ODER DIE WUNDERZEIT Eine unglaubliche Geschichte Aufgeschrieben von Kolma MaierPuschi Illustriert von Erich Schmitt
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ODER DIE WUNDERZEIT Eine unglaubliche Geschichte Aufgeschrieben von Kolma MaierPuschi Illustriert von Erich Schmitt
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
1. Über das Zaubern oder Vorstellung der Helden
Karl Wunderlich konnte leider nicht zaubern. Er gehörte zu jenen armen und bedauernswerten Menschen, die sich mit allem schwer herumschlagen müssen, was Zauberer mit Leichtigkeit zustande bringen. Aber er hatte sehr lebhafte Vorstellungen davon, wie das Leben sein würde, wenn er zaubern könnte. Zauberer, die sich durch Trompeteblasen unterhalten wollen, brauchen bekanntlich nicht zu üben. Sie nehmen die Trompete, schließen die Augen, sprechen eine Zauberformel, blasen in das Mundstück, und schon entströmen dem Instrument die schönsten Melodien, ohne Mühe, ohne Anstrengung, nur durch Zauberei. Ein Zauberer, der beim Mittagessen in die Küche hinausgeschickt wird, weil wieder mal vergessen wurde, das Salz auf den Tisch zu stellen, braucht nur vor sich in die Luft zu greifen, und schon hat er das Salzfaß in der Hand. „Dieser ewige Hokuspokus“, seufzt dann die Mutter, aber sie ist doch mit dem Zaubersalz zufrieden. Es ist viel salziger als das Salz in der Küche. Ein Zauberer, der in der Schule eine fremde Sprache lernen muß..., aber reden wir nicht davon. Wie schön könnte jede Schule sein, wenn nicht das ewige Lernen wäre. Und wie schön könnte auch alles andere sein. Ein echter Zauberer zum Beispiel richtet es so ein, daß er jeden Tag Geburtstag hat. Am Geburtstag sind bekanntlich alle Leute nett zu einem, es gibt das Lieblingsessen zu Mittag, und man bekommt viel geschenkt.
„Was schenken wir dem Karl zum morgigen Geburtstag?“ fragt der Vater abends, wenn das Geburtstagskind des heutigen Tages nach langem Feiern endlich ins Bett gegangen ist. „Was wünscht er sich denn morgen?“ „Er möchte gern wieder einen Fußball“, sagt die Mutter. „Einen Fußball hat er doch erst vorgestern zum Geburtstag bekommen.“ „Den hat er verschenkt.“ „Nun gut, kaufen wir wieder einen Fußball“, sagt der Vater seufzend. „Daß dem Jungen das viele Geburtstagfeiern nicht langweilig wird?“ Aber das ist keine Schwierigkeit. Wenn es wirklich langweilig werden sollte, dann kann ein Zauberer ja zaubern, daß er morgen keinen Geburtstag hat. Dann kann er sich ja etwas anderes zaubern. Dann ist morgen eben Wandertag mit der ganzen Klasse. Abends im Bett noch fällt dem Zauberer ein, daß morgen eigentlich Wandertag sein könnte, und um acht Uhr steht die Klasse an der S-Bahn, und Herr Jansen löst die Karten nach Friedrichshagen, denn es geht zum Müggelsee. Alle sind fröhlich und guter Dinge, als müßte es so sein, und niemand weiß, daß er diesen Wandertag allein dem Zauberer verdankt. Oder wenn der Zauberer abends ins Bett gehen soll, und er will es nicht, und er merkt schon, daß es gleich Krach geben wird, dann zaubert er einfach den Tag um zwölf Stunden zurück, und es beginnt alles, was sich in diesen Stunden ereignet hat, noch einmal von vorn. Nur mit dem Unterschied natürlich, daß der Zauberer jetzt genau weiß, was sich alles ereignen wird. Er weiß also, was der Lehrer in Erdkunde fragt, und er weiß, daß der Vater heute pünktlich nach Hause kommt, und er weiß, daß es keinen Zweck hat, sich auf das Mittagessen zu freuen, weil es Spinat gibt. Das ist alles sehr einfach. Ein Zauberer hat es leicht.
Und daß so wenige Menschen zaubern konnten, lag wahrscheinlich nur daran, daß sich niemand richtig klarmachte, wie leicht und schön es ein Zauberer hat. Karl hatte noch nie jemand getroffen, der richtig zaubern konnte. Alle, die es behaupteten, waren Gauner mit Tricks, hinter die man früher oder später doch kam. Weil die meisten Zauberer Trickgauner waren, darum glaubte ja auch niemand an Zauberei. Ein richtiger Zauberer zum Beispiel kann fliegen. Nicht für dreißig Mark bei der Lufthansa zehn Minuten Rundflug über der Stadt. Nein! Er öffnet das Fenster, springt auf das Fensterbrett, stößt sich ab und schwebt wie ein Vogel, wie eine Rakete, einfach so, in jeder gewünschten Schnelligkeit. Ein Zauberer, der nicht fliegen kann, ist wohl erst ein Lehrling in seinem Fach. Das alles bringt ein Zauberer zuwege, aber Karl Wunderlich konnte, wie gesagt, nicht zaubern, und alle, die um ihn waren, konnten es auch nicht. Sie lachten nur darüber, wenn Karl von seinem Wunsch sprach, die Zauberei zu erlernen. Nur Peggi lachte nicht. Peggi war ein kluges und hübsches Mädchen, und sie sah sofort ein, daß Zaubern herrlich sein müßte, wenn sie auch ganz anders zaubern wollte als Karl. Peggi wollte so zaubern, daß Herr Jansen stotterte und schielte, und vielleicht wollte sie ihm auch noch eine Warze auf die Nase zaubern, oder daß Frau Meisel gar nicht anders konnte, als jeden Mittag Eierkuchen für Peggi zu backen. Solche kleinen Tricks genügten ihr vollkommen. Vor dem Fliegen hatte sie Angst, und jeden Tag Geburtstag feiern fand sie abscheulich langweilig. Sie hatte keinen Ehrgeiz als Zauberin. Es mußte daran liegen, daß sie erst zehn Jahre alt war, sie ging in die vierte Klasse, Karl aber schon in die siebente. Karl war drei Jahre älter. Aber wahrscheinlich lag es doch nicht an ihrer Jugend, Karl konnte
sich deutlich daran erinnern, daß er auch schon vor drei Jahren den Wunsch hatte, ein großer Zauberer zu werden. Wahrscheinlich lag es daran, daß Mädchen anders sind als Jungen und daß sie nicht soviel träumen. Im Grunde nämlich glaubte Peggi nicht daran, daß Zaubern möglich sei. Schon vor fünf Jahren, sie ging noch nicht zur Schule, glaubte sie nicht mehr an den Weihnachtsmann und auch nicht an den Osterhasen und schon ganz und gar nicht an den schwarzen Mann, der nachts kommt und die Kinder erschreckt. Sie glaubte eigentlich an gar nichts, nur an das, was sie sehen, riechen, fühlen, schmecken und hören konnte. Karl konnte sich noch, genau daran erinnern, wie er damals, er ging in die zweite Klasse, empört seinem Vater erzählte, daß Peggi ihn auslachte, wenn er vom Osterhasen anfing. „Du glaubst nicht an den Osterhasen?“ fragte der Vater die Peggi. Sie war auch damals einen ganzen Kopf kleiner als Karl. Sie war ein Krümel von Mädchen, und sie hatte auch damals schon blonde Locken, die ihr oft wirr ins Gesicht hingen. Sie schüttelte energisch den Kopf, als der Vater sie fragte, und sagte: „Nee! Osterhasen gibt es nicht. Die Eier werden von Hühnern gelegt und die Schokoladeneier von der Schokoladenfabrik.“ „Aber wer versteckt sie wohl im Garten?“ fragte der Vater verwundert. „Du!“ sagte Peggi und zeigte mit ihrem Finger auf den Vater. Der lachte nur über diese Anschuldigung. „Ein aufgeklärtes Mädchen unserer aufgeklärten Zeit“, sagte er kopfschüttelnd und ging ins Haus zurück. Karl hatte es nie vergessen. Aufgeklärtes Mädchen unserer aufgeklärten Zeit. Er hatte nicht verstanden, was Vater damit meinte, und er verstand es heute noch nicht ganz. Aber es klang wie eine Anerkennung für Peggi, und er hatte sich etwas geschämt wegen dieser Osterhasen-
geschichte. Aber dann wollte er Peggi doch nicht triumphieren lassen. „Ich bin auch aufgeklärt“, sagte er, „aber an den Osterhasen glaube ich doch.“ „Du bist unbelehrbar“, hatte Peggi gesagt, sich auf ihrem Absatz herumgedreht und war davonstolziert. Sie hatte immer solche ärgerlichen Redensarten bei der Hand, die sie irgendwo aufschnappte. Gestern zum Beispiel hatte Karl der Peggi erzählt, was er alles unternehmen wollte, wenn er die Tarnkappe, die unsichtbar macht, erfunden hatte. Sie hörte sich das ein Weilchen mit an, sie hörte sich alles mit großer Geduld an, aber dann war es ihr zuviel. „Du bist ein Phantast“, hatte sie gesagt und ihn einfach auf der Straße stehenlassen. Richtig ärgerlich hatte sie das gesagt. Wie konnte ein Mensch ärgerlich werden, weil Karl die Tarnkappe erfinden wollte? Und was war das, ein Phantast? „Mutti, was ist ein Phantast?“ „Wer hat das gesagt?“ „Peggi.“ „Warum fragst du nicht Peggi danach?“ „Dann denkt die, ich bin doof!“ „Ein Phantast ist ein Träumer, ein Junge, der daran glaubt, daß seine Träume wahr sind.“ „Ach so“, sagte Karl, „und ich dachte, es sei ein Schimpfwort.“ Er war sehr befriedigt davon, daß Peggi ihn nicht beschimpft hatte. „Ich sagte zu ihr“, erzählte er seiner Mutter, „ich werde die Tarnkappe erfinden, da nannte sie mich einen Phantast.“ „Was für eine Tarnkappe?“ „Eine, die unsichtbar macht!“ „Gibt's doch gar nicht.“ „Siegfried hatte auch eine.“ „Welcher Siegfried?“ „Siegfried, der Held, der den Drachen tötete. Kennst du ihn nicht?“
„Doch doch, den kenne ich. Aber das war eben ein Held.“ „Ich bin auch ein Held“, sagte Karl überzeugt, und die Mutter lachte darüber. Aber sie hatte keinen Grund zum Lachen, denn eigentlich hatte Karl recht. Er ist nämlich wirklich ein Held, der Held dieser Geschichte. Er ist ein Phantast und ein Faulpelz und ein Junge, der gern zaubern lernen möchte, um sich nicht groß anstrengen zu müssen; er hat keinen Drachen getötet, und ob er mutig ist, wissen wir noch nicht, aber er ist unser Held. Und Peggi ist unsere Heldin. Und es wird höchste Zeit, daß wir mit dieser Vorrede Schluß machen und die Geschichte von Karl und Peggi so erzählen, wie sie sich zugetragen hat. Es ist eine fast unglaubliche Geschichte, und ihr werdet manchmal fragen, ob sie wirklich wahr ist, ob sie wirklich so geschehen ist, wie sie hier erzählt wird, oder ob vielleicht ein bißchen dazugeschwindelt wurde. Nichts ist geschwindelt! Alles ist wahr! Es hat sich alles ganz genauso zugetragen, wie es hier berichtet wird, und wer es nicht glaubt, ist selbst daran schuld, und für den werden wir uns nie mehr auch nur ein Sterbenswörtchen ausdenken.
2. Tag für Tag Schule ist Quatsch, wir gehen in den Tierpark
Peggi erwachte, als der Vater die Tür hinter sich zumachte und zur Arbeit ging. Er war immer sehr leise, ehe er losging, aber die Tür schloß er mit einem lauten Knall zu. Solange er noch in der Wohnung war, dachte er daran, daß Peggi noch schlief, aber sowie er draußen im Hausflur stand, hatte er es vergessen. Es war ein heller Morgen. Gestern hatte es geregnet, vorgestern hatte es geregnet, jetzt schien die Sonne, und so weit man sehen konnte, war der Himmel blau. Eben ist Vater gegangen, dachte Peggi, dadurch bin ich wach geworden. Und als ihr das einfiel, sprang sie mit beiden Füßen zugleich
aus dem Bett und lief zum Fenster. Als sie sich hinauslehnte, kam der Vater gerade aus der Haustür heraus. „Kuckuck“, rief Peggi und winkte. Er schaute hoch, entdeckte Peggi im Nachthemd, weit aus dem Fenster gebeugt, und bekam einen Schreck. Der Vater fürchtete immer, Peggi würde einmal aus dem Fenster fallen. „Nicht so weit!“ rief er. „Beug dich nicht so weit vor“, und er wedelte aufgeregt mit der Hand. Peggi ging ein klein wenig zurück und rief noch einmal „Kuckuck!“ „Kuckuck“, sagte der Vater und seufzte. „Geh pünktlich los!“ sagte er, und: „Drei Brötchen stehen in der Küche!“ Dann schaute er die Straße hinunter, sah seine Straßenbahn kommen, winkte noch einmal mit den Fingern zu Peggi hoch, und dann rannte er. Die Haltestelle der Straßenbahn war zweihundert Meter entfernt. Aber als er schon drei Häuser weiter war, fiel ihm noch etwas ein, und er drehte sich noch einmal um. „Frau Meisel kommt heute nicht“, schrie er. „Sie kommt heute nicht!“ „Jaja“, rief Peggi. „Ich weiß schon! Heute ist Dienstag! Lauf mal, lauf, sonst schaffst du es nicht!“ Und der Vater drehte sich um und rannte weiter. Er schaffte es, er schaffte es immer. Er konnte so schnell rennen, wie er wollte. Er konnte am schnellsten rennen von allen Menschen, die Peggi kannte. Sie sah noch zu, wie er an der Haltestelle ankam, wie er einstieg und wie die Bahn wieder abfuhr, dann ging sie ins Zimmer zurück, um sich zu waschen und anzuziehen. Aber ehe sie vom Fenster wegging, winkte sie noch einmal der davonfahrenden Straßenbahn nach. Nur so und ohne Grund. Es sah niemand, und es sollte auch niemand sehen. Also heute war nun Dienstag, der 11. September. Am Dienstag begann es in der Schule mit Deutsch. Deutsch konnte Peggi, sie sprach es fließend, und wenn sie aufpaßte, konnte sie es auch schreiben, ohne allzuviel Fehler zu machen. Und lesen konnte sie es schnell, selbst die längsten Wörter las sie, ohne zu stocken. Die zweite Stunde war Geschichte. Das war langweilig. Der erste Krieg, der zweite Krieg, der erste Frieden und der zweite Frieden. Es mochte ja Menschen geben, die das interessierte, aber Peggi gehörte nicht zu ihnen. Nach Geschichte kam Rechnen. Eigentlich, wenn man es ruhig und unvoreingenommen betrachtete, war die Schule keine sehr schöne Sache. Mußten denn wirklich alle
Menschen rechnen lernen? Wieviel ist ein Viertel mal ein Achtel? War es notwendig, das zu wissen? Karl, das wußte Peggi, wurde einfach erklären: Wer das nicht weiß, ist dumm! Basta! Er machte sich das Leben immer bequem. Aber man konnte doch sehr lange darüber nachdenken, was geschehen könnte, das einen veranlaßt, ein Viertel mit einem Achtel malzunehmen, und es führte zu nichts, es fiel einem einfach nichts ein. Da stehen zwei Körbe mit Äpfeln. Von dem einen nimmst du dir ein Viertel, von dem anderen ein Achtel, wieviel hast du dann zusammen? Ein ganz ausgetüftelter Fall. Da konnte man tausend Jahre alt werden, und nie kam einer und stellte solche Fragen, wie sie im Rechenbuch standen. Und wenn wirklich mal einer kommen sollte, dann zählte man einfach ab. Oder man lief schnell zu einer Rechenlehrerin und ließ sich beraten. Man rannte ja mit allen möglichen Dingen zu anderen Leuten und ließ sich helfen, warum nicht auch mit schwierigen Rechenaufgaben? Da war es früher viel besser. Da brauchten die Kinder weder lesen noch schreiben, noch rechnen zu lernen, und sie lebten auch, sie wurden groß und stark und machten Geschichte. Nein, es hatte nicht viel Sinn, in die Schule zu gehen, soviel hatte Peggi schon gemerkt. Das, was man zum Leben brauchte, war schnell erlernt. Sechs mal sechs ist sechsunddreißig. Sieben mal sieben ist neunundvierzig. Im September sind die blauen Pflaumen reif, und im Mai blüht der Flieder. Peggi saß am Küchentisch, trank die Milch und aß die Brötchen, die ihr der Vater hingestellt hatte, und war gerade zu dem Ergebnis gekommen, daß die Schule nicht nur keine schöne, sondern auch eine sehr überflüssige Sache sei, da pfiff Karl unten auf der Straße. Peggi schaute zur Uhr. Kam Karl zu früh, oder ging die Küchenuhr falsch? Sie schaute aus dem Fenster. „Es ist noch zu früh!“ „Mach hin! Komm! Gehen wir langsam“, rief Karl. „Komm herauf!“ „Wieso denn?“ „Komm herauf!“ Karl brubbelte etwas vor sich hin, was Peggi nicht verstand, doch er verschwand im Hause, und bald hörte ihn Peggi auf der Treppe trapsen. Sie ging zur Wohnungstür und öffnete. „Ich frühstücke noch“, sagte sie kauend.
„Das sieht man.“ „Es ist erst viertel.“ „Ich hab es schon gemerkt. Unsere Uhr ging falsch.“ „Setz dich hin. Wieviel ist ein Viertel mal ein Achtel?“ „Warte mal, warte mal. Ein Viertel sind zwei Achtel...“ Er überlegte mit offenem Munde. „Wozu muß man das wissen?“ „Brabbel nicht dazwischen! Das muß man wissen.“ „Warum? Wozu? Was hat es für einen Sinn?“ „Ja, wenn du dauernd dazwischenredest, kann ich es dir nicht ausrechnen.“ „Ich will es ja gar nicht wissen!“ „Warum fragst du denn danach?“ Karl sah Peggi etwas verstört an. „Du“, sagte Peggi, „ich weiß es jetzt. Ich habe es mir überlegt. Schule ist Quatsch. Fußball spielen oder Tischler lernen oder Schlosser, oder meinetwegen auch kochen lernen, das hat Hand und Fuß, aber Schule ist Quatsch.“ „Peggi, Peggi!“ sagte Karl bekümmert. „Wie willst du denn Schlosser werden, wenn du nicht lesen und schreiben kannst? Wie willst du denn kochen lernen, wenn du nicht weißt, was ein Gramm und hundert Gramm und ein Kilo sind?“ „Nun gut“, sagte Peggi, „meinetwegen. Aber wenn schon Schule, dann würde es auch langen, wenn man jeden zweiten Tag hinginge. Tag für Tag Schule, das ist Quatsch.“
„Papperlapapp“, sagte Karl. „Mach dich fertig, komm! Natürlich gehst du jeden Tag zur Schule!“ „Haha!“ lachte Peggi. „Willst du mir das befehlen?“ Und sie warf schnippisch ihren Kopf herum und schaute Karl gespannt an, was der nun weiter sagen werde. Aber Karl regte sich nicht sehr über Peggis Verhalten auf. „Von mir aus“, sagte er, „geh nicht zur Schule. Aber was wird dein Vater dazu sagen?“ „Hm“, machte Peggi und überlegte diese Frage. „Er wird dir das Fell versohlen“, sagte Karl. Aber Peggi schüttelte den Kopf. Nein, das tat ihr Vater nicht. Aber vielleicht würde er traurig sein, und vielleicht würde er wieder sagen, daß es doch besser wäre, wenn Peggi eine Mutter hätte. Sicherlich würde er traurig sein. „Na gut“, sagte Peggi, „gehen wir zur Schule.“ Und sie ging in ihre Stube, um ihre Schultasche zu holen. Aber noch auf dem Korridor fiel ihr etwas Neues ein. „Wie wäre es, wenn wir heute mal irgendwo anders hingingen? Mein Vater brauchte es doch gar nicht zu erfahren.“ Da wurde Karl ärgerlich. „Mach schnell, mach schnell“, sagte er. „Solch ein Unsinn. Wo sollten wir denn hingehen?“ „In den Tierpark!“ Karl überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. „Was du immer für Einfälle hast.“ „Da lernen wir auch etwas.“ „Aber das geht doch nicht.“ „Heute ist so schönes Wetter! Viel zu schade für Schule.“ Karl schaute zum Fenster hinaus. Es war wirklich schön. Er hatte es noch gar nicht richtig bemerkt. „Du läßt deine Schultasche hier. Und mittags kommen wir und holen sie wieder ab. Frau Meisel kommt heut nicht. Es merkt kein Mensch.“ „Aber wir haben kein Fahrgeld.“ „Ich habe noch zwei Mark. Das langt für uns beide.“ „Es kostet auch noch Eintritt.“ „Es langt trotzdem.“ „Aber wir können doch nicht einfach ...“ Karl war sprachlos vor Erstaunen über diese Peggi. „Warum können wir nicht einfach?“
„Und was sagen wir morgen in der Schule?“ Ach, wenn einer schon so fragt, dann ist der Fall entschieden. Was sagen wir morgen? Morgen wird uns schon etwas einfallen. Und schlimm kann es überhaupt nicht werden. Im Tierpark gibt es Tiger und Eisbären und Adler und Wölfe... Und die Elefanten und die vielen Affen ... „Wir zaubern einen Entschuldigungszettel“, sagte Peggi. „Lirum Larum Löffelstiel, Entschuldigungszettel gibt es viel. Abra ka dabra! Rumm viediewutsch!“ Sie schlug mit beiden Armen beschwörende Kreise, als wollte sie den Entschuldigungszettel aus der Luft greifen. „Bum wada bum“, sagte sie. „Der Zaub'rer nimmt's krumm.“ Dem Karl aber war bei diesem Theater nicht ganz wohl zumute. So einfach mir nichts, dir nichts nicht zur Schule gehen, das war ein starkes Stück. Aber andererseits — nicht wahr — äh ... Es war schon lange her, daß Karl nicht mehr im Tierpark war. Und Peggi hatte mit
ihrem Vorschlag genau das Richtige getroffen. Die Pinguine und die großen weißen Vögel mit den langen rosa Beinen, die immer beisammen auf dem Rasen standen, wie hießen sie doch gleich? Mit dem langen Hals und dem spitzen langen Schnabel... Wie hießen sie doch gleich? „Flamingos“, sagte Karl, und das nahm Peggi für die endgültige Zustimmung. Sie ergriff Karls Mappe und wollte sie in ihr Zimmer tragen. Aber da protestierte Karl. „Nein“, sagte er, „nein, meine Schultasche nehme ich mit.“ „Bitte sehr“, sagte Peggi, „wenn du dich damit schleppen willst?“ Aber sie war nicht schwer, und solange er sie bei sich hatte, konnte er sich den Fall immer noch überlegen. Peggi suchte aus dem Kästchen auf ihrem Nachttisch alles Geld heraus. Es war viel mehr. Sie war viel reicher, als sie gedacht hatte. Zwei Mark und vierundsechzig Pfennige. Ein stattliches Vermögen. Es reichte für Fahrgeld, für Eintritt und für viermal Eis. „Und weißt du“, sagte Peggi, „da gibt es immer Schulklassen, die in den Tierpark gehen, da drängeln wir uns irgendwo dazwischen, dann können wir noch mehr Eis essen.“ „Das merken die doch“, sagte Karl erschüttert. „Geht's, geht's“, sagte Peggi. „Geht's nicht, geht's eben nicht.“ Und noch als sie schon in der S-Bahn saßen, wunderte sich Karl darüber, wie ein Mensch so leichtfertig sein konnte wie diese Peggi. Einfach nicht zur Schule gehen? Und er lief mit, er ließ sich verführen. Es war kaum zu glauben. Das geschah am Dienstag, dem 11. September, vormittags bei hellem Sonnenschein. Damit begann es. Und wenn Peggi und Karl an diesem Tag still und brav und friedlich, so wie es sich gehört, zur Schule gegangen wären, dann wäre alles, was jetzt kommt, nicht geschehen.
3. Ein männlicher Frosch aus Brasilien
Sie standen ein Weilchen vor dem Eingang des Tierparks und schauten zu, wie die Menschen hineingingen. Mütter mit Kinderwagen, ein Vater mit drei kleinen Jungen, zwei alte Tanten, ein alter Onkel, Mutter mit größeren Kindern, Kinder allein, aber Schulklassen kamen nicht. Entweder waren sie schon alle drin, oder es war heute kein Tag, an dem die Klassen einen Ausflug machten. Es blieb ihnen nichts übrig, als das Eintrittsgeld zu bezahlen. Peggi ärgerte sich sehr darüber, und sie ärgerte sich auch über Karl, der durch seinen Einspruch verhinderte, daß Peggi einen alten Opa, der so aussah, als ob er kinderlieb sei, um zwei Eintrittskarten bat. Karl dachte überhaupt nicht an das schöne Eis, das man für das Eintrittsgeld kaufen konnte, und er hatte auch keine Lust, länger auf Schulklassen zu warten, er hatte nur den einen Wunsch, schnell hineinzukommen und hin zu den Löwen und Tigern. Peggi ärgerte sich so, daß sie an allem herumnörgelte. Dieser Tierpark war ziemlich unpraktisch eingerichtet, fand Peggi, und man hätte alles ganz anders machen sollen. Konnte man nicht die Tiere nach ihrer Interessantheit ordnen? Oder nach der Größe? Zuerst die Elefanten, dann die Giraffen, daneben die Büffel, dann die Eisbären, Braunbären und so weiter... Dann wußte man sofort, daß es rechts mit den Elefanten begann und links mit den Mücken aufhörte. Aber was war am Eingang, womit fing es an? Mit Goldfischen! Wen interessierten Goldfische? Oder wenn schon alles so weit auseinander lag und so ungeordnet war, warum asphaltierte man dann nicht die Wege und machte sie schön fest und glatt und gab jedem Kind einen Roller oder Rollschuhe? „Fünfundzwanzig Pfennig Eintritt“, sagte Karl. „Dafür tausend Tiere, und Rollschuhe mit Kugellagern gibt's zu. Du würdest das so einrichten, das ist klar.“ „Die Rollschuhe sind ja nur geborgt, die gibt man am Eingang, wenn man fertig ist, wieder ab.“ „Und die Omas und Opas, was bekommen die geborgt?“
Peggi dachte ein Weilchen darüber nach, dann entschied sie, daß in ihrem Tierpark die Omas und Opas einen Dreiradwagen mit Handantrieb erhielten. „Und die Kinderwagenfrauen haben es auch viel leichter, wenn Asphaltwege sind“, sagte sie. Auf den Wiesen standen Kraniche und Marabus und Störche und Flamingos. Und auf dem kleinen langgezogenen Teich schwammen Schwäne. Die Flamingos standen auf einem hohen rosa Stiel. Ihr zweites Bein und ihren Kopf hatten sie in ihren Federn versteckt. Sie standen unbeweglich und schliefen, obwohl soviel Leute da waren, die Geld bezahlt hatten, um sie zu besichtigen. Peggi klatschte in die Hände, um diese trägen Vögel aufzuwecken, aber die nahmen keine Notiz davon, sie schliefen weiter. Anscheinend hatten sie die ganze Nacht gearbeitet und waren nun todmüde. Auf einer Brücke standen Kinder und wollten die Schwäne mit Wurstbrötchen füttern. Sie riefen put, put, put, um sie anzulocken, so als ob die Schwäne die Hühnersprache verstünden, und sie winkten dabei mit ihrem Frühstück. Die Schwäne sahen es und kamen trotz des put, put, put. Ja, und dort standen die Hirsche, und es waren prächtige starke Burschen mit sehr eindrucksvollen Geweihen. „Es sind Säugetiere“, sagte Karl, der immer bestrebt war, Peggi weiterzubilden. Peggi stellte sich vor, wie solch ein Hirsch säugte, und sie mußte lachen. „Mann“, sagte sie fröhlich, „mit solch einem Geweih kommt der doch gar nicht an das Euter der Mutter heran.“ „Aber diese hier sind doch schon erwachsen, sie säugen nicht mehr!“ „Also sind es keine Säugetiere.“ „Die jungen Hirsche, die Kleinen, wenn sie so groß sind“, Karl zeigte mit beiden Händen die Größe etwa einer Maus, „dann säugen sie.“ „Na ja. Also dies hier sind keine Säugetiere.“ „Natürlich!“ „Quatsch!“ sagte Peggi. „Die würden nicht mal an ein Kuheuter herankommen, ohne der Kuh den Bauch aufzuspießen.“ Es war zum Verzweifeln mit ihr. „Der Mensch gehört auch zur Gattung der Säugetiere“, sagte Karl. Aber damit brachte er sich bei Peggi um den letzten Kredit. „Du vielleicht“, sagte sie verächtlich, „aber nicht ich.“ Und als sie sah, daß sie Karl mit ihrem Benehmen verletzte, drehte sie sich um und ging weg. Sie marschierte den Weg entlang, der zu den Bärenzwingern
führte. Als sie ein Weilchen gegangen und an ein paar Wildpferden und einem niedlichen kleinen grauen Esel vorbeigekommen war, schaute sie sich vorsichtig um, ob Karl hinter ihr herkam. Ja, da ging er, und als er sah, daß sie sich umdrehte, da tat er so, als beachte er sie gar nicht, und blieb bei den wilden Pferden stehen. Da ging Peggi ganz schnell in ein kleines Häuschen hinein, das links am Wege stand. Drinnen im Häuschen war es warm, und es brannte helles Licht, obwohl der Sonnenschein durch die großen Fensterscheiben auch noch hineinleuchtete. In der Mitte des Raumes, auf einem Tisch, stand ein großer Glaskasten, und rings an den Wänden entlang standen auch Kästen. Es waren Terrarien, und in ihnen befanden sich Ottern und Nattern und Frösche und Salamander und Blindschleichen, eine etwas unheimliche Gesellschaft. Es roch ein bißchen modrig in diesem Raum, und er war geheizt, obwohl es doch draußen schön warm war. Peggi hatte Angst vor Schlangen und Lurchen und Molchen, und es war außer ihr niemand mehr in diesem Raum. Sie ging einmal vorsichtig um das große Terrarium in der Mitte herum, und sie wollte den Raum gerade wieder verlassen, da sah sie ihn. In einem Kasten an der Wand, direkt unter dem Fenster hockte ein riesengroßer Frosch. Er schaute sie unverwandt an, blähte seine Backen auf und zwinkerte ihr mit einem Auge zu. Er hatte einen breiten roten Kopf und einen langen leuchtendroten Streifen über dem Rucken, aber über jedem Auge und auch genau mitten auf der Stirn trug er ein spitzes Horn. Er zwinkerte ihr zu und lachte sie an, und dann hob er seine Patschhand, seine abscheuliche, langfingrige Patschhand und winkte. Er öffnete dabei den Mund, und es war, als sagte er: „Komm näher. Fürchte dich nicht!“ Er winkte wirklich, er winkte sie heran. Peggi stand unbeweglich und schaute den Frosch an, und der Frosch schaute Peggi an, und Peggi hatte das Gefühl, daß sie sich nicht von der Stelle rühren konnte. Meine Güte, meine Güte, wenn doch Karl da wäre, dachte sie, wenn doch Karl da wäre. Warum nur bin ich ihm weggelaufen? Träume ich, oder winkt er mir wirklich zu? Es war kein Traum, es war auch kein Irrtum, er hob die Hand und winkte. Er wollte, daß sie näher herankäme, und wahrscheinlich hatte er nichts Böses im Sinn, denn er bemühte sich ganz offensichtlich, ein nettes, freundliches Gesicht zu machen. Und jetzt hörte Peggi auch, daß er etwas sagte, aber sie verstand es nicht.
Da war ja noch die Glasscheibe zwischen ihnen, und sie stand zu weit entfernt. Langsam und vorsichtig, Schritt für Schritt, ging sie näher heran. „Komm schon her“, sagte der Frosch. „Ich beiß dich nicht. Ich habe noch nie einen Menschen gebissen. Ich habe ja auch kaum Zähne Siehst du es nicht?“ Und er öffnete seinen Mund und fuhr sich mit der Patschhand über den breiten Unterkiefer. „Unten habe ich gar keine, da ist alles glatt, und oben nur ganz kleine. Mit denen könnte ich dir nichts tun, auch wenn ich es wollte.“ Peggi stand jetzt dicht vor dem Kasten, der durch ein Netz, das in einem Holzrahmen eingespannt war, verschlossen wurde. „Was bist du denn für einer?“ fragte sie. „Kannst du nicht lesen? Es steht draußen dran.“ Ja, da hing ein kleines Schild, auf dem stand: „Hornfrosch, Brasilien, Männchen.“ „Du bist ein Hornfrosch?“ fragte Peggi. „Denkste, die schreiben was Falsches ran? Ich bin Teepetepee!“
„Wer bist du?“ „Teepetepee!“ „Ach! Du heißt Peepepetee!“ Der Frosch schloß für einen Moment die Augen und seufzte. „Nicht Peepepetee“, sagte er dann. „Nein! Teepetepee!“ Und er sprach das Tee und das Pee so deutlich aus, wie es ihm nur möglich war. „Zuerst Tee! Wie Kaffee, weißt du, Tee, wie Kaffee oder meinetwegen Kakao, zuerst Tee, dann petepee.“ „Teepetepee“, sprach Peggi folgsam nach, und der Frosch war befriedigt. „Du hast es schnell gelernt“, sagte er. „Wirklich, du bist ein kluges Mädchen. Ich habe mich schon oft mit Kindern unterhalten, viele lernten nie, wie ich heiße.“ „Das ist doch nicht schwer“, sagte Peggi. „Teepetepee, das ist gar nicht schwer zu behalten.“ „Ich sag ja, du bist gescheit. Kannst du mir nicht einen Gefallen tun?“ „Welchen denn?“ „Geh doch mal da drüben an den großen Kasten, in der Mitte den, da sitzen Schnecken an der Glaswand, siehst du die?“ Peggi nickte. „Bring mir mal zwei oder drei davon. Ich habe Hunger!“ „Diese Schnecken willst du essen?“ Der Frosch nickte. „lii“, sagte Peggi. „Schnecken? Die kann man doch nicht essen!“ „Geh schon! Bring sie mir! Sie schmecken wunderbar. Sie sind eine Delikatesse, du brauchst dich nicht vor ihnen zu ekeln. Sie sind warm und trocken und nur innen feucht. Hmmm!“ Er leckte sich die Lippen. Peggi überlegte sich den Fall. Es mochte ja sein, daß Frösche gern Schnecken aßen, aber es war für ein kleines Mädchen nicht sehr angenehm, solche Schnecken anzufassen. Doch wenn Teepetepee nun wirklich Hunger hatte? Er war ja gefangen, und selbst konnte er sich die Schnecken nicht holen. Peggi ging zu dem Kasten hin, langte hinein, nahm eine Schnecke von der Wand und brachte sie dem Frosch. Sie hob das Drahtnetz hoch und ließ sie hineinfallen. Happ, machte der Frosch, und weg war die Schnecke. Es war kein Schlucken und keine Bewegung des Halses zu sehen. So schnell, wie sie herunterfiel, war sie auch schon verschwunden. „Noch eine“, sagte Teepetepee und leckte sich die Lippen. Peggi holte die zweite und dann auch noch die dritte.
Happ, happ, es ging immer so schnell. „Ich habe gleich, als du hereinkamst, gesehen, daß du ein nettes Mädchen bist“, sagte der Frosch. „Sonst hätte ich dich auch gar nicht angesprochen.“ „Warum sagst du es nicht deinem Wärter, daß du Hunger hast?“ Teepetepee lachte. Er öffnete sein breites Maul und machte es rund. Es wurde ein schwarzes Loch, so groß, daß Peggi ihren Daumen hätte hineinstecken können, und dann lachte er: „Hohohoho“, sagte er und wackelte dabei mit dem Bauche. „Hohohoho, das kann ich doch nicht dem Wärter sagen!“ „Warum denn nicht? Er ist doch verantwortlich dafür, daß du satt wirst.“ „Ja, natürlich“, sagte Teepetepee, „dafür ist er verantwortlich. Und Zempel ist ja auch soweit ganz nett, mein Wärter heißt Zempel, aber ich darf ihm doch nicht verraten, daß ich sprechen kann. Das siehst du ein?“ „Ach“, sagte Peggi verwundert, und sie vergaß ihren Abscheu vor diesem Frosch so sehr, daß sie beide Arme auf dem Kasten aufstützte, das Drahtnetz etwas beiseite schob, und sich über ihn beugte. „Zempel weiß gar nicht, daß du sprechen kannst?“ Der Frosch errötete. Sein immer schon roter Kopf wurde noch viel röter. Peggi sah es ganz deutlich, daß er errötete, und er beantwortete auch Peggis Frage nicht, sondern er zog sein Maul breit, lächelte verschämt und fragte: „Hast du keine Angst mehr vor mir?“ Er fragte es sanft und zart, fast etwas schüchtern. Da fiel es Peggi wieder ein, daß sie sich ja eigentlich vor ihm fürchtete und auch ein bißchen ekelte, und sie zog ihren Kopf etwas zurück. Aber dann war es ihr zu dumm, sich so zimperlich zu benehmen. „Nein“, sagte sie, „jetzt nicht mehr. Aber warum weiß Zempel nicht, daß du reden kannst?“ „Er würde sich schrecklich darüber aufregen“, erklärte Teepetepee. „Vielleicht würde er es sogar nicht überleben, wenn ich ihn anredete. Erwachsene sind da sehr komisch. Ich habe Erfahrung darin. Kinder wundern sich wenig darüber, aber Erwachsene fallen fast in Ohnmacht. In manchen Ländern kann es dir als Frosch passieren, daß du mir nichts, dir nichts erschlagen wirst, wenn du zu reden beginnst. Weil sie denken, du seist vom Teufel besessen. Was hier bei euch geschehen würde, weiß ich nicht. Es ist ja mehr so ein aufgeklärtes Land, scheint mir, aber wahrscheinlich würde ein redender Frosch
doch nicht in euer Weltbild hineinpassen, und schließlich würden die Erwachsenen wohl auch hier nicht gestatten, daß Frösche reden.“ „Also, es weiß kein Erwachsener?“ „Keiner.“ „Und wenn ich es ihnen nun verrate?“ Es sah aus, als ob Teepetepee wieder lachen wollte, aber er überlegte es sich, und er beschloß, auf diese dumme Frage eine ernsthafte Antwort zu geben. „Es würde dir niemand glauben, kleines Mädchen.“ „Ich heiße Peggi“, sagte Peggi und machte einen Knicks. Und da sah sie zum zweiten Mal, daß er errötete. „Warum wirst du rot?“ „Nur so“, sagte er leise. „Aus Spaß.“ Da fiel Peggi etwas ein; es fiel ihr ein Märchen ein, an das sie nie geglaubt hatte. „Sag mal, bist du etwa ein verzauberter Prinz?“ „Nein“, sagte Teepetepee, „wirklich nicht. Es fragten mich auch schon andere Kinder danach. Ich war nie ein Mensch. Aber zu Hause bei mir war ich König, Froschkönig, es ist schon lange her.“ „Wo ist das, dein Zuhause?“ Teepetepee schwieg, dann sagte er, und es klang etwas verdrossen: „Es steht am Kasten dran.“ Peggi trat einen Schritt zurück und las es noch einmal: „Hornfrosch, Brasilien, Männchen.“ „Aus Brasilien?“ Er sagte nicht ja, er sagte nicht nein, er seufzte. „Ach, Brasilien“, seufzte er. Und es war Sehnsucht in seinem Seufzer und Traurigkeit. Brasilien mußte für einen solchen Frosch ein sehr schönes Land sein. Er seufzte so, daß Peggi davon gerührt wurde. „Brasilien ist wohl sehr weit weg?“ fragte sie. Der Frosch nickte. „Sehr weit“, sagte er düster. „Das macht nichts, ich kann gut laufen“, sagte Peggi. „Wenn du willst, bringe ich dich nach Brasilien zurück.“ Da errötete Teepetepee zum dritten Mal. Und dann machte er sein Maul wieder breit und sagte: „Gib mir einen Kuß!“ Peggi trat vor Überraschung einen Schritt vom Kasten zurück. Da lachte der Frosch. „Hohoho“, lachte er, „hohoho, habe ich dich erschreckt? Nein, Peggi, das wollte ich nicht. Außerdem mache ich mir, ehrlich gesagt, nicht
viel aus Menschenküssen. So ein Menschenmund ist für Frösche ein bißchen unappetitlich. Wir sind nämlich sehr saubere Tiere.“ „Soso“, sagte Peggi und trat wieder an den Kasten heran. „Ich hätte dir auch keinen Kuß gegeben, nein, nie, da hab ich viel zuviel Angst vor den Schnecken, die du eben gegessen hast.“ Teepetepee kicherte etwas vor sich hin und schüttelte den Kopf. „Du würdest mich also hier fortbringen, wenn ich dich darum bäte?“ „Natürlich!“ „Hm“, sagte er nachdenklich und wiegte den Kopf hin und her, aber plötzlich schien er etwas zu bemerken. „Achtung, ein Besucher!“ flüsterte er. „Wenn er fort ist, komm wieder.“ Peggi schaute zur Tür, da stand Karl, und Karl machte ein wütendes Gesicht. „Hier also finde ich dich“, sagte er knirschend und mit nur mühsam zurückgehaltenem Grimm. „Ich habe nicht einmal das Fahrgeld, um nach Hause zu fahren, und du läufst einfach fort. Ist das ein Benehmen?“ Er kam näher und schaute auf die Terrarien.
„Was machst du denn in diesem Haus? Noch nicht einmal die Eisbären haben wir gesehen, und du verkriechst dich hier. Schlangen. Molche. Frösche. Was ist das für ein „Zeug?“ Karl kam näher heran, und dann sah er Teepetepee. Seine Augen wurden vor Erstaunen kugelrund. „Donnerwetter“, sagte er anerkennend. „Das ist ein Frosch! Das ist ja ein Prachtkerl!“ Er ging an den Kasten und las das Schildchen. „Hornfrosch aus Brasilien. Donnerwetter! Das stimmt, Hörner hat er auch.“ „Das ist mein Freund Karl“, sagte Peggi zu Teepetepee. Karl sah Peggi verständnislos an. „Er ist sonst ein prima Junge, er macht bloß jetzt solch ein wütendes Gesicht. Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben.“ „Angst habe ich nie“, sagte Teepetepee würdevoll. Karl ließ seine Schulmappe fallen. Er schaute mit entsetzten Augen auf den Frosch und auf Peggi, auf Peggi und auf den Frosch. „Er heißt Teepetepee“, sagte Peggi erklärend. „Guten Morgen“, sagte der Frosch. „Er kann sprechen?“ fragte Karl und ging zwei Schritte vom Kasten zurück, und es schien Peggi, als würde er gleich fortlaufen. „Wieso soll er nicht sprechen können?“ fragte Peggi. „Ist das zum Angst bekommen?“ „Aber das gibt es doch gar nicht“, sagte Karl und stemmte entrüstet die Arme in die Hüften. „Ich fürchte, Karl ist schon etwas zu alt, um es zu begreifen“, sagte Teepetepee. „Ältere Menschen begreifen es viel schwerer als jüngere.“ „Aber so alt ist doch der Karl noch nicht! Er ist knapp drei Jahre älter als ich.“ „Er kann wirklich sprechen?“ fragte Karl immer noch fassungslos. „Siehst du! Er begreift es“, sagte Peggi zum Frosch, und sie war in diesem Moment direkt stolz auf Karl. „Ja, er begreift es gerade noch so“, sagte der Frosch erleichtert. „Das ist sehr schön. Da wird er sicherlich nichts dagegen haben, daß du mich nach Brasilien bringst.“ „Nach Brasilien?“ fragte Karl, und er sah sich um, als suchte er einen Platz, wo er sich hinsetzen könnte. „Nach Brasilien? Peggi! Das ist in Amerika, weit weit über dem Ozean.“
Peggi sah fragend zum Frosch hin, ob Karls Angaben stimmten. Teepetepee nickte. „Ich weiß, Brasilien ist weit. Aber ich denke, du bist gut zu Fuß?“ „Da braucht man ein Schiff“, sagte Karl. Teepetepee kicherte. „Wir haben kein Schiff“, sagte Peggi. „Vor dreißig Jahren“, erklärte der Frosch, „als ich nach Europa kam, bin ich in Antwerpen an Land gegangen. Antwerpen ist ein schöner Hafen, mit vielen tausend Schiffen.“ „Du bist allein nach Europa gekommen?“ „Nein. Mit Kolma Puschi, einem amerikanischen Seemann. Er trug mich ständig in der Hosentasche bei sich. Er hatte mich gern, ich hatte ihn auch gern. Er wickelte mich in ein feuchtes Taschentuch ein, und er hatte einen großen Koffer voller Mehlwürmer bei sich, nur für mich. Von ihm lernte ich sprechen.“ „Soso“, sagte Karl, „Kolma Puschi, ein amerikanischer Seemann. Und wie kommst du hierher?“ „Kolma Puschi hat mich verloren. Er war ein bißchen liederlich, weißt, und eines Tages, als er wieder mal betrunken war, verspielte er mich in einer Amsterdamer Hafenschenke an einen Rechtsanwalt. Er hat noch drei Tage lang geweint, aber der Rechtsanwalt gab mich nicht zurück. Er war ein schlechter Mensch, und er starb auch bald, aber seine Erben brachten mich in den Tierpark. Hier sitze ich nun, und Kolma Puschi hat mich nie wiedergesehen. Sag mal, Karl, in deine Hosentasche — würde ich wohl nicht hineinpassen?“ „In meine Hosentasche?“ fragte Karl, und Peggi sah ihm an der Nasenspitze an, wie unheimlich ihm der Gedanke war, den Frosch in der Tasche zu haben. „Ooch“, sagte sie, „Karls Taschen sind groß. Da paßt du bestimmt hinein.“ „Sie sind voll“, sagte Karl unsicher. „Was hast du denn in den Taschen?“ „Alles mögliche. Nein, nein, in die Hosentasche, das geht nicht.“ „Weißt du, Teepetepee“, sagte Peggi, „wir werden dich in Karls Schultasche packen, da hast du es auch viel bequemer.“ „Ach“, sagte der Frosch enttäuscht, „in einer Hosentasche ist es immer so schön warm.“
„Ja“, sagte Karl, „in der Schulmappe, da können wir dich mitnehmen.“ Peggi nahm den Rahmen von dem Glaskasten herunter, und als Karl das sah, wurde er wieder ängstlich. „Geht denn das eigentlich? Ist der Frosch nicht Volkseigentum?“ „Was soll ich sein?“ fragte Teepetepee verwundert. „Volkseigentum! Du gehörst doch dem Tierpark. Ist es nicht Diebstahl, wenn wir, wenn wir...“ „Ich?“ sagte Teepetepee entrüstet und schlug sich mit der Patschhand an die Brust. „Ich soll Volkseigentum sein? Was bist du denn? Bist du auch volkseigen? Und was ist Peggi? Ist es auch Diebstahl, wenn du mit ihr spazierengehst?“ „Reg dich nicht auf“, sagte Peggi. „Er meint es nicht so. Er ist nur immer ein bißchen ängstlich, weißt du. Komm“, sagte sie, „komm“, und sie langte in den Kasten und hob den Frosch heraus. „Mach deine Tasche auf“, sagte sie zu Karl. Karl hob die Schulmappe auf und fingerte am Schloß herum, er war immer noch gar nicht damit einverstanden. Wenn der Frosch nun naß war, verdarben die guten Bücher. Wenn er nun Fettflecke in die Hefte machte? Vielleicht begann er auch das Papier aufzufressen? Und wenn er nun mußte? Wie machte denn ein Frosch? Aber Peggi achtete nicht auf seine Sorgen. „Du bist hübsch“, sagte sie zu Teepetepee, „du bist wirklich der größte und schönste Frosch, der mir je begegnet ist. Und du bist schwer. Du wiegst doch bestimmt zwei oder drei Pfund.“ „Nur sechshundert Gramm. Ich bin hohl, damit ich besser singen und schwimmen kann“, sagte Teepetepee, und er kuschelte sich in Peggis kleine Hände. „Ohne mich rühmen zu wollen, es gibt keinen anderen Frosch, der so bunt ist wie ich.“ „Und du hast ein schönes Horn auf der Stirn. Kannst du damit stoßen?“ Teepetepee lachte. „Hohoho“, lachte er, und es war, als zierte er sich ein bißchen. Da klirrte eine Tür, und da polterte ein Eimer, und als sie sich umsahen, stand ein Mann im Raum. Er hatte eine blaue Schürze um und einen Schrubber in der Hand, und seinen Eimer hatte er vor Schreck und Überraschung fallen lassen, als er die Kinder mit dem Frosch vor dem Terrarium stehen sah. Aber plötzlich brüllte er los. „Hallo!“ brüllte er. „Diebe! Diebe! Stehenbleiben! Diebe!“ Und er stürzte durch den Raum auf Karl und Peggi zu.
„Lauft!“ schrie Teepetepee. „Lauft hinaus, schnell, lauft hinaus! Er hat ein lahmes Bein, er kann nicht so schnell, lauft!“ Da rannte Karl los. Er schwenkte seine Schultasche und raste ins Freie hinaus, und Peggi lief, so schnell sie konnte, hinterher. „Haltet sie fest!“ schrie der Wärter. „Haltet sie! Die Diebe! Haltet sie!“ Karl und Peggi liefen an dem kleinen grauen Esel und an den wilden Pferden vorbei, und Peggi drückte Teepetepee fest an ihre Brust. Sie liefen, so schnell sie konnten, und sie hörten hinter sich das Schreien des Wärters Zempel und die Rufe von Besuchern, die sich an der Verfolgungsjagd beteiligten. Da war der Teich, in dem die Schwäne schwammen, und vor dem Teich war ein Gebüsch, und in dieses Gebüsch lief Karl und hockte sich dicht am Ufer hin. Peggi lief hinterher und kauerte sich zu ihm. Sie verschnauften von der Anstrengung. „Ich habe ihn, hier ist er“, sagte Peggi und hielt Karl den Frosch vor die Nase. Da hörten sie Stimmen. „In diesem Gebüsch müssen sie sich versteckt haben“, sagte ein Mann.
„Sie können nirgends anders hingelaufen sein“, sagte eine Frauenstimme. „Mutti, was sind denn das für Diebe?“ fragte ein Kind. Karl nahm Teepetepee in die Hände. Es war dumm gewesen, sich hier zu verstecken. Das Gebüsch war so klein, daß sie sicher gefunden wurden. „Wir kommen nicht mehr weg“, flüsterte Karl. Und da hörten sie auch schon die rauhe Stimme des Wärters Zempel. „Da sind sie! Da leuchtet ja das rote Kleid des Mädchens! Kommt raus! Kommt sofort raus!“ „Sie haben uns entdeckt“, flüsterte Peggi ängstlich. „Meine Güte, was machen wir nur?“
Der Wärter stapfte über den Rasen auf sie zu. Sie sahen ihn noch nicht, aber sie hörten, daß er schon ganz nahe war. Da sagte der Frosch: „Drehe an meinem Horn! Drehe! Ich kann selbst nicht heranreichen, meine Arme sind zu kurz. Drehe an meinem Horn.“ Und er hob beide Arme, um deutlich zu machen, daß er es nicht selbst tun konnte. Karl faßte gehorsam hin, obwohl er nicht verstand, was es bedeuten sollte, und nahm das Horn des Frosches zwischen Daumen und Zeigefinger. „Drehe! Nur zu! Drehe!“ sagte Teepetepee noch einmal. „Und du, Peggi, faß den Karl an! Faß Karl an, wenn er dreht, sonst bleibst du hier.“ Da drehte Karl an dem Froschhorn. Es knackte so, als wenn ein Stück Holz an die Speichen eines fahrenden Rades gerät. Tack, tack, tack, tack, tack machte es. Und da war der Wärter Zempel verschwunden, und die Sonne schien nicht mehr, und die Büsche, unter denen sie saßen, schienen viel größer geworden zu sein. Es regnete, es goß in Strömen, und der Rasen und die Blätter und der Sand waren quietschnaß. Auf dem Teiche machten die dicken Regentropfen Blasen. „Wir sind gerettet“, sagte Teepetepee. „Schade, daß es regnet.“
4. Die Zeit ist schwierig zu verstehen, und am Ende wird's gefährlich
Karl war nicht dummer als Peggi. Es wäre falsch, wenn bei einem der Leser dieser Eindruck entstehen würde. Er war nur drei Jahre älter und erfahrener, und es kostete ihn deshalb mehr Mühe, das Geheimnis dieses Hornfrosches, der sich Teepetepee nannte, zu verstehen. Karl hatte am Horn von Teepetepee gedreht, und der Wärter Zempel war verschwunden, es regnete, und auch die Menschen, die vor dem Gebüsch gestanden und sich unterhalten hatten, waren nicht mehr da. Die Schwäne auf dem Teich waren verschwunden, aber dafür segelte dort eine Flotte von rosa Enten. Sie schwammen auf dem Wasser hin und her und pickten in die großen Regenblasen. Karl war auch nicht feiger als Peggi, und er war auch nicht weniger unternehmungslustig, aber das, was hier geschehen war, erschreckte und verwirrte ihn mehr, als es mit Peggi geschah. Er drehte an dem Horn des Frosches, und die Welt veränderte sich. Wie war das möglich? Teepetepee erklärte es. Jede Umdrehung seines Hornes bedeutete, daß ein Jahr verging. Drehte man links herum, fuhr man in die Zukunft, fuhr oder reiste oder geriet, weiß der Kuckuck, wie man es nennen sollte, man wanderte dann also in die Zukunft, drehte man aber nach rechts, so gelangte man in die Vergangenheit. Knack, sagte das Horn, und man befand sich nicht mehr in diesem Jahr, sondern im kommenden oder vergangenen. Aber man hatte sich selbst nicht verändert. Man saß, wo man saß, und blieb stehen, wo man stand, nur die Welt um einen herum war ein Jahr jünger oder älter geworden. Karl hatte sechs- oder siebenmal das Horn herumgedreht, nach links, wie er sich genau erinnern konnte, und jetzt saßen sie am Teich im Regen, und es war immer noch der 11. September, aber es war nicht mehr das Jahr 1956, sondern 1962 oder 1963.
Peggi war immer noch ein kleines Mädchen von zehn Jahren, und auch Karl konnte keine Veränderung an sich feststellen. Er hockte immer noch da und hielt Teepetepee in beiden Händen. Aber die einzelnen Sträucher waren höher als vorher, man konnte jetzt unter ihnen hindurchgehen, ohne sich zu bücken, und das Gebüsch war viel größer und dichter geworden. Es reichte jetzt bis an den Weg heran, auf dem sie entlanggelaufen waren. „Mir macht der Regen nichts aus“, sagte der Frosch, „aber Peggi wird sich erkälten, wenn wir noch ein Weilchen hier sitzen bleiben. Dreh doch noch einmal an meinem Horn, vielleicht regnet es im nächsten Jahr nicht mehr.“ Karl nahm das Horn zwischen die Finger und drehte so vorsichtig, wie es ihm möglich war. Er mußte einen kleinen Widerstand überwinden, dann machte es knack, und die Sonne schien. Es war so warmes und so schönes Wetter, wie vor sieben oder acht Jahren. Er hatte, während er drehte, die rosigen Enten angeschaut. Als es knackte, verschwanden sie.
Bums, waren sie weg, aber dicht am Ufer schwamm jetzt ein Pelikanpärchen. Die beiden großen grauen Vögel schauten hoch und wendeten ihren Kopf zu Karl, Peggi und dem Frosch. Sie schienen verwundert zu sein, daß die beiden Kinder dort plötzlich saßen. Aber dann ruderten sie etwas weiter vom Ufer fort, steckten ihren langen Hals in das Wasser und gründelten. Es waren viele Menschen im Tierpark. Auf dem Weg entlang hörte man Stimmen und Schritte, Gelächter und Geschrei. „Es scheint heute Sonntag zu sein“, sagte Teepetepee zufrieden, und Karl und Peggi legten sich in das trockene und warme Gras. Sie fühlten sich in diesem Gebüsch sicher. Es konnte sie niemand sehen. Karl dachte über das merkwürdige Horn des Frosches nach, aber er konnte es sich nicht erklären. Wo sollte er mit dem Nachdenken beginnen? Wo sollte er damit aufhören? Vermutlich waren jetzt seine Eltern und Geschwister acht Jahre älter geworden, und wenn er nach Hause ging, war er allein der kleine Steppke geblieben, der vor acht Jahren auf geheimnisvolle Weise verlorenging. Kämen Peggi und er dann in die alte Klasse zurück? Ach, die bestand ja gar nicht mehr. Ob die Lehrer noch lebten? Ob die Welt sich weiterentwickelt hatte? Heute mittag sollte es zu Hause Linsen geben, ob davon noch etwas übrig war, wenn er acht Jahre zu spät zum Essen kam? „Tut es dir weh, wenn man an deinem Horn dreht?“ fragte Peggi. Teepetepee schüttelte den Kopf. «Es ist sogar angenehm, es kitzelt ein bißchen.“ „Darf ich auch mal drehen?“ fragte Peggi. „Aber bitte sehr“, sagte der Frosch und hielt ihr seinen Kopf hin. Peggi drehte einmal. Tack, machte es, und sie saßen wieder im Regen. „Ach herrje, ich habe zurückgedreht“, sagte Peggi und drehte schnell noch mal: Tack, tack, tack, tack, tack... Da stand der Wärter Zempel vor ihnen, direkt vor ihnen. Peggi hätte ihn, ohne sich vorzubeugen, an seiner blauen Schürze ziehen können. Zempel riß die Augen sperrangelweit auf, starrte auf die Kinder und den Frosch, und dann brüllte er. „Hier sind sie!“ brüllte er. „Hab ich euch! Hahaha, hier sind sie!“ Und er hob seinen Schrubber hoch, den er immer noch in der Hand hielt, und fuchtelte damit über den Köpfen der drei Helden hin und her. „Dreh weiter“, schrie Karl, „Peggi, dreh weiter!“
Und Peggi drehte ... tack, tack, tack, tack, tack, wievielmal wußte sie nicht. Sie hatte sich über Zempel so sehr erschrocken, daß sie ganz schnell und ohne mitzuzählen am Horn des Frosches drehte. Als sie anhielt, war die Umgebung, in der sie saßen, seltsam verändert. Die Büsche waren fort, und wo vorher Rasen wuchs, war jetzt ein Kartoffelfeld. Das Kraut der Kartoffeln fing schon an zu welken, und auf einem Teil des Feldes waren die Kartoffeln bereits abgeerntet. Auf dem Teich schwammen keine Tiere mehr, und vor ihnen, am Ufer, lag rostiges Eisen und Gerümpel, zerbrochene Ofenrohre und eine alte Metallbettstelle. „Joi“, sagte der Frosch, „Peggichen, wo hast du uns da hingedreht. Es ist ja ein trostloses Jahr, bei dem du haltgemacht hast.“ „Ich verstehe nicht, wie du drehst“, sagte Karl. „Du drehst verkehrt herum, immer in die Vergangenheit zurück. Du mußt linksherum drehen, in die Zukunft!“ „Ist denn die Vergangenheit schlechter?“ fragte Peggi. „Keine Spur“, sagte der Frosch, „die Vergangenheit ist herrlich. Im übrigen ist das alles Jacke wie Hose, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, das ist alles nur eine Einteilung der Menschen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.“ „Haha“, lachte Karl. „Da redest du aber einen schönen Unsinn.“ Teepetepee ärgerte sich über das Lachen. „Wieso Unsinn?“ fragte er gekränkt. ,Na, was gestern war, ist Vergangenheit“, erklärte Karl, „was heute ist, ist Gegenwart, und was morgen ist, ist Zukunft. Wieso soll es das nicht geben? Wieso ist das alles nur eine Einteilung der Menschen?“ „Und was ist der morgige Tag morgen? He?“ Es war eine ulkige Frage. Man brauchte doch nicht lange nachzudenken, um sie zu beantworten. „Morgen ist der morgige Tag Gegenwart.“ „Aha“, sagte der Frosch, „der morgige Tag ist Gegenwart.“ „Nein, der morgige Tag ist erst morgen Gegenwart, heute ist er Zukunft.“ Da stellte sich Teepetepee dumm. „Aha“, sagte er befriedigt. „Der morgige Tag ist heute Zukunft, morgen Gegenwart, übermorgen Vergangenheit, nicht wahr?“ „Ja“, sagte Karl eifrig, „so ist es.“ „Es ist doch aber immer derselbe Tag, also muß doch Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart auch dasselbe sein?“
„Das sehe ich ein“, sagte Peggi, „widersprich ihm nicht immer! Das ist alles eine Wurscht, der Anfang, die Mitte, das Ende.“ „Bloß der Anfang schmeckt besser“, sagte Teepetepee. „Doch wenn du die Wurst umdrehst, ist das Ende der Anfang und schmeckt auch besser.“ „Das letzte Stuck schmeckt am besten“, sagte Karl. „Aber das mit der Zeit, das werde ich nie verstehen. Und das mit deinem Horn, das ist einfach ein Wunder, nicht mehr und nicht weniger als ein Wunder. Und wenn das für uns ein gutes Ende nimmt, dann will ich froh sein.“ „Wieso soll es denn schlecht ausgehen?“ fragte Peggi. „Weil wir doch nicht mehr in unsere Zeit zurückkommen. Da steht doch dieser schreckliche Schreifritze Zempel mit seinem Schrubber und läßt uns nicht wieder hinein.“ „Der steht vielleicht auch nicht ewig da“, sagte Peggi. „Da müssen wir eben ein bißchen warten, ehe wir wieder nach Hause gehen.“ Sie legte sich auf den Rücken und schaute in den Himmel. Da waren weiße Wolken, sie segelten langsam durch die blaue Luft, und dann kam ein kleiner Flieger, der hatte es sehr eilig, irgendwohin zu kommen. Karl und Teepetepee unterhielten sich wieder über die Zeit, und der Frosch versuchte Karl zu erklären, daß es Zeit wirklich nicht gebe. „In Brasilien, am Amazonas, gibt es so etwas ganz bestimmt nicht“, sagte er. „Ist vielleicht der Ablauf eines Jahres die Zeit? Es kommt doch alles genauso wieder, wie es gewesen ist. Dieselben Blumen und dieselben Blätter, die gleichen Früchte und die gleichen Fliegen und. Spinnen und Schnecken.“ „Aber du wirst älter“, sagte Karl. „Du bist, wenn es alles wiedergekommen ist, dabei ein Jahr älter geworden und klüger und erfahrener und größer.“ „Ich werde nicht älter“, sagte Teepetepee, „und größer als sechzehn Zentimeter werde ich auch nicht mehr. Ich habe am Amazonas eintausendzweihundert erwachsene Söhne. Kaatakataa, mein Lieblings-
sohn, ist mir so ähnlich, daß uns niemand auseinanderhalten kann, selbst seine Mutter nicht. Wenn wir uns gegenübersitzen, wissen wir manchmal nicht, wer nun der Vater und wer der Sohn ist.“ „Ach“, fragte Karl gespannt, „und was macht ihr dann?“ „Wir lassen es auf sich beruhen“, sagte Teepetepee träge, „einer von uns beiden wird schon der Vater sein.“ Karl war enttäuscht. „Aber wenn ihr es nun mal wissen mußt?“ „Warum müssen wir das wissen?“ „Na, zum Beispiel, wenn deine Frau ruft: Mann, komm mal her! Wer geht dann hin? Dann müßt ihr es doch wissen.“ „Ja“, sagte Teepetepee und kratzte sich hinter den Ohren, „dann denken wir scharf nach, wie das sich wohl verhält und wer nun wer ist. Irgend etwas fällt mir da immer ein, woran ich es erkennen kann. Angenommen, ich habe gestern eine große blaue Libelle gefangen, dann frage ich meinen Sohn: Hast du gestern am Wasser unten die blaue Libelle gegessen? Er denkt darüber nach, dann schüttelt er den Kopf. Er war gestern den ganzen Tag lang nicht am Wasser. Aha, sage ich, dann bin ich der Vater und du der Sohn, denn ich habe gestern eine Libelle gefangen. Und schon ist es geklärt.“ „Merkwürdig“, sagte Karl. „Es ist nicht einfach zu begreifen“, gab der Frosch zu. „Es ist nicht einfach, wenn man noch nie darüber nachgedacht hat. Die Menschen glauben, daß die Zeit sich ändert. Aber die Zeit bleibt sich immer gleich, nur die Menschen ändern sich. Warst du schon einmal in einem Kino?“ „Natürlich“, sagte Karl. „Ich bin früher mit dem Seemann Kolma Puschi oft ins Kino gegangen“, sagte Teepetepee. „Mit der Zeit ist es ähnlich wie dort mit dem Film. Man kann in ihr hin und her spazieren, und man sieht die Menschen sich bewegen. Man kann sich den Anfang vorführen lassen und die Mitte und das Ende, und es ist überall interessant. Manchem schmeckt der Anfang besser, manchem die Mitte, manchem das Ende, aber wenn man den Film anhält, dann ist Gegenwart, die berühmte und nie sehr schöne Gegenwart, sie schmeckt nie am besten, und dann steht man drin in dieser Gegenwart und muß mitspielen. Verstehst du, wie das ist?“ Karl verstand es nicht, und auch Peggi wußte nichts dazu zu sagen. Sie hatte auch nur mit halbem Ohr zugehört, denn am Himmel oben geschah etwas.
„Da kommen aber viel Flugzeuge“, sagte Peggi. Der Frosch und Karl schauten hoch. Weit oben im Blauen flogen sie, und sie summten wie ein dicker Hornissenschwarm. Sie glitzerten in der Sonne wie blankes Silber, und sie flogen so dicht nebeneinander, daß es aussah, als bedeckte ein glänzender Schild den ganzen Himmel. „Sie lassen etwas fallen“, sagte Peggi. Ja, da fiel etwas. Aus den langen schlanken Leibern der Silbervögel purzelten kleine schwarze Kügelchen heraus. Sie schaukelten und schwankten hin und her, und dann kamen sie senkrecht herunter, genau auf Peggi und Karl und den Frosch zu. Viele, viele kleine Kügelchen, und es wurden immer mehr, aus allen Flugzeugen kamen sie herausgepurzelt. „Das sind Bomben“, schrie der Frosch, „Bomben, es ist Krieg! Wir sind im Kriege! Sie fallen auf uns! Karl! Dreh! Karl! Wir müssen fliehen! Wir sterben sonst!“ Karl schaute immer noch hoch, und vielleicht hätte er es dem Teepetepee nicht geglaubt, daß diese kleinen niedlichen Kugelchen dort oben den Tod bedeuteten, wenn sie nicht plötzlich zu singen begonnen hätten. Zuerst hörte es sich an, als wenn dich im dunklen Schlafzimmer eine Mücke sucht, ganz leise und zart dringt die Musik ihres schnellen Flügelschlages an dein Ohr. Aber dann wurde es stärker, dann vereinigten sich alle die vielen Bomben zu einer einzigen Stimme, die in den Ohren gellte. Und es war klar, daß sie nichts Niedliches und Harmloses, sondern Fürchterliches bedeuteten. Karl drehte am Horn. Tack, tack, tack, tack, tack, tack, tack, es knackte vielleicht hundertmal. Und obwohl schon beim ersten Tack alles wie weggewischt war, drehte er immer weiter, erfüllt von der Angst vor dem gellenden Pfeifen der schwarzen Bomben.
5. Im Jahre 1856 — Ein Gärtner, eine Prinzessin und ein Wachsoldat
Es war ein wunderschöner Herbsttag, an dem Karl anhielt. Es war warm, die Sonne leuchtete, und weiße Fäden trieben langsam durch die Luft. Sie saßen auf einem gepflegten Rasen, und drüben, auf der anderen Seite des Teiches, schwammen zwei Schwäne. Karl hatte das Horn des Frosches rechtsherum gedreht, und sie mußten sich nach seiner Schätzung etwa in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts befinden. Er schaute sich eine Weile um, dann öffnete er seine Schulmappe und holte sein Geschichtsbuch hervor. „Ich werde mal nachsehen“, sagte er, „was über 1856 darin steht.“ „Was willst du nachsehen?“ fragte Teepetepee. „Was in der Zeit, in der wir jetzt sind, alles geschieht.“ „Das steht da in deinem Buch?“ „Ja, es ist ein Geschichtsbuch.“ „Ein Geschichtsbuch? Das ist ja großartig! Da steht alles drin, was geschieht?“ „Jaja“, sagte Karl, „nun laß mich mal in Ruhe, ich werde es suchen.“ „So etwas hatte Kolma Puschi nicht“, sagte Teepetepee. „Es ist wohl sehr teuer, solch ein Buch?“ „I wo“, sagte Peggi, „es kostet gar nichts. Das bekommt jeder Schüler umsonst. Und es ist gar nicht schön. Man muß alles lernen, was darin steht.“ „Aber dann weiß man alles, was geschieht! Das muß doch sehr interessant sein?“ „Ich habe es eigentlich immer nur als lästig empfunden“, sagte Peggi, aber sie war plötzlich nicht mehr so fest davon überzeugt, daß ein Geschichtsbuch langweilig sei. „1856 ist gar nichts passiert“, sagte Karl. „Das letzte Ereignis war 1852, da machte sich Louis Bonaparte zum Kaiser Napoleon dem Dritten. Und das nächste Ereignis auf dieser Zahlentafel ist erst wieder 1861, da wurde die Leibeigenschaft in Rußland aufgehoben.“
„Von 1852 bis 1861 ist gar nichts los?“ fragte Peggi verwundert. „Nee“, sagte Karl. „Schade“, sagte Peggi, „dann reisen wir lieber irgendwo anders hin.“ „Es muß doch aber Krieg sein“, sagte der Frosch. „Nein! Das stände hier drin!“ „Irgendwo auf der Welt ist immer Krieg“, sagte Teepetepee beharrlich. „Wenn das in diesem Buch nicht steht, dann ist es falsch.“ „Am besten, wir gehen los und sehen uns mal an, wie die Welt heute aussieht“, sagte Peggi. „Ich habe lange genug an diesem dummen Teich gesessen.“ Und sie erhob sich, strich ihr Kleid glatt und war bereit. Aber Karl blätterte immer noch in seinem Geschichtsbuch. „Friedrich Wilhelm der Vierte heißt der König, der hier in Berlin regiert“, sagte er. „Und seit der Revolution von 1848 scheint wirklich nicht viel Neues geschehen zu sein. Bismarck ist Gesandter in Frankfurt, und sie wollen eine Eisenbahn bis Königsberg bauen. Vielleicht ist sie sogar schon fertig. In der Zeit von 1850 bis 1870 begann in Deutschland die Entwicklung der Großindustrie, des Bankwesens und die Beteiligung am Welthandel.“ „Die Entwicklung des Bankwesens?“ fragte Teepetepee. „Was ist denn das?“ „Sie werden in alle Parks Bänke stellen“, vermutete Peggi, und sie schaute sich in dem Park um, aber es war keine Bank zu sehen. „Es begann eben erst die Entwicklung“, sagte sie. „Paßt mal auf, was hier steht“, sagte Karl und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle seines Buches. „Die Kapitalisten beuteten sogar die Kinder aus. Sie beschäftigten Kinder im Alter von neun Jahren in den Fabriken, insbesondere in der Textilindustrie und im Bergbau, bis zu sechzehn Stunden am Tage. Selbst Nachtarbeit war keine Seltenheit.“ „Wie alt bist du denn, Peggi?“ fragte Teepetepee. „Zehn Jahre.“ „Gerade im richtigen Alter.“ Peggi, die darauf brannte, sich die Welt anzusehen, wurde unsicher. „Solch dummes Buch!“ sagte sie. „Jetzt weiß ich auch, warum mir das immer so unangenehm war. Das ist doch alles Unsinn! Man kann doch keine neunjährigen Kinder ins Bergwerk stecken.“ „Es steht aber hier drin.“
„Vielleicht suchen wir doch eine andere Zeit“, schlug der Frosch vor. „Ach was. Los!“ sagte Karl, klappte sein Buch zu, steckte es in die Mappe und erhob sich. „Wir sehen uns erst um, und daß kein Krieg ist und sonst wenig passiert zu sein scheint, ist gerade richtig. Wir besuchen den König in Berlin ,und fragen ihn, wie es mit der Kinderarbeit steht und ob mein Buch gelogen hat.“ „Wir besuchen den König“, sagte Peggi, und sie war mit einem Schlage hell begeistert. „Naturlich! Wir besuchen den König!“ „Wenn Kolma Puschi in ein Land kam, in dem es Könige gab, hat er sie auch immer besucht“, sagte Teepetepee. „Das macht jeder amerikanische Demokrat so. Aber wo bleibe ich? Wie tragt ihr mich? Soll ich nebenherspringen? Vielleicht gibt es hier große Hunde? Köter kann ich für den Tod nicht ausstehen.“ „Ich werde dich doch in die Hosentasche nehmen“, schlug Karl vor. „Bravo!“ rief Peggi. „Das ist das beste.“ Und Karl machte seine linke Tasche leer. Das Taschenmesser konnte er in die rechte Tasche tun, die Streichhölzer und die Strippe auch. Drei Bucker tat er in die Schultasche, eine Sammlung alter Fahrscheine warf er fort. „Hast du ein Taschentuch?“ fragte Teepetepee. Karl zog es hervor. Es war mal weiß, aber das mußte schon einige Zeit her gewesen sein. Teepetepee musterte es kritisch und zog ein ganz klein wenig die Nase kraus. „Ich hätte sehr gern, wenn du es anfeuchtest und mich darin einwickelst, ehe du mich in die Hosentasche steckst“, sagte er, „aber laß es vielleicht lieber.“ „In solch dreckiges Taschentuch?“ fragte Peggi. „Vielleicht wäschst du es im Teich etwas aus?“ Karl betrachtete sein Tuch und fand es gar nicht so schmutzig. Aber wenn die beiden nun mal so eigen waren. Er ging zum Wasser und wusch es aus. Viel von dem Schmutz bekam er nicht heraus, aber die graue Farbe verteilte sich etwas gleichmäßiger. „Es ist nicht vom Benutzen schmutzig“, erklärte Karl. „Ich brauche es nie für die Nase. Ich glaube, ich habe gestern meinen Fahrradrahmen damit abgewischt.“ „Ist ja gut“, sagte der Frosch, „streng dich nicht so an. Es ist schon sehr schön sauber.“
Karl wrang es aus und legte es ausgebreitet auf den Rasen. „Hops rauf, wenn's dir nicht zu naß ist.“ Teepetepee machte einen kleinen Satz und saß auf dem Tuch. Karl legte sorgfältig die vier Ecken über ihm zusammen und schob ihn, mit dem Hinterteil zuerst, in die Hosentasche. Die Nässe machte die Tasche feucht und war unangenehm kühl, aber das half ja nun wohl nichts. Teepetepee war so groß, daß er mit einem Auge aus der Tasche heraussehen konnte und sie völlig ausfüllte. „Schön“, sagte der Frosch, und er krabbelte noch ein bißchen mit den Füßen, dann war er still. Karl nahm seine Schulmappe, und dann gingen Peggi und er den Weg hinunter, der am Teich entlangführte. Durch eine Lichtung der Bäume hindurch sahen sie das Schloß liegen. Es war dasselbe Schloß, in dem die Verwaltung des Tierparks untergebracht war, es bestand also schon seit mindestens hundert Jahren. „Hin zum Schloß“, sagte Peggi, „da wohnen bestimmt Leute drin. So ein schöner Park, solch schönes Wetter, und kein Mensch geht spazieren. Gibt es denn heute noch keine Mütter mit Kinderwagen, keine Kinder oder alte Rentner?“ „Die werden alle zu tun haben.“ „Im Bergbau?“ „Hier bei Berlin doch nicht.“ „Vielleicht darf hier niemand Spazierengehen?“ „Warum sollte das verboten sein?“ fragte Karl. „Vielleicht gehörten Schloß und Park dem König?“ „Aber solch ein Park wird doch gebaut, damit Menschen darin Spazierengehen!“ Das war einleuchtend. Nun, wenn kein anderer darin herumspazierte, dann taten es eben Peggi und Karl. Da kam ein Mann den Weg entlanggelaufen. Er hatte eine Mütze auf und eine blaue Schürze um, in der Hand hielt er eine Harke. Er sah ein bißchen aus wie der Wärter Zempel, aber er konnte es doch wohl nicht sein. Schon von weitem winkte er mit seiner Harke und rief: „Halt! Halt!“ Und er rannte so schnell, daß er außer Atem bei Peggi und Karl ankam. „Was macht ihr hier?“ fragte er. „Wer hat euch erlaubt, hier spazierenzugehen?“ „Nanu“, sagte Peggi befremdet, „wir haben Eintritt bezahlt.“
Der Mann war so verwundert über Peggis Antwort und über das Aussehen der beiden Kinder, daß er seinen Mund nicht mehr zu bekam. Er stützte sich etwas auf den Harkenstiel und starrte entgeistert. Aber dann schien ihm eine Erleuchtung zu kommen. „Seid ihr Engländer? Sind die Herrschaften vielleicht Engländer?“ fragte er, und er schien etwas ängstlich geworden zu sein und schon viel höflicher. „Yes“, sagte der Frosch in Karls Hosentasche laut und deutlich. Da machte der Mann einen tiefen Diener, und als er seinen Kopf ganz unten auf der Erde hatte, drehte er ihn etwas herum und lächelte den beiden Kindern zu. „Entschuldigung, vielmals Entschuldigung“, sagte er und ging den Weg, den er gekommen war, rückwärts zurück. Und bei jedem Schritt vollführte er einen tiefen Bückling. Aber als er zehn Meter weit so gegangen war, sagte er: „Exkuse mi, hahaha“, und dann drehte er sich um und rannte fort. Die Harke hielt er unter den Arm geklemmt.
„Dem haben wir mächtig imponiert“, sagte Karl nachdenklich. „Er hielt uns für Engländer. Ein merkwürdiger Mensch. Aber was heißt Exkuse mi, hahaha?“ „Das ist Englisch und heißt: Entschuldigen Sie mich, hahaha“, sagte Teepetepee. „Daß er nicht gehört hat, daß das Yes aus meiner Hosentasche kam, ist auch komisch.“ Aber Peggi hatte keine Lust, lange darüber nachzudenken. „Vielleicht ist das bei Engländern so“, sagte sie. „Jetzt gehen wir zum Schloß.“ Da passierte schon das nächste Abenteuer. Aus einem Seitenweg kam eine Frau heraus. Sie war nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, und dicht hinter ihr gingen zwei junge Mädchen, die einen bunten, aus Stroh geflochtenen Korb trugen. Die Frau hatte einen breiten, bis auf die Erde reichenden Rock an, einen weiten Faltenrock aus Seide. Sie trug eine Bluse mit Puffärmeln und um die Schultern einen Schal mit vielen weißen Fransen. Ihre Haare waren zu einem Berg aufgetürmt, und ganz oben auf dem Berg saß ein mit Blumen verziertes Hütchen. In der Hand hielt sie eine Brille, die an einem langen Stiel befestigt war, und diese Brille führte sie vor die Augen, als sie die Kinder bemerkte. Sie starrte Karl und Peggi durch ihr Brillengestell an, und dann machte sie den Mund sehr spitz und sagte flötend: „Käßke ßä?“ Sie setzte die Brille ab, um die Kinder besser sehen zu können, und fragte noch einmal: „Käßke ßä?“ Sicherlich war es eine Frage, die sie da stellte, und sie schüttelte den Kopf vor Verwunderung. Dann drehte sie sich zu den Mädchen um, die hinter ihr stehengeblieben waren, zeigte mit ihrer Brille auf Karl und Peggi und fragte: „Was ist das?“ Sie fragte es streng und empört. Die beiden Mädchen machten ein bedauerndes Gesicht und hoben ratlos die Schultern. Sie wußten auch nicht, was Karl und Peggi waren. Da hielt es Karl für notwendig, eine Erklärung abzugeben. „Ich heiße Karl Wunderlich“, sagte er. „Dies hier ist meine Freundin Peggi. Wir möchten gern, wenn es möglich ist, das Schloß besichtigen, und dann wollen wir nach Berlin und den König kennenlernen. Wenn es keine Umstände macht.“ Die beiden jungen Mädchen hielten sich die Hände vor das Gesicht und kicherten in sich hinein, die Frau nahm wieder ihre Brille vor die
Augen und schaute Karl und Peggi aufmerksam an. Und erst jetzt schien sie zu bemerken, wie Peggi angezogen war. „Was für Schuhe?“ sagte sie. „Die nackten Beine! Abscheulich, warum die nackten Beine?“ Sie schaute Karl an und zeigte mit ihrer Brille auf Peggis Beine. Peggi schaute auch auf ihre Beine, ob da vielleicht etwas Abscheuliches daran sei, und um sie besser sehen zu können, hob sie ihr kurzes Kleidchen noch ein bißchen höher. „Pfoi!“ sagte die Frau. „Abominabel! Pfoi! Warum die nackten Beine. Du dich nicht schämen? Pfoi.“ „Was mag sie bloß meinen?“ fragte Peggi. „Hab ich etwas an den Beinen?“ „Vielleicht sind es Zigeuner, Eure Hoheit“, sagte eines der beiden Mädchen. Und dann befahl es: „Sagt sofort der gnädigen Prinzessin, daß ihr Zigeuner seid!“ Peggi pfiff vor Überraschung durch die Zähne. „Ist das eine echte Prinzessin?“ fragte sie. Die Mädchen sahen sie verständnislos an. „Eine echte Prinzessin“, sagte Peggi und stieß Karl mit dem Ellbogen in die Seite. „Natürlich! Ist ja auch ein echtes Schloß! Ich hab mir eine echte Prinzessin immer anders vorgestellt, viel hübscher!“ „Sei nicht unhöflich“, ermahnte sie Karl leise, da merkte er, daß Teepetepee in seiner Tasche unruhig wurde. Karl hielt die Hand über die Hosentasche, denn er befürchtete, daß die Bewegungen des Frosches zu sehen seien. „Laß mich mal sehen“, flüsterte Teepetepee, „laß mich mal die Prinzessin sehen!“ Und Karl fühlte, wie er mit dem dicken Kopf gegen die Hand stieß. Da nahm Karl seine Hand von der Tasche fort, und es schien ihm unbedenklich, denn die Prinzessin hatte an Peggi noch etwas anderes als die nackten Beine entdeckt. Sie kam dicht an Peggi heran und befühlte mit zwei spitzen Fingern Peggis Kleiderstoff. „Was üs düs?“ fragte sie geziert. „Was düs für Stoff?“ „Perlon“, sagte Peggi. „Das ist ein echtes Perlonkleid, gefällt es dir?“ „Ich habe Königliche Hoheit gleich gesagt, daß es Zigeuner sind“, rief eines der Mädchen. Da war es Peggi zuviel. Sie hatte nichts gegen Zigeuner, sie hatte auch noch nie lebendige Zigeuner gesehen, aber sie hatte ein Buch
zu Hause, darin war ein kleines Zigeunermädchen abgebildet, und das sah ganz anders aus als Peggi. „Ich bin keine Zigeunerin“, sagte sie, „Karl ist auch kein Zigeuner. Wir sind aus Blumenthal, damit ihr's genau wißt.“ „Jawohl“, sagte Karl, „aus Blumenthal, Bezirk Frankfurt/Oder, und da gibt es überhaupt keine Zigeuner.“ „Perlon“, sagte die Prinzessin, „merkwürdiger Stoff“, und sie schien alles andere, was die Kinder da erklärten, nicht richtig zu hören. Sie drehte sich um und ging einen Schritt zurück, da fiel ihr Blick auf Karls Hosentasche. Aus der Hosentasche aber schaute ein dicker, roter, wilder Kopf heraus. „Oh!“ schrie die Prinzessin und deutete mit ihrer Brille auf Teepetepees Kopf. „Käßke ßä? Ohl“ Und dann fiel sie in Ohnmacht. So lang, wie sie war, ließ sie sich steif nach hinten fallen. Und die beiden jungen Mädchen setzten ganz schnell ihren Strohkorb auf die Erde und fingen sie auf. Es sah aus, als hätten sie viel Übung darin, ohnmächtige Prinzessinnen aufzufangen. „Käßke ßä ist Französisch“, sagte Teepetepee, „und es heißt: Was ist das.“ „Käßke ßä?“ fragte Peggi kopfschüttelnd und schaute verständnislos auf die ohnmächtige Prinzessin. Sie ließen die beiden Mädchen bei ihrer Prinzessin stehen und gingen weiter, aber sie hatten keine rechte Lust mehr, das Innere des Schlosses zu besichtigen. Links neben dem Schloß, genau dort, wo hundert Jahre später der Eingang des Tierparks war, stand ein kleines Wachhäuschen, davor war ein Schilderhaus, und vor dem Schilderhaus stand ein Soldat. Das Schilderhaus war hübsch schwarz und weiß angestrichen, gestreift wie ein Zebra, und der Soldat hatte einen dunklen Gehrock mit goldenen Knöpfen an und hellblaue, um die Knie ganz enge Hosen. Er hielt sich an einem Gewehr fest, auf dem oben ein langes Messer war, und das Gewehr war genauso groß wie der ganze Soldat. Auf dem Kopfe aber trug er eine merkwürdige runde Mütze, die aus angemaltem Blech zu sein schien. Es war ein sehr schöner Soldat, und er bewachte dieses Schloß, denn gleich hinter dem Schilderhaus war ein eisernes Tor, und in diesem Tor war eine kleine Tür. Sie“ stand offen. „Hoffentlich läßt er uns hinaus“, sagte Karl, aber Peggi war zuversichtlich. Warum sollte der Soldat sie nicht hinauslassen? Der stand
sicherlich nur da, damit keiner hinein kam. Sie gingen aber doch ein bißchen ängstlich auf das Tor zu, und sie wagten es nicht, vor dem Soldaten stehenzubleiben oder ihn anzusprechen. Sie hielten es für besser, geradewegs an ihm vorbeizugehen. „Wenn wir wollen, können wir uns ja noch von draußen mit ihm unterhalten“, schlug Peggi vor. Aber als sie sechs Schritte vor dem Schilderhaus waren, stampfte der Soldat mit beiden Fußen heftig auf, ergriff seine lange Flinte, die neben ihm auf der Erde stand, stellte sich kerzengerade hin und hielt die Flinte mit beiden Händen senkrecht vor sein Gesicht. Klapp, klapp, klapp, machte es, und er stand wie aus Blech, unbeweglich, und ohne ein Spur von Leben zu zeigen. Karl und Peggi bekamen einen solchen Schreck, daß sie zu laufen begannen und schnell aus dem Tor hinaus auf die Straße entwischten. Und sie liefen noch zweihundert oder dreihundert Meter die breite Allee hinunter, ehe sie es wagten, sich umzudrehen. Aber es verfolgte sie keiner.
„Was hat da so geklappt?“ fragte Teepetepee. „Der Soldat mit seinem Gewehr.“ „Er hat präsentiert“, sagte Teepetepee. „Was ist denn das?“ „Er wollte uns ehren. Weil wir doch Engländer sind oder Zigeuner.“ „Dann ist es ja gut“, sagte Peggi, „ehren wollen wir uns gern lassen, aber er hätte es vorher erklären können. Solch ein Kasperle, uns so zu erschrecken.“
6. Noch im Jahre 1856 — Der Schäfer und Bettina, sein Enkelkind
Sie gingen einen Feldweg entlang, der über Stoppeläcker, Wiesen und Kartoffelfelder führte, und es war alles ganz anders als heute morgen, als sie vom Bahnhof zum Tierpark die Elisabethstraße entlanggingen. Es war nichts mehr von allen Häusern zu sehen, nur fern über den Feldern schaute ein schlanker Kirchturm herüber. „Das wird ein Turm von Berlin sein“, sagte Karl, und er erklärte der Peggi, so gut er es vermochte, daß die große Stadt Berlin vor hundert Jahren, also in der Zeit, in der sie jetzt wandelten, auch schon eine große Stadt gewesen sei, aber natürlich längst, längst nicht so groß wie zu Peggis echter Lebenszeit. Es war warmes, windstilles Wetter, und Peggi fand es herrlich, so über die Felder zu gehen und Berlin zu suchen, auf dem Wege zu einem wirklichen König zu sein und die abenteuerlichsten Geschichten mit der Zeit zu erleben. „Wir gehen aber noch nicht so bald nach Hause“, sagte sie. „Wir sehen uns überall erst gründlich um. Und wir reisen auch noch weiter in andere Zeiten.“ „Dein Vater wird sich ängstigen, wenn wir abends nicht pünktlich sind“, sagte Karl. Aber er dachte, ehrlich gesagt, nicht so sehr an
Peggis Vater wie an seine Mutter und an seine. Schwester, und was die wohl sagen würden, wenn er mittags nicht aus der Schule nach Hause kam. Aber Peggi half ihm über diese Bedenken hinweg. So etwas Seltsames wie mit diesem Teepetepee erlebte man nicht alle Tage. Da konnten sie zu Hause ruhig mal ein bißchen Angst haben. Um so mehr freuten sie sich, wenn Peggi und Karl dann wiederkamen. Und ein bißchen Angst haben war längst nicht so schlimm wie Zahnschmerzen oder andere Unglücksfälle. Sie marschierten den Weg entlang, und sie sahen schon niedrige Dächer von Bauernhäusern links und rechts neben dem Kirchturm, da begann plötzlich Teepetepee zu singen. Zuerst grunzte er nur so ein bißchen, man hörte es kaum aus Karls Hosentasche. „Ua, ua“, sagte er, aber dann wurde es immer lauter, und seine Töne wurden immer länger, und sein Gesang schallte so, daß man ihn weithin hören mußte. Karl schaute in seine Hosentasche hinein und klopfte ihm mit dem Finger auf den Rücken. „Was schreist du so“, fragte er, „tut dir etwas weh?“ Der Frosch hörte auf zu singen. „Junge, Junge“, sagte er fröhlich, und er kicherte dabei. „Hihihi“, kicherte er, „in deiner Tasche ist es aber gemütlich. Das Taschentuch hat sich schön erwärmt, nicht wahr? Immer, wenn mir richtig wohl ist, muß ich singen, das geht nicht anders. Wenn jemand kommt, sagt Bescheid, dann bin ich still.“ Und dann sang er wieder. „Uuaaee, kra—kra—kra, kra—kra—kra, uuaaaaeee.“ „Ihr da oben“, schrie er, „paßt auf Schnecken auf, es muß bald Mittag sein. Und wenn ihr einem Regenwurm begegnet, bin ich auch nicht böse.“ „Hier sind keine Regenwürmer“, sagte Peggi. „Es ist ein ganz sandiger Feldweg.“ „Gucke mal immer so ein bißchen links und rechts, Peggichen“, schrie Teepetepee, „du wirst schon irgend etwas Leckeres für mich finden. Uuaaee, uuaaee, krak—krak—krak.“ Peggi schaute sich während des Gehens um, und auch Karl guckte hierhin und dorthin, aber sie fanden nichts. Und sie spürten auch selber Hunger. „Wir haben noch Geld“, sagte Peggi. „Wir kaufen uns in dem Ort da vorn ein paar Schrippen.“ „Vielleicht wird unser Geld noch nicht gültig sein“, vermutete Karl.
„Wir sagen ihnen, sie sollen es hundert Jahre aufheben.“ „Das machen die nicht. Das glauben sie uns nicht.“ „Weißt du was?“ fragte Peggi. „Vielleicht haben wir es falsch gemacht mit dem Gärtner und der Prinzessin und dem Soldaten. Vielleicht sollten wir allen Leuten gleich erklären, woher wir kommen und wer wir sind. Ich glaube, mit der Wahrheit kommt man immer am weitesten bei den Menschen.“ Sie mußte sehr laut sprechen, wenn sie sich mit Karl unterhalten wollte, denn der Frosch sang mit mächtiger Stimme. Er schrie so laut, daß man kaum glauben konnte, daß er es aus Vergnügen tat. „Mit der Wahrheit, mit der Wahrheit“, sagte Karl, und er blieb skeptisch. „Wir können es ja versuchen, aber ich möchte fast annehmen, daß uns niemand die Wahrheit glauben wird.“ „Du wirst sehen, die Wahrheit ist das Beste“, sagte Peggi, und sie tat, als ob sie noch nie in ihrem Leben geschwindelt hätte. Der Weg führte über einen kleinen Hügel hinauf, und als sie oben standen, sahen sie vor sich eine Schafherde weiden. Die Schafe liefen auf einem Stoppelacker herum und fraßen das Unkraut, das zwischen den Stoppeln wuchs. Direkt am Weg aber saß der Schäfer. Karl klopfte bei Teepetepee an, und der Frosch hörte mit seinem Gesang auf. „Ein Schäfer und eine große Schafherde“, erklärte Karl. „Ist ein Hund dabei?“ fragte Teepetepee. Ja, ein Hund war dabei, er saß neben dem Schäfer und schaute den Kindern entgegen. Und ein kleines Mädchen war auch noch da. Es lag etwas abseits im Grase und war neugierig, wer da wohl den Weg entlangkomme. Der Schäfer hatte ein Messer in der Hand und schnitzte an einem Stück Holz. Er war ein alter Mann mit langem Bart, er hatte einen Mantel an und einen großen, breitkrempigen Hut auf. Er sah nicht viel anders aus als der Schäfer von Klosterfelde, den Karl kannte, und er befahl seinem Hund, der aufgestanden war, sich wieder hinzulegen. Der Hund tat es nur unwillig, und als Karl und Peggi herangekommen waren, knurrte er feindselig. „Hallo! Pst!“ flüsterte Teepetepee aufgeregt, und Karl spürte, wie der Frosch in der Hosentasche zitterte. „Ich bin schon einmal von einem Hund gebissen worden, ich mag das nicht.“
„Ich schütze dich, ich schütze dich“, sagte Karl und strich beruhigend mit der Hand über die Tasche. „Das sagte Kolma Puschi auch immer“, wisperte der Frosch. Der Hund bellte, und das kleine Mädchen richtete sich auf. „Guten Tag“, sagte Peggi. „Guten Tag auch“, sagte der Schäfer. „Guten Tag“, sagte das kleine Mädchen. Sie erhob sich und machte einen Knicks. Unter ihrem langen Rock schauten nackte schmutzige Füße hervor. Wenn man barfuß geht, werden die Füße schnell schmutzig. Sie führte ihr rechtes Bein beim Knicks im Halbkreis nach hinten, sie ging tief herunter und hielt ihren Oberkörper sehr aufrecht dabei. Wenn Peggi mal einen Knicks machte, tat sie es ganz anders. „Geht es hier nach Berlin?“ fragte Karl und zeigte den Feldweg entlang. „Schon, schon“, sagte der Schäfer, „aber es ist noch sehr weit.“ „Wie weit ist es denn noch?“ „Fast drei Meilen“, sagte der Schäfer. „Drei Meilen nur, hach!“ sagte Peggi. „Dann ist es wohl da bei dem Kirchturm?“ Das kleine Mädchen mußte lachen; und um es nicht zu zeigen, hielt sie sich beide Hände vor das Gesicht. „Wo kommt's denn her?“ fragte der Schäfer. Karl zögerte mit der Antwort, aber Peggi setzte ihre Theorie, daß die Wahrheit das Beste sei, in die Tat um. Der Schäfer sah aus wie ein lieber, alter Opa, was konnte ihm die Wahrheit schaden? „Wir kommen von 1956, wir reisen durch die Zeit, und jetzt wollen wir nach Berlin, um den König zu besuchen.“ Das kleine Mädchen hörte auf zu lachen, nahm die Hände herunter und machte verwunderte Augen. „Ihr wollt zum König?“ fragte es. Peggi nickte ihr zu. „Wir haben alle drei noch nie einen König gesehen.“ „Ihr alle drei?“ „Alle zwei“, verbesserte Karl. „Ich habe auch noch nie einen echten König gesehen“, sagte Teepetepee. „Wau, wau“, sagte der Hund und ging mit gesträubtem Rückenfell auf Karl zu.
„Nimrod“, rief der Schäfer, „kommst du her! Nimm Platz!“ Und er gab dem Hund einen Klaps. Der legte sich wieder hin und knurrte. „Du kannst mit dem Bauche reden?“ fragte der Schäfer. „Nein“, antwortete Karl, „nur mit der Hosentasche.“ Und als er sah, daß der Schäfer sich veralbert fühlte, erklärte er: „Ich habe einen Frosch in der Tasche, der kann reden.“ Und er hielt es bei der Unwahrscheinlichkeit seiner Worte für das beste, sie gleich zu beweisen. Er holte Teepetepee hervor und wickelte ihn aus dem Taschentuch. „Das ist doch kein Frosch“, sagte der Schäfer erstaunt, und auch der Hund Nimrod machte vor Verwunderung dreimal den Mund auf und zu. „Natürlich bin ich ein Frosch“, sagte Teepetepee würdevoll. „Kein hiesiger, sondern ein amerikanischer.“ Der Schäfer überlegte den Fall, und plötzlich begann er wieder an seinem Holz zu schnitzen. „Na ja, dann geht mal nach Berlin“, sagte er gleichmütig. „Dort der Kirchturm“, und er zeigte mit dem Messer in die Richtung, „das ist Lichtenberg. Von Lichtenberg nach Berlin sind es gut drei Stunden.“ „Die S-Bahn geht wohl noch nicht?“ fragte Peggi. „Die Eisenbahn?“ fragte der Schäfer. „Nein, die S-Bahn, die elektrische Schnellbahn.“ „Elektrische Schnellbahn? Nie gehört. Aber es wird ja jetzt so viel erfunden. Die Post fährt viermal am Tag.“ Er schaute zur Sonne hoch. „In zwei Stunden fährt wieder eine.“ „Was für Post?“ „Die Pferdepost. Wenn ihr mit der Eisenbahn nach Berlin fahren wollt, müßt ihr nach Köpenick laufen oder nach Bernau.“ „Welches Jahr haben wir denn jetzt?“ fragte Karl. „Das sechsundfünfzigste.“ „1856?“ „Natürlich.“ „Siehste!“ sagte Karl triumphierend. „Wie genau ich das schätzen konnte.“ „Aus welcher Zeit kommt ihr?“ fragte das kleine Mädchen. „Aus dem Jahre 1956. Hundert Jahre später.“ „Ooh“, sagte das kleine Mädchen erstaunt, „und ihr wollt jetzt wirklich zum König gehen?“ „Ja!“
„Würde ich euch nicht raten“, sagte der Schäfer. „Der ist doch nicht ganz da!“ Und er tippte mit dem Griff des Messers an seine Stirn. „Soll das heißen, daß er dumm ist?“ Der Schäfer schaute sich um, als wollte er sich vergewissern, daß es niemand sonst hörte. „Nicht dumm! Verrückt!“ „So etwas“, sagte Peggi entrüstet, „und da ist er euer König?“ Der Alte hob die Schultern hoch. Er zeigte auf die Schafe. „Sie gehören ihm, aber sie sind gescheiter als er. Als er noch alle fünf Sinne beisammen hatte, war er nicht dumm, sondern gemein. Der Teufel hat seinen Verstand gestohlen, als er die Berliner zusammenschießen ließ.“ „1848, nicht wahr?“ fragte Karl. „In der Revolution!“ „Da ist Bettina, mein Enkelkind, gerade geboren worden“, sagte der Alte. Acht Jahre war jetzt also die Bettina, zwei Jahre jünger als Peggi. „Gehst du zur Schule?“ fragte Peggi. Bettina schüttelte den Kopf. „Ich bringe ihr etwas Lesen und Schreiben bei“, sagte der Schäfer. Bettina nickte. „Mußt du ins Bergwerk gehen, wenn du neun Jahre bist?“ Was war das für eine Frage von Peggi. Der Schäfer schreckte zusammen, ließ Messer und Holz sinken und erblaßte. „Um Gottes willen“, sagte er verstört. „Was soll das? Wie kommst du darauf? In welches Bergwerk? Wer will sie dazu zwingen?“ „In meinem Geschichtsbuch steht“, sagte Karl, „daß schon neunjährige Kinder bei euch ins Bergwerk oder in die Textilfabriken gehen müssen.“ „Aber von Bettina steht nichts drin?“ „Nein! Direkt von 'euch steht im Geschichtsbuch nichts. Nur im allgemeinen von den Kindern.“ „Na, dann ist es ja gut“, sagte der Schäfer erleichtert. „Wir möchten das nicht. Bettina arbeitet jeden Sommer neunzig Tage auf dem Gut, und das ist genug. Sie ist die einzige Tochter meines Sohnes, sie muß in der Wirtschaft helfen.“ „Du arbeitest auf dem Gut?“ „Natürlich“, sagte Bettina. „Für Geld?“ Bettina nickte eifrig.
„Einen Taler im Sommer“, erklärte der Alte. „Sie ist erst acht. Wenn sie zehn ist, erhält sie zwei Taler, und wenn sie zwölf ist, drei. Aber wir bekommen noch Kartoffeln und Rüben für sie.“ „Meine Güte“, sagte Peggi und zog die Nase kraus. „Kartoffeln und Rüben? Viel Kartoffeln, viel Rüben?“ Bettina wußte es nicht und schaute zu ihrem Großvater hin. „Es reicht“, sagte er verdrossen und nahm wieder sein Holz vor. „Ist ein Taler viel Geld?“ fragte Peggi. Doch dem alten Schäfer war die Fragerei offensichtlich nicht angenehm. Er schaute nach Lichtenberg hin, er schaute zur Sonne hoch und auf sein Holz, und dann sagte er: „Ich verstehe schon. Ihr kommt von weit her, ihr seid neugierig. Geht nach Lichtenberg und fragt den Pastor, der weiß das alles viel besser als wir.“ „Um Himmels willen“, sagte Teepetepee, „nur nicht zu einem Pfarrer, der hält mich glatt für den Teufel und denkt, er tut ein gutes Werk, wenn er mich totschlägt. Je frommer die Pfaffen sind, um so gefährlicher sind sie auch. Ich denke, wir reisen in eine andere Zeit, in der ein vernünftiger König in Berlin lebt.“ „Du bist doch alt?“ fragte Karl. „Du mußt es doch wissen. Wann lebte denn ein vernünftiger König in Berlin?“ Der Schäfer überlegte die Frage. Er strich sich den Bart und dachte nach, aber er kam zu keinem Entschluß. „Ich kenne sie alle“, sagte er, „irgendwann kamen sie alle einmal hier zu dem Friedrichsfelder Schloß. Aber vernünftige waren nicht dabei. Vielleicht versucht ihr es mit einer anderen Residenz, mit einem anderen Lande?“ „Schade“, sagte Peggi, und sie war etwas traurig. „Eine andere Redisenz?“ „Residenz“, verbesserte der Schäfer. „Residenz, was ist denn das?“ „Ein Ort, wo ein König wohnt oder ein Herzog oder ein Großherzog, ein Bischof oder ein Erzbischof“, erklärte der Alte. Und dann fiel ihm etwas ein. „Ihr seid so verwundert darüber. Was gibt es denn in eurer Zeit für einen König?“ „Gar keinen!“ sagte Peggi. „Das ist es ja gerade! Sonst hätten wir uns ja schon längst mal einen ansehen können.“ „Aber wer regiert denn euer Land?“ „Das Volk“, sagte Peggi, „das Volk regiert sich selbst!“
„Nein“, sagte Karl, „regieren tut der Präsident und der Ministerpräsident und die Minister.“ „Nein“, widersprach Peggi, „das Volk regiert! Die Minister und der Präsident müssen machen, was das Volk will.“ „Na ja“, sagte Karl, „sie sollen machen, was das Volk will, natürlich, aber regieren tun die Minister.“ „Es ist eine Demokratie“, erklärte der Frosch. Und jetzt endlich verstand der Schäfer. „Aha, Demokratie“, sagte er, „aber das ist doch verboten!“ „Bei uns nicht!“ „Demokratie heißt Herrschaft des Volkes“, erklärte der Schäfer seinem Enkelkind. „Merke dir das, Bettina, Herrschaft des Volkes.“ „Mama sagt immer, ohne König geht's ja gar nicht“, sagte Bettina. „Wo habt ihr denn euren König gelassen?“ „Zum Kuckuck, wo haben wir ihn denn gelassen?“ fragte Peggi und schaute Karl an. Karl wußte es auch nicht. „Ich bin schon zwölf Jahre alt“, sagte er, „aber wir hatten nie einen.“ „Und es geht auch?“ „Na, so recht und schlecht“, sagte Karl. Da wurde der Schäfer sehr lebendig, er legte sein Messer und das Holz weg und nahm seinen Hut ab. „Soso“, sagte er, „also auch in hundert Jahren ist es noch nicht besser geworden? Habt ihr denn satt zu essen?“ Sie schauten sich wegen einer solchen Frage verwundert an, und dann nickte Karl bejahend. „Jetzt habe ich eigentlich Hunger“, sagte Peggi. „Ich habe seit heut morgen schon nichts mehr gegessen.“ „Bekommt ihr hin und wieder Milch zu trinken?“ „Zu jedem Frühstück“, antwortete Peggi. „Ich trinke keine gekochte“, sagte Karl. „Bekommt ihr sonntags Fleisch?“ „Fleisch und Wurst essen wir jeden Tag.“ „Jeden Tag?“ fragte der Schäfer ungläubig, und dann schien ihm alles klar. „Ach so“, sagte er, „ihr seid Herrschaftskinder.“ „Was sind wir, bitte?“ „Ihr seid Adlige?“ „Nein.“ „Eure Eltern sind Kaufleute?“
„Nein.“ „Was sind denn eure Eltern?“ „Mein Vater arbeitet in einer Möbelfabrik“, sagte Peggi. „Mein Vater ist Maurer“, antwortete Karl. „Und ihr habt jeden Tag Milch? Jeden Tag Fleisch? Ihr müßt nie hungern?“ Der Schäfer glaubte ihnen nicht, und auch Bettina machte ein mißtrauisches Gesicht. „Und wo arbeitet ihr?“ fragte sie. „Wir gehen zur Schule.“ „Aber ihr mußt doch auch arbeiten? In den Ferien? Nachmittags? Abends?“ „In den Ferien und nachmittags spielen wir“, sagte Karl. „Und eure Eltern kommen ohne eure Hilfe aus?“ „Ich muß immer, wenn er voll ist, den Mülleimer hinuntertragen“, sagte Karl. „Jeden Dienstag, wenn Frau Meisel nicht kommt, muß ich abwaschen“, sagte Peggi. Bettina und ihr Großvater sahen sich verwundert an, und dann sagte der Großvater: „Und warum geht es euch nur so schlecht und recht?“ Sie wußten es nicht. Es war wohl auch mehr so dahingeredet. „Gibt es viele arme Leute bei euch?“ fragte der Schäfer. Wieder wußten sie es nicht. „Wie viele Bettler stehen am Sonntag vor der Kirchentür?“ „Da stehen keine Bettler.“ „Wo stehen sie denn?“ „Ich glaube“, sagte Peggi zögernd, „Bettler gibt es bei uns nicht.“ „Was machen die alten Arbeiter, wenn sie krank sind, wenn sie nicht mehr arbeiten können?“ „Sie bekommen vom Staat eine Rente.“ „Von der sie leben können?“ „So schlecht und recht.“ Der Alte schüttelte wieder unwillig den Kopf. „Haben sie zu rauchen, wenn sie rauchen wollen?“ „Natürlich.“ „In hundert Jahren“, sagte der Schäfer leise, „in hundert Jahren! Bettina, erleben wir das noch?“ Sein Enkelkind antwortete nicht, sondern ging zu ihrem Großvater hin, hockte sich neben ihn und streichelte seine Schultern.
„Nehmt uns doch mit“, sagte sie. „Nehmt uns doch mit in eure Zeit.“ „Mehr als zwei können nicht mit mir reisen“, sagte der Frosch. „Es geht nicht. Es geht wirklich nicht. Wenn ihr euch alle vier anfaßt, reicht meine Kraft nicht aus.“ Er warf einen bösen Blick auf den Hund Nimrod, der sich beruhigt hatte und der ganzen Unterhaltung still gefolgt war. „Vielleicht will der auch noch mit“, sagte Teepetepee, und Peggi fand es eigentlich ziemlich herzlos von ihm. „Du hörst es, Bettinchen“, sagte der Schäfer. „Wir müssen hierbleiben. Doch wenn du sehr alt wirst, erlebst du es vielleicht. Also ihr wolltet zum König“, sagte er und schaute wieder nach Lichtenberg hinüber. „Zu unserem bösen, närrischen Herrn. Geht nicht dort hin. Wer weiß, was euch dort geschieht. Es kommt ihnen auf Blut nicht an.“ „Du wolltest uns noch sagen“, fragte Peggi, „wie die Könige vorher waren.“ „Der Dritte“, sagte der Schäfer, „Friedrich Wilhelm der Dritte, der Vater des jetzigen, hat dem Volke, als ihm Napoleon an der Kehle saß, viel Gutes versprochen, aber er hat nichts davon gehalten. Und alle, die ihn an das Versprochene zu mahnen wagten, ließ er in die Festungen und Zuchthäuser werfen. Er war nicht gut, er war wirklich nicht gut, und er war wohl auch nicht sehr gescheit. Sein Vater aber, der Großvater des jetzigen, das war ein Lump, ein Bruder Leichtfuß und ein Verschwender, ein liederlicher Herr, dem niemand genug Steuern zahlte. Und dessen Vorgänger, Friedrich der Zweite, o meine Güte! Als er starb, wurde ich geboren, ich kannte ihn nicht mehr selbst. Er hat viele Kriege geführt und gewonnen, aber an uns, an meine Eltern, an sein Volk, an die armen Menschen hat er wohl nie gedacht.“ „Ich glaube es dir“, sagte Peggi. „Ich glaube dir alles! Gute Könige gibt es wohl nur im Märchen!“ „Die meisten Könige in den Märchen sind auch schlecht“, sagte Bettina, „aber Mama sagt, es geht nicht ohne sie.“ Da regte sich der Großvater auf. „Du hörst doch, daß es geht“, sagte er, „sieh sie dir doch an, wie sie hier vor dir stehen. Sie haben Schuhe an und Strümpfe, wie Herrenkinder. Und sie haben täglich Fleisch, und nicht einmal gekochte Milch mögen sie mehr trinken. So gut geht es ihnen ohne einen König.“ Es war für Bettina schwer zu begreifen, aber offensichtlich hatte ihr Großvater recht.
„Sie sehen wirklich aus wie Engel“, sagte sie und schaute sich Peggi und Karl eingehend an. „Es wird Zeit, daß wir weitergehen“, sagte der Frosch. Er hatte wahrend der ganzen Unterhaltung geschwiegen, aber nun langte es ihm. „Gibt es hier Regenwürmer?“ fragte er. Der Schäfer nahm sein breites Messer und schnitt einen Rasenballen aus. Er wühlte mit seinen Fingern in der Erde herum, und schon hatte er einen langen dicken Regenwurm. Er beugte sich vor und gab ihn dem Frosch. Der Regenwurm war so lang, daß Teepetepee zweimal schlucken mußte. „Ich habe auch Hunger“, sagte Peggi, und als die anderen lachten, erklärte sie noch, daß sie aber trotzdem Regenwürmer nicht möge. „Wenn ihr ins Dorf kommt“, sagte der Schäfer, „das vierte Haus links, da wohnen meine Leute. Sie werden gerade Mittag essen. Klopft an. Sie sind arm, sie teilen.“ „Das vierte Haus links, wir werden von dir grüßen“, sagte Peggi.
„Begleite sie doch, Bettina“, schlug der Schäfer vor. Aber Bettina wollte nicht. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter und schüttelte den Kopf. „Sie fürchtet sich, mit euch zu gehen.“ „Wir tun dir nichts“, sagte Peggi. „Hast du wirklich Angst vor uns?“ fragte Karl. „Es ist ihr unheimlich“, sagte Teepetepee, „laßt sie hier, sie grault sich.“ Da konnte man offensichtlich nichts machen. Wenn sich ein Mensch grault, oder wenn er sich geniert, ist es schwer, ihm das auszureden. Karl packte den Frosch wieder in sein Tuch und steckte ihn in die Tasche. Peggi tat es leid, daß Bettina nicht mit wollte, und sie redete ihr noch ein bißchen zu, aber Bettina schüttelte nur immer wieder den Kopf. Sie verabschiedeten sich und gingen, und als sie sich nach einem Weilchen umdrehten, da standen der Großvater und Bettina und der Hund Nimrod auf dem Wege und schauten ihnen nach, und alle drei winkten sie, die beiden Menschen mit den Händen, der Hund mit dem Schwanz.
7. Immer noch im Jahre 1856 — Die frechen Jungen von Lichtenberg
Sie kamen in das Dorf hinein, und es war eigentlich kein großer Unterschied zu den Dörfern, die sie schon kannten. Es gab keine elektrischen Leitungen, aber das fiel kaum auf. Viele Häuser und die meisten Scheunen hatten Strohdächer, aber auch das war ja nicht weiter merkwürdig. Es watschelten Enten und Gänse auf der Dorfstraße herum, und sie sahen genauso aus wie ihre Nachkommen hundert Jahre später. Merkwürdig war nur, daß dieses kleine Dorf Lichtenberg war und daß sich aus ihm ein Stadtteil mit vielen hunderttausend Einwohnern entwickeln sollte. „Die sollen mal bald anfangen zu bauen“, sagte Karl und betrachtete kritisch die siebzehn Häuser, die um das Kirchlein herumstanden. „Wie soll denn sonst das alles fertig werden, so wie es zu unserer Zeit ist.“ „Dort muß der Schäfer wohnen“, sagte Peggi und zeigte über die breite Dorfstraße hinüber. „Da gehen wir hinein, ich habe richtigen Kohldampf.“ Sie gingen langsam auf das Haus des Schäfers zu, da kam eine Horde Jungen die Straße entlanggelaufen, zehn oder fünfzehn Jungen, und alle im Alter von Peggi und Karl. Sie waren barfuß und hatten lange enge Hosen, die ihnen bis über die Waden reichten, und obenherum trugen sie blaue und graue zerrissene und zerschlissene Hemden. Vornweg liefen zwei kleinere Jungen, und alle anderen schienen diesen beiden hinterherzurennen. Sie lachten und johlten und hopsten beim Laufen wie junge Pferdchen. Auf einmal erblickten sie Karl und Peggi, und sie erstarrten mitten in der Bewegung, ein jeder dort, wo er gerade stand. Sie betrachteten die beiden fremden Kinder, und man konnte ihnen deutlich ansehen, daß sie überlegten, wen sie da wohl vor sich hätten. „Das ist ein Mädchen“, sagte einer und zeigte mit dem Finger auf Peggi. Da lachten sie alle schallend los.
„Natürlich bin ich ein Mädchen“, sagte Peggi, „kommt doch mal her.“ „Natürlich ist sie ein Mädchen“, schrie einer der Jungen, und dann lachten sie alle noch einmal so laut, aber es kam keiner näher. „Wir sind fremd hier im Dorf“, sagte Karl, und: „Wir sind fremd hier im Dorf“, äffte ihm einer nach. Sie waren ein bißchen befangen, diese Dorfjungen, aber sie waren gleichzeitig auch frech. Sie lachten über Karl und Peggi, sie lachten die beiden Fremden einfach aus. „Wo kommt ihr denn her?“ fragte einer. „Aus Blumenthal“, sagte Karl. Da lachten sie wieder. „He! Ihr Lügner“, schrie einer, „denkt ihr, wir kennen nicht Blumenthal?“ „Seit wann sehen denn die Kinder von Blumenthal so aus wie ihr?“ fragte ein anderer. „Was die für ein Kleid anhat, seht es nur, was für ein Kleid! Der Stoff hat nicht weiter gereicht, jetzt muß sie nackend gehen.“ „Wieso denn nackend?“ „Die wundern sich alle über deine Beine“, sagte Karl. „Bettina hat auch immer so geguckt, aber sie hat nichts gesagt.“ Peggi war ratlos, aber ihr kurzes Kleid konnte doch kein Grund zur Feindschaft sein? „Die sind vom Theater“, sagte einer der Jungen. „Nee“, sagte ein anderer, „das sind Franzosen, die tragen solche Klamotten.“ „Und die haben auch solche Haare.“ „Doofe Franzosen“, rief einer der Bengels. „Ihr habt euch wohl verlaufen?“ „Sie sind aus einer Kutsche gefallen.“ „Vom Himmel sind sie gefallen.“ „Aus der Hölle sind sie gefallen.“ „Wo wollt ihr denn hin?“ „Dorthin“, sagte Karl und zeigte mit dem Finger auf das Haus, zu dem sie wollten. „Zu wem denn dort?“ Ja, den Namen, den wußten sie nicht. Sie zuckten mit den Schultern und konnten nicht antworten. Die Bengels johlten. „Wollen irgendwohin, aber wissen nicht, zu wem?“
„Das sind ganz Gescheite!“ „Ob ihre Perücke echt ist?“ Und dann flog ein Stein. Einer der Jungen hatte zufällig einen Stein in der Hand, und er warf ihn halb spielerisch und nur zum Spaß, aber er traf Karl vor die Brust. Es tat weh, und Karl wurde wütend. «Lausebengels“, schrie er. „Was erlaubt ihr euch. Wartet nur“, und er suchte den Stein, der ihn getroffen hatte, und warf ihn zurück. Er traf nicht, er hatte auch nur so in die Gegend geworfen, um den Bengels Respekt einzuflößen, aber er erreichte genau das Gegenteil. Sie brachen in lautes Johlen aus, und jeder von ihnen suchte sich Steine, und sie begannen auf Karl und auch auf Peggi zu werfen. Und sie warfen gut. Jungen vom Dorf können immer gut zielen, und sie werfen auch gern. Sie versperrten Karl und Peggi den Weg zum Haus des Schäfers. „Komm weg“, sagte Peggi, „komm fort, schnell, es hat keinen Sinn, es sind zu viele, wir schaffen es nicht.“ Und sie rannte die Dorfstraße hinunter zur Kirche hin. Karl warf noch zwei Steine, dann lief er hinter Peggi her, und die schreiende Meute der Bengels verfolgte sie. Aus diesem oder jenem Haus schauten Erwachsene heraus, aber alle machten sie nur verwunderte und erstaunte Gesichter, wenn sie die beiden fremden Kinder sahen. Niemand kam ihnen zu Hilfe, niemand unterstützte sie. Die meisten Erwachsenen lachten, als freuten sie sich darüber, daß die Kinder ihres Dorfes zwei Fremde vertrieben. Peggi konnte schnell laufen, fast so schnell wie Karl, und Karl lief viel schneller als alle diese Bauernjungen. Aber er war voller Wut, und er bückte sich oft nach Steinen, hielt an, zielte und warf, und er wurde auch hin und wieder von den Jungen getroffen. Als sie um die Kirche herumliefen, kamen ihnen von vorn drei Jungen entgegen, und sie hatten schon die Hände voll Steine. Sie nahmen hinter einem Zaun Deckung und erwarteten Karl und Peggi. Da rannte Peggi zur Kirchentür und drückte auf die Klinke. Die Tür ging auf, die Kirche war leer. Peggi lief hinein, und nach einem Weilchen kam auch Karl. Er hatte einen Stein an die Stirn bekommen und blutete. Und erst dieses Blut, das ihm über das linke Auge lief, machte Peggi vollends wütend. „Wir reisen“, schrie sie. „Was sind das hier für Zeiten? Ein verrückter König, den es nicht zu besuchen lohnt, eine alberne Prinzessin, ein
idiotischer Gärtner, ein Schäfer, der nichts zu rauchen hat, und jetzt noch diese dummen, diese einfältigen, rohen Bauernjungen. Hol den Frosch hervor, wir reisen!“ Karl holte Teepetepee aus der Tasche, der zum Gluck von keinem Stein getroffen worden war. „Dreh!“ sagte Teepetepee. „Vergiß nicht, Karl anzufassen, Peggichen, sonst bleibst du hier, und sie fressen dich. Dreh, Karl, dreh, aber dreh tüchtig, vielleicht ist es vor hundert Jahren schöner.“ Ja!“ sagte Peggi. „Dreh ordentlich herum. Wenn schon, denn schon, dreh wieder hundert Jahre zurück.“ Und Karl drehte am Horn des Frosches. Jetzt muß Napoleon regieren, dachte er, als er bis fünfzig gezählt hatte, und es überkam ihn große Lust, anzuhalten, aber dann machte er doch weiter. Sollte er etwa so in der Gegend der Französischen Revolution anhalten? 1789, die Zahl wußte er noch vom Geschichtsunterricht bei Herrn Thalberg. Ach was, Französische Revolution, da war es bestimmt auch nicht ungefährlich, also weiter: 86, 76, 66, 56, er hielt an. Das waren nun hundert Jahre. Peggi schaute aus der Kirchentür. Kein Mensch war zu sehen. Es sah alles aus wie im Jahre 1856. Wirklich, es hatte sich nichts verändert. Die gleiche Sonne, die gleichen Bauernhäuser, die gleichen Bäume, die gleichen Hühner, Enten und Gänse auf der Dorfstraße, und der einzige Unterschied, den sie entdeckten, war der, daß jetzt alle Häuser Strohdächer trugen. •Na, denn man los“, sagte Peggi, „hinein ins neue Vergnügen! Dahinten sind übrigens doch Leute.“
8. Im Jahre 1756 — Die Erzählung des Barons von Oeckersteen
Baron von Oeckersteen, ein dicker und gemütlicher Herr, fuhr in Geschäften nach Berlin, und eine Stunde vor der Stadt, in irgendeinem dieser kleinen lausigen Dörfchen, hatte er ein Erlebnis, das er bis zu seinem Tode nicht vergaß. Er erzählte es oft, und alle, die ihn kannten, kannten auch diese Geschichte, und er erzählte sie fast immer gleich oder nur in Kleinigkeiten abgewandelt, aber niemand, dem er sie erzählte, glaubte sie ihm.
Doch da der Herr Baron ein sehr reicher, ein netter und auch liebenswerter Mann war, taten die meisten seiner Bekannten so, als ob sie die Geschichte für wahr hielten. Sie sagten: „Ja, ja, so etwas gibt es! Schon richtig, bei Gott ist alles möglich.“ Oder sie sagten: „Es geschehen viele Dinge zwischen Himmel und Erde!“ und bemühten sich, auch noch schnell eine ähnliche Geschichte zu Gehör zu bringen. Der Baron aber erzählte sein Erlebnis etwa folgendermaßen: Es war damals ein schöner warmer Herbsttag, und ich war trotz des Zustandes der brandenburgischen Straßen bei heiterer Stimmung. Ich war noch bei Dunkelheit in Frankfurt losgefahren, hatte in Fürstenwalde die Pferde gewechselt und gedachte, in einer guten Stunde in Berlin zu sein, da sah ich auf irgendeiner dieser Dorfstraßen einen Menschenauflauf. Ich schaute hin, da stand ein etwa zehnjähriges Mädchen in einem putzigen roten Hemdchen, mit nackten Beinen, zierlichen Schuhen und seltsam jungenhaft geschnittenen blonden Locken, ein in solchem Dorf gewiß ungewöhnlicher Anblick. Und viele Menschen standen um das Mädchen herum. Als ich so vorbeifuhr, erblickte ich auch einen etwas älteren Jungen. Er trug kurze weite Hosen und ein komisches Hemd, und er hatte auch Schuhe und merkwürdig kurze Strümpfe an. Ich ließ den Kutscher halten und betrachtete mir die beiden Kinder und merkte als weitgereister Mann sofort, daß es Ausländer waren. Ich tippte auf Schweizer. So wie Schotten bunte Röckchen tragen, so gehen die Schweizer Männer in solch kurzen Höschen, es sieht possierlich aus, aber man gewöhnt sich an den Anblick. Ich lehnte mich aus dem Fenster und fragte: «Was ist denn hier los?“ Aber sie waren alle so sehr mit den beiden fremden Kindern beschäftigt, daß mich keiner beachtete. Da stieg ich aus und ging hin. Und nachdem ich ein Weilchen zugehört hatte, begriff ich, um was es sich handelte. Da waren drei Burschen, drei Waldarbeiter der königlichen Domäne Friedrichsfelde, und sie waren gezogen worden, sie hatten, nun der Krieg gegen Sachsen und Österreich, jener Siebenjährige Krieg, gerade begann, den Befehl bekommen, Soldat zu werden. Sie waren im Abrücken. Jeder von ihnen hatte sein kleines Päckchen auf der Schulter, und ihre Bräute und Mütter und Väter standen weinend dabei und wollten sie noch ein Stück Wegs nach Berlin begleiten. Da trafen sie diese beiden Kinder, unterhielten sich mit ihnen, und der
Junge zog ein Buch aus seiner Ledertasche, ein Geschichtsbuch, und versuchte ihnen zu beweisen, daß gar kein Krieg stattfinde, oder wenn, dann nur ein ganz kleiner, um den man nicht zu weinen brauche. Die Bauern glaubten ihm nicht. «Die Franzosen und die Sachsen und die Reichstruppen und die Russen, alle sind sie gegen unseren König verbündet“, sagten sie. „Das kann kein kleiner Krieg sein, das dauert lange, und wir sehen sie nicht wieder!“ Und sie heulten herum, wie es solche Leute so zu tun pflegen. Der Junge aber las eifrig in seinem Buch, schüttelte den Kopf und versuchte sie zu trösten. „Hier ist doch die Zahlentafel, auf der alles steht, was in der Welt passierte“, sagte er. „Seht doch hin! 1740, der erste Stahlguß! 1763, Frankreich muß Kanada an England abtreten. Vom Krieg steht da nichts.“ Er sprach ein etwas komisches Deutsch, aber klar und verständlich, so wie es die Schweizer und Österreicher wohl tun. „Macht mal Platz, Leute“, sagte ich, als vor lauter Aufregung niemand von mir Notiz nahm, und sie wichen auseinander und ließen mich durch zu dem Jungen. „Gestatten Sie“, sagte ich, „darf ich das Buch mal sehen?“ Aber er hielt es fest und schüttelte den Kopf. Da sagte das kleine Mädchen: „Gib es ihm ruhig. Er nimmt es dir sicher nicht weg. Er ist eben in einer Kutsche angekommen.“ Und der Junge überlegte ein Weilchen, dann gab er mir das Buch. „Lehrbuch für den Geschichtsunterricht, 7. Schuljahr“, stand darin, alles in sehr altertümlichem Deutsch und in seltsamen Druckbuchstaben, aber nicht so wie die Bibel oder die ersten Gutenbergbücher, mehr modern, und ganz unten steht der Verleger angegeben, so wie wir es auch heute noch in unseren Büchern finden. „Volk und Wissen, Volkseigener Verlag, Berlin 1952.“ Ich hielt das Buch in den Händen, ich las das Titelblatt zweimal, dreimal, viermal und begriff es nicht. Volk und Wissen! Das war doch ein Paradox, und es deutete darauf hin, daß es sich um eine Mystifikation, um einen geistreichen Scherz handelte. Volk und Wissen, welch seltsame Zusammenstellung! Also gut, Volk und Wissen ist der Verlag, aber was hieß volkseigen? Das Volk ist den Herren zu eigen, und es mag ja manches Wertvolle besitzen, alles wohl mehr immaterielle Werte, wie Frömmigkeit, Tapferkeit, Aberglauben und Dummheit, aber es besitzt doch keinen Verlag!
Und das in Berlin? Nun, die Jahreszahl 1952 war ein Scherz, das war sicher. Wie ich so das Buch in den Händen hielt, überkam mich das Gefühl, eine Kostbarkeit vor mir zu haben. Ich schaute den Jungen an und fragte: „Verkaufen Sie es?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „ich kann es nicht weggeben. Es gehört mir nicht.“ „Wo kommen Sie her?“ fragte ich. „Aus Blumenthal“, sagte er, als sei es etwas Selbstverständliches. Nun ist Blumenthal, wie Sie wissen werden, ein kleines verschlafenes Landstädtchen auf dem Wege nach Küstrin. „Aus diesem Blumenthal dort?“ fragte ich und deutete mit dem Finger in östliche Richtung. Er nickte. Und da wußte ich natürlich sofort, daß es nicht stimmte, sein Gesicht verriet auch eine merkwürdige Mischung von Raffiniertheit und Kindlichkeit, und er errötete, als er mir sagte, daß er aus Blumenthal sei. „Ist die junge Dame in dem roten Hemdchen Ihre Schwester?“ fragte ich, denn die beiden hatten unverkennbar eine gewisse Ähnlichkeit miteinander. „Rotes Hemdchen?“ fragte das Mädchen entrüstet. „Das ist ein Sommerkleid und kein Hemdchen!“ Und sie schien mir ernsthaft böse zu sein, obwohl ich sie nicht zu beleidigen beabsichtigte. „Reizendes Kleid“, sagte ich, „ein bißchen kurz, aber das macht natürlich gar nichts, wenn man so hübsche Beinchen hat.“ Nun, Sie verstehen, ich wollte mit ihr scherzen, und sie war auch ein entzückendes kleines Mädchen, wie ein Engelchen sah sie aus. Aber sie hatte nichts für meine Reden und für mich übrig, bis zu dem Moment, als ich ihr zu essen anbot. Doch der Reihe nach. Ich schaute mir das Buch weiter an. Da war hinten eine Zahlentafel, und auf dieser Tafel begann es mit 1337, Hundertjähriger Krieg zwischen England und Frankreich, und die letzte Eintragung vor unserer Zeit war 1740, der erste Stahlguß. Nie etwas davon gehört, und ich bin ja auch vor sechzehn Jahren schon kein unbedarfter Säugling mehr gewesen. Es war das Jahr, in dem unser junger König den Thron bestieg, nichts davon im Buch. Es war auch das Jahr, in dem er seinen ersten Krieg begann, nichts davon, obwohl doch ein Krieg gegen Dresden und Wien gewiß kein Pappenstiel ist. Aber nach diesem Jahr 1740 kam eine seitenlange Aufzählung der
Ereignisse, die sich in der Zukunft abspielen werden, und wie ich sie durchsah, schwindelte es mir vor den Augen. War dieses Machwerk Scherz, ein Blendwerk des Teufels oder ein sibyllinisches Buch? Ein Buch, in dem die Geschicke der Zukunft aufgezeichnet wurden für den, der sie verstehen konnte? Ich mußte das Buch haben, das war mir klar, und ich beschloß, wenn nötig, mit größter Kaltblütigkeit zu Werke zu gehen. Ich zog meinen Dukatenbeutel hervor und wog ihn in der Hand. Es waren dreihundert Taler reinen Goldes darin. Ich öffnete ihn und ließ den Jungen hineinschauen. Er versuchte, ein wenig interessiertes Gesicht zu machen. „Zwanzig Taler für das Buch“, sagte ich und lachte dabei, als handelte es sich um einen Scherz. Er schüttelte den Kopf. „Ich kann es wirklich nicht verkaufen“, sagte er, „es gehört meiner Schule.“ „Welcher Schule?“ fragte ich verwundert. „Der Pestalozzischule in Blumenthal“, sagte er, und es überkam mich plötzlich die Gewißheit, daß der Junge Abgesandter einer mystischen Vereinigung sei. In Blumenthal jedenfalls gibt es keine Einrichtung, die den Namen Schule verdient. Dort wurde vor zwanzig Jahren noch vom alten Herrn ein Korporal namens Mathes zum Lehrer bestellt. Er brachte in einer Scheune ein paar Bänke unter, und wer von den Honoratioren des Städtchens es so wollte, der schickte seine Kinder hin, um ihnen von dem alten cholerischen Soldaten das Einmaleins einbleuen zu lassen. Andere Schulen gab es dort nicht. Und gar Pestalozzischule? Nie gehört. Es klang wie ein Name einer Universität oder einer geheimen Verbindung. Aber ich ließ es mir nicht anmerken, daß ich die Worte des Knaben als Lügen durchschaute, sondern klemmte das Buch unter den Arm und sagte: „Hundert Taler!“ Die Bauern, die uns umstanden, brachen in verwundertes Gemurmel aus. „Hundert Taler“, flüsterten sie, „hundert Taler für ein Buch.“ Sie schauten mich an, als ob ich der liebe Gott persönlich wäre. Aber der Knabe schüttelte wieder den Kopf. „Ich kann es nicht verkaufen, es gehört mir nicht“, sagte er hartnäckig. „Und was soll ich mit hundert Talern?“ Er sagte es so fest und selbstverständlich, daß mir klar wurde, daß er mehr war als ein kleiner fremder Knabe. „Wo wollen Sie hin, mein Herr?“ fragte ich liebenswürdig. „Sie kommen aus Blumenthal, aber wo wollen Sie hin?“
„Nach Berlin“, antwortete für den Knaben das Mädchen. „Wir wollen, wenn es sich verlohnt, den König besuchen. Wir haben noch nie einen König gesehen.“ Nun, ich war auf dem Wege zum Schloß. Ich wollte zwar nicht zum König, sondern nur zum Intendanten von Klückerwitz. Der König war auch nicht in Berlin, er war in Sachsen bei seinen Truppen, aber das verriet ich nicht. „Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit“, sagte ich und machte eine einladende Bewegung zu meiner Kutsche hin. Sie nahmen das Angebot an und stiegen ein. Oeckersteen, sagte ich zu mir, wenn du denen nicht ihre Geheimnisse entreißen kannst, laß dich beerdigen. Sei klug, Oeckersteen, klug, vorsichtig und im richtigen Moment unbedenklich. Ich hatte, ehe ich durch jenes Dorf kam, gerade gefrühstückt, und der Korb mit den Vorräten stand noch offen da. Das kleine Mädchen sah die Eier und die gebratenen Hühner, den Prager Schinken und das knusprige Weißbrot, und es bekam leuchtende Augen. Ich erkundigte mich, ob es mir die Freundlichkeit erweisen würde, zuzulangen, und es ließ sich nicht lange bitten. Auch der Junge langte kräftig zu. Ich befahl dem Kutscher, recht langsam zu fahren, damit das Schaukeln sie nicht störe, und um Gelegenheit zu haben, sie noch gründlich vor unserer Ankunft kennenzulernen. Sie aßen jeder ein halbes Huhn, eine große Portion Gänseleber und viele Scheiben Brot. Vom Burgunderwein nippten sie nur, dann lehnten sie ihn ab. Bei ihnen zu Hause tränken Kinder keinen Alkohol, sagten sie, und ich konnte sie nicht davon überzeugen, daß Burgunder kein Alkohol ist. Das Mädchen hatte sich gerade ein großes Stück Brot in den Mund geschoben, und der Junge biß kräftig in eine Keule, da sagte eine tiefe Stimme: „HungerI“ Ich erschrak, denn es konnte unmöglich von einem der beiden Kinder kommen. Auch der Junge errötete, während das Mädchen unbekümmert weiteraß. Es war in allen Situationen kecker und unbefangener als der Junge. „Teepetepee hat auch Hunger“, sagte es schmatzend. Da holte der Junge einen großen roten Frosch aus seiner Hosentasche heraus und setzte ihn neben sich auf das Sitzpolster. Mesdames, Messieurs! Das war ein Frosch! Blutigrot, mit einem unverschämten breiten Maul und finsteren Glubschaugen. Das Seltsamste aber war, er trug drei große kräftige Hörner auf dem Kopf. Eines mitten auf der Stirn, die beiden anderen direkt über den Augen. Und groß — groß war das Tier, wie ein zwölfwöchiges Ferkel.
Es war zum Furchten! Ein amerikanischer Frosch! Und ich sage Ihnen, meine Herrschaften, wenn solche Dinge aus Amerika kommen, dann haben wir von diesem Erdteil noch Entsetzliches zu erwarten. „Groß wie ein zwölfwöchiges Ferkel?“ „Mindestens, mindestens so groß“, antwortete Herr Baron Oeckersteen. «Aber sagten Sie nicht, Herr Baron, der kleine Junge hatte ihn aus seiner Hosentasche hervorgezogen?“ Und wer nun denkt, daß er mit solchen zweiflerischen Fragen den Baron Oeckersteen in Verlegenheit bringen könnte, der kennt ihn nicht. «Das ist ja gerade das Fürchterliche! Er holte ihn aus der Hosentasche, da war der Frosch so lang wie meine Hand, kaum aber saß er, blies er sich auf, wurde dicker und immer dicker, bis er die Größe meines Jagdhundes hatte, und er bekam ein entsetzlich breites Maul! Aber das Unglaublichste war doch wohl, daß dieser Frosch sprechen konnte. Er war es, der Hunger geschrien hatte, und die beiden Kinder futterten ihn nun. Weißbrot mochte er nicht, Butterkuchen auch nicht. Ein Stück zartes Hühnerfleisch, na ja, es
ging gerade so, aber die Schüssel mit der Straßburger Gänseleberpastete, die fraß er aus und schmatzte und spuckte und leckte! „Das hat mir Kolma Puschi auch immer gekauft“, sagte er, „wenn er mal gut bei Kasse war.“ Ich hatte meine Angst überwunden, obwohl ich davon überzeugt war, daß der leibhaftige Gottseibeiuns sich da an meinen Vorräten sättigte, und wie ich sah, daß es ihm gut schmeckte, riskierte ich, ihn etwas zu fragen. „Wer ist Kolma Puschi“, fragte ich, „Herr Frosch, wenn es erlaubt ist?“ „Ein amerikanischer Seemann, ein Freund von mir, den ich auf tragische Weise verlor. Aber das war schon um die Jahrhundertwende. Lange her!“ „Oh!“ sagte ich, „zur Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges? Als Preußen Königreich wurde?“ Man ist doch ein gebildeter Herr, man kennt doch seine Geschichte. Da sagte er, nachdem er ein Weilchen nachgedacht hatte: „Nein, nein, nicht 1700,1900, unter Wilhelm zwei, dem letzten Hohenzollern!“ Ich habe mich zeit meines Lebens für einen aufgeklärten Menschen gehalten, aber ich muß sagen, in jenem Moment überrieselte mich ein kalter Schauer. Bis mir eine Erklärung einfiel. Natürlich! Sie kamen aus einem Lande, das sich nicht nach dem gregorianischen Kalender richtete. Lord Henley hat doch in seinen Reisebeschreibungen über solche Länder berichtet. Die Mohammedaner, die Juden, die Chinesen, sie sollen ja alle ihre eigene Zeitrechnung haben. Und nun wurde mir auch das Datum 1952 in dem Geschichtsbuch verständlich. Es waren Heiden, die in meiner Kutsche saßen. Und ich vergewisserte mich gleich. „Sind Sie, wenn Sie aus Blumenthal stammen“, fragte ich, „Angehöriger der evangelischen Landeskirche oder gehören Sie zu den Reformierten?“ „Evangelische Landeskirche? Reformierte?“ fragte der Junge. „Ich weiß da nicht so Bescheid.“ „Wir sind gar nichts“, sagte das Mädchen. „Sie sind nicht getauft?“ fragte ich in möglichst heiterem und beiläufigem Ton, aber es überlief mich doch wieder kalt und heiß, als ich auf die Antwort wartete. „Nein“, sagte es, „wir sind in keiner Kirche.“ „Und wie kommen Sie zu Ihrer Schweizer Tracht?“ fragte ich den Jungen.
Die beiden lachten, aber sie wollten mir keine Antwort geben, und auch der Frosch kicherte. Da fiel mir etwas ein. Ich hatte in Frankfurt in der Bogenschützengasse das Handelshaus Aaron Rosenberg besucht. Ich gehe dort immer vorbei, wenn ich durch jene Stadt komme, und ich hatte für Dorothea, meine Jüngste, einen wunderschönen Rock gekauft. Achtzehn Ellen feinstes Tuch, hübsch bestickt. Ich ließ den Kutscher halten und den Koffer öffnen, holte den Rock hervor und zeigte ihn der Demoiselle. Er stand ihr reizend, paßte wie nach Maß gemacht. Und sie, eine echte Evastochter, drehte sich links, drehte sich rechts, bewunderte sich, streckte ihr kleines Füßchen heraus und hatte ihre helle Freude an diesem Bekleidungsstück. „Möchten Sie ihn behalten, Demoiselle“, fragte ich, und sie nickte eifrig und war ganz verliebt. „Stell dir vor, was die zu Hause staunen würden“, sagte sie zu ihrem Freund. „Stell dir vor, Karlemann, was sie in der Schule für Augen machen würden.“ „Den kannst du doch nicht in der Schule tragen“, sagte der Bengel mürrisch. „Aber hören Sie“, warf ich ein, „in Blumenthal! Blumenthal ist doch kein Dorf!“ „Kann ich ihn wirklich behalten?“ fragte sie. Und ich machte ein Gesicht, als ob mich mein großzügiges Angebot schon wieder etwas reute, runzelte die Stirn, zwirbelte meinen Bart, überlegte — und sah, wie sie schon ganz kribbelig wurde und daß sie die Ungewißheit kaum noch aushielt, da nickte ich endlich zustimmend. „Tauschen wir mit dem Buch“, schlug ich vor. „Sie geben das Buch, Demoiselle, ich gebe den Rock.“ „Gib ihm das Buch, Karl!“ befahl sie energisch. „Es gehört doch der Schule“, sagte der Pinsel. „Ach was“, rief sie ungeduldig. „Gib ihm das Buch! Ich behalte den Rock!“ Ja, und er blieb unschlüssig, und sie war drauf und dran, ihren Willen durchzusetzen. Ich überlegte gerade, ob die beiden vielleicht, trotz ihrer Jugend, verheiratet seien, es soll ja bei fremden Völkern solche Fälle von Kinderehen geben, da steckte der Frosch seinen dicken Kopf aus der Hosentasche, er hatte sich wieder klein gemacht, als wir aus der Kutsche stiegen, und war dorthin zurückgeklettert, da steckte er also seinen dicken Kopf hervor und blökte mit schrecklicher Stimme: „Halt! Das geht nicht! Wir könnten ohne das Buch nicht Weiterreisen!“
„Warum denn nicht?“ fragte das Mädchen. „Wenn wir etwas zurücklassen, kommen wir nicht fort“, erklärte er. „Das bringt Verwirrung in die Geschichte. Mitnehmen können wir, was wir tragen und bei uns haben, aber liegenlassen oder verschenken dürfen wir nichts.“ „Aber das Buch ist doch nur wenig wert“, sagte das Mädchen und war maßlos enttäuscht. „Das stimmt schon“, sagte der Frosch. „Selbst vom Krimkrieg steht nichts drin, obwohl ihn doch die Engländer und Franzosen führten, und von den preußischen Kriegen kein Wort, aber wir können es trotzdem nicht zurücklassen.“ „Vom Krimkrieg“, fragte ich, „Krimkrieg? Nie gehört.“ „1854“, sagte der Frosch. „Es fiel mir schon vor hundert Jahren auf, als wir uns in Friedrichsfelde mit einem Schäfer unterhielten.“ Ehrenwort! Er sagte es, wie ich es hier wiedergebe. Vor hundert Jahren, als wir uns mit einem Schäfer unterhielten, so als wenn es gestern gewesen wäre. Ich war entsetzt, aber es gelang mir, die Fassung zu bewahren. Um mich zu vergewissern, ob ich richtig gehört hätte, fragte ich den Jungen: „Und Sie waren dabei, mein Herr?“ Er nickte. „Vor hundert Jahren?“ fragte ich noch einmal. „Ja!“ brüllte der Frosch in flegelhaftem Ton. „Vor hundert Jahren“, und er schnitt ein grämliches Gesicht und zog sich wieder in die Tasche des Jungen zurück. Nun, wir wissen, was vor hundert Jahren war. Da war Brandenburg noch ein vergleichsweise kleines Ländchen und ein Kurfürstentum. Und sein Kurfürst hieß Friedrich Wilhelm, und der Dreißigjährige Krieg war gerade vorbei, und auf der Krim war meines Wissens Friede. Ich erinnerte mich daran und schüttelte verwundert den Kopf. Aber um die beiden Kinder nicht zu kränken, sagte ich so höflich und treuherzig wie möglich: „Mir ist von einem Krimkrieg vor hundert Jahren ...“ „Ach“, sagte das Mädchen und schnitt mir das Wort ab, „nicht hundert Jahre so lang...“, und es zeigte mit der Hand nach Köpenick, „hundert Jahre so lang ...“, und es zeigte nach Altlandsberg. „Nicht so lang... sondern so lang...“, sagte ich und verstand kein Wort. „Er kann es nicht begreifen“, sagte der Junge, „fahren wir weiter.“ Und das Mädchen schickte sich an, traurigen Blickes den Rock wieder auszuziehen.
„O nein!“ sagte ich. „Bitte, Demoiselle, behalten Sie ihn. Ich bin sicher, wir werden noch irgendwie einig werden.“ Und ich dachte mir, daß es gut sei, wenn wenigstens einer von den dreien schon auf meiner Seite stehe. Es war nicht schade um den Rock, wenn ich nur hinter ihr Geheimnis kam und das Buch erwarb. Und sie freute sich sichtlich da/über, sie bedankte sich und war glücklich, aber sie versicherte mir, daß sie das Buch nun leider nicht dafür geben könnten, da sie ja sonst nicht weiterkämen. „Nun“, sagte ich, „bis Berlin, und auch in Berlin sind Sie meine Gäste, vielleicht wollen Sie dort bleiben. Berlin ist besser als sein Ruf. Es ist eine lustige Stadt.“ Und sie stiegen wieder in meine Kutsche ein, und wir fuhren gemütlich die Frankfurter Landstraße hinunter nach Berlin hinein. Wie es in den Kriegsläuften so ist: Am Tor stand die Wache und fragte nach woher und wohin, und sie schauten in die Kutsche, ob etwas zu verzollen sei, und die Zöllner sahen die Kinder und wunderten sich über sie Der Junge sah auch zu possierlich aus in seinen kurzen Hosen. Das Mädchen in ihrem neuen Rock war ganz manierlich.
„Was soll dieser Aufzug?“ fragte der Zollsoldat und deutete auf den Jungen, und ich mußte lang und breit erklären, daß der Knabe es sich nur für die Reise so bequem gemacht habe und daß er sich in der Stadt natürlich bekleiden werde. „Er ist der Sohn eines englischen Lords“, flüsterte ich dem Vorsteher der Torwache ins Ohr, und da traute der sich nichts mehr zu sagen, denn es schien ihm wohl nicht ratsam, im damaligen Moment, wo wir so dringend auf die englische Hilfe angewiesen waren, bei Engländern Ärger zu erregen. Ja, und dann fuhren wir in Berlin ein, und die Kinder schauten aus dem Fenster und staunten über diese Stadt. So groß hatten sie sich das Nest nicht vorgestellt. Sie kicherten ständig vor Aufregung. Über die hohen Häuser der reichen Bürger brachen sie in Gelächter aus, und über den Gemüsemarkt vor dem Rathaus konnten sie sich nicht genug wundern. Sie bestaunten die Kleidung der Frauen und Männer, die Uniformen der Soldaten, die Kinder, die auf den Straßen spielten, die Häuser und Kirchen, die Kutschen und Pferde, die Marktfrauen und die großen Blumenstände an der Poststraße, als ob sie so etwas noch nie in ihrem Leben gesehen hätten. Ich bekam den Eindruck, daß sie zum erstenmal in einer Großstadt waren. Nur eine der Kirchen kannten sie. Der Junge deutete mit dem Finger darauf und rief: „Das ist die Marienkirche!“ „Sie kennen sie von Bildern?“ fragte ich. Er schüttelte den Kopf. „Sie haben sie schon früher einmal gesehen?“ fragte ich. „Nein, später“, sagte er ernsthaft. Und Sie können sich vorstellen, daß es mich gruselte bei solch einer Antwort. Ich ließ vor dem Schloß halten, und da ich dort gut bekannt bin, fürchtete ich nicht, die beiden Kinder, die ja den König sehen wollten, mitzunehmen. Wir gingen durch das große Eingangstor hinüber zum alten Flügel in das Dienstzimmer des Intendanten von Klückerwitz. Es erregte natürlich einiges Aufsehen, wie ich mit den beiden Kindern da so erscheine, aber die Wache salutierte nur, und es hielt uns niemand an. Sie kennen ja Klückerwitz. Er war damals schon derselbe, im Dienst ergraute, ein bißchen bedepperte und zwischen seinen Akten eingerostete Beamte, aber er war doch ein gebildeter, intelligenter Mensch und in manchen Dingen von überraschend schneller Auffassungsgabe. Wenn er nicht alles miterlebt hätte, würde ich heute noch glauben, nur geträumt zu haben. Ich hatte bei ihm zu tun, weil ich, laut königlichem Vertrag, an die Garnison von Frankfurt zwölftausend Liter Sprit im Quartal zu liefern habe. Als nun der Krieg begann, stellten sich die Leute dort quer.
Sicher, es sind in Sachsen große Mengen von Sprit in die Hände der preußischen Truppen gefallen, sicher, es waren auch kaum noch Soldaten in der Garnison Frankfurt zurückgeblieben, aber durften sie mir deshalb die Abnahme des dritten Quartals verweigern? Vertrag ist Vertrag, und wenn sie meinen Schnaps in die Oder schütteten, sie konnten ihn nicht zurückweisen, ich mußte zu meinem Gelde kommen. Ich war sicher, daß diese Kleinigkeit vom Intendanten Klückerwitz zu meiner Zufriedenheit geregelt würde, aber es war mir ganz lieb, mit diesen exotischen Kindern bei ihm zu erscheinen; dadurch bekam mein eigentliches Anliegen mehr Unbefangenheit und war nebenbei zu erledigen. Klückerwitz saß hinter seinem Tisch und staunte nicht schlecht, als wir eintraten. Er bot uns liebenswürdig Platz, und ich erzählte ihm, wo und wie ich die Kinder gefunden hatte, und erzählte von dem Geschichtsbuch des volkseigenen Verlages aus dem Jahre 1952, und der Junge holte es hervor und zeigte es. Klückerwitz blätterte darin herum und begriff genauso wenig wie ich. „Der Krieg, den wir eben begonnen haben“, sagte ich, „ist ein so geringes Unternehmen, daß er nicht darin verzeichnet ist.“ Klückerwitz fand das nicht verwunderlich. „Nun ja“, sagte er, „wenn Pirna fällt, Pirna, die Festung, in der das ganze sächsische Heer eingeschlossen ist, wenn Pirna fällt, ist Frieden. Wir rechnen jeden Tag mit der Siegesnachricht.“ Er las in dem Buch und schüttelte immer wieder den Kopf. „Man sollte es dem König schicken“, sagte er. „Wir könnten es erst mal ins Französische übersetzen lassen.“ Er starrte die Kinder streng an und fragte wie ein Examinator: „Wo haben Sie das her?“ „Es ist mein Schulbuch“, sagte der Junge, und es klang verstockt, aber auch etwas ängstlich. „Wieso ins Französische übersetzen?“ fragte das kecke Mädchen. „Damit der König es lesen kann!“ „Kann er denn nicht Deutsch?“ „Nein, er kann nicht deutsch lesen“, sagte Klückerwitz. „Ich dachte, er ist König in Deutschland“, sagte das Mädchen enttäuscht. „Dann können wir uns wohl auch nicht mit ihm unterhalten?“ „Sie sprechen nicht Französisch?“ fragte der Intendant verwundert, denn er hatte bislang die beiden für Kinder gutsituierter Eltern gehalten.
„Nur unser Frosch spricht Französisch“, sagte das Mädchen. Klückerwitz runzelte die Stirn und überlegte, ob das wohl Spott oder Majestätsbeleidigung sei. Der Junge aber holte seinen Teufelsfrosch aus der Hosentasche, setzte ihn vor Klückerwitz hin und sagte: „Er könnte um alles übersetzen.“ „Naturellement“, meinte der Frosch gravitätisch. Klückerwitz war entsetzt und bemühte sich, keine Furcht zu zeigen. „Beißt er?“ fragte er etwas verdattert und zeigte auf das Untier. Der Frosch lachte. „Hohoho!“ Und die Kinder schüttelten den Kopf. „Es ist ein brasilianischer Hornfrosch“, erklärte der Junge, und der Frosch nickte bestätigend. Nun ist es ja an und für sich nicht so verwunderlich, daß Tiere sprechen. Der König selbst hat einen weißen Ara, mit dem er sich unterhält, wie mit einem Menschen. Und der Pastor Grüning aus Mittenwalde hat eine zahme Dohle, die „Guten Morgen“ wünschen kann, aber ein Frosch... und ein so abscheulicher, ein so teuflischer, der nicht nur zu sprechen versteht, sondern der auch offensichtlich alles begreift, was man selbst sagt... der die Kinder berät und der lauthals lacht, wenn man fragt, ob er beiße... Klückerwitz war so außer Fassung, daß er eine Pfeife rauchen mußte, um wieder zu sich zu kommen. Er holte sie hervor und stopfte sie, und ich sah am Zittern seiner Hände, wie sehr er aus der Fassung geraten war. Dann suchte er unter seinen Akten nach Feuerstein und Zunder und begann Feuer zu schlagen. Aber sei es, daß er nun zu aufgeregt war, sei es, daß der Zunder feucht geworden, er brachte ihn nicht zum Glimmen, so sehr er sich auch bemühte. Da holte der Junge ein buntes Kästchen aus seiner Hosentasche, öffnete es, entnahm ihm ein Stückchen helles Holz, rieb ein wenig damit am Kästchen und hatte flackerndes Feuer in der Hand. „Bitte sehr“, sagte er höflich und reichte es dem alten Klückerwitz über den Schreibtisch hinüber. Dem fiel vor Entsetzen die Pfeife aus dem Mund. Er hob abwehrend beide Hände und lehnte sich weit zurück. „Wie haben Sie das Feuer zustande gebracht?“ fragte ich, da ich an die Absonderlichkeiten der Kinder ja schon gewöhnt war. Ich hob die Pfeife vom Boden hoch, nahm das brennende Hölzchen und setzte sie in Gang. Dann reichte ich sie dem Intendanten. „Streichhölzer“, sagte der Junge und hielt sein Kästchen hoch. „Darf ich mal bitten?“ fragte ich. Er gab sie mir. Ein leichtes buntes Kästchen, voll mit weißen Hölzchen, die alle einen roten Kopf hatten,
und diesen roten Kopf brauchte man nur einmal am Kästchen zu reiben, es dauerte keinen Augenblick, dann brannte schon helles Feuer. Der Junge machte es mehrmals vor, es klappte immer. Sie werden vielleicht darüber lachen, Sie werden es mir nicht glauben, aber es klappte wirklich immer. „Offensichtlich eine neue Erfindung“, sagte ich zu Klückerwitz und reichte ihm das Kästchen hinüber. Er hielt es verstört in der Hand und drehte es hin und her. Es hatte nichts Teuflisches an sich. „Spiele mit, gewinne mit Zahlenlotto“ stand darauf gedruckt. Und ganz klein an der Seite standen noch einige Buchstaben. „DZA Werk Coswig/A.“ Vielleicht waren diese Buchstaben das Abzeichen des Teufels? „Was heißt DZA?“ fragte Klückerwitz flüsternd. Da stellte es sich heraus, daß auch die Kinder es nicht wußten. „Teepetepee“, fragte das Mädchen, „weißt du, was DZA heißt?“ Der Frosch schüttelte den Kopf. „Es ist irgendeine Abkürzung. Coswig ist wahrscheinlich die Stadt, in der das Zündholz gemacht wurde“, sagte der Junge.
„Coswig/A. Coswig in Anhalt?“ fragte Klückerwitz flüsternd. Der Junge nickte. „Ob Fürst Leopold von Dessau davon Kenntnis hat?“ fragte Klückerwitz weiter. „Ich glaube nicht“, antwortete der Frosch. „Oeckersteen“, sagte Klückerwitz leise, und seine Augen traten ihm fast aus dem Kopf heraus. „Oeckersteen, ist Ihnen klar, was für eine Bedeutung diese Erfindung für unsere gesamte Armee haben kann?“ Er war eben durch und durch Offizier und Intendant, dieser Mann. Mir aber fiel es wie Schuppen von den Augen. Stellen Sie sich vor, wie die preußischen Soldaten schießen könnten, wenn sie mit solchen Kästchen ausgerüstet wären. Einer schüttet das Pulver auf die Pfanne, der zweite steckt es an. Pffft! Der Schuß geht los. Alle zehn Sekunden ein Schuß! Keine Armee der Welt könnte dem widerstehen. Und das Kästchen sah so einfach aus, wie Spielerei, und war doch eine der größten Umwälzungen auf dem Gebiete der Kriegswissenschaft. Es bedeutete den Sieg für Friedrichs Fahnen. Und was für Geld konnte man damit machen, wenn man dieses Geheimnis in seinen Besitz brachte! Das alles ging mir blitzartig durch den Kopf, und mir war sofort klar, daß diese Streichhölzer, wie der Junge sie nannte, eine noch größere Bedeutung hatten als das Geschichtsbuch vom Verlag Volk und Wissen, das ja augenscheinlich doch nur Unsinn enthielt. Aber mir war gleichzeitig klar, daß die ganze Sache nicht ungefährlich war und daß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diese Kinder und der Frosch, hauptsächlich aber der Frosch (vielleicht waren sogar die Kinder nur seine Diener und Sklaven), über magische Kräfte verfügten, deren wir noch nicht gewahr geworden waren. Da verdarb der Intendant Freiherr von und zu Klückerwitz in seinem Beamtenhochmut und unangebrachten Dünkelwahn alles und ganz und gar. Plötzlich, und es schien, als erwachte er aus dem Schlaf, richtete er sich hoch, nahm Haltung an, steckte die rechte Hand in den Schlitz der Uniformjacke und schnarrte los. „Äääaä! Im Namen des Königs! Äääää! Im Namen Seiner Majestät, des Kurfürsten von Brandenburg und Königs von Preußen! Sie sind festgenommen! Ihr Eigentum verfällt der vorläufigen Beschlagnahme! Nach Paragraph 337 Absatz 2 und 4 der königlichen Kabinettsorder vom zwoten Julei anno domini 1702 und der Paragraphen 3087 folgende des kurfürstlichen Edikts anno domini 1651 und der königlichen Ergänzungserlasse römisch 36 anno domini...“
Er hätte wahrscheinlich noch lange so weitergeschnarrt, denn er war nicht nur ein braver Offizier, sondern auch ein guter Jurist, wenn der Frosch nicht plötzlich sein Maul aufgetan, sein riesiges gewalttätiges Maul und ein Dröhnen von sich gegeben hätte, als wenn hundert Ochsen in einem Hofe schreien. Sein Gebrüll war so fürchterlich, daß ich mich an meinem Sessel festhalten mußte, um nicht davongeweht zu werden, und daß ich den Mund öffnete, damit mir nicht das Trommelfell platzte. Der von Klückerwitz aber redete noch ein paar Sekunden mechanisch weiter, ich sah es an seinen Lippen, die sich auf und zu bewegten, dann sank er auf seinen Stuhl, beugte sich entsetzt zurück und erbleichte, daß er aussah wie der weiße Tod. „Streichhölzer, Geschichtsbuch, her damit!“ schrie der Frosch, und der Knabe ergriff die Hölzer, das Mädchen das Buch, dann nahmen sie ihre Ledertasche, und der Knabe packte mit beiden Händen den furchtbaren Frosch, und ehe wir noch zur Besinnung kamen, waren sie aus dem Zimmer verschwunden. Der von Klückerwitz erfaßte als erster, was geschehen war, er sprang zum Fenster, riß es auf und schrie hinaus: „Wache! Wache! Zwei Kinder! Ein Frosch! Nicht hinauslassen! Sofort erschießen! Eine Abteilung mit geladenem Gewehr zu mir! Sofort schießen! Zwei Kinder und der Teufel, in Gestalt eines Frosches! Sofort schießen!“ Meine Damen und Herren! Sie können sich vorstellen, was im königlichen Schloß zu Berlin anging. Wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen rannten sie über die Gänge, durchsuchten alle Räume, verriegelten die Tore und schauten jeder Küchenmamsell unter die breiten Röcke. Genau vor unserem Fenster, im Lustgarten, stellten sie die drei Flüchtlinge. Und es blieb unerklärlich, wie diese Kinder aus dem Schloß heraus in den Lustgarten kommen konnten. Dort hatten zwei Kompanien der Garde exerziert, und als Alarm geblasen wurde, traten sie an und bildeten Karree. Genau zwischen beiden Karrees wurden die Kinder von einem Korporal gestellt. Wir lehnten weit aus dem Fenster, und es war ein Schauspiel wie in der Oper, von der königlichen Loge aus gesehen. Der Junge hielt den Frosch auf seinen Händen, und plötzlich begann der Frosch Feuer zu speien. Die Flammen schlugen aus seinem breiten Maul, und er schrie dazu, wie kein lebendes Wesen schreien kann. Der Korporal, er ist wegen seines Heldenmuts später zum Feldwebel befördert worden, wich entsetzt drei Schritte zurück, um von den Flammen nicht versengt zu werden.
Er zog seinen Degen, und es war, als wollte er dem Teufel damit zu Leibe rücken, aber dann besann er sich, wendete sich um und kommandierte: „Zur geschlossenen Salve legt an!“ Und die beiden Karrees der Garde führten das Manöver durch, als sei der Teufel tagtäglich ihr Gegner und stünde immer schon vor ihren Gewehren. Das erste Glied ging in die Knie, das zweite trat auf Lücke, sie hoben die Gewehre, sie luden, sie bliesen in die Lunte, sie warteten auf das Kommando, den Teufel zu erledigen, und der Korporal, der seinen Degen zum Himmel emporstreckte, brüllte mit mächtiger Stimme: „Gebt Feuer!“ Ja, da waren sie verschwunden, und niemand schoß. Wohin sollten die Soldaten schießen? Der Feind war fort, das Ziel war verschwunden, sie waren vom Erdboden verschluckt; vor meinen Augen, vor des Intendanten Klückerwitz's Augen, vor den Augen von zwei Kompanien der Garde, vor den Augen halb Berlins... Sie waren verschwunden. Und ob Sie es mir glauben, meine Damen und Herren, oder ob Sie es vorziehen, aufgeklärt zu lächeln und zu denken, ja, ja, der alte Oeckersteen, wer weiß, was er damals getrunken hatte, ich werde dieses Erlebnis nie, nie vergessen. Nichts ist grauenhafter, als am hellichten Tage dem Teufel zu begegnen.
9. Im Jahre 1656 — Karl der Alte und die Hexennette
Sie hatten noch die Karrees der bunten Soldaten vor den Augen und das laut gebrüllte „Gebt Feuer!“ in den Ohren, aber jetzt war der Platz menschenleer, und unordentlich von Gras und Sträuchern und Bäumchen bewachsen, so weit man sehen konnte. Sie schauten sich um zum Schloß. Auch dort war niemand. Es sah verwahrlost aus, und an den meisten Fenstern hingen schiefe, halbzerbrochene Fensterläden. Im Schloßhof lag ein großer, dampfender Misthaufen und auf ihm kratzten Hühner herum, wie man es noch manchmal auf alten Bauernhöfen sieht. Rechts floß die Spree. Über sie hinweg führte eine aus dicken roten Backsteinen gemauerte Brücke, und man konnte eine Straße hinuntersehen bis zur Marienkirche, eine Straße, die von niedrigen Häusern eingefaßt war. Aber auch diese Straße war menschenleer, und die Häuschen machten einen genauso verfallenen und verwahrlosten Eindruck wie das Schloß. Es war trübes Wetter und windig, aber es regnete wenigstens nicht. „Gott sei Dank, kein Mensch zu sehen“, sagte Peggi, nachdem sie sich umgeschaut hatte, „Karl, Karl, wo drehst du uns immer hin?“ Karl schaute sie an und bemerkte, daß sie Tränen in den Augen hatte. „Aber Peggi“, fragte er erschüttert, „warum weinst du? Peggi, es ist doch alles nur Spaß, und es ist doch noch alles immer gut gegangen.“ Peggi nickte. Sie wischte sich über die Augen und versuchte tapfer zu sein. „Was sind das nur alles für Menschen, denen wir da begegnet sind? Warum wollen sie uns verhaften, warum wollen sie uns totschießen, warum werfen sie uns mit Steinen?“ Karl wußte auch keine Antwort auf diese Frage. „Ich glaube, wir haben Pech“, sagte Teepetepee, „im Grunde werden die Menschen früher auch nicht viel anders gewesen sein, als sie es zu unserer Zeit sind. Aber außer dem Schäfer und seiner Tochter haben wir wirklich keine netten Leute getroffen, vielleicht noch die jungen
Burschen in Lichtenberg, die Soldat werden sollten. Hier und zu dieser Zeit scheint es nun überhaupt niemanden mehr zu geben. Es ist früher Nachmittag und wir stehen in der großen Stadt Berlin, aber weit und breit ist alles menschenleer. Wie erklärt ihr euch das?“ Karl wußte auch nicht, was er dazu sagen sollte. Sie gingen auf die Spreebrücke zu. Der Fluß war viel breiter, als sie es in Erinnerung hatten, und er war nicht mehr von steilen Wänden eingefaßt, wie im zwanzigsten Jahrhundert, sondern er floß durch grüne Wiesen hindurch, und dort, wo später der große Dom stand, war eine kleine halb verfallene Kapelle. Aber als sie oben auf der Brücke standen und auf das Wasser hinunterschauten und am Flußufer entlang, da sahen sie direkt am Wasser, vielleicht hundert Meter entfernt, eine weißrote Kuh grasen, und ein Stückchen hinter ihr, auf einem Hügel, saß ein Junge und schaute über den Fluß hinweg. Neben ihm im grünen Grase aber lag ein kleines Mädchen. Der Junge schien etwas jünger als Karl zu sein und das Mädchen etwas jünger als Peggi. „Stecke mich endlich in die Tasche, und dann geht mal hin“, sagte Teepetepee, „vielleicht gibt es auch unten am Fluß Regenwürmer.“ Mit den Erwachsenen war nicht gut Kirschen essen, das hatten sie am Baron Oeckersteen gesehen und noch mehr an dem Intendanten, zu dem er sie geführt hatte; mit Kindern war es auch nicht ungefährlich, Karl schmerzte noch der Kopf von den Steinen, die die Jungen von Lichtenberg nach ihnen geworfen hatten; ist es da verwunderlich, daß sie nur zögernd und mit etwas Herzklopfen zu dem Jungen und zu dem Mädchen an das Spreeufer hinuntergingen? Die Kuh sah sie zuerst. Sie hob den Kopf und muhte, da drehte der Junge sich nach ihnen um. Er bemerkte wohl am Verhalten der Kuh, daß jemand kam. Er sagte etwas zu dem Mädchen, aber sie verstanden nicht, was er sagte. Das Mädchen hob den Kopf und schaute ihnen auch entgegen, dann legte sie sich wieder auf den Rücken. Sie faltete die Hände unter dem Kopf und schaute in den Himmel. „Guten Tag“, sagte Karl. Der Junge nickte. „Guten Tag“, sagte auch Peggi. „Ja, ja“, sagte das Mädchen, „ein guter Tag.“ „Ich heiße Karl“, sagte Karl. „Wir sind fremd in Berlin. Wir sind eben erst gekommen. Eine merkwürdige Stadt...“ Er war verlegen und wußte nicht recht, wie er die Bekanntschaft der beiden Kinder machen sollte. Der Junge schaute ihn unfreundlich
und argwöhnisch an. Peggi setzte sich ins Gras. Es wird ja wohl nicht verboten sein, sich hinzusetzen, dachte sie trotzig. „Er heißt Karl“, sagte der Junge zum Mädchen, Das Mädchen lachte. „Wieso lacht ihr? Ist Karl ein komischer Name?“ „Ich heiße auch Karl“, sagte der Junge. „Es heißen nicht viel Menschen Karl in Berlin.“ „Er ist der einzige, der Karl heißt“, sagte das Mädchen. „Wie heißt du denn?“ fragte Peggi. „Und du?“ „Ich heiße Peggi.“ „Peggi?“ Sie waren beide etwas ungläubig. „Das ist doch kein Name.“ „Doch. Ein englischer.“ „Ihr seid Engländer?“ „Nein.“ „Holländer?“ „Nein, auch nicht.“ „Franzosen?“ „Nein, wir sind Deutsche.“ „Deutsche? Was ist denn das? Wo in Gottes Namen seid ihr denn nun her?“ „Aus Blumenthal.“ Sie kannten beide den Ort nicht. „In welchem Lande liegt denn euer Blumenthal?“ „Na hier! Bei Frankfurt/Oder.“ „Ist das dein Rock?“ fragte das Mädchen. Peggi schaute an ihrem Rock herunter, den sie von Baron Oeckersteen geschenkt bekommen hatte, und nickte. „Er ist ganz neu“, sagte das Mädchen. „Es ist ein sehr teurer Rock. Seid ihr von Stand?“ „Von was?“ „Seid ihr Standespersonen?“ Karl schüttelte den Kopf. „Ich heiße Annette“, sagte das Mädchen. Sie redete, ohne sich zu rühren, und sie betrachtete Peggi und Karl gelangweilt, so wie man auf etwas schaut, das einen nur ganz wenig, nur ganz am Rande interessiert. „Sie ist die Hexennette“, sagte Karl der Alte, und wir wollen den Karl aus dem 17. Jahrhundert Karl den Alten nennen, obwohl er sicherlich
nicht älter war als unser Karl Wunderlich. Und auch Karl der Alte schien sich jetzt nicht mehr für die Ankömmlinge zu interessieren. Er nahm ein Körbchen und ging zu einem Müllhaufen, der direkt neben dem Wasser lag. Dort begann er herumzuwühlen, und hin und wieder fand er auch etwas zwischen Asche und Scherben und tat es in seinen Behälter. „Hexennette heißt du?“ fragte Peggi, und sie war neugierig, warum das Mädchen so hieß. Aber Annette reagierte nicht darauf. Sie schaute träge auf Peggi, und sie machte schon den Mund auf, um zu antworten, aber dann unterließ sie es doch. Karl war es zu dumm, neben diesem unfreundlichen Mädchen zu sitzen und auf ein Wort zu warten. Er erhob sich und ging an den Fluß hinunter zu Karl dem Alten. Der sammelte Kartoffelschalen aus dem Müllhaufen, und er machte sie mit einem Messer ein bißchen sauber, ehe er sie in den Korb tat. „Wieso suchst du die Kartoffelschalen heraus?“ Karl der Alte schaute verblüfft hoch. „Was suche ich?“ „Kartoffelschalen!“
Karl der Alte schaute auf seine Schalen, dann schaute er auf den fremden Jungen, dann schüttelte er den Kopf. „Das sind Erdpommes“, sagte er. „Erdpommes? Nie gehört. Schalen von Kartoffeln sind das.“ „Kartoffeln kenne ich nicht“, sagte Karl der Alte. „Aber diese Dinger hier, die wirst du auch nicht kennen, die sind etwas ganz Neues, die hat noch nie ein Mensch gegessen. Ein ganzer Wagen davon ist erst vor vierzehn Tagen aus Holland gekommen. Der Kutscher hat für die Fahrt hundertvierzig Taler erhalten. Kein Mensch weiß, was es ist. Sie heißen Erdpommes.“ Er putzte mit einem Messer eine Schale sauber und steckte sie in den Mund. „Schmeckt ekelhaft“, sagte er. „Weiß der Teufel, was die vom Hofe daran finden.“ Er schaute zum Schloß hinüber und wunderte sich. Dann spuckte er die Schale wieder aus. „Nicht einmal die Ziegen fressen das Zeug“, sagte er. „Roh kann man das nicht essen“, sagte Karl. „Man muß es kochen.“ Karl der Alte wunderte sich, aber es leuchtete ihm sofort ein. „Dann schmeckt es besser?“ „Dann schmecken sie ganz gut. Aber das hier sind doch nur die Schalen. Ob die schmecken, weiß ich nicht.“ Der Frosch in der Hosentasche zappelte, und da fiel Karl dem Jungen wieder ein, daß er ja Regenwürmer suchen sollte. „Gibt es hier Regenwürmer?“ „Willst du angeln?“ Es hatte wohl keinen Zweck, den Frosch zu verstecken, wenn er die Regenwürmer aß, wurde er ja doch gesehen. „Ich habe einen Frosch, der muß welche haben“, sagte Karl und holte Teepetepee aus der Tasche hervor. „Zeig mal“, sagte Karl der Alte und kam näher heran. „Der ist aber schön“, sagte er, und es war am Tonfall seiner Stimme zu hören, daß Karl den Jungen um Teepetepee beneidete. Dann bückte sich Karl der Alte und hob einen großen Stein hoch, der direkt am Wasser lag, und es waren drei dicke Regenwürmer unter dem Stein. Teepetepee leckte sich die Lippen. „Gib sie her“, sagte er, und es klang so selbstverständlich, daß Karl der Alte sich erst darüber wunderte, als Teepetepee sie schon verzehrte.
Happ, happ, happ, drei Happse. „Herrlich“, sagte Teepetepee. „Wunderbar fette Würmer.“ Karl der Alte suchte weiter unter den Steinen am Fluß, und er brachte noch vier oder fünf Regenwürmer herbei, und Teepetepee verschlang sie alle. Dann war er satt und rollte zufrieden mit den Augen, blähte die Backen auf und hätte am liebsten gesungen. „Warum ist denn hier kein Mensch außer euch?“ „Auf dem Roßmarkt vor der Petrikirche wird heute eine Hexe verbrannt“, sagte Karl der Alte. „Da sind der Hof und alle Pastoren, der Propst und die ganze Stadt.“ „Und warum seid ihr nicht da?“ „Es ist Hexennettes Tante, die da verbrannt wird“, sagte Karl. „Und Hexennette will es sich nicht ansehen, sie hat es schon sehen müssen, als sie ihre Mutter verbrannten. So geht sie heute nicht hin, und ich leiste ihr hier Gesellschaft.“ „Warum wird ihre Tante verbrannt?“ „Sie ist eine Hexe.“ „Es gibt doch gar keine Hexen.“ Karl der Alte war beleidigt. Er schniefte verächtlich durch die Nase. „Müßt ihr ja wissen“, sagte er böse. „Wenn es keine Hexen gäbe, könnten sie ja auch keine verbrennen. Paßt bloß auf, daß sie euch nicht greifen, ihr mit eurem sprechenden Frosch. Da stellen sie euch gleich noch als Hexenmeister dazu.“ „Annettes Tante?“ fragte Karl, „und ihre Mutter haben sie auch ... Um Gottes willen ...“ Er war fassungslos und verstand es nicht. Er verstand nicht die Gemütsruhe, mit der Karl der Alte es erzählte. „Und heute nachmittag findet die Verbrennung statt?“ Karl der Alte nickte gemächlich. „Sie ist unschuldig“, sagte Karl, „sie ist ganz gewiß unschuldig.“ Und er wandte sich um und lief aufgeregt zu Annette. „Deine Tante wird heute als Hexe verbrannt?“ „Ja“, sagte Annette. „Sie ist doch unschuldig“, sagte Karl aufgeregt. „Wieso denn?“ fragte Annette schnippisch. „Wieso unschuldig?“ „Was hat sie denn getan? Weshalb wird sie verbrannt?“ „Sie hat es mit dem Teufel getrieben“, sagte Annette, und ihr hübsches zartes Gesicht bekam einen harten Ausdruck. „Jede Mitternacht kam der Teufel zu ihr.“
„Um Himmels willen“, sagte Karl der Jüngere jammernd. „Ich habe an so etwas nie geglaubt. Hast du es geglaubt, Peggi? Ich dachte immer, es sei Schwindel und Übertreibung, die ganze Geschichte mit den Hexenverbrennungen. Es gibt doch gar keinen Teufel! Und niemand kann hexen! Das ist alles Aberglaube und Lüge und Verdrehung! Und deine Mutter? Sie war ein unschuldiges Opfer!“ Annette lag lang auf dem Rücken und schaute zum Himmel hoch. Sie schaute den wehenden weißen Wolken nach, und sie hörte auf Karls Reden, und sie wußte nicht, was sie daraus machen sollte. „Es gibt Hexen“, sagte sie nachdenklich. „Mich werden sie auch mal als Hexe verbrennen. Ich weiß es genau. Sie warten schon darauf. In drei Jahren, in vier Jahren, ich kann machen, was ich will, ich kann es nicht ändern.“ „Aber du bist doch keine Hexe“, sagte Peggi erschüttert. Annette hob die Schultern hoch und lächelte gleichmütig. „Weiß man, warum der Teufel zu einem kommt?“ Sie setzte sich auf und sah Peggi an. „Er kommt bestimmt zu mir. Zu meiner Mutter kam er, zur Tante Sophie, der Schwester meiner Mutter, kam er, er kommt bestimmt zu mir. Sie werden auch mich verbrennen.“ Da war unweit von Blumenthal auf der Straße nach Berlin ein verwittertes Schild, auf dem stand geschrieben, daß hier an dieser Stelle im Jahre 1730 die letzte Hexe des Landkreises verbrannt wurde. Karl der Jüngere hatte es sich oft angesehen, und er hatte es nie ganz verstanden. Einmal hatte es ihm der Vater erklärt und einmal der Lehrer in der Schule, und sie hatten beide etwa dasselbe gesagt: Die Menschen damals waren verblendet, sie steckten tief im Aberglauben und in Dummheit. Viele unschuldige Mädchen mußten deshalb ihr Leben lassen. Und daran dachte er jetzt, als Annette vor ihm lag und versicherte, daß sie auch als Hexe verbrannt werden würde. Und wenn man ihr sagte, daß sie unschuldig sei, dann war sie beleidigt. „Das ist alles Unfug“, sagte Peggi plötzlich. „Wir gehen jetzt zum König und erklären ihm alles. Er wird es uns glauben. Es gibt keinen Teufel, es gibt keine Hexen, es kann kein Mensch auf einem Besenstiel reiten, es ist alles Unfug! Es ist Dummheit und Ungerechtigkeit, was sie deiner Mutter und deiner Tante angetan haben.“ „Zum König, zum König“, sagte Karl der Alte höhnisch, „zu welchem König wollt ihr denn gehen?“ „Zu dem König dort im Schloß.“
„Da sitzt kein König.“ „Wer denn sonst?“ „Der Kurfürst Friedrich Wilhelm.“ „Dann gehen wir zum Kurfürsten.“ „Der ist im Kriege! Vor Warschau! Mit neuntausend Mann und dreißig Geschützen.“ „Im Kriege!“ sagte Peggi, und sie verlor mit einem Schlage allen Mut. „Ist denn schon wieder Krieg?“ „Immer ist Krieg“, sagte Karl der Alte. „Dreißig Jahre hintereinander war Krieg, und sechsmal haben sie unsere Stadt zerstört. Dann dachten wir, es kommt Frieden, als sie in Osnabrück und in Münster zusammensaßen. Aber Pustekuchen! Es geht immer weiter. Jetzt schlagen sie sich in Polen.“ „Sechsmal haben sie eure Stadt zerstört?“ '„Früher war Berlin schön“, sagte Annette. „Meine Mutter hat mir alles erzählt. Früher hatten wir zwölftausend Einwohner, da waren wir eine große Stadt.“ „Und jetzt, wieviel Einwohner habt ihr jetzt?“ „Ich weiß nicht“, sagte Annette, „ein paar nur noch.“ „Etwa fünftausend“, sagte Karl der Alte. „Jedes zweite Haus ist eine Ruine.“ „Viel mehr Ratten als Menschen. Nichts zu essen .. .“ „Und der Kurfürst muß Krieg führen ... gegen den Kaiser, gegen die Franzosen, mit den Schweden, oder mit dem Kaiser, mit den Franzosen, mit den Schweden, alles egal, Hauptsache, er führt Krieg ...“ „Traurige Zeit“, sagte Peggi. „Ich habe den Eindruck, je weiter wir zurückkommen, desto schlimmer wird es.“ Und Karl öffnete seine Schultasche und holte sein Geschichtsbuch hervor. Und es begann zwar mit der englischen Revolution im Jahre 1640, aber von Berlin und dem Krieg von Warschau und vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm stand nichts darin. „Du kannst lesen?“ fragte Karl der Alte und es klang etwas neidisch. Karl nickte. „Du nicht?“ Karl der Alte schüttelte den Kopf. „Du auch nicht?“ fragte Peggi die Hexennette. Die lachte über diese Frage. „In welche Klasse geht ihr denn?“ fragte Peggi. Die beiden sahen sich verwundert an. In was für eine Klasse? Sie verstanden nicht, was Peggi meinte.
„Geht ihr nicht zur Schule?“ Sie schüttelten den Kopf. „Und ihr könnt wirklich nicht lesen?“ Woher sollten sie lesen können, wenn sie nicht zur Schule gingen. „Könnt ihr schreiben?“ Was dieses Mädchen für dumme Fragen stellte. „Könnt ihr rechnen? Sechs mal sechs ist sechsunddreißig, ist die Frau auch noch so fleißig, und der Mann ist liederlich ... könnt ihr das?“ „Aber Peggi, wie sollen sie rechnen können, wenn sie nicht zur Schule gehen?“ „So!“ sagte Peggi entrüstet, „nicht rechnen, nicht lesen, nicht schreiben, aber an Hexen glauben, an den Teufel, das könnt ihr. Und wenn sie eure eigene Mutter verbrennen, dann sagt ihr immer noch, sie war eine Hexe, und es ist richtig!“ Annette hatte sich aufgerichtet und schaute Peggi so neugierig an, als komme es ihr jetzt zum Bewußtsein, was für ein komischer Mensch dieses Mädchen sei, und auch Karl der Alte dachte angestrengt über ihre Worte nach. „Der Propst kann lesen und schreiben und rechnen“, sagte er langsam, „er kann sogar Latein und Griechisch und ist acht Jahre lang zur Schule gegangen, und er glaubt doch an Hexen und an den Teufel.“ „Wer ist der Propst?“ „Der Propst von St. Marien.“ „Der oberste Pfarrer.“ „Herrje“, sagte Peggi. „Die Pfarrer leben doch davon, daß sie euch den Teufel an die Wand malen! Wird dir der Propst sagen, ob er wirklich an ihn glaubt?“ „Ich weiß, was ihr seid“, sagte Annette, „ihr seid Heiden, ihr seid Zigeunerkinder, ihr seid keine Christenmenschen. Es werden alle verbrannt, die mit dem Teufel verkehren, und es ist vielleicht doch besser, ihr zieht weiter, als daß ihr hier mit uns herumsteht.“ „Ich will nach Hause“, sagte Peggi verzweifelt. „Ich habe von der Zeit genug, von aller Vergangenheit und immer und immer ... ich will keinen König, der Pirna belagert, und ich will keine Prinzessin, die uns durch eine Stielbrille ansieht, und ich will keinen Kurfürsten, der vor Warschau kämpft und der uns verbrennen läßt, weil wir mit dem Teufel verkehren ... ich will nach Hause! Hörst du!“
Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Ich will nach Hause! Ich habe genug von dieser Reise.“ Und Peggi war so böse und erregt, daß sie am liebsten geheult hätte. „Ich will diese zerstörte Stadt nicht sehen“, sagte sie, „ich will diesen Scheiterhaufen nicht sehen, und ich will dieses Mädchen nicht mehr sehen, dessen Mutter sie als Hexe verbrannt haben und dessen Tante sie heute verbrennen und die trotz allem an Hexen glaubt! Ich will sie nicht mehr sehen, ich will nach Hause.“ „Reg dich bitte nicht so auf, Peggi“, bat Karl. „Warum regst du dich auf? Es ist doch kein Grund vorhanden, außer daß die Vergangenheit so schäbig ist... Soll mir noch einmal einer von der guten alten Zeit erzählen... Ich dreh vierhundertmal, und wir sind zu Hause. Wir stehen hier vor dem Bahnhof Marx-Engels-Platz, wir haben noch das Fahrgeld, wir sind mit der S-Bahn in einer Stunde daheim. Komm, faß mich an, Peggi, Teepetepee, wir reisen nach Hause.“ Sie setzten sich in das Gras. Annette und Karl der Alte standen vor ihnen und schauten ihnen verständnislos zu. „Auf Wiedersehen, Annette“, sagte Peggi. „Auf Wiedersehen, alter Karl“, sagte Karl, und Karl der Junge wollte gerade am Horn des Frosches zu drehen beginnen, da schrie Peggi auf. „Halt, halt!“ schrie sie. Und sie schaute Karl dem Jungen ins Gesicht. „Soll ich ihr nicht meinen schönen Rock schenken?“ fragte sie. Karl der Junge schaute auf Annette. Der blaue Leinenrock, den sie anhatte, war so zerfetzt, daß man ihre braunen Beine überall durchscheinen sah. „Mach das“, sagte Karl der Junge. „Wenn sie auch an Hexen glaubt, sie hat es schwer genug. Schenk ihr deinen Rock.“ Aber Annette wollte ihn nicht haben, und sie wehrte entsetzt ab. „Weiß ich denn, wer ihr seid?“ fragte sie. „Vom Teufel einen Rock, so fängt es an.“ „Behalte ihn, Peggi“, sagte Teepetepee traurig. „Es ist besser für unsere Reise, und du siehst ja auch, es ist nichts mit ihr anzufangen.“ Da setzte sich Peggi wieder hin, und Karl begann zu drehen. Vierhundertmal drehte er, und er zählte eifrig, damit sie auch im richtigen Jahr nach Hause kämen. Und es wäre ja auch alles gut gegangen, wenn Karl und Peggi und der Frosch sich nicht so geirrt hätten. Von 1656 bis 1956 sind es bekanntlich nicht vierhundert, sondern nur dreihundert Jahre. Wie war solch ein Irrtum möglich? Sechs mal
sechs ist sechsunddreißig, ist die Frau auch noch so fleißig, und der Mann ist liederlich... wir wissen es nicht, aber beim Rechnen ist jeder Irrtum möglich, auch der dümmste. Sie kamen also nicht nach Hause, wie Peggi es so sehnlich wünschte. Aber wo kamen sie hin, wenn sie von 1656 vierhundert Jahre weiter reisten?
10. Im Jahre 2056 — Karl und Peggi im Lichte der Wissenschaft
Es kam ihnen gleich bedenklich vor, das muß man zu ihrer Rechtfertigung sagen. Vor ihnen floß die Spree, das stimmte, und sie war auch nicht mehr solch blauer Feld-, Wald- und Wiesenfluß wie im Jahre 1656, sondern sie zwängte sich altbekannt graubraun und stinkend zwischen hohen Uferwänden durch die Stadt. Und es standen auch Angler da und hielten ihre langen Stöcke ins Wasser, das war genauso wie immer. Aber hinter ihnen, dort, wo 1956 die Ruinen der Börse und der alten Garnisonkirche waren, dort stand ein riesig hohes Gebäude. Irgend etwas konnte also nicht stimmen, irgend etwas war schiefgegangen. Karl steckte erst einmal den Frosch in die Hosentasche, denn es liefen auf dem Vorplatz des Riesenhauses und an dem Spreeufer viele Menschen herum, und sie brauchten ihn nicht gleich zu sehen. Dann lehnten sich Peggi und Karl mit dem Rücken an das Geländer der Spree, legten den Kopf in den Nacken zurück und betrachteten den Wolkenkratzer. Es war ein merkwürdiges Bauwerk. Es sah aus wie das Alte Museum auf der anderen Seite des Marx-Engels-Platzes. Aber dieses Alte Museum, viele viele Male übereinandergebaut. Unten war es groß und massig, jedes Stockwerk höher wurde es aber zierlicher und kleiner. Es waren nur Säulen zu sehen, Säulen und Treppen, und in jedem Stockwerk, links und rechts an den Seiten, große Denkmäler
mit Löwen und Bären und Menschen und Pferden, bis obenhin. Es war ein über alle Maßen prächtiges Haus, und es reichte bis in die Wolken hinein. Sie zählten es ab, es war zweiundfünfzigmal so hoch wie das Alte Museum. Unten aber, über den untersten Säulen, wo bei dem echten Museum steht: Fridericus Guilelmus tertius ... oder so ähnlich, da stand schlicht und einfach, in ungeheuren Goldbuchstaben nichts als: Haus der Regierung. Und die Treppen hinauf und hinunter wimmelte es von Menschen. Auch Peggi sah sich das alles an, und es war ihr klar, daß entweder Karl sich verzählt hatte, oder das Froschhorn falsch ging, und daß sie nicht einfach zur S-Bahn laufen und nach Hause fahren konnten. Denn hier war immer noch nicht ihre Zeit. Aber das Haus der Regierung war so gewaltig und interessant, daß sie ihren Kummer vergaß und dass ihre Freude an Abenteuern wieder erwachte. „Ich hab sorgfältig bis vierhundert gezählt“, rechtfertigte sich Karl, und da rechnete Peggi zum erstenmal nach. Ach, du grüne Neune, sie waren im Jahre 2056. „Wir machen jetzt folgendes“, sagte Karl entschlossen, „wir fahren nach Blumenthal, stellen uns vor dein Haus und drehen hundert Jahre zurück. Dann sind wir ganz sicher wieder daheim. Es ist das einfachste, nicht wahr? Es ist auf jeden Fall besser, als wenn wir hier noch lange herumprobieren, und außerdem sehen wir dann noch ein bißchen, wie die Welt in hundert Jahren aussehen wird.“ „Das Haus der Regierung ist schon mal ganz schön“, sagte Peggi, „wenn es auch ein bißchen komisch wirkt mit all seinen Säulen und Treppchen.“ „Psst!“ sagte jemand neben ihnen. Da stand ein Angler, und er legte den Finger auf den Mund. Als Karl ihn sah, glaubte er, Peggis Vater vor sich zu haben. „Dort steht dein Vater“, sagte er und stieß Peggi an. Der Angler hörte es und drehte sich erstaunt um, dann lachte er, und Peggi lachte auch. Natürlich, der alte Mann hatte in der Art, die Angelrute zu halten und den Kopf zu neigen, etwas Ähnlichkeit mit Peggis Vater, aber er war doch ein ganz anderer Mensch. „Entschuldigen Sie“, sagte Peggi, „aber warum sagten Sie psst?“ „Es ist besser, ihr sprecht nicht so laut“, antwortete der Angler. „Wieso denn?“ fragte Karl, „darf man nicht sagen, was man denkt?“
„Man muß sogar sagen, was man denkt“, antwortete der Angler. „Also warum psst?“ „Das Haus ist doch Kunst“, sagte der alte Mann, und er wunderte sich sichtlich, daß die Kinder es nicht wußten. Es waren wahrscheinlich Fremde, die von weither kamen. „Über Kunst redet man doch nicht so leichtfertig.“ Karl und Peggi verstanden ihn nicht. Es war wohl überhaupt schwer, Menschen zu begreifen, die früher oder später als wir gelebt haben. Doch plötzlich fing der Angler einen Fisch, einen Barsch, und wer schon einmal einem Angler an der Spree zugesehen hat, der weiß, daß dies ein aufregendes und ungeheuer seltenes Ereignis ist. Die Angler von links und rechts kamen angelaufen, und auch viele Leute, die aus dem Haus der Regierung kamen oder in dieses Haus hinein wollten, machten kehrt und rannten zur Spree und zu unserem Angler. Peggi und Karl standen unvermutet schnell in einem Menschengewühl.
„Ist tatsächlich noch einer drin gewesen?“ fragte ein junger Mann kopfschüttelnd und wollte es gar nicht glauben, obwohl der Barsch dicht vor seiner Nase baumelte. „Im Frühling hat auch einer einen gefangen“, erzählte eine Frau, die ein Marktnetz mit Spinat trug. „Er hat ihn aber wieder hineingeworfen.“ „Vielleicht ist es derselbe.“ Nein, die Frau wußte es besser, es war nicht derselbe Fisch, damals war es eine Plötze gewesen. Und während die Leute miteinander stritten und das seltene Ereignis diskutierten, drückten sich Karl und Peggi vorsichtig aus dem Menschenhaufen heraus und gingen zum S-Bahnhof hinüber. Sie wollten nach Blumenthal fahren, und damit begann ihr Pech im 21. Jahrhundert. Als alles vorbei war, und als schon lange die Sache Karl/Peggi I 56 17 zu den ungeklärt gebliebenen Fällen gerechnet wurde, machte sich Professor Gäntzsche daran, diese Angelegenheit noch einmal sorgfältig zu durchleuchten. Er suchte alle Menschen auf, die mit dieser Angelegenheit in Berührung gekommen waren, und nahm ihre Aussagen auf. Es sind so viele unbescholtene, ehrliche Zeitgenossen, die dazu aussagten, daß an der Glaubwürdigkeit des an ein Wunder grenzenden Vorgangs nicht gezweifelt werden kann. Wir bringen im folgenden einige Ausschnitte aus diesem Material, das zur Zeit, weil es dunkel und unerklärlich geblieben ist, im religionswissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität aufbewahrt wird. I. Aussage des Wachgesellen Andreas Schröder, tätig im Polizeibereich III seit 27. August 2045. Ich hatte Schalterdienst im Bereich III am Marx-Engels-Platz und saß so und dachte nichts Böses, es war ein ruhiger Nachmittag, da kam ein Junge von schätzungsweise vierzehn Jahren an meinen Schalter heran, knallte ein Geldstück hin und rief: „Zweimal nach Blumenthal.“ Es ist ein Witz, der an meinem Schalter schon lange nicht mehr gemacht wurde. Wie jeder Mensch weiß, ist seit rund vierzig Jahren die S-Bahn außer Betrieb, weil sie ja wirklich ein vorsintflutliches Verkehrsmittel war.
Und wie jeder Mensch weiß, man sieht es auch weithin, sind die SBahn-Anlagen Gebirgs- und Steingärten geworden, um die Berlin von vielen Städten der Welt beneidet wird. Also, langer Rede kurzer Sinn, ich dachte, da macht ein Dummer einen Witz mit mir, und überlegte, was ich unternehmen sollte, da fiel mein Blick auf das Geldstück, das der Junge vor mich hinknallte, und ich sah, daß es eine alte deutsche Mark war, wie sie schon seit Jahrzehnten außer Kurs ist. Mein Bruder ist Münzsammler, ich kenne mich da ein bißchen aus. Hallo, dachte ich, das ist aber ulkig, der hat seinen Witz gut vorbereitet. Ich guckte durch das Fenster, da stand auch noch ein kleines Mädchen, und da sah ich, daß sie beide, Junge und Mädchen, in Kostüme aus der ersten Anknüpfzeit gekleidet waren, nach der Mode der Zeit nach den faschistischen Kriegen. Ich saß und überlegte. Was sollte ich tun? Was war los? Der 11. September ist doch kein Faschingstag? Was konnte das sein? Da wurde der Junge unhöflich und rief mit lauter Stimme: „Hören Sie nicht! Zweimal nach Blumenthal!“ „Einen Moment“, sagte ich und machte meinen Schalter zu, rannte hinaus und traf die beiden noch in der Halle an. „Kommen Sie doch mal mit hinein in die Diensträume“, sagte ich höflich und korrekt. Da bekamen die beiden runde Augen vor Angst und schlechtem Gewissen und rannten los. Flucht vor der Staatsgewalt, Vergehen nach § 3714 ff. PStGB. Ich rief den Kollegen am Hackeschen Markt an, und der verhaftete sie. Wir machten ein kurzes Protokoll, bei welchem die beiden Jugendlichen sich in die unglaublichsten Lügen verstrickten, und überführten sie dann nebst einem brasilianischen Hornfrosch männlichen Geschlechts, welchen der Junge in der Hosentasche bei sich trug, in das Jugenddurchgangsheim Möllendorffstraße. Beide Kinder machten auf mich während des Verhörs einen schwer geistesgestörten Eindruck. Wie ich erst viel später durch die Anzeige im Fahndungsblatt erfuhr, ist es ihnen trotzdem gelungen, aus dem Durchgangsheim Möllendorffstraße zu entweichen.
II. Aussage des Dr. Gottlieb Schnappsick, leitender Arzt im Jugenddurchgangsheim Möllendorffstraße seit dem 1. 4. 2038. Die beiden Kinder wurden etwa gegen 16 Uhr zur Untersuchung vorgeführt. Sie machten körperlich einen gesunden, leidlich gepflegten Eindruck, geistig aber waren sie in einer äußerst bedenklichen Verfassung. Sie weinten, weil man ihnen einen Frosch weggenommen hatte, und sie verlangten ihn unbedingt zurück, sonst seien sie verloren. So sagte der Junge wörtlich: „Wir sind verloren, wenn wir ihn nicht wiederbekommen.“ Der Erzieher Kurt Waschke hatte die Aufnahmeformalitäten zu erledigen, und er überwies den Frosch unverzüglich dem Tierpark. Kinder hier, Tiere dort, sagte er, und ging von diesem Standpunkt nicht ab, auch als die beiden Neuankömmlinge Zeter und Mordio schrien. Der Frosch ließ sich auch widerstandslos hinwegbefördern. Die Kinder behaupteten, hundertzehn und hundertvierzehn Jahre alt zu sein, und mit Hilfe dieses Frosches eine Reise durch die Zeit unternommen zu haben. Sie ließen sich von dieser skurrilen Behauptung durch keinerlei logische Einwände abbringen. Also sind es Geistesgestörte? Liegt hier ein klarer Fall von Schizophrenie vor? So einfach war es leider alles nicht. Da war zuerst ihre Kleidung. Sie stammte einwandfrei aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Nun gut, sie kann aus irgendeinem Theaterfundus stammen. Dann war da ihr Geld. Es waren Münzen der ersten Deutschen Demokratischen Republik, Prägejahr 1950 und 1952, das konnten sie aus der gleichen Quelle haben. Aber da war noch eine Schultasche, und sie enthielt Hefte und Schulbücher, die ohne Zweifel völlig echt waren und aus dem Jahre 1956 stammten. Und da war ihre Ausdrucksart, ihre Sprache. Sie redeten, wie unsere Großväter und Urgroßväter es taten. Doch das Verblüffendste war für mich, daß sie nach der alten Orthographie schreiben konnten. Wer die alte Orthographie kennt, der weiß, daß sie nicht von heute auf morgen zu erlernen ist, daß die Menschen damals Jahre, Jahrzehnte und ihr ganzes Leben lang daran lernten und sie doch nicht fehlerfrei beherrschten. Diese beiden Kinder nun schrieben sie mühelos.
Es ist schwer, dafür eine Erklärung zu finden. Hinzu kam ihre Unkenntnis der heutigen Zeit, und ihr erstaunliches Wissen um die Verhältnisse in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Der Junge zum Beispiel zählte die alten S-Bahn-Stationen von Friedrichstraße bis Erkner, die heute bestimmt kein Mensch mehr wissen kann, fehlerlos her, doch von unseren Lufttaxiplätzen kannte er keinen einzigen. Das Mädchen behauptete allen Ernstes, ein Taschentelefon noch nie in ihrem Leben weder besessen noch gesehen zu haben, und so bekannte Formeln wie für Aluminium, Nikofer und Duratan waren ihnen vollkommen unbekannt. Meines Erachtens steht die Wissenschaft hier vor einem Rätsel. Nachdem ich mich mehr als zwei Stunden mit ihnen beschäftigt hatte und nachdem es mir gelungen schien, ihre Aufregung und ihren Schmerz um den Frosch zu besänftigen, übergab ich sie dem Pädagogen Klaumann zur weiteren Behandlung. Ganz privat gesprochen bin ich der Meinung, daß diese Kinder Akteure einer großangelegten Mystifikation sind, daß sie in irgendeiner Klosterschule oder in einem Geheimorden dazu erzogen wurden, unser streng wissenschaftliches Weltbild ins Wanken zu bringen, und daß bei diesem Attentat, man kann das Unternehmen wohl so nennen, mit größter Umsicht und Schläue vorgegangen wurde. Ich halte diese beiden Kinder nicht für geisteskrank, sondern für außerordentlich gefährliche und raffinierte Verbrecher. Aber ich möchte noch einmal betonen, daß dies meine ganz persönliche und private Meinung ist. III. Aussage des Pädagogen Alfons Klaumann, stellvertretender Cheferzieher des Jugenddurchgangsheims Möllendorffstraße seit dem 4.4.2055. Ich möchte gleich anfangs betonen, daß ich über den Fall Karl/Peggi/ Hornfrosch vollkommen anderer Meinung bin als unser bewährter Mediziner Dr. Schnappsick. Meines Erachtens muß man diesem Fall mit den modernsten Erkenntnissen der Pädagogik zu Leibe gehen, zumal es mir gleich zu Anfang gelang, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Ich rief 007 an. 007 ist bekanntlich die Nummer unseres Antwortinstitutes, eines, wie man wohl ohne Übertreibung sagen kann, der besten Antwortinstitute der Welt. Ich jedenfalls habe noch nie gehört, daß jemand dort eine mögliche Frage stellte, die nicht beantwortet wurde.
Als ich mir also die Erzählungen der beiden Kinder vorspielen ließ und die polizeilichen und Aufnahmeprotokolle abhörte, fiel es mir ein, an 007 folgende Frage zu richten: Gibt es in der Geschichte, in Sage, Mythe oder Literatur einen Fall, daß zwei Kinder zusammen mit einem Tier eine Reise durch die Zeit unternehmen? Sie wissen, die längste Wartedauer beträgt fünfzehn Minuten. Wenn 007 in dieser Zeit eine gestellte Frage nicht beantworten kann, wenn alle siebentausend Beschäftigten des Instituts davor versagen, dann gilt sie als nicht beantwortbar. Ich mußte vierzehn Minuten und zweiunddreißig Sekunden warten, dann bekam ich die Lösung. Da ist im Jahre 1957 in Berlin in einem Kinderbuchverlag ein Buch erschienen, das eine solche Erzählung enthält: Teepetepee oder die Wunderzeit, von Kolma Maier-Puschi. Ein Junge, ein Mädchen und ein Hornfrosch durchreisen die Zeit. Sie kommen auch, und das ist das Erstaunliche, im Jahre 2056 nach Berlin und werden hier ins Jugenddurchgangslager eingeliefert. 2056, nun ich denke, wir haben heute dieses Jahr. Und der Junge und das Mädchen und der Frosch, hier waren sie. Ich ließ mir das Buch sofort kommen, sah es mir an, und mir war alles klar. Diese beiden Kinder müssen es irgendwie in die Hände bekommen haben, und ihre Phantasie wurde dadurch ungemein angeregt. Sie rüsteten sich mit allem, was dazu gehörte, aus, selbst einen Hornfrosch also haben sie aufgetrieben, begaben sich auf den ehemaligen Bahnhof Marx-Engels-Platz und behaupteten, Reisende durch die Zeit zu sein, so wie es in jenem phantastischen Buch vorgezeichnet ist. Die Konsequenzen dieser meiner Überlegungen sind folgende: a) Die Kinder haben sich in ihre Rolle so eingelebt, daß mit größter Vorsicht vorgegangen werden muß, wenn man neue seelische Schäden bei ihnen vermeiden, und die bereits entstandenen heilen will. b) Es muß festgestellt werden, wer den beiden Kindern Zugang zu jenem alten Buch verschafft hat. c) Es sind Maßnahmen zu ergreifen, daß Vorgänge dieser Art sich nicht wiederholen können, so ist es zum Beispiel unbedingt erforderlich, es auf die Verbotsliste für Antiquariate zu setzen. d) Es sollte unverzüglich der pädagogische Rat zusammentreten, der sich mit diesem Fall auf der Grundlage meiner Untersuchungsergebnisse beschäftigt.
IV. Aussage des Professors Dr. Dr. Friedrich Weckerlein, Ordinarius für Pädagogik an der Humboldt-Universität Berlin. Als Vorsitzender des pädagogischen Rates des Jugenddurchgangsheimes Möllendorffstraße hatte ich Gelegenheit, mich mit den beiden Kindern Karl und Peggi eingehend zu beschäftigen. Beides sind Kinder mit einer übernormal entwickelten Phantasie, mit sehr großer Vorstellungskraft und einem ans Krankhafte grenzenden Geltungsbedürfnis. Ich wandte im Umgang mit ihnen alle meine pädagogischen Künste an, um ihr Vertrauen und ihre Offenheit zu erringen, aber immer, wenn ich mich am Ziel wähnte, verstrickten sie sich in einen neuen Wust von Lügen, aus denen ich sie nicht befreien konnte. Eine sehr große Rolle in allen ihren Aussagen spielte jener seltsame Frosch, der leider sofort nach ihrer Einlieferung in den Tierpark Friedrichsfelde gebracht worden war. Dieser Frosch sollte angeblich mit ihnen gesprochen haben, und sie waren durch nichts zu bewegen, von der Unsinnigkeit dieser Behauptung abzugehen. Auf meinen Vorschlag, den Frosch wieder herbeizuschaffen, reagierten sie mit offensichtlich geheuchelter Freude, denn es mußte ihnen doch klar sein, daß damit ihr Lügengebäude zusammenbrach. Wir schickten noch am selben Abend einen der Heimerzieher zum Tierpark, um den Hornfrosch zurückzuholen, da stellte es sich dann freilich heraus, daß er in ein Terrarium getan worden war, in dem bereits dreiundzwanzig andere brasilianische Hornfrösche wohnten. Dem Heimerzieher war es selbstverständlich nicht möglich, den am Nachmittag eingelieferten Frosch aus dieser Schar wieder herauszufinden. Er nahm einen beliebigen Frosch mit, in der Annahme, daß ein Frosch so gut wie der andere sei, leider war dieser Frosch aber ein Weibchen, und nun unterscheiden sich bei dieser Tierart die Weibchen von den Männchen bedeutend. Sie sind etwas größer und haben nicht, wie die Männchen, einen roten, sondern einen leuchtendgrünen Rückenstreifen. Als der Heimerzieher mit dem falschen Frosch aus dem Tierpark zurückkehrte, brachen beide Kinder in Tränen aus, ein Vorgang, der mir pädagogisch unklar blieb, aber sie waren ja überhaupt nervlich sehr erregt und labil.
Es war an diesem Abend zu spät geworden, um den Irrtum wiedergutzumachen, und wir verschoben die Gegenüberstellung der Kinder mit dem richtigen Frosch auf den nächsten Vormittag. Beide Kinder behaupteten übrigens, man brauchte am Terrarium nur nach Teepetepee zu fragen, dann würde sich der richtige Frosch melden. Die Heiterkeit, mit der wir auf diese seltsame Ansicht reagierten, führte zu nichts anderem als zu erneuter Verstörung und beleidigtem Sich-wieder-Verschließen der Kinder. Es war, wie gesagt, ein ungemein schwieriger Fall. Ein Rat von sechzehn Pädagogen, Heimerziehern und Beauftragten des Volksbildungsministeriums beschäftigte sich mit dieser Angelegenheit noch bis in die tiefe Nacht hinein, auch als die Kinder schon, nachdem sie mit Appetit Abendbrot gegessen hatten, längst schliefen. Der Rat stellte fest, daß der Fall dieser Kinder so gut vorbereitet war, daß tatsächlich in Blumenthal vor genau hundert Jahren an den angegebenen Adressen Kinder dieses Namens gewohnt haben. Diese Kinder können aber schon deshalb mit den
hier aussagenden Kindern nicht identisch sein, weil sie ein hohes Alter erreichten und als geachtete Bürger unseres Landes im Kreise ihrer Enkel und Urenkel sanft verstorben sind. Der pädagogische Rat nun setzte seine Hoffnungen auf das Experiment mit dem Frosch, das wir unter wissenschaftlich exakten Bedingungen durchzuführen beschlossen, um auf keinen Fall irgendwelchen Tricks oder sonstigen Machenschaften der Hintermänner dieser Kinder zum Opfer zu fallen. Alle Vorbereitungen wurden noch in der Nacht sorgfältig getroffen, aber unsere Mühen konnten, wie bekannt, nicht verhindern, daß wir trotzdem die Genasführten blieben. Da mich die Frösche interessierten, begab ich mich am nächsten Morgen selbst in den Tierpark. Der Heimerzieher, der am Vorabend schon dort gewesen war, stellte sich an das Terrarium. Die Frösche waren unter Pflanzen und Steinen verborgen und nahmen keine Notiz von uns. Er rief den Namen Teepetepee, und es scheint tatsächlich ein indianisches Wort zu sein, das auf diese Art von Fröschen erstaunlich wirkt. Von überallher kamen sie herangehoppelt, schauten uns aufgeregt an und drängelten sich vor uns an der Terrariumscheibe. Der Wärter Zempel, ein alter Mann, dessen Vater und Großvater schon diesen Posten innehatte, und der alle seine Tiere seit vielen Jahren kennt, staunte nicht weniger über dieses Experiment als wir. „Wer von euch ist Teepetepee“, fragte der Heimerzieher, und sie drängelten sich gegenseitig fort, und jeder von ihnen wollte Teepetepee sein. „Ihr Weibchen seid es doch auf keinen Fall“, schimpfte der Heimerzieher, und da geschah das Merkwürdige, ich kann es hier nur kommentarlos berichten, so wie ich es erlebt habe. Den Vorgang zu deuten, scheint mir Sache der Zoologen, da geschah also das Merkwürdige, daß alle grünen Weibchen sich wegwandten und das Interesse an uns verloren, während die Männchen sich weiter vor uns aufbliesen. Wir nahmen schließlich einen Frosch mit, der am heftigsten die anderen wegzudrängen versuchte, und als wir ihn den Kindern zeigten, erklärten sie ihn auch befriedigt für den richtigen. Der weitere Vorgang spielte sich aber nun folgendermaßen ab: Es war Mittwoch, der 12. September, vormittags neun Uhr. Wir hatten einen langen Tisch auf dem Hof aufgestellt. Auf dem Tisch standen zwei Stühle, auf diesen Stühlen nahmen die beiden Kinder Platz. Der
Knabe hielt seine Schulmappe auf dem Schoße, und der Frosch nahm darauf Platz. Er brauchte nicht festgehalten zu werden, sondern saß still und fast etwas schläfrig da. Um den Tisch herum standen der pädagogische Rat, Kameraleute, Vertreter der Presse, des Fernsehens, der Teleagenturen und die Zöglinge des Durchgangsheimes. Insgesamt mögen es wohl hundertachtzig bis zweihundert Menschen gewesen sein. Einzeln wurden beide Kinder noch einmal ermahnt, ihre Lögen einzugestehen. Es wurde ihnen eindringlich vor Augen gehalten, daß ein Mensch sich durch nichts mehr selbst beschmutzt als durch Unwahrheit. Der Junge machte einen etwas ängstlichen, ja fast schüchternen Eindruck, während das Mädchen keck und selbstbewußt alle Anwesenden musterte. Ich nehme an, daß der Junge, durch die Exaktheit unserer Vorbereitungen beeindruckt, Angst bekam, daß sein Trick mißlingen könnte, während das Mädchen, das wohl nur eine Statistenrolle dabei zu spielen hatte, denn der Junge betonte immer wieder, sie solle ja nicht versäumen, ihn anzufassen, unbeeindruckt und hartnäckig blieb. „Gleich wird sich eure Erzählung als Lüge herausstellen“, sagte ich beschwörend. „Was macht ihr dann? Werdet ihr dann immer noch darauf beharren? Werdet ihr euch nicht schämen, hier, vor zweihundert Menschen, solch einen Unsinn vorzuführen?“ „Also gut“, sagte das Mädchen, „wenn es nicht klappt, schämen wir uns.“ „Auf Wiedersehen!“ sagte der Junge, „ihr seid, ehrlich gesagt, schreckliche Leute, und ich habe mir die Zukunft ganz anders vorgestellt.“ Das Mädchen hob die Hand, winkte und sagte dabei: „Los, Karl! Drehe!“ Und der Knabe faßte an das Stirnhorn des Frosches, es gab einen kaum vernehmbaren, knackenden Ton, und Mädchen, Knabe und Frosch waren verschwunden. Wir Pädagogen standen sprachlos da. Die Naturwissenschaftler aber stürzten sich mit Feuereifer auf die Kameras und Filmapparate, Protonlichtbringer und sonstigen Werkzeuge und waren glücklich, endlich wieder einmal vor einem Rätsel zu stehen, das ihre Intelligenz in Anspruch nahm. Nun, leider reichte diese Intelligenz, wie bekannt, bis zum heutigen Tage nicht aus, jenes Rätsel zu lösen. Die Kinder blieben verschwunden.
Diese ganze Geschichte war ohne jeden Zweifel außerordentlich kompliziert, verwickelt und schwer durchschaubar. Was aber die Sache vollends merkwürdig macht, ist der Umstand, Professor Gäntzsche entdeckte ihn, als er den alten Angler an der Spree befragte, daß dieser Angler ein Enkelkind jenes Mädchens Peggi war, von der in dem Buch „Teepetepee oder die Wunderzeit“ behauptet wird, daß sie eine Reise durch die Zeit unternommen habe. Angenommen nun einmal den unmöglichen Fall, daß jenes kleine Mädchen, welches am 12. September 2056 in der Möllendorffstraße verschwand, die 1946 geborene Peggi aus Blumenthal war, dann stand neben dem Angler seine Großmutter in Gestalt eines zehnjährigen Mädchens. Wie der Angler aussagte, und das macht den Fall restlos geheimnisvoll, hielt der Knabe Karl den Angler für den Vater der Peggi. So daß also hier das Enkelkind für den Vater seiner Großmutter gehalten wurde. Und das ist doch gewiß recht merkwürdig.
11. Im Jahre 2356 — Ein großes Fest und die glückliche Heimkehr
Als Karl und Peggi erschienen, spielte das Orchester einen Tusch, und ein gemischter Chor von siebzig Knaben und siebzig Mädchen setzte brausend ein. Willkommen, willkommen, willkommen in unserer Zeit. Der Chor sang achtstimmig, und immer, wenn die eine Stimme mit den drei Willkommen fertig war, setzte die nächste Stimme ein. Willkommen, willkommen, willkommen, wir sind zum Empfang bereit. Dieser Kanon war eigens für die Ankunft von Karl und Peggi gedichtet und komponiert worden. Der Hof in der Möllendorffstraße war in einen Blumengarten verwandelt. Girlanden von Weintrauben zogen sich über den Platz hin, so daß jedes Kind, wo es auch stand, davon naschen konnte. Das einmalige Ereignis, daß zwei Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts zu Besuch kamen, wurde zum Anlaß eines der schönsten Kinderfeste, die je in Lichtenberg gefeiert wurden. Nachdem der Chor seine Darbietungen beendet hatte, setzte das verstärkte Kindersymphonieorchester, das heute aus eintausendzweihundert Streichinstrumenten altertümlicher Art bestand, mit einer Jubelmusik ein. Das Empfangskomitee, das die Kinder gebildet hatten, ging nämlich von der Voraussetzung aus, daß Karl und Peggi Schweres hinter sich hätten, daß sie von diesem Empfang überrascht sein würden und daß man ihnen durch die künstlerischen Darbietungen vor der Festansprache Zeit lassen müsse, sich zu sammeln und zurechtzufinden. Karl schaute auf Peggi, und Peggi schaute auf Karl, dann blickten sie beide fragend auf Teepetepee, aber auch der rieb sich mit seinem Hinterbein die Augen und war genauso verblüfft wie die Kinder. Es war das Überraschendste, was sie bisher auf ihrer Reise erlebt hatten. Sie waren erwartet worden. Sie wurden festlich empfangen, denn ohne jeden Zweifel waren sie gemeint mit diesem Begrüßungskanon, mit den Blumen, mit dem großen Orchester, mit all der Freude, die auf den Gesichtern der Kinder zu lesen war.
Ohne Zweifel, sie waren gemeint. Sie wurden nicht mit Steinen beworfen, sie sollten auch nicht erschossen oder verbrannt werden, sie wurden nicht verhaftet, sondern freudig begrüßt. Es regnete nicht, es war sommerlich warm, und alle diese vielen Tausend Kinder schauten sie strahlend an, sangen und musizierten und schwenkten ihre Blumensträuße und freuten sich. „Wie ist denn das möglich?“ flüsterte Peggi. Karl wußte es auch nicht. „Woher ahnten sie denn, daß wir kommen?“ Auch Teepetepee war vor Staunen sprachlos. „Ach, ist das schön“, sagte Peggi und schaute sich immer noch fassungslos um. Sie saßen auf zwei bequemen Sesseln, die auf ein Podium gestellt waren, und sie konnten den ganzen Platz überblicken. Das graue, häßliche Haus des Jugenddurchgangsheimes war verschwunden, sie saßen in einem großen Park, und zwischen alten, hohen Bäumen schaute hier und dort ein leuchtend farbiges, vielgeschossiges Haus hervor. Das Orchester spielte zu Ehren der Gäste die Zweite Kindersymphonie des alten Komponisten Dessau, ein herrliches Werk, das von dem Hochstand der Kultur in Karl und Peggis Jahrhundert Zeugnis ablegte. Karl und Peggi kannten diese Musik nicht, aber sie erschien ihnen über alle Maßen festlich und schön.
Doch was waren das alles nur für komische Kinder, die um unsere drei Helden herumstanden? Die Jungen trugen die Haare lang auf die Schultern herabfallend, und viele von ihnen hatten Locken, es sah aus, als trügen sie Perücken, wie es die vornehmen Menschen im 17. Jahrhundert taten. Die Mädchen aber trugen die Haare glatt und kurz, wie die Jungen zu Peggis Zeiten. Die Jungen waren sehr farbenprächtig gekleidet. Sie hatten enganliegende Hosen in allen möglichen schönen, leuchtenden Farben an, und dazu trugen sie Jacken aus Samt, weite, farbige Samtjacken, die zur Farbe ihrer Hosen im schönen Kontrast standen. Die Mädchen aber waren mit einfarbigen Anzügen bekleidet, die wie Trainingsanzüge wirkten. Die eine Gruppe der Mädchen trug silberne Anzüge, die andere rostrote, je älter die Mädchen wurden, desto weniger farbig war ihre Kleidung. „Wie oft hast du denn gedreht? Wo mögen wir sein?“ flüsterte Peggi. Aber Karl wußte es nicht. Er hatte viele Male gedreht, zweihundertoder vielleicht auch dreihundertmal, er hatte vor Ärger und Wut über diese Pädagogen des 21. Jahrhunderts nicht mitgezählt. Es sollte ihnen jedoch bald alles klarwerden. Als das Orchester nämlich die letzten Akkorde gespielt hatte, trat die Vorsitzende des Kinderrates von Berlin auf das Podium und sprach die Begrüßungsworte. „Wir Kinder des 24. Jahrhunderts“, sagte sie, „freuen uns, daß wir Besuch aus der Vergangenheit erhalten haben. Wir begrüßen Karl und Peggi, und wir begrüßen auch ihren netten Frosch Teepetepee.“ Und hier muß gesagt werden, daß die Kinder nicht klatschten, sondern pfiffen, eine Beifallssitte, die sich bereits in Karl und Peggis Zeiten einzubürgern begann und die damals bei allen Menschen, die nicht auf den Fingern pfeifen konnten, großen Abscheu erregte. Die Kinder des 24. Jahrhunderts konnten alle auf den Fingern pfeifen, und sie taten es jetzt laut und gellend, aber die meisten taten es trotzdem melodisch. Sie pfiffen Triller und Kadenzen, doch einige auch schrille Dissonanzen, und es war ein weithin hallendes Konzert, mit dem sie Karl und Peggi begrüßten. „Wir freuen uns um so mehr über diesen Besuch“, sprach die Vorsitzende weiter, „weil diese Kinder die Vertreter einer großen, einer kämpferischen, einer heroischen Zeit sind, der größten Zeit unserer Geschichte. Der Zeit, in der die Geschichte des Menschen mit der Befreiung des Menschen eigentlich erst begann. Wir feiern die Ankunft dieser Kinder, und wir hoffen, daß unsere Gäste sich bei uns
wohl fühlen werden. Wir gehen jetzt alle hinüber zur großen Festwiese, auf der in zwanzig Minuten die Festmahlzeit beginnt. Ich wünsche unseren Gästen und euch allen Freude, Heiterkeit und Appetit.“ Sie pfiffen wieder, sie pfiffen lange und ausdauernd, aber Karl hielt es vor Neugier nicht mehr aus. Als die Vorsitzende ihm die Hand schüttelte, fragte er: „Woher aber, sag doch mal, woher habt ihr gewußt, daß wir kommen?“ „Das war ganz einfach“, sagte die Vorsitzende, „unsere Geschichtsforscher haben sich damit beschäftigt. Sie kennen jeden Tag und jedes Ereignis der Vergangenheit, und vor einigen Jahren schon stießen sie auf die Akten des ehemaligen Kinderheimes, das hier an dieser Stelle stand, und sie fanden die Filmaufnahmen eurer Abreise und alle dazugehörigen Dokumente. Ich habe diesen Film gesehen. Als du begannst, am Horn des Frosches zu drehen, wart ihr verschwunden, aber das leise Knacken, das dabei entsteht, wurde durch die Mikrophone aufgefangen. Wir brauchten nur nachzuzählen, wie oft es knackte, und wir wußten, wie viele Jahre später ihr wieder hier erscheinen würdet. Ist das schwer?“ „Nein, so etwas“, sagte Teepetepee, „da seid ihr also ganz von allein hinter das Geheimnis meines Horns gekommen?“ Die Vorsitzende war etwas verlegen. „Ich nicht“, sagte sie zum Frosch, „ich bin nicht dahintergekommen. Weißt du, ich bin nur Funktionärin, und es ist nicht mein Aufgabengebiet, aber ich werde dich mit einem jungen Zoologen bekannt machen.“ Sie wandte sich zur Seite, wo die Ehrengäste saßen. „Wilfried“, rief sie, „komm doch herauf.“ Ein Junge mit langen blonden Locken und einer ziegelroten Samtjacke kletterte auf das Podium. „Das ist Wilfried Wunderlich“, sagte die Vorsitzende, „er brennt darauf, Teepetepee und sein Zauberhorn kennenzulernen. Er war es auch, der es erriet, daß jeder Knacks ein Jahr bedeutete.“ „Das war nicht schwer“, sagte Wilfried Wunderlich bescheiden. „Eine Minute, eine Stunde oder ein Tag konnte es ja wohl nicht sein, wenn Peggi von ihren Reisen einen Rock aus dem 18. Jahrhundert mitgebracht hatte.“ „Das habt ihr auch festgestellt?“ fragte Peggi erstaunt. „Ich nicht“, sagte Wilfried, „ein anderer Spezialist.“ „Kinder“, sagte Karl fassungslos, „seid ihr klug.“
Und alle, die es hörten, lachten darüber, so daß Karl schließlich selbst mitlachen mußte. „Wir haben wunderbare Mehlwürmer gebacken“, sagte Wilfried. „Aus Zucker, Ei und Weizenmehl. Darf ich Teepetepee zur Tafel tragen?“ „Mehlwürmer aus Zucker und Ei?“ fragte Teepetepee mißtrauisch. Und er machte ein so entsetztes Gesicht, daß Wilfried verlegen wurde. „Sie schmecken bestimmt“, sagte die Vorsitzende, „probiere sie nur. Echte Mehlwürmer konnten wir leider nicht auftreiben.“ Teepetepee schluckte zweimal, dann nickte er zustimmend, und Wilfried Wunderlich nahm ihn behutsam in beide Hände. Karl und Peggi aber wurden von allen Mitgliedern des Kinderrates in einem Triumphzug durch das Spalier der blumenschwingenden Kinder zur Festwiese geleitet. Ja, was gab es zu essen? Es gab, um es vorweg zu sagen, kein Fleisch, denn die Menschen im 24. Jahrhundert töten und essen keine Tiere.
Nicht, weil sie sentimentale Susen sind, sondern weil sie es unappetitlich finden und weil es so viele schmackhafte andere Nahrungsmittel gibt, daß niemand mehr Fleisch vermißt. Es waren auf der Festwiese lange Tische aufgestellt. Hundert Meter lang war ein Tisch, und zehn solcher Tische standen nebeneinander. Tausend Meter Tisch also, und zweitausend Meter Bänke zum Sitzen, und auf den zweitausend Metern Bank saßen viertausend Kinder und aßen und tranken und lachten und sangen und machten Scherze und begossen sich mit Himbeersaft und steckten sich gegenseitig Honigbonbons in den Mund und langten zu und nahmen, was in großen Schüsseln und auf prächtigen Platten unaufhörlich aufgetragen wurde. Früchte und Gemüse und Pasteten und Salate und siebzehn Sorten Kuchen und acht Sorten Brot und Milch und Käse und Sahne und Schlagsahne... Das Schlaraffenland, so wie es im Märchenbuch abgebildet war, schien der Peggi eine arme Gegend im Vergleich zu diesem Lichtenberger Kinderfest. Zehn Tische also standen nebeneinander, aber vor ihnen und quer zu diesen Tischen stand der Ehrentisch. Er war nur fünfzig Meter lang, und es hatten nur zweihundert Kinder daran Platz, aber in der Mitte dieses Ehrentisches saßen Teepetepee neben Wilfried Wunderlich, Karl neben Elvira, der Vorsitzenden des Kinderrates, und Peggi neben Konrad, dem besten Schüler des Jahrgangs 2356. Und wer nun glaubt, daß Konrad, weil er der beste Schüler war, ein langweiliger Einfaltspinsel sein müsse, der irrt sich sehr. Konrad war der lustigste Junge, den Peggi je kennengelernt hatte. Er umsorgte sie und erklärte ihr alles und riet ihr, Ananassaft zu trinken, der schmecke am herzhaftesten, und den gerösteten Nußkuchen zu essen, das sei die schönste Zusammenstellung. Er erklärte ihr, warum die Mädchen eines Jahrganges alle gleiche Farben trügen und warum die Mädchen, je älter sie wurden, um so schlichtere Farben wählten, und er versicherte, daß keiner der Jungen falsche Haare besäße, sondern daß alle Locken echt seien, und er machte Peggi ein bißchen den Hof und sagte ihr, daß sie in einem schlichtseidenen hellblauen Trainingsanzug ganz bestimmt das hübscheste Mädchen ihres Jahrganges wäre. Aber auch den sechshundertjährigen Rock des Barons Oeckersteen fand er ausgesprochen reizend. Während des Essens gab es viele sportliche und künstlerische Darbietungen.
Wir können hier nicht das ganze Programm erzählen, obwohl es bestimmt sehr interessant wäre, aber das ergäbe schon ein Buch für sich. Wir können nur einige Beispiele anführen. Da gab es also Kinder, die konnten fliegen. Konrad erklärte es Peggi. Sie hatten sich einen Gürtel um die Hüften geschnallt, der sich kaum von einem breiten Ledergürtel, wie er zu Peggis Zeiten getragen wurde, unterschied. Aber in diesem Gürtel befand sich der komplette Flugapparat. Diese fliegenden Kinder nun spielten hundert Meter über der Festwiese Handball. Es war ein Spiel Köpenick gegen Lichtenberg, und die vielen Tausend Zuschauer waren fast alle aus Lichtenberg und mit ganzem Herzen und all ihrem Temperament bei der gelben Partei. Das Tor der roten Köpenicker hing genau über dem Ehrentisch, und es war eine Freude, zu sehen, wie geschickt und schnell die Lichtenberger immer wieder unter gellendem Beifall der Festgäste ihren Ball in dieses Tor schossen. Sie schwammen durch die Luft wie ein Hecht durch das Wasser, sie schwammen durch die Reihen der Verteidiger hindurch: Tor! Peggi pfiff. Konrad brauchte ihr nur einmal zu zeigen, wie man auf den Fingern pfeift, und schon konnte sie es. Nach dem Handballspiel traten Zauberer auf. Sie konnten so zaubern, daß Karl vor Neid keinen Bissen mehr herunterbekam. Sie ließen ganz schnell einen Palmenwald um die Festwiese wachsen. Sie liefen herum und steckten überall Kokosnüsse in die Erde, und in fünf Minuten war aus diesen Nüssen ein vierzig Meter hoher Palmenwald geworden. Sie spannten über die Wiese hinweg zwischen den hohen Palmen ein hauchdünnes Netz auf, und jeder, der wollte, konnte darauf Spazierengehen. Es ging sich darauf so glatt wie auf einer Straße, aber von unten sah es aus, als liefen die Spaziergänger durch die Luft. Und die Kinder konnten sich wünschen, welche Farbe der blaue Himmel nur zur Abwechslung mal haben sollte. „Rot“, schrien die Kinder, und von einer Sekunde zur anderen war der Himmel leuchtend purpurrot. „Gelb“, schrien die Kinder, und mit einem Schlage war der Himmel gelb. „Schwarz“, schrien die Kinder, und plötzlich war es dunkle Nacht. „Licht, Licht, Licht, zaubert Licht!“ „Hach!“ sagte Peggi, „habe ich mich erschrocken.“ Und auch der Frosch Teepetepee saß verdattert da und rollte wild mit den Augen.
Die Zauberer zauberten noch allerlei, sie konnten mehr, als sich auch der beste Zauberer zu Karls Zeiten nur träumen ließ, aber das Schönste, was vorgeführt wurde, war das große Ballett. Die Jungen und Mädchen, die daran beteiligt waren, tanzten ohne technische Hilfsmittel. Sie hoben die Schwerkraft nicht künstlich auf, sie zauberten nicht, sie brauchten keine Tricks. Sie tanzten die Tänze: „Ich höre zum erstenmal Musik“ und „Ich sehe zum erstenmal die Sonne“ und „Ich bin zum erstenmal verliebt“. Und sie tanzten so schön, daß jeder, der ihnen zusah, glaubte, zum erstenmal in seinem Leben Musik und Sonne und Liebe zu erfahren. Sie tanzten so schon, daß vor Ergriffenheit niemand Beifall pfiff und daß Peggi weinte. „Du brauchst dich nicht zu genieren, daß du weinst“, sagte Konrad, und Peggi genierte sich dann auch nicht mehr. Aber Peggi hatte kaum geweint, da mußte sie schon wieder lachen. Sie guckte nämlich zufällig zu Teepetepee hinüber und sah, wie ihm Wilfried Wunderlich gerade einen der künstlichen, süßen Mehlwürmer in den Mund steckte. Teepetepee machte, als er ihn herunterschluckte, ein so saures Gesicht, daß Peggi laut lachen mußte. „Schmeckt es denn nicht?“ fragte sie mitleidig. „O doch, o doch“, sagte Teepetepee höflich, mit einem Seitenblick auf seinen Betreuer. „Aber gibt es denn wirklich keine einzige kleine Fliege oder Mücke bei euch?“ Wilfried Wunderlich schüttelte betrübt den Kopf. „Wir sind unschuldig daran“, sagte er, „sie sind schon vor zweihundert Jahren alle ausgerottet worden. Wenn es sie heute noch gäbe, würden wir bestimmt einige übriglassen. Es war ein schwerer Fehler unserer Vorfahren.“ „Schon vor zweihundert Jahren, dann ist es ja nicht mehr zu ändern“, sagte Teepetepee traurig, „aber weißt du, dann gib mir lieber ein Stückchen von der Schokoladentorte. Diese Augen und der Kopf, die ihr den Mehlwürmern angebacken habt, brechen mir das Herz. Bei jedem einzelnen hoffe ich immer wieder, es könnte vielleicht doch ein echter sein.“ Wilfried fütterte von nun an den Frosch nur noch mit Torte und Pralinen. Aber dann kam die Überraschung. Und sie war eigentlich vom Kinderrat Lichtenberg als Höhepunkt des Festes gedacht, aber ein wirklicher Höhepunkt wurde es nur für Teepetepee.
Unter feierlichem Schweigen aller Versammelten wurde ein Mann über die Festwiese geführt. Er kam von ganz hinten, und die Kinder bildeten für ihn Spalier. Der Mann hatte ein Gewand an, das wie ein Bettlaken aussah. Er kam langsam und gemessen auf den Ehrentisch zugeschritten. Karl und Peggi schauten ihm aufmerksam entgegen. Es war ein ziemlich dicker Mann, und als er näher kam, sahen sie, daß er schon alt war. Dick und alt, und er hatte ein rotes Gesicht, wie einer, der zuviel trinkt. Er sah im großen ganzen ziemlich gewöhnlich aus, und es war nicht zu erkennen, warum er so feierlich herangeführt wurde. Er trat vor den Ehrentisch, machte eine kleine Verbeugung, schaute Karl und Peggi aufmerksam an und stellte sich vor: „Kolma Puschi“, sagte er und machte noch einmal eine Verbeugung. „Angenehm“, sagte Peggi. „Ich heiße Peggi! Das dort ist mein Freund Karl. Ich muß Ihren Namen schon irgendwo gehört haben. Wie heißen Sie doch gleich?“ „Kolma Puschi“, sagte der Mann. „Ihr seid die Kinder aus dem zwanzigsten Jahrhundert?“ Da schrie Teepetepee, und jetzt erst hatte er alles begriffen. „He! Kolma!“ schrie er so laut, daß es über die Festwiese hallte. „He! Alter Seemann! Kolma, Kolma Puschi, mein alter Kolma, ist es denn wirklich wahr?“ Da ließ der alte amerikanische Seemann Kolma Puschi seine Würde Würde sein, er ließ seine Toga fallen, und es zeigte sich, daß er derbe alte braune Seemannshosen und einen schmutzigen Nicki darunter anhatte. Er sprang mit einem großen Satz über den Tisch hinweg und lief zu Teepetepee. „Altes Froschherz“, schrie er. „Altes Froschherz, daß wir uns hier wiedersehen!“ Und er nahm dem Wilfried Wunderlich den Frosch einfach fort, nahm ihn in beide Hände und drückte ihn vor Freude an sein Nicki, dort, wo unter vielem Fett sein Seemannsherz schlug. „Ich hab es geahnt“, sagte Kolma Puschi, „daß du die beiden Kinder hergebracht hast. Ach! Und was ich habe! Du glaubst es nicht, du wirst es nicht fassen! Ach! Was ich habe!“ Kolma Puschi kramte umständlich in seiner tiefen Hosentasche und holte ein nasses rotes Schnupftuch hervor, und in diesem Schnupftuch saß ein grüner Hornfrosch. Ein brasilianischer Hornfrosch weiblichen Geschlechts.
„Meine Frau!“ sagte Teepetepee. Er lehnte sich fassungslos auf seine Hinterkeulen zurück, hob beide Hände hoch, und es sah aus, als wollte er in Ohnmacht fallen. „Meine Frau Gallalaga!“ „Seine Frau Gallalaga?“ „Kolma Puschi hatte die Frau des Teepetepee in der Hosentasche.“ „Nein, so etwas!“ „Wie ist das möglich?“ „Sieh doch nur, wie die beiden Frösche sich in den Armen liegen.“ So war es! Und es ist wohl das beste, wir lassen die Frösche, die sich ja seit vielen, vielen Jahren nicht gesehen haben, nun ein Weilchen allein. Selbst Kolma Puschi war gerührt, und er wischte sich mit dem feuchten roten Schnupftuch schnell mal über die Augen, ehe er an der Festtafel zwischen Karl und Peggi Platz nahm. „Ihr Menschen kennt euch gar nicht?“ fragte Elvira etwas enttäuscht. Nein, Karl und Peggi sahen hier und heute Kolma Puschi zum erstenmal. „Ich dachte nur“, sagte Elvira, „weil ihr doch aus demselben Jahrhundert stammt?“ „Aber Elvira! Es gab doch damals schon so viele Menschen! Die konnten sich doch nicht alle kennen.“ Natürlich, das sah Elvira ein. „Aber wir haben von dir gehört“, sagte Peggi. „Teepetepee hat uns viel von dir erzählt. Du warst es doch, der Teepetepee aus Amerika nach Europa brachte?“ „Das war ich“, sagte Kolma Puschi. „Und als ich ihn, ach, das ist eine dumme und lange Geschichte, und es war im Grunde weder meine noch seine Schuld, als ich ihn verlor, da suchte ich ihn, als ich wieder nüchtern war, sieben Jahre lang. Denn der schurkische Rechtsanwalt, bei dem er war, hatte Amsterdam mit unbekanntem Ziel verlassen. Nach sieben Jahren gab ich es auf und wollte mich anderweitig trösten, aber ich hatte mir das Reisen durch die Zeit so angewöhnt, daß ich es nicht mehr aushielt. Ich fuhr zurück an den Amazonas und befreundete mich mit Teepetepees Frau. Gallalaga hat genau dasselbe Zauberhorn auf der Stirn wie ihr Mann. Und als es mir im zwanzigsten Jahrhundert zu ungemütlich wurde, reiste ich hierher, und hier ist es schön. Hier habe ich einen wunderbaren Job gefunden. Ich bin Leuchtturmwächter auf einem Leuchtturm, der seit dreihundert Jahren nicht mehr brennt. Einen besseren Posten gibt es nicht.
Ich freue mich wirklich, daß ihr nun auch hierbleibt.“ So sprach Kolma Puschi, und von seinem Standpunkt aus schien es ihm ganz vernünftig, was er da erzählte, aber Peggi hörte es und bekam einen Mordsschreck. „Wir sollen hierbleiben?“ fragte sie entgeistert. „Mädchen!“ sagte Kolma Puschi, der ihren Schreck bemerkte, „eine schönere Zeit wirst du nicht finden, und wenn du von der Sintflut an die Weltgeschichte durchsuchst. Natürlich bleibt ihr hier!“ „Karl“, fragte Peggi, „Karl, bleiben wir hier?“ Karl wußte es nicht, aber er fand es herrlich im 24. Jahrhundert. „Und mein Vater?“ fragte Peggi. „Wie soll er ohne mich zurechtkommen?“ „Dein Vater?“ fragten Konrad und Elvira verwundert wie aus einem Munde. „Und unsere Schule? Und meine Wohnung? Und unsere Straße? Und mein Spielzeug? Und alles, und alles ...“ Peggi hatte wahrhaftig während der Erlebnisse der Reise noch nie auch nur einmal daran gedacht, daß sie irgendwo für immer bleiben könnten. Aber seit gestern nachmittag schon, seit der Festnahme auf dem Hackeschen Markt, hatte sie sich immerzu gegrämt, daß ihr Vater sich wegen ihres Fernbleibens Sorgen machen würde. Und ein bißchen von diesem Gram hatte sie noch während des ganzen Festmahls hier in ihrem Herzen gefühlt. „Aber Peggi“, sagte Kolma Puschi überredend, „du wirst doch nicht in dieses zwanzigste Jahrhundert zurückkehren wollen? Du bist jung, du weißt noch nicht, wie fürchterlich es ist, aber glaube mir und sei froh, daß du da heil heraus bist. Bleibe hier. Dein Vater wird sich damit abfinden, und Schulen hast du hier viel bessere und Spielzeug und Wohnung, es ist alles viel besser hier als in deiner Zeit.“ „Aber es ist doch meine Zeit“, sagte Peggi und schaute sich auf dem Festplatz um. „Alles sehr schön hier“, sagte sie zögernd, „ganz gewiß, die Kinder sind lustig und glücklich, das ist wahr... aber 1956, das ist meine Zeit...“ „Eine schreckliche Zeit, ein furchtbares Jahrhundert“, sagte Kolma Puschi. Da fiel Peggi die Begrüßungsrede der Elvira wieder ein. Wie hatte sie gesagt? Eine große, eine kämpferische, eine heroische Zeit, in der die Befreiung des Menschen eigentlich erst begann ...
Das waren Worte, aber waren sie Lüge? Peggi wandte sich an Elvira. „Hat Kolma Puschi recht? Sollen wir hierbleiben? Sollen wir nicht zurück?“ Elvira überlegte lange und wußte es nicht zu entscheiden. Da sagte Konrad, der nette und lustige Konrad, der beste Schüler von Lichtenberg: „Weißt du, Peggi, wenn ich könnte, würde ich mitkommen in deine Zeit.“ „Nun, komm doch mit.“ Da lachte Konrad, und dann schüttelte er den Kopf. „Ihr seid dem Frosch begegnet“, sagte er, „Kolma Puschis Frosch, und das ist etwas anderes. Aber sonst kann kein Mensch seiner Zeit entfliehen. Und wer es versucht, ist ein Narr, ein Träumer oder ein Feigling.“ „Oho!“ sagte Kolma Puschi, „das sind harte Worte.“ Und er schien wirklich ernsthaft böse auf Konrad zu sein. Aber Konrad machte sich nichts daraus. „Weißt du“, sagte er, „du würdest mir noch mehr gefallen, wenn der Leuchtturm, auf dem du Wärter bist, wenigstens brennen würde... aber so?“ Da erwiderte Kolma Puschi nichts mehr. Er sackte in sich zusammen, schob die Unterlippe vor, starrte auf seine Fußspitzen und dachte lange nach. Karl aber, der bisher alles ruhig mit angehört hatte, faßte einen Entschluß. „Peggi hat recht“, sagte er, „wir müssen wieder nach Hause.“ „Aber wieso denn? Weißt du auch nur einen vernünftigen Grund?“ „Wenn nämlich“, sagte Karl, „alle Kinder meiner Zeit sich einen Frosch wie Teepetepee suchen und allem Unangenehmen und Anstrengenden und Gefährlichen entfliehen, wißt ihr, was dann wäre?“ Niemand vom Kinderrat der Stadt Berlin wußte es. „Dann würde sich nie auf dieser Welt etwas zum Guten wenden, und es bliebe immer so schlecht und häßlich und gemein, wie Peggi und ich es mit eigenen Augen gesehen haben.“ „Er hat recht“, sagte Konrad, „er hat vollkommen recht! Natürlich müssen sie wieder nach Hause.“ Und damit war die Sache eigentlich entschieden, denn Konrad war, wir sagten es schon dreimal, der beste Schüler von Lichtenberg. Und damals, im 24. Jahrhundert, war es so eingerichtet, daß nur die klügsten Kinder die besten Schüler wurden. Wenn Konrad etwas sagte, dann stimmte es.
Es war soweit. Das Fest ging zu Ende, und der Chor hatte noch einmal gesungen, das große Orchester noch einmal gespielt, und nun wollte man Abschied nehmen. Da gab es einen unvorhergesehenen Zwischenfall. Teepetepee war verschwunden. Und nicht nur das, sein Weib, die Gallalaga, war auch nirgends zu finden. Und nicht nur das, der Zoologe Wilfried Wunderlich war gleichfalls fort. Wie war das möglich? Was war da los? Man suchte überall, man suchte fieberhaft, man suchte in der Möllendorffstraße, auf den Ringbahnwällen und in ganz Lichtenberg. Die beiden Frösche und der Zoologe blieben verschwunden. Aber als die Aufregung am größten war, da quakte es unter dem breiten Ehrentisch, und es war ein so lautes und schmerzhaftes Quaken, daß sie alle es hörten. Sie hoben die damastene Tischdecke hoch, die auf beiden Seiten bis zur Erde reichte, da saß Wilfried Wunderlich darunter, und neben ihm saßen die beiden Frösche, und alle drei hatten bei allem Rufen und bei allem aufgeregten Suchen keinen Mucks von sich gegeben, bis zuletzt. Elvira war außer sich. „Aber Wilfried“, sagte sie, „wie kannst du so etwas machen?“ Doch Wilfried grinste nur. „Er hat mich wahnsinnig nervös gemacht“, sagte Teepetepee. „Also was der an meinem Horn herumgefummelt hat, könnt ihr euch nicht vorstellen.“ „Und an meinem erst“, seufzte Gallalaga, „an meinem erst! Wo ich am Horn so empfindlich bin.“ „Aber warum habt ihr euch das gefallen lassen? Warum habt ihr nicht früher geschrien? Was hast du mit ihnen gemacht, Wilfried?“ „Sie haben mich sogar darum gebeten“, sagte Wilfried verlegen. „Das stimmt ja nun wieder“, sagte Teepetepee, „als wir hörten, daß es nach Hause geht, haben wir ihn darum gebeten.“ „Warum denn das?“ fragte Peggi, die plötzlich böse Ahnungen bekam. „Sollte er euer Horn kaputt machen?“ „Um Himmels willen“, rief Teepetepee, „Peggichen! Keine Minute länger in diesem Lande, in dem es nicht ein einziges Insekt mehr gibt. Wir reisen, Peggi, aber er hat etwas anderes gemacht, er ist ein
kluger und guter Junge, unser Wilfried, außer, wenn er mir süße Mehlwürmer anbietet. Er hat unser Horn einen Tag zurückgestellt.“ Peggi verstand es nicht. Was sollte das denn nun schon wieder bedeuten? Einen Tag zurückgestellt? „Einen Tag und sechs Stunden“, sagte Wilfried stolz. „Es war eine mühselige Feinmechanikerarbeit. Ich bin ganz vorsichtig gewesen, aber es tat tro,tzdem weh.“ „Ach“, sagte Karl, dem mit einem Male alles klar war, „wenn wir jetzt zurückreisen, kommen wir wieder am elften September heim?“ „Natürlich“, sagte Teepetepee, „und das ist doch besser für uns, nicht wahr?“ „Wenn ihr gleich abfahrt“, sagte Wilfried, „seid ihr am Dienstag, dem elften September, vormittags neun Uhr fünfundvierzig zu Hause.“ Er sagte es wie ein alter Bahnhofsvorsteher, der einem etwas dummen Reisenden eine Auskunft gibt. „Mann, Wilfried, du bist prima!“ rief Peggi, und sie schlug ihm vor Begeisterung so sehr auf die Schulter, daß Wilfried zusammenknickte. Der Kinderrat, der Chor und das Orchester begleiteten die Gäste aus dem 20. Jahrhundert bis auf das Gelände des Tierparks, bis zu der Stelle, an der früher das Terrariumhaus stand, in dem Karl und Peggi die Bekanntschaft des Teepetepee gemacht hatten. Die hundertvierzig Knaben und Mädchen des Chores sangen noch ein Abschiedslied. Wehe, daß wir scheiden müssen, sangen sie, und sie sangen es so schön, daß wirklich alle von Rührung übermannt wurden, doch dann spielten die tausendzweihundert Streicher des Orchesters den Walzer von der schönen blauen Donau, und sie hatten sich die alten Noten dieses Tanzes mit großer Mühe aus dem staatlichen Musikmuseum beschafft. Es schien allen Kindern selbstverständlich, daß Gallalaga ihren Gatten auf dieser Reise begleitete, nur Kolma Puschi, der noch immer trüben Gedanken nachsann, wurde davon überrascht. „Was?“ schrie er, „Gallalaga? Du willst mich verlassen?“ „Aber Kolma“, sagte die unglückliche Froschfrau, „wo ich meinen Mann doch so lange entbehrt habe?“ „Und ich?“ schrie Kolma Puschi, „was soll ich ohne dich tun?“ „Hierbleiben!“ schlug Teepetepee vor. „Hierbleiben!“ echoten die Kinder.
„Hierbleiben, hierbleiben, welche Lust“, improvisierte der Chor einen neuen Kanon. Kolma Puschi sah sich wirr um, dann fuhr er sich durch seine langen Haare und richtete sich hoch. Er sah haargenau so aus, wie man sich einen Menschen vorstellen muß, der einen heroischen Entschluß faßt. Aber es fiel ihm doch schwerer, als man glauben sollte. Er sackte wieder etwas zusammen «und sagte kläglich: „Wenn ihr alle fortfahrt, muß ich ja für immer hierbleiben!“ „Aber, Kolma Puschi, hier ist es doch so schön.“ „Ich bin doch ein Seemann, und ein Seemann will reisen.“ „Hör mal, reisen kannst du auch bei uns.“ „Hierbleiben?“ fragte Kolma Puschi noch einmal, und es klang so, als müßte er ohnmächtig zusehen, wie das letzte Schiff dicht vor seiner Nase einen einsamen Hafen verläßt. Doch plötzlich ermannte er sich. „Also gut“, sagte er, „ich kehre auch zurück“, und er blickte wild um sich, als sei er bereit, sich notfalls auch mit Gewalt vom Paradiese loszureißen. Aber es hielt ihn niemand. Alle Kinder schauten ihn freundlich billigend an. „Doch was soll ich im zwanzigsten Jahrhundert machen?“ fragte Kolma Puschi, und er schien schon wieder schwankend zu werden. „Was sollst du machen? Was sollst du machen?“ sagte Peggi, „kopfstehen und lachen!“ Sie fand diesen alten Mann nun wirklich bald albern. Kolma Puschi aber schien es einzuleuchten, was Peggi da vorschlug. „Kopfstehen und lachen“, sagte er und dachte darüber nach. „Nun gut! Also los! Reisen wir. Kopfstehen und lachen ist nicht das Schlechteste.“ Im letzten Moment fiel Karl noch ein, daß man sich als Gast bei seinen Gastgebern bedanken müsse. „Schönen Dank auch für alles“, sagte er, und dann drehte er los. Er drehte nicht so schnell am Horn wie sonst, er zählte langsam und gewissenhaft mit, vierhundertmal. Kolma Puschi drehte an Gallalagas Horn, und er hatte mehr als einmal Lust, plötzlich anzuhalten, irgendwo, in irgendeiner Zeit, um dem zwanzigsten Jahrhundert zu entfliehen, aber er drehte immer wieder weiter. Er hatte Angst vor den Tränen, die Gallalaga weinen würde, wenn sie sich wieder von ihrem Froschmann getrennt sah. Kolma Puschi hatte nämlich ein sehr weiches Herz.
Als der Wärter Zempel in den Terrariumraum trat, sah er zwei Kinder dort stehen, einen Jungen und ein Mädchen, und das Mädchen hielt den großen brasilianischen Hornfrosch in der Hand. Zempel ließ vor Schreck seinen Wassereimer fallen. „Hallo!“ brüllte er, „ha ... ha...“, und da wurde ihm für einen Moment schwarz vor den Augen. Er tastete um sich und lehnte sich an die Tür. Aber da war ihm schon wieder besser, und da sah er nicht nur die beiden Kinder, sondern auch noch einen dicken alten Mann, und nicht nur das kleine Mädchen, nein, auch der dicke alte Mann hatte einen großen Frosch in der Hand. „Hallo!“ schrie der Wärter Zempel, „was machen Sie da? Wie kommen Sie dazu, die Frösche anzufassen?“ Er lief zu ihnen hin. Nanu? Was war denn das? Der alte Mann hielt doch einen weiblichen Hornfrosch in der Hand? Und es gab doch in keinem Tiergarten Deutschlands einen weiblichen Hornfrosch? „Ja, ja, Herr Zempel“, sagte Kolma Puschi, „wir haben Ihnen etwas Schönes mitgebracht. Eine Frau für Ihren Frosch. Wir haben die beiden schon miteinander bekannt gemacht. Sie mögen sich. Liebe auf den ersten Blick. Wir setzen sie hier hinein. Seien Sie gut zu den beiden, hören Sie? Es sind sehr empfindsame Tiere, diese Hornfrösche.“ „Oh“, sagte der Wärter Zempel, „ein neuer Gast in unserem Tiergarten! Selbstverständlich bin ich gut zu ihnen. Weiß es denn der Herr Direktor schon?“ „Ich glaube nicht“, sagte Kolma Puschi, „es ist wohl auch nicht nötig, ihn groß zu fragen. Es ist eine Spende, und der Spender wünscht nicht genannt zu sein.“ „Aber... aber... geht denn das...?“ fragte Zempel und wußte vor Verlegenheit nicht weiter. Kolma Puschi setzte seine Gallalaga und Peggi ihren Teepetepee in das Terrarium, und die beiden Frösche schauten sich darin um, und der Froschfrau gefiel das neue Heim ausnehmend gut. „Auf Wiedersehen, Gallalaga“, sagte Kolma Puschi. „Auf Wiedersehen, Teepetepee“, sagte Karl. „Auf Wiedersehen, ihr beiden“, sagte Peggi. „Oh“, sagte Zempel, „das ist aber schön! Dann haben wir also seit heute morgen...“, und er rechnete ein bißchen an den Fingern nach, „dann haben wir also jetzt eintausendzweihundertsiebenundsechzig Tiere im Tierpark.“ Und diese Zahl schien ihn ungeheuer zu erfreuen.
Draußen aber schien die Sonne, und es war alles wieder ganz genauso wie am Anfang dieser Geschichte. Mit einem kleinen Unterschied: Kolma Puschi war neu da. Er besichtigte noch mit den Kindern bis Mittag den Tierpark, und Karl und Peggi erzählten ihm alles, was sie in der Zeit erlebt hatten, ehe sie ihn trafen. Kolma Puschi fand es so interessant, daß er den Plan faßte, es aufzuschreiben. „Das mach mal“, sagte Peggi, „wir helfen dir auch dabei.“
Aber bevor ich mit dieser Arbeit begann, sah ich mich noch ein Weilchen im 20. Jahrhundert um. Wir wollen nicht viel zur Verteidigung dieses Jahrhunderts sagen, es ist vergebliche Liebesmüh, aber eines an diesem Jahrhundert fand ich erfreulich, und das waren die Kinder. Im Jahre 2356 hatte ich immer gedacht, Karl und Peggi seien zwei besonders intelligente und nette Kinder, aber als ich nun mit ihnen nach Blumenthal kam, entdeckte ich, daß viele andere Jungen und Mädchen ihrer Schule nicht weniger schlau und lustig waren. Und darum schrieb ich die Erlebnisse von Karl und Peggi auch nicht für die Erwachsenen auf, sondern nur für Kinder. Kolma Puschi
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