Burt Frederick
THEMSE-GEIER Die Stadt London hatte zwei Gesichter. Der Glanz des Hofes von Königin Elisabeth konnte ni...
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Burt Frederick
THEMSE-GEIER Die Stadt London hatte zwei Gesichter. Der Glanz des Hofes von Königin Elisabeth konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich auch in ihrer engsten Umgebung bemerkenswerte Schurken im feinen Gewand herumtrieben. Und daß sich längs des Themseufers der Abschaum der Insel und jeder Schnapphahn eingenistet hatte, der im Bannkreis der großen Stadt auf leichte Weise reich werden wollte, wußte Philip Hasard Killigrew sehr genau. Wenn es um viel Geld, um eine lockende Beute ging, verlor ein Menschenleben augenblicklich seine Bedeutung. Gerüchte waren schneller als der Blitz im Gewitter. Im Kielwasser der Schebecke stampfte das spanische Silberschiff. Für diese Prise lohnten sich Überfälle und kaltblütige Morde - und in diesem Fall würden die Seewölfe die Zielscheibe der menschlichen Geier sein, die an dem Ufer der Themse lauerten...
Die Hauptpersonen des Romans: Revson Akehurst - der Landedelmann ist gar nicht so edel, aber gut im Pläneschmieden. Harris Shenfield - auch er gehört zum niederen englischen Adel und plant mit seinem Freund Akehurst den ganz großen Coup. Patrick Towyn - spielt zwar nur einen reitenden Boten, verfolgt dabei aber ein ganz bestimmtes Ziel. Don Juan de Alcazar - gerät in die Falle abgefeimter Schurken und landet im Tower. Philip Hasard Killigrew - einer Erpressung gibt er zunächst nach, aber dann schlägt er zu.
1. Kapitän Philip Hasard Killigrew stand breitbeinig auf dem Achterdeck der Schebecke und genoß den eigentümlichen Geruch der Straße von Dover. Es war kein exotischer oder sonderlich begeisternder Geruch, aber für den Seewolf und seine Crew bedeutete es den lang erwarteten Duft der Heimat. „Sind das nun die Türme von Ramsgate, Folkestone oder Hastings? Es kann ja sein, daß sie in den letzten Jahren ein paar Kirchen oder Abwehrtürme gebaut haben, die ich nicht kenne", fragte Stenmark und gab dem Ersten, Ben Brighton, das Spektiv zurück. Ben zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Woher soll ich wissen, was an Land gebaut wurde? Kann ich nicht sagen. Noch nicht. Welcher Kurs liegt an?" Die Galeone „Fidelidad" mit ihrer kleinen Crew segelte im Kielwasser der Schebecke. An Backbord breitete sich, im dünnen Dunst nur schwer zu erkennen, die Küstenlinie der Insel aus.
„Vorhin habe ich klar Nordost gelesen", antwortete der Schwede. Der Seewolf schwieg und dachte an die zurückliegenden Abenteuer und Erlebnisse, und er fragte sich, ob sie in London mehr Ruhe haben würden als bisher. Natürlich zweifelte er daran, denn die Zeiten waren alles andere als ruhig. Für ihn war es wichtig, das Silberschiff ohne Komplikationen loszuwerden, die Schebecke zu überholen und seiner Crew an Land jede nur mögliche Annehmlichkeit zu gewähren. Am Geld sollte es nicht liegen. Die Arwenacks waren keine armen Kirchenmäuse. Ob sie allerdings das Geld mit vollen Händen ausgaben, war ebenso fraglich wie alles andere. Nicht mehr als ein Tag Fahrt trennte sie von London, von der London Bridge, vom Liegeplatz am Themseufer. „Nordost?" Der Erste überlegte. „Dann muß es wohl Folkestone sein." Aber er war nicht völlig sicher. „In ein paar Stunden wissen wir's ganz sicher", tröstete ihn Old Donegal. „Was soll's! Wir wollen nach London und nicht nach Ramsgate."
5 „Man wird ja noch fragen dürfen, ner war überfordert, erschöpft und sinicht wahr?" knurrte Stenmark und cherlich hocherfreut, wenn sie Lonenterte zur Kuhl ab. don erreichten und sich an Land ausDie Stimmung der Mannschaft schlafen und verwöhnen lassen konnschwankte so dicht vor dem Ziel zwi- ten. schen Erleichterung und der Befürch„Aye, aye, Sir." tung, im letzten Augenblick noch von Nicht nur der Seewolf, auch jeder ihrem Ziel abgelenkt zu werden, auf Mann dachte darüber nach, was in welche Art auch immer das passieren London passieren konnte und mochte. zwangsläufig passieren mußte. Die „Sind eigentlich alle unverkennbar, Vorstellungen, die jetzt laut wurden, die Kirchtürme und die Mauern um gingen natürlich weit auseinander. die Städte", meinte der Seewolf. Die Arwenacks wußten, daß diese „Fest steht jedenfalls, daß wir hinter Stadt, für viele von ihnen nicht zu UnRamsgate hart nach Backbord segeln recht als Heimathafen geltend, nur müssen. Dan?" eine Station bleiben Würde. Früher „Sir?" oder später legten sie wieder ab und „Laufen wir mit der Flut themse- richteten den Bugspriet in eine anauf?" dere Richtung der Windrose. „Das kommt ungefähr hin. Bis wir Al Conroy stemmte sich den Niebei Southend-on-Sea sind, wird die dergang hoch und musterte seine CulFlut eingesetzt haben." verinen. Die Hälfte der GeschützVor der Küste segelten kleine Fi- rohre trug keine Schutzhüllen mehr. scherboote langsam nach Südwest. Die Crew blieb wachsam. Hinter dem Nebel, der einige Stunden „Also", sagte Dan O'Flynn zu ihm, vor Mittag das Land versteckte, ho- „viel Gelegenheit, Al, wirst du heute ben sich Rauchsäulen schräg in die wohl nicht erhalten. Was mich, neLuft. Möwen schwammen auf den benbei, sehr freut. Irgendwann muß Wellen und warfen den beiden Schif- einmal Schluß sein." fen schräge Blicke zu. Die „FideliDer Stückmeister der Arwenacks dad" blieb, langsam und behäbig, auf warf einen langen, nachdenklichen geradem Kurs. Die Schebecke segelte Blick zur Galeone zurück. mit einem Schrick in den Schoten vor „Wer weiß? Wir sind noch nicht am der Galeone, verringerte dadurch Kai im Schatten des Towers", antihre Geschwindigkeit und bewachte wortete er grimmig. „Bevor die gleichzeitig das unersetzliche Silber- Queen ihr Schiff nicht hat, denke ich schiff. ständig an die vielen Schurken, von „Das höre ich gern, Dan", erwiderte denen alle Meere voll sind." der Seewolf. „Wir bleiben auf Kurs." „Du mußt Alpträume haben, wie?" Die ereignisreiche Nacht von brummte Dan und suchte den HoriDieppe lag mittlerweile zurück und zont mit seinem Spektiv ab. zählte zu der nicht gerade ärmlichen „Das nicht gerade", meinte Al ConErinnerung der Crew. Auch die roy. „Aber ich halte mein Pulver trokMannschaft drüben auf der „Fideli- ken und die Lunten am Glimmen." dad" würde froh sein, wenn sie endHasard nickte ihm zu. lich ihr beschwerliches Kommando Er zeigte es nicht, aber auch er war abgeben konnte. Die Handvoll Män- unruhig. Natürlich kannte er den Zu-
6 stand nicht, in dem sich die Themse von der Mündung bis Chelsea befand. Hasard junior fragte ein wenig besorgt: „Eigentlich müßtest du von früh bis spät lachen, Dad. An was denkst du, wenn du ein solches Gesicht zeigst?" „Auf keinen Fall an die anständigen Frauen und Männer in der Umgebung der Queen", entgegnete der Seewolf und legte den Arm um die Schulter seines Jungen. „Mittlerweile ist die fremdartige Schebecke hier an den Küsten sicherlich bereits bekannt. Und daß wir eine schwerbeladene Galeone bewachen, wird man genauso wissen." „Das glaube ich auch." „Siehst du", erklärte sein Vater. „Darum kann noch allerlei passieren. Hier, auf dem offenen Wasser, wird niemand wagen, die Galeone auch nur schief anzusehen. Außer den Möwen, meine ich." „Stimmt." „Aber du wirst erleben, daß die Strecke von der Themsemündung bis zum Tower ungefähr so lang ist wie vom Schwarzen Meer bis Dieppe. Und etwa ebenso gefährlich." „Ich glaube fast, du bist davon überzeugt", meinte sein Sohn und zeigte offen seine Verwunderung. „Ich bin überzeugt", bestätigte der Seewolf und grinste kalt. „Überdies haben wir den Angehörigen einer Nation bei uns, die sich mit England in einer Art Kriegszustand befindet. Generalkapitän, sozusagen, Don Juan de Alcazar, um es genau zu sagen." „Daran", antwortete sein Sohn nach einigen Atemzügen, „habe ich nicht gedacht. Für mich ist Don Juan einer von uns." „Für mich auch", erwiderte der Seewolf. ,,Für jeden von uns. Aber
nicht für jemanden an Land, der uns daraus einen Strick drehen will." „Du meinst, es gibt da jemanden?" „Ich bin ganz sicher, daß es nicht nur einen gibt. Wenn man stets mit dem schlimmsten Ausgang einer Sache rechnet, wird man nicht überrascht." „Das merke ich mir", schloß Hasard junior. Der Wind wehte mit wenig Kraft, aber stetig aus einen Strich südlicher als West. Jedes einzelne Schiff, das der Schebecke begegnete, wurde mit größter Aufmerksamkeit aus vielen Augenpaaren beobachtet. Aber sie alle zogen friedlich ihrer Wege. Die Landschaft glitt lautlos vorbei, und der Nebel wurde gegen Mittag etwas dünner, so daß die Seewölfe deutlich die Türme und Landmarken von Ramsgate an Backbord erkannten. Dahinter sprang das Ufer scharf nach Westen zurück. Die Schebecke segelte einen Schlag auf den Kanal hinaus, um abzuwarten, bis die „Fidelidad" heranrauschte und die kleine Crew die Segel neu trimmte.
„Kannst du den Kurs halten?" fragte Don Juan de Alcazar und tippte auf die Abdeckung des Kompasses. „Trotz der Strömung?" Die Galeone stampfte mit Wind von Backbord nach Nordwesten. Recht voraus konnte Southend-onSea angepeilt werden. Das vorspringende Massiv des Landes verfälschte die Windrichtung. „Ich denke, ich schaffe es", erwiderte Jan Ranse und nickte. „Wie fühlt sich ein Spanier, wenn die Hauptstadt des Feindes vor ihm liegt?"
7 Don Juan lachte kurz und erwiderte in plötzlichem Ernst: „Für mich, wie jedermann weiß, ist ein Engländer kein Feind mehr. Denkst du, wir handeln uns deswegen, weil ich Spanier bin, Ärger ein?". „Das kann man nicht wissen", murmelte der Rudergänger. „Es soll in jedem Land der Welt Leute geben, die nicht über den kleinen eigenen Schatten springen können." Sie schauten sich an und zuckten mit den Schultern. Vor kurzer Zeit hatte Dan O'Flynn von der Schebecke aus herübersignalisiert. „Mit der Flut einlaufen!" lautete das Signal. In der riesigen Bucht zwischen Ramsgate und Clacton-on-Sea nahm der Schiffsverkehr zu. Jeder Typ von Schiff war vertreten, vom geruderten Fischerboot bis hinauf zu schweren und dickbäuchigen Handelsschiffen, die noch tiefer im Wasser lagen als die Galeone. Im schwachen Wind flatterten die Wimpel und Fahnen mit den Farben vieler Nationen, die spanische fehlte verständlicherweise. „Vielleicht gelangen wir an eine Stelle, an der ich die Flutmarken erkennen kann", sagte der Spanier und rechnete. „Mir scheint, daß wir gerade die Zeitspanne zwischen Ebbe und einsetzender Flut erwischt haben." Big Old Shane enterte aufs Achterdeck der „Fidelidad" und schnappte die letzten Bemerkungen Don Juans auf. „Bis wir an der Themsemündung sind, haben wir Flut", sagte er. „Du bist sicher?" „Ziemlich sicher. Gegen Mittag kippt die Tide, Juan." „Ein Lichtblick", sagte Don Juan. Von Big Old Shane bis Batuti gab es niemanden an Bord der Galeone,
der nicht froh gewesen wäre, wenn endlich die Festmacher um irgendeinen Poller an den Steinmolen in der Nähe des kantigen Towers gelegt werden konnten. Im Augenblick schnarchte die Freiwache unter Deck, und die Crew auf den Planken zeigte deutlich, wie erschöpft sie war. Die Bärte wuchsen ungehindert und struppig, die Kleidung konnte nicht mehr gepflegt werden, und es war höchste Zeit, endlich einmal wieder etwas Handfestes zu essen, ein gutes englisches Bier zu trinken und ein heißes Bad zu nehmen. Jetzt, als jeder Blick einen neuen Eindruck der bekannten Gegend der Themsemündung zeigte, steigerte sich die Stimmung. Die Aufregung wuchs, jeder sehnte das Ende herbei. Niemand sprach laut darüber, aber die Seewölfe wünschten sich nichts sehnlicher, als wieder an Bord der Schebecke zu gehen und das spanische Silberschiff zu übergeben. Aber noch stand die schwierige Fahrt themseaufwärts bevor. In vielen Biegungen führte das Fahrwasser an Forts vorbei, deren Kanonen seit den Tagen der „unbesiegbaren Armada" jeden Fleck der Wasseroberfläche bestreichen konnten. Die Seewölfe waren neugierig, ob und wie sehr sich die Zone entlang der Flußufer in der langen Zeit verändert hatte, in der sie nicht mehr hiergewesen waren. Von achtern näherte sich wieder die Schebecke. Die Männer winkten ohne rechte Begeisterung. Ein Schraler ließ die Segel killen, dann stemmte sich die Galeone wieder gegen die anlaufenden Wellen. Don Juan beobachtete durch das Spektiv die Landmarken und sah, daß das Wasser die obersten Flutmarken noch nicht erreicht hatte. Aber
8 noch stand der Wind einigermaßen günstig. „Wir segeln weiter", entschied er. „Und wenn wir die Riemen ausbringen und rudern müssen. Wie auch immer - heute soll der letzte Tag sein. Für mich ist die Fahrt noch vor Mitternacht zu Ende." Die Landschaft von Kent - viele Äcker, Obstbäume und Bauerngehöfte neben kleinen Burgen und Schlößchen - zog an Backbord vorbei. Essex erstreckte sich an Steuerbord, wo die Schebecke aufzuholen begann. Die Küstenlinie war unregelmäßig und führte mit ihren Hügeln und Wäldern langsam in jene Gegend am Mittellauf, wo London am rechten Ufer des Flusses lag. Die Schiffe, die themseabwärts in See gegangen waren, hatten die auslaufende Ebbe genutzt. Jetzt verschwammen die Segel der letzten Schiffe im sonnendurchstrahlten Nebel. Einige Fischerboote kreuzten den Kurs der beiden Schiffe. Vom Achterdeck der Schebecke rief Hasard zur Galeone hinüber: „Wir bleiben beieinander! Unser Ziel ist der Tower! Steuerbord, zwei Kabellängen vor der einzigen Brücke!" „Verstanden, Sir", rief Don Juan zurück. „Legen wir dort an?" „Das muß erst noch geklärt werden. Wir können sicher sein, daß man uns von Land aus sehr genau beobachtet." „Damit rechne ich auch!" rief der Spanier. Sie winkten kurz, dann überholte die Schebecke, noch immer an Steuerbord, und setzte sich vor die „Fidelidad". Die Flut setzte verstärkt ein und half den Schiffen, die Strömung des Flusses zu überwinden. Der Mündungstrichter verengte sich zusehends. Die Ufer rückten aufeinander
zu, und jetzt konnten ohne Schwierigkeiten die Häuser, die kleinen Querkanäle, die Stege und die Schiffe beobachtet werden. Nacheinander erschienen die Freiwächter an Deck, gähnten und rieben ihre Augen. Endlich näherten sie sich London. 2. Am frühen Nachmittag dieses Apriltages parierte Patrick Towyn seinen keuchenden und dampfenden Rappen hart durch, gab dem Pferd wieder kurz die Sporen und ritt im Trab über den geschwungenen Kies bis zu dem Portal des Herrenhauses. Er schwang sich aus dem Sattel und hastete die flachen Stufen hinauf. Noch bevor er an die Tür hämmern und vielleicht eine der Schnitzereien beschädigen konnte, öffnete ein Diener. „Vorwärts", sagte er drängend. „Sir Revson wartet schon. Ich werde dir ein frisches Pferd besorgen." „Frisches Pferd? Das heißt..." murmelte der kleine, sehnige Mann in der Lederkleidung verblüfft. „Richtig", erwiderte der Diener. „Du wirst etwas zu tun kriegen." „Ich habe genug zu tun", sagte Patrick bissig, aber er wandte sich um und ging in den Saal, der sich anschloß. An einem runden Tisch saßen zwei Männer vor silbernen Bechern. Den einen kannte Patrick gut: Sir Revson Akehurst, ein Steuereintreiber und Vertrauter des Hofes aus Essex. Er winkte und grinste leutselig - ein schlankgewachsener Mann von mehr als fünfunddreißig Jahren, schwarzhaarig und mit einem mächtigen schwarzen Oberlippenbart. Er schnippte mit den Fingern, an
9 denen einige bemerkenswert kostbare Ringe funkelten. „Inga, mein Lieb", sagte er, zum dämmrigen Hintergrund des Raumes gewandt. „Bringe diesem guten Mann einen Becher Wein und ein trockenes Tuch für seine schweißnasse Stirn. Sind sie endlich da, Patrick?" „Sie sind eingelaufen. Eine spanische Galeone, von der ich den Namen nicht lesen konnte. Und ein schnelles Schiff mit vier Lateinersegeln. Es ist, ohne Zweifel, der Seewolf mit seiner Beute." „Dann stimmt das Gerücht. Ich habe es immer gewußt." Eine junge blonde Frau trat in den Bereich des Lichts, das aus zwei kleinen Fenstern und von den vielen Kerzen herrührte, die auf den Wandborden brannten. Sie trug ein Tablett mit Bechern und einem Weinkrug. Ihr Haar fiel über ihre Schultern und in einen tiefen, aufreizenden Ausschnitt. Sie schenkte dem Boten ein langes, unechtes Lächeln. „Danke", sagte Patrick und setzte sich, nachdem Sir Revson zu einem Sessel gezeigt hatte. „Die Schiffe führen die Flagge, so wie du sie mir aufgezeichnet hast. Daneben, viel kleiner, die Farben unseres Landes. Sie haben Kanonen an Bord, die nicht gerade ungefährlich aussehen." „Viele Männer an Bord?" fragte der andere Gast. Patrick leerte den Becher und trocknete sich Gesicht und Hals ab. Er war wie ein Rasender geritten. „Etwa zwanzig auf dem schnellen Schiff. Auf der Galeone habe ich sechs Kerle gesehen." Sir Akehurst nickte und zeigte auf seinen Gast. „Das ist Shenfield. Harris Shenfield. Ihm gehört die Barkasse. Wie schnell sind die Schiffe?" Der Bote blickte zwischen beiden
Männern hin und her und beantwortete die Frage Akehursts. Er hatte seit vielen Morgen gewartet, auch an diesem Tag, seit ihn Akehurst zum Themseufer geschickt hatte. Seine Augen waren scharf genug. Dies war nicht der erste Auftrag dieser Art, den er für Akehurst ausführte. Was hatte der Sir vor? „Nicht schnell. Die Galeone liegt tief im Wasser und scheint voller Bewuchs am Unterschiff zu sein. Ich habe gesehen, außerhalb der Mündung, daß das schlanke Schiff kreuzen mußte." „Sehr gut", sagte Harris Shenfield. „Das höre ich gern." „Also weit vor Poplar?" fragte Akehurst. „Möglichst noch davor. So weit wie möglich von der Brücke weg. Sie dürfen erst später Verdacht schöpfen." „Ich bin deiner Meinung, Shenfield." Patrick konnte seinen Blick nicht von Inga losreißen. Sie war drei Fingerbreit größer als er selbst und von üppiger Figur. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck, der ihn als bekannt scharfer Beobachter interessierte. Es war sauber gewaschen, leicht geschminkt und etwas gewöhnlich. Sie schien sich nur für sich selbst zu interessieren. Im übrigen sollte sie die Geliebte von Sir Akehurst sein. Der Stoff ihrer Kleidung, die mehr entblößte als bedeckte, war so teuer, daß nur er ihn bezahlen konnte, samt der Arbeit guter Schneiderinnen. „Sie sind also da",, sagte Patrick und hielt Inga den Becher entgegen. Er war leer. „Sie werden in der Abenddämmerung wahrscheinlich zwischen Rotherhithe und dem Tower sein." „Das zwingt uns zur Eile", sagte
10 Shenfield mit seiner schnarrenden ner ihm zustimmend zugenickt hatten. Stimme. Inga, die Patricks Becher gefüllt „So ist es." hatte und ihm zurückgab, beugte sich „Muß ich ebenfalls auf der Barweit vor und lächelte ihn wieder an. kasse sein?" erkundigte sich Patrick. Diesmal glaubte er mehr als flüchtige Er kannte Sir Akehurst schon lange, Anteilnahme zu erkennen. In seinen und wenn er ihn noch länger kennen Augen war und blieb sie ungewöhn- würde, dann hätte er wissen müssen, lich begehrenswert. daß er den eigenen Kopf sozusagen „Ja, man sollte nicht zu lange zö- freiwillig in eine prächtig geknüpfte Henkersschlinge schob. gern", bemerkte Patrick. „Du bist als Bote, der mitdenkt, Im großen, prächtig dekorierten und teuer eingerichteten Raum sehr viel wichtiger", bestimmte Harherrschten das Schweigen und das ris Shenfield. „Ist es nicht so, alter Einverständnis von Verschwörern. Junge?" Er grinste Sir Akehurst an. Patrick, als schwächstes Glied einer Patrick brauchte nicht mehr viel kurzen, aber starken Kette, hatte einige Gedanken, die seinen Auftragge- nachzudenken. Er wußte vieles, aber ber erschreckt, zumindest aber stark längst nicht alles: Holländische Seefahrer und Kaufleute hatten von den verblüfft hätten. „Patrick", sagte Sir Revson im un- seltsamen Kämpfen, Überfällen und verkennbaren Befehlston. „Du Seegefechten berichtet, die sie teilnimmst dir ein frisches Pferd. Dann weise selbst beobachtet, von denen sie über Fischer erfahren und die reitest du zur Anlegestelle." über zahllose Mittelsmänner in alle „Genau das tue ich. Und dann?" Richtungen gemeldet hatten. An eiSir Revson lächelte selbstgefällig. nem Ende eines der vielen Fäden war „Wir folgen dir in der Kutsche. die Neuigkeit von der gekaperten GaSchließlich sind wir hohe Herren und leone auch hierher geraten. die Abgesandten der Königin. Du bist Wahrscheinlich stammte die Nachganz sicher, daß du den Spanier gesericht sogar von einem Spanier, der hen hast?" nicht wollte, daß der Silberschatz im Patrick nickte. „Ich bin ganz sicher. Bauch des Schiffes an die englische Unverkennbar. Er sieht aus wie ein Krone fiel. Spanier, und man merkt das auch an „Ich meine das gleiche", bestätigte seiner Art." Shenfields Gegenüber. Patrick sprach keineswegs wie ein Inga lächelte in sich hinein. einfacher Bote. Er war auch kein „Der Schatz der Spanier in der GaBote oder Reiter. Was er wirklich war leone muß gewaltig groß sein", er- nun, vielleicht würde er es Inga ei- klärte Sir Revson und stand auf. nes Tages sagen, wenn alles vorbei Erst jetzt wurde sichtbar, daß er war. Hier und heute gehörte jeder Ge- nicht nur groß, sondern auch kräftig danke demjenigen, der ihn bezahlte und muskulös war. Er trug eine verund später extra belohnen würde: Sir blüffende Selbstsicherheit zur Schau. Revson Akehurst. Sie schien angeboren zu sein. „Ich soll also alle Männer vorberei„Nach allem, was wir wissen, lohnt ten?" fragte er, nachdem beide Män- sich der äußerste Einsatz", stimmte
11 Shenfield zu. „Deine Freundin, Sir, kümmert sich während unserer Abwesenheit um das Haus?" „Wie immer während - solcher Unternehmungen." Hinter dem Rücken Patricks knarrte leise die Tür. Der Diener räusperte sich und sagte leise, aber sehr bestimmt: „Das Pferd, Sir." Auch Patrick stand auf. „Ich weiß, was zu tun ist. Aber ich rechne damit, daß ihr beide kurz nach mir eintrefft und die Rolle so gut verkörpert wie alle anderen. Es wird dunkler sein als jetzt. Ich bin der Meinung", Patricks Augen schienen eine Weile ziellos in dem großen Raum umherzuschweifen, dann heftete er sie auf Inga, „daß sich jeder von uns für ein Jahrzehnt zur Ruhe setzen oder verstecken kann, einfach verschwinden - der Silberschatz ist zweifellos riesig." Harris Shenfield schien tatsächlich alles, was mit diesem Vorhaben zusammenhing, lange und gründlich bedacht zu haben. Er grinste, als wisse er buchstäblich alles. Er nickte Sir Revson zu, schlug Patrick kurz auf die Schulter und sagte leichthin: „Wir sollten, weiß Gott, endlich aufbrechen. Lange genug ist alles geplant worden, aber um das Vorhaben zu einem guten Ende zu führen, bedarf es in der Tat unserer Anwesenheit. Ist es nicht so?" „So ist es", bestätigte Sir Revson. Patrick streckte den Arm aus und reichte Inga den leergetrunkenen Becher. Sie berührte ihn kurz am Handgelenk und lächelt abermals, wie er fand, auf rätselhafte Art. Er drehte sich um, verließ das Haus und schwang sich in den Sattel. Als er sah, daß ihm Sir Revson seinen stärksten Schimmel überlassen hatte, pfiff er leise durch die Zähne,
setzte sich zurecht und bohrte dem Tier, die Zügel freigebend, die Sporen in die Weichen. Er galoppierte aus dem Anwesen hinaus auf die schlammige Straße und in die Richtung des Anlegekais, an dem die Barkasse wartete.
Während des Rittes hatte er genügend Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie schnell tatsächlich eine Meldung oder Nachricht sogar weite Wasserflächen überwand. Sein Mitwirken an diesem Plan von zwei geldund machtgierigen Beamten der Krone - wobei Geldgier und Machtgier zusammenpaßten wie zwei Hände während eines Händedrucks und die vermeintliche Anständigkeit der königlichen Räte gleich groß war wie ihre Bereitschaft, ihre Königin zu betrügen und alles auf eine Karte zu setzen - war wichtig, aber nicht entscheidend. Es war nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Bote, der Befehle überbrachte und seine, meist völlig richtigen Beobachtungen wortgetreu und ehrlich weitermeldete. Jetzt ritt er weit im Sattel nach vorn gebeugt und in den Steigbügeln federnd, vom Hügel hinunter, durch das Bauernland und auf das Ufer der ehrwürdigen, ewigen Themse zu. Er wußte nicht immer, was er tat, aber heute gab es keinen Zweifel. Und was die anderen tun würden, wußte er auch. Er ritt, den Hengst bis zur Erschöpfung fordernd, knapp eine halbe Stunde, bis zwischen Hügeln und langgestreckten Hecken, jenseits von hellgrün wuchernden Gewächsen auf den Feldern, mitten hindurch durch Schafherden und entlang von wind-
12 schiefen Zäunen, hinter denen Kühe grasten, das Wasser der Themse zusehen war. Die Barkasse lag versteckt zwischen Hecken, Büschen und unter den Kronen der Bäume, die ihre Frühlingsblätter trugen. Auf den ersten Blick erkannte der reitende Bote, daß sie den Booten der Hafengarde haargenau und zum Verwechseln glich. Patrick lenkte den Schimmel auf einen schmalen Pfad und blickte über die Themse. Er konnte nur noch ein paar Fischerboote sehen. Als er das gerade Stück flußaufwärts schaute, war er sicher, daß die Galeone und das schnellere Schiff noch nicht vorbei waren. Er lachte zufrieden in sich hinein und rief nach einigen Schritten: „Mannschaft der Barkasse!" Schritte polterten über Deck. In den Büschen raschelte es. Bewaffnete umringten ihn. Als das Pferd scheute, griff einer in die Zügel. „Ich bin Patrick Towyn", sagte er ruhig und mußte wieder grinsen, als er die Verkleidung der Männer erkannte. Sie trugen die Helme und die uniformartigen Kleidungsteile der königlichen Garde. „Mich schickt euer Herr, Sir Revson." „Kennwort?" fragte der Anführer. „Silbermünze", erwiderte Patrick ungerührt. „Macht euch bereit. Eure falschen Offiziere erscheinen mit der Kutsche.'" Die Männer trugen oberschenkelhohe Stiefel, breite Gurte mit Säbeln, zerbeulte, aber gut geputzte Brustpanzer und Helme. In den Gurten steckten kurzläufige Pistolen. Patrick kletterte aus dem Sattel. „Ihr sollt auf die Galeone zuhalten. Sie müßte in der nächsten Zeit, zusammen mit einem Schiff mit Latei-
nersegeln an drei Masten, hier auftauchen. Ich weiß den Namen des Spaniers nicht, aber er soll ein Offizier sein. An Bord der Galeone sind nicht viele Männer. Klar?" „Ich denke, das werden wir erledigen. Was hast du uns noch zu sagen?" Patrick führte das Pferd am Zügel auf die breiten Planken zu, die vom Land an Bord führten. Woher Sir Revson die königlichen Flaggen hatte - Patrick wußte, daß Revson Akehursts Möglichkeiten bis in die Nähe des Thrones reichten. Er berichtete den Anführern dieser knapp zwei Dutzend Kerle, die ihre Rolle in seinen Augen überzeugend darstellten, was er gesehen hatte und welche Gerüchte kursierten. Über die Menge des Silberschatzes war ihm nichts bekannt, aber sie mußte beträchtlich sein, wenn Akehurst und Shenfield einen so hohen Einsatz wagten. „Das hört sich nicht nach einem Kampf an", sagte schließlich ein vierschrötiger Mann namens Osbert, der seinen mächtigen Bart mit Fett spitz zugezwirbelt hatte. „Kein Problem für uns." „Die Seewölfe sind gefährlicher als alle anderen, die ihr kennt", warnte Patrick. „Das weiß man nicht nur in Spanien und Frankreich. Aber sie werden nicht gegen Beamte der Königin kämpfen. Ihr tut besser daran, nach dem Überfall zu verschwinden." „Tun wir", sagten die Anführer. „Weit weg. Und sehr schnell", empfahl ihnen Patrick. „Ich glaube, ich höre die Kutsche." „Sie kommen." Die falschen Gardisten gingen an Bord der Barkasse und packten die Riemen. Jetzt war das Mahlen der Räder deutlicher geworden. Als Akehurst und Shenfield nach einigen
13 Atemzügen zwischen den Hecken auftauchten, erschrak Patrick fast, obwohl er sich auf einen ähnlichen Eindruck vorbereitet hatte. Sie hatten sich umgezogen und glichen aufs Haar den Hauptleuten der Garde. Ihre Gesichter waren künstlich wettergegerbt, die Bärte ganz anders geschnitten, als er sie kannte. Die Uniform, die Gürtel und Waffen sahen genauso aus, wie man das von Hauptleuten der Garde gewohnt war. Patrick salutierte mit ernster Miene, als sie hochmütig an ihm vorbeigingen. „Guter Mann", sagte Sir Revson mit einer völlig veränderten, hochmütigen Stimme. „Sie sind hier fehl am Platz. Reiten Sie flußaufwärts und halten sich in Bereitschaft." Er nickte ihm zu und murmelte: „Wir werden jede Hand brauchen, um den Inhalt der spanischen Laderäume zu leichtern. Du begleitest uns an Land, nicht wahr?" „Natürlich, Sir", versicherte Patrick. „So ist es besprochen." Die falschen Hauptleute gingen an Bord. Patrick wartete, bis nach einigen Kommandos die Barkasse abgestoßen und aus dem schmalen Kanal auf die Themse hinausgerudert wurde. Dann stellte er seinen Fuß wieder in den Steigbügel und saß auf. Er ritt am linken Themseufer auf London zu. Wenn er sich umdrehte, konnte er die Barkasse erkennen, aber die Segel der beiden Schiffe waren noch nicht zu sehen. „Die Seewölfe sind doch nicht etwa schneller, als ich errechnet habe", murmelte er und bemühte sich, nur solche Pfade und Wege zu benutzen, auf denen man ihn und den prächtigen, aber auffallenden Schimmel nicht sah.
Batuti, den Bogen und den Köcher über der Schulter, tauchte als letzter an Deck auf und schwenkte einen halbvollen Krug. Er grinste breit und rief mit seiner dunklen Stimme: „Freunde. Es wird wirklich Zeit, daß wir anlegen. Das hier ist der allerletzte Rest." „Her damit!" rief Big Old Shane. „Das sollten wir feiern." Je mehr sie sich, an Tilbury vorbei, der Stadt näherten, desto mehr Einzelheiten erkannten sie. wieder. Schon vor Gravesend hatten sie erstaunt die wuchtigen Befestigungsanlagen gesehen, deren Kanonen wie die Stacheln eines Igels von den Zinnen starrten. Sie konnten tatsächlich jede Handbreit des Wassers mit ihren Geschossen treffen - und jedes Schiff, das versucht hätte, durchzubrechen. Die kleine Crew der „Fidelidad" befand sich vollzählig an Deck. Die Galeone segelte auf der Steuerbordseite des Flusses, und etwa eine halbe Kabellänge dahinter folgte die Schebecke. „Was feiern wir?" erkundigte sich Paddy Rogers. Jack Finnegan stieß ihn in die Rippen und antwortete: „Wir feiern London, noch bevor wir dort Sind. Nicht wahr, Juan?" „Mit euch feiere ich am liebsten", erwiderte der Spanier. Ein Teil der Crew stand auf der Kuhl, fünf Mann auf dem Achterdeck. Bill hatte den Rudergänger am Kolderstock abgelöst. Bob Grey zeigte zu einer Barkasse, die sich vom anderen Ufer aus näherte. Die Riemen tauchten gleichmäßig ein, die Mannschaft war gut eingespielt. Vorn und in den Wanten eines Mastes, der nicht mehr als ein Stützsegel trug, flatterten die Flagge
14 Englands sowie der Wimpel der Königin mit Greif, Löwe und Krone. „Gilt das uns?" fragte Don Juan. „Sicher nicht. Woher sollen die wissen, daß wir kommen?" erwiderte Roger Brighton. „Wahrscheinlich kontrollierten sie die allgemeine Schiffahrt auf der ehrwürdigen Themse." „Wäre doch eine fabelhafte Sache", phantasierte Bill und ließ sich von Batuti einen Becher Wein geben, der abgestanden schmeckte, „wenn uns die Queen ihre Barkasse schicken würde, mit den besten Grüßen und so. „Vor allem würde sie einen Brief schreiben", lästerte Piet Straaten, „in dem steht: Lieber Bill, du bist der beste aller Seewölfe. Und es ist fein, daß du mich mal wieder besuchst." Ein gewaltiges Gelächter unterstrich die letzten Worte Piets. Die Seewölfe prosteten sich zu, während Don Juan de Alcazar die Segelstellung und den Kurs beobachtete. Nils Larsen sagte nach einigen Minuten: „Vermutlich hat Bill recht. Die Barkasse hält auf uns zu." „Tatsächlich", murmelte Don Juan und beugte sich über das Schanzkleid. „Sie meinen uns. Da steht ein wichtig aussehender Kerl am Bug und winkt." Big Old Shane zuckte mit den Schultern. „Du hast recht, Juan. Sie wollen was von uns." Hinter der letzten Flußbiegung schob sich jetzt der Bug der Schebecke heran. Weit voraus deuteten dünne Rauchsäulen und einige Dächer an, daß entweder London selbst oder eine Vorstadt hinter dem nächsten Hügel lag. Die Barkasse hatte dicht unter dem Ufer gewendet, setzte sich in das Kielwasser der Galeone, und nach einem kurzen, scharfen Kommando legten
sich die Rudergasten noch mehr ins Zeug. Die Barkasse, ein schnittiges Fahrzeug mit schlankem Bug, setzte sich an Steuerbord. Jan Ranse sagte: „Die sehen aus, als wären sie von der Hafenmiliz oder im Dienst der Königin, nicht wahr?" „Sie wirken überzeugend. Mal hören, was sie wollen", entgegnete Roger Brighton und schielte nach den geladenen Drehbassen. Don Juan verschränkte die Arme vor der Brust und blickte schweigend auf die Barkasse hinunter. Er sah die Augen und die grimmigen Gesichter der Leute und konnte nicht verhindern, daß ihn ein unbehagliches Gefühl beschlich. „Galeone ,Fidelidad'! Wir wollen den Kapitän sprechen!" Die Barkasse wurde schneller, überholte die Galeone und zeigte Anstalten, vor den Bug zu laufen. Zwei Soldaten hielten Wurfleinen in den Händen und schwenkten die ledernen Beutel an den Enden. „Was wollt ihr wissen?" rief Don Juan zurück. Der Hauptmann achtern legte die Hände an den Mund und rief in barschem Ton: „Woher und wohin? Ihr nähert euch London. Die Königin will's wissen." „Die Galeone heißt ,Fidelidad' und ist von einem englischen Schiff als Prise genommen worden. Unser Ziel ist London. Dort wird die Prise der Königin übergeben." „Darf ich nach dem Namen des Kapitäns fragen?" tönte es von unten. „Don Juan de Alcazar!" „Wir werden an Bord kommen. Erlaubt?" „Das habt ihr in London leichter. Von mir aus", erklärte Don Juan laut und nickte seinen Seewölfen zu. „Helft ihnen!"
15 Die Wurfleinen flogen an Bord, wurden aufgefangen und durchgeholt. Zwei dickere Leinen folgten, während die Rudergasten die Riemen einnahmen. Eine Jakobsleiter rollte über Bord. Geschickt enterten die beiden Hauptleute an Deck, vier bewaffnete Männer folgten. Keiner von ihnen schien Lust zu haben, mit einem Scherz aufzuwarten. „Willkommen an Bord", begrüßte Don Juan die Gardisten. „Was ist der Grund des Besuchs?" Die Seewölfe wußten im ersten Moment nicht recht, was sie von der Sache zu halten hatten. Sie trugen zwar die eine oder andere Waffe, aber die Gardisten stellten sich hinter ihren Hauptleuten auf, die auf Don Juan zugingen und aufs Achterdeck stiegen. Der Hauptmann mit dem hellen Bart hob befehlend seine Hand und erklärte: „Ich bin Hauptmann Kent Carey von der königlichen Garde. Wir haben den Befehl Ihrer Majestät, den Spanier Don Juan de Alcazar festzunehmen und vor die Beamten des Lordkanzlers zu bringen." Don Juan trat einen Schritt zurück und packte seinen Degen. „Ihr müßt euch irren, Gentlemen", sagte er betroffen. „Ich kämpfe nicht gegen euch. Ich war auch nicht an Bord eines Armadaschiffes. Mein Freund, Kapitän Philip Hasard Killigrew, bürgt für mich." Die Seewölfe schrien empört auf, aber die Soldaten drehten sich blitzschnell um und zogen die Pistolen. „Ich, Hauptmann Barry Arandel, habe den Befehl erhalten, Sie den Beamten vorzuführen. Der Grund mag Ihre Nationalität sein", erklärte der andere grimmig. „Oder auch nicht. Ich habe nichts gegen Sie, aber ich führe meine Befehle aus. Folgen Sie
uns, Mister de Alcazar. Wir möchten nicht mit Gewalt vorgehen." Big Old Shane schob sich drohend an den Soldaten vorbei, stellte sich neben Don Juan und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Irgendwie glaube ich euch das nicht. Warum Don Juan festnehmen? Er hat gegen seine eigenen Landsleute gekämpft, und zwar wie einer von uns." „Es kann natürlich ein Irrtum sein", sagte Barry Arandel. „Aber es ist wichtig, daß ihn die Vertrauten der Königin sprechen." „Ich werde es ihnen sagen", erklärte Don Juan und zeigte auf Roger. „Benachrichtige Hasard, sage ihm, was passiert ist. Wohin bringen Sie mich?" „Zum Tower. Dort findet die Anhörung statt, wie immer in solchen Fällen." Seine Stimme hob sich. „Männer!" Er meinte die Crew und sprach weiter. „Seid unbesorgt. Heutzutage vermutet man hinter jedem Katholischen, jedem Fremden und ganz besonders einem Spanier einen Spion. Ich bin sicher, daß er bald wieder freigelassen wird. Aber eine Untersuchung ist notwendig." Don Juan ließ seinen Degen los und nickte. „Das ist einzusehen. Roger, du übernimmst das Schiff. Ich gehe mit diesen Hauptleuten - freiwillig. Kampf oder Tote vor den Augen eurer Königin, das ist nicht in meinem Sinn." „Aye, aye, Sir", brummte der Takelmeister und fügte einen leisen Fluch hinzu. „Das paßt mir gar nicht." Don Juan nickte jedem einzelnen Mann der Crew zu und enterte ab. Er sprang in die Barkasse und wurde höflich aufgefordert, auf einer Bank
16 mit Rückenlehne achtern Platz zu nehmen. Dann wurden die Leinen gelöst und die Riemen eingesetzt. Die Barkasse überholte die schwerfällige Galeone, ging vor deren Bug und wurde stromaufwärts gepullt, in beachtlicher Schnelligkeit. Voraus lag die große Südschleife der Themse. Big Old Shane sagte kopfschüttelnd: „Das hat uns gerade noch gefehlt. Don Juan als Spion festgenommen! Die haben wirklich blödsinnige Sorgen, diese Kerle bei Hof." „Hier herrschen eben Gesetz und Ordnung", sagte Batuti sarkastisch und schaute nach der Schebecke. Sie holte langsam auf, offensichtlich war der Zwischenfall gerade noch beobachtet worden. „Mal hören, was der Seewolf dazu meint", sagte Roger Brighton. „Wir segeln, wie vereinbart, weiter. Bis zu den Kais am Tower. Klar?" „Verstanden, Kapitän." Bill grinste, aber er wurde schnell wieder ernst. „Ich wittere eine riesengroße Schweinerei, Freunde." „Ich auch. Aber in stolzer Haltung . ging er von Bord, unser Don, nicht wahr?" fragte Piet Straaten. „An Land, denke ich, klärt sich alles." Don Juan war weder gefesselt noch ungnädig behandelt worden. Offiziere erhielten eine Sonderbehandlung, auch in einem solchen Fall. Das ließ die Männer hoffen, daß sich alles tatsächlich als ein Irrtum eines übereifrigen Schreiberlings herausstellen würde. „Die Schebecke geht gleich längsseits. Dann müssen wir erzählen, was los war", maulte Paddy Rogers. „Hasard wird nicht erfreut sein", lautete die Prophezeiung Jan Ranses. „Bestimmt nicht." Der Himmel hatte sich während des Nachmittags geklärt. Weiter voraus
zeichnete sich eine dünne Wolke aus Dunst und Rauch ab. Dort mußte also die große Stadt liegen. Kapitän Killigrew stand vorn, als die Schebecke auf Rufweite herangeglitten war. „Was wollten die Leute von euch?" rief er zur „Fidelidad" hinüber. Roger berichtete, was vorgefallen war. „Sie sagten, daß sie ihn in den Tower bringen?" fragte Hasard sichtlich beunruhigt. „Ja. In den Tower. Sie haben ihn gut behandelt", erwiderte Roger. „Das gefällt mir nicht. Woher wissen sie bei Hof, wer an Bord i s t . . . " begann der Seewolf, aber dann winkte er" ab und rief: „Wir werden uns in zwei Stunden darum kümmern. Ich segele voraus, und ihr legt dort an, wo ich es euch sage. Ich kläre das. Auf jeden Fall vor der Brücke und unmittelbar am Tower. Alles klar?" „Aye, aye, Sir!" riefen die Männer an Deck der Galeone. „Und wenn sie ihn eingesperrt haben, hauen wir ihn heraus." „Ihr habt recht. So halten wir's!" rief der Seewolf grimmig zurück. „Los, weiter!" Die Schebecke zog davon. Mit mäßig gefüllten Segeln folgte die Galeone durch die kleinen Wellen des Flusses, dessen Strömung nicht zu spüren war, denn die Flut schob das Wasser der Quelle entgegen. Lastkähne und hoch beladene Boote aller Größen wurden von Ufer zu Ufer gepullt und kreuzten ruhig den Kurs der Schiffe. Limehouse, ein Vorort, in dem es Eisengießer geben sollte, empfing die Seewölfe mit dem Rauch und Dampf aus vielen Kaminen und Gießgruben. Der Geruch von Seewasser änderte
17 sich und wurde von den Dünsten der Stadt überdeckt. Die fröhliche Stimmung auf den beiden Schiffen, die vorübergehend geherrscht hatte, fiel zusammen. Unruhe und Sorge breiteten sich aus. Sie waren in London, und es schien unmöglich zu sein, den Spanier mit einer Seewölfekampfaktion zu befreien und davonzusegeln. An Steuerbord, am Ende eines geraden Uferstücks, schob sich der ekkige Bau des riesenhaften Towers ins Blickfeld. Die London Bridge in ihrer vollen Länge schien die Themse abzuriegeln. An den Stegen und längsseits des Uferkais, der aus riesigen Quaderblöcken gemauert war, lagen nur wenige Schiffe. Für die Schebecke und die „Fidelidad" gab es genügend Platz. Die Barkasse war verschwunden. Sooft die Seewölfe auch durch die Spektive spähten und die Ufer absuchten - das schnelle Boot tauchte nicht mehr auf. 3. Don Juan schloß die Augen, versuchte sich zu entspannen und hob dann wieder den Kopf. Die blitzenden Sonnenstrahlen, die von den Wellen zurückgeworfen wurden, blendeten ihn vorübergehend. Er schaute in die Gesichter der Rudergasten, der Gardisten und Offiziere, während die Barkasse in einem weiten Bogen den Fluß überquerte. Sie hielten auf einen Steg zu, der direkt auf eine seitliche Treppe zuführte. Sie war in die Fläche der Kaiquadern eingebaut. Dahinter erhoben sich geschwärzte Mauern, an denen windschiefe Hütten klebten, eini-
ge turmartige Bastionen und dahinter der Block eines eckigen Gebäudes mit vier Türmen. „Ist das der Tower?" fragte Don Juan. Er spürte, wie der Schweiß an seinen Rippen entlangsickerte. „So ist es. Dort wird die Kommission ihre Fragen stellen und rasch entscheiden", erwiderte Hauptmann Carey. „Wie kommt eigentlich ein Spanier dazu, Kapitän auf einer englischen Prise zu sein? War es dein eigenes Schiff, die ,Fidelidad'?" „Nein", entgegnete Don Juan einsilbig. Die Barkasse legte mit der Backbordseite an, zwei Gardisten sprangen auf die Treppenstufen und belegten die Leinen. Barry Arandel führte eine, höfliche Geste aus, und Don Juan kletterte über die Duchten und stieg die feuchten, rutschigen Stufen hinauf. Zwischen der Mauer mit ihren beiden Rundtürmen und dem Wasser erstreckte sich eine freie Fläche aus kümmerlichem Gras, Sand, nassem Lehm und den Resten eines Steinplattenpflasters. Die Hauptleute nahmen Don Juan in ihre Mitte, die Gardisten rückten auf. Schnell und schweigend marschierten die Männer über den freien Platz, mit mäßigem Interesse von den Arbeitern und einigen gähnenden Seeleuten beobachtet. In der Mauer zeigte sich ein schmaler Durchgang, dessen wuchtiges Bohlentor offenstand. Hintereinander passierten Gefangener und Bewacher den Durchgang. Don Juan prägte sich jede Einzelheit der Umgebung ein, aber in dem Wirrwarr aus schmalen Gassen, Hausfronten und Mauern verlor er nach einigen hundert Schritten die Übersicht. Über eine Steinbrücke ge-
18 langten sie wieder an ein Tor, das sich zwischen zwei Rundtürmen öffnete. „Öffnet den Byward Tower", sagte laut der Hauptmann. In dem Bohlenwerk, das spitz zulief, wurde eine schmale Tür nach innen aufgezogen. Vier Leibgardisten in leuchtend roten und goldenen Uniformen, wuchtige Hellebarden in den Händen, bewachten den Eingang. Barry Arandel grüßte den Hauptmann, der einen Stock mit dem Abbild des White Tower an der Spitze trug. „Wir haben hier Don Juan de Alcazar, der von den königlichen Kommissionären verhört werden soll." „Bringt ihn hinunter", befahl der Hüter des Towers und des Kronschatzes. „Ich glaube, man wartet bereits auf ihn." „Danke, Hauptmann." Durch Gänge zwischen Mauern, die minestens zehn Fuß dick sein mußten, entlang schmaler Schießscharten, über Treppenstufen aus Kalkstein aus der Normandie eilten die Männer mit einer Hast, die Don Juan mehr als verdächtig erschien. Der Weg führte abwärts und offenbar einem Gelaß zu, das unterhalb des Erdbodens liegen mußte. Der spärliche Rest von Tageslicht nahm ab, Öllampen und Fackeln besorgten die düstere und zuckende Beleuchtung. „Die königliche Kommission", sagte Don Juan mit einem Anflug von Galgenhumor, „hat sich einen reichlich feuchten Platz zum Verhör ausgesucht." „Bald wird es noch feuchter. Und wesentlich dunkler", schnarrte der Hauptmann und stieg eine lange Treppe hinunter, deren Stufen aus rauhem Schiefer bestanden. In den Mauern zeigten sich nasse, waagerechte Spuren. Es stank nach
Salpeter und eingesickertem Wasser. An beiden Seiten eines dunklen Gewölbes erstreckten sich Holztüren und Eisengitter. Hauptmann Arandel blieb stehen und stieß nur ein Wort hervor: „Jetzt!" Blitzschnell war Don Juan umzingelt. Viele Hände packten seine Arme und rissen sie nach hinten. Er wehrte sich, aber die Übermacht war zu groß. Man zog ihm die Waffen aus dem Gürtel, den Dolch aus dem Stiefelschaft, und er spürte dünne Lederriemen um seine Handgelenke. „Verdammt!" stieß er hervor. „Seid ihr wahnsinnig? Was soll das?" Rechts öffnete sich eine schmale Holztür. Sie wurde von breiten und rostigen Eisenbändern zusammengehalten. Schwacher Lichtschein fiel in das Gewölbe mit seinen schwarzen Bögen und Wandstücken. Don Juan erhielt, außer heiserem Gelächter, keine Antwort. Als er völlig entwaffnet war und ihm auch das Gürtelfach mit den wenigen Münzen darin geleert worden war, wirbelten ihn die Gardisten herum und stießen ihn in den Raum. Er stolperte und rammte mit der Schulter hart die Wand, bevor er in die Knie ging. In der Zelle gab es nur einen Haufen verfaultes Stroh und in einer Mauernische eine ölfunzel. Mit metallischem Krachen wurde die Tür zugeschmettert. Don Juan richtete sich auf und begriff, daß er in. eine Falle gegangen war. Ob sie wirklich von höchsten Beamten oder Mächtigen am Hof Elisabeths aufgestellt war oder von irgendwelchen Finsterlingen, war jetzt unwichtig. Was konnte er unternehmen, um zu entkommen? Aus diesem
19 Gelaß? Er zog und zerrte an den Fesseln, drehte die Handgelenke und merkte, daß er so die Fesseln nicht abstreifen konnte. „Ruhe", murmelte er. „Keine Panik. Nachdenken." Drei Schritte breit, sieben Schritte bis zur Tür, drei Finger höher als er selbst, das war die Zelle. Sie stank nach allen Ausscheidungen der Gefangenen. Von Hasard wußte Don Juan, daß der Tower angeblich das älteste Befestigungsbauw,erk zumindest in England war, auf einer römischen Ruine errichtet, die auf eine noch ältere Festungsruine gebaut worden war. Wilhelm der Eroberer hatte schon die Macht der normannischen Herrscher zeigen wollen. Er hatte Steine aus den Brüchen von Caen und Schiefer aus Kent zum Bau benutzt. Seit unzähligen Generationen waren hier Menschen eingekerkert worden. Jetzt zählte er dazu. Ein königlicher Gefangener? fragte er sich. Man würde wohl einen Spanier, als Spion verdächtigt, anders behandelt haben. Noch schlechter? Er suchte eine Mauerkante oder eine andere schartige Stelle, an der er die Fesseln durchscheuern konnte. Schließlich entschied er sich für einen leicht gekippten, vorspringenden Quader und lehnte sich dagegen. Schweigend und langsam hob und senkte er die gekreuzten Handgelenke. „Jetzt kann ich nur noch hoffen, daß Hasard schnell hilft", murmelte er und wußte, daß er ziemlich übel dran war.
Nils Larsen richtete sich auf, als das letzte Belegtau der Galeone fest-
saß. Er blickte in das besorgte Gesicht des Seewolfes. „Ich denke nicht sehr schnell und nicht häufig", sagte er bedächtig und beäugte seine Umgebung. „Aber wenn die Gardisten aus dem Palast einen spanischen Spion festgenommen haben, dann müssen sie doch den Kapitän zu sprechen wünschen, der das Silberschiff erobert hat, nicht wahr?" „Dieser Gedanke ging mir auch schon durch den Kopf", erwiderte der Seewolf. Nacheinander kletterten die Arwenacks über eine Planke an Land und bildeten eine lockere Gruppe, nachdem sie sich die Beine vertreten hatten. „Ich überlege gerade, was wirklich passiert sein könnte." „Kaum sind wir in London und wollen einmal richtig Stadtluft schnuppern", mault Old Donegal O'Flynn, „gibt es schon wieder Ärger. Willst du nicht Befehl geben, den Tower zu beschießen, Sir?" Philip Hasard Killigrew nickte nachdenklich. „Noch nicht", sagte er und winkte ab. „Im Ernst, Freunde: Ich habe gut zugehört. Die Barkasse mit den Gardisten, den Standern und dem klaren Auftrag - eigentlich deutet alles darauf hin, daß es sich wirklich um die Hafengarde handelt. Wie waren die Namen, Roger?" „Kent Carey und Barry Arandel", erwiderte der Takelmeister. „Ben und Dan", ordnete Hasard an. „Ihr geht in die Stadt, sucht die Hafengarde und erkundigt euch nach den beiden Männern, nach dem Einsatz und dem Boot. Kurzum, ihr versucht, alles über Don Juan in Erfahrung zu bringen." „Sofort", erklärte Dan O'Flynn bereitwillig. Er schien froh zu sein, gerade diesen Auftrag erhalten zu ha-
20 ben. „Ich hole nur Waffen und ein paar Münzen." „Ich auch!" Der Erste und Dan eilten über den Kai zur Schebecke und schwangen sich über das Schanzkleid. Kurze Zeit später marschierten sie über die Abdeckung des Abwasserkanals, der die Front der Quadermauer unterbrach und übelriechende Brühe in den Fluß schüttete. „Das Nächste", erklärte der Seewolf seiner Crew. „Es wird in London bekannt sein, daß den Spaniern die ,Fidelidad' abgenommen wurde. Auch im Schatten der Londoner Mauern finden wir Schurken. Denkbar, daß man mich treffen will und auf Juan einschlägt. Ich werde herausfinden, wer ihn als Spion bezeichnet hat." „Kennst du einen bei Hof?" fragte Hasard junior. „Ich kenne jemanden, der jemanden sehr gut kennt", erklärte der Seewolf und fuhr durch sein Haar. Er dachte an die grauen Fäden darin und wußte, daß er jetzt wieder ein paar zusätzliche finden würde. „Der Sohn von Lord Burleigh. Thomas Cecil nämlich." „Wo finden wir ihn?" fragte Jung Philip. „Und wer ist das?" wollte der Profos wissen. Der Seewolf überlegte eine Weile, dann fing er mit seiner Erklärung an. „William Cecil, Lord Burgleigh, ist der Berater unserer Königin - oder der Lordkanzler. Gleichgültig, wie sein wirklicher Titel ist. Er ist einer der wichtigsten Männer der Insel." Ferris Tucker fragte: „Und du kennst den Sohn von diesem Lordkanzler, Sir?" „Ich bin ganz sicher. Wir hatten einmal eine lange Unterhaltung über
Bier, Mädchen und Pistolen. Er sollte sich an mich erinnern. Ich bleibe bei den Schiffen. Hasard, Philip und Big Old Shane - ihr geht in die Stadt und befragt die Leute. Ich muß wissen, wo ich den Sohn des Kanzlers finde." „Jetzt gleich?" fragte Jung Hasard. „Jetzt sofort", bestätigte sein Vater. „Old Shane, alles klar? Bringt, euch nicht in Gefahr. Ich glaube, ihr braucht nicht lange zu suchen und zu fragen." „Keine Sorge, Sir", beruhigte ihn der Ex-Schmied von Arwenack. „Ich passe schon gut auf die Söhnchen auf." Er legte seine mächtigen Pranken auf die Schultern der Jungen, zog sie mit sich auf die Schebecke, murmelte etwas von „ein paar Pennies einstekken" und enterte das Schiff. Kurze Zeit später folgten die drei Seewölfe der ersten Abordnung. Edwin Carberry schob sich vor. „Die Affenärsche, die unseren Don entführt haben, sorgen für Ärger. Es wird heute also keinen Landurlaub geben, wie?" „Tut mir leid, Ed. Aber das wäre für jeden von uns wohl zu gefährlich", antwortete der Seewolf. Carberry nickte und tippte dem Kutscher und Mac Pellew gegen die Brust. „Habt ihr noch genug Vorräte?" „Sieht ziemlich trübe aus", maule Mac Pellew. „In Ordnung. Holt ein paar kräftige Sachen vom Markt aus der Stadt. Jack, Paddy, Blacky - ihr begleitet die beiden. Steckt ein paar Eisen zum Schießen und Hauen ein, falls ihr auf böse Londoner trefft." Er stieß ein wohlwollendes Lachen aus und schubste die Männer vor sich her. „Es ist verdammt an der Zeit",
21 sagte er, als er zurückkehrte, „daß wir ein gutes Bier süffeln und etwas zwischen die Kiemen kriegen. Ich meine, etwas aus der Heimat." Philip Hasard Killigrew lächelte in sich hinein. Er hatte es schon so oft erlebt, daß er gar nicht mehr daran dachte. Aber in solchen Lagen verhielten sich die Seewölfe kaltblütig und geradezu herausfordernd normal. Natürlich war es wichtig, heute abend etwas Handfestes zu essen. Während er in die Gesichter der Crew schaute und auch bei ihnen die gleichen Zweifel entdeckte, die er auch fühlte, fing er an, bestimmte Dinge zu denken. Sie waren ihm bis zur Stunde nicht bewußt geworden, obwohl er sie längst kannte. „Habt ihr schon von diesem Lumpengesindel gehört, das zwischen London und der Mündung haust?" „Gehört, ja", erwiderte Al Conroy. „Aber aufgefallen ist mir bis heute nichts." „Wir waren in der letzten Zeit", bemerkte der Seewolf sarkastisch, „auch nicht gerade häufig hier. Aber jeder, der den Schatz in seinen Besitz bringt, hat für ein paar Jahrhunderte ausgesorgt." „Das hast du gut gesagt." Al Conroy nickte. „Ich kann mir auch vorstellen, daß zwischen dem Tag der Kaperung und heute die Meldung von der ,Fidelidad' längst hier eingetroffen ist." „Lange genug haben wir vor den verschiedenen Küsten gekreuzt", bestätigte der Seewblf. Für einen Schatz dieser Größe würden viele Männer ihr Leben wagen. Sie würden auch nicht davor zurückscheuen, andere Männer gewissenlos in den Tod zu jagen. Schon wegen weniger wertvoller Prisen waren Männer gestorben oder für ihr Leben ver-
krüppelt worden. Bestechung öffnete viele Türen und hielt andere für immer verschlossen. Falls hohe Beamte des Hofes nichts damit zu tun hatten, steckten hinter der Gefangennahme des Freundes reiche Abenteurer. Hasards eisblaue Augen funkelten, als er sich wieder an seine Crew wandte und in nachdrücklichem Tonfall sagte: „Wir warten, bis die beiden Gruppen aus der Stadt zurückgekehrt sind. Verstärkte Wachen auf beiden Schiffen. Mir ist gleich, wer auf die Galeone geht. Wir essen, beraten und warten. Morgen früh wissen wir auf jeden Fall mehr." „Geht in Ordnung, Sir", brummte Old Donegal O'Flynn. „Wird wohl so das Beste sein." Die Crew zerstreute sich in beide Richtungen. Hasard blieb stehen und blickte lange und schweigend hinüber zu den vier Türmen und den Kalksteinmauern des Towers. Dort, so dachte er, befindet sich Don Juan in einer lebensbedrohenden Lage. Ihn mit einem Handstreich herauszuhauen, durfte nicht einmal einen Gedanken wert sein. „Vergiß es", murmelte er und ging langsam zum Heck der Schebecke zurück. Er mußte warten. Auf was, das wußte er selbst noch nicht.
Zuerst kehrten Mac Pellew, der Kutscher und ihre Helfer zurück. Sie waren nicht recht zufrieden mit ihrem Einkauf, aber am späten Nachmittag fand man in London keinen Markt mehr. Nichts Frisches und auch keine größeren Mengen wurden angeboten. Erst am nächsten Morgen waren die Bauern wieder in der Stadt und boten ihre Erzeugnisse an. Aber es reichte für die Crew. Einige
22 Fässer gut abgelagerten Biers wurden wenig später auf einem Karren gebracht. Es war immerhin für das Nötigste gesorgt. Ein paar Säcke Holzkohlen befanden sich am Kai, und die Köche arbeiteten um die Wette mit ihren Kesseln und Pfannen. Die Crew hatte um die Wache und Freiwache gewürfelt. Jetzt patrouillierten Luke Morgan, die Bordhündin Plymmie am Halsband, schwer bewaffnet entlang der beiden Schiffe über den Kai. Auf der anderen Seite saß wachsam Matt Davies auf einem Poller und suchte die Gegend mit mißtrauischen Blicken ab. Al Conroy sagte sich, daß ein geladenes Geschütz eins der besten Argumente war, die er kannte. Er hatte mit einer kleinen Crew sämtliche Culverinen und Drehbassen auf beiden Schiffen durchgesehen, teilweise neu geladen, die Zündlöcher gefüllt und seine Luntenstöcke zusammen mit kleinen Kohlebecken bereitgestellt. Er hielt Wache auf der Schebecke, Batuti, der Gambiamann, paßte an Deck der Galeone auf. Alle Seewölfe waren so bewaffnet, daß sie in ihrer Bewegungsfähigkeit nicht behindert wurden, aber zusätzliche Waffen lagen und standen bereit. Während sich entlang des Kais der Geruch nach Gekochtem und Gebratenem ausbreitete, der den Männern das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, wartete Hasard mit steigender Ungeduld und Unruhe auf die beiden anderen Gruppen. Schließlich kehrten Dan O'Flynn und Ben Brighton zurück, und ihre Gesichter ließen deutlich erkennen, daß sie keine guten Nachrichten brachten.
Es dämmerte stark. Auf der Kuhl der Schebecke saßen mehr als ein Dutzend Seewölfe auf leeren Fässern, Ballen und Truhen. An einigen Stellen hingen Laternen im Tauwerk. Nur drei Stück waren angezündet und beleuchteten die Gesichter der Männer. Die meisten hielten Becher in den Händen, aus denen der weiße Schaum des dunklen Bieres tropfte. „Also", erklärte der Erste Offizier. „Es war nicht schwer, die Hafenwache zu finden. Dort herrscht Ordnung, die Leute sind ganz brauchbar. Niemand wußte etwas, bis wir einen Hauptmann oder Leutnant aufstöbern konnten." „Er heißt Warrander", setzte Dan hinzu. „Ein wortkarger Mensch, aber er erweckte einen guten Eindruck. Er scheint ehrlich und pflichtbewußt zu sein." „Was hat er gesagt?" fragte Hasard drängend. „Zunächst: Es existiert kein Kent Carey oder Barry Arandel in der Garde. Weder ein Soldat noch ein Ruderer oder gar ein Hauptmann mit diesem Namen. Warrander wurde fuchsteufelswild, als er erfuhr, daß sich Fremde als Gardisten ausgaben." Beunruhigt fragte Carberry: „Habt ihr den Rübenschweinen etwa gesagt, daß Don Juan verschwunden ist, daß er...?" Der Erste winkte ab und erzählte weiter. „Nein. Wir haben nur erwähnt, daß einer unserer Kameraden entführt wurde, und wir eine spanische Prise gebracht haben. Morgen wird man sich um uns kümmern. Weiter. Dieser Warrander schickte seine Leute weg, wenigstens die meisten. Sie sollen sich nach der Barkasse umsehen und umhören. Mißbrauch der königlichen
23 Insignien und so weiter. Viel Hoffnung haben sie nicht, daß sie gefunden wird. Da wären die Themsepiraten auch unbezahlbar dämlich." Hasard nahm einen langen Schluck, wischte sich den Mund und sagte: „Ich rechne auch damit, daß sich die Barkasse inzwischen längst in ein braves Fischerboot zurückverwandelt hat." „Und die Gardisten", fügte Smoky hinzu, „haben die Panzer und Helme versteckt und fischen morgen früh wieder in der Themse." Ben Brighton lehnte sich gegen den Mast und fuhr fort: „Vielleicht schwätzt jemand. Vielleicht kennt jemand einen der verkleideten Gardisten oder Ruderer. Das sollen die Männer der wirklichen Hafenwache herausfinden." „Gut so. Noch etwas?" fragte Hasard scheinbar ruhig. „Sonst nur Lobenswertes. Die Männer hatten auch schon gehört, daß der bekannte Seewolf themseauf nach London segelt. Wir sind für bestimmte Kreise also schon eine Legende. Das sollte uns einige Aufmerksamkeit sichern. Jedenfalls schadet es Don Juan nicht, oder?" „Ich hoffe es", brummte Hasard. Er drehte sich um und rief in die Richtung des Achterdecks: „Kutscher! Mac! Wann seid ihr soweit mit Bakken und Banken?" „Gleich, Sir. Dauert keine halbe Stunde mehr", ertönte Mac Pellews mürrisches Organ. „Dann trinken wir eben noch einen Schluck", sagte der Profos und ließ seinen Becher nachfüllen. Plymmie kläffte kurz, sie hatte die drei Seewölfe erkannt, die mit weiten Schritten über den Kai gingen. Die Dunkelheit hatte zugenommen. Die Sonne versank rot hinter Londons
Mauern. Der morgige Tag würde also höchstwahrscheinlich mit schönem, warmem Wetter gesegnet sein. „Hier sind wir", erklärte Big Old Shane. „Aber deinen jungen Lord haben wir nicht mitgebracht." „Er ist nämlich nicht in London!" rief Jung Hasard und schwang sich an Bord. Sein Bruder folgte ihm und sagte: „Aber wir wissen, wo er wohnt. Im Norden, knapp außerhalb der Mauern. In Shoreditch, um es genau zu sagen." „Wißt ihr auch, wann er zurückkehrt?" fragte Hasard. Big Old Shane antwortete: „Man erwartet ihn dort in zwei Tagen. Auch sein Vater soll in wichtigen Staatsgeschäften reisen. Pech gehabt, leider. Ich habe ein paar Herumtreibern Geld versprochen, wenn sie uns melden, daß Thomas Cecil da ist. Recht so?" „In Ordnung", Hasard nickte Big Old Shane zu. „Also ist mit einer raschen Erledigung vorläufig nicht zu rechnen." „Leider nicht", erwiderte Old Shane. „Sehe ich recht? Es gibt Bier? Ich habe mir unterwegs auch schon ein Glas genehmigt. Sonst wäre ich ausgetrocknet." Die Arwenacks waren wieder vollzählig auf den Planken. Bis auf Don Juan de Alcazar. Wenn er nicht im Tower war, dann lag er irgendwo in einem nassen Keller. Natürlich lebte er noch, so schwächte Hasard die Sorgen seiner Männer ab, denn was nutzte es den Themse-Piraten, diesen verdammten Geiern, ein toter Spanier? Wieder ging Hasards Blick hinüber zum Tower, aus dessen hochgelegenen Schießscharten ab und zu mattes, gelbes Licht blinkte. Für ihn war es
24 wie ein Signal schwindender Hoffnung. 4. Auch die Königin Englands, Elisabeth, war zunächst im Tower und später, bis zu ihrer Thronbesteigung, in Woodstock in strengster Haft gehalten worden. Während der Regierungszeit der Tudors wurde dieses Bauwerk zu einer Berühmtheit, wenn auch zu einer höchst traurigen. Zwei der Ehefrauen Heinrich VIII. - Anne Boleyn und Katherine Howard - wurden in den Mauern des „Weißen Towers", der nach seiner Verkleidung aus hellem Stein so genannt wurde, durch das Beil des Henkers vom Leben zum Tode befördert. Auch Thomas Morus starb hinter den elf Fuß dicken Mauern. Waffenlager und Münzpräge, königliche Residenz und Schatzkammer der Krone - der Tower diente vielen Zwecken. Jeder Herrscher wohnte vor seinem Regierungsantritt in dem Viereck zwischen einem runden und drei eckigen Türmen. Rechts und links des Einganges, im Doppelturm „by the ward", hausten die Wachen. Wenn sie Don Juan angeblich nicht gesehen haben sollten, so waren sie blind - oder bestochen... An dieser Stelle eines schauerlichen Alptraums spürte Philip Hasard Killigrew, wie jemand leise seinen Namen rief und ihn an der Schulter wachrüttelte. Seine Hand fuhr zum Dolch, aber dann erkannte er, noch ehe sich seine Finger um den Griff schlossen, Matt Davies. Der Haken von dessen rechter Prothese lag um eine Verstrebung. Matt
flüsterte drängend: „Sir! Aufwachen!" Hasard fühlte eiskalten Schweiß, als er sich übers Gesicht wischte. „Was ist los?" fragte er heiser. „Ein Bote. Ein Reiter, Sir. Er will dich sprechen. Nur dich." „Allein?" Matt nickte. Die Schottöffnung hob sich als helleres Rechteck ab. Also war die Nacht schon so gut wie vorbei. Mit brummendem Schädel richtete sich der Seewolf auf und schwang die Beine von der Koje. Langsam zog er die Stiefel an, hakte den Dorn der großen Gürtelschnalle in das Loch und schob den Drehling hinter das knarrende Leder. Matt tappte vor ihm her und versuchte, so leise wie möglich zu sein. Er drehte sich herum, legte die Finger ger an die Lippen und flüsterte: „Die Wachen stehen mit glimmender Lunte da. Zwei Drehbassen zielen auf den Reiter." „Gut so", brummte Hasard, enterte an Deck und beugte sich über das Schanzkleid. Leichter Nebel hing über dem Wasser. Es war frühester Morgen. Nur weil der Reiter auf einem Rappen mit glänzendem Fell saß und die Lampen an Bord der Schiffe noch brannten, waren die Umrisse zu erkennen. Mit einem Hüftschwung stieß sich Hasard ab und landete im Sand hinter den Quadern des Kais. „Kapitän Killigrew?" fragte der Reiter. Seine Stimme klang ruhig, fast versöhnlich. Hasard legte die Hand auf den Griff der Waffe und spannte den Hahn. „Der bin ich. Mit wem habe ich das Vergnügen zu dieser frühen Stunde?" „Mit einem Boten, den Sie ruhig anhören sollten", erklärte der Reiter
25 und tätschelte den Hals des Pferdes, dessen Brustkorb schaumbedeckt war. Dann stieg der Reiter aus dem Sattel. Der Mann, in dunkles Leder gekleidet, war einen Kopf kleiner als Hasard und ein schmalgebauter, zäh wirkender Bursche von knapp dreißig Jahren. „Ich höre. Was gibt's?" fragte Hasard und blieb drei Schritte vor dem Pferd stehen. Der Bote griff in die Falte eines dikken, feuchten Mantels und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. „Eine Botschaft, Sir." Immerhin, dachte Hasard, ist er ein höflicher Bote, der gute Erziehung erkennen läßt. „Dann werde ich die Botschaft erst einmal lesen. Warten Sie auf eine Antwort?" „In der Tat. Aber es genügt ein einfaches Ja oder Nein." Während der Seewolf das Papier auseinanderfaltete, merkte er, daß es sich um schweres, also teures Papier handelte. Er musterte kurz den Boten, der nur einen Cutlass trug, einen Dolch und einfache Sporen. Die braunen Augen unter dunklem Haar blickten keineswegs unfreundlich, aber sehr wachsam. Hasard drehte sich halb herum, bis etwas mehr Licht auf das Blatt fiel. Er wußte, daß seine Seewölfe ihn genau beobachteten, ebenso den Reiter. Er las: Sir! Der Bote wird Ihnen zuverlässig dieses Schreiben übergeben. Es geht um den spanischen Edelmann, auf den ein Schicksal wartet, das Sie bestimmen können. Sein Leben ist von Ihrer Großzügigkeit abhängig. Kommen Sie zwölf Stunden nach Erhalt dieser Einladung zum „Whale And Drunken Saylor",
Southwark. Der Bote kennt's. Dort erfahren Sie, welche Bedingungen wir für Don Juans Leben stellen. Ein Patriot. Der Seewolf stieß ein grimmiges Lachen aus. „Ein Patriot! Ausgerechnet", sagte er kalt. „Sie kennen diese Schenke, Mister?" „Flüchtig. Ich werde dafür bezahlt, daß ich Briefe und Botschaften überbringe. Nichts sonst." Hasard faltete das Schreiben wieder zusammen, schob es in den Gürtel und ging auf den Boten zu. Er war sicher, daß der Mann vieles, wenn nicht alles wußte, aber nicht darüber sprechen wollte. Für einen einfachen Boten war seine Sprache zu gewählt. Sein Verhalten entsprach dem eines Mannes mit Erziehung und Erfahrung. War er einer der Entführer Don Juans? „Bezahlter Bote, soso. Zunächst: Wo finde ich diese Schenke?" Der Reiter beschrieb eine Seitenstraße im Vorort am jenseitigen Ende der London Bridge. Nach seiner Schilderung würde der Seewolf die Kneipe ohne Schwierigkeiten finden. Er konnte den Weg sogar zu Fuß zurücklegen. „Heute abend also, in Southwark", sagte Hasard. „Sie kennen denjenigen, der mit mir sprechen will. Sagen Sie ihm, ich komme, allein, aber bewaffnet. In Southwark fällt man schnell unter die Räuber. Wo ist Don Juan?" „Ich denke, man wird es Ihnen heute mitteilen, Kapitän", wich der Bote aus. „Derjenige, der Don Juan entführt und den Brief schrieb", fragte der Seewolf weiter, „ist er ein Ehrenmann, soweit man das von einem Themse-Geier sagen kann? Wird er,
26 falls er sein Wort gibt, dieses Versprechen auch halten? Ein ehrlicher, unabhängiger Bote wie Sie weiß zweifellos über das wahre Wesen seiner Auftraggeber Bescheid. Also: kann ich ihm vertrauen?" „Nach allem, was ich weiß, rate ich dazu. Es ist kein Meuchelmörder. Er ist listenreich und nimmt seinen Vorteil wahr." „Er denkt sicher, daß es schierer Selbstmord wäre, einen Gefangenen aus dem Tower zu befreien oder heraushauen zu wollen", sagte Hasard und prägte sich jede Einzelheit der Kleidung des Boten ein, das gebrauchte, aber teuer gefertigte Zaumzeug sowie den Sattel und schließlich das Pferd, das alles andere als eine abgeklapperte Mähre war. „Ich werde dort sein", erklärte er schließlich halblaut. „Sagen Sie dem Edelmann, der Sie bezahlt, daß er, zu seinem eigenen Vorteil, mit meinem spanischen Freund behutsam umgehen soll. Sehr behutsam. Zusammengerechnet wird stets am Schluß, und dieses Ende ist noch nicht nahe." Immerhin wußte er, daß sie ihren Gefangenen im Tower versteckten. Er gönnte dem Boten ein Kopfnicken und ging zum Schiff zurück. Ohne Eile und, wie es schien, auch ohne Furcht, schwang sich der Bote in den Sattel, zog das Pferd herum und ritt in der zunehmenden Helligkeit themseabwärts davon. Nach einer Weile ging der harte Huf schlag in dumpfes Trommeln über und hörte schließlich auf. Von den Mauern des Towers flogen Raben auf und kreisten mit häßlichem Krächzen über den Hafen. Plymmie hetzte über den Kai und verfolgte die Ratten, die sich zu nahe an die Poller herantrauten. Hasard
fluchte lautlos in sich hinein. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Sie hielten Becher in den Händen, aus denen der heiße, gewürzte und gesüßte Tee dampfte. In der kalten Morgenluft stiegen auch Dampfwölkchen aus Nase und Mund. Um sie herum erwachte London zum Leben. Die Menge der Schreie und Geräusche nahm von Atemzug zu Atemzug zu und würde in einer halben Stunde, spätestens beim ersten Sonnenstrahl, ihre größte Lautstärke erreicht haben. Noch war eine ruhige Unterhaltung möglich. Der Profos, der Erste und Hasard hockten auf dem Vorschiff der Schebecke. „Jetzt wißt ihr, was ich weiß. Und was ich mir überlegt habe", sagte der Seewolf in erzwungener Ruhe. „Natürlich bringen Don Juan ein paar Stunden mehr im Tower nicht um. Aber zuerst müssen wir ihn in der Hand haben." „Sie wollen uns erpressen, keine Frage", sagte Edwin Carberry. „Sie wollen die Silberladung. Was sonst?" Ben Brighton trank seinen Tee, nickte und schwieg. „Klar, was sonst", sagte Hasard. „Hinter den unbekannten Geiern stehen jedenfalls viel Geld, gut arbeitende Bestechung, eine Schar gefügiger Helfer." „Anders kann es gar nicht sein. Lauter verbrecherische Affenärsche", erklärte der Profos. „Aber vor heute abend ist nichts zu machen." „Stimmt", brummte der Erste. Der Seewolf hatte entschieden, zunächst einmal klein beizugeben. Da sie auf einem Weg, der im Bereich ih-
27 rer Vorstellungen lag, Don Juan de Alcazar nicht aus dem Tower befreien konnten, ohne gegen London und die Gardisten Elisabeths einen Krieg zu führen, mußten sie zuallererst dafür sorgen, daß der Freund freigelassen wurde. „Angenommen, Don Juan wäre frei. Was dann? Ich meine mit der Galeone?" fragte der Profos einigerma-ßen ratlos. Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, daß hier ein paar Gespanne aufkreuzten, zusammen mit etlichen Trägern, die eine Kiste nach der anderen aus der „Fidelidad" umluden und dann unbehelligt davonfuhren. Oder daß die Galeone in einen anderen Teil des Hafens verholt und dort entladen würde. Hasard meinte nachdenklich: „Sie haben bisher alles genau geplant. Es ist in ihrem Sinn ausgezeichnet abgelaufen. Sie werden auch sehr gut wissen, wie sie die Galeone in ihren Besitz bringen." „Wahrscheinlich sollen wir sie themseab segeln", sagte Ben, „und auf irgendeinen Strand setzen. Und dann müssen wir abhauen oder werden in die Flucht geschlagen. Oder sie verlangen, wir sollen das Schiff treiben lassen, und mit ihrer Barkasse bringen sie Seeleute an Bord." „So oder ähnlich werden sie es vermutlich abziehen", sagte der Seewolf grimmig. In diesem letzten Fall kannten die Arwenacks ein paar Möglichkeiten, den Themsegeiern das Vergnügen zu versalzen. Hasard leerte seinen Becher und sagte: „Heute abend, wenn ich von Southwark zurück bin, weiß ich mehr. Dann haben sie mir wahrscheinlich auch mitgeteilt, wohin sie die Galeone haben wollen. Wir tun gut daran, eine verzweifelte Miene zu
zeigen. Jeder von uns. Denn wir werden beobachtet." „Siehst du etwa jemanden?" fragte Carberry und ballte seine Pranken. „Ich gehe hin und verpasse ihm den Hammer." „Sie sind nicht so dumm und zeigen sich. Wir könnten jemanden fassen und ihm unangenehme Fragen stellen", sagte Hasard. „Wie auch immer. Der Kutscher und Mac Pellew sollen auf jeden Fall heute frische und abwechslungsreiche Nahrungsmittel einkaufen. Die Märkte werden bald geöffnet sein." „Geht klar, Sir." Die Wache wurde abgelöst. Nach und nach trafen sich alle Seewölfe auf der Schebecke. Zwei Leute des Hafenmeisters erschienen und notierten in ihren Listen, was ihnen Kapitän Killigrew zu sagen hatte. Es gab nichts, auf das man Zoll erheben konnte. Will Thorne sammelte ein paar der am ärgsten mitgenommenen Segeltuchjacken aus seiner Produktion ein und brach nach einem kurzen Frühstück auf. Er suchte eine preiswerte Näherei und einen guten Segelmacher, bei dem auch neues Tuch eingekauft werden konnte. Als die Sonne aufgegangen war, löste sich der Nebel restlos auf. Ein klarer, wolkenfreier Tag brach an. Schon jetzt war es warm, fast zu heiß für diesen vierten Monat. Für die Arwenacks schien es ein Tag wie viele andere in einem Hafen zu sein. Mit verdrossenen Mienen, ohne zu scherzen, klarten sie die Schiffe auf und brachten einige Ballen, die in den Lasten feucht geworden waren, an Deck zum Trocknen. Ein paar Männer spleißten Tauwerk, andere schoren neue Leinen. Plymmie jagte wei-
28 terhin erfolgreich die Ratten, und der krächzende Sir John beschimpfte mehrsprachig die Arwenacks vom Großmast herunter. Hasard unternahm einen langen Spaziergang über die London Bridge, an den unzähligen Verkaufsbuden und Schenken vorbei, bis hinüber nach Southwark, das sich am hellen Tag in seiner ganzen, schlammigen Schäbigkeit zeigte. Er fand die Schenke. Sie war geschlossen. Er umkreiste auf ungepflegten Pfaden das baufällige Haus und versuchte sich vorzustellen, wie eine Falle für ihn aussehen könnte. Trotz seines erheblichen Mißtrauens fand er nichts, das ihn beunruhigt hätte. Er zuckte mit den Schultern, ließ zur Sicherheit seine Hand auf dem Kolben des Drehlings liegen und schlenderte zurück zur Schebecke.
Der lange, heiße Tag ging langsam zu Ende. Die Hitze hatte unzählige Knospen platzen und ebenso viele Blätter sich entfalten lassen. Der stikkige Geruch, der von der großen Stadt zum Hafen hinunterkroch, wurde immer wieder von kühlen, wohlriechenden Windstößen unterbrochen. Die Sonne schickte sich an, zwischen Somerset House und den Gebäuden der Admiralty den Horizont zu berühren. Elf Stunden, ziemlich genau nach der Übergabe der Botschaft, wandte sich Philip Hasard Killigrew an seinen Stellvertreter, den Ersten Offizier Ben Brighton. Mit ruhiger Stimme sagte er: „Ich gehe jetzt. Die anderen folgen mir wie abgesprochen."
„Aye, aye, Sir", entgegnete Ben Brighton. „Der Pfiff ist bekannt, und er wird, wenn ich ihn ausstoße, auch gehört werden." „Ohne Zweifel, Sir." „Ich rechne nicht - noch nicht! damit, daß man mich überfällt. Die Themsegeier werden mir sagen, was wir zu tun haben. Dann werden sich unsere Wege trennen." Ben erwiderte im Brustton der Überzeugung: „Ich sehe das nicht anders, Sir." „Also kehre ich, mehr oder weniger wohlbehalten, wieder hierher zurück. Damit rechne ich fest." Ben Brighton nickte und ließ seine Blicke über die beiden Schiffe gleiten. „So wird es sein. Du mußt versuchen, den anderen zu erkennen. Vielleicht verrät er sich durch eine Bewegung, einen Ring, ein bestimmtes Verhalten. Du weißt besser, auf was zu achten ist." Der Seewolf kletterte mit gemessenen Bewegungen über das Schanzkleid und blieb neben der Schebecke abwartend auf dem Kai stehen. „Viel Glück", sagte Ben Brighton. „Danke." Hasard setzte sich in Bewegung und ging über die Länge des Kais bis zum Beginn der London Bridge. Aus dem Stadttor, das sich in die Richtung der Brücke öffnete, strömten die Londoner. Karren und schwer beladene Lasttiere wurden zwischen den Verkaufsständen entlanggetrieben. Es herrschten Geschrei und Gelächter. Räudige Hunde balgten sich um Abfälle. Der Seewolf wich den zahlreichen Kothaufen aus, umging die Löcher, die mit stinkender Brühe gefüllt wa-
29 ren und versuchte, niemanden anzurempeln. Nicht einmal die geschicktesten Taschendiebe und Beutelschneider riskierten es, nach seinem Gürtel zu greifen. Er schob sich wachsam und kerzengerade durch die quirlende Menge und zeigte ein entschlossenes Gesicht. Dazu brauchte er sich nicht anzustrengen oder zu verstellen. Seine Laune war alles andere als gut. Zwischen den vielen Bürgern und Arbeitern bildete er eine auffallende Erscheinung. Die meisten Männer überragte er um einen halben Kopf oder mehr. In der Mitte der Brücke blieb er stehen, lehnte sich auf die steinerne Brüstung und blickte ins leidlich saubere Wasser. Er wußte nicht, wonach er suchte, aber es half, die Gedanken zu sammeln. „Verdammtes Themsepack!" murmelte er und ging weiter. Southwark bestand im wesentlichen aus zwei Zeilen schmalbrüstiger und verwahrloster Häuser, die sich entlang einer Straße erstreckten, die nach Newington führte. Hier lebten und arbeiteten viele Frauen und Männer, die in der Stadt, innerhalb ihrer Mauern, keinen Platz mehr hatten - wenige ehrliche und viele betrügerische Spieler, junge und alte, schöne und abscheuliche Freudenmädchen, Schauspieler, ein paar Handwerker und Schankwirte. Selbst jetzt am Tag huschten pfeifende Ratten im Abfall herum. Langsam glitten Hasards Augen über die verwitterten Fassaden. Die meisten Wirtshausschilder gaben nur nachts im Licht der schaukelnden Laternen etwas her. Im Tageslicht bestanden sie aus morschem Holz, viel Rost und abblätternder Farbe, Einmal ging der Seewolf am „Wal-
fisch und betrunkener Seemann" vorbei, richtete seinen Blick in sämtliche Ecken und Winkel und ging weiter bis zum Ende der breiteren Straße. Das Wirtshausschild hing an einem abgesägten Masttopp, der aus der Mauer über dem Eingang ragte. Weder der Walfisch noch der Seemann sahen ihren Ebenbildern ähnlich. Hasard nahm mit einem Schritt die vier ausgetretenen Stufen und gelangte in eine dämmerige, stauberfüllte Schankstube. Tische, Bänke, Hocker, ein Schanktisch und eine Reihe Fässer, Krüge und unzählige Becher - die Einrichtung war ärmlich. Er lehnte sich an den Schanktisch, hob seine Augen aus dem Ausschnitt der Kellnerin und brummte: „Man erwartet mich." Das Mädchen war weder hübsch noch häßlich, aber sie entgegnete freundlich: „Es ist niemand da. Wollte dich jemand hier treffen, Seemann?" „Ja. Vielleicht hat jemand nach mir gefragt. Hast du einen guten roten Wein? Einen guten, meine ich." Sie nickte, raffte ihren Rock ein wenig hoch und zog einen verschlossenen Krug aus einem Fach. Dann hielt sie ein dickwandiges Glas in einen Lichtstrahl, nickte und füllte es. Zumindest der Geruch des Weines war gut. Nachdem Hasard einen Schluck genommen hatte, legte er ein paar Pennies auf den Tisch. „Ich bin Kapitän Killigrew", sagte er. Jetzt lachte sie und zeigte zu einer Ecke. ,,Ich bin Nelly. Ja, das stimmt. Du sollst dich dort hinten hinsetzen. Neben den Kamin. Das ist der beste Platz. Der Mann, auf den du wartest, erscheint bestimmt. Hat er gesagt." Hasard hob das wuchtige Glas und
30 schaute sie über den Rand hinweg prüfend an. „Du hast mit ihm gesprochen?" fragte er scheinbar ohne Neugierde. „Nein. Der Wirt. Mister Bagshot." „Du kennst ihn also nicht", murmelte er und schlenderte durch den leeren Raum bis zu dem ziegelgemauerten Kamin, Dort standen mehrere wuchtige Stühle mit hohen Lehnen und den Resten von Lederpolsterung. Er setzte sich in den rechts stehenden und nahm einen weiteren Schluck. Der Wein war wirklich sein Geld wert. „Kommt Mister Bagshot bald?" „Er geht und kommt, wie er will. Es ist nicht viel los in diesen Tagen. Zu wenige Schiffe hier." „Gäste habt ihr tatsächlich nicht viele", stellte er fest und lehnte sich vorsichtig zurück. Der Stuhl gab knarrende und knisternde Geräusche von sich wie ein paar Quadratfuß zersplitternder Planken. Aber er brach nicht auseinander. „Sie kommen schon noch. Es ist noch zu früh!" rief Nelly und putzte weiter ihren Schanktisch, spülte die Becher und warf Hasards Münze klirrend in einen Krug. Ruhig trank Hasard einen winzigen Schluck nach dem anderen und spürte einige Atemzüge später, wie hinter seinem Kopf ein Brett jedesmal leicht nachgab, wenn er sich dagegenlehnte. Er drehte sich um und sah in der Bretterwand eine ganze Menge Astlöcher. „Eure Bude wird beim nächsten Sturm zusammenbrechen", sagte er und stand auf, um sich neuen Wein geben zu lassen. Nelly lachte halbwegs fröhlich und erwiderte: ,,Was soll's! Es sind so
viele Schenken in Southwark. Eine mehr, eine weniger..." Sie goß vorsichtig das Glas wieder voll, und der Seewolf spürte Unruhe und wurde ungeduldig. Die zwölf Stunden seit der Übergabe des Briefes waren bereits vorbei. Er setzte sich wieder, und als eine Gruppe von mehr als sieben Seeleuten eintrat, schien sich der Raum gefüllt zu haben. Sie verlangten grölend nach Bier und setzten sich an den längsten Tisch. Durch den Radau und die lauten Gespräche hörte der Seewolf plötzlich ein Flüstern. Es war überaus deutlich. „Bleibe sitzen, Killigrew. Höre gut zu. Sprich leise." „Du ziehst es vor, unsichtbar zu bleiben", entgegnete Hasard, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. „Es geht um Don Juan?" „Und um mehr als sein Leben." „Das wird eine schwierige Unterhaltung werden", sagte Hasard. Er war nicht im mindesten verblüfft, als die Stimme - er versuchte, sich jede Eigentümlichkeit zu merken - weitersprach, flüsternd und manchmal, als der Lärm zu groß wurde, deutlicher und weniger verzerrt: „Durch ein Astloch habe ich den Degen gesteckt. Durch ein anderes zielt meine Pistole auf dich. Versuche also nicht, hinter meine Maske zu schauen. Dein Freund, der Spanier . . . " Der Seewolf nickte. „ . . . ist im Tower. Mit List, Bestechung und etwas Glück habt ihr ihn dort eingekerkert." „So verhält es sich", fuhr der unsichtbare Sprecher fort. Wie Hasard vermutet hatte, gebrauchte auch er eine sorgfältige Sprache. „Die Wachen des Towers vermuten, daß die-
31 ser Spanier ein Spion sei. Anders kann es sich gar nicht verhalten. Es fehlt nicht mehr viel, und er wird unter einer langen und erschöpfenden Folter gestehen, daß er zu der Vorhut einer neuen Armada gehört." Hasard schluckte. Kälte schien über seinen Rücken zu rieseln. Mühsam beherrscht antwortete er: „Ich bin sicher, ihr bringt das fertig. Dabei wißt ihr, daß Don Juan kein Spion ist." „Du weißt es, ich ahne es, vielleicht ist es auch wirklich so. Aber wenn er gesteht, daß er ein spanischer Spion ist, wird ihm wohl jeder glauben. Du weißt, was dieses Geständnis bedeutet?" „Ich weiß es. Tod am Galgen." „So ist es. Auf jeden Fall ein Todesurteil, und in diesen Tagen ist man in London schnell dabei, jemanden zu hängen oder auf den Block zu bringen." Hasard zwang sich, einen Schluck Wein zu trinken und wunderte sich selbst darüber, daß seine Hand nicht vor Wut zitterte. In seinem Inneren schien sich eisige Kälte auszubreiten. „Ja, daran sollte jeder denken, der ein gefährliches Leben führt", sagte er schließlich und fragte, obwohl er die Antwort schon ziemlich genau zu wissen glaubte: „Was kann ich tun, um das Leben Don Juan de Alcazars zu retten?" „Du hast mit einer solchen Wendung gerechnet, nicht wahr?" „Es gehört nicht viel Geistesschläue dazu", entgegnete der Seewolf frostig. „Da niemand - außer euch Themsegeiern vielleicht - einen Gefangenen aus dem Tower befreien kann, habe ich daran gedacht. Was willst du?" Die eindringliche Stimme sprach
weiter. Hasard versuchte, sich dahinter den Mann vorzustellen. „Du solltest eine Kaution zahlen, denn reden wir über die Freilassung. Es versteht sich, daß wir zuerst nachzählen müssen." „Es versteht sich", bestätigte Hasard scheinbar ruhig. „Wenn die Summe stimmt, wird dank unserer Beziehungen und unseres Einflusses im Tower, und nicht nur dort, dein Freund bald wieder frei sein." „Was verlangst du wirklich?" „Ich habe gehört, daß die legendären Seewölfe mit einer Schiffsladung Silber in London angelegt haben. Wir würden uns damit begnügen. Um euch die Arbeit zu ersparen, werden wir dafür sorgen, daß die Galeone das Silber dorthin bringt, wohin wir es wünschen." „Themseabwärts, in der Nacht, ohne Besatzung, könnte ich mir vorstellen." „So ähnlich haben wir uns das auch vorgestellt. Wann und wie der Austausch vor sich gehen wird, bestimmen wir. Zuerst das Schiff, dann der Mann." „Du verlangst doch nicht etwa im Ernst, daß ich dir vertraue?" sagte der Seewolf schroff. „Ihr nehmt das Schiff, und dann laßt ihr den Spanier in seiner Zelle verhungern und verkommen." Der andere hatte sich tatsächlich alles sehr genau überlegt. Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. „Eine Stunde, nachdem ihr die Taue der Galeone losgeworfen habt, bringt der Bote, du kennst ihn schon, euren Mann. Mitsamt der Waffen, übrigens. Vielleicht vertraust du den ehrlichen Augen des Boten mehr als meinem Versprechen." „Ich habe keine andere Wahl", er-
32 widerte Hasard kalt. „Jedenfalls fällt es mir weitaus leichter, ihm zu vertrauen als einem Unbekannten, der mich mit dem Degen und einer gespannten Pistole bedroht. Wann wollt ihr das Schiff haben?" „Das erfährst du durch den wohlbekannten Boten." Der Unsichtbare lachte. „Meine Bedingungen lauten: das Ruder festgebunden. Die Galeone ohne Mannschaft, denn wir sind viele und gut bewaffnet. Ein versteckter Seemann würde das Morgenlicht nicht mehr sehen. Das Schiff wird in die Strömung des Flusses gebracht, wenn die Flut vorbei ist und die Ebbe abläuft.". Der Unsichtbare benutzte keine Seefahrerausdrücke, was darauf schließen ließ, daß er Landratte war. Ein schwacher Trost, ein geringer Hinweis: die meisten Einwohner der Insel waren Landratten. „Hast du alles verstanden?" fragte der Themsegeier aufmerksam. „Ich habe alles verstanden. Gegen Mitternacht kentert die Tide", erwiderte Hasard und wußte, daß sein verdammter Gesprächspartner einen guten Seemann zum Berater gehabt haben mußte. „Du wartest also auf den reitenden Boten", bestirmmte der unsichtbare Mann. „Ihr solltet euch beeilen", riet ihm Hasard. „Ich werde der Königin erklären müssen, warum die Galeone, die ihr gehört, so plötzlich verschwunden ist. Wird nicht leicht sein, denke ich." „Denke du an deinen Freund, der im Gewölbe sitzt und sein Schicksal verflucht. Er hat Freunde noch nie so bitter nötig gehabt wie in den nächsten Tagen." „Du und deine Leute werden allerdings nicht zu meinen Freunden zäh-
len", erklärte Hasard und bewegte sich. „Darf ich jetzt gehen?" „Noch einen Moment." „Ich warte. Was willst du noch?" Er wartete einige Atemzüge lang auf eine Antwort, dann wußte er, daß der Unsichtbare verschwunden war. Es blieb ein sinnloser Versuch, hinauszustürmen und nach jemandem zu suchen, von dem er nicht einmal wußte, ob er groß oder klein war. Und der Unsichtbare würde nicht so dumm sein, sich ausgerechnet hier durch besonders teure Kleidung zu verraten. Hasard fühlte, wie ihn die Spannung verließ. Er stand auf und schob sich zum Schanktisch. Nelly zapfte gerade Bier für die Seeleute ab, die mittlerweile noch lauter durcheinanderschrien. „Für mich noch einen Wein", bestellte Hasard. Nach diesem Gespräch hatte er mehr als einen Schluck nötig. „Einen größeren Becher." „Warte ein bißchen, Kapitän", sagte sie leichthin. Sie schleppte die Bierhumpen zu den Seeleuten und versuchte geschickt, den tappenden und zupakkenden Fingern zu entgehen. Einem der Kerls schlug sie mit dem leeren Becher auf die Hand. Seine Trinkgenossen lachten grölend. „Hier, Kapitän. Dein Freund hat dich versetzt, wie?" Hasard lächelte in sich hinein. „Er hat sich nicht sehen lassen", sagte er doppeldeutig. „Aber es war auch so ein recht aufschlußreicher Abend." Während er trank und merkte, daß er seine Ruhe wiederfand, schaute ihn Nelly zweifelnd an und schüttelte dann lachend den Kopf. Sind schon seltsame Männer, diese Seeleute,
Ein alter Freund unseres Forums - A S , straße , Hamburg - schrieb uns wieder. Hier ist sein Brief: Liebe Seewölfe-Redaktion! Herzlichen Glückwunsch zur Nr. 600 und dazu gleich ein Zitat aus Perry Rhodan, Band 1200: „ . . . und wieder sind einhundert Bände herum, fast könnte man rückschauend sagen, wie im Flug. Diejenigen, die von Nr. 1 an dabei waren, könnten jetzt einmal auszurechnen versuchen, wie viele Kilometer sie bis zum Zeitschriftenhändler zurückgelegt haben... Sie könnten die Stunden errechnen, die sie mit Schmökern zugebracht haben (anstatt fernzusehen, den Hund auszuführen oder die Freundin, ins Kino zu gehen oder einen zu trinken). Ich bin zwar nicht seit Nr. 1 dabei (erst seit Nr. 400), aber trotzdem gefallen mir die Seewölfe immer recht gut, und ich werde sie auch weiterhin kaufen und lesen. Kaufen, das ist gleich ein schönes Stichwort. Ich hoffe, daß Ihr nicht wie bei Perry Rhodan den Preis erhöht, da die Seewölfe sowieso schon nicht gerade billig sind (immerhin die teuerste deutsche Romanheftserie). Einige Verbesserungsvorschläge: 1. Bringt wieder die Personenbezeichnungen, die waren damals echt super. 2. Da es bestimmt einige Seewölfe-Fanclubs gibt, können sich diese doch mal im Forum vorstellen und berichten, was sie machen. 3. Ihr habt mal geschrieben, daß die Seewölfe auch in Norwegen erscheinen. Erscheinen sie dort überhaupt noch? Wenn ja, berichtet doch einmal darüber, wie die Hefte dort ankommen und wie sie aufgebaut sind (haben sie auch ein Forum?). 4. Berichtet mehr über die Autoren. Schreiben z. B. einige Autoren auch für andere Serien? Warum schreiben so viele ehemalige Autoren (John Roscoe Craig) nicht mehr für die Seewölfe? 5. Bringt doch im Jubiläumsheft 700 anstatt eines Posters einfach mal einen Aufkleber.
6. Da Ihr nun nicht mehr Storys über 10,20 und noch mehr Hefte schreibt, sondern einzeln abgeschlossen (wenn auch mit rotem Faden), versucht wenigstens ,mehrZwei- oder Dreiteiler zu bringen. Ich möchte nun den Autoren, allen Mitarbeitern des Pabel Verlags und natürlich den Lesernfür diese sechshundert Hefte danken, denn alle sind daran maßgeblich beteiligt. Bringt aber endlich mehr Leben ins Forum, laßt andere mal berichten, ich hoffe, es findet sich Resonanz. PS: Wenn Ihr es schafft, die Zweitauflage vor Nr. 1000 herauszubringen, bekommt Ihr von mir eine Glückwunschkarte. Bis zum nächsten Mal - A S Sehr herzlichen Dank für Ihren Brief, lieber Herr S . Zu Ihren Fragen bzw. Vorschlägen: 1. Die Porträts mußten wir aufgeben, weil sie den Seewölfe-Etat ungebührlich hoch belasteten (leider!) - auch ein Verlag kann nicht ewig „aus dem vollen" schöpfen, und wir sprachen es an anderer Stelle schon einmal an: Es wird weniger gelesen als vor fünf bis zehn Jahren! 2. Ein Seewölfe-Fanclub hat sich bei uns noch nicht gemeldet. 3. Es erschienen in Norwegen nur die Nummern 12-28. Beim Heftformat, das mit der Nr. 29 begann, zogen die Norweger nicht mehr mit. 4. Siehe Forum der SW-Nr. 606. 5. Der Vorschlag könnte erwogen werden. 6. Mit diesem Problem sind wir noch nicht fertig - es würde nämlich eine Umstellung der Konzeption erfordern: zurück zum Zyklus und weg vom Einzelroman. Was heißt, wir sollten „mehr Leben ins Forum" bringen? Wer sind die „anderen", die mal berichten sollen? Und über was? Wir bringen doch in diesem Forum ausschließlich Leserbriefe - und sagen dazu unsere Meinung! Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern das Rigg und die Stagsegel eines Vollschiffs (Rahseglers) vor. Stagsegel ist eine Pauschalbezeichnung für alle an einem Stag gesetzten Segel. Die Stagen wiederum gehören zum stehenden Gut eines Segelschiffs und dienen dazu, die Masten in der Längsrichtung abzustagen, das heißt zu stützen. Somit werden auch die Stagsegel an den Stagen in Längsschiffsrichtung gefahren. Sie sind dreieckig geschnitten und werden mit den Stagsegelschoten getrimmt. Bekannt ist, daß Stagsegel erstmals um 1660 auf größeren Seglern auftauchten. Allgemein wurden zwischen den Masten drei, seltener vier Stagsegel gefahren. Bei den Begriffserklärungen bringen wir häufiger die Bezeichnung „Sky". Es handelt sich hier um Ableitungen, die mit dem Skysegel zusammenhängen. Skysegel waren auf einigen Klippern jene Segel, die noch über dem Royalsegel als siebentes Segel gesetzt wurden, Die Nummern bedeuten: 1 Außenklüverbaum, 2 Klüveraum, 3 Bugspriet, 4 Stampfstock (Spreize für die Stampfstagen zum Abstützen des Klüverbaums), 5 Außen-Klüverstampfstag, 6 Klüverstampfstag, 7 Stampfstockgeien, 8 VorSkysegelstag, 9 Vor-Royalstag, 10 Außen-Klüverstag, 11 Vor-Bramstag, 12 Klüverstag, 13 Vor-Stengestag, 14 Fockstag, 15 Fockmast, 16 Vormars, 17 Fockmast-Eselshaupt, 18 Vor-Marsstenge, 19 Vor-Bramsaling, 20 Vor-Marsstenge-Eselshaupt, 21 Vor-Bramstenge, 22 Vor-Royalsaling, 23 Vor-Bramstenge-Eselshaupt, 24 Vor-Royalstenge, 25 Vor-Skysegelstenge, 26 Flaggentopp der Vor-Skysegelstenge, 27 Fockwant, 28 Vor-Stengewant, 29 Vor-Stengepardunen, 30 Vor-Brampardunen, 31 Vor-Royalpardune, 32 Vor-Skysegelpardune, 33 Groß-Stagsegel, 34 Großstag, 35 Groß-Stengestagsegel, 36 GroßStengestag, 37 Mittel-Stagsegel, 38 Mittel-Stagsegelleiter, 39 Groß-Bramstagsegel, 40 Groß-Bramstag, 41 Groß-Royalstagsegel, 42 Groß-Royalstag, 43 Groß-Skysegelstag, 44 Stagsegelschoten, 45 Großmast, 46 Großmars, 47 Großmast-Eselshaupt, 48 Groß-Marsstenge, 49 Groß-Bramsaling, 50 Groß-Marsstenge-Eselshaupt, 51 Groß-Bramstenge, 52 Groß-Royalsaling, 53 GroßBramstenge-Eselshaupt, 54 Groß-Royalstenge, 55 Groß-Skysegelstenge, 56 Flaggentopp der Groß-Skysegelstenge, 57 Großwant, 58 Groß-Stengewant, 59 Groß-Stengepardunen, 60 Groß-Brampardunen, 61 Groß-Royalpardune, 62 Groß-Skysegelpardune, 63 Kreuz-Stagsegel, 64 Kreuzstag, 65 Kreuz-Stengestagsegel, 66 Kreuz-Stengestag, 67 Kreuz-Bramstagsegel, 68 Kreuz-Bramstag, 69 Kreuz-Royalstagsegel, 70 Kreuz-Royalstag, 71 Kreuz-Skysegelstag, 72 Kreuzmast, 73 Kreuzmars, 74 Kreuzmast-Eselshaupt, 75 Kreuz-Marsstenge, 76 Kreuz-Bramsaling, 77 Kreuz-Marsstenge-Eselshaupt, 78 Kreuz-Bramstenge, 79 Kreuz-Royalsaling, 80 Kreuz-Bramstenge-Eselshaupt, 81 Kreuz-Royalstenge, 82 Kreuz-Skysegelstenge, 83 Flaggen topp der Kreuz-Skysegelstenge, 84 Kreuzwant, 85 Kreuz-Stengewant, 86 Kreuz-Stengepardunen, 87 KreuzBrampardunen, 88 Kreuz-Royalpardune, 89 Kreuz-Skysegelpardune und 90 Taljenreeps (das sind durch Jungfern - Pockholzscheiben mit drei Löchern wie durch eine Talje geschorene Taue - Reeps -, mit denen Wanten und Pardunen festgesetzt werden).
37 dachte sie. Obwohl ihr dieser hünenhafte Mann durchaus gefallen würde. Hasard zahlte, legte eine kleine Silbermünze dazu und sagte: „Kauf dir ein neues Mieder, Nelly. Am alten fehlen zu viele Knöpfe!" Er trank aus und ging hinaus. Die Abendsonne überschüttete, noch immer ungewöhnlich heiß, das Wasser und die Stadt mit ihrem rötlichen Schimmer. Es schien, als hätten sich in dieser Wärme auch die letzten Blüten geöffnet und die Blätter ganz entrollt, denn auf dem Weg zurück zur Schebecke stank es nicht nach Unrat. Es roch nach frischem Grün und klarem Wasser. Die Seewölfe warteten auf ihn, Sie drängten sich um ihn, als er berichtete, was er erfahren hatte. Ihre Gesichter waren voller entschlossener Wut und verkniffener Hilflosigkeit. „Ich kann es nicht ändern. So ist es", schloß er und setzte sich auf die Stufen des achterlichen Niederganges. 5. Nachdem feststand, daß seine Seewölfe zwar eine Menge einzelner Männer recht genau betrachtet hatten, den unsichtbaren Sprecher aber nicht gesehen hatten, wandte sich der Seewolf an den Profos. „Du steckst ein paar Sixpence ein, gehst durch die Stadt und sprichst möglichst weit flußaufwärts mit einem Fischer. Er soll dir eine Jacke leihen und mit dir zusammen Fische fangen. Klar?" Carberry schüttelte den Kopf. „Nichts ist klar, Sir. Fischer? Fische fangen? Ich weiß nicht mal, wie man eine Sprotte von einem Nilpferd unterscheidet."
Die Umstehenden mußten trotz des traurigen Anlasses lachen. Selbst Hasard grinste. „Du verkleidest dich als Fischer, und wenn du siehst, daß die Galeone flußabwärts driftet, folgt ihr dem Schiff. Nimm ein paar von Al Conroys Brandsätzen mit. Wenn du drei Pistolenschüsse hörst, haben wir eine Stunde nach dem Losmachen unseren Freund. Dann versuchst du nur, herauszufinden, wohin die Galeone verschwindet." „Und wenn ich nichts oder etwas anderes höre?" „Wir schießen blind mit der Bugdrehbasse. Das ist das Zeichen, daß Don Juan etwas passiert ist, das wir nicht vorhersehen konnten. Dann feuerst du in die Segel der ,Fidelidad'." „Jetzt habe ich verstanden!" rief Carberry. „Ich werde mich entsprechend ausstaffieren. Diesen Rübenschweinen zeige ich es." „Halt!" Der Seewolf hob die Hand und zeigte auf den Stückmeister. „Vier Augen sehen mehr als zwei. Du wirst genau das gleiche unternehmen, Al. Mit einem anderen Fischer, mit Brandsätzen und bewaffnet. Und mit viel Geduld. Es kann sein, daß sie uns erst übermorgen eine Botschaft schicken. Ich schätze, es geschieht bald, aber niemand weiß es." „Außer den Geiern, diesen Schurken", sagte Al Conroy. „He, Kutscher, pack uns Essen zusammen und etwas für die Kehle." „Ihr geht in die Stadt, ohne Eile, dann haut ab und seht zu, daß euch niemand folgt. Sagt niemandem, zu was das gut sein soll. Und versteckt die Brandsätze." „Also unauffällig wie zwei Seeleute auf Landgang, wie?" „Genauso und nicht anders. Ich
38 sehe euch von hier aus. Paßt auf, daß ihr nicht zu sehr auffallt. Ihr seid Fischer, sonst nichts." „Aye, aye, Sir." Sie verschwanden unter Deck, und als sie mit ihren Bündeln zurückkehrten, würde auch ein mißtrauischer Späher nicht erkennen, was sie vorhatten. Der Seewolf sagte: „Und jetzt brauchen wir noch eine Erfindung, mit der wir im Wasser eine Spur legen, die nur wir sehen können." „Farbe, Sir", schlug Paddy Rogers vor. „Quatsch", antwortete Jack Finnegan. „Farbe kann sogar ein Blinder wie du sehen." „Öl", murmelte Dan O'Flynn. „Öltropfen wie der Faden der Ariadne." „Was hast du mit dem Takelgarn vor?" fragte entgeistert Old Donegal. Sein Sohn winkte grinsend ab und erklärte: „Die Ariadne war 'ne Lady bei den alten Griechen, die einem Seemann einen Faden gab. Er latschte damit durch ein Labyrinth und fand wieder ganz leicht hinaus, nachdem er den Minotaurus in Stücke gehackt und Rindsbraten aus ihm gemacht hat." Erschüttert wandte sich Old Donegal ab, schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte: „Der Junge hockt zuviel über den Karten. Jetzt verwechselt er schon im Buch die Buchstaben." „Ben Brighton erklärt es dir sicher gern", wich Dan aus. „Öl, Sir. Ein Fäßchen voller Öl. Oder ein paar Krüge. Mit kleinen Löchern. Das Öl muß lange tropfenweise auslaufen können." „Öl", sagte Hasard junior. „Clever, nicht wahr? Nachts sieht man nichts davon." „Guter Einfall", lobte der Seewolf.
„Geht unter Deck und bereitet alles vor. Genug Öl an Bord?" „Lampenöl und das Öl von Mac Pellew und dem Kutscher." Die beiden bereiteten das Essen für AL und Carberry und wußten noch nichts von dem Anschlag, den die Seewölfe auf ihre Kochmittel vorhatten. Der Seewolf dämpfte seine Stimme und erklärte: „Ab jetzt werden sie uns noch genauer beobachten. Also darf auf der ,Fidelidad' nichts Auffälliges vor sich gehen. Verhaltet euch völlig normal. Laßt eine Wache aufziehen, bringt Laternen aus und all das, klar?" „Aye, Sir." Das Warten, das schlimmer als alles andere die Seewölfe bedrückte, war also aufs erste vorbei. Die Männer wußten wieder, was sie zu tun hatten. Al Conroy und der Profos, die längst unterwegs waren, wußten ebenso wie der Seewolf, daß ihr einsames Warten in den Fischerbooten auch zwei oder gar drei Tage dauern konnte. ,,Du weißt, was ,al-Casar' heißt?" fragte am Vorschiff Jung Philip seinen Bruder. „Nicht genau. Aber du wirst es mir gleich erklären." „In der maurischen Sprache heißt al-Casar: die Burg. Sie nennen auch die Gebäude der Festungen so. Das hat mir Don Juan selbst gesagt. Und jetzt sitzt er selbst in der verdammten Burg dort drüben." „Ich bin ganz sicher", Hasard junior schüttelte die Faust in die Richtung des Towers, „daß wir ihn schon morgen früh wieder an Bord haben." „Und dann geht's rund", versicherte Philip. „Wir müssen uns nur noch ein paar zusätzliche Scherze für die Geier einfallen lassen."
39 „Das mit dem Öl ist schon ganz pfiffig", meinte der Bruder. „Na ja, wir haben ja noch Zeit." „Nicht mehr allzuviel." Zwischen der Schebecke und der „Fidelidad" gingen die Männer hin und her, als habe sich nichts geändert. Als es dunkelte, öffnete sich lautlos die tiefst angebrachte Stückpforte der spanischen Prise. Einige Taue und eine Jakobsleiter wurden in den schmalen Raum zwischen Kaimauer, Planken und Themsewasser hinuntergelassen. Dunkle Gestalten hantierten mit Gegenständen, die niemand erkennen konnte. Philip Hasard Killigrew saß auf der Kante des Grätingsdecks, eine Schale mit heißem Essen auf den Knien, einen Krug Bier neben sich auf den Planken. „Die Strecke zwischen der Mündung und der London Bridge ist, je nach Wasserstand, weniger als vierzig Landmeilen lang, mit allen Windungen der Themse. Rechne ich beide Ufer, dann ist's doppelt so lang." Dan O'Flynn hatte seine Karten abgesucht und antwortete: „Sie werden nicht riskieren, das Schiff auf See, draußen im Kanal, umzuladen." „Sicher nicht", stimmte Ben Brighton zu. „Sie erscheinen mit ihrer Barkasse, jetzt allerdings ohne Fahnen und Schmuck, entern die ,Fidelidad' und bringen sie in ein Versteck." „Hast du solche möglichen Verstecke entdeckt, Dan?" fragte Hasard gespannt. „Mehrere." Es waren Dutzende schmaler und breiter Kanäle, wenige Bachmündungen, eine Menge Stege und Mühlen, hinter denen man mit einigem Geschick ein solch großes Schiff verstekken konnte. Meist waren die Ufer das hatten die Arwenacks selbst gese-
hen, und Dan hatte entsprechende Eintragungen in die Seekarten gezeichnet - mit Wald oder wenigstens Baumgruppen gesäumt. Fast bis hinunter zur Themsemündung mit ihren Sandbänken und Untiefen verhielt es sich so. „Also bleibt uns nichts anderes übrig", sagte Hasard schließlich, „als zu suchen. An irgendeiner Stelle wird die Ölspur abreißen. Oder sie zeigt uns deutlich, wohin das Schiff verbracht wurde." „Denkst du an deinen Freund Thomas Cecil?" fragte der Erste Offizier. „Natürlich", antwortete der Seewolf und kratzte seine Schüssel leer. „Es ist sinnlos, ihm hinterherzurennen, wenn ich weiß, daß er noch nicht in London ist." Die Arwenacks hatten sich ohne viele Worte und lange Überlegungen entschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Erstens gehörte Don Juan zu ihrer Crew, zweitens war die Galeone ihre Prise, und überhaupt würden die Gardisten der Königin sicher nicht in der Lage sein, so schnell und gründlich einzugreifen wie die Seewölfe. Ohne daß man es vom Ufer aus erkennen konnte, wurde die Schebecke so weit aufgeklart, daß sie binnen kürzester Zeit ablegen und themseab segeln konnte. Da der Wind ausbleiben konnte, wurden die langen Riemen bereitgelegt. „Wann, denkst du, bringen sie uns Don Juan?" „Ich rechne nicht damit, daß es schon diese Nacht geschieht. Es geht nicht nur um ihn, sondern darum, daß sie ihre Helfer zusammenrufen und einweisen müssen." Der Seewolf schaute in die Gesichter seiner Nachbarn und biß die Zähne aufeinander. „Das dauert einige Zeit, denke ich."
40 Tief versunken in ihre Überlegungen sahen sie zu, wie an Deck der Schebecke die Laternen angezündet und wieder in die Tampen eingebändselt wurden. Auf der Galeone leuchteten nur die Hecklaterne und eine im Bug. Von den anderen Schiffen, meist Kauffahrer und Lastkähne, ertönten die gewohnten Geräusche. Irgendwo pfiffen die Ratten, und an den Ufern des Flusses fingen die Frösche mit ihrer Abendmusik an. „Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob alle Mann sich bewaffnet und ihre Pistolen und Musketen geladen haben." Der Erste nahm einen tiefen Schluck. „Ich habe dafür gesorgt, Sir. Alles in bester Ordnung." Die Entführer des Spaniers gehörten vermutlich der Gentry an, dem niederen Adel, der meist nicht gerade mit Reichtum gesegnet war. Dafür sprach auch, daß sie so viele Helfer hatten und es schafften, die notwendigen Teile ihrer Maskerade zu besorgen. Aber auch in London gab es unzählige Frauen und Männer, die, von der Armut getrieben, für eine Viertelguinea ihre Arbeitskraft und ihre Gesundheit, sogar ihr Leben auf Spiel setzen würden. Sie würden auch die Galeone entern, ins Versteck bringen und notfalls pullen wie die Galeerensträflinge, wenn sie nicht segeln konnten. Und sie würden den Schatz umladen, in rasender Eile, und von dem vergleichsweise unermeßlich großen Wert blieben für sie nur ein paar Münzen. So war es geplant, jeder an Bord hätte sein Vermögen darauf verwettet. „Was können wir jetzt unternehmen?" fragte Dan O'Flynn.
„Warten, was sonst!" brummte der Erste verdrossen. „Wir halten uns bereit", entschied Hasard. „Genauso, als müßten wir mit einem Angriff oder Überfall rechnen. Also gehen wir Wache. Natürlich müssen wir warten, bis der Bote erscheint und uns den Befehl übermittelt, die ,Fidelidad' in die Strömung zu schieben." „Geht in Ordnung, Sir." Der Kutscher ging über Deck und brachte frisches Bier. Als er im Lichtschein der Öllampen den Ausdruck der Gesichter sah, stellte er keine Fragen. Er kannte die Antworten.
Die Nacht verging ruhig und ohne jeden Zwischenfall. Im ersten Sonnenstrahl stand der Seewolf am Bug der Schebecke und suchte mit dem Spektiv sorgfältig das jenseitige Ufer ab. Lange Schatten lagen im Süden auf dem Ufer und auf dem Wasser der Themse. Auch heute würde es wohl sehr warm und wolkenlos sein. Flußabwärts vom letzten Pfeiler der London Bridge lag völlig unbeweglich ein mittelgroßes Fischerboot. Ein Mann im Bug warf mit bedächtigen Bewegungen sein Netz in den, Fluß und zog es nach einer Weile wieder heraus. Es war leer. Auf einer Ducht lag ausgestreckt eine Gestalt, die Mütze über den Augen. Hasard nickte. Er erkannte ohne Schwierigkeiten seinen Edwin Carberry. Unter der Brücke tauchte langsam ein anderes Boot auf, viel kleiner, und der Mann darin zog einen Fisch nach dem anderen aus dem Wasser. Hasard wandte sich ab. Das war nicht Al Conroy. Der Stückmeister indessen befand sich in einem dritten Boot, das fluß-
41 abwärts unter den herunterhängenden, frisch begrünten Zweigen einer Weide lag. Al Conroy half, wie deutlich zu sehen war, ohne rechte Begeisterung, dem braven Fischermann bei seiner schweren Arbeit. „Wahrscheinlich merkt er, daß er nach Fisch stinkt und flucht laut", murmelte der Seewolf und senkte das Spektiv. Er sollte besser nicht zu lange zu den beiden Booten starren. Er ging ein paar Schritte und beugte sich über das Schanzkleid. Dort, wo die Sonnenstrahlen auf das Wasser fielen, spiegelten sie sich in den schwachen Farben des Regenbogens in einer hauchdünnen Ölspur, die im Zickzack, der Strömung folgend, flußabwärts davonglitt. Sie war weder breit noch auffallend. Hasard nickte zufrieden und war sicher, daß in der nächsten Nacht etwas Entscheidendes passieren würde. Die Seewölfe waren bereit - für alles.
Gegen Mittag schwang sich Philip Hasard Killigrew über das Schanzkleid, rutschte dabei aus und fing sich gerade noch. „Londoner Hafendreck", stellte der Erste sachlich fest. „Du bist in privaten Geschäften unterwegs?" Hasard deutete flüchtig zur Stadtmauer. „Eigentlich nicht. Ich versuche, Pferd und Sattel zu mieten und kümmere mich darum, daß wir nicht ganz hilflos dastehen. Sollte jemand fragen - ich bin in die Stadt, um mich zu baden, rasieren zu lassen und ein neues Hemd zu kaufen." Ben ließ seine Augen über die Ausrüstung gleiten, bemerkte den Griff des Drehlings und bestätigte mit
schiefem Grinsen: „Dazu bist du gerade richtig ausgestattet, Sir." „Man weiß nie, wie's kommt", erwiderte der Seewolf, grinste zurück und ging mit weit ausgreifenden Schritten auf die Mauer zu, die im vollen Licht der Sonne lag. Der Abfall, der sich zwischen Mauer und Kai ausbreitete, fing in der Hitze zu stinken an. Erst am frühen Abend war Hasard wieder zurück bei seinen Männern. Wie zu sehen war, hatte er Zeit gefunden, zumindest einen Barbier zu besuchen. Er roch nach schwer bestimmbaren Essenzen und war glattrasiert.
Zwei Stunden vor Mitternacht, unter einem sternklaren Himmel, unterbrach endlich das erwartete Geräusch die halbe Ruhe am Themseufer. Durch das Plätschern kleiner Wellen, das Froschgequake, das unentwegte Knarren von Holz und Tauwerk näherte sich langsamer und gleichmäßiger Huf schlag. Hasard richtete sich auf. Er hatte seine Stiefel an und versuchte, nicht einzuschlafen. Als ihn Piet Straaten schüttelte, war er bereits hellwach. „Ein Pferd", flüsterte Piet. „Also ein Reiter. Muß der Bote sein, Sir." „Alles klar", sagte der Seewolf. „Ich komme." Fast lautlos bewegte er sich über Deck und glitt in den Bereich des Laternenlichts. Der Hufschlag wurde deutlicher. Seltsamerweise war Hasard nicht im geringsten beunruhigt. So verrückt es auch schien, er vertraute dem Boten. Ob es allerdings etwas zu bedeuten hatte oder Don Juan half, blieb fraglich. Er stellte sich vor dem Schiff auf und wartete.
42 Aus der Richtung des Stadttors oder der Brücke tauchte, wie erwartet, der Bote auf. Er saß auf dem Rappen, zügelte das Tier und stieg ab. „Wieder ein Brief?" fragte der Seewolf spöttisch. Der Reiter schlang den Zügel um den Arm, trat näher und schüttelte den Kopf. „Nein", erwiderte er betont ruhig und sachlich. „Diesmal ist es kein Brief, denn Geschriebenes kann, wie mein Auftraggeber sagte, als Beweis dienen. Ich habe eine Nachricht." „Sprich", sagte Hasard. „Was meine Auftraggeber tun, weiß ich nicht. In etwa einer Stunde, also nachdem wir gesprochen haben, soll ich Ihren Freund hier abliefern. Ich hole ihn natürlich, wie Sie vermuten, am äußersten Tor des Towers ab. Wenn Sie mich begleiten wollen, ist es Ihnen gestattet." Das war weit mehr, als Hasard vermutet oder erhofft hatte. Die Sorge um das Leben des Freundes wurde geringer. Er atmete langsam ein und aus und sagte: „Ich komme mit. Es ist nicht weit." „Einverstanden", erklärte der Reiter und senkte den Kopf. „Sie sollen mit Ihren Männern reden. Wenn Sie dort hinten mit Don Juan den Hafen betreten, muß das Schiff in der Strömung der Themse sein." Hasard brauchte sich nicht mehr zu entscheiden. Er entgegnete rasch: „Sie können zusehen, wie wir unseren Teil der Vertrages erfüllen." Innerlich kochte er vor Wut, aber er ging schnell zur „Fidelidad" und gab seine Befehle. Binnen kurzer Zeit schienen sich die Handlungen zu überschlagen. Die Seewölfe sprangen von Bord, lösten die Bugleine, löschten die Laternen und nahmen einen Riemen der Sche-
becke. Sie stemmten den Bug vom Kai weg, fierten die Leinen und gaben der Heckspring mehr Lose. Langsam drehte sich die „Fidelidad" in die Strömung, zerrte am Hecktau, und als die Männer das Heck mit dem Ende des Riemens trafen und wegschoben, warfen sie auch diese Leine los. „Dort schwimmt die Galeone", sagte der Seewolf mit gepreßter Stimme und blieb wieder neben dem Reiter stehen. „Ein wenig scheint die Eile zugeschlagen zu haben. Deine Auftraggeber haben ihren Plan geändert." „Ich weiß nur, was ich zu tun habe. Begleiten Sie mich?" war die Antwort. Hasard winkte nach hinten und rief zum Schiff: „Ich hole Don Juan! Keine Sorge, Freunde!" „Aye, aye, Sir", ertönte ein leiser Chor von Deck. Der Reiter saß nicht mehr auf, sondern führte den Rappen am Zügel. Er schien es eilig zu haben. Besser so, dachte Hasard. Er folgte ihm durch den Hafen, der eine einzige große Zone aus Dunkelheit war, nur an wenigen Stellen steckten Fackeln in Mauerringen oder standen Öllampen in Nischen. Die Ruhe des Reiters hatte sich auf das Tier übertragen, das ohne zu scheuen willig folgte. Hasard hatte den Griff des Drehlings ebenso fest gepackt wie den des Degens. „Sie sind sich Ihrer Sache sehr sicher, Mister", sagte der Seewolf nach einer Weile. Der andere Mann nickte und winkte freundlich den Wachen zu, die an den Seiten des Mauerdurchgangs standen. Hier gab es weitaus mehr Beleuchtung. Schweigend gingen der Seewolf
43 und der merkwürdig ruhige Bote nebeneinander her, bis der Reiter anhielt, dem Seewolf die Zügel gab und erklärte: „Sie warten hier. Ich bin sofort wieder zurück." „Das hoffe ich für Sie", brummte Hasard, nahm den Zügel und beruhigte den Rappen. Im äußersten Tor des Towers öffnete sich eine kleine Bohlentür. Der Bote verschwand dahinter, und Hasard war versucht, zu zählen, bis er wieder auftauchte. Die Pforte wurde wieder geöffnet, und gegen das strahlend helle Rechteck erkannte der Seewolf seinen Freund. Unverkennbar: Don Juan de Alcazar. „Hier bin ich!" rief Hasard halblaut und hob den Arm. Don Juan schien zusammenzuzucken, dann lief er auf den Seewolf zu. Sie packten einander an den Schultern, lachten kurz, dann ließ Hasard den Zügel los und ergriff Don Juan am Arm. „Bist du in Ordnung? Mann! Du stinkst nach Ratten und Schlimmerem", sagte er erleichtert. „Los, schnell! Du bist frei, und das ist die Hauptsache." „Wir reden später über alles", keuchte Don Juan. „Nur weg von diesem verdammten Gefängnis." Sie liefen einige Dutzend Schritte, dann blieb Hasard stehen und drehte sich um. Er sah den Boten, der sich gerade im Sattel zurechtsetzte und das Pferd in die andere Richtung dirigierte. Der Reiter winkte auf schwer zu deutende Art. So als wäre er selbst erleichtert darüber, daß Don Juan lebte. Hasard winkte kurz zurück und verfluchte seine eigene Gutmütigkeit. Sie eilten weiter und langten außer Atem am Schiff an. Die Seewölfe erkannten den Spa-
nier und schrien ihm begeistert ihre rauhen Begrüßungen entgegen. „Achtung!" sagte Hasard. „Ab jetzt lauern wir darauf, unseren Silberschatz zurückzuholen. Achtet auf jede Einzelheit." Don Juan erkannte erst jetzt, daß die „Fidelidad" nicht mehr am Kai lag. Er hielt sich an Hasards Arm fest und setzte sich erschüttert auf den Rand des Schanzkleides. „Die ,Fidelidad'!" keuchte er. „Weg! Was ist mit der Galeone, Freunde?" Ben Brighton stimmte ein rauhes Lachen an und erklärte: „Wir haben sie für dich in Zahlung gegeben, Juan. Hattest du im Tower genug zu essen?" „Es reichte, um nicht zu verhungern", erwiderte der Spanier, ohne nachzudenken. Der Kutscher erschien wie ein Gespenst im Lichtschein und hielt ein Tablett in der Hand. Don Juan griff zuerst zum Bierhumpen. Während der braune Trank in seiner Kehle verschwand, erklärte Hasard laut und deutlich: „Jetzt brauchen wir noch nichts zu unternehmen. Wir sehen nämlich so gut wie nichts. Das Signal, wenn ich bitten darf." Ben Brighton winkte nach hinten. Drei einzelne Pistolenschüsse peitschten auf, in präzisen Abständen. Al Conroy und Edwin Carberry sollten jetzt ihre lautlose Suche nach der Galeone aufnehmen. Vielleicht hatten sie auch beobachtet, wie das Schiff in die Strömung geschoben worden war, und handelten bereits. „Wehe, wenn sie schlafen sollten." Von der Mauer schrien die Wachen nach Ruhe. Aufgeschreckte Vögel flatterten durch die Dunkelheit. Das Froschkonzert hörte für einen Augenblick völlig auf. Nach dem dritten Schluck war der
44 Humpen leer. Don Juan schüttelte den Kopf und sagte mit gesenktem Kopf: „Ich habe genug Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Wir hätten auf diese Schurken nicht hereinfallen sollen. Gut, daß ich mir ihre Gesichter gemerkt habe." „Das kann sehr wichtig werden. Vergiß es nicht", sagte der Seewolf. „Übrigens sollten jetzt auch die Reiter der Stadtmiliz unterwegs sein. Sie gehorchen dem Befehl des Sohnes von Lord Burleigh. Aber natürlich wissen sie auch nicht, wo sie suchen sollen." „So, und jetzt berichte uns ganz genau, was alles passiert ist, nachdem die Barkasse außer Sicht der Galeone geriet. Und bitte eine genaue Schilderung der beiden Themsegeier", sagte Hasard mit Nachdruck. Während er trank und aß und sich die Crew im Halbkreis um Don Juan und Hasard zusammendrängte, erzählte ihr spanischer Freund, wie er das Ende der Entführung oder Scheinfestnahme erlebt hatte, und was in den Stunden danach passiert war. „... ich habe zwei Stunden gebraucht, bis ich die Fesseln durchgeschabt hatte", berichtete er und spülte die letzten Bissen mit Bier herunter. „Es stinkt gewaltig dort unten, Madre de dios! Aus dem Gewölbe gibt es keine Möglichkeit, hinauszugelangen. Vielleicht ein paar Gallonen Pulver, anders geht es nicht. Schließlich bin ich eingeschlafen. Wenn man müde ist, reicht auch stinkendes, vergammeltes Stroh. Ich bin erst wieder aufgewacht, als die Ratten über mein Gesicht huschten. Es war immer Licht in der Zelle. Die Kerle, anscheinend tatsächlich die Wächter, gaben mir Wasser, Brot und so etwas wie warme Suppe. Dagegen
ist die Armeleutesuppe von Mac geradezu feinste katalanische Küche. Und das war es auch schon. Ich schlief, wachte auf, lief in der Zelle herum, und dann haben sie mich herausgeholt. Oben gaben sie mir die Waffen zurück. Die paar Münzen allerdings nicht. Sollen sie behalten, wahrscheinlich werden sie sowieso schlecht bezahlt. Und dann waren sie höflich, aber wortkarg. Ein Kerl erschien, grinste mich an und brachte mich nach draußen. Und hier, an der frischen Luft, merke ich's selbst: ich stinke wie der ganze verdammte Tower." „Möchten der Señor ein Bad in der Themse nehmen?" erkundigte sich Old Donegal. „Das nicht. Aber Frischwasser und ein paar Sachen, die nicht stinken, sind wohl an Bord." „Natürlich. Also los, unter Deck und dann überlegen wir, wo wir die Kerle finden." Die Arwenacks brauchten kein Wort mehr zu verlieren. Sie dachten unausgesetzt an die Galeone mit der kostbaren Ladung. Es gab zwischen Hafen und Mündung tausend Stellen an der das Schiff auflaufen konnte, wo ein Leck aufgerissen wurde, wo das Schiff quertrieb und beschädigt wurde - und sie wollten die „Fidelidad" unversehrt wiederhaben. Sie verwünschten die Dunkelheit und warteten geradezu zitternd vor Ungeduld auf das Ende der Nacht. 6. Sie waren ausgeruht und frisch. Wenn sie jemand gesehen hätte, wäre er zumindest stark verwundert gewesen. Die Schebecke war in Gefechtsbereitschaft versetzt worden, und je-
46 der Mann der Crew verhielt sich, als ginge es gegen eine spanische Kriegsgaleone. Knapp zwei Stunden vor Morgendämmerung. ,,Ablegen!" rief Hasard. Die Riemenenden stemmten sich gegen die Kaimauer, die Leinen wurden losgeworfen. Der Bug schor vom Kai ab, der Bugspriet deutete zuerst auf die Brücke, dann auf das gegenüberliegende Ufer. Mit leisem Rumpeln bewegten sich die Riemen. Wieder einige halblaute Kommandos, und die Schebecke mit längsschiff gerichteten Rahruten führte die Drehung voll aus. Fast geräuschlos glitt sie in der Mitte des Flusses themseabwärts. Die Ebbe hatte, wie errechnet, um Mitternacht eingesetzt. Solange die Crew noch im schwachen Licht der Sterne, des Mondes und der unbedeutenden Hafenbeleuchtung etwas von der Galeone hatte sehen können, war das Schiff träge in eine schwache Strömung geglitten und hatte sich flußabwärts bewegt, zuerst sehr langsam, dann eine Spur schneller. Das ablaufende Wasser vergrößerte die Geschwindigkeit der Strömung, denn bis etwa zur London Bridge spürte und sah man den Gezeitenunterschied. Mit zunehmender Ebbe würde auch die Galeone dann schneller geworden sein, und vielleicht schützte sie das fest belegte Ruder vor Beschädigungen. Aber daran mochte so recht keiner glauben. „Auf Riemen", sagte der Seewolf. Und etwas lauter: „Aber Riemenblätter im Wasser lassen. Wir müssen nicht schneller werden." Ab und zu, ganz schwach, hörten sie fernes Hufgetrappel. Hin und wieder tauchte, ebenso undeutlich erkennbar, das Licht einer Fackel auf.
„Wenn es hell wird", sagte Hasard junior zu seinem Vater und Ben Brighton, „solltet ihr mit euren Spektiven nach Raubvögeln suchen." „Wir suchen nach Raubvögeln, mein Sohn", sagte Hasard finster. „Nichts anderes tun wir." „Hasard meint nicht die Themsegeier", sagte Jung Philip. „Richtige Raubvögel, Dad. Falken, Sperber, Habichte und solche." „Ich schätze, daß ich nicht verstehe, was ihr beiden meint", brummte der Seewolf. „Ist ganz leicht, Dad. Diese Raubvögel sind ganz wild nach Ratten und Mäusen, nicht wahr?" „Ja. Warum fragst du?" erkundigte sich Ben und sah zu, wie Philip die Bordhündin tätschelte. „Wir haben uns gedacht, daß vielleicht das Öl früher ausläuft oder so etwas. Und dieses feine Hündchen hier hatte genug Zeit gehabt, Ratten zu fangen. Die Mäuse haben wir selbst gefangen." Ab und zu glitten an den Ufern winzige Lichter vorbei. Es mochten nur Kerzen hinter einem kleinen Fenster sein. Die Menschen schliefen, und die Seewölfe waren auf der Jagd nach jenen Leuten, die jetzt nicht schliefen, sondern wie die Verrückten schufteten und schwitzten. „Und was habt ihr mit den Ratten und den Mäusen angestellt?" erkundigte sich der Seewolf voller merkwürdiger Ahnungen. „Wir haben sie im Mars eingesperrt. Und ein paar tote Ratten liegen an Deck. Gut zu sehen...", erläuterte Jung Hasard. „... für einen hungrigen Falken", fuhr sein Bruder fort. „Und vielleicht auch für einen Raben. Sonst hocken die schwarzen Vögel immer krächzend auf den Galgen."
47 „Und wo ein Rabe ist, gibt's bald auch einen Schwarm. Aber vielleicht haben die Viecher zugeklebte Augen wie wir, wenn wir zu früh an Deck müssen." Die Laternen waren schon vor dem Ablegen gelöscht worden. Wie ein dunkler Schatten in einer noch schwärzeren Finsternis glitt die Schebecke den Fluß hinunter. Die Punkte, an denen sich die Mannschaft orientieren konnte, waren alle nur ungenügend. Jeder Arwenack, der sich nicht an einem Riemen befand, paßte scharf auf. „An Steuerbord sehe ich Rotherhithe", sagte Dan O'Flynn. „Und voraus, die Flackerlichter, das sind die Feuer von Limehouse. Sie gehen niemals aus, weil sie dort Metall schmelzen." „Verstanden. Das solltest du Al Conroy sagen. Es wird ihn interessieren", riet ihm Hasard und wandte sich seinen Söhnen zu: „Ich hoffe, ihr beiden habt einen guten Einfall gehabt. Wer weiß, vielleicht sehen wir tatsächlich einen Rabenschwarm." „Das hoffen wir auch", verkündeten zweistimmig seine einfallsreichen Söhne. „Also", sagte Hasard eine halbe Stunde später zu Ben Brighton und Dan, „ich denke, daß wir eine Stelle erreicht haben, an der wir uns entscheiden müssen." „Weiterpullen oder ans Ufer", sagte Ben Brighton. „Genau das. Die Geier werden zwischen Towerpier und ihren Umladeplatz eine gehörige Entfernung gelegt haben." „Ganz bestimmt." „Ich würde es weiter flußabwärts versuchen", meinte der Seewolf. „Aber wir dürfen keinen Fehler begehen."
„Also warten wir hier, Sir", meinte der Erste. „Einverstanden?" „Ja." Jan Ranse legte das Ruder. Wieder ertönte ein leises Kommando. Die Seewölfe an den Riemen setzten im Takt ein, die Riemen traten in Aktion, und die Schebecke wurde in die Nähe des Südufers gebracht. Sie liefen nur langsame Fahrt. Alles andere war zu gefährlich. Immer wieder, nach geflüsterten Hinweisen, bewegte Jan die Pinne. Die Schebecke glitt parallel zum Ufer weiter, und schließlich sahen sie voraus undeutlich die schwarzen Poller eines kurzen Steges. „Achterleine klar?" „Klar, Sir." „Wenn der Poller dwars liegt, festmachen und achtern belegen!" „Aye, Sir." Schattenhaft glitten Ufer und Steg heran. Die Riemen an Steuerbord wurden eingezogen. Ferris Tucker setzte mit einem Sprung zum Steg über und schlang die Achterleine um den Poller. Einige Männer halfen ihm dabei. „Belegt!" „Verstanden. Ruhe an Bord." Die Schebecke hing mit der Achterleine an dem Poller fest. Das Tau knarrte etwas. Die Strömung hier in Ufernähe war nicht stark, bald hörten die Geräusche auf. Die Crew hielt den Atem an und versuchte, die wenigen Geräusche richtig zu deuten. Der Nachtwind, der die Blätter bewegte, war für jedes Segel zu schwach, also würde auch die Galeonenmannschaft keine Segel setzen. Auf dem Wasser des Flusses sah man die winzigen Spiegelungen der Sterne, eine breitere Bahn von Mondlicht und wenige Reflexe von Lichtern an Land. Nur dann, wenn sich
48 ein Boot oder Schiff durch diese helleren Zonen bewegte, würde es bemerkt werden. „Nichts", flüsterte Dan O'Flynn, der seine scharfen Augen in die Finsternis gebohrt hatte, nach einer kleinen Ewigkeit. „Wir warten. Gegen die Morgenkälte einen guten, schottischen Whisky für jeden." „Auch für uns?" wollten die Zwillinge wissen. Hasard lachte leise. „Für euren Einfall mit den Ratten im Mars. Leben die Biester eigentlich noch?" „Teils, teils", entgegnete Jung Hasard. Der Seewolf sagte grimmig: „Wenn der Mars versaut ist, dann klart ihr beide den Kram auf. Trotzdem: euer Einfall war gut." Mac Pellew und der Kutscher besorgten die Becher und zogen den Spund aus dem Fäßchen. Don Juan, der inzwischen wieder, nach Seife riechend, an Deck war, erhielt einen doppelt großen Becher.
Einigen Seewölfen gelang es, einzuschlafen. Einige andere dösten und schreckten immer wieder, hoch. Auf diesem Abschnitt des Flusses war absolut nichts los. Es gab weder fernes Geschrei noch irgendwelche Geräusche, die auf die Galeone hindeuteten, es blieb finster, und nur das Murmeln des Flusses war zu vernehmen. Dieses Geräusch war es, das einschläfernd wirkte. Hasard wartete, den leeren Becher in der Hand, bewegungslos auf das erste Licht. Auch in dieser Nacht war über dem Fluß kein Nebel aufgezogen. Für diesen Monat waren zumin-
dest die letzten Tage viel zu warm gewesen. Das Blinken der Sterne wurde schwächer, der Mond verschwand hinter den Hügeln von Kent. Viel zu langsam zeigte sich die erste Helligkeit. Als Hasard die ersten Umrisse am gegenüberliegenden Ufer erkannte, stand er auf, holte tief Luft und dehnte die Armmuskeln. „Es geht los, Freunde", erklärte er halblaut. Es genügte, um jeden in der Crew hellwach werden zu lassen. „Was liegt an, Sir?" fragte der Rudergänger. „Wir gleiten kreuz und quer themseabwärts, bis wir ein Zeichen von der Ölspur entdecken." „Verstanden, Sir." Dan und der Seewolf verließen auf leisen Sohlen das Heck, während die Achterleine losgeworfen wurde. Erst jetzt sahen sie, an welch wackligem Steg sie vertäut hatten. Immerhin, er hatte gehalten. Das Ruder wurde gelegt, das Schiff drehte sich ein wenig, und mit zwei Riemen wurde die Schebecke vom Ufer abgestoßen. Fast augenblicklich bewegten sich die Riemen. Jetzt ging es um Schnelligkeit. Je zwei Männer bedienten einen Riemen. „Dan, jetzt hängt alles von deinen scharfen Augen ab", sagte Hasard und putzte die Linsen des Spektivs. „Die Ölspur sollte bald so schön leuchten und funkeln wie am frühen Abend." Sie brauchten Glück, denn ihr Versuch konnte gescheitert sein. Oder die Themsegeier hatten die ölkrüge unterhalb der Wasserlinie gefunden. Die schlanke Schebecke zog auf der stillen Wasseroberfläche ein spitzes Kielwasser hinter sich her, als sie auf das Nordufer von Limehouse zuglitt. Die Ebbe lief nicht mehr ab, die
49 Themse hatte also ihre normale Flußgeschwindigkeit. „Schneller?" rief der Erste von achtern her. „Nein. Gut so." „Aye, Sir." Dan und der Seewolf hofften auf den ersten Sonnenstrahl. Aber schon das milchige Licht zeigte ihnen den Unrat in den Wellen, einige aufgeblähte Kadaver, Holzstücke und andere üble Abfälle aus der großen Stadt. Tatsächlich begann dazwischen ein Ölfleck zu schillern. Aber als der Bug haarscharf an dem großen Fleck vorbeischnitt, erkannten die Männer, daß dieses Öl rötlich schimmerte, nicht grau oder schwarz wie die Mischung, die sie zusammengerührt hatten. „Öl ist nicht Öl", meinte Hasard und sah das Ufer näher rücken. Er richtete sein Spektiv auf jeden Einschnitt in der bewachsenen Uferzone, in den die Galeone passen könnte. Keine Ölspuren. Und erst recht keine Schwärme hungriger Raben oder Krähen. „Und die Falken und Bussarde jagen heute auch woanders", maulte Dan, ohne die Augen vom Wasser zu nehmen. Die Schebecke glitt auf das Ufer zu und drehte wieder nach Steuerbord. Es ging zurück zum anderen Ufer. Dort schob sich eine bewaldete Anhöhe bis zum Wasser. Dahinter leuchteten die Mauern eines großen Hauses. Ein erster Sonnenstrahl traf die riesige Eiche auf dem höchsten Punkt des Hügels. Weit voraus, jenseits der Biegung, bei Deptford oder Greenwich, erhellte sich der Himmel. Auf dem Wasser zeichneten sich zwei winzige Punkte ab, noch innerhalb der Biegung, die zuerst nach Süden, dann
wieder in weitem Bogen nach Nord führte. „Boote?" murmelte Hasard und richtete sein Spektiv aus. Die Helligkeit blendete, und er sah Boote und Gestalten darin nur als kleine schwarze Schattenrisse. Es konnten die Boote mit Al Conroy und dem Profos sein, aber ebensogut auch andere Fischer, die mit der Sache nichts zu tun hatten. „Wir müssen näher heran", sagte er und richtete die Augen wieder auf die Wasseroberfläche. Das Land innerhalb des Bogens, den der Fluß beschrieb, war flach und von Gestrüpp bewachsen, aus dem sich auf Pfählen ein paar Hütten erhoben. „Ans andere Ufer und an die Boote." „Wir sind bald dort", erwiderte Dan halblaut. „Ich glaube, es sind unsere Männer." Die Schebecke kreuzte den Fluß, die Augen der Seewölfe suchten das Wasser ab. Man entdeckte nur den üblichen Unrat und Schwemmgut aus den oberen Teilen der Themse. Als die Schebecke am Steuerbordufer der Krümmung folgen mußte und wieder auf Gegenkurs ging, deutete Dan nach Steuerbord. „Hier sind sie vorbeigeglitten", sagte er mit Bestimmtheit. Der Seewolf sah eine grauschwarze Ölspur, die wie die Farben eines Malers schillerten. Einige Handbreiten neben dem Geröll am Ufer bedeckte eine hauchdünne Ölschicht das Wasser. Da hier die Strömung schneller war als an der Innenseite der Biegung, konnten sie diese Beobachtung als gutes Zeichen und als Beweis nehmen. „Wir haben ihre Spur!" rief Hasard zur Kuhl hinunter. Sämtliche Culverinen waren geladen und feuerbereit, die Drehbassen
50 ebenso. Sandgefüllte Pützen und Glutbecken waren verteilt, die Zündstöcke mit den Lunten steckten im Sand. Überall waren die Musketen griffbereit. Wieder durchpflügte die Schebecke das Wasser, wurde auf die Ölfläche jenseits des Ufers zugepullt und vergrößerte ihre Geschwindigkeit. Schon von hier aus sahen die Seewölfe die schillernden Ölflecke, einen hinter dem anderen, weit und schleierartig auseinandergezogen, die sich in den Strudeln und vor dem Ufer langsam flußabwärts bewegten. Hasard verzichtete darauf, sich dem Ufer zu nähern, und der Rudergänger steuerte die Schebecke durch die Öllachen hindurch, weiter flußabwärts, fast in der Mitte des Fahrwassers. „Jetzt erwischen wir die Geier!" rief Ferris Tucker. „Noch haben wir sie nicht." Je weiter flußabwärts die Seewölfe ihr Schiff pullten, desto häufiger sahen sie die Spur der Diebe. Hasard hob den Kopf und suchte den klaren Himmel ab, als sich die Schebecke im Schatten der Hügel bewegte. Tatsächlich sah er drei Raubvögel mit sichelartig ausgebreiteten Schwingen, die in beachtlicher Höhe lautlos ihre Kreise zogen. „Vielleicht haben die beiden Burschen tatsächlich recht", murmelte Hasard und erkannte jetzt im ersten Boot seinen Profos. Carberry winkte mit beiden Armen. „Auf das Boot zuhalten, um den Profos zu übernehmen!" ertönte die Stimme des Ersten von achtern. „Alles klar!" Die Schebecke fuhr durch immer zahlreichere Ölspuren hindurch. Eine Hälfte der Wasseroberfläche war
jetzt von den ersten Sonnenstrahlen berührt worden und zeigte die funkelnden Regenbogenfarben. Die Übernahme von Edwin Carberry dauerte nur wenige Augenblicke. Das Boot schor an Backbord längsseits, mit einer Vorleine wurde es gehalten, und Carberry kletterte über das Schanzkleid. Der Fischer schien das kleine Abenteuer ebenso genossen zu haben wie die Münzen des Profos! Er winkte und rief den Seewölfen nach, daß er ihnen viel Glück wünsche. „Brauchen wir auch", knurrte Carberry. „Hier bin ich wieder. Die Galeone ist an uns vorbeigeschleppt worden. Wie die Sträflinge haben sie geackert. Etwa drei Dutzend Kerle oder auch ein paar Mann weniger." Er zeigte, wie erwartet, flußabwärts, „Ausgezeichnet", sagte der Seewolf zufrieden, während die Schebecke wieder Fahrt aufnahm. Der Profos verstaute die kleinen Brandsätze, sicher unter dem Achterdeck und enterte aufs Vordeck. „Sir", sagte er mit Bestimmtheit, „die verfluchten Themsegeier müssen hier vorbeigekommen sein. Wir sind der ,Fidelidad' gefolgt, im Abstand, und wir haben sie ein paarmal aus den Augen verloren. Johnson, das ist der Fischer, hat sie wiedergefunden. Hier haben wir sie aus den Augen verloren. Plötzlich war sie verschwunden." Nach einigen Atemzügen zeigte er zu einem der anderen Boote und sagte: „Vielleicht hat Al Conroy sie gesehen, Sir. Irgendwo hier müssen sie sein!" „Hoffen wir's." Einige Gebäude, die zum Ort Deptford gehörten, schoben sich zwischen Baumgruppen hervor. Die Ölspuren
51 wurden zahlreicher und größer. Sie beschrieben in der Flußmitte eine weite Biegung. Mittlerweile segelten die Schiffe, die London anliefen, flußaufwärts. Fähren und Lastkähne waren unterwegs und kreuzten den Fluß. Die Schebecke glitt ohne Schwierigkeiten vorbei, wich aus und wurde immer schneller. Jetzt, Am Südufer, zwischen Greenwich und den eben passierten Gebäuden, schob sich das zweite Boot ins Fahrwasser, und diesmal war es eindeutig der Stückmeister, der zu winken begann. Als er an Bord war, hob er beide Arme und rief zu Hasard hinauf: „Langsamer! An Steuerbord mündet ein Flüßchen oder Bach! Da sind sie hineingefahren!" Hasard und Dan antworteten nicht, denn sie konnten jetzt im hellen und strahlenden Sonnenlicht mehr als deutlich die Ölflecken erkennen. Sie waren auf dem Fluß seltener geworden und kleiner, aber recht voraus, in der Strömung eines noch unsichtbaren Baches, wanderten sie in einem eindrucksvollen Bogen von der Einmündung bis in die Flußmitte und vermutlich weiter bis zur Mündung der Themse. „Alles klar", sagte der Seewolf und grinste. „Nach Steuerbord in den Fluß hinein!" „Aye, aye, Sir." Inzwischen spürten sie eine schwache Brise. Es war unwichtig, mit den Riemen gelangten sie auf dem letzten Stück besser voran. Dan O'Flynn sagte zu Hasard und Al Conroy, der zur Back aufgeentert war, was er von der Lage hielt. „Ich habe den Namen des Flüßchens in der Karte nicht richtig lesen können. Vielleicht sagt ihn uns einer. Aber er dürfte etwa zwei Seemeilen
hoch befahrbar sein. Dort haben sie sich also verkrochen." Auf der Kuhl rief Jung Hasard: „Schaut nach oben! Die Raubvögel!" Statt zwei oder drei Falken kreisten dort jetzt mindestens ein Dutzend. Mißtönend krächzend , erschienen vom gegenüberliegenden Ufer einzelne Krähen oder Raben. Sie schienen das gleiche Ziel zu haben wie die Seewölfe, die jetzt aus dem Fahrwasser hinausglitten und mit ruhigen, aber schnellen und kraftvollen Riemenschlägen in die Mündung pullten. Als sie etwa eine Kabellänge zurückgelegt hatten, tauchte am Rand der Straße eine Gruppe von drei Reitern auf. Sie winkten. Hasards Kopf fuhr herum, aber als er die bewaffneten Gardisten oder Angehörige der Miliz erkannte, winkte er zurück und deutete nach vorn. Die Reiter zogen ihre Pferde herum und setzten sich ohne große Eile in Bewegung. „Wir haben also offizielle Unterstützung", stellte der Seewolf fest. „Sonst ist leider nichts zu sehen." „Kein Wunder, Sir", sagte Dan. „Zu viele Bäume und Treibholz." Die beiden Ufer bildeten ein Dikkicht, das mit den Augen nicht zu durchdringen war. Die Pflanzen wucherten über die angeschwemmten Holzstücke und allerlei Abfall. Ein Bootsgerippe glitt vorbei, dann vollzog der Fluß eine Krümmung. Ein durchdringendes Rauschen ertönte, als sich die Schebecke um die Biegung schob. Über das Wehr einer Mühle rauschte schäumend Wasser. Langsam drehte sich ein gewaltiges Mühlrad. Hinter dem kantigen und moosbewachsenen Bauwerk ragte der Bugspriet der „Fidelidad" hervor,
52 und hinter einem Wall aus grünen Baumkronen sahen sie die Masten, den Mars am Großmast und die Stengen. „Langsamer pullen." Al Conroy hatte seine Lunten bereits in Glut gesetzt. Noch war die Wasserfläche breit genug für die Riemen. Die Schebecke bewegte sich fast geräuschlos gegen die Strömung, gedeckt durch das Rauschen des Wassers und den harten Schlag des Mühlrades. Hinter einem Felsen, der sich wie ein Wellenbrecher an Steuerbord hervorschob, war die Galeone vertäut. Weniger als eine Kabellänge trennte die beiden Schiffe. Der Rudergänger hielt noch einige Yards auf die Galeone zu, dann mußte man die Backbordriemen einnehmen. Die Schebecke stellte sich in dem engen Gewässer quer. Sie bot der Galeone die Steuerbordbreitseite. Die „Fidelidad" hatten die Themsegeier einfach zwischen Baumstämme und ausgewaschene Wurzeln gesteuert. Die Belegtaue bildeten eine heillose Wuhling. Noch hatte keiner der Kerle die Seewölfe bemerkt. Heck und, schräg gesehen, Backbordseite der Galeone lagen im Blickwinkel der Männer. Als die Schebecke mit dem Heck das Ufer berührte, sprangen die Zwillinge, Nils Larsen und Bill ans Ufer und bahnten sich, die Belegleinen hinter sich herzerrend, einen Weg durchs Gestrüpp. Der Seewolf stand zwischen seinen Männern auf der Kuhl. Sie griffen zu ihren Waffen und spannten die Hähne. Leise sagte er: „An Land pirschen wir langsam und lautlos auf den Weg zu, an dem sie die Kisten und Truhen
wegschleppen. Ein Dutzend bleibt hier und geht an die Geschütze. Denkt daran, daß die Miliz uns hilft. Wir wollen nicht die bezahlten Knechte, sondern die reichen Aasgeier. Ich will sie lebend, Freunde. Lebend! Ihr habt verstanden?" Nacheinander kletterten sie an Land und reichten die geladenen Waffen weiter. Auf dem Rand des Großmarses hockten schwarze Riesenvögel und zerrten an Aasstücken herum. Einige Raubvögel kreisten. Ein Bussard strich ab, eine wie wild zappelnde Ratte in den Fängen. Unter dem Heck der Galeone strömte noch immer aus unsichtbaren Öffnungen das eingefärbte Öl und bildete eine schillernde Schicht auf dem Wasser. An jeder Stelle, an der Sonnenstrahlen durch das Geäst fielen, strahlte das Öl in überirdischen Farben auf. Aus dem Rumpf der Galeone ertönte ein dauerndes Rumpeln und Krachen. Undeutlich hörten die Seewölfe einige Stimmen, abgeschirmt durch den dichten Wald und den gerundeten Schiffskörper. „Die Stelle hätte ich nicht besser aussuchen können", meinte der Seewolf und drehte den Kopf. An der Steuerbordseite standen die Männer an den Culverinen und Drehbassen. Die Rohre waren auf Ziele ausgerichtet, die es jetzt noch nicht gab: erst wenn Männer an Deck auftauchten, war es sinnvoll, die Ladungen hinüberzujagen. Schußbereite Waffen lehnten am Schanzkleid. Batuti und Big Old Shane hielten ihre langen Bögen in der Hand, als sie an Land sprangen. „Ben! Du sorgst hier für Ordnung", bestimmte der Seewolf, ehe der breite Rücken Old Shanes zwischen dem Unterholz verschwand. Noch immer waren sie nicht bemerkt worden.
54 sard war bei dem größten Mann, „Aye, Sir." Als letzter verließ Hasard das Grä- sprang ihn von hinten an und legte tingsdeck mit einem weiten Sprung. seinen Unterarm um die Kehle des Während seine Seewölfe versuchten, Mannes. Die Mündung des Drehlings mehr nach links in die Nähe der Ga- deutete auf die Schläfe des Kerls. „Uns gehört das, was ihr plündert. leone zu gelangen, hastete er geradeaus den Hang hinauf. Auf seinem Willst du leben oder sterben, Mann?" Weg winkte er Don Juan, Batuti und fragte Hasard. In der Schulter eines anderen Big Old Shane zu sich, legte den Finger an die Lippen und eilte weiter, als steckte ein Pfeil. Big Old Shane hatte sich der verfilzte Wald ein wenig lich- einen anderen entwaffnet und hielt dem zweiten Mann die Spitze des Cuttete. Sie erreichten den Rand des Dik- lass an die Kehle. „Kein Wort. Wir sind nicht wählekichts und zugleich die Kuppe des Uferhügels. Vor und unter ihnen lag risch. Jeder nimmt eine Kiste und Bauernland, abgeteilt durch unzäh- trägt sie zurück! Vorwärts!" Die Kerle wagten nicht einmal zu lige Hecken. Der große Fluß schimmerte rechts unten, und auf der lin- protestieren. Als man sie schnell unken Seite wand sich ein schmaler tersuchte, klirrten Messer und Weg durch Felder, Weiden und Äk- Dolche zu Boden. Die beiden gespannten Bögen und Hasards Waffe ker. Am Waldrand liefen die drei Män- redeten eine überzeugende Sprache. Als die Kerle zu den Wagen gingen ner vorsichtig, tief gebückt, bis zu der die leichtesten Kisten Stelle, an der dieser Pfad im Gebüsch und verschwand. Deutlich waren die tief hochstemmten, fiel ein Schuß. eingegrabenen Fahrrinnen zu erken„Das sind meine Leute!" rief der nen. Die Bauern brachten ihr Korn Seewolf heiter. „Kümmert euch nicht mit Gespannen hierher zum Mahlen. darum. Denkt einfach daran, daß euch eure Frauen heute noch lebend „Still! Halt!" zischte Hasard. Neben dem Pfad standen zwei Ge- sehen wollen!" Wortlos schleppten die Männer, spanne, mit je vier kräftigen Pferden bespannt. Die Tiere blickten in die hintereinandergehend, die Kisten Richtung der Seewölfe. Zwischen ih- den Pfad hinunter. Hasard folgte ihnen bewegten sich Männer, ordneten nen, die anderen sicherten rechts und die Zügel und hängten den Tieren links, die Pfeile auf den Sehnen. Aus Futterbeutel um. Mindestens zwei der Richtung der Schiffe ertönten GeDutzend kleinerer Truhen und Ki- schrei, weitere Schüsse und Flüche. „Geht einfach weiter!" rief Hasard. sten waren schon auf den Wagen sauber gestapelt. Tauenden hingen an „Für euch ist der Tag noch lange nicht zu Ende." den Seiten hinunter. Wachsam beobachteten sie das GeHasard flüsterte: „Es sind vier. Wir zwingen sie, die Kisten zurückzutra- sträuch. Der Weg beschrieb eine gen. Es wird nicht lange gutgehen, Kurve und wurde flacher. Wilde Schreie wurden laut, dann krachte aber..." Sie sprangen vorwärts und erreich- der Schuß der Heckdrehbasse. Ein ten die Gespanne und die Männer, als wildes Schmerzensgeschrei klang die Pferde zu scheuen anfingen. Ha- auf.
55 „Ihr seid nicht getroffen!" schrie Batuti. „Weiter!" Metall klirrte gegen Metall. Dicke Pulverrauchschwaden tauchten zwischen den Stämmen auf. Von rechts und links wurden Pistolen abgefeuert. Die lauteren Entladungen der Musketen mischten sich dazwischen. Dann hörten Hasards Seewölfe, was sie erwartet hatten: das Keuchen von angetriebenen Reitpferden und wildes Hufgetrappel. Hasard wandte sich nach links und rechts und nickte Batuti und dem Schmied zu. ,,Wir holen sie aus den Sätteln. Das sind wahrscheinlich die Hauptschurken", sagte er leise, aber klar verständlich. Als sich einer der Kistenträger zögernd umdrehte, feuerte er eine Kugel in die Kiste, die der Mann auf der Schulter trug. Der Träger schrie auf, schwankte und stolperte weiter, die Kiste mit beiden Händen umklammernd. Hasard sprang nach rechts. Zwei Reiter fegten fast nebeneinander den steilen Pfad herauf und trieben die Tiere brutal mit den Zügelenden und Sporen an. Auf den ersten flüchtigen Blick erkannte der Seewolf, daß die Reiter weitaus besser angezogen und gepflegter waren als die Träger reiche Gentlemen also. Fast gleichzeitig schossen Old Shane und Batuti ihre Bögen ab. Die Pfeile rasten auf kürzeste Entfernung durch die Luft. Sie trafen die Reiter mit großer Wucht in die Schultern. Hasard packte, als der erste Mann an ihm halb vorbei war, dessen Fuß und riß den Kerl aus dem Sattel. Taumelnd flog er herunter, wirbelte die Arme in die Höhe und stürzte mit dumpfem Krachen auf den Waldbo-
den. Das Pferd galoppierte davon und blieb am Ende des Pfades stehen. Der Reiter auf dem anderen Pferd kippte nach hinten, riß am Zügel, und das scheuende Pferd stieg mit den Vorderbeinen in die Luft. Der Reiter wurde aus dem Sattel geschleudert. Batuti lief hinter den Trägern her, während der Seewolf dem Reiter die Waffe aus der Hand trat, die dieser aus dem Gürtel gezogen hatte. „Halt, du Hund", knurrte Hasard und stürzte sich auf den Reiter, der jetzt über den Boden kroch und verzweifelt versuchte, den Rand des Weges zu erreichen und in den Büschen zu verschwinden. Hasard zog ihn in die Höhe und lehnte ihn, während er ihn mit einer Hand entwaffnete, gegen einen Baum. Big Old Shane hatte den zweiten Reiter mit einem Faustschlag zu Boden geschickt. Batuti eilte fluchend hinter den Trägern her. Noch immer und viel lauter drang der wüste Lärm eines Kampfes vom Flußufer herauf. Schüsse krachten, Bleigeschosse strichen zwitschernd durch die Äste und Blätter. Das Gesicht des Reiters war unter einer dünnen Farbschicht, die Sonnenbräune vortäuschen sollte, fahlweiß geworden. Der Bart hatte einen seltsamen Schnitt. Die Kleidung entsprach in Form und Farbe halbwegs derjenigen der Gardehauptleute, ebenso die Gürtel und das übrige Lederzeug. „Dort entlang!" sagte Hasard scharf. „Hinunter zu deinen Kreaturen, Kerl. Bist du Kent Carey oder dieser Arandel?" Seine linke Hand preßte der Gefangene auf die rechte Schulter. Aus der Wunde, in der noch der abgebrochene Pfeil steckte, sickerte eine breite Blutspur. Die Finger zitterten.
56 „Carey." Der Mann hatte dunkle Haare und einen ebensolchen Bart. Für das Alter, etwa knapp vierzig Jahre, war die Farbe zu dunkel und zu glänzend. Die Kleidung war tatsächlich neu und auffallend. Hasard stieß seinen Gefangenen den Pfad abwärts. In die Kampfgeräusche, die jetzt leiser zu werden schienen, mischten sich zunächst ein donnernder Drehbassenschuß und dann die laut gebrüllten Befehle der Seewölfe, den sinnlosen Widerstand aufzugeben. „Dann warst du auch auf der Barkasse, die unser Schiff angesteuert und Don Juan zum Tower gebracht hat." „Ja. Ich war nicht allein." Der Verwundete stöhnte vor Schmerz und, wie es schien, vor Enttäuschung. „Das weiß ich. Es wird wohl ein böses Ende mit euch allen nehmen. Deine Helfer - arme Diener und Bauern, wie?" „Gutbezahlte Bauern und Landstreicher!" rief Carey und stöhnte. Hinter ihnen ertönte dumpfer Hufschlag. Etwa zehn Reiter trabten über den Pfad. Diesmal waren die Uniformen keine Maskierung. Der Seewolf ließ seinen Gefangenen los, drehte sich um und rief: „Na endlich! Mit dem Sohn des Kanzlers habe ich gesprochen, ich, Kapitän Killigrew. Hier überall findet ihr die Schurken, die sich für Garde und Gardehauptleute ausgegeben haben." Einige Reiter sprangen aus den Sätteln und kümmerten sich rücksichtslos und schnell um den anderen Gefangenen. „Ich bin Hauptmann Benson", sagte ein Reiter. Er stieg aus dem Sattel und musterte Hasard und dessen Gefangenen sehr genau und mit scharfen Augen. „Lord Burleigh war,
als er die Geschichte von seinem Sohn hörte, außerordentlich aufgebracht. Ich habe, nur zu Ihrer Beruhigung, Kapitän, einen ausdrücklichen Befehl." „Welchen, Sir?" „Dieses ganze Gesindel wird zunächst einmal in den Tower gesperrt und zwar in die am wenigsten komfortablen Verliese." „Das höre ich gern. Hier - Ihr Gefangener, Sir", sagte der Seewolf, stieß Carey in die Richtung des Hauptmannes und stürmte den Pfad hinunter. Der Kampflärm war leiser geworden.
Nach einigen Krümmungen mündete der Weg auf einer halbmondförmigen Sandfläche. Diese Zone wurde von ein paar Felsen und der steilen Uferböschung begrenzt. Übarall hockten und lagen Männer, der Sand war an vielen Stellen blutig und überall zerwühlt. Die Seewölfe bildeten einen lockeren Halbkreis um die Kerle. Verschlossene und aufgebrochene Kisten und Truhen lagen im Sand. Von der Kante bis zum Deck der Galeone lagen breite Planken. Andere Kisten und verschnürte Ballen befanden sich auf dem Deck der „Fidelidad". Es stank nach dem Pulverrauch und nach Brackwasser. „Wie viele sind es?" rief Hasard und trat auf seine Männer zu. „Gut zwei Dutzend. Alles erledigt, Sir", erklärte Stenmark. Der Seewolf schaute sich um. In der Stille krächzten die Raben und stritten sich mit den anderen geflügelten Räubern um die Beute im Großmars. An unzähligen Stellen waren Baumstämme zersplittert, in der Rinde klafften lange, weiße Risse und
57 Schnitte vom gehackten Blei der Drehbassen. „Noch nicht alles erledigt", sagte Hasard rauh. „Also, die beiden Anführer sind in der Hand der echten Garde. Die Gardisten sind uns irgendwie gefolgt. Wer ist nicht ernsthaft verletzt?" Etwa die Hälfte der Männer stand auf. Sie waren eingeschüchtert, die wenigsten von ihnen konnte man als Gewohnheitsdiebe bezeichnen. Langsam ging der Seewolf an ihnen vorbei, musterte jeden scharf und sagte dann: „Ihr bildet zwei Gruppen. Eine bleibt hier und verstaut das Zeug wieder dort in den Laderäumen, wo ihr es gefunden habt. Die andere . . . ist Ben hier? In Ordnung. Am Schiff alles in Ordnung? Du sorgst bitte dafür, daß die Kerle die Gespanne abladen und die Kisten zurück zur ,Fidelidad' bringen. Komm her, Ben." Ein Teil der Gefangenen setzte sich widerwillig und ängstlich in Bewegung. Als der Erste dicht neben Hasard stand, flüsterte der Seewolf in dessen Ohr: „Zwei Drittel von den armen Hunden kannst du laufenlassen. Es wäre schade, wenn sie für die beiden Rädelsführer hart bestraft würden. Man hat sie verführt. Aber suche die richtigen raus." „Ich gebe mir Mühe, Sir", erwiderte Ben Brighton. Einige Seewölfe, die Waffen mit gespannten Hähnen in den Fäusten, begleiteten die Männer hinauf zu den Gespannen. Hasard hob ein wenig ratlos die Schultern. Die meisten waren abgerissen und zerlumpt, ungewaschen und ausgemergelt. Keine Verbrecher, sagte er sich. Sie taten, was man ihnen befahl, wenn sie ein paar Cents dafür erhielten. Aber sie
sollten das verdammte Silberzeug gefälligst wieder dort hinbringen, von wo sie es weggeschleppt hatten. Er sah dem Abzug der Leute zu, dann sagte er: „Juan! Das ist dein Kommando. Ich schlage vor, du übernimmst die Galeone, und wir warten auf guten Wind, der uns wieder zur Towerpier zurückbringt." „Genau das hatte ich vor", antwortete der Spanier. „Meine Crew kennt dieses herrliche, halb ausgeplünderte Schiff mittlerweile. Aber um ein paar Mann Verstärkung wäre ich dankbar." „Nimm dir, wen du brauchst, du Towerflüchtling", sagte der Seewolf. Der Kutscher erschien mit seiner Ausrüstung und ließ sich, als er die Wunden der Diebe versorgte, von Bill und Blacky helfen. „Also los! Entert das Schiff. Zuerst müssen wir die Schebecke wieder in sicheres Fahrwasser bringen." Die Reiter der Garde oder Miliz hatten sich hier noch nicht blicken lassen. Die Halunken kehrten mit den Kisten zurück, balancierten über die Planken und verschwanden in der Galeone. Ben Brighton sagte leise: „Oben ist nichts mehr. Ich habe sie gefragt. Nichts ist vergraben oder versteckt worden, Sir." „Geht klar. Wenn die Kerle wieder alles verstaut haben, jage sie zum Teufel oder sonstwohin." Die Arwenacks waren gewohnt, ohne langes Nachdenken für sich selbst zu sorgen und ihre Probleme ohne fremde Hilfe zu lösen. Es dauerte keine halbe Stunde, bis die weggeschleppten Kisten wieder in der Galeone verstaut waren und das Schiff aufgeklart war. Einer nach dem anderen verschwanden die unrasierten und ver-
58 wundeten Männer. Drei blieben übrig: sie hatten sich so heftig gewehrt, daß sie erheblich verwundet worden waren. Dahinter steckte der Versuch, entweder fliehen zu können oder die eigene Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. „Eure Namen?" Hasard stand vor den drei Männern, die gar nicht gut aussahen. Sie hatten seit Tagen kaum geschlafen, sich nicht gewaschen und ihre Kleidung roch nach kaltem Schweiß und Schlimmerem. Sie starrten den hochgewachsenen Seewolf an wie in die Enge getriebene Tiere. Zögernd sagten sie ihre Namen. „Bromley." „Slogh." „Osbert", nannte sich der mit dem eingefetteten Bart. Hasard rief zu Don Juan hinüber: „Sind das die freundlichen Gardisten, die dich entwaffnet und gefesselt haben?" „Ja. Habe ich schon Ben genau erzählt." „Ben ist auf der Schebecke", gab Hasard zurück. „Sie sind's also?" „Diese drei Galgenvögel sind unverwechselbar, Señor Capitán!" rief der Spanier heiter. Die Crew bemühte sich, die Landrattenknoten der Belegtaue aufzudröseln und bugsierte langsam die Galeone vom Ufer weg. Nur noch eine Handvoll Seewölfe stand in der Nähe des Kapitäns und bewachte die drei Gefangenen. Endlich entschloß sich Hasard. „Ich werde mit der Garde zurückreiten. Ihr sorgt dafür, daß beide Schiffe bei steigender Flut und gutem Wind in den nächsten Stunden wieder am alten Platz liegen. Um diese drei kümmere ich mich."
„Aye, Sir. Wenn sie abhauen wollen - weit gelangen sie nicht", meinte Luke Morgan. „Das sehe ich nicht anders. Los, ihr Vögel", sagte der Seewolf und zeigte zur Kante des Abhanges, „dort hinauf!" " Die Crew hatte sich geteilt und brachte beide Schiffe in die beste Position. Luke sammelte die Waffen der Themsegeier ein und warf jedesmal, wenn er etwas aufhob, einen mißbilligenden Blick darauf. Das Zeug taugte nach seiner Meinung nichts. Immerhin, sagte er sich, hatten sie ihren Anführern gehorcht und nicht eine einzige Kiste aufgebrochen. In der Stille, die jetzt herrschte, klang das Knacken besonders laut und drohend. Hasard hatte den Hahn des Drehlings gespannt und ging hinter den hinkenden und schwankenden Gefangenen den Pfad entlang. Noch immer stritten sich die Raben mit den anderen Raubvögeln um die Beute im Mars. Die Geschichte von Don Juans Entführung und dem Silberschatz der Königin war noch nicht zu Ende.
„Hauptmann Benson", sagte Hasard und unterdrückte ein erstes Gähnen, „ich habe mich entschlossen, mit Ihnen nach London zurückzureiten. Wie steht's hier bei Ihnen?" Benson grinste unverschämt und sagte in bester Laune: „Mister Thomas Cecil, der einflußreiche Sohn eines mächtigen Vaters, hat mir etwa folgendes aufgetragen: Kümmere dich nicht zu sehr um Philip Hasard Killigrew und seine Seewölfe. Sie sind gewohnt, ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen. Als wir eintrafen,
59 schoß niemand mehr. Das beste Zeichen." „Das ist genau das, was ich unter rascher und bedingungsloser Hilfe verstehe", sagte Hasard mit unbewegtem Gesicht. „Damals waren wir nochetwas jünger, der gute Thomas und ich. Dessenungeachtet, Hauptmann Sie kennen die beiden Oberschurken?" „Leider. Die Gentry ist längst nicht mehr das, was sie einmal war. Der eine ist Sir Revson Akehurst und der andere sein Freund Harris Shenfield. Trotz ihrer Maskerade wurden sie rasch erkannt." „Teufel auch", brummte Hasard. „Leider sind die anderen Hilfskräfte in einigen unbewachten Augenblikken entwischt. Nur fünf Gefangene, Sir." „Die wichtigsten, denke ich. Sie sind wohlversorgt, und ihre Schandtaten werden sie dem verdienten Ende schnell näherbringen." „Ihr besorgt das?" „Dazu sind wir die ganze Nacht auf unbeleuchteten Wegen herumgerit-. ten, ohne Essen, Schlaf und dunklem Bier." Damit der Hauptmann sein sarkastisches Grinsen nicht sah, senkte der Seewolf den Kopf, blickte auf seine Stiefelspitzen und antwortete: „Mitunter sind die Tage und Nächte härter, als man es sich erträumt. Können wir diesen ungastlichen Ort verlassen?" „Die Schiffe?" „Bei gutem Wind segeln sie auch ohne mich", erwiderte Hasard und kletterte nach einigem Hin und Her in den Sattel des prächtigen Schimmels, der vor kurzer Zeit noch Eigentum von Sir Revson Akehurst gewesen war.
Der Weg nach London war beschwerlich und lang, aber das Tier schien ihn schon zu kennen.
Noch vor der Stadtmauer stieg Hasard ächzend und mit schmerzenden Muskeln aus dem Sattel. Die Reiter mit ihren Gefangenen trabten über das letzte Stück der London Bridge. „Besucht mich am Schiff", sagte Hasard und fühlte sich zerschlagen und müde, gleichzeitig aber auch in Hochstimmung, weil der erste Blick ihm gezeigt hatte, daß beide Schiffe nahezu am alten Platz vertäut hatten. „Es stehen stets ein kühles Bier und ein Schluck Whisky zur Verfügung." „Wenn ich Zeit habe", antwortete. Benson und schüttelte Hasards Hand mit eisernem Griff. „Zuerst, meine ich, ist diese Sache nicht ganz unwichtig." „Für mich und meine Crew ist sie, gottlob, erledigt", sagte Hasard und gähnte zum zweitenmal. „Ihr wißt, wo wir zu finden sind." „Richtig. Hoffentlich überhäuft euch unsere Queen mit entsprechenden Ehren und Titeln, wenn ihr Lissy den Schatz zu Füßen legt." „Keiner von uns ist darauf aus!" Sie winkten einander kurz zu, dann ritt der Hauptmann weiter, und Hasard ging mit bedächtigen Schritten hinunter zu „seinen" beiden Schiffen. Es war, als habe sich seit ihrer Ankunft nichts geändert. 7. „Und wenn's am schönsten ist, taucht jemand auf und stört dich", sagte Dan O'Flynn und hob bedauernd die Schultern, während er auf
60 Hasard einredete, „in diesem Fall zum Tode verurteilt worden seien. mich, weil ich mit einer jungen und Sie sollen in Bälde hingerichtet werschönen Maid scherzte, die noch alle den, zur Abschreckung solcher Leute, die ähnliche Verbrechen gegen die ihre weißen Zähne hatte." „Mister O'Flynn", murmelte der Krone planen." „Wie schön", murmelte Hasard, Seewolf, rieb den Schlaf aus seinen Augen und vergewisserte sich, daß reckte sich und wäre am liebsten wiedie „Fidelidad" und die Schebecke der zwischen seine Decken zurücknoch an ihren Plätzen lagen, „fasse gekrochen. „Und was noch?" „Man hat sie inzwischen verurdich kürzer. Was ist eigentlich los?" teilt." „Ich war in der Stadt." „Aha." „Und?" fragte Hasard und „Man hat sie hingerichtet. Nachwünschte sich sehr weit weg, aber nicht nach Cornwall. „Was hast du in weislich." der Stadt erlebt, das so wichtig ist, „Hm-hm." daß du mich störst?" „Und jetzt mußt du, um das Ende „Das ist wohl nicht dein Morgen, richtig beurteilen zu können", Dan läwie?" sagte Dan. „Übrigens ist es chelte freundlich, „an Deck komschon Mittag. Jedenfalls erschien ein men." Reiter, schlug auf eine Trommel und „Muß das sein?" fragte der Seewolf verlas eine Botschaft." unwirsch. „Aha." Dan O'Flynn erwiderte mit NachHasard befand sich noch in den druck: „Ja, unbedingt und sofort." Im grellen Sonnenlicht blinzelte Fängen eines tiefen und langen Schlafes. In seinem Kopf war noch nicht Hasard, als er den Niedergang aufenalles klar. Die Gefahren schienen vor- terte und auf dem Achterdeck stand. bei, und er hatte Weisung erteilt, ihn Hilfreich drückte ihm Dan ein Speknicht zu stören. Bis er sich wieder tiv in die Hand. Er zeigte in die Richfrisch fühlte, brauchte es noch eine tung der Stadtmauer im unmittelbaganze Menge. Aber in kleinen Schrit- ren Hafenbereich. ten wurde er wach. „Schau dorthin." „Im wesentlichen sagte er der stauNur langsam begriff Philip Hasard nenden Bevölkerung auf dem Markt- Killigrew, was er wirklich sah. An eiplatz, daß der Rat der Stadt, die ner Stelle der Mauer, die von jeder Krone, der Lordkanzler und das Ecke des Hafens deutlich zu sehen Hohe Gericht fünf Männer, die be- war, hatte man fünf Stangen befeschämender Verbrechen schuldig stigt, jede etwa acht Fuß lang. seien, angeklagt, angehört und verurAm oberen Ende der Stangen steckteilt haben." ten - Köpfe. Nur durch die starke Hasard nickte und dachte an die Linse erkannte der Seewolf die GeSüdsee, an Palmen und warmes sichter, die seltsam weiß und ausMeerwasser, in dem man schwimmen drucksarm erschienen. In dieser Reikonnte. henfolge: Sir Revson Akehurst, Har„Soso. Weiter?" ris Shenfield, Osbert, Slogh und „Der Reiter schilderte in dürren Bromley. Man hatte die Köpfe der Worten unsere Abenteuer auf der Halunken auf Stangen zur Warnung Themse und las weiter, daß alle fünf ausgestellt.
61 „Und das am Morgen oder frühen Mittag", knurrte der Seewolf, setzte das Linsenrohr ab und schaute Dan lange an. „Ein schauriger Anblick, zugleich aber auch ein treffliches Beispiel der elisabethanischen Gerichtsbarkeit. Ob die Queen davon erfahren hat?" Dan führte eine fragende, unwissende Geste aus. „Keine Ahnung. Ich glaube, es ist am besten, wenn du wieder in die Dunkelheit deiner Kammer zurückkehrst und darauf wartest, was unsere zwei Meisterköche heute zubereiten. Wenn das Schiff brennt, wirst du rechtzeitig geweckt, Sir." „Das ist der Vorschlag eines wahren Freundes", sagte Hasard, gähnte und verzog sich wieder unter Deck. Ihm war, als schliefe er und habe schlimme Alpträume, und irgendwie fürchtete er sich davor, zu erwachen und die Wirklichkeit zu sehen. Crew und Schiffe waren in Sicherheit. Der Schatz: gerettet. In den nächsten Tagen würden sie sich nicht überschlagen, auch wenn die Schebecke einer gründlichen Reparatur unterzogen werden mußte. Die Crew, gut für jeden Schabernack, sollte sich ausruhen, die Freuden der Heimatstadt genießen, und - und . . . Hasard schlief wieder ein und wachte erst spät am Abend auf. Die Köpfe, vom Henker kunstfertig auf die Stangen gesteckt, schauten noch immer aus blinden Augen über den Hafen, den Kai, die Themse und die London Bridge. Hasard schüttelte sich, holte einen Becher des braunen schottischen Gerstenbrandes und trank ihn aus. Erst danach war er wieder für seine Crew zu sprechen.
Patrick Towyn zog am Zügel und hielt den müden Rappen an. Im Haus vor ihm, am Ende des langen Kiesweges, brannten nur hinter zwei Fenstern Kerzen oder Lampen. Das Anwesen erweckte einen verlassenen Eindruck, obwohl es ebenso aussah wie an jedem Abend in den letzten fünfundneunzig Jahren, seit die Akehursts diesen Teil des Landes besaßen. „Ich fürchte, jetzt kommt meine Stunde - und sie wird nicht leicht sein", brummelte er und gab die Zügel frei. Er war genauso erschöpft wie das Pferd. Aber dieser Tag war noch nicht vorbei. Wichtige, geradezu lebenswichtige Dinge mußten noch geklärt werden. Er ritt weiter und auf das Haus zu. Der Hofknecht erschien mit einer blakenden Fackel. Patrick Towyn, der reitende Bote, stieg aus dem Sattel und gab dem Knecht die Zügel in die Hand. „Dein Herr, Dean, ist tot", sagte er langsam, deutlich und in ruhigem Tonfall. „Sein Körper wird wohl schon verscharrt oder verbrannt sein, aber sein Kopf, in der Maske von Kent Carey, steckt auf einer Stange. Die Stange wurde auf der Mauerkrone über dem Hafen aufgerichtet. Hast du mit der Sache etwas zu tun, Dean?" Die beiden Männer, etwa gleichgroß, starrten einander schweigend in die Augen. Schließlich schüttelte Dean den Kopf. „Man wird dich befragen, vielleicht hochnotpeinlich. Wenn du etwas weißt", fuhr Patrick fort, weil er keine Antwort außer dem Kopf schütteln erhalten hatte, „dann nimm deine mageren Beine unter die Arme und laufe bis nach Landsend." „Ich weiß nichts. Und du?"
62 „Ich weiß alles." „Und?" fragte der Pferdeknecht erschrocken. „Ich nehme meine Beine unter die Arme und renne. Aber nicht nach Landsend. Und nicht allein. Gib mir ein Pferd. Ein zweites sattle für Inga. Und sage es auch den anderen." „Was soll ich ihnen sagen?" Plötzlich schien er sprechen zu können, oder er hatte verstanden, um was es ging. „Daß sie keinen Herrn mehr haben. In einer Stunde bin ich weg, und auf der Insel wird mich niemand finden." „Ich verstehe, glaube ich." Ohne zu antworten, ging Patrick weiter, öffnete die Tür und stieß beinahe mit dem Diener zusammen, der ihm hatte öffnen wollen. Mit ihim führte er etwa die gleiche Unterhaltung, aber der Diener begriff sehr viel schneller. „Braucht ihr noch etwas? In einer Stunde bin ich auf dem Weg zu meinen Verwandten in Westmoreland", sagte der Diener. „Warte darauf, was Missis Inga dir aufträgt. In der Zwischenzeit solltest du deine Halbseligkeiten zusammenpacken und dir vielleicht ein solches Pferd nehmen, das nicht als Eigentum von Sir Akehurst erkannt wird." Der Diener schien ihm vor Dankbarkeit die Hand küssen zu wollen. Patrick entzog sie ihm und ging dorthin, wo aus dem Hintergrund des Raumes Inga ins Licht trat. Sie war schön wie eine Fee. Patrick verbeugte sich stumm und sehr knapp. Er blieb stehen und war sicher, daß sowohl Inga als auch er im hellsten Teil des überaus prächtigen Raumes standen, einander gut sahen und den Gesichtsausdruck entsprechend deuten konnten.
Er holte Atem, nahm seinen halb durchgeschwitzten Hut ab und sagte so leidenschaftslos wie möglich, obwohl er alles andere als das empfand: „Inga, meine Liebe, du solltest dich jetzt entscheiden. Akehursts Kopf ist über dem Hafen aufgespießt. Ich komme gerade von dort. Morgen mittag sind die königlichen Garden hier. Sie werden den Besitz für die Krone beschlagnahmen. Du, indessen, hast, grob gesprochen, zwei Möglichkeiten." Sie hielt die Unterarme vor ihren Brüsten gekreuzt, starrte ihn seltsam an und flüsterte: „Welche, Patrick?" „Schankmädchen oder Dirne in Southwark, Geliebte eines anderen Herren. Oder mich." Damals, vor wenigen Tagen, war ihr Lächeln unecht gewesen. Ihre Ratlosigkeit heute war echt. Für lange Augenblicke vergaß sie völlig den Reiz ihres Ausschnittes, des Körpers, der blonden Haare. Sie war jung, ratlos und verloren. „Du lügst nicht?" flüsterte sie. Dann besann sie sich und fragte ihn: „Etwas zu trinken? Hungrig?" „Davon", sagte Patrick hart und zeigte auf die teuerste Karaffe, „und in diesem Pokal", er deutete auf eins der Prunkstücke. „Wir sollten erst auf dem Ritt nach Norden etwas essen. Sonst holt uns die Garde ein, mit Befehlen von Burleigh. Du hast nicht mehr als eine halbe Stunde, dich zu entscheiden. Ich bin hier und warte. Ich kehre nicht mehr zurück. Und ich bitte nicht." Unwillkürlich faßte er an seinen Gürtel. Dort steckten die vielen goldenen Souvereigns, mit denen man Häuser und noch mehr Land kaufen konnte. Akehurst hatte sie ihm gezahlt, und er, Patrick hatte sie bis zum letzten Viertelpence ehrlich verdient.
63 Inga erwachte aus ihren Überlegungen, warf ihr langes blondes Haar in den Nacken und schenkte ihm im kostbarsten Becher den teuersten Brandy ein. Dann zuckte sie zusammen und fragte: „Du und ich? Im Norden? Keine leeren Versprechungen?" „Bin ich ein Mann, der es nötig hat, junge Frauen zu betrügen. Ich will dich. Wenn du willst, können wir zusammen alt werden. Aber nicht hier nahe London." Er trank. Das Zeug brannte, aber es brannte voll teurer Milde. Die junge Frau schloß die Augen, lächelte gedankenlos, wurde wieder ernst und stieß dann hervor: „Ich habe nicht viel zu packen. Ich kann reiten. Und ich habe auch etwas Geld. Ich bin in einer Viertelstunde wieder hier." „Ich warte." Sie eilte davon. Patrick Towyn leerte langsam den Pokal, dann ging er in die Küche und räumte alles, was sie in den nächsten Tagen brauchen konnten, in einen Sack. Nach kurzem Nachdenken packte er auch ein paar volle Flaschen ein. Aber von all den Kostbarkeiten, die sich im Haus be-
fanden, tastete er keine an. Mit zwei Taschen kehrte Inga wieder zurück und schloß den bodenlangen Mantel mit der Goldstickerei am Hals. „Akehurst hat mir Geld gegeben", sagte sie und lächelte traurig. In der halben Stunde war sie etwa zehn Jahre älter geworden - an Erfahrung, nicht an Jahren. „Ich gebe dir keines", sagte er. „Aber ich sorge für dich. Und ich kenne den Weg bis zum Sonnenaufgang." Er nahm ihre schweren Taschen, in denen es klirrte. Er trug sie hinaus, ging zu den Ställen und befestigte mit Lederriemen das gesamte Gepäck vor und hinter den Sätteln. Dann half er Inga in den Sattel, schüttelte den Knechten und dem Diener die Hände und saß auf. Einen langen Augenblick dachte er an den riesigen, selbstbewußten Mann mit den eisblauen Augen und dem schwarzen, leicht ergrauten Haar. Einer der wenigen Männer, sagte er sich, mit dem befreundet zu sein, ein Gewinn fürs Leben bedeuten würde. Niemals würde er Kapitän
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Killigrew wieder treffen, sie gingen Als die Sonnenstrahlen sie weckten, auf zwei verschiedenen Wegen. lächelte Inga ihn an. Dann erschrak Er seufzte, senkte den Kopf und sie, denn er hatte den angeklebten kletterte in den Sattel. Dann ritten sie Bart weggeworfen, sein Haar hatte fort. eine andere Farbe, seine Haut war Irgendwann schlugen sie im Laub weicher, als sie dachte. des Vorjahres, in ihre dicken ReiterUnd sein Name war auch nicht mäntel gehüllt, ein Nachtlager auf. mehr länger Patrick Towyn . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 609
Duell auf der Themse von Davis J. Harbord Die Schlacht in der Themsekneipe war ein Vorspiel zum Duell auf der Themse: Zwanzig Kerle von der „Arrow" sollten fünfzehn Arwenacks abräumen und spitalreif schlagen, damit sie für die Wettfahrt ausfielen. Die Rechnung ging nicht auf. Gleich zu Beginn nahm sich Carberry den Oberraufbold vor. Potter hieß der Kerl, und er war Bootsmann auf der „Arrow". Carberrys Hammer explodierte auf dessen Plattnase. Na, das war doch schon was. Potter überschlug sich zweimal, krachte auf einen Tisch und blieb auf ihm liegen, und zwar rücklings. Er stierte zum Gewölbe hoch, sah aber nichts, denn wer bewußtlos ist, nimmt nichts mehr wahr. Er wäre auch nicht sehr fröhlich gewesen, wenn er jetzt hätte zuschauen können. Seine Kerle wurden nämlich sozusagen aufgemischt...