus, während wir die Waren hin- und hertrugen und vorzählten. Frage: Ist den Prüfern nicht aufgefallen, daß sie manche Stücke schon gesehen hatten? 44
Antwort: Das war kaum möglich. Wir haben mehrere Dutzend gleichaussehender Handtücher, ähnlich ist es mit der Bettwäsche. Die Kleider und Anzüge sind auch keine Einzelanfertigungen. Das soll genügen. Angeklagte, was sagen Sie dazu?“ Ich hätte es nicht erzählen dürfen, dachte Gudrun Wehler. „Angeklagte“, wiederholte der Vorsitzende und sah Gudrun Wehler in die Augen, „äußern Sie sich zu Ihrer Aussage vor der Polizei.“ „Das – stimmt nicht, was da steht.“ „Demnach hat die Kriminalistin Ihre Worte falsch protokolliert? Sie haben aber Seite für Seite gelesen und unterzeichnet.“ Gudrun Wehler ließ die Arme sinken. Das Zittern war ohnehin nicht mehr zu verbergen. „Ich – habe vielleicht so etwas gesagt, aber – es stimmt nicht. Nein, es stimmt nicht!“ rief sie. Dann sprach sie stockend und gehetzt zugleich, manchmal schlug ihre Stimme über. „Es war ganz anders. Ich wollte nur meine Ruhe haben vor diesen Fragen, und immer wieder Fragen. Ich war fertig, wollte endlich nach Hause zu meinem kranken Mann, da habe ich zu allem ja gesagt und alles so erzählt, wie man es wohl hören wollte.“ Sie schluchzte. Sie fühlte sich elend vor Scham und Angst. Sie dachte daran, wie froh sie gewesen war, daß sie sich alles von der Seele reden konnte! Ich wollte reinen Tisch machen – aber ich habe nicht bedacht, daß dadurch meine Strafe härter wird. „Bitte, stellen Sie der Angeklagten einen Stuhl hin.“ Lohstett sah zur Verteidigung hinüber. Rechtsanwalt Treike besorgte seiner Mandantin einen Stuhl. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, bis sie sich gesetzt hatte und ruhiger wurde. „Können Sie der Verhandlung noch folgen?“ fragte er besorgt. „Ja.“ Sie schneuzte sich, bekam wieder Gewalt über 45
sich und dachte: Ich muß es schaffen, nur nicht mehr zugeben als unbedingt nötig. „Sie widerrufen also Ihre Aussage, die Sie vor der Polizei gemacht haben“, stellte der Vorsitzende fest. „Ja.“ „Herr Staatsanwalt, haben Sie Fragen an die Angeklagte?“ Martin Kabelitz nickte, sagte zu Gudrun Wehler, die sich erheben wollte: „Bitte, bleiben Sie sitzen. – Am Abend des fünfzehnten Mai, so behaupten Sie jetzt, sind Sie mit Herrn Zinn ungefähr eine Stunde lang ununterbrochen im Keller gewesen, um das Nötigste aufzuräumen. Bei der polizeilichen Vernehmung gaben Sie jedoch zu, zwischendurch im Verkaufsraum gewesen zu sein und Kleider geholt zu haben, die sich schwer verkaufen ließen oder durch häufiges Anfassen und Anprobieren leicht verschmutzt waren. Diese Kleider legten Sie zu den beschädigten Waren und ließen sie am nächsten Tag als wertgemindert aufschreiben, das heißt, die Versicherung mußte auch für diese Kleider zahlen. Erinnern Sie sich an diese Aussage?“ „Ich erinnere mich, aber – es stimmt nicht. Man hat mir das so in den Mund gelegt, und ich habe dazu ja gesagt, um meine Ruhe zu haben.“ Martin Kabelitz sah sie verwundert an. „Etwas in den Mund gelegt“, wiederholte er. „Sagen Sie mal, Angeklagte, woher konnte denn die Polizei um diese Dinge wissen?“ „Wahrscheinlich – von Herrn Dannhoff.“ Natürlich von Joachim Dannhoff, dachte Kabelitz. Es war alles so gelaufen, wie sie es geplant hatten: Staatsanwalt und Hauptbuchhalter beantragten eine Kontrollinventur, und Dannhoff wurde als Leiter eingesetzt. Er rechnete nicht nur die Kassenleisten nach und lieferte damit den Fall Wehler, sondern fand auch heraus, daß nie so viel Ware im Keller gewesen sein konnte, wie man als beschädigt angegeben hatte. 46
„Herr Dannhoff“, erklärte Gudrun Wehler, „ist sehr eifrig. Vielleicht hat er sich verrechnet und glaubt, der Fehler sei uns bei der Prüfung dieser wertgeminderten Ware unterlaufen.“ „Wir wollen doch dem Herrn Wirtschaftsprüfer nichts unterstellen“, warf der Vorsitzende ein, „er kann selbst erzählen, was er nachgeprüft, und meinetwegen auch, was er sich gedacht hat.“ „Der Wasserrohrbruch“, fragte Kabelitz weiter, „lag also zeitlich nach der Kontrolle, die der verstorbene Prüfer Heitmann vorgenommen hatte, und vor der Kontrollinventur, die Herr Dannhoff leitete. Stimmt das so, Angeklagte?“ „Ja.“ Was soll das? dachte Gudrun Wehler beunruhigt. Worauf will er hinaus? „Nehmen wir einmal an, Sie hätten Ihre Aussage nicht widerrufen, sondern tatsächlich die Menge der beschädigten Ware manipuliert, auf welche Weise, Angeklagte, konnten Sie sich dadurch bereichern?“ Was nun geschah, hatte Kabelitz ungefähr vorausgesehen. Treike legte Einspruch ein gegen diese spekulative Frage, doch Richter Lohstett winkte ab und forderte Frau Wehler auf zu antworten. Sie war verwirrt. „Ich – weiß nicht. An das Versicherungsgeld wäre ich nicht herangekommen …“ „Aha, Sie hätten also unmittelbar gar keinen Nutzen davon gehabt. Danke.“ Er warf Treike einen vielsagenden Blick zu, und der Rechtsanwalt nickte als Zeichen dafür, er diesen Hinweis aufnehmen und bei Gelegenheit ins Spiel bringen würde. Das Gericht blickte ebenso erwartungsvoll zur Tür wie der Staatsanwalt und der Verteidiger Treike. Der Zeuge Anton Zinn wurde aufgerufen. Er betrat den Saal mit weit ausholenden, schwingenden Schritten, 47
nickte jovial dem Publikum zu, das er größtenteils kannte, schritt nach vorn, verschwendete einen mitleidsvollen und doch aufmunternden Blick an Frau Wehler und verbeugte sich schließlich vor dem Gericht. Staatsanwaltschaft und Verteidigung mußten mit der Andeutung einer Verbeugung vorliebnehmen. Die Szene war filmreif. Richter Lohstett gab langsam sprechend Zinns Namen, Beruf und Tätigkeit zu Protokoll. Er ließ dabei den jungen Mann keine Sekunde lang aus den Augen. Er stellte fest, daß Zinn mit der Angeklagten nicht verwandt sei, und ermahnte ihn, vor Gericht die Wahrheit zu sagen, nichts hinzuzufügen und nichts wegzulassen. „Sie haben allerdings das Recht, die Aussage zu verweigern, wenn Sie meinen, daß Sie sich durch Ihre Antwort einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen könnten. Andererseits kann alles, was Sie hier äußern, auch gegen Sie verwendet werden.“ Zinns Lächeln deutete dem Gericht an, daß für ihn derartige Hinweise überflüssig wären. Anton Zinn wußte Bescheid. „Bitte, Herr Staatsanwalt“, sagte Lohstett, „stellen Sie Ihre Fragen.“ „Herr Zeuge, wie kam es am fünfzehnten Mai dieses Jahres zu dem Wasserrohrbruch im Lagerkeller des Warenhauses? Gab es keine Anzeichen dafür, daß das Rohr beschädigt war, so daß man die Katastrophe verhindern konnte?“ Anton Zinns Stirn legte sich in Falten. Er wirkte bekümmert. „Herr Staatsanwalt“, sagte er, zu Kabelitz gewandt, „wissen Sie nicht, wie schwierig es ist, Handwerker zu bekommen?“ Kabelitz nickte unwillkürlich und ärgerte sich darüber, Treike grinste. „Sie haben Fragen direkt und nicht mit Gegenfragen 48
zu beantworten“, mahnte Lohstett. „Außerdem sprechen Sie immer nach vorn zum Gericht, ganz gleich, wem Sie antworten.“ „Pardon“, murmelte Zinn. „Wir wußten, das Rohr würde nicht mehr lange mitmachen, es war schon einmal provisorisch ausgebessert worden. Die Klempner nannten uns für die endgültige Reparatur einen Termin, der etwas spät lag. Zu spät, wie sich herausstellte.“ „Wer bemerkte den Schaden zuerst?“ fragte Kabelitz. „Herr Trebbin, unser Kraftfahrer. Er brachte Ware vom Großhandel und ging in den Keller, um zu sehen, wo er sie am günstigsten ablegen konnte. Er rief mich sofort an und sagte, der Keller stehe unter Wasser. Ich rannte hinunter. Ein schmerzlicher Anblick …“ Das Herz wird dir vor Freude im Leibe gehüpft sein, dachte Kabelitz. Etwas Besseres als dieser Rohrbruch vor der Kontrollinventur konnte dir kaum passieren. „Für die notwendigen Aufräumungsarbeiten haben Sie Frau Wehler geholt?“ fragte er. „Ganz recht. Frau Wehler.“ „Warum ausgerechnet sie?“ Der kurze Blick, der Kabelitz traf, sagte ihm, daß diese Frage keinesfalls überraschte und daß sich Anton Zinn längst eine entsprechende Antwort zurechtgelegt hatte. „Frau Wehler“, entgegnete er, „war als umsichtig, flink und hilfsbereit bekannt. Ich brauchte in dieser Situation niemanden, der mir die Ohren volljammerte, was das für ein Unglück sei, sondern einen Menschen, der wußte, wo es anzupacken galt. Außerdem gab es mit Frau Wehler nie Diskussionen, wenn es um Überstunden ging.“ So muß man auftreten können, dachte Gudrun Wehler, so sicher, selbstbewußt und überzeugend. Er nahm mich mit, weil er wußte, ich würde auf alles eingehen. In den Tagen zuvor hatte ich es ein bißchen übertrieben bei der Addition. 49
„Verließen Sie zusammen mit Frau Wehler den Keller?“ „Ja, natürlich. Nach einer Stunde ungefähr.“ „Ging zwischendurch einer von Ihnen in den Verkaufsraum zurück?“ „Nein. Wo denken Sie hin? Wir hatten alle Hände voll zu tun.“ „Das erklären Sie dem Gericht bitte einmal näher“, warf Richter Lohstett ein. Anton Zinn erklärte, und nicht nur mit Worten. Er redete mit Augen und Händen, ja, er führte vor, wie sie die Wäsche aus den Pfützen gezogen und ausgebreitet hatten, um Stockflecke zu vermeiden, wie sie Wasser schöpften, den Fußboden säuberten. Es war eine überzeugende Demonstration dafür, daß es keine Möglichkeit gab, ihren Posten auch nur für einen Augenblick zu verlassen. „Die Angeklagte wird beschuldigt“, fuhr Kabelitz fort, „mehrere Kleidungs- und Wäschestücke zweimal vorgelegt zu haben. Wie konnte das Ihrer Meinung nach geschehen?“ „Mein Gott, welch ein Verhängnis“, entgegnete Anton Zinn leise, mit einer zu Herzen gehenden Traurigkeit. „Es war nämlich ein ziemliches Durcheinander im Keller, aber doch noch übersichtlich genug, um die geprüfte Ware gesondert stapeln zu können. Trotzdem …“ Er hielt inne, schien mit sich zu ringen, ob es angebracht sei weiterzusprechen, und seufzte. „Ich – muß es erzählen … Frau Wehler kamen Bedenken, daß wir einen der bereits erledigten Posten wieder greifen könnten, denn die Handwerker packten die Wäschestapel rücksichtslos zur Seite, wenn sie Platz brauchten – von ihrer Warte aus gesehen wohl auch verständlich –, da schob ich zu Frau Wehlers Beruhigung ein Brett, eine Art Trennwand, zwischen die Stapel. Die Angelegenheit wurde also völlig exakt erledigt.“ 50
Es waren gar keine Bretter im Keller, dachte Gudrun Wehler, aber so etwas muß einem einfallen! Ein Glück, daß ich widerrufen habe. Sie können mich nur für die Unterschlagung bestrafen … „Wie erklären Sie sich dann die Tatsache, Herr Zeuge, daß die Kontrollinventur zu einem anderen Ergebnis gekommen ist?“ „Dafür gibt es keine Erklärung. – Der Hinweis darauf, daß sich die Prüfer geirrt haben könnten, wäre ja wohl zu anmaßend.“ Kabelitz verzichtete auf weitere Fragen, und der Rechtsanwalt versuchte, Anton Zinn die Aussage zu entlocken, daß man aus Versehen, wohl wegen der Unübersichtlichkeit, einige Stücke zweimal gegriffen habe, doch Zinn ließ sich darauf nicht ein. Schließlich stellte Treike die Frage, die der Staatsanwalt schon mit Ungeduld erwartete. Wer konnte sich bereichern, angenommen, es wäre manipuliert worden? Anton Zinn stutzte sekundenlang, und der Vorsitzende wies ihn nochmals auf sein Recht hin, die Aussage zu verweigern. „Oh, nein“, entgegnete Herr Zinn würdevoll, „ich habe nichts zu verbergen. Weder Frau Wehler noch mir ist es möglich, Versicherungsgelder abzuzweigen. Die können nur vom Betrieb empfangen und verrechnet werden.“ „Dann möge mir der Herr Staatsanwalt verzeihen“, sagte Treike, „wenn ich eine Frage vorwegnehme, die er morgen gewiß dem Zeugen Dannhoff stellen wird.“ Immer zu, dachte Kabelitz, jetzt kommen wir ins richtige Fahrwasser. „Herr Zeuge, wie war das Ergebnis der Kontrollinventur, die zeitlich nach diesem Rohrbruch stattfand?“ „Es war wenig zufriedenstellend“, entgegnete Zinn frostig. „Ein Manko also.“ 51
„Ja.“ „Möglicherweise war dieses Manko nicht einmal das tatsächliche. Durch Manipulation mit der beschädigten Ware konnte der Fehlbetrag verringert werden, und zwar durch den Teil der Versicherungsgelder, die zuviel gezahlt wurden. Ich meine das alles natürlich theoretisch gesehen …“ „Diese Annahme bleibt auf jeden Fall eine Theorie“, erwiderte Anton Zinn abweisend. Er warf Gudrun Wehler, die ihn angstvoll anstarrte, einen kurzen, ärgerlichen Blick zu. „Danke.“ Rechtsanwalt Treike setzte sich. Lohstett schloß die Verhandlung und gab bekannt, daß sie am nächsten Tag pünktlich um acht Uhr fortgesetzt würde. Es war noch früher Nachmittag. Gudrun Wehler nahm in einer Selbstbedienungsgaststätte einen Imbiß und fuhr dann zu „Chic und Charme“, da sie bis neunzehn Uhr Dienst hatte. Es regnete. Als sie aber in der Karl-Marx-Straße den Bus verließ, ging ein Wolkenbruch über Korbeck nieder.
52
II. KAPITEL
1. Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, klatschte aufs Straßenpflaster, weichte die Rasenflächen vor den Wohnhäusern auf und ließ selbst die geringste Vertiefung zu einer Pfütze werden, tückisch für Fußgänger, die in der Dunkelheit hineintappten, sich nasse Füße holten und schimpften. Der Mann, der in dem dunklen Zimmer am Fenster stand und auf das regennasse Pflaster starrte, murmelte: „Vierzig Tage und vierzig Nächte. Wie es in der Bibel steht: die Sintflut. Die Flut, die die Sünden hinwegspült und die Menschen, die sie begehen.“ – Ich werde diesen Mann töten, dachte er. Das wird keine Sünde sein. Es ist Notwehr, denn er tötet mich schon seit langem. Jedesmal, wenn meine Frau zu ihm geht, bringt mich das meinem Tod ein wenig näher. Er schwankte, trat vom Fenster zurück und sank in einen Sessel. Als er nach dem Taschentuch griff, fühlte er den Zettel, nahm ihn heraus, legte ihn vor sich auf den Tisch und strich ihn glatt. Die Worte, die mit Bleistift darauf geschrieben waren, konnte er nicht lesen, denn die Straßenbeleuchtung und das Licht, das aus den gegenüberliegenden Wohnungen spärlich in sein Zimmer fiel, ließen ihn die Gegenstände nur in ihren Umrissen erkennen. Auf dem Zettel stand: „20.30 Uhr. Stadtpark. J. D.“ Der Mann kannte diese Worte längst auswendig, er wußte auch, was die Buchstaben J. D. bedeuteten. Die Flurtür wurde aufgeschlossen. Der Mann schob den Zettel hastig in die Tasche zurück und blinzelte, als die Deckenbeleuchtung aufflammte. 53
„Konrad!“ Frau Wehler blieb unter der Tür stehen. „Warum sitzt du im Dunkeln?“ Ihre Frage klang verwundert und tadelnd zugleich. „Es macht mir nichts aus“, antwortete Konrad Wehler, „ich finde es angenehm, dazusitzen und zu träumen.“ Die Frau ging in den Korridor zurück, hängte ihren Mantel an den Garderobenständer und bemerkte laut: „Früher hast du gelesen, wenn du allein warst!“ Und mir nicht auch noch in Gedanken auf Schritt und Tritt nachgespürt, fügte sie für sich hinzu. „Ja, früher“, entgegnete er, „da hatte ich noch bessere Augen.“ Und keinen Grund zur Eifersucht, dachte er. Wenn ich jetzt ein Buch aufschlage, verwandeln sich alle Buchstaben in J. und D. „Du siehst abgespannt aus, Konrad. Wie geht es dir? Kann ich etwas für dich tun?“ Fragen, auf die keine Antwort erwartet wurde. Wehler spürte, daß seine Frau mit ihren Gedanken noch nicht zu Hause war. Sie wirkte bedrückt. Ihre gespielte Anteilnahme und die Geschäftigkeit vermochten ihn nicht zu täuschen. „Es ist nichts“, sagte er. „Lieb von dir, daß du geheizt hast. Das tut gut bei diesem Wetter.“ Sie lehnte sich gegen den Kachelofen. Konrad Wehler lächelte und betrachtete seine Frau. Er fand sie noch immer attraktiv mit ihren fünfundvierzig Jahren. Sie war stets tadellos frisiert und modisch gekleidet. Modisch und teuer. Viel zu teuer für ihre Verhältnisse. J. D. war Junggeselle, soviel wußte Konrad Wehler, und er brachte diesen Mann in Zusammenhang mit der geschmackvollen, teuren Garderobe, die sich seine Frau im letzten Jahr geleistet hatte. In einsamen Stunden – und es gab derer viele für ihn – grübelte er oft darüber nach, ob sich seine Frau so herausputzte, um J. D. zu gefallen, oder ob es gar Geschenke von ihm waren, die 54
sie trug. Denn sie hatte auch Gardinen, Auslegeware und Geschirr für das Gartenhaus angeschafft, einen Grill, Hollywood-Schaukel, Gartenmöbel. Er solle sich behaglich fühlen, meinte sie, wenn er schon den ganzen Tag über zu Hause bleiben mußte. Er hatte sie scherzhaft gefragt, ob sie etwa im Lotto gewonnen habe, und mit verlegenem Lächeln sprach sie von Überstundengeld und Prämien. Doch so oft, da war Konrad Wehler sicher, wurden in keinem Betrieb Prämien gezahlt. Auf entsprechende Andeutungen reagierte seine Frau stets mit Tränen. Diese Dinge sollten Zeichen ihrer Zuneigung zu ihm sein, und es beleidigte sie, deswegen Vorwürfe zu hören oder gar Mißtrauen zu ernten. Konrad Wehler aber sah in diesen Anschaffungen, die auch ihm zugute kamen, eher Zeichen ihres schlechten Gewissens, und solange sie das spürte, glaubte er, sei noch nicht alles verloren. In letzter Zeit wurden die Neuerwerbungen weniger und blieben schließlich ganz aus. Dafür machte seine Frau kaum noch ein Hehl daraus, daß sie sich ab und zu mit jemandem traf. Oftmals schien es Konrad Wehler, als wolle sie ihm etwas anvertrauen, scheute aber im letzten Moment stets davor zurück. Sie war ernster geworden, leicht reizbar, in Gedanken oft abwesend. Wehler glaubte, dieses Zuhause sei ihr zum Hemmschuh geworden in ihrer Leidenschaft zu J. D. So weit aber hätte sie es nie kommen lassen dürfen, fand er. Gudrun Wehler fühlte, wie unter den prüfenden Blicken ihres Mannes sie wieder das nervöse Zittern befiel, gegen das sie schon im Gerichtssaal vergebens angekämpft hatte. „Was starrst du mich so an?“ fragte sie gereizt. „Früher hat es dich nie gestört, wenn ich dich angesehen habe.“ Sie schwiegen ein Weilchen, dann sagte sie: „Ich gehe in die Küche und richte das Abendbrot. Möchtest du Tee oder Bier? Ich habe dir Diabetikerbier mitgebracht.“ 55
„Dann trinke ich Bier. Aber laß dir Zeit mit dem Abendbrot, ruh dich erst ein wenig aus. Ich bin noch nicht hungrig.“ „Aber ich. Außerdem muß ich noch weg.“ „Wann?“ „Gegen halb neun. Und bevor du weiterfragst: Ich möchte zum Friseur, mir einen Termin holen. Er hat heute bis einundzwanzig Uhr geöffnet.“ „Sei nicht so gereizt, Gudrun. Ich habe dir nie verboten, abends das Haus zu verlassen.“ „Stimmt. Aber wenn du es tun würdest, wäre das erträglicher als die stumme Eifersucht, mit der du mich verfolgst. Jeder Blick ein Vorwurf, jedes Wort drückt Mißtrauen aus. Du bist albern, Konrad, albern!“ Sie verließ das Zimmer. Es ist ungerecht von mir, ihn so zu behandeln, dachte sie. Ich weiß längst, daß er sich irgend etwas zusammenreimt, was ihn eifersüchtig macht. Ich habe seinen Verdacht sogar genährt, weil ich gedacht habe, ein bißchen Eifersucht, eine kleine Laune meinerseits, das verkraftet er, aber nicht, daß ich kriminell geworden bin. Das ist zuviel, dachte Konrad Wehler. Wenn sie einsichtig wäre, reumütig, sich zu ihrer Schuld bekennen würde und um Verzeihung bitten, so wie wir es immer getan haben, wenn einer von uns sich danebenbenommen hatte. Aber sie ist hoffärtig geworden. Sie amüsiert sich schamlos mit einem anderen Mann, und mich nennt sie albern. Er drückte die angezündete Zigarette wieder aus. Sie schmeckte ihm nicht. Sie war womöglich ein Geschenk von J. D. Trostpreis für einen alten, albernen Ehemann. Nein, dachte Wehler empört, ich bin nicht albern. Ich bin krank, alt und eifersüchtig, aber albern bin ich nicht! Sie will mich kränken, weil ich eine Belastung für sie bin. Seit Jahren schon. Nur weil sie mich und meine Krankheit nicht mehr ertragen konnte, hat sie damals 56
diese Arbeit angenommen. Jetzt läßt sie mich am Wegrand liegen und zieht mit diesem J. D. davon. An ihrem Leben darf ich nicht mehr teilnehmen, ich spüre es jeden Tag deutlicher. Während des Abendessens sprachen sie wenig und nur über belanglose Dinge. Wehler brachte kaum einen Bissen hinter. Was war nur dran an diesem Kerl, daß sie nicht loskam von ihm? Er sagte: „Das ist ein Sauwetter heut. Mußt du denn unbedingt noch zum Friseur?“ Sie seufzte wie jemand, der zum wiederholten Male einem unverständigen Kind etwas erklären muß. Wehlers Hand umkrampfte den Zettel in der Tasche. Am liebsten hätte er ihr zugeschrien: Zwanzig Uhr dreißig. Stadtpark. J. D.! – Er preßte die Lippen aufeinander. Ruhig, nur ruhig Blut. Er wartete, bis sie mit Essen fertig war, trug das Geschirr in die Küche und spülte es. Als er wieder ins Wohnzimmer trat, sagte seine Frau: „Ich gehe jetzt.“ Er nickte, verfolgte sie mit seinen Blicken, bis sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloß zog. Er fühlte sich elend vor Wut und Enttäuschung. Sein Herz hämmerte. Schluß, dachte er, das muß ein Ende haben. Dieser Dannhoff, dieser räudige Hund, dieser verfluchte … Wehler trommelte mit den Fäusten gegen die Wand, stieß unflätige Worte aus. Ein dumpfer Druck saß in seinen Schläfen, ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Wie in einem Rausch riß er den Mantel vom Haken, stülpte den Hut auf, fuhr in die Schuhe und rannte hinaus. Regen schlug ihm ins Gesicht. Er drückte den Hut tiefer in die Stirn und zerrte den Mantelkragen hoch. An der Gorkiallee bog er in den Park ein. Vor ihm gingen ein Mann und zwei Frauen. Er rannte, bis er dicht genug heran war und in einer der Frauen Gudrun erkannte. Sie verschwand in einem Seitenweg, der zum Fluß hinführte. Wehler folgte ihr. Sie lief schnell und ohne sich umzusehen bis zu einer Ulme, unter der eine Bank stand. 57
Dort wartete sie, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tretend, den Regenschirm gegen den Wind gestemmt. Er ist rücksichtslos, dachte Wehler, der sich hinter Büschen verborgen hielt und sie beobachtete. Bei solchem Wetter bestellt er sie hierher. Sie ist ihm verfallen. Nie hat es während unserer Ehe einen anderen Mann für sie gegeben. Seit dieser da ist, finden wir keine Ruhe. Nie hätte ich gedacht, daß ich einmal einen Menschen töten möchte. Sie werden nicht zusammen zurückgehen bis zum Haus, überlegte er, und wenn, spätestens dort müssen sie sich trennen. Ich werde ihn erwischen und – geb’s Gott, daß ich auch zuschlage. Jemand hustete. Gudrun war es nicht. Eine Gestalt ging auf sie zu. Wehler umklammerte den Stein, den er unterwegs aufgehoben und in die Manteltasche gesteckt hatte. Der andere klappte den Schirm zu und hakte sich bei Gudrun Wehler unter. Langsam gingen sie stadtwärts. Wehler schlich hinterher. Der Regen ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Unter einer Laterne in der Nähe der Straße blieben sie stehen. Gudruns Begleiter streifte die Kapuze der Kutte vom Kopf. Langes schwarzes Haar fiel über den Rücken, wurde von einer schmalen Hand zusammengerafft und hochgesteckt.
2. Wieder stieg Gudrun Wehler die gewundenen Treppen im Gerichtsgebäude hinauf. Drittes Stockwerk, Quergang acht! Sie sah gealtert aus an jenem Morgen, unausgeschlafen und sorgenvoll, und sie wußte es. Sie hatte sich nicht zurechtgemacht, sogar das Haar nur mit ein paar Strichen aus der Stirn gebürstet, statt es wie sonst sorgfältig in Wellen zu legen. In der 58
vergangenen Nacht hatte sie Konrad ins Krankenhaus gebracht und sich in qualvollen Stunden der Ungewißheit Rechenschaft abgelegt über ihr Leben. Es erschien ihr vertan, weil sie nie den Mut aufbrachte, sich einen Weg vorzuzeichnen und den auch zu gehen. Immer drängten sie irgendwelche Umstände oder andere Menschen, sich so und nicht anders zu entscheiden. In den schweren Nachkriegsjahren war sie gezwungen, ihr täglich Brot durch harte Feldarbeit zu verdienen. Dem Wunsch ihrer Eltern entsprechend verzichtete sie darauf, an der ABF das Abitur nachzuholen, und wurde statt dessen nach einer kurzen Ausbildung Sekretärin. Sie heiratete Konrad Wehler, weil alle, die um dieses Verhältnis wußten, ihr einredeten, sie habe das große Los gezogen. Durch ihn war sie materiell versorgt und konnte es sich leisten, Hausfrau zu sein. Sie wäre auch da noch lieber Lehrerin geworden. Dann brach Konrad Wehler zusammen, blieb von Krankheit und Siechtum gezeichnet, und ihre Aufgabe war nun, weniger seine Frau als vielmehr seine Krankenschwester zu sein. Als sie verzweifelt ausbrach aus dieser Rolle, besaß sie weder den klaren Kopf noch die Stärke, den Versuchungen durch Anton Zinn zu widerstehen. Es wurde für sie eine krankhafte Art von Selbstbestätigung, sich Geld zu verschaffen, als Partnerin eines so cleveren Mannes wie Anton Zinn. Sie versagte auch Konrad gegenüber, da sie sich ihm und seiner Krankheit unterordnete und sich nie entschließen konnte, über ihre Unzufriedenheit und ihre Wünsche mit ihm zu sprechen. Sie wurde kriminell und fand nicht den Mut, sich Konrad anzuvertrauen. Der Rat des Arztes, ihm jede Aufregung fernzuhalten, war ihr ein willkommener Vorwand, weiterhin zu schweigen. Nun fühlte sie sich schuldig an Konrads Zusammenbruch. Auch Leutnant Funke gegenüber verhielt sie sich unentschlossen. Verachtenswert unentschlossen, wie sie 59
sich eingestand. Und doch konnte sie nicht anders. Damals, bei ihrer ersten Vernehmung, wollte sie überhaupt nichts sagen, aber diese Frau brachte sie zum Reden. Eines Tages dann steckte ihr Dannhoff den Zettel zu, der von Konrad gefunden und mißdeutet wurde. Sie traf sich mit dem Wirtschaftsprüfer, teils in der Hoffnung, eine mildere Strafe zu bekommen, teils aus dem Bedürfnis, ihr Gewissen zu erleichtern, und vertraute ihm an, was sie über die Geschäftspraktiken in der „Hochzeitskutsche“ wußte. Später bereute sie es wieder und stand auf Zinns Seite, doch seit dem gestrigen Nachmittag, wo sie Zinn vielleicht zum ersten Mal ohne Maske gesehen hatte, wurde sie wieder wankend, und abends, als sie mit Leutnant Funke zusammentraf, versprach sie, auch vor Gericht bei der Wahrheit zu bleiben. Doch nun lag Konrad im Krankenhaus und hatte ihr durch eine Schwester ausrichten lassen, daß er nach ihr verlange und sie bitte, ihm alles zu verzeihen. Was soll ich ihm verzeihen, dachte sie. Daß er Dannhoff, meinen vermeintlichen Liebhaber, töten wollte? Er hätte es nie und nimmer fertiggebracht. Jetzt war ihr nichts wichtiger als ihr Mann, dessen verhaltene Zärtlichkeit sie in letzter Zeit so geringgeachtet hatte. Sie fürchtete sich vor der kommenden Verhandlung, weil sie nicht mehr abschätzen konnte, was für sie günstiger war: reinen Tisch zu machen und die Strafe auf sich zu nehmen oder nach Anton Zinns Art hartnäckig zu lügen und bereits Zugestandenes zu widerrufen. Zinn und Dannhoff, überlegte sie, sind gleichstarke Gegner, einer von ihnen wird in diesem Prozeß den kürzeren ziehen, aber ich möchte auf der Seite des Siegers stehen. Sie langte vor dem Verhandlungssaal an, bemerkte, daß er noch verschlossen war, und lief schnell zum nächsten Gang. Sie wollte vor Beginn des Prozesses we60
der mit Zinn noch mit Dannhoff noch mit irgend jemandem von der „Hochzeitskutsche“ sprechen. „Ist der Saal aufgeschlossen?“ fragte Richter Lohstett. „Ja“, antwortete die Frau. „Die Angeklagte sitzt auf ihrem Platz, die Zeugen Zinn und Funke stehen draußen, nur der Zeuge Dannhoff fehlt.“ Lohstett warf einen fragenden Blick auf den Staatsanwalt. „Das Beste kommt immer zuletzt“, sagte Kabelitz mit verkrampftem Lächeln. Der Ärger über Dannhoffs Unpünktlichkeit verursachte ihm Magendrücken. Es war zwei Minuten vor acht Uhr. Sie saßen im Nebenzimmer des Verhandlungssaales. Ein Schöffe fragte, ob man bei Dannhoff zu Hause anrufen könne, und Kabelitz schüttelte den Kopf. „Untermiete“, entgegnete er lakonisch. „Altbau ohne Telefon.“ Zwei Minuten nach acht trommelte Lohstett einen eintönigen Rhythmus auf die Schreibtischplatte, unterbrach ihn und wies die Sekretärin an, auf dem Flur Ausschau nach Dannhoff zu halten. Sie ging aus dem Zimmer und ließ die Tür offen. Kabelitz fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. „Er ist nicht zu sehen!“ Die Sekretärin kam zurück und schloß die Tür. „Eine verdammte Schweinerei, wie lange nicht gehabt“, schnaufte Lohstett voll unterdrückter Wut. Fünf Minuten nach acht wurde nach kurzem Klopfen die Tür aufgerissen. „Endlich“, rief Kabelitz aufspringend und ließ sich stöhnend auf den Stuhl zurückfallen. Rechtsanwalt Treike stürmte ins Zimmer. „Tschuldigung, Herr Vorsitzender, aber ich habe in zwei Stunden einen Scheidungstermin. Könnten wir nicht …“ „Nein“, unterbrach ihn Lohstett unwillig, „wir können nicht. Wir warten nämlich auf den Herrn Zeugen unserer Anklage.“ Er wandte sich an die Sekretärin. „Gehen 61
Sie in den Saal und verkünden Sie, daß die Verhandlung um eine Stunde verschoben wird. – Ihr Ehepaar, Herr Rechtsanwalt, wird sich damit abfinden müssen, eine Stunde länger verheiratet zu sein oder sich ohne Sie scheiden zu lassen. – Herr Staatsanwalt, Punkt neun Uhr setzen wir die Verhandlung fort mit dem Zeugen Dannhoff!“ Kabelitz rannte auf den Flur hinaus. Leutnant Funke trat auf ihn zu. „Was habt ihr denn? Ihr seid spät dran.“ „Dannhoff ist nicht gekommen. Weißt du, wo er stecken könnte?“ „Ach du liebe Zeit! Wo der sonst so korrekt ist. Vielleicht wirtschaftet er in der ‚Hochzeitskutsche‘ rum und hat den Termin verschwitzt.“ „Das halte ich für ausgeschlossen.“ „Dann weiß ich auch nicht, was mit ihm los sein könnte.“ „Mädchen, hilf mir“, bat Kabelitz, „Dannhoff muß Punkt neun vor dem Richter stehen, möglichst mit einer plausiblen Erklärung für die verlorene Stunde.“ „Soll ich zum Warenhaus?“ „Nein. Fahr zu ihm nach Hause. In der ‚Hochzeitskutsche‘ kann ich anrufen.“ Zehn Minuten später bremste ein Wagen der Staatsanwaltschaft vor einem Altbau in der Pappelallee, Leutnant Funke sprang heraus und rannte die Treppen hoch, bis sie vor der Tür mit Dannhoffs Namensschild stand. Es klebte unter goldenen Lettern, die zu dem Namen „Müller“ zusammengesetzt waren. Astrid klingelte. Eine Tür klappte. Jemand rief etwas, was sich wie ein Schimpfwort anhörte. Schritte schlurften, der Spion wurde geöffnet. Astrid trat zur Seite. „Wer ist denn da?“ fragte eine brüchige Frauenstimme. „Ich möchte zu Herrn Dannhoff.“ 62
„Der ist aber nicht zu Hause …“ „Da bin ich doch gespannt, wer hier zu Herrn Dannhoff will!“ rief die Stimme, die eben geschimpft hatte, und die Tür wurde aufgerissen. Eine Frau, kaum älter als zwanzig, stand vor Astrid. „Sie wollen zu Joachim?“ fragte sie skeptisch. „Ilona, bitte, nicht vor der Tür“, flehte Frau Müller. „Sie wissen, die Hausleute … Bitte, Fräulein, kommen Sie herein.“ Astrid ging an Fräulein Ilona vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Frau Müller öffnete die Tür zum Wohnzimmer und bot Astrid einen Plüschsessel an. „Danke“, sagte Astrid Funke, „ich bin in Eile. Bei Ihnen wohnt Herr Joachim Dannhoff, Frau Müller?“ „Natürlich.“ Die alte Dame setzte sich ächzend aufs Sofa. „Ein netter junger Mann. Und das hier …“, sie nickte zu dem Mädchen hin, „ist Fräulein Ilona, seine Freundin.“ „Wohl besser: eine seiner Freundinnen“, sagte das Mädchen wütend. „Frau Müller, ich muß schnellstens Herrn Dannhoff sprechen. Wissen Sie, wo er steckt?“ Bevor die alte Frau antworten konnte, erklärte das Mädchen giftig: „Ich sehe, wir haben die gleichen Interessen. Ich möchte ihn nämlich auch sprechen. Und wie ich ihn sprechen möchte!“ Astrid lächelte die alte Frau aufmunternd an. „Ich weiß nicht“, sagte Frau Müller, „er ist nämlich heute nacht gar nicht nach Hause gekommen.“ „Ist das schon öfter passiert?“ „Hin und wieder. Aber dann war er bei Fräulein Ilona.“ „Ach so“, sagte Astrid. „Ach so!“ äffte das Mädchen nach. „Was wollen Sie eigentlich von Joachim?“ „Ich suche ihn.“ 63
„Sie sollten endlich kapieren, daß er uns beide versetzt hat.“ „Sieht ganz danach aus“, bestätigte Astrid. Es klang ein wenig ratlos. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Noch vierzig Minuten … „Frau Müller, wann ist Herr Dannhoff gestern das letzte Mal aus dem Haus gegangen?“ „Nachmittags halb fünf. Weil er abends um elf nicht zurück war, dachte ich, daß er wohl bei Fräulein Ilona bleibt. Um elf gehe ich immer schlafen.“ „Was geht Sie das alles eigentlich an“, fuhr das Mädchen dazwischen. „Sie drängen sich hier herein und fragen wie die Polizei …“ „Ja, das tue ich“, entgegnete Astrid ruhig. „Ich bin Leutnant Funke.“ Sie zeigte ihren Ausweis. „Polizei?“ Frau Müller war fassungslos. „Entsetzlich!“ Sie schüttelte den Kopf, es sah aus, als könne er jeden Augenblick von dem dürren, faltigen Hals kippen. „Polizei in meinem Hause!“ „Das hätte ich uns gern erspart“, sagte Astrid leise zu dem Mädchen hin, das sie offenen Mundes anstaunte und plötzlich losheulte. „Du lieber Himmel“, rief sie schluchzend, „und ich habe gedacht …“ Sie sprach nicht aus, was sie gedacht hatte, doch Astrid wußte es auch so. „Frau Müller“, redete Astrid auf die alte Dame ein, „was ist denn so schrecklich daran, daß ich bei der Polizei arbeite? Wenn Sie einen Reisepaß brauchen oder etwas verloren haben, gehen Sie doch auch zur Polizei.“ Frau Müller versuchte, den Kopf still zu halten, er pendelte nur noch leicht. Sie fragte skeptisch, ob Herr Dannhoff denn etwas verloren habe. „Wir vermuten so etwas. Wir brauchen ihn dringend, damit er sich die Sache ansehen kann“, log Astrid freundlich und fragte das Mädchen, ob Dannhoff nach siebzehn Uhr noch bei ihr gewesen sei. 64
„Ich habe ihn gestern überhaupt nicht gesehen. Entschuldigen Sie mein Benehmen von vorhin, aber ich bin restlos erschöpft. Vorgestern nacht war er bei mir, wir haben Zukunftspläne geschmiedet – und plötzlich ist er fort. So schuftig kann er doch nicht sein.“ „Hat er Ihnen angedeutet, was er gestern abend vorhatte?“ „Nichts.“ „Haben Sie eine Ahnung, wo man ihn suchen könnte?“ „Dann hätte ich ihn dort gesucht.“ Sie zog Astrid aus der Hörweite der alten Frau und flüsterte: „Sie kommen doch nicht, weil er etwas verloren hat. Was ist denn passiert? Hat er was verbrochen?“ „Nein. Wir brauchen ihn als Zeugen. Wir brauchen ihn dringend. Falls er hier auftaucht, richten Sie ihm bitte aus, er möchte sofort zu Staatsanwalt Kabelitz kommen oder ihn anrufen. Hat er Ihnen manchmal von seiner Arbeit erzählt?“ „Nur, daß er in irgendeinem Warenhaus irgend etwas nachzuprüfen hat. In bezug auf seine Arbeit war er noch nie gesprächig.“ Astrid Funke bedankte sich und verließ die Wohnung. Von der nächsten Telefonzelle aus rief sie den Staatsanwalt an und fragte, ob Dannhoff in der „Hochzeitskutsche“ gewesen sei. Er war nicht dort gewesen. Astrid Funke versprach, in fünf Minuten wieder im Gericht zu sein. Sie brauchte sechs Minuten, und Kabelitz empfing sie voller Ungeduld auf dem Gang. In Lohstetts Zimmer erzählte sie, was sie von Frau Müller und Fräulein Ilona erfahren hatte. Kabelitz bat daraufhin Richter Lohstett in aller Form, die Verhandlung auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Er selbst werde sofort die Fahndung nach Joachim Dannhoff einleiten. 65
3. Der LKW stand im Hof des Kaufhauses vor dem Lagerschuppen. Dieter Trebbin, der Kraftfahrer, kam, den Lieferschein schwenkend, auf die Lagerarbeiter zu und sagte: „Vier Kisten. Klotzt ’ran, Jungs, ich will um zwölf Uhr im ‚Alten Fuhrwerk‘ Mittag essen, da gibt’s heute Pferdebuletten.“ „Vier Kisten is gut“, maulte Renner, einer der Lagerarbeiter. „Dürfen’s irgendwelche sein, oder hättste gerne was Bestimmtes?“ „Papi“, rief da eine Kinderstimme vom Eingang her, „darf ich mal schnell?“ Trebbin drückte dem Lagerarbeiter den Schein in die Hand. „Steht alles drauf.“ Er ging zum Tor. „Uwe, warum bist du nicht in der Schule?“ Der Dackel, den der Junge an der Leine führte, bellte freudig, Uwe schimpfte: „Sei still, Hexer, das erzähle ich selbst. Wir haben zwei Freistunden, und am Nachmittag ist Schwimmen, da wollte ich den Schlüssel lieber bei dir abliefern, weil ich doch schon mal einen hab’ liegenlassen.“ „Komm ’rein“, sagte Trebbin. „Kannst du denn keinen Schritt ohne das Hundevieh gehen?“ „Du kannst doch auch nicht ohne deinen Wagen sein.“ Trebbin starrte verblüfft auf seinen Jungen. „Das stimmt zwar, aber solche Antwort hört sich irgendwie frech an, und das gefällt mir nicht.“ Der Dackel hatte sich losgerissen und rannte, die Leine hinter sich herschleifend, auf den Lagerschuppen zu. „Hexer! Hexer, hierher!“ brüllte Uwe. „Zumindest habe ich meinen Wagen immer unter Kontrolle“, bemerkte Trebbin vorwurfsvoll. „Verdammter Köter!“ wetterte Renner, dann polterte eine Kiste zu Boden. „Mensch, sind Sie lebensmüde? Zwanzig Zentimeter haben gefehlt, und Ihr Fuß war 66
Brei. So ein Irrsinn, ’n wild gewordenen Köter in’n Lagerschuppen zu hetzen!“ „Entschuldigen Sie“, sagte Trebbin kleinlaut, „ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte.“ Der Dackel war verschwunden. Sein heiseres Gekläff drang aus einer Ecke des Schuppens. Plötzlich lugte er zwischen zwei Kisten hervor, noch immer bellend, verschwand aber blitzschnell wieder, als Trebbin nach ihm faßte. „Der hat was“, meinte Uwe. „Was soll der’n ham?“ fragte Renner, breitbeinig unter der Tür stehend. „’n Affenbiß hat der! Und ich lad’ hier nicht eher weiter, als bis der Dackel ’raus is!“ „Hexer!“ rief der Junge verzweifelt. „Hexer, komm doch!“ Hexer äugte wieder zwischen den Kisten hervor, und Renner sagte erschrocken: „Der hat ja wirklich was!“ Er kniete vor den Kisten und lockte: „Braves Hundchen. Komm, zeig dem Onkel, was du da bringst.“ Der Dackel kam knurrend näher und legte einen Schuh vor Renner. Trebbin packte den Hund, ehe der sich wieder hinter die Kisten flüchten konnte, und zerrte ihn aus dem Schuppen. „Geh nach Hause“, sagte er zu seinem Jungen, „den Schlüssel gib bei der Nachbarin ab. Bei mir kann’s spät werden.“ Er lehnte sich gegen den Türpfosten und sah dem Jungen nach. „Otto!“ brüllte Renner, der aufgestanden war, aber noch immer den Schuh in Händen hielt. Der zweite Lagerarbeiter, ein älterer Mann mit stumpfsinnigem Blick kam näher. „Otto, was is das?“ „’n Schuh.“ „Richtig, Otto. Und das hier?“ Er zeigte mit dem Finger auf einen rötlichbraunen Fleck. Otto grinste freundlich. Renner tippte Trebbin auf die Schulter und hielt ihm den Schuh unter die Augen. „Was ist das?“ 67
Trebbin starrte auf den Schuh, sagte stockend: „Sieht aus wie … Ich weiß auch nicht.“ „Kumpel, du bist nicht so blöd wie Otto. Du weißt genau – das ist Blut.“ „Wird weitergemacht?“ fragte Otto. „Ja“, sagte Renner, „aber mit der Polizei.“ Trebbin fuhr herum. „Was sagen Sie da?“ „Polizei, sag’ ich. Vorgestern war der Lagerraum leer, ich hab’ ihn ausgefegt, da lag kein Schuh ’rum. Dann kam die große Ladung. Voll der Schuppen von unten bis oben, und heute zieht der Hund ’n Schuh unter den Kisten vor.“ „Vielleicht war eine Kiste beschädigt, und es sind Schuhe herausgefallen?“ „Getragene Schuhe“, fragte Renner, „an denen Blut klebt? Sind wir ’n Altwarenhandel oder ’n Krematorium? – Otto, du gehst jetzt frühstücken. Das hier is nischt für dich.“ „Ja, ja, wird gemacht.“ Der Alte entfernte sich. „Ja, aber trotzdem“, sagte Trebbin verstört, „ich meine, wir müssen nicht gleich die Polizei holen, wegen einem Schuh. Wer weiß, ob da wirklich Blut dran is und wo der herkommt …“ „Nich wegen dem Schuh, wegen dem, der ihn anhatte.“ „Wissen Sie denn, wem der Schuh gehört?“ „Nee, das nich. Aber ich denke mir, der liegt noch hier.“ Trebbin atmete schwer und schwieg. Renner schlug vor: „Geh du mal zum Chef ’rauf und klingel nach der Polizei. Ich bleib’ solange hier.“ Trebbin ging zum Fahrstuhl, fuhr zu den Geschäftsräumen hoch und betrat, ohne anzuklopfen, Direktor Hagedorns Vorzimmer. Fräulein Schmittchen hämmerte mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte und sagte tadelnd: „Herr Trebbin, ich muß doch sehr bitten!“ „Danke“, entgegnete Trebbin geistesabwesend, stiefelte auf die Tür des Direktorenzimmers zu und riß sie auf. Michael Hagedorn schreckte hoch, versuchte, eine 68
Flasche „Helferich“ im Schreibtischfach verschwinden zu lassen, merkte aber, daß es dazu zu spät war, und hielt sie unentschlossen in der Hand. Es sah aus, als winke er Trebbin damit zu. „Was sind denn das für Manieren?“ fragte er pikiert. „Es ist etwas passiert.“ „So.“ Hagedorn stellte die Flasche auf den Schreibtisch. „Und warum wenden Sie sich damit nicht an Herrn Zinn?“ „Der ist noch auf dem Gericht wegen Frau Wehler.“ „Ah so. Was ist denn passiert?“ Trebbin erzählte es ihm. Michael Hagedorn, ein hochgewachsener, schlanker Mann Ende Vierzig, höhensonnengebräunt, die Gesichtszüge etwas schlaff, hörte mit zusammengepreßten Lippen zu. „Der Renner“, sagte Trebbin, „läßt nicht locker. Der besteht drauf, daß die Polizei geholt wird.“ „Das ist unmöglich. In dieser Situation …“ Hagedorns schmale, nervöse Hand kroch auf die Schnapsflasche zu. „Setzen Sie sich doch. Ich denke, auf den Schreck hin nehmen wir erst mal einen zur Beruhigung.“ „Ich nicht“, wehrte Trebbin ab und rührte sich nicht von der Stelle. „Womöglich muß ich noch fahren. Sie sollten endlich die Polizei anrufen, Herr Direktor.“ „Aber wenn das verkehrt ist? Gerade jetzt, wo man ein Auge auf uns hat?“ Hagedorn sprach gehetzt und voller Angst. „Wir müssen auf Zinn warten, dem wird schon was einfallen. Nur nichts überstürzen, Trebbin. Ruhe bewahren, abwarten …“ „Und was soll ich dem Lagerarbeiter erzählen“, fragte Trebbin mit verhaltener Wut, „der mit dem blutigen Schuh in der Hand da unten sitzt und auf die Polizei wartet?“ „Aber lieber Trebbin, das ist doch nicht meine Sache. Erzählen Sie dem irgend etwas, halten Sie ihn hin, bis Zinn kommt.“ 69
Seine Hand hatte die Flasche erreicht und zog sie langsam heran. „Mann, das kann noch Stunden dauern!“ rief Trebbin unbeherrscht. „Wenn ich nicht bald wieder da unten erscheine, kriegt es der Renner fertig, mit dem Schuh zur Polizei zu laufen. Unternehmen Sie etwas!. Der Direktor sind Sie !“ Hagedorn hatte die Flasche jetzt vor sich stehen und hielt sie krampfhaft umklammert. „Ich wäre ein schlechter Direktor, wenn ich alles selber machen wollte. Ich lasse jedem seinen Verantwortungsbereich. Der Lagerraum – das ist Zinns Angelegenheit …“ Seine Worte klangen einstudiert und hilflos. „Sie sind ein Hampelmann“, fauchte Trebbin haßerfüllt. „Aber trotzdem wird man Sie für alles verantwortlich machen.“ „Das ist – ungeheuerlich! In einer anderen Situation würde ich Sie entlassen …“ „Prima“, sagte Trebbin, „da wär’ ich wenigstens aus der ganzen Scheiße ’raus.“ Hagedorn entkorkte die Flasche, hob sie an, stellte sie zurück und sah sich nach einem Glas um. „Nippeln Sie ruhig aus der Flasche, wie Sie es gewohnt sind!“ ermunterte Trebbin ihn und stürmte aus dem Zimmer. Beinahe wäre er mit Anton Zinn zusammengestoßen, einem lächelnden, selbstbewußten Anton Zinn. „Hallo, Trebbin!“ rief der aufgeräumt. „Da staunen Sie, was? Tja – der Dannhoff ist nicht erschienen, das Gericht hat die Verhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt. Jetzt geht’s aber ’ran hier, jetzt haben wir ein paar Tage Luft … Was ist denn mit Ihnen, Trebbin?“
70
4. Oberleutnant Simosch hatte Zinns Anruf entgegengenommen, einen wortreichen Anruf, in dem wenig mitgeteilt, aber immer wieder beteuert wurde, man wolle zwar seiner Bürgerpflicht nachkommen, aber die Polizei auch nicht mit Belanglosigkeiten behelligen. „Wir kommen hin“, sagte Simosch. „Achten Sie darauf, daß alles unverändert bleibt.“ Er legte auf und sah nachdenklich zu Unterleutnant Meixner hin, der mit gezücktem Notizbuch vor dem Schreibtisch stand. „Wenn ein Hund einen getragenen, blutbefleckten Schuh unter einem Stapel Kisten hervorzieht, wo tags zuvor kein Schuh gelegen hat, steckt erfahrungsgemäß keine Belanglosigkeit, sondern ein Mensch dahinter. Einer, dem es nicht gut geht. – Stecken Sie Ihr Notizbuch weg. Organisieren Sie einen Fotografen, zwei Techniker und den Arzt.“ Der Unterleutnant verließ das Zimmer, als wäre dort Feuer ausgebrochen. Simosch forderte drei Schutzpolizisten an, die sofort und während der Zeit seiner Untersuchungen Neugierige vom Lagerraum der „Hochzeitskutsche“ fernhalten sollten. Unterleutnant Meixner und Normann, den Fotografen, nahm er in dem Skoda mit, den er selbst steuerte, Arzt und Techniker folgten mit ihren Utensilien in einem Wartburg. Sie fuhren ohne Blaulicht und in gerade noch erlaubtem Tempo. An der Einfahrt zum Wirtschaftshof öffnete ihnen ein Schutzpolizist das Tor. Der Hof war belebt wie ein Theaterfoyer vor dem Klingelzeichen. Die Kunde von dem blutigen Schuh mußte nicht nur bei den Verkäuferinnen reihum gegangen, sondern auch bei der Kundschaft ruchbar geworden sein. Männer und Frauen, vor allem junge Frauen, gut zurechtgemacht, etliche mit einem blaßgelben Kittel bekleidet, standen in Grüppchen, je nach Temperament miteinander flüsternd, gestikulierend oder einfach die Polizisten beobachtend. Hin und wieder rannte jemand 71
über den Hof, rief einen Namen, schimpfte, der Chef werde „Maßnahmen ergreifen“, wenn nicht sofort jeder an seinem Arbeitsplatz stünde. Oberleutnant Simosch sprang aus dem Wagen, fragte, das Murmeln und Schimpfen überdröhnend: „Wer ist Herr Zinn?“ Augenblicklich wurde es still, und in dieser Stille gab Fräulein Schmittchen respektvoll Bescheid: „Herr Zinn sitzt in seinem Büro.“ „Er ist der einzige, der hier sein sollte. Alle anderen verlassen den Hof. Das heißt: Wer hat den Schuh gefunden?“ „Na, der Hund.“ Renner stand dicht neben Simosch und hielt ihm den Schuh unter die Nase. „Bitte, verlassen Sie den Hof!“ rief Simosch noch einmal mit Donnerstimme. Die Leute zogen sich zurück. „Wer sind Sie?“ fragte Simosch den Mann und nahm ihm den Schuh aus der Hand. „Hans Renner. Mädchen für alles. So was braucht jeder Betrieb.“ „War es Ihr Hund?“ Renner schüttelte den Kopf, erzählte wohltuend kurz und bündig, was geschehen war. „Dieser Trebbin hätte auch hierbleiben sollen“, bemerkte Simosch. „Is mit seiner Ladung abgedampft. Kommt erst nachmittags zurück.“ „Aha.“ Simosch sah Renner einen Augenblick lang an, als habe der ihm eben nichts Gutes mitgeteilt, dann winkte er dem Fotografen und den Kriminaltechnikern. „Los geht’s. Zuerst ein Bild vom Lagerraum.“ Blitzlicht flammte auf. „Wo ist der Hund durchgekrochen?“ Renner zeigte es. „Fotografieren.“ „Was ist denn in den Kisten?“ wollte der Oberleutnant wissen. 72
„Keine Ahnung“, sagte Renner, „hat mich nischt anzugehen. Zinn weiß das.“ Simosch winkte die Schutzpolizisten heran. „Die Kisten müssen weg. Schön vorsichtig bitte, und nach jeder abgetragenen Reihe ein Bild.“ Normann nickte. Am Eingang des Lagerraumes sagte da jemand: „Sie möchten mich sprechen. Mein Name ist Anton Zinn.“ Simosch wandte sich um, sah in ein intelligentes und, wie ihm schien, etwas verschlagenes Gesicht. Er stellte sich vor und fragte, was in den Kisten sei. „Wirtschaftsartikel, Töpfe, Pfannen. Drei enthalten Bücher. Wir haben für jugendliche Käufer eine Boutique mit Schallplatten und Büchern eingerichtet.“ „Wann ist diese Ware geliefert worden?“ „Gestern.“ „Genauer, bitte.“ „Gegen siebzehn Uhr.“ „Sehen Sie sich das an!“ rief in diesem Augenblick der Fotograf, und wieder flammte Blitzlicht auf. Die Polizisten hatten den ersten Stapel Kisten, immer drei Stück übereinander, abgetragen. Was dahinter zum Vorschein kam, sah aus wie eine Landschaft nach einem Erdbeben. Die Kisten warenverrutscht, verschoben, verkantet. „Räumen Sie weiter weg“, sagte Simosch zu den Polizisten, und zu Zinn gewandt: „Waren Sie gestern dabei, als abgeladen wurde?“ „Nein. Ich pflege mich auf meine Leute zu verlassen.“ „Und Sie?“ Simosch blickte Renner an. „Sie Mädchen für alles?“ „Natürlich war ich dabei. Aber so hat keiner die Kisten hingerunkst. Das muß später passiert sein.“ „Ich bitte Sie“, sagte Anton Zinn zurechtweisend. Der Oberleutnant winkte ab. „Lassen wir das – vorläufig.“ 73
Mit einem mißbilligenden Blick auf den Kistenberg bemerkte Zinn: „Dann war es wohl doch richtig, die Polizei herzubemühen.“ „Leider“, entgegnete Oberleutnant Simosch und sah gebannt auf den Fuß, der unter einer verkanteten Kiste steckte. Unterleutnant Meixner seufzte leise. Die Polizisten hielten einen Augenblick lang in ihrer Arbeit inne. Normann fotografierte, auf dem Bauch liegend. „Nein“, rief Zinn, „das ist doch nicht möglich!“ Es klang verzweifelt. „Gehen Sie in Ihr Büro zurück“, sagte Simosch. „Aber wer … wer …?“ „Gehen Sie, und sorgen Sie dafür, daß keiner der Angestellten das Haus verläßt, bevor wir es erlauben. – Sie, Herr Renner, warten draußen auf dem Hof oder genehmigen sich einen Kaffee. Den Arzt bitte hierher.“ Unterleutnant Meixner verließ mit den beiden den Raum und kam mit dem Arzt zurück. „So“, sagte Simosch, „jetzt machen wir weiter.“ Meixner wandte sich ab, als sie die Kisten hochhoben, unter denen der Mann begraben war. Eine davon, es mußte der Last nach eine Bücherkiste sein, lag mit der Kante quer über seinem Gesicht. Normann fotografierte. Meixner wollte nach draußen, doch der Oberleutnant rief ihn zurück. „Wenn Sie bei der MUK arbeiten wollen, dürfen Sie sich vor so etwas nicht drücken. Sehen Sie ihn genau an. Lassen Sie dabei Ihre Phantasie aus dem Spiel, und achten Sie auf Details. Deutet seine Haltung auf Abwehr? Meinen Sie, daß er noch schreien konnte, ehe er das Bewußtsein verlor? So etwas ist wichtig für die Ermittlung. Einen Schrei könnte jemand gehört haben.“ Der Unterleutnant fühlte Blutleere im Kopf, ihn schwindelte. Er starrte auf den Toten, bemüht, die Dinge so sachlich zu sehen, wie das seine Pflicht war. „Ich halte es für ausgeschlossen, daß er noch schreien konnte“, 74
sagte er gepreßt. „Aus diesem zerquetschten Mund und Kiefer kann höchstens ein Stöhnen gedrungen sein, und das wird man bei dem Lärm der stürzenden Kisten nicht gehört haben.“ „Zumindest nicht außerhalb dieses Raumes“, ergänzte Simosch. „Nehmen Sie seine Papiere.“ Kalkweiß im Gesicht, durchsuchte Meixner die Taschen des Mannes, förderte eine Geldbörse, einen Personalausweis, sechs gültige und zwei ungültige Fahrscheine für die Straßenbahn zutage und wollte alles seinem Vorgesetzten überreichen. Simosch nahm nur den Personalausweis und forderte: „Sehen Sie nach, was er im Portemonnaie hat.“ Er schlug den Ausweis auf. „Der Mann heißt Joachim Dannhoff, ist einunddreißig Jahre alt und von Beruf Wirtschaftsprüfer.“ Er steckte den Ausweis ein und wiederholte sinnend: „Wirtschaftsprüfer …“ Er führte den aufkommenden Gedanken nicht weiter und sagte im Hinausgehen: „Doktor, Sie sind an der Reihe. Ich verständige den Staatsanwalt.“ Er lief über den Hof und fuhr in die fünfte Etage zur Direktion. Fräulein Schmittchen begrüßte ihn: „Ah, Sie sind’s, was kann ich für Sie tun?“ „Als erstes, mir Ihr Telefon überlassen“, bat Simosch freundlich. „Und in einer knappen Stunde brauche ich ein Zimmer, in dem ich mich ungestört mit diesem und jenem unterhalten kann.“ „Das wird erledigt.“ Fräulein Schmittchen ging ohne weitere Frage aus dem Raum. Simosch ließ sich mit der Staatsanwaltschaft verbinden. Kabelitz war am Apparat. Als der hörte, was in der „Hochzeitskutsche“ geschehen war, rief er außer sich: „Wer, sagen Sie, ist der Tote?“ „Ich buchstabiere mal“, bot Simosch an, „ich möchte nicht so laut sprechen, daß man es im Nebenzimmer hört …“ 75
„Ich habe den Namen schon verstanden“, unterbrach Kabelitz, „ich kann es nur nicht recht begreifen. Dannhoff sagten Sie … Hören Sie, ich möchte mir den Fundort ansehen und mit Ihnen sprechen, bevor Sie die Direktion des Hauses befragen. Dannhoff hat dort eine Kontrollinventur geleitet und einiges aufgedeckt. Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen.“ Simosch kehrte zurück zum Lagerraum. Der Fotograf und die Polizisten saßen vor dem Eingang auf dem abgestellten Lagergut, die Techniker hantierten an den Kisten und in der Ecke, in der Dannhoff lag. Unterleutnant Meixner stand mit einer Decke über dem Arm und dem Notizbuch in der Hand neben dem Arzt, jedoch so, daß er den Toten nicht im Blickfeld hatte. Als Simosch eintrat, sagte der Doktor: „Der Tod ist durch Einwirkung sowohl stumpfer als auch spitzer Gewalt im Schädelbereich eingetreten.“ Meixner schrieb emsig mit. „Das ist ja wohl nicht zu übersehen“, knurrte Simosch. „Dazu Quetschungen der Rippen, Oberarmbruch, Prellungen, der linke Fuß…“ „Wann ist er gestorben, Doktor?“ „Gestern abend. Spätestens gegen Mitternacht.“ „Das muß ich genau wissen.“ „Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen.“ „Bei der Kopfwunde?“ fragte Simosch. „Er muß doch auf der Stelle tot gewesen sein.“ „Keineswegs“, entgegnete der Arzt. „Bewußtlos war er wohl infolge einer Hirnblutung sofort, aber tot?“ Er zuckte die Schultern. „Das Herz kann noch eine ziemlich lange Zeit gearbeitet haben.“ „Decken Sie ihn zu“, forderte Oberleutnant Simosch und beauftragte Meixner: „Sorgen Sie dafür, daß er bald abgeholt wird.“ „Tja, das ist alles, was ich im Augenblick für Sie tun 76
kann.“ Der Arzt verabschiedete sich und verließ den Lagerraum. Meixner warf die Decke über den Leichnam und ging ebenfalls hinaus. Auch die Kriminaltechniker waren gegangen und ebenfalls die Schutzpolizisten. Simosch rieb sich gedankenlos die Handgelenke und lief unruhevoll von der Tür bis zur Ecke des Raumes, in der Dannhoff lag, immer hin und zurück. „Was hast du nur hier gewollt?“ fragte er leise mit einem vorwurfsvollen Blick auf das leblose Bündel. Er grübelte. Als Wirtschaftsprüfer inspiziert man wohl einen Lagerraum, aber man verkriecht sich nicht in die Ecke, wenn Kisten abgeladen werden. Warum hast du das getan? Oder bist du gewaltsam dorthin getrieben worden? Ohne dich zu wehren, jung und kräftig, wie du gewesen bist? Simosch hielt inne in seinem Gang und in seinem stummen Selbstgespräch, dachte: Wenn nun die Kisten bei einem Kampf, bei Dannhoffs Notwehr ins Rutschen gekommen sind? Oder ist er der Fahrlässigkeit jener Leute zum Opfer gefallen, die gestern nachmittag die Kisten abgeladen haben? Bleibt immer noch die Frage, warum er sich hier eingeschlichen hat. Wollte er jemanden beobachten? Hatte derjenige ihn entdeckt und die Kisten auf ihn gestürzt? Ein Wagen fuhr vor. Staatsanwalt Kabelitz und Leutnant Funke kamen in den Lagerraum und machten sich mit Simosch bekannt. Auch Unterleutnant Meixner tauchte wieder auf und zückte sein Notizbuch. „Ist es wirklich Dannhoff?“ fragte Kabelitz ungläubig. „Identifizieren Sie ihn“, sagte Simosch, „Er hatte einen Ausweis auf den Namen Joachim Dannhoff in der Tasche.“ Der Staatsanwalt ging auf den Leichnam zu und schlug die Decke hoch. „Das ist gräßlich. Es ist Dannhoff. Er war einem Wirtschaftsverbrechen auf der Spur.“ Er setzte sich auf eine der umherstehenden Kisten, 77
und mit einer Geste forderte er die anderen auf, es ihm gleichzutun. Dann informierte er Simosch und Meixner über die Vorgänge in der „Hochzeitskutsche“, von Heitmanns Tod über Dannhoffs Entdeckung, daß die Hauptkassiererin Gelder unterschlug, bis zu der nun unterbrochenen Verhandlung, in der Dannhoff als Zeuge der Anklage aussagen sollte. „Sie vermuten, die Hauptkassiererin deckt Hintermänner?“ fragte Oberleutnant Simosch. „Wir vermuten“, antwortete Astrid Funke, „daß in diesem Haus mehrere Personen in ein Wirtschaftsverbrechen verstrickt sind und daß die sich gegenseitig absichern und füreinander gutsagen.“ „Aber es muß einen Initiator geben.“ „Sicher, doch da haben wir zur Zeit nicht mehr als eine Vermutung.“ „Frühere Kontrollen, sagten Sie, haben keine großen Fehlbeträge ausgewiesen?“ „Weil sie geschoben waren, wie wir von Heitmann wissen“, entgegnete Kabelitz düster. „Und weil noch irgend etwas dahintersteckt, was Dannhoff herausfinden wollte“, ergänzte Astrid Funke. „Kürzlich sagte er mir, er ahne, weshalb man in diesem Kaufhaus bei jeder Kontrolle so gut abgeschnitten hätte, aber eine Ahnung nütze weder der Polizei noch der Staatsanwaltschaft. Er werde bei der nächsten Tiefenprüfung die Beweise ausgraben und das wahre Manko aufdecken.“ „Seine Gegenspieler“, vermutete der Staatsanwalt, „wußten wohl, wie gefährlich er ihnen werden konnte. Sie müssen zwei Dinge gefürchtet haben: sein Erscheinen vor Gericht und die Tiefenprüfung, die er leiten sollte.“ „Weiß denn die Kaufhausleitung, für wann eine Tiefenprüfung angesetzt wird?“ fragte Simosch. „Normalerweise nicht. Nur, in diesem Falle hier bin ich da auch nicht sicher.“ 78
„Wann sollte diese Tiefenprüfung beginnen?“ „Morgen.“ „Bleibt es dabei?“ „Natürlich. Nun erst recht“, entgegnete Kabelitz grimmig. „Wir werden diese ‚Hochzeitskutsche‘ von Experten so lange auseinandernehmen lassen, bis wir wissen, wo der letzte Groschen geblieben ist und was Dannhoff herausfinden wollte. Vielleicht wissen wir dann auch, weshalb er in der Ecke dieses Schuppens so elend sterben mußte. Das bedeutet, dieser Fall wird gemeinsam von MUK und Wirtschaftsdezernat bearbeitet, und dabei werden Sie …“, er schaute Leutnant Funke und Oberleutnant Simosch an, „ab heute zusammenarbeiten.“ Kabelitz erhob sich. „Ich wünsche Ihnen Erfolg. Halten Sie mich auf dem laufenden. Ich fahre jetzt ins Präsidium und kläre die Sache mit Ihren Vorgesetzten.“
5. „Wie sieht es denn oben aus?“ fragte Simosch, als Leutnant Funke von der Geschäftsleitung zurückkam. Er hatte gewartet, bis Dannhoffs Leichnam abtransportiert worden war, und dann auch Unterleutnant Meixner weggeschickt. „Sie stellen uns Direktor Hagedorns Zimmer zur Verfügung, haben Kaffee gekocht, treten von einem Bein aufs andere und können es kaum erwarten, daß wir kommen.“ „Wer alles?“ „Anton Zinn, die Sekretärin Schmittchen, die Sachbearbeiterin der Abteilung Warenabrechnung, Frau Geßmann, und eben ist der Kraftfahrer Trebbin dazugekommen.“ „Sie kennen diese Leute?“ „Ich mußte sie befragen, als wir gegen Frau Wehler ermittelten.“ 79
„Wo steckt denn der Direktor?“ fragte Simosch. „Der liegt im Frauenruheraum. Herr Hagedorn ist solchen Strapazen nicht gewachsen – meint Anton Zinn.“ „Wen möchten Sie zuerst vernehmen?“ „Auf keinen Fall jemanden von der Leitung. Ich frage mich lieber von unten nach oben durch und will zuerst mit Rita Geßmann sprechen. Als ich ihr das erste Mal gegenübersaß, hat sie hartnäckig geleugnet, etwas über Veruntreuungen oder auch nur Schlampereien im Warenhaus zu wissen, aber sie hat dabei vor Angst geschwitzt. Jetzt, nachdem ein Toter in diesem Haus gefunden wurde, erzählt sie vielleicht, was sie weiß.“ „Gut“, sagte Simosch, „ich werde bei diesem Renner beginnen, der war gestern abend dabei, als die Kisten abgeladen wurden. Bevor wir gemeinsam die Leitung des Hauses vernehmen, machen wir aber einen kleinen Erfahrungsaustausch.“ Astrid Funke überlegte einen Augenblick. „In einer Viertelstunde etwa werde ich mit Frau Geßmann herunterkommen. Wenn Dannhoff etwas beobachten wollte, wie Sie vermuten, könnte es doch mit diesem Wareneingang zusammenhängen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie darüber etwas weiß.“ Der Oberleutnant trat hinaus in den Hof, sah Renner um den LKW herumschleichen, mit dem vor wenigen Minuten Dieter Trebbin zurückgekommen war, und rief: „Na, irgend etwas nicht in Ordnung?“ Renner kam näher. „Ich weiß nich“, sagte er, „ich frag’ mich dauernd, wie gestern nachmittag hier ’n Fremder ’reingekommen is.“ „Sie waren die ganze Zeit über im Lagerraum?“ „Das nich, aber im Hof, und da merk’ ich, wenn sich einer ’rumdrückt, der hier nischt zu suchen hat.“ „Kennen Sie Herrn Dannhoff?“ fragte der Oberleutnant. 80
„Dannhoff? Hab’ ich schon mal gehört, aber ich weiß nich …“ „Er war Wirtschaftsprüfer.“ „Ach der? So’n Jungscher? Netter Bengel, den konnt’ sogar der Otto leiden.“ „Wer ist denn Otto?“ „Auch ’n Hilfsarbeiter. Hat gestern mit abgeladen.“ „Da hätte ich auch an diesen Otto paar Fragen …“ „Kommt nischt bei ’raus“, meinte Renner, „der hat ’n klein’ Webfehler. Sagt immer bloß: ‚Jo, jo, wird gemacht.‘ Allerdings macht er auch, was man ihm sagt.“ „War der Wirtschaftsprüfer Dannhoff gestern im Haus?“ Renner nickte. „Wollte wissen, was für Ware kommt und wieviel, aber so was hab’ ich noch nie gewußt. Ich wuchte bloß Kisten ’rauf aufs Auto und ’runter vom Auto, feg’ den Hof, den Lagerraum und mach’ mal Botengänge.“ „Herr Dannhoff hätte also unbemerkt in den Lagerraum gehen können?“ „Na klar, wenn er durch den Keller kommt. Allerdings ist die Verbindungstür meist abgeschlossen.“ „Dannhoff war’s“, sagte Simosch, „der unter den Kisten lag.“ „Der?“ Renner sah Simosch ungläubig an. „Jetzt versteh’ ich gar nischt mehr.“ Der Oberleutnant zog sein Zigarettenetui und bot Renner daraus an. Der griff zu und paffte nachdenklich Rauchringe in die Luft. „Und ich versteh’s noch nicht“, sagte Simosch, „aber das wird sich ändern. Erzählen Sie mir mal genau, wie sich die Warenlieferung gestern nachmittag abgespielt hat.“ Renner berichtete, es sei eine Ladung vom Großhandel gewesen, er kenne die Fahrer. Er, Otto und der Beifahrer hätten die Kisten abgeladen, sorgfältig, wie er betonte. 81
„In den leeren Raum?“ hakte Simosch ein. Nein, die Bücherkisten und einige mit Kosmetik hätten schon dagestanden, erläuterte Renner, die seien mittags gekommen. Es wolle ihm aber nicht in den Kopf, daß sich dahinter dieser Wirtschaftsprüfer versteckt haben könne. Jedenfalls sei der Wagen gegen achtzehn Uhr abgefahren, er habe den Lagerraum und das Hoftor verschlossen und sei nach Hause gegangen. Alles war in bester Ordnung gewesen. Der Oberleutnant fragte, ob Herr Zinn während der Warenannahme in den Hof gekommen sei, doch Renner hatte den stellvertretenden Direktor an jenem Nachmittag nicht gesehen. „Was hat Sie denn vorhin an Trebbins LKW so interessiert?“ fragte Simosch. Renner zuckte die Schultern. „Eigentlich nischt. Mir kam nur die Idee, da müßt’ ’n Laster gegengerammt sein, so wie die Kisten durcheinandergetrudelt sind.“ „Sie sagten, die Ware sei mit einem Wagen der GHG gekommen.“ „Freilich. Gestern nachmittag ist da keiner gegengefahren. Das hätt’ ich gesehen. Bloß – was heute morgen passiert ist, weiß ich nich. Trebbin war mit seinem Brummer früher hier als ich.“ Oberleutnant Simosch bedankte sich bei Renner. Die Kriminaltechniker würden sicherlich bald Bescheid geben, ob möglicherweise ein Lastwagen gegen den Kistenberg gefahren war. Nur, falls es Trebbins Wagen gewesen sein sollte, ergab das keinen Sinn, denn Dannhoff war nicht am Morgen, sondern noch vor Mitternacht gestorben. Renner schlurfte mit schweren Schritten über den Hof und murmelte: „Der Otto hat’s irgendwie gut, weil der das alles überhaupt nich kapiert.“
82
6. In das Zimmer des Direktors kam eine Frau Mitte Zwanzig, unauffällig gekleidet, etwas rundlich, das Haar straff nach hinten gekämmt und hochgesteckt. Sie nickte heftig, als Leutnant Funke ihr riet, auf alle Fragen wahrheitsgemäß zu antworten. „Wir haben uns schon einmal gegenübergesessen“, begann Leutnant Funke, „was Sie mir damals erzählten, waren zwar keine Lügen, aber es war auch nicht die ganze Wahrheit.“ „Doch“, behauptete Rita Geßmann, „mehr weiß ich wirklich nicht.“ „Aber wir wissen inzwischen mehr, und zwar durch die Kontrollinventur, die Herr Dannhoff leitete: Sie kennen ihn doch?“ „Ja“, sagte sie betreten. „Hat er Ihnen nie vorgehalten, daß Sie als Sachbearbeiterin um bestimmte Vorgänge in diesem Hause wissen müßten?“ „Natürlich hat er das getan“, sagte sie weinerlich. „Aber ich kann mein Arbeitsgebiet nicht richtig überblicken. Herr Dannhoff weiß, wie ich das meine.“ Sie schneuzte sich und versuchte, mit fester Stimme weiterzusprechen. „Von Anfang an habe ich mich hier nicht wohl gefühlt.“ Astrid Funke fragte nach ihrer früheren Tätigkeit. „Sekretärin war ich, und keine schlechte. Eines Tages ist unser Betrieb kritisiert worden, weil er nicht genug für die Förderung der Frauen getan hat. Daraufhin beschloß die Leitung, mich zu qualifizieren.“ „Die Leitung“, wiederholte Astrid, „na schön, aber was haben Sie dazu gesagt?“ „Nichts“, gestand sie kleinlaut. „Sie meinten, daß es eine Ehre wäre, und …“, sie warf Astrid Funke einen scheuen Blick zu, „haben Sie sich schon mal getraut, eine Ehre abzulehnen?“ „Hatten Sie Schwierigkeiten während des Lehrganges?“ 83
„Im Gegenteil. Das Lernen hat mir Spaß gemacht, und ich habe alle Prüfungen mit ausgezeichnet bestanden. Aber dann …“ Da sie nicht weitersprach, fuhr Astrid fort: „Dann sind Sie Sachbearbeiterin in einem der repräsentativsten Warenhäuser der Stadt geworden. Mit Recht, wie mir scheint, bei Ihren theoretischen Kenntnissen.“ „Was nützen die mir denn!“ rief die junge Frau erregt. „Auf dem Lehrgang haben wir eine Abrechnungsart nach der anderen durchgenommen, hier stürzte alles mit einem Male auf mich ein. Außerdem bin ich darauf geschult worden, daß alles korrekt zugeht und nicht auf so ein Durcheinander wie hier. Ich kann da einfach nicht durchsehen.“ Sie ist nach ein paar Trockenübungen ins Wasser geworfen worden, dachte Astrid Funke, sie wußte wohl um jede Bewegung, aber das fremde Element hat sie unsicher gemacht, sie mußte schlucken und läßt sich nun treiben, hilflos und verängstigt. „Warum haben Sie nicht mit jemandem darüber gesprochen?“ „Mit wem denn?“ fragte die Frau schulterzuckend. „Vor allem hätten Sie sich an die Hauptkassiererin wenden müssen, an Frau Wehler.“ „Ich hab’s ja versucht. Eingebracht hat es mir abweisende Blicke und den Trost, ich würde mich mit der Zeit schon einarbeiten. Frau Wehler war auf eine unnahbare Art höflich, sie war eine ausgezeichnete Fachkraft, da habe ich mich nie getraut, etwas Kritisches zu sagen. Ich kann in diesem Hause mit keinem warm werden, wie man so sagt.“ „Auch nicht mit Herrn Zinn?“ fragte Astrid. „Ich … bin eben ein Versager.“ Rita Geßmann schluchzte leise. „Das ist keine Antwort auf meine Frage, Frau Geßmann. Hat Herr Zinn Ihnen vorgehalten, versagt zu haben?“ 84
„Ach wo. Der ist immer liebenswürdig zu mir, aber so, wie zu einem dummen Kind. Ich kriege nie eine konkrete Antwort, meine Fragen scheinen das nicht wert zu sein. Er ermahnt mich nur, Geduld zu haben, und sagt – ich habe mir den Satz wörtlich gemerkt: ‚Die Erfolge der theoretischen Ausbildung, mein Kind, lassen sich in der Praxis nicht mit gleichem Tempo weiterführen.‘ “ Sie ahmte Zinns Tonfall nach, ziemlich treffend sogar, wie Astrid Funke feststellte. „Er hat mir empfohlen“, sprach Rita Geßmann weiter, „der Hauptkassiererin als einer versierten Fachkraft zu vertrauen, und auf die Tatsache verwiesen, daß es bei keiner Kontrolle ein wesentliches Manko gab und daß der Chef des Hauses als bester Direktor der Warenhäuser ausgezeichnet wurde.“ Leutnant Funke war jetzt sicher, daß die junge Frau weder die Art noch das Zustandekommen der Fehlbeträge kannte, dennoch hatte sie geholfen, das Bild von Anton Zinn zu ergänzen, und das konnte bei dessen Vernehmung von Nutzen sein. „Ich habe niemals etwas unterschlagen“, beteuerte Frau Geßmann, „das kann ich beschwören, auch vor Gericht, aber ich habe versagt. Ich weiß das. Ich kann mich hier nicht durchsetzen. Ich wünsche meine Qualifizierung zum Teufel und wäre lieber wieder Sekretärin in meinem alten Betrieb.“ „Man darf nicht so wehmütig zurückblicken“, mahnte Astrid Funke. „Sie kennen Ihre Fehler, das ist schon viel wert. Nun brauchen Sie nur noch ein bißchen Selbstvertrauen, Frau Geßmann.“ Sie hätte ihr gern Mut gemacht und gesagt, daß es nach einer Tiefenprüfung sicherlich spürbare Veränderungen geben würde, doch darüber mußte sie den Mund halten. „Erzählen Sie mir jetzt etwas über die gestrige Warenlieferung: Uhrzeit, Lieferant, Art der Ware …“ 85
„Herr Zinn weiß darüber viel besser Bescheid“, versuchte sie abzuwehren; „Einstweilen nehme ich mit dem vorlieb, was Sie wissen.“ Die junge Frau berichtete, was Astrid schon von Simosch wußte, und beteuerte, es wäre alles korrekt zugegangen. Nach einigem Zögern setzte sie hinzu: „Auffallend korrekt.“ Nach dem schlechten Ergebnis der Kontrollinventur, für das niemand eine Erklärung hat, rechnen sie gewiß mit einer Tiefenprüfung, dachte Astrid, deshalb werden sie jetzt vorsichtig. Aber was wollte Dannhoff noch herausfinden? „Bitte, holen Sie die Unterlagen der gestrigen Warenlieferung, und kommen Sie mit in den Lagerraum.“ Sie fuhren ins Erdgeschoß, die junge Frau wurde merklich unruhig und fragte schließlich: „Man erzählt, daß im Lagerraum etwas passiert sei.“ Astrid wollte dem Oberleutnant nicht vorgreifen. „Ja, das stimmt“, sagte sie nur. Simosch kam ihnen entgegen, stellte sich vor, und zu dritt prüften sie die Lieferscheine und die Beschriftung der Kisten. Es stimmte alles überein. „Herr Dannhoff hat sich gestern die Lieferscheine auch schon angesehen“, erklärte Rita Geßmann, „Sie können sich von ihm bestätigen lassen, daß alles in Ordnung war.“ „Das geht leider nicht mehr“, sagte Simosch, „Herr Dannhoff ist gestorben. Hier in diesem Raum.“ „Aber …“, Rita Geßmann tastete hinter sich, bis sie die Wand fühlte, trat einen Schritt zurück und lehnte sich dagegen, „er hat überhaupt nicht krank ausgesehen.“ „Um so zu sterben wie er, braucht man nicht krank zu sein.“ „Heißt das – er ist …“ „Wir ermitteln noch“, sagte Oberleutnant Simosch 86
streng. „Wissen Sie, ob die Verbindungstür vom Lagerraum zum Keller gestern offen war?“ „Die schließt Herr Zinn nur auf, wenn Ware aus den Kisten gepackt und in den Keller gebracht wird. Von da aus wird sie auf die entsprechenden Verkaufsräume verteilt. Gestern sind aber keine Kisten geöffnet worden.“ Simosch schickte die Sachbearbeiterin zurück in ihr Büro. „Alles, was Sie mit Leutnant Funke und mir besprochen haben, behalten Sie bitte für sich.“ Er sah ihr nach, wie sie langsam den Raum verließ, und fügte leise hinzu: „Solange Sie können.“ Zu Leutnant Funke gewandt, fragte er: „Was halten Sie von der Version, daß Dannhoff den Inhalt der Kisten prüfen wollte, nachdem er die Lieferscheine durchgesehen hatte?“ „Als Wirtschaftsprüfer hätte er das offiziell fordern können.“ „Vielleicht ging es ihm darum, jemanden vor Gericht einer Lüge zu überführen, vielleicht wollte er mehr wissen, als den anderen bekannt war.“ „Das ist nicht ausgeschlossen. Hatte er eigentlich einen Schlüssel für diesen Raum bei sich?“ „Nein“, sagte Simosch, „offensichtlich wollte er hier ’raus, solange die Tür offen war.“ „Falls er überhaupt freiwillig in diese Ecke gekrochen ist.“ „Morgen werden wir klüger sein.“ Simosch faßte Astrid am Arm. „Kommen Sie, wir versiegeln die beiden Türen. Morgen, wenn die Tiefenprüfung beginnt, wird ohnehin in jede Kiste geguckt. Bis dahin habe ich auch die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchungen und die genaue Todeszeit. Jetzt wollen wir mal hören, was die Herren des Hauses uns zu sagen haben.“ Kurz nach achtzehn Uhr verließen die Verkäuferinnen und Angestellten das Warenhaus. Draußen dämmerte es schon. Den ganzen Tag über war die Sonne von einer 87
dünnen Wolkenschicht wie mit weißen Laken verhangen gewesen. Dieter Trebbin zog den Mantel über, trat in den Hof hinaus, setzte sich auf das Trittbrett seines Lastwagens und zündete sich eine Zigarette an. Aus einem der umstehenden Häuser drang laute Radiomusik. Die Abbas funkten SOS. Die haben’s nötig, dachte Trebbin. Seelenquark. Bei uns dreht sich’s um handfeste Dinge. Anton Zinn kam über den Hof, grauer Frühjahrsmantel, grauer Hut. Graue Eminenz in grauer Dämmerung, dachte Trebbin. Wenn man den mal durchleuchten könnte! „Ah, hier stecken Sie!“ rief Anton Zinn mit gedämpfter Stimme. „Rücken Sie ein bißchen zur Seite?“ Trebbin machte ihm Platz. „Das war nicht gerade fein, Herr Trebbin, wie Sie heute mit dem Chef umgesprungen sind.“ „Na, deswegen mußte er wohl nicht den Rest des Tages im Frauenruheraum zubringen.“ „Er hat Sorgen. Es lastet viel auf ihm.“ „So wär’s, wenn er Sie nicht hätte.“ „Stimmt, ich versuche, ihm einiges abzunehmen. Zumal er manchmal recht unentschlossen ist, wo es schnelle Entscheidungen braucht.“ „Was – soll denn nun werden?“ fragte Trebbin zaghaft. „Wir müssen abwarten, was die polizeilichen Untersuchungen ergeben, und jeder sollte ruhig und diszipliniert seiner Arbeit nachgehen.“ „Ich finde aber keine Ruhe, seit ich weiß, daß der Wirtschaftsprüfer unter den Kisten gelegen hat.“ „Sie haben recht, das ist furchtbar.“ Trebbin warf ärgerlich die Zigarette zu Boden und trat sie aus. „Sie sagen das, als bedauerten Sie ein verregnetes Wochenende. Dabei ist der junge Kerl in dem Schuppen regelrecht verreckt.“ 88
Zinn seufzte. „Sie sollten trotzdem nicht so – unbeherrscht sein, Herr Trebbin. Das macht auch auf die Polizei keinen guten Eindruck.“ „Ich fürchte, die ganze ‚Hochzeitskutsche‘ macht keinen guten Eindruck auf die.“ „Was ist nur mit Ihnen los? Ich begreife Sie nicht. Dannhoffs Tod geht uns schließlich allen nahe …“ Trebbin lachte gequält. „… es ist auch für alle belastend“, sprach Zinn unbeirrt weiter, „daß man eine Zeitlang mit der Polizei im Hause arbeiten muß, aber es gibt keinen Grund zu resignieren oder gar in Panik zu verfallen. Sie müssen davon ausgehen, daß Sie ohne Schuld sind.“ „Und Sie?“ fragte Trebbin leise. Anton Zinn ging nicht darauf ein. „Im Warenhaus“, sagte er, „wird es nicht mehr Beanstandungen geben, als die Kontrollinventur schon an den Tag gebracht hat. Und das geht Sie sowieso nichts an, Herr Trebbin.“ „Der tote Dannhoff hier in unserem Lagerraum, der geht uns alle an, und den wird die Polizei uns immer wieder unter die Nase halten.“ „Wenn die Tiefenprüfung glimpflich verläuft, stehen sie ziemlich hilflos da. Und sie wird glimpflich verlaufen. Man darf nur außer Gudrun Wehler niemandem etwas Strafbares nachweisen können.“ „Das arme Luder“, murmelte Trebbin. „Wir unterstützen sie natürlich. Materiell und moralisch. Außerdem ist unsere Sachbearbeiterin ihren Aufgaben nicht ganz gewachsen. Ein herzensguter und fleißiger Mensch, aber sie kriegt ihre Arbeit nicht in den Griff. Nichts Kriminelles – nur Unvermögen. Damit läßt sich vieles erklären.“ „Sie hätten Diplomat werden sollen.“ Zinn grinste. „Sie, Herr Trebbin, werden schon bald in Ruhe gelassen werden. Was können Sie denn aussagen? Doch nur, daß Sie Ware hin- und herfahren.“ 89
„Und das da im Lagerraum?“ „Was geht Sie der Lagerraum an? Während auf- und abgeladen wird, stehen Sie doch irgendwo im Hof herum und rauchen eine Zigarette. Die Hauptsache ist, ansonsten stimmt alles.“ Eine leise Mahnung schwang in den letzten Worten mit. Trebbin erhob sich schnell. „Ich muß nach Hause.“ „Natürlich. Ist ja auch alles klar. Ich wünsche einen angenehmen Abend.“ Anton Zinn ging über den dunklen Hof auf das Warenhaus zu. Im Keller flammte Licht auf. Er seufzte leise und stieg die Treppe zum Keller hinunter. Michael Hagedorn stolzierte, die Hände auf dem Rücken, in dem schmalen Gang zwischen zwei Reihen Hochzeitskleidern auf und ab. Als er Zinn bemerkte, blieb er stehen. „Na, wieder auf den Beinen?“ fragte Zinn. Hagedorn antwortete nicht. Sein höhensonnengebräuntes Gesicht sah krankhaft gelb aus in dem fahlen Kellerlicht. Er warf Zinn einen vorwurfsvollen Blick zu und wanderte wieder los. „Sie sollten nach Hause fahren, Herr Direktor.“ „Nach Hause? Wo hier alles drunter und drüber geht?“ Er blieb dicht vor Zinn stehen, blickte, da er einen halben Kopf größer war als sein Stellvertreter, mit halbgeschlossenen Augen auf ihn herab. „Wenn ein Schiff sinkt, geht der Kapitän nicht nach Hause, Herr Zinn. Er ist der einzige, der ihm bis zuletzt die Treue hält …“ „Sie haben das verkehrte Stück drauf!“ unterbrach Zinn ihn wütend. „Und ich bin das verkehrte Publikum.“ „Was nehmen Sie sich heraus!“ Das klang eher erschrocken als tadelnd. „Was mir zusteht. Bleiben Sie vernünftig, Herr Hagedorn, wie bisher. Sie vermasseln sonst alles.“ „Was gibt es denn hier noch zu vermasseln? Ein toter 90
Wirtschaftsprüfer im Haus und eine Tiefenprüfung.“ Hagedorns schlaffe Mundwinkel zuckten. „Das reicht …“ „Hier gibt es nichts als unschuldige, dienstbeflissene Leute, höchstens ein bißchen Durcheinander in der Buchführung. – In welchem Betrieb ist schließlich alles in Butter? Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, daß man Sie in diesem Jahr nicht als besten Kaufhausleiter auszeichnet. Aber wir werden Sie schon darüber hinwegzutrösten wissen.“ „Nein.“ Hagedorn hielt abwehrend die Hände vor die Brust. „Kommen Sie“, sagte Anton Zinn, „ich fahre Sie nach Hause. Wir können unterwegs weitersprechen.“ Zinn verließ den Keller, und Hagedorn ging steifbeinig hinter ihm her. Während der Fahrt redete nur Zinn, selbstsicher, befehlsgewohnt. Als sie vor Hagedorns Haustür hielten, wußte der Direktor, was er in den nächsten Tagen und Wochen zu tun hatte. „Einen Augenblick noch“, sagte Hagedorn, als Zinn ihn mit einem Lächeln zum Aussteigen aufforderte. „Ich bin bereit, Herr Zinn, in die ‚Notgemeinschaft‘, die Sie schmieden, mit einzusteigen – aus Selbsterhaltungstrieb. Doch das mit Dannhoffs Tod verkrafte ich nicht.“ Anton Zinn stutzte. Diese Worte hatten weder hilflos noch theatralisch oder irgendwie einstudiert geklungen. Sie schienen aus dem Munde eines Mannes zu kommen, der einen Willen besaß und ihn durchzusetzen wußte. „Was soll das heißen?“ „Sie nehmen mir im Kaufhaus so gut wie jede Verantwortung ab. Meinetwegen. Sie sind tüchtiger als ich. Aber mit dem, was ich vor meinem Gewissen zu verantworten habe, muß ich selbst fertig werden.“ „Das muß jeder“, sagte Zinn. „Ich verstehe noch nicht, worauf Sie hinauswollen.“ „Wenn die Sache überstanden ist, werde ich noch ein 91
paar Monate lang Gras darüber wachsen lassen und dann abtreten.“ „Und damit das Gras wieder ’rausreißen.“ „Es wird gesundheitliche Gründe geben, Herr Zinn. Meine Leber …“ Er lächelte wissend, doch das konnte Anton Zinn nicht sehen, denn sie saßen, ohne das Licht angeschaltet zu haben. „Zukunftsmusik“, erwiderte Zinn, „mir noch zu fern, um genauer hinzuhören.“ „Sie könnten dann aufrücken“, sprach Hagedorn weiter. Anton Zinn atmete auf. Da war wieder der vertraute Klang: Selbstmitleid mit einem Schuß unbegründetem Stolz. „Ich meine, Sie haben dann die Möglichkeit, formell nachzuholen, was in der Praxis längst vollzogen ist.“ „Ich muß weiter“, drängte Anton Zinn. „Wenn Sie so freundlich wären, jetzt auszusteigen.“ „Sie halten mich ohnehin für überflüssig, für unfähig, nicht wahr?“ Zinn beugte sich so weit nach hinten, daß er im Schein der Straßenlaternen Hagedorns müdes Gesicht sehen konnte. „Aber, Herr Direktor“, erwiderte er mit einem kleinen, verschlagenen Lächeln, „Sie sind der fähigste Chef, den ich mir denken kann – mit Ihren Verbindungen und Ihrem Auftreten –, wenn Sie nüchtern sind und ohne Angst.“ Michael Hagedorn verließ ohne ein weiteres Wort den Wagen. „Geh sofort schlafen“, schärfte Dieter Trebbin seinem Sohn ein, „wenn das Sandmännchen vorbei ist.“ „Mach’ ich, Papi“, versprach der Kleine. „Bist du mir noch böse wegen heute vormittag? Ich wollte bestimmt nicht, daß der Hexer in euren Schuppen rast.“ „Ich weiß“, beruhigte ihn Trebbin, „passiert mir auch 92
manchmal. Man will nichts Böses, paßt nicht auf und sitzt drin im Schlamassel.“ Er küßte den Kleinen auf die Stirn und ging schnell aus dem Haus. Er fuhr mit dem Bus bis zur Endstelle und marschierte dann weiter, die Fernverkehrsstraßen entlang. Als er die Häuser ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, blieb er stehen und winkte einem PKW. Der Wagen sauste vorüber. Mit dem nächsten, dem dritten und vierten erging es ihm nicht besser. Scheißkerle, dachte Trebbin verärgert. Wenn ich so eine flotte Biene wäre, die im Scheinwerferlicht mit dem Hintern wackelt, hätten sie mich bestimmt mitgenommen. Ein Lastwagen brummte heran. Kumpel, flehte Trebbin in Gedanken, hab ein Herz und nimm mich mit. Es ist wichtig für mich, Kumpel, und du kannst nie wissen, ob du nicht auch einmal in so eine be… scheidene Lage gerätst. Der LKW bremste. „Wo soll’s denn hingehen?“ fragte der Fahrer, aus dem Fenster seiner Kabine gebeugt. Dieter Trebbin nannte sein Ziel. „Da komme ich nicht vorbei“, rief der Fahrer, „ich biege ungefähr drei Kilometer vorher ab.“ „Mann, drei Kilometer! Die hüpf ich doch auf einem Bein ’runter. Hauptsache, ich bin erst mal aus der Stadt ’raus und auf der Autobahn.“ „Wie du meinst. Steig ein.“ Er schob sich wieder hinters Lenkrad, und Dieter Trebbin kletterte auf den Beifahrersitz. „Ich fahr’ ’ne ähnliche Karre“, sagte er, „da kommt man sich ziemlich dämlich vor, wenn man plötzlich ohne das gute Stück auf der Landstraße steht.“ Das könne er nachfühlen, erwiderte der Fahrer. Sie kamen ins Fachsimpeln, und Dieter Trebbin war froh, daß der Mann ihm keine Fragen stellte. Vor der Abfahrt nach Gründorf stieg Trebbin aus, bedankte sich und 93
blieb stehen, bis der Lastwagen in der Dunkelheit verschwunden war. Dann ging er weiter. Er benutzte den schmalen Wiesenpfad neben der Autobahn oder stiefelte einfach am Feldrain entlang. Nach knapp drei Kilometern sah er die Tankstelle. Er wartete, bis sie frei war, lief darauf zu und klopfte an ein hell erleuchtetes Fenster. Der Tankwart steckte den Kopf zur Tür hinaus und erkannte Dieter Trebbin. „Hallo, alter Junge! Was liegt denn an?“ „Ich muß mit dir reden.“ Der Tankwart sah sich vergebens nach Trebbins Wagen um und fragte verwundert: „Wo hast du denn deine Kutsche?“ „Laß mich ’rein“, drängte Trebbin. „Es ist wichtig.“
7. Leutnant Astrid Funke fuhr durch die Stadt und bremste ihren Wagen vor dem Haus, in dem Gudrun Wehler wohnte. Zwei Straßenlaternen weiter parkte ein weißer Wartburg. Sie stieg aus, besah sich das Nummernschild und blätterte in ihrem Notizbuch. Dann hatte Leutnant Funke es plötzlich eilig, ins Haus zu kommen, sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hoch und drückte den Klingelknopf neben Wehlers Türschild. Eine kleine Weile rührte sich überhaupt nichts. Astrid klingelte erneut, heftiger jetzt und länger. Drinnen klappte nun eine Tür, und Gudrun Wehler rief: „Wer ist denn da?“ „Leutnant Funke.“ Daraufhin wurde es wieder still. Nach einer Weile kam die Frau endlich zur Tür und öffnete. „Entschuldigen Sie …“ „Schon gut“, sagte die Polizistin und trat ein. „Ent94
schuldigen muß ich mich wohl, daß ich um diese Zeit noch störe.“ Sie gingen ins Wohnzimmer. Frau Wehler setzte sich auf die Couch, deutete auf einen Stuhl und bat Leutnant Funke, Platz zu nehmen. Astrid sah zur Küchentür, die einen Spalt offenstand, betrachtete den Stuhl, der ihr angeboten wurde, und fand, er störe die peinliche Ordnung des Zimmers. Er stand zu weit vom Tisch entfernt, mit der Sitzfläche ins Zimmer gerückt, so, als hätte jemand ihn in Eile zurückgeschoben. Aber aus der Wohnung, dachte sie, hat sich niemand entfernt. „Die Angelegenheit, über die ich mit Ihnen sprechen muß, eilt“, sagte Astrid, „deshalb komme ich her, statt Sie zu uns zu laden. Es ist ein Gespräch, das nur uns beide angeht.“ „Ja“, sagte Frau Wehler. Sie sah müde aus und wirkte gleichgültig. Astrid suchte ihren Blick und sah ihr fest in die Augen. „Schicken Sie Herrn Zinn weg.“ Frau Wehler seufzte, hob die Arme ein wenig und ließ sie kraftlos in den Schoß zurückfallen. „Ich kann mir denken, daß Sie ihn nicht hergerufen und ihn auch nicht gebeten haben, in die Küche zu verschwinden, als es klingelte. Er macht mit Ihnen immer noch, was er will.“ Die Frau begehrte auf, schnellte vom Sofa, ein paar Zentimeter nur, aber es machte den Eindruck, als wolle sie über den Tisch springen. Plötzlich ließ sie sich wieder in die Polster fallen. „Macht doch alle, was ihr wollt! Mit mir und … ach, überhaupt.“ „Herrn Zinns Wagen parkt vor dem Haus“, stellte Astrid Funke fest. Die Küchentür wurde aufgestoßen. „Aber ich bitte Sie“, rief Anton Zinn übertrieben harmlos, „das ist doch kein Grund, so einen Wirbel zu veranstalten!“ Er kam 95
auf Astrid Funke zu und streckte ihr lachend beide Hände entgegen. „Ich geh’ auf einen Schluck Tee in die Küche, und schon …“ „Sie versuchen wohl, jeden zum Trottel zu machen“, fiel Astrid Funke ihm kühl ins Wort. Zinns Lächeln wurde tückisch. „Vorsicht“, mahnte er, „wir sind hier nicht in Ihrer Dienststelle.“ „Deshalb bitte ich Sie auch, mich mit Frau Wehler allein zu lassen.“ „Gehen Sie doch“, sagte Gudrun Wehler unwillig. Anton Zinn verschwand. „Ich nehme an, er hat Ihnen schon erzählt, daß Dannhoff tot ist“, sagte Astrid und setzte sich. Gudrun Wehler nickte. „Wahrscheinlich hat er Ihnen auch Verhaltensregeln gegenüber Polizei und Gericht angeraten. Warum hören Sie auf niemanden so wie auf diesen Mann, Frau Wehler? Warum lügen Sie für ihn, widerrufen Aussagen. Was bedeutet Ihnen dieser Mann – und sie ihm?“ „Nichts“, erwiderte die Frau und starrte auf irgendeinen Punkt an der Zimmerdecke. „Überhaupt nichts.“ Es klang enttäuscht. „Wie geht es Ihrem Mann, Frau Wehler?“ „Schon besser. Vielleicht wird er nächste Woche aus dem Krankenhaus entlassen.“ „Haben Sie mit ihm über Ihre Angelegenheit gesprochen?“ „Ja. Das heißt – bis in alle Einzelheiten nicht“, sagte sie leise. „Sie werden mit Ihren halben Wahrheiten noch in Teufels Küche kommen.“ Frau Wehler reagierte nicht. Astrid spürte, wie sie sich gegen jedes Wort sperrte, das ihr über die Lippen wollte. Zinns Besuch war wohl doch nicht ohne Wirkung geblieben. Die Polizistin sprach weiter, sie mußte die Frau nachdenklich stimmen, sie provozieren und zugleich Ver96
trauen gewinnen, bis sie endlich bereit war, ohne Vorbehalt auf Fragen zu antworten. „In der ersten Verhandlung haben Sie sich auf Zinns Seite gestellt. Wollten Sie abwarten, zu wessen Gunsten der zweite Verhandlungstag ausging, und sich dann entweder auf Zinns oder auf Dannhoffs Seite schlagen?“ Frau Wehler hielt den Kopf gesenkt. „Sie stehen jetzt nicht mehr zwischen Zinn und Dannhoff“, gab Astrid zu bedenken, „sondern zwischen Zinn und der Mordkommission …“ „Ich habe mit keinem von beiden etwas zu tun“, erklärte Gudrun Wehler matt, „ich will endlich meine Ruhe.“ „Die finden Sie erst, wenn Sie uns die Wahrheit gesagt haben. Wo sind Sie am Nachmittag nach Ihrer ersten Verhandlung gewesen …“ Frau Wehler sah einen Augenblick lang erschrocken auf. „Wo waren Sie an jenem Abend? Was wissen Sie über Dannhoff? Was über die Unterschlagungen im Warenhaus? Das, Frau Wehler, möchte ich mit Ihnen Punkt für Punkt durchsprechen, vor Ihrer nächsten Verhandlung und bevor die Mordkommission an Ihre Tür klopft.“ „Ich habe mit Herrn Dannhoffs Tod nichts zu tun.“ Sie schien jetzt doch aus ihrer verkrampften Abwehrhaltung aufgeschreckt zu sein und erzählte, daß sie an jenem Abend im Krankenhaus bei ihrem Mann gewesen, von da nach Hause und sofort schlafen gegangen sei. Astrid glaubte ihr. Sie kannte inzwischen die Reaktionen dieser Frau so gut, daß sie wußte, wann die eine Lüge aufzutischen versuchte. Sie war erschrocken, als Astrid nach dem Nachmittag gefragt hatte. Also mußte an jenem Nachmittag etwas geschehen sein, doch Frau Wehler wurde nervös und verwehrte eine offene Antwort, sobald die Kriminalistin auf die Stunden nach der Verhandlung zu sprechen kam. 97
„Sie sollten endlich begreifen“, mahnte Astrid, „wer es gut mit Ihnen meint und wer Ihre Gutmütigkeit ausnutzt. Frau Wehler, es geht jetzt nicht mehr allein um Geld und Waren, sondern auch um einen mysteriösen Todesfall – und Sie können sich da nicht raushalten. Dannhoff ist nicht irgendwo ums Leben gekommen, sondern im Warenlager der ‚Hochzeitskutsche‘! Er hat unter anderem Ihre Unterschlagungen aufgedeckt, und wir wissen, daß Sie dort Hintermänner haben, denen Dannhoff wahrscheinlich auf der Spur war. Da glauben Sie, daß man Sie in Ruhe läßt? Eine so naive Haltung kann Ihnen doch nicht einmal Herr Zinn einreden wollen. Und wenn – überlegen Sie, ob Herr Zinn auch noch zu Ihnen stehen wird, wenn die Anklage auf Mordverdacht lauten sollte.“ Frau Wehler lachte leise, ein bitteres, verzweifeltes Lachen, das Astrid Funke bedenklicher fand als die bisherigen Tränenausbrüche. Die Frau war innerlich so aufgewühlt, daß sie sich endlich mitteilen mußte. „Sie haben gefragt, was mich an Anton Zinn bindet. Ich habe ihn verehrt, weil er tüchtig ist, durchgreifen kann, sich nichts vormachen läßt, einen unbeugsamen Willen hat. Alles Eigenschaften, die mir fehlen. Sein Selbstbewußtsein hat auf mich ausgestrahlt. Ich war stolz, wenn er mir eine Sonderaufgabe anvertraute und mich für deren Erledigung gelobt hat. Ich nahm an, er schätzt mich. Jetzt aber weiß ich, was ich ihm wirklich wert bin – nicht einmal eine Erinnerung. Ich bin ein Werkzeug, das man beiseite legt und vergißt, wenn man es nicht mehr braucht.“ Sie hatte noch immer das bittere Lächeln um die Mundwinkel. Sie schwieg, aber es bedurfte nur noch einer behutsamen Frage von Astrid Funke, um zu erfahren, was sie so verstört hatte. „Ich will Ihnen erzählen, was an jenem Nachmittag geschehen ist, als ich meine erste Verhandlung hinter mir 98
hatte. Es regnete. Ich ging zum Bus und fuhr zur KarlMarx-Straße zum Warenhaus ‚Chic und Charme‘ …“ Von der Haltestelle bis zum Warenhaus waren es nur wenige Schritte, trotzdem fühlte sich Gudrun Wehler naß bis auf die Haut, als sie durch die Drehtür ging. Im Umkleideraum streifte sie die Sachen ab. In ihrem Schrank bewahrte sie stets Wäsche und Bekleidung zum Wechseln auf. Ein Lastwagen fuhr in den Hof. Sie trat ans Fenster und sah den Kraftfahrer Dieter Trebbin aussteigen. Zögernd betrat sie den Verkaufsraum. Es war ihr peinlich, Blicken ausgesetzt zu sein, die mehr oder weniger neugierig fragten, wie ihre Angelegenheit bei Gericht voranginge. Erleichtert stellte sie fest, daß zu dieser Stunde kaum jemand Zeit finden würde, sich um sie zu kümmern. Der Kundenschwarm drängte sich durch den Raum. Gudrun Wehler wurde von einer jungen Frau angesprochen, die eine schwarze Bluse suchte, aber keine in passender Größe entdecken konnte. „Wenn Sie sich etwas gedulden“, versprach Frau Wehler, „will ich gern im Lagerraum nachsehen.“ Die Frau bat darum, und Gudrun Wehler ging ins Treppenhaus. Im Kellergeschoß brannte Licht. Eine weibliche Stimme kicherte. Gudrun Wehler nahm an, Frau Rotter, die Verkaufsstellenleiterin, überwache das Auspacken der Ware. Doch das Kichern irritierte sie, denn sie kannte ihre Vorgesetzte als eine strenge, manchmal sogar etwas überspannt wirkende Person. Plötzlich erstickte das Kichern, als habe jemand die Hand vor den Mund gepreßt. Gudrun Wehler erreichte die letzte Stufe und konnte den Lagerraum einsehen. Die beiden Gestalten, die sich eng umschlungen hielten, standen im Halbdunkel. Frau Wehler erkannte dennoch Birgit Rotter und Anton Zinn. Sie küßten sich, Zinn streichelte Frau Rotters Brust. 99
Gudrun Wehler preßte sich gegen die Wand, um nicht gesehen zu werden. Sie wußte, wie alle in der „Hochzeitskutsche“, daß Anton Zinn ein außereheliches Verhältnis hatte. In ihrer Vorstellung war das die romantische Liebe eines unglücklich verheirateten Mannes zu einem schönen Mädchen gewesen. Daß es aber die Verkaufsstellenleiterin von „Chic und Charme“ sein sollte, verheiratet, Mutter zweier Kinder und keineswegs hübsch, wenn auch stets gepflegt und von guter Figur, verwirrte sie. Frau Wehler wollte den beiden Zeit lassen, sich zu trennen. Sie beschloß, die Treppe noch einmal hinaufund wieder herunterzugehen, da hörte sie Birgit Rotter fragen: „Und wenn sie umkippt? Wenn sie morgen ihre Meinung wieder ändert und sagt, es stimme doch, was sie bei der Polizei angegeben hat?“ Gudrun Wehler blieb stehen und hielt den Atem an. „Liebes, wie redest du von meiner ehemals besten Kassiererin?“ tadelte Anton Zinn ironisch. „Auf die kann ich mich noch immer verlassen.“ „Du mußt sie ja kennen.“ In diesen Worten schwang Zweifel mit. „Und ob ich sie kenne“, entgegnete Zinn selbstgefällig. „Ich bin sicher, daß es in ihrem Leben zwei Menschen gibt, zu denen sie unbedingt hält …“ „Und einer davon bist du“, unterbrach Birgit Rotter mit spöttischem Tonfall. „Richtig. Einer bin ich, der andere ist ihr Mann.“ „Na schön, und was bedeutet sie für dich?“ „Für uns, mein Liebes“, korrigierte Zinn. „Für uns ist sie ein kleiner Fisch, den wir notfalls opfern werden. Doch ich bin sicher, daß sie nicht plaudert.“ „Was ist mit diesem Dannhoff?“ fragte Birgit Rotter weiter. „Der ist ein ziemlich schlauer Fuchs. Aber mach dir deswegen keine Gedanken. Den laß meine Sorge sein.“ 100
„Gut, Toni. Du weißt, mit meiner Hilfe kannst du immer rechnen. Was die anderen betrifft …“ Gudrun Wehler hörte die letzten Worte nicht mehr. Sie schlich die Treppe hoch, zögerte, als sie oben angelangt war, und wäre am liebsten davongelaufen. Doch stärker noch war ihr Wunsch, Anton Zinn gerade jetzt unter die Augen zu treten. Sie klappte mit der Tür, so daß man es im Kellerraum hören konnte, stieg die Treppe wieder hinab und betrat das Lager. Birgit Rotter zählte wie zu einer Bestandsaufnahme die Kleider. Anton Zinn kam mit ausgebreiteten Armen auf Frau Wehler zu. „Gudrun“, rief er, „eben wollte ich nach dir sehen!“ Hier im Keller? dachte sie. Ein kleiner Fisch … Sie sagte: „Das ist nett von dir.“ „Du hast dich vor Gericht großartig gehalten. Sie hätten das erleben sollen, Kollegin Rotter.“ Die Verkaufsstellenleiterin nickte ihr zu. „Nach diesem schweren Tag brauchten Sie doch nicht mehr herzukommen.“ „Die Arbeit lenkt mich von meinen Sorgen ab“, sagte Gudrun Wehler und dachte: Merkt keiner, wie unnatürlich und steif das klingt? Warum kann ich mich nicht so wie er verstellen? „Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Es ist überstanden. Nun wird alles gut.“ Ein kleiner Fisch, den wir notfalls opfern … „Wollten Sie zu mir, Frau Wehler?“ fragte die Verkaufsstellenleiterin. „Eine Kundin möchte eine schwarze Bluse, Größe zweiundvierzig.“ „Davon ist nichts mehr am Lager.“ „Ich dachte, daß vielleicht in der neuen Sendung …“ „Wir haben noch keine Ware bekommen.“ „Aber … Herr Trebbin war doch mit dem Lastwagen hier.“ 101
Frau Rotter gab längst nicht mehr vor, Lagerbestände zu zählen. Sie klapperte mit dem Schlüsselbund zum Zeichen, daß sie die Unterhaltung zu beenden und den Raum zu verlassen wünschte. „Sie müssen sich irren“, sagte sie nervös, „Herr Trebbin war nicht hier.“ „O doch!“ rief Anton Zinn und lachte, als habe er einen vortrefflichen Witz gehört. „Ich bin ihm unterwegs begegnet. Er war so nett, mich hierherzufahren, sonst wäre ich pitschnaß geworden. Meinen Wagen konnte ich nicht benutzen. Als ich aus dem Gerichtssaal kam, mußte ich mir einen Kleinen genehmigen.“ Warum logen die beiden? Warum sollte Dieter Trebbin nicht hier gewesen sein? „Ach, so war das!“ Viel zu spöttisch, viel zu skeptisch, schalt sie sich. Zinn legte den Arm um ihre Schultern und ging mit ihr langsam die Treppe hinauf. Frau Rotter schloß den Lagerraum ab. „Ich bestelle jetzt ein Taxi“, sagte er, „und fahre dich nach Hause, kleines, tapferes Frauchen …“ Anton Zinn, dachte sie, aalglatt und salbungsvoll, selbst zu kleinen Fischen, die man notfalls opfert. „Danke“, entgegnete sie etwas spröde. „Ich bleibe lieber bis Dienstschluß. Konrad würde sich nur wundern. Entschuldige mich bitte, die Kundin wartet auf meinen Bescheid.“ Nach Feierabend lief Gudrun Wehler zum gegenüberliegenden Postamt, um auf den Ausweis ihres Mannes Sonderbriefmarken abzuholen. Als sie die Post wieder verließ, wurde das Tor zum Wirtschaftshof des Kaufhauses „Chic und Charme“ geöffnet. Langsam rollte Anton Zinns weißer Wartburg auf die Straße. Zinn saß am Steuer. Meinen Wagen konnte ich nicht benutzen. Als ich aus dem Gerichtssaal kam, mußte ich mir einen Kleinen genehmigen. Bevor das Tor geschlossen wurde, konnte sie noch erkennen, daß Trebbins Lastwagen im Hof stand. Der 102
Fahrer aber saß neben Anton Zinn. Sie fuhren stadtwärts. Frau Wehler schwieg, versuchte in Gedanken eine Entschuldigung, zumindest eine Erklärung dafür zu finden, warum sie Anton Zinn verfallen war, statt sich ihrem Mann anzuvertrauen. Sie erinnerte sich an Zinns Auftreten im Kaufhaus. Durch seine Freundlichkeit und leutselige Art hatte er vom ersten Tag an ihre Sympathie errungen. Sie wünschte sich damals, Konrad würde annähernd so sein wie dieser stellvertretende Direktor, doch Konrad war oft unwirsch, hatte mehr und mehr mit sich, seinen Spritzen und Tabletten zu tun, sie sah ihn verzagt und unsicher. Anton Zinn dagegen strahlte Sicherheit aus, steckte sie an damit. Er erkannte sie als Partnerin ah, auch bei gewagten Unternehmungen. Wie stolz sie darauf war! Wie sie auflebte! Wie verblendet, dachte sie jetzt, und wie schmerzhaft, diese Verblendung einzugestehen. Wenn es nicht Zinn, sondern Konrad wäre, der mich getäuscht hätte, ich wäre längst nicht so verzweifelt. So weit habe ich mich innerlich von meinem Mann entfernt … „Frau Wehler“, sagte Astrid Funke, „ein Anton Zinn ist es doch nicht wert, daß Sie sich für ihn opfern.“ „Das habe ich schon begriffen, nur, er war lange Zeit der einzige Mensch, an den ich mich anlehnen konnte, und plötzlich steh’ ich allein da, ohne Halt.“ „Nicht aufgeben, Frau Wehler. Versuchen Sie, zu sich selbst zu finden, und überlegen Sie, ob Sie vielleicht auch Ihren Mann falsch eingeschätzt haben.“ „Was machen Sie denn da?“ fragte Trebbin empört und ging auf die Männer zu, die an seinem Lastwagen hantierten. „Wir untersuchen“, antwortete ein Blondköpfiger. „Untersucht wird beim Doktor. Was soll der Quatsch?“ 103
„Das erfahren Sie von Oberleutnant Simosch. Wir sind Kriminaltechniker.“ Er zog einen Ausweis aus der Tasche, klappte ihn auf und hielt ihn Trebbin hin. Trebbin beachtete ihn nicht, sondern schaute an den Männern vorbei auf seinen Wagen. „Trotzdem versteh’ ich nicht, weshalb Sie hier ’rumfummeln. Was geht den Oberleutnant mein Lastwagen an?“ „Wie ich Ihnen sagte, wird er Ihnen das schon erklären“, erwiderte der Blonde jetzt etwas kühler und steckte den Ausweis wieder ein. „In einer Viertelstunde ungefähr können Sie über Ihren Wagen verfügen. Bis dahin stören Sie bitte unsere Arbeit nicht.“ Trebbin verzog sich in die Frühstücksstube und bestellte Fleischbrühe und Brötchen mit Hackepeter. Er hatte bereits gegessen und wollte zahlen, da kam Anton Zinn herein, bemerkte Trebbin und setzte sich zu ihm an den Tisch. „Wissen Sie, daß die mein Auto auseinandernehmen?“ fragte Trebbin leise. „Na und?“ „Ich möchte bloß wissen, warum? Ich habe für heute nachmittag eine Vorladung zur Polizei. Oberleutnant Simosch.“ „Weshalb sind Sie so aufgeregt, Trebbin? Ihnen kann doch überhaupt nichts passieren.“ „Schön wär’s.“ „Ich bitte Sie“, mahnte Zinn. „Übrigens – ist das schlimm, Ihre Verletzung da am Auge?“ „Nicht der Rede wert.“ Er sah Zinns fragenden Blick und erklärte mürrisch: „Bin wo gegengerannt gestern im Dunkeln.“ „Na ja. Dann ist’s ja gut.“ Dieter Trebbin ging in den Hof zurück. Die Kriminaltechniker waren verschwunden. Trebbin umkreiste mißtrauisch seinen Wagen, fand aber nichts, was er den Technikern vorwerfen konnte. 104
Stunden später saß er im Zimmer der MUK vor Oberleutnant Simosch und Leutnant Funke. Simosch sah er nur verschwommen, denn sein linkes Auge schwoll an, färbte sich blaugrün und schmerzte. Er fühlte sich unbehaglich, teils wegen des Auges, teils wegen der Fragen, die er beantworten sollte. „Ich weiß nicht, wo ich an diesem Nachmittag gewesen bin.“ „Unter anderem im Kaufhaus ‚Chic und Charme‘ “, half Leutnant Funke nach. „Da war ich nicht. Ich habe nur Herrn Zinn vor dem Haus abgesetzt.“ „Dort hat man Sie aber gesehen. Wohin sind Sie denn gefahren, nachdem Sie angeblich Herrn Zinn abgesetzt hatten?“ „Das weiß ich nicht mehr. Muß doch irgendwo in den Papieren stehen.“ „Ja, irgendwo“, wiederholte Astrid Funke mit einem Seufzer, „oder auch nicht. Bei dieser Wirtschaft.“ „Wann haben Sie den Wagen zurück zur ‚Hochzeitskutsche‘ gebracht?“ fragte Oberleutnant Simosch. „Das wollen Sie nun zum fünften Mal wissen“, entgegnete Trebbin ungehalten. „Am nächsten Morgen erst. Ich hatte ihn über Nacht vor unserem Haus stehenlassen, bin morgens zeitig los und hab’ gewartet, bis die Lagerarbeiter kamen. Während sie die Kisten aufluden, habe ich im Hof gestanden und eine Zigarette geraucht. Dann kam der Junge mit dem Hund …“ „Von da an stimmt’s wieder“, unterbrach Simosch. „Das Sprüchlein vorher haben Sie, ohne ein Wort zu ändern, jetzt auch zum fünften Mal recht artig aufgesagt. Aber es war Ihr Wagen, der rücklings den Kistenstapel gerammt hat, so daß der einfiel und Dannhoff unter sich begraben hat.“ „Wie ich sagte, da ist wohl jemand …“ „Nein“, fuhr Simosch barsch dazwischen, „es gibt keinen Unbekannten, der Ihren Wagen auch nur angefaßt 105
hätte. Ich werde Ihre vorläufige Festnahme beantragen wegen fahrlässiger Tötung, Herr Trebbin.“ „Fahrlässige Tötung!“ rief Trebbin aufgebracht. „Nicht mit mir! Wenn irgendwelches Zeugs in den Kisten kaputtgegangen wäre! Da müßte ich gradestehn für. Aber Sie können mich nicht dafür verantwortlich machen, daß einer im Lagerraum hinter den Kisten ’rumkriecht. Das ist fahrlässig! Das ist sogar verboten!“ „Na, schön“, lenkte Simosch ein, „warum Dannhoff dort steckte, wird sich noch herausstellen. Also, wann haben Sie die Kisten gerammt?“ „Morgens. Ich war eher da als Renner. Das Tor zum Lagerraum stand offen, und ich wollte so weit wie möglich an die Kisten ’ran – plötzlich war’s zu weit. Die vorderen blieben stehen, aber hinten hat’s gepoltert. Ich hab’ den Wagen ein Stück vorgefahren und ihn stehenlassen, bis die Lagerarbeiter kamen.“ „Wer hat denn das Tor aufgeschlossen?“ fragte Simosch. „Herr Zinn, nehme ich an.“ Der Oberleutnant ließ Trebbin das Protokoll unterschreiben und schickte ihn nach Hause. Zu Astrid Funke sagte er enttäuscht: „Eins paßt nicht zum anderen. Wir wissen vom Arzt die genaue Todeszeit: null Uhr dreißig. Dannhoff kann infolge von Hirnblutungen aber stundenlang vorher bewußtlos gewesen sein. Eine zeitliche Übereinstimmung wäre noch möglich, wenn der Kistenberg ihn nachmittags begraben hätte, als die erste Lieferung abgeladen wurde, aber da ist ein Wagen vom Großhandel gefahren. Das ist nachgeprüft. Und die Spurensicherung ergibt, daß Trebbins Wagen mit den Kisten kollidiert ist, doch der war unterwegs, bei ‚Chic und Charme‘ oder sonstwo, aber nicht im Lagerraum der ‚Hochzeitskutsche‘. Wenn Trebbin morgens gegen die Kisten gefahren ist, kann er Dannhoff weder fahrlässig noch sonstwie getötet haben, denn da war der schon sechs bis sieben Stunden tot.“ 106
„Wenn“, wiederholte Astrid. „Zugegeben, es ist noch vieles offen. Vor allem müssen wir nachprüfen, ob Trebbins LKW in jener Nacht wirklich vor seinem Haus geparkt hat.“ „Morgen wird der Prozeß gegen Gudrun Wehler fortgesetzt“, sagte Leutnant Funke. „Ich werde daran teilnehmen.“ „Vielleicht stoßen Sie auf etwas, das uns weiterhilft, zum Beispiel, warum Dannhoff heimlich in den Lagerraum gegangen ist, was er beobachten wollte. Glauben Sie, daß Frau Wehler morgen bei der Wahrheit bleiben wird?“ „Ich denke schon. Zinn hat sie enttäuscht wie noch nie ein Mensch zuvor. Ich glaube nicht, daß sie für ihn weiterlügt und sich als kleiner Fisch opfern läßt. Außerdem ist sie von Dannhoffs Tod erschüttert. Damit will sie nichts zu tun haben. Ich nehme an, daß ihre Aussagen und die bisherigen Ergebnisse der Tiefenprüfung genügend Belastungsmaterial gegen Zinn ergeben, so daß wir ihn festnehmen können.“ „Von dem Augenblick an, wo Zinn isoliert ist und niemanden mehr beeinflussen kann, habe ich es wahrscheinlich bei meinen Vernehmungen leichter. Übrigens – was meinen Sie, weshalb Zinn und Trebbin leugnen, was Frau Wehler im Warenhaus ‚Chic und Charme‘ beobachtet hat?“ „Weil sie vermutlich zusammen mit der Objektleiterin auch dort ihr trübes Süppchen kochen. Ich habe schon einiges in die Wege geleitet.“ „Die MUK wird noch Alibis für Dannhoffs Todeszeit prüfen. Ich muß herausfinden, wer ihn zuletzt gesehen hat und was er vorhatte.“ Astrid Funke war schon an der Tür. „Gut, wir informieren uns, sobald es Neuigkeiten gibt.“
107
III. KAPITEL
1. Der zweite Verhandlungstag gegen Gudrun Wehler begann pünktlich um acht Uhr, alle Zeugen waren anwesend, unter ihnen Astrid Funke. Staatsanwalt Kabelitz bat sie, etwas zu Frau Wehlers Anschuldigung zu sagen, man habe ihr bei der polizeilichen Vernehmung Worte in den Mund gelegt, die sie nur bejaht habe, um in Ruhe gelassen zu werden. Doch es gab keine Anschuldigung mehr. Gudrun Wehler bat ums Wort und widerrief ihren Widerruf. Sie entschuldigte sich beim Gericht und bei Leutnant Funke und versprach, künftig bei der Wahrheit zu bleiben. Astrid Funke nahm im Saal Platz. „Frau Wehler, Sie werden unter anderem beschuldigt, Bestechungsgelder angenommen zu haben“, sagte Richter Lohstett, „und zwar um strafbare Handlungen zu verschleiern. Erläutern Sie dazu dem Gericht, wie die sogenannten Personalverkäufe abgerechnet wurden und was im Büro des Direktors geschah.“ Sie zögerte, denn diese Aussage – das wußte sie – mußte zu jenem Stein werden, der die Lawine ins Rollen brachte. Der Mut wollte sie verlassen. Sie dachte an Konrad, ihren Mann, der an ihrem falschen Spiel verzweifelt war bis zur Selbstaufgabe, dachte auch an Leutnant Funkes Worte, es gehe jetzt nicht allein um Geld, sondern überdies um einen mysteriösen Todesfall, und erinnerte sich daran, daß Zinn sie „notfalls opfern“ würde. Sie blickte Lohstett in die Augen, als suche sie einen Halt, und antwortete zaghaft. „Alles, was vom Personal eingekauft wurde, mußte an 108
der Hauptkasse abgerechnet werden. Aber ich hatte Anweisung, nicht kleinlich zu sein.“ „Was heißt das?“ „Wenn sich jemand mit der Bezahlung Zeit ließ, sollte ich nicht drängen. Dadurch wurde oftmals überhaupt nicht abgerechnet.“ „Waren Sie allen Angestellten gegenüber so großzügig?“ „Nein. Herr Zinn sagte mir immer Bescheid.“ Martin Kabelitz räusperte sich leise, Lohstett sah auf. „Herr Staatsanwalt“, fragte er, „haben Sie zu dieser Sache eine Frage an die Angeklagte?“ Kabelitz nickte, stand mit gekrümmtem Rücken und sah Gudrun Wehler zweifelnd an. „Angeklagte, wenn Herr Zinn Sie bat, nicht auf Bezahlung zu drängen, dann heißt das doch nicht, ganz darauf zu verzichten. Weshalb haben Sie seine Worte so interpretiert?“ „Weil sie so gemeint waren“, entgegnete Gudrun Wehler erregt. „Eindeutiger als Worte sind oftmals die Gesten, von denen solche Anweisungen begleitet werden. Ein Lächeln oder ein Augenzwinkern kann eine Bitte sein, und der Ton kann einen Befehl ausdrücken. Zwischen Herrn Zinn und mir waren zur Verständigung nicht viele Worte nötig.“ Leider wird der schlaue Anton Zinn das bestreiten, dachte Kabelitz. Er wird darauf dringen, nur Worte, nicht Gesten zum Gegenstand der Verhandlung zu machen. Rechtsanwalt Treike wies wieder darauf hin, daß seine Mandantin durch diese nachlässige Abrechnung keinen unmittelbaren Nutzen gehabt hatte, hinterließ damit aber keinen rechten Eindruck und entschloß sich zum Gegenangriff. „Es ist offensichtlich“, sagte er laut, „daß der Nutzen nur darin bestand, der Geschäftsleitung einen Gefallen zu tun, um zu gegebener Zeit mit deren Hilfe rechnen zu 109
können. So wie diese Leute mit der Hilfe der Angeklagten rechneten und mit dem Schweigen derjenigen Verkäuferinnen, die unbezahlte Ware in ihren Wohnungen hatten. Zu verschweigen gab es schließlich genug. Es war ein wohlgesponnenes Netz von Betrug und Korruption, in das die Angeklagte geraten ist“, rief Treike, „und vor diesen Tisch, vor dem Frau Wehler jetzt steht, gehören eigentlich und zuerst jene, die dieses Netz gesponnen haben!“ Ein Murmeln und Raunen ging durch die Zuschauerreihen. Der Vorsitzende mahnte zur Ruhe. „Nun zu den Warenverkäufen im Büro“, sagte er, „wie verhielt es sich damit?“ „Besonders gute Kunden bat die Direktion ins Büro. Dort nahm man deren Wünsche entgegen. Es wurde ein Sortiment zusammengestellt, und der Betreffende durfte daraus wählen.“ „Wer waren denn beispielsweise solche Kunden?“ fragte Lohstett. Frau Wehler vermied es, Namen zu nennen. „Bekannte der Direktion“, sagte sie, „Leiter von Spezialverkaufsstellen, von einem Versicherungsagenten und einem Bezirksschornsteinfeger weiß ich noch. Die meisten blieben anonym für mich.“ „Was geschah, wenn die Kunden gewählt hatten?“ „Die Sachen wurden verpackt und ihnen mitgegeben oder ins Haus geschickt, die restliche Ware zurück in den Verkaufs- oder Lagerraum gebracht.“ „Und auf welche Weise wurde bezahlt?“ „Man versicherte auch ihnen, daß es damit keine Eile habe. Die meisten beherzigen diesen Hinweis noch heute.“ Sieh an, dachte Kabelitz, sie kann sogar sarkastisch werden. „Wie kommt es, daß Sie um Vorgänge wissen, die sich im Büro der Direktion abspielten?“ fragte Richter Lohstett. 110
„Ich wußte indirekt davon, weil diese Sonderverkäufe über meine Kasse abgerechnet wurden – oder auch nicht. Direkt habe ich es erlebt, als ich eine Zeitlang als Vertretung im Büro der Direktion gearbeitet habe.“ „Sie haben für diese Sonderverkäufe finanzielle Zuwendungen erhalten?“ „Nein, das war eher eine Art Schweigegeld“, sagte Gudrun Wehler, „und ich wußte es.“ „Wer gab Ihnen das Geld?“ „Herr Hagedorn. Nach solchen Verkäufen im Büro mußte ich zumeist Kaffee kochen und aus der Konditorei nebenan Kuchen besorgen. Er gab mir sechzig Mark, mehr als zehn Mark brauchte ich aber nie auszugeben.“ „Sie hätten Herrn Hagedorn die restliche Summe zurückgeben können.“ „Ich wollte das auch, aber er sagte abweisend, ich sei ihm nichts schuldig.“ „Was geschah nach derartigen Verkäufen, wenn Sie nicht im Büro waren?“ „Dann erfuhr ich durch Herrn Zinn, was verkauft worden war und was wahrscheinlich nie abgerechnet werden würde. Wenn er ging, lag ein Zwanzigmarkschein neben der Kasse.“ „Im Büro waren Sie also nur aushilfsweise“, stellte Lohstett fest, „wen haben Sie vertreten?“ „Fräulein Schmittchen, die Sekretärin der Geschäftsleitung.“ Weder Lohstett noch der Staatsanwalt oder Treike fragten, ob sie annehme, auch diese Sekretärin habe Schweigegeld eingesteckt, doch Gudrun Wehler wußte, daß die Lawine nun auch Fräulein Schmittchen erfassen würde. Michael Hagedorn durchschritt bedächtig den Saal. Es sah aus, als kränke es ihn, hier erscheinen zu müssen. Die Belehrungen des Vorsitzenden über die Pflicht zur Wahrheit hörte er an, ohne eine Reaktion zu zeigen. 111
„Herr Hagedorn“, begann Lohstett, „die Angeklagte hat von Sonderverkäufen an gute Kunden berichtet. Was sind das für Leute?“ „Wie Sie bereits erwähnten“, entgegnete Hagedorn reserviert, „sind es gute Kunden, die eine Bevorzugung verdienen.“ Lohstett lächelte, sah aber nicht fröhlich aus dabei. „Nach dem, was die Angeklagte hier ausgesagt hat, waren das Leute, die Ihnen irgendwann einmal nützlich sein könnten, und Sie steckten der Angeklagten eine Art Schweigegeld zu, damit sie über diese Geschäfte den Mund hielt.“ „Auf meiner Vorladung“, sagte Hagedorn eisig, „steht, daß ich als Zeuge gehört werden soll. Sie behandeln mich, als sei ich angeklagt.“ „Ich stelle Ihnen Fragen, um mir ein genaues Bild über Frau Wehlers Schuld oder Unschuld zu machen. Warum haben Sie ausgerechnet Frau Wehler als Vertreterin Ihrer Sekretärin bestimmt?“ „Sie genoß unser Vertrauen.“ „Aha“, machte Lohstett, und Kabelitz staunte, wieviel Zweideutigkeit in einem solchen Ausruf stecken konnte. Hagedorn zog alles in Zweifel, was Gudrun Wehler zu seinen Ungunsten ausgesagt hatte. Kabelitz verzichtete darauf, ihm weitere Fragen zu stellen. Rechtsanwalt Treike aber ließ es sich nicht nehmen, auf die lasche Art der Abrechnung zu sprechen zu kommen. „Warum sind Sie nicht in der üblichen Weise verfahren: Ware gegen Geld?“ „Es ist alles exakt verlaufen“, erwiderte Hagedorn, „es sei denn, einer unserer Angestellten habe pflichtvergessen gehandelt und gewisse Beträge unterschlagen.“ Lohstett sah, daß es sinnlos war, Hagedorn weiterhin zu vernehmen. Der Richter wußte durch Kabelitz von der Tiefenprüfung, die in der „Hochzeitskutsche“ stattfand, und ahnte, daß er diesen beleidigt tuenden Gentle112
man eines Tages wieder vor sich haben würde. Dann könnte er wahrscheinlich anders mit ihm reden. Er entließ ihn. Hagedorn hatte Gudrun Wehler bisher keines Blickes gewürdigt. Er sah sie auch jetzt nicht an. Unbewegten Gesichtes, mit einer Steifheit, die Würde ausdrücken sollte, verließ er den Verhandlungsraum. Rechtsanwalt Treike fragte seine Mandantin, wie man denn die Fehlbeträge vertuscht habe, die durch solche sonderbaren Verkäufe entstanden seien. „Entweder indem vieles als Diverse gebucht wurde, oder indem die Einzelsummen auf den Kassenleisten falsch addiert wurden.“ Gudrun Wehlers Stimme klang kehlig und unsicher. Ihre Hände zitterten wieder. Hagedorns Auftreten hatte sie deprimiert. Doch die Lawine, die sie ins Rollen gebracht hatte, war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Zwar sah es zeitweise so aus, als sei sie die einzige, die darunter begraben würde, doch sie blieb ihrem Vorsatz treu. Richter Lohstett fragte noch einmal nach den Manipulationen, die durch den Wasserrohrbruch möglich geworden waren. Gudrun Wehler gab zu, daß sie auf Anton Zinns Geheiß Wäsche und Kleider zweimal vorgelegt und dafür von ihm einen Hundertmarkschein zugesteckt bekommen hatte. „Als nächstes“, kündigte Richter Lohstett an, „steht der Ein- und Verkauf von Taft und Atlasseide zur Verhandlung. Angeklagte, sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie sich in diesem Fall an einem Preisverstoß mitschuldig gemacht haben?“ „Ja“, gestand Gudrun Wehler leise. „Welche Summe wurde Ihnen für Ihre Mithilfe geboten?“ fragte Lohstett streng. „Ich habe eintausendfünfhundert Mark erhalten.“ Der Richter nannte den Betrag noch einmal, langsam, nachdenklich und vorwurfsvoll, dann sagte er: „Nehmen 113
Sie Platz. Ich möchte zuerst den Zeugen Mehnert hören.“ Herr Mehnert war ein gutgekleideter, seriös wirkender Mittsechziger mit schlohweißem Haar. Er wohnte in Liebnitz und hatte als Großhändler für Brautschmuckartikel und Kunstblumen gearbeitet. Seit drei Monaten war er Rentner. „Erinnern Sie sich an einen Verkauf von Taft und Atlasseide an das Warenhaus ‚Zur Hochzeitskutsche‘?“ fragte Lohstett. „Aber ja! Wir hatten einige hundert Meter Altbestände vorrätig, und die ‚Hochzeitskutsche‘ kaufte sie uns vollständig ab.“ „Herr Zeuge, erkennen Sie unter den Anwesenden jemanden, der zum Kauf dieser Ware bei Ihnen gewesen ist?“ „Diese Frau hier.“ Er blickte auf Gudrun Wehler. „Kam sie allein?“ „Sie begleitete Herrn Zinn. Ihn kenne ich, da er mehrmals Brautschmuckartikel bei uns gekauft hat.“ „Handelte es sich bei dieser Ware um Kleiderstoffe für den Bevölkerungsbedarf?“ „Keineswegs. Bei uns erhält man nur Stoffe für industrielle Zwecke.“ „Wieviel kosteten der Taft und die Atlasseide?“ „Drei Mark achtzig pro Meter der Taft, die Atlasseide fünf Mark achtzig.“ Lohstett notierte. „Herr Staatsanwalt, noch Fragen?“ Kabelitz nickte. „Sie sagten, die Stoffe stammten aus Altbeständen. Heißt das, Sie waren froh, diese Ware absetzen zu können?“ „Sehr froh war ich darüber, und ich habe Herrn Zinn für den gesamten Verkauf viertausendfünfhundert Mark Rabatt gewährt.“ „Eine letzte Frage: Wußten Sie, was in der ‚Hochzeitskutsche‘ mit dem Stoff geschehen sollte?“ 114
„Nein“, sagte Herr Mehnert, „das hat mich nicht interessiert.“ Kabelitz setzte sich, und der Richter blickte fragend zu Treike hinüber. „Herr Zeuge“, sagte der Rechtsanwalt schnell, „Herr Zinn kannte den Charakter Ihrer GHG. Wäre es aber möglich, daß die Angeklagte nicht gewußt hat, daß Sie ausschließlich Stoffe für industrielle Zwecke abgeben?“ „Die Stoffballen waren mit Etiketten versehen, auf denen deutlich vermerkt war, daß es sich nicht um Kleiderstoffe handelte.“ Treike setzte sich, fuhr aber sofort wieder hoch. „Darf ich eine Frage an die Angeklagte stellen?“ „Bitte“, sagte Lohstett, und Gudrun Wehler kam nach vorn. „Haben Sie diese Etiketten gesehen“, fragte der Rechtsanwalt, „und was ist mit ihnen geworden?“ „Ich wußte, daß es sich um Kunstblumengewebe handelte, und ich habe auf Herrn Zinns Anweisung die Etiketten abgeschnitten.“ Diesmal seufzte Treike hörbar, als er sich setzte. Herr Mehnert verließ den Saal, und Richter Lohstett wünschte, den Zeugen Zinn noch einmal zu vernehmen. Zinn kam wieder federnden Schrittes, selbstsicher und großspurig durch den Saal bis zum Richtertisch, doch Gudrun Wehler wußte ein kurzes, ärgerliches Zucken der Mundwinkel, eine fahrige Handbewegung, den Blick aus halbgesenkten Lidern richtig zu deuten. Ihr ehemaliger Chef war unsicher und gereizt. Wahrscheinlich hatte Hagedorn auf dem Korridor Gelegenheit gefunden, ihm ein paar Worte über den Verlauf der Verhandlung zuzuflüstern. Lohstett wies darauf hin, die Angeklagte sei nunmehr entschlossen, rückhaltlos zur Wahrheit zu stehen, und habe Zinn als ihren ehemaligen Chef beschuldigt, sie zu gewissen Vergehen ermutigt zu haben. 115
Anton Zinn warf einen verständnislosen, erbosten Blick auf Gudrun Wehler. „Ich nehme an“, sagte er mit gespielter Traurigkeit, „das Gericht weiß, was von solchen Behauptungen zu halten ist. Psychologisch gesehen …“ „Wir sehen es im Augenblick mehr ökonomisch, Herr Zeuge, Sie haben die damalige Hauptkassiererin dazu angehalten, bei Personal- und Sonderverkäufen nicht auf Bezahlung zu drängen, so daß etliche Rechnungen überhaupt nicht beglichen wurden.“ „Wenn ich sagte: nicht drängen, dann hieß das, den Kunden Zeit lassen, aber niemals, daß sie gar nicht zu bezahlen brauchten. Sollte Frau Wehler sich angemaßt haben, meine Worte derart zu deuten, dann ist das ihre Sache. – Und ich wunderte mich, woher bei der Kontrollinventur, die Herr Dannhoff leitete, das Manko stammte.“ „Die Angeklagte behauptet, von Ihnen hin und wieder Geld erhalten zu haben.“ Zinn starrte ihn fassungslos an. „Geld?“ „Ich erinnere Sie noch einmal daran, daß Sie nichts auszusagen brauchen, was Sie belasten könnte.“ Anton Zinn schüttelte unwillig den Kopf und rief mit gutgespielter Empörung: „Ich schätzte diese ehemalige Kollegin als hilfsbereit und einsatzfreudig, und ich habe deshalb mehrfach angeregt, daß sie prämiiert wird.“ „Die Art und Weise, wie die Direktion Prämiengelder auszahlt, erscheint mir eigenartig“, entgegnete Lohstett, „doch das steht jetzt nicht zur Debatte. Wofür erhielt denn die Angeklagte vor zirka vier Monaten eintausendfünfhundert Mark von Ihnen?“ „Eintausend …?“ Er unterbrach sich. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“ Gudrun Wehler merkte ihm seine Wut an. Er hatte nun endgültig begriffen, daß sich der kleine Fisch nicht ohne Widerstand opfern ließ. 116
„Ich spreche von dem Stoffeinkauf in Liebnitz“, half Lohstett freundlich nach. „Richtig!“ Anton Zinn hielt es für angebracht, sich schlagartig zu erinnern. „Ich erhielt viertausendfünfhundert Mark Rabatt. Das Geld brauchte nicht durch die Bücher zu gehen. Wir haben also nichts Ungesetzliches damit angestellt.“ „Mag sein“, erwiderte Lohstett, „aber was geschah mit dem Stoff, den Sie in Liebnitz kauften?“ „Nun, er wurde – unserer Kundschaft angeboten.“ „Als Kleiderstoff?“ „Ja. Das heißt …“ Lohstett schnitt ihm das Wort ab. „Für wieviel haben Sie das Meter verkauft?“ Anton Zinn wurde blaß, schlug die Augen nieder, sah gleich darauf zur Decke hoch. „Daran – kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.“ „Angeklagte, kommen Sie bitte nach vorn.“ Gudrun Wehler stellte sich neben Anton Zinn, die Hände hinter dem Rücken verkrampft. „Angeklagte, Sie haben, wie Sie vor der Polizei aussagten, auf Herrn Zinns Anweisung die Preisschilder ausgeschrieben und an den Stoffballen befestigt. Für wieviel wurde das Meter Taft verkauft?“ „Für sieben Mark achtzig“, sagte sie leise. „Und die Atlasseide?“ „Für zehn Mark vierzig.“ Der Richter nahm den Blick noch immer nicht von Anton Zinn. Er fragte: „Stimmt das, Herr Zeuge?“ „Ich weiß nicht. Aber – es ist schon möglich.“ „Demnach haben Sie und die Angeklagte minderwertige Stoffe, die für Kunstblumen gedacht waren, als Kleiderstoffe angeboten, und das ungefähr zum doppelten Einkaufspreis.“ „Ich protestiere gegen …“ Der Richter ließ ihn nicht aussprechen. „Das Recht zu 117
protestieren hat in meinen Augen allein die Bevölkerung, die im Glauben an den guten Ruf Ihres Hauses und im Vertrauen auf die solide Preispolitik unseres Staates einkaufte, aber von Ihnen beiden schamlos betrogen wurde. Sie haben, ungerechnet den Rabatt, an einem Meter Taft vier Mark und an einem Meter Atlasseide vier Mark sechzig verdient, und Sie haben Tausende von Metern verkauft. Wo ist dieses Geld geblieben?“ Sie schwiegen beide. „Wohin ist dieses Geld geflossen?“ fragte Lohstett, jetzt mit einem drohenden Unterton. „Ich verstehe das alles nicht“, erwiderte Zinn schulterzuckend, „es muß ein gräßlicher Irrtum …“ Diesmal war es Gudrun Wehler, die ihn unterbrach. „Wir hatten eine Menge veruntreut“, begann sie. Sie sprach leise und hastig, als fürchte sie, nicht durchzuhalten, bis alles ausgesprochen war. „Es stand eine Kontrollinventur ins Haus, die Herr Dannhoff leiten sollte. Wir wußten, daß Dannhoff sehr streng war, und wollten unser Manko aufheben, wenigstens sehr klein halten, damit es keinen Grund für eine Tiefenprüfung gäbe. Dazu haben wir das Geld verwendet – bis auf die Summe, die uns als Rabatt gewährt worden war.“ „Sonst haben Sie von diesem Gewinn für sich nichts abgezweigt?“ fragte Lohstett skeptisch. „Nein.“ „Sie können sich setzen, Angeklagte. Herr Staatsanwalt, haben Sie noch Fragen an den Zeugen?“ „Eine einzige. – Herr Zinn, sind Sie sich darüber klar, daß hier Dinge zur Sprache kommen, für die Sie sich verantworten müssen?“ Da geschah, was Gudrun Wehler nie für möglich gehalten hätte: Anton Zinn verlor die Nerven. „Wegen dieser Trine“, schrie er, „wollen Sie mich verhaften? Was habe ich mit deren Schweinereien zu tun? Nichts, sage ich Ihnen, nichts! Die versucht, ihren Kopf aus der 118
Schlinge zu ziehen, indem sie mich beschuldigt! Deswegen soll ich mich verantworten?“ Er wischte sich mit dem Jackenärmel den Schweiß von der Stirn. „Na los doch! Los doch! Verhaften Sie mich!“ Gudrun Wehler schlug die Hände vors Gesicht und weinte. „Nehmen Sie zu Protokoll“, sagte Lohstett ruhig, aber betont deutlich zur Schreiberin, „daß der Zeuge Anton Zinn um elf Uhr dreißig entlassen wurde. Die Beweisaufnahme ist damit geschlossen. Wir setzen die Verhandlung morgen früh um acht Uhr mit den Plädoyers der Anwälte fort.“ Den Kopf gesenkt, ging Anton Zinn aus dem Saal.
2. Während Astrid Funke noch im Gerichtssaal saß, klingelte Oberleutnant Simosch an Zinns Wohnungstür. Frau Zinn bat ihn ins Zimmer. Simosch nannte ihr ein Datum und fragte, ob sie sich erinnere, wo ihr Mann an jenem Abend gewesen sei. „Natürlich erinnere ich mich“, sagte die Frau, „das war doch der zweite Verhandlungstag gegen diese Frau Wehler. Mein Mann war als Zeuge geladen, kam aber mit der Nachricht zurück, die Verhandlung wäre verschoben worden. Er ist dann gleich ins Kaufhaus gefahren.“ „Hat er Ihnen erzählt, weshalb die Verhandlung nicht stattfand?“ „Ein gewisser Dannhoff, sagte er, sei nicht erschienen. Am gleichen Abend erzählte er, man habe eben diesen Dannhoff tot im Lager des Warenhauses gefunden und die Polizei vermute, es sei nicht mit rechten Dingen zugegangen.“ „Sie haben das Datum nicht beachtet, Frau Zinn. Sie 119
sprechen von dem Tag, an dem wir Dannhoff gefunden haben. Ich möchte aber wissen, wo Ihr Mann am Abend zuvor gewesen ist.“ „Da fragen Sie ihn am besten selbst. Ich kann nur sagen, daß er nicht zu Hause war.“ „Hm. Wohin geht er denn gewöhnlich, wenn er das Haus verläßt?“ „Ich weiß nicht. Ich kümmere mich nicht darum.“ „Frau Zinn, begreifen Sie doch, es geht um das Alibi Ihres Mannes für den Abend, an dem Herr Dannhoff umgekommen ist.“ Sie zögerte noch ein Weilchen, sagte dann aber mit fester Stimme: „Es kann sein, daß er eine seiner Freundinnen besucht hat.“ „Sie – kennen diese Frauen?“ „Mir sind zwei Namen bekannt. Ines Schenk und Birgit Rotter. Adressen weiß ich nicht.“ „Ich danke Ihnen. Sagen Sie, hat Ihr Mann sich mit Ihnen über Frau Wehlers Vergehen und die Unterschlagungen im Warenhaus unterhalten?“ „Unterhalten?“ fragte sie zurück. „Na, sagen wir, er hat mich im Telegrammstil davon unterrichtet.“ „Ist Ihnen in letzter Zeit irgend etwas aufgefallen …“ „Herr Oberleutnant“, unterbrach sie ihn resolut, „ich habe am liebsten, wenn man ungeschminkt mit mir redet. Sie wollen wissen, ob Anton in diese Affäre verwickelt ist, und Sie haben den Verdacht, er könnte etwas mit dem Tod von diesem Dannhoff zu tun haben.“ „Und was wissen Sie darüber?“ Simosch hatte Mühe, seine Verblüffung nicht zu zeigen. „Nichts weiß ich. Aber ich würde ihm zutrauen, den Hagedorn oder die Buchhaltung oder sonstwen zu beschwindeln, um sich Geld zu beschaffen, nur – einen Menschen umzubringen, das hat er nicht drauf. Dazu ist er einfach zu feige.“ „So schätzen Sie ihn ein. Man kann sich in einem 120
Menschen täuschen, Frau Zinn. Auch in einem Ehepartner.“ Die Frau, die so unbeteiligt über ihren Mann sprach, als handele es sich um einen Fremden, meinte: „Mir kann der Anton nichts vormachen. Darauf dürfen Sie sich verlassen.“ Simosch war geneigt, ihr zu glauben. Gewiß gehörte sie zu den wenigen Menschen, die sich von Anton Zinn nicht überlisten ließen. „Trotzdem“, bemerkte er, „hat Ihr Mann Sie hintergangen.“ Sie zuckte die Schultern, stutzte plötzlich und fragte: „Meinen Sie die Unterschlagungen oder seine Weibergeschichten?“ „Beides.“ Sie winkte ab. „Hintergangen fühle ich mich, wenn man mir gegenüber ein doppeltes Spiel spielt. Aber Anton macht kein Hehl daraus, daß er in andere Betten kriecht. Ich kann nur darüber lachen. Wissen Sie, warum?“ Sie sah wahrhaftig belustigt aus. „Anton würde sich nie von mir trennen, weil er nicht die Kraft hat, noch einmal von vorn anzufangen. Mit einer Frau ins Bett gehen ist eins, mit ihr leben etwas anderes. Er findet so schnell keine, die ihn nimmt, wie ich ihn zu nehmen weiß. Ich bin großzügig in allem, was er außer Haus treibt, und streng, was uns hier betrifft. Ich achte darauf, daß er die Kinder und mich nicht vernachlässigt und dafür sorgt, daß wir ein gutes Auskommen haben. Anton macht den Frauen allerhand vor und fühlt sich bestätigt, wenn sie sich einwickeln lassen, aber er erkennt sie nicht als Partner an, weil sie nicht genügend Verstand besitzen, ihn zu durchschauen. – Was die Unterschlagungen betrifft …“ Ihre Miene wurde ernst und sie klopfte ein Stakkato auf die Tischplatte. „Wenn er wirklich so etwas getan hat, muß er dafür geradestehen. Jedoch alles, was sich in unserem Haushalt befindet, ist ehrlich erworben. Anders weiß ich es nicht. Schließlich 121
kriegt Anton ein anständiges Gehalt, und ich verdiene auch.“ Simosch ließ seinen Blick durch das Wohnzimmer gleiten und stellte fest, daß vom Teppich über Antiquitäten bis zum Farbfernseher alles vorhanden war, was der Bequemlichkeit diente und Wohlstand auswies. Trotzdem hatte Anton Zinn wohl nur einen verhältnismäßig geringen Teil der unterschlagenen Gelder hier investiert. Vermutlich gab er große Summen außerhalb des Hauses aus. Simosch merkte sich den Namen Ines Schenk, den Frau Zinn genannt hatte. „Ich fühle mich auch durch diese Geschichte nicht hintergangen“, bekannte sie weiter, „denn es hat mich nie interessiert, was Anton als stellvertretender Warenhausdirektor treibt.“ „Dann dürfen Sie auf einiges gefaßt sein, Frau Zinn.“ Simosch erhob sich. „Es ist möglich, daß meine Kollegen oder ich wiederkommen müssen.“ Sie nickte heftig wie jemand, der einer Abmachung zustimmt. „Und ich kann nur wiederholen, Sie sind auf der falschen Fährte, wenn Sie glauben, mein Mann habe etwas mit dem Tod dieses Herrn Dannhoff zu tun.“ Der Oberleutnant ging schweigend zur Tür, verabschiedete sich kurz und betrat den Fahrstuhl. Auf der Straße kreisten seine Gedanken noch immer um Anton Zinn und dessen resolute Ehefrau. Er war nicht sicher, ob sie ihn aus Überzeugung oder aus Berechnung darauf hingewiesen hatte, daß ihr Mann zu feige sei, einen Menschen zu töten. In einer kleinen Kaffeestube dicht neben der „Hochzeitskutsche“, traf er sich mit Leutnant Funke, ließ sich von Gudrun Wehlers Verhalten und Anton Zinns Auftritt vor Gericht berichten. „Zinn war in der Nacht, als Dannhoff umkam, nicht zu Hause“, teilte er ihr mit. „Ich muß ihm noch ein paar Fragen stellen.“ 122
„Und ich seiner Sekretärin“, erklärte Astrid. „Erledigen wir’s gemeinsam?“ Simosch nickte, sie gingen hinüber zum Warenhaus. Im Büro saß Doris Schmittchen, geschminkt wie vor einem Bühnenauftritt, mit großzügig ausgeschnittenem Kleid. Sie heftete Blätter in einen Ordner und sagte freundlich zu den Kriminalisten: „Herrn Zinn finden Sie im Nebenzimmer.“ Astrid bat sie, nicht wegzugehen, da auch sie einige Fragen beantworten müsse. Anton Zinn war im Vergleich zu seinem Benehmen vor Gericht ruhig und beherrscht, doch längst nicht so selbstsicher, wie man es von ihm gewohnt war. Als die Kriminalisten eintraten, sprang er auf und bot ihnen Stühle an. Seine Gesten wirkten fahrig. „Na, was sagt die Tiefenprüfung?“ Er versuchte ein Lächeln. Es sah aus, als wolle er zu greinen beginnen. „Sie werden es rechtzeitig erfahren“, entgegnete Leutnant Funke. „Im Augenblick möchte ich von Ihnen wissen, wo Sie in der Nacht gewesen sind, in der Joachim Dannhoff umkam“, begann Simosch. „Zu Hause waren Sie jedenfalls nicht.“ Zinn holte tief und hörbar Atem und seufzte. „Sie wollen ein Alibi von mir. Das heißt …“ „Ich habe Ihnen eine Frage gestellt“, unterbrach Simosch, „und erwarte eine präzise, klare Antwort.“ Anton Zinn schien sich zu einem Entschluß durchzuringen. „Meine Ehe“, bekannte er mit gespielter Scham, „sie verläuft seit Jahren in recht ausgetretenen Geleisen.“ Er breitete die Arme aus und schlug sich gegen die Brust, natürlich ohne sich weh zu tun. „Verurteilen Sie mich, aber – ich habe ein Verhältnis mit einer anderen Frau.“ Seine Arme sanken wie kraftlos herab. Das Theaterspielen ist ihm zur zweiten Natur gewor123
den, dachte Simosch. Er fragte: „Also, wo sind Sie gewesen?“ „Bei – Frau – Birgit Rotter“, brachte Zinn stockend heraus, Oberleutnant Simosch warf Astrid Funke einen bittenden Blick zu, sie ging ins Vorzimmer. „Frau Rotter ist verheiratet“, stellte Simosch fest. „Waren Sie bei ihr zu Hause?“ Kopfschüttelnd gestand Anton Zinn, daß sie fast die ganze Nacht in Frau Rotters Büro im Kaufhaus „Chic und Charme“ zugebracht hätten. Leutnant Funke kam zurück. „Frau Rotter hat am Telefon bestätigt, daß Herr Zinn in jener Nacht bei ihr gewesen ist, und zwar in ihrem Büro.“ Zinn seufzte. „Hoffentlich muß ihr Mann nicht erfahren …!“ Niemand antwortete ihm. „Da ist noch eine Sache, über die ich gern Klarheit hätte“, sagte Leutnant Funke. „Frau Wehler hat am Tage vor Dannhoffs Tod den Kraftfahrer Trebbin mit seinem LKW im Hof von ‚Chic und Charme‘ gesehen. Sie und Frau Rotter bestreiten aber, daß er dort war. Warum?“ „Unsere Frau Wehler“, sagte Anton Zinn mit trauriger Stimme, „scheint in letzter Zeit ein bißchen viel zu sehen, liebe Frau Leutnant.“ Jetzt kommt er wieder ins alte Fahrwasser, dachte Astrid Funke. Da sie schwieg, fuhr Zinn fort: „Ich kann ja verstehen, daß Frau Wehler mit den Nerven tüchtig herunter ist, die Gerichtsverhandlung, ihr kranker Mann …“ „War Herr Trebbin an jenem Tag im Warenhaus ‚Chic und Charme‘?“ Astrid Funke setzte dem ablenkenden Lamentieren ein Ende. „Hat er den LKW dort stehenlassen und ist in Ihrem Wagen mitgefahren?“ „Oh, was hat man Ihnen da nur erzählt“, entgegnete Anton Zinn bekümmert. „Nichts weiß ich von alledem. 124
Gewiß hat sich Frau Wehler getäuscht. Fragen Sie doch Frau Rotter oder den Kollegen Trebbin selbst …“ Astrid Funke erhob sich. „Ich danke Ihnen. Das war alles – für heute.“ Unter der Tür flüsterte Simosch ihr zu: „Die halten zusammen wie Pech und Schwefel, aber wir schaffen es trotzdem. Sollen sie sich bis dahin getrost schlau und sicher fühlen.“ Ganz im Gegensatz zu ihrer Aufmachung stand Doris Schmittchens Verhalten in dem Gespräch mit den Kriminalisten. „Sie geben an“, begann Oberleutnant Simosch, „an jenem Abend pünktlich nach Hause gegangen und zu Hause geblieben zu sein.“ „So war es“, bestätigte die Sekretärin. „Eigentlich wollten wir ins Kino gehen, mein Freund und ich, aber wegen des Regenwetters haben wir unseren Plan aufgegeben.“ „Verließen Herr Hagedorn und Herr Zinn nach Feierabend ebenfalls das Haus?“ „Mit Herrn Hagedorn bin ich im Fahrstuhl zum Erdgeschoß gefahren. Er ging zur Garage, um seinen Wagen zu holen. Herr Zinn ist am Nachmittag nach der Gerichtsverhandlung nicht ins Warenhaus zurückgekommen.“ Simosch nickte. Seine Gedanken schweiften zu Gudrun Wehler, die damals Anton Zinn und Birgit Rotter im Keller belauscht und später angeblich Zinn mit Dieter Trebbin hatte davonfahren sehen. „Kennen Sie Herrn Trebbin?“ fragte er weiter. „Natürlich. Das ist unser Kraftfahrer.“ „Hatte er an jenem Nachmittag einen Fahrauftrag für das Warenhaus ‚Chic und Charme‘?“ „Das läßt sich nachprüfen.“ Doris Schmittchen blätterte in einem Buch und griff schließlich zum Telefonhörer. „Augenblick bitte. Ich möchte ganz sichergehen.“ 125
Als sie das Gespräch beendet und den Hörer aufgelegt hatte, erklärte sie: „Er hatte den Auftrag, von der GHG Bettwäsche abzuholen. Um vierzehn Uhr war er zurück. Danach lag nichts mehr für ihn vor – zumindest wurde nichts eingetragen.“ „Wissen Sie, wo er sich nach vierzehn Uhr aufgehalten hat?“ Doris Schmittchen schüttelte den Kopf. „Das tut mir leid.“ „Fräulein Schmittchen“, schaltete sich Leutnant Funke ein. „Vor Gericht hat Frau Wehler von den eigenartigen Verkäufen erzählt, die in diesem Büro abgewickelt wurden, während sie vertretungsweise hier gearbeitet hatte. Sie werden darüber gewiß noch mehr und Genaueres berichten können.“ „Nein“, entgegnete Doris Schmittchen ruhig. „Mehr als Gudrun Wehler weiß ich auch nicht.“ „Haben Sie nach solchen Geschäftsabschlüssen Kaffee gekocht und Kuchen gekauft?“ „Das muß ich fast täglich tun. Das ist sozusagen ein Teil meiner Arbeit. Herr Hagedorn ißt lieber drei Stück Kuchen als einen Bissen Fleisch.“ „Frau Wehler bekam bis zu sechzig Mark für diese Kucheneinkäufe und brauchte das Geld nicht abzurechnen. Wie ist das bei Ihnen?“ Doris Schmittchen lachte. Es klang weder provozierend noch verlegen. „Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen, auf Bestechungsgelder für eine Sekretärin, nicht wahr? Aber Sie täuschen sich. Ich habe nichts bekommen. Wozu auch? Ich konnte doch nicht nachprüfen, ob die Ware, die man den Kunden hier vorlegte und mitgab, auch abgerechnet wurde. Das war Frau Wehlers Bier, sie war Hauptkassiererin. Für mich war die Angelegenheit stets in Ordnung.“ „Sind Ihnen denn nie Bedenken gekommen?“ fragte Simosch. 126
„Bedenken?“ wiederholte sie. „Weshalb? Es hat doch nie Beanstandungen gegeben.“ „Sie hätten sich ja einmal fragen können, ob bei diesen Geschäftsabschlüssen außerhalb der Verkaufsräume wirklich alles ganz koscher zugeht.“ „Lieber Herr Oberleutnant …“ Doris Schmittchen wandte sich Simosch zu und blickte ihm unbefangen in die Augen. Die Lachfältchen um ihren Mund milderten den Ernst ihrer Worte auf eine sympathische Weise. „Ich bin seit sechs Jahren Sekretärin, und ich bin es mit Erfolg. Warum wohl? Nun, ich habe es mir zum Gebot gemacht, meine Vorgesetzten für untadelige Geschäftsleute zu halten, rein wie frischgefallener Schnee. Daran habe ich nie einen Zweifel aufkommen lassen. Und mit dieser Einstellung verrichte ich jede Arbeit, die man mir aufträgt. Nach Dienstschluß gehe ich nach Hause, steige in die Badewanne, wasche mir den Bürostaub vom Leib und die Schminke vom Gesicht. Dann verbringe ich den Abend mit meinem Freund, einem älteren Angestellten, nicht hübsch und etwas bieder. Ich weiß nicht einmal genau, ob ich ihn liebe. Aber er gibt mir Sicherheit. Er bewahrt mich davor, den Kopf zu verlieren und geschäftliche Angelegenheiten mit privaten zu vermischen oder eine Männerbekanntschaft nach der anderen zu schließen und mich seelisch aufzureiben.“ „Ich habe keinen Grund, Ihnen nicht zu glauben“, sagte Simosch, „obwohl mir das nicht leichtfällt.“ „Warum? Weil ich hier so aufgeputzt sitze, daß mich Frau Wehler einmal Flittchen genannt hat? Wenn ein Chemiker ins Labor geht, zieht er einen weißen Kittel über, und ein Autoschlosser trägt seinen Overall. Das hier …“, sie fuhr mit dem Finger über ihren grellgeschminkten Mund und warf lächelnd einen Blick auf das Dekollete, „das ist meine Arbeitskleidung. Ich streife sie ab, sobald ich Feierabend habe.“ „Bis jetzt ist mir in diesem Hause noch niemand be127
gegnet, der von Herrn Zinn nicht beschenkt oder bestochen worden wäre, sobald er einen Blick hinter die Kulissen geworfen hat“, stellte Astrid Funke skeptisch fest, „und Sie sitzen hinter den Kulissen …“ „Vielleicht liegt das daran, daß sich die meisten falsch verhalten. Sie zeigen Herrn Zinn gegenüber entweder Angst, oder sie engagieren sich. Gudrun Wehler zum Beispiel hat den Fehler gemacht, für Anton Zinn zu schwärmen, sich innerlich an ihn zu binden und damit von ihm abhängig zu werden. Ein bißchen mehr Selbstbewußtsein – schließlich stellte sie als Hauptkassiererin doch etwas dar in diesem Hause –, und er hätte sie nicht vor seinen Karren spannen können.“ „Vielleicht hatte sie auch Angst, ihren Posten zu verlieren“, warf Leutnant Funke ein, „selbst Herr Quitte, der Hauptbuchhalter, fand keine Möglichkeit, gegen Anton Zinn vorzugehen, ohne befürchten zu müssen, er würde weggelobt.“ „Ich spreche nicht davon, gegen jemanden vorzugehen, sondern sich herauszuhalten. Irgendwann fährt die Karre ja doch in den Dreck, das muß man vor Augen haben – und aufpassen, daß man dann nicht mit drinsitzt.“ „Fräulein Schmittchen“, sagte Astrid Funke eindringlich, „die Tiefenprüfung, die zur Zeit in diesem Hause stattfindet, wird alles, auch die geringfügigste Korruption an den Tag bringen. Wollen Sie wirklich auf Ihrer Aussage beharren, niemals von der Direktion eine Vergütung erhalten zu haben, die Sie als Schweigegeld auslegen konnten? Schließlich waren Sie am ehesten in der Lage, diesen Leuten in die Karten zu gucken.“ „Ich kann mit gutem Gewissen bei meiner Aussage bleiben“, entgegnete Doris Schmittchen lächelnd. „Ich habe mich nie so benommen, daß sich jemand animiert fühlte, mir etwas zuzustecken. Meine Prämien haben auch nie eine angemessene Höhe überschritten. Mir soll 128
es recht sein, wenn die Tiefenprüfung das alles an den Tag bringt. – Zweimal im Jahr allerdings, zu Weihnachten und zu meinem Geburtstag, habe ich zu Hause eine Party arrangiert und die Direktion dazu eingeladen. Dann waren die Herren mit Aufmerksamkeiten nicht gerade kleinlich. Aber Geburtstagsgeschenke, die ich von Gästen in meiner Wohnung erhalte, sind schließlich Privatangelegenheiten und haben nicht das geringste mit meiner Arbeitsstelle zu tun.“ Sie wandte sich an Simosch, und nun kokettierte sie doch ein wenig, als sie augenzwinkernd sagte: „Nach Dienstschluß lege ich mich gern auf die Couch und lese einen spannenden Kriminalroman. Aber ich habe etwas dagegen, dergleichen zu erleben.“ Astrid Funke war im Verlaufe dieses Gesprächs immer sicherer geworden, daß die junge Frau es verstanden hatte, sich auf ihre Art aus dem Geflecht von Betrug und Korruption herauszuhalten. Doch sie konnte ihr nicht gestatten, sich auch jetzt zurückzuziehen, wenn es darum ging, Verstöße der anderen ans Licht zu bringen. „Schon am ersten Tag der Tiefenprüfung ist man auf beträchtliche Unkorrektheiten gestoßen“, sagte sie, „vieles deutet darauf hin, daß der Initiator dafür Herr Zinn gewesen ist. Sie kennen ihn seit langem. Was halten Sie von ihm? Aber wiederholen Sie bitte nicht, er sei Ihr Vorgesetzter und deshalb für Sie ein Mann mit weißer Weste.“ „Trotzdem weiß ich nicht viel über ihn“, antwortete Doris Schmittchen bedächtig. „Wenn Ihre Nachforschungen ihn als Scharlatan ausweisen, so wird das schon stimmen. Nur – unumschränkte Macht hat auch er nicht in diesem Hause. Anton Zinn könnte nicht Anton Zinn sein, wenn es keinen Michael Hagedorn gäbe. Der aber hat auch wieder jemanden über sich …“ „Sie meinen, gewisse Fehlleistungen wären höheren Orts bekannt gewesen und geduldet worden?“ 129
„Ich meine gar nichts. Über solche Dinge zu grübeln war mir stets zu riskant – wie ich Ihnen zu erklären versucht habe. Es hat mich nur gewundert, daß die Direktion zum Beispiel immer informiert war, wann eine Kontrolle ins Haus stand.“ „Haben Sie den Wirtschaftsprüfer Joachim Dannhoff gekannt“, fragte Simosch, „oder haben Sie nur davon gehört, daß er in diesem Hause prüft?“ „Er kam mehrmals ins Direktionsbüro und hat sich auch mit mir unterhalten“, antwortete Doris Schmittchen, „und, falls Sie das auch noch interessiert, der wäre ein Mann nach meinem Geschmack gewesen: hübsch und clever.“ „Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht, daß er am Abend vor dem zweiten Verhandlungstag, an dem er als Zeuge auftreten sollte, auf mysteriöse Weise umgekommen ist? Ausgerechnet in diesem Hause? Hat er angedeutet, was ihn für seine Ermittlungen besonders interessierte, oder Ihnen diesbezüglich Fragen gestellt?“ „Er ließ nichts durchblicken, was das Ergebnis seiner Kontrollen betraf. Er war verschwiegen und mußte es wohl sein, um Erfolg zu haben. Als ich von seinem Tod erfuhr, war ich fix und fertig. Falls da jemand nachgeholfen hat, wünsche ich, daß Sie ihn finden. Aber ich kann Ihnen dabei nicht helfen.“
3. Sie hatten also Tips erhalten, wann eine Kontrolle zu erwarten war. Oberleutnant Simosch und Astrid Funke beratschlagten, wie sie diesen Tipgeber überführen und herausfinden könnten, ob er an Dannhoffs Tod mitschuldig war. „Vielleicht kann uns Frau Wehler weiterhelfen“, meinte Astrid, „ich werde sie noch einmal aufsuchen.“ 130
„Hoffentlich kommt Ihnen Anton Zinn nicht wieder zuvor“, unkte Simosch. „Ich habe übrigens Unterleutnant Meixner losgeschickt, Zinns Alibi für jene Nacht zu überprüfen – sollte da irgend etwas nicht stimmen, beantrage ich seine vorläufige Festnahme. Solange Zinn auf freiem Fuße ist, beeinflußt er Leute gegen uns und verschleiert Sachverhalte.“ „Nach der heutigen Verhandlung und dem, was die Tiefenprüfung inzwischen ausgewiesen hat, schätze ich, rennen wir bei Martin Kabelitz offene Türen ein, wenn wir Zinns Haftbefehl beantragen. In der ‚Hochzeitskutsche‘ sind große Summen als Repräsentationsgelder oder als Diverse verbucht worden. Ich vermute, das sind die Beträge, die in die Privatkasse von Anton Zinn und dessen Helfershelfern geflossen sind. Leider enthalten die Bücher keinerlei Namen – doch das war auch nicht zu erwarten.“ „In seine Wohnung steckt Zinn nicht übermäßig viel Geld“, erwiderte Simosch. „Er wird es mit Frau Rotter verbrauchen oder mit dieser Ines Schenk, von der seine Frau gesprochen hat.“ „Die ist Sekretärin der Geschäftsleitung im Haus ‚Jugendmode‘. Soviel habe ich schon herausbekommen. Ich muß mich unbedingt mit ihr unterhalten.“ „Also Arbeitsteilung“, schlug Simosch mit einem Blick zur Uhr vor. „Ich bin für den Nachmittag bei Direktor Hagedorn angemeldet. Er ist krank geschrieben. Ich nehme an, Zinn möchte ihn für die Zeit der Tiefenprüfung aus dem Verkehr gezogen wissen.“ „Ich fahre zu ‚Chic und Charme‘, um mit Frau Wehler zu sprechen, anschließend suche ich diese Ines Schenk auf.“ „Treffen wir uns gegen achtzehn Uhr zum Erfahrungsaustausch?“ Simosch nahm eine schmale Aktentasche vom Schreibtisch und erhob sich. „Falls ich es nicht schaffe, rufe ich Sie hier an“, ver131
sprach Leutnant Funke. „Es wäre mir lieb, wenn ich heut mal vor zwanzig Uhr zu Hause sein könnte. Meine Tochter ist viel zu oft allein.“ „Sie haben eine Tochter?“ fragte Simosch ungläubig. Das Lächeln, das er Astrid zuwarf, fiel wehmütig aus. „Ich möchte Ihnen gern etwas sagen, das meine Bewunderung ausdrückt, aber ich fürchte, es könnte banal klingen.“ „Also gehen wir lieber an die Arbeit, damit es für uns beide heute abend nicht allzu spät wird.“ Simosch hielt ihr die Tür auf, doch sie konnte nicht hinausgehen. Unterleutnant Meixner stand da und rief: „Gut, daß Sie noch hier sind.“ Er stürmte ins Zimmer. „Zinn hat gelogen.“ Ehe Oberleutnant Simosch etwas sagen konnte, blätterte Meixner in seinem Notizbuch und sprach dabei weiter. „Er hat überhaupt kein Alibi für jenen Abend.“ „Wieso?“ Astrid Funke stutzte. „Frau Rotter hat doch bestätigt, daß er bei ihr im Büro war.“ „Das haben sich die beiden so zurechtgelegt. Die Wahrheit ist, daß Frau Rotter zu Hause bei ihrem kranken Mann war. Das bestätigt außer ihrer Familie auch der Nachtarzt, den sie rufen mußte.“ Von dem Haus in der Mewesstraße bröckelte der Putz. Das Nachbarhaus, ebenso alt und kastenförmig, war eingerüstet, es sollte eine neue Fassade erhalten. Als Oberleutnant Simosch die Haustür aufklinkte, wurde im ersten Stockwerk ein Fenster geöffnet, eine Frau schimpfte. „Verfluchter Dreck! Man kann kein Fenster mehr aufmachen, ohne einzustauben.“ Sie schüttelte ein Tischtuch aus. „Dreck drinnen, Dreck draußen“, sagte sie, es klang deprimiert, „ein wahres Drecksleben.“ Das Fenster schlug zu. Simosch betrat den Flur, las an der Haustafel die Namen der Mieter und stieg die Treppe hoch. Michael Ha132
gedorn wohnte in der ersten Etage. Der Oberleutnant klingelte. Eine Frau, schlank, dunkelhaarig, mit zartem Gesicht, ein wenig verbittert, öffnete ihm. An ihrer Stimme erkannte er, daß sie die Person gewesen war, die sich eben am Fenster über das Drecksleben beschwert hatte. Der Oberleutnant entschuldigte sich für sein Zuspätkommen, doch Frau Hagedorn winkte verlegen ab. „Ich habe ihm gesagt, er soll warten, aber es hat ihm zu lange gedauert. Er wurde ganz kribbelig, und dann …“ Sie zuckte die Schultern und blickte Simosch ratlos an. „Ist Ihr Mann weggegangen?“ fragte er enttäuscht. „Er ist …“ Sie senkte den Kopf und schwieg. Vor Jahren, dachte Simosch, muß sie sehr hübsch gewesen sein. Jetzt sieht sie aus wie jemand, der vor Kummer frühzeitig alt geworden ist. „Sagen Sie mir, Frau Hagedorn, wo sich Ihr Mann befindet.“ „Er ist nicht weggegangen. Nur – weggetreten sozusagen.“ Sie ging ins Nebenzimmer, Simosch folgte ihr. Der Direktor der „Hochzeitskutsche“ lag rücklings quer über einer Doppelliege, den Mund leicht geöffnet. Er schnarchte. Im Zimmer roch es nach Alkohol. Auf dem Teewagen neben der Liege stand eine Flasche „Grand mit dreien“. Sie war leer bis auf den letzten Tropfen. Ein Kognakglas war nirgends zu sehen. Simosch rüttelte den Mann und rief ihn beim Namen. Michael Hagedorn atmete heftig und unregelmäßig, dann wurde sein Schnarchen wieder rhythmisch. „Es hat keinen Sinn“, sagte die Frau, „er ist wirklich weggetreten.“ „Wegen zwanzig Minuten Verspätung“, Simosch schüttelte den Kopf, „das darf doch nicht wahr sein.“ „Er hatte natürlich schon vorher angefangen“, erklärte Frau Hagedorn. „Zwei Schluck gegen die Aufregung, zwei Schluck gegen den Ärger, zwei Schluck, weil er Mut brauchte für die Unterhaltung mit Ihnen, den Rest, während er gewartet hat.“ 133
„Und das gleich so aus der Flasche?“ Sie nickte. „Früher hat er noch Gläser benutzt, aber auf diesen Luxus verzichtet er seit einiger Zeit. Er hat sogar eine Theorie dafür: Ein Glas sei wie ein Zwischenhändler, an dem bliebe immer etwas hängen. Besser sei, von Mann zu Mann – von Flasche zu Flasche wäre wohl treffender.“ Verächtlich blickte sie auf den leise schnarchenden Michael Hagedorn herab. „Kommen Sie wieder nach nebenan“, forderte sie Simosch auf. Sie nahmen in bequemen, hochlehnigen Sesseln Platz. Die Frau rauchte. „Hat er das öfter?“ erkundigte sich Simosch. „Ich meine, daß er in einer Krisensituation zur Flasche greift?“ „Ich weiß nicht, ob er nur in Krisensituationen trinkt, doch wenn das der Grund ist, dann kriselt es in letzter Zeit oft bei ihm.“ „Weiß man in der ‚Hochzeitskutsche‘ davon?“ fragte Simosch. Sie zuckte resigniert die Schultern. „Dort reißt er sich zusammen, vor der Sekretärin, vor dem Personal, mit dem er zu tun hat. Er richtet es wohl so ein, daß nicht viele an ihn herankommen. Nur sein Stellvertreter, der weiß natürlich Bescheid.“ „Und?“ Sie lachte. Selbst dieses kleine Lachen klang verbittert. „Der macht ihn zu einem Popanz, den man mit Auszeichnungen behängt und vor dem man den Hut zieht.“ Simosch ahnte, worauf sie hinauswollte, stellte sich aber naiv. „Immerhin“, gab er zu bedenken, „ist Ihr Mann schon zum zweiten Mal als bester Kaufhausleiter geehrt worden.“ „Er wird bald die Ehre haben, einen guten Häftling abzugeben. – Das sind übrigens seine eigenen Worte. Seit irgendwelche Wirtschaftsprüfer die ‚Hochzeitskutsche‘ auseinandernehmen, jammert er mir das jeden Abend vor.“ 134
„Hat er in diesem Zusammenhang den Namen Dannhoff genannt?“ „Ja, natürlich. Mit diesem Dannhoff fing es doch an, daß er sich vor Angst jeden Abend besoffen hat. Getrunken hatte er vorher schon, aber eines Abends kam er angewimmert, da wäre ein Prüfer aufgetaucht, dem sei auch der Zinn nicht gewachsen, und nun müsse man damit rechnen, daß die ganze Sache auffliege. Schuld sei der Zinn, der Abenteurer, der Ganove. Ich wußte nicht, was er meinte, und riet ihm, wenn der Zinn ein Ganove sei, müsse er den eben ’rausfeuern, aber er jammerte, er stecke selbst zu tief drin. Dann solle er erst recht sehen, daß er schleunigst ’rauskomme, habe ich ihm geraten. Einen Schlußstrich solle er ziehen, sich wieder auf die eigene Kraft besinnen – ein bißchen davon müsse doch noch in ihm stecken –, und wenn er es hinter sich gebracht habe, solle er neu anfangen, wenn auch als kleiner Mann, aber als Michael Hagedorn und nicht als Anhängsel eines Anton Zinn.“ „Ihr Mann kann stolz auf Sie sein“, sagte der Oberleutnant, „nicht jede Frau würde derart vernünftig reagieren.“ „Stolz“, erwiderte sie müde, „der kann nur stolz und unnahbar tun, um seine Unsicherheit zu verbergen. Aber stolz sein, dazu gehört Charakter, und der ist ihm irgendwann zum Teufel gegangen, bei einem Problem, das er nicht lösen konnte, und einer Flasche Schnaps, die er aus Scham und Verzweiflung darüber getrunken hat.“ „Dann hat er wohl zusammen mit Anton Zinn dem Wirtschaftsprüfer die Kontrolle mächtig erschwert.“ „Soviel Aktivität traue ich ihm nicht zu“, erwiderte die Frau. „In diesen Tagen ist er abends zitternd nach Hause gekommen, hat getrunken und gebarmt, daß hoffentlich alles gut werden möge. Dann wurde seine Hauptkassiererin verhaftet und eine Tiefenprüfung angesetzt. Seit135
dem schüttet er abwechselnd Schnaps und Beruhigungstabletten in sich hinein. Eines Tages wird er von beidem etwas zuviel nehmen. Der ist bald soweit.“ Sie drückte ihre Zigarette aus und fügte leise hinzu: „Schlappschwanz, der.“ „Frau Hagedorn“, setzte Simosch behutsam an, „wie ist denn das alles so gekommen mit ihm? Ich meine, irgendwann muß er doch anders gewesen sein.“ Sie nickte. „Ich habe mir diese Frage oft gestellt, doch eine Antwort weiß ich darauf nicht. Labil war er schon immer, aber irgendwie liebenswürdig dabei. Er hatte auch Ehrgeiz – oder hat es sich zumindest eingebildet. Als die ‚Hochzeitskutsche‘ noch ein kleines Spezialgeschäft war, da hing sein Herz daran. Er hatte das Geschäftliche im Griff und hat ein Schmuckkästchen aus dem Laden gemacht. Man wurde aufmerksam auf ihn und die ‚Hochzeitskutsche‘, man investierte, vergrößerte, und Michael Hagedorn hielt mit. Aber nicht bis zum Ende, nicht mehr, als sich die ‚Hochzeitskutsche‘ zudem Warenhaus ausgewachsen hatte, das sie heute darstellt. Irgendwann vorher ist er auf der Strecke geblieben, ohne es sich selbst oder einem anderen einzugestehen. Damals muß es auch gewesen sein, daß er anfing, hin und wieder zu trinken. Der einzige, der das alles durchschaut hat, war Anton Zinn. Seitdem ist er es, der das Kaufhaus leitet. Wie, das habe ich bisher nicht geahnt. Michael muß es gewußt haben, aber energielos, wie er geworden ist, hat er nicht aufgemuckt dagegen. Er hat sich als Repräsentationsfigur vor Zinns Karren spannen lassen. Mit Erfolg für sich selbst, wie es schien. Doch dann ist dieser Dannhoff gekommen …“ Sie schwieg. „Ich hätte meine Fragen natürlich lieber Ihrem Mann gestellt“, sagte Simosch, „und ich werde das nachholen. Ich lasse ihm eine Vorladung hier. Er soll in die Dienststelle kommen. Eine letzte Frage noch, Frau Hagedorn: Wissen Sie, daß Herr Dannhoff tot ist?“ 136
„Tot?“ wiederholte sie so verständnislos, daß Simosch sicher war, sie hatte keine Ahnung davon. „Er ist unter mysteriösen Umständen in der Nacht nach dem ersten Verhandlungstag gegen die Hauptkassiererin ums Leben gekommen, und zwar im Lagerraum der ‚Hochzeitskutsche‘. Er sollte tags darauf als Zeuge gehört werden. Dabei wären bestimmt gewisse Mißstände, wie sie in diesem Warenhaus herrschen, mit zur Sprache gekommen.“ „Das ist sonderbar“, sagte sie. Sie sah blaß und verstört aus. „Davon hat Michael kein Wort erzählt.“ „Ich muß wissen, wo er in jener Nacht gewesen ist.“ „Zu Hause“, behauptete sie spontan. „Das – wissen Sie so auf Anhieb?“ „Aber, er ist an den vergangenen Abenden immer zu Hause gewesen und hat getrunken.“ Simosch glaubte ihr, nach alldem, was sie soeben über Hagedorn gesagt hatte. Doch vorsichtshalber fragte er noch: „Und Sie, Frau Hagedorn, waren Sie auch zu Hause?“ Sie stützte den Kopf in die Hände. „Nein“, murmelte sie, „ich war nicht zu Hause. Ich kann einfach nicht mehr …“ Das Warenhaus „Chic und Charme“ blieb für das Publikum geschlossen. Es wurde einer Kontrollinventur unterzogen. Leutnant Funke saß mit Gudrun Wehler in einem Espresso dem Kaufhaus gegenüber. „Ich möchte wissen“, sagte Gudrun Wehler deprimiert, „was aus Konrad wird, wenn ich ins Gefängnis komme.“ „Man wird für ihn sorgen“, erwiderte Astrid, „leider kann ich Ihnen nicht mehr als diesen Gemeinplatz sagen – und das tut mir wirklich leid. Haben Sie ihm denn alles erzählt?“ Frau Wehler nickte. „Er hat geweint. Das war wohl 137
die schlimmste Strafe für mich. Ich habe Konrad noch nie weinen sehen. Er meint, es sei alles seine Schuld gewesen, weil er mich zwar geliebt, aber nicht richtig verstanden hat. Er hat mich angefleht, bei ihm zu bleiben. – Hoffentlich dauert es nicht so lange, bis ich wieder ’rauskomme.“ Astrid Funke schwieg. Es gab nichts dazu zu sagen, außer daß Gudrun Wehler jetzt durchhalten müßte, doch das wußte sie selbst. „Weshalb wollten Sie mich sprechen?“ fragte Frau Wehler. „Sie wissen, daß in der ‚Hochzeitskutsche‘ trotz aller Unterschlagungen keine Kontrolle ein nennenswertes Manko ergab. Sie haben mir und auch dem Gericht geschildert, wie man durch Manipulationen versuchte, das Manko klein zu halten. Aber diese Manipulationen konnten erstens nicht alles decken, zweitens mußte am Tage der Kontrolle alles stimmen. Derartige Kontrollen erfolgen aber ohne Vorankündigung. In der ‚Hochzeitskutsche‘ wußte man jedoch stets vorher Bescheid, das steht inzwischen fest. Wir wissen nur noch nicht, wer die Direktion gewarnt hat.“ Frau Wehler trank ihren Kaffee aus und sagte nachdenklich: „Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Wußte Herr Quitte, der Hauptbuchhalter, nicht Bescheid?“ „Natürlich.“ Quitte scheidet aus, dachte Astrid Funke, der arbeitet mit Martin Kabelitz zusammen und hat diese Kontrollinventur erst ermöglicht. „Außerdem wissen es der Vorsitzende der Vereinigung der Warenhäuser, ein gewisser Herr Breitenbach, und sein Stellvertreter Meyer. Sind Ihnen diese Namen bekannt?“ „Ich erinnere mich besonders an den Namen Meyer. Anton Zinn sprach ihn immer mit einer gewissen – Fröhlichkeit aus. Ein Herr Meyer bekam manches zugeschickt, was nie abgerechnet wurde. Aber – es gibt viele Meiers!“ 138
„Tja, leider. – Haben Sie den Mann jemals gesehen?“ „Nein.“ Astrid winkte der Kellnerin und zahlte. „Da fällt mir noch etwas ein“, sagte Frau Wehler. „Anton Zinn nannte diesen Meyer manchmal den ‚Königsmimen‘ …“ „Ich muß dich um zwei Haftbefehle ersuchen“, sagte Astrid zu Martin Kabelitz. „Anton Zinn und Birgit Rotter.“ „Zinn, das geht klar“, erwiderte Kabelitz. „Was ist mit dieser Frau Rotter?“ Astrid berichtete, daß die Kontrolle im Warenhaus „Chic und Charme“ ein überaus großes Manko aufgedeckt habe. „Ich halte es für angebracht, die Verkaufsstellenleiterin festzunehmen, bevor sie irgend etwas verschleiern oder in die Wege leiten kann, das uns die weiteren Ermittlungen erschwert. Sie ist nicht nur Zinns Geliebte, sie macht auch trübe Geschäfte mit ihm und stellte ihm ein falsches Alibi für die Nacht aus, in der Dannhoff umkam. Außerdem …“ „Was ist außerdem?“ „Da ist noch etwas – aber ich kann es noch nicht in den rechten Zusammenhang bringen mit allem, was geschehen ist. Ich möchte es noch in Ruhe überdenken, bevor ich es dir auf den Tisch packe.“ „Astrid“, Kabelitz’ Stimme klang besorgt, „mach nicht den gleichen Fehler wie Dannhoff und behalte etwas für dich – bis es zu spät ist.“ „Ich werde mit dem Oberleutnant darüber sprechen.“ Der Staatsanwalt schrieb die Haftbefehle für Anton Zinn und Birgit Rotter und die Durchsuchungsanordnungen aus. Astrid Funke telefonierte inzwischen mit Oberleutnant Simosch, sie verabredeten sich in einer Seitenstraße nahe der „Hochzeitskutsche“. Bevor sie sich von Martin Kabelitz verabschiedete, sagte sie: „Der 139
Hauptbuchhalter Richard Quitte hat dir doch einmal von einer Kollegin aus der Schuhabteilung erzählt, die sich bei der Leitung über Anton Zinn beschwert hatte.“ „Und als sie ins Kaufhaus zurückkam, wußte Zinn schon Bescheid. Meinst du die Geschichte?“ „Ja. Weißt du, zu wem die Frau gegangen ist?“ „Zur Leitung der Vereinigung …“ „Das ist mir klar“, unterbrach Astrid ungeduldig. „Ich muß wissen, mit wem sie dort gesprochen hat.“ „Das hat mich damals auch interessiert, aber sie wußte nicht, ob es der Chef oder sein Stellvertreter war, den sie vor sich hatte. Sie sagte, es sei ein Kleiderschrank von einem Mann gewesen, mit tiefer Stimme und majestätischem Gehabe.“ „Martin, du bist ein Schatz.“ „Schade“, entgegnete Kabelitz, „daß du das nur dienstlich meinst.“ Astrid fuhr zur „Hochzeitskutsche“, lief auf den Funkwagen zu, der in der Seitenstraße parkte, und händigte Oberleutnant Simosch den Haftbefehl für Anton Zinn aus. Gemeinsam betraten sie das Warenhaus und fuhren zu den Büroräumen hinauf. Anton Zinn ließ sich weder Überraschung noch Erregung anmerken, als Simosch den Haftbefehl auf den Schreibtisch legte. „Tun Sie Ihre Pflicht, und begehen Sie diesen folgenschweren Irrtum“, sagte er mitleidig. Dann ging er, von den Kriminalisten begleitet, aus dem Zimmer, nickte Doris Schmittchen zu, grüßte im Fahrstuhl freundlich Kollegen und benahm sich nicht anders, als ginge er mit zwei Bekannten auf eine Tasse Kaffee aus dem Haus. Unterleutnant Meixner nahm ihn in Empfang und schob ihn in den Streifenwagen. Die Haushälterin erwies sich als hartnäckig. Sie beharrte darauf, daß kein Mensch zu diesem Hause Zutritt habe, 140
solange der Künstler anwesend sei. Der Künstler war ein Bildhauer und Modellierer von Kleinplastiken, Familie Meyer kaufte ihm hin und wieder eine seiner Schöpfungen ab. Astrid Funke und Simosch ließen sich jedoch nicht abweisen. Sie versprachen, die Verhandlungen nicht zu stören, sondern auf der Bank unter dem Walnußbaum zu warten, bis Herr Meyer seinen Gast verabschiedet habe. Die Haushälterin warf ihnen noch einen warnenden Blick zu und verschwand endlich. „Dort hinter der Hecke muß er sein“, flüsterte Simosch, „kommen Sie.“ Sie schlichen so nahe wie möglich an die Weißdornhecke heran, die einen kleinen Platz umschloß. In der Mitte stand ein runder Tisch mit Marmorplatte, davor eine Steinbank, mit Schaumgummikissen belegt. Die Blumenecke bestand aus Pflanzenkübeln, über deren Rand bunte Sommerblumen wucherten. Das ganze wirkte attraktiv und freundlich. Nils Meyer und seine Frau saßen auf der Bank und betrachteten zwei Plastiken. „Wenn Sie im Augenblick keinen Zugang zu dieser Plastik finden“, sagte der Bildhauer eben, zu dem Hausherrn gewandt, „so kann sich das morgen, ach was, schon in einigen Stunden geändert haben. Man muß innerlich bereit sein, die Botschaft des Künstlers aufzunehmen …“ Nils Meyer erhob sich und trat an den Tisch. Er war ein beinahe zwei Meter großer, dickleibiger Mann und hatte ein breites Gesicht mit Tränensäcken unter den Augen. „Ich habe Ihre Botschaft sehr wohl vernommen“, sagte er, „Sie wollen für dieses Dingsda“, er zeigte auf eine der Plastiken, „eintausendachthundert Mark haben! Ich möchte nur sicher sein, daß es auch wirklich so viel wert ist.“ 141
Die Plastik, die einen eckig wirkenden Mann darstellte, zu dessen Füßen ein Kind spielte, schien zu einem Spielzeugartikel geschrumpft zu sein, als Nils Meyer an den Tisch getreten war. Auch ihr Schöpfer wirkte jetzt klein, beinahe marionettenhaft, und Frau Meyer glich, in die Ecke der Steinbank gedrückt, einer Diwanpuppe. Nils Meyer warf einen fragenden Blick auf seinen Gast und setzte sich. Sofort erschien alles wieder in der richtigen Relation. „Was mein Mann meint“, ergänzte die Frau schnell, „ist etwa das gleiche, was ich empfinde. Den Fischreiher zum Beispiel“, sie zeigte auf die zweite Plastik, „den guckt man gern an, weil er so schlank und schön ist. Aber der Mann da wirkt irgendwie abgewirtschaftet, hilflos seinem eigenen Kind gegenüber. Mir fehlt da ein bißchen – Optimismus.“ „Der Betrachter einer Plastik“, entgegnete der Bildhauer ernst, „hat meines Erachtens keinen Anspruch darauf, vom Künstler nur Optimismus vermittelt zu bekommen. Der Künstler sagt mit seinem Werk vertrauensvoll zu uns: Seht her, so sehe ich die Beziehungen zwischen den Menschen. Was meint ihr dazu? Wenn uns an einem Kunstwerk etwas zu fehlen scheint, sollten wir prüfen, ob es nicht an dem falschen Anspruch liegt, den wir stellen …“ „Sie meinen also“, kommentierte Nils Meyer, „daß wir uns mit dieser Plastik durchaus sehen lassen können.“ Seine Frau errötete und strich ihm sanft über den Arm. Ihre Augen flehten, daß er schweigen und ihr die weitere Verhandlung überlassen möge. „Kommen Sie“, flüsterte der Oberleutnant Astrid zu. Der Rasen schluckte jedes Geräusch, sie traten fast lautlos durch die Öffnung in der Hecke und grüßten. Niemand dankte ihnen. Nils Meyer erhob sich. Königsmime, schoß es Simosch durch den Sinn. Im Augenblick schien der Mann den 142
Herrscher jedoch nicht nur zu mimen, hier war er König. „Wer sind Sie?“ fragte er. „Und was wollen Sie hier?“ Sie zeigten ihre Ausweise, sagten, sie müßten ihn sprechen. „Wieso? Etwa wegen der albernen Geschichte in der ‚Hochzeitskutsche‘? Darüber sollte man sich wahrhaftig unterhalten. Aber nicht jetzt. Ich bin beschäftigt. Sagen wir – morgen nach Tisch.“ Ihre Majestät hatte die Zeit der Audienz festgelegt und erwartete, daß die Bittsteller verschwanden. „Das läßt sich einrichten“, entgegnete Astrid Funke betont freundlich, „Sie erscheinen morgen pünktlich vierzehn Uhr bei mir in der Dienststelle, ich bin Leutnant Funke. Ich lasse Ihnen eine Vorladung da.“ „Was sagen Sie? Eine Vorladung?“ Meyer lachte. „Gehen Sie jetzt nicht zu weit, mein Fräulein? Schließlich wollen Sie …“ „Und anschließend“, unterbrach ihn Simosch, „finden Sie sich bei mir ein. Ich lasse Ihnen ebenfalls eine Vorladung hier. Oberleutnant Simosch, Leiter der Mordkommission.“ Sie legten die Vorladungen auf den Tisch und wandten sich zum Gehen. „Aber – so warten Sie doch!“ Der große, schwergewichtige Mann hatte sie mit drei Schritten eingeholt und verstellte ihnen den Weg. „Ach, richtig“, sagte Astrid Funke lächelnd, bevor er den Mund aufmachen konnte, „ich wollte Sie noch davon informieren, daß wir soeben Herrn Anton Zinn verhaftet haben.“ Nils Meyer atmete heftig. Er sah bestürzt aus. „Gehen wir lieber ins Haus“, bat er leise. Der König hatte seinen treuesten Gefolgsmann verloren, nun war er bereit zu verhandeln. Nils Meyer gestand, von Anton Zinn kleine „Aufmerksamkeiten“ erhalten zu haben. 143
„Wofür?“ fragte Leutnant Funke. „Wie das so ist – die Leute versuchen, mit Vorgesetzten und Kollegen gut auszukommen.“ „Indem sie sie bestechen? Oder ihnen drohen? Herr Heitmann wurde erpreßt, damit er die Kontrolle manipulierte, von Ihnen wurden Tips gekauft, und Joachim Dannhoff …“ Simosch legte eine kleine Pause ein, ehe er weitersprach: „Joachim Dannhoff, mit dem man keines von beiden machen konnte, mußte sterben.“ „Aber damit habe ich doch nichts zu tun. Diesen Dannhoff habe ich nicht gekannt, ein einziges Mal habe ich ihn gesehen in der ‚Hochzeitskutsche‘.“ Meyers Stimme wurde weich, es klang, als könnten ihm jeden Augenblick Tränen aus den Augen stürzen. „Es geht nicht um Ihre persönliche Bekanntschaft mit dem Wirtschaftsprüfer“, erläuterte Astrid Funke, „sondern darum, daß er für Sie und Ihre trüben Geschäfte gefährlich wurde.“ „Nein!“ Nils Meyer hob beide Hände, als könne er so die Beschuldigungen der Kriminalisten abwehren. „Sie dürfen auf keinen Fall von mir denken, daß ich mit dem Tod dieses Wirtschaftsprüfers etwas zu tun haben könnte.“ Wieder eine abwehrende Geste. „Ich wasche meine Hände in Unschuld.“ Jetzt war es die Angst, die ihn zum Theaterspielen verleitete. „So?“ sagte Simosch mit ironischem Unterton. „Das nennen Sie Unschuld …?“ „Ich gebe zu“, fiel Nils Meyer ihm schnell ins Wort, „daß ich nicht immer exakt gehandelt habe. Es war zu verlockend, verstehen Sie?“ „Nein“, entgegnete Astrid Funke kühl, „was hat Sie denn verlockt?“ „Zinns Angebote. Sie haben ihn verhaftet? Dann wird er alles gestehen. Oder auch nicht. Vielleicht versucht er, sich reinzuwaschen, alles auf andere zu schieben …“ „Was zum Beispiel könnte er auf Sie schieben?“ 144
„Daß in erster Linie Ihnen der Wirtschaftsprüfer Dannhoff ungelegen kam“, ergänzte Simosch, „weil er keiner Ihrer Leute war?“ Nils Meyers kleine, fettumpolsterte Augen wurden feucht. „Das dürfen Sie nicht mit mir machen! Ich … Natürlich war er keiner von meinen Leuten, natürlich war mir das unangenehm, aber Anton sagte, das kriege er schon hin. Vielleicht hat er …“ Der schwere Mann drückte sich tief in die Polster seines breiten Sessels, streckte die Beine von sich und schloß die Augen. Simosch fand, er wirkte plump und hilflos, wenn er nicht gerade jemandem Theater vorspielte. „Was wollten Sie uns von Zinn sagen? Sprechen Sie Ihre Gedanken ruhig aus.“ Nils Meyer schüttelte träge den Kopf. „Nein. Das traue ich nicht einmal einem Anton Zinn zu.“ „Wo waren Sie an jenem Abend und in jener Nacht?“ fragte der Oberleutnant und nannte ihm das genaue Datum. Meyer richtete sich auf. „Lassen Sie mich nachdenken.“ Er konzentrierte sich, versetzte sich in Gedanken um Tage zurück, erwartete von sich selbst ein glaubhaftes, allen Prüfungen standhaltendes Alibi. Endlich hatte er es. „Natürlich!“ rief er. „Lenk war da! Lenk, der Bildhauer! Der Künstler Lenk!“ Er sprach den Namen liebevoll aus, wie den eines Mannes, dem man großen Dank schuldet. „Er hat mir von seinen neuesten Arbeiten erzählt, von einigen Plastiken, die er mir empfehlen könne, er bietet sie mir stets als erstem an, das ist so ausgemacht – und heute hat er sie uns gezeigt.“ „Waren Sie an jenem Abend allein mit ihm?“ fragte Simosch. „Meine Frau war zugegen.“ Das klang erleichtert. Er hatte sein Alibi. Sie mußten ihn mit diesem gefährlichen Verdacht, am Tod eines Menschen schuld zu sein, in Ruhe lassen. Es war glaubwürdig, und ein Schimmer 145
von dieser Unschuld und Glaubwürdigkeit strahlte sicherlich auf die andere Geschichte aus, auf diese verflixten Bestechungsgelder. Simosch hatte nach einem kurzen Blickwechsel mit Leutnant Funke das Zimmer verlassen. „Ein teures Hobby“, bemerkte Astrid, „das Sammeln von Plastiken, von Originalen aus Meisterhand.“ Nils Meyer blickte freundlich. Er zeigte keine Spur von Angst mehr. Der König hatte die entscheidende Schlacht gewonnen, konnte sich nun hier und da ein Geplänkel und sogar einen kleinen Rückzug erlauben. „Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Ja, frei und offen gestehe ich, ich habe von Anton Zinn Geschenke empfangen, Sachwerte, Bargeld. Und ich mußte wissen, daß diese Dinge nicht aus seinem Privatbesitz stammen.“ Es klang zerknirscht, aber unehrlich. In Worten und Gesten schwang noch immer die Erleichterung mit, aus dieser Mordgeschichte heraus zu sein. Auch Simosch merkte es, als er wieder eintrat und Leutnant Funke zunickte. Nils Meyers Alibi war von seiner Frau bestätigt worden. „Warum haben Sie diese Dinge angenommen?“ fragte Astrid. „Tja, warum.“ Er seufzte wie einer, der sich selbst kaum begreift. „Wissen Sie, was es heißt, mitverantwortlich zu sein für eine Reihe von Kaufhäusern in einer Stadt wie dieser? Es bedeutet in erster Linie Streß, Abbau der Gesundheit, Aufopferung … Man bewältigt und übersteht gewisse Belastungen nur, wenn man nach dem Grundsatz handelt: leben und leben lassen. Das ist eigentlich die ganze Erklärung, die ich zu geben vermag. Ich war zu großzügig. Zu anderen und zu mir selbst.“ „Ich würde es verantwortungslos nennen“, sagte Astrid Funke. „Aber ich will dem Gericht nicht vorgreifen.“ Dieser Satz wischte das Reuelächeln von Nils Meyers Gesicht. So schien er sich den Schluß seines Auftrittes 146
nicht vorgestellt zu haben. „Was soll das heißen: dem Gericht nicht vorgreifen?“ „Sie werden sich ebenso wie Herr Zinn und Frau Rotter zu verantworten haben. Sie bekamen doch auch von Frau Rotter Geschenke, nicht wahr?“ Nils Meyer schwieg. Er schien aus dem Konzept zu geraten. „Vor Gericht – nur weil ich ein paar Geschenke nicht zurückgewiesen habe?“ „Es handelt sich um beträchtliche Summen von Bestechungsgeldern. Die beiden haben Sie nicht aus Nächstenliebe beschenkt. Die wußten, was sie Ihnen schulden. Sie haben die Leitungen der beiden Warenhäuser wissen lassen, wenn sich jemand über sie beschwerte, wenn von irgendwoher etwas Unangenehmes, eine Gefahr auf sie zukam, so daß sie sich rechtzeitig absichern konnten. Sie haben ihnen jede Überprüfung signalisiert und so dazu beigetragen, daß sowohl die Kunden als auch der Staat monatelang betrogen wurden, denn die Kontrollergebnisse waren nicht echt.“ „Daran soll ich schuld sein?“ Der Mann lächelte ungläubig. „Sie haben den beiden genügend Spielraum gegeben, um Lieferscheine, Umsatzerlöse und Rechnungen zu manipulieren. Und Sie haben kassiert dafür.“ Nils Meyer schüttelte den Kopf. „Das war reine Gefälligkeit. In diesen Warenhäusern gab es nie Beanstandungen. Ich dachte, es kann nicht schaden, wenn sie auf eine Kontrolle vorbereitet sind und gerade an einem solchen Tag alles besonders hübsch und sauber herrichten. Aber daß sie solche Dinge treiben … Und dann fällt es auf mich zurück …“ Er seufzte. Ein naiver König, der erstaunt ist über die Machenschaften seiner Untertanen. Die Kriminalisten fanden ihn miserabel in dieser Rolle. Als sie sein Domizil verlassen hatten, sagte Oberleut147
nant Simosch: „Zinns Verhaftung hat unseren Zeitplan durcheinandergebracht. Wir sind spät dran. Soll ich Sie nach Hause fahren?“ „Ich möchte doch noch zu Ines Schenk. Aber berichten über diesen Besuch werde ich Ihnen erst morgen. Dann weiß ich auch mehr über die Kontrollergebnisse in ‚Chic und Charme‘ und über Frau Rotters Verhaftung. Ich habe den Haftbefehl heute nachmittag Major Tröttger übergeben, bevor ich zur ‚Hochzeitskutsche‘ gekommen bin.“ Sie nannte dem Fahrer Ines Schenks Adresse. „Soll ich mitkommen?“ fragte Simosch, als sie vor einem zweistöckigen Haus am Rande der Stadt hielten. „Ein so großes Aufgebot macht sie womöglich nur verstört“, erwiderte Astrid, „außerdem habe ich manchmal die Angewohnheit, eine dienstliche Sache ‚als Frau‘ zu erledigen …“ Ines Schenk lackierte sich die Fingernägel. Sie tat das nicht aus Unhöflichkeit ihrer Besucherin gegenüber, sondern um ihre Nervosität zu verbergen. „Wie lange waren Sie Herrn Zinns Freundin?“ fragte Leutnant Funke. Ohne den Blick zu heben, entgegnete sie mit erzwungener Ruhe: „Sie meinen seine Geliebte. Freunde waren wir nie, aber das habe ich erst jetzt begriffen.“ „Also gut. Wie lange waren Sie seine Geliebte?“ „Den. Kalender nach acht Wochen.“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und fügte hinzu: „Daraus können Sie jedoch gar nichts schlußfolgern. Erzählen Sie mir bitte nicht, daß acht Wochen zu kurz seien, um einen Menschen kennenzulernen. Ich meine, man durchschaut jemanden gleich oder nie. Und nie, das bedeutet zumeist, man ist so in ihn verschossen, daß man ihn gar nicht anders sehen will, als man ihn bei der ersten Begegnung erlebt und empfunden hat.“ 148
Astrid Funke schwieg abwartend, Ines Schenk war mit ihren Fingernägeln beschäftigt. Nach einer Weile warf sie einen kurzen, verwunderten Blick auf die Kriminalistin. „Wahrscheinlich hätte ich Anton Zinn nie durchschaut“, sagte sie, „wenn er sich nicht sozusagen selbst demaskiert hätte.“ „Wie ist denn das passiert?“ fragte Astrid. „Die ‚Hochzeitskutsche‘ wollte uns Ware liefern. Anton hat mir bis ins Detail geschildert, was er uns alles überlassen könne. Sie wissen, ich bin Sekretärin der Geschäftsleitung im Haus ‚Jugendmode‘. Ich legte also unserer Direktion nahe, diese Lieferung anzunehmen, denn es handelte sich um moderne Bekleidung für Jugendliche – nicht etwa Ladenhüter aus der ‚Hochzeitskutsche‘. Anton Zinn erwartete nämlich einen größeren Posten Brautkleider und hatte nicht so viel Platz, um alles unterbringen zu können. Er hätte die Röcke, Blusen und Kleider in den Keller schaffen müssen, da er, dem Charakter des Hauses entsprechend, die Brautkleider vorrangig anbieten mußte. Wir kamen überein, ihm die Ware abzunehmen. Weshalb sollte man sie der Bevölkerung vorenthalten?“ „Das leuchtet ein.“ „Die ‚Hochzeitskutsche‘ schickte uns zunächst die Lieferscheine …“ Sie schwieg. „Ja und?“ fragte Astrid Funke. Die junge Frau schob ihre Kosmetikutensilien beiseite und starrte vor sich hin. „Auf die Ware warteten wir vergebens“, sagte sie leise. „Ich habe deswegen mehrmals mit Anton gesprochen. Er brachte tausend Ausflüchte vor: vom kranken Fahrer über einen zu reparierenden Wagen bis zu Personalausfall, so daß die Ware nicht verpackt werden konnte.“ „Sie haben ihm geglaubt?“ Ines Schenk nickte. „Das kann man wahrscheinlich nur verstehen, wenn man Anton Zinn kennt. Mich hat er 149
mit seiner Redseligkeit einfach überrumpelt. Immer und immer wieder erzählte er mir das gleiche, leicht variiert, in anderen Zusammenhängen, mit verändertem Tonfall, bald, als amüsiere es ihn, dann wieder, als trieben ihn diese Dinge zur Verzweiflung. Aber immer das gleiche. Man ist wie hypnotisiert. Man glaubt ihm. Ich war so überzeugt von den Schwierigkeiten, in denen er angeblich steckte, daß ich es fertiggebracht habe, auch bei meinen Vorgesetzten Verständnis dafür zu finden. Und dann …“ Sie brach ab und hing wieder ihren Gedanken nach. „Bitte, erzählen Sie weiter“, forderte Astrid Funke freundlich. „Dann tauchte eines Tages ein junger Mann in unserem Büro auf. Ein Wirtschaftsprüfer. Er hieß Dannhoff; der wollte mich sprechen. – Wirtschaftsprüfer“, sagte sie stockend, „sind sonst anders. Unpersönlicher. So – mehr Zahlenmenschen. Verstehen Sie, wie ich das meine?“ Astrid Funke nickte. „Ich habe eine Zeitlang mit Herrn Dannhoff zusammengearbeitet.“ „Dann begreifen Sie bestimmt, daß ich sehr angetan war von ihm. Natürlich ganz anders als von Anton Zinn. Mir kam dieser Wirtschaftsprüfer wie ein Freund vor, dessen Rat man nicht in den Wind schlagen sollte. Zuerst hat er mir reinen Wein eingeschenkt über Anton Zinns Geschäftsgebaren. Durch die Lieferscheine, die uns die ‚Hochzeitskutsche‘ schickte, wurden wir bereits mit der gesamten Ware belastet, die darauf vermerkt war, steuermäßig, bei Prüfungen und so weiter. In der ‚Hochzeitskutsche‘ aber war die Ware theoretisch nicht mehr vorhanden. Das sollte sie nach Anton Zinns Berechnung so lange nicht sein, bis Herr Dannhoff die Kontrollinventur beendet hatte. Zinn brauchte die Ware ohne Lieferscheine, um ein Manko zu decken – oder zu verringern. Und mich hat er zu dieser Manipulation eingespannt.“ 150
Bei Frau Rotter hatte er mehr Glück, dachte Astrid, die scheint richtig eingestiegen zu sein auf sein Angebot. „Haben Sie damals mit Anton Zinn gebrochen?“ Sie zögerte mit der Antwort, bekannte schließlich, daß sie es tun wollte, aber wankend geworden war, als er wieder auftauchte. „Er versteht nicht nur, jemanden in geschäftlichen Dingen zu beschwatzen“, sagte sie. „Ich weiß nicht, ob Sie das begreifen können, aber wenn ein Mann einer Frau immer und immer wieder beteuert, daß sie attraktiv und begehrenswert sei und die einzige Frau, die ihn wahrhaftig interessiere, dann bleibt bei allen Abstrichen, die man aus Vernunftsgründen macht, doch eine ganze Menge haften. Schließlich wartet man sogar auf Komplimente, sehnt sich nach solchen Worten, die Liebeserklärungen und Versprechungen bedeuten. Anton hatte sie immer parat, zu oft, zu glatt. Das hätte mich stutzig machen sollen, statt dessen hat es mir geschmeichelt. Dieser Mann flüsterte mir an einem Abend hundertmal ins Ohr ‚Ich liebe dich‘, und das war neunundneunzigmal zuviel. – Aber das weiß ich erst jetzt.“ Sie lächelte Astrid Funke traurig zu. Die Kriminalistin beherrschte die Kunst des Zuhörens, und das nahm die andere dankbar wahr, so daß sie rückhaltlos ihre innere Bedrängnis beichtete. „Dieser Dannhoff“, erzählte Ines Schenk weiter, „hat gemerkt, was mit mir los war. Er hätte gehen können, nachdem er mir über Anton Zinn reinen Wein eingeschenkt hatte. Aber er ist geblieben und hat mit mir geredet wie mit einem kranken Kind. Und das war ich wohl auch. Ich habe geradezu mit kindlichem Trotz versucht, Anton Zinn in Schutz zu nehmen, habe beteuert, daß er privat anders sei, als er sich als Geschäftsmann offenbart hat. Zu mir sei er ehrlich, liebe mich, wolle sich auch scheiden lassen. – Manchmal denke ich, ein anderer als dieser Dannhoff hätte gelacht über mich.“ „Und – wie hat er reagiert?“ 151
„Er hat mir nicht widersprochen oder Anton schlechtgemacht, sondern nur gesagt: ‚Ich glaube, dieser Schwindler Anton Zinn ist Ihnen ein guter Liebhaber. Aber, bedenken Sie – ein Schwindler ist zuerst ein Schwindler und dann erst ein Liebhaber.‘ Das hat mich nachdenklicher gestimmt als alles, was ich über seine geschäftlichen Betrügereien erfahren hatte, und ich war von Stund an wachsamer, vielleicht sogar mißtrauisch. Jedenfalls klangen mir nun Antons Worte unecht, als er eines Tages sagte, wir könnten uns nicht wie verabredet am Abend treffen. Er schützte Arbeit vor. Als mich dann ein befreundetes Ehepaar zu einem Barbesuch einlud, ging ich mit. In jener Bar war ich oft mit Anton gewesen. Er liebte die Kapelle, die dort spielte, und die Art der Einrichtung. Es war kein fröhlicher Abend für mich, und ich wollte mich schon verabschieden, da kam Anton mit einer Frau. Ich kannte sie. Sie ist Leiterin im Warenhaus ‚Chic und Charme‘, ich war ihre Sekretärin, bis ich zur ‚Jugendmode‘ geholt wurde. Sie ist älter als ich, verheiratet, nicht das, was man landläufig hübsch nennt. Ich glaubte anfangs, daß er sie zu einer Plauderei unter Kollegen eingeladen habe. Aber sein Benehmen war eindeutig. Ich konnte keinerlei Entschuldigung mehr für ihn finden. Ich war schockiert darüber, wie er sie liebkoste, während sie Wein tranken, wie er sie beim Tanzen umarmte, an sich preßte, ihren Rücken streichelte. Ich spürte jede seiner Bewegungen. Es war grausam, und es war – so billig.“ „Haben Sie ihn danach wiedergesehen?“ fragte Astrid Funke. „Privat, meine ich.“ „Nein. Als er anrief, habe ich ihm zu verstehen gegeben, daß es keinen Sinn mehr hat. Er akzeptierte das ohne Bedauern und ohne ein Wort der Entschuldigung. Gestern allerdings ist er hierhergekommen. Ich habe ihn im Hausflur stehenlassen. Er redete wieder viel, wie es seine Art ist, und ich habe mich dagegen gewehrt, ihm zuzuhören. Er wollte, daß ich über geschäftliche Dinge 152
schweige, von denen ich weiß, daß er sie nicht korrekt behandelt hat. Zwischen uns, meinte er, würde auch alles wieder gut werden. Da habe ich ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.“ „Sie haben nichts verloren, Frau Schenk, ausgenommen vielleicht ein paar Illusionen.“ „Ich weiß. Und doch fehlt er mir. Ungefähr so, wie einem eine Seite in einem Buch fehlt. Man kennt sie, weiß, was darauf geschrieben steht, aber sie fehlt eben …“ „Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht, warum er zu dieser anderen Frau gegangen ist?“ „Nächtelang habe ich darüber gegrübelt. In unseren – intimen Beziehungen war alles in Ordnung. Es muß mit dieser Warenhausgeschichte zusammenhängen. Ich habe ihm Vorwürfe gemacht, weil er meine Gutmütigkeit ausgenutzt hatte, aber er hatte die Stirn, mich um eine weitere ‚Gefälligkeit‘ zu bitten.“ „Erzählen Sie. Es könnte für uns wichtig sein.“ Sie nickte. „Anton hatte in der ‚Hochzeitskutsche‘ beschädigte Ware liegen, verdorben durch einen Wasserrohrbruch. Diese Sachen mußten verbilligt angeboten werden, den Ausgleich zahlte die Versicherung. Er wollte, daß wir einen großen Teil dieser Ware übernehmen – als erste Qualität. Den Überschuß, den er damit erzielt hätte, brauchte er ebenfalls, um ein Manko abzudecken. Er hatte fürchterliche Angst vor dem Wirtschaftsprüfer Dannhoff und wollte vermeiden, daß der eine Tiefenprüfung ansetzt. Ich sollte also versuchen, der Leitung unseres Hauses diese Ware anzudrehen. Ich habe das abgelehnt. Daraufhin hatte er ‚geschäftlich‘ zu tun und konnte sich nicht mit mir treffen.“ „Frau Schenk“, sagte Astrid Funke, „haben Sie Anton Zinn einmal gefragt, wie es zu diesem Manko gekommen ist?“ „Das habe ich. Nur, aus seiner Antwort bin ich nicht klug geworden. Er hat geredet und geredet … Daß er 153
keinesfalls Schuld daran trage. Die Angestellten seien es gewesen, die, nicht genügend qualifiziert für ihren Arbeitsplatz, vieles verschlampt hätten. Herr Hagedorn greife nicht genügend durch, sei aber der beste Kaufhausleiter und solle es bleiben. Deshalb bestünden gewisse Verpflichtungen … Ich bin nicht recht schlau geworden aus alldem – und sollte es wohl auch nicht.“ Astrid Funke winkte ab. „Es ist nicht weiter wichtig für Sie. Wir werden schon dahinterkommen. Am besten wäre es, Sie könnten diesen Mann vergessen.“ „Ich versuche es. Daß ich damit erfolgreich bin, kann ich bisher leider nicht behaupten. Anton war wirklich ein verdammt guter Liebhaber, und ich hätte nie gedacht, daß mich das so an ihn fesselt. Leider bin ich nicht der Typ, der allein leben kann.“ Sie seufzte leise. „Im Grunde kann das keiner.“ „So einem wie diesem Dannhoff müßte man begegnen.“ „Herr Dannhoff ist tot.“ „Tot?“ wiederholte Ines Schenk fassungslos. „Aber – ich habe ihn doch vor wenigen Tagen noch gesehen. Kerngesund …“ „Wann war das genau?“ fragte die Kriminalistin gespannt. Ines Schenk überlegte. „Vor vier Tagen muß es gewesen sein.“ „Vor vier Tagen?“ wiederholte Astrid Funke. Vor vier Tagen war Joachim Dannhoff ums Leben gekommen. „Das müssen Sie mir ausführlich erzählen.“ „Es war schon ziemlich spät …“ „Wann? Bitte überlegen Sie in Ruhe. Es ist wichtig.“ „Also – ich kam mit einem Bekannten aus der ‚Rebe‘. Die Uhr über der Tür zeigte zweiundzwanzig Uhr dreißig. Daran erinnere ich mich genau. Auf der Straße sah ich Herrn Dannhoff. Er ging auf einen Hauseingang zu und blieb dort stehen.“ 154
„War er allein?“ „Ja.“ „Bitte, beschreiben Sie mir dieses Haus und den Eingang.“ „Einen Augenblick bitte.“ Frau Schenk ging hinaus. Als sie das Zimmer wieder betrat, legte sie einen Stadtplan auf den Tisch und schlug ihn auf. „Hier ist die ‚Rebe‘, und gegenüber, wo sich die Straßen kreuzen, stand er im Eingang eines Eckhauses.“ Dieses Haus, registrierte Astrid Funke im stillen, befand sich etwa zweihundert Meter von dem Kaufhaus „Zur Hochzeitskutsche“ entfernt. „Am liebsten hätte ich meinen Begleiter stehenlassen und wäre zu Herrn Dannhoff gelaufen“, gestand Frau Schenk, „den Mut dazu hätte ich gehabt, ich war ein bißchen angetrunken. Aber Herr Dannhoff sah aus, als verstecke er sich vor jemandem.“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Er drückte sich so in die Türnische, als wolle er nicht gesehen werden.“ „Blieb er dort stehen, bis Sie außer Sichtweite waren?“ „Ja. Das heißt – jetzt erinnere ich mich genau –, als ich mich noch einmal nach ihm umsah, lief er zur Toreinfahrt der ‚Hochzeitskutsche‘. Dabei blickte er die Straße entlang, als erwarte oder fürchte er, daß jemand auf ihn zukäme. Schließlich verschwand er in dieser Toreinfahrt.“ „Vielleicht hat er sich gar nicht versteckt“, überlegte Astrid Funke laut, „sondern jemanden beobachtet?“ Die Frau zuckte die Schultern. „Aber wen? Außer meinem Bekannten und mir war weit und breit kein Mensch auf der Straße.“ „Können Sie das mit Sicherheit sagen? Sie hatten etwas getrunken und außerdem keinerlei Veranlassung, sich einzuprägen, was auf der Straße vor sich ging.“ 155
„Trotzdem. Ich könnte schwören, daß da außer uns niemand gewesen ist.“ „Oberleutnant Simosch, der diesen Fall bearbeitet, wird Ihnen sicherlich noch ein paar Fragen zu stellen haben.“ Astrid Funke stand schon unter der Tür, als Ines Schenk leise fragte: „Was wird nun mit Anton Zinn?“ „Wir haben ihn verhaftet. Er wird sich vor Gericht verantworten müssen.“
4. Der Wind pfiff um die Häuserecken, Märzwind, aber viel zu kalt, um den Frühling anzukündigen. Eine dünne, blasse Mondscheibe segelte durch die Wolken, die paar Vorstadthäuser und die schmutzigen, mit Pfützen bedeckten Straßen wirkten wie eine traurige, vergessene Landschaft. Leutnant Funke schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und sah sich nach einer Telefonzelle um. Im Nachbardorf bellte ein Hund. Von der Stadt her kam ein Auto näher. Astrid stellte sich auf die Straße, wollte winken, doch der Wagen hielt ohnehin. Es war eine Taxe, aus der ein Ehepaar stieg. Das ist mehr als Glück, dachte Astrid, rannte los, erreichte die Taxe atemlos und stieg ein. „Erst mal stadtwärts“, sagte sie zu dem Fahrer, schnappte nach Luft und ließ sich in die Polster sinken. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Es war zwanzig Uhr. Ines Schenk, dachte sie, hat am Abend Dannhoff gesehen. Vor der „Hochzeitskutsche“. Nachmittags war Trebbin im Kaufhaus „Chic und Charme“, will das aber nicht wahrhaben. Unterschlagungen hier, Unterschlagungen da. Lieferscheine spielen eine Rolle. Das hängt alles irgendwie zusammen. Aber wie? „Wie weit stadtwärts darf’s denn sein?“ fragte der Fahrer. 156
Jetzt nach Hause fahren, dachte sie, alles überschlafen, und morgen früh mit Simosch sprechen, das wäre das vernünftigste. – Sie nannte Oberleutnant Simoschs Adresse. Es steht nicht gut um deine Vernunft, schalt sie sich, schloß die Augen und versuchte an nichts zu denken, bis der Wagen vor Simoschs Wohnhaus hielt. Auf ihr Klingeln öffnete eine Frau, gepflegt, blasses Gesicht, ein einladendes Lächeln um die Lippen, große Augen mit durchdringendem und doch angenehmem Blick. Astrid stellte sich vor und wurde ins Zimmer gebeten. Simosch lag auf der Couch, eine Leselampe ans Kopfende gerückt, Zeitungen und Zeitschriften neben sich. Er blinzelte ungläubig, als seine Frau Besuch ankündigte, erkannte Astrid und war schnell auf den Beinen. „Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich, „aber es gibt Neuigkeiten, mit denen ich nicht bis morgen warten wollte.“ Simosch nahm ihr die Jacke ab und schob ihr einen Sessel zurecht. Seine Frau brachte Tee und Kognak und belegte Brote, als habe man sie zu einem gemütlichen Feierabendplausch erwartet. Simosch in Pantoffeln und Westover, mit zerwühltem Haar, hatte nichts von der Strenge und Zurückhaltung an sich, die sie sonst von ihm gewohnt war. Er zeigte sich vielmehr unbefangen liebenswürdig. Da sie hungrig war, langte sie zu ohne Scheu und Verlegenheit. Frau Simosch drehte die Platte, daß die Schinkenbrötchen immer in Reichweite des Gastes lagen. Astrid Funke trank heißen Tee und Kognak und fühlte wohlig die Wärme durch den Körper rinnen. Als Frau Simosch den Tisch abräumen wollte, stand ihr Mann schnell auf. „Laß nur, Christina, ich mach das schon. Du solltest dich endlich ausruhen.“ „Ich bin wirklich ein bißchen müde.“ Sie lächelte Astrid Funke zu. „Entschuldigen Sie mich bitte.“ Simosch trug das Geschirr hinaus, ließ nur die Tee157
kanne und zwei Gläser stehen. Als er zurückkam, sagte er zu Astrid: „Meiner Frau wurde vor kurzem ein Hirntumor entfernt. Sie braucht noch viel Ruhe, aber sie gehört zu den Menschen, die nicht untätig sein können.“ Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein, fuhr sich mit gespreizter Hand durchs Haar und brachte es erstaunlicherweise ziemlich in Ordnung. „Los geht’s“, sagte er und blickte seine Mitarbeiterin auffordernd an. Astrid erzählte, chronologisch und doch, wie sie fand, innerlich unzusammenhängend. Simosch sagte kein Wort, bis sie ihm alles mitgeteilt hatte. Er blieb auch danach noch eine Weile stumm, trank ein Glas Tee, lief im Zimmer hin und her und rieb sich die Handgelenke. Schließlich setzte er sich wieder auf die Couch. „Die verdammten Lieferscheine“, knurrte er, „ich habe wenig Ahnung davon. Erklären Sie es doch noch mal.“ „Angenommen, ein Warenhaus überläßt einem anderen, sagen wir der ‚Hochzeitskutsche‘, eine Sendung Ware und schickt den Lieferschein nicht mit, dann bleibt es mit dieser Ware so lange belastet, wie es im Besitz des Lieferscheines ist.“ „Kapiert“, meldete Simosch. „Die ‚Hochzeitskutsche‘ aber hat mehr Ware, als in ihren Büchern steht …“ „Und kann aus dem Verkauf dieser Ware ein Manko decken, falls es eines gibt“, beendete Simosch den Satz. „Das hat Zinn bei Ines Schenk in der ‚Jugendmode‘ versucht, ist abgeblitzt und mit vollen Segeln ins Kaufhaus ‚Chic und Charme‘ hinübergewechselt. Dort stand der Wind für ihn günstig. Sobald der stellvertretende Vorsitzende und Kunstfreund Nils Meyer eine Kontrolle signalisierte, rollten Lastwagen mit Ware, aber ohne Lieferschein von ‚Chic und Charme‘ zur ‚Hochzeitskutsche‘. Die Prüfung ergab kein nennenswertes Manko. Danach wurden die Lieferscheine zugestellt oder die Ware wurde 158
zurückgefahren. – Bin ich noch auf dem richtigen Gleis?“ „Ich denke schon, und ich nehme an, das war es, wohinter Dannhoff gekommen ist oder kommen wollte“, schloß Astrid. Simosch hatte ihr den Faden zugespielt, der ihres Erachtens eines mit dem andern verknüpfte. „Diese Lieferungen wurden nachts gefahren …“ „Wahrscheinlich erst, nachdem Dannhoff aufgetaucht war“, warf Astrid ein. „Ansonsten konnte man sich auch tagsüber solche Transporte leisten. Aber Dannhoff hätte nach den Lieferscheinen fragen können.“ „Was ist nach Ihrer Meinung in jener Nacht geschehen?“ „Zinn wußte, daß es eine Tiefenprüfung geben würde. Er brauchte soviel wie möglich Ware. Tagsüber wachte Dannhoff mit Argusaugen über jede Warenbewegung. So bestellte Zinn den Fahrer Trebbin mit dem LKW zu ‚Chic und Charme‘. Sie verluden und fuhren die Ware nachts. Doch Dannhoff war mißtrauisch geworden, er ahnte wohl etwas. Ines Schenk hat ihn abends halb elf auf der Straße vor dem Kaufhaus gesehen, er versteckte sich vor jemandem oder beobachtete etwas …“ „Oder beides.“ „Oder beides“, wiederholte Astrid. „Fräulein Schenk sah ihn im Wirtschaftshof verschwinden. Am nächsten Morgen lag er unter Kisten begraben im Lagerraum. Entweder hat er sich dort versteckt oder ist überrascht und gewaltsam hineingedrängt worden.“ „Das klingt alles recht plausibel“, stimmte Simosch zu, „nur die Tatsache, daß Trebbins Wagen um Mitternacht vor seinem Haus stand, paßt nicht recht in die Geschichte.“ „Um Mitternacht?“ fragte Astrid, „Da kann Trebbin eben angekommen sein, sagen wir, wenn er gegen dreiundzwanzig Uhr mit der Ware im Kaufhaus war.“ „Trotzdem bißchen knapp. Unterleutnant Meixner 159
versucht noch jemanden aufzutreiben, der sich erinnert, ob der LKW schon vor Mitternacht vor dem Hause parkte. Wenn es jemanden gibt, der das weiß, dann findet Meixner ihn. Aber wenn Meixner niemanden findet …“ Er zuckte die Schultern. „Es muß sich im großen und ganzen so abgespielt haben“, beharrte Astrid. „Ich werde mir das von den dreien erzählen lassen“, nahm sich Simosch vor, „spätestens übermorgen. Einen Tag brauche ich noch, dann hole ich sie zusammen. Ich schätze, die geringsten Schwierigkeiten gibt es bei Dieter Trebbin. Ich bitte Sie, bei dieser Vernehmung anwesend zu sein. Die Unterschlagungs- und die Tötungsgeschichte sind so miteinander verwoben, daß wir nur eins durchs andere lösen können. Sie haben recht, Trebbin muß an jenem Abend mit dem Wagen unterwegs gewesen sein. Davon werde ich ausgehen. Ich riskier’s … Es war gut, daß Sie hergekommen sind“, sagte Simosch, als Astrid aufstand. Im Flur half er ihr in die Jacke und nahm die Wagenschlüssel vom Haken. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. „Wer kümmert sich denn um Ihr Kind?“ „Meine Mutter.“ „Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause.“ „Das ist nicht nötig. Vor Ihrem Haus hält der Bus.“ Er drängte sie zur Tür hinaus. „Keine Widerrede. Was glauben Sie denn, weshalb ich vorhin auf mein Kognäkchen verzichtet habe?“
160
IV. KAPITEL
1. „Der beste Leiter unserer Warenhäuser – und die Tiefenprüfung in seinem Bereich ergibt das größte Manko, das seit Jahren aufgedeckt wurde.“ Major Tröttger schüttelte fassungslos den Kopf. „Er hat mit seiner Clique in die eigene Tasche gewirtschaftet“, berichtete Leutnant Funke, „und als das Loch zu groß wurde, das sie gerissen hatten, versuchten sie, es mit Hilfe von Bestechung, Drohung, Betrug und durch Manipulationen wieder zu stopfen.“ „Jetzt liegt alles ziemlich klar auf der Hand – und auf diesem Tisch.“ Der Major klopfte auf einen Stapel Berichte und Protokolle und nickte Leutnant Funke zu. „Sie haben gute Arbeit geleistet.“ Auch als Frau, fügte er in Gedanken hinzu. „Denn das meiste hing anfangs davon ab, diese Gudrun Wehler zum Sprechen zu bringen.“ Astrid Funke zuckte die Schultern. „Wir kennen zwar die Schuldigen und wissen, was sie getan und, zum großen Teil auch, wie sie es angestellt haben, aber wir wissen immer noch nicht, warum Joachim Dannhoff sterben mußte.“ „Das ist ein anderer Fall“, entgegnete der Major. „Der geht die MUK an, das ist nicht Ihr Brot.“ Leutnant Funke schüttelte energisch den Kopf. „Dannhoffs Tod ist sozusagen ein Kapitel dieser Warenhausgeschichte. Oberleutnant Simosch möchte deshalb gemeinsam mit mir noch einmal Anton Zinn, Birgit Rotter und Dieter Trebbin vernehmen.“ „Vernimmt er die drei getrennt? In dieser Reihenfolge?“ fragte Tröttger interessiert. 161
„Er will sie sich gleichzeitig vornehmen und eventuell Frau Wehler gegenüberstellen.“ „So etwas macht Simosch nicht auf blauen Dunst hin. Dann hat er etwas in der Hand gegen sie – oder mindestens gegen einen von ihnen. Also gut, bleiben Sie weiter an dem Fall, bis die MUK ihn geklärt hat. Was haben Sie als nächstes vor?“ „In einer Viertelstunde wird Frau Rotter dem Staatsanwalt vorgeführt. Ich möchte dabeisein.“ „Bleiben Sie erfolgreich“, rief Tröttger noch, als Astrid das Zimmer verließ. Staatsanwalt Martin Kabelitz erwartete sie bereits. „Du wirst einige Neuigkeiten erfahren, die Hausdurchsuchung hat verschiedenes ans Licht gebracht“, sagte er. „Wie hat denn Frau Rotters Familie die Verhaftung aufgenommen?“ „Die Kinder sind bei der Großmutter. Der Mann hat sofort die Scheidung eingereicht.“ „Noch ein unschuldiger Ehepartner. Es fällt geradezu auf, wie unbeteiligt und schuldlos die Ehehälften an den Straftaten ihrer Partner sind!“ Astrid lächelte spöttisch. „Ganz so ungeschoren, wie sie es sich einbilden, kommen sie nicht davon“, prophezeite Kabelitz. „Daß die Frau von Nils Meyer mit ihrem Drang, aufwendig zu leben und dem Hobby, teure Plastiken zu sammeln, ihren Mann verleitete, sich zusätzlich Geld zu beschaffen, hast du selbst ermittelt. Frau Hagedorn wußte ebenfalls Bescheid von den Machenschaften ihres Mannes, wenn sie es auch nicht zugeben will.“ „Diese Frau scheint in einem sonderbaren Zwiespalt zu leben“, meinte Astrid Funke. „Sie verachtet ihren weichlichen, trunksüchtigen Mann und bringt doch nicht die Kraft auf, sich von ihm zu trennen. Sie hätte ihm gewiß verziehen und wäre bei ihm geblieben, wenn er sich aus Anton Zinns Vormundschaft befreit hätte.“ „Fakt ist, daß auch sie Nutzen aus dieser Verbindung 162
zog. Sie hat zum Beispiel von dem ergaunerten Geld teuren Schmuck gekauft und einen Liebhaber unterhalten.“ „Simosch hat mir davon erzählt“, bestätigte Astrid Funke. „Auch in der Nacht, in der Dannhoff umkam, ist sie bei diesem Mann gewesen. Hagedorn hat dadurch kein Alibi.“ „Der Oberleutnant nimmt an, Hagedorn hat sich damals mit nichts anderem als einer Flasche Schnaps beschäftigt.“ „Jedenfalls kann man sich vorstellen, wo bei Nils Meyer und Michael Hagedorn das Geld geblieben ist, das sie zusammen mit Zinn ergaunert haben“, sagte Astrid. „Aber Zinn, wo hat der es gelassen? Er hat doch das meiste gescheffelt.“ Der Staatsanwalt blickte zur Uhr. „Gleich bringen sie Frau Rotter, dann wirst du auch auf diese Frage eine Antwort erhalten.“ Kabelitz hatte kaum ausgesprochen, als es klopfte. Ein Wachtmeister führte Birgit Rotter ins Zimmer und rückte sich einen Stuhl neben die Tür. Kabelitz bot der Frau Platz an. Sie hatte sich nur oberflächlich zurechtgemacht, etwa so wie eine Hausfrau, die eben mal schnell über die Straße zur Kaufhalle läuft. Man sah die Fältchen um Augen und Nasenwurzel, ihr Mund wirkte schlaff. Ein müdes Gesicht und in seltsamem Kontrast dazu die Augen: groß, glänzend, lebenshungrig. „Frau Rotter“, begann Kabelitz, „ich möchte mich Ihnen offiziell vorstellen. Ich bin Staatsanwalt Kabelitz und vertrete in der Verhandlung gegen Sie die Anklage. Bevor es aber soweit ist, werde ich mich genauestens über alle Fakten informieren, die gegen Sie sprechen, und ebenso gründlich versuche ich zu erforschen, wie und warum es zu diesen Straftaten gekommen ist.“ Während Kabelitz sprach, taxierte Birgit Rotter ihn. Sie achtete weniger auf seine Worte als auf den Klang 163
seiner Stimme, den Ausdruck der Augen. Sie versuchte sich eine Taktik zurechtzulegen. Womit hätte sie bei diesem Mann die größten Chancen? Sollte sie reumütig, weich, schüchtern oder lieber aggressiv, ironisch und kokett sein? Wahrscheinlich ist er einer von diesen sachlichen, absolut unromantischen Typen, dachte sie, die überhaupt keinen Sinn für dramatische Szenen haben. „… diese Gespräche“, fuhr Kabelitz fort, „sollen uns helfen, die Wahrheit zu finden.“ So wie der aussieht und sich gibt – strenges Gesicht mit gutmütigen Augen –, kann man annehmen, daß er es ernst meint mit dem, was er sagt, dachte Birgit Rotter. Der ist geradlinig, also werde ich einfach sagen, was ich denke. Wahrscheinlich beeindruckt ihn das am meisten. „Leutnant Funke“, sprach Kabelitz weiter, „die heute an unserer Unterhaltung teilnimmt, kennen Sie bereits.“ „Ja. Die hat mir erst die Schnüffler ins Geschäft geschickt.“ Sie warf Astrid einen kurzen, verächtlichen Blick zu. „Also, Frau Rotter“, Kabelitz beugte sich etwas vor und suchte ihren Blick, „Sie leiten das Warenhaus ‚Chic und Charme‘ und tragen für alles, was dort geschieht, den größten Teil der Verantwortung. Eine Kontrolle im Warenhaus und polizeiliche Ermittlungen gegen Sie haben ans Licht gebracht, daß Sie große Summen veruntreuten, um sich persönlich zu bereichern. Außerdem versuchten Sie, zusammen mit Herrn Zinn vom Warenhaus ‚Zur Hochzeitskutsche‘, durch Manipulationen Ihr Manko zu verschleiern. Das gelang Ihnen, da Sie von Herrn Nils Meyer Hinweise bekamen, wenn in Ihrem Warenhaus eine Kontrolle durchgeführt werden sollte. Auf welche Art haben Sie Herrn Meyer dafür gedankt?“ Über diese Geschichte scheint er ziemlich genau informiert zu sein, ging es Birgit Rotter durch den Kopf. Da kann ich ruhig ein bißchen plaudern. „Zumeist wollte 164
er Geld“, gestand sie, „er hat nämlich etwas für die bildende Kunst übrig. Damit stopft er sich die Wohnung voll. Von mir bekam er zwischen dreihundert und fünfhundert Mark, wenn er etwas brauchte.“ „Haben Sie ihm auch Sachwerte zukommen lassen?“ „Ja“, gab sie zögernd zu, „hin und wieder.“ „Ohne abzurechnen?“ „Das wissen Sie doch. In meiner Gehaltsklasse sind solche Geschenke nicht drin.“ „Stimmt, Frau Rotter, wir wissen schon eine ganze Menge. Nur über eines sind wir uns nicht im klaren: Warum haben Sie das getan?“ „Warum verschafft man sich wohl Geld?“ fragte sie zurück. „Weil man es braucht.“ Kommt mir bloß nicht damit, daß ich ein gutes Gehalt habe, fuhr sie in Gedanken fort, daß auch mein Mann verdient und daß andere Familien weniger gut gestellt sind. „Ich gehe jetzt auf die Vierzig zu“, sagte sie, „und wenn ich mit Sorgfalt die Chemie bemühe, kann ich das erfolgreich kaschieren. Aber wie lange noch. Zehn Jahre? Wenn ich Glück habe, fünfzehn, aber dann ist endgültig Feierabend. Also will ich die paar Jahre noch richtig leben. Leben, verstehen Sie? Nicht aus Notwendigkeit irgendeine Rolle spielen müssen, wie das bisher gewesen ist. Zum Beispiel die Mutterrolle: Ich habe drei Kinder gebären müssen – die Pille gab es ja noch nicht –, zwei davon habe ich großgezogen, eines ist mit sechs Jahren gestorben. Das hat an mir gezehrt, der Tod des einen ebenso wie das Leben der beiden anderen. Die Plage, die man mit ihnen hat, für die sie nichts können, die aber trotzdem auf einem lastet, angefangen von der Suche nach dem Krippenplatz bis zu den Sorgen in der Schule …“ „Es gibt wenige Frauen, die nicht mit solchen Problemen fertig werden müssen“, warf Leutnant Funke ein. „Das weiß ich, und ich bin auch damit fertig geworden, aber es hat mich heruntergewirtschaftet. Deshalb 165
spreche ich jetzt von den paar Jahren, die mir noch bleiben und in denen ich mein Leben genießen möchte. Ich muß ja außerdem einige andere Rollen spielen, zum Beispiel die der Ehefrau. Glauben Sie mir, das ist nach rund zwanzig Jahren eine langweilige Angelegenheit. Und dann ist schließlich noch die Rolle der Kaufhausleiterin, die besteht vorwiegend aus Ärger und Verantwortung. Und nun sagen Sie mir, wann zum Teufel darf ich an mich denken und so leben, wie ich es möchte? Mit sechzig, wenn ich Rentnerin bin? Wenn niemand mehr Freude daran hat, mich anzusehen, und ich vielleicht am Stock humpele?“ Das ist Torschlußpanik, dachte Astrid Funke erschrocken, diese Frau kämpft verzweifelt um ihre schwindenden äußeren Reize und klammert sich an Nichtigkeiten. Staatsanwalt Kabelitz schienen ähnliche Gedanken zu bewegen. Er sagte: „Nach allem, was Sie von sich erzählt haben, erscheint mir Ihr Leben doch als sinnvoll. Sind es nicht vielleicht Ihre falschen Ansprüche, die Sie so unzufrieden sein lassen?“ „Was ist daran schon anspruchsvoll, wenn man das Leben ein bißchen genießen möchte?“ wandte Frau Rotter ein. „Wie stellen Sie sich dieses Genießen denn vor?“ Sie schwieg und überlegte, wie sie bei diesem Mann Verständnis für ihre Lebensauffassung wecken könnte. „Ich möchte wenigstens für ein paar Stunden am Tag heraus aus der Arbeit, aus der Eintönigkeit, los von Pflichten und Verantwortung. Ist das so schwer zu verstehen?“ „Keineswegs, wer möchte das nicht“, erwiderte Kabelitz, „das geht mir genau so wie Ihnen und wie vielen Menschen, sicherlich auch Ihrem Mann. Haben Sie nie daran gedacht, daß auch er abends Erholung braucht, daß man sie gemeinsam finden könnte, statt die Ehe eintönig werden zu lassen? Doch was tun Sie? Sie laufen 166
Ihrem Mann mit einem Scharlatan wie Anton Zinn davon.“ „Haben Sie mich wegen Ehebruchs verhaftet?“ fragte sie schnippisch. „Wir haben bei der Kontrolle festgestellt“, fuhr Kabelitz unbeirrt fort, „daß Ihre Betrügereien sprunghaft zugenommen haben, seit Sie mit Anton Zinn verkehren. Genießen auf Kosten anderer – Frau Rotter, das ist kein echter Lebensanspruch, soviel muß Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagen. Oder hat Anton Zinn Sie ganz und gar eingewickelt?“ Hör auf, von Anton Zinn zu reden, flehte Birgit Rotter im stillen. Natürlich hat er mich eingewickelt – und ich habe es mir gefallen lassen, ich habe es so gewollt … „Was sind das für Worte?“ Sie unterstrich die Frage mit nervösen Gesten. „Echt. Falsch. In welcher Zeit leben Sie denn? Was ist heutzutage noch echt? Eine Frau, die Sie attraktiv finden, trägt vielleicht einen Busen aus Schaumgummi. Wir beißen mit falschen Zähnen, und wem die Haare ausfallen, der macht sich sehenswert mit einer Perücke. Lauter unechte, falsche Dinge, die wir akzeptieren, gebrauchen und sogar schön finden. Ich finde es eben schön, mit Anton Zinn meinen Alltag zu vergessen, ganz gleich, ob Sie diesen Lebensanspruch echt finden oder nicht.“ „Sie haben ein Segelboot gekauft, mit Kajüte und beachtlichem Komfort. Ihr Mann wußte nichts davon. Der Kaufvertrag wurde bei der Durchsuchung Ihrer Wohnung gefunden. Es ist ein teures Boot. Hat Ihnen Anton Zinn das Geld dafür gegeben? Haben Sie das Boot gemeinsam benutzt?“ Frau Rotter antwortete nicht. „Warum schweigen Sie, wenn wir uns so konkret über Ihre Lebensansprüche unterhalten? Sie haben ein Zweibettzimmer am Wasser gemietet, mit Benutzung des Gartens und des Bootssteges. Sie zahlen dafür hundert 167
Mark monatlich. Herr Zinn mietete einen Stand im Bootshaus, natürlich durch Beziehung über seinen bevorzugten Kundenkreis. Das alles kostet Geld. Woher stammt es?“ „Das wissen Sie doch“, entgegnete Birgit Rotter abweisend und dachte: Was habe ich hier falsch gemacht? Dieser unromantische Gesetzesvertreter scheint keinen Funken Verständnis für mich aufzubringen … „Ich nehme an, es stammt aus den Unterschlagungen, die Sie und Herr Zinn begangen haben. Gemeinsames Boot, gemeinsames Zimmer, gemeinsames Wochenende auf der Grundlage gemeinsamer Betrügereien. Wo sollte das hinführen, Frau Rotter? Ist Ihnen wahrhaftig nie in den Sinn gekommen, daß so etwas vor dem Staatsanwalt enden kann?“ Hör doch bloß auf, das auszusprechen, was ich nicht einmal zu denken gewagt habe. „Selbst wenn wir weniger schnell dahintergekommen wären, hätten Sie dieses Leben nicht lange führen können“, setzte Leutnant Funke fort. „Sobald Anton Zinn Sie nicht mehr brauchte, hätte er Sie verlassen, wie er vor Ihnen Ines Schenk und einige andere verlassen hat. Außerdem haben wir herausgefunden, daß er selbst in den vergangenen Wochen, als er Ihr Liebhaber war, noch andere Frauen hatte, zum Beispiel ein junges Mädchen. Mit ihm hat er einen großen Teil seines Geldes ausgegeben.“ „Na und?“ rief Birgit Rotter aufgebracht, beherrschte sich aber sofort wieder. Laß dir nicht anmerken, wie du sie verabscheust, diese attraktiven, selbstzufriedenen Gänse, redete sie sich zu, aber ich wünschte, daß auch dieser Madam Leutnant mal einer über den Weg läuft, der sie aus der Bahn wirft und von dem sie trotzdem nicht lassen kann. „Ach so“, sagte Astrid gedehnt, „Sie wußten um diese Liebschaft.“ 168
„Nichts habe ich gewußt. Er ließ es mich nie fühlen, daß es für ihn noch andere gab, und das ist mir mehr wert gewesen, als wenn er es mir gesagt hätte. Wem hätte es denn genutzt? Mir? Ihm? Der anderen? Echtheit, Wahrheit, das taugt doch bloß theoretisch. Wenn ich mit einem Menschen zusammen bin, den ich mag, dann ist mir eine kleine Lüge hundertmal lieber als eine Wahrheit, die alles zerstört.“ „Zum Beispiel Ihrem Mann die Ehe“, schaltete sich Kabelitz wieder ein, „Anton Zinn die schmutzigen Geschäfte und Ihnen Ihre Illusionen. In der Tat: Die Wahrheit zerstört alles, was auf Betrug und Heuchelei aufgebaut ist. Sie haben in den kommenden Tagen genügend Zeit, Ihre Lebenseinstellung zu durchdenken. Für heute nur noch eine letzte Frage: An jenem Nachmittag, an dem Frau Wehler nach der Gerichtsverhandlung ins Warenhaus kam, hat sie Herrn Trebbin mit seinem Wagen dort im Hof gesehen. Sie glaubte, er habe Ware gebracht. Sie bestreiten, daß Herr Trebbin dagewesen ist. Warum?“ Weil Anton Zinn mich darum gebeten hat, antwortete sie in Gedanken, und ich wüßte keinen Grund, weshalb ich ihm diesen Gefallen nicht tun sollte. „Frau Wehler muß sich geirrt haben“, sagte sie, „an jenem Tag ist keine Ware gekommen. Das weisen auch die Bücher aus.“ „Auf Ihre Bücher war in den letzten Wochen kein Verlaß. Sie bleiben also dabei, daß Herr Trebbin damals nicht im Warenhaus ‚Chic und Charme‘ gewesen ist?“ „Ja.“
2. Es dunkelte. Dieter Trebbin ging langsam den Weg am Wasser entlang. Die Häuser jenseits des Flusses wurden zu Silhouetten. Über den 169
Schornsteinen kräuselte Rauch. Lauwarmer Wind strich durch die Bäume des Parks. Dieter Trebbin bummelte Überstunden ab. Ziellos wanderte er durch die Stadt und landete schließlich in der Nähe von Wehlers Wohnung im Stadtpark am Fluß. Er blieb stehen, starrte in das Wasser, ein vorüberziehender Kohlenschlepper schickte kleine Wellen ans Ufer. Im Schilf schnatterte eine Ente. Ruhe und Frieden, dachte Trebbin, das gibt es also noch. In der Natur. Vielleicht auch für Menschen. Für mich auch? In den vergangenen Nächten hatten ihn Alpträume gequält. Sie gaukelten ihm Höhlen ohne Ausgang vor, in denen er zu ersticken drohte, oder er sah vor sich Berge. Er kletterte hinauf, angetrieben von Anton Zinn, doch jedesmal stürzte der Berg ein, bevor er die Spitze erreicht hatte, und begrub ihn unter sich. Aus solchen Träumen erwachte er schweißgebadet, stöhnend manchmal, und fand für den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr. Er grübelte darüber nach, ob das Gericht ihm eine Chance zubilligen würde. Er sagte sich, das sei gewiß vom Inhalt der Anklage abhängig. Und eben das war der springende Punkt! Er hätte am liebsten, wie gewohnt, mit Anton Zinn darüber gesprochen, doch der saß im Untersuchungsgefängnis, leider. Das hieß, leid tat das Dieter Trebbin eigentlich nicht, soweit die Sache nur Zinn betraf. Nur, daß er jetzt mit allem allein fertig werden mußte, behagte ihm nicht. Nachdem Dannhoff tot aufgefunden wurde, hatte Zinn ihm auf die sanfte Art beigebracht, was er sagen und was er verschweigen sollte, damit alle möglichst ungeschoren aus der Sache herauskämen. Tage später, als er resignierend meinte, die Tiefenprüfung würde doch alles ans Licht bringen, hatte Zinn ihm gedroht. Für vieles, erklärte Zinn, würden sie geradestehen müssen, aber nicht für alles. Sollte jedoch durch Trebbins Schuld mehr zutage kommen, als die Kriminalisten 170
von sich aus herausfanden, so würde Trebbin die größte Last zu tragen haben, dafür wollte Zinn dann sorgen. Der Kraftfahrer wußte, daß Anton Zinn derartige Versprechen zu halten pflegte. Das wußte auch Frau Wehler, darum würde die ihn verstehen und ihm hoffentlich helfen. Dieter Trebbin wandte dem Fluß den Rücken zu und verließ den Park. Kurze Zeit später stand er der erstaunt und ein wenig mißtrauisch blickenden Frau Wehler vor deren Wohnungstür gegenüber. „Guten Abend. Ich – wollte Sie nicht stören“, sagte er linkisch. Gudrun Wehler bat ihn ins Wohnzimmer und stellte ihn ihrem Mann vor. „Ich – wollte Sie gern einmal sprechen, Frau Wehler“, begann Trebbin stockend, nachdem er Platz genommen hatte, „sozusagen unter vier Augen.“ Man merkte, wie peinlich ihm die Situation war. Konrad Wehler wollte sich erheben, doch seine Frau sagte schnell: „Sprechen Sie ruhig, Herr Trebbin. Mein Mann kann das mit anhören. Ich würde ihm ohnehin alles erzählen.“ „Na ja, wenn das so ist …“ Der Kraftfahrer machte eine Pause, er schien sich mit der Anwesenheit eines Dritten nur schwer abzufinden. Schließlich sagte er: „Morgen muß ich wieder zur Polizei. Ich weiß nicht, was sie diesmal von mir wollen, aber es wäre möglich, daß sie mich nach jenem Nachmittag fragen, Sie wissen schon …“ Frau Wehler nickte. „Nur, warum Sie die Polizei belügen, weiß ich nicht.“ „Ich lüge nicht. Ich war damals nicht im Kaufhaus.“ „Sind Sie hergekommen, um mir das einzureden?“ „Um Sie zu bitten, Ihren Irrtum vor der Polizei zuzugeben. Damit Ruhe wird …“ Damit Ruhe wird, Gudrun Wehler nickte nachdenk171
lich. Das Argument, mit dem auch sie ihre Lügen vor Gericht entschuldigen wollte. „Ich habe ebenfalls eine Vorladung für morgen nachmittag.“ „Ach“, sagte Dieter Trebbin betreten, „das wußte ich nicht.“ „Gudrun, könntest du beschwören, daß du Herrn Trebbin damals gesehen hast?“ fragte Konrad Wehler. „Ich kann es beschwören, und ich werde das auch tun, wenn es von mir verlangt wird“, antwortete sie ruhig und wandte sich wieder dem Kraftfahrer zu. „Sie möchten, daß ich lüge. Warum? Was haben Sie zu verbergen?“ Trebbin hatte eine heftige Entgegnung auf der Zunge, doch Frau Wehler fuhr schnell fort: „Nein, nein, Sie brauchen es mir nicht zu erzählen. Sagen Sie es lieber morgen der Polizei.“ „Ich kann nicht!“ Es klang wie ein Hilferuf. „Und ich will nicht mehr lügen, Herr Trebbin. Ich habe mit solch fragwürdigen Sachen endgültig Schluß gemacht. Und Sie sollten das auch tun – aber wahrscheinlich steckt Anton Zinn dahinter.“ „Er hat mich gebeten, bei unserer Aussage zu bleiben“, gab Trebbin niedergeschlagen zu, „was auch immer kommen möge, und er – war ja schließlich auch nicht so zu mir …“ „Also hat er Sie nicht gebeten, sondern bedroht.“ „Nein. Sie gehen zu weit.“ „Wirklich? Ich kenne doch Anton Zinn! Wer einmal gemeinsame Sache mit ihm gemacht hat, bleibt entweder aus freiem Willen sein Kumpel, oder er wird gezwungen, zu ihm zu halten.“ Dieter Trebbin setzte sich betont aufrecht hin, bemüht, durch seine Haltung die folgenden Worte gewichtig werden zu lassen. „Frau Wehler, wenn drei Personen bis in alle Einzelheiten das gleiche aussagen, meinen Sie, da glaubt die Polizei ausgerechnet einer vierten Person, die etwas anderes behauptet?“ 172
„Wenn Sie davon überzeugt sind, Herr Trebbin, warum sind Sie dann hierhergekommen?“ Trebbin erhob sich abrupt. „Aber bitte, bleiben Sie doch sitzen“, sagte Frau Wehler mit einer auffordernden Geste, „ich will Ihnen nicht die Tür weisen. Ich kann nachfühlen, wie Ihnen zumute ist, und gerade deshalb rate ich Ihnen: Machen Sie reinen Tisch.“ Trebbin ließ sich schwerfällig zurücksinken. Er wirkte hilflos und verzagt, als er sagte: „Mein Junge, mir tut mein Junge so leid. Wenn die merken, daß ich in einer krummen Geschichte drinhänge, nehmen sie mir den Jungen weg, und ich habe so darum gekämpft, daß er bei mir leben darf.“ „Sie helfen auch Ihrem Jungen nicht, wenn Sie der Polizei etwas verschweigen, was sie wissen muß.“ „Muß sie es denn wissen?“ fragte Trebbin heftig zurück. „Wem nützt das jetzt noch? Ich wünsche nur, daß diese Vorladungen und Befragungen endlich aufhören und ich wieder in Ruhe leben kann.“ „Könnten Sie es denn?“
3. Oberleutnant Simosch hatte sich einen Vernehmungsplan zurechtgelegt und lange über die Taktik nachgedacht, die er anwenden wollte. Ein Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen Grübeleien. „Ja, bitte“, sagte er etwas ärgerlich. Leutnant Funke trat ein. „Ich muß Sie von einer Neuigkeit informieren, bevor wir die drei vernehmen“, erklärte sie. „Wie Sie wissen, werten wir noch die Ergebnisse der Tiefenprüfung aus. Wir sind jetzt darauf gestoßen, daß bei den Abrechnungen der Kraftfahrer geschummelt wurde. Irgend jemand hat mit Benzinmarken geschoben …“ 173
„Irgend jemand?“ unterbrach Simosch skeptisch. „Oder meinen Sie, daß es Trebbin gewesen ist? Das würde doch ins Bild passen.“ „Sie haben recht. Doch so eine Sache funktioniert nur, wenn jemand von einer Tankstelle mitmacht. Unsere Abteilung ist dabei, einige Tankstellen zu überprüfen.“ „Sehen Sie auch einen Zusammenhang mit jenem Nachmittag, auf den es uns ankommt?“ „Nicht direkt“, erwiderte Astrid zögernd. „Ich denke eher, Anton Zinn hat von Trebbins Betrügereien gewußt und ihn erpreßt, damit er über gewisse Dinge den Mund hält.“ „Möglich.“ Simosch wies auf einen Stuhl. „In fünf Minuten werden die beiden und Frau Rotter vorgeführt. Wenn Sie gleich hierbleiben möchten, nehmen Sie doch Platz.“ Er selbst lief weiterhin unruhvoll im Zimmer hin und her. „Ich frage mich nur, worüber er den Mund halten soll, jetzt noch? Die Tiefenprüfung in der ‚Hochzeitskutsche‘ und die gleichzeitige Kontrollinventur in ‚Chic und Charme‘ haben alles, was in bezug auf Unterschlagungen und Manipulationen herauszufinden war, lückenlos aufgedeckt.“ „Davon bin ich überzeugt“, stimmte Leutnant Funke zu. „Sollten wir einige Details noch nicht kennen, werden sie in den nächsten Tagen gewiß ans Licht kommen. Also haben weder Zinn noch Rotter oder Dieter Trebbin eine Chance, uns in dieser Angelegenheit etwas zu verheimlichen.“ „Weshalb zum Donnerwetter leugnen sie denn trotzdem Trebbins Anwesenheit mit dem LKW“, fragte Simosch leise und gab sich gleich selbst die Antwort. „Weil sie etwas zu verbergen haben, das mit Dannhoffs Tod zusammenhängt.“ Er blieb vor Astrid stehen. „Mit Dannhoffs Tod kann aber nur eine nächtliche Schwarzfahrt zusammenhängen“, hielt sie entgegen. „Ich kann es nicht nachweisen. Sie müßten es mir schon 174
berichten – und das scheinen sie zu wissen, zu ahnen mindestens. Es sei denn, ich behaupte dreist, Zeugen dafür zu haben, daß Trebbins Wagen gegen dreiundzwanzig Uhr nicht vor seinem Haus parkte. Mit solchen Bluffs arbeite ich ungern, die können zum Bumerang werden.“ „Wohl kaum in diesem Falle.“ Astrid Funke sah Simosch in die Augen. „Wir sollten es riskieren.“ Zwischen Anton Zinn, Dieter Trebbin und Frau Rotter hatte sich je ein Wachtmeister postiert, so daß es den Vorgeführten unmöglich war, miteinander zu sprechen. Frau Rotter hatte diesmal die Chemie mit Erfolg bemüht und eine gepflegte Frau Mitte Dreißig aus sich gemacht. Sie sah ernst und gefaßt aus. Anton Zinn war wie immer akkurat gekleidet. Sein arrogantes, zuversichtliches Lächeln kündigte an, daß er sich der Situation durchaus gewachsen fühlte. Dieter Trebbin hingegen trug Jeans und einen Pulli, dessen Kragen- und Ärmelränder nicht mehr ganz sauber waren. Er hatte etwas von der Aufgeregtheit eines Abiturienten an sich, der schlecht vorbereitet zum Examen kam und sich nun Vorwürfe machte. Gudrun Wehler wartete im Nebenzimmer, daß man sie aufrief. Astrid saß hinter Oberleutnant Simoschs Schreibtisch, Simosch stand am Fenster. Sie seien zusammengekommen, um endgültig den Widerspruch zu klären, den es über Herrn Trebbins Anwesenheit im Warenhaus ‚Chic und Charme‘ am Nachmittag vor Dannhoffs Tod gäbe, erläuterte Astrid Funke. Sie fragte der Reihe nach Frau Rotter, Herrn Zinn und Dieter Trebbin, was sie dazu zu sagen hätten, und erhielt die bekannten Antworten: Weder sei Ware geliefert worden noch habe man Trebbin oder dessen Wagen im Wirtschaftshof gesehen, außerdem sei Anton Zinn nicht mit seinem Wartburg dort gewesen. 175
Leutnant Funke sagte: „Ich lese jetzt die Aussage einer Verkäuferin des Warenhauses ‚Chic und Charme‘ vor, die von mir zu diesem Problem befragt wurde. ,Als ich am Nachmittag in den Waschraum ging, hörte ich einen Wagen in den Hof fahren. Durch das offenstehende Fenster sah ich, daß es ein weißer Wartburg war. Daraus stieg Herr Zinn …‘ Was haben Sie dazu zu sagen? Sie fahren doch einen weißen Wartburg?“ Zinn nickte. „Ich – fuhr ihn auch an jenem Nachmittag“, gestand er, zu zerknirscht, um glaubwürdig zu sein. „Bitte, verstehen und verzeihen Sie mir diese kleine Notlüge. Wie ich schon Frau Wehler sagte, hatte ich mir nach der aufregenden Gerichtsverhandlung einen Schluck genehmigt – und mich dann ans Steuer gesetzt. Das war es, was ich verschweigen wollte.“ „Frau Rotter, was sagen Sie dazu?“ fragte Simosch schnell. „Ich habe weder Herrn Zinns Wagen gesehen noch Herrn Zinn gefragt, mit welchem Verkehrsmittel er zu uns gekommen ist.“ „Aber Sie mußten den Wartburg doch im Hof bemerkt haben.“ Astrid Funke sah nun Dieter Trebbin fragend an. „Nein, ich habe ihn nicht gesehen.“ Für Sekunden war Erschrecken in Trebbins Augen. Hatte er nicht eben einen Fehler gemacht? „Ich konnte ihn ja nicht sehen“, fügte er hastig hinzu, „weil ich gar nicht dort war.“ Gudrun Wehler wurde gerufen. Sie erzählte noch einmal, wie sich alles abgespielt hatte, und beschrieb Trebbins Kleidung, die er damals getragen hatte. Trebbin fuhr unbeherrscht dazwischen und behauptete, das habe sie sich ausgedacht. Natürlich besitze er die von ihr beschriebene Cordhose und die Lederjacke, sie habe ihn sicherlich darin schon gesehen – aber nicht an jenem Tag. 176
Gudrun Wehler bedachte Trebbin mit einem mitleidig-mahnenden Blick. Sie durfte nach Hause gehen. „Herr Zinn“, sagte Leutnant Funke, „am Abend vor Ihrer Verhaftung haben Sie nicht nur Ihre ehemalige Freundin Ines Schenk aufgesucht, sondern auch Herrn Trebbin. Was wollten Sie von ihm?“ „Ein Privatbesuch.“ Zinn zog mißbilligend die Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. „Es ist doch wohl erlaubt, nach Feierabend Freunde zu besuchen …“ „Um zu besprechen, wie man am besten vor der Polizei falsche Aussagen aufrechterhält? Um dem ‚Freund‘ zu drohen oder ihn gar zu erpressen?“ „Muß ich mir derartige Unterstellungen bieten lassen?“ Zinns Empörung war sogar echt. Hilfesuchend blickte er von dem Wachtmeister neben sich zu Simosch. Den Wachtmeister schien nur das Tapetenmuster an der gegenüberliegenden Wand zu interessieren. Simosch lächelte freundlich. „Herr Zinn hat Sie nicht angetroffen“, bemerkte Leutnant Funke zu Trebbin. „Wo sind Sie denn gewesen?“ „Was weiß ich.“ „Es war jener Abend, an dem Sie sich ein blaues Auge holten“, erinnerte Simosch. „Wer hat Sie geschlagen und warum?“ „Ach so“, machte Trebbin gedehnt, „ich bin da mit einem Angetrunkenen aneinandergeraten …“ „Vor oder nach Ihrem Besuch in der Tankstelle?“ fragte Leutnant Funke. „Was soll denn das?“ „Es gab keinen Angetrunkenen, aber es gibt jemanden in einer Tankstelle, dem es an den Kragen geht, wenn Ihre Betrügereien mit den Benzinmarken ans Licht kommen.“ Trebbin fuhr auf, warf einen wütenden Blick zu Anton Zinn, der ihn mit einem kurzen Kopfschütteln zurechtwies. 177
„Sie irren sich. Herr Zinn hat uns das nicht verraten“, warf Astrid ein, „und nun reden Sie endlich.“ „Ich – habe wiedergutmachen wollen. Wenn der Röhner, der Tankstellenwart, vernünftig ist, dachte ich, dann kriegen wir’s vielleicht hin und können zumindest den größten Teil von dem Geld ersetzen …“ „Röhner war wohl nicht vernünftig?“ fragte Simosch. „Er hatte angeblich schon alles verbraucht, was für ihn dabei herausgesprungen war. Er wurde wütend, weil die Sache schiefzugehen drohte. Ich hatte ihm vorher versichert, daß uns nichts passieren kann.“ „Sie haben sich geprügelt?“ „Er ist jähzornig“, erklärte Trebbin. „Ich habe nicht zurückgeschlagen. In gewisser Weise konnte ich seine Wut sogar verstehen.“ „Wieso haben Sie denn plötzlich diese Betrügereien bereut?“ fragte Astrid. „Ich hatte Angst, daß man bei der Tiefenprüfung im Warenhaus dahinterkommt.“ „Und wie hängt diese Benzingeschichte mit jenem Nachmittag zusammen, an dem Sie angeblich nicht im Warenhaus ‚Chic und Charme‘ gewesen sind?“ Simosch kam vom Fenster her ein paar Schritte ins Zimmer, angelte sich einen Stuhl und setzte sich neben Astrid Funke. „Das hängt überhaupt nicht zusammen.“ „Warum sind Sie nur so darauf erpicht, uns einen Bären aufzubinden?“ fragte Simosch kopfschüttelnd. „Für Sie kommt doch nichts Gutes ’raus dabei.“ Trebbins Blick irrte hilfesuchend zu Anton Zinn. „Vor einem Jahr noch“, redete Leutnant Funke ihm zu, „waren Sie das, was man einen rechtschaffenen Bürger nennt, geschätzt im Kollegenkreis, kein Kneipengänger, verheiratet …“ „Was kann ich dafür, daß sich das Luder rumgetrieben hat!“ 178
„Nicht die Scheidung hat Sie aus der Bahn geworfen, Herr Trebbin. Sie waren Ihrer Frau gegenüber großzügig, haben ihr alles gelassen, Möbel und Hausrat, und nur um Ihren Jungen gekämpft. Eine Zeitlang waren Sie ihm ein guter Vater …“ „Das bin ich immer noch“, verteidigte sich Trebbin mit hoher, angespannter Stimme. „Sie sind drauf und dran, ihn zu verlieren“, bemerkte Simosch sachlich. Dieser Ton schreckte Trebbin. „Wegen der paar Benzinmarken?“ Sein Gesicht war unnatürlich weiß. „Sie schleppen irgendwas mit sich herum“, sprach Astrid weiter auf ihn ein. „Sie geben nicht alles zu, was Sie wissen, bereuen aber schon lange, in irgendeinen Schlamassel hineingeraten zu sein.“ „In zwei Schlamassel“, ergänzte Simosch. „Erstens die Sache mit den Benzinmarken. Die konnte nicht klappen, ohne daß Herr Zinn davon wußte. Der ließ Sie Ihr Schäfchen ins trockene bringen, erpreßte Sie aber damit, als er Ihr Schweigen brauchte …“ „Äußerst interessante Märchenstunde“, mokierte sich Zinn mit verhaltener Wut. „Sie sind gleich dran“, vertröstete ihn Simosch, „Momentchen noch.“ Zu Trebbin gewandt, fuhr er fort: „Was Sie uns da verschweigen wollen, ist der zweite Schlamassel, in den hat Zinn Sie hineinrutschen lassen – und der hängt mit Dannhoffs Tod zusammen.“ Dieter Trebbin schwieg. Es war ein ratloses, dumpfes Schweigen. „Herr Trebbin“, sagte Leutnant Funke eindringlich, „wissen Sie nicht, was eine Tiefenprüfung bedeutet? Es gibt nichts, was man uns jetzt noch verheimlichen könnte. Herr Zinn ist auch nicht mehr der Mann mit der Warenhausleitung in der Tasche. Er kann Sie nicht mehr erpressen.“ „Das ist doch eine Unverschämtheit!“ protestierte Zinn. 179
„Halten Sie den Mund, bis wir Sie fragen“, wies der Oberleutnant ihn zurecht. „Sagen Sie uns die Wahrheit, Herr Trebbin“, forderte Astrid. Auf Trebbins Stirn perlten Schweißtropfen. „Oder möchten Sie lieber, daß wir Ihre Geschichte erzählen?“ fragte Simosch. „Wir kennen sie, wollten Ihnen nur die Chance für ein Geständnis lassen.“ Simosch war aufgeregt, ließ sich aber von seiner Spannung nichts anmerken, als er weitersprach: „Wir haben jemanden gefunden, der bezeugen kann, daß Ihr Wagen an jenem Abend gegen dreiundzwanzig Uhr nicht vor Ihrem Haus parkte.“ Sie schwiegen. Alle. Jetzt kam es darauf an, ob Trebbin diese Behauptung als Bluff durchschaute. Simosch fühlte sein Herz bis zum Hals schlagen. Er konnte nicht sofort antworten, als Trebbin endlich sagte: „Na schön. Und was soll das?“ „Das soll eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung oder sogar wegen Mordes gegen Sie werden“, erwiderte er schließlich. Trebbin riß den Mund auf, schnappte nach Luft, stöhnte. „Während Herr Zinn wegen Unterschlagung vor Gericht stehen wird“, fügte Astrid schnell hinzu. „Nein! Nein!“ schrie Trebbin außer sich. „Das ist ungerecht. Ich habe doch nichts gewußt. Ich nicht!“ Er weinte. Birgit Rotter öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, starrte aber nur mit unergründlichem Blick Anton Zinn an. Der saß bewegungslos mit hartem Gesichtsausdruck wie eine Schnitzfigur. „Frau Wehler hat recht“, sagte Trebbin leise. Er bemühte sich, seiner Gefühle Herr zu werden. „Man findet keine Ruhe, ehe man’s nicht von der Seele hat.“ „Wann haben Sie mit Frau Wehler gesprochen?“ fragte Astrid freundlich. 180
Trebbin wischte mit dem Jackenärmel über die Augen. „Gestern abend“, sagte er, „ich habe sie gebeten, ihre Behauptung zurückzunehmen, aber sie ging nicht darauf ein. Sie hat recht: Ich war damals im Kaufhaus, und zwar mit dem leeren LKW. Später bin ich in Herrn Zinns Wartburg mitgefahren.“ „Wohin?“ „In irgendein Cafe. Den Namen weiß ich nicht mehr. Wir wollten die Zeit totschlagen, bis es dunkel wurde und wir Ware verladen konnten. Ich habe vom Cafe aus meine Nachbarin angerufen, sie möchte sich um den Jungen kümmern.“ „Warum wollten Sie die Ware erst im Dunkeln verladen?“ Er zuckte die Schultern. „Herr Zinn sagte immer, je weniger ich wüßte, um so besser für mich.“ „Daraus konnten Sie doch entnehmen, daß an der Sache etwas faul war“, hielt Astrid ihm vor. „Herr Zinn war immer großzügig zu mir. Er hat mir für diese Sonderfahrten gute Trinkgelder gegeben. Allerdings …“ „Was – allerdings? Sprechen Sie ruhig weiter.“ Trebbin hatte wieder Tränen in den Augen. „Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Es war – weil ich schnell vorwärtskommen wollte, dem Jungen zuliebe. An der Tankstelle hat mich Röhner darauf gebracht, wie man an Benzinmarken verdienen kann. Ich hab’s probiert und ihm dann zugesichert, daß es eine todsichere Sache sei …“ Er stockte, sprach schließlich mit fester Stimme weiter: „Herr Zinn hat mich gebeten, ein paar Extratouren zu fahren, und meinte, er werde mir gelegentlich auch behilflich sein. Wir haben damals nicht über die Benzinmarkengeschichte gesprochen, aber ich war sicher, er wußte davon und ließ sie mir durchgehen – wegen der Sonderfahrten.“ „Haben Sie nie darüber nachgedacht, was dahinterstecken könnte?“ fragte Simosch. 181
„Doch. Es hing mit den Lieferscheinen zusammen, die ich nie mitbekam. Herr Zinn sagte mir, es gäbe Schwierigkeiten damit, aber sie würden nachgereicht. Zuletzt habe stets alles seine Richtigkeit. Und so war es ja auch. Nur Herr Dannhoff, der hat das nicht geglaubt.“ Simosch fragte schnell, wann er mit dem Wirtschaftsprüfer darüber gesprochen habe. „Vor ein paar Wochen. Als er in die ‚Hochzeitskutsche‘ kam. Ich hatte wieder Sonderfahrten – bis dahin wurden sie tagsüber zwischengeschoben –, und eines Nachmittags, als ich mit dem LKW ankam, stand Dannhoff neben dem Lagerraum. Er wollte den Lieferschein sehen, und ich erklärte ihm, der würde nachgereicht. Er hat mich ermahnt, mich nicht für solche Sachen herzugeben. Die Prüfungsergebnisse, meinte er, seien irreal, wenn Ware und Lieferschein nicht zusammen eintreffen. Ich habe versprochen, künftig die Finger davonzulassen.“ „Haben aber nicht auf ihn gehört“, sagte Astrid. „Ich wollte erst mit den Benzinmarken-Schummeleien aufhören und alles im Sande verlaufen lassen, damit Herr Zinn nichts mehr gegen mich in der Hand hatte.“ Simosch fragte, ob Zinn von dieser Begegnung mit dem Wirtschaftsprüfer gewußt habe. „Ich hatte Herrn Dannhoff versprochen, niemandem davon zu erzählen, aber damals in dem Cafe, als wir gewartet haben, daß es dunkel würde und Frau Rotter uns in den Keller ließ, da habe ich’s doch ausgeplaudert. Einfach aus Angst, Dannhoff könne mich wieder erwischen. Herr Zinn beruhigte mich und sagte, es müßten nur noch zwei, drei Fahrten sein, damit er aus dem Schneider käme, dann wäre ohnehin Schluß damit. Es ist aber bei der einen Fahrt geblieben.“ „Frau Rotter“, fragte Leutnant Funke, „hatte Herr Dannhoff recht? Haben Sie auf diese Weise Herrn Zinn geholfen, sein Manko zu kaschieren?“ 182
„Was glauben Sie, woher sonst der Fehlbetrag in meinem Warenhaus stammt?“ Sie warf Zinn einen enttäuschten Blick zu, wandte sich ab und betrachtete die Gardinen. Der Oberleutnant fragte Trebbin, wann er mit der Ware vom Kaufhaus „Chic und Charme“ abgefahren sei. „Halb elf Uhr nachts. Ich sehe immer zur Uhr, wenn ich irgendwo losfahre.“ „Und wann waren Sie in der ‚Hochzeitskutsche‘?“ Genau wußte es Trebbin nicht, aber es ließ sich ungefähr errechnen. Man fuhr zwanzig Minuten von einem Haus zum anderen. Da die Straßen glitschig waren, mußte man noch ein paar Minuten dazuzählen. „Wann kam Dannhoff?“ fragte Simosch unvermittelt. „Er hat Ihnen an jenem Abend aufgelauert.“ „Davon weiß ich nichts.“ „Herr Trebbin, Sie wollten bei der Wahrheit bleiben“, mahnte der Oberleutnant. „Dannhoff hat anfangs vor der ‚Hochzeitskutsche‘, später im Wirtschaftshof auf Sie gewartet. Sie fuhren wieder ohne Lieferschein und konnten sich nicht mehr mit Unwissenheit entschuldigen. Herr Dannhoff wurde gefährlich für Sie …“ „Sie irren sich! Ich habe ihn nicht bemerkt. Er muß durch die Verbindungstür zum Keller gekommen sein, ich habe die ganze Zeit über im Wagen gesessen.“ „Und wo war Herr Zinn?“ fragte Simosch. Es nieselte. Anton Zinn kletterte vom LKW und öffnete das Tor zum Wirtschaftshof, der Lastwagen rollte langsam an. Zinn schloß den Lagerraum auf, sprang zu Trebbin aufs Trittbrett und rief ihm durch das heruntergekurbelte Fenster zu: „Fahren Sie schon mal rückwärts in den Schuppen ’rein, damit der Wagen von der Bildfläche verschwindet.“ „Wird gemacht. Bißchen Licht brauche ich noch.“ „Unsinn. Das muß ohne Festbeleuchtung funktionie183
ren. Ich komme durch den Keller. Das Licht, das durch die Zwischentür fällt, reicht zum Abladen.“ Er sprang vom Trittbrett, lief zum Eingangstor, schloß es ab und warf einen besorgten Blick auf den LKW, der wie ein störrisches Ungetüm in dem dunklen Hof stand. Zinn ging zum Hintereingang des Warenhauses und fluchte leise über das Sauwetter. Da legte Trebbin den Rückwärtsgang ein. „Na also“, murmelte Zinn, schüttelte sich und klopfte die Nässe vom Leib. Dann stieg er zum Keller hinunter. Irgendwo zwischen kleiderbehangenen Ständern und warenbeladenen Regalen hörte er ein leises, schleifendes Geräusch. Er blieb stehen und lauschte. Was war das gewesen? Hier gab es weder Ratten noch Mäuse oder Katzen, schließlich war das kein Kartoffelkeller, sondern ein trockener, pieksauberer Raum, lediglich durch ein System von Rohren verunziert. Zinn schlich zum Lichtschalter, knipste schnell hintereinander sämtliche Lampen an und ging den Hauptgang entlang auf die Zwischentür zu. Plötzlich sah er den Schatten eines Menschen. Sein eigener war es nicht. Der Schatten bewegte sich vor ihm her ebenfalls auf die Verbindungstür zu, die nicht abgeschlossen war, und verschwand. Anton Zinn sprang hinterher, doch ehe er die Tür erreichte, hörte er dahinter einen dumpfen Aufprall, danach Poltern und Krachen. Zinn riß die Tür auf, eine Kiste fiel ihm entgegen, er sprang zur Seite, stieg dann über sie hinweg in den Lagerraum und stand vor einer seltsamen Gebirgslandschaft aus verrutschten, verkanteten, übereinandergeschobenen Kisten. Der schmale Gang zwischen den ehemals ordentlich gestapelten Kisten und der Wand war ebenfalls verschüttet und mit Lagergut verkeilt. Der LKW hatte den Kistenberg gerammt und ein Chaos verursacht. Anton Zinn spürte eine seltsame Kälte im Rücken. Er rief mit brüchiger Stimme: „Hallo! Ist hier jemand?“ 184
„Wenn Sie immer noch nicht mitgekriegt haben, daß ich hier bin, kann ich ja noch mal ’reinfahren“, antwortete Trebbin ärgerlich, den Kopf aus der Fahrerkabine steckend. Plötzlich war Erschrecken in seinem Blick. „Was denn, ist da jemand gewesen?“ „Ach wo“, sagte Zinn. Er sah unnatürlich blaß aus, lächelte aber schon wieder. „Sollte bloß ein blöder Witz sein.“ Um zu beweisen, daß ihm noch immer nach Witzen zumute war, fügte er hinzu: „Sie und Ihr Wagen sind heute recht entgegenkommend.“ „Schnapsidee“, knurrte Trebbin, „mich ohne Licht hier ’rumkurven zu lassen. Was soll denn nun werden?“ „Fahren Sie erst mal ein Stück vor.“ Trebbin fuhr an, wieder polterten Kisten. Er stieg aus, trat neben Zinn und blickte ratlos auf das Durcheinander. „Und jetzt? Das kriegen wir doch im Leben nicht wieder hin.“ „Im Leben schon“, entgegnete Zinn, „aber heute nacht nicht mehr. Wir laden zuerst ab. Anschließend bauen wir wenigstens die vordere Kistenreihe wieder auf, damit die Lagerarbeiter morgen früh Ordnung hier vorfinden.“ „Ich habe früh einen Transport.“ „Das geht klar. Die vier Kisten, die Sie wegbringen, stellen wir neben die Tür, griffbereit zum Aufladen. Sobald Sie abgefahren sind, gebe ich Renner und seinem Otto irgendeine Arbeit außerhalb des Lagerraums. Die hinteren Kisten werden vorläufig nicht ausgepackt, da sind Bücher und Töpfe und so’n Kram drin. Ehe wir da ’ran müssen, kommt bestimmt noch ein Transport von der GHG, und wenn dann eines Tages jemand das Malheur entdeckt, kann keiner mehr feststellen, wann und wem es passiert ist.“ „Sie finden wohl für jeden Mist, den Sie fabrizieren, einen Abfalleimer“, sagte Trebbin und ging zurück zum Wagen. 185
Anton Zinn ließ ihm die teils bewundernd, teils verächtlich ausgesprochene Bemerkung ohne ein Wort durchgehen. „Wußten Sie, daß es Dannhoff gewesen war, den Sie bemerkt hatten?“ fragte Oberleutnant Simosch. Zinn schüttelte den Kopf. „Ich habe es befürchtet, weil Trebbin erzählt hatte, Dannhoff habe ihm einmal aufgelauert.“ „Warum haben Sie Herrn Trebbin nichts von Ihrer Befürchtung gesagt oder Hilfe geholt, um nachzusehen, ob jemand unter den Kisten liegt?“ „Für den, der darunterlag, wäre jede Hilfe zu spät gekommen.“ „Das konnten Sie nicht beurteilen!“ „Ich hatte Angst“, gestand Zinn leise und flehend. Neue Töne, die weder die Kriminalisten noch seine Mitarbeiter an ihm kannten. „Ich habe das doch nicht gewollt.“ „Aber verursacht durch Ihre Sonderfahrten. Wachtmeister, führen Sie die beiden ab.“ Mit einem fragenden Blick zu den Kriminalisten, sagte Frau Rotter: „Und ich?“ Leutnant Astrid Funke trat auf sie zu. „Mit Ihnen habe ich noch ein Wörtchen zu reden.“
4. Quergang acht. Zimmer dreihundertzweiundachtzig. Gudrun Wehler betrat an diesem Tag den Raum zum letzten Mal. Hier sollte ein Urteil über sie gesprochen werden. Verurteilt. Dieses Wort beschäftigte sie schon den ganzen Morgen über. Immer wieder sprach sie es aus, bald flüsternd, kaum verständlich, dann wieder hart und klar. Es war ihr, als verlöre es 186
etwas von seinem Schrecken, wenn sie es vor sich hin sagte, so wie alles Unbekannte an Schrecken einbüßt, wenn man sich nur lange genug damit beschäftigt hat. Der Verhandlungssaal war fast leer. Nur wenige Angestellte aus den Warenhäusern „Hochzeitskutsche“ und „Chic und Charme“ saßen auf den Besucherbänken. Wer sollte auch kommen für die paar Minuten, in denen das Urteil gesprochen wurde? In der „Hochzeitskutsche“ hatten sie alle Hände voll zu tun und die Köpfe voller Probleme nach dieser Tiefenprüfung. Sie ging auf die Anklagebank zu und setzte sich. Der Verteidiger begrüßte sie, sagte etwas von „Kopf hoch“ und „tapfer sein“. Gudrun Wehler hörte kaum hin. Plötzlich saß die Angst wieder in ihr, die sie längst überwunden glaubte. War es der leere Saal, der Staatsanwalt, der eben eintrat, der joviale Ton Treikes, der sie schreckte? Staatsanwalt Kabelitz hatte neben einer Geldstrafe auch Freiheitsstrafe für sie beantragt. Ihr Mann, Konrad, würde während ihrer Abwesenheit in ein Pflegeheim aufgenommen werden, und danach würden sie beide neu anfangen. Auch so ein Wort, das nicht stimmt, dachte sie. Man kann nach mehr als zwanzig Ehejahren nicht neu anfangen und so tun, als lerne man sich eben erst kennen. Es kam wohl auch mehr darauf an, zu begreifen, daß man sich vertrauen und aufeinander verlassen konnte. Das Gericht erschien. Frau Wehler erhob sich mechanisch. Als sie sich setzen durfte, kramte sie schnell ihr Seidentuch aus der Tasche und umklammerte es. Sie konnte trotzdem nicht verhindern, daß das Zittern die Arme hochkroch. Gefängnis. Eine Zelle mit fremden Frauen und deren Geschichten, Tränen, Ausdünstungen. Es hatte Zeiten gegeben, zu denen sie ihr Zuhause verwünscht hatte, das Spritzbesteck in der Schublade, die Tabletten neben dem Abendbrotteller, eine Atmosphäre von Krankheit. Jetzt würde sie dieses Zuhause 187
annehmen wie ein Geschenk, wenn ihr die Zelle erspart bliebe. Es ist nicht nur das, dachte sie, ich brauche auch Konrad. Seit er alles weiß, ist er ruhiger geworden, verständnisvoll sogar und zuversichtlich. „… hat das Gericht folgendes Urteil beschlossen. Ich bitte die Angeklagte, sich zu erheben.“ Sie stand auf, wankte ein wenig, und Treike griff nach ihrem Arm. Sie wehrte ab. Das Gericht war im Verlaufe des Prozesses zu der Ansicht gelangt, Frau Wehler sei einsichtig und bereue zutiefst. Es würdigte die Offenheit, mit der sie alles eingestanden hatte, auch Dinge, die man ihr nicht ohne weiteres hätte nachweisen können. Es war der Ansicht, Frau Wehler habe mit ihrem bisherigen Leben reinen Tisch gemacht, und hielt deshalb außer einer hohen Geldstrafe eine Verurteilung auf Bewährung für angemessen. Lohstetts Worte drangen erst in Gudrun Wehlers Bewußtsein, als sich das Gericht bereits zurückgezogen hatte. Sie stand noch immer krampfhaft aufrecht vor dem Richtertisch. Staatsanwalt Kabelitz packte seine Unterlagen und nickte ihr zu, lächelnd, aufmunternd. Auch er schien das Urteil zu billigen. „Sie können nach Hause gehen, Frau Wehler“, sagte Rechtsanwalt Treike, „kommen Sie.“ Nach Hause. Sie mußte sich setzen. Nach Hause. Gudrun Wehler lächelte. Es war ihr erstes Lächeln in diesem Raum.
188