G. P. Taylor Tersias
G. P. Taylor
Tersias � Aus dem Englischen von Ursula Höfker
Arena
Für Kathy, Hannah, Abigail und Lydia,
die meine ganze Freude sind,
und für Maddy von der Buchhandlung Whitby.
Sie war die Allererste,
die ein Buch von mir gekauft hat. �
Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Tersias« bei Faber & Faber Ltd, London
Copyright © G. P. Taylor, 2005 In neuer Rechtschreibung 1. Auflage 2007 © 2007 by Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Aus dem Englischen von Ursula Höfker Einbandgestaltung:
[email protected] Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau GmbH ISBN 978-3-401-05.838-2 www.arena-verlag.de
1.
Das Tetragrammaton – der geheime Name � Gottes � Magnus Malachi stapfte verdrossen in dem alten Stall auf und ab. Schließlich ging er langsam zur Tür und schaute vorsichtig zum Nachthimmel hinauf. Er stützte sich dabei auf einen langen Stock und strich mit seinen schmalen, schmutzigen Fingern über den Griff aus Fischbein. »Er kommt immer näher, Tersias, der Stern ist nicht mehr aufzuhalten«, jammerte er, während er den herannahenden Kometen beobachtete und verdrießlich an seinem schütteren schwarzen Spitzbart zupfte. »Verblüffe mich mit einer deiner Weissagungen! Der Komet muss aufgehalten werden, bevor er die Welt zerstört und mit ihr mein kleines Stück des Königreichs.« Knurrend drehte er sich um und blickte quer durch den dunklen Stall zu einem kleinen Jungen, der still hinter den Gitterstäben seines Käfigs saß. »Ich habe gut daran getan, dich zu kaufen. So gut habe ich noch keine Guinea angelegt«, murmelte er. »Nur ein Dummkopf zahlt so viel für einen blinden Bettler«, haben sie gesagt. »Und wer ist nun der Dummkopf? Ich habe meinen eigenen kleinen Propheten, ein Orakel, das alle anderen übertrifft. Stell ihm eine Frage, und er antwortet, ohne zu lügen. Die Geheimnisse des Universums liegen zwischen den Ohren dieses Krüppels verborgen – und das alles für eine Guinea!« Tersias saß auf einem niedrigen, hölzernen Dreibein, das neben seinem schäbigen Bett stand. Während er die dicken Metallstangen umklammerte, die Wände und Decke seines mit Goldfarbe angestrichenen Käfigs bildeten, blickte er mit blinden Augen auf eine schwarze Welt. Er wusste, dass Malachi ganz in der Nähe war – ihm stieg der schwere Duft der Myrrhe
in die Nase, mit welcher der Alte seinen langen Bart behandelte, damit er glänzte. Er hörte das Knirschen der Stiefelsohlen auf dem harten Boden und nahm wahr, dass Malachi beim Auf- und Abgehen einen Fuß nachzog. Tersias hatte zwölf Winter ertragen und den letzten Monat in einem Käfig eingesperrt verbracht, in dem er nicht mehr als fünf Schritte gehen konnte. Er war mit jedem Tag weniger geworden, sodass die Jacke, die ihm einmal gepasst hatte, jetzt wie ein alter Lumpensack von seinen hochgezogenen Schultern hing. »Was meinst du, Junge? Wirkt mein Zauber? Kann er verhindern, dass die Himmel auf die Erde stürzen?« Malachi zog die Nase hoch. Sie tropfte, während er redete. »Ich muss es wissen…« Er krächzte wie eine ausgemergelte Krähe in den abgestorbenen Ästen eines verhexten Baumes. »Er wird die Stadt nicht zerstören«, sagte der Junge langsam und rieb mit seinem weichen, blassen Daumen an den Stäben seines Gefängnisses. »Ich kann Euch nicht anlügen. Euer Zauber ist nutzlos. Es gibt niemanden da draußen, der Euren Hokuspokus hören könnte.« »Hokuspokus?«, knurrte Malachi. Sein weiter, abgetragener Mantel schwang vor und zurück, als er mit seinem Stock ausholte und ihn gegen die Käfigseite krachen ließ. »Ich murmle nicht… Es ist eine hohe Kunst, ein erlesenes Handwerk und kein Hokuspokus! Hokuspokus ist etwas für fette alte Weiber, die einen Penny für das Besprechen einer Warze verlangen. Ich habe sieben Guineas für diese Zauberbücher bezahlt, in denen Verwünschungen aufgezeichnet sind, die schon die Alten ausgesprochen haben… Du sagst, dass der Komet die Erde nicht berühren wird, und doch soll mein Zauber wirkungslos gewesen sein? Wie ist das möglich?« »Ihr habt mich nach der Zukunft gefragt, und ich höre, was mir zugeflüstert wird. Aber wie oder warum etwas geschieht, bleibt mir verborgen«, erwiderte der Junge leise. Malachi stürmte durch den Stall, um das Feuer mit neuen Holzscheiten anzufachen. Es knallte ein paar Mal, als die
Flammen sie berührten. Leuchtend rote Funken sprühten aus den Flammen und stiegen den Schornstein hinauf, glühende Holzkohlestückchen hüpften über die Feuerstelle. »Dann muss ich den Zauber noch einmal sprechen«, verkündete er. Er griff in die große, zerschrammte Ledertasche, die an einem langen Riemen über seiner Schulter hing, und tauchte mit der Hand tief hinein bis in die Ecken. Seine Finger suchten hektisch zwischen Knochen und Klauen, Bändern und Haaren. »Hab ich dich!«, kreischte er schließlich ausgelassen, als er einen schmalen, vertrockneten Finger herauszog, der hinter dem zweiten Knöchel von der Hand abgetrennt worden war. »Damit wird der Zauber gelingen, Tersias.« Er lief zu dem großen Tisch, welcher wie der Altar eines Alchimisten an der hinteren Wand stand, und hielt die Spitze des verschrumpelten Fingers in die Kerzenflamme. Malachi wartete, bis die Fingerspitze vollkommen schwarz war, dann nahm er einen großen Zinnteller und ritzte mit dem Fingernagel einen Kreis in dessen Mitte. »Abgeschnittner Finger, ertrunkener Mann… Fang die Göttin, wer das kann… Herbei ihr Geister aus nah und fern… seid mir zu Diensten, zerstört den Stern…« Unbeholfen hüpfte er herum und zeigte mit dem angekohlten Finger zuerst auf den Boden und dann hinauf zur Decke. Schließlich durchwühlte er noch einmal seine Tasche, brachte ein schwarzes Pulver zum Vorschein und streute es mit einer Prise Salz über den eingeritzten Kreis. Anschließend kratzte er langsam von der Mitte des Tellers zum Rand hin sieben tiefe Furchen in das Zinn, füllte die Rillen mit dem Pulver und fügte aus einem angeschlagenen Tonkrug sechs große Tropfen eines dickflüssigen Öls hinzu. Genau in das Zentrum des Tellers, wo Pulver und Öl sich vereinigten, ließ er noch drei Tropfen Wachs fallen. Es spritzte und zischte, als sie auf die Mischung tropften. Malachi stellte den Zinnteller in die Mitte des Altars, nahm den Finger wieder auf, drückte ein Loch in den Pulverberg, zündete die Fingerspitze an der Kerze an und entflammte da-
mit die Pulvermischung. Es gab eine blaue Stichflamme, als die Mixtur explodierte, und eine dicke, schwefelige Rauchwolke stieg zum Dach hinauf. Der Teller wurde glutrot, es knallte und zischte, und Funken stoben in alle Himmelsrichtungen. Das Pulver produzierte eine solche Hitze, dass das Zinn Blasen warf, schmolz und sich in den Eichentisch fraß. »Er werde zu Staub…«, stammelte Malachi und schlug sich die glimmenden Funken aus dem Bart. Nachdem er sich seine vom Rauch tränenden Augen abgewischt hatte, kratzte er sich mit dem Stumpf des abgeschnittenen Fingers am Kopf. Danach ging er langsam noch einmal zur Tür und schaute hinaus in die Nacht. Etliche Minuten lang verfolgten Malachis Augen nervös den Kometen, der mit wehendem Schweif auf die Erde zutrudelte und dabei immer heller wurde. Tersias zupfte an einem losen Faden am Ärmel seiner Jacke und summte leise vor sich hin. Er versuchte, sich an sein Leben vor der Entführung zu erinnern, als er die Wirklichkeit noch hatte sehen können und nicht nur die Gesichter der heimlichen Besucher, die unangekündigt und für die Welt unsichtbar erschienen und ihm die Zukunft einflüsterten. Meist kamen sie kurz vor dem Einschlafen und wisperten seinen Namen. Im Geist sah er sie vor sich, verschwommene, blasse Gesichter, die nur selten lächelten. Dazu gehörten verbitterte, ätzende Stimmen, deren Worte seinen Ohren Schmerzen zufügten. Inzwischen kamen sie auf Befehl. Sobald ihm eine Frage gestellt wurde, flüsterten sie ihre Antwort, und er gab diese weiter, als stamme sie von ihm. »Am besten war’s, er wäre blind…« Diese Worte, gesprochen von seiner Mutter, bevor man ihn weggebracht hatte, gingen ihm nicht aus dem Kopf. »Ein blinder Bettler ist besser als ein Hinkefuß oder einer mit einer verkrüppelten Hand. Ein blinder Junge verdient mehr Geld – ein blinder Mann erregt mehr Mitleid, wenn er bettelt.« Es waren die einzigen Worte seiner Mutter, an die er sich
erinnern konnte. Seine Erinnerung erlaubte ihm, ihr Gesicht zu sehen, wie es war, bevor der explodierende grellweiße Blitz ihm das Augenlicht genommen und ihn in die Dunkelheit gestoßen hatte. Seit diesem Tag bewegte er sich im Land der Schatten. Immer wieder ließ er das quälende Bild vor seinem geistigen Auge erstehen und grübelte darüber nach, was geschehen war, nachdem er aus seinem Schock erwacht war und die Stoffbinden befühlt hatte, die man ihm um den Kopf gewickelt hatte. Sie ließen kein Licht hindurch und bedeckten den dicken Schorf auf seinen Augenlidern. Als fremde Hände die Tücher unsanft weggezogen hatten, wusste er, dass er blind und allein war. Dass man ihn gestohlen hatte. Nie würde er die kindliche Panik vergessen, die ihm in die Beine fuhr und seine Lippen zittern ließ, bevor sie mit heißen Tränen und erstickten Schluchzern aus ihm herausbrach. Mit der Stimme des kleinen Jungen, der er war, hatte er nach seiner Mutter geschrien, ihren Namen gerufen. Doch eine Antwort erhielt er nicht. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich und ließen ihn fast verrückt werden. Lange hatte er gedacht, sie sei ganz in der Nähe und verstecke sich nur. Ein Versteckspiel, etwas anderes konnte er sich nicht vorstellen – gleich würde sie ihm die dunkle Maske abnehmen, und er würde ihr Gesicht sehen und nichts von ihrem Verrat wissen. Stattdessen war er in den hintersten Winkeln stinkender Räume gelandet, hatte sich die Läuse von der Haut gepickt und die Krumen vom Tisch eines Fremden gegessen. Seine ganze Kindheit hindurch kannte er nichts anderes als grobe Hände und böse Worte aus dem Mund eines Fremden, der ihm weder Namen noch Liebe gab und ihn an die Bettelsäule in Covent Garden band. Stundenlanger, heftiger Regen und klirrende Kälte hatten ihn fast bis auf die Knochen abmagern lassen, während er die Hand ausstreckte und auf das Erbarmen der Vorübergehenden hoffte. Sein blindes, vernarbtes Gesicht hatte auch das verstockteste Herz mit Mitleid erfüllt. Mit blau gefrorenen Lippen erbet-
telte er sich das Scherflein einer Witwe oder den Schilling eines Dandys. Er war der Liebling der Nachtschwärmer, die in ihren aufgebauschten Röcken vorbeirauschten, ihm Schmeicheleien zuriefen und ihm, um ihr Gewissen zu beruhigen, angebissene Brötchen zusteckten. Dann, wenn die letzten Lampen gelöscht waren, kam der Grobian und brachte ihn zum Dachboden zurück, zerrte ihn durch die nasskalten Straßen und zwei schmale Treppen hinauf in die Dachkammer. Dort nahm er ihm den Bettelsack ab und zählte leise das Geld, Penny um Penny. In der Walpurgisnacht, als der Grobian schlief, kam das Wesen zum ersten Mal. Zwischen den langgezogenen Schnarchern des Betrunkenen hörte Tersias die Dielen knarren, als der Raum sich mit einer dunklen, bedrängenden Gegenwart füllte. Während er sich unter die schäbige Decke verkroch und seine Füße einwickelte, damit die Ratten die Zehen nicht annagten, umkreiste das Geistwesen ihn langsam und entschlossen. Er spürte mit jeder Faser seines Körpers und mit jedem Atemzug, dass etwas über ihm war. Die Dachkammer stank nach fauligem Atem. Tersias krümmte sich zusammen und hoffte, sich so klein machen zu können, dass man ihn nicht sah. Er zog die Knie an die Brust und hielt sich die blinden Augen zu, aus Angst, auf irgendeine Art und Weise sehen zu müssen, was da vor ihm stand. Eine raue Stimme sagte leise: »Ich bin die Teufelsbrut. Wenn du mit mir tanzt, dann immer nur nach meiner Pfeife.« Tersias spürte eine samtweiche Hand, die ihm über die Wange strich. »Mächtige Wesen brauchen ihre kleinen Geister und Gnome, die ihnen zu Willen sind. Du kannst mein Gnom sein. Dafür verleihe ich dir eine außergewöhnliche Gabe. Sie wird die Welt in Erstaunen versetzen und dich berühmt machen. Die Gaben, die ich verleihe, sind allesamt ausgesprochen wertvoll.« Ganz kurz kam es Tersias so vor, als bohre sich ein spitzer Stachel durch sein Gesicht. Sein Kopf wurde zurückgerissen, als er von einer unsichtbaren Macht gegen den feuchten Ver-
putz an der Wand und dann auf den Boden gedrückt wurde. Das Wesen fuhr durch den Mund in ihn hinein und wirbelte in seinem Kopf herum. Dann war der Spuk plötzlich wieder vorbei, und in der Dachkammer war nur noch das Schnarchen des Grobians zu hören, der in einem Sessel bei dem kaum noch wärmenden Feuer schlief. Und aus dieser Stille heraus drangen die Stimmen der Teufelsbrut wie das erste leise Flüstern bei der Beichte an Tersias’ Ohr. Er hatte den Eindruck, der ganze Raum sei voller Gaffer, Leute, die ihn anstarrten und verhöhnten, die lachten und ihm schmeichelten. Er erwiderte etwas auf die Neckereien, wurde jedoch von der rauen Stimme seines gesichtslosen Herrn rasch zum Schweigen gebracht, der ihn im Schlaf anherrschte, ruhig zu sein. Die Stimmen erzählten ihm flüsternd das Neueste von morgen, wichtige Ereignisse, Festumzüge und Hinrichtungen. Ihr Murmeln kam von allen Seiten. Sein Kopf und jeder einzelne Muskel seines Körpers waren erfüllt davon. Manchmal redete die Teufelsbrut untereinander, und er hörte Neuigkeiten von weit entfernten Orten. Es war, als seien die Stimmen in seinem Kopf und nur er könne sie hören, als gehörten sie Boten, die nur zu ihm sprachen. Am nächsten Abend unterhielt er sich mit ihnen. Zunächst fürchtete er, sie könnten ihn nicht verstehen, doch als in seinem Kopf ihre Gesichter auftauchten, redete er ohne Furcht drauflos. Von da an kamen sie wie eifrige Schutzengel und berichteten von zukünftigen Ereignissen. »Sag niemandem, von wem du das weißt, Tersias«, warnten sie ihn einstimmig, wenn sie ihn bei Sonnenaufgang verließen. »Die Leute glauben sonst, du seist verrückt, vergiftet von Blei und Quecksilber.« Sie lachten und machten Witze wie eine Horde Chorknaben. Der Grobian verkaufte Tersias irgendwann an einen Seilmacher aus einer verrufenen Gegend im Osten Londons; dieser verlor ihn bei einem Kartenspiel. Sein neuer Herr ließ ihn betrunken in der Nähe der London Bridge zurück, und danach
geriet er für eine Guinea in die Hände von Magnus Malachi, der mit Arzneimitteln handelte, die Unterwelt belieferte und Flüche verhängte. Die Teufelsbrut folgte Tersias zu dem Pferdestall, wo er in einen vergitterten Verschlag gesperrt wurde. Sie war ständig zum Reden aufgelegt, immer in der Nähe und ohne Namen. Die erste Weissagung entschlüpfte Tersias ungewollt. Malachi hatte über seinen Nachttopf gebeugt dagestanden und die dunkle Brühe angefleht, ihm einen Blick in die Zukunft zu gewähren. Er hatte einen Zauberspruch gemurmelt und seine Frage gestellt. Die Teufelsbrut hatte sie gehört und Tersias die Antwort zugeflüstert. Wie unter einem Zwang wiederholte Tersias Malachis Frage nach seiner Zukunft und prophezeite, welches Schicksal diesen ereilen würde. Von da an hängte Malachi zwei Schlösser an den Käfig und schlief bei ihm im Stall. Er heizte die Feuerstelle, an der früher der Hufschmied gearbeitet hatte, wieder an und ließ Tersias nicht mehr zum Betteln auf die Straße. Mit unzähligen Fragen hatte Malachi die Glaubwürdigkeit der Teufelsbrut auf die Probe gestellt. Was immer er fragte, sie hatten auf alles eine Antwort und verkündeten durch den Mund des Jungen genau das, was er hören wollte. In den vier Wochen, die Tersias jetzt eingesperrt war, hatte er viele Male die Weissagungen dieser Wesen ausgesprochen. Malachi hatte einen Luftsprung gemacht vor Freude, als er festgestellt hatte, dass sein neu entdeckter Prophet selbst seine kühnsten Erwartungen übertraf. Immer wieder hatte Tersias von einem Kometen gesprochen, der sich unbeobachtet der Erde nähern würde. Doch Malachi hatte ihm nicht geglaubt. Er hatte seinen Stock mit dem Fischbeinknauf ärgerlich in den Boden gerammt und geschimpft, Tersias solle sich nicht mit Dingen abgeben, von denen er nichts verstehe. Dabei hatte er mit einem Fuß in der trockenen Erde gescharrt wie ein wütender Bulle. Doch als er dann die zerknitterten Seiten des Londoner Anzeigers fand und dort mit eigenen Augen von der großen Ent-
deckung las, hatte plötzlich alles anders ausgesehen. Tersias hatte die Wellen wachsender Ehrfurcht und Panik gespürt, die von Malachi ausgingen und ihn fast sprachlos machten. Nur zwei Worte waren aus seinem Mund gekommen, wieder und wieder, lauter und lauter: »Der Komet, der Komet!« Jetzt war der Komet da, erstreckte sich von Horizont zu Horizont über den dunklen Nachthimmel. Das spektakuläre Ereignis war eingetreten, und London lag verlassen da. Schon nachdem das erste Himmelseis die Atmosphäre zum Knistern gebracht und sich in die Erdoberfläche gebrannt hatte, waren die Ratten aus den Häusern geflüchtet. Tersias und Malachi waren die Einzigen, die noch in den Stallungen hausten, die sich im Norden von Cheapside an die Rückwand des Cross Keys lnn schmiegten. Sämtliche Durchreisende, Straßenkinder und Vagabunden waren aus der Stadt geflohen. Man hörte nur noch Hundegebell und das Rascheln der Blätter im Herbstwind. Malachi wagte sich immer weiter in die Nacht hinaus, den Blick gebannt auf den näher kommenden Kometen gerichtet. Die Atmosphäre war erfüllt vom Knistern der Eiskristalle, die in der Stadt und darüber hinaus auf die Erde trafen. Silbrige Meteore fielen in den Fluss, brachten das Wasser zum Kochen und sandten zischende Gasfontänen zum Himmel. Der Komet am Osthimmel wurde immer heller, während er sich hinter dem Mond der Erde näherte. Ein heulender Sturm peitschte das Wasser des Flusses auf, als er in einem weiten Bogen auf den Mond zustürzte. Der Erdtrabant hatte ihn angezogen und seine Bahn umgelenkt. Die gesamte Erde bebte, als der Komet in die dunkle Seite des Mondes krachte und dabei Wolken von Mondstaub in den Äther schickte. Bei der Explosion wurden Millionen Eissplitter freigesetzt, die über den Himmel zuckten und flirrten. »Ich habe es vollbracht!« Malachi tänzelte von der Stalltür zum Käfig und schaute auf seinen Gefangenen hinunter. »Du hattest recht, mein kleiner Wahrsager! Der Komet hat in den Mond eingeschlagen und wird die Erde nicht berühren. Mein
Zauber hat triumphiert!« Er griff durch die Gitterstäbe, fasste Tersias unter das Kinn und kniff seine Haut, bis der Junge aufschrie. Malachis Finger stanken nach verbranntem Schwefel und gebratenen Zwiebeln. Tersias liefen Tränen über die Wangen, als ihm der beißende Geruch in die Augen stieg und der Schmerz in seinem Kinn zu pulsieren begann. »Mein kleiner Junge weint für Onkel Malachi«, säuselte sein Herr und Meister und schniefte in gespielter Rührung. »Seht nur die glitzernden Tränen, die aus seinen blinden Augen fallen – was für ein Liebesbeweis! Ich werde dir einen goldenen Käfig kaufen – zu deinem eigenen Schutz, versteht sich. Sobald die Stadt wieder aufgebaut ist, gehen wir nach Tyburn, dann kannst du bei den Hinrichtungen für einen Schilling pro Anliegen weissagen. Ich werde ein reicher Mann, und du – du bekommst eine Decke, die jede Woche gewaschen wird«, rief der Alte aufgeregt. Seine Stimme war mit jedem Satz höher geworden. »Ich werde nicht reden«, sagte Tersias und rückte von Malachi ab. »Ich lasse mich nicht vorführen wie ein Ungeheuer in einem Kuriositätenkabinett.« Malachi ging leise um den Käfig herum. Tersias spitzte die Ohren. Vielleicht verriet ihm ein Geräusch, was er vorhatte. »Warum denn nicht, Tersias? Möchtest du mir denn keinen Gefallen tun? Habe ich dir nicht Kleidung, zu essen und ein Dach über dem Kopf gegeben? So dankst du das alles deinem Freund Malachi?« »Habe ich die Guinea, die Ihr für mich bezahlt habt, nicht längst abgegolten?«, fragte Tersias, während er sich durch den Käfig tastete. »Ich habe für Euch gebettelt und Euch die Zukunft vorausgesagt. Was wollt Ihr denn noch? Soll ich öffentlich zur Schau gestellt und lächerlich gemacht werden?« »Wer würde denn für dich sorgen, Tersias? Dir Wasser bringen, Essen und Kleidung und neues Stroh zum Schlafen? Ich bin dein Auge in einer Welt voller Dunkelheit, dein Ohr in einer Welt, die taub ist für die Wahrheit. Du stehst viel tiefer
in meiner Schuld, als es sich mit einer Guinea abgelten ließe. Ich habe dich gekauft, nicht gepachtet, so lautet eindeutig das Gesetz. Du bist mein Lehrling, bis du einundzwanzig bist, erst dann bist du frei.« Malachi hielt inne und ließ stattdessen den Stock langsam und drohend an den Gitterstäben entlangstreichen. »Wenn du deine Freiheit jetzt schon haben willst, beträgt die Ablösesumme zweihundert Pfund. Die Kosten für deinen Unterhalt, bis du volljährig bist, sind davon schon abgezogen. Hast du sie, bekommst du den Schlüssel für die Tür und bist frei.« Sein Ton wurde härter, genau wie sein Gesichtsausdruck. »Bis dahin gehörst du mir und wirst weissagen, für wen auch immer ich will. Du kannst froh sein, dass du die Gesichter der Fragenden nicht siehst und nicht weißt, unter welchen Umständen sie fragen…« »Und wenn ich mich weigere, was geschieht dann?«, fragte Tersias, wickelte sich in seine Decke und setzte sich in die Mitte des Käfigs, wo er darauf wartete, dass der Stock ihn durch die Gitterstäbe hindurch unweigerlich treffen würde. Er hörte, wie Malachi schwerfällig zur Feuerstelle hinkte. Dann wurde ein Metallstab über die Steine geschoben und tief in die Asche gestoßen. Stille war für Tersias etwas Furcht Einflößendes. Er lauschte auf ein Geräusch, das ihm verraten würde, was Malachi tat, hörte jedoch nichts als seinen eigenen, keuchenden Atem. Dann fielen Brocken von Holzkohle übereinander, als der Schürhaken weiter in die weiße Glut hineingestoßen wurde. Kurz darauf näherten sich die schlurfenden Schritte wieder dem Käfig. »Was tut er?«, fragte Tersias die Teufelsbrut voller Angst. Er konnte spüren, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. »Er bringt einen rot glühenden Feuerhaken, der leuchtet wie der Hass in seinen Augen«, antwortete die Stimme in seinem Kopf. Als das Wesen dies sagte, wurde es Tersias speiübel. Der Gestank der Teufelsbrut war ihm in die Nase gestiegen, und er begann zu würgen.
Plötzlich erblickte Tersias die düstere Gestalt von Magnus Malachi. Die Teufelsbrut sandte ihm das Bild auf sein inneres Auge. Er zog überrascht die Luft ein, als er ihn zum ersten Mal in seinem langen Mantel deutlich vor sich sah. Es war wie ein Wachtraum im Morgengrauen, so als löse sich der Nebel in seinem Kopf langsam auf. Malachi war viel größer und schmaler, als er angenommen hatte. Sein Gesicht war eingefallen, und er hatte einen langen schwarzen Ziegenbart, in dem im Licht von Lampe und Feuer klebrige Myrrhetropfen glitzerten. Tersias sah, dass die Teufelsbrut hinter ihm stand, außerhalb des Käfigs, und Malachi über seine Schulter hinweg beobachtete. Es war, als seien ihre Gedanken miteinander verbunden, was immer das Wesen sah, wurde auch in seinen Kopf projiziert, sodass er es erkennen konnte. Das Wesen hatte den Blick auf den Feuerhaken gerichtet, den Malachi in der Hand trug. Die Spitze glühte weiß, und ein bläulicher Rauchfaden stieg davon auf. Tersias sah die Hand, die den Feuerhaken hielt, sah die langen, schmutzigen Krallenfinger mit den schwarzen Nägeln. »Ich habe eine Überraschung für dich, Tersias. Bist du sicher, dass du nicht mehr für mich weissagen willst?«, fragte Malachi beim Näherkommen. »Wenn du nicht mehr für mich redest, wirst du bald nicht nur blind, sondern auch stumm sein…« »Mit einem Feuerhaken wollt Ihr mich zum Schweigen bringen?« Tersias erhob sich und trat einen Schritt zurück. »Du hast richtig geraten. Als Bettler bist du zu nichts nütze, doch als Prophet und Seher bist du einzigartig. Weissage für mich, und dein Leben wird sich ändern. Du wirst einen goldenen Käfig und seidene Tücher erhalten. Ich werde allen sagen, dass du mein Adoptivsohn bist. Ich werde dich in die Zauberkunst einführen, und die Geheimnisse der Welt werden sich dir erschließen.« »Und ich werde wie ein Tanzbär auf dem Markt meine Vorstellung geben?«, fragte Tersias, der vor seinem geistigen Auge sah, wie sein Herr immer näher kam.
»Du wirst Erstaunen und Verwunderung auslösen, ich werde dein Vormund sein und du mein Mündel.« Damit hob Malachi den Feuerhaken, steckte ihn durch die Stäbe und richtete ihn auf Tersias, der sich auf der gegenüberliegenden Käfigseite an die Gitterstäbe presste. Langsam, Zentimeter um Zentimeter schob Malachi den glühenden Feuerhaken näher heran. Tersias wandte das Gesicht ab. »Spürst du die Hitze, Tersias? Du brauchst nur Ja zu sagen, dann hast du nichts zu fürchten. Wir können unsere Freundschaft besiegeln, so einseitig sie auch sein mag«, rief er. »Es ist besser, ein geschwätziger Freund zu sein als ein stummer Feind. BLIND UND STUMM!« »Ich werde nicht weissagen!«, rief Tersias, als der rauchende Feuerhaken näher kam. »Dann bist du entweder tapfer oder dumm. Sei mein Orakel, und die Gabe des Sprechens bleibt dir erhalten. Weigere dich, und ich werde dir deine Zunge an den Gaumen brennen.« Malachi schob den Feuerhaken noch ein Stück näher. »Sag Ja, Junge«, drängte die Teufelsbrut leise. »Sonst bringt er dich um.« »Gut, ich werde für Euch weissagen«, erklärte Tersias widerstrebend. Er presste sich an die Gitterstäbe und keuchte, als er die Hitze des Feuerhakens an seiner Haut spürte. »Ein weiser Entschluss.« Malachi zog den Feuerhaken zurück. »Morgen gehen wir wieder auf die Straße, und du wirst zu den Leuten sprechen. Sie sind nur knapp der Katastrophe entronnen und werden wissen wollen, wie es weitergehen soll. Ich werde einen Wagen für dich herrichten, der eines Königs würdig ist, und das beste Pferd Londons wird dich ziehen.«
2. Der Brunnen der Schwarzen Maria Der breite Weg, der die Verlängerung der Rag Street bildete und durch die Felder von Conduit führte, war im hellen Mondlicht von einem silbrig leuchtenden Band gesäumt, in dem sich die Äste der niedrigen, verkrüppelten Bäume schwarz gegen den Himmel abhoben. Jonah Ketch lag zusammengerollt auf einem zerfledderten Ballen Sommerstroh neben einem Steinmäuerchen, dessen Rund eine sprudelnde Quelle fasste. In den Händen hielt er einen Ginkrug, den er in die Zipfel seines schmutzigen Hemdes gewickelt und über Nacht an seinem mageren Körper gewärmt hatte. Er stöhnte, als die Kälte durch seinen Gehrock und die Hose drang, und fuhr sich trübselig durch die dichten schwarzen Locken. In seinem Gürtel steckte eine verrostete Pistole. Sie drückte gegen ein langes Messer, das aus seiner ledernen Scheide gerutscht war. John ächzte bei jedem Atemzug und versuchte, die Augen zu öffnen, um in den Himmel und zu dem Kometen hinaufzuschauen, vor dem er geflohen war. Doch der Schlaf hatte ihn fest im Griff und zwang ihn, weiterzuträumen und seine Vergangenheit wie eine Folter noch einmal zu durchleben. Jonah war aus seiner Unterkunft in der Gänsegasse geflohen, als die ersten Meteoriten niedergegangen waren. In Panik hatte er beobachtet, wie ein Feuerball in die Kuppel der St.Pauls-Kathedrale einschlug, dann war er weitergerannt durch den Dreck von Fleet Market. Die Straßen waren voll gewesen von Menschen auf der Flucht vor der Apokalypse, als ein Hagel heißer blutroter Himmelssteine auf die Stadt niederging. Während Jonah durch Saffron Hill rannte, sah er, wie ein
Mann von einem glühenden Gesteinsbrocken in der Mitte auseinandergerissen wurde. Wie ein Racheengel war der Meteorit vom Himmel gestürzt. Schwarzer Schwefeldampf war aufgestiegen, als er durch sein Opfer fuhr und anschließend in die Mauer von Bullhead Yard. Jonah war noch schneller gerannt. Er hatte den Ginkrug an sich gepresst, als er durch die schmalen Gassen von Clerkenwell Green lief und dann hinaus aufs freie Feld. Dort wurde er von den jämmerlichen Schreien der hysterischen Insassen des Irrenhauses von Lord Cobham begrüßt, der ebenfalls geflohen war, seine Schützlinge aber eingeschlossen und sich selbst überlassen hatte. In der Ferne hatte Jonah schon die steinerne Einfassung des Brunnens der Schwarzen Maria erkannt. Die letzte Meile hatte er zusammen mit Hunderten von Menschen zurückgelegt, die nach Norden strömten, Richtung Islington und Hampstead, wo das Feuer am dunklen Horizont leuchtete. Beim Brunnen hatte er beschlossen, Rast zu machen und seine Füße auszuruhen. Dabei hatte er so lange an dem dickwandigen Krug genuckelt, bis die betäubende Wärme des Gins ihm geholfen hatte einzuschlafen. Er kannte den Ort gut, an dem zwei von dichtem Ginstergestrüpp gesäumte Wege sich kreuzten. Es war die ideale Stelle, um sich auf die Lauer zu legen. Die Abenddämmerung bot gute Deckung. Hier konnte er geduldig ausharren, bis ein einsamer Wanderer oder ein müder Kutscher vorbeikam, der sich, nachdem er den Stadtrand erreicht hatte, in trügerischer Sicherheit wiegte. In den fünfzehn Jahren seines Lebens hatte Jonah bereits einen Mann auf dem Gewissen, auch wenn es eher ein Unfall gewesen war als Mord. Die alte Pistole, die er bei sich trug, hatte fast ohne sein Zutun Blei in den Bauch eines fetten Mannes mit falschen Zähnen gepumpt. Der Mann war auf ihn zugekommen, Jonah hatte die Pistole aus dem Hosenbund gezogen, und als er dem Dicken zurief, er solle stehen bleiben, war ein blendend heller Blitz aufgezuckt. Fassungslos hatte er ge-
sehen, wie die Kugel in den Mann gefahren und dieser zusammengebrochen war. Mit aufgerissenem Bauch hatte er dagelegen wie ein Wal an der Küste vor Whitby. Jonah hatte sich im Dämmerlicht nach allen Seiten umgeschaut, aber niemanden gesehen. Da hatte er gewusst, dass er Zeit hatte, dem Mann die Taschen zu leeren, und war ohne Angst oder Panik drei Schritte auf ihn zugegangen. Er hatte ihm in die weit aufgerissenen Augen geschaut, bevor er schnell seine Kleider durchsucht und ihn um eine Taschenuhr und eine lederne Geldbörse erleichtert hatte. Die Straßen Londons hatten ihm bisher seinen Lebensunterhalt gesichert. Er war ein Wegelagerer, der nur in die eigene Tasche arbeitete. Ein gemeiner Räuber und Dieb, der die einzige Arbeit tat, für die er taugte, und der sich von niemandem etwas sagen ließ. Er träumte davon, ein richtiger Straßenräuber zu sein, sich auf den großen Verbindungsstraßen frei bewegen und bis Lincoln oder York reiten zu können und nicht auf die Gassen von London angewiesen zu sein. Der Brunnen der Schwarzen Maria war ein heiliger Ort für ihn. Sein Wasser ließ die Pocken verschwinden, heilte Fieber und spülte die Gicht aus. Jetzt betete er im Halbschlaf zu der Schwarzen Maria, sie möge den fahlen Gingeschmack aus seinem Mund nehmen und ihm auf die Beine helfen. Doch als er die Augen öffnete, wusste er, dass sie ihn nicht erhört hatte. Die Nachwirkungen des Gins zerrissen ihm fast den Schädel, und seine Augen fühlten sich geschwollen an, so als wollten sie ihm gleich aus dem Kopf fallen. Jetzt, wo er aus seinem tiefen Schlaf erwacht war, schien hinter seinen Augäpfeln ein helles Feuer zu lodern. Er zog die kalte Nachtluft tief in seine Lungen, als er so auf dem Rücken im Stroh lag und in den klaren Himmel hinaufschaute. Der Komet war verschwunden. Stattdessen rieselte glutheißer Staub wie Myriaden winziger Sterne auf die Erde. Die Sterne explodierten und sandten rote, grüne und violette Flämmchen aus. Jonah erschienen sie wie Millionen kleiner Kerzen, die am Horizont prusteten und zischten. Er lächelte.
Er lebte. Wie alle Londoner hatte auch Jonah geglaubt, das Erscheinen des Kometen sei der Beginn der Apokalypse, das Ende der Welt und das Jüngste Gericht. Er wusste, dass es vieles gab, wofür er sich verantworten musste. Er hatte Schuld der schlimmsten Sorte auf seine Schultern geladen, sündigte praktisch jeden Augenblick seines Lebens. Bis jetzt war er jeglicher Strafe für seine Verbrechen entgangen, doch am Ende der Zeit würde er einer Macht Rede und Antwort stehen müssen, der niemand entkommen konnte, selbst er nicht, dessen war er sich bewusst. Jonah setzte sich auf, wickelte den Ginkrug aus seinen Hemdzipfeln und schüttelte ihn. Er war leer. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, ausgetrocknet von den bitteren Wacholderbeeren. Er schaute sich nach allen Seiten um, bevor er zum Brunnen kroch und das Gesicht in das kalte Wasser tauchte. Es brannte auf der Haut, sandte feurige Stöße durch jede einzelne Nervenzelle und ließ ihn bis ins Mark erschauern. Er fuhr sich mit den Händen über das nasse Gesicht und lauschte. Irgendwo in der Ferne hörte er ein vertrautes Geräusch: Durch die frische Nachtluft drang das Knirschen von Wagenrädern. Ein klappriger Wagen kam, gezogen von zwei Pferden, den Weg herunter. Die Metallbänder um die Felgen klackten über Steine und wühlten sich in aufgeweichte Spurrillen. Eine Kutsche näherte sich – ein Gentleman, ein Adliger, eine noble Dame, ein Pilger auf dem Weg zum Brunnen, ein Geistlicher vom Hof mit einem goldenen Kreuz oder einem Bischofsring… alles Opfer, denen Jonah Stolz und Börse nehmen konnte. In seinem Kopf arbeitete es. Er spürte, wie ihm das Herz schwoll und es ihn drängte, von den Reichen zu nehmen, und was er nahm, für sich zu behalten. Es war ein überwältigendes Verlangen, eine innere Macht, der er nicht widerstehen konnte. Lächelnd kontrollierte er die Pistole. Ein Klick und sie war bereit. Mit einer Hand schöpfte er etwas Wasser aus dem Brunnen und trank. »Bring mir Glück, Schwarze Maria, und ich werde dich nie
vergessen!«, flüsterte er leise und schlich zum Weg, während die Kutsche ratternd näherkam. Er küsste die Pistole. »Es ist so weit, mein Freund. Es ist so weit.« Er sprach die Worte wie ein Gebet. »Lass mich nicht im Stich. Niemals…« Jonah griff in die Brusttasche seines Gehrocks. Der Mehlsack mit den ausgeschnittenen Augenschlitzen und dem mit Kohle aufgemalten Lächeln war rasch gefunden. Er stülpte ihn über und spähte durch die Sehschlitze in die Nacht. Vor dem roten Hintergrund des Feuers, das in Hampstead wütete, sah er die Kutsche kommen. Auf dem Bock saß nur der Kutscher, kein Musketier und kein Lakai, und zwei dicke Pferde zogen den Einachser mit zugeklapptem Verdeck. Eine Frau, dachte er, während er sich durch den Ginster zwängte, der an seinem Gehrock zerrte. Er wartete… Vor Anspannung zog er die Stirn in Falten, und sein Magen krampfte sich zusammen. Mit einem Schlag war das Ginfieber vorbei, und sein Herz begann wild zu hämmern, als er mit einer Hand den Rand des Mehlsacks am Hals zusammenhielt und sich seine Finger immer fester in den Stoff krallten. Wie er es liebte! Das Warten auf den richtigen Augenblick, darauf, dass er aus der Deckung springen und sich nehmen konnte, was von Rechts wegen ohnehin ihm gehörte. Jonah sah den Umriss des Kutschers. Es war ein kleiner, magerer Mann, der sich den Hut über die Ohren gezogen und sich gegen die Kälte fest in seinen Umhang gewickelt hatte. Als die Kutsche fast auf gleicher Höhe mit ihm war, machte Jonah sich zum Sprung bereit. In seiner Hast schlitterte er die Böschung hinunter und landete auf dem Weg im Dreck. Er rappelt sich auf. »Stillgestanden! Euer Geld oder Blei. Gebt mir, was Ihr habt, sonst zähl ich auf… drei!« Eines der Pferde scheute, riss die Kutsche zur Seite und zog sie in den Graben. Die Räder versanken im Schlamm. Der Kutscher fiel vom Bock und verschwand in der Dunkelheit. Jonah ging mit großen Schritten auf die Kutsche zu, die Pistole auf die Tür mit dem kleinen Fenster gerichtet, die aufgesprungen war.
Er hielt den Atem an, und seine Augen suchten in der Dunkelheit nach dem Kutscher. »Kommt heraus!«, rief er in die Kutsche hinein, während er noch überlegte, wo der Mann sich versteckt haben könnte. Er probierte es mit einer List. »Es hat keinen Zweck, dass du dich im Kuhfutter verbirgst, ich sehe deine Augen!« Er redete schnell, die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Doch es funktionierte, der Kutscher kroch unter der Kutsche hervor. »Lass meinen Herrn in Ruhe«, sagte er. Er hatte noch die Peitsche in der Hand, als er sich aufrichtete und die Maske mit dem Kohlelächeln anstarrte. »Du machst einen Fehler, wenn du uns ausraubst. Man wird dich bis ans Ende der Welt verfolgen. Lord Malpas wird nicht eher ruhen, bis du für das, was du hier tust, am Galgen baumelst.« »Er wird mich auch hängen lassen, wenn ich es nicht tue. Aus dem Weg, mein Freund, ich bin ein Straßenräuber mit Stil.« Jonah richtete die Pistole auf den Kopf des Mannes. »Dreh dich zur Kutsche um, und du wirst nichts sehen. Stell keine Fragen, und erzähl keine Lügen. Und jetzt dreh dich um, oder schluck Blei.« »Du bist ein Wegelagerer und gemeiner Dieb! Nichts als ein dummer Junge mit einem Schießeisen, der vor Kurzem noch am Rockzipfel seiner Mutter hing. Du machst die Straßen in den fleckigen Hosen eines Gehängten unsicher. Besorge dir erst einmal ein Pferd, wenn du ein Straßenräuber sein willst.« Fluchend drehte sich der Kutscher zu dem Wagen um, legte die Hand aufs Rad und schaute zu Boden. Ohne Vorwarnung packte Jonah die Pistole am Lauf und zog dem Mann den Kolben mit aller Kraft über den Kopf. »Dreh einem Fremden nie den Rücken zu«, sagte er ruhig, als der Mann zu Boden ging. »Ich bin ein Straßenräuber und kein gewöhnlicher Dieb.« In dem Moment hörte Jonah, wie sich in der Kutsche zwei Männer aufgeregt unterhielten. Sie sprachen in gedämpftem Ton, nur wenig lauter als ein Flüstern. Jonah wartete. Im Schein der Kutschlampe sah er, wie ein Mann im Innern sich
zu dem dunklen Schatten auf der gegenüberliegenden Bank hinüberbeugte. Die Unterhaltung lief weiter, als ob nichts in der Welt dem eindringlichen Gespräch Einhalt gebieten könnte. Dann wurde die Lampe gelöscht, und in der Kutsche war es dunkel. »Kommt heraus! Und keine Tricks! Ich habe für jeden von Euch eine Pistole schussbereit!« In Jonahs Stimme schwang Angst mit. Es kam keine Antwort, doch die Unterhaltung hörte abrupt auf, und eine gespenstische Stille trat ein. Jonah wartete einen Augenblick, dann rief er: »Ich sage es noch einmal: Kommt heraus, oder ich drücke ab, und Ihr macht Bekanntschaft mit dem Blei.« »Du kannst abdrücken, so viel du willst, Junge, der Strang wird dir trotzdem den Hals lang ziehen wie allen anderen auch. Ich lasse dich vierteilen und dein Herz teeren und auf einer Stange auf dem Richtplatz von St. Giles zur Schau stellen. Das wird der Welt zeigen, was mit Dieben passiert, die einen Minister auf dem Weg zum Parlament aufhalten.« Die Worte prasselten in atemloser Geschwindigkeit auf Jonah herab. »Und wenn du mich zwingst, aus meiner Kutsche auszusteigen, werde ich dich höchstpersönlich über die Felder von Conduit jagen und deinen Hintern bis Tyburn mit der Peitsche bearbeiten. Hast du mich verstanden, Junge?«, bellte die Stimme aus der dunklen Kutsche heraus. »Steigt aus und steht still. Mich kümmert nicht, wer Ihr seid, noch welcher Macht Ihr dient«, erwiderte John und drückte den Finger an das kalte Metall des Abzugs. »Mir hat niemand etwas zu sagen außer ich selbst, und mir werdet Ihr gehorchen müssen.« Er trat einen Schritt von der Tür zurück, die Pistole schussbereit. Rasch schaute er den Weg hinauf und lauschte, ob sich womöglich noch eine Kutsche näherte. Doch nichts war zu hören. Es war, als sei die ganze Welt ein Vakuum und alles Leben von der Erde verschwunden. Der Kutscher lag im Gras, die Arme von sich gestreckt. Sein keuchender Atem ließ Nebelengel aus seiner Nase aufsteigen. »Dies ist Eure letzte Chance«, rief Jonah mit vorgehaltener
Pistole. »Steigt aus, und lasst mich Eure Gesichter sehen.« Die Kutsche schaukelte sacht, als ein Mann in die Nacht trat. Er trug einen langen französischen Gehrock, und über seine Hände fielen weiße Rüschen, unter denen er den schmalen goldenen Ring zu verbergen suchte, welchen er am linken Daumen trug. Jonah starrte in die kohlschwarzen Augen seines Opfers. Der Mann war klein und hager, er hatte eingefallene Wangen und dichte, buschige Augenbrauen. Die kräftige Stimme passte nicht zu seiner Statur. »Sagt Eurem Begleiter, er soll ebenfalls aussteigen«, befahl Jonah. Nervös schaute er sich um. Er fürchtete, die Miliz könne nicht weit sein. »Ich bin allein unterwegs«, erwiderte der Mann barsch, wobei er Jonah anschaute. »Ich nehme an, dass du auf das hier aus bist.« Damit hielt er ihm eine kleine, lederne Börse hin. »Ich habe Euch mit jemandem reden hören und seinen Schatten in der Kutsche gesehen. Sagt ihm, er soll herauskommen.« »Da ist niemand, deine Augen täuschen dich. Ich reise allein. Ich reise immer allein. Und jetzt nimm das Geld, und sieh zu, dass du zu Land gewinnst.« »Ich will Euer falsches Geld nicht. In einer Börse habt Ihr Euer Gold und in der anderen angemalte Bleigewichte. Meint Ihr, ich wüsste das nicht? Haltet Ihr mich für so dumm? Ihr Reichen seid doch alle gleich, tragt zwei Börsen bei Euch aus Angst vor Räubern, und wollt Euer Gold nicht aus den Händen geben. Und jetzt sagt Eurem Begleiter, er soll aussteigen.«Jonah richtete die Pistole auf Malpas’ Kopf. »Ich meine es ernst. Er soll herauskommen.« »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich allein reise?« »Ich habe Euch reden hören, habe den Schatten gesehen.« »Dann sieh doch selber nach. Durchsuche die Kutsche, du wirst niemanden finden. Was du gehört hast, war der Wind in deinem hohlen Schädel.« Lord Malpas klopfte sich den weißen Staub, der vom Himmel fiel, von seinem Rock. »Und sobald ich die Kutsche durchsuche, macht Ihr Euch
blökend aus dem Staub wie ein Januarlamm. Zuerst die Börse. Werft sie auf den Boden.« Malpas warf die Börse auf den Boden und verschränkte bedächtig die Arme vor der Brust, während er sich gelassen umschaute. »Und jetzt die andere. Die mit dem richtigen Geld darin.« »Du machst das nicht zum ersten Mal, Junge, was? Dann werden alle zu deiner Hinrichtung kommen, die du in deinen jungen Jahren schon ausgenommen hast. Was für eine Verschwendung! Einen so talentierten Burschen wie dich könnte ich immer gebrauchen.« Langsam zog Malpas eine dicke Börse aus seinem Hosenbund und warf sie auf die Erde. »Und jetzt sagt Eurem Freund, er soll aus seinem Loch kommen und sich zeigen«, verlangte Jonah hartnäckig, während er einen Schritt auf Lord Malpas zu machte. »Geht das nicht in deinen Schädel? Ich bin allein!«, rief Malpas frustriert. Seine Stimme musste weithin zu hören sein. Jonah trat noch näher und hielt ihm die Pistole an die Schläfe. »Still! Das Gesicht auf den Boden, Mylord, dann werde ich nachsehen, ob Ihr die Wahrheit sagt.« »Und mir von hinten in den Kopf schießen?« »Ich kann Euch auch seitlich in den Kopf schießen, wenn Ihr nicht tut, was ich sage«, brüllte Jonah und drückte die Pistole fester gegen die Schläfe des Mannes. Malpas ließ sich auf die Knie fallen und drückte das Gesicht in die weiche Erde. Jonah Ketch schlich sich zur Wagentür, wobei er ein Auge auf die zusammengekrümmte Gestalt von Lord Malpas gerichtet hielt, der in den Dreck der Highgate Road schnaufte. »Zum letzten Mal«, sagte er, »kommt heraus, oder ich schieße.« »Da ist niemand, Dummkopf«, murmelte Malpas, den Mund voller Straßenstaub. »Und was da drin ist, ist nichts für Leute wie dich.« »Dann schaue ich jetzt nach«, erwiderte Jonah, wirbelte auf dem Absatz herum und zielte mit der Pistole in das dunkle Innere der Kutsche. Etliche schwarze Augenblicke lang versuch-
te er, etwas zu erkennen. Sein Instinkt sagte ihm, dass jemand in der Nähe war. Es war, als könnte er die finstere Gegenwart eines weiteren Lebewesens spüren. Doch so angestrengt er auch in jede Ecke schaute, in der Kutsche war niemand. Nur ein schmales schwarzes Kästchen lag auf dem roten Sitz. Im Licht des Mondes erkannte er deutlich den goldenen Verschluss, der die beiden Hälften zusammenhielt. Das marmorierte Leder, mit dem das Kästchen überzogen war, glänzte wie der Rücken einer platt gedrückten Schlange. Der Elfenbeingriff hob sich leuchtend weiß von der schwarzen Ummantelung ab. Jonah war versucht, sich das Kästchen zu schnappen und in die Nacht hinauszurennen, doch während er die Hand danach ausstreckte, überkam ihn eine unerklärliche Angst. Wie in einem Albtraum tauchten mehrere lange, rote Zungen vor seinem geistigen Auge auf. Als er nach dem Elfenbeingriff langte, wiederholte eine fremde, tiefe Stimme wieder und wieder: »RÜHR… MICH… NICHT… AN!« »Was ist in dem Kästchen?«, erkundigte sich Jonah misstrauisch bei Lord Malpass. »Nichts für dich, Junge. Nur Papiere. Und jetzt nimm das Geld und verschwinde. Es gibt nichts mehr zu holen.« »Für Papiere ist die Kassette viel zu edel. Etwas sagt mir, dass mehr darin ist.« Jonah drehte sich erneut zu der Kutsche um. »Es bringt dir nur Unglück, Junge. Nimm das Kästchen, und du hast mehr zu fürchten als nur den Galgen«, warnte Malpas. Langsam stand er auf, ließ die Hand hinten in seinen Gehrock gleiten und näherte sich Jonah leise, Schritt für Schritt. Plötzlich blitzte Stahl auf. Malpas stürzte sich auf Jonah und stieß ihm eine lange, schmale Klinge tief in den Arm. Jonah schrie auf und keuchte vor Schmerz. Dann holte er mit der Pistole aus und schlug nach Malpas, und das so kräftig, dass diesem das Pistolenschloss die Wange aufriss. Malpas sackte in sich zusammen. Eine Hand presste er auf
die Wunde, und mit der anderen versuchte er, sich das Blut aus den Augen zu wischen. Jonah schlug und trat noch mehrmals nach ihm, während der Schmerz der Stichwunde begann, durch seinen Körper zu pulsieren. Irgendwann hielt er inne und schaute auf Malpas hinunter. Dieser lag bäuchlings vor ihm auf der Straße, die Strähnen seines langen, rabenschwarzen Haares um seinen Kopf herum ausgebreitet wie dicke Zweige im Schlamm. Er gab keinerlei Geräusch von sich. Die blutverschmierten Hände klammerten sich an das verdorrte Gras neben den Fahrrinnen. Jonah packte den pechschwarzen Griff des Messers und versuchte, es aus seinem Arm zu ziehen, doch es grub sich nur noch tiefer in sein Fleisch, so als wollte es ganz darin verschwinden. Zu seinen Füßen lagen die beiden Börsen. Rasch hob er sie auf und steckte sie in seine Rocktasche. Dann hielt er inne und lauschte. Er war sich nicht sicher, ob er in der Ferne Pferdegetrappel gehört hatte. Schnell beugte er sich in die Kutsche, packte den Elfenbeingriff der schwarzen Kassette und hob sie heraus. Er drehte sich um, kletterte den mit Ginster überwucherten Abhang hinauf und über die steinerne Einfassung zur Quelle. Dort blieb er stehen, stellte die Kassette auf einen großen Stein und badete aus einem Instinkt heraus seinen Arm mit dem Messer darin im Wasser der Schwarzen Maria. Die Kälte, die an der polierten Stahlklinge entlanglief, ließ ihm fast das Blut in den Adern gefrieren. Wieder versuchte er, die Klinge aus der Wunde zu ziehen, und wieder grub sie sich nur tiefer in sein Fleisch. Und als er noch gegen den Schmerz kämpfte, der durch jeden einzelnen Nerv schoss, hörte er erneut die Stimme: »RÜHR… MICH… NICHT… AN!« Die Stimme vermittelte den Eindruck, als käme sie von überallher und spräche zur gleichen Zeit aus seinem Inneren heraus. Die Haare standen ihm zu Berge. Eiskalt lief es ihm über den Rücken, und seine Füße wurden schwer wie Blei. Es war jene angsterfüllende Stimme aus seiner Kindheit, die in
dunklen Ecken und unter seinem Bett gelauert hatte. Er packte die Kassette und versuchte wegzulaufen, musste sich jedoch zu jedem Schritt, den er über die Felder von Conduit in Richtung Stadt machte, zwingen.
3. � Das Wirtshaus zum »Bull and Mouth« �
Das Geräusch leiser Schritte verfolgte Jonah wie ein dunkler Schatten, als er geschwächt den Bloomsbury Square überquerte und in die Hart Street einbog. Ein letzter Rest von Flüchtlingen kauerte auf den Stufen der St.-Pauls-Kathedrale wie ein Schwarm kreischender Raben, der sich um den Unrat balgt. Jonah blieb stehen und schaute zurück. Er war überzeugt, dass die Miliz ihm dicht auf den Fersen war, dass Lord Malpas irgendwie Alarm geschlagen und die Truppen in Bewegung gesetzt hatte. Er rieb sich mit einer blutverschmierten Hand die Augen und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, bevor er keuchend weiterlief. Das Messer pochte und brannte in seinem Fleisch und arbeitete sich langsam immer tiefer hinein, sodass der schwarze Schaft bereits den Stoff seines Rocks fest an die Haut presste. Da die silberne Klingenspitze bei jedem Schritt seine Brust streifte, hielt er den blutenden Arm jetzt vom Körper weg. Vor lauter Schmerzen konnte er schon nicht mehr klar denken. Als er zufällig Richtung Norden blickte, bemerkte er etwas, das der Gestalt nach aussah wie ein großer Hund, der an der Umzäunung von Bedford House auf der Straße herumschnüffelte. Im hellen Schein des Mondes sah Jonah ihn auf und ab schleichen und seine Schnauze in Laubhaufen vergraben. Das Tier nahm eine Spur auf, stellte sich auf die Hinterbeine, schüttelte sich und kam über den Platz auf ihn zu. Jonah trat in den Schatten und beobachtete überrascht, wie die Gestalt auf zwei Beinen näher kam. Sie blieb alle paar Me-
ter stehen, schnupperte in die Luft, zuerst Richtung Süden, dann Richtung Norden, und ging langsam zwischen den Bäumen hindurch, vorbei an den Schafen, die eilig aus dem Weg hoppelten. Jonah wusste jetzt, dass er verfolgt wurde. Er trat aus dem Schatten heraus und schleppte sich weiter die Straße hinunter. Überall waren Spuren des Himmelsbebens zu sehen: umgestürzte Stände auf dem Marktplatz und leere Karren mit gesplitterten Rädern und gebrochenen Achsen in den Straßen. Das Wirtshausschild des »Bull and Mouth« schwang leise quietschend im Wind hin und her. Jonah ging schneller, drehte sich jedoch alle paar Schritte um und schaute nach, ob ihm noch jemand folgte. Weit hinten sah er das Wesen, jetzt wieder auf allen vieren und das Gesicht am Boden, um eine Stallecke kommen. Jonah duckte sich rasch in den Eingang einer Bäckerei. Von dort sah er, wie die Gestalt sich kurz aufrichtete, dann erneut niederbeugte und mit einer Hand den Boden abtastete, als könne sie die Wärme seiner Schritte spüren. Plötzlich flog die Tür zum »Bull and Mouth« mit lautem Getöse auf. Jonah drehte sich um und sah einen Mann mit ausgestreckten Armen auf sich zukommen. Der Fremde wankte und wollte sich auf ihn stürzen. Sein großflächiges Gesicht mitsamt dem Schnurrbart war mit weißem Schaum bedeckt. Ohne nachzudenken, sprang Jonah auf und stieß den Mann mit aller Kraft Richtung Schaufenster. Er selbst machte einen Satz zur Seite und stürmte auf die Wirtshaustür zu. Er hörte noch das Splittern von Glas, als der Mann in die Scheibe stolperte. Jonah warf die Wirtshaustür hinter sich zu und legte den kurzen Balken in seine Halterung, damit sie von außen nicht mehr geöffnet werden konnte. Umständlich zog er seinen Rock aus und hängte ihn sich über die Schulter, um das Messer zu verbergen. Gleichzeitig versuchte er, sich an dem Stoff die blutigen Finger abzuwischen. Dann erst drehte er sich um. Er wusste nicht, wer in der Wirtsstube war und wie man ihn empfangen würde. Auf dem Kaminsims flackerten mehrere Kerzen. Hinten in
der Ecke war ein alter Mann mit dem Gesicht in seinen leeren Teller gefallen. Sein langer grauer Bart saugte die Reste eines umgeschütteten Bieres auf. Das Feuer im Kamin glühte noch. Drei magere Ratten huschten an der Fußleiste entlang und verschwanden in Schmutz und Dunkelheit. Der Boden war klebrig, nur an manchen Stellen waren etwas frische Hobelspäne gestreut worden, um die Feuchtigkeit aufzusaugen. Über allem lag der Gestank von Tabak und abgestandenem Bier. Die Wärme nahm Jonah etwas von seinen Sorgen und Schmerzen. Die Wirtsstube verströmte eine schläfrige Atmosphäre – es war der friedliche Schlaf des Betrunkenen, den Jonah so gut kannte. Er stand ganz still und lauschte auf das Schnarchen des alten Mannes. Dessen Atem kam tief aus dem Bauch und wurde über den Zinnteller geblasen. Als Jonahs Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah er unter dem Tisch beim Kamin auf einem Bett aus frischen Hobelspänen Maggot liegen, zusammengekrümmt wie eine magere Maus. Der Junge hatte das Gesicht mit einem alten Tuch bedeckt, die Hände um den Kopf gelegt und die Knie bis zum Kinn hochgezogen. Er war klein für sein Alter; jahrelange Entbehrungen hatten das Wachstum verzögert. Aus seinem wettergegerbten Gesicht blickten zwei kluge Augen, die genug Elend für dreimal seine elf Jahre gesehen hatten. Er schlief unruhig, am Rücken warm und vorne kalt, und merkte nicht, dass er beobachtet wurde. Jonah ließ sich auf die Bank unter dem Fenster sinken, stellte die Kassette vorsichtig neben sich und schob langsam den Vorhang zurück, damit er auf die Straße schauen konnte. Drüben bei den zusammengebrochenen Marktständen sah er den Hundemann. Er hielt sich im Schatten und kam vorsichtig näher. Jonah zog die Pistole aus dem Gürtel und löste den Abzugshahn. Der Mann ließ sich wieder auf alle viere nieder und schnupperte am Boden, hob ein Stück Erde auf und ließ die Spitze seiner langen blauen Zunge darübergleiten. Ein plötzlicher, heftiger Schmerz durchzuckte Jonah, und sein Verstand setzte wieder ein. »Wach auf, Maggot, du alte
Dreckschleuder«, sagte er leise, »sonst mach ich dir mit meinem Messer Beine.« Jonah schaute auf seinen Gürtel – das Messer war weg, er musste es auf der Flucht verloren haben. Maggot regte sich. »Nenn mich bei meinem richtigen Namen«, nuschelte er. Er wusste nicht, ob er wachte oder träumte. »Nie nennst du mich bei meinem richtigen Namen.« »Für eine Made gibt’s keinen anderen Namen. Und jetzt wach auf, und verriegle sämtliche Türen, und lass niemanden rein, egal, was passiert.« Maggot kroch aus seinem Nest und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann schaute er sich um und sah den alten Mann, der am Tisch zusammengesunken war. »Der alte Bunz wird heute ziemlich traurig sein, Jonah. Er dachte, die Welt geht unter, und hat alles, was er an Gin und Bier im Haus hatte, ausgeschenkt. Als Besitzer einer Schnapsspelunke würde er ohnehin nie in den Himmel kommen, hat er gesagt.« Der alte Mann tat einen besonders lauten Schnarcher. »Wenn er aufwacht, hat er einen Ginschädel und ist sicher fuchsteufelswild. Er hat dich einen Feigling genannt, weil du weggelaufen bist. Er meinte, du wärst bestimmt gegangen, um den Puff zu plündern und eine schnelle Guinea zu machen.« »Wenn du die Tür dort nicht verriegelst, wird gleich das Haus hier geplündert«, unterbrach ihn Jonah. »Warum machst du es nicht selbst?«, rief Maggot so laut, dass er über seine eigene Stimme erschrak. »Ist der Teufel hinter dir her?« »Eher ein Verrückter aus dem Irrenhaus. Die ganze letzte Meile ist er mir gefolgt wie ein Hund. Er hat auf allen vieren herumgeschnüffelt wie ein Bluthund. Und wenn er hier reinkommt, frisst er dich, Maggot.« Der Junge lief zur Tür und schob rasch die dicken Riegel in die schmierigen Halterungen. Der alte Bunz hob den Kopf vom Teller und strich sich verschlafen über den schmutzigen Bart. Langsam öffnete er die mit Warzen bedeckten Lider und sah sich in der Wirtsstube um. Er gähnte und war, ohne ein Wort gesagt zu haben, wieder eingeschlafen.
»Wie viel hat er getrunken?«, erkundigte sich Jonah, während er durch einen Spalt im Vorhang auf die Straße spähte. »Fast fünf Liter Bier und eine Flasche Gin, dann hat er ein ganzes Glas eingelegte Eier gegessen und sämtliche Reste aus sämtlichen Krügen auf den Tischen in sich hineingekippt.« Maggot gestikulierte mit den Händen und tat so, als torkle er betrunken durch die Stube. »Es hätte gereicht, einen Mann, der nur halb so alt ist wie er, umzubringen.« Er blieb stehen und schaute Jonah an, und erst jetzt sah er den Messergriff, der unter dem Rock aus seinem Arm ragte. »Dann hat es dich also erwischt?« »Ein Zufallstreffer – von hinten«, erwiderte Jonah und verzog das Gesicht vor Schmerzen. »Und er ist noch hinter dir her?« »Er nicht. Etwas oder ein anderer. Der Erste lag, als ich ging, mit dem Gesicht nach unten in Conduit im Dreck und hat geblubbert wie eine alte Kröte. Der andere hängt seit Bloomsbury Square an mir. Zuerst dachte ich, es sei ein Hund… Könnte einer von der Nachtwache sein, der später als sonst auf dem Rückweg zur Bow Street ist.« Jonah war nervös. Er war sich immer noch nicht sicher, wer oder was ihm eigentlich gefolgt war. Bisher hatte er sich noch nach jedem Überfall aus dem Staub machen können, war einfach mit der Nacht verschmolzen, doch etwas sagte ihm, dass dieser Verfolger irgendwie mit Lord Malpas in Verbindung stand und er ihn noch nicht wirklich abgeschüttelt hatte. »Hast du Maggot etwas mitgebracht?«, fragte der Junge hoffnungsvoll. Sein Blick hing an der herrlichen, mit Schlangenleder überzogenen Kassette. Jonah griff in seine Tasche und warf die beiden Geldbörsen auf den Boden. »Du kannst wählen – rechts oder links. In der einen ist Gold, in der anderen Blei.« Maggot stierte die beiden Beutel an und versuchte, das Leder mit Blicken zu durchdringen, um zu sehen, in welchem das Gold war. Er wartete auf ein Signal von Jonah. »Los, Maggot, entscheide dich. Du bekommst ein Drittel
von dem, was du wählst. Das zweite Drittel ist für mich und das dritte für Tara.« Da Jonah gerade an sie dachte, fügte er hinzu: »Geh und weck Tara auf. Sag ihr, mich hat’s erwischt. Ich halte derweil ein Auge auf den Wachhund. Und Maggot – nimm beide Beutel. Ich will nicht, dass du mich verpfeifst, wenn du mit leeren Händen gehst.« Jonah keuchte, und Schweißperlen rannen ihm über das schmerzverzerrte Gesicht. Maggot lief in seinen schweren Stiefeln durch die Küche zur Treppe, die zu den Zimmern über der Wirtsstube führte. Jonah lächelte selbstgefällig vor sich hin. Er dachte an den Tag, an dem er die Stiefel bei einer Hinrichtung in Tyburn geklaut hatte. Als der Mann fiel, war Jonah vorgeprescht und hatte sich an seine Beine gehängt, um die Arbeit des Strangs etwas zu beschleunigen. Man hatte ihm dafür einen nagelneuen Schilling gegeben. Während er die nassen, um sich tretenden Beine gepackt hielt, hatte er dem Gehängten langsam die feinen schwarzen Lederstiefel ausgezogen und nacheinander unter seinem Rock verschwinden lasen. Maggot hatte sie von diesem Tag an getragen. Er hatte die Kappe vorn mit Zeitungspapier ausgestopft und der Welt voller Stolz gezeigt, was für ein feiner Herr er doch war. An diesem Tag hatte Jonah zu den Sternen hinaufgeblickt und darum gebeten, Maggot möge nie am Strang enden, sondern als alter Mann mit der Erinnerung an viele schöne Sommer sterben. Draußen kam der Wachhund dem Wirtshaus immer näher. Jonah beobachtete ihn durch einen Spalt in der dicken, steifen Gardine. Von seinem Beobachtungsposten aus sah er auch den betrunkenen Landstreicher, der in den Scherben des zerbrochenen Schaufensters der Bäckerei schlief. Seine Beine hingen über den Fenstersims auf die Straße. Darunter hatte eine kleine Lache geronnenen Bluts das Pflaster dunkelrot gefärbt. Als Jonah Schritte auf der Treppe hörte, drehte er sich zur Küchentür um. Die flog auf, als fegte ein Oktobersturm durch das Haus. Jonah hatte Tara einen ganzen Tag lang nicht gesehen, doch das bittere Lächeln auf ihrem Gesicht verriet nichts über ihre Gefühle.
»Sie haben dich verletzt?«, fragte sie, als sie mit einem Bündel Stofffetzen und einem Topf dicker, grüner Nesselsalbe die Wirtsstube durchquerte. »Maggot sagt, mit einem Messer. Ein reicher oder ein armer Mann? Das Messer eines Reichen ist immer schärfer und sauberer und hinterlässt eine bessere Wunde. Vielleicht kriege ich deinen Arm wieder hin…« »Würde ich einen Armen ausrauben?«, fragte Jonah beleidigt. »Du würdest auch deine Mutter ausrauben, wenn du eine hättest, und…« »… Tara würde ihren Anteil am Diebesgut bekommen, wie immer«, vervollständigte er den Satz knapp. »Jedenfalls haben sie mich nicht geschnappt. Der Mann, den ich ausgeraubt habe, hat sich wie ein Feigling von hinten an mich rangeschlichen und zugestochen, nicht mehr und nicht weniger. Aber ich kann das Messer nicht herausziehen. Jedes Mal, wenn ich es versuche, bohrt es sich tiefer in meinen Arm.« Jonah spähte aus dem Fenster, drehte den Kopf aber schnell wieder zurück, da Tara den Messergriff gepackt hatte und die Haut um die Klinge herum mit Nesselsalbe einstrich. »Es wird wehtun… und du hast es nicht anders verdient«, sagte sie. Dann lächelte sie ihn an, bevor sie mit aller Kraft an dem Messer zog. Ein rasender Schmerz setzte Jonahs Arm unter Strom, fuhr durch seine Gesichtsmuskeln und ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor ihm schwarz vor Augen wurde und er in einer anderen Welt versank. Er spürte noch, wie die Klinge an Muskeln vorbeistrich, als sie langsam aus seinem Arm herausgezogen wurde. Die Dunkelheit um ihn herum wurde schwärzer und dichter. Er hörte nur noch leises Murmeln und roch Nesselsalbe, vermischt mit den Beeren des Weißdorn. Dann war die Dunkelheit vollkommen. Sie hüllte ihn ein wie ein Leichentuch, das immer enger um ihn gezogen wurde. Der Schmerz hatte nachgelassen, und Jonah merkte, dass er neben einem großen, warmen Felsen lag, der über ihm aufrag-
te wie eine schützende Hand. In der Ferne hörte er Tara immer wieder seinen Namen rufen. Vor seinem geistigen Auge sah er ihr rot gefärbtes Haar, das weiß gepuderte Gesicht und die Lippen, rot vom Saft der Roten Bete. Jonah schaute auf. Ihm war, als schwimme er vom Grund eines tiefen Sees ans Licht. Langsam öffnete er die Augen, gerade als jemand von außen heftig an der Türklinke rüttelte. »Geh nicht hin«, flüsterte er. »Es ist der Mann, der mir gefolgt ist.« Tara schaute Maggot an und legte den blutigen Zeigefinger auf die Lippen, damit er still war. Die drei saßen beim Schein des Feuers und warteten. Wieder wurde an der Tür gerüttelt. Der alte Bunz regte sich im Schlaf. Taras Blick wanderte von der Tür zum Fenster. Maggot stand lautlos auf, ging vier Schritte und schaute durch den Spalt im Vorhang hinaus. Der Wachhund schnüffelte an einem Blutstropfen, der auf die Schwelle gefallen war. Langsam tauchte er einen gekrümmten weißen Finger in das Blut, hielt ihn sich an die Nase und schnupperte noch einmal daran, bevor er das Blut ableckte, als sei es bester alter Burgunder. Maggot rührte sich nicht, als die roten Augen des Mannes jeden Zentimeter des Wirtshauses nach einer Möglichkeit absuchten hineinzugelangen. Dann plötzlich, als habe ihn jemand aus der Ferne gerufen, drehte er sich um und verschwand. »Er ist weg«, sagte Maggot leise, ging zum Kamin und legte ein trockenes Ulmenscheit auf. »Hab noch nie so was gesehen, und will’s auch nie wieder sehen.« Tara wischte die Messerklinge mit einem alten Lappen ab und drehte sie dann im Schein des Feuers hin und her. »Eine so scharfe Klinge ist mir noch nie untergekommen«, bemerkte sie und schaute sich die Gravierungen darauf an. »Dein Mann hatte einen guten Geschmack. Wer war er?« »Besser, du weißt es nicht. Er hatte etwas an sich, das war… nicht normal. Er war schnell wie der Teufel… und er hat in der Kutsche mit sich selbst gesprochen, als redete er mit einem anderen. Aber mit mir hat er sich den falschen Mann
ausgesucht. Einen wie Jonah Ketch bringt man nicht so schnell um.« »Hast du ›Mann‹ gesagt?« Tara musste fast lachen. »Du bist doch noch ein Junge, zwei Jahre jünger als ich, gerade mal 15.« »Du bist ein Mann, sobald dein Vater tot ist, egal wie alt du dann bist«, fauchte er zurück. »Dann wäre ja Maggot auch ein Mann, und er ist noch jünger als du«, erwiderte sie, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schüttelte die langen Strähnen über die Schultern. »Bald bist du wie der alte Bunz, hast ein Wirtshaus und betrinkst dich jeden Tag.« »Sobald die Wunde geheilt ist, verschwinde ich aus London. Ich hätte gleich weiterlaufen und mich nicht am Brunnen der Schwarzen Maria ausruhen sollen. Dann könnte ich jetzt schon in Highgate sein. Ich hätte weitermarschieren können nach Lincoln oder York und mir ein Pferd besorgen, dann wäre ich jetzt ein richtiger Straßenräuber.« »Und würdest am Straßenrand aufgeknüpft, und jemand würde deine Stiefel stehlen.« Jonah sagte nichts mehr. Er starrte nur beleidigt ins Feuer und beobachtete, wie sich die Glut an die schwelenden Holzscheite schmiegte. Tara betrachtete wieder die Messerklinge und versuchte, die geheimnisvollen Zeichen darauf zu entziffern. Sie strich mit dem Finger über eine untergehende Sonne und eine zusammengerollte Schlange, die im Schaft zu verschwinden schien – die langen goldenen Sonnenstrahlen und der schuppige Schwanz bildeten einen verschlungenen Fingerschutz, der mit dem Griff verschmolz wie der Tag mit der Nacht. »Das ist ein wunderschönes Stück. Das ganze Gold! Er muss ein rechter Dandy gewesen sein«, bemerkte sie. »Jetzt ist er ein Dandy, der Dreck frisst, ein Dandy, dem beide Börsen gestohlen wurden und dazu noch seine noble Kassette und ein Messer. Das muss jetzt meines ersetzen, das ich auf den Feldern von Conduit verloren habe.«
»Dann teilen wir wieder alles, was du mitgebracht hast, durch drei?«, fragte Tara, während sie seinen Arm bandagierte. »Was wäre das Leben ohne Freunde, mit denen man teilen kann? Vielleicht gebe ich sogar dem alten Bunz etwas ab als Entschädigung für den Gin, den er gestern ausgeschenkt hat. Das Ende der Welt? Es ist erst der Anfang! Ich spüre es in meinen Knochen: Etwas Außergewöhnliches wird geschehen und wir, meine Freunde, werden endlich vom Reichtum Londons profitieren.« Maggot spielte mit der Kassette herum und strich mit seinen schmutzigen Fingern über das goldene Schloss und das schwarze Leder. »Hast du schon hineingeschaut, Jonah?«, fragte er, und seine Stimme zitterte bei dem Gedanken an das, was eine so noble Kassette alles enthalten konnte. »Du bist der beste Schlossknacker in ganz London, versuch du es«, erwiderte Jonah. »Wir wollen doch mal sehen, ob du es in der Zeit schaffst, die Tara braucht, um mir einen Krug warmes Bier zu bringen.« »Aber immer«, rief Maggot, suchte in seinen Taschen nach einer abgebrochenen Hutnadel und fummelte damit am Schloss herum. »Es gibt in der ganzen Stadt kein Schloss, das ich nicht knacken kann, und das hier habe ich schon fast so weit…« Tara hatte gerade drei Schritte in Richtung Küchentür gemacht, als Maggot einen begeisterten Schrei ausstieß. Die Hutnadel hatte die stabile Feder aufgebogen, und das Schloss sprang auf. »Geschafft!«, rief er triumphierend und schaute Jonah an in der Hoffnung auf ein Lob. »Gut gemacht, Maggot. Schau hinein und sag mir, was ihm so viel wert war, dass er mich dafür umbringen wollte.« Langsam öffnete Maggot die Kassette. Sie verströmte einen stark modrigen Geruch, ähnlich dem bei Traitor’s Gate, wenn Ebbe war. Während er den Deckel hob, wurde alles um ihn herum eisig kalt, als sei der Winter mit seinen Frosthänden in die Stube gekommen und halte die Wärme des Feuers von ihm
ab. Auch Jonah schauerte es plötzlich. Ihm lief es eiskalt den Rücken herunter, als Tara mit einem Krug voll warmem Bier zurückkam. »Leg noch ein Stück Holz auf«, bat er. »Was hast du in der Schachtel gefunden, Maggot?« Der Junge starrte in die Kassette und ließ den Blick über jeden Millimeter der grünen Kugel gleiten, die auf dem schwarzen Samt lag. »Ein… einen Stein«, wisperte er. »Dann bring den Stein zum Feuer, bevor der alte Bunz wieder nüchtern wird, damit wir sehen können, was er wert ist. Es könnte ein Topas sein oder ein Smaragd. Wir könnten reich sein!« Maggot brachte Jonah den Stein. Der nahm ihn aus der Kassette, drehte ihn in den Händen und betrachtete die polierte Oberfläche. »Ich wusste, dass es keine Papiere sind. Der verlogene alte Hund wollte mir weismachen, es seien Papiere. ›Nichts von Wert‹, sagte er und ich würde es bedauern, wenn ich es an mich nähme. Jetzt weiß ich, dass es doch etwas wert ist, auch wenn ich keine Ahnung habe, was es ist.« Die Kassette glänzte im Schein des Feuers. Tara nahm sie Jonah aus der Hand. Rasch fuhr sie mit dem Finger über die glatte Oberfläche der Kugel. Der kalte Stein ließ ihre Hände steif werden. Auf einer Seite war ein schmaler Schlitz, eingerahmt von purem Gold. Sie hielt die Kassette ans Feuer, und das Licht durchdrang den Stein, sodass ihre Finger dahinter als milchige Umrisse zu sehen waren. In dem goldumrandeten Schlitz erkannte sie ein Schloss. »Kannst du auch das öffnen?«, fragte sie Maggot. »Es ist eine Schatulle, eine leere Schatulle aus Alabaster. Ich habe schon einmal einen solchen Stein gesehen. Wir sollten ihn möglichst schnell wieder loswerden, denn wir werden keine Freude daran haben.« In ihrer Stimme schwang ein ängstlicher Unterton mit, und sie gab die Kassette rasch an Maggot weiter. »Ich kannte einmal einen Mann, der einen Ring aus Alabaster besaß. Er sagte mir, dass er jedes Mal, wenn er den Ring trug,
das Gefühl hätte, als drücke ihm eine kalte Hand die Kehle zu. Er gab ihn einem Mädchen in Covent Garden… Sie wurde tot aufgefunden. Die Adern an ihrem Hals waren gefroren. Der Mann bekam den Ring vom Gericht zurück und gab ihn an einen Priester in St. Clement weiter. Der trug ihn während der Messe, und als er am Abendmahlskelch nippte, verwandelte sich der Wein in Eis, und er erstickte daran. Der Priester wurde beerdigt, und den Ring haben sie der Jungfrau Maria um den Hals gehängt – der einzig sichere Ort, sagen sie. Alabaster – der Fingernagel des Teufels, das ist das, was ich davon halte.« »Ein Ammenmärchen«, tat Jonah ihre Bedenken ab und nahm wieder einen Schluck von dem warmen Bier. »Er ist gutes Geld wert, und morgen verkaufen wir ihn und gehen groß essen. Ich lade euch in die Beggar’s Opera am Haymarket ein. Wir sitzen, wo die Götter sitzen, und bewerfen MacHeath mit Eiern, sobald er zu singen anfängt.« Maggot hörte nicht zu. Er konzentrierte sich ganz auf das Aufbrechen des Steckschlosses. Mit klammen Fingern befühlte er es und untersuchte das goldene Band darum herum, das fest an dem Stein haftete. »Es hat keinen Zweck«, sagte er und stellte die Kassette auf den Tisch beim Feuer. Mehr oder weniger absichtslos schob er die Messerspitze zwischen die Goldränder, und ohne weiteres Zutun öffnete sich die steinerne Schatulle von selbst. In der Wirtsstube wurde es eisig kalt. Jonah erhob sich und schaute fasziniert zu, wie die obere Hälfte der Kugel aufklappte wie eine Auster. Er kicherte in sich hinein. »Der Trick ist gut. Kein Wunder der Mann wollte sie unbedingt behalten. Ob der Stein sonst noch etwas kann, außer sich öffnen?« Alle drei beobachteten gebannt, wie die grüne Schatulle vollkommen aufklappte. Die beiden Halbkugeln bestanden aus extrem dünnen Schalen, und die Innenseiten glänzten wie mit Quecksilber überzogen. Ein Blick genügte, und Tara war von ihrer Schönheit hingerissen. »Es ist ein Spiegel«, stellte sie fest, als sie mit dem Gesicht
näher heranging. Ihr Spiegelbild strahlte, das rote Haar und die vollen Lippen leuchteten mehr denn je, doch es wurde immer kälter in der Stube. »Seht nur, mein Gesicht bewegt sich im Spiegel, ich flimmere und schimmere…« »Hat dir das Quecksilber schon den Verstand geraubt, Tara?«, fragte Jonah. »Es ist schon spät, und wir haben morgen früh einiges zu verkaufen. Versteck die Kassette in deinem Zimmer. Maggot und ich schlafen am Feuer und wecken den alten Bunz am Morgen, wenn ich meine Blase erleichtere. Jetzt pack die Schatulle weg, und sieh zu, dass du etwas Schlaf bekommst.« Tara erwiderte nichts darauf. Sie war völlig versunken in das, was sie sah. »Pack die Schatulle weg, und sieh zu, dass du etwas Schlaf bekommst«, wiederholte Jonah und zog kräftig an ihrem Ärmel. »Ich habe genug geschlafen. Leg noch einen Prügel Holz nach, und gönne deiner Wunde etwas Ruhe. Du bist derjenige, der Schlaf braucht. Vielleicht lernst du im Traum ja Manieren. Schön wär’s. Das hier ist einfach wundervoll, das schönste Geschenk, das du mir je gemacht hast.« Maggot kroch unter den Tisch und rollte sich wieder in den Sägespänen zusammen, Jonah kauerte sich an die warme Feuerstelle. »Es ist zum Verkaufen, nicht zum Behalten«, erinnerte er sie, als er die Augen schloss und den gesunden Arm um den verletzten legte. »Heute Nacht gehört es mir. Ein Spiegel für die Seele.« »Hast du nicht gesagt, wir sollten zusehen, dass wir ihn loswerden?«, murmelte Maggot, während er seinen Mantel fest um sich wickelte und die Zehen bis zu den Stiefelspitzen streckte. »Das war wegen der Geschichte mit dem Ring. Dies hier ist etwas ganz anderes. Es ist das Merkwürdigste, was ich je gesehen habe, und morgen ist es für immer weg«, sagte Tara mit Bedauern in der Stimme. »Deshalb will ich es wenigstens heute Nacht dicht bei mir haben.« Sie setzte sich an den Tisch
und schaute in das glänzende Quecksilber. Dann stützte sie den Kopf in die Hände und schloss die Augen. In der Wirtsstube wurde es still, als der Schlaf alle übermannte. Das Quecksilber begann zu zittern, und eine mondsilberne Hand befreite sich aus den Tiefen des Spiegels. Sie strich Tara so sanft über die Wange, dass es der Berührung durch eine Fliege gleichkam. Ohne aufzuwachen, verscheuchte Tara sie. Die Kugel schloss sich langsam wieder und versiegelte ihr Innerstes vor neugierigen Blicken.
4. Der Prophet Im trüben Licht der Morgendämmerung überquerte eine lange Prozession den Platz und schlängelte sich zwischen denjenigen hindurch, die dem Kometen nicht hatten entfliehen können. Der Anführer der Prozession ging mit Riesenschritten voran und schlug zu Boden, was ihm in die Quere kam. Er watete durch die Menschenmenge, wie diese im Frühling durch Streatham watete, wenn die Straßen vom Abwasser aus den Kloaken überspült waren. Mit grimmigem Gesicht schaute er sich um, seine Haut war von Wind und Wetter gegerbt. Auch die größten unter den Prozessionsteilnehmern überragte er um einen halben Meter. Wenn er kaum merklich lächelte, sah man, dass er seine Zähne oben wie unten zu spitzen, braunen Fängen gefeilt hatte. Er war ein Riese, ein Findelkind, das nach den blauen Blüten des Beinwell benannt worden war. Ein Sträußchen davon hatte in dem Korb gelegen, in dem man ihn fand. Inzwischen war Beinwell wegen seiner Größe und des dichten braunen Haars, das seinen Körper wie ein Wintermantel bedeckte, als »menschlicher Bär« bekannt. »Hier entlang, Mister Salomon«, sagte er barsch. Kurzerhand schlug er einen Mann nieder, der ihm im Weg stand, und stieg über den sich windenden Körper hinweg. »Hier ist die Treppe… Ihr könnt jetzt zu den Leuten sprechen.« In seinem Kielwasser watschelte ein kleiner Mann, der von Kopf bis Fuß in Purpurrot gekleidet war. Der lange Mantel wie auch die enge Kniehose waren aus demselben rauen Stoff. Auf dem Kopf trug er einen flachen, runden Hut mit Troddeln, die beim Gehen mit den weißen Haarsträhnen wippten. Der Mann erwiderte nichts. Er blieb stehen und schaute sich um, dann streifte er am Rücken von Beinwells letztem Opfer einen
Klumpen Pferdemist von seinem Schuh. Eine lange Reihe Männer und Frauen suchte sich ihren Weg durch die Menge. Sie hatten den Blick stur auf Salomon gerichtet, so als könnten oder wollten sie nichts anderes sehen. Salomon murmelte vor sich, als er wie ein junger Hahn im Frühling weiterstolzierte. Sein Erscheinen auf dem Marktplatz von Covent Garden hatte die Menge zum Schweigen gebracht, und alles drehte sich zu der Prozession um, die sich über den gesamten Platz bis zu den Stufen der Kirche an der Ecke zur King Street zog. Kurzatmig stieg Beinwell die Treppe hinauf. Als er sich auf der obersten Stufe umdrehte, fiel der erste Sonnenstrahl auf die Stadt. Salomon stand, umringt von seinen Anhängern, vor ihm. Gemeinsam wandten sie sich nach Osten und senkten andächtig die Köpfe. Beinwell hob die Hand und winkte der Menge, näherzutreten. »Bewohner Londons… wir haben die Ankunft des Kometen überlebt und den Zorn der Mächte des Universums… Mister Salomon hat jedem von euch etwas zu sagen. Er hat das Wissen um die Dinge, die da kommen werden. Hört ihm zu – oder sterbt in Unwissenheit.« Keuchend und sich fast überschlagend, hatte er die Worte hervorgestoßen, die er sich immer wieder vorgesagt und auswendig gelernt hatte. Er selbst verstand ihre Bedeutung nicht. Die Menge drängelte nach vorn und glotzte murrend die purpurrot gekleideten Anhänger des Propheten an. »Lass uns ein Kunststückchen sehen, Salomon«, höhnte ein nichtsnutziger Stallbursche aus der Masse heraus und warf einen trockenen Laib Brot in die Versammlung. »Wir wollen wissen, was mit uns geschieht, jetzt, wo der Komet an uns vorbeigezogen ist.« »Lass hören, was für Weisheiten du dir heute für uns zusammengeträumt hast, Salomon. Wir hören dein dummes Geschwätz ja jeden Tag«, kreischte eine alte Frau. Sie lehnte an einem Handwagen und pulte sich den Dreck unter den Fingernägeln hervor.
Salomon räusperte sich, warf sich in die Brust und straffte die Schultern. Die Menge schwieg, als habe sich ein Zauber über sie gelegt oder als habe Salomons großes, wedelndes Taschentuch sie in Hypnose versetzt. Kein Wort war mehr zu hören, nur der leise Flügelschlag der Tauben, das Rattern von Wagenrädern auf dem Kopfsteinpflaster und die Geräusche eines weit entfernten Straßenmarktes. Alles wartete gespannt, den Blick auf Salomon und seine sauertöpfischen Anhänger in ihren purpurroten Gewändern gerichtet. »Wer hatte Angst vor dem Kometen?«, schrie Salomon der Menge wütend entgegen. Er hüpfte von einem Fuß auf den anderen. »Wer fürchtete zu sterben und in seinem eigenen Bett vom Feuer gebraten zu werden? Kommt schon – ich sehe es in euren Augen… Angst ist etwas Erbärmliches, und jeder von euch hat vor irgendetwas Angst.« Er unterbrach sich und versuchte, die Leute einzeln anzusehen, so zu tun, als könne er in ihre Seele blicken. »Keiner von euch, nicht ein Einziger wird dem Zorn entgehen, denn es kommt eine Zeit, in der ihr alle dem Tod ins Auge sehen werdet. Es wird ein schrecklicher Tod sein! Das Blut in euren Adern wird kochen, das Fett auf euren Knochen wird schmelzen und durch die Haut sickern, und sämtliche Zähne werden euch ausfallen.« Er suchte in der Menge nach einem geeigneten Opfer. »DU!«, rief er und zeigte auf einen schmächtigen Mann mit pockennarbigem Kinn. »Hast eine Plage überlebt, um an der nächsten zu sterben. Die Pocken haben deine Schwester geholt und deine Mutter. Stimmt’s?«, rief er aufs Geratewohl. Seine Anhänger zitterten und bebten, stöhnten und ächzten, als stünden sie am Abgrund zur Hölle. Der Mann nickte schockiert und voller Angst, weil nun jeder wusste, was ihm widerfahren war. »Sieh dich an, ein Monster auf Londons Straßen! Für eine Menagerie taugst du nicht, aber selbst einer, der so hässlich und voller Eiterpusteln ist wie du, könnte teilhaben am Königreich Salomons. Du musst nur an mich glauben. Denn es kommt eine Zeit, in der sich eine große Kälte über die Erde le-
gen wird. Schwarze Heuschrecken werden über die Stadt herfallen, und alles, was euch lieb und teuer ist, wird euch aus den Händen gerissen werden!« Wieder schwieg er und schaute in die Menge, wobei er die kalte, feuchte Morgenluft tief einatmete. Er wusste, wie er die Menschen in seinen Bann ziehen konnte. »Hört auf Vater Salomon«, fuhr er leiser fort, so als spräche er mit jedem Einzelnen persönlich. »Ich bin die Antwort, der Weg, dem ihr folgen müsst, der Pfad durch das raue Gebirge. Ich habe den Glanz des Himmels und die Tiefen der Hölle gesehen!« Nachdem er beim letzten Satz wieder laut geworden war, zügelte er sich erneut: »Es gibt nichts, was meine Augen nicht gesehen, nichts, was meine Ohren nicht gehört haben, kein Wort, das ich nicht verstehe. Ich spreche die Sprache der Engel und der Teufel. Ich bin der Einzige, der euch vor dem, was kommt, retten kann.« Seine Zuhörer wandten sich einander zu, während seine Anhänger auf der Kirchentreppe stöhnten und zitterten. Eine Welle der Panik lief durch ihre Reihen. Plötzlich krachte es über ihnen wie von einem Kanonenschlag. Der Himmel füllte sich mit hellen Sternen, die im Licht des frühen Morgens glitzerten. Salomon hielt seine Hände hoch, damit alle sie sehen konnten. Und da, auf beiden Handflächen, tanzte ein blauer Feuerball, der an den Fingern hinaufzüngelte. »Feuer, das nicht verbrennt, und ein Himmel, der wie zur Hochzeit ein Feuerwerk zündet«, rief er triumphierend. Der Pockennarbige fiel auf die Knie und schaute händeringend zum Himmel. »Warum geschieht so etwas?«, fragte ein Fischhändler, der sich unter seinem Stand verkrochen hatte. »Als Zeichen seiner Macht«, erwiderte Beinwell und fiel ebenfalls auf die Knie. »Knallkörper und Zirkustricks!«, rief der Stallbursche und zielte mit dem nächsten trockenen Laib Brot auf Salomon. Er traf ihn an der Brust, und der Prophet geriet ins Wanken. Beinwell, der sich wieder aufgerappelt hatte, packte ihn rasch am Kragen, damit er nicht stürzte. »Dir nachfolgen?«, höhnte der
Stallbursche. »Lieber gehe ich Mäuse melken! Da hat man am Ende wenigstens was davon!« Die Menge lachte. Die Menschen hatten genug von dem täglichen Spektakel und zerstreuten sich. Nicht einmal der Komet hatte sie davon abbringen können, ihr erbärmliches Leben weiterleben zu wollen. Er war gekommen und gegangen wie davor das Feuer und die Pest. Salomons Anhänger wichen nicht von der Stelle. Salomon wischte sich die trockenen Krumen von der Brust. Der Pockennarbige kniete schluchzend im Dreck. Der Stallbursche gab keine Ruhe. »Du hast die Menge ja wieder mal gewaltig in deinen Bann gezogen«, spottete er, rollte die Ärmel hoch und schaute sich demonstrativ um. »Nur dieser arme Teufel bei all den Leuten? Sonst will keiner dein Geschwätz hören? Wir haben zu viel gesehen und zu viele Worte gehört. Schaut mich an, Leute, ein Stallbursche ohne Stall und ohne ein Dach über dem Kopf, und doch besitze ich mehr als ihr alle zusammen mit euren purpurfarbenen Röcken und zitternden Lippen.« »Du wirst noch nicht einmal das haben, wenn Beinwell dir die Arme aus den Gelenken reißt«, flüsterte Salomon, als er die Stufen hinunterstieg, den Pockennarbigen am Arm nahm und auf die Füße stellte. »Hier ist ein Mann, gebrochen und ohne Hoffnung. Ich werde alles sein, was er hat. Mir kann er vertrauen.« Salomon reckte die Faust zum Himmel. »Nichts und niemand wird mir im Wege stehen. Ich werde der Vater aller Völker sein, und die Menschen werden in Scharen zu mir kommen.« »Der Mann ist ein Trottel mit nichts als Dreck im Hirn… genau wie du«, sagte der Stallbursche, rieb sich die rauen Hände an seinem Rock ab, drehte sich um und ging davon. »Beinwell, bring unseren Bruder in die Zitadelle und…« Salomon hielt inne und schaute dem Stallburschen nach, dessen feuchter Rock in der Sonne glitzerte. »Sieh zu, dass unser Freund, der Stallbursche, einen Ort findet, an dem er sich betten kann… für immer.«
Der Riese lächelte und ließ die Fingerknöchel seiner bärentatzengroßen Hände knacken, einen nach dem anderen. Er schob sich durch die Reihen der Anhänger, hob den Pockennarbigen hoch und legte ihn sich über die Schulter wie eine aufgerollte Decke. Dann machte er sich an die Verfolgung des Stallburschen. Salomon nickte und ging mit schnellen Schritten über den Platz, wobei er sich mit von Tabak verfärbten Fingern über das spitze Kinn strich. Seine freudlosen Anhänger, die nur Augen für ihn hatten, folgten ihm willenlos über den inzwischen menschenleeren Marktplatz Richtung Themseufer. In sämtlichen Straßen und Gassen, durch welche die Pilger kamen, waren die Spuren des Kometen zu sehen. Umgestürzte Kutschen und tote Pferde, die Bauch und Beine in den Himmel streckten. Verwesungsgestank waberte wie Morgennebel durch die Stadt. Salomon zog sein großes weißes Taschentuch aus der Tasche und schüttelte es ein paar Mal aus, bevor er eine Handvoll Rosenblätter hineinlegte und es sich an die Nase hielt. »Das ist das, was ich vorhergesagt habe«, rief er in dem Wissen, dass seine Anhänger jedes seiner Worte hören würden. »Der Tod ist gekommen wie ein Dieb in der Nacht. Sie werden sich über uns lustig machen und uns auslachen, doch die Zeit wird die Wahrheit ans Licht bringen und Salomon zum Herrscher ausrufen.« Seine Anhänger jubelten zustimmend. Ihre Mienen zeigten eitle Selbstzufriedenheit. Die Sonne, so schwach, dass sie sich kaum vom Horizont lösen wollte, warf lange Schatten in die Uferstraße. Sie wankten vor und zurück, wenn der scharfe Novemberwind in die zerrissenen Markisen fuhr, die vor den leeren Geschäften hingen. Salomon blieb stehen und schaute vor sich auf den Boden, wo die Umrisse einer verkohlten Leiche zu sehen waren. Nichts außer einer Stiefelsohle war von dem Mann übrig geblieben, so als sei er von innen heraus verbrannt, nachdem ein abscheulicher Dämon in ihm Feuer gelegt hatte. »Das«, sagte er zu seinen Anhängern, die ebenfalls stehen
geblieben waren, »ist das, was ich vorhergesagt habe. Er wurde in seiner Schlechtigkeit vollkommen zerstört – Asche zu Asche, Staub zu Staub. Nichts ist mehr übrig als eine dreckige Schuhsohle.« Salomon lachte meckernd und setzte sich im Laufschritt wieder in Bewegung, verschwand im Labyrinth der Gassen, die den Fluss Richtung Westminster säumten. »Kommt, kommt! Ihr müsst euch beeilen. Es gibt Arbeit, die Verlorenen müssen gefunden werden. In jeder Straße und jeder Herberge der Stadt müssen wir nach ihnen suchen. Wir müssen alle ausfindig machen, vom Höchsten bis zum Geringsten.« Er wandte sich wieder Richtung Uferstraße. Als er bei Charing Cross das Lachen und Kreischen einer großen Menschenmenge hörte, lief er noch schneller, tänzelte über das grobe Pflaster und sprang über den Unrat, der wie in einer offenen Kloake in der Mitte der Straße dahinsickerte. Der Lärm schwoll an. Rufe von Ausstellern und Straßenmusikanten vermischten sich mit dem aufgeregten Kreischen der Kinder, die glücklich zuschauten, wie die Akrobaten sich in die Luft katapultierten und einer sich auf den anderen stellte, bis die Pyramide so hoch war wie ein ganzes Haus. Dann fiel sie in sich zusammen, die Männer stürzten, ohne sich wehzutun, herunter, schlugen einen Purzelbaum im Dreck, sprangen auf die Füße und sammelten mit ausgestreckten Mützen alles ein, was in ihre Richtung geworfen wurde. Salomon beschleunigte seinen Schritt noch mehr. Das Verlangen, mittendrin zu sein im Geschehen, trieb ihn an. Er rannte, ließ die purpurrote Schlange hinter sich und kicherte vor sich hin, als das freudige Gejohle ihn umgab. Die Leute um ihn herum lachten und beobachteten mit großen Augen, wie Feuerschlucker nach glühenden Kohlen griffen und Flammenfontänen aus ihren ölig schwarzen Mündern schossen. Ein Schlangenbeschwörer saß im Schneidersitz auf dem Boden, spielte auf einer Flöte und wiegte sich im Gleichklang mit seiner Kobra hin und her, die den Kopf widerwillig aus dem Weidenkorb in die kalte Morgenluft streckte.
Aus sämtlichen Ecken Londons waren sie gekommen und hatten einen improvisierten Jahrmarkt auf die Beine gestellt: zerlumpte Clowns, monströse Missgeburten und Akrobaten hatten sich dort versammelt, wo einst das Kreuz gestanden hatte. Neben Salomon spielte ein Straßenmusikant auf einer dickbauchigen Gitarre und sang mit schmachtender Stimme den Refrain eines Kinderreims. Aus der Ferne stieg ihm der Geruch von gemästetem Kalb in die Nase, während der Duft von fettem Schweinefleisch, das bei Crag Court auf dem offenen Feuer knusprig gebraten wurde, von White Hall bis zu den königlichen Stallungen waberte. Salomon rang nach Luft. Das ganze fröhliche Durcheinander um ihn herum nahm ihm den Atem und versetzte ihn zurück in seine Kindheit. Alle Gedanken an sich selbst und alle Sorgen um das Heute waren vergessen, als die Geräusche und Eindrücke ein Gefühl reinster Freude in ihm weckten. Jeder Gedanke an seine Jünger war vergessen. Salomon stand ganz allein da, ein Mann, der wieder ein kleiner Junge war und sich an dem göttlichen Spektakel um sich herum ergötzte. Er sperrte die Augen auf, es juckte ihm in den Beinen, und er bebte vor erwartungsvoller Vorfreude. Und dann bemerkte er mitten in der Menge das seltsamste Wesen, das er je gesehen hatte. Ein runzliges graues Ungeheuer von der Größe eines Wals erhob sich auf die Hinterbeine. Aus seinem Kopf wuchs etwas, das Salomon für einen langen Arm hielt. Er pendelte zwischen zwei dicken, gebogenen Zähnen, deren Spitzen mit Gold überzogen waren. Sie waren so lang wie eine halbe Lanze und gekrümmt wie der Säbel eines Dragoners. Ein winziges Auge schaute ihn an, als ein Trommelknabe den Rhythmus schlug, zu dem das Ungeheuer schwerfällig von einem Fuß auf den anderen trat, bis es schließlich wieder auf allen vieren stand und sich schüttelte wie einer der dicken Tänzer aus der Drury Lane. Salomon war fasziniert. Fieberhaft versuchte er auf den Namen der Kreatur zu kommen, die ihre dicken, behaarten Lippen schürzte und die gewaltigen grauen Ohren vor und zurück schwenkte wie die Flaggen eines fremden Landes. Er lä-
chelte, als ihm der Name einfiel. Er hatte das Ungeheuer im Londoner Anzeiger gesehen, wo es als zweimal so groß beschrieben wurde, wie es in Wirklichkeit war. Es handelte sich um Ozymandias, den Elefanten aus Afrika. Da stand er nun vor ihm, frierend und hungrig, fast wie ein König in einem feindlichen Land, majestätisch, doch ungeliebt, Ehrfurcht einflößend, aber einsam und halb verrückt vom Druck der Ketten an seinen stämmigen grauen Beinen. Ozymandias schaute Salomon an, während er den Kopf von einer Seite zur anderen schwenkte und mit den schwieligen Beinen stampfte, um zu vermeiden, dass der Junge ihn mit dem Rohrstock schlug. Als ihre Blicke sich trafen, wich alle Freude aus Salomon, und die Trostlosigkeit der Welt umfing ihn wieder. Ihm war, als sähe er in diesem Moment die Welt, wie sie wirklich war. Bitterkeit stieg in ihm auf. Sein Gesicht nahm einen missmutigen Ausdruck an, die Augen verengten sich, und er presste die Lippen aufeinander. Er schaute sich nach seinen Anhängern um, da ihm seine Einsamkeit inmitten der lärmenden Menge plötzlich unangenehm bewusst wurde. Die Vergänglichkeit all dieser Vergnügungen stieß ihm sauer auf. Er warf finstere Blicke um sich, schaute noch einmal zu der Kreatur hinüber und überließ sie dann ihrem Elend in Ketten, um sich zum Zentrum des Platzes durchzuboxen. Salomon blickte zu dem großen Holzkreuz hinauf, das eilig aus den Balken eines alten Hauses zusammengezimmert und an der Stelle in den Boden gerammt worden war, wo früher ein steinernes Monument gestanden hatte. Der Querbalken des Kreuzes war mit goldenen Bändern geschmückt, die im Wind wehten. Salomon brummte etwas von Arroganz, schimpfte auf alles, wofür das Kreuz stand, und hätte es am liebsten umgerissen und jede einzelne Faser des Holzes zu Staub zerrieben. Vom steinernen Podest des zerstörten Monuments aus schaute er über die Köpfe der Umstehenden hinweg. Jongleure warfen sich Feuerbälle zu, und ein schwarzer Affe, so groß wie ein Mann und gekleidet wie ein Spanier, aber mit einem Seil um den Hals, tanzte zu den gequälten Tönen der Spielmannsmu-
sik. Salomon suchte den vertrauten Anblick eines purpurroten Gewandes, doch sein Blick fiel auf etwas Goldenes und dann auf einen großen, bärtigen Mann in einem wehenden schwarzen Umhang. Der Mann schob unbeholfen einen Handkarren vor sich her, auf dem ein goldener Käfig befestigt war. Während Salomon sich ganz auf das konzentrierte, was da die Uferstraße heraufkam, schaltete sein Gehirn sämtliche Jahrmarktsgeräusche aus. In dem Käfig kauerte ein kleiner Junge mit hellblondem Haar. Er hatte sich in eine dicke Decke gewickelt. Der Mann trug einen weichen Filzhut, den er weit nach hinten geschoben hatte, und soweit Salomon erkennen konnte, sang er vor sich hin. Der Junge klammerte sich unsicher an die Gitterstäbe. Die Menge teilte sich und ließ das Gespann durch, doch als der Mann den Karren abstellte, einen langen Stab hervorzog und damit auf den Boden klopfte, bildete sich rasch ein dichter Kreis Neugieriger um ihn. »Ich, Magnus Malachi, Magier und Seher, bringe euch, den Menschen von London – TERSIAS, DAS BLINDE ORAKEL. Mag man ihm auch das Augenlicht genommen haben, sein Blick geht weit über unser Verständnis hinaus. Für einen Schilling wird er jede Frage beantworten und euch die Geheimnisse eurer Seele offenbaren«, rief Malachi theatralisch und so laut er konnte, um den allgemeinen Lärm zu übertönen. Neugierig verließ Salomon seinen Ausguck und bahnte sich einen Weg zu dem Mann. Er blinzelte unter dem Arm eines Soldaten hindurch, der sich hartnäckig weigerte, zur Seite zu treten und ihn vorbeizulassen. Salomon zog eine lange Nadel aus seinem quastenverzierten Hut und stach damit dem Soldaten in die Seite. Der stieß einen lauten Schrei aus und drehte sich nach seinem vermeintlichen Angreifer um. Er sah einen stiernackigen Mann mit roten Wangen und holte aus. Salomon kicherte in sich hinein, als er unbehelligt vorbeiging und die blutige Hutnadel wieder an ihren Platz steckte. Nach wenigen Schritten stand er vor Malachi und dem Jungen.
»Seht es an als die beste Investition, die ihr je gemacht habt«, rief Malachi. »Ihr werft den Schilling nicht zum Fenster hinaus, sondern kauft euch dafür einen Blick in die Zukunft. Der Junge wird euch nicht nur sagen, was kommen wird, sondern auch, was in diesem Moment auf Erden geschieht.« Malachi drückte die Brust heraus und klopfte mit dem Fischbeinstock auf den Boden. »Ich brauche keine Stichwortgeber, das hier ist keine Pantomime«, fuhr er fort und wackelte mit seinem langen Finger vor der Nase des Soldaten herum, »heute sprechen die Götter zu euch, und das für nur einen Schilling.« Malachi hielt inne und schaute sich die Umstehenden genau an. Tersias war in seinem Käfig unruhig geworden. Er spürte die Gegenwart der vielen Menschen, die sich um ihn drängten. Von der Gegenwart der Teufelsbrut spürte er nichts. Er war allein, allein und gefangen. Nur das Murmeln der Menge hörte er, als Malachi weiter auf sie einredete. »Eine Frage habt ihr frei, zum Beweis, dass das, was ich sage, stimmt und Tersias von London das erste echte Orakel ist, das die Stadt seit der heiligen Tara gesehen hat. Nun, wer macht den Anfang?« Ein Mann trat vor, flankiert von zwei großen Milizionären und einem dritten, gedrungenen Begleiter mit einem Zwicker auf der Nase. »Ich«, sagte der Mann und trat näher an Malachi heran. Salomon ließ sich nichts entgehen. Er hatte die Männer schon einmal gesehen und kannte ihre Namen aus dem Londoner Anzeiger. Es handelte sich um Lord Malpas und seinen Sekretär, Mister Skullet. Malpas sah irgendwie verändert aus, in seinem Gesicht waren tiefe Kratzspuren, und am Hinterkopf trug er einen Verband wie eine kleine weiße Kappe. Auf Salomon wirkte er wie ein Mann, den man durch ein Dornengestrüpp gezogen hatte oder der in einen Hahnenkampf geraten war. »Fragt ihn, was ich wiederhaben will und wo ich es finden kann«, verlangte Malpas. Seine Stimme klang gepresst, da er wegen seiner Kopfverletzung immer noch große Schmerzen
hatte. »Tersias hört Euch. Er wird antworten«, erwiderte Malachi in der Hoffnung auf eine schnelle Antwort des Jungen. Tersias schwieg, da sich die Teufelsbrut nicht meldete. Er hörte lediglich das Murren der Menge, die ihren Unmut kundtat. »Tersias, der Mann wünscht eine Antwort«, drängte Malachi streng. Etwas näherte sich ungestüm, als würden Geister auf schwarzen Flügeln durch die Straßen der Stadt zu ihm getragen. Vor Tersias’ geistigem Auge stieg das Bild eines Drachen auf, als er spürte, wie die Teufelsbrut näherkam. Das oberste der Wesen sprach, doch Tersias hatte das Gefühl, als sei es irgendwie verändert – mächtiger, älter, mit einem feindseligen Unterton in der Stimme. »Er heißt Malpas«, flüsterte das Wesen ihm ins Ohr und sein Atem strich eisig über Tersias’ Nacken. »Lord Malpas, ein Politiker… Ihm sind ein Kästchen und ein Messer abhanden gekommen.« Tersias räusperte sich. »Euch ist ein Kästchen abhanden gekommen… und ein Messer. Ihr seid Lord Malpas.« Die Menge wich zurück, als Malpas sich zu Skullet umdrehte. Ungläubiges Staunen lag auf seinem Gesicht. »Stimmt das?«, fragte Malachi laut und zog seinen Hut ab, damit die Leute ihren Schilling hineinwerfen konnten. »Es stimmt«, erwiderte Malpas, den Blick wieder auf Tersias gerichtet. »Ich wurde auf den Feldern von Conduit überfallen und ausgeraubt. Für die Festnahme des Räubers wurde eine Belohnung ausgesetzt – zweihundert Pfund.« Malpas hielt inne, damit das Gesagte sich setzen konnte. »Sag, Tersias, wo finde ich mein Eigentum wieder?« »Das kostet Euch einen Schilling!«, rief Malachi dazwischen. Er trat rasch auf Malpas zu und hielt ihm den Hut hin, wurde aber von der Miliz zurückgedrängt. Tersias meldetet sich, gab wieder, was das Geistwesen ihm eingeflüstert hatte: »Es ist immer noch in der Stadt, vor den
Augen der Menschen verborgen, und so wird es auch bleiben. Fragt in zwei Tagen noch einmal, dann weiß ich die Antwort. Aber Ihr solltet sorgfältiger mit dem Eigentum anderer Leute umgehen.« Lord Malpas schaute Malachi an. »Wie viel wollt Ihr für den Jungen haben? Er muss mir gehören. Ich mache Euch zu einem reichen Mann.« »Er ist nicht zu verkaufen, Lord Malpas. Nicht für alles Gold der Welt. Er kam als Geschenk der Götter für einen armen alten Mann, damit dieser auch im Alter sein Auskommen hat.« »Dan bringt ihn morgen Abend zu mir nach Hause, damit wir die Befragung ohne Zuhörer abschließen können.« Malpas wartete nicht auf eine Antwort. Mit der bandagierten Hand gab er der Miliz ein Zeichen, ihm einen Weg durch die Menge zu bahnen. Salomon wurde ganz aufgeregt, als er die vielen Leute sah, die sich wieder nach vorn drängten, Tersias mit Fragen bestürmten und Malachis Hut mit Schillingen füllten. Jemand zupfte ihn am Ärmel. »Vater Salomon«, meldete sich die Stimme eines Jüngers, »wir dachten schon, Ihr wärt verloren gegangen.« »Verloren?«, rief Salomon laut. »Ich habe gefunden, wonach wir die ganze Zeit gesucht haben. Das war kein Zufall! Dass wir getrennt wurden, war vorherbestimmt und geplant. Ich habe ihn gefunden, auf den wir gewartet haben. Er ist hier, ein blindes Kind, das durch einen Scharlatan zu uns geführt wurde. Die Götter haben bestimmt, dass er ein Jünger sein soll. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, damit Malachi sich von dem Jungen trennt… und morgen gehen sie zu Malpas.« Salomon schmiedete bereits die kühnsten Pläne, als er mit seinen Anhängern im Schlepptau in die dunkle Gasse einbog, die zur Zitadelle führte. Kaum ein Lichtstrahl verirrte sich zwischen die Häuser. Salomon rieb sich die Hände.
5. Thieving Lane Die eisenbeschlagenen Räder des Handwagens ratterten laut auf dem nassen Kopfsteinpflaster der King Street. Magnus Malachi atmete schwer, als er den Wagen die letzte Meile durch die Nacht schob. Er war auf dem Weg zum Haus von Lord Malpas in der Thieving Lane. Jede Umdrehung der Räder hallte scheppernd von den Hauswänden wider. Die Straßen waren bedenklich leer. Verschwunden die Marktgänger und die Kastanienverkäufer mit ihren Röstpfannen, die Lampenanzünder und Straßenhändler, die normalerweise die Straßen bevölkerten, bis der Nachtwächter um Mitternacht den Zapfenstreich ausrief. Malachi blinzelte in das fahle Licht der Laterne, die er vorn am Wagen befestigt hatte. Es war zu schwach, um seinen Weg zu beleuchten. Weit hinter ihm heulte ein Hund den Mond an, der am wolkenverhangenen Himmel kaum zu sehen war. Nervös ließ er den Blick hierhin und dorthin schweifen. Der Wind wehte ihm die langen, weißen Haarsträhnen in das Gesicht. In jeder Gasse sah Malachi einen Räuber lauern, hinter jedem Schatten einen Schurken. Thieving Lane, die Straße der Diebe, hatte ihren Namen von den Stadtstreichern und Wegelagerern, die unvorsichtigen Zeitgenossen auflauerten, Börsen und Kehlen aufschnitten und sich mit dem Geld davonmachten. In dieser dunklen Straße kam Malachi sich vor wie ein Opferlamm, das nur auf den Angriff der Wölfe wartete. Tersias saß auf dem schmutzigen Wagen und hielt sich an den nur unzureichend mit Goldfarbe bedeckten Stäben seines neuen Käfigs fest. Der Nebel, der vom Fluss heraufzog, wirbelte um ihn herum, strich wie eine unsichtbare Hand über sein Gesicht und ließ Tautropfen auf seinen blassen Wangen
zurück. Er zeigte keine Angst. Seine Welt kannte weder Tag noch Nacht. Durch seine Blindheit hing die Schwärze wie ein Leichentuch über ihm. In der Sicherheit seines Käfigs lauschte er auf das Knirschen der Wagenräder, die sich in den Schmutz der Straße gruben und immer weiter in die Stille hineinrollten. »Wie weit ist es noch?«, fragte er Malachi leise, nachdem ein Rad in eine tiefe Pfütze gefahren und er auf die andere Seite des Käfigs geschleudert worden war. »Ich höre keine Menschen. Wo sind wir?« »Still junge. Wir sind gleich da«, erwiderte Malachi ebenso leise. Er konzentrierte sich ganz auf die Geräusche der Nacht und wollte nicht abgelenkt werden. Er grub die Absätze in den Schmutz und stemmte sich gegen den Wagen. Die Pflastersteine weiter vorn schimmerten silbrig im Licht des »Hangman Inn«. Gegenüber lag eine schmale Gasse. Die hohen Häuser rechts und links berührten sich oben, als schmiegten sie die Wangen aneinander. Malachi blieb stehen und holte tief Luft. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Ihm war, als streiche ein Geist darüber. Verzweifelt versuchte er, aus den Schatten schlau zu werden, die in der Dunkelheit der Gasse vor seinen Augen tanzten. Er ließ den Wagen los, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und schaute zwischen den Fingern hindurch. »Bezahlt Lord Malpas Euch dafür?«, fragte Tersias in die Stille hinein. Er wickelte sich fester in die dicke Decke. »Er hat vor irgendetwas Angst. Ich traue ihm nicht.« »Trauen? Sag so etwas zu ihm, und er lässt uns hängen. Malpas ist der Mann hinter der Krone, das ist allgemein bekannt. Das ist meine große Chance, Junge. Man könnte am Hof auf mich aufmerksam werden. Ich könnte einen hochgestellten Gönner finden, einen Mann mit Macht und Einfluss. Rede nicht von Vertrauen. Vertrauen spielt keine Rolle. Was jetzt eine Rolle spielt, ist, dass wir das Haus finden, bevor wir von den Schurken, die hier überall lauern, ausgeraubt werden.« Malachis Worte hallten in der Gasse wider. »Jetzt wickle dich in deine Decke, und sei still. Je weniger Ge-
räusche wir machen, desto besser stehen unsere Chancen, heil anzukommen. Weshalb ein Mann wie Malpas hier wohnen will, verstehe ich nicht – umgeben von Dieben und Mördern. Das ist doch kein Ort für einen Mann in seiner Stellung!« Malachi biss sich auf die Lippe. Wie hatte er sich nur zu einer solchen Äußerung hinreißen lassen können! Furchtsam schaute er sich um, ob jemand in der Nähe war. Weit hinter sich hörte er das Klack-klack eisenbeschlagener Stiefel auf dem Pflaster. Er konnte drei Gestalten ausmachen, die langsam in seine Richtung kamen. Das Geräusch ihrer Schritte folgte ihm durch die Nacht. Er kämpfte gegen die Angst an, die ihm riet, den Wagen stehen zu lassen und um sein Leben zu laufen. Die Schritte seiner Verfolger bildeten ein exaktes Echo zu den seinen. Wenn er stehen blieb, blieben auch sie stehen und er hörte nur noch seinen eigenen Atem und das Hämmern seines schwachen Herzens. »Halte dich fest, Tersias, wir laufen jetzt. Wir werden verfolgt.« Verzweifelt stemmte sich Malachi gegen den Wagen, doch sein Versuch, schneller vorwärtszukommen, war vergeblich. Aber es war nicht mehr weit bis zu dem abschüssigen Stück, das zur Thieving Lane hinunterführte. Seine Füße fanden kaum Halt in dem faulig stinkenden Morast, der über das Pflaster gespült wurde. Der Wagen rollte nur langsam vorwärts, so als hielte die Dunkelheit ihn zurück. Schweißperlen glitzerten auf Malachis Stirn. Er schalt sich wegen seiner Dummheit und Eitelkeit, die ihn veranlasst hatten, einen mit Goldfarbe gestrichenen eisernen Käfig auf einen klapprigen Handwagen zu setzen. Endlich hatten sie das abschüssige Straßenstück erreicht, und der Wagen rollte etwas leichter durch den Schmutz. Malachi watete knöcheltief in der schmierigen Suppe, welche die Straße wie ein Teppich aus Schweinefutter überzog. Er stolperte, und als er genauer hinsah, merkte er, dass überall Knochen herumlagen. Sie schienen sich aus verborgenen Gräbern den Weg an die Oberfläche gesucht zu haben und lagen nun
auf der Straße. Malachi drehte sich um und schaute zu der schmalen Gasse gegenüber dem Wirtshaus hinauf. Da standen die drei Gestalten und blickten zu ihm herunter. Ihre Umrisse waren im schwachen Licht der Wirtshauslampe deutlich zu erkennen. »Sie wollen uns ausrauben!«, murmelte Malachi im Weiterlaufen. »Ich habe nichts außer dir, Tersias, das sich lohnen würde zu stehlen. Versteck dich unter der Decke, und sei ganz still.« Er gab dem Jungen einen Beutel mit Silbermünzen, der in ein Seidentuch eingeschlagen war. »Setz dich darauf, und wenn du entdeckt wirst, sag nichts.« Das Zuschlagen der Wirtshaustür hallte ungewöhnlich laut in der Stille. Malachi drehte sich wieder um. Die Straße war leer, die dunklen Gestalten verschwunden. Erleichtert lachte er in sich hinein. »Saufköpfe, Tersias. Wirtshausgänger auf der Suche nach Gin. Und ich dachte, sie seien hinter uns her und wollten uns ausrauben.« Er schnaubte und ging weiter. »Wenn du in mein Alter kommst, spielt dein Hirn dir manchmal Streiche. Aber du bist schließlich ein wertvolles Geschenk für einen alten Mann, eines, auf das man gut aufpassen muss.« Tersias antwortete nicht. Er streckte den Kopf wieder unter der Decke hervor und hielt sich erneut an den Gitterstäben fest, um nicht hin und her gerüttelt zu werden. »Bald kannst du zu Lord Malpas sprechen, Tersias. Achte darauf, dass du auch alle seine Fragen beantwortest. Er ist ein mächtiger Mann, den man nicht verärgern darf. Wir könnten sonst beide für eine Woche an den Pranger gestellt oder für einen Monat ins Gefängnis geworfen werden. Sag ihm das Richtige, mein blindes Orakel, und er wird uns großzügig entlohnen.« Malachis Atem pfiff beim Sprechen. Er fasste die Holme des Wagens fester. »In dem Fall habt Ihr sicher nichts dagegen, wenn wir Euch abnehmen, womit Ihr Euch so schwertut.« Die Stimme klang sehr selbstbewusst, und Malachi starrte erschrocken auf die drei Gestalten mit Sackmasken über dem Kopf, die plötzlich vor ihm standen.
»Stehen bleiben und Geld her!«, verlangte die Stimme vom Straßenrand her. Den Worten folgte das Klicken einer Steinschlosspistole. Malachi hatte sich rasch wieder gefasst, obwohl der Laufeiner Pistole auf seinen Kopf gerichtet war. »Du bist doch noch ein Kind. Nimm die Pistole weg, und lass mich in Frieden«, brummte er. »Ihr habt es hier nicht mit einem Kind zu tun, sondern mit drei Männern, die bereit sind zu töten. Ich schlage vor, Ihr gebt uns, was Ihr habt, dann verschonen wir vielleicht Euer Leben.« Der kleinste der drei stieß ihm die Pistole in den Magen. »Und beeilt Euch«, fügte er hinzu, als der größere Malachi zur Seite stieß und in den Käfig schaute. »Was haben wir denn da?« Er beugte sich darüber und rüttelte an den Gitterstäben. »Eine Elster, die wir uns zum Abendessen braten können?« Malachi sah den Blutfleck am Ärmel des Mannes. »Ihr seid verletzt, mein Freund, und ich kenne mich mit Arzneien aus. Verschont mich, und ich werde Euch helfen.« »Nur ein Kratzer von einem, der jetzt den Staub von London frisst«, erwiderte der Räuber. »Ich bin hart im Nehmen, und alles, was er verletzt hat, war mein Stolz.« »Dann ist es ja gut. Ich bin Magnus Malachi, ein frommer Mann, dem nicht Geld, sondern die Seelen der Menschen am Herzen liegen. Ich habe nichts, das sich zu stehlen lohnt, Silber und Gold bedeuten mir nichts.« Malachi sprach schnell, die Lügen kamen ihm leicht von den Lippen. »Kein Geld? Was könnten wir dann nehmen? Der Wagen ist wertlos für uns.« Der Räuber schaute auf Tersias hinunter. »Warum ist er eingesperrt? Beißt er?« »Er… er ist krank.« Malachis Gedanken überschlugen sich. »Ich halte ihn im Käfig, damit die Welt vor ihm geschützt ist. Er wurde mit einem Schlag blind und kann jetzt nur noch reden. Aber er ist ziemlich wirr im Kopf, sagt die merkwürdigsten Dinge. Die Worte fließen aus seinem Mund wie Honig aus der Wabe, doch kein einziges kann man glauben.« Malachi
zwirbelte an seinem Bart herum, während es nur so aus ihm heraussprudelte. »Ein armer alter Mann mit einem Jungen, der eigentlich in die Irrenanstalt gehört – und das sollen wir glauben? Ein alter Mann, der einen Verrückten in einem goldenen Käfig zur Thieving Lane schiebt? Zu wem wollt Ihr?« »Zu niemand… Wir machen nur einen Spaziergang in der Nachtluft, damit ich besser einschlafen kann.« Malachi atmete tief die neblige Londoner Luft ein, die geschwängert war mit Kohlenstaub und Gerbsäure. »Die beste Luft, die du kriegen kannst.« Er musste husten. »Sie ist Arznei für so manche Krankheit.« »Und was ist mit dir?«, fragte der Räuber leise und schubste den Jungen im Käfig an. Tersias hob den Kopf und öffnete die leeren Augen. Der Räuber zog scharf die Luft ein, als die toten weißen Augäpfel ihn anschauten. Der Junge versuchte zu lächeln. Er spürte, dass der Fremde nicht weit entfernt war, und streckte eine schmale Hand nach ihm aus. »Es ist, wie Mister Malachi es sagt. Er sorgt für mich und hält mich in diesem Käfig und gibt mir eine Decke gegen die Kälte.« »Ein Käfig?« Der Räuber schubste Malachi gegen die Wand. »Ihr sperrt das Kind in einem Käfig ein wie einen Dieb, Mister Malachi?« »Nur wenn wir auf der Straße sind. Es ist zu seinem eigenen Besten…« »Was tut er für Euch, dass er Euch so viel wert ist? Ihr habt ihn doch nicht aus lauter Barmherzigkeit bei Euch.« Der Magier überlegte eine Weile. Dabei schaute er sich die Räuber sehr genau von oben bis unten an, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf ihre Identität zu finden. »Er ist ein Orakel. Er weiß um die Dinge, die kommen, und ich nehme einen Seh… einen Schilling dafür«, stammelte er. Der Räuber hatte ihn hochgehoben, sodass nur noch seine Stiefelspitzen den Boden berührten, und drückte ihn mit einer Hand gegen
die Wand. Sie standen vor dem Geschäft eines Totengräbers. »Und wohin bringt Ihr das Orakel in einer so finsteren Nacht?«, wollte der Räuber wissen. »Zu einem Freund. Zu einem Freund, der hier in der Gegend wohnt«, erwiderte Malachi vorsichtig. Er ließ die Hand in seine Tasche gleiten und griff nach der goldenen Guinea, die er nun schon so lang in den Tiefen seines zerschlissenen Rocks versteckt hatte. »Eine klare Antwort bekommt man von Euch nie, was, Malachi? Ich will eine Antwort, oder mein Freund steckt dir den Pistolenlauf in die Nase und verteilt Euer Gehirn auf der Mauer hier – falls Ihr eines habt.« Der kleinste der Räuber zielte mit der Pistole auf Malachis Kopf. »Er hat keine sehr ruhige Hand. Die kleinste Erschütterung löst den Schuss aus, und Ihr bekommt eine Prise vom stärksten Schnupftabak Londons.« »Mein Freund heißt Malpas – Lord Malpas, wenn ihr es genau wissen wollt«, antwortete Malachi widerwillig. Er schaute die Straße hinauf in der Hoffnung, dass jemand das Wirtshaus verließ oder der dicke Nachtwächter vorbeikam. Der Räuber stolperte einen Schritt zurück, als hätten die Worte ihn wie ein Fausthieb getroffen. Er schaute seine Freunde an. Sein heißer Atem kam aus den Augenlöchern seiner Sackmaske. »Dieser Malpas – was habt Ihr mit ihm zu schaffen?« »Eine kleine Demonstration. Er will wissen, wie seine Zukunft aussieht, und der kleine Tersias ist das einzige Orakel seiner Art auf der ganzen Welt. Tersias sagt die Wahrheit, und viele Menschen sind bereit, einen guten Preis für die Wahrheit zu bezahlen – um sie dann wieder in Lügen zu verwandeln.« »Was sind das für Dinge, die du sagst, Junge?«, der Räuber war an den Käfig getreten und hatte sich direkt an Tersias gewandt. »Ich könnte es euch demonstrieren«, sagte Malachi eifrig und versuchte, sich zwischen sie zu drängeln. »Ihr habt doch sicher einen Schilling zur Hand.« »Wir werden eine Vorstellung bekommen, aber einen
Schilling wird es dafür nicht geben.« Der Räuber schaute seine beiden Kameraden an. »Was meint ihr – unsere Zukunft für sein Leben?« Die maskierten Gestalten nickten stumm. Der dichte Nebel, der in dunklen Spiralen durch die Straße waberte, hatte die Sackmasken feucht werden lassen. »Nun, Malachi, wie es scheint, hat Eure Großzügigkeit Euch das Leben gerettet. Unsere Zukunft gegen Eure… Aber wenn wir Euch nicht glauben, schneide ich Euch die Kehle durch, und Ihr singt durch Euren Magen.« Der Räuber zog mit der linken Hand ein Messer mit einer langen, silbernen Klinge hervor und hielt es Malachi unter die Nase. »Das war ein Geschenk von einem Gentleman. Schärfer als alle Messer, die ich je in der Hand hatte. Betet, dass Euer Orakel die Wahrheit sagt, sonst werden seine blinden Augen Zeuge eines so gemeinen Mordes, dass es sich nie mehr traut, den Mund aufzumachen.« Malachi starrte die blitzende Klinge an. Sein Blick wurde wie magisch von den geheimnisvollen Symbolen angezogen, die in den hellen Stahl eingraviert waren. Er schaute – und schaute noch einmal. Er war sicher, dass die Schlange, die einen Teil des Schafts bildete, ihre silbernen Schuppen aufgestellt und sich einen Augenblick lang geräkelt hatte, bevor sie sich wieder mit dem massiven Stahl verband. »Ich denke, ihr werdet zufrieden sein mit dem, was Tersias euch zu sagen hat, wenn nicht… verblüfft«, brachte er mühsam heraus. Seine Kehle war staubtrocken. »Aber nicht hier.« Der Räuber gab seinen Kameraden ein Zeichen weiterzugehen. »Folgt ihnen, sie kennen einen sicheren Ort, nicht zu weit von hier, wo wir unter uns sind. Der ideale Platz, um Euer Orakel zu hören… oder Euch die Kehle durchzuschneiden.« Tersias vergrub sich unter der schmutzigen Decke. Seine Ohren dröhnten vom Flügelschlag des Geistwesens, das sein Unterbewusstsein von weither gerufen hatte. Vor seinem geistigen Auge sah er das Wesen aus den dunklen Wassern des großen Flusses steigen, sah, wie es sich von einem Pfeiler der London Bridge erhob, als ob es am Grund des trüben Wassers
zu Hause sei. Tersias sah das Ungeheuer am Gemäuer der alten Kirche hinaufklettern, sah, wie es seine Flügel ausbreitete und in den Nachthimmel flog. Jetzt konnte er es ganz deutlich erkennen, das lange Haar, das hinter ihm herflatterte, das Gesicht zerfressen und schon halb verwest. Es streckte eine schmale weiße Hand nach ihm aus, als es durch die nächtlichen Gassen schoss, kurz in offenen Türen verschwand und den Schlaf der Häuser störte. Es kam immer näher, während man ihn in seinem Käfig durch Angel Court in den St.-JamesPark schob. Zum ersten Mal, seit er die Gegenwart der Teufelsbrut gespürt hatte, fürchtete er sich vor ihr. Das Ungeheuer wollte mehr, als nur durch ihn reden und Menschen manipulieren. Es war eine Boshaftigkeit in ihm, die Tersias das Gefühl gab, klein und schwach zu sein. Ihm war, als hätte es ihm Herzschlag und Hoffnung geraubt. Tersias zog seine Hände unter der warmen Decke hervor und legte sie über die Augen, um den Anblick der Kreatur nicht länger ertragen zu müssen. Der Wagen hielt. Er hörte das Rascheln von Blättern an Bäumen und das Schnattern von Schneegänsen. Je näher der Geist kam, desto schneller und klarer kamen die Bilder und Gedanken. Tersias hielt den Atem an, aus Angst, die Bestie könnte ihn verschlingen, in seinen Körper fahren und ihn nicht mehr verlassen. »Wir sind da, Malachi. Sag Tersias, er soll uns weissagen.« »Was liegt euch am meisten am Herzen? Wollt ihr ihn etwas ganz Bestimmtes fragen?« Malachi stieß Tersias mit dem langen Stock an, den er seitlich aus dem Wagen gezogen hatte. »Sag, Tersias… wie wird mein Leben aussehen? Werde ich im Bett sterben, oder bekommt der Henker meine Kleider?« Der Räuber lachte. Vom See herüber drang plötzliches lautes Geschnatter, als ein ganzer Schwarm aufgeschreckter Gänse sich aus dem Wasser erhob und mit wildem Flügelschlag in die Nacht hinaufstieg. Die Tiere flogen so hoch hinauf, wie sie nur konnten, als versuchten sie, einem unsichtbaren Raubtier zu entkom-
men, das mitten durch sie gefahren war. Ihre ängstlichen Schreie waren weithin zu hören. Die Teufelsbrut ließ sich vom dunkelsten Punkt des Himmels herabfallen, schoss über den großen See und tauchte die Spitzen ihrer langen dunklen Flügel in das silbrig glänzende Wasser. Auch Möwen und Tauben stoben zu den aufgeschreckten Gänsen hinauf, als das dunkle Wesen über das Wasser fegte und sich etliche Fuß von Tersias entfernt am Ufer niederließ. Langsam ging es auf den Wagen zu, den Blick auf das Messer des Räubers geheftet. Vor seinem geistigen Auge sah Tersias, wie es näher kam, und er vergrub sich tiefer unter seine Decke. »Tersias«, stöhnte Malachi und stieß ihn noch einmal mit dem Stock an, »unser Freund möchte wissen, was sein wird.« Tersias hörte die Stimme des Wesens und wiederholte seine Worte laut, während es seine Hände auf den Kopf des Räubers legte und langsam einen langen Finger in dessen Ohr steckte, als suche es nach seinem Gehirn. »Er hat viel gestohlen und immer getan, was ihm gefiel. Er hat keine Angst vor dem Strang und denkt nur an sich und sonst niemand. Wie im Leben so im Tod. Ich sehe die Schlinge um seinen Hals, doch nicht so eng, dass sie ihm den Atem nimmt.« Das Wesen hielt einen Augenblick inne, und Tersias sah, wie es mit einem langen, dünnen Finger sacht über die Messerklinge in der Hand des Räubers strich. »Dieses Messer wird dein Untergang sein – es gehört dir nicht und wird dir nie gehören. Bring es auf die Felder zurück, wo du es gefunden hast, und lege es beim Brunnen ab.« »Er redet Unsinn, Kauderwelsch und Quatsch. Man hat mir das Messer aus freien Stücken gegeben. Es gehört mir«, widersprach der Räuber. Tersias ignorierte den Einwand, da das Ungeheuer weitersprach: »Es ist eine Person hier, die dir weggenommen werden wird. Sie wird verwandelt werden und nicht mehr die sein, die sie jetzt ist. Ihr Leben wird dem eines Jacarandabaums gleichen, der selten ist und anfällig. Ein lebendiges Grab wird sie verschlingen, und Heuschrecken werden sich an ihrem Fleisch gütlich tun…« »Worte, nichts als unsinniges Gestammel«, entfuhr es dem Räuber. Er stieß Malachi mit einem Arm zurück und wandte sich dann wieder an das Orakel. »Du hast Glück, dass du hier lebend weg-
kommst. Geh zu deinem Freund Malpas, und lüg ihm etwas
vor, Tersias. Vielleicht lässt er sich von deiner Blindheit erbarmen und schneidet dir nicht auch noch die Zunge heraus.« Tersias schaute nicht auf. Er sah das Untier in den Nachthimmel aufsteigen, sah es wie Jack, den springenden Unhold von London, über den First des Buckingham-Palastes laufen und in der Dunkelheit verschwinden. »Ich gehe nicht mit leeren Händen hier weg«, verkündete der Räuber wütend. Er griff sich die Pistole und zielte auf Malachi. »Leert Eure Taschen, und betet, zu welchem Gott ihr auch wollt, dass Ihr genug Gold dabeihabt, um es gegen mein Blei aufzuwiegen.« Malachi trat einen Schritt zurück, presste sich an den Stamm eines niedrig gewachsenen Baumes am Seeufer und fischte in seiner Tasche nach der Guinea. »Mehr habe ich nicht«, sagte er schwach und streckte die Hand mit der Münze aus, während er fieberhaft überlegte, wie er entkommen könnte. »Nehmt den Jungen – er bringt nur Ärger. Ich gebe zu, dass ich ein Scharlatan bin. Er ist nichts weiter als eine Zirkusattraktion, und ich bin ein erfolgloser Zauberer.« Er ließ sich auf ein Knie nieder und streckte die Handfläche mit der Münze darauf aus. »Nimm sie!«, rief der Räuber seinem kleinen Kameraden zu. Der machte einen Satz, schnappte sich die goldene Guinea von Malachis Handfläche und prüfte sie auf ihre Echtheit, indem er durch die Maske hindurch darauf biss. »Wehe, sie ist nicht echt! Dann blase ich Euch durch diesen Park, und die Gänse können dir die Eingeweide herauspicken. Und jetzt verschwindet, und lasst Euch hier nicht wieder sehen.« Malachi schaute vom Boden hoch. Er und Tersias waren allein. Die Räuber waren weg, verschmolzen mit den dunklen Parkbäumen. Mit zitternden Händen griff er nach dem Wagen und schob ihn über den verlassenen Pfad Richtung Thieving Lane. Tau legte sich über den Park wie ein zarter silberner Tropfenschleier, als die Räuber sich im Unterholz bei der großen Eiche zusammendrängten, die schon in der Zeit des dicken
Heinrich da gestanden hatte. Sie beobachteten, wie Malachi sich im ersten Morgengrauen mit dem Wagen abmühte. »Eine goldene Guinea, Maggot! Das bedeutet einen Monat Bier und Brot!«, sagte Jonah und zog sich den verschwitzten Sack vom Kopf. »Hat es dir Spaß gemacht?«, flüsterte er Tara zu, als die den Gehrock aufknöpfte, den sie sich von dem alten Bunz ausgeliehen hatte. Sie drückte ein zusammengefaltetes Stück Stoff auf die Wunde an Jonahs Arm, die erneut aufgerissen war und wieder blutete. »Er wusste von dem Messer.« »Der Junge wusste eine ganze Menge, und wir haben noch eine Guinea dazubekommen«, erwiderte Jonah aufgeregt. »Bringst du es zurück, wie er gesagt hat? Ich habe das Gefühl, hinter dem Messer und der Alabasterkugel steckt mehr, als wir je wissen werden. Es ist kein gutes Gefühl – als wüssten sie alles über uns und wollten es der Welt sagen.« »Du bist eine Träumerin, Tara. Schau, was wir heute Abend bekommen haben. Bald haben wir so viel, dass wir nie mehr stehlen müssen. Mehr Geld, als wir je gesehen haben.« »Hast du seine Augen gesehen?«, fragte Maggot. Er drehte sich auf den Rücken und schaute hinauf zu den Sternen. »Er ist noch ein Junge, noch nicht einmal so alt wie ich. Wir können es nicht zulassen, das der alte Mann ihn wie einen Sklaven hält. Wer weiß, was er mit ihm macht. Und wenn er wirklich die Zukunft voraussagen kann, dann überlegt doch, was er für uns tun könnte! Er hatte recht mit dem Messer, er wusste, dass es vom Brunnen der Schwarzen Maria kommt. Woher hätte er das wissen sollen, wenn er kein Orakel ist?« »Maggot hat recht, Jonah«, sagte Tara. »Wir können ihn nicht bei Malachi lassen. Einer wie er könnte uns sagen, wo überall in der Stadt Geld versteckt ist. Wir wüssten, ob die Miliz in der Nähe ist und was sich in den Kutschen befindet.« Plötzlich wurde ihr kalt, sie spürte eine eisige Umarmung wie in dem Augenblick, als sie die Alabasterschatulle geöffnet hatte. Jonah überlegte hin und her. Er dachte an das Wissen und
den Wohlstand. Der Wunsch zu besitzen war übermächtig in ihm. Er hasste es, jeden einzelnen Penny aus dem Dreck klauben zu müssen, und hier unter den Sternen begann er zu begreifen, was das Leben ihm bieten könnte. Er sah sich in einer Kutsche sitzen wie Lord Malpas, vor einem vornehmen Haus anhalten und eine weiße, polierte Treppe hinaufsteigen. »Eine doppelte Herausforderung!«, sagte er, sprang auf und wischte sich den Tau von den Hosen. »Wir folgen ihnen zu Lord Malpas, schnappen uns den Jungen, wenn sie wieder herauskommen – und nehmen uns das Geld, das der Alte dem guten Lord abgeknöpft hat!«
6. Der vernünftige Mister Skullet Skullet nahm den Gestank von verwestem Fleisch nicht wahr, der durch den eichengetäfelten Flur von Haus Vamana zog. Müde schlurfte er zur Eingangstür. In der linken Hand hielt er einen schwarzen Stock mit einem goldenen Knauf in Form eines Wolfskopfes, und bei jedem Schritt klopfte er damit auf den Steinboden. Jemand hämmerte von draußen an die Tür und brüllte so laut, dass es durch die dicken Mauern schallte. In der anderen Hand hielt Skullet eine Kerze in einem schäbigen hölzernen Halter, der so unpraktisch geformt war, dass das Wachs ihm über die Finger tropfte. Die Kerzenflamme war blutrot und warf den Schatten seines hageren Gesichts an die hohe Decke und die feuchte Holzvertäfelung an der Wand. Das Hämmern an der fast schwarzen Eichentür, die zwei Mann hoch und mehrere Mann breit war, hörte nicht auf. Das Geräusch erfüllte den Flur wie ein Herzschlag. Dazu war eine schrille Stimme zu hören, die jammerte und klagte. Er verstand nicht, was gesagt wurde, doch es klang wie die letzten Worte eines Sterbenden. Skullet ließ sich nicht drängen. Unbeeindruckt von dem Geschrei ging er im selben Tempo weiter. »Ruhe, Mann!«, brüllte er schließlich so laut, dass seine Stimme sich überschlug. »Lord Malpas ist beim Abendessen, und durch Euer Heulen geht die Tür kein bisschen schneller auf!« Er stellte die Kerze auf die Ablage neben der Tür und begann, die sechs Riegel und dreizehn Schlösser zu öffnen, mit denen die Tür gegen ungebetene Gäste gesichert war. Haus Vamana hatte Verschwörungen und Plagen überstanden, jeder Stein war mit blutigen Händen zurechtgehauen, jede Tür mit viel Mühe und Schmerzen gefertigt worden. Dreihundert Jahre lang war es nun schon das Zuhause eines Malpas,
vom ersten, dem Zwergenlord, der das Haus an der Themse als Zuflucht nach seinen Diebeszügen im Moor gebaut hatte, bis zum heiligen John, der sich stündlich mit einer Peitsche aus Rattenschwänzen züchtigte. Inzwischen war das Moor trockengelegt, und ringsum waren weitere Häuser gebaut worden. Mit seinen zwei Türmen und den schmalen Fensterschlitzen ragte Haus Vamana wie ein alter, knorriger Baum aus dem Schmutz der Thieving Lane. Der jetzige Bewohner war Lord Trigon Malpas. Als er den letzten Riegel zurückgeschoben hatte, hielt Skullet inne und blickte den langen Flur entlang zur Treppe, die hinaufführte in die Bibliothek, von der aus man die Straße überblicken konnte. Sein Vater war Kammerdiener bei Trigons Vater gewesen. Jeder Malpas hatte einen Skullet gehabt, der ihm das verlauste Haar gekämmt und die schmutzigen Stiefel poliert hatte. Er war am selben Tag, zur selben Minute und in genau derselben Sekunde geboren wie Trigon Malpas. Skullet hatte sich in dem mit Bleiplatten ausgeschlagenen Keller des Hauses mit den Füßen zuerst seinen Weg ins Leben gesucht, während oben Lady Malpas sich beklagt hatte, weil ihre sklavische Magd ihr nicht beistand, da sie im Höllenschlund ein Ferkel warf. Vom ersten Tag an war Skullet, was das Leben seines Herrn betraf, auf dem Laufenden gewesen, hatte miterlebt, wie er immer reicher und niederträchtiger wurde. Er hatte viel erduldet, während Lord Malpas Mitglied des Parlaments wurde, den König zu einer Marionette machte und jeden manipulierte und verhexte, den er mit seinen durchdringenden schwarzen Augen ansah. Er lehnte den schwarzen Stock an die Wand, packte den großen, eisernen Türgriff mit beiden Händen und zog die Tür auf. Leise schwang sie in den gewaltigen Eisenscharnieren zurück. Die Nacht drängte herein, der Nebel von der Straße wirbelte die Marmorstufen herauf und in den Flur. Vor ihm stand Magnus Malachi mit einem kleinen Jungen an der Hand.
»Ausgeraubt!«, keuchte Malachi, ließ die Hand des Jungen los und wedelte mit den Armen, als wollte er einen unsichtbaren Geist vertreiben. »Plötzlich standen sie da, sieben Kerle mit Messern, Pistolen und Donnerbüchsen. Ich hatte keine Chance. Sie haben mir mein Geld geraubt, alles, was ich hatte.« Malachi sank auf die kalten Stufen, schniefte und barg das Gesicht in den Händen. »Was soll ich nur tun?«, ächzte er durch die Finger hindurch. »Aufstehen und reinkommen«, erwiderte Skullet ungerührt. Er packte Tersias am Kragen und hob ihn über die Schwelle ins Haus. »Euer Geschniefe wird Lord Malpas nicht gefallen. Er hasst Schwäche, und Euer Jammern ist ihm schon auf den Magen geschlagen. Wenn ich Euch einen Rat geben darf, Malachi, und Ihr das Haus mit allen Euren Innereien am richtigen Platz wieder verlassen wollt, dann wischt Euch Eure weibischen Tränen ab, und kommt herein. Es gibt nur eine Feuerstelle im Haus, und die soll nicht auch noch die Straße wärmen.« Malachi erhob sich, fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht und schob Tersias weiter in den Flur hinein. Er schaute sich die schweren Eichenpaneele an und das rußgeschwärzte Porträt von Trigon Malpas’ Vater. Dabei fiel ihm die verblüffende Ähnlichkeit mit Mister Skullet auf. »Ein feiner Mann«, sagte Malachi, als sie an dem Bild in dem gewaltigen vergoldeten Rahmen vorbeigingen. »Lord Malpas?« »Sie sind alle Lord Malpas. Sämtliche Generationen. Kein Bild, das jemand oder etwas anderes zeigt. Sie hängen hier seit der Zeit des großen Lord Homunculus Malpas. Jede Generation brachte einen männlichen Erben hervor, kein einziges Mädchen wurde jemals geboren… lebend.« Skullet betrat die Treppe. »Ich muss Euch noch etwas sagen, Mister Malachi. In diesem Haus herrschen Regeln, die beachtet werden müssen. Schaut Lord Malpas nie in die Augen, richtet den Blick immer auf seine Füße. Heute Abend seid Ihr da, um zu antworten, also stellt keine Fragen. Lord Malpas mag keine Fragen.« Er senkte die Stimme. »Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Malachi nickte. Er versuchte, Einzelheiten auf dem großen Ölgemälde zu erkennen, das die Wand an der Treppenbiegung beherrschte. Das Licht von Skullets Kerze flackerte über Homunculus Malpas, der einen Wolfsschädel in der Hand hielt. »Ist das der Gründer der noblen Dynastie?«, erkundigte sich Malachi. Er trat einen Schritt zurück, um das Bild besser betrachten zu können. »Einen Nobleren als ihn gab es nicht«, erwiderte Skullet und hob die Kerze hoch, damit sie das Gesicht beleuchtete, das auf sie herunterblickte. »Er war Gefolgsmann des Königs. Sie jagten Hirsche, als sie von einem tollwütigen Wolf angegriffen wurden. Mit zwei Schnitten trennte er den Kopf der Bestie vom Rumpf und rette dem König so das Leben.« »Die Hand, die das Messer hält, ist verbunden?«, stellte Malachi im Weitergehen fest. Er blieb noch einmal kurz stehen und blickte zurück. Das Messer kam ihm bekannt vor. Er hatte es schon einmal gesehen. »Der Wolf hat ihn mit dem letzten Atemzug noch gebissen. Die Wunde ist nie verheilt. Man sagt, das Blut des Wolfs, das in die Wunde tropfte, hat ihn verrückt gemacht. In den Adern der Familie fließt seither Wolfsblut. Aber kein Wort darüber. Lord Malpas wäre nicht erfreut.« Skullet hob den Stock und drückte Malachi den Wolfskopf in die Wange. »Ich warne Euch, Malachi, man wird Euch für die Worte Eures Orakels gut bezahlen, aber keine Tricks, sonst habt Ihr es mit mir zu tun, und ich kenne nur eine Antwort – Gewalt.« Skullet stieß ein leises Lachen aus und ging weiter voran die Treppe hinauf. Tersias blieb stumm, während Malachi ihn zur offenen Tür der Bibliothek zog. Bernsteinfarbenes Licht flutete auf den Flur, sodass man die Ritzen in den Dielen erkennen konnte und die Mäuse, die an der Wand entlanghuschten. »Wartet«, befahl Skullet, bevor er den Raum betrat und den Kopf senkte. »Eure Gäste sind angekommen, Lord Malpas.« Er drehte sich zu Malachi um und nickte ihm zu, als Zeichen, dass er hereinkommen sollte. »Denkt dran, was ich Euch gesagt habe«, flüsterte er mit einem finsteren Lächeln.
»Malachi, Tersias… wie überaus freundlich von euch, mir Gesellschaft zu leisten«, begrüßte Malpas die beiden aufgeregt und stieg von der Bibliotheksleiter. Mit offenen Armen ging er seinen Gästen entgegen. »Wie oft habe ich schon zu Skullet gesagt, dass wir zu selten Besuch bekommen. Wir sollten auch mehr ausgehen… Doch ich habe weder die Zeit noch die Gelegenheit für solche Trivialitäten.« Während er sprach, drehte er ein Sträußchen mit rot blühenden Blumen in den Händen. Er lächelte Malachi zu und bat ihn, sich ans Feuer zu setzen. Malachi warf Skullet einen kurzen Blick zu. Der herzliche Empfang irritierte ihn. Dann setzte er sich an die große offene Feuerstelle und beobachtete, wie die leuchtenden Flammen den Kamin hinaufloderten. Er hatte Tersias zu sich herangezogen und bürstete Staubkörnchen von den Schultern seines schäbigen Rocks, der in einer so eleganten Umgebung noch abgerissener aussah als sonst. Auf dem gewebten Kaminvorleger lagen Pfeile mit goldenen Spitzen, die so aussahen, als seien sie absichtlich hier ausgestreut worden. Quer über zwei Pfeilspitzen, die zur Tür zeigten, lag der grüne Schaft eines dritten Pfeils. Malpas bemerkte, dass Malachi die Anordnung genau studierte. »Es sind Wünschelruten… Wie ich sehe, interessieren sie Euch, Meister Malachi.« Malpas ließ sich vor dem Kamin auf ein Knie nieder. »Wir beide wollen etwas über die Zukunft erfahren. Ich befrage auf meine eigene, primitive Art und Weise das Unsichtbare, in der Hoffnung, geführt zu werden. Mit diesen Pfeilen forsche ich nach der Wahrheit. Ich stelle eine Frage und werfe sie vor dem Feuer aus und das Muster, das sie bilden, enthüllt dem geschulten Auge die Antwort.« Malachi schwieg. Wie ihm angeraten worden war, hielt er den Blick gesenkt. »Es mag primitiv sein, doch es hat mich davon überzeugt, dass es nicht nur diese Welt für uns gibt… Aber Tersias ist ein echtes Orakel und wird sich an höchster Stelle einen Namen machen. Gerade heute Nachmittag hat der König gefragt, ob unser Treffen zustande kommt. Als Vormund des Jungen könntet Ihr Euch selbst bald in wichtiger Gesellschaft
wiederfinden.« Malachi platzte fast vor Stolz. Er klopfte Tersias auf den dampfenden Rücken. Die Wärme des Feuers zog die Feuchtigkeit aus seinem Rock und rötete seine Wangen. »Ich hoffe, Ihr seid so frei und fragt meinen kleinen Kameraden, was immer Ihr wollt. Wir sind etwas abgerissen, da wir ausgeraubt wurden. Die Bande war so gewalttätig, dass wir mit nichts als unserem Leben davonkamen.« »Ausgeraubt, sagt Ihr? Und Ihr habt es nicht vorhergesehen?« Malpas kicherte amüsiert. »Haben sie Euch viel abgenommen?«, erkundigte er sich und befühlte die Abschürfungen an seiner Wange. »Alles, was ich hatte – eine goldene Guinea, meine herrliche Uhr… Lediglich die Tatsache, dass sie Tersias hätten durchfüttern müssen, hielt sie davon ab, ihn auch noch mitzunehmen.« Malachi schaute auf, und sein Blick traf sich mit dem von Malpas. »Die Stadt wurde geradezu überrollt von Raubüberfällen. Ich selbst wurde zum Opfer eines solchen Satans, der mir etwas sehr Wertvolles gestohlen hat. Das ist auch der Grund, weshalb ich Euch heute Abend herbestellt habe. Falls Eure Antworten Erfolg bringen, kann ich Euch zu einem reichen Mann machen. Was der Junge bei Charing Cross sagte, hat mich neugierig gemacht. Lasst ihn jetzt sprechen – später wollen wir dann zu Abend essen…. Skullet, lösche die Kerzen, damit unser Orakel nur vom Feuer beschienen wird.« Lord Malpas überlief ein freudiger Schauer. Er klaubte die Pfeile zusammen und steckte sie sorgsam in einen grünen Samtbeutel, der wie ein Weihnachtsstrumpf am Kamin hing. Skullet huschte durchs Zimmer und löschte eine Kerze nach der anderen. Dunkelheit legte sich über den Raum. Malachi erhob sich, schob Tersias in die Mitte des Kaminvorlegers und drehte ihn so, dass sein Gesicht zu dem Sessel zeigte, in den Malpas gesunken war wie eine brütende Krähe. Der Schein des Feuers fiel auf das bleiche Gesicht des Jungen und ließ die leeren weißen Augen in einem tiefen Rot
leuchten, das direkt aus seiner Seele zu kommen schien. Malachi blickte sich argwöhnisch in dem dunklen Raum um, schaute hinter jedes Möbelstück und sah nach, ob auch kein neugieriger Geist dahinter lauerte. Mit wehenden Rockschößen schritt er durch das Zimmer und murmelte einen alten Zauberspruch vor sich hin. Die Myrrhekügelchen, die er sich in den Bart gerieben hatte, glitzerten. Das Feuer knisterte und Funken sprühten, als Skullet zundertrockene Scheite von Eschen- und Stechpalmenholz auflegte. Bald erfüllte der süße Duft des Holzes den Raum. Tersias spürte die heißen Flammen auf seinem Gesicht. Er wusste bereits, dass die Teufelsbrut ihn finden würde. Seit diese in sein Leben getreten war, fürchtete er sich kaum noch vor den Menschen. Tersias kam sich vor wie ein trockenes Blatt, das auf einem See trieb und nur die eine Hoffnung hatte: das kühle Wasser aufzusaugen, langsam in die Tiefe hinabzusinken und von dem Schlamm am Grund aufgesogen zu werden. Mit jedem Besuch des Wesens wurde ihm ein Stück Wirklichkeit entrissen. Jedes Mal, wenn der Geist ihn verließ, war es, als nähme er etwas von ihm mit, einen Teil seiner Seele oder ein Scheibchen seines Verstandes. Jede Trance und jede Vision nahm ihm ein Stück seiner Existenz. Tersias spürte, wie eine tiefe Müdigkeit ihn überwältigte, da ihm langsam der Lebenswille geraubt wurde. »Nun, mein lieber Tersias«, begann Malpas leise, »ich brauche eine Antwort auf meine Frage. Wie du schon gesagt hast – ich habe ein Kästchen verloren. Mein Vater hatte es mir anvertraut. Es war seit vielen Generationen in meiner Familie. Sage mir, Tersias, wo finde ich es?« Tersias lauschte auf das vertraute Geräusch der sich nähernden Teufelsbrut, doch alles blieb still. Malpas wartete ungeduldig und rieb dabei mit den spitzen Knöcheln der einen Hand über die Handfläche der anderen. Er schaute Malachi an, versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Dann nickte er Skullet zu. »Was mein Herr wissen möchte, ist Folgendes…« Skullet
hielt kurz inne und räusperte sich. »Weißt du, wohin das Kästchen gebracht wurde und von wem?« Er ließ den schwarzen Stab mit Wucht auf den Holzboden krachen. »Ich kann noch nicht reden«, erwiderte Tersias. Er drehte den Kopf rasch in alle Richtungen in der Hoffnung, das Wesen mit seinen geistigen Augen zu sehen. In seinem Kopf war kein Laut, kein einziges Wort wurde ihm zugeflüstert. »Durch welche Macht sprichst du?«, wollte Malpas wissen. »Durch die Stimmen, die in meinen Kopf kommen.« »Und jetzt sind sie nicht bei dir?« Malpas musterte den Jungen im Schein des lodernden Feuers von oben bis unten. »Nein, mein Herr, ich bin allein.« »Sag junge… diese Stimmen – gehören sie einem Wesen, das dich heimsucht?« »Nicht einmal ich würde ihn das fragen«, protestierte Malachi und sah Malpas direkt an. »Dann seid Ihr ein Dummkopf, Malachi, denn dein Orakel hier sieht Geisterwesen. Seine blinden Augen sehen, was die Menschheit seit Adams Sündenfall durch den Verrat dieser Frau zu sehen wünscht.« Malpas wandte sich wieder an den Jungen und nahm seine Hand. »Hab keine Angst vor mir, Tersias. Auch ich habe mir deine Gabe gewünscht. Die Kreaturen suchen dich also heim, und du hörst ihre Stimmen?« »So ist es, Lord Malpas. Seit einiger Zeit geht das nun schon so, und jedes Mal kommen sie näher. Ich sehe den Geist in meinem Kopf und höre seine Stimme so klar wie das Weckläuten.« »Fürchtest du sie?«, fragte Malpas und rieb sich die Hände. »Nur einen… Er hat eine kräftige Stimme, ist wohl älter und weiser als die anderen. Wenn er kommt, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.« Tersias schüttelte sich in der Erinnerung daran. »Rufe diese Stimme, Tersias. Bitte sie, zu dir zu kommen. Es gibt etwas, das ich wissen muss.« Tersias murmelte vor sich hin, als er sich das Wesen vorstellte. Er stöhnte innerlich und flehte es an zu erscheinen.
»Öffnet das Fenster«, sagte er rasch und trat vom Feuer zurück, »ich höre die Kreatur rufen.« Malpas sprang auf und lief zu dem schmalen Fenster. Er öffnete es, und sofort drang der Gestank der Straße herein. Er schaute sich um, als erwarte er jeden Augenblick, das Wesen zu Gesicht zu bekommen. Skullet stand beim Feuer. Er hielt seinen Stab vor dem Körper, als wolle er sich vor dem, was da kommen würde, schützen. Malachi wühlte in dem Beutel, den er mitgebracht hatte, nach dem verschrumpelten Finger, um einen Zauber zu wirken. »Ist das Wesen schon da?«, fragte Malpas. Er kam zum Feuer zurück, hielt aber den Blick aufs Fenster gerichtet. Tersias schauderte, als er den Ruf des Ungeheuers hörte, das sich wie der biblische Leviathan aus den Fluten erhob und herbeigeflogen kam. Über die Bäume und Dachfirste kam es auf schwarzen Schwingen daher, zwängte sich durch die schmale Fensteröffnung und stand im Zimmer. »Du bist in mächtiger Gesellschaft, Junge«, sagte es und strich ihm über das Gesicht. »Ich kenne dieses Haus gut, und Malachi kann von Glück sagen, wenn er es lebendig verlassen darf. Was will dieser Lord Malpas von mir?« »Ein Kästchen. Das Kästchen, von dem du beim letzten Mal gesprochen hast, ist noch nicht wieder aufgetaucht.« »Ist das Wesen jetzt da?«, fragte Malpas noch einmal. »Sei still!«, herrschte die Kreatur ihn durch Tersias an. »Es kann uns hören! Skullet, frag es, ob es uns hören kann.« »Ich höre dich, Malpas, aber du bist taub für das, was ich sage. Der Junge wird für mich sprechen, und ich werde entscheiden, welche Antworten ich dir geben werde. Über mich hast du keine Macht. Im Gegensatz zu den anderen, die du kontrollierst, bin ich nicht dein Sklave.« »Du kennst also meinen Namen und mein Begehren?« »Ich weiß viel über deine Familie, und das, was du suchst, war ganz in der Nähe. Frag Malachi, er hat es am See gerochen. Der Alabaster ist nicht weit. Der Straßenräuber schlägt
sich den Bauch voll mit der Guinea, die er Malachi abgenommen hat. Wenn du ihn findest, findest du auch das, was du suchst.« Der Geist schwieg einen Augenblick. Er trat dicht an Malpas heran und sah ihm in die Augen. »Sag, Malpas, spürst du den Tod in deinen Knochen? Ist das der Grund, weshalb du den Alabaster so verzweifelt suchst?« »So ist es, bestes Wesen, genau so ist es.« Malpas hatte sich in den Stuhl beim Kamin gesetzt und starrte missmutig vor sich hin. »Ich bin der letzte Spross einer sehr alten, noblen Familie. Meine Frau Griselda wohnt auf Gut Strumbelo, einem unserer Besitztümer auf dem Land, und trägt sich nur mit reinen Gedanken. Nicht ein einziges Mal wollte sie sich zu mir legen, und in dem Alabaster liegt mein Erbe und meine Chance weiterzuleben.« »Wirf deine Netze nach Norden aus. Du hast Spione, die den Bösewicht innerhalb eines Tages finden können, aber du musst schnell handeln. Sie wollen die grüne Schatulle verkaufen und sich mit dem Geld davonmachen. Sie haben das Leben in London satt und wollen aufs Land. Während wir hier reden, werden Pläne geschmiedet, und der Alabaster liegt neben einer vollen Bettpfanne unter einem Bett, das von Flöhen nur so wimmelt.« »Wo? Wo ist das?«, rief Malpas. Das Wesen ging zur Tür. »Ich habe dir nichts mehr zu sagen, Malpas. Doch du kannst mich wieder rufen. Es ist lange her, seit ich zum letzten Mal hier war.« Ein plötzlicher, heftiger Windstoß fuhr durch den Raum, als das Wesen hinausschoss. Tersias wurde davon erfasst und zum Kamin gestoßen. Malachi machte einen Satz auf ihn zu, doch Skullet war schneller. Er sprang hinter dem Sessel hervor, stieß Malpas aus dem Weg, packte Tersias am Kragen und zog ihn von den lodernden Flammen weg. »Ein Kind wie dieses ist zu wertvoll, um es verbrennen zu lassen, Mister Malachi. Ihr solltet auf Euer Mündel aufpassen, sonst nehmen andere ihn in ihre Obhut«, sagte Skullet und bürstete Asche von Tersias Ärmel.
7. Skandalon Maggot versteckte sich hinter der rauchgeschwärzten Statue des heiligen Sebastian, die bereits zu bröckeln begann. Sie schaute unter dem dunklen Dachvorsprung der leer stehenden Kirche hervor, die gegenüber der Eingangstür von Haus Vamana stand. Der Junge strich immer wieder über den ehemals weißen Marmor und spürte die abgebrochenen Pfeile, die ihm in die Seite drückten. Maggot langweilte sich, und er fror, während er darauf wartete, dass Malachi und Tersias erschienen. Er fragte sich, warum der Heilige, der noch ganz jung aussah, auf diese Art gestorben war – von dreizehn Pfeilen durchbohrt. Von seinem Versteck auf dem Dach der Kirche aus schaute Maggot nach unten. Er war mithilfe des wackligen Baugerüsts immer höher hinaufgestiegen, von den Statuen zu den Wasserspeiern und schließlich über die Pfeile des Marmorheiligen bis ganz nach oben. Da saß er nun wie eine Krähe in ihrem Nest, zitterte vor Kälte und überlegte, was gleich passieren würde. Der Anblick der Stadt von oben war ihm vertraut. In den feinen Häusern in der Curzon Street war Maggot oft über die Schornsteine zu den irdenen Rußschalen hinaufgeklettert. Manche waren so groß gewesen, dass er hinaussteigen und frische Luft schnappen konnte, sich die Sonne auf das Gesicht scheinen und den Blick über die Dächer bis zum Stadtrand schweifen lassen konnte. Er genoss die Aussicht, solange es ging, bevor er wieder in die schwarze, heiße Hölle hinabstieg, in den Gestank, der ihm das Wasser in die Augen trieb. Wenn er dann wieder im Zimmer erschien, das Gesicht rußgeschwärzt, sodass nur die Augen weiß leuchteten, war er von oben bis unten mit verkrustetem Kohlenstaub bedeckt.
Jetzt schaute er hinunter auf die düstere Fassade von Haus Vamana mit seinen grauen Strebepfeilern und den schmalen Fenstern, durch deren dunkle Läden Lichtstreifen drangen. Man sah sich bewegende Schatten im Haus, langgliedrigen Spinnen gleich, die das Halbdunkel zu einem Netz verwoben. Während Maggot sich an den Rücken des Heiligen klammerte, rollte vom Fluss her Nebel herein und legte sich kniehoch über die Straßen. Er dachte an Tara und Jonah, die im »Bull and Mouth« die Guinea verfutterten und warteten, bis er kam und ihnen sagte, dass Malachi auf dem Weg zurück nach Cheapside sei. Wenn er an Essen dachte, knurrte sein Magen wie ein gereizter Hund. In seiner Vorstellung zog ihm der Duft von gebratenem Fleisch und frischem Brot vermischt mit dem von warmem Bier in die Nase. Maggot leckte sich über die Lippen, schloss die Augen und stellte sich das Festessen vor, das er nie bekommen würde. Sie hatten durch Losen ermittelt, wer essen und wer aufpassen würde. Der Aufpasser musste Wache schieben, während die Esser es sich mit dem von Malachi gestohlenen Geld gut gehen ließen. Maggot zog immer den kürzeren Strohhalm, jedes Mal, ohne Ausnahme. Doch hier oben in seinem Horst fühlte er sich sicher. Da sah ihn keiner, weil keiner je hinaufschaute. Der Blick der Welt war auf den Schmutz der Straße gerichtet. Alle gingen mit hochgezogenen Schultern umher. Der Klang verschiedener Stimmen und das Öffnen der Tür gegenüber riss Maggot aus seinen Tagträumen. »Bleibt doch, Malachi, mein Haus soll auch Eures sein«, schmeichelte Malpas. Skullet hielt Tersias an der Hand und wollte nicht loslassen. »Wir waren schon viel zu lange hier, mein lieber Lord. Aber wir kommen morgen wieder, und Tersias wird erneut für Euch weissagen«, erwiderte Malachi ängstlich, während er an Tersias freier Hand zog und versuchte, den Jungen aus Skullets Griff zu befreien. »Ich sage es noch einmal: Es wäre mir ein Vergnügen. In diesem Haus gibt es weiche Betten und gutes Essen. Ich würde sogar ein Feuer in euren Zimmern anzünden lassen. Ein eigenes Feuer – und Skullet serviert das Frühstück.« Bei diesen Worten lockerte Skullet den Griff, und es gelang Ma-
lachi, Tersias an sich zu ziehen. Er öffnete die Käfigtür und schob den Jungen hinein, ließ das Schloss zuschnappen und den Schlüssel an seinem Band um den Finger kreisen, bevor er ihn in die Tasche steckte. »Ich habe Pferde, um die ich mich kümmern muss. Außerdem schläft der Junge am liebsten in seinem eigenen Bett«, sagte Malachi und suchte fieberhaft nach weiteren Lügen, mit denen sich ihr Aufbruch begründen ließ. »Es gibt Dinge, die ich für das Orakel vorbereiten muss und die nur im Geheimen ausgeführt werden können.« Er lächelte, als er das sagte. Die schmalen Lippen spannten sich über den krummen, verfärbten Zähnen. »Aber morgen seid Ihr wieder da?«, drängte Malpas. Er blieb auf der untersten Treppenstufe stehen, da er nicht in den Schmutz der Straße treten wollte.
»Ja, morgen.« Malachi griff nach den Holmen des Wagens und schob ihn mit aller Kraft an. Malpas winkte lasch, als der Wagen in der Nacht verschwand. Er schaute ihm nach, sah, wie Malachi sich anstrengte, und hörte das Knirschen der Räder auf dem Pflaster. »Nimm die Miliz mit, und folge ihm«, flüsterte er Skullet zu. Was er nicht wusste: Der Wind trug seine Worte nach oben. »Sieh zu, dass sie auch tatsächlich nach Cheapside gehen. Die Miliz soll die ganze Nacht Wache halten, und bei Sonnenaufgang lässt du sie festnehmen und ins Gefängnis in der Fleet Street bringen. Durchsuche das Haus, und bring mir alles, was du findest.« Skullet rieb sich die Hände. »Wie soll die Anklage lauten?« »Diebstahl. Ich habe dem Jungen einen silbernen Löffel in die Tasche gesteckt, als wir die Treppe hinuntergingen. Malachi hatte es so eilig wegzukommen, dass er es nicht bemerkt hat. Der Löffel trägt mein Wappen.« Er kicherte. »Ich kenne jeden einzelnen Richter in London, ein Wort von mir genügt, und der alte Hund wird gehängt. Dann werde ich mich persönlich für den Jungen verwenden, werde das Gericht bitten, den blinden Bettler zu verschonen, und werde ihn in meine Obhut nehmen. Griselda wollte immer einen Sohn. Jetzt kann sie einen haben und sich ihren Lebensunterhalt verdienen.« Als Malpas sich umdrehte und wie eine Ratte die Treppe hinauf und in den kahlen Flur huschte, schaute Skullet an der
Fassade der alten, halb verfallenen Kirche hinauf. Er hatte das Gefühl, von durchdringenden Augen beobachtet, gemustert, auseinandergenommen zu werden… Fast war ihm, als schaue Gott selbst richtend auf ihn herab. Minutenlang ließ er seinen Blick über die Statuen am Dachvorsprung gleiten. Ein Taubenschwarm flatterte vom Dach auf und stieg hoch in die Nacht hinauf. Immer höher flogen die Vögel und zogen Skullets Blick zu Mond und Sternen. Er schüttelte sich. Der kalte Nebel zog um seine Knöchel. Endlich drehte er sich um und ging ins Haus, ohne seinen Beobachter entdeckt zu haben. Maggot glitt von dem Marmorheiligen herunter und suchte Halt beim nächsten Wasserspeier. Der hockte dick und fett auf einem schmalen Sims über der Kirchentür, die man mit Brettern vernagelt hatte, nachdem die Gemeinde immer mehr geschrumpft war und sich schließlich aufgelöst hatte. Er drückte gegen die Statue, als er mit den Fußspitzen nach dem Sims tastete und sein ganzes Gewicht an den Fingerspitzen hing. Über seinem Kopf hörte er einen Vogel kreisen. Es klang wie der gleichmäßige Flügelschlag eines Adlers. Maggot setzte einen Fuß auf den Wasserspeier und schaute sich um. Es war nichts zu sehen, also musste der Vogel davongeflogen sein. In der Ferne hörte er die Schreie von Gänsen, die vom Wasser aufflogen. Er stemmte sich fester gegen die Statue und versuchte, einen sicheren Halt auf dem Wasserspeier zu finden. In dem Moment traf ihn ein Hieb in den Rücken. Er ließ sich auf den Wasserspeier fallen und klammerte sich daran fest. Schlag um Schlag prasselte auf ihn herunter. Geduckt drehte er den Kopf, um seinen Gegner zu sehen. Seine Hände glitten von dem kalten Stein. Langsam wurde er an den Rand des Simses gedrängt. Er sah nichts. Es war, als würde er von einem unsichtbaren Wesen, das über ihm stand, angegriffen. Als weit im Norden ein tiefroter Blitz über den Nachthimmel zuckte, sah er für einen kurzen Augenblick die Umrisse der Teufelsbrut, sah das zerfressene Gesicht auf sich herunterstarren, die ausgebreiteten Flügel und die Fäuste, die auf ihn einhämmerten.
In Panik ließ Maggot los und rutschte zwischen der steinernen Fassade und dem alten Gerüst in Richtung Straße. Sein Bein blieb an einer hölzernen Strebe hängen, mit der das Gerüst an der Kirche verankert war, er drehte sich in der Luft und bewegte sich nun kopfüber auf die aufgestellte Lanze einer Tempelritterstatue zu. Plötzlich regneten von allen Seiten Bretter auf ihn herunter. Das Gerüst hatte sich aus seiner Verankerung gelöst. Es stürzte in sich zusammen und riss die Wasserspeier und die Statuen der Heiligen mit sich. Noch einmal sah Maggot für einen kurzen Moment die Silhouette der Teufelsbrut über sich. Das Ungeheuer stand auf dem Kirchendach und trat die letzten Gerüststreben los. Dann war es verschwunden. Maggot fiel. Holzverstrebungen polterten gegen das Bauwerk, und die Lanze des Tempelritters kam immer näher. Er schrie auf, als sie sein Gesicht streifte. Die Spitze bohrte sich durch den Kragen seines Rockes, der dünne Stoff riss, und Maggots Sturz fand urplötzlich ein Ende. Da hing er wie eine Forelle an der Lanzenspitze, und um ihn herum fiel das Gerüst in sich zusammen. Es war wie bei einem Erdbeben, dicke Staubwolken blähten sich im Licht des Mondes auf. Voller Angst trat Maggot um sich. Schließlich riss sein Rock vollends durch und er landete auf einem Schutthaufen. Sofort sprang er auf die Füße und begann zu laufen, doch ein wahnsinniger Schmerz fuhr durch seinen Körper, und seine Beine knickten immer wieder ein. So schnell es ging, humpelte er voran. Bei jedem qualvollen Schritt schossen ihm Tränen in die Augen. Als er die Glockengasse erreichte, lehnte er sich an eine Mauer und schaute zurück zur Kirche. Skullet stand mitten auf der Straße; der Lärm hatte ihn aus dem Haus getrieben. Neben ihm standen drei gedrungene Milizionäre, die aus dem Schlaf gerissen worden waren und ihre langen roten Mäntel noch nicht ganz zugeknöpft hatten. Auf Händen und Knien kroch Maggot im Schatten der Häuserwände vorwärts, wobei er das am meisten schmerzende Bein hinter sich herzog. Er wusste, dass er nicht aufgeben
durfte, und so biss er die Zähne zusammen und schleppte sich weiter und weiter. Bei jeder Bewegung rieb Knochen auf Knochen. Er schaute nicht mehr zurück, nur noch geradeaus, das Gesicht eine versteinerte Maske. So kämpfte er sich durch den Schmutz der Straßen und Gassen am Ufer der Themse. Die Straßen waren gespenstisch leer. Die Angst vor einem zweiten Kometen hielt die Menschen, die in die Stadt zurückgekehrt waren, in ihren Häusern. Der Zirkus von Charing Cross war weitergezogen, übrig geblieben war ein kalter Haufen Kot von Ozymandias auf dem Podest der Statue. Meter um Meter humpelte und kroch Maggot durch die verlassenen Straßen. Um sein schmerzendes Bein zu entlasten, zog er ein schmales Brett aus der Tür eines vernagelten Geschäftes und klemmte es sich unter die Achsel. Die Erinnerung an das Ungeheuer, das ihn angegriffen hatte, trieb ihn weiter wie ein vor Schmerz schon halb verrücktes Tier. Die Angst, das Wesen könnte ihm folgen, versetzte ihn in Panik. Jeder einzelne Nerv in seinem Körper schickte flammende Blitze durch sein Fleisch. Vor Angst und Schmerz war ihm schon ganz übel. Es war das Lachen, das ihm den Schmerz nahm. Er hörte Jonah singen, hörte Musik aus dem »Bull and Mouth« auf die Straße dringen. Die Worte des schlüpfrigen Liedes waren die Lyon Street hinunter bis zur Ecke Holborn zu hören, wo Maggot an der Tür zur Garküche lehnte. Er schaute hinauf zu dem Licht, das aus dem Wirtshaus drang, als sei es der einzige Platz auf der Welt, an dem das Leben weiterging. Seine Hände waren feucht, und als er im Dämmerlicht auf sie hinunterschaute, sah er, dass sie blutig waren. Eine Stimme in seinem Kopf flehte ihn an, stehen zu bleiben, keinen Schritt weiterzugehen. Der Schmerz kam in kalten Wellen von seinen Füßen herauf und hüllte ihn ein. Ihm war, als ertrinke er in Eis. Vom Bloomsbury Square klang das hohe Bellen eines Hundes herüber. Plötzlich schickte der Mond sein hartes, kaltes Licht in die Straße, ließ sämtliche Schatten, Steine und Gräser
lebendig werden und verwandelte sie in Teile des Ungeheuers, das Maggot in Gedanken immer noch verfolgte. Er konnte sich nicht mehr rühren. Eine alles überdeckende Angst nagelte ihn am Boden fest. Nur ein kleines Stück die Straße hinauf war seine Zuflucht, ein warmer Ort, an dem er mit Musik willkommen geheißen würde, mit lauwarmem Bier und dem Handschlag von Freunden. Doch zwischen Maggot und dem Wirtshaus lag eine finstere Schlucht, in der sämtliche Ängste brodelten, die ihn in einsamen Nächten je heimgesucht hatten. Da! Wieder das hohe Bellen des Hundes, dessen Echo von Häuserwand zu Häuserwand geworfen wurde. Maggot sah auf. Er war sich sicher, das Untier von der Kirche gleich über den Dächern auftauchen zu sehen und von ihm durch die Straßen gejagt zu werden. Seine Gedanken eilten voraus, er erlebte die Jagd bereits, den Moment, in dem die Bestie ihn erreichte und langsam und qualvoll zu Tode brachte. Sein Herz hämmerte, und kalter Schweiß lief ihm über das Gesicht, dabei spürte er die kalte Nachtluft schon wie Nadelstiche auf seinen rauen Wangen. Das Geräusch seiner eigenen Atemzüge weckte in ihm die Überzeugung, dass jemand ganz in der Nähe war und nur darauf wartete, dass er sich bewegte. Er war gefangen von seinen eigenen Ängsten, in Fesseln gelegt von seiner Fantasie. Die Stimme seiner Furcht drängte ihn, sich zu verstecken, bis der Morgen die Schatten seiner Einbildung vertrieb – doch dann dachte er an Jonah und was er diesem zu sagen hatte. Wenn er es nicht bald tat, waren Malachi und Tersias schon fast in Cheapside. Maggot straffte die Schultern. Vom Eingang des Geschäfts her schaute er die Straße hinauf und hinab. Der Schmerz in seinem Bein ließ ihn am ganzen Körper zittern, als er sich das Brett unter die Achsel klemmte und sich bereit machte zum Weiterlaufen. Die Stimme in seinem Kopf drängte ihn erneut, stehen zu bleiben, sich auszuruhen und bis zum Morgengrauen zu warten. »Nein!«, brüllte er, stieß sich von der Tür ab und torkelte über die Straße Richtung Wirtshaus.
Wieder bellte der Hund, dieses Mal wesentlich näher als vorher, und Maggots Angst ließ das Bild des geflügelten Dämons vor seinem geistigen Auge lebendig werden. In Panik schleuderte er die Krücke in die Dunkelheit in der Hoffnung zu treffen, was immer ihn verfolgte. Mit ausgestreckten Armen fiel er vornüber. Ein Schrei entfuhr ihm, als er auf dem Boden aufschlug. »JONAH!« Jonah hörte den Schrei und stürzte auf die Straße. Von der St.-Georgs-Kirche aus sah er einen großen schwarzen Hund auf sich zulaufen. Maggot versuchte sich aufzurappeln, fiel wieder auf die Knie und schrie vor Schmerz, die Hände nach Jonah ausgestreckt, damit dieser ihn rettete. Eine plötzliche Panik ließ Jonah abrupt innehalten. Er schaute Maggot an, dann den mit gebleckten Zähnen näher kommenden Hund. Sein Magen krampfte sich zusammen. Es war, als zögen Hände ihn zurück in die Sicherheit des Wirtshauses. Er wandte sich von Maggot ab und dem Licht zu, das auf die Straße fiel. Noch einmal kreischte Maggot in Todesangst: »JO-NAAAH!« Der Hund blieb einen Meter vor ihm stehen und nahm den Blutgeruch auf, der von dem verletzten Jungen ausging. Er sah Jonah an, der zurückstarrte, unfähig, sich zu bewegen. Dann wandte das Tier sich Maggot zu. Es machte einen Schritt und senkte den Kopf, als wollte es ihn packen und in die Dunkelheit schleifen. »AUS!«, brüllte Jonah den Hund an. Er kämpfte gegen die Angst, die ihn bewegungsunfähig machte. Das Tier schaute ihn mit seinen durchdringenden schwarzen Augen an, knurrte und heulte. Und plötzlich waren Jonahs Augen blind für die Welt. Der hypnotisierende Blick des Hundes drang bis in seine Seele. Eine tief in seinem Innern begrabene Erinnerung tauchte mit einem Schlag wieder auf, und er fand sich in der Vergangenheit wieder: Er sah auf und blickte in dieselben Augen. Er war vier Monate alt, gewindelt und in eine Decke gewickelt und befand sich in einem Zimmer, in dem ein mageres Feuer brannte. Er roch den Atem des Hundes, als dieser über ihm he-
chelte und ihm lange Speichelfäden ins Gesicht tropften. Dann passierte es – die schwere Pfote mit den schmutzigen braunen Krallen brachte die Wiege zum Kippen, und er landete im Stroh. Das Tier knurrte und stupste ihn immer wieder an, als es ihn mit der Schnauze zu packen versuchte. Jonah sah den offenen Kamin des Hauses vor sich, als die durch die Angst zurückgeholte Erinnerung sein ganzes Denken ausfüllte. Niemand kam ihm zu Hilfe, er war ganz allein. Das Tier packte die Decke, in die er gewickelt war, und schleifte ihn mit dem Gesicht nach unten über den Boden. Ungeschickt hob es ihn über die Schwelle und zerrte ihn auf die Straße. Die langen braunen Zähne ließen nicht los. Noch einmal hörte Jonah die Schreie seiner Mutter, die vor dem Ginhaus die Männer bediente. Der Hund schüttelte ihn wild hin und her, als wollte er ihn aus seiner Decke rütteln und sich mit ihm davonmachen. Jonah rang keuchend nach Luft. Hinter sich hörte er ein scharfes Klicken, als der Abzugshahn einer Pistole gespannt wurde. Der Schuss fiel, und die Kugel schoss an Jonahs Kopf vorbei, fast hätte sie sein rechtes Ohr gestreift. Der Hund flog mit einem lauten Heulen rückwärts durch die Luft und überschlug sich ein paar Mal, als er auf die Erde zurückfiel und in einen zusammengebrochenen Marktstand krachte. Jonah schaute hilflos zu. Er glaubte, er sei angeschossen worden, und fiel auf die Knie. Sekundenlang lag die Bestie reglos da, während das Echo des Schusses durch die Straßen hallte. Tara stieß Jonah zur Seite, als sie mit der Pistole in der Hand auf Maggot zulief. Der Hund rappelte sich knurrend auf. Er drehte sich um und schaute sie an, Blut tropfte aus der Wunde an seiner rechten Flanke und verklebte das Fell. Er bellte einmal kurz und laut – es klang wie das Husten eines Menschen –, dann verschwand er in den schwarzen Schatten des Marktplatzes. Ohne zu zögern, hob Tara Maggot auf, schleppte ihn ins Wirtshaus und legte ihn neben dem Feuer auf den Boden. Jonah rührte sich nicht. Er starrte in die Nacht und lauschte auf
das Bellen des Hundes, das jetzt aus der Ferne zu ihm herüberdrang. Er sah nur die blutigen Wickeltücher und den Schal seiner Mutter, als sie ihn aus dem Schmutz der Straße holte, ihm den Speichel vom Gesicht wischte, ihn wieder in seinen Korb beim Feuer legte und zu ihrer Arbeit zurückging. Jonah war die ganze Nacht über allein. Er weinte. Es gab niemanden, der ihn tröstete, keine freundliche Hand, als sich der Blick des tollwütigen Hundes in sein Gedächtnis eingrub. »Bleibst du da draußen?«, wisperte der alte Bunz und rüttelte an der Tür zu seinem Wirtshaus. Er wollte sie verriegeln für die Nacht. »Der Wahnsinn ist noch nicht vorbei, Jonah.« Jonah sah sich um. Die über den Mond ziehenden Wolken ließen die Schatten tanzen. Es wurde wieder dunkel. Er drehte sich um und ging mit schleppenden Schritten zum Wirtshaus zurück. Der alte Bunz trat zur Seite, als er sich durch die Tür schob und nach Maggot umschaute. Jonah achtete nicht auf die vielen Gesichter, die ihn anstarrten und dabei in ihr Bier sabberten, zerlumpt und schon halb wahnsinnig vom Alkohol. Tara hatte die Tische beim Kamin zur Seite gerückt, einen alten Mantel auf den Boden geworfen und Maggot daraufgebettet. Sie blickte auf, als Jonah zu ihr trat. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als könnte er so die Bilder wegwischen, die ihn plagten. »Die Bestie hätte ihn umbringen können, Jonah, und du hast nichts getan – gar nichts«, rief sie, während sie den Jungen im Arm hielt. Maggot schaute auf. Er versuchte zu lächeln. »Ich bin vom Gerüst gefallen. Etwas… etwas hat es zum Einsturz gebracht. Sie sind nach Cheapside gegangen.« Jonah sah Tara an. Sie starrte böse zurück. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich ihr Zorn. »Wir können ihn nicht hier lassen. Er hat sich das Bein gebrochen.« Jonah antwortete nicht. Sein Blick huschte durchs Zimmer. Im Schein des Feuers war sein Gesicht glühend rot. Maggot drückte Taras Hand. »Ihr müsst gehen, Tara«, sagte er und versuchte sich aufzusetzen. »Der alte Bunz wird sich
schon um mich kümmern. Du hast es selbst einmal gesagt: Egal, was passiert, wir machen weiter. Was sollen wir auch sonst tun?« Er machte eine kurze Pause und sah Jonah an. »Ich habe gehört, wie sie gesagt haben, Tersias habe einen silbernen Löffel in seiner Tasche, den Lord Malpas ihm unbemerkt hineingesteckt hat. Sie wollen ihn als Dieb vor Gericht stellen und Malpas an den Galgen bringen.«
8. Poculum cantatis – Becker der Liebe Die Brotgasse hallte wider von dem Lärm, den eine alte Schindmähre machte, die mit den Hufen auf das nasse Pflaster stampfte. Sie war mit einem dicken Lederriemen an einem Holzpflock vor der leer stehenden Bäckerei angebunden. Über ihr hingen ein paar Mehlsäcke an der Zugleine. Sie waren vergessen worden, als die Leute vor dem Kometen geflohen waren. Sacht schwangen sie in der Brise, die von der Themse heraufwehte, wie Galgenschönheiten, die gerade erst aufgehört hatten zu strampeln. Von Cheapside herüber klang das Knirschen der Metallräder von Malachis Handwagen, begleitet von seinem Ächzen und Stöhnen. Er stemmte sich gegen die leichte Steigung in der Straße wie ein Pferd auf den letzten Metern zum sicheren Stall. Tersias klammerte sich mit beiden Händen an die kalten Metallstäbe, die ihm die Welt vom Leibe hielten. Nach kurzer Zeit blieb Malachi stehen, stellte den Wagen auf den beiden wackligen Stützen ab und blickte hinter sich. Die Straße lag verlassen da. Die eingebrochene Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale zeichnete sich gegen den schwarzen Nachthimmel ab, erleuchtet von einem schmalen Streifen des Mondes, der hinter einer vom Horizont aufragenden Wolkensäule hervorkroch. Malachi rieb die schmutzigen Hände aneinander und formte seinen klebrigen Bart zu einem langen, spitzen Dorn. Der Wind ließ die langen Locken tanzen, die unter seinem Hut hervorschauten. Er roch an seinen Fingern und bohrte in der Nase. Etwas ließ ihm keine Ruhe. Alles war still, doch er war unruhig und verunsichert. Er wischte sich die Finger ab, nahm die Holme des Wagens wieder auf und bog in die schmale Gasse ein, die zu den Stallungen führte.
Beim Gehen wickelte sich sein langer Umhang um eines seiner Beine, sodass er nur noch kleine Trippelschritte machen konnte. Er blieb stehen, trat in die Luft und verfluchte den Schneider wortreich. »Wirst du wohl loslassen?«, murmelte er wütend, während er nach vorn und hinten ausschlug, damit der Stoffknoten um sein Knie sich wieder löste. »Ich habe noch zwanzig Meter bis nach Hause, und du belästigst mich hier und hältst mich fest.« Er drehte sich einmal um sich selbst und hüpfte von einem Bein aufs andere. Plötzlich brach das Leder seines Stiefels vorne auf, sodass seine bloßen, schwieligen Zehen sich in den Schmutz gruben. »Verdammt sollt ihr sein, du und der, der dich gemacht hat! Hat behauptet, er könne schwarze Seelen zusammenflicken, doch das Leder, das er über diese schweren Füße zog, war anscheinend nicht dicker als die Membran eines Fledermausflügels.« Malachi lehnte sich an die Wand eines Kaufmannshauses. Er zerrte an seinem Stiefel und zog das schmutzige Leder über seine schmerzenden Zehen. »Oh Tersias, wenn deine blinden Augen sehen könnten, zu welchem Zerrbild von einem Mann das Leben mich gemacht hat – du wolltest den alten Malachi nie verlassen«, seufzte er. Er war müde bis auf die Knochen, ausgelaugt und ohne Hoffnung. Der Junge hielt sich weiter an den Stäben seines Käfigs fest. Sein Kopf ruckte von einer Seite zur anderen, als er vor sich hin wimmerte. »Sie kommen… sie kommen… sie kommen«, wiederholte er ein ums andere Mal, dabei starrten seine weißen Augen Malachi an, als könnten sie ihn in allen Einzelheiten sehen. »Wer kommt?«, fragte Malachi und schaute rasch die Straße auf und ab, um zu sehen, ob sie tatsächlich verfolgt wurden. »Sie kommen mich holen, sie kommen Euch holen, Malachi – die Puppe an einem Galgenbaum in Newgate.« Tersias bellte wie ein Hund und rüttelte an den Käfigstäben. »Sie beißen, sie beißen im Flug. Fressen alles, was ihnen in den Weg kommt…« »Was redest du da, Junge? Hat die Kälte dich verrückt ge-
macht? Rede so mit mir, dass ich es verstehen kann!« Malachi presste sich gegen die Wand und schaute zur St.-Pauls-Kathedrale zurück. »Werden wir verfolgt? Ist es das, was du mir sagen willst?« Panik stieg in ihm auf. »Sie kommen, Mister Malachi. Ihr müsst gehen. Lasst mich hier auf der Straße, geht nicht nach Hause zurück!«, drängte Tersias und starrte ihn an. »Dummes Geschwätz!«, fauchte Malachi. »Was schimpfst du da vor dich hin, du alter Wirrkopf? Darauf muss ich nichts geben. Ich hab dich wohl zu lang am Hungertuch nagen lassen, und jetzt bist du mir verrückt geworden.« Rasch griff Malachi wieder nach den Holmen des Wagens und rumpelte auf die Gasse zu, die zu den Stallungen führte. Auch hier bogen sich die Häusergiebel zur Mitte der Gasse hin und berührten sich fast. Sie bildeten eine hohe Höhle, von deren Decke lange, mit Pferdehaar und Dreck verklebte Spinnfäden wie Rattenschwänze herunterbaumelten. Tersias zeterte weiter und warf sich von einer Seite auf die andere. Eine einzelne Kerze brannte in dem Haus, das an die Stallungen angebaut war. »Siehst du, Tersias, du hast dich getäuscht«, sagte Malachi unbekümmert und schob den Wagen weiter in die Dunkelheit hinein. »Wir haben nichts zu befürchten – eine Kerze leuchtet uns auf unserm Weg, heißt den müden Wanderer willkommen und erfreut sein Herz.« »Aber wir waren zuerst da!« Zwei dunkle Schatten stellten sich Malachi in den Weg. »Ihr schon wieder?«, fragte er, als er die Mehlsackmasken erkannte. »Was wollt ihr denn noch von mir? Zweimal von denselben Bösewichtern ausgeraubt werden! Ihr brecht euer Versprechen!« »Ich bin wegen des Jungen hier«, sagte Jonah. Er stieß Malachi zur Seite, in den Schmutz und in die pechschwarzen Schatten am Rand der Gasse. »Du gehst ein großes Risiko ein, Bürschchen«, sagte Malachi von unten aufblickend. »Ich hätte dich bei Lord Malpas
verpfeifen können. Das Messer, das du bei dir hast, gehört ihm. Ich habe meinen Mund gehalten und das Geheimnis nicht preisgegeben – und so dankst du es mir?« »Dann sind wir jetzt quitt, denn ich rette Euch vor dem Galgen. Wenn der Junge in seine Tasche schaut, werden auch seine blinden Augen etwas sehen, das euch den Galgenstrick eingebracht hätte.« Tersias schob die schmalen Hände in seine Rocktaschen und bekam den Löffel zu fassen. Er zog ihn heraus und schwenkte ihn hin und her. »Das Wappen von Lord Malpas, Wolfschädel und Messer. Er wurde dem Jungen in die Tasche gesteckt, damit man ihn findet und Euch hängt und der Junge ihm zufällt.«Jonah schnappte sich den Löffel und steckte ihn in seine eigene Tasche. »Woher weißt du das? Hast du ihn hineingetan?« »Nicht ich, Dummkopf! Malpas. Um Euch als Dieb zu überfuhren und von einem seiner schwarzbemützten Freunde verurteilen zu lassen«, sagte Jonah, während er Malachi wieder auf die Beine half. Er gab Tara ein Zeichen, den Käfig zu öffnen und Tersias herauszulassen. »Du machst deine Beutezüge wohl nie allein?«, fauchte Malachi wütend. Jonah drückte ihn gegen die Mauer. »Nie. Zu mehreren ist es sicherer, und einer muss immer Wache stehen. Noch etwas, Malachi – wo ist das Geld?« »Du hast mir meine letzte Guinea abgenommen. Mehr habe ich nie besessen!«, rief Malachi heftig und hoffte, endlich in Ruhe gelassen zu werden. »Dann habt Ihr ja sicher nichts dagegen, wenn mein Freund den Käfig durchsucht, oder?« Tara zog rasch die Decke aus dem Wagen. Ein schwarzer Samtbeutel fiel mit dem vertrauten Münzgeklingel vor ihren Füßen auf den Boden. »Das ist alles, was ich habe! Ihr wollt den Jungen mitnehmen und mir auch noch den letzten Penny abknöpfen?« Mala-
chi machte einen Satz nach vorn und wollte nach dem Beutel greifen. »Gib ihm die ersten fünf Münzen, die dir in die Finger kommen, den Rest behalten wir. Ist das gerecht, Malachi?« »GERECHT? Ich hole mir jeden Penny von dir zurück junge! Du wirst den Tag verfluchen, an dem du den Namen Malachi zum ersten Mal gehört hast. Lord Malpas wird dich finden und mit einem Hieb seines Degens vom Hahn zur Henne machen.« »Dann lerne ich gackern und Eier legen. Aber vorher leben wir noch gut, und in der Zeit warte ich auf den Tag, an dem er sich traut, sich mit mir anzulegen.«Jonah wandte sich an Tara. »Gib ihm, was er wert ist, dann verschwinden wir. Hoffen wir, dass der Junge rennen kann.« Tara warf schweigend fünf Münzen in den Schmutz zu Malachis Füßen und zog den Jungen in den Schatten der Gasse. Tersias konnte sich nicht wehren. Er drehte sich zu Malachi um und lächelte ein schmales, kaltes Lächeln, als könnten seine Augen sehen, wie der Alte im Schmutz herumkroch und die Münzen zusammenklaubte. Er lief hinter Tara her in die Dunkelheit hinein. Dass die Nacht jeden Lichtstrahl aufsaugte, war ihm nicht bewusst. Er hoffte nur, bald ein warmes Bett und etwas zu trinken zu bekommen, da seine Kehle völlig ausgetrocknet war. Der Junge klagte nicht einmal mehr leise über sein Elend, das ihm so vertraut geworden war. Die Blindheit hatte ihn zu einer Marionette gemacht, die von einem Ort zum nächsten gezerrt wurde, verdorbenes Essen vorgesetzt bekam, das er nicht sehen konnte, und der man es nicht gönnte, wenigstens ein einziges Mal im Sommer an einem sonnigen Uferstück zu sitzen und die sanfte Brise zu genießen. Für ihn gab es keine Ballspiele oder winterlichen Vergnügungen wie für andere Kinder. Sein Schicksal war es, eingewickelt in einer verlausten Decke dazusitzen. Er glaubte, wieder einmal weitergereicht worden zu sein, als er hinter Tara herstolperte, die ihn fest am Arm gepackt hatte.
Doch ein angenehmer Gedanke regte sich ganz kurz in ihm, als er sich an den Geruch des Feuers im Haus Vamana erinnerte. Er dachte an den silbernen Löffel, der ihm in die Tasche gesteckt worden war, und gab vor sich selber zu, dass er für einen kurzen Moment gehofft hatte, sie würden tatsächlich festgenommen und Malachi würde gehängt und er bekäme das versprochene weiche Bett. Bevor Tara einen Schrei ausstoßen oder sonst ein Geräusch von sich geben konnte, schoss eine große, schmutzige Hand aus einem Eingang und legte sich über ihr Gesicht. Die rissige Handfläche wurde auf ihre weiche Haut gepresst, und sie bekam kaum noch Luft, als sie in die Gasse gezerrt wurde, die zu den Stallungen führte. Einen Augenblick lang stand Tersias allein da. Er streckte die Hand aus, suchte nach dem Mantel und fragte sich, warum man ihn zurückgelassen hatte. Jonah drehte sich um und schaute die Straße hinunter. Er wusste nicht, wohin Tara verschwunden war. »Tara«, flüsterte er, »lass das Versteckspiel, und komm raus!« Malachi kicherte. »Jetzt hast du den Namen deiner Komplizin verraten – ein Mädchen! Nun kann es nicht mehr schwer sein, dich zu finden, Junge. Vielleicht hat sie sich mit einem anderen davongemacht, weil sie dich nicht mehr ertragen konnte.« »Halt ’s Maul, Malachi«, schnauzte Jonah den alten Mann an. »Vielleicht lebst du nicht mehr lang genug, um jemand ihren Namen zu verraten. Ich habe immer noch – « Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als Tersias plötzlich von der Straße geholt wurde, wie man einen Apfel vom Baum pflückt. Instinktiv griff Jonah nach dem Messer, das er im Gürtel trug. Er hielt die Klinge vor sich, um die unsichtbare Hand abzuwehren, die Tersias vor seinen Augen weggestohlen hatte. Ein Stück weiter vorn, im dunkelsten Teil der Gasse, hörte er Taras unterdrückte Schreie. An ihrem abgehackten Ächzen und Stöhnen erkannte er, dass sie nach Atem rang. Malachi suchte immer noch im Dreck nach den Münzen.
Als er sich umdrehte, sah auch er, dass Tersias verschwunden war. »Was spielt ihr mir jetzt für Streiche?«, fragte er, während er sich aufrappelte und den Schmutz von den Händen klopfte. »Wo ist der Junge? Er ist wertvoll, und er gehört mir.« Er machte einen Schritt auf Jonah zu. Ohne Vorwarnung griff Jonah mit dem Messer an und schlitzte die Vorderseite seines Mantels auf. Die Klinge in seiner Hand blitzte, als sei sie aus Mondstein gemacht. »Keinen Schritt weiter!«, warnte er. »Wie sind nicht allein hier, und ich will mich nicht auch noch mit Euch herumschlagen müssen.« Er hatte kaum ausgesprochen, da hörte man Schritte. »Wir sind umzingelt«, murmelte Malachi und trat zurück in die Schatten, in der Hoffnung, dass sie seine Angst verbergen würden. »Sie sind da vorn und auf der Seite… SCHAU!« Keuchend deutete er auf den riesigen Schatten, der am Eingang zur Gasse auftauchte und ihnen den Fluchtweg abschnitt. Die riesenhafte Gestalt schien den gesamten Raum zwischen den Häusern auszufüllen. Sie reichte bis zu den Fenstersimsen im ersten Stock und zeichnete sich tiefschwarz vor dem Mondlicht ab, das von Cheapside hereindrang. Jonah schaute zurück zu den Stallungen. Mehrere Männer schwärmten aus dem Halbdunkel hervor und kamen auf sie zu, als seien sie gerade von den Toten auferstanden. Er erkannte die Mützen, die sie tief ins Gesicht gezogen hatten, Mützen mit steifem Rand, der wie gebratener Speck aufgebogen war. Jeder trug einen doppelten Schlagstock, dessen zwei Teile mit einer bei jedem Schritt klimpernden Kette miteinander verbunden waren. Daran erkannte er, dass es sich um Anhänger Salomons handelte. Als die unheilvollen Gestalten näher kamen, rückte Malachi dichter an Jonah heran. Ein Meer aus Halbgesichtern wogte vor ihm – die Männer trugen goldene Opernmasken, die gespenstisch glitzerten… Jonah presste sich an die Wand, als die Männer eine undurchdringliche Mauer bildeten. Der gewaltige Schatten Beinwells schlenderte auf sie zu. Er zerrte Tara an einem langen
Strick, den er ihr um den Hals gebunden hatte, hinter sich her. Jonah sah, dass ihre Hände gefesselt waren und man ihr mit einem dünnen Stück Stoff den Mund zugebunden hatte, sodass ihre Schreie lediglich als leises Stöhnen zu hören waren. Dahinter kam Salomon mit Tersias, der ebenfalls gefesselt und geknebelt war. Der Riese kam immer näher. Die glänzenden Augen stierten durch die schmalen Schlitze in der Maske, die zwei dünne schwarze Kordeln an sein breites Gesicht pressten. Er lachte, wobei man seine spitz zugefeilten Zähne sah. »Ihr beide kommt mit«, sagte er. »Lass das Messer fallen, oder ich breche dir die Hand.« Die Stimme hätte auch einem Mann gehören können, der nur halb so groß war wie er. »Überlass sie mir«, krächzte Salomon. »Sie können nicht weglaufen, sie sind in der Minderheit und wissen, dass sie keine Chance haben.« Er kicherte und kratzte sich hinter dem Ohr. »Ihr seid Magnus Malachi, der Magier?« Lächelnd schaute er Malachi an. »Ich nehme den Jungen mit und werde sein Vater sein. Das wurde mir im Traum vorhergesagt. Er wird London auf die Knie zwingen. Ihr beide kommt entweder mit und werdet meine jünger… oder wir begraben euch hier in dieser Erde, und keiner wird je von eurem tragischen Ende erfahren und euch beklagen.« »Du kannst mit dem Mädchen fliehen«, flüsterte Malachi Jonah zu. Seine Stimme zitterte. »Es hat keinen Zweck zu fliehen. Ihr kommt nicht weit«, sagte Salomon. »Wir würden euch finden und uns im Schutz der Nacht in eure Unterkunft schleichen und euch die Kehle durchschneiden. Kommt mit uns, und werdet eins mit uns. Nur dann siehst du deine Freundin wieder und Ihr, Malachi, Euer blindes Orakel.« Jonah schaute Tara an. Man hatte ihr die Maske vom Kopf gerissen, das Haar hing ihr in Strähnen in das Gesicht, ein Teil klemmte in dem Stoffstreifen, mit dem man sie geknebelt hatte. Er versuchte gleichmäßig zu atmen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und seine Finger schlossen sich fester um den
Messergriff. Dieser schien zu pulsieren, beruhigend und warm. Die Wärme breitete sich in Jonahs Hand aus und zog seinen Arm hinauf wie neues Blut, das durch seine Adern gepumpt wurde. Er betrachtete die einzelnen Gestalten sehr genau, suchte nach Schwächen. »Wie lautet deine Antwort?«, fragte Salomon und trat, mit Tersias im Schlepp, näher. »Freiheit bei uns oder Gefangenschaft im Grab?« »Lauf, Junge, lauf!«, wisperte Malachi und ließ die Tasche mit seinen Zauberutensilien von der Schulter gleiten. Er packte den langen Henkel und schwang den Beutel hin und her. »Wenn ihr mich mitnehmt, dann nur tot«, murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Ob tot oder lebendig spielt für mich keine Rolle«, erwiderte Salomon ruhig und nickte seinen Anhängern zu. Auf dieses Zeichen hin begannen sie, die mit Ketten verbundenen Schlagstöcke über ihren Köpfen kreisen zu lassen. Das Sirren des Holzes und das Klimpern der Metallglieder wurde immer lauter und immer höher, bis es in den Ohren wehtat. »Eine zweite Chance gibt es nicht, Malachi«, sagte Salomon. »Weder für Euch noch für Euren Freund hier mit dem Sack über dem Kopf. Wenn Ihr mitkommt, wird man seine Fähigkeiten gut gebrauchen können, und Ihr werdet das finden, wonach Eure Seele sich gesehnt hat. Ihr könnt von unserem Liebestrank trinken und unsterblich werden.« In diesem Augenblick trat der Riese vor und versuchte, Jonah mit einer Hand den Sack vom Kopf zu reißen. Da entwickelte das Messer ein Eigenleben. Jonah wusste nicht, wie ihm geschah. Es drückte seine Hand nach oben und fuhr in die Handfläche des Kolosses. Glitzernder blauer Mondstein schnitt durch das Fleisch. Beinwell schrie auf und machte einen Satz rückwärts, als sei er von einer Viper gebissen worden. Salomons Anhänger zogen sich ebenfalls zurück und war-
teten auf ein Zeichen ihres Meisters. Beinwell presste die verletzte Hand an die Brust. In der anderen hielt er immer noch den Strick, den er Tara um den Hals geschlungen hatte. »DU!«, brüllte er so laut, dass die Fensterscheiben über ihm klirrten. »Du wirst dafür büßen!« Er hob die Hand an den Mund, leckte das Blut ab und saugte es durch seine angefeilten Zähne. »Einen Schritt weiter, und Ihr seid auch dran«, warnte Jonah Salomon, bevor dieser etwas sagen konnte. »Gebt mir das Mädchen, dann könnt Ihr Tersias behalten. Er ist nichts weiter als ein blinder Narr.« Er fuchtelte mit dem Messer herum und versuchte, sich die Angst nicht anmerken zu lassen, die ihn drängte abzuhauen und Tara zurückzulassen. »Ich mache keinen Handel mit Dummköpfen oder alten Männern, die in armseligen Löchern hausen«, erwiderte Salomon ruhig. Dann rief er über das Sirren der Schlagstöcke hinweg: »Holt sie euch!« Malachi stürmte mit gesenktem Kopf vorwärts und lief direkt in die heranrückende Meute hinein. »Lauf!«, brüllte er, als er drei Jünger Salomons zurückstieß, die vor Schreck ihre Schlagstöcke fallen ließen. Salomon brachte sich rasch hinter Beinwell in Sicherheit und stieß den Riesen in Jonahs Richtung. »NEIIIIN!«, kreischte der Koloss und griff nach dessen Hals. Er packte den Sack und riss ihn Jonah vom Kopf. Aus den Augenwinkeln heraus sah Jonah, wie Malachi von mehreren Männern zusammengeschlagen wurde. »Lauf!«, rief der alte Mann noch einmal mit schwacher Stimme. Die Schläge, die auf ihn niederprasselten, klangen wie das Trommeln auf einer Kindertrommel. Instinktiv ließ Jonah das Messer noch einmal durch die Dunkelheit fahren in der Hoffnung, Beinwell eine tödliche Verletzung zuzufügen. Der Riese wich dem grellen Blitz aus, der vor seinen Augen durch die Nacht zuckte und einen Funkenschweif hinter sich herzog. Jonah wollte nach Tara greifen. Er bekam den langen Strick zu fassen, der sie an Beinwell fes-
selte. Der zog daran, zerrte Jonah zu sich her und schlug ihm mit der blutenden Faust ins Gesicht, während Tara, in dem Versuch freizukommen, um sich trat und schlug. Der Schlag ließ Jonah rückwärts taumeln. Beinwell stand über ihm wie ein riesiger Bär, und er fürchtete, dass er ihm gleich sämtliche Glieder einzeln ausreißen würde. Ohne nachzudenken, stach Jonah das Messer mit aller Kraft in das menschliche Ungeheuer, drehte sich um und rannte Richtung Cheapside.
9. Mens sana in corpore sano Der lange Zug purpurrot gekleideter Pilger schlängelte sich durch die leeren Straßen von Covent Garden. Beinwell ging vorneweg und überprüfte jeden Schatten und jede Gasse auf Nachtwächter oder Miliz. Alles war ruhig. Die Pilger wateten durch zähen schwarzen Dreck, der an ihren Stiefeln klebte wie Blut. Tara und Tersias wurden wie Tiere hinterhergeschleift – sie kamen nicht freiwillig mit, mussten jedoch den festgezurrten Stricken gehorchen, die an ihnen zogen. Die Stofffetzen, mit denen man ihnen den Mund zugebunden hatte, schnitten ins Fleisch und verzerrten ihre Gesichter zu einem gequälten Lächeln. Salomon zog Tara an einem kurzen Strick, drehte sich alle drei Schritte nach ihr um und grinste. Er hatte die Schultern hochgezogen, doch gleichzeitig überliefen ihn freudige Schauer. »Bald bist du in deinem neuen Zuhause.« Beim Reden liefen ihm Speichelfäden aus dem Mund. »Ich habe etwas für dich… etwas ganz Besonderes. Lange Zeit habe ich es für eine wie dich aufgehoben.« Fast verschluckte er sich an seinen eigenen Worten. »Ein Brautkleid in feinstem Purpur – reich verziert und wunderschön, einer Königin angemessen. Willst du meine Königin sein?« Er stolperte, und es gab einen scharfen Ruck an dem Strick. Tara wandte das Gesicht ab und starrte auf den Schmutz der Straße. Sie dachte an Jonah und hoffte, dass er irgendwo lauerte und bald aus seinem Versteck hervorkam und ihren Entführer aufschlitzte, von einem Ohr zum anderen. Der Gedanke brachte ihr jedoch keine Freude. Es war zu unwahrscheinlich. Sie kannte Jonah zu gut. Er hatte sich aus dem Staub gemacht und versteckte sich im »Bull and Mouth« hin-
ter einem Zinnbecher. Wahrscheinlich machte er Witze mit dem alten Bunz und hatte sie schon vergessen. Sie dachte an den Tag zurück, an dem sie sich kennengelernt hatten. Jonah war durch die Tür des Wirtshauses gestürmt und hatte plötzlich vor ihr gestanden. In seinem Gürtel steckte, für jedermann sichtbar, eine alte Pistole. Tara kannte seinen Namen; sein Ruf war ihm vorausgeeilt. Er war der Sohn von Jack Ketch, dem Henker, und trug keine anderen Kleider als die, die vom Galgen gefallen waren. Zunächst hatte er sich über sie lustig gemacht, weil sie Reithosen trug und Stiefel, und gesagt, er brauchte einen neuen Burschen, der ihm seine Sachen von Stadt zu Stadt trüge. Und er hatte sich wie üblich mit Verbrechen gebrüstet, die er nie begangen hatte. Er erzählte die Geschichten, die ihm sein Vater erzählt hatte, neu, indem er sich selbst als den Schurken hinstellte und seine vermeintlichen Schandtaten noch ausschmückte. Doch das Fünkchen Charme, das er besaß, hatte sie zu Freunden gemacht, und seine schlechte Gesellschaft hatte ihren guten Charakter verdorben. Sein warmes Lächeln hatte sie bezaubert, ebenso wie seine kräftige Stimme, die den Schankraum mühelos ausfüllte. Jetzt war es fast ein Jahr her, dass sie am Abend von St. Martin bei Monduntergang zusammen nach Piccadilly gegangen waren und am Eingang zum Park gewartet hatten. Nachdem ein dicker Mann seine Kutsche nach Hause geschickt hatte, waren sie aus ihrem Versteck hervorgesprungen und hatten ihm seine goldene Brille, die Geldbörse und die Uhr abgenommen. Es war das Aufregendste gewesen, das sie je getan hatte. Sie hatte am ganzen Leib vor Erregung gezittert, und wohlige Schauer waren ihr über den Rücken gelaufen, als sie durch die Straßen gerannt waren, verfolgt vom Nachtwächter, der sie jedoch bald aus den Augen verlor. Von da an war ihre Zuneigung zu Jonah weiter gewachsen, bis sie schließlich wie Blutsbrüder die Straßen unsicher machten, den Leuten in die Taschen griffen und sie ausraubten. Tara versuchte, sich Jonahs Gesicht vorzustellen, doch aus
irgendeinem Grund war in dem Moment, wo er die Gasse hinuntergerannt war, die Erinnerung an ihn verblasst. Sie musste an Malachi denken, den die Pilger zusammengeschlagen und als tot im Dreck liegen gelassen hatten. Auf ein Wort von Salomon hin hatten sie die Schlagstöcke wieder unter ihren purpurfarbenen Umhängen verschwinden lassen und waren ihrem Meister unterwürfig gefolgt. Salomon ruckte erneut am Seil, um sie aus ihren Tagträumen zu holen. »Wir sind da, meine Liebe«, sagte er leise, als sie von der Drury Lane in die Wild Street einbogen. »Die Zitadelle – dein neues Zuhause.« Er stand auf der untersten Stufe zum Eingang eines großen, neuen Gebäudes. Der Platz davor war bis zur Straße gepflastert. »Die Pilger geben alles für mich. Jeden Stein haben sie mit Blut, Schweiß und Angst bezahlt«, flüsterte er Tara zu, während er den Strick langsam, Hand über Hand einholte und sie näher zu sich heranzog. »Es gibt kein Zurück. Sobald du über die Schwelle trittst, wirst du nie mehr die Alte sein. Das Leben beginnt hier neu. Die mühselige Plackerei, zu der dich deine niedere Herkunft verdammt hat, ist vorbei, jetzt beginnt die höhere Bildung.« Sie fauchte ihn an, biss auf den Knebel, der ihre Worte unverständlich machte, und presste die Zunge an den Gaumen. Die frisch behauenen Steine vor ihr und die neuen schwarzen Türen waren in blaues Mondlicht getaucht und warfen harte Schatten. Die Steinquader waren wie graue Särge zu einer Höhe aufeinandergesetzt worden, die alles andere in der Umgebung überragte. Deutlich erkannte Tara die von Hand in eine Ecke eines jeden Steins eingeschnittenen Gravierungen. Sie erinnerten an die Umrisse großer Insekten, die an der weißen Mörtellinie entlangkrochen. Beinwell stieß die beiden schwarzen Türflügel auf, die über die roten Fliesen des Flurs schabten. Er stöhnte vor Schmerz. Die Wunde in seiner Handfläche hatte sich nicht geschlossen. Salomon zerrte Tara über die Schwelle, packte ein paar Strähnen ihres Haars und drehte sie zu einem Knoten zusammen.
»Du kannst ein Teil von dem allem hier sein«, sagte er und zog ihren Kopf nach hinten, sodass sie gezwungen war, hinaufzublicken an die kunstvoll geschnitzte Decke hoch über ihr. »Kunst ist für mich eine starke Macht. Sie weckt so viele Gefühle – Liebe, Freude… Schmerz, Leid.« Als die eisernen Türflügel hinter ihnen zuschlugen, wurde das glockengleiche Geräusch als Echo durch den hohen Flur und in die daran anschließende höhlenartige Dunkelheit geworfen, die sich bis ins Unendliche zu erstrecken schien. Beinwell brachte Tersias weg. Er hatte ihn am Kragen gepackt, sodass der Junge gefesselt und geknebelt an seinem Arm baumelte. Auf der rechten Seite führte eine Treppe in den ersten Stock hinauf, jede Stufe so breit wie eine lang ausgestreckte Katze und mit einer blanken Messingleiste versehen. Von oben hörte Tara leisen Gesang, der sie zu rufen schien. »Sie singen zum Willkommen«, sagte Salomon und begann, den Knebel zu lösen. »Wenn du schreist, ist der Zauber gebrochen.« Er schaute sie eindringlich an, betrachtete jeden Zentimeter ihres Gesichts und lächelte selbstgefällig in sich hinein. »Denk daran: Das wird dir nicht noch einmal passieren. Das Leben will gelebt sein, jede Sekunde genossen, nicht erduldet.« Er hielt inne und wandte sich der Tür zu, durch die sie hereingekommen waren. Seine Hand zitterte, als er mit dem Finger darauf zeigte. »Schau hin, es gibt kein Entkommen. Dies ist die einzige Tür im ganzen Haus, die nach draußen führt. Jeder Türflügel wiegt so viel wie eine ganze Kutsche, und nicht einmal jemand mit deinen kriminellen Absichten könnte die Schlösser knacken. Denke erst gar nicht an Flucht – es wäre vergeblich. Selbst ein Geist brauchte einen Schlüssel, um aus der Zitadelle zu entkommen.« Der Gesang wurde lauter. Bald war der ganze Flur von schrillen Stimmen erfüllt. »Nimm meine Hand, und ich führe dich an einen Ort der Freude und des Glanzes. Auch du wirst seinem Zauber nicht widerstehen können.« Mehrere Gesichter erschienen auf der langen weißen Gale-
rie, die von der Treppe aus um den hochgewölbten Raum herumlief. Aus den Mündern der Jünger kamen die Worte eines alten Liedes, doch es war, als sängen andere, in ihnen verborgene Stimmen den Text. Tara spuckte den Knebel aus und holte tief Luft. Jetzt, dachte sie, sei ihre Chance, Salomon den Adamsapfel an seinem dünnen, faltigen Hals abzubeißen. Er schaute sie lächelnd an. »Es wäre sinnlos«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Dies ist Teil deines Schicksals. Denkst du etwa, das alles sei rein zufällig geschehen? Eine Macht, die deine Vorstellung weit übersteigt, hat dich hierher geführt, und unser beider Leben wird für immer miteinander verbunden sein.« Er begann die Treppe hinaufzusteigen, und seine Schritte passten sich dem Rhythmus der Begrüßungshymne an. Er zog an dem Strick, und Tara folgte ihm. Sie ließ den Blick über die Gesichter schweifen, die neidisch von oben auf sie herunterschauten. »Du bist hier, um eine von uns zu werden, um das Verbrechen und den Schmutz zu vergessen und dich von höheren Dingen verzaubern zu lassen.« Tara betrachtete Salomons ausdrucksloses, faltiges Gesicht und sah Puderflecke auf seinen welken Wangen. Außerdem fielen ihr die schwarzen Lidstriche auf, die seine gelblichen Augäpfel einrahmten. Sie folgte ihm, stieg Stufe um Stufe höher hinauf und hatte bald den Eindruck, als schauten tausend Gesichter auf sie herab. Jedes wurde von einer Kerze beleuchtet, gehalten in weißen Händen, die umgeben waren von Purpur. Der Gesang wurde eindringlicher, er berührte sie in ihrem Innersten und forderte sie auf, ebenfalls die Stimme zu erheben. Der Chor zog sie in seinen Bann; tatsächlich hätte sie am liebsten mitgesungen. Dann waren plötzlich keine Worte mehr zu verstehen, das Lied bestand nur noch aus einem Ansteigen und Abfallen von Tönen, dirigiert von unsichtbarer Hand. Mit jeder Sekunde spürte sie, wie die Stimmen tiefer in sie eindrangen, als sei jeder Ton ein Finger, der sich in ihre Haut bohrte. Tara wollte schreien, den Zauber brechen, der über sie gelegt wurde, und aus der Zitadelle auf die Straße hinauslaufen.
In ihrem ganzen Leben war ihr so etwas noch nicht passiert, dass gleichzeitig Angst und Freude sie durchströmten und jeder Nerv und jede Sehne in einem magischen, wenn auch angsterfüllten Tanz vibrierte. Sie schaute sich die Gesichter an, während sie weiter die Stufen hinaufstolperte. Das Ende der Treppe war fast erreicht. Der Boden hier oben war mit Marmor ausgelegt, in den im Kerzenlicht funkelnde Edelsteine eingelassen waren. Ein Junge mit roten Lippen fiel ihr auf, weil er beim Singen lächelte. Er hielt ihr seine Kerze hin, und sie streckte die gebundenen Hände danach aus. »Hier entlang«, sagte Salomon in scharfem Ton. Seine Stimme brach den Zauber und brachte Tara in die Wirklichkeit zurück. »Es gibt etwas sehr viel Aufregenderes als eine geschenkte Kerze. Denk daran, ich werde dir etwas zeigen, das deine Seele zum Leuchten bringt!« Der Gesang hörte auf. Die letzten Töne verklangen in den Räumen der Zitadelle, fliehenden Füße in der Ferne gleich. Wie auf Kommando bliesen die Sänger die Kerzen aus. Intensiv duftende Rauchschwaden zogen über den Flur und stiegen in schwarzen Spiralen zur Decke. Am hinteren Ende des Ganges, wo die Fliesen schmucklos waren, sah Tara einen Lichtstrahl aus einer halb geöffneten Tür fallen. Er tanzte über den kalten Steinboden und warf Schatten an die weiße Wand. »Wir werden diesen Weg gemeinsam gehen«, sagte Salomon. Er löste die Fesseln an ihren Händen und den Strick an ihrem Hals. »Du bist unter Freunden, oder sollte ich sagen – bei deiner Familie?« »Lass mich gehen, Alter«, fauchte sie ihn an und wich vor den stechenden Knopfaugen zurück. »Ich habe Freunde, die nach mir suchen. Sie werden Euch für das, was Ihr getan habt, in Stücke reißen.« »Du meinst den Jungen, der davongerannt ist wie ein geprügelter Hund?« Salomon lachte laut. »Du hast keine Ahnung, worauf du dich eingelassen hast, was, meine Liebe? Von hier kommst du nicht mehr weg. Für dich ist die Welt, aus der
du kommst, zu Ende. Du wirst mir entweder als Jüngerin nachfolgen, oder du wirst zum Leckerbissen für mein größtes Experiment.« Salomon strich sich übers Kinn und betrachtete sie nachdenklich von oben bis unten. Er sah ihre schmutzstarrenden Stiefel und die Männerhose und lächelte. »Ich glaube, ich kann dir vertrauen. Etwas sagt mir, dass du anders bist als die anderen. Du hast ein Feuer in dir, das mich annehmen lässt, dass du im Grunde deines Herzens dasselbe willst wie ich.« »Was ich will, ist, hier wegkommen und zu meinen Leuten zurückgehen«, erwiderte sie barsch. Sie pulte sich die Reste des Knebels aus den Zähnen und rieb die aufgescheuerte Stelle an ihrem Mundwinkel. Tara hatte sich vorgenommen zu schweigen, nichts zu sagen, um nicht ihr eigenes Urteil zu sprechen. Doch sie hielt es nicht aus. »Du musst den blinden Jungen freilassen. Was willst du überhaupt von ihm, du Giftzwerg? Hat er dir je etwas getan?« »Eine solche Haltung steht dir gut. Du denkst an andere? Das ist selten bei jemandem in deinem Alter. Wir brauchen den Jungen für unsere Zukunft. Ich muss die rechte Zeit und den rechten Ort kennen für…« Er unterbrach sich und betrachtete sie wieder, studierte jeden Zentimeter ihres Gesichts. »Du bist ein seltsames Mädchen, und meine innere Stimme sagt mir, dass bei dir der Schein trügt. Sag, Mädchen, was ist dein Geheimnis?« »Ich habe kein Geheimnis«, erwiderte Tara verlegen und schaute auf den kalten Marmorboden, um den Propheten nicht ansehen zu müssen. Wieder schwor sie sich, nichts mehr zu sagen, kein einziges Wort, und nachdem sie die Angst hinter sich hatte, spürte sie die Ruhe der zum Tode Verurteilten. Viele Male hatte sie sich schon einen solchen Augenblick vorzustellen versucht, da sie wusste, dass der Tod auf sie wartete, sie verfolgte wie ein Albtraum, dass er eines Tages in ihr Leben treten und ebendieses von ihr fordern würde. »Jeder Mensch hat ein Geheimnis«, sagte Salomon. Er fasste sie unterm Kinn, hob ihren Kopf und schaute ihr in die
Augen. »Selbst Salomon in seiner ganzen Pracht hat ein Geheimnis. Wenn du möchtest, verrate ich es dir. Ich zeige dir das Geheimnis des Universums.« Er ließ ihr Kinn los und nahm ihre Hand, hielt sie ans Licht und betrachtete sie eingehend. »Seltsam… Fast so groß wie meine Hand, gekräftigt durch schwere Arbeit von frühester Kindheit an, die Nägel vor lauter Sorge abgebissen bis aufs Nagelbett. Und schau dir die Linien an!«, rief er in gespielter Überraschung. »Ein Leben, das morgen endet, überrollt von einer Kutsche voller Ottomanen – ist das deine Zukunft, mein Mädchen? Du bleibst besser bei uns. Sobald du die Zitadelle verlässt, schwebst du in großer Gefahr. Nie mehr wirst du die Landstraße überqueren können ohne Angst, von einem Wagen der verrückten Mauren in den Dreck geschleudert zu werden.« Salomon lachte meckernd, ließ ihre Hand los und wandte sich ab. Eine ganze Weile stand er schweigend da und schaute auf das Licht, das aus der halb offenen Tür auf den dunklen Korridor fiel. Der Chor hatte sich aufgelöst. Die Sänger waren die Treppe hinuntergegangen und in dem Labyrinth von Fluren innerhalb der Zitadelle verschwunden. Nur einer war noch übrig, ein Junge mit einer Kerze und einem purpurroten Umhang. Tara spürte, dass sie jemand ansah, und drehte sich zu ihm um. Der Junge machte ihr ein Zeichen zu schweigen, indem er den Finger über die Lippen legte und die Augen weit aufriss. Dann wies er auf den Korridor, als wollte er ihr sagen, dass ihre Zukunft dort beginnen würde. Danach drehte er sich, ohne ein Wort gesagt zu haben, um und verschwand. Salomon hatte nichts davon mitbekommen. Er wirbelte herum, und sein Gesicht glühte vor Aufregung. »Ich werde es dir zeigen… Ich habe beschlossen, meine Zukunft in deine Hände zu legen. Etwas sagt mir, dass du diejenige bist, die es wissen soll.« Er rieb sich die Hände, seine Worte überschlugen sich fast. »Verrückt, es ist verrückt – andererseits ist die ganze Welt verrückt, und ich bin der Einzige in der gesamten Stadt, der bei klarem Verstand und vernünftig ist.« Er sprach leise,
wie zu sich selbst. »Ach ja, du musst einen Namen bekommen. Der Name aus der Welt da draußen taugt hier drinnen nicht. Ich werde mir einen Namen ausdenken, einen, der dich beschreibt. Wenn ich dich besser kenne, taufe ich dich auf einen neuen Namen und schreibe ihn auf deine Stirn, damit alle ihn sehen können. Dein Kopf wird drei Monate lang in purpurfarbene Bänder eingebunden werden, damit du nicht ausreißt. Dann ist es Zeit.« Plötzlich hörte man schwere Schritte näher kommen. Jemand stapfte die Treppe herauf. Salomon wachte aus seinen Tagträumereien auf und hob den Kopf. Erwartungsvoll schaute er Richtung Treppe, so als wüsste er, wer da kam. Es war Beinwell. Er holte sich mit einem haarigen Finger einen Schmalzpfropfen aus dem Ohr, leckte den Finger ab und rieb sich das restliche Ohrenschmalz in die Falten auf seiner Stirn. Er stellte sich vor Salomon hin und zog die Schultern hoch wie zu einer Verbeugung. »… gebraucht«, flüsterte er heiser. »Sie brauchen Euch.« Offenbar wollte er nicht, dass Tara verstand, was er sagte. Er rieb seine verbundene Hand an der Hose und sah sie aus den Augenwinkeln heraus an. »Zeit zum Füttern, aber keiner weiß, wen sie als Nächstes kriegen sollen. Wie… wie steht es mit dem Mädchen?« Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln und leckte sich Speicheltropfen aus dem Mundwinkel. Salomon ignorierte ihn. Er nahm Tara an der Hand und zog sie zur Treppe. Beinwell rührte sich nicht, als sie an ihm vorbeigingen. Er stand da wie ein dicker, sabbernder Hund. Seine blutunterlaufenen Augen und die roten, rissigen Lippen stachen deutlich aus dem bleichen Gesicht heraus. »Komm, Kind«, sagte Salomon rasch, schüttelte seinen purpurfarbenen Mantel zurecht und fuhr sich übers Haar. »Seit Jahren arbeite ich auf diese Nacht hin, und alles, was ich mir gewünscht habe, wurde mir gegeben. Jetzt will ich es mit dir teilen.« Zusammen gingen sie die lange Treppe zur Eingangshalle mit ihren großen schwarzen Türflügeln und der hohen Decke
wieder hinunter. Salomon bog um eine Ecke und zog Tara in einen dunklen, unbeleuchteten Flur, der leicht abfiel. Immer weiter ging es hinunter in die Tiefen der Erde. Salomons genagelte Straßenschuhe klickten auf dem Marmorboden. Es schien, als sei der Gang in den Fels hineingehauen worden. Tara musste fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten, so schnell lief er. Sie sah, dass auf beiden Seiten des Ganges schmale Türen waren. Die Türklinken wurden jeweils von einer Kerze beleuchtet. Die schwarzen Kerzenhalter waren aus gefärbtem Leder, sahen aber aus, als seien es ausgehöhlte Herzen, die in Essig getaucht und am Feuer eines Einbalsamierers getrocknet worden waren. Hinter den Türen hörte Tara leises Weinen. Sie zählte immer mehr Herzlichter, und je weiter Salomon sie den Gang hinunterzog, desto intensiver wurde der Geruch nach feuchtem Stroh und verfaultem Fleisch. »Bald sind wir da«, sagte der Prophet. Er kämpfte mit einer dicken Haarsträhne, die ihm immer wieder ins Gesicht fiel. »Bald sind wir im Aufzuchtsraum, bald siehst du, worum sich alles dreht, siehst meine Antwort auf eine Welt, die nicht hören will.« Es wurde immer wärmer und die Luft feuchter. Von da an, wo der Boden eben wurde, gab es keine Türen mehr rechts und links, und das Weinen war kaum noch zu hören. Weiter vorn sah Tara, beleuchtet von einer flackernden Lampe, eine Holztür mit verrosteten Beschlägen. In ihrer Mitte hing an einem dicken Nagel eine große Metallplatte, die sacht vor und zurück schwang, als vibriere die Tür. Mit jedem Schritt stieß Salomon nun ein hohes Kreischen aus wie eine Fledermaus, die in ihre Höhle zurückkehrt. Er ließ Taras Hand los und machte ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. »Hier entlang…Jetzt sind wir da.« Tief atmete er die heiße, feuchte Luft ein, er schnupperte und schnaubte, als er mit zitternden Händen nach der Metallplatte griff. »Du sollst sehen, was ich hier drin habe.« Hinter der Platte war ein rundes Fenster mit dickem Glas.
Tara starrte auf die Tür. Sie wollte keinen Schritt weitergehen. Aus den Augenwinkeln sah sie Salomon an. Fluchtgedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie machte zwei kleine Schritte rückwärts, damit sie eine Chance hatte, sich umzudrehen, bevor sie anfing zu laufen. »Beinwell bewacht den Eingang. Wegrennen ist zwecklos und würde mich nur verärgern«, flüsterte Salomon, während er in seiner Tasche nach dem Schlüssel zu der Tür suchte. »Du hast im Vorbeigehen die Zellentüren gesehen? Dahinter sitzen Menschen, die ebenfalls diesen Weg gegangen sind und sich fürs Weglaufen entschieden haben. Es sind Dummköpfe, die ich von der Straße aufgelesen habe. Sie lehnten mein freundliches Angebot ab und wollten sich nicht einmal ansehen, was ich ihnen zeigen wollte. Hinter diesem Glas ist das, was kommen wird. Wenn du mir nachfolgst, wirst du sicher und geborgen sein in meiner Liebe – doch wenn du dich abwendest und wegzulaufen versuchst, wartet eine Zelle auf dich, und du wirst hinter einer dieser Türen enden.« Salomon fand den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. »Während ich den Schlüssel umdrehe, kannst du dich entscheiden, von welcher Seite du die Zukunft sehen willst.« Tara zögerte. Rasch sah sie sich nach einer Spur von Beinwell um. Weiter vorn drang leises Schluchzen aus den Zellen. Das qualvolle Wimmern sagte ihr, dass die für sie unsichtbaren Bewohner der Tod erwartete. Salomon sah den Kampf, der sich auf ihrem bleichen Gesicht spiegelte. Der verwischte Rote-Bete-Saft hatte ein opernhaftes Lächeln auf ihre Lippen gemalt. »Du bist ein so verschwiegener Mensch, doch deine Augen sagen mehr als tausend Worte, und deine Hände sprechen von deinem Geheimnis.« Er hämmerte an die hölzerne Tür. »Sieh durch die Scheibe, und mach mich zu einem glücklichen Mann!«, rief er wütend. Dann schaute er sie an und dämpfte seine Stimme. »Das ist alles, was ich verlange. Danach werden wir miteinander reden und essen. Bitte schau hin.« Er verzog das schmale Gesicht und winselte wie ein Hund, als er die Me-
tallplatte hochhob. Er winkte Tara näher. »Sieh durch die Scheibe…« Tara trat dicht an die Tür und reckte sich auf Zehenspitzen, damit sie durch das Glas schauen konnte. Sie hielt sich am Holz fest, bis ihre Augen sich an das bernsteinfarbene Licht im Raum gewöhnt hatten. Es war, als blickte sie in einen unterirdischen Garten. Sonnenlicht drang durch die Blätter eines Baumes, der mitten im Zimmer stand. Seine Rinde schimmerte silbern. Teile davon hatten sich aufgerollt und waren auf den Boden gefallen. An jedem Ast hingen prachtvolle, saftig grüne Blätter, jedes von der Größe einer Männerhand. Dicke, glänzende Tropfen traten aus der ledrigen Oberfläche und rannen wie riesige Tränen daran herunter. An den obersten Ästen hingen die schönsten roten Früchte, die Tara je gesehen hatte. Die Äste bogen sich unter ihrem Gewicht und wippten auf und ab wie die Stäbe eines Fächers. Von diesen Ästen hingen an dicken roten Kordeln auch zehn goldene Tafeln. Die Kordeln waren so fest um die Äste gewickelt worden, dass sie tief in die Rinde einschnitten. Und dann sah Tara sie, die Kreaturen, die an den unteren Ästen hingen. Jede hatte die Größe eines kleinen Vogels, und auf der Stirn saß ein spitzer Stachel. Deutlich erkannte sie die langen, zusammengefalteten schwarzen Flügel, die über die kräftigen Hinterbeine und die stachelbewehrten Füße gelegt waren, mit denen sie sich an der Rinde festhielten. »Das sind die ersten«, erklärte Salomon stolz. »Elf Jahre habe ich auf diesen Tag gewartet. Bald wird es eine Million von meinen kleinen Heuschrecken geben, und wenn die Zeit gekommen ist, werde ich sie in der Nacht freilassen, und sie werden tun, was vorhergesagt wurde.« »Sie werden im Londoner Nebel sterben oder verhungern wie wir auch«, erwiderte Tara. Fasziniert beobachtete sie, wie die Tiere schläfrig von Ast zu Ast krochen. »Meine Heuschrecken wurden in vielen Versuchen so gezüchtet, dass ihnen die Kälte nichts ausmacht. Sie wurden… verändert. Auch im Hinblick auf das, was sie fressen – « Salo-
mon schaute auf ein Holzfass zu seinen Füßen. Er hob den Deckel und streckte die Hand in einen Berg fauliges Fleisch. Seine Hand war blutverschmiert, als er sie mit einem Stück Schweinebauch wieder herauszog. Der Gestank war fast unerträglich. Ohne ein Wort schob er den Riegel an der Tür zurück, öffnete sie, warf das Fleisch unter den Baum und schlug die Türe zu. Mit fliegenden Händen schloss er sie wieder ab. Danach trat er lächelnd einen Schritt zurück, damit Tara sich das Schauspiel ansehen konnte. Die Kreaturen ließen sich eine nach der anderen vom Baum fallen und stürzten sich auf das Fleisch. Sie kämpften darum und zogen und zerrten an den Fasern. Tara keuchte, als immer mehr der seltsamen Heuschrecken aus den Ästen fielen und schnarrende, schabende Geräusche von sich gaben, bevor sie sich wie die anderen kampfeswütig über das Fleisch hermachten. »Sie können nicht widerstehen, so geht das jedes Mal«, erklärte Salomon aufgekratzt und nahm Tara bei der Hand. »Stell dir vor, was passieren würde, wenn ich dir erlauben würde, den Raum zu betreten… Noch bevor fünfzig Körnchen durch das Stundenglas gefallen wären, wären nur noch deine sauberen, weißen Knochen von dir übrig… Ein ernüchternder Gedanke und einer, der dir bei der Entscheidung über deine Zukunft helfen wird, da bin ich mir ganz sicher.« Taras Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, während sie beobachtete, wie die Tiere an dem rasch kleiner werdenden Stück Schweinefleisch zerrten. Sie wollte etwas sagen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Salomon sah ihr die Unsicherheit an. »Ich denke, eine Nacht mit zwei meiner anderen Gäste wird dich umstimmen und dir jeden Zweifel nehmen, der noch in dir steckt.« Vom anderen Ende des langen Korridors näherten sich die schweren Schritte Beinwells und füllten das Dämmerlicht mit einem dunklen Klang. Tara sah dem hünenhaften Schatten entgegen. Der Riese hielt zwei große Messingschlüssel in seinen Pranken.
10. Lex talionis – »Auge um Auge…« Jonah preschte durch die Wirtshaustür, als hänge der Teufel in Person an seinen Rockschößen. Die Wunde an seinem Arm war aufgebrochen, Blut sickerte durch und bildete einen dunklen Trauerring auf seinem Hemdsärmel. Er war immer noch in Panik. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn, das blonde Haar klebte ihm am Kopf und ließ ihn bis auf die Knochen frieren. Er hatte das Gefühl, verfolgt worden zu sein, kam sich vor wie ein Fuchs, der vor dem Jäger voller Angst in seinem Bau Schutz sucht. Hektisch sah er sich im Schankraum um, suchte nach einem freundlichen Gesicht und dem Trost des Feuers. Das Wirtshaus war leer bis auf den alten Bunz, der an dem klebrigen, schwarzen Tresen lehnte, und einen betrunkenen Dandy, der sich zum Schlafen so in seinen Mantel gewickelt hatte, dass lediglich die schmutzigen Stiefelspitzen in die Welt schauten. Bunz hielt sich mit beiden Händen an einem großen Krug voll schäumendem Bier fest, als sei es etwas ganz Kostbares, das er nie mehr loslassen wollte. Rote Äderchen zogen sich über seine Wangen, und seine dicke Knollennase lag auf dem Rand seines Zinnkruges auf. Über dem gelblichen Bierschaum sah sie aus wie ein Rotkehlchen auf schmutzigem Schnee. »Maggot?«, rief Jonah voller Angst, da er den Jungen nicht sah. »Nicht hier«, erwiderte Bunz mit fester Stimme. Er öffnete ein Auge und sah sich um. Der Bierschaum kitzelte ihn an der Nase, und seine Nasenflügel bebten. »Aber das ist dir ja ohnehin egal – lässt den Jungen auf der Straße liegen, wo tollwütige Hunde ihn zerreißen können. Zum Glück war Tara da und
hat ihm das Leben gerettet. Wenn’s auf dich angekommen wäre, hätte das Vieh ihn in Stücke gerissen.« »Du kannst mir keinen Vorwurf machen«, rief Jonah, zog dem alten Mann den Zinnkrug unter der Nase weg und goss sich einen Becher voll. Seine feuchten Kleider sogen den Duft des warmen Bieres auf. »Wo ist Tara?«, wollte der alte Bunz wissen. Grunzend schnappte er sich den Krug wieder und legte den Arm darum wie um ein kleines Kind. Jonah antwortete nicht gleich. Fieberhaft suchte er nach Worten, hinter denen er seine Dummheit verbergen und seine Feigheit vergessen machen konnte. Er holte tief Luft, trank einen großen Schluck warmes Bier und wischte sich den Schaum vom Mund. Ihm fiel keine vernünftige Erklärung ein. »Sie ist…« Er hielt inne und schaute zu dem leise knisternden Feuer hinüber. Die Glut war für die Nacht mit einem frischen Bündel Birkenreis abgedeckt worden. Rauchfahnen schlängelten sich zwischen den Ästen durch, als die Hitze die nasse Rinde trocknete, helle Funken den geschwärzten Schornstein hinaufschickte und den Duft von Wald in die Stube brachte. »Also, wo ist jetzt meine Tara? Sie hat noch anderes zu tun als dir durch halb London hinterherzulaufen. Wenn du eine Frau wärst, würde ich sagen, du bist eine Hexe und hast sie verhext. Was hast du mit ihr gemacht?« Jonah ging zum Feuer hinüber und stellte sich neben den großen Eichenstuhl mit den von vielen Händen geglätteten Armlehnen und den dünnen Beinen. »Sie ist… ich hab sie verloren«, flüsterte er in der Hoffnung, der alte Mann würde in seinem Rausch einschlafen und erst wieder aufwachen, wenn er die Welt wieder geradegerückt hatte. »VERLOREN?«, brüllte Bunz und knallte den Krug auf den Tresen, dass das Bier nur so durch den Schankraum spritzte. »Wie kannst du sie verloren haben? Sie ist doch kein Taschentuch und keine Uhr, du Nichtsnutz – sie ist eine Frau aus
Fleisch und Blut. Du kannst doch nicht sagen, du hast sie verloren!« »Die Salomoniten haben uns angegriffen. Sie haben Tara und einen Jungen mitgenommen… Ich konnte entkommen.« »Du bist weggelaufen, hast den Schwanz eingezogen wie ein geprügelter Hund«, brüllte Bunz und suchte unter dem Tresen nach dem schwarzen Stock, mit dem er gewöhnlich Streithähne schlafen legte. »Ich hab gut Lust, dir den um die Ohren zu hauen junge. Verdient hättest du es. Verloren? Du hast Tara verloren und kommst hier rein, als sei nichts passiert!« »Wir wurden angegriffen, und ich konnte entkommen. Sie waren darauf aus, Tara mitzunehmen und mich umzubringen. Ich habe gesehen, wie sie den Zauberer zusammengeschlagen haben, bis er mit dem Gesicht im Dreck lag, und einer von ihnen war groß wie ein Berg und hatte Hände wie Schaufeln. Wie hätte ich uns verteidigen können?« »Du denkst zuerst an dich, bevor du an andere denkst, was, Junge? Ich habe dich beobachtet und den Tag verflucht, an dem du mit deinem hochgestochenen Gehabe und deinen Diebesgeschichten hier hereingekommen bist. Ein Lügner und Nichtsnutz, dem man nicht trauen kann, genau wie dein Vater, nur dass du noch einmal so schlecht riechst!« Der alte Bunz fuchtelte mit einer Hand mit dem Stock herum, während er mit der anderen den Krug festhielt. »Du brauchst dich hier nicht mehr blicken zu lassen. Ich gehe zum alten Salomon und bezahle, was er für sie haben will, und ich nehme es von deinem gestohlenen Geld, jeden einzelnen Penny.« Damit ließ er den Stock auf den Tresen heruntersausen und schmiss den Krug in seinem Suff gegen die Wand. »Maggot ist im Hinterzimmer. Er hat Besuch. Jemand, der sich um sein Bein kümmert, eine alte Freundin, von der ich weiß, dass sie ihn nicht von Hunden zerfleischen lässt«, lallte er. Die Worte trafen Jonah wie ein Schlag und erinnerten ihn an seine Selbstsucht und seinen Verrat. Bunz starrte auf den Boden; er wollte Jonah nicht einmal
mehr ansehen. »Hinterzimmer!«, bellte er und zeigte mit einem schmutzigen Finger, der aussah wie eine Habichtskralle, zur Tür. »Verabschiede dich von ihm, und dann verschwinde. Für dich ist hier kein Platz mehr. Geh zurück in deine Unterkunft, und iss mit den Ratten.« Jonah zuckte mit den Schultern und ging langsam zur Tür. Als er zurückschaute, sah er, dass der alte Bunz die Arme vor der Brust verschränkt hatte und wieder am Tresen lehnte. Er schnarchte wie ein Bär und grummelte ab und zu vor sich hin. Und er sah auch das Auge des Dandys, das ihn aus den Falten eines Jagdmantels heraus anschaute. Es war nur ein ganz kurzer Blick aus einem klaren, scharfen Auge, dem Auge eines Wolfs, blutunterlaufen, hungrig und kalt. Es schaute Jonah durchdringend an, suchte nach einem Zeichen der Schwäche. Doch als Jonah ein zweites Mal hinsah, schlief der Dandy friedlich, eingehüllt in Melancholie. Vorsichtig drückte Jonah die Tür zum Hinterzimmer auf. Es war der private Teil des Wirtshauses, und normalerweise betrat ihn nur der alte Bunz. Der Raum war immer abgeschlossen, was darin war, blieb neugierigen Augen verborgen, die Welt bekam es nicht zu Gesicht. Jonah wurde ganz aufgeregt, als er die Tür weiter aufstieß und das Licht von drinnen zu ihm herausdrang. Plötzlich griffeine Hand, schmal und weiß nach der Tür und zog sie vollends auf. »Versteckst du dich, Junge?«, fragte eine Stimme. »Er ist hier, falls du ihn sehen willst. Sein Bein ist gebrochen – und es passierte, als er für dich unterwegs war.« Geblendet vom Licht mehrerer Kerzen, spürte Jonah nur, wie eine Hand ihn an der Jacke packte und in das Zimmer zog. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er Maggot ausfindig zu machen und gleichzeitig einen ersten Blick auf die private Kammer des alten Bunz zu werfen. »Ich bin Griselda«, sagte die Stimme. Jonah hatte die Hände vors Gesicht gelegt, um seine Augen vor der Helligkeit zu schützen, und schaute durch die gespreizten Finger. Die vielen Kerzen wärmten den Raum wie die Sonne an einem schönen
Tag. »Ich bin eine Freundin des alten Bunz«, erklärte die Frau mit schiefem Lächeln. »Maggot wird zu mir kommen und bei mir wohnen, und sein Bein wird heilen. Ich lebe auf dem Land… Du kannst ihn besuchen, wenn du willst.« Ihr Ton ließ vermuten, dass sie Dinge über Jonah wusste, die dieser lieber geheim gehalten hätte. Er musste annehmen, dass über ihn geredet worden war, dass man sich gegenseitig erzählt hatte, wie er beim Anblick eines Hundes vor Angst erstarrt war, unfähig oder unwillig, seinem Freund zu helfen. Jonah nahm die Hände vom Gesicht. Im hellen Kerzenschein sah er die Frau an, die da vor ihm stand. Ihr puderweißes Gesicht leuchtete, das Haar war zurückgebunden und halb unter einem breiten schwarzen Stirnband verborgen, wie es sonst nur Straßenräuber trugen. Sie war gekleidet wie ein Mann, trug Reithosen und derbe schwarze Stiefel. Als seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, schaute er sich in dem mit dunklem Holz getäfelten Raum um. Rechts von der Tür war eine große Feuerstelle mit schwarzem Rost, auf dem glühende Holzscheite lagen, die Kiefernduft verströmten. An der hohen Decke hingen Kriegsflaggen und silberne Harnische. Die Wände waren geschmückt mit vertrockneten Lorbeerkränzen und alten Schwertern, Bogen und bunten Truppenabzeichen. Das also war das geheimnisvolle Zimmer, das der alte Bunz bisher niemandem gezeigt hatte. Jonah kniff die Augen zusammen. Jedes einzelne Wandpaneel wurde von einer großen weißen Kerze beleuchtet, und an der Decke hing der größte, hellste Kronleuchter, den Jonah je gesehen hatte; jeder Kristall glitzerte wie ein Diamant. Endlich sah er auch Maggot. Eingewickelt in eine warme rote Decke, hatte er sich beim Feuer zusammengekuschelt. Sein Kopf ruhte auf einem dicken Kissen mit ausgefransten Ecken. Er hatte die Augen geschlossen, und auf seinem Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. »Ich habe ihm etwas Baldrian gegeben, damit er schlafen kann und keine Schmerzen mehr hat. Und ich habe nach meiner Kutsche geschickt, die ihn nach Strumbelo bringt. Es ist
nicht weit.« Griselda lächelte ihr kühles Lächeln, dann schaute sie auf den Blutfleck an Jonahs Ärmel. »Der alte Bunz hat mir viel von dir erzählt, aber dass du verletzt bist, hat er nicht gesagt.« »Ein Zufallstreffer von einem Feigling, der mich von hinten angegriffen hat, einer, der nicht Manns genug war, mir ins Gesicht zu sehen, als er zustach«, antwortete Jonah und zupfte an seinem Ärmel. Das tat so weh, dass er zusammenzuckte und ihm Tränen in die Augen schossen. Die Frau zog ihm den Rock aus und schob den Ärmel seines Hemdes zurück. Sie hob das zusammengefaltete Tuch von der Wunde, das blutdurchtränkt war und grün von der Nesselsalbe. »Es heilt nicht«, sagte sie und säuberte die Wunde mit einem frischen Tuch. »Was war das für eine Waffe?« Jonah sah den besorgten Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie die Wunde nach Metallresten untersuchte. Es war, als suche sie nach einer Spur, nach etwas, das ihr verriet, wer ihn angegriffen hatte. »Ein Messer aus kaltem Stahl, das einem Lügner gehörte«, erwiderte er gepresst, als die Frau ein zusammengefaltetes Tuch auf die Wunde drückte und ein plötzlicher, heftiger Schmerz seinen ganzen Körper durchzuckte. »Das ist keine tödliche Wunde, und sie stammt nicht vom Messer eines Lügners«, sagte Griselda. »Die Hände, die diese Klinge geschmiedet haben, waren nicht von dieser Welt, und wenn ich mich nicht irre, kenne ich den Besitzer der Waffe nur zu gut.« Sie schaute auf und sah eine Träne über seine Wange laufen. Lächelnd wischte sie sie mit dem Finger ab. Als sie sein Gesicht berührte, war es Jonah, als würde ihm neue Lebenskraft geschenkt. »Du hast das Messer bei dir – und jetzt haftet auch noch das Blut eines anderen daran.« »Woher wisst Ihr das?«, fragte Jonah, der sich plötzlich schämte und ihr nicht mehr in die Augen schauen konnte. »Es steht mir zu. Er hat mich angelogen und sich dadurch schuldig gemacht. Außerdem steckte es so tief in meinem Arm, dass es mit Gewalt herausgezogen werden musste. Es klebte an mir
wie eine Fliege am Honigtopfund arbeitete sich immer tiefer in mein Fleisch hinein.« »Genau so verhält es sich. Indem du es benutztest, ist der Fluch auf dich übergegangen. Das Messer wird dich dazu bringen, unter allen Umständen zu kämpfen und zu töten.« Griselda streckte die Hand aus und nickte Jonah zu, damit er es ihr gab. »Es gehört mir, und ich gebe es nicht her. Ich habe keine andere Waffe und muss doch Tara befreien.« Jonah wich vor ihr zurück, trat unter die Tür in der Hoffnung, in der dunklen Wirtsstube Zuflucht zu finden. »Dann hast du sie also aus den Augen verloren?« »Die Salomoniten haben sie mitgenommen, sie und einen blinden Jungen, ein Orakel namens Tersias, der behauptet, in die Zukunft sehen zu können. Ich sage, dass er zu lange auf das Geschwätz von Magnus Malachi gehört hat, dem alten Dummkopf. Aber dem kann er jetzt nicht mehr zuhören. Malachi haben sie zusammengeschlagen, er liegt tot in der Gasse. Ich hab’s mit meinen eigenen Augen gesehen: zusammengeschlagen und im Dreck liegen gelassen. Deshalb bin ich weggelaufen – ich bin mit diesem Leben noch nicht fertig, und mit dem nächsten will ich mich noch nicht befassen – wenn es überhaupt ein nächstes gibt.« Jonah sah die Frau an. Er war überrascht, dass sie ihm zuhörte. Er wollte die Chance nutzen, sich zu verteidigen, das, was gesagt worden war, zurechtrücken, sich rechtfertigen und die Gründe für sein Handeln nennen. »Hört nicht auf den alten Bunz, er ist ein Dummkopf«, fuhr er fort. »Der Hund war schuld, er hat mich hypnotisiert. Ich hätte Maggot beschützen können… aber ich war in meinem eigenen Kopf gefangen, ein Traum hatte mich gepackt, ich sah nichts mehr…«Jonah wusste nicht mehr, wie er weitermachen sollte, als die Erinnerung an das, was er erlebt hatte, zurückkam; es war, als seien die Dämme in seinem Kopf gebrochen und als könnte der Feind nun ungehindert hinein. Er versuchte, den Blick der Frau aufzufangen, ihr in die
Augen zu sehen. »Versteht Ihr das? Glaubt Ihr mir? Ihr müsst mir glauben!« Jonah kämpfte mit den Tränen. Er schämte sich, fühlte sich armselig und klein. Er hatte sich von dem Lächeln dieser Frau einlullen lassen, hatte es zugelassen, dass er schwach wurde. Und in seinem Herzen war etwas zerbrochen, als er feststellte, wie schnell er seine Freundin Tara einem ungewissen Schicksal überlassen hatte. »Wenn ich in die Zukunft sehen könnte, würde ich ganz bestimmt versuchen, sie zu ändern«, schluchzte er und fuhr sich mit den schmutzigen Handrücken übers Gesicht. »Ich hätte dort bleiben und versuchen sollen, sie zu beschützen, aber ich konnte nicht. Ich musste wegrennen – etwas anderes kann ich nicht. Ich wurde schon so oft gejagt, dass es ganz von selbst kommt. Das erste Mal, dass ich mich jemandem widersetzt habe, war in der Nacht, als ich den Messerstich bekam.« Jonah schlug die Hände vors Gesicht. »Sagt es niemand weiter. Ich habe das noch keiner Person erzählt – weil mir je keiner wirklich zugehört hat.« »Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben«, erwiderte Griselda. Sie holte eine Baumwollbinde aus einer großen schwarzen Ledertasche, die auf dem Boden stand, und trat zu ihm. Während sie seinen Arm umwickelte, schaute er in die Tasche. Sie war gefüllt mit merkwürdigen Holzkästchen, auf denen mit dunkler Tinte lange Wörter und Zeichen geschrieben waren, aus denen er nicht schlau wurde. Ganz obenauflag eine getrocknete Schlangenhaut, die über eine Silberkette gezogen war, und an der Seite steckte der Kieferknochen eines Tieres, aus dem noch die weißen Zähne herausragten. Jonah trocknete seine Tränen und überlegte, ob er die Frage stellen konnte, die ihn bewegte. »Seid Ihr eine Hexe?«, erkundigte er sich schließlich so leise, dass seine Stimme über dem Knistern des Feuers kaum zu hören war. Er zeigte auf Maggot. »Sieht so aus, als hättet Ihr ihn in Trance versetzt. Ich hab das einmal auf einem Jahrmarkt erlebt. Das war genauso.« »Sehe ich aus wie eine Hexe?« Die Frau lächelte ihn an. Der Verband war fertig, und sie fixierte ihn mit einem Stück
roten Faden. »Ich dachte nur – die ganzen Sachen in der Tasche, Schlangenhäute, Kieferknochen und Zaubermittel. Solche Dinge tragen Hexen doch mit sich herum, oder?« »Ich weiß es nicht, denn ich bin keine Hexe.« Sie hat Augen, die bis in die Seele schauen können, dachte Jonah. »Ich bin eine, für die es keine Grenze zwischen den Welten gibt – Träumen und Wachen, Tag und Nacht sind ein und dasselbe für mich. Es gibt Dinge, über die wir kaum etwas wissen. In jedem Baum und jeder Pflanze stecken heilende Kräfte. So wurde die Welt angelegt. Der Apfel brachte den Untergang des Menschen und der Wein die Erlösung.« Griselda lachte, als sie seine Verwirrung sah. »Maggot ist nicht in Trance, er schläft sich gesund. Ich nehme ihn mit zu mir nach Hause, wo er eine Weile bleiben wird. Den Gefallen tu ich dem alten Bunz.« Sie schaute sich im Zimmer um, als lauschte sie einer Stimme, die Jonah nicht hören konnte. »Bevor ich gehe, bitte ich dich um eines… Zeige mir das Messer.« »Aber ich kann es behalten?«, fragte er misstrauisch. »Wenn du glaubst, dass es gut für dich ist und du es in der Gewalt hast und nicht das Messer dich…« »Wie könnte ein Stück Metall mich in der Gewalt haben?«, wunderte sich Jonah, langte in seine Tasche und bekam den warmen Griff des Messers zu fassen. »Es gibt Dinge, die du nicht verstehst. Wenn ich recht habe, wurde die Waffe, die du bei dir trägst, vor vielen, vielen Jahren von einem Zauberer namens Hiram Abif auf dem Berg Zion geschmiedet. Davor bildete sie die Spitze einer Lanze, die sich beim Kampf auf dem Schädelberg in den Leib eines Königs bohrte. Die Waffe führte der Römer Longinus, der zu spät erkannte, wen er damit verletzt hatte. An dem Metall klebte noch das frische Blut, als es zu einem Messer umgeschmiedet wurde. Die Klinge trägt den Namen Mastema. Sie wurde von einer Generation zur nächsten weitergegeben, und jeder, der sie in der Hand hielt, fiel unter ihren Bann.« Grisel-
da sah Jonah an und hob sein Gesicht etwas an, damit sie ihm in die Augen schauen konnte. »Kam das Messer allein daher, oder hast du seinem Besitzer auch noch eine Alabasterschatulle abgenommen?« »Nein, es war nichts mehr dabei… gar nichts. Nur das Messer.« Jonah zog es aus der Tasche. Es pulsierte in seiner Hand, als sei es lebendig. »1st es das Messer, von dem Ihr gesprochen habt?«, fragte er und hoffte, dass sie sich getäuscht hatte, dass selbst jemand, der so klug redete, unrecht haben konnte. »Ah… es ist die Mastema«, sagte sie, nicht im Geringsten überrascht. »Dies ist das Messer, und sein Besitzer ist Lord Malpas.« »Seine Kutsche ist bei dem alten Brunnen auf den Feldern von Conduit zusammengebrochen«, sagte Jonah rasch. »Ich wollte helfen, wir gerieten in Streit, er stieß mir das Messer in den Arm, und ich bin weggelaufen. Das Messer steckte noch in meinem Arm, es hätte mich umbringen können…« »Das ist eine schlimme Geschichte, aber du hast überlebt und bist hier und kannst sie erzählen. Was du da hast, ist allerdings sehr gefährlich. Es wird seinen Herrn suchen und den Fluch weitergeben.« »Wenn Ihr abergläubisch seid und an Flüche glaubt, ist das Eure Sache. Ich glaube an das, was ich sehe«, erwiderte Jonah barsch und rollte das Messer zwischen den Händen. »Nicht an eine Sache zu glauben, macht sie nicht weniger wahr. Manchmal bedarf es Wissen, um glauben zu können. Hiram Abif war ein berühmter Mann, der Erbauer eines großartigen Hauses, dessen Ausmaße die Säle des Universums spiegeln. Er schmiedete die Mastema an einem geheimen Ort aus den besten Metallen. Er trug sie immer bei sich, und wenn der Morgenstern aus dem Meer aufstieg, reckte er sie gen Himmel und sprach zur Luft. Eines Tages kamen drei Männer und wollten wissen, was er da immer sagte. Als er es nicht verriet, töteten sie ihn und schnitten ihm seine Zukunft aus der Stirn. Seit dieser Zeit liegt ein Fluch auf der Mastema. Jeder,
der sie berührt, wird vernichtet und zu Staub.« »Ihr wisst, dass ich das Messer Malpas gestohlen habe, und nehmt es mir nicht ab?«, wunderte sich Jonah. »Ich würde so etwas nicht anrühren«, erwiderte sie schroff. »Und was Malpas betrifft, seine Zukunft brennt ihm wie glühende Kohlen in seinem Schoß – genau so wie in deinem. Wir haben auf dieser Welt die Freiheit zu wählen: gut oder schlecht, richtig oder falsch. Beide Wege liegen vor uns, doch wir wählen den Weg der Verdammnis und haben nur eine Sorge: dass die Schuhe auch schön sind, die wir auf unserer Reise durch das Leben tragen.« Griselda lachte und schloss ihre Ledertasche. Als Jonah sie jetzt anschaute, konnte er sie in dem Licht, das sie umgab, nur noch verschwommen erkennen, so als würde sie vor seinen Augen wegschmelzen, würde aufgesogen vom hellen Schein der Kerzen. »Das Leben ist anders, als wir denken. Du behältst das Messer, bis die Zeit reif ist, das zu tun, was richtig ist. Auf deiner Stirn steht deine Zukunft geschrieben, die Wege, die du gehen solltest, und jede Lüge und jeder Umweg, den du machst.« Griselda hielt inne und schaute sich um. Ihr Ausdruck veränderte sich, und das Lächeln verschwand. Sie kniff die tiefblauen Augen zusammen und schien den Blick in eine andere Welt zu richten. »Sei vorsichtig, Jonah, denn du wirst verfolgt. Ein Wolf zieht durch die Stadt, bereit zu töten und zu zerstören. Du brauchst mehr als ein Messer, wenn du dich vor ihm schützen willst.« Jonah lief es eiskalt über den Rücken. Die Worte klangen wie die düstere Prophezeiung einer Hexe aus Greenwich. Plötzlich und ohne jede Vorwarnung stieß Griselda ihn von der Tür weg und stürzte in den Schankraum. »Schnell«, rief sie, »der alte Bunz…« Jonah drehte sich um und war mit einem Satz ebenfalls draußen. Ein Schatten zuckte über die Wand, als der alte Bunz sich mit einer Hand an die Kehle fasste und mit der anderen hektisch durch die Luft fuhr, als wollte er etwas von sich wegstoßen. Er war in einen schwarzen Nebel gehüllt, der ihn zu
verschlingen drohte. Griselda schlug mit der Hand in das Dunkel. »Lass ihn in Ruhe!«, rief sie. Dann trat sie von dem zuckenden Schatten zurück, griff in die Tasche ihres Gehrockes und zog eine lange Silberkette heraus, an der ein schmales, hohes Döschen aus Holz hing. Schnell schraubte sie den Deckel ab und schüttelte es. Obwohl es dunkel war, sah Jonah etliche Tropfen durch die Luft fliegen. Sie glitzerten wie Kristalle, als sie sich auf der dunklen Masse verteilten, die über dem alten Mann schwebte. Der lag inzwischen zitternd und nach Atem ringend auf dem Boden. Die Tür zum ersten Stock fiel zu, und auf der Treppe zu den Schlafzimmern waren schwere Schritte zu hören. Jonah sah sich um. Von dem Dandy in seinem langen schwarzen Mantel war keine Spur mehr. »Lauf schnell nach oben! Was er sucht, muss dort sein!« Griselda schaute Jonah an, und ihre Augen sagten ihm, dass sie seine Gedanken lesen konnte. Ein greller Blitz zuckte auf, als die Kristalle in den dunklen Nebel eindrangen, der den alten Mann zu Boden drückte. Ohne zu zögern, lief Jonah zu der Tür, hinter der die Treppe lag, und wollte sie öffnen. Als es nicht ging, machte er einen Schritt zurück und trat sie ein. Er quetschte sich durch die Öffnung und schob von der anderen Seite den Riegel zurück. Er hörte, wie über ihm Taras Zimmer durchsucht wurde. Das einfache Holzbett wurde über den Boden gezerrt, Glas zerbrach. Jonah lief die Treppe hinauf und stürzte in das Zimmer. Im Mondlicht sah er die Umrisse eines Mannes. Jonah zog das Messer und hielt es vor seinen Körper. »Willst du was von dem hier?«, rief er und ließ es durch die Luft sausen. Es funkelte blaugolden in dem dunklen Raum und pulsierte in seiner Hand. Der Mann trat einen Schritt zurück, da er wohl spürte, dass die Klinge eine gewisse Macht über ihn hatte, etwas, gegen das er nicht ankam. Er schüttelte sich und war mit einem Satz beim Fenster, dessen Rahmen aus den Angeln gerissen worden
war. »Noch einen Schritt und ich durchbohre dich«, drohte Jonah und ging langsam auf ihn zu. »Ich hatte dich schon einmal in meiner Gewalt junge.« Die Stimme des Mannes war ein leises Grollen. Er zeigte mit einem langen, gekrümmten Finger auf Jonah. »Riss dich aus deinem Bett und zerrte dich durch das Zimmer und hinaus auf die Straße. Präge dir mein Aussehen gut ein, damit du mich nicht vergisst. Denn eines Tages werde ich dich wieder in meiner Gewalt haben und dann…« Da sah Jonah, wie sich die Augen des Mannes veränderten. Aus einem trüben Weiß wurde ein leuchtendes Rot, und aus seiner Hand wurde eine dicke schwarze Pfote. Der Mann lächelte verschlagen, sein Gesicht wurde zur Grimasse, und er entblößte spitze Zähne. Jonah war vor Angst wie erstarrt. Die Erinnerung an dieses Gesicht fuhr ihm in den Magen. Er wusste, dass er vor langer Zeit schon einmal in diese blutunterlaufenen Augen geschaut hatte. Er wollte Griselda warnen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Der Mann lachte und legte die Hand auf den Fenstersims. »Du hast das, weshalb ich hergeschickt wurde, und ich werde noch vor dem nächsten Neumond zurückkommen, Jonah Ketch. Ich werde dir das Fleisch von den Knochen reißen, und nicht einmal dieses Messer wird mich aufhalten.« Der Mann sprang aus dem Fenster und landete im Dreck der Straße. Sein Gelächter hallte in den Gassen wider und ging schließlich in Hundegebell über. Als Griselda ins Zimmer gelaufen kam, sank Jonah auf die Knie, als sei durch das Gebell alles Leben aus ihm gewichen. Griselda hob ihn auf und schnupperte. »Lykaon«, sagte sie leise. »Ich hätte mir denken können, dass der alte Hund etwas damit zu tun hat.« Sie schaute zu dem kaputten Fenster hinüber. »Mir scheint, er kam wegen etwas, das du nach deinen eigenen Worten nicht hast.« Jonah senkte den Kopf. Jetzt bereute er, ihr nicht die Wahr-
heit gesagt zu haben. Er zog die Alabasterschatulle unter der Matratze hervor und drückte sie an sich. »Ich wollte sie behalten. Sie ist so wunderschön.« »Schönheit kann täuschen. Selbst der Teufel kommt als Lichtgestalt. Lykaon wusste, dass der Alabaster in der Nähe war. Das Messer und die Schatulle sind nie lange getrennt.« Griselda sah hinaus auf die Straße. »Jetzt musst du mir einen Gefallen tun. Geh zu der Stelle, wo du Malachi zuletzt gesehen hast, versteck dich und warte, ob er Besuch bekommt.« »Aber er ist tot«, protestierte Jonah. Er hatte Angst vor Lykaon und wollte das Wirtshaus nicht verlassen. »Tot oder lebendig, er war der Grund für vieles, das in dieser Stadt geschah, und nun liegt alles in unseren Händen. Auf deinen Kopf ist ein Preis ausgesetzt, und das Messer wird selbst die Toten dazu bringen, nach dir zu suchen.«
11. Trismagistus – drei Mal der Größte In der Zitadelle warf Beinwell die Zellentür zu und schloss sie ab. Dann stieg er in der Dunkelheit schwerfällig die schmale Treppe hinauf. Von seiner dicken Zunge tropfte Speichel über sein stoppeliges Kinn, und mit dem schmutzigen Nagel am kleinen Finger seiner linken Hand pulte er zwischen seinen angefeilten Zähnen herum. Er blieb kurz stehen, drehte den Kopf und lauschte. Leises Weinen, in dem tief empfundene Trauer mitschwang, flatterte wie ein goldener Schmetterling an sein Ohr. Ich hab’s geschafft, dachte er, wandte sich wieder der Treppe zu und mühte sich weiter nach oben. Mit jedem Schritt, den er sich von den Tränen entfernte, wurde das jämmerliche Klagen leiser. Tara saß auf dem Treppenabsatz hinter der Tür und hielt mit beiden Händen die dünne Talgkerze fest, die sie aus dem Halter an der Zellentür gerissen hatte, bevor Beinwell sie grob in die Dunkelheit hineingestoßen hatte. Als sie sich mit dem Mantelärmel Tränen vom Gesicht wischte, tropfte ihr heißer Talg auf den Handrücken, und sie ließ die Kerze fallen. Die rollte über die Steinplatten und brannte dabei immer heller. Instinktiv streckte sie die Hand aus und versuchte, die Kerze zu erwischen, damit sie nicht ausging. »Nein!«, rief sie und ließ sich auf die Knie fallen. Sie bekam sie gerade noch zu fassen, bevor sie die steinernen Stufen hinunterrollen konnte, die sich in der Dunkelheit verloren. Es gab einen dumpfen Schlag. Etwas Trockenes, Totes war auf den Boden gefallen. Tara rollte die Kerze vorsichtig zu sich her. Sie hörte, wie jemand sich räusperte und etwas zu sagen versuchte, doch die Stimme wollte nicht gehorchen, weil sie seit Jahren nicht mehr gebraucht worden war.
»Du?«, krächzte es schließlich heiser. »Bist du das?« Tara schwieg. Sie hielt die Kerze von sich weg, damit das Licht sie nicht verriet. »Zu… zu hell für mich«, krächzte die Stimme wie eine alte Eule. Es war eine Männerstimme, und der, dem sie gehörte, hustete phosphoreszierenden Schleim. »Nur ich bin noch übrig, alle anderen sind…« Der Mann machte eine kurze Pause, seufzte und holte tief Luft. »Sie sind verschieden. Dankbare Tote, ich dagegen ein Reisender von der tragischsten Sorte.« Sekundenlang herrschte absolute Stille. Tara versuchte, in der Zelle etwas zu erkennen. Sie kam ihr vor wie eine marmorne Höhle. Dann klimperten Eisenketten über den Steinboden. Tara richtete sich auf und hielt die Kerze so hoch sie konnte, obwohl der heiße Talg ihr über die Hand lief. Im schwachen Licht sah sie ihn. Er schaute zu dem Licht auf, hatte zum Schutz vor der Helligkeit aber die Hand über die Augen gelegt. Seine Kleider hingen wie zerrissene Segel an seinem mageren Körper. Er trug die Überreste eines Gehrockes, eine seidene Hose und ein ehemals weißes Hemd, das jetzt in Fetzen an ihm hing. Sie starrte auf den dichten schwarzen Bart, der zwei Jahre lang ungehindert gewachsen war. Zu seinen Füßen lag ein Berg zerrissener Tücher, die zu einem schmutzigen, blutverschmierten Nest zusammengezwirbelt worden waren. Sie fand ihn tragisch und mitleiderregend; er glich einem Kind, das seine Eltern verloren hatte, oder einem Gassenjungen, halb verhungert und schmutzig und abgerissen genug, um selbst ihr Herz zu rühren. Tara trat auf die oberste Treppenstufe. Die Treppe führte in zwei Abschnitten hinunter zum Boden der Zelle. Der Mann wich vor ihr zurück. »Wer kommt da mit Licht?« Er nahm die Hände vom Gesicht und legte sie über den Kopf, als erwarte er Prügel. »Mir ist nichts mehr geblieben außer meinem Verstand, und den kannst du mir nicht nehmen.« Er redete in einem quengeligen Ton und kauerte sich wie ein Kind in der Ecke zusammen. »Ich will nichts von dir«, erklärte Tara ruhig. Als sie die
Kerze vor ihren Körper hielt, stellte sie fest, dass sie wohl nur noch ungefähr eine Stunde brennen würde. »Ich bin selbst eine Gefangene. Wir teilen dasselbe Schicksal. Ich furchte sogar, dass meines noch schlimmer ist als deines.« Der Mann lachte höhnisch. Er rappelte sich auf, kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der Hand durch das lange schwarze Haar, das ihm in dicken Strähnen wie Rattenschwänze vom Kopf abstand. Das Gesicht war blutig und voller blauer Flecken. »Mein Schicksal wirst du nie teilen. Meine Freunde sind tot. Salomon hat uns entführt, um uns zu seinen Jüngern zu machen, doch wir haben uns geweigert. Wir kannten sein Geheimnis, wussten, was er mit London vorhat. Der Schlüssel drehte sich im Schloss schon vor so langer Zeit, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wann es war. Seither lebe ich in Dunkelheit, lecke das Wasser von den Wänden und ernähre mich von…« Der Mann sah sich in der Zelle um und schob mit dem Fuß einen Berg Knochen beiseite. »Und jetzt schickt man mir einen Engel, der das Licht mit mir teilt.« Plötzlich drehte der Mann sich zu ihr um. Er hatte wieder die Hände über die Augen gelegt. Eine dunkle Macht schien von ihm Besitz ergriffen zu haben. »Du hast kein Recht, das hier hereinzubringen. Ich brauche eine Woche, bis ich wieder sehen kann, wenn es weg ist. An diesem Ort sieht man mit den Fingerspitzen, man lässt seinen Verstand durch die Augen leuchten – damit sie wenigstens zu etwas gut sind. Augen sind wertlos ohne Licht. Sie sind nur ein Ärgernis, verderben den Geist mit Bildern, die man nicht mehr loswird. Sie erinnern mich an das, was ich verloren habe.« Trübsinnig schlurfte er zu seinem Bett aus Lumpen. »Ich habe gute Lust, sie mir aus dem Kopf zu reißen, denn sie haben mich beleidigt. Und dann esse ich sie, damit sie wenigstens meinen Magen füllen, wenn sie schon meiner Seele keine Nahrung mehr geben.« »Du könntest fliehen. Die Kerze gibt uns noch eine Stunde Licht. Ich könnte dich mitnehmen.« »Anfangs haben wir das auch versucht. Damals hatte ich noch einen Freund, einen Kameraden, der die Dunkelheit mit
mir teilte. Stundenlang saßen wir da und sannen nach einem Plan, wie wir aus dieser Hölle entkommen könnten. Es hat Spaß gemacht, Mäuse zu fangen und die Knochen abzunagen. Wir haben immer alles geteilt, was wir fingen.« »Haben sie ihn freigelassen?«, fragte Tara und setzte sich auf die oberste Treppenstufe. Der Mann lachte wieder, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und kaute dann auf den Bartsträhnen herum, die ihn kitzelten. »Er fand seine Freiheit. Salomon hätte ihn nie gehen lassen. Wir wollten uns nicht von ihm umwandeln lassen, wollten seine Forderungen nicht erfüllen und nicht die Farbe Purpur tragen.« »Hat Salomon ihn umgebracht?« Sie hoffte, die Antwort könnte ihr Aufschluss über ihr eigenes Schicksal geben. »Er hatte einen Unfall. Er ist gestürzt, von da, wo du jetzt sitzt. Hat sich das Genick gebrochen und sein Gehirn auf der Treppe verteilt. Alles wegen dem Hunger. Wir aßen die Mäuse, verschlangen die Ratten und rissen sämtlichen Kakerlaken, die über den Boden huschten, die Beine aus. Dann kam es wie ein Geist, dunkel und kalt ist es plötzlich in deinem Bauch und rührt in deinen Eingeweiden. Es fängt in deinem Inneren an zu nagen und…« Der Mann fiel auf die Knie, als wollte er beten. »Du musst das verstehen, bitte… Es begann als Scherz. Ein verwegenes Wort, unbedacht dahergeflüstert.« Er räusperte sich, hustete und zupfte sich den Schleim aus dem Bart. »Alles, was ich wollte, war eine Münze werfen. Ich hatte eine goldene Guinea ins Futter meines Mantels eingenäht, die erste, die ich verdient hatte. Ich holte sie heraus und fragte: Kopf oder Zahl? Er fragte nach dem Einsatz. Mein Leben oder seines, sein Leben oder meines. Es gab nicht genug zu essen für zwei, und die Kälte dringt bis auf die Knochen, und ich brauchte noch einen zweiten Mantel. Wenn er gewonnen hätte, hätte ich dasselbe getan.« »Was hat er getan?«, fragte Tara und rutschte wieder zurück auf den Treppenabsatz. »Lass mich zu Ende erzählen!«, fauchte er. »Weshalb müs-
sen Frauen einen ständig unterbrechen? Sie hören nie zu – tratschen und stricken, zu mehr sind sie nicht zu gebrauchen.« Er sah sich in der Kammer um, als suche er nach den Gedanken, die ihm entfallen waren. »Genau… ich warf die Münze, er rief ›Kopf!‹, sie rollte über den Boden, und wir jagten hinter ihr her. Er fand sie, und gemeinsam strichen wir mit den Fingern über die oben liegende Seite. Es war kein Kopf, sondern eine Zahl. Er hatte verloren. Du musst wissen«, sagte der Mann traurig, »dass er mein bester Freund war… mein allerbester.« »Wo ist er jetzt?«, wollte Tara wissen. »Nichts würde vergeudet werden, das habe ich ihm versprochen. Er stellte sich oben an die Treppe und stürzte hinunter, Kopf voraus. Er platzte auf wie ein Osterei. Ich habe nach Salomon gerufen, damit er ihn wegschafft, aber er hat ihn hier gelassen und mir durch die Ritzen in der Tür zugerufen, ich solle die Schweinerei beseitigen. Hast du einen Namen, Mädchen?« Offenbar wollte der Mann nicht mehr weiter über das Geschehene reden. Tara sah die Kerze an und hoffte wider besseres Wissen, sie möge langsam abbrennen, damit sie länger Licht hatte. Sie hielt die flache Hand vor die Flamme, um sie vor dem kalten Luftzug, der unter der Zellentür hereinwehte, zu schützen. »Was spielt mein Name in einer solchen Situation für eine Rolle? Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war, und mich erwartet eine ungewisse Zukunft.« »In guter Gesellschaft kennt man immer den Namen desjenigen, den man…« Er unterbrach sich und sah in die Flamme. Seine Augen hatten sich inzwischen an das Licht gewöhnt. »Mein Kamerad lebt schon seit vielen Tagen, Wochen, Jahren nicht mehr… Es ist so lange her, dass ich es schon nicht mehr weiß. Ich kann nicht mehr sagen, ob es Tag oder Nacht ist, und höre nur das Flüstern durch die Wände, das mich martert. Ich habe etwas von ihm aufgehoben, damit ich nicht so allein bin. Ich ertappe mich dabei, wie ich mit ihm rede, wenn der Schlaf mich verlässt. Er ist der beste Kamerad, den es gibt.« Der Mann keuchte, als bekomme er keine Luft mehr. »Mein klei-
ner Zwerg«, murmelte er. »Wenn ich nur die Lippen bewegen könnte…« Tara rutschte noch ein Stück zurück. Der Mann war vollkommen verrückt. Sie schaute sich nach einer Waffe um und hoffte, dass sie fliehen konnte, bevor es noch schlimmer mit ihm wurde. Zu ihren Füßen lag ein langer, dicker Knochen, der bis auf die letzte Faser abgenagt worden war. Rasch hob sie ihn auf und versteckte ihn hinter ihrem Rücken, während sie weiter zurückwich. Der Mann wühlte hektisch in seinem Lumpenbett und zog lange, halb verrottete Stofffetzen heraus. »Er muss hier sein, ich habe doch erst vor ein paar Stunden mit ihm gesprochen… er muss, er muss…« Seine Verrücktheit war fast greifbar. Panik erfasste Tara, sie begann zu zittern. Zuerst waren es ihre Füße, die kribbelten, als würden tausend winzige Nadeln hineingestochen. Das taube Gefühl stieg immer höher hinauf, erreichte ihren Magen und drängte sie wegzulaufen. Sie wusste, dass sie jeden Moment mit etwas durch und durch Entsetzlichem rechnen musste. Plötzlich drehte der Mann sich um und hielt ihr wie ein ausgelassenes Kind einen zerborstenen Schädel hin. Seine Hand steckte im Hals. »Das ist er!«, rief er lächelnd und ließ den Schädel wie eine Lumpenpuppe vor Tara hin und her tanzen. »Ob im Tod oder im Leben, mit Mister Moab ist man in guter Gesellschaft!« Tara war inzwischen bis zur Tür zurückgerutscht und umklammerte mit einer Hand fest den Knochen. In der anderen hielt sie die Kerze. Sie starrte in das eine, unversehrte Auge des Schädels, der auf der Hand des Mannes auf und ab hüpfte, und lächelte gezwungen. »Mister Moab freut sich, dich kennenzulernen.« Der Mann blickte seinen Freund liebevoll an. »Sag Guten Morgen zu der Lady, Mister Moab.« Weder Tara noch Moab sagten etwas. Sie starrte den Kopf an, und der Kopf starrte mit dem einen offenen Auge zurück.
Auf den halb verwesten Lippen lag ein feines, bläuliches Lächeln. Kichernd zog der Mann an Moabs Bart und beobachtete, wie der Unterkiefer auf und zu klappte. Mit einer hohen Fistelstimme, welche die Stimme des Toten nachahmen sollte, sagte er: »Guten Morgen, junge Frau, gib Mister Moab ein Küsschen…« »Mister Moab ist wirklich nett«, sagte Tara, »aber ich bin keine, die fremde Männer küsst, nicht einmal einen so hübschen wie Mister Moab.« Ihre Stimme zitterte und verriet die Panik, die sie erfüllte. »Vielleicht später, wenn wir uns besser kennen.« »Die Lady hat Angst, Moab.« Der Mann hielt sich den Kopf vors Gesicht, um ihm beim Sprechen ins Auge sehen zu können. »Ihr gefällt dein Aussehen nicht. Sie hat Angst, dass dein Bart ihre reine, zarte Haut zerkratzt.« Er hob den Kopf in den Lichtschein der Kerze. »Sie versteckt sich hinter dem Licht, fürchtet sich vor der Dunkelheit.« Er senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern. »Warum glauben sie nur immer, das Licht würde sie beschützen, Mister Moab? Salomon schickt sie zu mir, jede hat eine Kerze, und alle sind sie gleich. Stehen da oben, die Kerze in der Hand, mutig wie der Held im Kasperltheater. Und dann ihre Gesichter in den letzten Sekunden, bevor die Kerze verlöscht und die Dunkelheit sie verschlingt…« Der Mann schaute Tara an und sah, dass die Kerze fast heruntergebrannt war. »Es ist nicht mehr viel übrig… Bald kann sich Mister Moab in der Dunkelheit anschleichen und sich den Kuss holen. Was meinst du, wie sie schmeckt, Mister Moab?« Er schüttelte den Kopf. »Die Dünnen schmecken immer salzig – Salzwasser statt Blut, Salzwasser statt Blut…« Der Kerzenstummel in Taras Hand begann zu schmelzen. Sie schaute sich um, versuchte, sich den Grundriss der Zelle einzuprägen, jede Einzelheit. Jeden Augenblick, das wusste sie, würde sie allein mit dem Verrückten und der Dunkelheit zurechtkommen müssen. »Ich kenne jeden Zentimeter dieser Höhle«, sagte der Mann
und ließ Moabs Kopf fallen, als sei er wertloser Plunder. »Meine Augen lieben die Dunkelheit, und wie ein Blinder spüre ich alles, was um mich herum vorgeht. Ich wanke nicht und fürchte nicht, was kommt. Doch wie steht es mit dir? Was fürchtest du von dem, was kommt?« Tara hielt die Kerze so dicht wie möglich vor sich. Sie wollte das Licht in sich aufsaugen, um es für immer in sich zu tragen. »Noch ein paar Minuten, vielleicht auch nur Sekunden. Dann legt sich die Decke über uns, und wir werden eins sein, und der alte Moab wird seinen Kuss bekommen.« »Moab wird noch lange auf seinen Kuss warten müssen und du auch«, rief Tara und schleuderte den Kerzenrest in den Lumpenhaufen, der dem Verrückten als Bett diente. Sie konnte nicht länger warten, bis der Docht verlöschte. Sie musste diesen letzten Akt selbst bestimmen. Sie hatte die Wahl, das war ihre Chance, ihr Schicksal zu wenden. Wenn das Licht schon verlöschen musste, dann wenigstens, wann sie es wollte. Sie würde nicht warten, bis die Zeit es ihr nahm. Einen Augenblick lang herrschte Dunkelheit, erdrückend und vollkommen. Der Mann heulte wie ein Hund bei Vollmond, und seine Stimme hallte von den Wänden. Er ließ sich auf Hände und Knie fallen und lief wie eine Ratte durch die Zelle. »Meine Zeit, meine Zeit«, jammerte er, als er durch das alte Stroh raschelte. Er suchte nach Moab, seine Hände tasteten rechts und links den Boden ab. Tara presste den Rücken an die Tür. Sie hielt den Knochen jetzt mit beiden Händen vor sich, bereit zuzuschlagen, sollte der Mann ihr zu nahe kommen. Die vollkommene Dunkelheit drückte sie nieder wie ein schweres Gewicht. Müdigkeit überfiel sie, und sie schloss die Augen – sie waren ohnehin nutzlos, genau wie er es gesagt hatte. Sie lauschte. Der Verrückte war irgendwo in der Nähe, unter ihr, zur Rechten, rutschte und kratzte durch Stroh und Lumpen. Vor ihrem geistigen Auge stellte Tara sich sein eingefallenes, bärtiges Gesicht vor. Sie lauschte angestrengt, ihre Hände
zitterten, und das taube Gefühl breitete sich weiter aus. Es war, als würde ihr der Brustkorb zusammengeschnürt, immer enger und fester. Da hörte sie seine Fingernägel an den steinernen Treppenstufen kratzen. »Mister Moab holt sich jetzt sein Küsschen…« Der Mann hielt den Schädel vor sich, während er langsam die Treppe hinaufkroch. Tara rührte sich nicht. Sie versuchte, ihre Panik unter Kontrolle zu bekommen, damit er ihren keuchenden Atem nicht hörte. »Nichts zu sagen, ist sehr klug«, flüsterte er und hielt inne, um zu schnuppern. »Aber du kannst nicht weit gegangen sein. Die Angst vor der Dunkelheit ist zu groß. Sie bleiben immer bei der Tür stehen, laufen nicht herum, immer am selben Fleck. Bis zum letzten Atemzug kleben sie an der Tür und hoffen auf Rettung.« Der Verrückte lachte. Er ließ den Kopf an den langen Haaren vor seinem Gesicht hin und her baumeln und strich mit den Fingern der freien Hand darüber, bis er den Mund fand. »Wir warten… Mister Moab mag es nicht, wenn man ihn warten lässt.« Tara kämpfte gegen den Drang wegzulaufen. Ihre Beine kribbelten und zuckten. Sie fuhr mit der Hand über den Knochen und maß noch einmal seine Länge. Sie spürte das dicke Gelenk an einem Ende, packte ihn mit beiden Händen und wartete auf einen Atemzug oder ein Seufzen. Sie wartete eine Ewigkeit, wie ihr schien – doch alles war still, so still, dass die Dunkelheit zischte wie eine alte Schlange, die zu schwach ist, sich zu bewegen, aber immer noch voller Gift und mit tödlichem Biss, eine, die darauf wartet, dass man auf sie tritt, um dann zuzubeißen. »Mädelchen… Mädelchen…«, kam es von ihrer rechten Seite. »Sprich mit Mister Moab… bitte.« Die Stimme war einen knappen Meter entfernt, auf Höhe ihrer Hüfte, und sie kam Schritt für Schritt näher. Tara hielt den Knochen bereit und lauschte, sämtliche Nerven angespannt. Sie hörte die Kette leise über die einzelnen Steinstufen klirren, und der Gestank seiner ungewaschenen Kleider stieg ihr in die Nase. Sein Atem rasselte, wenn er die kalte Luft ein-
zog. Tara öffnete die Augen in der Hoffnung, irgendetwas von dem Mann zu erkennen, schwache Umrisse vielleicht, auf die sie zielen konnte – etwas, das ihr bewies, dass er ganz in der Nähe war. Auf dem Zellenboden flackerte bernsteinfarbenes Licht auf und tanzte wie eine Flussnymphe über den Berg aus Lumpen und Stroh. Einen kurzen Moment lang erhellte es den Raum, dann erlosch es wieder, und es war, als hätte es nie geleuchtet. Sekunden später kam es wieder und wurde immer heller, als die Flamme über Moabs alten Mantel hüpfte. Der Talg war in der Dunkelheit geschmolzen, die winzige Flamme hatte sich unbemerkt von Fäden und Stroh genährt und war wieder zum Leben erwacht. In diesem Augenblick griff der Verrückte an. Er hatte den Schädel an den langen schwarzen Haaren gepackt, holte damit aus und traf Tara mit solcher Wucht in den Magen, dass sie sich krümmte. Die am Boden tanzenden Flammen beleuchteten seine Umrisse, und sie schlug mit dem Knochen zu. Er ließ Moab fallen, der eine Stufe nach der anderen hinunterkullerte und dabei unbeirrt einäugig grinste. Der Verrückte selbst sackte bewusstlos auf der Treppe zusammen und schlug mit dem Gesicht auf einer Stufe auf. Die Zelle war inzwischen hell erleuchtet. Zum ersten Mal sah Tara die blutbesudelten Wände und die vielen Knochen auf dem Boden. Die Höhle schien sich unendlich weit nach hinten zu erstrecken. »FEUER!«, schrie sie und schlug mit dem Knochen gegen die Tür. Die Zelle Rillte sich rasch mit schwarzem Rauch. Sekunden später hörte sie die schweren Schritte des menschlichen Bären den schmalen Gang entlangkommen. Beinwell lief, so schnell seine stämmigen Beine ihn trugen. Er schob den Riegel zurück und stemmte sich gegen die schwere Tür. Schwarzer Rauch quoll ihm entgegen. Tara sah ihre Chance und schlug zu. Beinwell wusste nicht, wie ihm geschah. Als ihr Opfer langsam den Kopf drehte und
Tara ansah, holte sie erneut aus. Dieses Mal traf sie Beinwell an der Stirn. Sie hatte alle Kraft und ihren ganzen Hass in diesen Schlag gelegt, der aus der Tiefe ihrer Seele gekommen war. Der Koloss knickte in den Knien ein und fiel majestätisch, wie ein gefällter Baum nach vorn auf den Verrückten, dessen ausgemergelter Körper sich unter seinem Gewicht der Form der Treppenstufen anpasste. Tara zögerte nicht – sie sprang auf den Fleischberg und drückte ihre Absätze hinein. Dann lief sie, gejagt von dunklen Rauchwolken durch den Gang in Richtung der Treppe.
12. � Ein Nichtsnutz �
Der Schein des Feuers drang unter der Stalltür hindurch bis auf den Hof, wo Jonah bis zu den Knöcheln im Morast stand und durch die schmutzige, gesprungene Scheibe schaute. Der Stall wirkte warm und einladend und weckte in ihm den Wunsch nach einem Zuhause, das er nie gehabt, nach dem er sich aber immer gesehnt hatte. Für ihn hatte der Stall trotz seiner Armseligkeit etwas von einem Palast, und die Futtertröge erschienen ihm wie die königliche Tafel. In der Gasse, in der er nach Malachi gesucht hatte, zeugten viele Spuren im Schmutz von der Tatsache, dass die Salomoniten ihn zusammengeschlagen hatten. Eine einzelne Münze glänzte noch im Dreck. Jonah hob sie auf, wischte sie ab und steckte sie in seine Tasche. Er wollte sie nicht ausgeben, sondern als Erinnerung an das Geschehene aufbewahren. Die Nacht war dunkel und kalt. Vom Fluss heraufzog ein eisiger Nebel, der seine Zehen in den dünnen Stiefeln zu Eisklumpen erstarren ließ. Er lehnte an der Tür, ließ die Goldmünze langsam durch die Finger gleiten und fragte sich, weshalb sie eine solche Macht über ihn hatte. Sie rührte an sein Herz und weckte in ihm das Verlangen nach mehr. Er zog die Hand aus der Tasche und betrachtete die glänzende Münze auf seiner Handfläche. Es gibt nichts Schöneres, nichts Begehrenswerteres, dachte er. Gold ist es wert, dass man dafür stirbt… Schaudernd schob er den unliebsamen Gedanken von sich. Er straffte die Schultern, stellte seinen Kragen auf und presste ein Ohr an die Tür. Seine Hand glitt zu der Klinke, und er drückte sie langsam und vorsichtig herunter. Es klickte und
quietschte, als die Tür einen Spaltweit aufsprang. Er schob seine Hand hinein, und er spürte das Blut bis in die Fingerspitzen pulsieren. Sein Herz raste. Rasch betrat er den Stall, schloss die Tür hinter sich und legte den Riegel vor. Das dumpfe Klacken, als er in die Halterung fiel, war beruhigend. Jonah schaute sich um. War er allein? Nur wenige Meter entfernt bei der Feuerstelle, stand der Wagen mit Tersias’ Käfig obenauf. Er war dicht an die Wand geschoben worden; die Käfigtür stand offen, baumelte an einem zerbrochenen Scharnier. Die Decken des Jungen lagen zerwühlt auf dem Boden. Jonah zögerte. Er rollte die Unterlippe zwischen zwei Fingern und drückte den Fingernagel ins Fleisch, bis es wehtat. Es ist meine Schuld, dachte er, als die Erinnerung an all das, was geschehen war, ihn wieder überfiel. Tara verschwunden… Maggot verletzt… Malachi ermordet… der blinde Tersias entführt… Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf herum, und Mittelpunkt eines jeden war er, Jonah. Er schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Wand. Und da sah er sie. Zwei rote Wolfsaugen, die hinter seinen geschlossenen Lidern blitzten. In seiner Vorstellung tauchte das Gesicht Lykaons auf. Er kniff die Augen fest zu, weil er hoffte, den stechenden Blick so ausschalten zu können. Es gelang nicht. Er öffnete die Augen wieder und schaute sich in panischer Angst im Stall um. Die Wände glühten im Schein des Feuers, verliehen der Armseligkeit einen goldenen Schimmer und verwandelten den Stall in einen in warmes Licht getauchten Saal. Doch selbst in diesem warmen Licht, selbst in dieser geschützten Umgebung sah Jonah das Gesicht der Kreatur vor sich, die halb Mensch und halb Tier war und ihn angrinste. Es schienen Blutsbande zu sein, die sie als Brüder aneinanderfesselten. Sie waren verwandte Seelen, zusammengebunden und mit Gewichten beschwert wie die Beine eines Meuterers, bevor er ins Meer geworfen wird. Jonah schüttelte den Kopf. »Es ist nicht meine Schuld«, flüsterte er. »Solche Dinge passieren, man kann mich nicht dafür verantwortlich machen…«
Dann hörte er Griseldas Stimme in seinem Kopf: »Sei vorsichtig, Jonah, denn du wirst verfolgt. Ein Wolf zieht durch die Stadt, bereit zu töten und zu zerstören. Es braucht mehr als ein Messer, willst du dich vor ihm schützen.« Instinktiv griff Jonah nach der Mastema in der Tasche seines Gehrocks. Er umklammerte den warmen Griff und stieß einen tiefen Seufzer aus. Innerlich war er kalt und leer. Er zog das Messer aus der Tasche, hob es an die Lippen und küsste es. Als er die scharfe Klinge an seiner Haut spürte, schlossen sich seine Augen, als hätte der Leichenwäscher sie zugedrückt, und Jonah fiel in einen tiefen Schlaf. In seinem Kopf erklang das Geräusch von Pferden, die über die feuchte Erde donnern und dabei zusammengebackene Klumpen von Laub und Rinde in alle Richtungen fliegen lassen. Jonah schlug die Augen auf. Mitten in einem großen Wald war er abgeworfen worden. Rechts und links von ihm sprangen andere Reiter von ihren Pferden und umringten ihn. »Es greift den König an!«, rief einer, zog sein Schwert und schlug mit dem Heft auf seinen kleinen Schild. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Die Hand steckte in einem Kettenhandschuh. »Lasst mich mit ihm kämpfen!«, rief ein anderer Mann, der Jonah an der Schulter packte und aus dem Weg zu schieben versuchte. Jonah drehte sich um und schaute in das blutbeschmierte Gesicht des Mannes. »Nein, mein Lord, wir kämpfen für Euch«, sagte Jonah, als wüsste er, wer der Mann war und weshalb er bereit war, sein Leben für ihn aufs Spiel zu setzen. Er senkte den Blick und sah die Mastema in seiner Hand. Nicht weit entfernt, hörte er den Schrei eines Tieres, das durch den Wald lief. Knurrend brach es durch das Unterholz und erschien auf der Lichtung. Nebel wirbelte auf wie der Rauch eines Kartoffelfeuers. Jonah sah auf. Über dem Nebel hingen dicke graue Wolken. Alles schien normal und alltäglich – doch dort drüben bei der umgestürzten Eiche war die Bestie. Sie umkreiste die Krieger und den König, der etwas abseits stand, suchte nach einer Lücke im Verteidigungsring und einer Möglichkeit anzugreifen. Die Jäger waren zu Gejagten geworden, wie kreischende Gänse durch einen Wald aus Ulmen, Eschen und umgestürzten Eiben getrieben, deren Äste ihnen das Gesicht zerkratzten. »Wann wird sie uns angreifen?«, rief ein Mann, der mit dem Rücken zum König stand. »Sie ist nur hinter mir her«, erwiderte der König und versuchte,
den Kreis der Wachen zu durchbrechen und sich der Bestie entgegenzustellen. »Wenn der Peiniger kommt, wollen wir ein Banner aufpflanzen.« »Überlasst sie mir!«, rief Jonah und stürmte mit dem Messer in der Hand auf die Bestie zu. »Im Namen des Königs – du sollst sterben«, schrie er im Laufen. Der große graue Wolf bleckte die blutigen Zähne in Erwartung leichter Beute.
Jonah brachte kein Wort mehr heraus. Bevor er auch nur einmal zustechen konnte, hatte der Wolf sich auf ihn gestürzt und seinen Arm zwischen die Kiefer genommen. Er schüttelte Jonah, bis kein Leben mehr in ihm war, dann ließ er ihn fallen wie ein Stück Fleisch, das nicht schmeckt. Die Bestie wandte sich dem König zu, leckte sich über die blutigen Lefzen und starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. Sie keuchte und stieß den warmen Atem wie Nebelschwaden aus. Die Wache formierte sich zum Schutz des Königs mit gezogenen Schwertern und vorgehaltenen Schilden, doch ohne Brustpanzer oder Helm. Einen halben Tag lang standen die Männer so da, der Bestie zugewandt, und rührten sich nicht. Der Wolf starrte sie aus seinen wilden Augen an und wartete auf den Einbruch der Dunkelheit. Jonah lag reglos in einem Feld voll Brennnesseln. Sein Atem ging flach, ein Arm war von Wolfszähnen zerbissen. Er wandte den Kopf von der Bestie ab. Und da lag, fast direkt neben seiner Hand, das Messer. Es schien ihn anzuflehen, nach ihm zu greifen. Lautlos, Zentimeter um Zentimeter schob er die Hand durch die Nesseln, die auf seiner Haut brannten wie Feuer, bis sich seine Finger um die Waffe schlossen. Im selben Moment sah die Bestie, dass wieder Leben in seinem Körper war und er sich bewegte. Sie stürzte sich auf ihn und schnappte nach seinem Hals. Ohne zu überlegen, stieß Jonah ihr das Messer in die Brust. Blut sickerte durch das dicke Fell. Wieder und wieder stach er zu, immer weiter hinein in das Fleisch, und bei jedem Mal heulte der Wolf auf. Für den letzten tödlichen Stoß nahm Jonah alle Kraft zusammen. Er schaute in Augen, die ihn anflehten aufzuhören. Dann fiel die Bestie auf ihn, weich, warm und feucht. Da lagen sie im nassen Gras, Wange an Wange in sanfter Umarmung. Jonah spürte ihren Herzschlag an seiner Brust. Ja… ja… ja…. seufzte sie, dann sank ihr Kopf zurück, als sie ihren Geist aufgab. »Malpas!«, rief der König.
Jonah öffnete die Augen. Er dachte, er sei tot. Vor ihm
stand ein lächelnder Malachi. »Du Nichtsnutz, du!«, rief Malachi. Er stützte sich auf eine selbst gemachte Krücke und balancierte auf einem Bein. »Du hast mich zu Tode erschreckt! Stehst da wie in Trance und murmelst vor dich hin wie einer aus dem Irrenhaus. Ich habe im Nebenraum geschlafen.« »Ich… ich muss geträumt haben«, stammelte Jonah. »Ihr lebt?« »Ah! Aber als sie mich liegen ließen, dachten sie, ich sei tot. Mich haben sie zusammengeschlagen und den Jungen und das Mädchen haben sie mitgenommen, als sie sich davongemacht haben. Um den alten Magnus um die Ecke zu bringen, braucht es mehr als eine Bande Salomoniten…« Malachi bürstete den Staub von Jonahs Gehrock. Dass er dem Tod nur knapp entronnen war, stand deutlich auf seinem Gesicht geschrieben. »Wenigstens du bist unverletzt. Komm und setz dich ans Feuer. Das war eine lange Nacht. Ich habe alles verloren, und wie es aussieht, geht es dir nicht anders.« In seiner Stimme lag Wärme, als er Jonah mitfühlend seine Hand zu einem Stuhl am Feuer schob. Malachi sah zu, wie der Junge sich setzte und die kalte Nacht von sich abschüttelte. »Wir könnten doch Freunde sein, Kameraden und Ganovenbrüder, oder?« Der Alte wartete nicht auf eine Antwort, sondern redete eifrig weiter. »Wurden wir nicht durch niederträchtige Umstände zusammengeführt? Eine einzelne Weidenrute wird immer brechen, aber zwei zusammen halten stand.« Lächelnd streckte Malachi Jonah die Hand hin. »Auf das, was kommt«, sagte er, doch in seinem Ton lag eine gewisse Unsicherheit, wenn er an die Zukunft dachte. Da standen sie, Magier und Dieb, eine seltsame, unheilige Allianz, die aus der Notwendigkeit heraus entstanden war und nicht im Vertrauen gewachsen. Zum ersten Mal gestand Malachi sich ein, dass er niemanden hatte, dass es keinen einzigen Menschen auf der ganzen weiten Welt gab, den er Freund nennen konnte. Ein Schauer überlief ihn, als ihn die Einsamkeit anflog. Da stehe ich und bettle um Freundschaft, dachte er.
Und wie er den Jungen so anschaute, musste er an den anderen Jungen denken, das blinde Orakel Tersias, mit dem das Schicksal ihn zusammengeführt hatte und den er so herzlos behandelt hatte. Vielleicht war dieser Junge, Jonah, jetzt in seinen Stall gekommen, um ihm noch einmal eine Chance zu geben, die Chance, etwas gutzumachen. Jonah schlug in die dargebotene Hand ein. Von seinem Handgelenk tropfte Blut. Als er auf die blutgetränkte Manschette seines Hemdes schaute, musste er an das Traumgeschehen denken. Aber damit konnte es doch nichts zu tun haben! Malachi sah die Verwirrung auf seinem Gesicht und schob Jonahs Rockärmel zurück. Die Bisswunde war deutlich zu sehen. »Du bist gebissen worden. Von einem Hund, würde ich sagen… Wann ist das passiert?« Der Magier griff nach der Tasche mit seinen Zauberutensilien, die er über der Schulter hängen hatte. »Gar nicht… es war nur ein Traum.« Jonah strich sich das Haar aus dem Gesicht und starrte auf sein zerbissenes Handgelenk. »Ein Traum mit Reißzähnen… das ist ein ziemlich tiefer Biss. Nach einem Traum sieht das für mich nicht aus«, meinte Malachi. Er holte ein langes Stück roten Stoff aus der Tasche und wickelte es um Jonahs Handgelenk. Es roch nach Schokolade und Weißdornbeeren, vermischt mit dem durchdringenden Geruch alter Frauen, die verräterisch feuchte Flecken auf Kaffeehausbänken hinterlassen wie Schnecken ihre Schleimspur. »Bei dem Traum, den du gehabt hast – hattest du da das Gefühl, es sei alles echt?« Jonah schaute ins Feuer und wünschte sich, die Flammen könnten sein eisiges Herz erwärmen. »Ich konnte alles sehen. Ich spürte den Wind auf meinem Gesicht und wie mir der Schweiß über den Rücken lief. Es war, als ob…« »Als ob du mittendrin gewesen wärst?« »Ihr kennt solche Träume?« Jonah stöhnte, als der Schmerz wie eine Brandfackel durch ihn hindurchfuhr. »Da war ein
Wolf. Ich gehörte zum Gefolge des Königs und musste ihn vor der Bestie beschützen. Sie hatte uns meilenweit verfolgt.« »Und dich drängte es, dich zwischen die beiden zu stellen?« »Ich habe den Wolf mit dem Messer getötet, das ich Malpas abgenommen habe. Es ist die Mastema.« Jonah schaute Malachi an, der endlich fertig war mit dem Verband und das klebrige Tuch mit einem Stück Schnur festband. »Das ist ein Name, der Wunder wirkt… Mastema. Ich habe schon davon gehört, wusste jedoch nicht, dass Malpas sie hat. Wer hat dir den Namen genannt?« »Eine Frau namens Griselda. Ich habe sie heute Abend kennengelernt. Sie sagte mir, ich soll…«Jonah schwieg und senkte den Blick. »Ich habe von dieser Griselda gehört. Sie wohnt auf Gut Strumbelo, das liegt bei Chelsea an der Themse.« Malachi lachte in sich hinein. »Es geht das Gerücht, sie sei eine Hexe. Unter ihrem Dach ereignen sich zu viele merkwürdige Dinge. Sie ist keine, der man trauen kann… oder der solche wie du zuhören sollten. Was du jetzt brauchst, ist Magnus Malachi.« »Dann sollte ich dir das besser zurückgeben«, sagte Jonah, griff in seine Tasche und zog den silbernen Wolfslöffel heraus, den er Tersias abgenommen hatte. »Ich wollte ihn verkaufen und Euch noch mehr auslachen, aber nach heute Nacht…« Unsicher hielt Jonah inne. Er wusste nicht, wie er weitermachen sollte. »Etwas… etwas in mir drin hat gesagt, ich soll ihn Euch zurückgeben.« »Dann habe ich wenigstens etwas von Malpas als Ausgleich für den Verlust von Tersias… Der Junge hätte mein Glück gemacht. Er war ein echtes Orakel, wie man es in dieser Stadt noch nie gesehen hat. Ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen, aber er hat mir Angst gemacht. Wenn er einen mit diesen kalten, leblosen Augen angeschaut hat, konnte er bis in die Seele sehen. Dem Jungen bleibt kein Geheimnis verborgen, und alle Welt wird wissen, was Salomon im Schilde führt, wenn er mir Tersias nicht zurückgibt.«
»Und wie wollt Ihr ihn zurückholen?«, erkundigte sich Jonah. Er zog den Stuhl näher ans Feuer, damit die Glut seine kalten Knochen wärmen konnte. »Frag mich nicht, wie, das kommt später. Ich weiß nur, dass ich den Jungen zurückhaben will und dass ich ihn auch bekommen werde.« Malachi ging auf und ab. Dabei spielte er nervös mit dem Löffel und strich mit den Fingern über den Wolfskopf. »Mein Leben war von Anfang an eine einzige Tragödie«, sagte er und steckte den Löffelstiel in seinen Bart. »Als ich Tersias fand, wusste ich, dass ich meine Zukunft und mein Glück gefunden hatte. Wenn ich daran denke, dass ein Verrückter im purpurfarbenen Mantel ihn mir gestohlen hat, könnte ich rasend werden!« Malachi nahm den Feuerhaken und stocherte heftig in der Asche herum. »Was will der Prophet von ihm?«, fragte Jonah. Er zog die engen Stiefel aus, rieb sich die Füße und klaubte die toten Läuse zwischen den Zehen heraus. »Seit zwei Jahren schon treibt Salomon sein Unwesen in der Stadt. Zuerst hat er die Straßen von Vagabunden und Halunken gesäubert. Er predigte von Verwandlung, davon, wie er aus einem gebrochenen Mann einen Gentleman machen könne. Der Dummkopf in Purpur glaubt, dass wir nicht dafür gemacht sind, in Armut zu leben, und dass nur er uns retten kann. Mit der Zeit war es dann so, dass alle, die etwas gegen ihn sagten, einfach verschwanden. Es ging das Gerücht« – Malachi senkte die Stimme und schaute sich im Stall um, als könnte ihn jemand hören – »er hätte die Gewalt über Wesen, die aus dem Boden steigen und die Lästerer in die Hölle hinabziehen könnten.« Malachi trat ans Feuer und starrte wie Jonah in die tanzenden Flammen. »Bald traute sich keiner mehr, etwas gegen ihn zu sagen. Salomon und Beinwell gingen von einem Geschäft zum nächsten und baten um Almosen. Es war nicht gut, wenn man Nein sagte. Die es taten, bereuten es bald. Es gab Unfälle, und immer war Salomon nicht weit und predigte von den Torheiten der Menschen. Er braucht Tersias, weil er wissen will,
wo sein zukünftiger Platz ist in dieser Stadt. Salomon will einen größeren Tempel bauen, und ihn wird man dort anbeten.« Jonah zuckte mit den Schultern; was Salomon tat, interessierte ihn nicht. Das Leben musste gelebt werden. Es war schwer genug, das, was man brauchte, zusammenzustehlen und aufzupassen, dass man um das Newgate-Gefängnis und den Henker herumkam. Er wollte seinen Kopf freihalten von den verdrehten Gedanken und Philosophien von in Purpur gekleideten Fanatikern, die nicht mehr ganz bei Verstand waren und sich in irgendwelche Fantasien verstiegen hatten. Jonah hielt die Hände übers Feuer. Als er aufschaute, sah er überrascht, dass Malachi eine Träne über die schmutzige Wange rollte. Der alte Mann fummelte umständlich in seiner Tasche herum. Er suchte nach dem schmutzigen, verschleimten Tuch, das er in den letzten zwölf Monaten als Taschentuch benutzt hatte. Langsam zog er es heraus und untersuchte den Inhalt, bevor er sich damit das Gesicht abwischte. Rasch griff auch Jonah in seinen Gehrock und zog das feine blaue Seidentuch heraus, das er am Tag, als der Himmel aufgebrochen war, einem Dandy in Piccadilly gestohlen hatte. Er fragte sich, weshalb der Magier weinte. Etwas an seinem Schmerz berührte Jonah, er stand auf und wischte vorsichtig ein paar Tränen von Malachis Wangen. »Das für einen alten Mann zu tun, ist sehr freundlich«, sagte Malachi, als er sich umdrehte und wieder ins Feuer starrte. »Ich weiß nicht, welche Streiche mir mein Kopf spielt und weshalb mir das Herz aus der Brust springen will. Die Sache ist die, Jonah…« Malachi unterbrach sich, schaute sich um, biss sich auf die Lippe und zupfte an seinem Bart. »Die Sache ist die: Ich muss immerzu an den Jungen denken. Als ich Tersias kaufte, war er ein Stück Eigentum für mich, etwas, das ich für etwas Besseres eintauschen konnte. Doch je länger ich mit ihm zusammen war, desto klarer wurde mir, dass er anders ist. Ich bin keiner, der viel Mitgefühl hat, aber selbst ich habe
mich manchmal dabei ertappt, wie ich mich gefragt habe, was dieser Junge alles durchgemacht hat und weshalb jemand in diesem Alter so viel Elend erdulden muss. Welcher Gott lässt es zu, dass ein Unschuldiger so leidet?« Malachi streckte Jonah die schmutzigen Hände hin. »Siehst du die?«, fragte er, und seine Stimme zitterte. »Mit diesen Händen habe ich den Jungen viele Male geschlagen, und er hat nie gejammert. Einmal hielt ich einen glühenden Feuerhaken an sein Gesicht, um ihn zu foltern, und er sah mich nur mit diesen blinden Augen an, die kein Gefühl zeigen. Das ist meine Klage, meine Schuld… und der Grund für meine Tränen. Heute wurde ich zusammengeschlagen und habe viel daraus gelernt. Bei jedem Schlag dachte ich an das, was ich dem Jungen angetan hatte, jeder blaue Fleck spricht von meinem Zorn. Ich ließ mich in meiner Wut so schnell zu etwas hinreißen, meine Zunge war wie eine scharfe Klinge, doch als sie mich im Dreck liegen ließen, weil sie glaubten, ich sei tot, waren es seine blinden Augen, die ich vor mir sah.« Malachi warf einen Prügel Holz in die Glut, dann schaute er Jonah an und suchte in seinem Gesicht nach einer Spur von Mitgefühl. »Ich kenne viele Männer wie mich, Rohlinge, die nur an sich denken. Was ich jetzt noch erwarte, ist keine bessere Stellung im Leben. Mein ganzes Unglück besteht darin, dass ich das verloren habe, was ich wirklich wollte – die Gesellschaft dieses kleinen, hilflosen Jungen. Mein Leben war wie ein langer Winter ohne die Freude der Weihnacht, um mich in den dunklen Zeiten zu trösten.« Malachi hauchte auf das Wappen mit dem Wolfskopf am Löffelstiel, putzte ihn am Revers seines Gehrockes blank und steckte ihn in seine Tasche. Dann humpelte er zu dem behelfsmäßigen Altar, der an der gegenüberliegenden Wand des Stalles stand. Darauf lagen seine Zauberutensilien: getrocknete Frösche, eine lebendige Kröte in einem hohen Glaskrug, der getrocknete Ringelschwanz eines Schweins, mehrere Tassen vor sich hin gärender Arznei gegen Magenbeschwerden und ein großer Mehlsack voller Salpeter.
»Hier muss noch irgendwo ein Rest meines letzten Versuches sein«, sagte er, während er in dem Durcheinander stöberte und eine dünne Bleiplatte zur Seite räumte, die er einmal in Gold hatte verwandeln wollen. »Ich weiß, dass es hier irgendwo ist, und ich möchte, dass du es siehst. Vielleicht verstehst du dann, weshalb…« Plötzlich wurde heftig an die Tür gehämmert. Bei jedem Schlag wölbte sich das Holz nach innen. Ulmensplitter flogen durch den Stall, und Sekunden später gaben die Bretter nach. Mehrere rot gekleidete Milizionäre stürmten durch die eingetretene Tür. Mit wenigen Sätzen war Jonah bei Malachi und drückte ihn auf den Boden. Mit flinken Fingern leerte er ihm die Taschen seines Gehrocks. Malachi suchte Zuflucht unter dem Altar und presste sich wie eine in die Enge getriebene Ratte gegen die Wand. »MALACHI!«, brüllte Skullet, schob die Milizionäre beiseite und kam mit seinem Gehstock in der Hand in den Stall. »Du bist ein Dieb, ein Schurke und Lügner. Ich habe dich gewarnt, dir gesagt, was deine Betrügereien dir einbringen, und jetzt bin ich gekommen als dein Richter und Henker… Durchsucht ihn!«, befahl er den Männern. Malachi wurde an seinem Bart unter dem Altar hervorgezerrt und musste sich mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf den kalten Boden legen. »Was haben wir denn hier?«, fragte Skullet misstrauisch, als er Jonah unter dem Tisch entdeckte. »Eine Ratte? Einen Straßenjungen? Einen Verschwörer? Komm raus junge, oder meine Leute reißen dir die Ohren ab, wenn sie dich aus deinem Loch holen müssen.« In seinem dunklen Versteck zog Jonah die Mastema aus dem Gürtel und steckte die blinkende Klinge bis zum Schaft in den mit Rosshaar vermischten Verputz der Wand. Dann kroch er unter dem Tisch vor und stellte sich vor Skullet und die Milizionäre hin. Skullet hob seinen Stock und drückte ihm die Spitze in die Wange. »Ein Junge, ein hübscher Junge und gänzlich unver-
sehrt… wenn auch ein wenig schmutzig. Er brauchte dringend sein jährliches Bad, doch ansonsten ist er ganz nett.« Skullet bellte dem Mann, der Malachi auf den Boden drückte, einen Befehl zu. »Durchsucht ihn! Er hat Lord Malpas bestohlen, und dafür wird er hängen und einen ganzen Tag lang am Galgen baumeln.« »Er hat nichts bei sich«, fauchte Jonah, als eine Wache ihn am Kragen packte und zur Tür zerrte. »Ihr sucht nach mir. Ich habe den Löffel mit dem Wolfswappen gestohlen, nicht Malachi.« Skullet wandte sich ihm zu. Sein Gesicht wurde rot vor Wut. »Dann haben wir hier zwei Diebe, überfuhrt in Gegenwart der ganzen anwesenden Zeugen. Ihr werdet beide hängen!« Skullet lachte, als er der Miliz ein Zeichen gab, den Jungen abzuführen. »Mich macht niemand zum Narren, Junge. Ich weiß, dass Malachi den Löffel gestohlen hat, als er gestern Abend kam. Du warst nie auch nur in der Nähe des Hauses.« »Malachi ist kein Dieb. Ihr habt den Löffel in seine Tasche gesteckt, und kein Gericht der Welt wird Euch glauben. Hinter Eurer Anklage steckt mehr als ein silberner Löffel, der Malpas geklaut wurde«, höhnte Jonah, als man ihn abführte. »Newgate wird mich nicht halten können. Eure Ketten werden an meinen Handgelenken schmelzen, und es wird mir eine große Freude sein, Euch ein Messer ins Herz zu stoßen.« Seine Stimme war kaum noch zu hören, da man ihn auf die Gasse geschleift und auf einen Wagen gebunden hatte, vor den ein kleines, fettes Pony gespannt war. »Magnus Malachi, Magier und magus extraordinaire… was sollen wir nur mit Euch machen?«, fragte Skullet und drückte ihm den Stock in die Wange. »Ihr habt das Beweisstück dem Jungen gegeben, wie? Aber das rettet Euch nicht vor dem Galgen.« Skullet schaute sich im Stall um und sah den leeren Käfig. »Wo versteckt Ihr das Orakel? Vielleicht in einem Keller?« »Ihr kommt zu spät. Der Junge ist weg. Vor drei Stunden wurde er mir von den Salomoniten gestohlen. Euer Verlust ist
ihr Gewinn, und von ihnen bekommt nicht einmal Lord Malpas etwas zurück.« »Eine zu Herzen gehende Geschichte, um mich von der Wahrheit abzulenken?«, fragte Skullet, während er den schwarzen Griff des Wolfstocks aufdrehte und eine silberne Klinge zum Vorschein brachte. »Vielleicht wird Euch das die Zunge lockern… oder abschneiden.«
13. Der Ungläubige Tief unten in der Zitadelle stolperte Tara den rauchgefüllten Gang entlang und suchte nach einer Möglichkeit zu fliehen. Irgendwo vor sich sah sie den schwachen Glanz einer Herzlampe an einer Zellentür. Schwerfällig lief sie weiter. Ihr Herz hämmerte, als sie hinter sich Beinwell schreien und Feueralarm geben hörte. Der Rauch zog in dicken Schwaden um ihren Kopf, und sie bekam kaum noch Luft. Ein eisiger Luftzug zog den Rauch nach oben und nahm den Gestank aus den Zellen mit. Auf Händen und Knien kroch sie weiter. Die gesamte Zitadelle war inzwischen auf den Beinen. Glocken läuteten, laute Stimmen und Schritte näherten sich. Sie presste sich an die Wand, als ein Trupp Getreuer an ihr vorbeihastete. Beinwell brüllte immer lauter nach Wasser, um die Flammen zu löschen. Überrascht stellte sie fest, dass kein einziger der Salomoniten sie sah, als sie da im dichten Qualm an der Wand kauerte wie ein erschrockener Igel, der vor den Flammen flüchtet. Sie kroch weiter und drückte sich erneut an die Wand, als etliche hustende Salomoniten mit Eimern an ihr vorbeirannten und die Hälfte des Wassers im Laufen verschütteten. Und da, schon halb blind und kurz vor dem Ersticken, kam Tara zu einer Tür, tastete nach der Klinke und merkte, dass ein großer Eisenschlüssel im Schloss steckte. Er war wohl vergessen worden, als der Wärter in Panik geflohen war. Rasch drehte sie den Schlüssel um und drückte die Klinke herunter. Nachdem sie die Tür mit dem Fuß aufgestoßen hatte, schaute sie in die hell erleuchtete Zelle. Und da saß Tersias, an einen Eichenstuhl mit hoher Lehne gebunden, umgeben von mehreren Kerzenleuchtern, in denen
lange weiße Kerzen brannten. Er trug purpurfarbene Kleider, und auf seinem Kopf saß ein goldener Helm, der alt und oft getragen aussah. Er bedeckte seine Augen und drückte in seine Wangen. Mit grünen Edelsteinen besetzt, die im Kerzenlicht leuchteten, sah er aus wie eine Krone, wie der Kopfschmuck eines Prinzen. Um Tersias herum war auf silbernen Tellern das erlesenste Essen angerichtet. Die Teller standen auf kleinen Holztischchen, die aussahen, als seien sie wie Pilze aus dem mit Rosenblättern ausgestreuten Boden gewachsen. Tara richtete sich auf, zog den Schlüssel aus dem Schloss und schlug die Tür hinter sich zu. Dann zog sie ein Tuch von Tersias’ Thron und verstopfte damit den Spalt unter der Tür, damit der Qualm von draußen nicht hereindrang. Schließlich schloss sie die Tür von innen ab. Tersias hatte sich nicht gerührt. Eine andere Welt hatte ihn fest im Griff. Er schlief. »Tersias…«, flüsterte Tara, als sie die Lederriemen löste und ihn schüttelte, damit er aufwachte. Der Junge rührte sich noch immer nicht. Mit beiden Händen umklammerte er die Armlehnen des Stuhls, auf dem er saß. »Tersias!«, rief sie dicht vor seinem Gesicht. »Wach auf! Wir müssen fliehen!« Der Junge begann sich zu regen. Seine Lippen bewegten sich, als er die Hände hob und an seinen Helm legte. Auch Tara umfasste den Helm. Sie wollte ihn abziehen, doch Tersias schrie auf wie unter großen Schmerzen und drückte dagegen. »NEIN!«, rief er und versuchte sie wegzustoßen. »Lass ihn. Er gehört jetzt zu mir und darf nie mehr abgenommen werden!« »Tersias, ich bin’s, Tara – ich bin gekommen, um dich zu holen. Wir können fliehen«, sagte sie und versuchte noch einmal, dem protestierenden Jungen den goldenen Helm abzuziehen – bis sie das Blut in seinem Haar sah. Sie fuhr mit dem kleinen Finger am unteren Helmrand entlang und stellte entsetzt fest, dass der Helm mit vier goldenen Dornen an Stirn und Schläfen des Jungen festgemacht war. Auf den Dornen saßen große grüne Edelsteine. »Das tut jetzt weh, Tersias«, sagte
sie, als sie den ersten Dorn herauszog, »aber es ist für deine Freiheit.« Der Junge stöhnte vor Schmerz, als sie die Dornen nacheinander entfernte und auf den Boden warf. »Das kann nur ein Verrückter gewesen sein, der dir das angetan hat«, sagte sie und betrachtete den letzten Dorn auf ihrer Handfläche. An jeder Seite standen scharfe Spitzen ab und bei genauerem Betrachten fand Tara, sie sähen aus wie winzige Sterne am Rand einer entfernten Galaxie. Tersias’ Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Er zerrte sich den goldenen Helm vom Kopf und warf ihn auf den Boden. »Warum willst du mich holen?«, fragte er und stand auf. Er hielt sich an der Stuhllehne fest, da er nicht wusste, wo er war. »Wir müssen hier raus. Sie kommen wieder und bringen uns um.« Als Tara das sagte, wurde ihr erst richtig bewusst, wie ernst ihre Lage war. Bis zu diesem Augenblick hatte sie die Angst vor der Zukunft verdrängt und wider alle Vernunft gehofft, Jonah würde sie retten. »Tersias, sag mir, was auf uns zukommt«, bat Tara. Sie nahm ihn bei der Hand und wollte ihn zur Tür fuhren. Sie hoffte, er würde ihr ein gutes und langes Leben prophezeien. »Ich weiß nichts«, erwiderte er. »Als sie mich hierher gebracht haben, konnten die Stimmen nicht mitkommen. Das Wesen, das zu mir spricht, die Teufelsbrut, kann mich hier nicht finden. In dem Augenblick, als sie mir die Krone auf den Kopf setzten, war mir jeder Blick in die Zukunft genommen, und ich war doppelt blind. Salomon hat gesungen und Zauberformeln gesprochen. Ich habe gehört, wie er Kerzen angezündet hat. Sie ließen mich aus einem Kelch trinken, Wein, der auf der Zunge gebrannt hat und mich in eine andere Welt versetzte, indem er mir Schlaf und Träume schickte. Salomon sagte mir, dass die Stimmen sich fernhalten würden, solange ich in seinem Lichtkreis sei. Dann band er mich auf dem Thron fest und ließ mich allein.« »Wir können hier nicht bleiben«, protestierte Tara, als Tersias sich auf den Boden setzte und den Fuß des großen Ker-
zenhalters Zentimeter für Zentimeter abtastete. »Hör mit deinen Spielchen auf, Tersias, und komm mit. Ich habe meine Zelle in Brand gesteckt und Beinwell einen Knochen über den Schädel gehauen, damit ich fliehen konnte. Es wird sie nicht lang aufhalten, und dann kommen sie und holen uns beide.« Sie versuchte, seine Hände von dem Kerzenhalter zu lösen und ihn auf die Füße zu ziehen. »Es muss hier sein!« Tersias zerrte an dem dicken goldenen Fuß des Leuchters, der in den Boden eingelassen zu sein schien. »Ich habe ihn gehört. Ich habe die Schritte gezählt und hier blieb er stehen. Es klickte laut, wie der Hahn einer Pistole, wenn er gespannt wird, und ein kalter Windhauch strich über meinen Nacken. Salomon verließ die Kammer, und ich hörte den Stein zurückgleiten. Es gibt neben der Tür, durch die du gekommen bist, noch einen anderen Weg hier hinaus. Ich muss nur den Schlüssel finden, dann können wir fliehen.« Er tastete weiter, seine Finger glitten in jede Rille und über jede Erhöhung. »Mach deine Augen auf, Tara. Was siehst du? Ich bin derjenige, der blind ist.« »Wenn ich wüsste, wonach ich suchen soll, könnte ich dir ja helfen, aber im Augenblick bin ich so blind wie du«, fauchte sie zurück. »Eine Feder, ein Schloss, etwas, das anders ist. Es muss hier sein, hierher ist er gegangen. Ich habe es gehört, und in solchen Sachen habe ich mich noch nie getäuscht.« Tersias wurde wütend. Der Wunsch zu fliehen wurde immer mächtiger in ihm, je weiter er sich aus der Trance löste, in die der Helm ihn versetzt hatte. »Haben deine Stimmen es dir gesagt oder deine Einbildung?«, erwiderte sie ärgerlich, da sie immer noch nicht wusste, wo und wonach sie suchen sollte. »Wenn du auch nur einen Tag so leben müsstest wie ich, würdest du so etwas nicht sagen. Wenn du mein Leben nur eine Stunde leben müsstest, hättest du Mitleid mit mir. Früher einmal konnte ich sehen, doch die Gier meiner Mutter hat mir mein Augenlicht genommen. Sie hat mich geblendet und zum
Betteln geschickt, das weiß ich jetzt. Dann hat sie mich für einen Krug Gin verkauft, und bis zum Abend hatte sie mich vergessen. Als man mir hier die Krone auf den Kopf gesetzt hat und die Arznei durch meinen Körper floss, sah ich, was sie getan hat.« Tersias hob den Kopf, und für einen kurzen Augenblick schauten sie sich in die Augen. Es war, als könnte er ihr Gesicht sehen, als könnten die leeren weißen Augäpfel für diesen einen Moment sehen und ihre Gedanken lesen. »Ich war zu lang ein Rohr im Wind. Die Hände der Menschen haben mich so geformt, wie sie mich haben wollten. Damit ihre Wünsche erfüllt wurden, musste ich leiden. Sie haben mir meine Kindheit gestohlen. Selbst die Stimmen haben mich nur benutzt ohne Rücksicht auf meine Wünsche. Ich war ein leerer Kessel, den jeder füllen konnte, dem gerade danach war. Das Schoßhündchen einer Lady war ich.« Tersias erhob sich, stolperte durch den Raum und ließ sich auf den Thron sinken. Er zog die Knie bis unters Kinn und machte sich so klein als möglich, um sich vor der Dunkelheit zu schützen. »Als ich schlief, habe ich alles gesehen. Mein Leben tanzte vor meinen Augen. Ich hörte jedes Wort und spürte noch einmal jeden Schlag. In diesen Stunden lebte ich mein kurzes Leben noch einmal.« Er hielt inne, hob den Kopf und drehte ihn von rechts nach links. »Jetzt ist mir alles klar, und deshalb danke ich Salomon für diesen Schlaf. Doch mehr bekommt er nicht. Lieber würde ich sterben, als seine Marionette zu sein.« Tara wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie schaute Tersias an, einen Jungen mit der Weisheit eines Erwachsenen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich um seinen Zustand kaum Gedanken gemacht. Er war ein Brandeisen, das man aus dem Feuer holte, persönliche Habe, mit der man Jonah beeindrucken konnte, ein Verrückter, der die Zukunft weissagte. Als er so auf seinem Thron saß, in einem purpurfarbenen Gehrock und Kniehosen ausstaffiert wie ein Anhänger Salomons, wurde Tara bewusst, dass sie einen Jungen vor sich hatte. Er war aus Fleisch und Blut, kein Zirkustrick und keine Missgeburt
vom Jahrmarkt, sondern ein Kind, genau wie sie. »Du kannst zu uns kommen, einer von uns werden, ein Freund für Maggot. Wir könnten deine Familie sein«, sagte sie, hob die Krone auf und hielt sie ihm vors Gesicht. »Die nehmen wir mit, sie wird die Stimmen fernhalten. Wir könnten nach einem Priester suchen, der dich für immer davon befreit. Du könntest wieder du selber sein.« Sie sprach schnell, ihre Gedanken überschlugen sich. »Ich habe einmal von einem Mann gehört, einem Lehrer, der Taube hörend und Blinde sehend machen konnte. Man hat mir gesagt, es sei sein Wunsch, dass es uns allen gut geht. Wir könnten ihn suchen und ihn, wenn wir ihn gefunden haben, bitten, das für dich zu tun.« »Und was könnten wir einem solchen Mann geben? Wenn es stimmt, was du sagst, könnte er im Tausch gegen mein Augenlicht die halbe Welt verlangen«, erwiderte Tersias leise. Seine Stimme wurde gedämpft vom Ärmel seines Gehrocks, in dessen dicken Stoff er sein Gesicht drückte, bis seine Wangen ganz rot wurden. »Sie sagten, er wollte nichts dafür haben, aber ich würde ihm alles geben, was ich besitze.« Während Tara das sagte, überlegte sie fieberhaft, was sie, arm wie sie war, tatsächlich dafür geben könnte. »Alles von nichts ist nichts«, erwiderte Tersias. »Keiner von uns besitzt Reichtümer. Du bist das Liebchen eines Diebs und ich die Marionette eines Magiers und jetzt der Gefangene eines Verrückten.« Der Junge seufzte tief. »Ich vermisse den alten Malachi. Er war gemein und grob, aber dennoch war er der freundlichste von allen meinen Herren. Er hat stundenlang mit mir geredet und mir alles erzählt, was er tat. Einmal hat er mich sogar Sohn genannt. Und jetzt werde ich den alten Dummkopf nie mehr Wiedersehen.« »Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir auch den nächsten Tag nicht mehr sehen«, rief Tara. Draußen stapften Schritte vorbei, und das Glockengeläut verebbte. »Sie haben das Feuer gelöscht. Jetzt sind wir dran.« Lautes Klopfen an der Tür ließ die ganze Wand vibrieren
und den Staub von der Decke fallen wie frischer Schnee. »Hast du den Schlüssel, Junge?«, rief Beinwell und hämmerte weiter gegen die Tür. »Hast du dich eingeschlossen? Du brauchst keine Angst mehr zu haben, das Feuer ist gelöscht. Bald kommt Salomon zurück, und er wird sich nicht freuen, wenn er hört, dass der Schlüssel weg ist.« Ein langes Schweigen, dann: »Zwing mich nicht, die Tür einzuschlagen. Ich sehe, dass der Schlüssel im Schloss steckt… Komm, mach auf, damit wir uns wieder um dich kümmern können.« »Er glaubt, du bist allein«, flüsterte Tara. »Halt ihn uns vom Leib. Ich suche nach der Luke – falls es eine gibt…« »Mir geht es gut«, sagte Tersias, als Beinwell im Schloss herumzustochern begann. »Ich warte, bis der Meister wiederkommt. Wenn Salomon hier ist, komme ich heraus.« »Er ist in der Stadt, wichtige Geschäfte erledigen. Warum warten, bis er zurückkommt? Komm zur Tür, dreh den Schlüssel um, und LASS MICH REIN!« Beinwells Stimme ließ die Tür in den Angeln zittern. »Ich bin blind und weiß nicht, wie ich zur Tür kommen soll. Wie kann ich dann den Schlüssel umdrehen? Wenn ich ihn wirklich finden würde, wäre das ein Wunder!«, spottete Tersias. »Mach es so wie… so wie…« Beinwell kam ins Stottern. Ihm fiel ein, dass er dem Jungen die goldene Krone auf den Kopf gesetzt und ihn am Thron festgebunden hatte, bevor er weggegangen war, und er begriff, dass außer Tersias noch jemand in dem Raum sein musste. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag auf den Kopf. »Keiner von euch kommt hier raus«, tobte er. Wütend pulte er im Schloss herum. »Ich kriege euch beide, und was das Mädchen mir angetan hat, bekommt sie fünffach zurück…« Er trat mit dem Fuß gegen die Tür. »Ich bin allein, was redest du da?«, erwiderte Tersias. »Das Mädchen ist längst weg. Ich habe ihre Schreie gehört, als sie vor dem Feuer geflohen ist.« »Du lügst, und dafür werde ich dich bestrafen«, rief Bein-
well, wobei er mit den Fäusten an die Tür trommelte und mit dem Fuß dagegenkickte. Er wusste nicht, was er tun sollte. »Mach die Tür auf, Mädchen, sonst lass ich dich blenden wie deinen Freund, und du wirst mein hübsches Gesicht nie mehr sehen.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die rußgeschwärzte Stirn. »Was ich heute gesehen habe, wirst du in alle Ewigkeit sehen… Mach die Tür auf, damit wir es hinter uns bringen!« »Was tat Salomon, als er zu dem Kerzenständer trat? Was hast du gehört?«, fragte Tara drängend. Sie hatte nichts gefunden, das ihnen den Weg in die Freiheit öffnen könnte. »Ich habe seine Absätze auf dem Steinboden klicken hören, dann war es eine Sekunde lang still, dann wieder ein Klicken, und danach habe ich den Windhauch im Nacken gespürt. Die Tür ist in der Wand hinter mir, dort habe ich gehört, wie der Stein geknirscht hat und zurückgeglitten ist, als er die Kammer verließ«, erwiderte Tersias leise, damit der Rohling vor der Tür ihn nicht hörte. »Dann muss er irgendetwas damit gemacht haben«, meinte Tara und trat gegen den Kerzenhalter. Der wackelte, und zischendes Wachs spritzte auf den Boden. Es gab ein kurzes, lautes Klicken, und der ganze Raum bebte, als ein Teil der Rückwand zur Seite glitt und Stein auf Stein rieb. Ein Schwall feuchter Luft wurde in die Kammer getrieben. Die Kerzen flackerten und warfen zittrige Schatten an die Decke. Sie sahen aus wie Hände, die nach etwas greifen. »Wir haben einen Zauber entdeckt, der uns von diesem Ort verschwinden lassen wird, Beinwell!«, rief Tara, zog Tersias vom Thron und zu der offenen Wand. »Du wirst uns nie finden, und ich bezweifle, dass du stark genug bist, um die Tür einzutreten, alter Fettwanst!« Ihr Spott versetzte die Bestie in Rage. Beinwell richtete sich auf, straffte die Schultern, holte tief Luft und ballte die Faust. Er reckte sie hoch in die Luft, bereit zuzuschlagen. »Niemand entkommt Beinwell!«, brüllte er und holte aus. Immer wieder drosch er auf die Tür ein. Das Holz bog sich nach
innen, und der Schlüssel fiel aus dem Schloss. Er hob beide Fäuste zu einem letzten Schlag hoch über den Kopf. Mit lautem Gebrüll ließ der Riese die Fäuste in die Tür krachen. Dann trat er zurück und beäugte sie. Sie hing nur noch locker in den Angeln. Er machte einen schnellen Schritt nach vorn, senkte den Kopf und rammte ihn in die Tür. Die Bretter gaben nach, Holz splitterte und regnete in die hell erleuchtete Zelle. »Beinwell kommt euch holen!«, brüllte er mit einem selbstzufriedenen Grinsen auf dem Gesicht. Er ließ den Blick durch die Kammer gleiten. Als er niemanden sah, trat er über die gesplitterten Bretter in den Raum. »Keine Tricks, Beinwell hasst Tricks«, sagte er und schaute hinter den Thron, ob die Kinder sich dort versteckten. Von der Existenz des Tunnels hinter der Wand, nur wenige Schritte von ihm entfernt, wusste er nichts. »Was ihr auch getan habt, ihr werdet dafür bezahlen. Es gibt kein Entkommen. Keiner verlässt die Zitadelle. Niemals!« Tersias und Tara standen hinter der steinernen Wand und hörten ihn fluchen. Der enge Gang war mit glänzendem weißem Stein verkleidet, und Herzlampen brannten, soweit Tara schauen konnte. Eine sanfte Brise wehte ihnen entgegen, es roch nach Lavendel und frischen Feigen. Tersias schnupperte. »Das habe ich schon einmal gerochen, als Salomon die Zelle verließ. Einen so herrlichen Duft würde ich nie vergessen«, sagte er. Er hielt Taras Hand umklammert und fuhr sehnsüchtig fort: »Ich kenne ihn von früher. In Covent Garden war ein Mädchen, das mir immer Brot gegeben hat, als ich dort bettelte. Und wenn sie viele Freier gehabt hatte, gab sie mir sogar ein Stück Fleisch. Sie trug immer eine Kette aus Lavendel. Die würzte die kalte Luft und – « »- ließ sie vergessen, dass ihr Leben voller Schmutz und Gestank war«, ergänzte Tara beißend. Sie schaute sich nach allen Seiten um und überlegte, auf welchem Weg sie wohl am schnellsten in die Freiheit gelangen würden. »Bist du sicher, dass du nicht in die Zukunft schauen kannst?«, fragte sie Ter-
sias. »Ja. Die Stimmen finden mich hier nicht. Salomon besitzt die Macht, sie von der Zitadelle fernzuhalten. Ich habe sie viele Male gerufen, doch sie schweigen. Als ich noch Malachis Diener war, habe ich sie gebeten, mich in Ruhe zu lassen, weil sie mich ständig verfolgten, doch jetzt, wo sie weg sind, würde ich sie gern wieder hören.« Tersias sprach leise, seine Stimme klang angestrengt wie die eines heiseren alten Mannes. Tara ließ ihre Füße entscheiden, in welche Richtung sie gehen wollten, und machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg. »Ich habe gehört, wie Beinwell sagte, dass Salomon nicht in der Zitadelle sei. Sobald er zurückkommt, suchen sie auch hier nach uns. Beinwell kennt den Tunnel vielleicht nicht, aber Salomon wird als Erstes hier nachsehen.« Tara drückte Tersias’ Hand; sie war wunderbar weich und warm und ihre Handfläche kribbelte, als die Wärme auf sie überging. »›Warme Hände – kaltes Herz‹, hat meine Mutter immer gesagt. Mit solchen Händen kann man kein Brot backen, damit spielt man Streiche oder melkt Kühe.« Sie lachte, und ihr Lachen hallte bis weit in der Ferne von den Wänden wider. Sie fühlte sich zu dem Jungen hingezogen und verantwortlich für seine Sicherheit. Sie wollte seine Augen sein, ein guter Hirte, der sein Schäfchen durchs dunkle Tal zum Licht führt. Der Tunnel wurde immer enger. Von allen Seiten drang das Singen und Psalmodieren der Salomoniten durch die Wände und ließ die Kerzen in den herzförmigen Leuchtern flackern. Es wurde zum melancholischen Klagen eines weißen Wals, der von Speeren durchbohrt und blutend im kalten Meer schwimmt. Der Tunnelboden war mit einem weißen Puder ausgestreut, das aussah wie frisch gefallener Schnee und bei jedem Schritt leise knirschte. Es glitzerte und schimmerte verführerisch. Tersias lächelte. Er hatte seine Angst vergessen und genoss die Nähe zu Tara. Als sie ihn Schritt für Schritt weiterführte, hob er ihre Hand und drückte sie an seine Wange. Und in diesem Augenblick schoss ihm ein düsterer Gedanke durch den Kopf.
Als er ihr voller Dankbarkeit für ihre Gesellschaft die Hand küsste, enthüllte sich ihm ihr lange gehütetes Geheimnis. »Wann erzählst du Jonah von deinem Geheimnis?«, fragte er leise, sachlich. »Geheimnis?« Tara blieb stehen und sah den Jungen an. »Welches Geheimnis?« »Ich habe es gespürt, als du meine Hand genommen hast, habe gespürt, dass du etwas für dich behältst. Etwas, von dem du glaubst, es würde eure Freundschaft kaputt machen, wenn er es wüsste.« Tara wurde unruhig. Ein eisiger Blick traf Tersias, den dieser zwar nicht sehen, aber an ihrem festen Händedruck spüren konnte. Sie schluckte ihre Überraschung hinunter. »Das darf niemand erfahren, versprich es mir. Es schadet niemandem, und wenn ich es geheim halte, hat das keine Auswirkung auf dein Leben. Wenn Jonah es erfahren würde, wäre er die längste Zeit mein Freund gewesen. Er würde sich eine suchen, die seine Freundschaft wert wäre – mehr als ich. Weißt du, was ich vor ihm geheim halte?«, fragte sie rasch, in der Hoffnung, dass welche Macht auch immer in ihr Herz geschaut hatte, nicht bis auf den tiefsten Grund ihres Geheimnisses vorgestoßen war. »Ich weiß nur, dass du nicht die bist, die du vorgibst zu sein. Du bist mitfühlend und freundlich.« Noch einmal drückte Tersias ihre Hand an seine Wange. »Du kannst sein, wer immer du willst. Wir müssen nicht dem Schicksal folgen, das uns in die Wiege gelegt wurde. Schau mich an, den blinden Bettler von Stepney, der jetzt wegen dem, was er weiß, von Königen gejagt wird. So ist das Leben. Unser Schicksal kann sich wenden wie eine Fahne im Wind, und unser Lebenslicht kann ausgeblasen werden wie eine Kerze. Das hat Malachi gesagt.« Schweigend gingen sie weiter. Tara grübelte über ihr Seelenheil und die Gründe für ihr Geheimnis nach, und Tersias zählte die Schritte und tastete die Tunnelwand nach winzigen Einkerbungen oder Rissen ab, die ihm Wegweiser sein konnten für den Fall, dass er allein hierher zurückkehren würde. Er
versuchte sich alles, was ihm unter die Fingerspitzen kam, einzuprägen. Der Tunnel führte inzwischen nach oben, und sie hörten die Salomoniten nicht mehr. Alles war still, bis auf das leise Knirschen der weißen Kristalle unter ihren Füßen. Plötzlich machte der Tunnel eine scharfe Biegung, der Boden wurde eben, und nach wenigen Schritten standen sie am Eingang zu einem großen, viereckigen Raum mit einer Eichentür in jeder Wand. In der Mitte stand ein großer Tisch mit zwei frisch angezündeten Kerzen in silbernen Haltern und einer übergroßen Messinguhr unter einer Glasglocke. Das Pendel der Uhr schwang hin und her und schob die als Schwerter geformten Zeiger weiter. »Was siehst du?«, fragte Tersias. Sie standen immer noch unter der Tür, und der Lavendelduft war intensiver denn je. »Einen großen Raum mit einem Tisch, einer Uhr, zwei Kerzenhaltern und drei weiteren Türen. Welche sollen wir nehmen?« »Lass es uns bei allen drei versuchen. Wenn wir sehen, was dahinter liegt, können wir entscheiden, durch welche wir fliehen.« »Aber woher wissen wir, welches die richtige ist? Beinwell könnte dahinter lauern oder Salomon oder – « »Ich mache alle Schritte in Dunkelheit. Du hast Augen, nutze sie.« Tersias nahm ihre Hand. »Führe mich zu den Türen, ich sage dir dann, welche wir nehmen.« Sie tat es, führte ihn durch den Raum und stellte ihn vor die erste Tür. Er streckte die Hände aus, berührte das Holz und fuhr langsam mit seinen schmalen Fingern die Bretter entlang, erspürte jede Maserung, lauschte mit den Fingerspitzen. Sie gingen von Tür zu Tür, und er versuchte zu spüren, was dahinter lag, Verbindung aufzunehmen mit denen, die vorher da gewesen waren und ihre Spuren in den Fasern des Holzes hinterlassen hatten. Dann zog er Tara zu sich heran und flüsterte: »Die erste Tür ist abgeschlossen. Dahinter sind Menschen. Die zweite führt zu einem Durchgang, durch sie ist lange niemand mehr gegangen. Die dritte ist die merkwürdigste
von allen. Es ist, als sei sie nur eine Tür mit nichts dahinter. Sie hat sich nie in den Angeln gedreht, es gibt keine Klinke und kein Schlüsselloch. Wir haben nur eine Wahl.« »Nur eine Wahl?«, fragte eine Stimme hinter ihnen. »Wir haben jede Wahl der Welt. Wir können zwar nicht wählen, wann wir geboren werden, aber ich kann wählen, wann ihr sterben werdet.« Salomon betrat den Raum durch die erste Tür. »Beinwell konntet ihr zum Narren halten, aber mich nicht.« Er schaute Tara an. »War es ein Zauber, der euch die Flucht ermöglichte? Ich war der Einzige, der von dem geheimen Zugang zu sämtlichen Räumen in diesem Gebäude wusste, und jetzt seid ihr hinter mein Geheimnis gekommen. Ich nehme an, die Gesellschaft von Mister Moab hat dir nicht behagt. Ich fand ihn immer schrecklich unterhaltsam. Doch jetzt werde ich eine passendere Gesellschaft für dich finden müssen.« Salomon grinste verschlagen und kam auf sie zu, eine Pferdepeitsche in der Hand…
14. Rechtsgelehrte Im Licht des anbrechenden Morgens wuchsen die beiden hohen Türme des Fleet-Gefängnisses wie gewaltige Eichen aus dem Boden. Sie ragten über den grauen Nebel hinaus in einen klaren, kalten Himmel. Die Sechs-Uhr-Wache übernahm die Schlüssel von den Nachtwächtern, die leise zu ihren Betten gingen und Tau und Schmutz der vergangenen acht Stunden von sich abschüttelten. Während ihrer Wache hatten sie den Klagen der in Ketten liegenden Gefangenen gelauscht, die an den Gitterstäben ihrer Zellen hingen und verzweifelt um frische Luft rangen, da es in den Zellen entsetzlich stank. Das Gefängnisfieber ging um und hatte die meisten Gefangenen im Griff. Ihr Würgen war bis auf den Hof zu hören und drang durch die Fallgatter hindurch auch an die Ohren der herannahenden Miliz. Sie begleitete den Wagen mit Malachi und Jonah. Skullet stakste durch den Dreck. Damit seine Füße in den feinen Lederschuhen nicht schmutzig wurden, hatte er hohe Eisensohlen daruntergeschnallt, die wie Stelzen auf dem Pflaster klackten. Bei jedem Schritt stieß er den langen schwarzen Gehstock kämpferisch in den Dreck und beschimpfte die Wachen, weil sie das dicke Pony nicht schnell genug hinter sich herzogen. Mrs Deverot kam zur Begrüßung herausgelaufen. Sie wischte sich das Fett des Frühstücksspecks von ihrem warzigen Gesicht und steckte rasch die Times unter den Latz ihrer Schürze. Jonah kannte sie gut. Sie war die dritte Frau seines Vaters, hatte jedoch nie seinen Namen angenommen. Sie sagte immer, sie hätte unter ihrem Stand geheiratet, mehr aus Mitleid als aus Liebe. Am selben Tag, als sie bei ihnen eingezogen war, hatte Jonah das Haus verlassen, ohne seinem bisheri-
gen Leben eine Träne nachzuweinen. Malachi sah, wie Jonah eine Grimasse zog, als Mrs Deverot um den Wachmann herumschwänzelte und ihm einen weißen Stoffbeutel in die Hand drückte. Als Skullet kam, straffte sie die Schultern, strich den Rock über ihren dicken Hüften glatt und hüstelte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Geht’s Euch nicht gut, Frau?«, gluckste Skullet, während er auf sie zuging. »Mit einer, die das Gefängnisfieber hat, kann ich doch nicht herumknutschen, oder, Lizzy?« Malachi und Jonah hörten jedes Wort. Die Frau kicherte wie ein junges Mädchen und legte die Hand über den Mund, als wollte sie verhindern, dass man sah, wie sie rot wurde. »Alles ist bereit, genau so, wie Ihr es wolltet. Beide in derselben Zelle, ohne Fenster und nah beim Galgen.« Als sie Jonah ansah, wurde aus dem Lächeln, das sie Skullet geschenkt hatte, ein Blick voller Zorn. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht mehr wiederkommen, Jonah Ketch? Ich wollte dein Gesicht hier nie mehr sehen!« »Dann kennst du den Schlingel also, Lizzy?« Skullet gab ihr seinen Stock und wischte sich die Hände an ihrer schmutzigen Schürze ab. »Seinen Vater kannte ich besser. Ich hab ihn geheiratet, als er hier Henker war, und nach einem Monat ist er mir weggestorben, einfach so. War eben kein Verlass auf den Mann. Er hat’s nie fertig gebracht, sie anständig zu hängen, sind immer noch eine Zeit lang herumgebaumelt.« »Du hast ihn vergiftet, du alte Hexe«, rief Jonah und wollte vom Wagen springen, doch Malachi hielt ihn zurück. »Als er starb, hatte er so viel Blei in sich, dass man ihn ausrollen und aufs Kirchendach hätte legen können. Das wirst du doch nicht leugnen wollen, Lizzy, oder?« »Hab ich nie getan. Mister Skullet kann’s bestätigen. Dein Vater starb in meinen Armen am Gefängnisfieber. Ich hab ihn von ganzem Herzen geliebt…« »Du hast doch nur seine Geldbörse geliebt. Hast seinen Job
bekommen und sein Geld, hast mich rausgeschmissen und dir danach einen Krug Gin gekauft. Merkwürdig, wie alle deine Männer starben. Hat sich nicht einer auch an deinen Krapfen verschluckt? Waren sie aus Blei?« »Hört, hört, wie ein toter Mann hier noch das Maul aufreißt«, sagte Skullet und winkte den Wagen weiter. »Sperrt sie weg. Morgen um elf findet die Gerichtsverhandlung statt. Die Anklageschrift ist fertig, und der Strang ist auch bereit. Gebt ihnen zu essen, gebt ihnen Wein, und lasst sie einen draufmachen. Mrs Deverot und ich frühstücken zusammen…« Skullet grinste die Henkerin an, zwinkerte ihr zu und folgte ihr zum Gästehaus. »Seht zu, dass sie es bequem haben. Lord Malpas will nicht, dass seinen Freunden irgendein Unglück widerfährt.« »Was ist mit meinem Rechtsgelehrten?«, rief Malachi Skullet hinterher. »Ich habe das Recht auf einen Advokaten!« »Euch hilft auch kein Rechtsgelehrter mehr. Euer Fall war abgeschlossen, als ihr Haus Vamana betreten habt. Genießt Eure Henkersmahlzeit, und verabschiedet Euch von diesem Leben.« Skullet und Mrs Deverot verschwanden zusammen im warmen Schein des Gästehauses. Der Duft von gerösteter Muskatnuss und Ingwer, gemischt mit Spanferkel strömte durch die offene Tür auf den Vorplatz. Malachi schnupperte. Der unerwartete Duft ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und weckte Erinnerungen. Er sackte auf dem Wagen zusammen und ergab sich seinem Schicksal. Als der Wagen über das Pflaster des Gefängnishofs rumpelte, warf er noch einen letzten Blick zurück auf London und sein verspieltes Leben. Zwei große schwarze Tore schwangen hinter ihnen zu und schlossen die Welt mit einem dumpfen Schlag aus. »Das sehen wir nie wieder, Jonah«, flüsterte er hilflos. »Doch ich wehre mich nicht gegen mein Schicksal, ich war fünfzig Jahre lang auf dieser Erde. Aber du – du bist doch noch ein Junge. Hinter dem allem steckt eine böse Absicht,
und ich war derjenige, der den Fisch an der Angel baumeln hatte. Ich war voller Boshaftigkeit und habe dich damit angesteckt und dich hierher gebracht.« »Habt Ihr, als Ihr in meinem Alter wart, je darüber nachgedacht, wie alles enden würde?«, fragte Jonah, als der Wagen vor einer niedrigen Tür hielt, die in das Verlies unter dem Gefängnis führte. »Nie… Ich dachte, ich würde ewig leben. Aber auf eine gewisse Art ist es gut zu wissen, dass morgen alles vorbei ist.« Malachi kicherte vor sich hin. »Ausgerechnet am 5. November… dem Tag, an dem man sich mit Umzügen und Feuerwerk an Guy Fawkes und seinen gescheiterten Anschlag auf den König erinnert. Freudenfeuer werden mir auf meiner Reise zu den Sternen leuchten. Wir können zusammen aufsteigen und die Reise Hand in Hand antreten.« »Ich wollte noch so vieles tun«, sagte Jonah sehnsüchtig. »Ich wollte den König ausrauben, wenn er nach York reist. Sein zerknittertes Gesicht zu sehen, wenn ich ihm meine Pistole in die dicke deutsche Nase stecke und alles von ihm verlange, was er hat. Stellt Euch das einmal vor! Und dann würde ich fliehen, wie der Wind nach Edinburgh reiten und in der Witchery dinieren und leugnen, jemals in London gewesen zu sein. So habe ich mir mein Leben vorgestellt…«Jonah lachte, als ein Milizionär ihn am Arm packte und vom Wagen zerrte. Hintereinander führte man sie in das Verlies hinab. Immer tiefer ging es hinunter, kalte, dunkle Gänge entlang mit Wänden aus roh behauenen Steinen, die mit Eisenklammern zusammengehalten wurden, und durch eine Kloake, die aus der Wand kam und über ein paar Steinstufen in einen unbenutzten Seitengang floss. Das Geräusch ihrer Schritte hallte in der alles verschlingenden Dunkelheit. Als die Luft immer kälter wurde, verstummte das Gespräch der Milizionäre. Eine Laterne wies ihnen den Weg, und das Licht der Kerze warf die gekreuzten Schatten des Gitters an die Wände. Die Männer rückten näher zusammen, es lief ihnen kalt über den Rücken, und die Haare stan-
den ihnen zu Berge. »Wohin bringt ihr uns?«, fragte Malachi einen der Wachmänner. »Ins königliche Verlies. Es wurde seit König Richard nicht mehr benutzt. Ihr müsst ganz besondere Gäste von Malpas sein, wenn er euch so sicher eingesperrt wissen will. Das ist ungewöhnlich für einen Mann, der einen Löffel gestohlen hat. Offenbar will er kein Risiko eingehen und euch in jedem Fall aus der Welt haben.« »Ich bin der Mann, der die Welt verkauft hat, und das direkt unter seiner Nase«, erwiderte Malachi. Rasch gingen sie auf den Schein einer frisch entzündeten Teerfackel zu, die eine breite Tür erleuchtete. »Hier wohnt ihr«, sagte der Wärter barsch. Schaudernd trat er einen Schritt zur Seite. »Wir sehen zu, dass wir so schnell wie möglich wieder an die frische Luft kommen. Man hört zu viele Gerüchte über Dinge, die hier schon passiert sein sollen.« »Ihr meint die Sache mit den Geistern?« Jonah betrat die Zelle. »Du kennst sie, Junge?«, fragte der Mann, während er langsam die Tür zudrückte. »Solange mein Vater Henker war, war er nicht ein einziges Mal hier unten. Aber eines Nachts schloss er mit ein paar anderen Männern eine Wette ab. Sie holten einen Jungen aus einer Zelle, schnallten ihm eine Pauke vor die Brust, setzten eine Kerze obendrauf und schickten ihn allein hier herunter. Sie sagten ihm, er solle bei jedem Schritt die Pauke schlagen. Die Wette ging darum, wie weit der Junge kommen würde.« »Und wie weit ging er?« Der Wärter versuchte, schnell zu überschlagen, wie viele Schritte er in der Dunkelheit gemacht hatte. »Zweihundertneunundneunzig Schritte weit, danach hat er nicht mehr getrommelt. Nur seine Schreie haben sie noch gehört. Keiner hat sich getraut, nach ihm zu schauen, und der Junge wurde nie mehr gesehen. Vater hat gesagt, dass die Geister einen zwar hereinlassen, aber nur ungern wieder hin-
aus.« Mit jedem Wort, das Jonah flüsterte, rückten die Wachen wieder näher. »Sie sagen, dass der Junge auf der Treppe spukt, und irgendjemand wird eines Tages den Preis zahlen müssen, damit seine Seele erlöst wird.« Schweigen legte sich über die Milizionäre. Einer fingerte nervös am Griff seiner Pistole herum, während ein anderer den Kragen enger um seinen rasierten, schwitzenden Nacken zog. Sie schauten sich an und wurden immer unruhiger. Mit trockenem Mund meinte der eine: »Wir gehen dann besser. Wenn die Tür abgeschlossen ist, braucht es keine Wache mehr. Von hier kommt keiner weg, oder, Junge?« Der Mann warf Malachi einen Leinenbeutel mit einem frisch geräucherten Schinken und einer Flasche Wein zu. Die Milizionäre nickten angstvoll. Keiner wollte allein zurückbleiben mit der Aussicht auf einen kindlichen Geist, der mit einer Trommel und einer Kerze den Weg zur Hölle wies. »Nein, Sir«, erwiderte Jonah und schlug die Hand vor den Mund. »Ich würde es nicht wagen, die Zelle zu verlassen und womöglich dem Trommelknaben zu begegnen…« Rasch schlug der Mann die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss. Man hörte schnelle Schritte, als der ganze Trupp im Eiltempo keuchend den Gang zurückhastete. Jonah drehte sich zu Malachi um und grinste. »Schrecklich, diese Angst vor Geistern.« »Aber der Junge?«, fragte Malachi nervös. »Über so etwas sollte man sich nicht lustig machen.« »Wenn es wahr wäre, hätte ich genauso viel Angst wie sie, aber der Geist hat angefangen zu spuken, als ich gesehen habe, wie es die Wachen schauderte. Den Spuk habe ich mir ausgedacht. Jetzt sind sie diejenigen mit Angst im Bauch und Schweiß im Nacken, während wir, Magnus Malachi, am sichersten Ort von ganz London sitzen. Wir haben noch einen ganzen Tag, bevor die Gerichtsverhandlung beginnt. Niemand wird bis dahin herunterkommen. Die Geister wurden nur erfunden, um neugierige Augen fernzuhalten. Keiner sollte sehen, was man den Gefangenen alles abknöpfte. Wer könnte
besser Schmiere stehen und der Miliz die neugierige alte Hexe Deverot vom Leib halten als ein unerlöster Geist?« »Du bist ein Schurke durch und durch, Mister Ketch«, sagte Malachi, »und einer, den ich sehr gern habe. Es wird mir ein Vergnügen sein, meine letzten Stunden mit einem wie dir zu verbringen.« Er ließ sich auf ein altes Holzbett fallen, das neben einer großen, leeren Feuerstelle stand. »Dann werdet Ihr noch sehr viel Zeit mit mir verbringen, denn ich habe nicht vor zu sterben.« Jonah lächelte immer noch über das Glück, an einem Ort wie diesem eingesperrt worden zu sein. »Wir haben Licht, und bald ist es hier auch warm, und wenn es dunkel wird, sind wir frei. Vergesst nicht, ich habe einmal hier gewohnt. Es gibt kein besseres Gefängnis für uns als dieses. Ich kenne hier jeden Zentimeter und jeden Stein, und heute Nacht haben wir unsere Freiheit wieder.« Sprach’s und begann auch schon seine Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Er zog Malachi von dem alten Bett, brach den Rahmen auseinander und machte Kleinholz daraus, das er in den riesigen Kamin schichtete. Dann zog er den Bezug von der alten Strohmatratze und wickelte ihn um seine Hand. So geschützt, griff er durch das vergitterte Fenster der Zellentür und zog eine der Pechfackeln aus der Halterung auf dem Gang. Das trockene Holz entzündete sich sofort und tauchte das Verlies in ein warmes Licht. Malachi saß da wie eine aufgeplusterte alte Eule und sagte nichts, grunzte nur ab und zu zufrieden, als Jonah den alten Tisch zusammenschlug und das Holz ebenfalls aufs Feuer legte, sodass die Flammen bald weit in den breiten Schornstein hinaufloderten. Bald hatten sie genügend Holz zusammen, um das Feuer einen Tag und eine Nacht am Brennen zu halten. Jonah wärmte sich den Rücken, dann setzte er sich zufrieden auf die warmen Steinplatten neben Malachi, und sie teilten Schinken und Wein aus dem Leinenbeutel. Jonah roch an der Flasche, bevor er sie an die Lippen setzte. »Sie hat eine giftige Art, unsere Lizzy Deverot«, meinte er grinsend und trank dann einen großen Schluck.
»Und eine böse Zunge dazu, die sie hoffentlich in Skullets Ohr schiebt und ihm das bisschen Hirn, das er hat, aussaugt«, erwiderte Malachi. Der Gedanke an Skullet und Mrs Deverot, die zusammen beim Frühstück saßen, schmälerte den eigenen Genuss etwas. »Ich gehe davon aus, dass du einen Plan hast, der uns auf wundersame Weise von diesem Ort wegbringt?« »Ich habe etwas, das uns den Atem nimmt und zehnmal besser ist als alle deine Zaubertricks. Malpas und Skullet werden sich fragen, welche Kräfte in unserem Leben am Werk waren.« Jonah biss ein großes Stück Schinken vom Knochen und hielt es wie ein wild gewordener Hund zwischen den Zähnen. »Bis die Gerichtsverhandlung beginnt, sind wir längst weg. Wir schlürfen Schokolade mit Lady Griselda in Strumbelo und überlegen, wie wir Tara und Tersias von Salomon wegholen.« »Einfach so?«, fragte Malachi und schaute Jonah beim Kauen zu. »Einfach so«, erwiderte der mit vollem Mund. Er kaute weiter, nahm wieder einen großen Schluck Wein und spülte den Schinken damit hinunter. »Wie ich gehört habe, war das Gefängnis einmal ein Palast. König Richard selbst soll in diesem Raum gewohnt haben. Dann muss etwas ganz Schreckliches passiert sein, etwas so Entsetzliches, dass er nie mehr zurückkam und den Palast in ein Gefängnis umwandelte.« Malachi lächelte. Der Wein und dazu der Gedanke, dass er Tersias bald Wiedersehen würde, wärmten ihm das Herz. Seit sie getrennt waren, dachte er voller Zuneigung an den Jungen. Er sah einen Menschen aus Fleisch und Blut in ihm und nicht nur eine Möglichkeit, Schillinge zu scheffeln. »1st das wieder eine deiner Geschichten?«, fragte er lachend, nahm die Flasche und trank sie umständlich leer. Er schaute die dicken Mauern ringsherum an, auf denen die hohe, gewölbte Decke ruhte. Das Feuer erleuchtete jeden einzelnen Stein. Malachi versuchte sich vorzustellen, wie der König hier gespeist hatte. »Es wird ein kleiner Trommelknabe gewesen sein«, meinte er sarkastisch und leckte sich die Lippen, »der den König so er-
schreckt hat, dass er sich auf sein Pferd schwang und davongaloppierte.« »Es ist die Wahrheit, wenn ich es Euch sage«, protestierte Jonah und legte Holz nach. »Es klebt böses Blut an diesen Steinen. Der Ort hat niemandem Glück gebracht, es gibt zu viele dunkle Ecken und vergessene Gänge. Deshalb haben sie auch das neue Gefängnis gebaut. Kein Wärter wollte hier über Nacht bleiben – zu viele Geräusche, zu vieles, das schiefging.« »Noch so eine Geschichte?«, gluckste Malachi. Der Wein lähmte bereits seine Zunge. »Glaubt mir, es ist die Wahrheit, ganz bestimmt. Mein Vater hat mir erzählt, dass er einmal eine Zelle geputzt und das Bett mit einer frischen Strohmatratze an die Wand geschoben hatte. Er füllte einen Eimer mit Wasser und leerte die Abfälle aus. Dann schloss er die Tür ab, machte neun Schritte und… Er sagte, es hätte sich angehört, als sei einer in der Zelle verrückt geworden, hätte randaliert, die Möbel zerschmettert und die Matratze auseinandergenommen. Er rannte zurück und die Zelle war völlig zerstört. Alles war in Stücke gerissen, als hätte ein tollwütiger Hund sich darüber hergemacht. Was immer da am Werk gewesen war, es war so stark, dass es ein Bettgestell durchbeißen konnte. Man sah die Spuren der Zähne, aber keine Spur von dem, der es getan hat.« »Und das hat dein Vater dir erzählt?«, fragte Malachi. »Das hört sich ganz nach einer dieser Geschichten an, die verhindern sollten, dass man ihm auf die Schliche kam und fand, was er hier unten versteckt hatte.« Er rollte sich vor der Feuerstelle zusammen und zog seinen langen Mantel wie eine Decke über sich. »Es war eine lange Nacht, und Malachi braucht Zeit, um von dem zu träumen, was er vorhat. Weck mich auf, wenn dein Plan steht – und wenn nicht, wollen wir unserem Urteil entgegensehen, ohne dass Schlaf an unseren Augenlidern klebt.« Es dauerte nicht lang, bis der Magier eingeschlafen war. Er schnarchte und zitterte im Traum. Jonah beobachtete ihn, fasziniert von seinem Zucken und Ächzen und der Art und Wei-
se, wie er den dicken, schmutzverkrusteten Bart um seine Finger wickelte und der Speichel ihm über den Handrücken lief. In der Ferne hörte er die Gefängnisglocke neun Uhr schlagen. Das dumpfe Dröhnen schallte durch die Gänge bis hinunter ins Verlies. Jonah saß mit dem Rücken an die Feuerstelle gelehnt und sah sich in dem Raum um. Er war kahl und doch warm, war feindselig und strahlte dennoch eine gewisse friedliche Atmosphäre aus. Verlies, Palast oder Kloster, es spielte keine Rolle, er wusste nur, dass sie fliehen mussten. Er wandte sich wieder Malachi zu. Alle Angst vor ihm war verschwunden. Er sah nur noch einen alten Mann vor sich in einem langen schwarzen Mantel und dem Hut eines Magiers, den Beutel mit den Zauberutensilien verführerisch über die Schulter gehängt. Als Jonah der Gedanke kam, den Beutel seines Zellengefährten zu durchsuchen, versuchte er, sich dagegen zu wehren. Malachi hatte ihm seine Freundschaft angeboten. Andererseits… Wenn er sich vorstellte, welche Schätze da zum Greifen nahe vor ihm lagen, wurde ihm ganz schwindelig. Und würde er dem alten Mann nicht die Freiheit schenken? Dann wäre das doch nur ein kleiner Ausgleich dafür, der Preis für die Rettung vor dem Galgen. Er streckte die Hand nach dem Beutel aus und hielt inne, zog sie zurück und ballte sie zur Faust in der Hoffnung, das Verlangen, Malachi zu berauben, würde verschwinden. Wieder streckte sich seine Hand nach dem Beutel, kam ihm immer näher. Er wollte schreien, damit der Mann aufwachte und er aufhören musste. In ihm tobte ein harter Kampf. Während er seine Finger noch davon abhalten wollte, den Verschluss zu öffnen, den Beutel zu durchwühlen und um alles zu erleichtern, was irgendwie wertvoll erschien, berührte er ihn bereits. Malachi regte sich nicht. Jonah schob die Hand weiter hinauf, seine Finger suchten instinktiv nach dem Verschluss. Es war, als beobachte er einen Fremden, eine Hand wie seine, die aber nicht die seine war. Auf der einen Seite wollte er nichts damit zu tun
haben und auf der anderen liebte er, was er tat – es gehörte zu seinem Leben wie das Atmen. Seine Finger griffen nach dem winzigen Verschluss, der warm war vom Feuer. Er fühlte sich lebendig an, so als schlüge darin ein Herz. Jonah hielt inne und schaute Malachi an. Der schlief weiter, ächzte und sabberte wie ein kleines Kind und merkte nichts von dem, was sich da unter seiner langen Nase abspielte. Mit drei Fingern öffnete Jonah den Verschluss, schob die Hand unter den Überschlag des Beutels und tauchte ab in die Tiefe. Dort war es warm und feucht, und alles war mit weichem, samtenen Schimmel überzogen, der an seinem Handrücken klebte. Jonah ertastete die verschiedensten Dinge. Plötzlich streichelte er über das kalte Metall eines breiten, mit Steinen besetzten Ringes. Mit der Fingerspitze fuhr er einmal die Rundung entlang und zählte die Steine. Vorsichtig schloss er seine Hand um das Schmuckstück und zog sie langsam aus der Tasche, um den Magier nicht zu wecken. Malachi rührte sich noch immer nicht. Er schnarchte, keuchte und ächzte weiter und rieb einzelne Bartsträhnen zwischen den Fingern. Jonah kümmerte sich nicht um die Fläschchen und Amulette, die er beim Herausziehen der Hand berührte. Ihn interessierte nur der Ring, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Er war seltsam sperrig und blieb kurz am Stoff hängen, als er ihn ans Licht des Feuers holte. Er keuchte erschrocken auf und rutschte von der Umrandung der Feuerstelle auf den kalten Boden. Dabei ließ er den Ring mitsamt dem vertrockneten Finger, an dem er steckte, fallen. Er rollte auf die Flammen zu. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Jonah daran, ihn weiterrollen zu lassen, damit er verbrannte. Sein Blick zuckte zwischen Malachi und dem Ring hin und her. Er versuchte abzuschätzen, wie tief der Alte schlief. Kurz bevor die Flammen den Ring umzingelten, schoss Jonahs Hand nach vorn, er packte den Finger an dem langen schwarzen Nagel und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden.
Dann hievte er sich wieder auf den Rand der Feuerstelle und tat, als schliefe er. Lang hielt er es nicht aus. Er öffnete vorsichtig ein Auge und sah zu dem Magier hinüber. Malachi schlief tief und fest. Jonah zog den Finger aus der Tasche und betrachtete die nikotingefärbte Haut und den verkrusteten Fingernagel. Er war irgendeiner armen, unglücklichen Frau abgeschnitten worden.
15. Tabula rasa Salomon tänzelte die Wendeltreppe hinauf. Er führte sieben seiner Lieblingsjünger in den Turm, der seine Zitadelle überragte und einen weiten Blick über die Stadt bot. Oben angekommen, lächelte er selbstgefällig und schaute durch die schmutzigen Bogenfenster, die unterhalb der goldenen Kuppel in die Mauer eingelassen waren. Unter ihm lag London, dreckig und verkommen unter einem Schleier aus feuchter, grauer Asche, der sämtliche Dächer überzog. Die letzten Tropfen des nachlassenden Regens trommelten auf die Gebäude. Im Osten stieg die Sonne mühsam Stück für Stück höher. Sie versuchte vergebens, den Nebel zu durchbrechen, als sich ein glitzernder Regenbogen vom Himmel neigte und die Zinnen des Fleet-Gefängnisses anleuchtete. Tersias und Tara folgten Salomon, ihre Hände waren wieder gefesselt, und die goldene Krone saß fest auf dem Kopf des Jungen. Ganz zum Schluss kam Beinwell. Er keuchte und ächzte unter seinem Gewicht, jeder Schritt bereitete ihm Mühe. »Schnell«, sagte Salomon, »wir müssen unsere Stadt sehen, müssen sie ansprechen und unserem Willen unterwerfen.« Die sieben Jünger liefen zu den Fenstern, hoben die Hände gen Himmel und brabbelten wie Wahnsinninge in einer Sprache vor sich hin, die Tara nicht verstand. Sie schaute sich in dem gekalkten Raum um. Von der hohen Kuppel hingen lange Ketten herunter. Sie sah, dass sie an runden Holzplatten befestigt waren, die offenbar Fensterluken abdeckten. Zog man an den Ketten, klappten die Abdeckplatten auf und durch die Luken konnte Licht und die schmutzige Londoner Luft hereingelassen werden. In der Mitte des Raumes ruhte auf einer Art
Holzfass eine große gläserne Halbkugel. Neben einer der tragenden Säulen des Raumes stand ein hölzerner Thron, ähnlich demjenigen, auf den man Tersias in seiner Zelle gefesselt hatte. Er war mit frischem Lavendel und Efeu bekränzt, und der Boden um ihn herum war mit roten Blütenblättern bedeckt. Neben dem Thron sah Tara einen langen, aus Eibenästen geflochtenen Korb in der Form eines schmalen Sarkophags stehen. Auf dem Deckel lagen Sauerampferblätter und Rautestängel. Über einer kopflosen Ankleidepuppe neben dem Thron hingen purpurrote Kleider. Alles war sorgfältig vorbereitet, die Kleider gebügelt und bereit zum Anziehen. Salomon schaute Tara an, als er über den rauen Stoffeines purpurroten Gehrockes strich und lächelte. »Bald, meine Liebe, wird dies alles dir gehören.« Er trat an die gläserne Halbkugel. »Komm, schau es dir an… so etwas hast du wahrscheinlich noch nie gesehen und wirst es auch nie wieder sehen.« Er winkte Tara zu sich. Seine Jünger brabbelten immer noch vor sich hin, schauten auf die Stadt hinunter und redeten in einer Art Singsang mit dem Geist Londons. Langsam durchquerte Tara den Raum. Er war kalt und roch streng nach Lavendel. Salomon streckte die Hand aus, als sie in die Halbkugel schaute, die alles vergrößerte. Weit unten erkannte sie ein helles Licht, das einen Baum erleuchtete. Und plötzlich wusste sie, dass sie dieses Bild schon einmal gesehen hatte. Diese Erkenntnis spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen den Schwindel in ihrem Kopf. »Ganz richtig, meine Liebe«, sagte Salomon. »Du erinnerst dich also.« Er begann, die Kordel um ihre Handgelenke aufzuknüpfen. »Es ist der Raum mit den Heuschrecken, und was du hier siehst, ist der Baum des Lebens. Bald sind sie so weit. Von hier aus werden sie ihren Flug über die Stadt antreten. Sie werden sie von allem säubern, was mir nicht nachfolgt. Haben sie erst einmal ihr Urteil gesprochen, gibt es keine Rettung mehr.« Tara sagte nichts. Wie gebannt schaute sie auf eine einzel-
ne Heuschrecke, die von unten herauf auf sie zuflog, sich an die Glaskugel hängte und sie mit einem riesigen schwarzen Facettenauge ansah, das an den Rändern in vielen Farben schillerte. Das Insekt schien sie anzusehen und mit seinen Blicken allen ihren Bewegungen zu folgen, als sie um die Kugel herumging und von Salomon abrückte. »Sie mag dich«, stellte Salomon fest und zog an einer Kette. Einer der hölzernen Lukendeckel klappte von der Decke. »Siehst du? Wenn die Zeit gekommen ist, werden die Heuschrecken von dem Baum aufsteigen, und ich werde die Luken öffnen, und sie werden hinausfliegen aus dem Turm und über die Stadt.« Er zog eine Augenbraue in die Höhe und lächelte mit fest zusammengepressten Lippen. »Vergiss nie, wozu sie fähig sind. Niemand wird ihnen entkommen. In der Stadt wird kein Leben mehr sein, aber wir sind sicher. Farbe und Duft unserer Kleider wird sie von uns abhalten.« Tara sah, dass das Fass, auf dem die gläserne Halbkugel ruhte, ringsum Türchen hatte, die alle mit einem Messingverschluss in Form einer Hand verschlossen waren. Salomon spielte an einem der Verschlüsse herum, als er weitersprach. »So still, so nachdenklich und klaglos«, sagte er und kam auf sie zu. »Schau dir die Heuschrecke an, sieh, was für eine herrliche Kreatur sie ist. Ich habe sie selbst gefunden, nachdem ich die ganze Welt nach ihr abgesucht hatte. In vielen Jahren habe ich sie nach und nach verändert, bis sie so wurde, wie ich sie haben wollte. Früher haben die Heuschrecken sich von den Früchten des Feldes ernährt und waren eine Plage für die Menschen, weil sie alles kahl gefressen haben. Jetzt werden sie wieder zu einer Plage, nur dass sie sich dieses Mal andere Nahrung suchen.« »Kein Mensch kann so etwas machen«, platzte Tara heraus. »Ihr seid nicht der Schöpfer der Welt, Ihr habt die Sterne nicht an ihren Platz gestellt.« Sie zwickte sich in die Hand, damit der Schmerz ihre Wut noch steigerte. Ihr Magen verkrampfte sich. »Wie könnt Ihr die Lebensweise eines Tieres verändern? Es ist nicht recht!«
»Richtig oder falsch ist nur eine Sache der Perspektive. Bald wird eine Zeit kommen, da brauchen wir kein Ei mehr, um ein Huhn zu haben, und wir können ewig leben, du und ich, weil uns ein neues Herz wächst. Ich habe die Grundbausteine des Lebens entdeckt, und mithilfe der Heuschrecken werde ich dieser verkommenen Welt ein Ende bereiten und die neue ausrufen. Der König besitzt keine Macht, und das Parlament arbeitet nur in seine eigene Tasche. Politiker und Prinzen, sie sind alle gleich, von Geburt an ehrlos, gieren sie nur nach Anerkennung. Ihre Zeit ist vorbei, jetzt schlägt die Stunde des salomonischen Reiches.« Tara merkte, dass er überzeugt war von dem, was er sagte. Der Singsang um sie herum wurde immer lauter. Die Jünger riefen jetzt die Sonne an, damit sie ihre Strahlen über die Dächer schickte. Beinwell packte Tersias am Kragen, und aus den Augenwinkeln heraus sah Tara, wie er den Jungen zum Thron schleifte, ihn daraufsetzte und seine Arme an den Lehnen festband. »Wird sie eine von uns?«, fragte Beinwell unvermittelt und wischte sich Speichel vom Kinn. Salomon drehte sich zu ihm und schaute ihn an, als hätte eine solche Frage nie gestellt werden dürfen. »Der gute Beinwell scheint sich um deine Zukunft zu sorgen. Wie du siehst, haben wir Pilgerkleider für dich bereitgelegt. Wer sich in Purpur kleidet, sagt der Welt, dass er zu uns gehört für immer und ewig. Wenn du diese Kleider anziehst, wendest du dich von der ab, die du einmal warst. Du wirst neugeboren werden in eine neue Familie. Komm, Mädchen, es ist so weit.« Salomon holte ein kleines silbernes Fläschchen aus seiner Manteltasche, schraubte den Verschluss ab und hielt es ihr hin. »Ein Schluck und ein Eid, und alles ist gut. Du wirst tot sein für die Vergangenheit und lebendig für die Zukunft. Alles, was ich habe, werde ich mit dir teilen. Ein Königreich wartet auf dich, und du wirst darin die Königin sein.« Verzweifelt schaute Tara sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Die Jünger wandten sich vom Fenster ab und stellten sich
im Kreis um sie herum auf. Ihr Singsang ging in düstere Worte über, die ihr das Herz schwer machten. Sie dachte an Jonah – verschwunden, untergetaucht in einer anderen Welt. Sie sah, wie aus Salomons Lächeln eine hässliche Fratze wurde, als er auf sie zuhinkte. Das Fläschchen in seiner Hand reflektierte das Sonnenlicht. Sie hörte Tersias, dem Beinwell den Mund zuhielt, stöhnen und hatte das Gefühl, in der Masse der Jünger unterzugehen, die nun im Gänsemarsch die Wendeltreppe heraufkamen und in den Raum drängten. Tara stand mit dem Rücken zur Wand und hielt sich die Hände vors Gesicht, um den ausdruckslosen Blicken der Jünger zu entgehen, die sie anstierten. Es wurde immer lauter ringsum, der Lärm verwirrte sie, und sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Einen Meter vor ihr stand Salomon und hielt ihr das Fläschchen hin. »Tu es für mich, mein Mädchen«, sagte er leise. Sie schaute zu Tersias hinüber, dessen unterdrückte Schreie sie um Hilfe baten. »Ihm wird nichts passieren. Du brauchst nur zu trinken, dann wird alles gut. Beinwell wird ihm nichts mehr tun, und auch du wirst unter unserem Schutz stehen.« Jetzt war Salomon ganz aufgeregt, stolperte fast über seine Worte. In einer Hand hielt er zitternd das Fläschchen, und mit der anderen fummelte er an dem purpurfarbenen Tuch herum, das er sich um den Hals gebunden hatte. »Bitte, meine Liebe.« Er schluckte, damit ihm der Speichel nicht aus dem Mund lief, während er sie anstarrte. »NEIN!« Sie schlug um sich. Die Gedanken in ihrem Kopf rasten, und der Raum begann sich zu drehen. »Zwing uns nicht, ihm noch mehr wehzutun.« Salomon hustete rau, als Tersias wieder vor Schmerzen stöhnte. »Beinwell hat gewisse Absichten mit dem Jungen, die er auch in die Tat umsetzen will. Er ist ein grausamer Mensch, der dazu geboren wurde. Bitte lass nicht zu, dass er tun kann, was sein Herz begehrt.« Tersias schrie auf. Ein Jünger nahm Taras Arm und drehte ihn auf den Rücken. »Trink… trink… trink«, begannen die an-
deren zu singen und drängten sie zu der gläsernen Halbkugel und der schwarzen Heuschrecke, die aussah, als kratze sie verzweifelt an der Wand ihres Gefängnisse und versuche, zu ihr vorzudringen. Erdrückt von der großen Zahl und der Macht, welche die vielen Menschen über sie zu haben schienen, sank Tara auf die Knie und bettelte um ein Ende der Qual. Sie streckte Salomon die zitternden Hände entgegen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Die Jünger heulten Worte, die, obwohl sie nichts verstand, so mächtig waren, dass sie von ihnen noch weiter auf den Boden gedrückt wurde. »ERGIB DICH MIR!«, kreischte Salomon. Sein Gesicht war ganz rot, die Hände zitterten, und die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf. Tara konnte nicht länger denken oder hören. Gleißend blaue Lichtblitze zuckten durch ihren Kopf, in dem sich alles drehte. Es wurde dunkel um sie, und ihre Sehkraft schwand, als würde eine dicke schwarze Decke sie umhüllen. In diesem Moment wurde sie rigoros von der Welt abgeschnitten und in eine dunkle Ecke ihrer Seele getrieben. Um sie herum herrschten Chaos und Pein, als ihr Körper sich zitternd zusammenkrampfte, doch in ihrer Dunkelheit war sie vollkommen allein. Benommen spürte sie, wie ihr Kopf nach hinten gedrückt wurde und kaltes Silber ihre schäumenden Lippen berührte. Sie fühlte, wie abgestandener Wein über ihre verkrampfte Zunge lief und tausend scharfe Fingernägel sich in ihre Haut gruben, und diese Empfindungen waren es, die sie wieder mit der Welt verbanden. Es gab weder Lärm noch Kampf. Das Heulen und Schütteln der Jünger verebbte in ihrem Geist zum leisen Blätterrauschen eines Wintertages. Salomons Stimme war eine dumpfe Störung irgendwo am dunklen Himmel hoch über ihrem Kopf. Sie hörte undeutliche Befehle und spürte, wie sich viele Hände an ihrem Körper zu schaffen machten. Da war kein Schmerz – nicht an diesem Ort. Dies war der Raum, in den sie schon viele Male gestoßen worden war, wenn die Welt sie mit ihrem unerträglichen Irrsinn bedroht
hatte. Das aufgezwungene Versteck: ein Zufluchtsort für ihren Geist und eine Bastion für ihre bedrängte Seele. Tara schluckte erneut, spürte mehr von der faulig schmeckenden Flüssigkeit durch ihre zusammengebissenen Zähne tropfen und scharf wie Essig die Kehle hinunterrinnen. Sie hustete und warf den Kopf hin und her, um sich von den vielen Händen zu befreien, die sie an den Haaren gepackt hatten. Tief in ihrem Inneren hörte sie eine Schlange zischen. Das Geräusch übertönte alles andere. Wenn die Krämpfe nachließen, erschien stets diese Schlange, erinnerte sie an das, was sie durchgemacht hatte, und wies auf zukünftiges Leid hin. In der Dunkelheit nahm sie wahr, wie der Anfall nachließ und nur noch ihre Fingerspitzen kribbelten. Danach folgte ein tiefer Schlaf der Erschöpfung, der ihren Geist vor der Welt verschloss. Langsam und mühevoll öffnete Tara die Augen. Es war heller Morgen, Sonnenschein flutete in den Raum. Vor ihr stand Salomon mit einer Spiegelscherbe in der Hand, in der sie ihr Gesicht sah. Ihre Hand fühlte sich noch taub an, als sie versuchte, sie vom Boden zu heben. Irgendetwas war anders. Ihr Körper schien größer als vorher, und sie hatte den Eindruck, als reichten ihre Arme wie lange Äste weit in den Raum hinein. Ungeschickt versuchte sie aufzustehen, musste aber feststellen, dass ihr rechtes Bein nach hinten gebogen war und die verkrampften Muskeln es wie in einer Eisenklammer hielten. Sie konnte noch nicht klar sehen, doch sie erkannte, dass sie die Kleidung der Jünger trug. Der raue Stoff der Jacke kratzte an ihrer Haut. Salomon starrte sie an. Mithilfe des Spiegels ließ er das Sonnenlicht in grellen Blitzen über ihr Gesicht zucken. Sie durchschnitten den Nebel um sie herum wie ein Sommergewitter. »Bist du wieder da?«, fragte er leise, ließ sich auf ein Knie nieder und sah ihr aufmerksam in das Gesicht. »Der Wein wird dich zwei Nächte lang schläfrig machen, doch am dritten Tag wirst du als neues Wesen erwachen, vollkommen verwandelt. Aus einem hässlichen Entlein wird ein Schwan
geworden sein.« Er senkte die Stimme, sprach langsam und ließ das Sonnenlicht über ihr Gesicht zucken. »Hör mir zu, Mädchen. Du stirbst, aber ich kann dich retten und dir die Anfälle nehmen. Das kann nur Salomon für dich tun. Ich tu dir nichts, und es ist kein Trick dabei. Höre auf meine Stimme, höre meine Worte. Ich bin der Einzige, dem du trauen kannst. Ich bin es, Salomon, dein Erretter, dein Heiler, dein Erlöser. Ich bin der Herr deiner Seele, und um mich drehen sich alle deine Gedanken. Wenn du meinen Namen hörst, wirst du frohlocken. Mir gegenüber wird es keinen Ungehorsam geben. Höre auf meine Stimme.« Tara konnte seinen Worten nicht entfliehen. Wie mit Fäusten wurden sie ihr ins Gehirn gehämmert und brachen ihren Widerstand, während das Zischen der Schlange immer lauter wurde. »Tersias…«, fragte sie mit weicher Stimme, »was ist mit dem Jungen?« »Dem Jungen geht es gut. Er ist an deiner Seite. Ihm wird nichts passieren. Ich, Salomon werde auch ihn erretten.« »Salomon wird ihn erretten…«, wiederholte sie ein ums andere Mal. Sie wusste, dass es stimmte und nichts anderes eine Rolle spielte. »Salomon…«, murmelte sie vor sich hin, und das Wort tönte durch ihren Körper wie eine helle Glocke, als ein tiefer Schlaf sie übermannte und in undurchdringliche Dunkelheit hüllte. »Schlafe, mein Kind, und erwache zu neuem Leben.« Salomon sprach in einem Ton, als bete er. Dann rief er Beinwell, damit dieser ihm half, Tara in den geflochtenen Eibensarg zu legen. Gemeinsam packten sie das Mädchen ungeschickt in den langen Korb, der mit purpurfarbener Seide ausgeschlagen und mit Gänsefedern ausgestreut war. Tara rührte sich nicht. Die Trance und die Wirkung des abscheulichen Saftes aus dem Fläschchen hatten sie fest im Griff. Salomon nahm eine Strähne ihres roten Haares und zog sie durch die Finger. »Das ist nicht richtig«, sagte er mit zittriger Stimme. »Jemand soll ihr den Kopf rasieren und die Farbe aus dem Gesicht waschen, dann ist sie… perfekt.« Er lachte, als er
den Deckel über ihr schloss und die Lederriemen an beiden Enden fest zusammenband. »So ein jungenhaftes Gesicht, Beinwell. Dieses Kind ist anders, und zwar nicht nur, was ihr Verhalten angeht. Sie war eine gute Wahl, Beinwell, eine gute Wahl.« Beinwell grunzte, als er den Sarg durch den Raum zog und auf einen Fenstersims an der Wand hievte, wo die Sonne ihn nicht erreichte. »Was ist mit dem Jungen?«, wollte er wissen. Er watschelte zu der Glaskuppel und sah zu, wie die Heuschrecke ihr eigenes Bein fraß. »Machen wir mit ihm dasselbe?« »Seinen Geist kann ich nicht manipulieren«, erwiderte Salomon und steckte die Spiegelscherbe in die Tasche. »Er ist viel zu wertvoll, ein Orakel, wie es keines zuvor gegeben hat. Und er gehört mir!« Salomon ging zu dem Eichenthron hinüber und tippte dem Jungen auf die Schulter. »Tersias… Tersias, kannst du mich hören?« Als keine Antwort kam, klopfte er laut an die goldene Krone, die fest auf dem Kopf des Jungen saß. »Es ist Zeit, dass du Onkel Salomon zeigst, was du kannst. Ruf an, welche Mächte du willst, aber erzähl mir keine Lügen.« Tersias blieb stumm, die Augen fest geschlossen und die Lippen ein schmaler Strich. Die Krone presste seinen Kopf zusammen und hatte sich in die Wangen gedrückt. Er hatte alles gehört, was Salomon gesagt hatte, und auch, wie er Tara unter Drogen gesetzt und verwandelt hatte. Er wusste, was kommen würde – nicht weil er über besondere Vorahnungen verfügte, sondern weil er Erfahrung hatte, Erfahrung mit verzweifelten Menschen und ihren Wünschen. Zuerst würde man ihn bitten zu reden, dann kamen die Drohungen und danach die Schläge. So sicher wie dem Tag die Nacht folgte, würde Salomon betteln, drohen und ihn dann zum Reden zwingen, das wusste Tersias. Dieser Mann war nicht anders als die anderen, und gerade die Frommen waren für ihre Grausamkeit bekannt. Beinwell war als Erster bei ihm, packte ihn mit einer Hand am Kragen und zog ihm mit der anderen den Helm ab. Dann drückte er ihm die dicken Finger in die Augen. »Er ist eindeu-
tig blind«, erklärte er, als Tersias vor Schmerz aufschrie. »Wie kann er in die Zukunft sehen, wenn er kein Augenlicht hat?« Salomon rieb sich kichernd die Hände. »Er braucht keine Augen, um zu sehen, Beinwell. Sein Blick ist nicht von dieser Welt. Manche Kreaturen haben Augen, über die wir sehr wenig wissen. Sie sehen in die Zukunft, können sagen, was geschehen wird. Sie hören das Gefasel von Königen und Nationen. Jeder Hof hat seinen eigenen Geist, jede Stadt einen gefallenen Engel. Diese Himmelswesen kennen die Wege der Menschen und bestimmen über unsere Zukunft. Tersias kann sie reden hören, er kann mit ihnen sprechen, und sie erzählen ihm Dinge, für die manche sterben würden.« Salomon schaute sich nervös um. Er zuckte ein paar Mal mit der Schulter, als wolle er ein unsichtbares Wesen verscheuchen, das dort saß. »In diesem Augenblick könnten ganze Legionen solcher Wesen hier sein, uns zuhören und unsere Gedanken in eine bestimmte Richtung lenken. Überlege doch, Beinwell, wir könnten Marionetten in der Hand eines weit mächtigeren Meisters sein. Vielleicht sind die Dinge, die ich mir erträume, nur die eingeflüsterten Gedanken eines Teufels.« Beinwell sah sich um und schüttelte sich. Er schaute Tersias an und dann hinüber zu dem geflochtenen Sarg, rieb sich die Müdigkeit aus dem Gesicht und runzelte frustriert die Stirn. »Warum reden wir nicht selber mit ihnen und machen kurzen Prozess mit dem Jungen?« »Wenn das nur ginge!«, seufzte Salomon und hob Tersias’ Kinn. »Wenn das nur…« Tersias öffnete die Augen und schaute auf. In der Ferne hörte er den Flügelschlag der Teufelsbrut. Sie kam über die Stadt auf den Turm zugeflogen. »Tersias… ich sehe dich«, rief sie leise, als sie über ihm kreiste. »Ich sehe dein Gesicht.« »Sie kommt zu mir«, sagte der Junge unvermutet. »Bindet mich los, sonst sage ich der Teufelsbrut, was Ihr getan habt, und bitte sie, euch das Genick zu brechen.« Beinwell blickte sich unsicher um. Hörte er das Wesen schon auf dem Dach? Salomon sah seine Panik und lachte laut.
»Sag ihr, was du willst, aber wenn mir etwas passiert, wird es Beinwell ein Vergnügen sein, deine Freundin mitsamt ihrem Bett auf die Themse zu setzen… Und ich glaube nicht, dass sie schon bereit ist, in einen Fisch verwandelt zu werden.« »Ich werde der Teufelsbrut alles sagen, was sie von mir wissen will. Aber wenn Ihr dem Mädchen etwas antut, bringe ich Euch mit meinen eigenen Händen um«, sagte Tersias. »Ich glaube, Beinwell, der Junge hat sein Herz an unsere jüngste Anhängerin verloren. Wo die Liebe hinfällt… Aber in diesem Fall wird sie nicht alles besiegen.« Salomon schob die Mantelärmel zurück, band den purpurroten Schal, den er um den Hals trug, los, faltete ihn ordentlich zusammen und steckte ihn in die Tasche. »Liebe – was für eine seltsame Sache. Ich erinnere mich, dass ich als Kind einen Hund liebte. Egal, was ich ihm angetan habe und wie grausam ich zu ihm war, das Tier trug mir meine Überfälle nicht nach. Rückhaltlose, alles verzeihende Liebe. Das passt für Hunde – doch ich halte mich für weit höher entwickelt als so ein Hund.« Salomon schaute Beinwell an. »Halte dich bereit, mein Freund. Falls das Wesen, das uns besucht, irgendeinen Schaden anrichtet, tötest du den Jungen. Wenn er tot ist, wird auch die Bestie verschwinden und uns nichts mehr tun.« In diesem Augenblick glitt die Teufelsbrut unbemerkt in den Raum. Kurze Zeit herrschte vollkommene Stille, als sie Salomon betrachtete, ihm in die Augen sah und ihn von oben bis unten maß. Dann strich sie ihm sanft über das Gesicht. Salomon spürte die Berührung wie eine leichte Brise, konnte den Geist jedoch nicht sehen und schauderte unvermittelt. »Ist sie hier junge?«, fragte er Tersias erwartungsvoll, während er zu der Glaskuppel trat. »Ich bin überall«, antwortete die Teufelsbrut mit ihrer Stimme durch Tersias’ Mund. »Du spielst mit meinem Orakel. Das heißt, dass du entweder ein tapferer Mann bist oder ein Dummkopf.« »Ich bin weder ein Dummkopf noch ein Aufschneider. Ich möchte von dir nur meine Zukunft wissen. Sag mir, was sein
wird, und der Junge ist frei.« Salomon ließ sich nicht einschüchtern. Er stand da, die Faust um die Spiegelscherbe geballt, bereit, dem Jungen die Kehle durchzuschneiden. Sein Blick huschte hierhin und dorthin, in der Hoffnung, etwas von dem Wesen zu sehen. »Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?« »Es ist mehr, als viele Menschen überhaupt zu denken wagen. Warum bist du so versessen auf deine Zukunft? Bist du mit dem Leben, das du führst, nicht zufrieden?« Tersias wand sich in Krämpfen, als die Worte der Teufelsbrut aus seinem Mund kamen. »Dreitausend Jahre lang komme ich nun schon zu deinesgleichen und zeige ihnen den Weg. Deine Sorte ist die schlimmste. Ihr sagt der Welt, ihr seid der Erlöser, bringt sie dazu, euch nachzufolgen, und wenn das, was ihr als Wahrheit verkündet habt, nicht eintritt, stehlt ihr euch weg und versteckt euch, oder ihr vergiftet eure Anhänger. Ihr sagt ihnen, dass der einzige Weg ins Paradies durch den Tod führt. Habe ich nicht recht?« »So ist es mir tatsächlich in den Sinn gekommen. Aber nur du kannst mir sagen, was kommen wird.« Salomon umklammerte die Spiegelscherbe. Sein Herz sagte ihm, dass es besser wäre, dem Leben des Jungen ein Ende zu setzen und das Wesen in die Dunkelheit zurückzuschicken. »Das ist ein schlimmer Gedanke, Salomon«, sagte die Kreatur. Sie strich um ihn herum und zwickte ihn mit ihren Klauenfingern ins Ohr. »Du solltest nicht einmal daran denken, dem Jungen etwas anzutun. Ich brauche ihn noch.« »Dann sage mir, was ich wissen will, und ich lasse ihn in Ruhe«, fuhr Salomon die Teufelsbrut an. Er war wütend, weil diese seine Gedanken lesen konnte. Der Geist betrachtete ihn eingehend, sah das Zucken seiner Augenlider und seines Mundwinkels. Salomon fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Höre gut zu, und halte dich an meine Anweisungen.« Das Wesen sprach langsam, während Tersias sich von einer Seite auf die andere warf. Sein Herz raste, und dicke Schweißperlen
standen auf seiner Stirn. »Komme nie auf die Idee, den Jungen mit deinen Zaubermitteln zu betäuben. Ich werde zu ihm sprechen, wann immer ich will. Und sperre ihn nicht dort ein, wo er nicht gefunden werden kann.« Die Teufelsbrut hielt inne, von der Heuschrecke unter der Glaskuppel abgelenkt. Sie hing nur noch mit einem Bein am Glas, die anderen hatte sie aufgefressen. Da das Wesen schwieg, fragte Salomon voller Angst: »Bist du noch hier? Ich werde alles tun, was du begehrst. Der Junge wird bei mir wohnen, nie mehr die Krone tragen oder in den Kreis gestellt werden. Ich verspreche es, aber bitte sage mir, was sein wird…« Die Teufelsbrut lachte. Ihre Belustigung zeigte sich auf dem Gesicht des Jungen als grinsende Grimasse. »So gefällst du mir, Salomon. Du willst sicher wissen, wie es mit deinem Plan steht und was passiert, wenn du die Heuschrecken freilässt.« Tersias stöhnte, als die Worte leise von seinen Lippen kamen. »Es wird nicht so verlaufen, wie du es dir wünschst. Sag Lord Malpas, dass du den Jungen hast, er sucht nach ihm. Malpas wünscht sich zu herrschen. Er möchte eine Revolution anfuhren, durch die der König aus dem Weg geschafft würde. In ihm findest du einen Begleiter auf deinem Weg. Handle nach meinen Worten, und alles wird so eintreffen, wie du es dir vorstellst.« Die Teufelsbrut stakste durch den Raum und blieb vor dem geflochtenen Sarg stehen. »Wenn du den Freund des Mädchens findest, hast du auch das gefunden, wonach Malpas sucht. Ihr Kamerad hat ein Messer und ein Alabasterkästchen, das er Malpas gestohlen hat. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass diese Dinge rasch gefunden werden. Dies ist mein Begehr. Gib Tersias zu essen, und behandle ihn gut, Salomon. Ich beobachte dich. Jeder Atemzug könnte dein letzter sein.«
16. Die beiden Foscari Jonah erwachte im königlichen Verlies des Fleet-Gefängnisses. Er hatte den ganzen Tag tief und fest durchgeschlafen, und jetzt ärgerte er sich und war schlecht gelaunt. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und beobachtete die Glut in der Feuerstelle. Sie wärmte sein Gesicht, doch aus dem breiten Schornstein fiel kalte Nachtluft, ließ Funken aufsteigen und Rauch und Asche wie kleine Windhosen herumwirbeln. Malachi schlief noch. Sein Kopf schaukelte hin und her, und die Lippen zitterten bei jedem Atemzug, als stieße er stumme Flüche aus. Die Nacht war hereingebrochen, und bald wurde es Zeit, das Verlies zu verlassen und die Flucht anzutreten. Jonah stellte den Kragen seine Gehrocks auf und schlug das Revers nach vorn. Dann rückte er näher an die Flammen und schaute in den gähnenden Schlund des schwarzen Schornsteins hinauf. Hoch oben hörte er eine Glocke schlagen. Fünf Mal schlug sie, dann war es wieder still. Ein kalter Windstoß ließ eine Ladung Ruß herabrieseln. Wie schwarzer Schnee fiel er auf die Glut. Jonah holte tief Luft. Der Rußgeruch erinnerte ihn an seine Kindheit. Der Kaminfegerjunge mit seiner Dachshaarbürste fiel ihm ein, dessen ersticktes Husten durch den Schornstein in sein Zimmer gedrungen war. Der Meister hatte ständig »Steig höher! Bürste schneller!«, gerufen, während schwarzer Staub in dicken Klumpen herunterfiel und auf die schmutzige Decke prasselte, die mit einer langen schwarzen Bürste an die Brüstung geklemmt worden war. Dann tauchte der Junge, schwarz und keuchend, unter der Decke auf, sein Herr bürstete ihn kurz ab, wickelte ihn in die alte Decke und trug ihn aus dem Haus, und kein Stäubchen fiel auf den Fußboden.
Malachi regte sich, als die Kälte seine Beine heraufstieg. Er öffnete ein verklebtes Auge und fragte unter Zähneklappern: »Du bist immer noch da? Ich dachte, du wärst längst weg und hättest den alten Malachi seinem Schicksal überlassen. Soll er doch allein baumeln.« Jonah nahm die Hände des alten Mannes zwischen seine und rieb sie, damit sie warm wurden. »Ich habe versprochen, dass ich nur zusammen mit Euch von hier weggehe.« Er blies seinen warmen Atem auf die Hände. »Ich habe gesagt, dass wir abhauen, und das machen wir auch. Ich habe einen Plan. Wenn sie uns holen kommen, wird es so aussehen, als seien wir spurlos verschwunden.« »Dann sollten wir uns vielleicht beeilen. Ich glaube nicht, dass Skullet uns hier noch lange unbeaufsichtigt lässt. Gespenster hin oder her, sie werden kommen und uns in Ketten legen, bevor die Nacht um ist. Er wird zum Frühstück die Vorzüge von Mrs Deverot genießen, und wenn er genug an ihr herumgeknabbert hat, wird er sich wieder auf uns besinnen.« »Dann machen wir uns auf den Weg«, sagte Jonah, stand auf und stellte die abgeschlagenen Tischbeine an die Rückseite des Kamins, weit genug von der Glut entfernt, damit sie kein Feuer fingen. Malachi schaute neugierig zu, wie Jonah emsig hin- und herging, Bretter in der Mitte durchbrach und zu einem immer höheren Turm aufschichtete. »Darf ich fragen, was du da machst?«, erkundigte er sich schließlich. Er stand mühsam auf und reckte sich. »Nein«, erwiderte der Junge. »Willst du das Gefängnis niederbrennen, und wir marschieren davon wie zwei dicke Phönixe aus der Asche?« »Nein.« Jonah ließ sich nicht ablenken. »Dann graben wir uns einen Weg hier heraus, und du bereitest schon einmal das Freudenfeuer vor?« »Nein.« Jonah lächelte. »Aber Ihr werdet es bald wissen.« Er holte sich einen blauen Fleck, als er das Holz jetzt an den Seitenwänden der Feuerstelle aufstapelte. »Heute Nacht, Malachi, werden wir über die Dächer fliehen.«
»Du meinst, ich soll da hinaufklettern?«, fragte Malachi ungläubig und schaute auf seine Hände. Sie waren abgearbeitet und wirkten zerbrechlich. »Wenn Ihr fliegen könntet, wäre das noch eine Möglichkeit. Es gibt nur einen Ausweg, und der führt durch den Schornstein. Von dort geht es aufs Dach und hinaus in die Nacht. Skullet wird uns nicht finden, und wir sind frei.« »Ich kann nicht.« Abrupt wandte Malachi sich ab. »Ihr könnt nicht aufgeben, bevor Ihr es versucht habt«, fuhr Jonah ihn an. »Ich bin noch jung, und der Gedanke, dass sie mir den Hals lang ziehen, schmeckt mir gar nicht. Ihr kommt mit, und wir fliehen zusammen. Ich kann Euch doch nicht hier lassen.«Jonah packte den Mann an seinem Mantel und zog ihn zu sich her. »Was wollt Ihr? Hier bleiben und sterben?« »Du verstehst das nicht. Wenn es irgendeinen anderen Ausweg gäbe, wäre ich dabei, aber das ist zu viel verlangt.« »Es gibt keinen anderen Ausweg. Kennt Ihr einen Zauberspruch, der die Mauern schmelzen lässt? Einen, der die Schlösser aufbricht und die Wachen blendet? Sprecht ihn, Malachi – und wenn es ihn nicht gibt, dann folgt mir!«, rief Jonah. »Da hinaufzuklettern ist ganz einfach. Alle Schornsteine sind gleich. Es ist, als würdet Ihr die Treppe zur Kathedrale hinaufsteigen, und das kann schließlich jeder.« »Es ist nicht das Hinaufklettern an sich, sondern die Enge, die Dunkelheit, die Wände, die erdrücken. Davor furchte ich mich mehr als vor dem Strang.« Jonah lachte. »Ihr würdet lieber sterben, als ins Dunkle zu gehen?« Er hob ein Brett vom Boden auf. »Ich werde Euer Licht sein, immer einen Schritt voraus. Kein Stein wird auf Euch fallen.« »Du kannst das nicht verstehen.« Im schwachen Aufflackern des Feuers sah Jonah, wie sich Malachis Gesicht ängstlich verzog. »Ich kann den Schornstein nicht hinaufklettern… Meine Angst, dass mein Kopf explodiert, wäre zu groß. Und es ist nicht nur die Dunkelheit, es ist auch die unendliche Höhe. Ich
kann zum Glück sagen, dass meine Füße den Boden noch nie verlassen haben. Ich würde nicht einmal einen Luftsprung machen oder hüpfen aus Angst vor der Höhe.« »Angst ist ein Gefängnis, in dem du ein Leben lang eingesperrt bleibst. Nur die Hoffnung kann dich daraus befreien – das hat mein Onkel Shank immer gesagt.« »Und wie ist es ihm ergangen?« Malachi trat an die Tür und schaute hinaus auf den dunklen Gang. »Er war Zirkusartist, ein Seiltänzer, der den Himmel auf dem Hochseil von einem Gebäude zum nächsten durchschritt. Er war ein Mann ohne Angst…« »Und?«, unterbrach Malachi ihn. »Onkel Shank trat beim Maimarkt auf. Er spannte ein Seil vom Dach von Mr Hatchards Buchladen über Piccadilly, ging ein paar Schritte und… stürzte zu Tode.« Jonah seufzte, als ihm aufging, wie dumm das, was er gerade erzählt hatte, klang. »Aber er hat sich vor nichts gefürchtet, auch nicht vor seinem letzten Schritt, und so solltet Ihr es auch halten. Ich dachte, Magnus Malachi sei ein mächtiger Magier und kein jämmerlicher Feigling.« »Ein Magier bin ich, aber auch ein Feigling.« Malachi zupfte nervös an seinem Bart. »Einmal habe ich einen Flugzauber gewirkt und gehofft, dass ich von dem Tag an über die Stadt fliegen und die ganze Welt in Staunen versetzen könnte. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr fürchtete ich mich vor dem, was passieren könnte. Wie würde ich nach einer solchen Großtat wieder auf die Erde zurückkommen? Was würde mit mir passieren, wenn ich für immer in der Luft bleiben müsste?« Malachi umklammerte den Türgriff, als könnte er sich so an die Erde binden. »Ich dachte, die Geister, die ich versucht hatte zu rufen, würden jeden Augenblick kommen, mich in die Luft entführen und nicht mehr gehen lassen. Deshalb bleibe ich mit beiden Beinen lieber fest auf dem Boden. In vollkommener Dunkelheit nach oben zu klettern ist nichts für den alten Malachi.« »Dann gehe ich allein«, sagte Jonah, trat zwischen die ver-
glühende Asche in die Feuerstelle und schaute in den Schornstein. Malachi kam herübergelaufen. »Du wirst dich verbrennen, Junge. Die Mauern sind doch glühend heiß.« »Da, wo Ihr und ich enden werden, ist es noch heißer, denn ich habe keine Zeit zur Wiedergutmachung«, rief der Junge, zog die Ärmel seines Rockes über die Hände und suchte nach dem ersten Stein, an dem er sich hochziehen konnte. Er spürte einen plötzlichen, stechenden Schmerz in der Wunde in seinem Arm, der ihm Schweißperlen auf die Stirn trieb. »Kommt, Malachi, folgt mir. Wir entkommen diesem Ort und Skullet. Wenn nicht um meinetwillen, dann tut es für Tersias. Ich weiß, dass Ihr ihn von Herzen vermisst, und ich fürchte, er braucht Euch jetzt, wo er Salomon in die Hände gefallen ist, umso mehr.« Malachi schaute sich um, suchte nach etwas, das ihm die Zukunft offenbaren konnte. In seiner Aufregung trat er von einem Fuß auf den anderen, hin und her gerissen zwischen seiner Angst vor dem Schornstein und der vor dem Strick des Henkers. »Jonah, lass einen alten Mann in diesem Elend nicht allein!«, jammerte er. »Dann folgt mir, und ich helfe Euch beim Klettern. Ich verspreche Euch, dass Eure Füße immer Halt finden. Hier sind mehr Stufen als im Tower von London.« Jonah hatte Halt für Hand und Fuß gefunden und zog sich hoch. Bald hatte er den ersten Sims erreicht. Jahrzehntealter Ruß lag darauf und wurde aufgewirbelt, als er sich aufrichtete und hinunterschaute auf das schwelende Feuer im Kamin. Von unten sah Malachi wie eine große, bärtige Eule zu ihm herauf. »Wo finde ich Halt?«, wisperte er und streckte die Hand halbherzig nach einem losen Stein aus. »Höher, Malachi, und weiter rechts. Seht Ihr, wie die Steine einer nach dem anderen aus der Wand ragen? Ihr braucht nur Eure Füße daraufzusetzen.« Malachi blickte wieder nach oben. Im Dämmerlicht war eine Himmelsleiter aus vorstehenden Steinen zu erkennen, die
sich den Schornstein hinaufwand. Er sah die dunkle, geisterhafte Gestalt Jonahs, umgeben von Rußschleiern, die von der aufwärts strömenden Luft mitgezogen wurden. »Bete für mich, Junge. Meine Kehle brennt schon wie die Holzkohle da unten, und mein Herz schlägt so laut, dass ich nichts anderes mehr höre.« Malachi erreichte den ersten Sims, während Jonah bereits weiterkletterte. Die Trittsteine wurden größer, je höher sie stiegen. Bald waren sie zwei Handspannen breit. Es waren flache Steine, zehn Zentimeter dick und tief in die Wand eingelassen. Malachis Bart war mit einer dicken Rußschicht bedeckt. Um ihn herum waberte Rauch, der ihn im Hals kratzte. Während er kletterte, kniff er die Augen fest zu, tastete sich blind vorwärts und sagte sich, dass er nichts zu befürchten habe. Er murmelte vor sich hin, versuchte, sich an die Worte eines alten Schutzzaubers zu erinnern, der ihn vor der erdrückenden Dunkelheit und der sengenden Hitze, die ihn verfolgte, bewahren würde. Von weiter oben trieb Jonahs Flüstern ihn an. Malachi hob den Kopf und öffnete die Augen. Er sah einen schwachen Lichtschein in der Mauer. Jonah war auf einem Sims stehen geblieben und machte ihm ein Zeichen, still zu sein. Malachi hievte sich ebenfalls auf den Sims und schaute in den Abzugsschacht einer leeren Feuerstelle. Sein vom Ruß geschwärztes Gesicht leuchtete in dem schwachen Licht, das durch den Rauchfang drang. Man hörte Männerstimmen, die sich gegenseitig an Lautstärke zu übertrumpfen versuchten. Eine verächtliche Stimme übertönte die anderen und ließ Jonah aufhorchen. »Miliz«, flüsterte er Malachi ins Ohr. »Wir sind auf Hofebene.« »Hört ihr das?«, fragte eine besorgte Stimme aus dem Raum. »Was?«, eine andere. »Jemand hat geflüstert, direkt neben mir.« »Und was hat er gesagt?« Ein Bleikrug wurde durchs Zim-
mer geworfen, und das Geräusch hallte im Schornstein wider. »Du hast zu viel getrunken. Gleich erzählst du uns noch, dass du den Geist des Trommelknaben siehst, von dem der junge Ketch erzählt hat.« »Ich habe jemand flüstern hören, wenn ich es euch sage. Mich kriegt ihr nicht mehr in das Verlies – geht ihr, ich bleibe hier. Er ist hinter mir her.« Die Männer schwiegen, als plötzlich eine Tür aufgestoßen wurde und mit lauten Knall gegen die Wand krachte. Jonah und Malachi hörten Skullets Stimme. »Hauptmann!«, rief er, wobei seine Stimme etwas gedämpft durch den Kamin drang. »Nehmt Eure Männer, und bringt die Gefangenen auf den Hof. Sie werden ins Haus Vamana gebracht. Lord Malpas hat die Verhandlung auf Mitternacht im großen Saal festgesetzt. Er hat den altersschwachen Richter Dobson herschaffen lassen – ein Gentleman, der tausendmal lieber andere richtet als sich selbst. Es ist bekannt, dass selbst der Schöpfer mehr Mitleid mit einer armen Seele hat als der Ehrenwerte Dobson.« Skullet lachte laut. »Wenn er die beiden für schuldig befindet, werden sie morgen früh hingerichtet.« Jonah hörte das Zögern in Skullets Stimme, so als würde ihm etwas zugeflüstert. Dann wurde die Tür zugeschlagen, nur um sofort wieder geöffnet zu werden. Männer schoben Stühle zurück und liefen säbelrasselnd hinaus. Keiner wollte der Letzte sein. »Jetzt laufen sie hinunter. Bald werden sie wissen, dass wir verschwunden sind«, sagte Malachi. »Die Miliz wird sich denken, dass wir nur übers Dach entkommen sein können. Sie fangen uns wieder ein, und dann sind wir dran.« Er umklammerte den Stein über dem Sims und schaute hinunter auf den schwachen Lichtschein. Jonah antwortete nicht. Er zog an einem Stein über seinem Kopf. Der löste sich aus der Wand und mit ihm eine gewaltige Staubwolke, Spinnweben und jede Menge Spinnen, die in alle Richtungen davonhuschten. Jonah ließ den Stein fallen. Er
krachte in die von ihm so sorgfältig aufgestapelten morschen Bretter, die nacheinander ins glimmende Feuer fielen und bald lichterloh brannten. Heißer Rauch schlug Jonah und Malachi entgegen. »Das hält sie uns eine Zeit lang vom Leib«, sagte Jonah und gab Malachi ein Zeichen, ihm weiter hinauf zu folgen. »Schnell! Wenn das Feuer größer wird, bleibt uns bald keine Luft zum Atmen mehr. Wir können nur hoffen, dass wir oben sind, bevor wir wie Heringe geräuchert werden.« Der Gedanke, im Schornstein zu sterben und von dem dichten Rauch, der ihm immer stärker in der Kehle brannte, langsam gedörrt zu werden, versetzte Malachi in Panik. »Ich hoffe… du weißt… was du tust, Jonah«, hustete er. Auch seine Augen brannten von dem Rauch. Hand über Hand kletterten sie weiter, hinauf zu den Sternen und der Öffnung über ihren Köpfen. »Ich kann nicht mehr.« Malachi hatte das Gefühl, von den Mauern erdrückt zu werden. Sie erschienen ihm wie die Wangen einer riesigen Falle. »Siehst du die Sterne?«, rief Jonah. »Dort oben ist die Freiheit!« »Ich habe mein ganzes Leben lang zu den Sternen hinaufgeschaut, und sie haben mich immer belogen und mich um alles gebracht, was ich hatte. Was sollen sie mir jetzt noch Gutes tun?«, fragte Malachi, als eine dicke schwefelgelbe Wolke sie einhüllte. Eine Minute später hatten sie einen breiten Sims erreicht, der über zwei Seiten des Schornsteins lief wie ein kleiner Balkon. Er war übersät mit toten Krähen. Die roten Würmer, die auf ihnen herumkrochen, schienen im Licht der Sterne zu leuchten. »Noch einen Meter bis zur Freiheit!«, rief Jonah mit einer Stimme, die Tote hätte aufwecken können. Die Worte fielen den Schornstein hinunter und in die Feuerstelle, genau in dem Moment, als Skullet und die Miliz in das Verlies stürmten. »Sucht sie!«, brüllte Skullet. Sein Befehl zog mit dem
Rauch den Schornstein hinauf, als seine Männer das Verlies nach irgendeiner Spur der beiden Flüchtenden durchsuchten. »Sie können nicht weit sein. Mrs Deverot hat mir versichert, dass niemand von hier entkommen kann. Es gibt nur einen Weg hinaus…«In dem Moment registrierte er das Feuer, und die Erkenntnis formte sich in seinem Kopf. »Sie sind durch den Kamin geflüchtet!«, rief er. Dann wies er auf den Hauptmann der Wache. »Ihr bleibt hier. Der Rest geht hinauf aufs Dach. Und wehe, sie entkommen! Dann werden zwei von euch ihre Plätze am Galgen einnehmen!« Die Milizionäre mitsamt ihrem Hauptmann rannten hinaus, sodass Skullet allein zurückblieb. »Kommt zurück!«, rief er, doch ihre Schritte entfernten sich den Gang entlang, die dunklen Treppenhäuser hinauf und hinaus in die sternenhelle Nacht. »Ich will, dass einer von euch hier bleibt! Was ist, wenn sie zurückkommen?« Doch Skullet merkte, dass die Männer ihn nicht hören wollten und keiner seinem Befehl Folge leisten würde. Er schaute wieder zum Feuer hinüber, und ein finsterer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Spanferkel«, murmelte er vor sich hin und sammelte rasch die übrig gebliebenen Bretter und Stuhlbeine zusammen und warf sie ins Feuer. »Dem Galgen könnt ihr vielleicht entkommen, aber dem hier nicht«, rief er den Schornstein hinauf, und er war sicher, dass seine Worte oben gehört würden. Jonah schaute hinauf zu den vier engen Schloten, die den Schornsteinaufsatz umgaben. »Hier müssen wir raus«, sagte er. »Reicht der Platz zum Hinausklettern?«, fragte Malachi. Immer dichtere Rauchwolken hüllten sie ein. »Ich halte es keinen Augenblick länger aus. Wenn der Rauch mich nicht umbringt, zerquetschen die Mauern meine Seele.« Jonah hangelte sich von dem Sims hinauf zum Schornsteinaufsatz. Er hielt die Luft an, kroch durch die Öffnung und zwängte sich durch einen der Schlote hinaus. Unten auf dem Gefängnishof sah er die Miliz herumrennen und nach einem
Weg auf das Dach suchen. Der Lärm hatte Mrs Deverot aufgeweckt, die beim Tor herumwuselte, zu Jonah hinaufsah, Flüche brüllte und sich die Hände an der Schürze abwischte. Jonah zerrte wie wild an einem der Schlote. Er hoffte, ihn herausreißen zu können, da Malachi sich nie durch die schmale Öffnung zwängen konnte. Der knochentrockene Zement bröselte, der dicke, hart gebrannte Schlot zerschellte auf dem Dach, rollte hinunter und regnete als rote Tonsplitter auf die Milizionäre herab. Ihre Schreie waren weit über die Stadt hin zu hören. Mrs Deverot erfüllte ihre Pflicht als Gefängnisvorsteherin, indem sie heftig die Gefängnisglocke läutete, um der Welt die Flucht der Insassen bekannt zu geben. Jonah lachte, als er sah, dass sie an dem Seil hing wie eine dicke Taube, die man an den Füßen aufgehängt hatte. Ihre Schreie weckten die übrigen Gefängnisinsassen. Sie krochen aus ihren verlausten Betten und schauten zu, wie die Frau am Glockenseil auf und ab schwang und sich nicht traute, es loszulassen. Als er Malachis ersticktes Husten hörte, packte Jonah den nächsten Schlot, dann einen weiteren und riss sie mit bloßen Händen aus ihrer Verankerung. Er ließ sie in den Hof krachen, ohne sich darum zu kümmern, auf wen sie herunterregneten. Da hörte er plötzlich ein Klappern, als eine Leiter an das Dach gelehnt wurde. Die Miliz konnte jeden Moment auftauchen. Mit einer Hand griff er in den Kamin. »Schnell, Malachi, nehmt meine Hand, ich ziehe Euch heraus!« Gleichzeitig versuchte er, mit der anderen Hand weitere Steine und Zement wegzuschieben, um die Öffnung für den Magier noch größer zu machen. »Wenn Eure Dämonen Euch doch hören und über das Dach tragen könnten«, sagte er. Malachi griff hustend nach Jonahs Hand und hievte sich zum Licht der Sterne. Jonah half nach, indem er zog, und endlich war Malachi an der frischen Luft. Er hatte das Gefühl zu ersticken, als die kalte Nachtluft in seine Lunge drang.
»Lauf, Jonah«, keuchte er atemlos. Von seinem Bart stieg Qualm auf wie von einem müden alten Drachen. »Ich kann nicht mehr… weiter… Es ist vorbei.« »Ihr müsst!«, rief Jonah über das Kreischen von Mrs Deverot hinweg, über das Scheppern der Gefängnisglocke und über die Rufe der Milizionäre auf der Leiter. »Ich gehe ohne Euch nicht weg.« »Das wirst du aber müssen. Meine Maßlosigkeit ist mein Verderben. Ich stecke in dem Eisenring, der den Schlot umgibt, wie eine Ratte in der Falle und kann weder vor noch zurück.« Der Magier ergab sich seinem Schicksal. Er zog den Beutel mit seinen Zauberutensilien aus dem Mantel. »Hier, nimm das. Es ist das Einzige von Wert, das ich besitze. Es soll dir gehören. Du kannst im Stall wohnen, kümmere dich um den Jungen, und vergiss diese Nacht.« Malachi kramte in dem Beutel, fand aber nicht, was er suchte. »Er ist weg… ich muss ihn…« »Nein, Malachi. Als Ihr geschlafen habt, habe ich Euch um den Ring erleichtert und dafür schäme ich mich. Aber die Sterne sind meine Zeugen: Ich komme zurück und befreie Euch. Lord Malpas wird seinen Willen nicht bekommen.« »Dann lauf wie der Teufel. Lass Magnus Malachi hier… Dies ist ein guter Ort, um Adieu zu sagen.« »Nicht Adieu, sondern bis zum Morgen«, erwiderte Jonah. »Ich komme zurück und bringe Freunde mit.« Rasch lief er über die roten Ziegel auf dem First und verschwand in der Dunkelheit, als der erste Milizionär vorsichtig über den Rand des Daches schaute.
17. Stabat Mater – Schmerzensmutter Der hohe Turm der Zitadelle stemmte sich gegen die steife Brise, die von Westen her blies und den Gestank der Straße bis nach oben trug. Salomon stand mit erhobenen Händen vor dem schmalen Fensterbogen und flüsterte mit geschlossenen Augen vor sich hin. Der geflochtene Sarg war in die Mitte des Raumes gezerrt und auf eine aus groben Brettern zusammengezimmerte Bank neben das Fass mit der Glaskuppel gestellt worden. Eine rote Kerze auf einem hohen Kerzenhalter erhellte den Raum, tauchte die gekalkten Wände in ein weiches bernsteinfarbenes Licht und die Decke in ein ganzes Spektrum von Farben, die aus der gläsernen Kuppel heraufleuchteten. Die Heuschrecke war verschwunden. Außer einem Sporn von einem ihrer Beine, der in einer winzigen Rille im Glas klemmte, war nichts mehr von ihr übrig. Die Kreatur hatte sich bis auf diesen Rest selbst aufgefressen. Der kunstvoll geflochtene Sargdeckel war zur Seite gelegt worden. Im Sarg selbst lag Tara, reglos, das Gesicht weiß von Bleipuder, die Haare abrasiert und die Lippen frisch mit RoteBete-Saft angemalt. Ihr Kopf war fest mit purpurfarbenen Stoffstreifen umwickelt. Sie lächelte, und aus ihrem Mund lief ein rot gefärbter Speichelfaden, als hätte sie rohes Fleisch gegessen. Der Raum war voller Jünger, die alle das Mädchen sehen wollten und sich gegenseitig wegdrängten. Sowohl Männer als auch Frauen trugen Jacken und Hosen aus demselben groben Stoff. Die weiten Kleider und geschorenen Köpfe nahmen ihnen jegliche Spur von Individualität. Beinwell stand in einer dunklen Ecke. Er ließ die Fingerknöchel knacken und redete im Flüsterton auf Tersias ein. Der Junge gab keine Antwort.
Seine Hände waren an die Lehnen des Eichenthrons gefesselt, die Krone saß als Garant für sein Wohlverhalten fest auf seinem Kopf. Sein Gesicht zeigte tiefe Kratzer, und die geschwollenen Wangen wiesen Spuren von Salomons schwerem Goldring auf. Die Fesseln an seinen Handgelenken schnitten so tief ins Fleisch, dass es blutete. Während Beinwell darauf wartete, dass sein Herr und Meister etwas sagte, redete er selbst weiter auf Tersias ein. »Es wird mir ein Vergnügen sein, Junge, ein großes Vergnügen, dir deine blinden Augen auszureißen und dich vom Leben in den Tod zu befördern, wenn du dich uns nicht anschließt.« Salomon drehte sich, machte einen Schritt vom Fenster weg in den Raum hinein und ließ sich auf die Knie fallen. Wie ein Jahrmarktzauberer brachte er ein goldenen Fläschchen zum Vorschein, das geformt war wie eine dicke Schlange mit Augen aus Edelsteinen. Er schraubte den Deckel ab und hielt es den Umstehenden hin. »Scaramutz… Scaramutz«, murmelte er. »Das Mädchen ist tot. Drei Tage liegt sie in diesem Sarg, umgeben vom Schleier des Verfalls. Doch ich, Salomon, kann sie ins Leben zurückführen. Erinnert euch: Ich habe euch alle gerettet, habe euch von der Straße aufgelesen und euch neues Leben geschenkt, wie ich es diesem Mädchen schenken will.« Seine Stimme überschlug sich, und er zitterte vor Erregung. »Jetzt ist es so weit.« Seine Jünger traten zurück, als er sich erhob und sich ihnen zuwandte. Er schaute jeden einzelnen an, betrachtete ihre gefurchten Gesichter und versuchte, den Grad ihrer Ergebenheit zu ergründen, während er sie mit glänzenden Augen an frühere Gunsterweisungen erinnerte. Es war, als suche er nach einer verborgenen Übereinstimmung ihrer Wünsche, als er so mit dem Schlangenbehältnis über den Sarg gebeugt dastand. Er ließ mehrere dicke Tropfen auf Taras Lippen fallen und rieb sie dann mit den Fingerspitzen in ihre trockene, gepuderte Haut. »Wie im Leben, so im Tod«, sagte er in freudiger Erwar-
tung dessen, was kommen würde. Jedes Wort einzeln betonend fuhr er fort: »Kind des Todes – sterbend wusstest du um das Zukünftige –, ich entlasse dich aus deinem alten Leben.« Ein Blitz zuckte auf, und eine blaue Flamme tanzte über Taras porzellanweißer Haut. Mehrere Anhänger zogen scharf die Luft ein, als das genaue Abbild vom Gesicht des Mädchens aus dem Sarg zu springen schien und vor Ihren Augen in der Luft schwebte. »Seht ihr – das Leben kehrt zurück. Mein Geschenk an das Mädchen, ein Geschenk, das ich jedem von euch gemacht habe.« Salomon machte eine theatralische Pause, und eine falsche Träne rollte über sein Gesicht. Schluchzend sprach er weiter, und die Worte schienen aus der Tiefe seines Herzens zu kommen: »Lebe… Kind!« Seine Jünger nahmen die Worte auf: »Erhebe dich und lebe!« Tara hustete, als der Trank sie aus ihrer Trance holte, wieder Wärme und Leben durch ihren Körper fließen ließ und den Schleier aus Dunkelheit und Schlaf lüftete. »Erhebe dich zu neuem Leben, Kind! Steige aus deinem Grab, und lass den lebendigen Tod hinter dir.« Lächelnd hob Salomon ihren Kopf von dem weichen purpurfarbenen Kissen. Tara öffnete die Augen und sah die vielen Menschen, die um sie herumstanden. Eine leise Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie nicht wirklich tot gewesen war. Ihre Augenlider flackerten, als sie ins Licht sah. Sie versuchte zu begreifen, was es mit den vielen mitfühlenden Blicken, die auf sie gerichtet waren, auf sich hatte. Ein von der Syphilis gezeichnetes Mädchen in ihrem Alter lächelte sie an. Auf ihrem geschorenen Kopf saß eine purpurfarbene Mütze, die sie über das von Ratten zerfressene rechte Ohr gezogen hatte. Es war Tara, als löste sich das Lächeln des Mädchens von ihrem Gesicht, flöge durch den Raum und landete auf ihr, um sie mit purer Freude zu erfüllen. Tara erkannte, dass die Liebe, welche die vielen Gesichter um sie herum ausstrahlten, die Dimension eines persönlichen
Gefühls verlassen hatte und zu einer greifbaren Gegenwart geworden war, die Gestalt und Farbe besaß und vollkommen wirklich war. Selbst Gedanken hatten Form und Ausdruck und kamen ihr als dicke Mauer entgegen. Es war, als hätte sich während ihres Schlafes in ihrem Kopf etwas verändert, als sei sie auf eine höhere Ebene des Verstehens gehoben worden, wo Gefühle Gestalt annehmen und für sich selbst sprechen konnten. Salomon nickte langsam, als wüsste er, was sie dachte, und als teilte er diese wunderbare Erfahrung. »Das ist Leben«, flüsterte er ihr zu, und sie sah, wie sich die Worte auf seinen Lippen in Schwalben verwandelten und direkt in ihr Herz flogen. Für Tara klang seine Stimme wie die eines Vaters, liebevoll und kräftig, warm und wunderbar. »Ja«, wiederholte sie, »das ist das Leben.« Der Prophet ergriff Taras Hand und half ihr beim Aufrichten. Beinwell trat an den Sarg, legte seine riesigen Hände um ihre Taille, hob sie mühelos hoch und stellt sie auf die Steinplatten. »Heute habt ihr mit eigenen Augen ein weiteres Wunder gesehen. Glaubt an Salomon! Ich bin der Einzige, der solche Wunder wirken kann. Viele weitere werden zu dieser Zitadelle kommen, um sich aus den Fesseln des Lebens befreien zu lassen.« Er nahm Tara am Arm und führte sie zu dem Fenster, das auf die Stadt zeigte. Sie sah die St.-Pauls-Kathedrale mit der eingebrochenen Kuppel und die Lichter in den Häusern darum herum. Am Himmel zeichnete sich ein schmaler Neumond rasiermesserscharf zwischen den Wolken ab. Der Horizont wurde von dem verglimmenden Feuer über Hampstead erleuchtet. Salomon hielt sich die Hände wie einen Trichter vor den Mund und flüsterte ihr etwas ins Ohr, wobei er nach jedem Satz innehielt und einen Blick auf seine Anhänger warf. Während er redete und sie auf die Straßen hinuntersah, strich er ihr über das Haar. Ein Hund hob das Bein an der Laterne vor dem
Wirtshaus in der Duke Street und lief dann wieder in die Dunkelheit hinein. Alles war ruhig und still, ein Spiegelbild von Taras Herzen. Ohne sich absprechen zu müssen, wandten sich Tara und Salomon gleichzeitig zu den Jüngern um. Salomon strahlte, rieb sich die Hände und ließ vergnügt die Schultern wackeln. »An dem Tag, an dem wir uns ganz in den Schutz der Zitadelle begeben, bekommen wir eine Aufgabe zugeteilt. Ihr alle habt diesen Ort noch einmal verlassen, seid in den Sumpf der Stadt zurückgekehrt und habt ein Geschenk von dort mitgebracht. Tara ist keine Ausnahme – auch sie muss uns verlassen und hinausgehen. Sie kennt ihre Aufgabe und darf mich nicht enttäuschen.« Salomon schaute das Mädchen an und gab ihr einen leichten Schubs als Zeichen dafür, dass sie nun gehen müsse, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Tara blickte sich unsicher um. Sie schaute zu Beinwell hinüber, der sie zum ersten Mal anlächelte. Sein Gesicht wirkte weich und warm. Sie sah nicht mehr seine Furcht einflößenden Augen und die gefurchte Stirn. Verschwunden waren das hämische Grinsen und der drohende Blick, der ihr das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Ohne zu überlegen, lächelte sie zurück. Als ihre Blicke sich trafen, legte der Riese eine Hand über sein Gesicht, damit niemand sehen sollte, wie er rot wurde. »Verlasse uns jetzt«, sagte Salomon freundlich und wischte sich noch einmal eine falsche Träne vom Gesicht. »Die Tür der Zitadelle steht offen – die Straße wartet, und du weißt, was deine Aufgabe ist. Beeile dich, und komm schnell zurück… mein Geist wird dich begleiten.« Er nickte Beinwell zu, damit dieser ihr in einiger Entfernung folgte. »Ich gebe dir etwas mit auf den Weg, es mag dir bei der Erfüllung meines Wunsches helfen.« Salomon streckte die leeren Hände aus, und nach einer kaum merklichen Bewegung im Handgelenk seines linken Arms lag plötzlich wie aus dem Nichts ein kleines silbernes Ei in seiner Hand. Es war mit Goldfäden umwickelt und wurde in
der Mitte von einem Bronzering umschlossen. Je länger Tara es anschaute, desto deutlicher sah sie die tiefen, schmalen Einschnitte, welche die Oberfläche überzogen wie tausend kleine Furchen. Da drehte Salomon die linke Hand zweimal um, und eine dunkle Wolke schoss aus seinen Fingern und stand vor ihr wie ein Engel. In Salomons Hand lag ein kleiner silberner Stab, auch er wie das Ei mit feinsten Goldfäden überzogen. Er drückte ihr die beiden Gegenstände in die Hand. »Nimm sie mit auf deinen Weg. Dein Geist ist bereit, du wirst wissen, was du mit ihnen zu tun hast.« Tara war es, als fahre der Ostwind in ihre Brust. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug und ihr ganzer Körper zu kribbeln begann. Ihre Kehle wurde trocken wie Wüstensand, und sie hatte plötzlich das Bedürfnis zu rennen. Ihre Füße berührten kaum den Boden, als sie aus dem Zimmer stürzte, die Wendeltreppe hinunterlief und durch die Hallen und Gänge der Zitadelle zu der zweiflügligen schwarzen Eingangstür. Kein Gedanke an Jonah, Tersias und Maggot. In ihrer Benommenheit sah sie nur noch Salomon vor sich, in dessen Augen Tränen glitzerten. Als Folge ihrer Verwandlung war alles um sie herum erfüllt von Hoffnung und Freude. Die Wände des Flurs verkündeten laut ihr Erscheinen, als sie über den kühlen Marmor lief. Sie rannte schneller, holte keuchend Atem und bekam eine erste Ahnung von der kalten Nachtluft. Ihr war, als befände sie sich im Bauch eines riesigen Wals, der sie leise grollend an ein fremdes Ufer spie. Sie hatte keinerlei Zweifel. Ihre Gedanken waren vollkommen klar, deutlich sah sie jedes Bild vor Augen. Verschwunden waren die Sorgen und Ängste des täglichen Lebens, verschwunden die sinnlosen Spiele, die sie mit sich selbst spielte, die lähmenden Selbstzweifel und die Angst, dass man hinter ihr Geheimnis kommen könnte. Nichts war mehr von Bedeutung. Während sie in ihrem Schlaf gefangen war, hatte sich ihr ganzer Kummer aufgelöst. Sie war frei. Tara lief den Gang entlang, der zu der Galerie führte, auf welcher der Chor gestanden und sein Willkommenslied gesun-
gen hatte. Die Kerzen brannten heller, ihre Flammen schienen nur für sie zu tanzen und zu flackern, und die Wände reflektierten das Licht wie das der Sonne. Die Steine unter ihren Füßen glänzten und schienen sie hinauszuschicken in die Nacht. Mit jedem Schritt saugten ihre Augen die überirdische Schönheit des Ortes auf. Winzige Einzelheiten fielen ihr auf: die Verzierungen auf den mit Gold überzogenen Türschlössern und den silbernen Beschlägen sämtlicher Türen, an denen sie vorbeikam. Sie befand sich an einem Ort, dessen Schönheit über alle Vorstellung hinausging, und sie wusste, dass er jetzt ihr Zuhause war und ihre Zuflucht, zu der sie zurückkehren würde. Und während sie die unendlich reich ausgeschmückte Decke und den im Schachbrettmuster ausgelegten Fußboden betrachtete, erinnerte sie jeder Stein an Salomon. Er erschien vor ihrem geistigen Auge: klein, schmal mit tiefblauen Augen, die alles über sie wussten und alles verstanden. Mit jedem Schritt machte ihr Herz einen Sprung, wenn sie an die Möglichkeiten ihres neuen Lebens dachte. Und dann sah sie ein Gesicht im schwarzen Schatten, den die Tür warf, das Gesicht des kleinen Jungen, der ihr seine brennende Kerze angeboten hatte, als er im Chor auf der Galerie sang. Mit einer Hand umklammerte er den Türgriff, die andere hatte er tief in der Tasche seiner zu großen purpurnen Jacke vergraben. Er schaute zu ihr auf, als sie abrupt vor ihm stehen blieb. Es war etwas in seinem Gesicht, das ihr vertraut schien; die Augen erinnerten sie an jemanden, der ihr nahe stand. Sie kramte tief in ihrem Gedächtnis, um das Gesicht des Jungen mit einem zusammenzubringen, das sie kannte, doch ihr Kopf weigerte sich, irgendetwas aus der Vergangenheit preiszugeben. »Wie heißt du?«, fragte sie schwer atmend. »Ich habe keinen Namen. Ich werde erst einen bekommen, wenn ich sterbe und wiedergeboren werde«, erwiderte er stockend und ohne sie anzusehen. »Dann wirst du also in den Bauch deiner Mutter zurück-
kriechen und das Leben noch einmal von vorn beginnen?«, fragte Tara belustigt. Plötzlich begann ihr Kopf schmerzlich zu pochen. »Wie kann jemand wiedergeboren werden?« »Du bist wiedergeboren, hat man mir gesagt. Du bist gestorben, und Salomon hat dich wieder zum Leben erweckt. Die draußen haben dich vergiftet. Salomon hat dich gefunden, aber du bist gestorben und hast es nur ihm zu verdanken, dass du wieder lebst. Das hat der Meister gesagt.« Der Junge sah, wie Tara sich an den Kopf fasste, der jetzt dröhnte wie eine Trommel, und beide Hände auf die purpurnen Binden presste, damit der Schmerz nachließ. »Es geht vorbei. Es geht immer vorbei. Der Trank brennt wie Feuer und muss wieder aus dir heraus, bevor es dir besser geht. So war es auch bei meiner Mutter.« »Woher willst du wissen, wie es bei mir ist?« Tara hielt sich an der Tür fest, da sich in ihrem Kopf alles drehte und ihre Augen vor Schmerz brannten. »Es geht vorbei, es geht immer vorbei«, wiederholte der Junge monoton. Er nahm sie bei der Hand und brachte sie zur Treppe, die auf die Straße hinunterführte. »Ich bin der Türhüter. Ich esse und schlafe auf dieser Treppe. Ich bin stets hier der nach Hause zurückkehren. Einige kommen nicht wieder, sie werden dann von Beinwell gesucht, doch er bringt nur ihre purpurnen Kleider zurück. Sie selbst werden nie mehr gesehen. Wirst du zurückkommen?«, fragte er, als die Turmuhr neun Mal schlug. »Ich bin bald wieder da, dann können wir Freunde sein.« Sie lächelte, als der Schmerz nachließ. »Ich muss etwas für Salomon erledigen, und nichts wird mich davon abbringen zu tun, was er wünscht. Alles in mir drängt mich, schnell von hier wegzukommen…« »Dann lauf- und komm nicht mehr zurück. Es ist nicht so, wie es dir jetzt erscheint. Deine Augen sind von dem Trank geblendet. Alle hier beten dasselbe daher, doch dieser Ort ist nicht besser als die Straße.« »Du klingst wie ein Junge, den ich kannte… Auch er war undankbar dem gegenüber, der ihn ernährt hat.« Sie sprang die
Stufen hinunter und landete knöcheltief im Dreck. »Wenn ich zurückkomme, erzähle ich Salomon, was du gesagt hast, dann werden wir ja sehen, wie dankbar du deinem Meister gegenüber sein kannst«, rief sie, als sie die Straße in Richtung Wirtshaus überquerte. »Dann bete ich, dass du nie mehr wiederkommst«, murmelte der Junge vor sich hin, als er in die Zitadelle zurückging, sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür stemmte und sie langsam zuschob. Als Tara durch den Schmutz watete, musste sie immerzu an Salomons Worte denken. Vor dem Wirtshaus standen ein paar betrunkene Seeleute und machten sich über ihre purpurfarbenen Kleider und den verbundenen Kopf lustig. Sie spuckten vor ihr aus und pfiffen hinter ihr her. Wie eine Londoner Ratte bog sie links und rechts in schmale Gassen ab, hielt sich immer dicht an der Wand und die Augen stur auf den Boden gerichtet. Sie zählte die Schritte und ließ sich von ihrem Herzen zum »Bull and Mouth« führen. Dabei malte sie sich aus, was sie tun würde: Von der Wirtsstube aus die Treppe hinauflaufen in ihr Zimmer und das Kästchen unter dem Bett hervorholen. Das waren Salomons Worte gewesen: Hole das Kästchen, bring das Messer. Sie hatte beides gesehen, und jetzt würde sie die Sachen für Salomon holen. Ein kleiner Splitter in Taras Gedächtnis erlaubte ihr einen Blick auf den grünen Alabaster. Was für eine herrliche Schatulle, wunderschön und geheimnisvoll und mit einem Meer aus Quecksilber im Innern. Die Erinnerung flackerte über ihr Gesicht, so warm wie das Feuer, das in jener Nacht im Kamin gebrannt hatte. Doch vor ihrem geistigen Auge sah sie nur sich allein in dem Raum, nicht Jonah und nicht Maggot. Selbst der alte Bunz war nur ein dunkler Schatten in einer Ecke ihres Gedächtnisses. Was immer in ihrem Kopf stattgefunden hatte, es hatte sie von vielen Erinnerungen an ihre Vergangenheit abgeschnitten. Was übrig war, waren dunkle, geisterhafte Gestalten, gesichtslos und schwarz und ohne eigenes Wesen. Ihr Verstand stolperte, sie wollte einen Namen hervorkramen, einen Ort, einen
angenehmen Augenblick, doch sie sah nur dunkle Wesen, die in der Luft schwebten und schwiegen. Die Pilgerjacke begann, ihr den Nacken aufzuscheuern, und die dicke Bandage um ihren Kopf juckte wie ein Nest frisch geschlüpfter Läuse. Die Hart Street in Bloomsbury lag verlassen da, die Marktstände waren verschwunden und die Läden mit Brettern vernagelt. Die Stille wurde nur durch das Muhen von drei Milchkühen unterbrochen, die auf einer Seite des Marktplatzes an – als Tara vorbeiging, wurden sie unruhig. Sie fingen an wiederzukäuen, hoben die Schwänze und ließen ihr Wasser an der Wand herunterlaufen. Tara hielt die Augen auf den Boden gerichtet. Sie hatte sich das schon vor langer Zeit angewöhnt und dachte nicht mehr darüber nach. Was man nicht sah, konnte nicht gegen einen verwendet werden. Außerdem war es gefährlich, jemanden anzusehen, der nachts auf der Straße herumlungerte. Schaute man auf den Boden, ließen sie einen in Ruhe, gerade so, als sei man unsichtbar. Aus dem Schatten der Säulen vor dem Fischmarkt stierten ihr ein paar rote Augen nach, als sie die Straße überquerte. Sie beobachteten jeden Schritt, den sie auf den »Bull and Mouth« zu machte. Es waren die Augen eines Jägers, der seine warme Beute beobachtet. Augen, die einen auch in der dunkelsten Nacht fanden und durch Rauch und Nebel verfolgten, als sei es heller Tag. Tara schauderte. Sie spürte, dass sie nicht allein war, hatte jedoch Angst, sich umzudrehen und zu sehen, wer oder was sie belauerte. Sie ging schneller und hoffte, dass die Wirtshaustür offen war und der alte Bunz – der dunkle Schatten in ihrer Erinnerung – noch nicht abgeschlossen hatte. Auf dem Pflaster war noch Blut von dem Hund, den sie angeschossen hatte, der Hund, der sich auf Maggot hatte stürzen wollen. Plötzlich sah sie die Szene wieder vor sich: Jonah, Maggot, der Nebel über dem Schmutz der Straße, alles war da, dazu der Blitz, als der Pistolenschuss sich löste, der Knall und das her-
umwirbelnde Tier, als es von der Kugel getroffen wurde. All dies schoss ihr im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, nachdem sie das getrocknete Blut auf dem Pflaster gesehen hatte. Noch drei Schritte bis zur Tür. Tara wusste, dass sie sich einmal umdrehen und hinter sich schauen musste, auch wenn sie es nicht wollte. Das unwiderstehliche Verlangen zu sehen, wer sie aus der Dunkelheit heraus anstarrte, überkam sie wie früher, wenn sie Verstecken gespielt hatten. Dreh dich um, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Dreh dich um, schau und lauf. Vor der Wirtshaustür war eine Stufe. Das Verlangen war zu groß. Als sie die Türklinke in der Hand spürte, drehte Tara sich um und warf aus den Augenwinkeln heraus einen Blick auf den dunklen Vorbau mit den Säulen.
18. Gericht bei Neumond Mit zusammengepressten Lippen rannte Jonah die letzten Meter zu Malachis Stall. Er hatte nicht gewagt sich umzuschauen, als er vom Gefängnis aus losgelaufen war, die Pater-NosterStraße entlang und hinein in das Labyrinth der dunklen Gassen, die er so gut kannte. Nur einmal war er stehen geblieben, um Atem zu schöpfen. Sein Blick war auf die St.-Pauls-Kathedrale mit ihrer eingestürzten Kuppel gefallen, und in dem Moment hatte er an Tara gedacht. Es war ein düsterer Gedanke gewesen, der aus der Tiefe seiner Seele aufgestiegen war wie eine Stimme und ihm gesagt hatte, dass ihm ihre Freundschaft genommen und an einen anderen weitergegeben worden war. Er hatte den Gedanken rasch beiseite geschoben und war weitergelaufen, dem Schatten seiner Beine folgend. Im Hof fühlte er sich sicher. Nichts regte sich. Es war niemand da, das spürte er. Sein Instinkt sagte ihm das, die Nase eines Diebes. Es lag nichts in der Luft, das auf Menschen hinwies, die sich in der Nähe versteckten. Alles war still und leer, dunkel und kalt. Er konnte nur an das Messer denken und an sprechen ließ sich einfach nicht aus seinem Kopf verdrängen, obwohl er sich einzureden versuchte, dass es nichts als leere Worte waren, die nicht gehalten werden mussten. Jonah blieb stehen und schaute zu dem Stückchen Himmel hinauf, das zwischen den Dächern zu sehen war. Die Häuser, die den Hof umgaben, schmiegten sich aneinander wie alte Männer, die Angst haben zu fallen. Und da, in der entferntesten Ecke des Universums, war ein Stern. Er glitzerte in der kalten Nacht und zog Jonahs Blick auf sich. »Schwöre nie bei einem Stern«, sagte er, ohne den Blick abzuwenden. »Sternenversprechen müssen gehalten werden,
auch wenn Versprechen sonst nicht dazu da sind, dass man sie hält.« Dann hörte er sich sein Versprechen wiederholen: »Nicht Adieu, sondern bis zum Morgen. Ich komme zurück.« Die Worte fielen von seinen Lippen in die kalte Nachtluft. Es war, als würden sie lebendig. Jedes Wort hatte Macht und Kontrolle über seine Seele. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie Malachi von der Miliz vom Dach gezerrt und auf den Henkerswagen gesetzt wurde und wie Mrs Deverot ihn beschimpfte. »Nicht ich«, sagte er laut zu dem Stern über sich. »Ich bin nicht gemacht für so etwas… verlange nicht, dass ich es tue. Finde einen anderen, der ihn rettet. Ich bin nur ein armer Junge – verlange es nicht von Jonah. Mein Herz schickt mich in die eine und mein Verlangen in die andere Richtung. Wenn mir einer sagt, ich soll ihn nach York bringen, kommen wir in Pimlico heraus – das ist Jonah.« Der Stern leuchtete heller als alle anderen, er drängte aus der Tiefe des Universums heraus und durchbrach die Dunkelheit mit Macht. Blick immer noch nach oben gerichtet. »Er würde wissen, wie weit weg du bist, wie du am Himmel befestigt bist und warum du dich nur nachts sehen lässt. Du bist eine Kerze, ein unbedeutendes Licht, angezündet von der Hand eines Riesen, und doch habe ich das Gefühl, als würdest du mich auffordern, etwas zu tun, das ich freiwillig nie tun würde.« Als er in den Schatten trat, fuhr er sich mit der Hand über die Lippen, als könne er sein Versprechen abwischen. Eine dunkle Wolke zog vor die unbedeutenden Lichter und hüllte die Stadt in eine samtene Decke. Jonah ging weiter in die Dunkelheit hinein, als ihn ein Windstoß traf und sich die Haare in seinem Nacken aufstellten. Er drückte auf die Türklinke und ließ sich im selben Moment auf die Knie fallen. Dann kroch er auf allen vieren durch den Stall zum Altar. Es war noch da, das Messer, steckte bis zum Schaft in dem weichen Verputz. Als er den Griff berührte, sprühte es Funken. Es fühlte sich
warm an und schien sich zu freuen, dass er zurückgekommen war. Er umfasste den Griff und ruckelte so lange daran, bis die Klinge sich lockerte und er es aus der Wand ziehen konnte. Rasch steckte er es in die Tasche seines Gehrocks zu dem verschrumpelten Ringfinger. Minutenlang saß er in vollkommener Dunkelheit und zerkrümelte kleine Brocken Putz zwischen den Fingern. Der Stall ächzte und stöhnte wie ein alter Mann im Schlaf. Hoch über Jonah knackten die Balken. Im Kamin glühte noch die Asche, am Leben gehalten von der Brise, die vom Fluss her kam und in den Schornstein gesaugt wurde. Irgendjemand schien Jonah zu sagen, dass er gehen sollte, dass es jetzt Zeit sei, lautlos in der Dunkelheit zu verschwinden. Er rollte sich unter dem Altar hervor, stand auf und untersuchte jeden Krug, der darauf stand. Schon kurz darauftrat er vom Tisch an die Regale, tastete sich durch den Raum, bis er in einer Ecke fand, wonach er gesucht hatte. In einem kleinen Baumwollsäckchen war ein grobes Pulver. Jonah griff hinein, holte eine Handvoll davon heraus und roch daran. Schwefel und Salpeter. »Schießpulver«, sagte er leise und steckte das Säckchen in die Tasche. Er schlich auf die Gasse hinaus, hielt sich immer im Schatten und schaute nicht auf, in der Hoffnung, dass der Stern ihn nicht bemerkte und er nicht mehr an sein Versprechen gebunden war. Bevor er nach Cheapside hineinging, blieb er stehen und sah sich um. Die Straße war leer. Er schob die Hand in die Tasche und spürte das Messer. Es war warm. Jonah ging weiter, schneller als zuvor. Mit einer Hand berührte er kurz jedes Haus, an dem er vorbeikam; die andere behielt er mit gekreuzten Fingern in der Tasche. Nichts regte sich. Der Komet hatte die Stadt leer gefegt. Zurückgeblieben waren nur die Trinker, die ganz Verwegenen und diejenigen, die ihren Besitz nicht hatten loslassen können und lieber starben, als ihn zu verlieren. Jonah lief Richtung Westminster. Die Gassen und Höfe gaben ihm Schutz auf seinem Weg zum Haus Vamana. Das Mes-
ser schien ihn anzutreiben. Er wusste nicht, was er dort tun wollte. Er musste nur immer an das denken, was er Malachi versprochen hatte, Worte, denen er gehorchen musste, weil er sie bei einem Stern in einer klaren Nacht geschworen hatte. Vom Fluss zog dichter Nebel herauf und füllte die Gassen bis zur Höhe seiner Hüften. Wie weißer Sirup quoll er um die Hausecken. Jonah zögerte. Was lag unter dem Nebel, der brodelte wie der Inhalt eines Hexenkessels? Er rannte durch Scotland Yard und Whitehall, hinter die Kapelle und durch die Kammergärten in die Parliament Street. An der Ecke zur Channel Row blieb erstehen. Er war sich nicht sicher, ob er in der Ferne tatsächlich das Knirschen von Wagenrädern und leises Singen hörte. Langsam, aber stetig wurden die Geräusche lauter, hallten von den Häusern wider und flüchteten sich in die unzähligen Gassen und Höfe, welche die Viertel am Themseufer durchzogen. Es war ein Gackern, ein auf- und absteigendes Heulen, ein Nuscheln und Stöhnen wie von einer sterbenden Todesfee. Zuweilen wurde das Singen von Gelächter übertönt, schauerlich und grausam. Jonah trat in den Eingang eines Hutmacherladens und tauchte im Nebel unter. In der Parliament Street wirbelte die marschierende Miliz die weiße Suppe auf. Die Männer begleiteten den Henkerswagen, an dem zwei Laternen mit ölgetränkten Lappen hingen, die dem Esel auf dem Weg leuchteten. Und auf dem Wagen stand Malachi. Er überragte die Miliz, hielt eine Flasche in der Hand und nahm nach jeder Strophe des alten, halb vergessenen Liedes einen Schluck. Jonah beobachtete von seinem Versteck aus, wie die Prozession vorbeizog. Zwölf Milizionäre, der Esel, der am Wagen angekettete Malachi und Skullet, der mit seinem Stock das Tempo vorgab. Jonah kauerte sich tiefer in den brodelnden Nebel und presste den Rücken an die Ladentür. Mit angehaltenem Atem zählte er ihre Schritte.
Als der Wagen in die Brückengasse holperte, glitt Malachi die Flasche aus der Hand, und er heulte nur umso lauter. Mit einer Hand hielt er sich an einer Stange fest und rief dem Esel gen auf das Gebrabbel eines Bettlers, der alle verflucht, die an ihm vorbeigehen. »Lasst mich singen… Esel, halt, mein Wein ist weg… Sing das Lied vom hübschen Mägdelein… Skullet, du bist ein Schwein…« Er hob die Stimme noch mehr. »Hört, hört! Alle, die am Neumond-Gericht teilnehmen, sollen verdammt sein. Läuse sollen euch plagen und Mordgedanken euer Herz besetzen.« »Gebt ihm mehr Wein«, befahl Skullet und zog dem Esel mit seinem langen Stock eins über. »Ich will mir sein Geschwätz nicht länger anhören müssen. Es ist mir lieber, er ist betrunken, als dass er ausfällig wird. Er weckt noch die Toten auf, wenn er so weitermacht.« »Die Toten!«, brüllte Malachi und fasste sich an die Brust, als hätten Skullets Worte ihn mitten ins Herz getroffen. »Wir sind umgeben von Toten, sie sind überall.« Er stöhnte, als er umkippte und unsanft auf dem Hintern landete. Der Wagen schaukelte von einer Seite zur anderen. »Bald werde ich zu ihnen gehören, zu Unrecht ums Leben gebracht von Lord Warzennase Malpas und seinem noch hässlicheren Diener und Pinkeleimerputzer, der mit der mörderischen Schlampe vom Fleet-Gefängnis frühstückt. Ist es nicht so, Skullet?« Ohne auf eine Antwort zu warten, schimpfte Malachi weiter und steigerte sich immer mehr in seine Wut hinein. »Wenn es nach mir ginge, würde ich Euch hier und jetzt die Kehle durchschneiden«, sagte Skullet und schlug mit dem Stock nach Malachi. »Hexerei allein reicht schon, um gehängt zu werden. In Verbindung mit Diebstahl ist es mehr als genug, um Euch aus dieser Welt zu schaffen. Und jetzt ist RUHE!« Seine Worte schallten als Echo durch die leeren Gassen. Jonah folgte dem Zug in einiger Entfernung. Der Nebel verwandelte den Hof des Neuen Palastes in einen weißen See. Es sah aus, als sei die Stadt mitten zwischen weiche Wolken
gebaut. Die Gebäude schienen zu schweben, als der Wagen mit einem nun schweigsamen Malachi in Begleitung geistgleicher Henkersknechte vorbeizog. In der Union Street tanzten die Lichter aus den Häusern über den Nebelwolken wie Engelsflügel. Noch zwei Mal bogen sie in eine andere Straße ein, dann waren sie in der Thieving Lane. Vor ihnen ragte Haus Vamana auf. Der Nebel halbierte es. Jonah beobachtete, wie sie Malachi die Handfesseln abnahmen und ihn vom Wagen zerrten. Der alte Mann stolperte durch den Dreck, als hätte man ihn aus den Wolken auf die Erde fallen lassen. Seine Ketten schleiften über die Steinstufen, als zwei Milizionäre ihn die Treppe zur offenen Haustür hinaufschoben. Eine einzelne Kerze leuchtete ihnen auf dem Weg. Malachi tauchte als dunkler Schatten aus dem Nebel auf und wankte durch die Tür, gefolgt von Skullet und den übrigen Milizionären. Rechts neben dem Eingang stand eine große schwarze Kutsche. Der Kutscher auf dem Bock hatte sich in eine dicke Pferdedecke gewickelt und schien zu schlafen. Jedenfalls hatte er von der Ankunft des Wagens nichts mitbekommen. Jonah schlich sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite näher, den Blick auf die Haustür gerichtet. Ein Soldat schaute heraus, sah nervös die Straße hinauf und hinunter und schlug dann die Tür von innen zu. Der Kutscher fuhr zusammen, schüttelte sich, wickelte sich wieder in seine Decke und träumte weiter. Im ersten Stock des Hauses zog Skullet die Vorhänge zu und wandte sich an Lord Malpas, der in seinem Sessel beim Kamin saß. »Hol ihn herein, damit wir das Theater hinter uns bringen. Die Lordschaften und ich selbst müssen dem Gesetz Genüge tun. Könige und Prinzen können ihre Liebschaften haben, sich ihrer Feinde entledigen, ihre Frauen bei Kutschunfällen ermorden lassen, aber ich, Lord Malpas, muss dem Gesetz gehorchen.« Malpas nahm ein großes Scheit Holz und warf es ins Feuer. »Ich brauche den Alabaster, Skullet. Das Leben tropft
aus mir heraus, und ich werde von Stunde zu Stunde schwächer. Ohne die Schatulle sterbe ich, und du wirst nie ihr Hüter sein.« Er rieb über den blutigen Verband an seinem Handgelenk. »Der Fluch hat mich mein Leben lang begleitet – wie jeden Malpas bis zu seinem frühen Tod. Doch nicht mit mir! Ich will über den Tod hinaus leben und ohne diesen Fluch ins Leben zurückkehren.« »Was Homunculus Malpas für den König getan hat, war eine Heldentat. Ohne seinen Mut hättet Ihr das alles nicht, was Ihr heute habt«, bemerkte Skullet. Er trat noch einmal ans Fenster, zog, ohne zu wissen, weshalb er es tat, den Vorhang wieder ein Stück zurück und sah hinaus auf die Straße. Dann wandte er sich wieder Malpas zu. »Ja, du hast recht… ich hätte keine Frau, die sich weigert, mit mir zusammenzuleben, ich hätte keine Wunde, die nie heilt, und auch keinen König, der sich für einen Bauern hält. Was… was…«, Malpas ahmte die Stimme des Königs nach. »Manche sagen, ich hätte es noch nie so gut gehabt. Auf den Tod zu warten in einem kalten, leeren Haus, ohne alle Freude. Ich will den Alabaster. Ich will das Messer, und ich will diese Welt verlassen, bis die Zeit reif ist und ich zu neuem Leben erweckt und geheilt werden kann von dieser teuflischen Krankheit. Das, mein lieber Skullet, ist alles, was ich will. DAS IST DOCH WOHL NICHT ZU VIEL VERLANGT, ODER?« Er sprang auf und trat gegen die brennenden Holzscheite im Kamin, dass ein Funkenschauer ins Zimmer stob. »Finde endlich das Orakel, dann wird alles gut. Du erbst alles, was mir gehört, bis ich wieder zum Leben erweckt werde.« »Der Ehrenwerte Dobson wartet im großen Saal, mein Lord.« Skullet hüpfte von einem Bein aufs andere und versuchte, die Glut auszutreten, die auf den Teppich vor den Kamin gefallen war und weiterschwelte. »Wir sollten«, fuhr er zwischen seinen Hüpfern fort, »zu ihm hinuntergehen. Malachi ist voll wie eine Haubitze und wird behaupten, er sei der König von Spanien, wenn wir ihn fragen. Sobald er aus dem Weg ist, können wir zu Salomon gehen und das Orakel
holen.« »Salomon?«, wiederholte Malpas. »Der Prophet hat den Jungen?« »Er hat ihn Malachi weggenommen, kurz bevor ich mit der Miliz gekommen bin. Eine heikle Sache, den Jungen zurückzuholen, aber einfacher, sobald Malachi am Galgen hängt.« Damit fasste Skullet Malpas am Arm und führte ihn zum großen Saal. Es ging die Treppe hinunter und durch den langen Flur, bis sie schließlich zu der reich verzierten Tür kamen, die von der Miliz bewacht wurde. Malpas blieb stehen und sah Skullet fragend an. »Zeugen?« »Drei. Sie haben alle gesehen, wie er den Löffel gestohlen hat.« »Welches Vergehen?« »Er ist ein Dieb und ein Lügner. Ich habe einen Mann dabei, der sagen wird, dass Malachi ihm den Löffel und sämtliches Gerät aus Eurer Küche zum Kaufangeboten hat und dass sich der Magier unter dem Vorwand, Euch die Zukunft vorauszusagen, hier eingeschlichen hat. Dobson hasst alles, was mit Wahrsagerei zu tun hat, und wird ihn schon deshalb hängen.« »Das hast du gut gemacht«, lobte Malpas und nickte der Wache zu, damit sie die Tür öffnete. »Noch eines – ist Dobson diese Woche einigermaßen bei Verstand? Ich habe gehört, dass er auf den Feldern vor dem Parlament Gras gefressen und behauptet hat, er sei ein Pferd.« »Er ist in Ordnung. Wir haben ihn an den Tisch gebunden und für den Anlass zurechtgemacht. Ich denke, er steht die Verhandlung durch. Er ist der einzige Richter, den wir in der Tasche haben«, erinnerte Skullet und betrat hinter Malpas den Saal. Malachi hatte man auf einen Stuhl gebunden. Milizionäre bewachten ihn. In der Mitte des Saals saß der Ehrenwerte Dobson mit seinem Hermelinmantel und der Lockenperücke aus Rosshaar auf dem Kopf. Er schien zu schlafen. Von seiner
vorgeschobenen Unterlippe hingen Speichelfäden. Seine Augenlider und die Nasenflügel zuckten wie bei einem Kaninchen, und er rieb sich im Schlaf mit dem Handrücken übers Gesicht. Mit dem Ruf »Das Gericht erhebe sich!« kündigte Skullet die Ankunft von Lord Malpas an. Vier Männer traten aus dem Schatten im hinteren Teil des Saals und verbeugten sich vor Lord Malpas. Jeder drückte einen schwarzen Samtbeutel an sich, der mit Silbermünzen gefüllt war. Skullet ging mit raschen Schritten durch den Raum, bürstete sich den Straßenstaub von seinem langen schwarzen Mantel und schaute den Zeugen nacheinander in die Augen. Als er an dem Ehrenwerten Dobson vorbeikam, kickte er gegen das Stuhlbein. Der alte Mann schreckte aus seinem Schlaf hoch. »SCHULDIG!«, rief er, sprang auf und zeigte mit dem Finger auf Malpas, der sich gerade setzen wollte. »Mein Lord«, sagte Skullet, fasste den Richter am Kinn und drehte seinen Kopf in Malachis Richtung, »das ist der Angeklagte. Über ihn wird verhandelt, nicht über Lord Malpas.« Richter Dobson warf die Hände in die Luft, schaute sich im Saal um, ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, starrte Malpas an und murmelte vor sich hin. Dann fragte er: »Wo ist die Verteidigung?« »Ich stehe für den Kläger. Der Angeklagte besteht darauf, für sich selbst zu sprechen.« »Das ist unzulässig.« Dobson versuchte, sich den Schlaf aus dem Gesicht zu reiben. »Ich kann nicht erlauben, dass ein Diener seinen Herrn vertritt. Was soll denn die Welt denken?« Der Richter sah sich im Saal um, als wollte er die Anwesenden zählen, und nickte jedem zu wie einem alten Freund. »Ich versichere Euch, dass es zulässig ist«, rief Malpas. Der Richter lenkte ein. »Wenn Ihr es sagt, Malpas. Ihr bezahlt das Ganze schließlich…« Die Uhr schlug den ersten Ton der Mitternacht. »Ihr sagt es. Und Zeit ist Geld«, erwiderte Malpas. Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum und sah Malachi böse
an. Der Magier versuchte, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren, dabei leckte er sich die Lippen und zupfte an seinem schmierigen Bart. »IHR SAGT ES!«, rief Skullet, um die Aufmerksamkeit des Richters auf sich zu lenken. »Lasst mich den Sachverhalt in kurzen Worten schildern: Der Angeklagte kam hierher, gab sich als Wahrsager aus und stahl einen silbernen Löffel im Wert von einer Guinea.« Skullet wartete auf eine Reaktion von Dobson, auf irgendetwas, das ihm bestätigte, dass der Richter ihn verstanden hatte. Doch der stierte ihn mit leerem Blick an und schien irgendwo ganz anders zu sein. »Ich habe Zeugen. Mehrere Männer haben den Vorfall beobachtet und einem wurde das Diebesgut zum Kaufangeboten. Alles in allem kann der Fall in einem Atemzug eröffnet und abgeschlossen werden. Das meint Ihr doch auch, oder?« Richter Dobson schloss die Augen und überlegte. »Und was hat der Angeklagte zu seiner Verteidigung zu sagen?«, fragte er zur Überraschung aller Anwesenden. »Ich sage, es ist alles gelogen«, erwidert Malachi. Er rutschte mitsamt dem Stuhl, auf den man ihn gebunden hatte, näher an den Richter heran. »Skullet hat das eingefädelt. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts gestohlen!« »ZEUGEN!«, brüllte Skullet den Richter an. »Es gibt Männer, die das Ganze beobachtet haben – was sagt Ihr dazu?« »Ich sage, es sind Strohmänner, die Malpas bezahlt, damit sie aussagen. Lügner und Betrüger, die mich hängen sehen wollen, damit sie alles stehlen können, was ich besitze.« Der Richter schnüffelte mit zuckenden Nasenflügeln in der Luft. »Ich rieche einen Dämon«, sagte er leise. »Jemand in diesem Raum hat am Busen der Hölle gehangen. Wer wagt es, vor diesem Gericht mit Alkohol im Bauch zu erscheinen?« »Das ist Malachi«, wisperte Skullet. »Er ist ein Trunkenbold und kann nicht vom Alkohol lassen. Alles, was er tut, tut er für Gin. Er ist ein Trinker von wahrhaft parlamentarischen Ausmaßen.«
»Ein Wahrsager, ein Trinker und ein DIEB!«, fauchte Dobson Malachi an. Plötzlich schien wieder Leben in ihm zu sein, als habe die Anwesenheit eines Dämons ihn aus seinem Wahnsinn gerissen. Der Ehrenwerte Dobson erhob sich, suchte in der Tasche seiner Robe, brachte eine schwarze Kopfbedeckung zum Vorschein und setzte sie auf. »SCHULDIG!«, bellte er. »Jeder, der mit einem Dämon im Bauch vor mir steht, ist SCHULDIG – egal, wie die Anklage lautet. Man bringe ihn ins Fleet-Gefängnis und hänge ihn – je eher desto besser.« Malpas sprang auf und lief zum Richter. »Das Fleet-Gefängnis? Ausgeschlossen. Wir haben unseren eigenen Galgen, er könnte gleich gehängt werden. Meine Leute haben den Nachmittag damit zugebracht, das beste Tötungsinstrument zu bauen, das London je gesehen hat. Er könnte gehängt, gerädert und gevierteilt werden, ohne dass der Stadt Kosten entstehen.« »Ich habe Fleet gesagt, und dabei bleibt es«, erwiderte Dobson, schob den Stuhl zurück, faltete sorgfältig die Kappe zusammen und steckte sie wieder in die Tasche. Dann ging er zu Malachi, der mit gesenktem Kopf dasaß. »Was Euch erwartet, sollte niemand mit ansehen müssen. Die Hölle ist ein Ort, an dem es keinen Tod gibt. Dämonen reißen mit glühend heißen Zangen an Eurem Fleisch. Ihr werdet die Qualen bis in alle Ewigkeit erdulden, Tag für Tag. Eure Augen werden brennen, als würden sie wie Spiegeleier gebraten, wenn Euch jedes Barthaar einzeln ausgerissen wird. Was sagt Ihr dazu, mein Freund?« Malachi schaute herausfordernd auf. »Ich sage, die Gesellschaft dort wird ehrlicher und anständiger sein als die, mit der ich es im Moment zu tun habe. Ich sage, dass es mir dort bis ins Herz hinein warm werden wird; Euer Herz hingegen ist ohne alle Wärme und Freundlichkeit. Ich sage, wenn Ihr Euren letzten Atemzug tut, werdet Ihr bei mir sein, ohne Wasser für Eure trockene Kehle, und Ihr werdet darum betteln, dass Eure Seele für immer ausgelöscht wird. Macht mit mir, was Ihr wollt, eines ist gewiss: Euer Schicksal wird dreimal so schlimm sein als meines.«
»Hier spricht ein Mann, der schuldig ist«, sagte Malpas und rieb sich die Hände. Dann gab er der Miliz ein Zeichen, Malachi wegzuschaffen. Die Wärme vom Kamin hatte seine Wangen gerötet. »Richter Dobson, wir waren wieder einmal Zeuge Eurer Unbestechlichkeit und Eurer großen Erfahrung. Wer sonst hätte den Weitblick, mit dem wir heute konfrontiert wurden? Ein wahres Wunder!« Malpas applaudierte und forderte die Anwesenden auf, es ihm gleichzutun. Skullet tänzelte an den Zeugen vorbei, nahm ihnen die Samtbeutel ab und komplimentierte sie aus dem Saal. »Bringt den Mann ins Fleet-Gefängnis, damit das Urteil sofort vollstreckt werden kann. Für einen wie ihn ist kein Platz auf dieser Welt.« Der Hauptmann band Malachi los und stellte ihn auf die Beine. Doch die Kräfte hatten ihn verlassen. Seine Knie knickten immer wieder ein, als man ihn aus dem Saal und zur Haustür schleifte. Er stolperte aus dem Haus. Die entsetzliche Angst, die ihn ergriffen hatte, machte es ihm unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. »Was habe ich Falsches getan?«, jammerte er. »Womit habe ich dieses Ende verdient?« Am Fuß der Treppe stand eine große schwarze Kutsche. Zwei Rappen waren davorgespannt mit blauem Kopfputz und pelzverziertem Zaumzeug. »Lord Malpas wünscht, dass der Verurteilte in dieser Kutsche auf seine letzte Reise geht«, brummte der Kutscher, als die Milizionäre Malpas die Treppe herunterbrachten. »Setzt ihn rein, und verriegelt die Tür. Einer von Euch kommt zu mir auf den Bock, der Rest folgt mit dem Eselswagen. Er wird nicht fliehen bei dem Tempo, das ich vorlege.« »Aber das ist doch die Kutsche von Richter Dobson«, wandte der Hauptmann ein. »Und ich bin sein Kutscher. Geht und lasst es Euch von Eurem Herrn bestätigen, so wie ich es mir von meinem hab bestätigen lassen. Dann tut, was Lord Malpas wünscht, und setzt den Alten in die Kutsche, damit wir wegkommen«, murrte der Kutscher. »Wenn er versucht zu fliehen, erschieße ich
ihn mit der alten Meg. Sie hat schon etlichen Straßenräubern den Bauch durchlöchert.« Malachi schaute zu dem Kutscher auf. Der hatte sich eine dicke Decke um die Schultern gelegt und den Hut tief ins Gesicht gezogen. Die Donnerbüchse lag auf seinem Schoß. »Gentlemen, Gentlemen«, sagte Malachi leise, »macht die Haustür zu, damit die Kälte nicht ins Haus dringt. Habe ich etwa so Schlimmes getan, dass ich meine letzte Fahrt durch diese Stadt in einer so feinen Kutsche antreten soll? Euer Herr ist über die Maßen freundlich. Und jetzt lasst mich einsteigen und meinem Ende entgegengehen.« Der Hauptmann schaute die Straße hinauf und hinunter. Nur der Schrei eines Nachtvogels durchbrach die Stille. »Nun gut«, sagte er und öffnete die Kutschtür. »Ich steige mit ein und bringe den Gefangenen ins Fleet-Gefängnis.« Malachi kletterte in die Kutsche und räkelte sich auf der gepolsterten Bank, als mache er es sich in seinem Lieblingssessel gemütlich. Er lächelte vor sich hin, als der Hauptmann den Fuß auf den ersten Tritt stellte, um ebenfalls einzusteigen. Da knallte die Peitsche, und die Pferde zogen an. Die Kutsche schlingerte durch den Schmutz, sodass der Hauptmann rücklings auf der Straße landete, als die Tiere mit wehendem Kopfputz davonstoben. Die Miliz feuerte ein paar Mal auf die Kutsche, was allerdings nur dazu führte, dass die Pferde umso schneller die Thieving Lane hinunterliefen und schließlich in der Dunkelheit verschwanden. Malachi wurde auf seinem Sitz hin und her geworfen und rutschte schließlich auf den Boden, als die Kutsche außer Kontrolle dahinflog. »Ich würde lieber im FleetGefängnis sterben als in der Kutsche eines Richters zerschmettert werden und so zu Tode zu kommen«, rief er und versuchte, sich in die Ecke zu drücken. »Wenn es nach mir geht, alter Freund, werdet Ihr überhaupt nicht sterben«, gab Jonah zurück und packte die Zügel fester, um die Pferde zu einem Handgalopp zu bewegen.
19. Agapemone – Stätte der Liebe »Schnell!«, rief Jonah, als er über den Marktplatz und in den Schutz der Arkaden lief, deren Säulen wie steinerne Galgen aufragten. Magnus Malachi humpelte hinter ihm her. Er war außer Atem, sein Herz raste, und sein Kopf dröhnte von dem Wein. Er klammerte sich an eine Säule, damit seine Beine nicht einknickten. Am liebsten hätte er sich auf den Boden sinken lassen. »Ich bin kein junger Mann mehr«, rief er. »Ich hätte mich hängen lassen sollen, dann wäre mein Schicksal besiegelt und ich aufgehoben gewesen.« Jonah lachte und schaute sich um. Die Tür zum Wirtshaus stand einen Spaltbreit offen. Ein Lichtstrahl fiel auf die Straße. Alles war gespenstisch still, kalt und leer. Und doch war es, als warteten alle und alles nur auf seine Ankunft. Jonah schlich vorwärts, und Malachi folgte ihm grummelnd. In den Nebelfetzen, die um ihn herumwirbelten, sah er ganze Legionen von Dämonen. Wie Quecksilberdampf stiegen sie auf, nahmen Gestalt an, wechselten ihr Aussehen, wurden zu einem anderen Dämon und verschwanden in der Nacht. »Wasser…«, stöhnte Malachi und hielt sich hinten an Jonahs Gehrock fest, damit dieser ihn weiterzog. »Ohne etwas zu trinken, kann ich keinen Schritt weitergehen«, erklärte er matt und wischte sich mit der freien Hand den Schweiß vom Gesicht. »Ihr bekommt etwas Besseres als Wasser«, sagte Jonah, als er aus dem Schutz der Arkaden trat und mit schnellen Schritten auf die Tür des »Bull and Mouth« zuging. »Wir sind am Ziel«, flüsterte er Malachi zu. Der stakste durch den Dreck wie ein großer grauer Reiher. »Schnell, Malachi, sie sind hinter
uns her. Malpas wird nicht zulassen, dass Ihr lange auf freiem Fuß seid. Er will Euch hängen sehen, und ich brauche Hilfe, wenn ich Euch so lang am Leben halten will, bis ich ein sicheres Versteck für uns beide gefunden habe.« Jonah schob die Hand in den offenen Türspalt und war im nächsten Augenblick verschwunden. »Jonah…«.wimmerte Malachi. Sein Kopf dröhnte. »Jonah?« Er hatte nur kurz geblinzelt, und plötzlich war der Junge nicht mehr da! Ein Gesicht erschien in der Tür, ein Gesicht mit Brille und Bart und zwei Knopfaugen, die in der Dunkelheit wie Sterne leuchteten. »Seid Ihr Malachi?«, fragte der alte Bunz und musterte ihn von oben bis unten. Malachi nickte trübsinnig. »Der Junge ist drin. Er sagt, Ihr sollt Euch beeilen, sonst kriegt Euch Malpas.« Der alte Bunz kicherte vor sich hin, als er die Tür weiter öffnete, um den Magier einzulassen. »Kommt in meine gute Stube. Wir haben einen Gast, einen ganz besonderen Gast, den zu sehen selbst Euch eine Freude sein wird.« Malachi folgte dem alten Mann ins Hinterzimmer. In der Luft hing der Geruch von vor Kurzem gelöschten Kerzen; der Rauch stieg in Spiralen an die Decke. Nur eine einzige Kerze erleuchtete den Raum noch. Sie steckte in einem schönen Leuchter, der auf einem niedrigen, mit Samt überzogenen Weintischchen stand. Ein großer Ledersessel war an den Tisch gerückt worden. Jonah kniete beim Feuer, starrte mit leerem Blick in die Flammen und lauschte der Stimme eines Mädchens. Als Malachi den Raum betrat, redete das Mädchen weiter, als habe sie nichts bemerkt. Erst nach einer Weile drehte sie sich kurz zu ihm um und schaute ihm in die Augen, dann blickte sie zurück in die Flammen und erzählte Jonah weiter von ihrer Flucht. Taras Stimme war leise, sie sprach langsam und betont, ohne die geringste Spur von Aufregung. Mit einer Hand kratzte sie sich an dem Verband um ihren Kopf. Immer wieder fragte sie nach dem Alabaster und suchte im ganzen Raum mit
Blicken nach dem Kästchen. Sie wusste, dass es ganz in der Nähe sein musste. Von dem Augenblick an, als sie im Quecksilber ihr Spiegelbild betrachtet hatte, war eine Verbindung hergestellt worden zwischen ihr und dem Stein. Malachi wartete darauf, dass sie aufhörte zu reden. Er nahm jedes Wort auf und spürte ihm im Kopf nach. Dieses Mädchen hatte er schon einmal gesehen, hatte ihre Stimme gehört, ihren Lebenshunger gespürt. Doch jetzt kauerte da vor ihm ein Nichts, ein seelenloses Etwas, düster und hohl. »Ich konnte nur noch an dich denken«, seufzte Tara gerade und lehnte sich an Jonah. Doch sie konnte ihn nicht anschauen dabei. »Wir müssen den Alabaster nehmen und fliehen. Sie suchen uns.« Ihre Hände zitterten. Malachi hatte ein ungutes Gefühl. Er schnupperte in der Luft, ließ die Zunge zwischen den Lippen hin und her schnellen wie eine Schlange, die den Schweißgeruch ihres Opfers aufzunehmen versucht. Tara redete immer weiter, erzählte wieder und wieder, wie sie geflohen war, und fragte beständig nach dem Alabaster. »Ist er hier? Wir müssen ihn holen und an einen sicheren Ort bringen.« Sie stand auf und drückte Jonahs Schulter. Ihr Gesicht war im Schein des Feuers glühend rot. »Sag, Jonah, sag mir, wo er ist. Dann bringe ich ihn in Sicherheit, und wir können uns wieder frei bewegen – das ist es doch, was du willst, oder?« »Ich möchte Maggot finden und Tersias. Der Junge hat ein Recht auf Freiheit, und Malachi kann sich um ihn kümmern. Das ist es, was ich will, Tara. Weiter nichts.« Jonah erhob sich und sah sie an. Sie war verändert. In ihren Augen lag dieser abwesende, in die Ferne gerichtete Blick. Alles, was einmal Tara ausgemacht hatte, war wie weggewischt. Die Freude war weg, das Lachen, das Feuer, das in ihrem Herzen gebrannt hatte. Sie stand vor ihm wie der schwelende Docht einer heruntergebrannten Kerze. »Warum bist du so versessen auf den Alabaster? Seit ich hier hereingekommen bin, redest du nur von ihm.«
»Verstehst du das denn nicht? Der Alabaster ist an allem schuld. Bevor du ihn gestohlen hast, war alles gut.« »Nichts war gut. Wir hatten keinen Penny, und ein Komet sollte auf die Erde krachen. So sah es aus. Wir haben getan, was wir immer tun, du und ich – uns gegenseitig helfen. Dieser Alabaster veränderte gar nichts. Wenn sich einer verändert hat, bist du es. Es ist, als hätte Salomon dir deinen Verstand genommen und dafür den eines Esels gegeben. Du iahst nur noch nach seiner Melodie.« »Zeig ihr nicht die kalte Schulter, Jonah«, sagte Malachi und trat näher ans Feuer. »Das Mädchen musste eine Menge aushalten, sie hat allen Grund, sich zu beklagen. Dieser Alabaster ist von größter Bedeutung. Ich habe schon vor vielen Jahren in einem Kaffeehaus in Highgate davon gehört. Er soll mit dem feinsten Quecksilber gefüllt sein… der beste Spiegel, den man sich denken kann. Vielleicht möchte das Mädchen wissen, wie es jetzt aussieht?« »Nun gut«, meinte Jonah widerwillig und ging zu der mittelalterlichen Rüstung, die neben dem Kamin an der Wand hing. »Wenn sie ihr rotes Gesicht und den Mund eines Waschweibs sehen will – bitte. Das kostet ja nichts.« Er hob die Brustplatte an und holte den Alabaster aus seinem Versteck, schloss die Hand fest um ihn und drückte ihn an seine Brust. Malachi trat näher. Er wusste, dass er einen Gegenstand aus dem Reich der Magie vor sich hatte, von dem man überall nur hinter vorgehaltener Hand sprach. »Und der Schlüssel? Ich habe gehört, dass es einen speziellen Schlüssel gibt, mit dem der Stein sich öffnen lässt, damit man das Quecksilber auch sehen kann. Stimmt das?« Seine Stimme überschlug sich fast, und er hüpfte herum wie ein junger Hund. Die Aufregung verhalf seinen alten Knochen zu neuem Schwung. »Kein Schlüssel, sondern ein Messer«, erwiderte Jonah. Rasch zog er die Mastema aus seinem Gehrock und steckte die Spitze ins Schloss. Alle konnten sehen, was dann geschah. Der Alabaster öffnete sich langsam, und Jonah legte ihn
vorsichtig auf das Weintischchen neben dem Kamin. Der Stein war wunderschön. Malachi keuchte laut, als winzige Funken als glitzernde Fontäne in den Raum schossen, heller als die Kerze, die daneben verblasste. »Ein Wunder«, murmelte er vor sich hin. Er konnte den Blick nicht abwenden. Wie eine Rosenknospe im September hatte der Alabaster sich geöffnet. Das Quecksilber leuchtete heller als das Feuer. Tara und Malachi wurden von seiner Schönheit angezogen, während Jonah sich am Feuer zu schaffen machte. Als der Alabaster sich ganz geöffnet hatte und die Innenseiten flach auf dem Tisch lagen, schien ein Schauer durch ihn hindurchzugehen. Das Quecksilber zitterte gespenstisch. An dem Kerzenleuchter lief langsam ein Tropfen reinweißes Wachs hinunter und fiel in eine der Steinschalen. Wieder stieg eine glitzernde Fontäne auf. Danach lag das Quecksilber unbewegt wie ein schimmernder Spiegel. Tara schaute hinein, wie magisch wurde sie davon angezogen. Und da war ihr Gesicht – älter, verbrauchter, müder. Die Falte auf ihrer Stirn passte nicht zu ihrer Jugend. Plötzlich schaute ein anderes Wesen mit kleinen, roten Schweinsäuglein sie aus dem glänzenden Spiegel heraus an und lächelte. Sie hielt die Luft an und versuchte, nicht mehr hinzuschauen, doch das Wesen hielt ihren Blick fest. Malachi blickte ebenfalls in den Spiegel, sah jedoch nur sich. Von dem, was Tara widerfuhr, hatte er keine Ahnung. Er sah nur seinen langen Bart, gewachste Augenbrauen und die Krähenfuße in den Augenwinkeln. Jemand hatte einmal gesagt, er sähe aus wie ein schottischer König, und wie er sich jetzt so betrachtete, sah er es auch – das Gesicht eines Königs. Tara dagegen war von einem anderen Gesicht fasziniert. Sie kannte das Wesen im Spiegel schon lange. Es war der Geist, den sie letztes Jahr an Allerheiligen heraufbeschworen hatte. Sieben Mal hatte sie den Apfel um ihren Kopfkreisen lassen, sieben Mal hatte sie den Zauberspruch gemurmelt und sieben Mal hatte das Tier sie angeschaut. Am Weihnachtsabend hatte sie sein Spiegelbild in der vereisten Fensterscheibe
in ihrem Zimmer gesehen. Damals hatte es sie aus Augen wie glühende Kohlen angestarrt. Das war der Preis, den sie dafür bezahlte, dass sie in der beschlagenen Scheibe ihren Zukünftigen sah. Jetzt genoss das Tier ihre Gesellschaft, genoss es, ihr in die Augen schauen und ihr Gesicht in allen Einzelheiten betrachten zu können. Es streckte die Hand aus dem Alabaster und streichelte ihre Wange. Tara konnte sich nicht rühren, die eisige Hand und der Blick ließen sie erstarren, der Blick, der in ihr Innerstes drang, ihre Gedanken freilegte und offenbarte, was sie bisher vor aller Welt geheim gehalten hatte. Jonah ignorierte sie. Es kümmerte ihn nicht, wovon die beiden sich verzaubern ließen. Für ihn war der Alabaster ein Stein, hinter dem irgendwelche Dummköpfe her waren und der ihm eine goldene Guinea einbringen konnte. Es war ein Spiegel, der einen schöner machte, als man war, das war der ganze Trick. Er schaute Malachi an, der sein Spiegelbild anlächelte, den Kopf von rechts nach links drehte und die Lippen schürzte wie ein Dandy. »Was für ein kluges Ding«, bemerkte Malachi, während er sich wieder und wieder über den Bart strich. »Je länger ich hineinschaue, desto schöner und jünger werde ich. Schau mich an, Jonah – fallen die Jahre nicht von mir ab wie Zwiebelschalen? Verändert der Zauber des Steins nicht mein Aussehen?« »Wenn Ihr glaubt, dass Ihr jünger werdet – nein. Aber wenn Ihr jünger aussehen wollt, kann ich Euren Kopf in einen Eimer mit Wagenschmiere stecken.« Malachi lachte, reckte das Kinn vor und schob seinen Hut auf ein Ohr. Dann stolzierte er durchs Zimmer wie ein Franzose, der irrigerweise davon überzeugt war, dass Frankreich irgendwo in einem fernen Land endlich einen Krieg gewonnen hätte. Er streckte die Brust heraus, als führte er einen Orden vor. »Du bist ein grausamer Junge«, sagte er, zupfte an seinen Manschetten und zwirbelte seinen Bart zwischen den Fingern, ganz fasziniert von seiner Verschönerung. »Mir ist sehr danach, mit dem König eine Tasse Schokolade zu trinken.«
Jonah sagte nichts dazu. Ein ersticktes Keuchen ließ ihn herumfahren. Er sah, wie Tara Stück für Stück in den Alabaster hineingesogen wurde, als wolle er sie durch das enge Quecksilberportal von dieser Welt in eine andere ziehen. »MALACHI!« Jonah riss den Alabaster vom Tisch und zog Tara mit hoch. Die beiden Hälften des Steins hatten sich um ihren Kopf gelegt. »ER BRINGT SIE UM!« Als Malachi sich zu ihm umdrehte, sah er, wie das Mädchen weiter in den Stein hineingezogen wurde. Die Alabasterhälften glichen den grünen Kiefern einer Bestie, die sich um den Kopf ihres Opfers geschlossen hatten. Er fasste Tara um die Hüfte und zog an ihr, während Jonah gleichzeitig das Kästchen auseinanderzudrücken versuchte. »Das Schloss! Zieh das Messer aus dem Schloss!«, rief Malachi. »Sonst ist sie bald nicht mehr da!« Jonah zerrte und rüttelte an dem Messer, doch der Stein gab die Klinge nicht frei. »Ich schaffe es nicht! Es lässt sich nicht herausziehen.« »Versuch es mit Gefühl. Es wurde aus Hass geschaffen, dem Elixier der Alchimisten. Du musst es mit Gefühl versuchen!« Schon waren Taras Hals und Schultern in dem Alabaster verschwunden. Quecksilberfäden zogen sich über ihren Rücken und die Brust wie lange silberne Tentakel. Jonah schloss die Augen und versuchte, ruhig zu werden. Langsam atmete er ein und aus und stellte sich vor seinem inneren Auge die Freundschaft vor, die sie verband. Er betete, dass Tara nicht verloren sei. Jonah machte einen Satz rückwärts, als der Messergriff in seiner Hand zu explodieren schien. Weißglühend brannte er sein Muster in die Handfläche des jungen Mannes. Die Klinge sprang aus dem Schloss, flog durch den Raum und in das Feuer, das laut zischte, als würde es mit frischem Quellwasser Übergossen. Der Alabaster ächzte und spie Silberfontänen durch den Raum. Die Tentakel schlugen um sich wie Arme aus Stahl.
Malachi wurde getroffen und ging zu Boden. Tara taumelte in eine Ecke. Die Bandagen, die ihren Kopf umwickelt hatten, wirbelten durch die Luft und verschwanden in dem Kästchen. Der Alabaster schloss sich mit einem Geräusch, als schlage die Hand eines Riesen eine Felsentür zu, und fiel auf den Boden. Der Aufprall ließ das Wirtshaus erzittern. Tara rang nach Atem und hustete Quecksilber aus der Nase. Sie fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht, als müsste sie etwas loswerden. »Da drin ist eine andere Welt!«, rief sie. »Ich habe alles gesehen. Es wollte, dass ich mit ihm gehe, dass ich dort bleibe und nie mehr zurückkomme!« Malachi rappelte sich auf und griff nach ihrer Hand. »Wer wollte das?«, fragte Jonah, und sein Blick wanderte zwischen Malachi und dem Mädchen hin und her. »Das Tier in dem Kästchen – ich habe es ganz deutlich gesehen. Es starte mich immerzu an, dann fiel ich in Trance, und es packte mich am Hals und zog mich durch das Quecksilber. Dort drin ist eine andere Welt – so etwas habe ich noch nie gesehen. Wunderschön…« Tara erhob sich und pflückte sich die letzten, harten Quecksilberreste vom Gesicht. Dann strich sie sich mit der Hand über den rasierten Kopf. Jonah folgte ihrer Hand mit Blicken. »Hat Salomon das getan?«, fragte er unwirsch. »Es war Teil der Verwandlung. Das machen sie mit jedem so«, erwiderte sie ohne nachzudenken. Eine Spur von Zorn schwang in ihren Worten mit. »Du hörst dich an, als hätte es dir gefallen, als seiest du bereits Teil seiner großen Familie.« »Ich bin abgehauen, oder? Ich bin zu dir zurückgekommen wie immer. Ich hätte auch dort bleiben können, ich hatte es warm, es gab genug zu essen, und die Gesellschaft war erträglich, anders als…« »Und der Abdruck an deiner Schläfe, hast du dem auch zugestimmt? Ich würde mir von keinem Verrückten eine Grille in den Kopf schneiden lassen.«Jonah strich mit dem Finger über die wulstige, verkrustete Narbe über ihrem rechten Ohr.
»Hat Salomon das auch getan?« Tara schlug seine Hand weg und drehte den Kopf so, dass er die Narbe nicht mehr sehen konnte. Sie fuhr das Brandzeichen mit dem Finger nach, folgte den Umrissen des Tieres, das sich in ihre Haut eingegraben zu haben schien. »Es ist keine Grille, sondern eine Heuschrecke«, sagte Malachi. »Ich kenne sie. Die Tiere verschlingen alles, was ihnen vor die Kiefer kommt. Viele Länder haben schon darunter gelitten. Es ist Salomons Zeichen und Ausdruck seiner Macht.« Tara schwieg. Sie knetete ihre Hände und zog den Kopf zwischen die Schultern. Sie versuchte ein Lächeln, doch alle Freude war von ihr gewichen. Übrig geblieben war nur eine halbe Grimasse, die unter den schwarzen Ringen ihrer eingefallenen Augen hing. »Dieser Ort in dem Kästchen – war er wirklich oder nur ein Traum?«, wollte Malachi wissen. »Er war so wirklich, wie Ihr hier steht. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ins Wasser eintauchen und beobachten, was dort in der Tiefe vor sich geht.« Ängstlich schaute sie zu dem Alabaster hinüber, der vor den Kamin gerollt war. »Wie spät ist es?« »Zeit, die Stadt zu verlassen«, antwortete Jonah. »Wir sind immer noch auf der Flucht, und jetzt ist nicht nur Salomon hinter uns her. Wir müssen das Orakel aus der Zitadelle befreien und dann verschwinden.« »Tersias ist tot«, sprudelte es aus Tara heraus. Die Lüge kam ihr glatt über die Lippen. Langsam schob sie sich näher an die Alabasterschatulle heran. »TOT?«, wiederholte Malachi. »Wie kann er tot sein? Wir befreien ihn doch! Warum hast du es nicht vorher gesagt? Der Junge lebt nicht mehr, und du sorgst dich nur um das Kästchen…« »Ich darf eigentlich nichts sagen, aber ihr sollt es trotzdem wissen. Es passierte bei der Verwandlung… Er war schwach – sein Herz. Niemand wollte es. Und wir haben ihn wenigstens nicht in einem Käfig gehalten und Vorstellungen geben lassen
wie ein Affe im Zirkus. Seine letzten Stunden verbrachte er bei Freunden und nicht in einem dunklen Loch im Dienst eines Scharlatans.« Tara rückte noch näher an den Alabaster, den Blick fest daraufgerichtet. »Der Junge starb friedlich, und sterben müssen wir schließlich alle. Keiner verlässt diese Welt lebendig.« »Du redest von einem Menschen! Wie kannst du so von ihm sprechen?« Jonah war entsetzt. »Du hast ihn doch von uns allen am meisten gemocht.« Tara machte noch einen Schritt auf den Alabaster zu. »Ihr wolltet doch alle beide nur Geld mit ihm machen«, fauchte sie. »Nur aus Gier habt ihr euch um ihn gekümmert. Wirklich helfen wolltet ihr ihm nicht. Euch ging es nur um das Gold, das ihr mit ihm verdienen konntet. Wie er sich fühlte, war euch egal.« »Das war früher so«, erwiderte Malachi. »In der Zwischenzeit ist viel geschehen, was meine Einstellung verändert hat. Zwei Mal hat sich das Tor zur Hölle vor mir aufgetan, und zwei Mal wurde ich errettet. Mir wurde großmütig vergeben, und dafür bin ich von Herzen dankbar.« »Dann zeigt es auch – trauert um ihn, weint um ihn, zerreißt vor Kummer Eure Kleider, aber macht mich nicht für seinen Tod verantwortlich.« »Hat Salomon dir auch das Herz herausgeschnitten, als er dir den Kopf rasiert und dir seine feinen Kleider angezogen hat?«, fragte Jonah wütend. »Wir hätten dich von diesem Tier in das Kästchen ziehen lassen sollen, Tara. Was haben sie nur in dein Gehirn tätowiert? Du bist es, die sich verändert hat, nicht ich.« »In das Kästchen hätte ich mich gern hineinziehen lassen. Ich habe nicht darum gebeten, dass ihr mich rettet. Aber ich bin wegen dir gekommen, hast du das vergessen?«, schrie sie ihn an. Dann fand sie die Worte, die sie sich bisher nicht getraut hatte auszusprechen. Es war, als sei sie über ein Hornissennest gestolpert, das tief in ihr gelegen hatte. »Du wirst dich nie ändern, Jonah Ketch. Du wirst immer ein Schurke bleiben,
ein Betrüger und Lügner.« »Dann steht sie endlich zu dem, was sie wirklich denkt«, sagte er, fast ohne die Lippen zu bewegen. Mit geballter Faust trat er auf sie zu. »Dein Herz war es, das mich zu dir hingezogen hat, und jetzt gibt es dieses Herz nicht mehr.« Er lachte selbstgefällig, denn er wusste, dass seine Wort wie ein Kuss auf den Mund einer Toten waren. Ganz kurz zögerte er. Er war sich bewusst, dass er noch eine letzte Chance hatte, sich zu zügeln und ihr etwas Nettes zu sagen. Doch obwohl er wusste, was er hätte sagen können, entschied er sich dagegen. Die Beleidigungen, die in ihm gärten, waren ätzender als jede Säure. Ein Satz, und ihre Freundschaft war so tot wie das blinde Orakel. »Du bist eine Hure, ein billiges Flittchen.« Er bückte sich, hob den Alabaster auf und hielt ihn ihr hin. »Nimm ihn, mach damit, was du willst. Soll er dich doch aufsaugen.« Tara griff rasch nach dem Stein und drückte ihn an ihre Brust. »Du gehörst in eine andere Welt. Für diese hier braucht man ein Herz aus Fleisch und Blut…« Plötzlich krachte es. In der Wirtsstube splitterte Holz und der alte Bunz kam mit einem Salto ins Hinterzimmer geflogen. Er landete unsanft auf dem Boden. Blut tropfte aus seinem Mund, als er keuchend nach Luft rang. Aus dem vorderen Teil der Schenke waren schwere Schritte und das Poltern umstürzender Tische zu hören. Malachi drehte sich zur Tür um, und da erschien auch schon Beinwell. Um durch die Tür zu kommen, musste er den Kopf einziehen. Er lächelte Tara an, die tapfer stehen blieb. Doch als sie sah, dass Jonah sie beobachtete, duckte sie sich weg. Beinwell trat mit einem abgebrochenen Tischbein in der Hand ins Zimmer. »Ich soll dich zurückbringen. Du kannst nicht die ganze Nacht hier bleiben – sonst versuchen sie noch, dich wieder umzudrehen.« Tara umklammerte den Alabaster noch fester, als Beinwell vor Malachi trat und das Tischbein hob. »Ihr lebt?«, fragte er. »Ich dachte, wir hätten Euch das Le-
ben aus dem Leib geprügelt, aber so, wie Ihr da steht, seid Ihr ganz sicher kein Geist.« »Ich kann viel einstecken…«, erwiderte der Magier und trat einen Schritt zurück. »Nehmt das Mädchen – wir werden ihr nicht folgen. Sie ist hergekommen, um sich zu verabschieden, und sagte uns auf ihre Art, dass sie jetzt zu eurem Verein gehört und nicht mehr zu uns.« »Lass keine Zeugen zurück, hat man mir gesagt, lass niemand übrig«, sagte Beinwell, als er Tara zu sich herzog und fast zärtlich den Arm um sie legte. »Was sagst du, Mädchen? Zahle ich ihm den Schnitt in meiner Handfläche und mein durchstochenes Bein zurück?« Jonah und Malachi schauten sie an und hofften, ihre Worte würden den Riesen irgendwie besänftigen. Ein echtes Lächeln spielte um Taras Lippen, als sie antwortete: »Ich sage, Diener sollten ihren Herrn glücklich machen und tun, was ihnen aufgetragen wurde.« »Sehr gut, so soll es ein.« Plötzlich machte Jonah einen Satz auf den Kamin zu und griff nach dem Messer, das neben den Kohlen lag. Der Schaft in seiner Hand war eiskalt. Er stieß einen schrillen Schrei aus, als Beinwell ausholte und das Tischbein niedersausen ließ, aber nur die Kaminumrandung traf. Jonah fuhr herum und stieß mit dem Messer nach dem Riesen. Auch Malachi sah seine Chance, ergriff den Kerzenleuchter und schlug damit auf Beinwell ein. Der hielt Tara wie einen Schild vor sich und schleifte sie aus dem Zimmer. Dabei schlug er mit dem Tischbein nach Malachi. Jonah packt den alten Bunz am Kragen und schleifte ihn aus dem Weg. Der Kopf des Wirts fiel zur Seite. Aus seinem Ohr tropfte Blut. Das Messer fest in der Hand, sprang Jonah auf den Tisch und von dort auf den Stuhl. Dann griff er nach dem Kronleuchter, schwang auf Beinwell zu und trat ihm mit beiden Beinen in den Brustkorb. Der Riese stolperte rückwärts aus der Tür. Tara lief hinter ihm her, nahm seine Hand, und zusammen rannten sie aus dem Wirtshaus und hinaus auf die
Straße. Malachi und Jonah nahmen halbherzig die Verfolgung auf. »Sie ist weg«, sagte Malachi, als sie unter den Arkaden stehen blieben. Vom Bloomsbury Square herüber war Hundegebell zu hören. »… aber nicht vergessen«, erwiderte Jonah. Nachdenklich betrachtete er das Messer, das in der Dunkelheit gespenstisch leuchtete.
20 Das Zeichen des Tironian Leblos lag der alte Bunz auf dem Karren. Die Räder knirschten, als Malachi und Jonah ihn durch Tyburn zogen. Seit der Komet vorbeigezogen war, lagen die Parks und andere Treffpunkte der Nachtschwärmer verlassen da. Man hatte Angst, der nächste Stern könnte die Erde tatsächlich treffen, und so war alles still in den Straßen. Ein paar Kühe grasten auf der Wiese im Park, doch die Pferde waren weg, sie waren mit den Hunden geflohen, als der Wahnsinn begonnen hatte. Es ging das Gerücht, dass sie sich in einer riesigen Herde im Tal von Hampstead zusammengefunden hätten, während die Hunde in gewaltigen Rudeln im Westen der Stadt jagten und einsamen Wanderern auflauerten. Als sie den sterbenden Wirt durch Straßen und über Plätze zogen, musste Jonah immer wieder an Taras Lächeln denken, als sie den Plan zur Befreiung Tersias ausgeheckt hatten. Er schmeckte noch das Fleisch, das sie zusammen bei Kerzenschein gegessen hatten. Sie hatten gelacht, und Tara hatte mit leuchtenden Augen Geschichten erzählt, wie nur sie sie erzählen konnte. Von einem König hatte sie gesprochen, den die Götter mit Reichtum gesegnet hatten. Alles, was er anfasste, verwandelte sich in Gold. Jonah hatte die Geschichte noch nie gehört. Ihm war es, als sei sie extra für ihn geschrieben worden. Kurz vor dem Ende hatte Maggot auf der Straße geschrien – der Hund hatte ihn angefallen. Sie hatte die Geschichte nie zu Ende erzählt und würde es jetzt auch nicht mehr tun, aber Jonah wusste, dass ein solches Göttergeschenk immer Segen brachte. Als er zufällig auf den Boden blickte, sah er die Umrisse eines Menschen in den Schmutz gebrannt. Er musste wie eine
Fackel gebrannt haben. Nur die Schnalle seines Schuhs war von ihm übrig geblieben. Malachi schaute hinauf in den Himmel, während er den Wagen zog. Sie glichen zwei Lasttieren unter demselben Joch, teilten sich die Arbeit und wussten, dass ihrer beider Schicksal miteinander verwoben war. Der alte Bunz auf dem Wagen rang nach Atem. Beinwell hatte ihm einen Halswirbel gebrochen, sodass in seinen Händen und Füßen kein Leben mehr war. Seit sie das Wirtshaus verlassen hatten, hatte er immer nur einen Namen vor sich hin gemurmelt: Tara. Sie war wie eine Tochter für den Alten gewesen, eine Freundin und Geschäftspartnerin. Sie hatte Teller gewaschen, das Geld gezählt und die Reste in den Krügen, aufgefrischt mit einer Handvoll getrocknetem Hopfen und ein wenig Gin, in die Fässer zurückgeschüttet. Jetzt wollte er sie noch einmal sehen und schrie nach ihr wie ein kleines Kind nach seiner Mutter. »Ob Griselda etwas für ihn tun kann, was meint Ihr?«, fragte Jonah, um das Schweigen zu brechen. »Wenn ich ihn mir so anschaue, kann man nur noch eines für ihn tun: ihn in die Themse legen und warten, dass die Flut ihn wegträgt. Jonah, mein Junge, es kommt eine Zeit, da ist es besser, einen Mann seinem Schöpfer zurückzugeben, als ihn hier auf der Erde festzuhalten. Ich habe einmal in einem Buch gelesen, dass alles seine Zeit hat, dass es eine Zeit zum Leben und eine Zeit zum Sterben gibt. Für diesen alten Mann ist das Ende zweifellos gekommen.« »Wir müssen etwas tun. Tara…«Jonah hielt inne. »Tara, Tara – Tara speist mit Salomon, isst meterweise Austern…«, sang Malachi spöttisch und tanzte einen Jig dazu, den Blick wieder nach oben gerichtet zu den Sternen. »Ihr Herz hat sich gewandelt; es war nicht deine Schuld. Sie ist verloren. Jetzt hast du eine Verpflichtung deinem alten Freund Bunz gegenüber. Du kannst in seinen letzten Stunden für ihn tun, was getan werden muss, und derweil noch deinen Freund Maggot besuchen.« »Ich will nicht sterben«, brach es unerwartet aus Jonah her-
aus. »Aber manchmal wünschte ich, ich wäre nie geboren worden.« »Die Worte einer Königin, gesprochen, kurz bevor das Hackebeil auf ihren weichen weißen Nacken niedersauste.« Malachi lachte in sich hinein. »Das können wir nicht beeinflussen. Wir sind hier, und der einzige Fluchtweg führt durch eine Tür ins Unbekannte. Wir werden geboren, wir leben und wir sterben – so sieht es aus.« »Aber wir wissen nie, wann unsere Zeit gekommen ist«, beharrte Jonah. »Das ist ja der Spaß an der Sache. Der Tod wartet auf uns, verfolgt uns, lauert unter dem Bett und in dunklen Ecken. Er ist ein Zweig der Schierlingstanne im Glas, das ein Freund dir reicht, ein Blitz an einem Sommertag, ein alter Gauner, der dir in der Nacht auflauert, ein Engel, ein Teufel… Wir wissen es nicht, und das ist gut so, denn wenn wir es wüssten, würde das Leben seinen Sinn verlieren, und wir hätten keine Wünsche und keine Träume mehr.« Sie redeten weiter, während die Räder des Karrens nach Strumbelo rollten und die Sterne die Erde der Sonne entgegendrehten. Nach einer Stunde hatten sie die Ruinen von Tyborn hinter sich gelassen, den Hyde Park durchquert und waren in die King’s Road eingebogen. Im Osten zeigte sich das erste Licht, als eine schwache Sonne am Horizont zerrte, in der Hoffnung, den Mantel der Dunkelheit noch einmal darüberdecken zu können. Ein rauer Wind blies ihnen entgegen und brachte den Geschmack des taufeuchten Grases auf ihre Lippen. Sie gingen durch freies Feld, dichte Hecken und kahle Obstbäume erstreckten sich bis zum Fluss. In der Ferne konnten sie bereits die silbrig schimmernden Dächer von Strumbelo erkennen, die vielen Schornsteine, weiß verputzte Mauern und schwarze Zäune. Das Anwesen war von Ahornbäumen, hohen Eichen und einer Stechpalmenhecke umgeben, die grün und blutrot leuchtete. Ein zweiflügliges Eisentor mit goldfarbenen Stäben versperrte ihnen den Weg. Malachi stellte den Wagen ab und
beugte sich über den alten Bunz. Der Wirt röchelte, offenbar klammerte er sich an die letzten Augenblicke seines Lebens. »Er macht es nicht mehr lang«, stellte der Magier fest und schaute sich um. »Wir müssen ihn hineinbringen. Es wäre nicht gut für ihn, wenn er hier sterben müsste. Besser unter Freunden am Feuer als auf der Straße.« Zu beiden Seiten des Tors erstreckten sich die dichten Hecken, hinter denen sich eine Steinmauer verbarg, die bis zum Ufer eines Sees reichte. Mehrere Metallschlingen bildeten ein kompliziertes Schloss, und es war nicht zu erkennen, wie man es öffnen könnte. Als Jonah am Tor rüttelte, erschien auf der anderen Seite ein Mann ganz in Schwarz. Er trug einen langen Stock, an dem eine kleine Laterne hing, hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut tief in die Stirn gezogen, sodass man lediglich ein Auge und volle Lippen erkennen konnte. Er war völlig geräuschlos aufgetaucht, ohne sich irgendwie anzukündigen und ohne ein Wort des Willkommens. »Wir…«, begann Jonah, stockte und schaute Malachi Hilfe suchend an. »Wir haben einen kranken Mann bei uns und brauchen Eure Hilfe. Ein junger Freund von uns erholt sich hier, und wir hofften, die Hausherrin würde auch uns aufnehmen.« »Magnus Malachi?«, fragte der Mann. Seine Stimme war tief und voll, und er sprach mit einem fremdländischen Akzent. »Ja«, erwiderte Malachi verwirrt, »und – « »Jonah Ketch?« Der Torwächter hob die Laterne, um ihre Gesichter in der Morgendämmerung besser sehen zu können. »Ja, das bin ich, und – « »Mister Bunz. Bringt ihn schnell herein. Sie sagte, dass ihr kommen würdet, aber ihr seid spät dran. Wir warten schon seit zwei Stunden auf euch. Rasch, rasch«, drängte er, während er mühelos die verschlungenen Metallringe entwirrte und das Schloss öffnete. Er hob einen Torflügel aus der Halterung und ließ ihn zurückschwingen.
Ohne ein weiteres Wort drückte der Torwächter Jonah seinen Stab in die Hand, griff nach der Deichsel des Wagens und eilte im Laufschritt Richtung Wohnhaus. Der Kiesweg, der zur Haustür führte, war von gepflegten Blumenbeeten gesäumt. Hinter ihnen schwang der Torflügel wieder zu, und als Jonah sich umdrehte, sah er, wie sich die Metallringe ineinanderschoben und das Tor ohne menschliches Zutun fest verschlossen. Etliche Schafe, die auf dem Rasen vor dem großen Haus im Tudorstil grasten, drängten sich aneinander. Die Sonne war inzwischen über den Horizont gestiegen, sodass das Licht der Laterne neben der Tür nicht mehr gebraucht wurde. Malachi und Jonah trabten hinter dem Torwächter her. Es war, als habe man sie erwartet und alles für ihre Ankunft vorbereitet. Die beiden Flügel der blauen Haustür schwangen von alleine auf, und aus der Eingangshalle fiel Licht auf den Vorplatz und die akkurate Backsteinmauer, die ihn umgab. Griselda erschien in der Tür. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie Freunde begrüßen, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie trug dieselben Kleider wie damals im Hinterzimmer des »Bull and Mouth«, als Jonah sie zum ersten Mal gesehen hatte, doch jetzt fiel ihr das lange rote, mit silbrigen Strähnen durchsetzte Haar offen auf die Schultern. Als sie lächelte, fiel die Beklommenheit von Jonah ab, die er auf dem ganzen Weg hierher gespürt hatte. Er hörte die Aasgeier, die im Süden über dem Fluss kreisten, schreien. »Jonah, Magnus Malachi – wir haben auf euch gewartet. Bringt ihn schnell herein, dann werden wir sehen, was wir für ihn tun können«, sagte Griselda drängend. »Ich fürchte, es ist schon zu spät«, erwiderte Malachi und nahm, wie sich das in Gegenwart einer Frau gehört, seinen Hut ab, um ihn an die Brust zu drücken. »Eine Arznei hilft ihm nicht mehr, da bin ich mir sicher.« »Nichts ist unmöglich für den, der glaubt. Alles hat seine Zeit und diese Krankheit wird nicht im Tod enden, so viel weiß ich.«
»Mehr Glaube als Verstand«, murmelte Malachi vor sich hin. »Mehr Glaube, ja…«, erwiderte sie, drehte sich um und ging hinter dem Torwächter ins Haus. Der Mann hatte den alten Bunz behutsam vom Wagen gehoben und trug ihn in die Eingangshalle. Jonah und Malachi folgten ohne besondere Einladung, die Neugier zog sie hinein. »Bleibt hier am Feuer sitzen. Was wir jetzt tun werden, geht euch nichts an«, bestimmte Griselda kurz angebunden. Sie wies auf die beiden Ledersessel vor dem gemauerten Kamin, zwischen denen ein Tisch mit einem Willkommenstrunk und einigen Fleischpasteten stand. »Mehr werden wir wohl nicht zu sehen bekommen«, meinte Malachi, als Griselda ihm die Tür zu dem Zimmer, in welchem ihr Diener verschwunden war, vor der Nase zuschlug. Er sah, wie Jonah sich in der großen Halle mit den dunkel getäfelten Wänden, den kostbaren Teppichen und der breiten Treppe umschaute. »Das ist Strumbelo. Hast du noch nichts darüber gehört? Eines der schönsten, wenn auch merkwürdigsten Häuser in ganz England«, sagte er, ging zum Kamin und ließ sich in einen der Sessel fallen. Er goss sich ein Glas Portwein ein und nahm sich eine Fleischpastete. »Hier sind wir sicher. Weder Malpas noch Salomon würde es wagen, hierher zu kommen. Sie ist eine bezaubernde Frau und steht unter dem Schutz des Königs.« »Ihr wisst so viel über sie, Malachi. Ich hatte bis vor Kurzem noch nie etwas von ihr gehört. Sie kleidet sich wie ein Mann, trägt eine Tasche mit sich herum, wie Hexen sie haben, und Ihr sagt, sie stehe unter dem Schutz des Königs?« Jonah kniete am Tisch und wärmte sich den schmerzenden Rücken am Feuer. »So ist es ihr am liebsten. Immer arbeitet sie im Verborgenen, lässt die Rechte nicht wissen, was die Linke tut, und hält doch für vieles die Fäden in der Hand. Keiner weiß, was sie wirklich im Schilde führt. Ich weiß nur, dass sie etwas im Schilde führt.«
»Und der König?«, fragte Jonah. Auch er schob sich eine der Fleischpasteten in den Mund und spülte sie mit Portwein hinunter. »Es heißt, dass sie dem Kronprinz das Leben gerettet und ihn von der Bluterkrankheit geheilt hat. Er war der Liebling des Königs, sie tauchte eines Tages am Hof auf, nahm ihn mit und brachte ihn eine Woche später zurück wie neugeboren. Keine Spur mehr von der Krankheit, voller Energie und immer einen Scherz auf den Lippen. Dafür wird der König Griselda Malpas immer dankbar sein«, erklärte Malachi und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Malpas?« Vor Überraschung blieb Jonah ein Stück Pastete im Hals stecken. »Habt Ihr Griselda Malpas gesagt?« »Sie ist die Frau von Lord Malpas. Eine Lady von Haus aus. Es war natürlich eine arrangierte Heirat, aber sie hat ihn geheiratet. Allerdings behaupten viele, dass die Ehe nur dem Namen nach besteht. Strumbelo gehörte ihrer Mutter, sie hat das Gut nach deren Tod geerbt.« »Die Geschichte meiner Familie sollte nur von Leuten erzählt werden, die auch wirklich Bescheid wissen, und nicht von schwatzhaften alten Männern.« Griselda war mit wenigen Schritten bei ihnen. »Was habt ihr beide bloß angestellt! Wie ich gehört habe, ist halb London hinter euch her und will euch umbringen.« Sie schaute auf Jonah hinunter, der immer noch beim Feuer kniete und mit vollem Mund und weit aufgerissenen Augen zu ihr aufsah. »Hör nicht auf Magnus Malachi. Er ist ein Magier, und es ist allgemein bekannt, dass diese Leute sich das, was sie nicht wissen, einfach ausdenken.« »Bunz?«, fragte Jonah bang. »1st er – « »BUNZ! KOMMT HERAUS!«, rief sie, und die Tür zu dem Zimmer gegenüber der Treppe öffnete sich langsam. »Eure Freunde haben Angst, dass Ihr tot seid.« »Darüber macht man keine Witze«, sagte Malachi und erhob sich. »Wir haben ihn zum Sterben hierher gebracht. Der Mann hat sich das Genick gebrochen.« »Dann werdet Ihr schwer enttäuscht sein. Bunz, kommt
heraus!«, befahl sie noch einmal und ging zur Tür. In dem Moment trat der alte Bunz in die Eingangshalle, kratzte sich am Kinn und strich sich über den Schnurrbart. Malachi musste sich an der Sessellehne festhalten, um nicht umzukippen. Jonah rappelte sich auf und lief auf den alten Mann zu. »Nicht anfassen!«, rief Griselda, und der Torwächter, der hinter Bunz aus dem Zimmer gekommen war, fing Jonah ab, hob ihn hoch und verfrachtete ihn in einen Sessel. »Die Heilung ist noch nicht abgeschlossen. Du kannst ihn morgen früh umarmen, wenn alles wieder in Ordnung ist.« »Seid Ihr es wirklich, Bunz?«, fragte Jonah. Er wollte aufstehen, wurde aber von dem Torwächter mit fester Hand wieder in den Sessel gedrückt. »Ich bin es, Jonah, ich bin es, und es geht mir gut. Wenn du wüsstest, was ich in der letzten Stunde alles Schönes gesehen habe! Es war klug von dir, mich hierher zu bringen. Ich habe mich nie besser gefühlt. In meinen Träumen habe ich ganz wunderbare Dinge erlebt!« »Und es wird dir noch viel besser gehen, wenn du aufhörst zu trinken und deine erste anständige Mahlzeit seit Jahren gegessen hast«, meinte Griselda. »Der Mensch kann nicht allein von Bier leben, Mister Bunz. Geht mit Abel, er wird Euch zeigen, wo Ihr euch ausruhen könnt.« Der Torwächter fasste Bunz am Ärmel seiner Jacke und führte ihn die Treppe hinauf. Durch das große Fenster mit den bleiverglasten Scheiben drangen die ersten Strahlen der Novembersonne. »Ihr werdet Maggot sehen wollen. Ich habe gemerkt, dass er vor neun Uhr nicht richtig zu sich kommt, deshalb lasse ich ihn schlafen. Er hat ein arbeitsreiches Leben vor sich. Gönnen wir ihm etwas Ruhe, nachdem es ihm so schlimm ergangen ist.« Jonah machte ein mürrisches Gesicht und senkte den Blick. Malachi spürte seine Anspannung und wechselte das Thema. »Strumbelo ist ein ganz eigener Ort, Lady Malpas«, sagte er, und goss sich noch ein kleines Glas Wein ein. »Was draußen in der Welt geschieht, geschieht nicht hier drin-
nen, und was hier geschieht, geschieht nicht draußen in der Welt – wolltet Ihr das damit sagen, Magnus?« Griselda stellte sich vor die Wand, drückte auf eine Platte in der Holzvertäfelung und wartete, bis sich vor ihren Augen eine Tür auftat. »Wer hat den Alabaster?«, fragte sie, während sie sich in die Dunkelheit hineinbeugte, eine Apothekertasche zum Vorschein brachte und sie zum Tisch trug. Hinter ihr schloss die Wand sich wieder. »Beinwell«, erwiderte Malachi wie ein Kind, das ausgeschimpft wurde. »Er wird ihn Salomon geben, dem Propheten.« »Und der Schlüssel?« Sie schaute Jonah an. »Hältst du ihn immer noch in deiner Tasche versteckt?« »Er ist hier… Und er hat mir viel Grund zur Klage gegeben, wie Ihr gesagt habt.« Jonah konnte ihr nicht in die Augen schauen, als er in der Tasche nach dem Messer griff. Ihm fiel auf, dass es keine Wärme mehr abgab und wie leblos wirkte. Seine Fingerspitzen kribbelten nicht, und er hatte nicht das Bedürfnis, es herauszuziehen und glitzern zu sehen. »Dann behalte es. Denn es liegt noch einiges an Arbeit vor uns, und du bist derjenige, der es dort abliefern wird, wohin es gebracht werden möchte.«
»Ihr wisst so viel über uns, Lady Malpas. Es ist, als seien wir die Bauern in Eurem Schachspiel.« Malachi nippte an dem Wein. Er wärmte ihn und löste seine Zunge. »Ich betrachte mir nur das Spiel, in das ihr verwickelt seid. Ich spiele keine Rolle dabei, aber Euer aller Leben interessiert mich. Wenn Ihr es mit Schach vergleicht, so bin ich eine Figur, die von einer größeren, weiseren Hand geführt wird.« Griselda hielt inne und schaute ihre beiden Gäste an. Malachi stand stolz und aufrecht da. In dem langen Magiermantel, den er in den letzten neun Jahren nicht ein einziges Mal abgelegt hatte, wirkte er fehl am Platz. Jonah saß mit großen Augen im Sessel und genoss die Ruhe um sich herum. Die Steine und das Holz schienen von Frieden zu sprechen, so als lebte und atmete das Haus Zufriedenheit. »Die Zukunft liegt in euren Händen, nicht in meinen. Wenn ihr erkennt, wie ihr verändert wurdet, werdet ihr auch andere verändern.« »Was müssen wir tun?«, fragte Malachi für beide. »Geht nach London zurück. Findet das Mädchen und den
Alabaster, und gebt Lord Malpas das Messer zurück.« »Dann steckt Ihr also mit ihm unter einer Decke?«, fauchte Jonah. »Ich gehöre seit vielen Jahren zu diesem Mann, und was er getan hat, hat mir das Herz gebrochen. Es gibt viele in seiner Umgebung, die mir den Tod wünschen, und wenn ich nicht unter dem Schutz des Königs stünde, wäre ich auch längst tot. Was ihn umtreibt, ist nicht aus Fleisch und Blut. Macht und Fürstentümer, von einer Art, die wir mit unserem menschlichen Verstand nicht ermessen können, sind es, die ihn bewegen…« Zum ersten Mal spürte Jonah ihre tiefe Sorge, als habe ihr Selbstvertrauen unter einem verborgenen Einfluss gelitten. »Malpas hat nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt. Den Alabaster trägt er seit dem Tag unserer Hochzeit bei sich, und er ist ihm wichtiger als das Bündnis, das wir geschlossen haben. Der Stein birgt den Fluch, der auf der Familie liegt und vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde. Er zerstört ihn, wie die Pest einen Körper zerstört. Malpas hat allem, was wahr ist, den Rücken gekehrt. Strumbelo könnte ihn frei machen, doch er will seine Schönheit nicht annehmen.« »Ich habe sein Leben im Traum vor mir gesehen«, sagte Jonah rasch und stand auf. »Da war ein Wolf, und das Messer hat dem König das Leben gerettet… Seht her!« Er hielt ihr den blutgetränkten Ärmel seiner Jacke hin. »Das war mehr als ein Traum, es war ein Albtraum, der Wirklichkeit wurde – ich habe die Wunde selbst gesehen«, ergänzte Malachi und schob den Jackenärmel zurück, damit Griselda den schmutzigen Verband um Jonahs Unterarm sehen konnte. »Dann gibt es keine furchterregenden Ungeheuer mehr für dich. Die Angst hat sich in deinem Herzen eingenistet, aber die vollkommene Liebe wird alle Furcht vertreiben.« Unvermittelt packte Griselda Jonah am Arm und riss ihm den Verband ab. Die Bisswunde brach auf und zäher, stinkender Eiter lief heraus. Griselda legte die Hand darauf, presste
das Fleisch zusammen und murmelte Worte, die Malachi noch nie gehört hatte. Jonah schrie auf, als es ihn zu Boden warf, doch Griselda ließ seinen Arm nicht los und schwenkte ihn hin und her. Während er sich vor Schmerzen krümmte, bildete sich um ihn herum ein grüner Nebel, wurde dichter und ballte sich zu seltsamen Formen zusammen. Er sickerte aus Jonahs ganzem Körper und floss aus seiner Nase wie Schwefel aus einem Vulkan. Er waberte um seine Beine, kalt und stinkend. Die Haut an Jonahs Arm warf Blasen und brach auf und auch aus den neuen Wunden lief grüner Eiter. Griselda ließ ihn dennoch nicht los. Sie hielt den Blick fest auf ihn gerichtet und murmelte ununterbrochen vor sich hin. Der Nebel konzentrierte sich beim Feuer und nahm langsam die Gestalt eines Tieres an. Ein Wolf wurde erkennbar, der zu knurren begann. Malachi machte einen Satz rückwärts, als der Wolf auf ihn zukam, und verschanzte sich hinter dem Sessel. Hektisch kramte er in seinem Zauberbeutel nach etwas, womit er einen Schutzzauber wirken könnte. Zwei große rote Augen entstanden in dem deutlich erkennbaren Kopf mit der lang gestreckten Schnauze. Die Augen schauten die Anwesenden nacheinander an, so als prüfte das Tier, in wen es am besten fahren könnte. »Du hast hier nichts verloren!«, rief Griselda, als es auf Malachi zuging. »Lykaon, verschwinde! Dein Fluch ist gewirkt und deine Zeit abgelaufen. Geh an den Ort, der dir zugewiesen wurde, und warte dort auf dein Urteil!« Die Kreatur wand sich bei jedem Wort in Krämpfen. Jonah sprang auf. Er hatte den Mund weit geöffnet und versuchte, etwas von dem Nebel einzuatmen und mit seinem Atem in sich aufzunehmen. »Er ist erledigt, Jonah – er hat keine Bleibe mehr in dir. Was begann, als du ein kleines Kind warst, ist vorbei… Du bist frei.«
»Frei?«, murmelte eine Stimme, die ohne Gestalt im Raum hing und von mehreren Stellen gleichzeitig zu kommen schien. »Er wird nie frei sein. Seinesgleichen ist es nie. Nur wenn sie mir eine Bleibe bieten, können sie auf Vernunft hoffen.« Es folgte ein kindlicher Schluchzer, bei dem es Malachi eiskalt über den Rücken lief. »Lass ihn noch einen Atemzug voll nehmen. Er weiß, er braucht meine Gesellschaft – wer sonst würde ihm zu so angenehmen… Träumen… verhelfen?« Malachi schaute zum Kamin, als das Tier immer größer wurde und eine tiefpurpurrote Farbe annahm. Das Fell auf seinem schmalen Rücken war aufgestellt. Es bleckte die Zähne, deren Abdrücke auf Jonahs Arm zu sehen waren, knurrte und legte die Ohren an, bereit zum Angriff. »Jonah, ich bin es«, äffte es Taras Stimme nach. »Schick mich nicht weg. Höre nicht auf diese Frau, sie wird allem, was für dein Leben vorgesehen war, ein Ende setzen. Gib mir Zuflucht…«Aus allen Ecken kam kindliches Schluchzen. Es war im ganzen Haus zu hören, als seien unendlich viele weinende Kinder in Strumbelo. »GEH JETZT!«, befahl Griselda und ging mit ausgestreckter Hand auf das Tier zu, als wollte sie es an den Nackenhaaren packen. Es wich zurück in die Flammen, die unverändert weiterloderten. »Das ist deine letzte Chance, Jonah… Hier spricht deine Mutter«, sagte es im selben Tonfall, in dem diese gesprochen hätte, stockbetrunken und unbekümmert. »Du weißt, dass ich es nie böse mit dir gemeint habe, mein Junge.« Jonah wälzte sich auf dem Boden und hielt sich die Ohren zu. Er wollte kein Wort mehr von dem Tier hören. »Lass mich, lass mich in Ruhe, ich will nichts von dir!« »VERSCHWINDE!«, rief Griselda noch einmal. Sie trat in den Kamin und wurde vom Nebel des Tieres eingehüllt. »Verschwinde, sonst rufe ich den Namen an…« Mit einem ohrenbetäubenden Schrei zerbarst das Tier in tausend Teile, die durch die Eingangshalle flogen. Die Explosion warf Malachi zu Boden und stürzte Möbelstücke um.
Dann wurde der Dämon in seinen eigenen dunklen Schatten gesaugt. Der Henkel des Zauberbeutels hatte sich wie eine Schlinge um Malachis Hals gelegt und nahm ihm den Atem, als er vom Boden hochgezogen wurde und das schwarze Loch ihn ebenfalls einzusaugen drohte. Da er keine Luft bekam, konnte er nicht um Hilfe rufen. Griselda sah, was geschah, zog rasch ein kleines Messer aus dem Stiefelschaft und schnitt den Henkel durch. Der kleine Lederbeutel verschwand in dem schwarzen Loch. Ein plötzlicher Windstoß ließ das ganze Haus erzittern. Ein Heulen wie von tausend armen Seelen, die zum Hades geschleift werden, erklang. Im nächsten Augenblick war alles ruhig, das Tier war verschwunden. Lady Malpas blickte auf Jonah und Malachi hinunter, die beide hilflos auf dem Teppich vor dem Kamin lagen. Jonah versuchte zu sprechen; viele Fragen standen ihm in das Gesicht geschrieben. Sie legte den Finger auf die Lippen. »Jetzt ist nicht die Zeit dafür«, sagt sie leise. »Das ist nicht das Ende deiner Reise, sondern erst der Anfang…«
21. Die große Wende Im Turmzimmer der Zitadelle herrschte vollkommene Dunkelheit. Die Jünger hatten die hohen Fenster geschwärzt und sämtliche Kerzen entfernt. Eiben- und Stechpalmenzweige, umgeben von jeweils sieben Mistelbeeren, lagen auf den Simsen. Auf dem altarartigen Tisch befanden sich ein Winkelmaß und ein Kompass. Eine weiße Kreidelinie teilte den Raum in zwei genau gleiche Hälften. Salomon und etliche seiner Jünger hatten es aus- und immer wieder nachgemessen. Beinwell kam mit schweren Schritten die Wendeltreppe herauf. In der Hand hielt er einen schmiedeeisernen Kerzenleuchter mit sechs krummen roten Kerzen, die nur wenig Licht gaben. Langsam ging er zu dem Altartisch zwischen den beiden mit Eichenlaub geschmückten Marmorsäulen hindurch. Hinter ihm kam Salomon. Er war nervös, da er nicht wusste, was gleich passieren würde, und kratzte sich bei jedem Schritt an der Hand. In der Mitte des Raumes blieb er stehen. Er hatte ein Tuch aus feinster Seide um den Hals geschlungen und den Hemdkragen auf der rechten Seite umgelegt. Sein Gesicht bedeckte eine schwarze Federmaske. Zu seinen Füßen stand der geflochtene Sarg mit frischem Blumenschmuck. Tersias in seiner unendlichen Dunkelheit hatte den Helm auf dem Kopf, der die Teufelsbrut von ihm fernhielt. Beinwell hatte, ohne sich um das zu kümmern, was die Kreatur gesagt hatte, seine Macht ausgespielt – keine Spur von Fürsorge und Herzenswärme. Mit großer Freude hatte er ihn sein eigenes Elend spüren lassen. Da Tersias geahnt hatte, was ihn erwartete, konnte er sich dagegen wappnen. Er hatte beschlossen, nicht länger wie ein Hund um Gnade zu winseln und nie mehr undankbaren Menschen zu Willen zu sein.
Salomon hatte kleine Häufchen Räuchermittel auf sieben goldene Teller verteilt und diese ringförmig im Turmzimmer aufgestellt. Jetzt zündete er das Pulver an. Als er damit fertig war, zog er Tersias vom Stuhl. Der Bluterguss auf der Wange des Jungen leuchtete im Licht der Kerzen. »Der Junge muss sprechen«, sagte er und gab Beinwell ein Zeichen, ihn dazu zu bringen. »Der Dämon kann uns nichts anhaben. Ich will wissen, ob er noch andere Stimmen hört, die uns sagen können, was wir wissen müssen.« Beinwell verdrehte dem Jungen die Finger und flüsterte ihm ins Ohr: »Willst du wohl endlich zu uns sprechen, Junge?« Dann packte er ihn am Kragen und schüttelte ihn. »Schüttle nicht alles Leben aus ihm heraus«, protestierte Salomon. »Zumindest jetzt noch nicht. Bevor er stirbt, soll er zu uns sprechen.« Tersias schwieg. Er dachte an Malachi. Etwas bewegte sich in seinem Herzen, als er an den alten Mann dachte, etwas, das ihn erkennen ließ, was im Leben des Magiers anders war. Tersias wollte nur eines: Frei sein von dem Fluch, der ihn an diesen Ort gebracht hatte. Er hatte die Verzweiflung in Malpas’ Stimme gehört, als dieser versucht hatte zu erfahren, was die Zukunft bringen würde. Bei Salomon war es dasselbe gewesen, doch Tersias wusste, dass er ihr Verlangen niemals stillen konnte. Beide waren ganz besessen von dem Wissen um die Zukunft, doch hinter all ihrem Drängen hatte er stets die eisige Hand ihrer Angst gespürt. Doppelt blind durch den Helm wartete Tersias in seiner Dunkelheit und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Er empfand tiefes Mitleid für Tara. Während er den Schritten von Beinwell und Salomon lauschte, ihren Drohungen und Flüchen, dachte er an das Mädchen. Er erinnerte sich an ihre liebevolle Stimme und ihre weiche Haut, als sie ihn in der Nacht aus der Gefangenschaft befreit hatte. Doch er hatte auch die kaum wahrzunehmende Veränderung in ihrer Stimme gespürt, nachdem sie die Verwandlung durchgemacht hatte. Er rief laut nach der Teufelsbrut in der Hoffnung, dass die-
se sein zerschundenes Gesicht sehen und sich für alles rächen würde, was ihrem Schützling angetan worden war. Doch er erhielt keine Antwort, kein Flügelschlag des Geistwesens, kein kalter Schauer, nichts. Er war allein, allein und verloren in seinem dunklen Gefängnis. Doch auch wenn er in diesem Moment die Gegenwart des Wesens herbeisehnte, war der Wunsch, nicht mehr von ihm beherrscht zu werden und nie mehr auf Befehl begieriger Männer reden zu müssen, noch größer. »Los junge!« Beinwell setzte ihn wieder auf den Stuhl. »Du musst jetzt zu uns sprechen…« »Ruf nicht dieses Geistwesen an«, sagte Salomon. »Wir wollen andere Geister hören – freundlichere, sanftere Orakel, die uns die letzten Wahrheiten offenbaren.« Er schüttelte Tersias. »Rede junge, rede! Ich war Zeuge, dass es anderen vor dir gelang.« »Ich verstehe«, erwiderte Tersias benommen. Er strich über das Holz des Stuhles und suchte nach einem hervorstehenden Splitter. Er musste Schmerz empfinden, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. »Sehr gut.« Salomon kauerte sich vor den Jungen und suchte nach Spuren, die auf die Gegenwart eines Geistwesens hindeuteten. »Zu wem wirst du sprechen?« »Was wünscht Ihr zu wissen?«, fragte Tersias. »Ich höre viele Stimmen, die Euch raten wollen.« Salomon rang die Hände. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er war wieder voller Hoffnung und Freude. »Worüber sollen wir sprechen, Beinwell? Sag es mir, du Tölpel. Ich möchte die kostbaren Worte des Orakels nicht vergeuden.« »Fragt ihn nach meiner Zukunft. Aber die Teufelsbrut soll nicht wiederkommen, ein anderer Geist tut es auch.« Tersias hörte ihn und senkte den Kopf. Er überlegte kurz, dann rief er das Geistwesen an. Alles blieb still, keine Antwort, kein Wesen, das ihn hörte. Tersias geriet in Panik, er keuchte, unsicher, was er tun sollte, doch dann kam plötzlich ein alles umfassender Friede über ihn, der ihn einhüllte und ru-
hig machte. »Was wollt Ihr von mir wissen?«, fragte er mit der tiefen, ausdruckslosen Stimme eines erwachsenen Mannes. »Sagt es mir, das Wesen ist nah«, fuhr er fort, obwohl er wusste, dass er allein war. »Ist es… die Teufelsbrut?«, wollte Salomon wissen. Er hatte sich hinter Beinwell gestellt. »Es ist ein anderer Geist. Weiser und besser vertraut mit der Art der Menschen.« »Sprich, Geist, sprich«, sagte Salomon und schob Beinwell auf den Jungen zu. »Was willst du wissen?«, fragte Tersias wieder mit einer anderen Stimme. Er zog die Schultern hoch, als friere er, und warf den Kopf von einer Seite zur anderen. »Du kannst uns hören, obwohl der Junge den Helm trägt?«, fragte Salomon misstrauisch. »Deine Worte erreichen mich so klar wie deine Wünsche.« »Und was sind das für Wünsche?« »Du willst wissen, was die Zukunft bringt und wo dein Platz in der Geschichte der Menschheit ist.« Salomon schluckte. Die Stimme, die durch Tersias sprach, schien in sein Innerstes sehen zu können. »Woher weißt du das?«, fragte er und betrachtete den Jungen im Schein der Kerzen eingehend. »Es steht in deinem Herzen geschrieben. Ich höre es mit jedem Herzschlag«, log Tersias. »Es stimmt, Beinwell, das ist mein innigster Wunsch. Das Orakel kennt mich. Binde ihn los, damit er noch mehr sagen kann. Die Kränze halten uns die Teufelsbrut vom Leib, und vielleicht sind noch andere Geister da, mit denen der Junge reden kann.« Tersias holte tief Luft. Seine Lunge brannte von dem Trank, der wie heiße Lava durch seinen Körper pulsierte. Er kannte Salomon. Er unterschied sich nicht von all den anderen Männern, die vor ihm gestanden und dem Orakel Fragen gestellt hatten. Es war immer dasselbe: Menschen, die Angst hat-
ten vor der Zukunft, nicht zufrieden waren mit dem, was sie hatten, und immer noch mehr wollten. Einmal hatte eine Frau mit einer schrillen Stimme ihn gefragt, welches Kleid sie am Abend tragen sollte. Die Teufelsbrut hatte gelacht und gesagt, sie solle sich am besten in ein großes Stück Sackleinen hüllen und zu Hause bleiben. Ein anderer hatte ihn angefleht, ihm zu sagen, ob die Krankheit, die er hatte, mit dem Tod enden würde. Das Geistwesen hatte ihm geantwortet, er solle sieben Mal in einen Bottich voll edelstem Wein untertauchen, dann sei er geheilt. Der Mann war glücklich weggegangen – und als er nicht mehr zu sehen war, hatte die Teufelsbrut Tersias zugeflüstert, dass er noch in dieser Stunde aufgrund seiner eigenen Dummheit den Tod durch Ertrinken sterben und seine Familie ins Gefängnis geworfen werden würde, bis sie dem Winzer den verdorbenen Wein bezahlen könne. Und doch kamen sie immer noch, um sich die Wahrheiten, Halbwahrheiten und oft auch faustdicken Lügen anzuhören, die das Geistwesen von sich gab. In ihrer Verzweiflung und ihrer Unzufriedenheit glaubten sie alles und ließen sich von blinden Augen die Handlinien lesen. Tersias versuchte, seine Gedanken zusammenzuhalten. Obwohl er halb betäubt war von der bitteren Galle, wusste er, dass dies seine Chance war, für sich selbst zu sprechen, mehr zu sein als eine Marionette, an deren Schnüren Menschen und Dämonen zogen. Er war so oft gezwungen worden, den Menschen nach dem Mund zu reden, dass er nun auf Rache sann und die große Wende herbeiführen wollte, die sein ganzes Leben verändern und den Krieg beenden sollte, der seine Seele in Stücke riss. Durch die Augen der Geister hatte er gesehen, dass es außerhalb seines Käfigs aus Entbehrung und Grausamkeit Tanz und Fröhlichkeit gab. Malachis Gesicht verfolgte ihn. Die Galle ließ es aufsteigen und wie ein graues Gespenst vor seinem inneren Auge erscheinen. »Was möchtest du mir sagen, Geist«, fragte Salomon ungeduldig. Er lauschte auf das leiseste Geräusch am Fenster, da er immer noch Angst hatte, die Teufelsbrut könnte sich einschlei-
chen. »Deine Zukunft sitzt vor dir, aber da ist etwas anderes, das du suchst, das du begehrst. Was deine Wünsche betrifft, sie stehen in den Falten deines Gesichts geschrieben.« »Und das andere – was ist das?«, wollte Salomon wissen. Tersias wiegte sich hin und her. Galle stieg in ihm hoch und nahm ihm den Atem. »Ich sage nichts mehr«, antwortete er mit seiner eigenen Stimme, »ich will kein Orakel mehr sein, lass mich in Ruhe, Geist, verschwinde… Helft mir doch! Rettet mich!« »Bring ihn zum Reden, Beinwell!«, verlangte Salomon und zog ein Fläschchen mit dem Trank aus seiner Tasche. »Halte ihn fest, wir geben ihm noch etwas. Niemand kann seinen Verstand beisammenhalten, wenn der Saft des Schlafmohns in seiner Galle gluckert.« Salomon schraubte den Verschluss von dem Fläschchen, hielt es sich unter die Nase und roch daran. »Eines Tages, Beinwell, wenn ich als Herrscher von Gottes Gnaden über dieses Land regiere, bekommen alle davon. Ich werde dafür sorgen, dass in jedem Haus immer genügend von dem Elixier vorhanden ist, damit sie trinken können, wann immer sie wollen. Niemand wird mehr an Revolution denken, kein Wort der Unzufriedenheit wird mehr fallen. Alle werden vor ihm in die Knie gehen, so wie der Junge jetzt vor mir in die Knie gehen wird. Sie werden so benebelt sein, dass sie das Gute für schlecht halten und das Schlechte für gut, und ich werde als Sieger aus dem allem hervorgehen.« »NEIN!«, rief Tersias. Er bemühte sich, mit der Stimme des Geistes zu sprechen. »Er braucht nichts mehr davon, denn er kann nicht sagen, was kommen wird…« Salomon schaute Beinwell an und dann wieder den Jungen. In seinem Blick lagen Besorgnis und Misstrauen. »Sag, Tersias, wer spricht durch dich?« Ein langes Schweigen folgte. Tersias focht einen inneren Kampf aus. Um Taras willen musste er seinen Verstand beisammenhalten. Er spürte, wie sämtliche Glieder schwer und taub wurden. Seine Hand zitterte, bis die Flüssigkeit auch den
letzten Nerv lahmlegte. In dem Moment hörte er ein Flüstern in seinem Kopf. Es war nicht die Stimme eines Dämons, sie sprach keine Befehle aus, verlangte nicht, dass er an ihrer Stelle sprach oder ihr Ehrfurcht bezeugte. Was sie ihm zu sagen hatte, sagte sie in Gefühlen des Friedens, die ihn wie goldene Wellen umspülten und einhüllten in Barmherzigkeit und Gnade. Obwohl der Schlafmohntrank eine Seite seines Gesichts gelähmt hatte und ihm Speichel aus dem Mund lief, war sein Kopf plötzlich erfüllt von einem hellen Licht, das alles überstrahlte und ihn von den Fesseln seiner Blindheit befreite. Tersias setzte sich kerzengerade auf, ein pulsierendes Strahlen ließ sein Herz schneller schlagen. Salomon bemerkte die plötzliche Veränderung in seinem Gesicht. Es war nicht länger schmerzverzerrt, die Wangen waren frisch und rosig, die weißen Augen glitzerten von frischen Tränen der Dankbarkeit, als Galle und Schlafmohn aus seinem Körper vertrieben wurden. »Er ist ganz verändert, Beinwell, der Geist ist wieder in ihn gefahren«, sagte Salomon, der eine dunkle Gegenwart für den plötzlichen Wandel verantwortlich machte. »Sprich, Kind, was hat der Geist mir zu sagen? Wohin führt mich mein Weg? Werde ich zu wahrer Größe aufsteigen?« »Ich diene dir, aber ich bin nicht dein Diener, du rufst mich, doch ich kann tun, was ich will«, antwortete Tersias. »Was gibst du dem Jungen für mein Wissen? Bezahle den Spieler, sonst bleibt die Musik stumm.« »Was willst du dafür, dass du redest?« Salomon suchte in seiner Tasche nach irgendeinem Plunder, um den Geist zu besänftigen. »Freiheit für den Jungen und keinen Tropfen mehr von dem Trank, der seinen Verstand benebelt.« Tersias zuckte und stöhnte, als sei tatsächlich ein Geist in ihn gefahren. »Dafür will ich dir alles sagen, was du wissen willst. Nur eine Bedingung stelle ich noch.« »Sprich, frage, soweit es mir möglich ist, will ich tun, was
du verlangst«, erwiderte Salomon ungeduldig. »Da ist dieses Mädchen – gib ihr die Freiheit zurück.« »Das will ich gerne tun. Es war ohnehin immer meine Absicht. Sobald sie zurückkommt, wird sie frei sein wie eine Taube auf Londons Dächern.« »Dann werde ich reden.« Tersias sprach mit tiefer Stimme und verzog das Gesicht wie unter Schmerzen. »Was willst du wissen?« Wieder schaute Salomon Beinwell Hilfe suchend an. »Du… du hast gesagt, es gäbe noch jemanden, der dieselben Ziele hat wie ich. Wer sollte das sein?« Tersias dachte fieberhaft nach. Welcher Name würde eine Bedrohung für Salomon darstellen? Da hörte er in seinem Kopf die Stimme von Lord Malpas. »Sein Name ist Malpas. Er strebt nach Macht und will den Jungen haben. Er sucht ihn und seinen Herrn, Magnus Malachi.« »Malpas sucht das Orakel?« »Während du hier stehst, laufen seine Männer durch die Straßen, lauschen an jeder Ecke, horchen die Leute aus. Bald werden sie hier sein. Du musst ihm einen Schlag versetzen und seinem damit zuvorkommen. Lass die Tiere, die du dir hältst, deinen Willen tun, dann klebt kein Blut an deinen Händen.« »Du weißt um die Heuschrecken?«, fragte Salomon. »Wirst du das Mädchen freilassen?«, fragte Tersias mit verstellter Stimme. »Ich habe es versprochen. Doch wie komme ich Malpas zuvor?« »Mach ihm ein Geschenk – schenke ihm Insekten. Erlaube ihm, das Behältnis zu öffnen, und er wird dir keine Sorgen mehr bereiten.« Salomon klatschte in die Hände und hüpfte von einem Bein aufs andere. »Die Idee hätte von mir sein können. Was du sagst, gefällt mir, du kannst wiederkommen. Doch jetzt, mein Junge«, rief er, »jetzt, wo du deine Arbeit getan hast, muss ich dich wieder meiner Kontrolle unterwerfen. Ich kann nicht zu-
lassen, dass jeder beliebige Geist in dich fährt und mich durch deinen Mund betrügt. Beinwell, halte ihn fest. Er bekommt noch einmal von dem Trank.« Salomon drückte Tersias’ Kiefer auseinander und goss ihm von der Flüssigkeit in den Mund. Der Junge spuckte einen Teil davon wieder aus, doch Beinwell packte ihn, drückte ihn an sich und presste die Luft aus ihm heraus. Tersias wehrte sich nicht mehr. Sein Körper ergab sich der gewaltigen Kraft, die ihn plötzlich durchströmte. »Vielleicht hat er uns belogen«, meinte Salomon, als Tersias in sich zusammensackte, »doch wenn wir Malpas ausschalten könnten, kämen wir unserem Ziel ein gutes Stück näher. Wer eine Ratte fangen will, braucht einen guten Köder. Einen Köder für die Falle, Beinwell, einen Köder für die Falle…«
22. Opprobrium – Schimpf und Schande Die Uhr schlug zur halben Stunde, als Magnus Malachi im Haus Strumbelo die Treppe herunterkam. Das Feuer in der Eingangshalle leuchtete in der Dunkelheit. Sprühend und zischend verschlang es die getrockneten Haselnüsse und die zu einem duftenden Pulver zerriebenen Apfelblüten, die Abel darübergestreut hatte. Er war allein, doch das Haus war voller Geräusche, die alten Balken ächzten und stöhnten. Malachi schaute auf die Uhr neben der Eingangstür. Sie hatte ein Zifferblatt aus Messing und dicke Zeiger, die auf halb zehn zeigten. Er hatte den ganzen Tag durchgeschlafen. Sein Bett war weich und warm gewesen und mit frischem Leinen bezogen. Die Bettpfosten ragten wie korinthische Säulen auf; es hätte ein Tempel für einen namenlosen Gott sein können. Zum ersten Mal seit dreißig Jahren hatte er ein Bad genommen. Das Wasser war so heiß gewesen, dass es gedampft hatte, französische Seife hatte bereitgelegen und Handtücher, wie er sie weicher noch nicht gesehen hatte. Malachi wollte sie nicht schmutzig machen, und so trocknete er sich mit der Matte ab, die vor der Wanne auf dem Boden lag. Danach hatte er die Kleider angezogen, die für ihn bereitgelegt worden waren. Neue Stiefel, ein Gehrock wie für einen echten Gentleman und strapazierfähige Kniehosen aus geöltem Tuch, dazu ein frisch gestärktes weißes Hemd und eine gelbe Weste. Während er in der Wanne lag, hatte er seine Fingernägel geschnitten, sie vom Schmutz der letzten Jahre gereinigt und die Nagelhaut zurückgeschoben, sodass aus seinen Klauen wieder menschliche Hände geworden waren. Während er jetzt langsam die Treppe hinunterstieg, bewunderte er seine Finger. Überhaupt nutzte er jede Gelegenheit,
seine saubere Haut zu betrachten. Als er an dem großen Fenster vorbeikam, blieb er mit einem verschmitzten Lächeln vor seinem Spiegelbild stehen. Er freute sich wie ein Kind, das seine erste heiße Schokolade bekommen hat. »Welche Freude!«, rief er leise. Er war so aufgeregt, dass er kaum an sich halten konnte. Er tänzelte zu dem Sessel beim Kamin und setzte sich. Dann goss er sich den restlichen Portwein ein und schaute in die Flammen. Es war, als sähe er die Welt in einem neuen Licht. Er dachte an das Wesen, das am Morgen, kurz bevor er eingeschlafen war, aus Jonah ausgetrieben worden war. Er selbst war dabei von einem Verlangen befreit worden, das ihn fast sein ganzes Leben lang gefesselt hatte. Geistige Armut und Eigensucht waren von ihm gewichen. Er hatte nach etwas gestrebt, das nicht von dieser Welt war, hatte vergeblich nach Beweisen für das Unwirkliche gesucht. Hier in Strumbelo nun hatte er all das gesehen, was er brauchte, um neue Hoffnung schöpfen zu können. In der Austreibung der Bestie war er Zeuge einer Macht geworden, die alle seine Vorstellungen übertraf, Magie, die weit über Magie hinausging und schöpferische Kraft beinhaltete. Der innere Kampf, in dem Malachi so lange gefangen war, hatte ein Ende. Er spürt kein Bedürfnis mehr nach Alchimie oder Magie. Er hatte nur noch eines im Sinn: den blinden Jungen und das Mädchen finden und sie befreien. Wie eine zufriedene alte Eule kuschelte er sich in den Sessel, wärmte seine Füße am Feuer, schloss die Augen und nickte ein. Er hörte nicht die Schritte und ignorierte den Windhauch, der sein Gesicht streifte, als eine Tür geöffnet wurde. Erst als Griselda fast schon vor ihm stand, öffnete er langsam ein Auge. Auf einem der oberen Flure erklangen Schritte und helles Lachen; eine wilde Jagd war im Gange. Wie ein getrommeltes Willkommen klang das Geräusch der Füße auf den Holzdielen. Griselda setzte sich ihm gegenüber, lehnte sich zufrieden zurück, kreuzte wie er die Arme vor der Brust und streckte die
Beine aus. »Jonah hat Maggot gefunden«, sagte sie lächelnd. »Sie haben den Speicher und den Keller erforscht, und jetzt spielen sie auf den Fluren Fangen.« »Ihr habt an dem Jungen ein Wunder gewirkt«, sagte Malachi leise. »Viele Jahre habe ich darauf gewartet, Zeuge eines solchen Zaubers zu werden, und hier konnte ich es nun erleben.« »Mein lieber Malachi, das hatte mit Zauberei oder Magie nichts zu tun und auch nicht mit dem Wirken irgendeines Geheimbundes. Hier hat die Liebe gewirkt, und eine größere Macht als die Liebe gibt es nicht.« »Dann möchte ich von dieser Liebe etwas abhaben und von nun an auf ihrem Weg gehen«, sagte Malachi kühn. »Diese Worte könnten Euch eine ganze Menge kosten, denn die Liebe wurde teuer erkauft, und wer sie annimmt, kann sie nicht hoch genug schätzen.« Griselda hob den Kopf, da es plötzlich still geworden war im Haus. »Ich will diese Wertschätzung offen zeigen und dafür mein Leben ändern«, sagte Malachi und lächelte sie an. Der Geist, der Strumbelo erfüllte, war deutlich zu spüren und wärmte sein Herz. Es war, als schwinge selbst in der Luft Freude mit und als strahlten die Wände die Liebe ab, die sie im Lauf der Generationen aufgesaugt hatten. »Sie spielen Verstecken«, vermutete Griselda mit einem Blick zur Decke. »Maggot hat schon viel erlebt in seinem kurzen Leben. Es gab niemanden, der sich um ihn gekümmert hat. Er musste im Schmutz nach Essbarem suchen, bis der alte Bunz ihn fand. Das ist kein Leben für ein Kind.« »Unsere Generation ist grausam und schlecht«, sagte Malachi. »Ich furchte, das Badewasser hat meine Vernunft weggewaschen. Ich könnte mein Herzblut geben für Kinder wie ihn, und das Schicksal von Tersias und dem Mädchen stürzt mich in tiefe Verzweiflung. Und trotzdem kann ich das Lächeln nicht von meinem Gesicht wischen.« Er rieb sich das glatte Kinn. Der Bart war verschwunden, die Haare waren gewaschen, um die Ohren herumgeschnitten und hinten zu einem
Pferdeschwanz zusammengefasst worden. Er wandte sich von Griselda ab, doch dann trafen sich ihre Blicke wieder. »Ich würde sie gerne suchen, aber ich kann nicht allein gehen. Das Mädchen, Tara, sagte mir, Tersias sei tot, sein schwaches Herz hätte die Verwandlung nicht überstanden. Ich muss wissen, ob es stimmt, und wenn er tatsächlich tot ist, will ich ihn würdevoll bestatten, so wie er es verdient. Ich bitte Euch, lasst Jonah mit mir kommen. Zusammen werden wir alles, was wir in unserem früheren Leben arglistig angezettelt haben, wieder gutmachen.« Nervös nahm Malachi einen Schluck von seinem Wein. »Salomon hält die Stadt in Angst und Schrecken. Ausnahmslos alle glauben, dass er etwas mit dem Erscheinen des Kometen zu tun hatte. Aber was immer er vorhat, ich werde ihn aufhalten.« »Das haben schon viele versucht, Malachi. Sie liegen jetzt alle auf dem Friedhof von Poplar. Wieso denkt Ihr, dass es Euch gelingen wird?« Griselda stand auf, um sich am Feuer zu wärmen. »Der Junge ist es, Tersias. Wenn Ihr wüsstet, was ich ihm angetan habe, würdet Ihr mich nicht unter Eurem Dach dulden. Die Grausamkeit steht mir ins Gesicht geschrieben. Allein für mich muss ich versuchen, es wieder gutzumachen, selbst wenn ich dabei umkomme.« »Ich helfe Euch dabei.« Eine unsichtbare Tür in der Wandvertäfelung neben dem Kamin ging auf, und Jonah und Maggot sprangen heraus. Doch dann blieb Jonah wie angewurzelt stehen. Er starrte den alten Magier von oben bis unten an, die feinen Kleider, das ordentlich gekämmte Haar. »Malachi – seid Ihr das?« »Ich bin es, Jonah. Magnus Malachi, dein Gefährte und Freund.« Dem alten Mann trieb es die Tränen in die Augen, und seine Lippen zitterten vor Freude. »Es ist gut, dich zu sehen, und das – das ist wohl dein Freund, Herr Maggot?« Jonah stellte Maggot auf die Füße und bürstete ihm den Staub von den Kleidern. »Es ist noch keine drei Tage her, da hat er sich das Bein gebrochen – und jetzt ist er so stark wie
ich. Er ist vollkommen geheilt und voller Energie. Was sagt Ihr dazu, Malachi?« »Ich glaube, Magnus musste schon so viel verarbeiten heute, dass sein Kopf nichts Neues mehr aufnehmen kann«, erwiderte Griselda. Sie legte neues Holz auf den Rost, streute eine Handvoll Apfelblüten darüber und beobachtete, wie die Funken den breiten Schornstein hinaufstoben. »Wann gehen wir nach London und erobern die Zitadelle?«, wollte Jonah wissen. »Ich bin ein Gesetzloser und auf der Flucht. Ich habe nichts zu verlieren, aber ich kann meine Freunde zurückgewinnen.« »Das ist kein Spiel, Jonah. Du legst dich nicht nur mit Menschen an. Hinter der Sache steckt mehr, als du glaubst.« Jonah lachte. »Wir haben es mit dem alten Salomon und Lord Malpas zu tun«, erwiderte er unbekümmert. »Wir schleichen uns in die Zitadelle, suchen Tara und den Jungen, kidnappen sie und bringen sie nach Strumbelo… Ich bin sicher, Ihr könnt den Teufel aus Taras Kopf vertreiben und alles wieder ins rechte Lot bringen, was Salomon verbogen hat, oder?« »Wenn es so einfach wäre«, seufzte Griselda. Sie drückte auf einen in der Wand verborgenen Knopf, und die Geheimtür schloss sich wieder. »Sie muss selbst wollen, dass man sie befreit. Du wolltest deine Angst loswerden, in der du seit deiner Kindheit gefangen warst. Jetzt war die Zeit reif dafür. Der Hund, der dich aus deiner Wiege holte, hatte eine Tür zu deiner Seele geöffnet, durch welche die Angst eindringen und wachsen konnte. Jetzt ist sie verschwunden. Was das Mädchen betrifft, kann ich nichts versprechen.« Jonah fragte sich, woher sie wusste, dass ein Hund ihn aus seinem Bettchen geholt hatte. »Aber Ihr würdet es versuchen?«, fragte er laut. »Immer wenn meine Angst am größten war, sah ich das Tier, das jetzt aus mir herausgefahren ist. In der Nacht, als Maggot vor dem Wirtshaus von dem Hund angefallen wurde, habe ich nur die Bestie vor mir gesehen. Sie hat mich aus roten Augen angestarrt, gelacht und sich über meine Angst lustig gemacht.«
»Ich werde dich nicht aufhalten, Jonah. Die Bestie brauchst du nicht mehr zu fürchten. Doch du musst dir darüber im Klaren sein, dass Salomon und Lord Malpas dir nach dem Leben trachten. Du wirst es mit der Miliz und mit den Jüngern aufnehmen müssen. Bist du immer noch bereit zu gehen?« »Ganz ohne Zweifel.« Jonah schaute von Maggot zu Malachi. »Tara hat zu mir gehalten, egal wie ich sie behandelt habe. Jetzt werde ich zu ihr halten, ob sie das will oder nicht.« »Dann hat sich alles so geregelt, wie ich es mir dachte. Du hast mich nicht enttäuscht, Jonah, und Ihr auch nicht, Malachi.« Griselda wandte sich dem Alten zu. »Meine Kutsche wird Euch in die Stadt bringen. Was Ihr danach tut, ist Eure Entscheidung. Bringt Tara her, und nehmt euch vor Lykaon in Acht. Dieser alte Wolf hat sich vielleicht noch nicht für immer von euch verabschiedet.« Sie lauschte kurz, doch im Haus war alles still. »Eines weiß ich sicher – das Orakel ist nicht tot. Wenn Tersias nicht mehr am Leben wäre, hätte der Dämon, der durch ihn spricht, die Stadt verlassen. Meine Mitstreiter sagen mir aber, dass seine Gegenwart während der letzten Tage andauernd zu spüren war. Seid vorsichtig, denn seine Stärke und Macht nehmen zu, und bald wird er für sich allein sprechen können. Dann braucht er den Jungen nicht mehr und tötet ihn.« »Wir werden noch in dieser Stunde gehen und uns unter dem Mantel der Nacht verstecken«, sagte Malachi und erhob sich. »Was immer mich erwartet, ich weiß, dass ich mit einem neuen Herzen in die Nacht hinausgehe. Ich kam hierher als geschundener Mann, gebrochen und in Lumpen gehüllt, und als neuer Mensch bin ich erwacht. Dafür werde ich Euch immer dankbar sein.« Er verbeugte sich vor Griselda. »Nur eine Sache noch…« Nervös rang er die Hände. »Seit ich hier bin, geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf, und ich muss wissen, wie Ihr dazu steht.« »Was immer Ihr über mich gesagt habt, bevor Ihr hierher kamt, es hat für mich keine Bedeutung«, erwiderte Griselda, als könnte sie Gedanken lesen.
Malachi schaute zu Jonah hinüber. Hatte der Junge ihn verraten? »Ich habe nichts gesagt«, verteidigte Jonah sich. »Ihr redet im Schlaf«, erklärte Griselda. »Abel hat Euer Bad vorbereitet und Euch dabei reden hören. Aber ich verzeihe Euch alles.« »Ich kannte Euch nicht, und dennoch habe ich Euch bei dem Jungen schlechtgemacht«, bekannte Malachi niedergeschlagen. »So geht es in der Welt nun einmal zu. Jeden Tag verletzen wir mit unserer Zunge, als sei unser Kopf voller böser Feinde. Unseren Schwertarm können wir kontrollieren, nicht aber die Zunge. Doch ich habe Euch alles verziehen, Magnus.« Malachi lächelte, als er sich im Spiegel neben der Tür sah. »In einer Sache bin ich mir ganz sicher – mich wird niemand erkennen in diesen feinen Kleidern und mit meinem Kinn, das aussieht wie eine blühende Orchidee.« »Welche Waffen nehmen wir mit, Malachi?«, wollte Jonah aufgeregt wissen. »Nehmt nur die Mastema mit«, sagte Griselda. »Außer dem Messer werdet ihr nichts brauchen. Haltet euren Verstand beisammen, und versucht das Unmögliche. Lord Malpas wird immer verzweifelter nach dem Messer suchen. Es kommt die Zeit, wo er es haben muss. Ich bin mir nicht sicher, was das Beste für ihn ist. Ich habe ihm schon so oft angeboten, ihn zu heilen, doch er glaubt, das, was für seine Erlösung von ihm verlangt würde, nicht ertragen zu können. Er ist ein stolzer Mann, und sein Stolz lässt ihn Güte und Liebe nicht sehen.« In ihrer Stimme schwang Traurigkeit mit, doch sie sprach voller Überzeugung. Sie schaute auf ihre Handflächen wie in ein aufgeschlagenes Buch. Die Tür ging auf, und Abel erschien, angezogen wie ein Kutscher mit einem Mantel, der bis zum Boden reichte. In der einen Hand hielt er eine lange Pferdepeitsche und in der anderen einen Hirschfänger. Er nickte Malachi zu, damit dieser ihm folgte. Ein Windstoß fuhr von der Tür her in den Kamin und
ließ Funken sprühen. »Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr bis Mitternacht in London sein«, sagte Griselda. »Die Wolken verdecken den Mond, und in der Stadt wird alles ruhig sein. Wie ich gehört habe, ist auf den Feldern von St. James ein Zirkus – er wird Malpas’ Gedanken von euch ablenken.« Griselda schob sie zur Haustür hinaus. Abel öffnete die Kutschentür und half Malachi hinein. Jonah sprang auf das große Rad und schlüpfte von dort durch das offene Fenster. Drinnen plumpste er vom Sitz und kullerte mit einem zufriedenen Grunzen in den Fußraum. Malachi zog ihn auf den Ledersitz, als Abel die Tür schloss und auf den Kutschbock kletterte. Er ließ die Peitsche über den Köpfen der Pferde knallen, und sie setzten sich in Bewegung. Jonah schaute zurück zu dem Haus mit den hohen Schornsteinen aus rotem Backstein, und ihm fiel auf, dass Strumbelo in allen Regenbogenfarben schillerte, jeder Stein und jeder Ziegel. Als sie in schnellem Tempo den Kiesweg entlangfuhren, leuchteten selbst die niedrigen Buchshecken in einem seltsam gespenstischen Licht. Abel sprach nicht. Er saß, eingewickelt in eine Decke, auf dem Kutschbock und hatte den Hirschfänger und die Peitsche quer über die Oberschenkel gelegt. Wie von unsichtbarer Hand geöffnet, schwangen die Torflügel knarrend auf, sodass sie ungehindert passieren konnten. Als sie hindurch waren, schwangen sie wieder zurück, und das Schloss schnappte zu. Jonah hatte es beobachtet, sagte jedoch nichts dazu. Ihn schauderte, wenn er daran dachte, wie schnell er das törichte Versprechen gegeben hatte, Tara von Salomon wegzuholen. Schwere Zweifel überkamen ihn, schnürten ihm die Kehle zu und fuhren ihm in den Magen, als sie an den hohen Eichen vorbeirumpelten, die sich majestätisch zu ihnen herabneigten. In der Wärme und hoffnungsfrohen Atmosphäre von Strumbelo war ihm alles möglich erschienen. Unter Freunden und im Sog der Leidenschaft war es leicht, mutig zu sein. Doch in der Dunkelheit der schwankenden Kutsche fanden Jonahs Gedanken ihr altes Muster wieder. Er war allein, von Ma-
lachi sah er lediglich dunkle Umrisse. Die Pferde brachten ihn zu einem alten Feind, von dem er insgeheim gehofft hatte, er würde ihn nie Wiedersehen. In Griseldas Gegenwart war er voller guter Vorsätze gewesen; jetzt, wo sie nicht mehr in der Nähe war, packte ihn die Angst vor dem, was ihm bevorstand, und Selbstzweifel schüttelten ihn. »Malachi«, begann er so zaghaft, dass der Magier seine Schwäche spürte, »wird unser Vorhaben gelingen?« »Wir sind Malpas entkommen und haben gegen Beinwell gekämpft. Wir wurden geschlagen, ins Gefängnis geworfen und betrogen, und jetzt sitzen wir in einer von Londons elegantesten Kutschen und tragen Kleider, die unser Körper für einen Traum hält – ist das kein Erfolg?« »Aber wir gehen zurück und haben nicht einmal einen Plan. Wir können doch nicht einfach bei Salomon aufkreuzen und sagen, er soll sie freilassen.« »Jede Burg hat ihren Schwachpunkt, und selbst die Zitadelle kann gestürmt werden.« Malachi hielt inne und lauschte auf das Rumpeln der Räder. Das gleichmäßige Klappern der Pferdehufe erinnerte ihn an die Uhr in Strumbelo, die selbst in den entferntesten Zimmern noch zu hören war. Ihr Ticken glich einem Herzschlag. »Möchtest du Tara gern Wiedersehen?«, fragte er. »Ein Teil von mir sehnt sich nach ihr, den anderen kümmert es nicht, was aus ihr geworden ist. Er sagt mir, ich soll sie ihrem Schicksal mit Salomon überlassen. Doch ich weiß, wenn ich es wäre, der mit purpurroten Kleidern und einem in die Schläfe geritzten Kakerlak in der Zitadelle gefangen gehalten würde – sie würde mit bloßen Händen die Türen einreißen und mich befreien.« »Dann werden wir dasselbe für sie tun. Einen zu großen Teil meines Lebens habe ich an diesem Ort zurückgelassen. Tersias ruft nach mir. Ich weiß nicht, wie es ihm ergangen ist, aber Griseldas Worte haben mich froh gemacht. Vielleicht lebt er ja wirklich noch, und Tara hat gelogen. Vielleicht…« Malachi schwieg. Die Kutsche bog in die King’s Road ein und fuhr
an einer Reihe winziger Häuser vorbei, hinter deren Fenster bei geschlossenen Vorhängen Licht brannte. Die Kutsche rumpelte über Land in Richtung Knight’s Bridge und Hyde Park. Auf den schmutzigen, gepflasterten Straßen der Stadt wurde sie langsamer. In Piccadilly brannten Talglichter, und von Mister Hatchards Buchladen hing ein abgerissenes Seil, Überbleibsel eines missglückten Zirkuskunststückchens. Abel ließ die Pferde am kurzen Zügel gehen, als sie durch Leicester Fields und an der St.-Martins-Kirche vorbeifuhren. Der Geruch von Covent Garden hing in der Luft, und vor ihnen stand die Zitadelle mit ihrem hohen Turm.
23. Ein typischer Anwohner der Drury Lane Weit entfernt schlug die Glocke der St.-Georgs-Kirche Mitternacht, als die Kutsche an der Ecke zur Drury Lane zum Stehen kam. Abel sprang vom Kutschbock und öffnete die Tür, den Hirschfänger in der Hand. Er nickte Malachi zu, der über die Lederbank rutschte und leise ausstieg. Jonah hockte in der Ecke, die Hände über dem Kopf, als wolle er sich vor dem, was ihn erwartete, schützen. Der Kutscher schaute von Malachi zu dem Jungen. Dann schoss seine Hand nach vorn, packte Jonah unsanft am Kragen und zerrte ihn aus der Kutsche. Wie ein Häufchen Elend lag er schließlich auf der Straße. Abel warf die Tür zu, stieg auf den Bock, tippte sich kurz an die Mütze, hob die Peitsche und ließ sie über den Köpfen der Pferde knallen. Die zogen an, und die Kutsche fuhr davon. Malachi und Jonah, der sich inzwischen aufgerappelt hatte, standen da wie an fremden Ufern gestrandet. Gemeinsam schauten sie der Kutsche nach, bis diese in der Nacht verschwand. Sie wurde von der Dunkelheit und dem immer dichter werdenden Nebel aufgesogen, der sich mit der steigenden Flut in den Straßen ausbreitete. »Nicht die eleganteste Art, aus einer Kutsche auszusteigen«, kam eine Stimme aus der Dunkelheit. »Ihr konntet wohl den Fahrpreis nicht bezahlen, wie?« Es war eine volle, warme Stimme, herzlich und fröhlich. Der Mann trat aus dem Schatten. Er war so groß wie Malachi, aber viel jünger und trug einen blauen Gehrock aus edlem Stoff mit dazu passenden Kniehosen. Er lächelte, während er Malachi von oben bis unten bewundernd anschaute. »Ein Herr und sein Knecht, gestrandet in der Drury Lane zu
Füßen von Thomas Danton, eines typischen Anwohners dieses glorreichen Fleckens königlichen Grund und Bodens«, sagte der Mann und streckte Malachi die Hand in der Hoffnung hin, dass seine freundliche Geste ebenso freundlich aufgenommen würde. Malachi ergriff die Hand vorsichtig und schüttelte sie. »Wenn Ihr den Kutscher nicht bezahlen konntet, könnt Ihr mich auch nicht auf ein Gläschen einladen.« Der Mann hielt Malachis Hand fest und zog ihn die Straße hinunter. Jonah folgte wie ein gehorsames Hündchen. »Also spendiere ich Euch eine Schokolade – Ihr seht mir aus wie einer, der Schokolade mag – und dem Jungen natürlich auch. Es kann nicht sein, dass unsere Dienstboten auf der Straße verhungern, während die Herren in Saus und Braus leben. Ich kenne ein Gasthaus ganz in der Nähe, das die feinste Schokolade aus dem Norden importiert. Zubereitet von Mister Bonnet ist es die beste auf der ganzen Welt.« Jonah rutschte das Herz in die Kniekehlen, als er merkte, in welche Richtung sie geführt wurden. Vor ihnen ragte der Turm der Zitadelle auf als Mahnung an die Stadt und alle, die sich ihrem Bann nicht unterwerfen wollten. »Es ist sehr freundlich von Euch, uns einladen zu wollen, doch wir haben gut gespeist«, sagte Malachi. Er versuchte, sich aus dem Griff des Mannes zu lösen, doch der hielt ihn plötzlich fest am Arm gepackt. »Ich habe Freunde auf dem Land besucht, und jetzt sind wir auf dem Weg nach Cheapside, wo wir zu Hause sind. Wir werden Euch also verlassen.« »Verlassen? Ihr wollt mich verlassen und die Gastfreundschaft von Thomas Danton verschmähen? Wisst Ihr nicht, dass Männer von höchstem Rang meine Gesellschaft suchen? Menschen aus der ganzen Welt suchen mich auf wegen dem, was ich tue.« »Heute Abend müsst Ihr es allein tun«, erwiderte Malachi, entzog dem Mann seine Hand und steckte sie in die Tasche. »Mein Freund und ich gehen nach Hause. Wir haben noch eine Menge zu erledigen, und trinken gehört nicht zu unseren Auf-
gaben.« »Ich bitte Euch inständig, es Euch noch einmal zu überlegen, denn ich bin schnell beleidigt. Es ist gerade erst Mitternacht, der Kessel ist warm, und der Duft zieht durch das ganze Viertel.« Der Mann hob den Kopf und schnupperte übertrieben. Jonah schaute Malachi an. Der gab ihm, indem er das Gesicht verzog, wortlos seine Bedenken zu verstehen. »Folgt ihm«, wisperte Jonah und schubste Malachi an, damit er weiterging. »Wir müssen nachdenken, und eine Stunde im Kaffeehaus gibt uns die Gelegenheit dazu.« »Wartet!«, rief Malachi dem Mann nach, der mit geschlossenen Augen seiner Nase gefolgt war und gar nicht gemerkt hatte, dass die beiden stehen geblieben waren. »Wir kommen mit und probieren von Mister Bonnets Schokolade. Ich habe das Gefühl, dass sie meinem Magen guttut, und mein Freund muss sich etwas ausruhen…« Danton drehte sich um. »Ah… Wenn wir zusammen etwas trinken, sollten wir uns auch richtig und vollständig vorstellen, wie sich das für Leute mit guten Manieren gebührt. Thomas Danton, Impresario und Besitzer vieler herrlicher Theater Londons.« »Magnus Malachi und Jonah Ketch, Pferdehändler und Stallbesitzer mit Reputation«, sagte Malachi mit leichter Verbeugung und wedelte mit dem Taschentuch, das er in seiner Tasche gefunden hatte. »Geht voraus, Macduff, und bringt uns zu diesem Heiligtum der Nacht.« Danton nahm Malachi am Arm und führte ihn durch die Straßen. Es ging durch schmale, dunkle Gassen, die Häuser zu beiden Seiten ragten hoch auf und schienen sich über ihren Köpfen zu berühren. Der Turm der Zitadelle rückte immer näher. Der Duft nach Kaffee und dunkler Schokolade erfüllte die Luft. Wenige Meter vor ihnen war das Kaffeehaus. Die Tür stand offen, und ein warmes Licht fiel auf das Pflaster, das sauber gefegt und mit Leinöl poliert worden war. In jeden ein-
zelnen Pflasterstein waren Schlangenlinien eingemeißelt worden, sodass es aussah, als kämen unzählige kleine Schlagen aus der Erde und kröchen auf den Eingang zu. Von drinnen hörte man angeregte Unterhaltung. Eine Stimme versuchte, die andere zu übertönen. Danton ließ Malachis Arm los, steckte eine Hand in die Tasche und reckte die andere in die Luft, als er den Raum betrat. Dort wurde es plötzlich still. Malachi und Jonah deuteten dies als eine Warnung, dass sie hier nicht willkommen waren. Sie versteckten sich hinter der Tür und lugten vorsichtig hinein. Überrascht sahen sie, dass sämtliche Gäste sich erhoben hatten und schweigend dastanden, als Thomas Danton an ihnen vorbeiging und jedem Einzelnen zunickte. Als er an einen Tisch in der hintersten Ecke des Kaffeehauses trat, brach spontaner Applaus los, als hätte er gerade eine großartige Vorstellung gegeben. Ein großer, elegant gekleideter Mann breitete zum Willkommen die Arme aus. »Mister Danton, Euer Tisch ist gedeckt und der Nachttrunk bereit.« »Ich habe Gäste mitgebracht, Mister Mitchell. Zwei Fremde, die ich vor der kalten Nachtluft gerettet habe.« Mitchell schaute sich um. »Gäste, Mister Danton? Ich sehe niemanden.« Danton sah Malachis bleiches Gesicht im Türrahmen. »Führt sie herein«, sagte er und wärmte sich die Hände an einer großen Tasse voll dampfendem Mokka, die man ihm auf den Tisch gestellt hatte. »Sie sollen bekommen, was immer sie wünschen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und, Mitchell – heute Abend sollen alle mit uns feiern.« Wieder erscholl lauter Applaus, und von allen Seiten wurden Toasts auf den Wohltäter ausgebracht. Jonah und Malachi gingen durch die Menge hindurch und setzten sich, als der Applaus verebbte. Mitchell eilte zwischen den Tischen hin und her, auf denen jeweils eine einzelne Kerze stand. »Nun, meine Freunde«, sagte Danton mit einem freundlichen Lächeln, »worüber sollen wir in dieser dunklen, unruhi-
gen Nacht reden?« »Wir sind Eure Gäste und sollten deshalb Euch zuhören und uns freuen an dem, was Ihr zu sagen habt«, antwortete Malachi schnell, bevor Jonah den Mund auftun konnte. Doch Jonah hatte überhaupt nicht zugehört. Er war in einer anderen Welt. Sein Blick huschte hierhin und dorthin, fasziniert betrachtete er die geschminkten Gesichter und eleganten Kleider um sich herum. Viele der Gesichter kannte er von Karikaturen im Londoner Anzeiger. Schauspieler, Stückeschreiber und Abenteurer gaben sich hier die Ehre, unterhielten sich angeregt im Dämmerlicht und schlürften ihre Getränke aus dünnen Porzellantassen. Mitchell eilte von Tisch zu Tisch, mischte sich in die Unterhaltungen ein und brachte die Gäste zum Lachen. Danton tippte Jonah auf die Schulter. »Was meinst du, worüber sollen wir reden?« Jonah schaute Malachi an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Seid ihr von weit her gekommen?«, fragte der Mann. »Von weit her?«, wiederholte Jonah, nahm seine Tasse auf und trank einen Schluck von der dickflüssigen dunklen Schokolade. »Vielleicht von Strumbelo?«, erkundigte sich Danton so leise, dass nur Jonah und Malachi es hören konnten. Jonah stellte rasch seine Tasse auf den Tisch und sah Malachi an. Doch der hatte plötzlich eine hoch interessante Spinnwebe an der Decke entdeckt und seine Sprache verloren. »Griselda ist eine reizende Gastgeberin und Abel ein Mann von wenigen Worten«, fuhr Danton fort. Jonah zupfte Malachi hektisch am Ärmel. »Er weiß Bescheid«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Natürlich weiß ich Bescheid. Meint ihr, ich lungere in Eingängen herum und warte auf die ersten besten Nachtschwärmer, die aus einer Kutsche fallen? Es war alles arrangiert.« Danton lachte in sich hinein, nahm eine Serviette und tupfte sich Schokoladenspuren aus den Mundwinkeln.
»Woher sollen wir wissen, dass Ihr die Wahrheit sagt? Ihr könntet auch für Salomon oder Malpas arbeiten und uns eine Falle stellen«, sagte Malachi, die Augen immer noch an der Decke. »Dann hätte ich euch nicht so nahe an die Zitadelle herangeführt und für eine offene Tür gesorgt.« Danton schaute Malachi an, griff urplötzlich nach seinem Ohr und verdrehte es schmerzhaft. »Ich erwarte, dass man mich ansieht. Ich bin ein Mann von gewisser Bedeutung.« Jonah kicherte, als Malachi einen schmerzerfüllten Schrei ausstieß, der die Männer an den Nachbartischen dazu veranlasste, sich zu ihnen umzudrehen. Danton lachte laut. »Ich bin ein Mitstreiter der Frau, in deren Haus ihr gewesen seid. Wir sind viele in dieser Stadt, die ihr gewöhnliches, alltägliches Leben leben und darauf warten, dass wir einem größeren Zweck dienen können… Und wie es aussieht, dienen Malachi und Jonah dem größten Zweck von allen. Was immer ihr getan habt oder noch tun werdet, ist von größter Bedeutung, denn mich würde man nicht bitten, dass ich mich an einem solchen Plan beteilige oder mich in Gefahr begebe.« Danton lachte wieder, um den Umsitzenden den Eindruck zu vermitteln, als feierten sie ausgelassen, und den wahren Inhalt ihres Gesprächs zu vertuschen. Malachi verstand und versuchte, Dantons Beispiel zu folgen. Es kam so etwas wie das Gackern eines Huhnes dabei heraus… »Und wann sollen wir losschlagen?«, fragte er und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »Bald ist es ein Uhr, dann kommt der Nachtwächter hier vorbei. Wir folgen ihm bis zum Tor der Zitadelle – so weit gehe ich mit. Nicht einmal im Dienst der großen Sache würde ich die Zitadelle betreten. Wenn ich Lavendel rieche, wird mir übel, und die Farbe Purpur habe ich noch nie gemocht. Sie steht mir nicht.« »Warten weitere Mitstreiter auf uns, oder gehen wir allein?«, wollte Jonah wissen. »Das kann ich nicht sagen, aber keiner von uns ist allein
unterwegs, denn in allen, die nach der Wahrheit streben, wohnt Güte.« Nach und nach leerte sich das Kaffeehaus, seine Gäste verschmolzen mit der Dunkelheit der Nacht. Am Ende saßen nur noch die drei an ihrem Tisch, tranken Schokolade und unterhielten sich über das Leben in London. Jonah war fasziniert von Dantons Erzählungen über das Theater und das Leben derjenigen, die in den Bordellen ein und aus gingen. Ihre Kerze verzehrte sich langsam selbst. Das Wachs floss über den Rand des Kerzenhalters und tropfte auf das Tischtuch. Ohne dass sie darum bitten mussten, füllte Mister Mitchell ihre Tassen nach. Immer heißer und stärker wurde das Gebräu, bis endlich der Nachtwächter die Straße herunterkam. »Eins schlägt die Uhr, und London ruht, kein Komet und kein Beben – alles ist gut«, sang er und schlug mit dem Stab den Takt dazu. »Es ist so weit«, sagte Danton. Er rieb sich die Hände und stand auf. »Meine Freunde und ich ziehen uns aus Eurer liebenswürdigen Gesellschaft zurück, Mister Mitchell. Wir sehen uns wieder.« Mitchell nickte. Er kritzelte noch rasch ein paar Zahlen auf ein Stück Papier und steckte es Danton verstohlen zu, als er dessen Hand zum Abschied schüttelte. »Wünschen die Herrschaften eine Kutsche oder einen Lampenträger?« »Die Dunkelheit ist ein freundlicher Schleier, der die Unschuldigen vor meinem wahnsinnig guten Aussehen schützt«, witzelte Danton und drückte seinerseits Mitchell eine Goldmünze in die Hand. »Meine Freunde und ich genießen die Nachtluft. Vom Fluss heraufkommt eine Brise, die alles, was den Geist betrübt, forttragen wird.« Malachi trat als Erster auf die Straße. Es wehte tatsächlich ein kalter Wind durch die Gassen. Gerade bog der Nachtwächter mit seiner Fackel um die Ecke. Man hörte ihn noch singen und um Ruhe und Frieden für die Stadt bitten. »Ihm nach«, sagte Danton und schob Malachi Richtung Zitadelle. »Wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren. Er ist
der Schlüssel, der uns die Tür öffnet, hinter der ihr findet, wonach ihr sucht.« Sie eilten dem Mann nach, Jonah voraus, Malachi und Danton Arm in Arm hinterher. Obwohl sie sich angeregt unterhielten, waren ihre Worte leiser als ein Flüstern. Jonah umklammerte das Messer in der Tasche seines Gehrocks. Der Griff lag glühend heiß in seiner Hand. Es war, als sei die Mastema wieder zum Leben erwacht, und was immer sie in Strumbelo in Schach gehalten hatte, hatte jetzt keine Macht mehr über sie. Die Berührung weckte Übelkeit in Jonah. Er musste daran denken, wie sie angefertigt worden war, und Szenen vergangener Zeiten zogen vor seinem geistigen Auge vorbei. Für einen kurzen Augenblick sah er ganz deutlich Hiram Abif, der das Messer geschaffen hatte. Sein Kopf war kahl geschoren, und er hatte ein Schlangentattoo auf der Wange. Jonah sah aus großer Höhe auf ihn herab. Er lag in seinem Grab, die Stirn eine offene Wunde und die toten Augen in den Himmel starrend. Als Jonah das Messer losließ, verblasste das Bild. Er ging langsamer, hängte sich bei Malachi ein und versuchte mitzuhören, worüber er und Danton sprachen. Die beiden Männer lächelten ihm zu, und Jonah fiel plötzlich auf, dass Malachi nicht mehr hinkte, sondern energisch ausschritt. Er zupfte ihn am Ärmel, um ihn daran zu erinnern, dass er auch noch da war, und flüsterte: »Ihr hinkt ja gar nicht mehr.« Malachi blieb stehen und gab Danton ein Zeichen, allein weiterzugehen. »Ich weiß«, sagte er lächelnd. »Schon seit gestern nicht mehr. Seit zwanzig Jahren wurden meine Glieder jeden Winter steif und schmerzten, doch nach der Nacht in Strumbelo ist alles wie weggeblasen. Ich fühle mich wie ein neugeborenes Lämmchen«, erklärte er und beeilte sich, Danton einzuholen, bevor dieser in der Dunkelheit verschwand. Sie folgten dem Nachtwächter, der an jeder Ecke stehen blieb und sein Lied sang. Er rief die Viertelstunden aus und verkündete, dass Frieden im Land sei. Dann bog er plötzlich in eine dunkle Gasse ein. Die drei drückten sich in den Schatten
der Häuser, als er stehen blieb, sich umschaute, einen Schlüssel aus der Tasche zog, sich an eine niedrige Tür lehnte und sie aufdrückte. Rasch zog er den Schlüssel wieder aus dem Schloss, hob dreimal seine Lampe und ging, leise vor sich hin summend, weiter. »Das war das Signal«, flüsterte Danton. Er holte eine silberne Pfeife aus der Tasche und gab sie Jonah. »Hier, nimm. Alle Mitstreiter kennen den Pfiff. Blase, so laut du kannst, wenn du in Gefahr bist. Falls einer von uns in der Nähe ist, kommt er dir bestimmt zu Hilfe. Und jetzt geht. Die Tür, die sich gerade geöffnet hat, führt in den Keller der Zitadelle. Von jetzt an seid ihr auf euch allein gestellt. Die Erfüllung Eures Schicksals liegt in Euren Händen.« Malachi schaute sich noch einmal um, dann zupfte er Jonah am Ärmel, damit er ihm folgte. Schon nach zwei Schritte drehte er sich noch einmal um und wollte sich bei Danton für alles bedanken, doch die Gasse war leer, ihr Begleiter war mit der Dunkelheit verschmolzen. »Hast du gesehen, wohin er gegangen ist?«, fragte er Jonah. Der schlich, dicht an die Wand gepresst, auf die Tür zu und antwortete nicht. Er konzentrierte sich ganz auf das, was vor ihnen lag. Plötzlich war er voller Tatendrang. Er dachte an Griselda und alles, was er in ihrem Haus erlebt hatte, und seine Angst schmolz wie Butter in der Sonne. Als er die Tür erreichte, schaute er hinein. Vor ihm lag ein langer, schmaler Gang, dessen Wände vom Boden bis zur Decke weiß gekachelt waren und von Herzlampen erhellt wurden. »Wir müssen weiter«, drängte Malachi leise. »Danton sagte, dass wir nur wenige Minuten sicher sind. Wir müssen hinein – doch wohin und zu welchem Zweck, weiß ich immer noch nicht…«
24. Der Taugenichts »Ihr seid allein gekommen?«, fragte Salomon und schenkte sich etwas zu trinken ein. Sie befanden sich in seinem privaten Zimmer in der Zitadelle, direkt unterhalb des Turmzimmers. Er hielt das kostbare Glas an die Kerze und betrachtete die goldene Flüssigkeit, die darin glitzerte. »Ich dachte, Salomoniten trinken keinen Rebensaft«, bemerkte sein Gast, der sich ohne Aufforderung in den mit Seide bezogenen Sessel gesetzt hatte. »Das tun sie auch nicht, doch ich stelle die Regeln auf und kann tun und lassen, was ich will«, erwiderte Salomon. »Ich finde, dass man den Tag mit Brandy gut ausklingen lassen kann, besonders wenn sich das Trinken mit dem Geschäftemachen verbinden lässt.« Er ging zu der kalten Feuerstelle, die eine Wand des Raumes einnahm. Sie war mit Bildern von ineinander verwobenen Göttern und Geistern geschmückt, die den Blick auf die Kranzleiste an der Decke lenkten und von dort auf den schmalen Balkon im hinteren Teil des Raumes. »Ich freue mich, dass Ihr der Aufforderung meines Boten so schnell Folge geleistet habt und Euch das, was ich zu sagen habe, interessiert.« »Schönheit interessiert mich immer«, erwiderte der Mann. Er rutschte ungeduldig auf seinem Sessel hin und her. Für seinen Geschmack waren genug Artigkeiten ausgetauscht worden. »Doch woher wusstet Ihr das?« Salomon betrachtete seine Hand und den breiten Goldring, der seinen Finger erst seit Kurzem zierte. »Ein außergewöhnlicher Mensch hat es mir gesagt.« Er lächelte vor sich hin. »Ein ganz außergewöhnlicher…« »Dann kennt er mich gut. Hat er Euch auch gesagt, dass
das, was Ihr mir anbietet, einmal mir gehörte und mir vor etlichen Nächten von einem Taugenichts auf den Feldern von Conduit gestohlen wurde?« »Dieser Teil der Geschichte wurde leider weggelassen, doch wie Ihr sagt: Etwas in seinem Besitz haben, bedeutet so viel wie Eigentümer sein, und ich bin sicher, wir können uns in irgendeiner Weise arrangieren.« »Ihr könnt mir geben, was mir gehört, oder ich lasse die Miliz dieses Haus Stein für Stein niederreißen und Euch ins Gefängnis werfen. Für mich wäre dies das vorteilhaftere Geschäft, schließlich brauchte ich Euch nicht für das zu bezahlen, was mir von Rechts wegen zusteht.« »Wer hat denn etwas von Bezahlung gesagt, Lord Malpas? Mein Vorschlag sollte eher in die Richtung einer Partnerschaft gehen. Ich weiß weder, weshalb Ihr eine steinerne Schatulle begehrt, noch, was Ihr damit anfangen wollt.« Salomon trat an das Fenster. »Soweit ich es verstanden habe, ist sie der Schlüssel zu einer anderen Welt. Allerdings waren meine Bemühungen, sie zu öffnen, vergeblich. Für mich ist sie also nutzlos.« Er hielt inne und schaute hinaus. Eine elegante schwarze Kutsche mit vier Pferden davor blockierte die schmale Straße. Drei Kutscher mit Musketen standen Wache. »Ich werde Euch heute Nacht etwas zeigen, das Eure Meinung über mich möglicherweise ändert.« »Meine Meinung steht fest, Salomon. Ich habe viel über Eure Versammlungen gehört, über die Entführung Unschuldiger und Schwacher und über Eure Verwandlungen. Wenn es nach mir ginge, gäbe es weder Kardinal noch Bischof und auch sonst niemanden, der sich in kostbare Gewänder kleidete und mir etwas über die Verderbtheit meines Lebens erzählte, während sein eigenes ein einziger Sündenpfuhl ist.« Salomon betrachtete erneut sein mit Brandy gefülltes Glas und stellte es dann, ohne davon getrunken zu haben, auf dem Fensterbrett ab. »Was würdet Ihr sagen, wenn Ihr hören würdet, dass ich Euch bei der Erfüllung Eurer Wünsche helfen könnte?«
»Meine Wünsche behalte ich für mich«, erwiderte Malpas. Seine Geduld war bald erschöpft. »Eure Wünsche sind ebenso gut bekannt wie meine«, bemerkte Salomon ärgerlich. »In den Kaffeehäusern wird über uns beide geredet, und ich weiß mehr über Euch, als Euch lieb ist. ›Der Mann, der gern König wäre‹ – so nennt man Euch doch, nicht wahr?« »Meine Familie war dem Monarchen gegenüber immer loyal…« »Bis sie eine dicke Wurst aus Deutschland holten und die Monarchenfamilie, die Ihr unterstützt habt, fallen ließen. Sie wurde in einem heruntergekommenen Herrenhaus irgendwo im hohen Norden ausgesetzt.« »Eine Laune des Schicksals, das sich wenden könnte, sollte ein schwaches Herz plötzlich aufhören zu schlagen«, erwiderte Malpas. Er war sich nicht sicher, worauf das alles hinauslief. »Stellt Euch einen königlichen Unfall vor«, fuhr Salomon leise fort. Er wollte nicht belauscht werden. »Der König steigt dick und rund in seine Kutsche, um sich nach Windsor bringen zu lassen, und wenn er dort ankommt, ist er nur noch ein Skelett. Ihr könntet sogar Gott dafür verantwortlich machen, sagen, es sei eine gerechte Strafe des Himmels gewesen, und Euch zu unserem würdigen Herrscher ausrufen lassen.« »Und wie soll so etwas vonstattengehen?«, fragte Malpas. Er erhob sich und trat nun auch an das Fenster, um zu sehen, ob seine Wachen noch an Ort und Stelle waren. Unter der Decke ging langsam die Tür der Galerie auf, und Jonah kam auf Händen und Knien hereingekrochen. Malachi hielt unten in dem Gang, durch den sie hereingekommen waren und von dem aus es zur Treppe ging, Wache. Die Stimmen hatten Jonah nach oben geführt, Stimmen, die er wiedererkannte: den weinerlichen Ton von Lord Malpas und Salomons Krächzen. Gerade fuhr Salomon fort: »Ich habe gewisse… Kreaturen zur Verfügung, die unter bestimmten Bedingungen die Arbeit für uns erledigen würden. Ich stelle mir eine Falle vor, die un-
ter den Sitz der Kutsche passt. Zur rechten Zeit würde sie sich öffnen, und die Kreaturen kämen heraus und würden dem König sämtliches Fleisch von den Knochen nagen.« Malpas begann, so laut zu lachen, dass es im ganzen Haus widerhallte. »Was sollen denn das für Tiere sein, die so etwas können? Abgerichtete Killermäuse oder Vampirmeisen vielleicht? Es heißt ja, Ihr wärt verrückt, aber auch noch ein Lügner und Aufschneider? Salomon, ich bin ein viel beschäftigter Mann, und es ist spät. Sagt mir, was Ihr für den Alabaster haben wollt, damit ich wieder gehen kann.« »Ich versichere Euch, Lord Malpas, dass ich nicht verrückt bin und dass sich die Kreaturen, von denen ich gesprochen habe, hier in diesem Raum befinden.« Salomon ging zu einer großen Holztruhe, die neben der Tür an die Wand gerückt worden war. »Kommt und seht selbst. Ich habe ein paar von den Tieren hier, und es ist Zeit, dass sie gefuttert werden.« »Das kann ich mir nicht entgehen lassen… Es wird mir eine Freude sein, Euch bloßgestellt zu sehen. Wie weit wollt Ihr das Spiel noch treiben, Salomon?« Salomon öffnete den Deckel der Truhe. »Das ist kein Spiel«, sagte er und wischte mit dem Ärmel über das dicke Glas, das einen zweiten Deckel bildete. »Kommt näher und seht, was ich erschaffen habe.« »Ein Trick, nichts anderes.« Malpas gähnte. Das helle Kerzenlicht tat ihm in den Augen weh. Auf der Galerie lauschte Jonah mit angehaltenem Atem auf jedes Wort, das gesprochen wurde. Malachi hatte inzwischen seinen Gangposten aufgegeben und war ebenfalls heraufgekommen. Jetzt kauerte er neben der Tür und hielt von dort Ausschau nach Salomoniten. »Seht Euch die Tiere an.« Salomon klopfte an eine Seitenwand der Truhe und zog an einem kleinen Messinghebel, der eine Verriegelung löste. Eine Tür innerhalb der Truhe öffnete sich, und mehrere Heuschrecken purzelten heraus. »Da sind sie…«, sagte Salomon stolz und zeigte auf die Tiere, die auf der Suche nach etwas Essbarem hin und her krochen.
Lord Malpas war an die Truhe getreten, doch er wusste nicht, ob er seinen Augen trauen konnte. Eine große Heuschrecke krallte sich an dem Glasdeckel fest und starrte ihn an. Sie war so groß wie eine Amsel, und ihre Kiefer schabten hörbar am Glas. Sie zirpte wie ein exotischer Vogel, der darauf wartet, dass er gefüttert wird. »Seht Ihr, meine Heuschrecken sind echt, und bald werden sie überall bekannt sein«, erklärte Salomon. »Und ich wäre glücklich, wenn ich Euch als Beweis für die Bedeutung, die ich unserer Partnerschaft beimesse, ein paar Exemplare schenken dürfte.« »Es sind großartige Tiere, aber nicht furchterregender als die Raben im Turm.« »Meine Heuschrecken fressen kein Gras, sondern Fleisch. Schaut genau hin, Lord Malpas.« Damit löste Salomon eine weitere Verriegelung und zog eine Schublade heraus. Darin lagen ein dicker Lederhandschuh, dessen einzelne Finger von eng aneinander gefügten Kettengliedern umgeben waren, ein schwarzer Beutel sowie eine emaillierte Schale mit frischem Fleisch. Salomon zog sich den Handschuh über und holte ein paar Fleischbrocken aus der Schale. Dann öffnete er seitlich an der Truhe rasch eine zweite Schublade und streckte die Hand mit dem Fleisch und dem Beutel hinein. Lautes, aufgeregtes Kreischen war zu hören, als die Heuschrecken wie wild hin und her hüpften, sich auf das Fleisch stürzten und es von dem Handschuh zerrten. »Sie haben Hunger«, erklärte Salomon, ließ die restlichen Fleischbrocken fallen und zog schnell die Hand mit dem Beutel aus der Truhe. Sieben Heuschrecken waren darin gefangen. »Und wie steht es mit lebendem Fleisch?«, wollte Malpas wissen. Er wandte sich von der Truhe ab und trat wieder ans Fenster. »Darauf sind sie noch versessener. So sehr, dass die Straßen Londons innerhalb eines Tages leer wären, wenn ich einen Schwarm davon in die Stadt entließe.« Salomon legte den blutigen Handschuh zurück in die Schublade und schob sie zu.
Malpas holte sein Brandyglas und nahm einen großen Schluck. »Ich kann hier nicht reden, doch was ich gesehen habe, hat mich tief beeindruckt.« Angstvoll sah er sich im Raum um, ob sich nicht irgendwo Zeugen versteckten und das Ganze ein Komplott war mit dem Ziel, ihn wegen Hochverrats an den Galgen zu bringen. »Bringt den Alabaster und das Messer in zwei Stunden zu mir nach Hause, und ich werde unsere Partnerschaft wohlwollend überdenken.« »Den Alabaster habe ich, aber wo das Messer ist, weiß ich nicht«, gab Salomon zu. »Dann vergeudet Ihr meine Zeit. Eins ohne das andere ist wertlos. Das Messer ist der Schlüssel, das müsst Ihr gewusst haben.« Malpas sprach hektisch, er war außer sich. Schnell trank er das Glas leer und warf es Salomon vor die Füße. »IHR HABT GESAGT, IHR HÄTTET ALLES, WAS ICH BEGEHRE!« »Das dachte ich auch, und noch einiges mehr.« Malpas versuchte, ruhiger zu werden. »Aber das Messer – wo ist es?« »Es ist im Besitz desjenigen, der es Euch gestohlen hat«, kam eine leise Stimme von der Tür her. Malpas fuhr herum. Tara kam langsam herein und streckte Salomon die Hand entgegen. Ihr Kopf war mit breiten purpurfarbenen Bändern umwickelt und ihre Augen mit einem dunklen Stift umrandet. Salomon strahlte. Seine Hände begannen zu zittern. »Das ist meine Frau, an der ich großen Gefallen habe«, sagte er zu Malpas. »Sie ist ein wundervolles Beispiel für den Prozess der Verwandlung. Noch vor wenigen Tagen war sie eine gemeine Diebin, jetzt ist sie die Frau des Propheten.« Malachi, der bei Taras Ankunft auf die Galerie geeilt war, hörte die schicksalhaften Worte mit. Ohne Jonah Zeit zum Atemholen zu lassen, packte er ihn am Knöchel und zog ihn zurück auf die Treppe. Er presste ihm die Hand auf den Mund und brachte seine Lippen dicht an das Ohr des Jungen, damit niemand sonst hörte, was er zu sagen hatte. »Zügle deinen
Zorn, Jonah. Gerade haben wir die Antwort gefunden. Geh und versteck dich in der Gasse. Vielleicht gelingt es uns doch, Tara zu befreien und auch Tersias zu finden.« Unten hörte niemand auch nur das leiseste Geräusch. Lord Malpas konnte die Augen nicht von dem Mädchen abwenden. Sie lächelte höflich und verbeugte sich leicht. »Es tut mir leid, dass ich mitschuldig bin an Euren Schwierigkeiten, Lord Malpas. Der Dieb wollte Euer Messer nicht stehlen. Ihr selbst wart es, der es so tief in seinen Arm stach, dass er es mitnehmen musste.« »Hätte ich es ihm nur ins Herz gestochen, dann wäre das Messer jetzt wieder in meinem Besitz. Hat er es immer noch?« Malpas ging nervös auf und ab. Sein Gesicht war ganz rot vor Aufregung. »Ich habe es gestern Abend bei ihm gesehen, als ich ihm den Alabaster abgenommen habe«, antwortete Tara leise. Ihre Stimme hatte sich ihrer neuen Rolle angepasst. »Er benutzte es als Schlüssel, um den Stein zu öffnen.« »Und hat der Schurke einen Namen, damit ich ihn suchen und finden kann?« »Jonah Ketch«, erwiderte sie verträumt. »Er hält sich für einen Straßenräuber und Ihr findet ihn am Tresen des ›Bull and Mouth‹.« »Ketch und Malachi – dann stecken die beiden unter einer Decke. Und bald werden sie beide hängen. Ich hatte sie bereits, doch sie sind mir wieder entwischt.« Lord Malpas hielt inne und schaute Tara an. Sie lächelte in seine Richtung, ohne ihn dabei anzusehen. »Ich nehme an, dass du auch weißt, wo der Junge ist, Tersias.« »Er ist tot«, antwortete sie rasch und in einem Ton, als hätten seine Worte sie ins Herz getroffen. Malpas sah zu den bewaffneten Wachen hinunter, die vor der Zitadelle standen, dann zu Salomon. Der erkannte, welche Folgen eine Lüge haben könnte und dass jetzt ein schlechter Zeitpunkt dafür war. »Nun ja, nicht ganz… tot«, korrigierte er. »Eher könnte man sagen, er… schläft. Er befindet sich im Pro-
zess der Verwandlung – in dem Raum direkt über uns.« »Dann ist er Teil unseres Geschäfts«, bestimmte Malpas. »Das Orakel und der Alabaster. Das Messer suche ich selbst. Bringt sie in zwei Stunden zu mir, dann ist der Handel perfekt. Sobald ich Reichsverweser bin, sollt Ihr alle Jünger bekommen, die Ihr braucht, und allen Brandy, den Ihr trinken könnt.« Plötzlich trat ein hinterhältiger Ausdruck auf sein Gesicht. »Aber ich möchte, dass das Mädchen mit mir kommt. Dann habe ich etwas, womit ich Ketch in mein Haus locken kann. Ich habe genügend Wachen, die für ihre Sicherheit sorgen, und ich verspreche Euch, dass ich sie Euch heil und gesund zurückbringen werde.« »Ich fürchte, das ist eine Bitte zu viel, Lord Malpas. Wir sind frisch verheiratet und haben die Hochzeitsnacht noch vor uns. Erst seit drei Stunden sind wir Mann und Frau«, jammerte Salomon. »Lasst mich gehen, Salomon«, bat Tara. »Vielleicht zeigt Lord Malpas mir den Alabaster. Zu gern würde ich noch einmal in den Quecksilberspiegel schauen.« »Noch einmal?«, fragte Malpas überrascht. »Du warst schon einmal in dem Stein?« »Nicht nur einmal, sondern zweimal«, erwiderte sie lächelnd. »Es war das Schönste, das ich je gesehen habe… mit Ausnahme meines lieben Salomon.« »Was hast du gesehen?«, wollte Malpas wissen. Ihr Wunsch hatte ihn neugierig gemacht. »Alles… das Land hinter dem Spiegel, den Hüter des Steins. Ich habe alles gesehen, als ich durch das Quecksilber gezogen wurde – zunächst gegen meinen Willen. Doch als ich die Augen öffnete und die ganze Schönheit sah, wollte ich nicht mehr zurückkommen. Schaut her«, sagte sie und hielt ihm mehrere Quecksilberkügelchen hin, »die habe ich mir aus den Haaren gezupft. Sie sind meine einzige Erinnerung an die andere Seite des Steins.« »Meine Frau ist eine große Träumerin«, unterbrach Salo-
mon nervös. Er konnte nur hoffen, dass Taras Worte Malpas nicht erneut zornig machten. »Sie hat noch von dem Elixier in sich, das die Verwandlung bewirkt hat.« »Mit dem Elixier habt Ihr sie vielleicht dazu gebracht, dass sie Euch heiratet, aber was sie über den Stein sagt, stimmt. Auch ich habe all das gesehen, aber meine Zeit, um diese Welt zu verlassen, ist noch nicht gekommen. Doch eines Tages werde ich mutig genug sein, dem Hüter zu erlauben, dass er mich durch das Quecksilber zieht. In diesem Land werde ich dann für immer bleiben.« Malpas streckte Tara die Hand hin. »Komm, Mädchen, wir wollen uns den Stein zusammen ansehen, und wer weiß, vielleicht öffnet er sich für uns, und wir können gemeinsam träumen.« Ohne sich noch einmal nach Salomon umzudrehen, ging Tara zu Malpas. »Ich halte das für keine gut Idee«, sagte Salomon rasch und hielt sie am Ärmel zurück. »Meine Frau bleibt hier. Das ist eine Sache zwischen Euch und mir, Malpas.« »Würdet Ihr die Angelegenheit lieber mit meinen Männern besprechen? Sie können sofort heraufkommen, und ich bin sicher, sie hätten großen Spaß an der Unterhaltung«, erwiderte Malpas schroff, nahm Tara bei der Hand und entzog sie Salomons schwachem Griff. »Wenn mir etwas so wortgewandt erklärt wird, kann ich nicht Nein sagen«, brummte Salomon unwillig. Seine Hände zitterten. Plötzlich rief eine Stimme von der Galerie her. »Ich tausche das Messer gegen Tersias!« »Wer in…«, stammelte Salomon und sah hinauf zu der schemenhaften Gestalt, die sich über die steinerne Brüstung beugte. »Wer ich bin, spielt keine Rolle, was ich besitze, ist von Bedeutung! An einem Ort weit entfernt von diesem ruht das Messer, welches der Schlüssel zu dem Stein ist, nach dem Ihr Euch verzehrt, Lord Malpas.« »Wie seid Ihr in seinen Besitz gekommen?«, wollte Salo-
mon wissen. »Still, Dummkopf!«, schalt Malpas. Er riss Tara an sich, zog eine kleine Pistole aus der Tasche und zielte damit auf die dunkle Gestalt, die wie ein Aasgeier auf ihn herabsah. »Was sollte mich davon abhalten, Euch zu töten und mir das Messer zu holen?« »Das wäre dumm von Euch. Wenn ich sterbe, wird das Messer eingeschmolzen und das Gold an die Armen verteilt. Das würde Euch sicher nicht gefallen, denn Nächstenliebe gehört nicht zu Euren Tugenden. Ich bin ein Bote und bringe gute Nachricht. Fürchtet Euch nicht, sage ich, und allen Menschen ein Wohlgefallen, denn das ist alles, was mein Herz begehrt. Mein Wohlgefallen Euch gegenüber, Lord Malpas, besteht darin, dass ich Euch im Austausch gegen Tersias das Messer gebe. Ihr werdet den Jungen nie mehr wieder sehen. Ich verspreche, dass ich ihn aus der Stadt bringen und dafür sorgen werde, dass keine weitere Weissagung über seine Lippen kommt.« Malachi sprach in einem so forschen Ton, dass es ihm selbst kalt über den Rücken lief. »So lauten Eure Bedingungen?« »So und nicht anders.« »Und was hält mich davon ab, euch zu entfuhren und das Geheimnis durch Folter aus Euch herauszupressen?« »Ihr habt noch etwas Ehre im Leib, und Ihr braucht den Alabaster und das Messer dringender als ich mein Leben. Der Tod ist mir nicht fremd, er ist ein Freund, den ich willkommen heiße. Macht, was Ihr wollt.« Malachi umklammerte den kalten Stein des Galeriegeländers. Er wartete ein paar Sekunden, dann fragte er: »Wie habt Ihr Euch entschieden, Malpas? Nennt eine Zeit und einen Ort, und ich werde da sein.« »Ihr kennt mein Haus? In den Gärten von St. James befindet sich ein Jahrmarkt, bei dem ein kleiner Zirkus seine Zelte aufgeschlagen hat. Kommt in zwei Stunden dorthin. Zum Zirkus gehört ein Elefant, Ozymandias. Er ist jede Nacht an eine dicke Ulme angekettet. Unter diesem Baum treffen wir uns, dann wird der Austausch vollzogen.«
»Aber… aber…«, stammelte Salomon hinter ihm. »Dann sind wir uns also einig?«, fragte Malachi und trat in einen Lichtstrahl. Zum ersten Mal war sein Gesicht zu sehen. Malpas betrachtete es genau. »Sagt, mein Herr, mit wem sprechen wir? Euer Gesicht kommt mir bekannt vor.« »Das, Lord Malpas, ist ausgeschlossen. Denn das Leben in diesem Land hat für mich gerade erst begonnen«, erwiderte Malachi und verschwand durch die Tür zur Treppe. »Schnell!«, rief Salomon und rannte zur Tür. »Er verlässt das Haus über die Hintertreppe. Eure Männer sollen ihn dort erwarten. Meine Männer – « »Lasst ihn gehen«, sagte Malpas zornig und zog Tara hinter sich her. »Wir lassen ihn so lange in Ruhe, bis er mit dem Messer kommt. Ich habe dort, wo wir uns treffen, einen Galgen aufstellen lassen für die Hinrichtungen auf dem Jahrmarkt. Er wird der Erste sein, der ihn ausprobiert und die Schlinge um seinen Hals spürt.«
25. Der Elefant unter der Ulme Malachi verließ die Zitadelle und lief hinaus auf die Gasse. Es war kalt und dunkel. Von der Themse her kroch der Nebel wie ein Betrunkener durch die Straßen von Covent Garden und brachte den Gestank der See mit. Er hörte das Zuschlagen von Kutschtüren auf der Vorderseite der Zitadelle und den Protest Salomons, als Lord Malpas Tara »aus Sicherheitsgründen« mitnahm. »Ich bin bald wieder bei dir, Tara, keine Angst«, rief Salomon. Seine Stimme klang schrill und voller Sorge. »Beinwell, bring meinen Mantel -Jünger, folgt mir… Wir müssen Tara zur Thieving Lane folgen. Hole rasch den Alabaster, Beinwell… BEINWELL!« Malachi lehnte sich kichernd an die Hauswand, als er Salomon Befehle bellen hörte. Die Zitadellentür wurde mit einem dumpfen Knall zugeschlagen, und viele Füße eilten über die weißen Stufen hinunter in den Londoner Straßenschmutz. Dann war alles still. Nichts rührte sich außer dem Nebel, der um seine Beine waberte. Er wartete auf Jonah, der hoffentlich bald zu ihm stoßen würde. Malachi lauschte dem Klang einer Glocke, welche die Viertelstunde schlug. Die Töne tanzten über die im ersten Frost silbrig glänzenden Hausdächer. Er wartete. Die Kälte zog in seine Knochen und ließ seine Finger taub werden. Er biss sich auf die Fingerspitzen, während er sich nervös nach allen Seiten umschaute. Wieder hörte er die Glocke, zwei dumpfe Schläge, bei deren Ton ein Taubenschwarm vom Dach aufflog. Die Tiere tauchten zunächst in die Gasse ab, bevor sie in den klaren Sternenhimmel aufstiegen. Plötzlich ein Knarren in der Dunkelheit, als eine Eisentür in
der Wand sich schwerfällig in ihren rostigen Angeln drehte. Eine dunkle Gestalt kroch heraus und verschwand aus dem Blickfeld, als sie in den Nebel fiel. Sie erhob sich wieder und eilte wie eine dürre, aufrecht gehende Ratte an der Wand entlang. Malachi presste sich an die Mauer und hoffte, dass, wer immer da aus der Zitadelle gekommen war, ihn nicht sah. »Malachi… Malachi«, hörte er den Schattenmann leise rufen, als dieser näher kam. Magnus Malachi hob die Hand und winkte Jonah zu sich herüber. Der Schatten kauerte sich im Schutz des Nebels zusammen, um dann unvermittelt wie ein Kastenteufel neben ihm aufzutauchen. Jonah hatte ein breites Grinsen auf dem Gesicht. »Wo warst du? Ich habe gesagt, du sollst warten«, schimpfte Malachi. »Ich konnte nicht widerstehen… Ich habe etwas in dem Zimmer gesehen, und als ich die Zitadelle verlassen wollte, entdeckte ich eine Tür. Ich habe gewartet, bis Salomon und Malpas weg waren, dann habe ich mich hineingeschlichen. Ehrlich, Malachi, ich wollte mich nur kurz umschauen, doch da habe ich sie gesehen. Sie waren so wunderschön, ich musste sie einfach mitnehmen…« »Was musstest du mitnehmen?«, unterbrach Malachi ihn ungeduldig. »Tiere… sieben der herrlichsten Tiere, die Ihr je gesehen habt, verwahrt in einem schweren Leinenbeutel. Man braucht sie nur noch freizulassen… zur rechten Zeit.« »Ich hörte Salomon von Heuschrecken reden, die Menschen töten. Hast du diese Tiere etwa mitgebracht?«, fragte Malachi vorsichtig, als Jonah einen schwarzen Beutel vor seinem Gesicht hin- und herbaumeln ließ. »Genau die… Heuschrecken von der Größe einer Nachtigall. Und sie haben Kiefer, mit denen sie Euren Arm durchbeißen könnten, wenn man sie lassen würde.« Jonah hielt in seinem aufgeregten Geschnatter inne und sah Malachi an. »Ich habe gehört, was Ihr zu Malpas gesagt habt«, fuhr er leiser
fort, »dass wir ihm im Tausch gegen Tersias das Messer geben.« Er lehnte sich an die Wand. »Ich weiß nicht, ob der Junge das wert ist…« »Dann würdest du ihn also lieber bei Salomon vor die Hunde gehen lassen? Für ein Messer, das dich vernichten wird wie alle anderen, die es zu lang in ihrem Besitz hatten? Wir treffen Malpas in einer Stunde beim Zirkus auf den Feldern von St. James. Ein Elefant namens Ozymandias soll dort unter einer Ulme angekettet sein. Das ist unsere Chance, Tara und den Jungen zu befreien.« »Tara würde lieber bei Salomon bleiben«, erwiderte Jonah bitter. »An mich denkt sie doch schon lange nicht mehr.« »Tara ist verzaubert, sie kann nicht mehr selbstständig denken. Wir fällen eine Entscheidung für sie, die ihr ganzes Leben betrifft, und ziehen sie bis zum Ende durch.« »Und Ihr wisst, wie das alles vonstattengehen soll?«, fragte Jonah, wobei er in den klaren Himmel hinaufschaute. »Irgendwie… irgendwie fange ich an zu glauben, dass alles vorherbestimmt ist und dass die Tür, an die wir klopfen, auch aufgehen wird. Ich weiß nur, dass es richtig ist, was wir tun, und darin finde ich Frieden.« »Dann lasst uns in Frieden gehen und Lord Malpas den Krieg erklären und die ganze Sache zu Ende bringen.« »Mögen die guten Wünsche von Ozymandias, dem König aller Könige, bei uns allen sein…« »Und schon sehen wir uns wieder«, sagte die Stimme eines Mannes, der aus einer engen Gasse trat, die sie gar nicht bemerkt hatten. »Ihr habt Eure Aufgabe noch nicht erfüllt? Ich sehe keinen Jungen – wartet er immer noch auf seine Rettung?«, fragte Danton. Malachi blieb fast das Herz stehen. »Ihr seid wie ein Geist, der am Weihnachtsabend mit den Ketten rasselt… Lauert Ihr überall, oder sind wir Opfer einer Verschwörung der Gleichgesinnten?« »Ich wollte noch ein wenig an die frische Luft und mich für den morgigen Tag stärken. Meine Kutsche steht nicht weit ent-
fernt, und wenn wir uns schon zufällig getroffen haben, möchte ich Euch das Angebot machen, Euch zu dieser unwirtlichen Stunde zu fahren, wohin auch immer Ihr wollt.« »Ihr spioniert uns nach, Mister Danton. Ihr nehmt mir meine freie Entscheidung und verfolgt mich, als sei ich ein Hirsch, der noch vor Morgengrauen erlegt werden soll.« »Nein, nein… Seht in mir einen Freund, dessen Lebensweg den Euren kreuzt.« Danton lachte, legte Malachi die Hand auf den Rücken und drängte ihn, mit ihm zu gehen. »Ich ahne, dass ein Klügerer die Hand im Spiel hat, Jonah. Es ist ein Schachspiel, und sie sagte, sie sei ein Bauer und nicht der Spieler.« »Dann werdet Ihr Euch von meiner Kutsche zum Zirkus bringen lassen?«, fragte Danton. »Wenn wir ablehnen würden, würde sich wahrscheinlich der Himmel auftun, eine Hand würde uns greifen und genau dort absetzen«, meinte Jonah, und Malachi lachte. Die drei bogen von der Seitengasse her in eine Straße ein, in der ein großer, glänzend schwarzer Vierspänner mit silbernen Beschlägen auf sie wartete. »Ihr reist vornehm, Mister Danton«, stellte Jonah fest und stieg auf den Tritt, um auf den hohen Sitz hinter der Kutsche zu klettern. »Heute Abend wirst du mit Magnus Malachi im Inneren des Gefährts sitzen, Jonah Ketch. Und ich werde euer Kutscher sein«, sagte Danton, öffnete die Tür und verbeugte sich leicht wie ein Diener vor seinem Herrn. Jonah stieg ein und sank in die weichen Lederpolster. Malachi nahm ihm gegenüber Platz. »Noch nie im Leben bin ich in einer so noblen Kutsche gefahren, Jonah, und jetzt plötzlich zweimal in derselben Nacht. Es muss aufwärts gehen mit dem alten Malachi.« Er seufzte zufrieden, als die vier Pferde anzogen und die Kutsche durch die Nacht ratterte. Sie sprachen kein Wort während der Fahrt durch die engen Gassen, vorbei an Jenveys Wirtshaus, wo Jonahs Mutter alles
verpfändet hatte, um dem unrühmlichsten Trunkenbold von ganz London die Füße küssen zu dürfen. Der stand gewöhnlich auf der Straße, die Schöpfkelle in der Hand, und schöpfte aus Holzbottichen ihren selbst gemachten Genever, dem etwas Arsen beigegeben war. Das Gift verlieh ihm einen bitteren Geschmack, der auf der Zunge haftete und den Verstand lähmte. Weiter ging es von Covent Garden auf die Felder von St. James. Jonah hielt das Messer umklammert. Er kämpfte noch mit sich, ob er diese Beute tatsächlich gegen eine andere eintauschen sollte. Er schaute sich in der Kutsche um. Es gab seidene Vorhänge und kleine Glasfenster mit lackierten Fenstergriffen. Eine Kerze beleuchtete Malachis Gesicht, das den vorbeiziehenden Straßen zugewandt war. Jonah lächelte vor sich hin. Dass der alte Mann einmal sein Freund werden würde, hätte er nie gedacht, und doch war er es geworden. Ihr gemeinsames Unglück hatte sie zusammengeschmiedet. Er fragte sich, wer oder was auf Gut Strumbelo das Herz des alten Magiers angerührt und die Bitterkeit daraus vertrieben hatte. Jedenfalls war es nicht nur gut für Malachi, sondern auch für ihn, dass es so gekommen war. Jonah lehnte sich auf der Lederbank zurück. Mit einer Hand hielt er den Beutel mit den Heuschrecken fest umklammert, und er spürte, wie die Tiere aufgeregt herumzappelten. Der Geruch des Zirkus hing bereits in der Luft, als sie unter dem hohen Steinbogen von De-La-Hay durchführen. Kaum hatten sie die Felder erreicht, als sie plötzlich von bunten Zelten umgeben waren. An den hohen Mittelpfosten flatterten schmale Flaggen und Bänder im Wind. Vor den Zelteingängen standen schwarze Kohlepfannen, welche die Kälte abhielten und ihr Licht auf die Pferde und Gazellen warfen und auf die vielen anderen seltsamen Geschöpfe aus allen Teilen der Welt. Keines der Tiere drehte den Kopf, als die Kutsche vorbeiratterte. Eines, das Jonah an eine riesige Ziege erinnerte, ließ traurig den Kopf hängen. Der dicke Ledergurt um seinen Hals hatte ihm über die Jahre Fell und Würde abgescheuert. Das
Tier wiegte sich von einer Seite zur anderen, im selben Rhythmus wie ein alter Tiger, der aus seinem winzigen vergoldeten Käfig schaut, von einem Fuß auf den anderen tritt und den Kopf schüttelt, als könnte er so die Ketten abschütteln, die ihn in seinem Wahnsinn gefangen halten. »Schaut Euch die Tiere an, Malachi – habt Ihr so etwas je gesehen?« »Nein, und ich möchte es auch nie mehr sehen«, erwiderte Malachi schuldbewusst. »Was sie den Tieren antun, habe ich früher dem Jungen angetan.« Er verbarg das Gesicht in den Händen. »Oh, müsste ich doch nie mehr an diese Schuld erinnert werden! Was wäre, wenn wir die Tiere befreien könnten?« »Dann sollen alle frei sein…«Jonah legte den Beutel mit den Heuschrecken neben sich auf den Sitz und hämmerte mit der geballten Faust gegen die Decke der Kutsche. »Wir haben genug gesehen, Mister Danton – bringt uns hier weg!« Die Kutsche wendete, und die Pferde trotteten die letzten Meter zu der gewaltigen Ulme, bei der sie anhielten. Unter den kahlen Zweigen lag zwischen halb verrotteten Strohballen ein Tier. Die runzelige Haut, die sich, als es noch gut genährt gewesen war, glatt über den Körper gespannt hatte, hing jetzt in Falten von den schweren Knochen. Es kratzte mit zwei langen Stoßzähnen in der Erde und eine lange rote Zunge hing über die braunen Vorderzähne. Als Jonah die Tür öffnen wollte, um sich das Tier genauer anschauen zu können, musste er feststellen, dass sie innen keine Griffe hatte. Danton sprang gewandt vom Kutschbock und öffnete die Tür. Er sah Jonahs Gesichtsausdruck. »Ein Gentleman sollte keine Türen öffnen müssen«, sagte er, »deshalb haben alle meine Kutschen nur außen Griffe. Wer mit Mister Danton reist, reist stilvoll. Ansehen, Wertschätzung und ein guter Ruf – darauf ist mein Glück gebaut.« »Es war zweifellos ein Vergnügen, und Ihr habt Euch als treuer Freund erwiesen«, sagte Malachi und streckte ihm lä-
chelnd die Hand entgegen. »Ich gehe davon aus, dass das Schachspiel weitergeht und Ihr auch in unserer Zukunft eine Rolle spielen werdet.« »Ich dachte, ich schaue mir einmal den Zirkus genauer an – ich bin immer auf der Suche nach dem nächsten Sternchen für meine Bühnen, und wer weiß, vielleicht tanzt heute Abend Ozymandias für mich.« »Dann sind wir in guten Händen, und die Bauern aus dem Spiel machen sich auf den Weg«, erwiderte Malachi munter. »Mein neues Leben hat etwas, das mir sehr entgegenkommt. Ich kann nicht sagen, was es ist, doch ich habe plötzlich wieder Empfindungen, wie ich sie schon seit Jahren nicht mehr hatte. Ich vermute, dass ich sie einmal Glück nannte. Selbst in dem, was kommen wird, kann ich noch etwas Schönes entdecken.« Er sah Jonah an. »Wir müssen einen Handel perfekt machen und ein Leben retten, Jonah. Es ist Zeit, dass du mir das Messer gibst.« Jonah steckte die Hand tief in seine Tasche und umklammerte den Messergriff. Er fühlte sich warm und weich an, und das Gold schien seine Finger zu kitzeln. Er schaute zu Boden, dann hoch zu Danton. »Es ist oft schwer, etwas herzugeben, von dem wir ahnen, dass wir es nie mehr besitzen werden«, sagte Danton leise. »Das Wundervolle am Hergeben ist jedoch, dass wir immer alles ersetzt bekommen, und zwar im Übermaß.« Er nickte Jonah lächelnd zu, und sein freundlicher Blick bat ihn, Malachi das Messer auszuhändigen. Jonah zögerte noch, seine Hand schloss sich fest um den Messergriff und ließ dann wieder los. Es war, als rede das Messer zu ihm. »Wie kannst du nur daran denken, mich Malachi freiwillig zu geben«, schien es zu sagen. Er versuchte, noch einmal die Klinge aus der Tasche zu ziehen, doch es hatte keinen Zweck. Sein Arm steckte fest, die Finger krampften. »Aus freien Stücken«, sagte Danton, »Denk an Tersias – der Junge im Austausch gegen das Messer.« Jonah dachte an Tersias und Tara. Er sah sie vor sich in
sauberen purpurroten Kleidern, mit vollem Bauch und kahlem Kopf und Kakerlaken in die Stirn geschnitten. Er sah Salomon um sie herumschwänzeln und Malpas grinsen wie in jener Nacht, als sein Wahnsinn begonnen hatte. »Gib mir das Messer«, sagte Malachi noch einmal und streckte die Hand aus. Jonah sah ihm in die Augen. Aus der Tiefe seiner Seele zog er das Messer und hielt es Malachi langsam und zögernd hin. »Aus freien Stücken«, wiederholte Danton. Er trat in den Schatten der Kutsche und band die Pferde locker an eine Zeltstange. »Du musst es aus freien Stücken tun, sonst verfolgt es dich dein Leben lang und du wirst es immer zurückhaben wollen.« »Aus freien Stücken«, erwiderte Jonah und gab Malachi das Messer. Der umschloss es mit fester Hand. Ozymandias gab einen lauten, klagenden Ton von sich, der die Ulme erzittern ließ. Er erhob sich und wandte sich ihnen zu. Ein dicker Ledergurt schnitt tief in seinen Hals. Die Haut war aufgescheuert, und das rohe Fleisch schaute heraus. Er sah Malachi an und schien ihm mit Blicken etwas sagen zu wollen. Eine einzelne Träne hing in den grauen Runzeln um die kleinen Augen. Malachi drehte sich rasch um. Die Klinge schnitt durch die kalte Nachtluft und Funken stiegen auf. »Ich muss es tun«, sagte er und ging, die Hand mit dem Messer ausgestreckt, auf den Elefanten zu. »Man darf ein Tier nicht leiden lassen. Besser, es ist tot als an einen Baum angebunden.« »NEIN!«, rief Jonah, als Malachi ausholte. Ein rascher Schnitt, und der Ledergurt fiel von dem kräftigen grauen Nacken. Die dicke Kette, die das Tier so lange in Gefangenschaft gehalten hatte, zog den Gurt auf den Boden. »Ich kann das Tier nicht töten«, sagte Malachi, als Jonah die Hände vom Gesicht nahm. Der Elefant schwang aufgeregt den Rüssel hin und her und kam auf sie zu. »Siehst du!«, rief Malachi, und seine Stimme klang frisch
und jung. »Er ist der Erste. Mich hat man aus meinen Ketten befreit, und so soll es auch für das Tier sein. Dann folgen Tersias und Tara.« »Von dem Mädchen war nie die Rede!« Malpas kam mit dem Hauptmann der Wache an seiner Seite auf sie zu. »Ich wollte lediglich den Jungen eintauschen. Jetzt habe ich bei dem Handel Euch, das Messer und Tersias bekommen und habe somit alles, was ich wollte. Nehmt sie fest«, befahl er den Männern von der Wache, die daraufhin sofort ihre Schwerter zogen. »Ihr habt dem Handel zugestimmt, Malpas«, sagte Malachi und machte einen Schritt auf Ozymandias zu. »Das Messer für den Jungen.« »Ach ja, ich erinnere mich, etwas in der Richtung gesagt zu haben. Ihr würdet es lügen nennen, ich nenne es bekommen, was ich will. Wachen! Bringt sie alle weg, bis ich mich entschieden habe, was mit ihnen geschehen soll.« Er trat einen Schritt vor und betrachtete Malachi genau. »Nun, nun, nun, wenn das nicht Magnus Malachi ist. Das neue Aussehen steht Euch gut, fast hätte ich Euch nicht erkannt!«
26.
Galloglass in Galligaskins – die Königliche � Leibwache in Kniehosen � »Skullet! Skullet!«, rief Malpas schon von Weitem. Stolz ging er vor der Miliz her, die Malachi, Jonah und Thomas Danton die Thieving Lane hinunterzerrte. »Macht die Tür auf, Mister Skullet, es kommen noch mehr Besucher!« Die Tür zum Haus Vamana öffnete sich langsam, und Skullet streckte argwöhnisch den Kopf heraus. »Noch mehr Leute?«, brummte er ärgerlich. »Das Haus ist voller Fremder, wozu brauchen wir noch mehr?« »Das hier sind keine Fremden«, erwiderte Malpas und tänzelte über die Steinplatten vor dem Haus. »Es sind die Zutaten für den Lebenstrunk, sie sind Sahnesoße und Brandybutter. Ach, der bittersüße Kuss des Schicksals! Ich weiß, wir werden Großes erleben, ganz Großes, mein lieber Bruder!« Skullet machte die Tür vollends auf, und Malpas ging an ihm vorbei. Er rollte das Messer zwischen den Händen, das leuchtete wie das Ewige Licht. »Sie warten im großen Saal«, berichtete Skullet. »Ich habe sie zu dem Mädchen gesteckt. Ein Haufen Verrückter und der größte Mensch, den ich je gesehen habe, brachten einen Sarg. Salomon will jetzt gehen, aber ich habe darauf bestanden, dass er wartet, bis Ihr mit dem Messer kommt.« Malpas ging weiter, den Blick auf die Türen zum großen Saal gerichtet. »Sie sollen miterleben, was heute Nacht hier geschieht. Wachen, bringt sie her, und seht zu, dass sie an der Wand bleiben. Wenn einer von ihnen auch nur zuckt, durchbohrt ihr ihn.« Er öffnete die Tür und betrat den Saal, wobei er das Messer hochhielt, als besäße es unvorstellbare Kräfte.
»Hört mir zu, Salomon, hört mir zu. Ich habe den Schlüssel für die Zukunft in der Hand. Wir werden die Welt verändern. Eines Tages werde ich dem Tod davonlaufen, und Ihr werdet so viele Verrückte um Euch haben, wie Ihr braucht, um tausend Zitadellen zu füllen und von ihrem Geld in Saus und Braus zu leben.« Salomon ging schaudernd ein paar Schritte auf Tara zu. Sie saß wie eine Königin auf einem steinernen Thron, der auf einem Marmorsockel stand, und war in einen schweren Umhang aus teurem kirschroten Tuch gehüllt, der bis zu ihren Füßen reichte. Nur die Spitzen ihrer purpurnen Schuhe schauten unter den Falten hervor. Salomon war empört, dass sie etwas anderes trug als Purpur – es schmälerte ihre Pracht und Herrlichkeit und ließ die Verwandlung unvollständig erscheinen. Außerdem bot Kirschrot keinen Schutz vor der Plage. Zu Taras Füßen stand der geflochtene Sarg. Der Deckel war geschlossen und so fest mit Ledergurten umwickelt, dass er sich verbogen hatte. Jonah wurde in den Saal gestoßen. Er schlitterte über den Boden, bis er mit dem Gesicht nach unten vor Tara liegen blieb. Als er aufschaute, sah er sie lächeln. Offenbar genoss sie, was sie sah, und freute sich an seinem Elend. »Dir gefällt, was du siehst, mein Mädchen?«, fragte Malpas, trat neben sie und strich ihr mit seiner kalten Hand über die Wange. »Ihr wart einmal gute Freunde, habt gemeinsame Sache gemacht, Menschen überfallen und ausgeraubt. Doch dir, mein Mädchen, wurde vergeben. – Richter Dobson! Kann ich ihn hängen lassen?« »Immer mit der Ruhe, Meister«, warnte Skullet, besorgt über die Aufgeregtheit seines Herrn. Dobson war an einer schmalen Tür an der Seitenwand des großen Saals mit dicken Filzstreifen an den Handgelenken aufgehängt worden. Seine gefesselten Füße baumelten knapp über dem Boden. »Wenn ich hier nicht mehr hängen muss, könnt Ihr ihn meinetwegen vierteilen«, kreischte Dobson und trommelte mit den Füßen gegen die Tür.
»Seht Ihr, Salomon, selbst der Richter meint, wir sollten den Jungen hängen. Was sagt Ihr zu Magnus Malachi und dem Impresario Thomas Danton, Mister Dobson?« »Alle hängen!«, rief Dobson wie ein Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. »Ihr werdet bezahlen für das, was Ihr mir angetan habt, und mit ihnen hängen!« Malpas flüsterte Skullet etwas ins Ohr. Der Diener lachte und rieb sich die Hände, als er vier Milizionäre anwies, den Richter von der Tür zu holen und wegzuschaffen. »Lasst ihn schwimmen. Bringt ihn zum Kanal, und lasst ihn mit der Flut davonschwimmen. Flößt ihm genügend Gin ein, damit er sinkt wie ein Stein und erst bei Rotherhithe wieder ans Ufer gespült wird.« Dobson protestierte laut schreiend, als die Wachen ihn mit mehreren Schwerthieben, die seine Fingerspitzen nur knapp verfehlten, von seinen Fesseln lösten. »Ich bin noch nicht mit Euch fertig!«, schluchzte er. »Ich verfluche Euch, Malpas, Eure Kinder und Kindeskinder!« »Ihr kommt zu spät, denn ich bin schon verflucht. Ich kann nicht mehr aufhören zu bluten, und dieses Leben kümmert mich nicht mehr.« Er sah Salomon an und dann Beinwell, der als hässliches Monster hinter seinem Herrn stand. »Ihr habt den Alabaster mitgebracht?« »Ja.« Salomon nickte einem Jünger zu, der das steinerne Kästchen in den Händen hielt. »Und den Jungen?« »Zu Euren Füßen. Vom Tod umgeben* wartet er auf seine Wiedergeburt.« »Gut.« Malpas strich Tara mit einem Finger über die Stirn und die schmale Nase entlang. »Soll er heute Abend für uns eine Vorstellung geben?« »Wenn Ihr wollt. Das liegt in meiner Macht.« »MACHT!«, rief Malpas. »Ein so schönes Wort, und doch wird es so selten benutzt. Habt Ihr die Macht, Salomon? Habt Ihr sie?« Er begann, vor Aufregung zu geifern. »Dann kommt, holt
den Jungen, schnell! Holt ihn ins Leben zurück! Gebt ihm, was nötig ist, damit er wieder lebt!« Jonah kauerte keinen Meter von dem Sarg entfernt, als Beinwell hinter seinem Herrn hervortrat und die Lederbänder löste. Er sah, wie der Riese die Tücher wegnahm und das purpurne Seidentuch vom Gesicht des Jungen zog. Seine Lippen waren eisig blau, das Gesicht so blass, als sei er tatsächlich tot. Unsicher trat Salomon an den Sarg, beugte sich zu dem Jungen hinunter und legte die Finger auf seinen Mund. In der Hand versteckt, hielt er ein kleines Fläschchen, aus dem er mehrere Tropfen einer zähen Flüssigkeit laufen ließ. »Wach auf, Kind«, sagte er und rieb Tersias die Flüssigkeit in die Lippen. Als der Junge langsam zu sich kam und den Mund öffnete, schüttete er noch mehr davon hinein. Dabei murmelte er die ganze Zeit vor sich hin. Tersias begann zu zucken. »Flößt ihm den Saft ein, und erspart uns die Vorstellung, Salomon«, sagte Malpas ungeduldig. »Ihr seid hier unter gebildeten Menschen, und er ist genauso wenig tot, wie ich es bin. Wir wissen alle von dem Gift, das Ihr Euren Jüngern einflößt, wenn Ihr sie wiederbelebt.« Salomon schaute Malpas an. Man war ihm auf die Schliche gekommen. »Bald ist er wach«, sagte er kleinlaut, trat einen Schritt zurück und streckte die Hand nach Tara aus. Tara rührte sich nicht. Ihre Hände lagen im Schoß, und sie lächelte düster. »Sie bleibt bei mir, Salomon. Meint Ihr nicht auch, dass sie eine nette Königin abgeben würde?« Malpas streichelte sie wieder. Seine Hand zitterte dabei. Tersias umklammerte die Seitenwände des Sarges mit seinen kleinen Händen und versuchte sich hochzuziehen. Seine Kraft reichte nicht aus. »Tersias«, flüsterte Jonah und berührte die Fingerspitzen des Jungen, »rufe die Teufelsbrut, sie wird dich retten.« »Junge!« Malachi versuchte, sich an den Wachen vorbeizudrängen. »Tu es nicht! Lass das Geistwesen ruhen, es braucht dich nicht!«
Tersias hatte sich mühsam aufgesetzt und starrte mit blinden Augen vor sich hin, während er die Teufelsbrut herbeirief. Es raschelte, und aus allen Löchern kamen scharenweise Ratten mit langen Schwänzen. Sie überschwemmten den ganzen Saal, doch so schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. Dann klopfte es dreimal laut an der Tür. Die Tür flog auf, und die Teufelsbrut kam herein. Mit langen Schritten und umgeben von einem entsetzlichen Gestank marschierte sie auf die Menschenansammlung zu. »Was führt mich hierher, Tersias?«, fragte sie durch Tersias’ Mund so laut, dass alle es hören konnten. Und spöttisch fuhr sie fort: »Endlich werde ich vor den Hohen Rat gerufen!« Malpas hatte die Luft angehalten, als der Geist für alle sichtbar den Saal betreten hatte. Vor ihnen stand ein Wesen, halb Mensch, halb Dämon, die Haut trocken wie Pergament und straff über die alten Knochen gespannt. Jonah sah, dass auf seiner Stirn ein Stück Haut fehlte und der Knochen freilag. »Wie ich sehe, interessierst du dich sehr für mich, Junge«, sagte die Teufelsbrut mit Tersias Stimme und ging auf Jonah zu. Jonah antwortete nicht. Der Anblick des Wesens hatte ihm die Sprache verschlagen. Es lächelte auf ihn herab, und die trockenen Lippen spannten sich über die schwarzen Zähne. Jonah fiel auf, dass es auch eine alte Wunde an der Schläfe hatte. Das Wesen schien seine Gedanken lesen zu können. »Die habe ich schon viele Jahre, Junge. Ich war einmal ein Mensch und lebte auf dieser Erde. Ich war es, der die Klinge der Mastema geschmiedet und den Alabaster behauen und geschliffen hat, bis er so perfekt war, wie er es heute ist. Dann wurde er mir gestohlen, aus den Händen gerissen, als ich verliebt war. Seither liegt ein Fluch darauf.« Das Wesen schaute Malpas an. »Von Generation zu Generation wurde er weitergegeben, von den Unaufrichtigen zu den Gefährlichen, und ich habe zugeschaut, unsichtbar und unfähig, mich in die Machenschaften der Menschen einzumischen. Dann fand ich Tersias, und meine Kraft nahm zu in dem Maß,
wie die seine abnahm. Meine Lebenskraft kehrte zurück, während Grausamkeit und Schmach in seinem Leben zunahmen. Je mehr er litt, desto stärker wurde ich. Schmerzen, die ihm zugefügt wurden, waren meine helle Freude.« »Was habt Ihr uns zu sagen?«, fragte Malpas. Er hielt sich an dem steinernen Thron fest. »Ich habe nichts mehr zu sagen. Ich habe genug von den Menschen und ihren Fragen nach der Zukunft. Wen soll ich heiraten? Welches Kleid soll ich tragen? Ist das alles, was euch interessiert? Will niemand etwas von mir wissen, das mein Verständnis der Welt auf die Probe stellt?«, röhrte die Bestie, während sie auf und ab ging. »Schaut euch an, schaut euch doch alle an! Magier, Scharlatane und Politiker, alle miteinander korrupt und bankrott, alle selbstsüchtig. Du, Malpas, wolltest den Jungen haben, damit er dir sagt, ob du deine Pläne verwirklichen kannst. Du hast dem König nach dem Leben getrachtet und wolltest das, was er besitzt, für dich haben. Derweil lauert der Tod auf dich und kommt dir jeden Tag näher. Was bist du für ein Mann, dass dein eigen Fleisch und Blut dich bedient und deinen Nachttopf leert? Und du, Salomon, schmückst dich mit dem Namen eines Königs, ohne auch nur ein Fünkchen seines Wissens zu besitzen, machst die Menschen verrückt mit deinem Gerede vom Ende der Welt und behauptest, du seiest der Erlöser. Wie viele werden noch kommen von deiner Sorte, Männer, die schreien und Angst machen, die Armen und Leichtgläubigen täuschen, ihnen ihr Geld abknöpfen und sie um den Verstand bringen?« Mit jedem Wort, das aus Tersias’ Mund kam, wurde der Junge schwächer und schwächer. »Dein Ende kommt schneller, als du denkst. Der Tod wird sich deiner eigenen Gier bedienen.« Tersias begann zu stöhnen. Aller Augen waren auf die Teufelsbrut gerichtet, als diese zu ihm trat. »Lass ihn in Frieden!«, rief Malachi wütend. »Was hat er dir getan? Er war immer nur dein Diener!« »Wie kannst du es wagen!«, brüllte die Bestie und starrte Malachi an. »Du bist der Grausamste von allen. Manche Nacht
hat mir der Junge sogar leid getan, wenn er in deiner Obhut war. Wenn er im Käfig eingesperrt war, Hunger litt und mit glühenden Schürhaken bedroht wurde. Er hat alles gesehen. Er mag zwar blind sein, aber durch meine Augen hat er alles gesehen!« Malachi senkte beschämt den Kopf. »Lass ihn in Frieden, und räche dich an mir. Was immer er falsch gemacht hat, ich nehme es auf mich. Nimm meine Seele, und lass ihn frei.« »Bist du etwa plötzlich ein anständiger Mensch geworden?«, fragte die Teufelsbrut verächtlich. »Sentimental und anständig. Ich bin gekommen, um ihn freizulassen, er braucht mich nicht länger, der Tod schwebt schon über ihm. So geht es mit Besessenen. Ich gehe von einem Leben ins andere über, doch dieses Mal habe ich klug gewählt, denn ich habe gesehen, was kommen wird, und mein Opfer steht schon da, keuchend und mit offenem Mund…« Mit diesen Worten stürzte sich die Teufelsbrut auf Malpas. Malpas konnte nicht mehr aufrecht stehen, er klammerte sich an die Lehne des steinernen Throns. Seine rechte Hand verbog sich zu einer Klaue, er hatte seine Gesichtsmuskeln nicht mehr unter Kontrolle, Lippen und Augenlider zitterten, als eine Lähmung ihn befiel. Die Teufelsbrut, der inzwischen Flügel gewachsen waren, flatterte um ihn herum, hockte sich ihm in den Nacken und drückte ihm den Mund auf. Dann streckte sie den Kopf hinein, kroch in seine Kehle und war im nächsten Augenblick verschwunden. »RUHE!«, brüllte Malpas. Ein paar Tropfen frischen Blutes quollen aus seiner Lippe und fielen auf den Boden. Die Miliz sah seine Verzweiflung und stellte sich mit gezogenem Schwert im Kreis um ihn herum auf, um ihn zu beschützen. »Skullet«, murmelte Malpas, »es ist so weit… ich sterbe, aber es ist… zu früh.« Er redete undeutlich, seine Zunge wollte ihm nicht mehr gehorchen. »Der Alabaster – nimm das Messer, und öffne das Schloss. Er übernimmt den Rest. Halte ihn dicht vor mich hin…« Malpas sackte in sich zusammen. Wie eine Taube mit gebrochenen Flügeln lag er hilflos auf
dem Boden. Er schaute zu Tara auf. »Wirst du mitkommen in ein anderes Land?«, fragte er, während Blut aus Ohren und Nase tropfte und ihm Tränen in die bereits blicklosen Augen traten. Taras Herz schlug schneller, als Erinnerungen an den Alabaster in ihr aufstiegen. Sie schaute zu Salomon hinüber und dann auf Malpas, der blind und hilflos auf dem kalten Boden lag und die Hand nach ihr ausstreckte. Sie stieg vom Thron, nahm den Umhang von ihren Schultern und deckte seinen zitternden Körper damit zu. Salomon wollte sie wegreißen, wurde jedoch vom Hauptmann der Wache mit gezogenem Schwert brutal daran gehindert. »Zurück!«, rief er, als Beinwell seinem Herrn zu Hilfe kommen wollte. Skullet riss dem Jünger den Alabaster aus der Hand und stieß das Messer ins Schloss. Als sich das Kästchen zu öffnen begann, trug er es zu Malpas, der umgeben von der Wache schwer atmend in Taras Armen neben dem Thron lag. Der Stein klappte vollends auseinander, und ein kalter Quecksilberhauch Rillte den Saal wie eisiger Morgennebel, der vom Fluss heraufzieht. Die Kerzenflammen zitterten, als das Licht zum Alabaster hingezogen wurde. Eine Geisterhand erschien aus den Tiefen des Steins, packte Malpas an der Kehle und begann, ihn langsam zum Quecksilber hinzuziehen. Die Wachen stürzten aus dem Saal, als sie begriffen, dass ihr Herr verschlungen werden sollte. Sie hielten sich die Augen zu, und ihre Schreie waren im ganzen Haus und bis hinaus auf die Straße zu hören. Salomons Jünger versteckten sich hinter den dicken Baumwollvorhängen an den hohen Fenstern Richtung Osten. Die Welt schien stillzustehen, als der Alabaster seinen Zauber über die Anwesenden legte. Feiner Staub fiel wie silbrig glänzender Regen von der Decke. Beinahe alles Licht wurde aufgesogen, und das Gemälde über dem Kamin, das Malpas zeigte, verlor seine Farbe, bis schließlich nur noch der Rahmen und eine leere, unberührte Leinwand an der Wand hingen.
»Mein Bruder – NEIN!«, schrie Skullet. Er umklammerte Lord Malpas’ Knöchel, als dieser immer näher zu dem glänzenden Spiegel hingezogen wurde. Sein Kopf berührte bereits das flüssige Silber. Mit letzter Kraft griff Malpas in die Tasche seines Gehrocks und drückte Skullet sein Testament in die Hand. Er winkte noch einmal schwach, bevor sein Arm im Alabaster verschwand. »Es gehört alles dir… alles… Ich gehe jetzt zu unserem Vater.« Die Pistole fiel ihm aus der Tasche und landete auf dem schmutzigen Dielenboden. Im nächsten Moment hatte Lord Malpas diese Welt verlassen. Der Alabaster hatte ihn ins Quecksilberland entführt. Eine Wolke reinen Lichts fuhr aus dem Alabaster und ließ Tau auf die Umstehenden herabregnen. Die Tür zwischen den zwei Welten stand offen, und eine Schar Geistwesen mit gespenstisch grünen, blicklosen Augen schwirrte durch den Raum. Sie sangen in Tönen, die an der Grenze des Hörbaren lagen. Ihr langes Haar wehte wie Seegras hinter ihnen her. Keiner der Anwesenden konnte sich rühren, alle waren wie verzaubert von dem schwebenden Chor. Salomon schlug die Hände vor das Gesicht, als die Wesen die Arme nach ihm ausstreckten und ihm mit langen Knochenfingern, an denen kein bisschen Fleisch mehr war, über die Wangen strichen. Ihr Tanz wurde schneller, sie ballten sich zu einer meergrünen Masse zusammen, in welcher der Alabaster verschwand. Tara stand auf und streckte die Arme aus. Hunderte von Händen griffen nach ihr, hoben sie hoch und ließen sie mittanzen. Die Luft wurde durcheinandergewirbelt, es entstand ein Strudel, der an Wänden und Türen rüttelte, die Vorhänge aus den Schienen riss und Putz und Pferdehaar von den Wänden bröseln ließ. Aus der grünen Masse schossen Knochenfinger heraus, die an den Kleidern der Menschen zerrten, ihnen die Gesichter zerkratzten und das Fleisch von den Knochen reißen wollten. Jonah schaute zu Tara hinauf, die über ihm schwebte. Neben ihm rappelte Tersias sich auf. Irgendwie spürte er, dass
Tara ihnen weggenommen werden sollte. Er versuchte, die Wesen zu fassen zu kriegen, ohne sie zu sehen oder zu verstehen, was um ihn herum vor sich ging. Blind folgte er der Eingebung seines Herzens. »Lasst sie in Ruhe!«, protestierte er. »Ihr dürft sie nicht mitnehmen!« Augenblicklich erschien ein meergrünes Wesen vor ihm. Mit wehendem Haar schaute es ihn lächelnd, wenn auch blicklos an. Dann schlug es Tersias so plötzlich ins Gesicht, dass er durch den Saal taumelte und Malachi vor die Füße fiel. Dort blieb er reglos liegen, drei tiefe Kratzer auf der Wange. Jonah kauerte sich zusammen, als dasselbe Wesen sich ihm zuwandte und ihm die Augen auskratzen wollte. Er schlug um sich, als es seinen Gehrock aufschlitzte und Haut- und Hemdfetzen durch den Spalt zog. Dann sprang es hinter ihn, riss den Kragen von seinem Rock und zerbröselte ihn zwischen den Fingern. Währenddessen wurde Tara immer näher zu dem Alabaster hingezogen, als riefe Malpas’ Stimme sie zu sich. Malachi hob Tersias vom Boden hoch, drückte ihn an sich und blies ihm seinen Atem ein. Danton legte dem Jungen die Hand auf die Brust und redete in einer Sprache, die Malachi noch nie zuvor gehört hatte. Tersias öffnete die Augen. Der Tod hatte ihn noch einmal freigegeben; Malachis tiefe Sorge um den Jungen hatte ihn vertrieben. Zwei Schritte entfernt, beobachtete Jonah voller Angst, wie Tara von den Meerwesen zu den sich immer weiter öffnenden Kiefern des Alabasters gezogen wurde. Er packte ihre Knöchel und zerrte sie ein Stück weit zu sich, doch der Sog war so stark, dass sie sich wieder dem grünen Schlund näherte. »Jonah – das Messer!«, rief Malachi. Jonah packte das Messer, das immer noch im Schloss des Alabasters steckte, und versuchte es herauszuziehen, während er mit der anderen Hand Tara festhielt. Es war, als sei das Messer von der Hitze und dem Wunsch, das Kästchen offen zu halten, mit dem Schloss verschmolzen. Jonah zog mit aller Kraft daran, doch der Stein gab es nicht frei. Die Meerwesen
wirbelten um ihn herum. Eines nach dem anderen wurde in den Stein zurückgezogen. Jonah fegte alle Gedanken aus seinem Kopf und konzentrierte sich ganz darauf, das Messer herauszuziehen. Es bewegte sich im Schloss, dann sprang es zurück. Jonah hatte sogar den Eindruck, es bohre sich noch tiefer als zuvor in den Stein hinein. Die Meerwesen waren inzwischen alle in den schimmernden Quecksilbersee eingetaucht, doch sie reckten die Arme heraus und zogen weiter an Tara. »Noch einmal, Jonah! Versuch es noch einmal!«, hörte er Malachis Stimme wie im Traum über dem Klagegesang der Meerwesen. Jonah zog. Er zwängte einen Finger in den schmalen Schlitz zwischen Stein und Messergriff, der so heiß war, dass er seine Haut verbrannte. Tara wehrte sich nicht, als sie in den Stein hineingezogen wurde. »Lass mich los! Es gibt für mich in dieser Welt nichts mehr, für das es sich zu bleiben lohnte!«, rief sie Jonah zu. »Helft mir, Malachi!«, schrie Jonah. Mit einer Hand hielt er Tara fest, mit der anderen versuchte er, ein letztes Mal das Messer aus dem Schloss zu ziehen – und plötzlich löste es sich! Es flog auf den Boden und schlitterte über die Dielen, bis es vor Skullets Füßen lieben blieb. Das Alabasterkästchen klappte zu. Die Hände der Meerwesen, die Tara noch festhielten, lösten sich in Luft auf. Jonah sank auf das Podest des steinernen Throns, während Tara versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie schnappte sich das Alabasterkästchen in der Hoffnung, die beiden Hälften auseinanderzudrücken und Malpas auf die andere Seite folgen zu können. »Gib mir das Messer!«, rief sie, an Skullet gewandt. »Lasst mich gehen!« Im Saal war plötzlich alles still. Niemand sprach. Malachi, Salomon und Skullet schauten sich an, keiner wusste, was als Nächstes passieren würde. Es war, als sei ihnen der Grund für ihre gegenseitige Abneigung abhanden gekommen und als
suchten sie nach etwas, woran sie ihre Feindschaft festmachen konnten. Skullet hielt das Blatt Papier in den zitternden Händen und las wieder und wieder, was darauf stand. Die anderen beobachteten ihn schweigend, keiner rührte sich, als hielte der Alabaster sie noch in seinem Bann. »Gib mir das Messer!«, sagte Tara schließlich noch einmal und streckte die Hand danach aus. »Bleib, wo du bist, meine Liebe.« Mit finsterer Miene ging Salomon auf sie zu. »Nichts auf dieser Welt hat mehr Bedeutung für mich«, schrie sie. Die betäubende Wirkung des Saftes war vorbei. »Dort will ich sein. Ich habe es gesehen. Dort zu sein ist alles was ich will!« »Aber du gehörst doch zu mir, du kannst mich nicht verlassen«, jammerte Salomon. »Nichts auf dieser Welt hat mehr Bedeutung für mich«, wiederholte sie, stand auf und drückte das Alabasterkästchen an sich. »Ich kann dich nicht gehen lassen«, sagte Salomon. Entschlossen hob er die Pistole vom Boden auf und zielte damit auf das Mädchen. »NEIN!«, schrie Jonah, rannte auf Salomon zu, packte seinen Arm und drehte ihn so, dass der Pistolenlauf zur Decke zeigte. Gleichzeitig lief Tara zu Skullet hinüber und streckte eine Hand nach dem Messer aus, während Beinwell sich Jonah packte, ihn mühelos hochhob und in Richtung Malachi stieß. Tara stolperte, verlor das Gleichgewicht und konnte sich gerade noch an Skullet festhalten. Dabei rutschte ihr das Kästchen aus den Händen. Sie schrie kurz auf – es klang wie ein Freudenschrei –, als sie zusammen zu Boden stürzten. Sie blieb reglos liegen, während Skullet sich aufzurappeln versuchte. »Lass sie los!« Jonah stand auf, wurde jedoch von Malachi zurückgehalten. Salomon drehte sich um und zielte mit der Pistole auf Skullet. »Gib mir meine Frau zurück«, kreischte er. Skullet schob sie von sich, damit er aufstehen konnte, denn er
merkte, dass sie nicht mehr lebte. Das Messer, an dem jetzt Taras Blut klebte, hielt er noch in der Hand. Er starrte Salomon an, der die Pistole entsicherte. »Sie ist tot… Es war ein Unglück, ein Unfall…«, bettelte er. Salomon drückte ab, der Schuss löste sich und traf Skullet in die Brust. Der presste die Hand auf die Wunde und lächelte Salomon an. »Keine tödliche Wunde«, sagte er. Aus seinem Gesicht wich alle Farbe, die Lippen wurden blau, und Blut tropfte unter seinem Gehrock hervor auf den Boden. Er stolperte zum Thron und sank auf den kalten Stein, den Blick unverwandt auf die blutende Wunde gerichtet. »Malpas und ich waren Brüder«, begann er stockend. »Mein Vater war auch sein Vater. Ich wurde unter der Treppe geboren und er darüber… am selben Tag, zur selben Zeit. Jetzt weiß ich, wie grausam das Leben ist, denn er ist in einer anderen Welt, während von mir nichts bleiben wird.« Sein Atem rasselte, das Kinn fiel ihm auf die Brust, und er verstummte. Jonah lief zu Tara und starrte ihr ins Gesicht. Aus ihrem Mundwinkel lief Blut. Verzweifelt holte er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte es vorsichtig ab. Danton wiegte Tersias in den Armen. Salomon zog sich Schritt um Schritt von den anderen zurück. Er gab Beinwell ein Zeichen, den Alabaster an sich zu nehmen und zu verschwinden. Malachi blickte auf und sah, dass sie sich ohne ein Wort des Bedauerns davonschleichen wollten. »Wollt Ihr etwa schon aufbre-
chen, Salomon? Kein Wort nach all dem, was Ihr getan habt?«, fragte er. »Wir müssen uns vom Tod fernhalten… Er macht uns unrein. Die Toten sind tot, ich kümmere mich um die Lebenden.« »Ihr kümmert Euch doch nur um Euch selbst. Die Schrift an der Wand in Eurer Zitadelle ist deutlich zu erkennen. Ihr wurdet gewogen und für zu leicht befunden.« »Dass ich nicht lache, Malachi. Ein Haarschnitt und frische Kleider machen aus Euch noch lange keinen rechtschaffenen Menschen. Ein gescheiterter Magier, etwas anderes werdet Ihr nie sein.« »Das stimmt, aber durch Jonah habe ich ein neues Leben angefangen, eines, wie Ihr es nie kennenlernen werdet. Geht, wir werden uns um die Toten kümmern. Der Alabaster bleibt
hier, wir werden um ihn kämpfen.« »Gut, gut, Malachi«, sagte Salomon, während er den Saal verließ, Beinwell und eine Horde Jünger dicht auf den Fersen. »Aber verlasst die Stadt, wenn Ihr wisst, was gut für Euch ist. Es kommt eine Plage, die Eurem neuen Leben rasch ein Ende setzen könnte. Dann werden wir ja sehen, wer Sieger bleibt. Komm, Beinwell – sie kamen in einer Kutsche, die eines Königs würdig ist. Damit fahren wir jetzt zurück.«
27. Veritas Jonah Ketch blickte auf. Er hielt Tara in den Armen, sein Gesicht war tränenüberströmt, und er schluchzte laut. Der Tod seiner Freundin hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. Er schaute in ihre gebrochenen Augen. Von jetzt an war alles anders. Verschwunden waren die roten Haare und das heisere Lachen, nie mehr würde sie ihn ausschimpfen – und es doch nicht so meinen. Nie mehr würde er ihre warme Hand spüren, die sie ihm in Freundschaft entgegenstreckte. Er wiegte ihren kalten Körper in seinen Armen, während sie mit jeder Sekunde bleicher wurde. Jonah drückte sie fester an sich. Vielleicht konnte er ja mit seiner Wärme den Tod verdrängen. Wider alle Vernunft hoffte er, sie würde ihn ansehen und nur noch einmal zu ihm sprechen. Es war ein Augenblick, von dem er wünschte, er würde nie vorübergehen. Niemals wollte er Tara loslassen – schließlich wusste er nicht, wohin sie gehen würde. Sehr bald mischte sich in seine Trauer Wut, wenn er an Salomon dachte, der davongerannt war wie ein räudiger Hund. Er unterdrückte ein Schluchzen und schaute Malachi gefasst an. »Er läuft einfach davon, als sei Mord überhaupt nichts.« Vorsichtig legte er Tara neben den Thron auf den Boden und wickelte sie in das Tuch, das sie als Umhang getragen hatte. »Ich kann ihn nicht gehen lassen. Er muss dafür bezahlen…« »Lass ihn«, erwiderte Danton, der Tersias in einen Schlaf wiegte, aus dem er nicht mehr erwachen sollte. »Die Rache ist nicht dein, sie steht einem anderen zu.« »Dann werde ich seine Aufgabe übernehmen und tun, was er schon längst hätte tun sollen. Ich habe sie im Leben so oft
im Stich gelassen. Wenigstens im Tod soll sie sich auf mich verlassen können.« Jonah nahm das blutige Messer, das Skullet aus der Hand gefallen war, und wischte es an seiner Hose ab. Dann marschierte er entschlossen hinaus, die Augen noch voller Tränen. »Schnell! Schnell!«, rief er den Milizionären zu, die sich auf dem Flur vor den Meerwesen versteckt hatten. »Sie haben Skullet umgebracht und wollen fliehen!« Der Hauptmann der Wache tauchte aus der Dunkelheit unter der Treppe auf und lief in den großen Saal, wo er Skullet tot neben der Tür liegen sah. Die Schusswunde in seiner Brust sah aus wie ein Vulkankrater, der ein Loch in seine Weste gebrannt hatte. Jonah war dem Hauptmann gefolgt. Er zitterte vor Wut, als sie sich jetzt von Mann zu Mann anblickten. »Salomon hat Skullet erschossen. Ich gehe ihm jetzt nach, er darf nicht entkommen.« Damit lief er zur Haustür. Der Hauptmann zögerte. Malachi wollte seinem jungen Freund nachgehen, doch Danton hielt ihn zurück. »Was er tun will, muss er alleine tun«, sagte er, als die schwere Eingangstür aufgerissen wurde. In der Ferne hörte Jonah eilige Schritte. Er erspähte einen purpurfarbenen, wehenden Mantel, der in der Gasse verschwand, die von der Thieving Lane zu den Feldern von St. James führte. Da rannte er, wie er nie zuvor gerannt war, das Messer in der Hand, mit keuchendem Atem und wild pochendem Herzen. Das Bild der toten Tara ließ ihn nicht los. Zwei Schritte hinter ihm folgte der Hauptmann mitgezogenem Schwert, bereit, seinen Herrn zu rächen. Sie sprachen kein Wort. Ganz auf die Verfolgung konzentriert, stürmten sie durch die dunklen Gassen. Als Jonah das offene Feld erreichte, erkannte er im Licht des Zeltlagers die riesenhafte Gestalt Beinwells. Ein Stück weiter vorn stand bei der Ulme die Kutsche mit den locker angebundenen Pferden. Der Elefant lag im Stroh und badete im
Mondlicht. »Ozymandias! Ozymandias!«, rief Jonah lauthals, während er rannte. Seine Rufe wurden immer wieder von Schluchzern unterbrochen. Er sah, wie Salomon sich umdrehte, als Beinwell auf den Kutschbock kletterte. Ein Jünger warf Beinwell die Zügel zu, ein anderer öffnete für Salomon die Tür. Der hungrige Elefant hatte Jonahs Rufen gehört, erhob sich schwerfällig und wandte sich ihm zu. »Halte sie auf! Halte sie auf]«, schrie Jonah. Die Kutsche setzte sich langsam in Bewegung. Die Räder gruben sich tief in den aufgeweichten Boden, als die Pferde, erschreckt von Beinwells Geschrei, die Hufe in den Schmutz stemmten. Ozymandias stand da wie ein müder, alter König und ließ den Rüssel hin und her schwingen. Die Tiger in ihren Käfigen knurrten, und die Affen kreischten. Der Lärm scheuchte halb angezogene Clowns und Scharlatane aus ihren Betten. Beinwell brüllte laut, als Salomon von innen gegen die Scheibe hämmerte und ihm zu verstehen gab, dass er sich beeilen solle. Doch je mehr Beinwell auf dem Kutschbrett herumhopste, desto tiefer gruben sich die Räder in die weiche Erde. »Los! Los!«, feuerte er die Pferde an und schwang die Peitsche über ihren Köpfen. Jonah hörte ihn und lief wie der Wind. Salomon sah ihn hier und da zwischen den Zelten auftauchen, über Leinen springen und mit jeder Sekunde näher kommen. »Schnell, Beinwell!«, rief er und trommelte erneut gegen die Scheibe. »Der Junge kommt mit der Wache!« Und dann blickte Salomon zu Boden. Neben seinen weichen purpurfarbenen Lederstiefeln lag der schwarze Beutel aus seinem Zimmer, in dem die Heuschrecken gewesen waren. Panik durchzuckte ihn. Doch dass jemand eine Heuschrecke auf irgendeine Weise aus der Zitadelle geschmuggelt und freigelassen hatte, war ausgeschlossen. Er ließ sich in die Lederpolster zurücksinken und schaute zur Decke. Und da hingen sie wie Fledermäuse: sieben schwarze Heuschrecken. Sie hatten
sich mit den Hinterbeinen an der Bespannung festgekrallt, ihre Körper baumelten herunter, und die glänzenden Facettenaugen blickten ihn an. Eine nach der anderen rieb aufgeregt die Beine aneinander und ließ ihr melodisches Zirpen erklingen. Salomon erstarrte. Als er sich wieder rühren konnte, tastete er vorsichtig nach dem Türgriff. Seine Hand glitt über das lackierte Holz, doch einen Griff fand er nicht. Er schluckte mühsam, seine Zunge schwoll an, und dicke Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Ihm war rasch klar, dass er gefangen war. Sein Fläschchen mit Lavendelessenz hatte er nicht dabei, und in der Dunkelheit sah man nicht, dass er Kleider aus Purpur trug, einer Farbe, welche die Heuschrecken bei Tagesucht von ihm ferngehalten hätte. Er saß in der Falle, und seine Kreaturen lauerten an der Decke. Von allen Seiten strömten Menschen herbei, wie Jonah sie seltsamer noch nicht gesehen hatte. Ein Mann, dessen Kopf einen Meter über den Schultern saß, und ein Mädchen mit zwei Köpfen und drei Armen, die sich mit sich selbst unterhielt. Während sie Beinwells Bemühungen verfolgten, die Kutsche flott zu bekommen, wurde das Geschrei, das aus dem Inneren drang, immer lauter. Ozymandias trottete um die Kutsche herum, dann setzte er sich auf die Hinterbeine und trompetete Beinwell an. Dieser stieg vom Kutschbock, um nachzusehen, was sein Herr von ihm wollte. In dem Moment durchbrach der Hauptmann der Wache den Kreis der Zirkusattraktionen. Beinwells Arm schoss nach vorn, es knackte, und der Hauptmann ging zu Boden, bevor er das Schwert auch nur einen Zentimeter hatte anheben können. Jetzt stand Jonah vor dem Riesen, der finster auf ihn herabschaute. Auch der Elefant war nicht weit. Jonah hielt sich das Messer vor die Brust. »Tu es für mich!«, rief er. »Ozymandias, die Kutsche…« Der Elefant richtete sich auf und ließ die Vorderbeine auf die Wagendeichsel krachen. Die Pferde preschten durch die Menge hindurch in die Freiheit.
Beinwell war hin und her gerissen. Zum einen waren da die Hilfeschreie seines Herrn, zum anderen der Wunsch, den Jungen endlich zu erledigen. »Salomon geht nirgendwohin und du auch nicht!«, rief Jonah. »Los, komm schon, Fettwanst. Mach mich fertig, wie du den Hauptmann fertiggemacht hast. Ein Schlag aufs Kinn, und du hast mich…« Er tänzelte vor dem Riesen hin und her, das Messer blitzte im Mondlicht. »Salomon braucht dich nicht mehr. Das ist deine Chance, mich zu kriegen. Komm her, du Hasenfuß, schlag zu, du kannst es doch…!« Dicht hinter ihm drückte Ozymandias gegen die Kutsche und hob sie aus dem Schlamm. Sie drehte sich und landete auf dem Dach. Salomons Geschrei verstummte. Der Elefant hob die Kutsche ein zweites Mal an und stellte sie auf die Räder zurück. Dann begann das Spiel von Neuem, als sei sie nicht mehr als eine Feder im Wind. Beinwell fuhr die Faust aus, traf jedoch nur die Luft vor Jonahs Gesicht, als dieser sich mit einem Rückwärtssalto in Sicherheit brachte. »Willst du mich zum Narren halten junge?« Grüne Rotzfäden baumelten vor Beinwells Kinn. »Mit einer Hand könnte ich dir den Kopf abreißen und mit zweien die Ohren«, fauchte er. »Dann wäre ich ja ebenso hässlich wie du«, höhnte Jonah und tänzelte vor und zurück. Eine Hand schoss aus der Dunkelheit und traf ihn am Arm. Das Messer flog ihm aus der Hand. Drei weitere Schläge prasselten kurz hintereinander auf ihn ein. Er bekam keine Luft mehr, und seine Beine knickten unter ihm weg. Beinwell stellte sich breitbeinig über Jonah. »Jetzt habe ich dich. Du machst dich nicht mehr über mich lustig«, sagte er und hob die Hand zu einem letzten, tödlichen Schlag. Für Jonah stand die Zeit still. Der Lärm der Zirkustiere, Ozymandias’ Trompeten und das Geschnatter der Menge verloren sich in der Weite des Nachthimmels. Er schaute zu dem Riesen auf und sah dessen Faust wie einen Hammer über sich
schweben. Er spürte die feuchte Erde und roch den Duft des Wintergrases, vermischt mit dem ernüchternden Gestank Londons. Irgendwo ganz in der Nähe roch es auch nach Gin und abgestandenem Bier. Sein letzter Blick fiel auf die Frau mit den zwei Köpfen, die ihm ein doppeltes Lächeln schenkte und etwas sagte, das er nicht verstand. Er wusste, was gleich kommen musste. Bald, dachte er, bin ich bei Tara. Er nahm einen Schatten wahr und hörte ein Knacken, als der Elefant den Rüssel um Beinwells Hals legte und den Riesen hochhob. Wie eine Marionette baumelte er über dem Boden, fuchtelte mit den Armen und schnappte nach Luft. Keiner wagte es, sich zu rühren. Keiner sprach ein Wort. Der Elefant drehte sich um und trottete mit Beinwell hinaus in die Nacht. Jonah rappelte sich auf. Die kalte Nachtluft brannte in seinen Lungen und jagte ihm eisige Schauer über den Rücken. Die Kutsche lag ohne Räder zur Seite geneigt da, die Tür hing aus den Angeln. Langsam ging er darauf zu. Eine Mauer aus flüsternden Gesichtern umgab ihn, von denen eines seinen Namen rief. Jonah trat näher und zog am Griff, um die Tür der Kutsche vollends zu öffnen. Er machte einen Satz rückwärts, stolperte, fiel auf die Knie und rutschte hektisch weiter zurück, um dem Horror zu entkommen, auf den sein Blick gefallen war. Salomons Gebeine fielen aus der Kutsche, sauber abgenagt von den Heuschrecken, die sich inzwischen übereinander hergemacht hatten und sich in ihrer Gier selbst auslöschten. Als der Junge nach dem Messer griff, das neben ihm lag, rollte der kahle, abgenagte Schädel des Propheten durch das Gras auf ihn zu. Ein Auge saß noch in der Höhle und starrte ihn an. Jemand packte Jonah am Kragen, zog ihn auf die Beine und umarmte ihn fest. »Komm, mein Freund«, sagte Malachi, »wir haben hier nichts mehr verloren. Der Morgen kommt, und vor
uns liegt ein leidvoller Tag.« Die Prozession schlängelte sich durch das dürre Gras der Felder von Conduit. Man hatte den Gestank und Rauch Londons schon hinter sich gelassen, die hohen Häuser am Queen Square verschwanden im Nebel. Vorneweg ging Jonah. Er hielt das Pferd am Zügel, das den Wagen zog. Auf den Planken schaukelten die Leichname von Tersias und Tara sacht hin und her. Sie waren in warme Decken gewickelt worden, über ihre Gesichter strich der Wind. Malachi ging neben dem Wagen her, und Danton bildete den Schluss. Er hatte den Kopf gesenkt und zählte beim Gehen die Schritte. »Zwei Tote, Mister Danton«, rief Malachi, als sie sich dem Brunnen der Schwarzen Maria näherten. »War es zwei junge Leben wert, dass wir Malpas und Salomon aufgehalten haben?« »Das werden wir nie wissen«, erwiderte Danton schwer atmend. »Manches im Leben werden wir erst verstehen, wenn auch wir den Weg unserer Freunde gegangen sein werden.« »Früher einmal dachte ich, es gäbe ein Licht am Ende des Tunnels – jetzt sehe ich nur noch einen verzweifelten Jungen.« Malachi schaute Jonah an. »Ich dachte, Tersias würde überleben, doch dann entschlüpfte er uns im Schlaf. Meine Hoffnung ist, dass er und Tara zusammen sind. Sein zweites Gesicht wird ihn nie mehr plagen. Keine Prophezeiungen mehr, keine Teufelsbrut und kein Betteln um sein Erscheinen.« Malachi gab sich seiner Schwermut hin. »Ich hätte ihn wie mein eigen Fleisch und Blut aufgenommen. Meine Veränderung hätte auch für ihn eine Veränderung bedeutet, doch jetzt wurde er mir weggenommen.« Er seufzte schwer und schaute hinauf in den klaren blauen Himmel. »Wenn er nur sehen könnte, wo wir ihn beerdigen – beim Brunnen der Schwarzen Maria und dem Kreuz des Königs, eine noble Ruhestätte, weit weg vom Schmutz und Ruß Londons.« »Was wollt Ihr mit dem Messer und dem Alabaster machen, Magnus?«, fragte Danton.
»Sie bleiben bei Tara, die wird sie bewachen. Sie sind nicht für diese Welt bestimmt, und so können wir sicher sein, dass Malpas nicht zurückkommt. Meint Ihr nicht auch?« »Wollt Ihr das Grab kennzeichnen, Magnus?« »Nur mit meinem Schmerz«, erwiderte Malachi und beschleunigte seinen Schritt, um zu Jonah aufzuschließen, da sich am Horizont drei Gestalten neben dem Brunnen abzeichneten. »Es sind uns schon welche zuvorgekommen… Der Totengräber sollte längst weg sein. Wer kann es sein?« Malachi wurde nervös. Er beschattete die Augen mit den Händen, um besser sehen zu können. Jonah hob die Hand und winkte, und die kleinste der Gestalten löste sich von den beiden anderen und kam auf ihn zugelaufen. Maggot warf sich in die Arme seines Freundes und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Tot?«, fragte er Jonah. Er mochte nicht glauben, was er da auf dem Wagen sah. »Sie schlafen nur«, erwiderte Jonah und schluckte. Er wollte nicht, dass Maggot ihn weinen sah. »Da vorn wurde aber ein Grab ausgehoben und mit Lavendel und Seegras ausgestreut.« Maggot griff nach Jonahs Hand. »Ein Ruhebett, bis sie wieder aufwachen. Da liegen sie warm und von weicher Erde umgeben und warten auf den Tag, an dem für sie die Sonne wieder aufgeht.« Jonah räusperte sich und legte den Finger auf die Lippen, damit der Junge keine weiteren Fragen mehr stellte. »Worte haben hier keinen Platz mehr, denn mit Worten hat hier in der Heide begonnen, was mit dem Tod endete. Jetzt habe ich keine mehr.« Hand in Hand gingen sie weiter. Der Wind fuhr durch die Hecken, die den Weg zum Brunnen säumten. Es war noch kälter als in der Nacht zuvor, der Himmel verdüsterte sich, Wolken fegten drüber hinweg. Die letzten Sonnenstrahlen drängten sich verstohlen zwischen die Wolken, bevor die Sonne vom Himmel verschwand, als sei sie mit dunkler Tinte übergossen worden. Am Brunnen warteten Griselda und der alte Bunz. Der zit-
terte in seinem dicken Mantel, allerdings mehr aus Furcht vor dem, was ihm bevorstand, als vor Kälte. Er biss sich die Fingernägel mitsamt der Nagelhaut ab, während er darauf wartete, dass er sein kleines Mädchen noch einmal sehen konnte. Das Pferd blieb stehen, die Hufe umspült vom klaren Wasser aus der Quelle. Neben dem Steinkreis, der die Quelle fasste, war eine tiefe Grube ausgehoben worden, aus der es nach Lavendel und Seegras duftete. Jonah hatte die Arme um den Hals des Pferdes gelegt und vergrub das Gesicht in seinem rauen Fell. Er wollte nicht sehen, wie Malachi und Danton die Leichname vom Wagen hoben und umständlich auf die Erde legten. Der alte Bunz kam zu ihm und fasste ihn am Arm. Er drehte ihn zu Tara um, die friedlich dalag. »Wir tun es für sie«, flüsterte er, und zum ersten Mal roch sein Atem nicht nach Gin. »Sie dürften nicht tot sein«, schluchzte Jonah. »Wenn ich der Mann gewesen wäre, der ich sein sollte, hätte ich beide gerettet. Ich sollte da liegen, und sie sollten diejenigen sein, die um mich trauern.« »Offenbar nicht«, widersprach Griselda leise. »Dein Tod erwartet dich an einem anderen Ort, weit in der Zukunft.« Jonah scharrte mit den Füßen im Boden. »Ihr… Ihr könntet doch etwas tun… einen Zauber wirken wie an mir…« »Möchtest du das machen?«, fragte Malachi und hielt ihm den Alabaster und das Messer hin. »Je tiefer sie in der Erde liegen, desto sicherer können wir sein, dass wir sie nie mehr Wiedersehen.« »Ich wünschte, ich hätte sie nie gesehen, dann wäre mir diese Nacht erspart geblieben und wir hätten Euch, Malachi, nie getroffen. Tara wäre immer noch im ›Bull and Mouth‹, und Tersias säße in seinem Käfig.« »Wäre das ein Leben für sie oder uns gewesen?«, fragte Malachi und warf den Alabaster in das Grab. »Ich habe immer noch den Finger, den ich Euch gestohlen habe, Malachi. Wir könnten einen Lebenszauber wirken und
den Tod vertreiben«, schlug Jonah vor. Er wühlte in seiner Tasche und brachte den vertrockneten Ringfinger mit dem schwarzen Nagel zum Vorschein. »Wirf ihn ins Grab, Jonah. Ich brauche ihn nicht mehr, ich gehe jetzt eine andere Straße.« »Ihr nehmt den Tod als unumstößlich hin und wollt es nicht einmal versuchen?«, rief Jonah. »Seid Ihr wirklich nicht mehr als ein Fußabtreter?« »Verabschiede dich von ihnen, Jonah, gib ihr noch einen letzten Kuss, dann wollen wir sie ihrem ewigen Schlaf überlassen«, sagte Malachi. Jonah drehte sich um und sah Griselda bei den Leichnamen knien. »Komm, Jonah, setz dich her«, sagte sie leise und winkte ihn mit ihrer schmalen weißen Hand zu sich. »Aus alter Freundschaft, wenn nicht aus Liebe.« Er schaute hinüber zu der Quelle mit ihrem sprudelnden Wasser, das über die Steine floss. Mit einer Hand zog er sein Taschentuch aus der Tasche, tauchte es in den Brunnen und ging dann zu Tara, um ihr zärtlich das Gesicht damit abzuwischen. Auf ihren Augen lagen Pennystücke, die blauen Lippen waren geschlossen. In seiner Trauer und seinem Schmerz schaute Jonah hinauf zum Himmel und sah, wie die dunklen Wolken von einem Blitz erhellt wurden, der von Ost nach West zuckte. Er fuhr sich mit einem Finger übers Gesicht und strich seine Tränen auf Taras Lippen. Dasselbe tat er bei Tersias, ohne zu wissen, weshalb. Er wusste nur, dass er es tun musste. Griselda lächelte. Sie wusste, was in ihm vorging. Er schaute auf und sah Malachi, Maggot und den alten Bunz bei den Toten stehen, reglos, wie festgefroren in der Zeit. Auch die Wolken über ihnen standen still. Da holte er Dantons Pfeife aus der Tasche und setzte sie an die Lippen. Beim ersten Ton spürte er noch die Kälte an der Haut. Dann blies er noch einmal und noch einmal hinein, immer lauter. Es klang wie der schrille Schrei eines Sommervogels, sehr hoch oben, höher als die Wolken, höher als der Himmel. Ein We-
sen, das man zwar hört, aber nie zu Gesicht bekommt. Jonah erinnerte sich, was Danton gesagt hatte: ›Falls du in Schwierigkeiten bist, kannst du mit der Pfeife einen Gleichgesinnten herbeirufen, einen Gefährten, und er wird dich trösten.‹ Jonah wartete in der Stille auf das versprochene Wunder. Am Ende des Weges sah er eine dunkle Gestalt. Wie ein Golem kauerte sie neben der Hecke im hohen Gras. Sein Herz sagte ihm, dass es Malpas war, der zurückgekommen war, um sich noch einmal hämisch zu freuen. Als er wieder hinsah, war der Spuk verschwunden. Um ihn herum war plötzlich alles mit Raureif überzogen, jede Falte von Taras Totengewand hatte einen weißen Saum. Dann war, wie bei einem plötzlichen Wechsel der Jahreszeiten, auch das Eis wieder verschwunden. Dafür bohrten sich neben Taras Kopf Schneeglöckchen aus der trockenen, kahlen Erde, Knospen bildeten sich und blühten auf. Der Himmel leuchtete, als erneut ein Blitz darüber zuckte, dann noch einer und noch einer. Wie Strahlen aus blauem Licht schossen sie über das Firmament. Jonahs Herz raste. Es wird nicht mit dem Tod enden, dachte er und wagte doch nicht, daran zu glauben. Als ihm der Gedanke ein zweites Mal kam, sprach er ihn aus. Tersias rührte sich, er öffnete die Augen und schaute ihn an. »Du bist es«, sagte er und lächelte. »Und Magnus Malachi…« Der Junge lachte, als er versuchte, sich aus seiner Decke zu befreien. Jonah schluckte seine Angst hinunter und zerrte an der Decke, die den Jungen gefangen hielt. Ein plötzlicher Donnerschlag ertönte, und Malachi schreckte aus seinen Gedanken auf. »Tersias!«, schrie er, als er sah, dass der Junge sich bewegte. Die Gesellschaft geriet in helle Aufregung. Danton und Malachi zogen den Jungen auf die Beine und lösten die Binden. Jonah beugte sich zu Tara hinüber. »Tara… es ist Zeit.« Er wusste, dass sie jedes seiner Worte hörte. »Wach auf – der
Winter ist vorbei, es ist Frühling geworden…« Tara öffnete die müden Augen, das Blut floss in ihre bleichen Wangen zurück, und Jonah riss ihr die purpurnen Bänder vom Kopf.