Kelly Kevin Tödlicher Zauber
1. »Deck ho! Rauchzeichen Steuerbord voraus!« Die Stimme Donegal Daniel O’Flynns klang dü...
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Kelly Kevin Tödlicher Zauber
1. »Deck ho! Rauchzeichen Steuerbord voraus!« Die Stimme Donegal Daniel O’Flynns klang dünn in der endlosen Weite. Die ›Isabella VIII.‹ segelte über Backbordbug mit halbem Wind nach Westen, Jamaica lag querab. Philip Hasard Killigrew stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und folgte mit leicht zusammengekniffenen Augen der Küstenlinie. Das undurchdringliche Grün tropischer Vegetation bedeckte die Insel. Es war nur ab und zu von roten Felsen aufgerissen und von den weißen, geschwungenen Linien der Sandbuchten unterbrochen. Kopfschüttelnd stellte Hasard fest, daß man schon Dan O’Flynns Falkenaugen haben mußte, um über den grünen Buckeln irgend etwas anderes zu erkennen als das opalisierende Geflimmer der heißen Luft. Er griff zum Spektiv und schwenkte langsam die Küste ab. Rote, felsige Landzungen begrenzten eine der Buchten. Sie schnitt tief ins Land - und tatsächlich stieg eine dünne graue Rauchfahne in den Himmel. »Ein Eingeborenen-Feuer«, sagte Ben Brighton, der neben den Seewolf getreten war. Unten auf der Kuhl hatten sich ein paar Männer versammelt und spähten angestrengt in die Richtung, die Dan O’Flynn angegeben hatte. Aber ohne Spektiv sahen sie nur die verwirrenden Schleier des Sonnenglasts. Mit Dans scharfen Augen konnte niemand aus der Mannschaft konkurrieren. Edwin Carberry, der Profos, schob sein zernarbtes Rammkinn 2
vor. »Ich will verdammt sein, wenn da was raucht«, sagte er. Und mit zurückgelegtem Kopf rief er: »He, Dan, du gepökelter Hering, wo soll da denn Rauch sein, was, wie?« »Es ist Rauch«, sagte Hasard ruhig. Er ließ das Spektiv sinken. »Anluven!« befahl er. »Wir gehen höher an den Wind!« »Aye, aye, Sir!« ertönte Pete Ballies Stimme vom Ruder. Seine mächtigen Fäuste drehten das Rad. Die Rahen wurden dichter geholt. Der neue Kurs führte die ›Isabella‹ näher an die Insel heran, und im handigen Wind dauerte es nicht lange, bis die dunkle Wand des tropischen Urwalds und die Federwipfel der Palmen deutlicher aus dem Hitzegeflimmer traten. »Und wo, zum Teufel, ist jetzt der Rauch?« brüllte Carberry mit seiner Donnerstimme. »Verschwunden!« Sam Roskill grinste. »Wahrscheinlich, weil du mal wieder so viel Wind machst.« »He, du Rübenschwein! Willst du vielleicht behaupten ...« »Da ist es wieder!« Luke Morgan wies aufgeregt zu der Bucht hinüber, der sie sich näherten. Die Rauchfahne ließ sich jetzt auch mit bloßem Auge erkennen. Eben noch war sie verschwunden gewesen, jetzt stieg sie erneut in den Himmel. Der Wind trieb die dünnen grauen Schlieren sofort auseinander. Wieder war für eine Weile nichts zu sehen, dann quoll von neuem Rauch hoch, diesmal in einer dicken dunkelgrauen Wolke. »Jemand geworfen grünes Blätter in Feuer«, radebrechte Batuti, der riesige Gambia-Neger, in seinem schauderhaften Englisch. »Rauchzeichen, ganz klar! Grünes Blätter nicht gut für Feuer zum Kochen.« Damit hatte er zweifellos recht. Ben Brighton warf Hasard einen fragenden Blick zu. Der Seewolf zuckte mit den Schultern. 3
»Das kann alles mögliche bedeuten«, sagte er. »Eingeborene, Piraten - der Teufel mag es wissen.« »Nicht Feuer zum Kochen«, wiederholte Batuti seine Weisheit. »Grünes Blätter ungeeignet.« »Und ein Feuer zum Wärmen bestimmt auch nicht«, erklärte Carberry. »Bei dieser Hitze kocht einem ja sowieso das Wasser im Hintern.« Wieder wandte er sein zernarbtes Gesicht der Großmars zu. »He, Dan! Kannst du nicht deine verdammten Augen aufreißen und herauskriegen, was da los ist?« »Reiß sie doch selber auf!« rief Dan aus der Sicherheit des Großmars. »Nichts zu erkennen«, meldete er dann. »Das Feuer brennt hinter einem Felsen. Der Stein versperrt die Sicht, da können wir noch so nah heransegeln.« Hasard nickte nur. Dan O’Flynn starrte noch eine Weile zu der Bucht hinüber, dann verließ er seinen luftigen Ausguck und enterte ab. Arwenack, der Schimpanse, folgte ihm keckernd und sicherte sich einen Logenplatz auf Ed Carberrys breiter Schulter. Der Profos war zu sehr mit seinen Mutmaßungen beschäftigt, um den Affen zu vertreiben. Drüben auf der Insel hatte sich die Rauchwolke inzwischen aufgelöst. Doch schon waberte die nächste hoch, dann wieder eine, nach einiger Zeit die dritte. Schweigend beobachteten die Seewölfe das merkwürdige Schauspiel. Kein Zweifel: die Rauchzeichen hielten einen bestimmten Rhythmus ein. Mal stärker, mal schwächer, dann vergingen sie und blieben jedesmal für eine Weile verschwunden, bis das Ganze wieder von vorn begann. Viermal hatte sich der Vorgang bereits wiederholt, und es sah nicht so aus, als werde der Unbekannte in der Bucht so schnell aufgeben. »Leute von Schiff gebrochen«, sagte Batuti. »Schiffbrüchige meinst du?« Dan grinste. »Wäre immerhin möglich. Oder vielleicht sind es Eingeborene, die sich gegenseitig etwas signalisieren.« 4
Hasard schüttelte den Kopf. »Die Indianer zünden in solchen Fällen ihre Feuer auf Berggipfeln an. Nein, Batutis Vermutung hat schon etwas für sich. Irgend jemand scheint da Hilfe zu brauchen.« »Und wenn es eine Falle ist?« sagte Ben Brighton mißtrauisch. »Wenn es eine Falle ist, werden die Kerle ihr blaues Wunder erleben«, sagte Carberry grimmig. »Denen ziehe ich die Haut in Streifen von ihren Affenärschen. Die werden ...« »Warte erst mal ab, bis wir dort sind«, sagte Hasard trocken. »Wir segeln in die Bucht. Klar zum Wenden! An die Brassen! Ruder hart über!« Von einer Sekunde zur anderen kam Bewegung in die Mannschaft. Blitzartig war jeder an seinem Platz, Pete Ballies Fäuste wirbelten das Rad herum. Die ›Isabella‹ ging elegant durch den Wind, der jetzt über den anderen Bug einfiel, und wenig später rauschte sie auf die Bucht zu, über der immer noch Rauchzeichen in den blauen Himmel stiegen. * »Fallen Anker!« Die Trosse rauschte aus. Mit auf-gegeiten Segeln schwoite die ›Isabella‹ im blauen Wasser der Bucht. Der Anker faßte Grund. Hasard sprang geschmeidig auf die Kuhl hinunter. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er zum Strand hinüber. Von den Rauchzeichen war schon seit einigen Minuten nichts mehr zu sehen, nur die Luft flimmerte noch über dem roten Felsen, der das Feuer verdeckte. Wind wühlte in den Federwipfeln der Palmen, das trockene Reiben der aneinanderklatschenden Wedel füllte die Luft. Hasards Blick streifte über die dunkle, abweisende Wand des Dickichts. Wenn der Urheber der Rauchzeichen tatsächlich 5
Hilfe brauchte, hätte er sich jetzt eigentlich zeigen müssen. Aber der weiße, sanft geschwungene Bogen des Sandstrands lag leer in der Sonne. Kein menschliches Wesen ließ sich sehen - und jetzt wurde auch Hasard allmählich neugierig. Er hatte es nicht eilig und konnte sich den Abstecher leisten. Auf der Schlangen-Insel würde er ohnehin auf Siri-Tong und Jean Ribault warten müssen. Die Rote Korsarin hatte sich entschlossen, den schwarzen Segler El Diablos zu übernehmen, jenes geheimnisvolle Schiff, dessen Rätsel längst noch nicht alle gelöst waren. Thorfin Njal, der Wikinger, dessen Schaluppe bei dem Unglück am Auge der Götter zerstört worden war, würde als Steuermann unter Siri-Tong fahren. Aber um den schwarzen Segler instandzusetzen, war noch eine Menge an Ausrüstung nötig, und die ›Isabella VIII.‹ würde die Schlangen-Insel auf jeden Fall früh genug erreichen. Hasard befahl, ein Boot auszusetzen. Minuten später pullten sie zum Strand hinüber: der Seewolf, Ben Brighton, Ed Carberry und Dan O’Flynn. Vom Deck der ›Isabella‹ sahen ihnen die anderen nach und beobachteten gespannt die Bucht. Immerhin konnten sie Ben Brightons Meinung, daß es sich vielleicht um eine Falle handelte, nicht ganz von der Hand weisen. Notfalls würde es nur Sekunden dauern, ein zweites Boot abzufieren, und Hasard hatte vorsichtshalber die Drehbassen besetzen lassen. Kräftige Riemenschläge trieben das Boot durch das Wasser, dessen dunkles Blau beträchtliche Tiefe ahnen ließ. Erst unmittelbar am Strand veränderte sich die Farbe und spielte ins Gelblich-Grüne. Sand knirschte unter dem Kiel. Die Männer sprangen ins seichte Wasser. Der bärenstarke Ed Carberry zog das Boot mit einem einzigen kräftigen Ruck auf den Strand. Hasard sah sich aufmerksam um. Er spürte die Hitze wie ein Gewicht, das auf sie niederfiel. Der Wind, der die Palmenwipfel bewegte, war hier unten im Schutz der roten 6
Felsen nicht zu spüren, die Luft schien zu kochen. Carberry wischte sich den Schweiß von der zernarbten Stirn und fluchte. »Verdammter Backofen! Wer bei dieser Hitze noch Feuer macht, muß wirklich sehr dringend Hilfe brauchen.« »Und warum versteckt sich der Kerl dann?« fragte Dan O’Flynn. »Wir werden ihn fragen, wenn wir ihn treffen.« Hasard grinste matt und vollführte eine ausholende Bewegung. »Ben und ich marschieren direkt zu dem Felsen. Dan und Ed, ihr haltet euch etwas weiter rechts und deckt uns notfalls den Rücken.« »Aye, Sir ...« Der stämmige Profos und der schlanke blonde Dan O’Flynn wandten sich ab und schlugen einen Bogen. Hasard und Ben Brighton gingen durch den heißen Sand direkt auf den Felsen zu, einen riesigen, scharf gezackten Brocken, der von irgendwelchen Naturgewalten auf den Strand geschleudert worden war. Unmittelbar dahinter stieg das Gelände terrassenförmig an, die Palmen folgten dem Verlauf der Bucht wie ein Gürtel. Aus dem Wald dahinter drangen das Lärmen von Affen und das Kreischen tropischer Vögel. Hasard lauschte angespannt und konzentrierte sich ganz auf die Umgebung, aber er wußte, daß es so gut wie ausgeschlossen war, irgendwelche leisen Geräusche rechtzeitig zu hören. Mit ein paar Schritten umrundete er den Felsblock. Ben Brighton blieb dicht hinter ihm. Eine flache, fast kreisrunde Mulde lag vor ihnen. Rundgewaschene Steine schützten die Feuerstelle in der Mitte. Das Treibholz, das das Feuer gespeist hatte, glomm noch schwach, und die herumliegenden Zweige bewiesen, daß Batuti recht gehabt hatte mit seiner Vermutung über »grünes Blätter«. Jemand 7
hatte auf diese einfache Weise versucht, Rauchzeichen in einem bestimmten Rhythmus zu geben. Aber warum war er geflohen? Und wo steckte er jetzt? Hasard runzelte die Stirn und spähte aufmerksam in die Runde. Dann winkte er Dan und Carberry zu, die sich in einiger Entfernung postiert hatten. Jetzt traten die beiden ebenfalls heran. Kopfschüttelnd betrachtete der Profos die verlassene Feuerstelle. »Verrückt«, brummte er. »Glaubt dieses Rübenschwein vielleicht, wir würden die ganze Insel nach ihm absuchen? Der will uns wohl auf den Arm nehmen?« »Jedenfalls hat es keinen Sinn, hier herumzustehen«, sagte Hasard. Mit einer ärgerlichen Bewegung strich er sich das schwarze Haar aus der Stirn. »Rudern wir zurück! Offenbar sind wir auf einen Witzbold hereingefallen.« Er wollte sich schon abwenden, da hielt ihn Dan am Ärmel fest. Dan O’Flynn hatte sich umgesehen. Und er hatte nun einmal von allen Männern der ›Isabella‹-Crew die schärfsten Augen. Für ihn war auch die grüne Wildnis jenseits des Palmengürtels nicht völlig undurchdringlich. Seine Augen funkelten erregt, als er sich zu Hasard beugte. »Da drüben«, flüsterte er. »Hinter dem Stamm der umgestürzten Palme!« Der Seewolf spähte aus den Augenwinkeln hinüber. Er glaubte, einen Schatten wahrzunehmen, aber er war seiner Sache nicht sicher. Dan O’Flynn dagegen wußte genau, was er gesehen hatte. »Ein Gesicht«, flüsterte er. »Da war ein Gesicht zwischen den Zweigen. Irgend jemand versteckt sich da drüben in den Büschen.«
2. 8
Für ein paar Sekunden blieben die Männer ruhig stehen, ohne sich anmerken zu lassen, daß sie den unbekannten Beobachter bemerkt hatten. »Ein Indianer?« fragte Hasard leise. »Nein, ein Weißer. Glaube ich jedenfalls«, schränkte Dan ein. »Ziemlich jung. Besonders kampflustig sah er nicht aus.« »Sehr beruhigend«, sagte Hasard sarkastisch. »Also sehen wir uns den Burschen mal an. Oder wollt ihr lieber erst Verstärkung holen?« Er grinste, als er Dans verdattertes Gesicht sah. Ed Carberry brummelte etwas, das sich nach seinem Lieblingsspruch anhörte, bezogen auf den Achtersteven des Unbekannten. Der Seewolf war bereits herumgeschwungen. Ohne Hast ging er auf die Stelle zu, wo er eine Bewegung und Dan ein verängstigtes Gesicht gesehen hatte. Der Felsengrund wurde hier nur von einer dünnen Schicht Erde, bedeckt, die Palmen stürzten um, wenn sie eine bestimmte Höhe erreicht hatten. Hasard flankte über einen der toten Stämme - und in derselben Sekunde wurde es vor ihm im Gebüsch lebendig. Die Zweige teilten sich. Wie ein Kastenteufel schnellte eine magere Gestalt hoch, warf sich herum und zeigte die Fußsohlen. Für ein paar Sekunden hatte Hasard das bleiche, schreckverzerrte Gesicht eines Jungen erkannt, der nicht älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre sein konnte - jetzt schien das Kerlchen nur noch aus wirbelnden Beinen zu bestehen. Und noch jemand verwandelte sich von einer Sekunde zur anderen in einen leibhaftigen Wirbelwind: Dan O’Flynn, der wie ein geölter Blitz hinter dem Jungen hersauste. Auch Ben Brighton, Ed Carberry und der Seewolf setzten sich in Bewegung. Hasard war grimmig entschlossen, dem seltsamen Zwischenspiel jetzt auf den Grund zu gehen. Er hatte 9
nicht den Kurs geändert und mit der ›Isabella‹ diese Bucht angelaufen, um sich von einem halbwüchsigen Bürschchen auf der Nase herumtanzen zu lassen. In einem raumgreifenden, beinahe lässigen Wolfstrab lief er über den felsigen Boden, sprang über ein paar Palmenstämme und überholte mühelos Dan O’Flynn, der sich mit seinem Laufstil viel zu sehr verausgabte. Der Flüchtende riß entsetzt den Kopf herum, als er die Schritte des Verfolgers hörte. Seine Augen wurden weit, das schmale Gesicht verzerrte sich vor Schrecken. Immer noch lief er, so schnell er konnte. Aber er hatte für einen winzigen Moment nicht aufgepaßt - und schon verhakte sich sein Fuß hinter einer vorstehenden Felsenkante. Aufschreiend stolperte er, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Wie eine Katze rollte er herum, wollte wieder hochschnellen und begriff, daß es zu spät war. Hasards Schatten fiel über ihn, auch die anderen Männer stürmten heran. Mit einem schluchzenden Laut ließ sich der Junge zurückfallen und hob schützend die Arme vor das Gesicht, als fürchte er, geschlagen zu werden. »Gracia! Gracia! No matar! Por favor …« Die helle Stimme überschlug sich. Zitternd blieb der Junge liegen, jeder Muskel und jede Sehne seines mageren Körpers war so krampfhaft angespannt vor Furcht, daß sie deutlich unter der Haut hervortrat. »No matar!« wiederholte er wimmernd. »Nicht töten ...« Helles Entsetzen flackerte in den aufgerissenen Augen, als der Seewolf sich über ihn beugte und nach seiner Schulter griff. »Tranquilo ...« Ohne darüber nachzudenken, verfiel Hasard ins Spanische, da auch der Junge diese Sprache gesprochen hatte. »Ruhig, Muchacho ...« Er versuchte, dem Kerlchen auf die Beine zu helfen, doch die 10
hagere Gestalt krallte sich förmlich in den Boden. Kopfschüttelnd wandte sich der Seewolf Ben Brighton zu. »Ganz schön fertig, der Kleine! Er muß irgendeinen Schock abgekriegt haben.« »Sieht ganz so aus. Ich denke ...« Der Junge ließ die Hände sinken, die er vor das Gericht geschlagen hatte. Er zitterte immer noch, als er sich halb herumwälzte. Seine Lider zogen sich so weit auseinander, daß das Weiß der Augäpfel schimmerte. »Ihr - ihr seid gar keine Spanier?« stammelte er, jetzt auf Englisch. »Ha!« schrie Ed Carberry. »Sehe ich vielleicht wie ein gottverdammter Don aus, was, wie? Wenn du mich beleidigen willst, ziehe ich dir die Haut in Streifen ...« »Jetzt halt mal die Luft an, Ed!« sagte Hasard. »Wir sind Engländer«, wandte er sich an den Jungen. »Du hast nichts von uns zu befürchten. Wir haben die Rauchzeichen gesehen und glaubten, daß vielleicht jemand Hufe braucht.« Der Junge schluckte. Jetzt endlich ließ er sich von Hasard aufhelfen, aber besonders sicher stand er nicht auf den Beinen. Scheu wanderte sein Blick von einem zum anderen und blieb schließlich an dem großen, schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen hängen ... »Warst du es, der die Rauchzeichen gegeben hat?« fragte Hasard. Das Kerlchen nickte. »Ja, das war ich. Aber dann - dann konnte ich das Schiff deutlicher sehen und dachte, es sei ein Spanier. Ich kenne die Dons. Lieber will ich sterben, als denen noch einmal in die Hände zu fallen ...« Seine Stimme versagte, und wie ein Krampf lief es über seine Schultern. »Ich heiße Bill«, fügte er leise hinzu. Hasard lächelte, als er seinen Namen nannte. Die Augen des 11
Jungen wurden groß. »Sie - Sie sind der Seewolf?« flüsterte er. »Du kennst mich?« »Jeder in der Karibik kennt Sie, Sir!« Das war zwar übertrieben, aber immerhin traf es für jeden zu, der in der Karibik Schiffsplanken unter den Füßen hatte. Für einen Moment leuchtete der Blick des Jungen auf, doch dann verdüsterte sich sein Gesicht wieder. »Wir sind auch Engländer«, sagte er heiser. »Wir hatten schon die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder auf Landsleute zu treffen.« Hasard horchte auf. »Wir?« echote er gedehnt. »Ihr seid mehrere?« »Nur mein Vater und ich. Er ist krank. Seit wir von der spanischen Galeone geflüchtet sind, hat er sich nicht mehr erholt. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, ich ...« Bills Stimme erstickte. Tränen Schossen ihm in die Augen Tränen, die er nicht zurückhalten konnte, obwohl er verzweifelt versuchte, sich zusammenzunehmen. Hasard ahnte, daß sich hier eine Tragödie abgespielt haben mußte. Auch die anderen schwiegen betroffen. Nicht einmal dem rauhbeinigen Carberry wäre es eingefallen, einen seiner berüchtigten Sprüche vom Stapel zu lassen. »Nun heul mal nicht gleich«, knurrte er gutmütig. »Wird schon wieder werden. Wir sehen uns mal an, was da los ist, oder?« Hasard nickte nur und legte dem schluchzenden Jungen beruhigend die Hand auf die Schulter. Bill schluckte und fuhr sich über das nasse Gesicht. »Es ist nicht weit«, sagte er. »Dort drüben zwischen den Büschen und dem Palmenhain.« Er ging voran. Hastig, ab und zu stolperte er. Das Zucken der schmalen Schultern verriet, daß er immer noch gegen die Tränen kämpfte. Schweigend folgten ihm der Seewolf und seine Männer. Der 12
Wald schob sich an dieser Stelle wie ein dunkler Keil auf den Strand zu, und sie mußten einen Streifen Dickicht durchqueren. Bill wandte sich um, als er ein paar Schlingpflanzen auseinanderbog und einen schmalen Pfad einschlug. »Ein Schweinesteig«, erklärte er. »Es gibt Wildschweine hier. Und Früchte in Hülle und Fülle. Es ist auch ein Dorf in der Nähe.« »Und wie verhalten sich die Eingeborenen zu euch?« »Sie sind freundlich. Aber wir haben nicht gewagt, bei ihnen unterzuschlüpfen. Die Dons gehen manchmal auf Jamaica an Land und durchstreifen die Dörfer.« Die Dons! Hasard dachte an seine eigenen Erlebnisse mit den Spanieren, die wie eine Gottesgeißel über die Eingeborenen der neuen Welt hergefallen waren, ganze Völkerschaften versklavt hatten und blutigen Terror verbreiteten. Englische Freibeuter, ausgestattet mit Kaperbriefen der Königin, hatten ihnen im Laufe der Zeit erheblichen Schaden zugefügt. Wo immer die Spanier hier in der Karibik eines Engländers habhaft wurden, nahmen sie blutige Rache, und Hasard konnte die Furcht des mageren schwarzhaarigen Jungen durchaus verstehen. Inzwischen hatten sie den Waldstreifen hinter sich. Das Dickicht wurde lichter, grüngoldene Sonnenflecken tanzten über den Boden. Auch hier schien die Luft zu kochen. Das Rauschen und Murmeln eines kleinen Bachlaufs erklang, Myriaden von Insekten summten. Die Wipfel eines Palmenhains wiegten sich sacht im Wind. Die Hütte im Schatten zwischen den schlanken Stämmen war erst auf den zweiten Blick zu sehen. Eine primitive Hütte. Fensterlos, gedeckt mit einem geflochtenen Dach aus Palmblättern. Zum Schutz gegen Schlangen ruhte sie auf einem einfachen Pfahlgerüst. Im Innern der Behausung mußte die Hitze unerträglich sein, denn der 13
Bewohner kauerte halb, halb lag er vor der Hütte auf dem Boden. Beim Geräusch der Schritte hatte er versucht, sich aufzurichten - jetzt sank er kraftlos gegen den Holzbalken zurück. Sein Atem rasselte. Ein dichter grauer Vollbart bedeckte den unteren Teil des ausgezehrten Gesichts, die tief eingesunkenen Augen waren rot und entzündet. Flatternd hob sich seine Hand zu einer Geste, als er den schwarzhaarigen Jungen erkannte. Bill lief mit einem erstickten Laut auf den alten Mann zu und sank neben ihm auf die Knie. »Vater! Ich habe Hilfe gebracht. Es sind Engländer, Vater! Es ist der Seewolf!« Der alte Mann hob den Blick. Einen unendlich müden Blick, erschöpft und wie ausgebrannt. Er sah Ben Brighton an, den blonden Dan O’Flynn, den eisenharten Profos mit seinem zernarbten Gesicht, schließlich den Seewolf. Fast eine volle Minute schien der Alte zu brauchen, um den Anblick der vier Männer in sich aufzunehmen, und dann war es, als würden seine leeren Augen noch einmal von einem letzten Aufflacker des schon ersterbenden Lebensfunkens erhellt. »Der Seewolf«, flüsterte er. »Engländer - dem Himmel sei Dank.« Seine Lider schlossen sich, als hätten die Worte den letzten Rest seiner Kraft verbraucht. Der Junge neben ihm schluchzte leise, und Hasard fühlte, wie sich etwas in ihm verkrampfte, als er Bills fragendem Blick begegnete. Auch die anderen schwiegen erschüttert. Denn genau wie der Seewolf hatten sie nur einen einzigen Blick gebraucht, um zu sehen, daß der bärtige alte Mann bereits vom Tode gezeichnet war, daß nichts und niemand ihm noch helfen konnte. Auch Bill wußte, daß sein Vater sterben würde. Seine Tränen bewiesen es, und dennoch brannte noch etwas wie ein 14
Hoffnungsfunke in seinen Augen, wehrte sich sein Bewußtsein gegen die Endgültigkeit der Erkenntnis. Er starrte den Seewolf an, als erwarte er ein Wunder von ihm. Hasard biß die Zähne zusammen. »Lauf zum Strand zurück, Dan«, sagte er gepreßt. »Hol den Kutscher!« Dan O’Flynn nickte nur und sprang auf. Er wußte so gut wie die anderen, daß auch der Kutscher, Koch und Feldscher auf der ›Isabella‹, den alten Mann nicht mehr retten konnte. Aber Hasard wollte wenigstens versuchen, dem Kranken zu helfen und wenn auch nur, damit Bill das Gefühl hatte, daß alles Menschenmögliche für seinen Vater getan worden war. Der Junge blickte Dan nach, der wie eine Katze zwischen den Büschen verschwand. Auch der Alte hatte jetzt wieder die Augen geöffnet. Augen, die fiebrig glänzten und deren Blick Hasards Gesicht suchten. Der Seewolf ging neben der ausgemergelten Gestalt in die Hocke. Der unruhige Blick des Alten sog sich an ihm fest, die trockenen, aufgesprungenen Lippen bewegten sich. Er hatte etwas auf dem Herzen. Er wollte reden, und noch einmal sammelte er seine schwindende Kraft zu einer letzten Anstrengung. Schweigend und gebannt lauschten die Seewölfe der schwachen, brüchigen Stimme, die ihre traurige Geschichte erzählte. * Bill und sein Vater waren auf der ›Sea Eagle‹ gefahren: der Alte als Bootsmann, der Junge als Moses. Ein Unstern schien über dem Schiff zu stehen von Anfang an. Das begann damit, daß im Sturm eine Rah vom Mast gerissen wurde, einen Decksmann erschlug und in zwei Teile brach. Wußte nicht jeder Seemann, daß eine gebrochene Rah bedeutete, auch das Schiff werde noch vor dem Ende der Reise 15
in zwei Teile brechen? Der Mannschaft gelang es, den Schaden mit Bordmitteln zu reparieren, bis sie die nächste Insel anlaufen und eine neue Rah riggen konnten. Zwei Wochen später gerieten sie in eine Flaute. Das Trinkwasser ging zur Neige, und als endlich wieder eine Brise wehte, waren die Männer schon halb wahnsinnig vor Durst. Sie nahmen Kurs auf Antigua. Die ›Sea Eagle‹ lief eine Bucht an, um Wasser zu mannen - und viel zu spät bemerkten sie die beiden spanischen Schiffe, die dicht unter Land auf sie lauerten. Noch heute flackerten die Augen des alten Bootsmanns auf, als er sich an das Verhängnis erinnerte, das über die ›Sea Eagle‹ hereingebrochen war. Der erste Spanier feuerte eine Breitseite ab, bevor die erschöpften, vom Durst gepeinigten Engländer es auch nur schafften, die Geschütze zu bemannen. Die ›Sea Eagle‹ wurde unter der Wasserlinie getroffen. Ihr Schicksal war besiegelt Es hätte der Brandpfeile gar nicht mehr bedurft, die der zweite Spanier dem hilflos treibenden Opfer in die Takelage schoß. Eine einzige Breitseite konnte die ›Sea Eagle‹ noch abfeuern. Einem der Spanier wurden Bugspriet und Blinde zerfetzt. Er revanchierte sich, indem er die ›Sea Eagle‹ regelrecht zusammenschoß. Und das böse Vorzeichen bewahrheitete sich: genau wie die Rah brach das Schiff in zwei Teile auseinander, bevor es sank. Der größte Teil der Besatzung kam ums Leben. Wenige nur wurden aus dem Wasser gefischt, darunter auch Bill, der Schiffsjunge, und sein Vater. Aber sie wußten, daß sie keinen Grund hatten, dem Schicksal für die Rettung zu danken. Dem Schicksal nicht und am allerwenigsten den Spaniern, die von Anfang an keinen Zweifel daran ließen, was die Engländer bei ihnen erwartete. Schon daß es die ›Sea Eagle‹ überhaupt gewagt hatte, sich zu 16
wehren, legten die Sieger als Verbrechen aus. Ein arroganter spanischer Kapitän befahl, jeden der Gefangenen mit dreißig Peitschenhieben zu bestrafen - und von da an begann für die kleine Gruppe der Engländer die Hölle. Sie wurden zum Borddienst auf der spanischen Galeone gepreßt. Und die Spanier ließen sie spüren, was es hieß, das Leben rechtloser Sklaven führen zu müssen. Wo immer sich die Gelegenheit bot, wurden die Engländer schikaniert. Jede unangenehme oder gefährliche Arbeit wurde unweigerlich den Engländern aufgehalst. Wo immer es Schwierigkeiten gab, irgendwelche Fehler passierten - die Engländer waren schuld und wurden bestraft. Sie ertrugen diese Hölle, weil sie gar keine andere Wahl hatten, aber eines Tages trat der Augenblick ein, daß es selbst dem besonnenen alten Bootsmann zuviel wurde. Einer der Spanier stieß den jungen Bill brutal mit Füßen, weil der ihm angeblich im Weg gewesen war. Der alte Bootsmann sah es, und etwas in ihm schien zu zerbrechen. Mit einem wilden Schrei sprang er dem Spanier an die Kehle. Er hätte ihn wohl wirklich erwürgt, wenn nicht ein Dutzend anderer Dons dazwischengegangen wäre. Wegen Meuterei sollte der Alte hängen. Im Morgengrauen wollte man ihn an die Großrah knüpfen. Und Bill sollte seinen Vater eigenhändig hochziehen. Wenn er sich weigere, erklärte der Kapitän kalt, werde man ihn vor die nächste Kanone binden und sie abfeuern. Für Bill und seinen Vater ging es nur noch ums nackte Überleben. Die Galeone segelte gerade an der Küste von Jamaica vorbei. Bill setzte alles auf eine Karte. Mit einem Belegnagel schlug er zwei spanische Wachtposten nieder, nahm einem von ihnen den Schlüssel zur Vorpiek ab, wo sein Vater eingesperrt war, und tatsächlich gelang es den beiden Engländern, in einem unbewachten Moment über Bord zu springen. 17
Wie sie es in ihrem geschwächten Zustand schafften, an Land zu schwimmen, begriffen sie hinterher selbst nicht mehr. Der Alte brach zusammen, kaum daß sie den Strand erreicht hatten. Bill wußte, daß sie Hilfe brauchen würden, wenn sie am Leben bleiben wollten. Mit der Kraft der Verzweiflung schlug sich der Junge durch die Wildnis, bis er auf ein Dorf stieß. Er war nicht einmal mehr fähig, zunächst abzuwarten, zu beobachten und nach einer Möglichkeit der Verständigung zu suchen. Er torkelte einfach mitten auf den Dorfplatz, und bevor er das Bewußtsein verlor, konnte er den Indianern gerade noch durch Zeichen erklären, daß ein weiterer Mann unten am Strand liege. Die beiden Flüchtlinge hatten Glück. Auf der Galeone war ihr Verschwinden inzwischen entdeckt worden, die Spanier suchten das Wasser ab, und die Eingeborenen zogen daraus die richtigen Schlüsse. Sie haßten und fürchteten die Dons, unter denen sie schon viel gelitten hatten. Da die beiden Engländer offenbar als Feinde Gefangene der Spanier gewesen waren, wurden sie von den Eingeborenen als Freunde betrachtet. Sie wurden versteckt, gesundgepflegt und mit allem versorgt, was sie brauchten. Bill, der über die Zähigkeit der Jugend verfügte, erholte sich schnell wieder. Auch seinem Vater schien es zunächst besser zu gehen - aber er wurde nie wieder ganz der Alte, irgend etwas tief in ihm schien zerbrochen zu sein. Hilflos mußte Bill zusehen, wie sein Vater immer mehr verfiel. Als wieder einmal - wie schon häufiger - ein spanisches Schiff in die Bucht segelte und die Dons die Dörfer durchstreiften, halfen die Eingeborenen ihren Gästen, die Hütte in der Nähe des Strandes zu bauen. Hier waren sie sicher, hierher würde sich bestimmt kein Spanier verirren. 18
Aber zu diesem Zeitpunkt war der alte Bootsmann schon von einer rätselhaften Krankheit gezeichnet. Er brauchte Hilfe, und zwar ein Schiff, das sie an einen Ort brachte, wo es Ärzte gab und der alte Mann die Behandlung erhalten konnte, die er brauchte. Nur durfte das Schiff kein Spanier sein! Aber außer den Spaniern kreuzten fast nur noch Piraten in der Karibik, und es war nackte Verzweiflung gewesen, die Bill schließlich veranlaßt hatte, dem nächstbesten Segler, den er sichtete, Rauchzeichen zu geben. Es war eine glückliche Fügung, daß ausgerechnet die Männer der ›Isabella‹ die Signale sichteten. Eine glückliche Fügung, die sich aber zu spät anbot. Für den alten Bootsmann gab es keine Hilfe mehr. Seine Kraft war verbraucht, sein Lebenswille gebrochen. Er wußte, daß er sterben würde, und in seiner brüchigen, immer leiser werdenden Stimme lag schon etwas von der majestätischen Ruhe des nahen Todes.
3. Für einen Moment blieb es still, als die leise Stimme des alten Mannes verklang. Bill preßte eine Faust vor den Mund und biß sich auf die Knöchel, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Kraftlos, mit geschlossenen Augen, lag sein Vater da, sein Atem ging jetzt schwer und rasselnd. Hasards Gesicht hatte sich verkantet. Er kannte die Spanier und konnte sich vorstellen, welche Hölle der alte Bootsmann und sein Sohn erlebt hatten. Auch Ben Brighton und der rauhbeinige Ed Carberry waren erschüttert. Stumm standen sie da, starrten auf den Sterbenden hinunter, und erst als sie das Brechen und Knacken von Zweigen im Dickicht hörten, zuckten sie zusammen. 19
Schritte näherten sich. Dan O’Flynn brach durch die Büsche, der Kutscher folgte ihm eilig. Niemand wußte, wie dieser Mann eigentlich wirklich hieß. Früher war er Kutscher bei dem Arzt Sir Freemont in Plymouth gewesen, bis er einer Preß-Gang in die Hände fiel und - genau wie Philip Hasard Killigrew und Dan O’Flynn auf dem Schiff Francis Drakes landete. Damals hatte der Kutscher ein Segel nicht von einem Bettlaken unterscheiden können und sich nichts sehnlicher gewünscht, als wieder zurück auf den sicheren Boden zu gelangen, wo die Dinge fest standen und keine erbärmliche Schaukelei einem dem Magen umdrehte. Inzwischen waren ihm Seebeine gewachsen, und keine zehn Pferde hätten ihn mehr von der ›Isabella‹ heruntergebracht. Als Koch und Feldscher war er unersetzlich. Sir Freemont, seinem früheren Brotherrn, hatte er eine Menge abgeschaut. Er verstand sich ausgezeichnet auf die Wundbehandlung, er konnte gebrochene Knochen richten, zerfetzte Gliedmaßen mit Kabelgarn wieder zusammenflicken und geheimnisvolle Tränke brauen, mit denen er Rum-Leichen, Fieberkranke und sonstwie Angeschlagene kurierte. Die Mannschaft traute ihm zu, notfalls Tote aufzuwecken, zumindest Halbtote, und gespannt beobachteten Carberry, Ben Brighton, Dan und Hasard, wie sich der Kutscher über den schwer atmenden alten Mann beugte. Die Untersuchung dauerte nur wenige Minuten. Stumm schüttelte der Kutscher den Kopf, als er sich wieder aufrichtete. Nein, hier konnte niemand mehr helfen. Sie hatten es alle gewußt, auch Bill. Aber der Junge hatte bis zuletzt auf ein Wunder gehofft, und jetzt schossen wieder Tränen aus seinen Augen. Der Kutscher rieb sich mit dem Handrücken über das Kinn. »Es ist die Schwindsucht, glaube ich«, sagte er leise zu Hasard. »Man kann nichts tun, gar nichts. Es gibt kein Mittel 20
dagegen.« »Und wie lange wird es noch dauern?« »Nur noch Minuten! Er hat keinen Lebenswillen mehr. Es hat auch keinen Sinn, ihn irgendwo hinzubringen, wo er es bequemer hat. Er würde es nicht überstehen.« Sie hatten so leise gesprochen, daß weder Bill noch sein Vater die Worte verstehen konnten. Hasard blickte zu dem Jungen hinüber, der mit gesenktem Kopf und zuckenden Schultern im Sand kauerte. Der Seewolf dachte an seine eigenen Söhne, die Zwillinge Hasard und Philip, die von brutalen Verbrechern ermordet worden waren. Das Schicksal hatte es ihm nicht vergönnt, sie aufwachsen zu sehen. Nie würde er erleben, wie sie erwachsen wurden, auf der Schwelle zum Mannesalter standen wie der schluchzende Junge dort drüben. Hasard hatte seine Söhne verloren, ohne auch nur die Chance zu haben, sie wirklich kennenzulernen. Er preßte die Lippen zusammen. Für einen Moment war die Erinnerung wieder ganz gegenwärtig, wurden Schmerz und Zorn fast übermächtig, und erst ein rasselnder Atemzug des Sterbenden unterbrach seine düsteren Gedanken. Der alte Mann hatte die Augen wieder geöffnet und hob die Hand zu einer matten Geste. Hasard begriff, daß der Kranke ihm etwas sagen wollte, trat näher heran und ging neben der ausgemergelten Gestalt in die Hocke. »Ich - werde sterben«, flüsterte der Alte. »Ich fühle es. Sir werden Sie einem Sterbenden einen letzten Wunsch erfüllen?« Beschwörend blickten die brennenden, fiebrig glänzenden Augen Hasard an. Der Seewolf ahnte, um was es ging. Er nickte. »Ich werde es tun, wenn es in meiner Macht steht«, sagte er mit belegter Stimme. Der Alte streckte die Hand aus. Dünne, zittrige Finger schlossen sich um Hasards Rechte, und immer noch hingen die flackernden Augen mit einem Ausdruck inständigen Flehens an 21
seinem Gesicht. »Sorge für meinen Sohn«, bat der Sterbende leise. »Er steht allein auf der Welt. Er hat keine Mutter mehr und nun bald auch keinen Vater. Sorge für Bill! Schütze ihn, bis er alt genug ist, um sich selbst zu schützen.« Hasard nickte. Sein Blick glitt zu dem Jungen hinüber, der um seinen Vater weinte. Fast genauso mager und ausgehungert hatte Dan O’Flynn damals ausgesehen, als er zusammen mit dem Seewolf an Bord von Francis Drakes ›Marygold‹ gekommen war. Jetzt war aus dem Bürschchen Dan ein Mann geworden. Es fehlte ohnehin ein Schiffsjunge an Bord. Für Bill würde gesorgt werden, das war gar keine Frage. »Wir werden deinen Sohn mit an Bord nehmen«, sagte Hasard ruhig. »Er wird ein Zuhause haben.« »Er - steht ganz allein auf der Welt. Und er ist so jung. Werdet ihr - auf ihn achten?« »Wir alle werden auf ihn achten. Ich verspreche es.« Der alte Bootsmann schloß die Augen und öffnete sie wieder. Grenzenlose Erleichterung lag jetzt in seinem Blick. Für ein paar Sekunden drückte er dankbar Hasards Rechte, dann lösten sich seine Finger und tasteten zitternd unter das zerfetzte Hemd. Als er die Hand wieder hervorzog, hielt er ein zusammengerolltes Stück Pergament. Seine Lippen bewegten sich zuckend. »Kennst du - die Insel der Steinernen Riesen?« fragte er mühsam. Hasard runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Ich habe nie von einer Insel der Steinernen Riesen gehört.« »So wird sie genannt. Ich weiß nicht, wie sie wirklich heißt. Und ich weiß auch nicht, ob die Positionsangaben genau stimmen. Aber ich weiß, daß dort - ein Schatz vergraben ist, ein riesiger Schatz. Ich habe ihn selbst dort versteckt - nun kann ich nicht mehr dorthin segeln - nie mehr ...« 22
Seine Stimme brach. Mühsam rang er nach Atem, ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Noch einmal klärte sich der schon verschwimmende Blick seiner Augen, und mit einer flatternden Gebärde legte er die Karte in Hasards Rechte. »Finde den Schatz«, flüsterte er. »Und vergiß - Bill nicht. Sorge für ihn - dann kann ich - in Ruhe - meine letzte Reise ...« Wie ein Hauch verwehten die letzten Worte des Sterbenden. Kraftlos fiel sein Kopf zur Seite, seine Glieder erschlafften. Über die aufgerissenen Augen des alten Bootsmanns schoben sich die stumpfen Schleier des Todes, und tief auf dem Grund der Pupillenschächte schien etwas zu brechen wie Glas.
4. Bills Finger zitterten, als er sich über den Toten beugte und ihm sanft die Augen zudrückte. Immer noch rannen Tränen über seine Wangen, doch etwas von der hoffnungslosen Verzweiflung war aus seinen Augen verschwunden. Er würde lange brauchen, um über den Tod seines Vaters hinwegzukommen. Aber er wußte wieder, wie es weitergehen sollte. Er war nicht mehr allein auf der Welt, verbannt auf eine Insel, deren Menschen kaum seine Sprache verstanden, er brauchte nicht mehr in der ständigen Furcht zu leben, daß die Spanier ihn entdecken und wieder einfangen würden. Grenzenlose Dankbarkeit sprach aus den Blicken, mit denen er ab und zu den Seewolf streifte, und ebenso grenzenloses Vertrauen. Bei aller Trauer lag auf seinem Gesicht doch auch ein Leuchten: Bill wäre kein Junge von fünfzehn Jahren gewesen, wenn es ihm nicht als die Erfüllung all seiner Träume erschienen wäre, in Zukunft auf der stolzen ›Isabella VIII.‹ 23
unter dem Kommando des legendären Seewolfs fahren zu dürfen. »Wir werden ihn begraben«, sagte Hasard leise. »Habt ihr eine Schaufel in der Hütte?« Bill nickte nur. Er verschwand durch die Tür aus geflochtenen Palmblättern und kehrte wenig später mit einem kurzen Spaten zurück. Zwischen den schlanken Palmenstämmen im Schatten hoben sie eine Grube aus, wickelten den Leichnam in Segeltuch und häuften dann rundgewaschene Kiesel auf das Grab. Ed Carberry hatte inzwischen ein einfaches Kreuz aus Treibholz zusammengenagelt, das er tief zwischen die Steine rammte. Hasard sprach ein Gebet - und Bills Schultern zuckten und schauerten dabei, als werde ihm jetzt erst in vollem Umfang bewußt, daß er endgültig von seinem Vater Abschied nehmen mußte. Lange kniete der Junge am Grab des alten Mannes. Die Seewölfe ließen ihm Zeit und warteten schweigend. Hasards Blick glitt in die Runde, und Sekunden später zuckte er unwillkürlich zusammen. Eine Gestalt stand auf der Felsenterrasse, die den Palmenhain vom Saum des Dickichts trennte. Eine hohe, hagere Gestalt, in Lumpen gehüllt, mit langem, strähnigem Haar und verwitterten Zügen. Ein uraltes Weib, wie Hasard erkannte. Helle, glänzende Augen lagen tief in den Höhlen, und auf der braunen Lederhaut von Stirn und Wangen zeichneten sich ein paar Narben ab wie magische Symbole. Die Augen wurden groß und weit, als sie Hasards Blick begegneten. Augen, aus denen eine seltsame, fast hypnotische Kraft strahlte. Langsam setzte sich die Alte in Bewegung, kletterte auf ihren dürren Beinen über die Felsen hinunter, und der Seewolf spannte sich unwillkürlich. Auch Bill hatte sich umgewandt. Kein Schrecken lag auf 24
seinem Gesicht, also kannte er die Alte wohl. »Bahrani ...« Seine Stimme klang dünn. »Mein Vater - er ist tot.« Die Indianerin machte eine Geste, die alles und nichts besagen konnte. Als sie ein paar Worte in einer fremden Sprache murmelte, wurden zwischen den papierdünnen Lippen die schwarzen Zahnstummel sichtbar. Bill schluckte und wandte sich dem Seewolf zu. »Das ist Bahrani«, sagte er. »Sie ist eine Zauberin. Sie kann wahrsagen. Den Tod meines Vaters hat sie auf den Tag genau vorausgesagt.« Hasard hob die Brauen. Er glaubte nicht an Zauberei. Obwohl er wußte, daß diese Wilden mit ihrer ungebrochenen Verbindung zur Natur und ihren Kräften manches zustande brachten, das die Vernunft allein nicht erfassen und auch nicht erklären konnte. »Dein Vater war krank, Bill«, sagte der Seewolf ruhig. »Mag sein, daß deine Bahrani mit dieser Krankheit Erfahrung hat und die Anzeichen kennt, die auf das Ende deuten.« Bill schüttelte den Kopf. Ganz offenbar war er überzeugt von dem, was er sagte. »Sie ist wirklich eine Zauberin. Sie kann Glück oder auch Unglück über fremde Menschen bringen. Und sie kann ihre Feinde töten, ohne sie anzurühren. Sogar auf große Entfernung. Und zu einem Zeitpunkt, den sie selbst bestimmt. Hasard antwortete nicht, weil es ihm sinnlos erschien, über dieses Thema eine Debatte anzufangen. Unter den Männern der Isabella-Crew gab es ohnehin schon genug Aberglauben. Ed Carberry zum Beispiel, der eisenharte Profos, starrte die verhutzelte Alte mit sichtlichem Respekt an, und selbst Dan O’Flynn, sonst stets mit dem Mundwerk vorneweg, war ungewöhnlich schweigsam. Bill sagte ein paar Worte in der Heimatsprache der angeblichen Zauberin. Diesmal war es ein Lächeln, das die 25
schwarzen Zahnstummeln entblößte. Die seltsamen wasserhellen Augen wanderten zu Hasard hinüber, mit einem durchdringenden, eigentümlich wissenden Blick. »Gut«, sagte die Alte mit ihrer brüchigen Greisenstimme. »Ihr Bill an Bord nehmen - gut für Bill. Bleiben auf Insel schlecht. Spanier kommen, plündern Dorf - kann sein, Bill finden und töten - Spanier schlecht - Diablos!« Hasard nickte. Neben ihm unterdrückte Ben Brighton ein Lächeln. »Wenn sie wirklich so eine große Zauberin ist, könnte sie die Dons ja eigentlich alle aus sicherer Entfernung töten«, meinte er. »Bevor sie überhaupt dazu kommen, an Land zu gehen und ein Dorf zu überfallen.« Der Blick der Alten glitt von Hasard ab zu dem Bootsmann hinüber. Was er gesagt hatte, schien sie zumindest bruchstückhaft verstanden zu haben. »Si«, sagte sie. »Bahrani töten spanische Diablos aus Ferne. Aber nicht leicht. Geht nur, wenn kennen Gesicht von Feind, können machen muneca.« »Puppe«, übersetzte Ben Brighton das spanische Wort. »Wieso Puppe?« »Muneca - Puppe aus Lehm, wie Mensch. Dann encato Zauber - Zauber von Bahrani stark.« Wieder bohrte sich der zwingende, fast magische Blick in Hasards Augen. »Por favor«, fuhr die Alte in ihrem Gemisch aus englischen und spanischen Brocken fort. »Du kommen heute abend mit Freunden zu Fest, großes fiesta am Strand. Bahrani dir werden zeigen Zauber von Tod aus Ferne. Und Zauber von sehen, was weit weg ist.« Hasard kniff die Augen zusammen. Seine Neugier war geweckt, obwohl er sich immer noch weigerte, an so etwas wie Zauberei wirklich zu glauben. »Du willst heute abend jemanden aus der Entfernung umbringen?« fragte er. 26
»Si. Spanisches Capitan. Name ist Rafael Virgil. Capitan geplündert Dorf, viele Männer tot. Jetzt Rache.« Die Worte klangen, entschlossen, erschreckend endgültig. Was auch immer hinter den Zauberkünsten der Alten steckte sie selbst schien jedenfalls felsenfest daran zu glauben. »Du kommen?« fragte sie. »Freunde mitbringen?« Hasard zögerte. Er wollte schon den Kopf schütteln, aber da war irgend etwas in den wasserhellen Augen der Indianerin, das Spannung in ihm weckte, die ungewisse Ahnung, daß er vielleicht doch mehr erleben würde als ein großes Tamtam, vielleicht mit ein bißchen magischem Theater angereichert. Außerdem hatte er sich ohnehin entschlossen, erst morgen früh weiterzusegeln. Er gönnte seinen Männern die Abwechslung, und er wußte, daß es nur nützlich sein konnte, jede Gelegenheit wahrzunehmen, um die Eingeborenen der Karibik als Freunde Englands zu gewinnen. »Gut«, sagte er lächelnd. »Wir danken euch für die Einladung. Wir werden kommen.« * Eine halbe Stunde später glitt das Boot über das tiefblaue Wasser der Bucht wieder der ›Isabella‹ zu. Die alte Zauberin stand hoch aufgerichtet am Strand und starrte den Männern nach. An Deck der Galeone hatte sich der Großteil der Crew versammelt und blickte dem tanzenden Boot genauso neugierig entgegen. Bills Augen hingen voller Bewunderung an dem schmucken, ranken Segler - selbst diesem fünfzehnjährigen Jungen fiel sofort auf, daß es sich um ein ganz besonderes Schiff handelte. Dan O’Flynn erklärte mit sichtlichem Stolz die Einzelheiten, und er war gerade bei dem Ruderhaus angelangt, das den 27
Rudergänger vor überkommenden Seen schützte, als sie die ›Isabella‹ erreichten und an der Jakobsleiter auf enterten. Hasard sprang als erster an Deck. Dan und Ed Carberry holten das Boot hoch, Bill blieb reichlich verlegen stehen und sah sich um. Hasard grinste und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Unser neuer Schiffsjunge«, stellte er vor. »Er heißt Bill und ist fünfzehn Jahre alt.« In knappen Worten berichtete er, was auf der Insel geschehen war, und was Bill und sein Vater als Gefangene der Spanier erlebt hatten. Für einen Moment herrschte betroffenes Schweigen. Der erste, der wieder Worte fand, war Batuti. Der riesenhafte Gambia-Neger hatte schon Dan O’Flynn, dem inzwischen zum Mann gewordenen Bürschchen, seine ganz besondere Freundschaft angedeihen lassen, und er schien entschlossen, seine Fürsorge in Zukunft auch auf den schwarzhaarigen Bill auszudehnen. Spontan trat er auf den Jungen zu und nahm dessen magere Rechte in seine mächtige Pranke. »Ich Batuti«, sagte er ernst. »Wenn Dons treffen, Batuti alle auffressen für das, was sie kleines Bill getan haben. Klar?« Bill schluckte etwas erschrocken. Hasard mußte lachen. »Batuti ist zwar kein Menschenfresser«, sagte er, »aber die Spanier kriegen trotzdem das große Zittern, wenn er ihnen seinen Morgenstern um die Ohren schlägt. Das gleiche gilt übrigens für Ferris Tuckers Axt. Mister Tucker ist unser Schiffszimmermann.« Auch der rothaarige Hüne trat auf Bill zu und schüttelte ihm die Hand. Nacheinander stellte Hasard dem Jungen die anderen Männer vor: Blacky und Smoky, Pete Ballie, Al Conroy, Sam Roskill und Bob Grey, den alten Donegal Daniel O’Flynn mit seinem Holzbein, den hageren Fockmastgast Gary Andrews, Jeff Bowie und Matt Davies, die - der eine links, der andere rechts - beide eine bedrohlich aussehende Hakenprothese 28
trugen. Big Old Shane, der ehemalige Waffenmeister von Arwenack, klopfte dem mageren Jungen mitleidig auf die Schulter. Stenmark, Will Thorne und Luke Morgan schüttelten ihm die Hand - und Bills Augen weiteten sich, als er die zottige braune Gestalt sah, die wie ein geölter Blitz vom Großmars abenterte und keckernd auf der Kuhl auf und ab hüpfte. »Das ist Arwenack, der Schimpanse«, stellte Hasard lächelnd vor. »Der gehört ebenfalls dazu. Wenn wir drüben im kalten Europa sind, trägt er sogar echte Seemanns-Kleidung.« Arwenack zeigte sein Gebiß und trommelte sich auf die Brust, als habe er Hasards Worte verstanden. Bill lächelte scheu. Und dann, als der Affe tatsächlich die Pfote ausstreckte, um den Neuankömmling genau wie die anderen zu begrüßen, da konnte der magere Junge zum erstenmal wieder von Herzen lachen. Er wurde zwar sofort wieder ernst, und seine Augen schimmerten feucht, als schäme er sich dieses Lachens, doch zumindest für einen Moment hatte er seinen Kummer vergessen. Nach und nach würde er darüber hinwegkommen. Er spürte die Sympathie, die ihm entgegenschlug, spürte, daß alle diese Männer bereit waren, ihn herzlich aufzunehmen, ihm zu helfen und den neuen Anfang so leicht wie möglich zu machen. In der dunkelsten Stunde seines Lebens hatte Bill das Glück gehabt, Menschen zu begegnen, wie man sie sich als Freunde nicht prachtvoller hätte wünschen können, und zum erstenmal nach langer Zeit fühlte sich der Junge wieder sicher und geborgen. Ein bißchen zuckte er doch noch zusammen, als der hünenhafte Edwin Carberry ihm die Pranke auf die Schulter schlug. Aber immerhin: er brachte schon ein zaghaftes Lächeln zustande. »Kutscher!« brüllte der Profos mit seiner Donnerstimme. 29
»Verschwinde in deine Kombüse und sieh zu, daß dieses ausgehungerte Bürschchen erst mal was Anständiges zwischen die Rippen kriegt. Aber hopp-hopp, wenn du nicht willst, daß ich dir die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch ziehe!«
5. Am Nachmittag stiegen von neuem Rauchzeichen über der Bucht an der Küste von Jamaica auf. Diesmal jedoch waren es tatsächlich die Eingeborenen, die sich auf diese Weise verständigten. Der Wind war abgeflaut, die dünne Rauchfahne stieg fast senkrecht von einem der Hügel in den blauen Himmel. Eine Viertelstunde verging, dann erfolgte die Antwort von einer Bergkuppe im Innern der Insel. Eine dritte Rauchfahne gesellte sich hinzu, wenig später eine vierte, und sehr weit entfernt wurde das dumpfe Tamtam von Trommeln hörbar. Gespannt beobachteten die Männer der ›Isabella‹ die Küste. Hasard hatte ihnen inzwischen erzählt, daß die Eingeborenen zu einem Fest am Strand geladen hatten - einem reichlich makaberen Fest, das dem Zweck dienen sollte, einen Mann zu töten, der sich in diesem Augenblick unerreichbar auf hoher See befand. Diesen düsteren Aspekt der Angelegenheit hätte der Seewolf zwar lieber nicht besonders betont, aber ihm war von Anfang an klargewesen, daß zumindest Dan O’Flynn und Ed Carberry die Sache gebührend ausschmücken würden. Daß Bill Stein und Bein schwor, die Alte von der Insel sei tatsächlich eine Zauberin, tat ein übriges. Blacky bekreuzigte sich und spuckte dreimal über die Schulter. Batuti murmelte etwas, das garantiert ein Bannspruch in seiner afrikanischen Heimatsprache war. Ed Carberry 30
verkündete zwar dröhnend, er werde jedem vermaledeiten Rübenschwein von Zauberer die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch ziehen, aber so ganz überzeugt wirkte nicht einmal der eiserne Profos. Hasard marschierte auf dem Achterkastell hin und her und fragte sich ernsthaft, ob es nicht besser sei, ankerauf zu gehen und an diesem Fest gar nicht erst teilzunehmen. Aber erstens war der Wind eingeschlafen und zweitens hatten sich die Männer eine Abwechslung redlich verdient. Und wenn sie sich drittens nicht mit eigenen Augen davon überzeugen konnten, daß die sogenannte Zauberin nur eine ganz gewöhnliche alte Frau war, würde das Gerede noch tagelang gehen. Das dumpfe Tamtam der Trommeln war jetzt lauter geworden. Es ertönte aus drei Richtungen gleichzeitig. Hasard vermutete, daß es den Anmarsch verschiedener Gruppen begleitete, Abordnungen aus den Nachbardörfern wahrscheinlich. Im Osten stand die Sonne als Glutball über der Kimm, die nahende Dämmerung überzog Wasser und Land mit dunkelgoldenen Schleiern. Gleich würde die Nacht hereinbrechen, unvermittelt, fast gewaltsam, wie überall in den Tropen. Am Strand warfen die Palmen lange Schatten, die roten Felsen schienen zu phosphoreszieren. Hasards Augen wanderten wieder nach Westen und beobachteten, wie der brennende Sonnenball die Kimm berührte und langsam wegsank. Minuten später glühte nur noch ein schmaler Streifen am Himmel in düsterem Karmesin. Wie auf ein unhörbares Signal hin flammten in der Schwärze zwischen den schlanken Palmenstämmen Fackeln auf. Flammen loderten empor, warfen ihren huschenden Widerschein auf dunkle, glänzende Leiber und ließen Gesichter wie schimmernde Bronze aufleuchten. Auch über den roten Felsen an der Ostseite der Bucht erschienen jetzt tanzende Fackeln. Schweigend, gleichsam getragen und vorwärtsgepeitscht vom 31
dumpfen Rhythmus des Trommelwirbels, marschierte eine Gruppe brauner, halbnackter Gestalten über den Strand. Noch waren sie nur als dunkle Schatten zu erkennen, gespenstisch wie die dritte Fackelkette, die sich von Westen näherte. Die ganze Bucht schien plötzlich von diesen tanzenden, schwankenden Lichtbündeln eingeschlossen zu sein. Sie kamen näher, rückten enger zusammen und bewegten sich auf eine Stelle am Strand zu, als wollten sie sich dort zu einer einzigen gewaltigen Lohe vereinigen. Lauter dröhnte das unheimliche Tamtam der Trommeln durch die Nacht, und jetzt war zwischen dem dumpfen Stakkato auch ein kehliger, seltsam monotoner Singsang zu hören, als mühten sich Dutzende von Stimmen, das stete Brausen und Raunen des Meeres nachzuahmen. In einem weiten Halbrund verharrten die Fackelträger, einem Halbrund, das sich öffnete und wieder schloß hinter den Trommlern, die in den Kreis traten und sich an einer bestimmten Stelle im Sand niederkauerten. Das Tamtam wurde leiser, als verebbe eine brausende Woge. Ganz sacht nur noch glitten braune, geschmeidige Finger über die Häute der Trommeln. Im Bogen flog eine der Fackeln durch die Luft und zog eine leuchtende Spur hinter sich her. Die zweite folgte. Binnen Sekunden flackerte genau in der Mitte des Halbkreises ein kleines Feuer - und jetzt geriet Bewegung in die Männer. Lautlose, geschmeidige Gestalten huschten am Strand hin und her, sammelten Treibholz und trockenes Gestrüpp und schichteten in Minutenschnelle einen mächtigen Holzstoß über die brennenden Fackeln. Das Feuer flammte heller auf und tauchte den Strand in düsteren roten Widerschein. Jede Linie auf den bemalten Gesichtern der Araukkrieger trat deutlich hervor, das Weiß ihrer Augäpfel schimmerte geisterhaft, und zwischen den Federn und langen Ketten aus Muscheln und Zähnen, mit denen sie sich geschmückt hatten, 32
blitzten ab und zu Ringe und gehämmerte Plättchen aus purem Gold auf. »Mann!« flüsterte der blonde Stenmark auf der Kuhl der Isabella. »Ob die Burschen wissen, was sie da für Reichtümer besitzen?« »Sie wissen es«, sagte Hasard trocken. »Spätestens, seit sie wegen des verdammten Goldes von den Spaniern massakriert werden.« »Klar! Aber für sie scheint das Gold nur halb so wichtig zu sein wie die Federn und all der andere Kram.« »Federn wichtiger als Gold«, erklärte Batuti. »Gold bloß glänzt, Federn von schnelles Vogel machen Mann schnell. Und Zähne von erbeuteten Tieren lassen Kraft von Tier auf Mann übergehen.« »Ha!« sagte Dan O’Flynn. »Das werde ich mir merken. Wenn ich dem nächsten verdammten Don die Zähne in den Hals schlage, fertige ich mir daraus ...« Er verstummte. Auch die anderen blickten gespannt zum Strand hinüber. Dort begannen die Trommeln wieder lauter und schneller zu dröhnen. Der Halbkreis der Männer öffnete sich für eine hohe, hagere Gestalt mit zottigem schwarzem Haar und gletscherhellen Augen. Die Alte von der Insel! Die Zauberin, wie Bill steif und fest behauptet hatte. Jenseits des Feuers blieb sie stehen, angestrahlt von der wabernden Glut. Weit breitete sie die Arme aus und rief etwas in ihrer Heimatsprache. Wieder entstand Bewegung. Weder Hasard noch einer seiner Männer hatte eine Ahnung, woher die beiden Auslegerboote kamen, die jetzt über den Strand gezerrt wurden und ins Wasser klatschten. Riemen tauchten ein und wurden im Takt eines dumpfen Singsangs bewegt. Noch einmal erhob die alte Zauberin ihre Stimme - und diesmal konnte Bill die Worte 33
verstehen. »Ein Geleit für uns«, übersetzte er. »Sie sollen uns hinüberbringen, ganz feierlich.« Feierlich war es tatsächlich: das dumpfe, eigentümlich aufpeitschende Tamtam, die dunklen, glänzenden Leiber der Ruderer, die sanft über das Wasser gleitenden Auslegerboote, in deren Bug je ein Fackelträger stand, hoch aufgerichtet und reglos wie ein Denkmal. Hasard fluchte innerlich. Er spürte die Faszination, die von dem Schauspiel am Strand ausging, er spürte auch die fast fiebrige Spannung über der ganzen Szene. Ein gewöhnliches Fest würde das nicht werden. Und ganz bestimmt kein herzerfrischendes Saufgelage, wie damals auf der Insel Mocha, wo sie zusammen mit den Araukanern gegen die Dons gekämpft und ihnen eine vernichtende Niederlage beigebracht hatten. Von jener Nacht schwärmten ein paar Männer der Crew noch heute. Vor allem von den schlanken, braunhäutigen AraukanerMädchen, die keine engherzige Prüderie kannten, für die die Liebe so natürlich war wie ein frischer Trunk Wasser und unter denen Arkana, die Schlangen-Priesterin, die schönste gewesen war. Arkana. Diesmal fluchte Hasard nicht nur innerlich - woran eine gewisse, nicht ganz deutliche Erinnerung schuld war. Mit einem tiefen Atemzug schüttelte er den Gedanken daran ab und schoß Ben Brighton, der ihn von der Seite ansah, einen grimmigen Blick zu. Rasch ließ er die Beiboote abfieren und brüllte nach Ferris Tucker, dem rothaarigen Zimmermann. »Du übernimmst das Kommando über die ›Isabella‹, Ferris! Zwei Mann bleiben bei dir an Bord. Wer meldet sich freiwillig?« »Ich!« schrie Blacky prompt. »Einer muß es ja tun«, setzte er etwas lahm hinzu. 34
Aber die anderen wußten nur zu gut, daß Blacky nun mal ganz besonders abergläubisch war und sich das Spektakel lieber aus sicherer Entfernung ansehen wollte. Als zweiter Freiwilliger meldete sich Old O’Flynn. Er hatte das Reißen in seinem Beinstumpf. Und außerdem war er ohnehin weder mit guten Worten noch mit Gegenbeispielen von der Meinung abzubringen, daß sämtliche Eingeborenen der Karibik verkappte Menschenfresser seien, die nur darauf lauerten, ihn mitsamt seinem Holzbein im wahrsten Sinne des Wortes in die Pfanne zu hauen. Hasard unterdrückte ein Grinsen. Die beiden Boote der Eingeborenen waren inzwischen längseits gegangen, und der Seewolf enterte als letzter ab. Die Szene am Strand hatte sich kaum verändert. Immer noch stand die alte Zauberin mit ausgebreiteten Armen jenseits des Feuers, kauerten die Männer im Halbrund im Sand - und für einen Augenblick erinnerte Hasard dieser zur See hin geöffnete Halbkreis fatal an einen aufgerissenen Rachen. Quatsch, dachte er. Begann er jetzt auch schon, an Geister und Zauberei und ähnlichen Unsinn zu glauben? Sein Blick streifte Ed Carberry, der sich mit verbiestertem Gesicht in die Riemen legte, und Sam Roskill, dessen schwarze, sonst meist unternehmungslustig funkelnden Augen ungewöhnlich nachdenklich wirkten. Sogar Dan O’Flynn schien sich der unerklärlichen Faszination nicht entziehen zu können. Ab und zu warf er einen Blick zum Strand hinüber, aber das düster-malerische Bild hatte ihn noch zu keiner einzigen vorlauten Bemerkung veranlaßt. Und wenn sogar Dans unerschütterliches Mundwerk versagte, stellte das eine Rarität dar, die es eigentlich wert gewesen wäre, im Logbuch vermerkt zu werden. Hasard stellte fest, daß die verwegenen, draufgängerischen Seewölfe alle ein wenig zögerten, bevor sie ins seichte Wasser 35
sprangen und die Boote auf den Strand zogen. Da gab es kein »hinein ins Vergnügen«, da gab es keine lautstarke Begrüßung. Aller Augen hingen an der alten Frau, die eine Zauberin sein sollte. Mit einem Anflug von grimmigem Humor stellte Hasard fest, daß diese Bande von ausgekochten Teufelskerlen im Moment mehr an eine Hammelherde erinnerte, die brav abwartete, bis das Begleitkommando sie mit sprechenden Gesten aufforderte, an der offenen Seite des Halbkreises Platz zu nehmen. Das taten sie denn auch. Außer Hasard, der sich mit dem Rücken an einen großen, rundgewaschenen Felsbrocken lehnte, um ein bißchen die Übersicht zu behalten. Er fing einen Blick der alten Bahrani auf, aber augenscheinlich war es kein Verstoß gegen irgendwelche ungeschriebenen Gesetze, daß er stehenblieb, statt sich ebenfalls in den Kreis zu kauern. Die Alte reckte sich und rief etwas mit weit hallender Stimme. Die Trommeln verstummten, jäh wie ein körperlich fühlbares Gewicht schien die Stille herabzufallen. »Es fängt an.« Hasard wandte den Kopf bei den fast unhörbar gewisperten Worten und stellte fest, daß der schwarzhaarige Bill ganz in seiner Nähe kauerte. Der Junge blickte mit glänzenden Augen zu ihm auf. »Ich kenne die Sprache ein bißchen«, flüsterte er. »Ich kann Ihnen alles erklären, Sir. Bevor das eigentliche Ritual beginnt, muß Bahrani den schwarzen Dämon der Rache anrufen und um seine Gunst bitten.« »Den schwarzen - was?« »Den schwarzen Dämon der Rache, Sir.« »Ach, du liebe Zeit«, sagte Hasard erschüttert. Und dann zuckte er doch zusammen, als plötzlich ein langgezogener, heulender Schrei in den Nachthimmel stieg. Wie unter einem Peitschenhieb duckten sich die 36
bronzehäutigen Krieger zusammen. Und wieder ertönte der Schrei der Zauberin, unmenschlich, schrill, wie aus einer anderen, bedrohlichen Welt. Hasard hatte den Eindruck, daß sie einen Namen rief. Den Namen dieses vertrackten Dämons vermutlich. Unermüdlich wiederholte sie ihn, der Kreis der Eingeborenen war erstarrt in zitternder Erwartung - und dann passierte etwas, das auch den weniger abergläubischen Männern der Isabella-Crew einen gelinden Schauer über den Rücken jagte. Wind erhob sich. Und mit ihm fauchte eine jäh aufspringende Bö von bösartiger Schärfe heran, die das Feuer zu einer grellen Lohe anfachte, Funken hochstieben ließ und dann so plötzlich erstarb, daß es aussah, als tanze ein Schwarm von Glühwürmchen über dem Strand. Die See lag wieder ruhig, die Funken verglommen. Hasard legte den Kopf in den Nacken, starrte in den schwarzen, brillantgesprenkelten Sternenhimmel hinauf und versuchte energisch, sich klarzumachen, daß plötzliche Windböen nun wirklich nichts Ungewöhnliches waren. »Das Zeichen«, drang Bills Wisperstimme an sein Ohr. »Das waren Ataharus Sturmvögel. So ‘ne Art von Windsbräuten, würden wir in England sagen.« »Wer, zum Teufel, ist Ataharu?« murmelte der Seewolf gepreßt. »Der schwarze Dämon der Rache, Sir!« Bills Tonfall klang nicht so, als finde er daran irgend etwas komisch. Hasard stöhnte unterdrückt. Aus den Augenwinkeln sah er den riesenhaften Ed Carberry etwas zusammenzucken. Der Prof os hatte die letzten Worte Bills gehört. Aber immerhin: er schnitt das Gesicht, das er sonst immer bei seinem Lieblingsspruch aufsetzte. Und der Gedanke hatte etwas ungemein Beruhigendes, daß Ed Carberry offensichtlich entschlossen war, diesem obskuren Ataharu notfalls die Haut in Streifen von seinem verdammten Dämonenarsch zu ziehen. 37
Der unvermittelt einsetzende Trommelwirbel lenkte Hasards Aufmerksamkeit wieder auf die alte Indianerin. Ihre ausgebreiteten Arme bewegten sich auf und nieder, als ahme sie das Schwingenschlagen eines Vogels nach. Der hagere Leib krümmte sich zusammen und begann im Takt der Trommeln zu zucken. Eine jähe, wirbelnde Drehung ließ das zottige Haar fliegen, und in die wasserhellen Augen trat ein Ausdruck von selbstversunkener Starre, als habe die alte Zauberin alles um sich vergessen. Hasard warf Bill einen Blick zu. Die Augen des Jungen leuchteten erregt. »Sie tanzt sich in Trance«, flüsterte er. »Wenn der Dämon in ihren Körper fährt, hat sie das zweite Gesicht. Sie werden sehen, Sir!« Hasard verzog grimmig die Lippen. Allmählich gewann er den Eindruck, daß der Junge ein bißchen verrückt war. Aber wenn das zutraf, dann mußten wohl auch Carberry und Stenmark und Smoky ein bißchen verrückt sein. Sie alle starrten mit großen Augen auf die Szene, als erwarteten sie jeden Augenblick irgendeine Art von Offenbarung. Sam Roskill fing schon an, seine Schultern im dumpfen Rhythmus der Trommeln zu bewegen. Allerdings war das auch ein Rhythmus, der es in sich hatte, stellte Hasard fest. Er zwang sich, ruhig stehenzubleiben, und ließ seinen Blick in die Runde wandern. Mit entrückten Gesichtern bearbeiteten die Trommler ihre Instrumente. Die Eingeborenen wiegten ihre Oberkörper im Takt: braune, glänzende Leiber, die zu einem einzigen Körper zusammenzuwachsen schienen, einem Körper, der von dem dumpfen, grollenden Trommelwirbel regiert wurde. Rötliche Lichtreflexe huschten über die schweißnassen Gesichter. Das Feuer waberte und loderte in gespenstischem Rot. Es schien die Gestalt der tanzenden Zauberin in eine Aura der Höllenglut zu 38
tauchen. Immer wilder, immer leidenschaftlicher wurde der Tanz. Längst hatte die Alte die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit erreicht, längst hätte sie zusammenbrechen müssen. Aber sie brach nicht zusammen. Sie drehte sich in wirbelnder, unbegreiflicher Schnelligkeit, ihre Glieder zuckten, die nackten Füße stampften klatschend den Boden. Die dürren braunen Arme schienen ein geisterhaftes Eigenleben zu gewinnen und wanden sich gleich züngelnden, immer wieder zustoßenden Schlangen. Schneller und schneller tanzte die Zauberin, mit geschlossenen Augen jetzt und kaum noch menschlich, und die Trommeln steigerten sich zum hämmernden, peitschenden, nervenzerfetzenden Stakkato. Und mitten in diesem Wahnsinn stieg erneut Bahranis Schrei zum Himmel. Sie verharrte, als habe eine unsichtbare Hand sie berührt und gebannt. Hoch aufgerichtet stand sie da, das maskenhafte Gesicht emporgehoben, die Augen starr. Jäh brach der Trommelwirbel ab. Ein Augenblick tiefster, absoluter Stille folgte, und als sich Bahranis Lippen öffneten und die Luft einsogen, war es, als hole die ganze Insel um sie Atem. »Was ist denn jetzt kaputt?« hörte Hasard eine Stimme, die zu rauh klang, um sie zu erkennen. »Mann, halt doch dein Schandmaul!« Das war jedenfalls Smoky gewesen. Hasard stellte überrascht fest, daß sein Herzschlag sich beschleunigt hatte. Er wollte sich nach seinen Leuten umsehen, da fühlte er plötzlich den starren Blick der Zauberin auf sich gerichtet. Langsam, mit den Bewegungen einer Schlafwandlerin trat Bahrani auf ihn zu. Ihre Augen wirkten wie helles, geschliffenes Glas. Augen, bei deren Anblick Hasard nicht zu entscheiden vermochte, ob sie durch ihn hindurch oder tief in ihn hineinsahen. 39
Die dürre, faltige Greisenhand hob sich, die Kuppen von drei leicht gekrümmten Fingern berührten Hasards Stirn. Er wollte ärgerlich abwehren, aber da war etwas in dem braunen, lederhäutigen Gesicht der Alten, das ihn an seinen Platz bannte. Zwei, drei Sekunden lang verharrte die Zauberin reglos, dann holte sie tief Atem, als sei irgend etwas geschehen, auf das sie gewartet hatte. Ihre Hand sank herab, und die dürren Finger griffen nach Hasards rechter Hand. Wollte sie ihm aus der Hand lesen? Sie neigte den Kopf und verharrte wie lauschend. Ganz langsam wanderte ihr Blick wieder aufwärts, bohrte sich in Hasards Augen, und die dünne, krächzende Stimme murmelte Worte in ihrer Landessprache. »Sie sagt, sie sieht Ihre Vergangenheit, Sir«, übersetzte Bill flüsternd. Hasards Blick flog zu ihm hinüber. Der Junge starrte gebannt die Indianerin an, und seine Lippen zitterten leicht. »Sie sagt, daß Sie für ein Land kämpfen, in dem Sie nicht geboren sind. Daß Sie kein Engländer sind. Daß Ihre Frau nicht mehr lebt. Daß Sie drei Kinder haben ...« Hasard schluckte hart. Ihm war zumute, als habe er einen Schlag in den Magen erhalten. Kein Engländer - Gwen tot, ertrunken. Aber das konnte keine Hellseherei sein. Die Alte mußte sich diese Informationen irgendwie beschafft haben, und jetzt versuchte sie, ihn damit zu narren. Unwillig schüttelte Hasard den Kopf, und seine Gedanken klammerten sich an den Punkt, in dem die Alte sich irrte, von dem er jedenfalls glaubte und glauben mußte, daß sie sich darin irrte. »Ich habe nur zwei Kinder«, sagte er heiser. »Und die sind beide tot, ermordet ...« Bill übersetzte. 40
Bahranis gletscherhelle Augen kniffen sich zu schmalen Sicheln zusammen, prüften Hasards Blick, prüften ihn bis tief hinein in die Pupillenschächte. Langsam und entschieden schüttelte die Alte den Kopf, und diesmal sprach sie wieder in dem seltsamen Gemisch aus spanischen und englischen Brocken. »No. Drei Kinder - sie alle leben ...« Hasard wollte etwas erwidern, doch im selben Augenblick griff die alte Indianerin von neuem nach seiner Rechten. Diesmal versuchte sie nicht, in den Linien der Handfläche zu lesen. Das goldene Armband war es, das jäh ihr Interesse erregte - der geheimnisvolle Schlangenreif, das Geschenk der Priesterin Arkana von der Insel Mocha. Hasard runzelte die Stirn, als die dürren Finger der Alten über den goldenen, geschuppten Schlangenleib glitten. Sacht berührte sie den flachen, erschreckend wirklichkeitsgetreu gearbeiteten Vipernkopf. Ihre Finger suchten, tasteten und ganz plötzlich erklang ein metallisches Schnappen. Ein funkelnder Lichtreflex traf Hasards Augen. Er fuhr zurück, blinzelte geblendet, dann wurde ihm klar, daß es lediglich die Flammen des Feuers waren, die der goldene Schlangenkopf zurückwarf. Und der Schlangenkopf war aufgeklappt! Er hatte sich bewegt, irgendeinem geheimen Mechanismus gehorchend, den Hasard nicht kannte. Aber die Zauberin kannte ihn. Sie, die Arauk-Indianerin, die doch eigentlich kaum etwas wissen konnte von den Araukanern, ihren Göttern, ihren Riten und Gebräuchen. Hasard biß sich auf die Lippen. Aus schmalen Augen betrachtete er den goldenen Reif - und da entdeckte er auf der Innenseite des Schlangenkopfs den langen, glitzernden Stachel. Bahrani, die Zauberin, hob den Blick zu Hasards Gesicht. Ihre Stimme klang leise, dunkel, beschwörend. »Drei Kinder«, murmelte sie. »Drei - und sie leben. Du wirst 41
sehen ...« Blitzschnell vollführte sie eine Bewegung mit der Hand. Hasard ahnte, was sie wollte. Er zuckte zurück, aber bevor er irgend etwas verhindern konnte, hatten die dürren Finger der Alten schon zugedrückt. Der Seewolf spürte, wie sich der nadelscharfe Stachel in sein Fleisch bohrte. Ein kurzer Schmerz. Jäh schien sich brennende Kälte in Hasards Körper auszubreiten. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen zu einem dunstigen, undurchdringlichen Nebel.
6. Er war wieder auf der Insel Mocha. Er sah sich an der Spitze seiner Männer durch den dichten Urwald marschieren, dorthin, wo Kampflärm und Geschrei die Lage des Indianerdorfes verrieten, wo sich die Araukaner verzweifelt gegen den Angriff der Spanier zur Wehr setzten. Ja, Hasard sah sich selbst. Er war auf der Insel, und gleichzeitig hatte er das Gefühl, sich selber zuzusehen, als blicke er durch ein Fenster in eine andere Welt. Aber wo war er eigentlich? Tief in seinem Innern bäumte sich etwas auf, wehrte sich gegen die bedrängende Vision und klammerte sich an das Wissen, daß er sich immer noch an der Küste von Jamaica befand und nicht auf Mocha. Er wußte es, begriff es mit einem Teil seines Selbst, aber dieses Wissen war seltsam blaß und fern und verlor mit jeder Sekunde und jedem Herzschlag an Bedeutung. Seine Gedanken zerfaserten. Erinnerungen zogen an ihm vorbei wie Bilder, die in rascher Folge aufblitzten und wieder verblaßten. Arkana, die Schlangenpriesterin, die er vor der Folterung durch die Spanier 42
bewahrt hatte. Der Kampf um das Dorf der Araukaner. Die gewaltige Explosion, die den Beobachtungsposten der Dons hoch oben in einem Baum in Fetzen gesprengt hatte. Und dann der Rückmarsch in die Bucht, wo die ›Golden Hind‹ vor Anker lag. Und wo im selben Augenblick die spanische Kriegsgaleone ›Santa Magdalena‹ heranrauschte, den Weg aus der Bucht abschnitt und Drakes Schiff in der Falle hatte wie ein hilfloses Kaninchen. Waren es wirklich die Schüsse der dreißig Zwölfpfünder an Bord der ›Santa Magdalena‹, die in Hasards Ohren dröhnten? Eben noch hatte er geglaubt, den Pulverrauch zu sehen, jetzt waberten rote Nebel vor seinen Augen. Einbildung, hämmerte es in seinem Schädel. Du bist auf Jamaica! Du bist nicht auf Mocha - du bist nicht ... Und wieder sah er sich selbst, sah sich mit Ben Brighton zu der spanischen Galeone hinüber schwimmen, deren Pulverkammer sie in die Luft jagen wollten. Er sah die fürchterliche Explosion, die Stichflamme, das ganze höllische Inferno. Halb betäubt war er damals von der sinkender Galeone weggeschwommen, und er wußte bis heute nicht, ob er mit dem Leben davongekommen wäre, wenn ein Boot der Araukaner ihn nicht aufgefischt hätte. Arkana. Ihre schlanke, biegsame Gestalt, der funkelnde goldene Reif in ihrem Haar, das war das letzte gewesen, was er gesehen hatte, bevor er bewußtlos wurde. Und als er aufwachte, befand er sich bereits in jenem geheimnisvollen Schlangentempel, dessen Lage niemand kannte außer der Priesterin. Wieder ballten sich die dichten roten Nebel vor Hasards Augen zusammen. Dunkel, wie aus weiter Ferne drang der Klang von Trommeln an sein Ohr, ganz flüchtig fühlte er die seltsamen wasserhellen Augen der Zauberin auf sich gerichtet. Ja, er befand sich immer noch am Strand einer Bucht von Jamaica. 43
Aber die Umgebung versank, kaum daß seine Sinne sie zu erfassen versuchten - und wieder war es Arkanas Gesicht, das ihn aus dem geisterhaften Nebel anblickte. Arkanas Gesicht? Nein, das konnte nicht die Schlangenpriesterin sein, obwohl das Gesicht ihre schönen, ebenmäßigen Züge zeigte. Ein blutjunges Gesicht war es, das Gesicht eines lieblichen Mädchens. Fast noch ein Kind! Oder nein, nicht fast: es war ein Kind. Ein Kind, das ihn ansah, über einen Abgrund aus Raum und Zeit hinweg, und geheimnisvoll lächelte. Ein Kind, dessen Augen nicht schwarz waren wie die Arkanas, sondern blau - blau wie Eis. Eine schmale Hand hob sich und winkte ihm zu. Das sanfte Kindergesicht mit den Zügen Arkanas und den eisblauen Augen verblaßte und versank in einem seltsamen, nebelhaften Strudel. Hasard hatte das Gefühl, als werde sein Bewußtsein von einem unwiderstehlichen Sog gepackt und fortgezogen, weit fort in endlose Fernen. Blauer Himmel über schlanken Minaretten. Kuppeldächer glänzten im Sonnenlicht, weiße Mauern spannten sich in Rundbögen von vollendeter Schönheit. Springbrunnen murmelten in schattigen Innenhöfen. Gestalten huschten, wisperten, verschleierte Gestalten mit wehenden Gewändern. Eine Moschee vielleicht? Irgendein Palast? Prunkvolle Wohnstätten eines fremden Landes? Da war ein Gesicht. Ein Gesicht, das langsam, verschwommen aus dem Hintergrund hervortrat, größer wurde und auf Hasard zuzuschweben schien. Jetzt nahm es schärfere Konturen an und verdrängte die anderen Bilder. Ein hartes Gesicht war es. Dunkel und hager, dünn und hart die Lippen, die schmale 44
Raubvogelnase kühn vorspringend, die Augen im Schatten der dichten, buschigen Brauen glänzend wie schwarze Lava. Spielte da wirklich ein höhnisches, triumphierendes Lächeln um den scharfgeschnittenen Mund? Hasard wußte, er hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen. Aber er konnte sich nicht erinnern, es war als liege sein Hirn gelähmt unter einer dicken Schicht Glas - und jetzt begannen die düsteren, fremdartigen Züge schon wieder zu verschwimmen. Etwas anderes schob sich dazwischen. Ein neues Gesicht. Oder nein: zwei Gesichter waren es, die jetzt auseinandertraten, die eigentümlich fern und unwirklich aussahen, gleichsam hineinstilisiert in die Bilder aus jener fremden Welt. Der Seewolf stöhnte auf, als er die Gesichter seiner Söhne erkannte. Hasard und Philip! Und sie lebten! In dieser Vision jedenfalls lebten sie, eine dickliche ältere Frau hielt die Zwillinge in ihren Armen. Die beiden Kindergesichter schienen sich wie mit einem Brandeisen tief in Hasards Gedächtnis zu prägen. Er war sich nicht bewußt, daß er die Arme ausstreckte, um die unerklärlichen Bilder festzuhalten. Alles verschwamm. Er hörte wieder das dumpfe Tamtam der EingeborenenTrommeln, und gleichzeitig schien tief in seinem Schädel jäh und unvermittelt eine gigantische Glocke zu dröhnen. Es war, als werde ein Vorhang vor seinen Augen weggezogen. Die Vision verschwand. Hasard sah wieder die Bucht, das Feuer, die Indianer, die immer noch ihre dunklen, glänzenden Leiber im Rhythmus der Trommel wiegten. Die Zauberin tanzte. Aber sie tanzte nicht mehr in wirbelnder, leidenschaftlichwilder Ekstase, sondern weich und schlangengleich - und um ihre dünnen, trockenen Greisenlippen spielte ein wissendes Lächeln.
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7. Hasard grub die Zähne in die Unterlippe, bis ihm der messerscharfe Schmerz bewies, daß er zumindest jetzt nicht mehr träumte. Benommen schaute er sich um. Nichts hatte sich verändert. Die Zauberin tanzte, die Indianer trommelten. Hatte er sich vielleicht dieses ganze Zwischenspiel, einschließlich Bahranis Behauptung, er habe nicht zwei, sondern drei Kinder, nur eingebildet? Sein Blick wanderte zu Bill hinüber, dann zu Ben Brighton, der ihn mit einem Ausdruck höchster Beunruhigung ansah. War er also doch irgendwie weggetreten gewesen? Hasard starrte auf den goldenen Reif an seinem Arm. Der Schlangenkopf befand sich wieder an seinem Platz, wie immer. Aber dicht neben dem goldenen Schuppenleib befand sich ein winziger roter Flecken am Handgelenk des Seewolfs, und er wußte, daß zumindest der seltsame glitzernde Stachel keine Vision gewesen war. Drei Kinder, hallte es in ihm nach. Und alle drei leben! Aber wo? Wo? Hasard und Philip - irgendwo in einem Palast unter Arabern? Etwa dort, wo er, der Seewolf, um den Malteserschatz gekämpft und von dem Tod seiner beiden Söhne erfahren hatte? Deutlich glaubte er wieder, die widerliche Visage Isaac Henry Burtons vor sich zu sehen, der ihm noch kurz vor seinem Tod erzählt hatte, daß einer seiner Komplicen die Zwillinge umgebracht habe. War es möglich, daß ein Sterbender noch mit seinem letzten Atemzug log - so niederträchtig log? Doch, es war möglich! Und es war Burton zuzutrauen, diesem gemeinen, skrupellosen Strolch, der sich ohne Gewissensbisse an Frauen und Kindern 46
vergriff. Hasard preßte die Zähne so hart aufeinander, daß es knirschte. Seine Gedanken rasten, überschlugen sich. Wenn seine Söhne wirklich noch am Leben waren, dann mußte die Alte dort drüben wirklich eine Zauberin sein. Aber Zauberei gab es nicht! Die Erklärung war einfach, mußte einfach sein. Vermutlich war der Stachel im Innern des Schlangenkopfes mit irgendeinem Gift getränkt gewesen, einem unbekannten Stoff, der die Sinne verwirrte und Wirklichkeit und Halluzinationen zu einem unentwirrbaren Alptraum verschmolz. Hasard dachte an die seltsame Kakteen-Art, deren Fleisch manche Indianer der Karibik kauten, um sich in einer Art Wahnsinn zu verlieren, anders, tiefer und erschreckender als der Rausch, den selbst Unmengen von Rum hervorrufen konnten. Es gab geheimnisvolle Gifte auf diesen Inseln. Priester und Medizinmänner der Indianerstämme kannten und nutzten sie warum also nicht auch die alte Bahrani, die von den Arauks offenbar hoch verehrt wurde? Auf irgendeinem Weg mußte es ihr gelungen sein, Einzelheiten über Hasards Schicksal zu erfahren. Die hatte sie dann benutzt, um ihn zu verblüffen, um den Boden zu bereiten für den sogenannten »Zauber«, der in Wahrheit nur aus Hirngespinsten bestand. Hirngespinste, ja! Was sonst sollte es sonst gewesen sein? Hasard straffte sich, ballte unwillkürlich die Hände und versuchte, erst gar nicht darüber nachzudenken, welche normale, einleuchtende Erklärung es dann wohl für die Vision von der Insel Mocha gab. Ein Versuch, der wenig Erfolg hatte. Hasard starrte zum Feuer und sah der Zauberin zu. Mechanisch nahm er auf, was sie tat und beobachtete ihre Vorbereitungen, aber ein Teil seiner Gedanken war weit weg und versuchte immer noch, das 47
Geheimnis der bedrängenden Visionen zu ergründen. Von einer Sekunde zur anderen wechselten die Trommeln den Rhythmus. Das dumpfe Tamtam verlangsamte sich auf eine gespenstische Weise, die es fast noch erregender wirken ließ. Aus dem schnellen, aufpeitschenden Wirbel wurde unheilverkündendes Grollen - wie ferner Donner, in dem schon die Drohung des heraufziehenden Wetters mitschwingt. Gleichzeitig begann ein Teil der Eingeborenen, eine lautlose, fieberhafte Tätigkeit zu entfalten. Das Feuer war ein wenig in sich zusammengesunken. Bahrani, die Zauberin, kauerte im Bannkreis der Flammen auf den Fersen, und ihre Augen folgten unverwandt dem ruhelosen Züngeln und Wabern, als nehme sie nicht wahr, was um sie herum geschah. Zwei stämmige braunhäutige Indianer schleppten ein Tongefäß herbei, das sie vor der alten Zauberin abstellten. Zwei weitere Männer traten ans Feuer, stießen Fackeln in die Glut und nahmen dann hinter Bahrani Aufstellung, wobei sie die Fackeln über dem Kopf der Alten kreuzten. Der Trommelklang war wieder um einen Ton leiser geworden und bildete nur noch den dunklen Grundton zu den Ereignissen. Bahrani hob das Gesicht, dann auch die Hände, und für einen Moment wirkte ihre Haltung so, als erflehe sie noch einmal den Beistand irgendeines Götzen oder Dämons. »Jetzt«, flüsterte es aus der Dunkelheit. »Jetzt wird es ernst!« Hasard fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Immer noch quälte er sich mit der Erinnerung an die seltsamen Visionen herum, doch was sich vor seinen Augen abspielte, war mittlerweile geeignet, seine Aufmerksamkeit wieder voll zu fesseln. Er sah sich nach Bill um, der immer noch unverdrossen in seiner unmittelbaren Nähe kauerte, um jederzeit als Dolmetscher einspringen zu können. Das Gesicht des Jungen 48
war blaß und erregt, aus großen Augen starrte er den Seewolf an. Ganz sicher hatte Bill eine Menge Fragen auf der Zunge, doch im Augenblick verdrängte er sie, da ihn das Geschehen am Feuer viel zu sehr gefangennahm. »Rafael Virgil?« fragte Hasard knapp. Der Junge nickte. Seine Stimme zitterte leicht. »Ja, Sir. Bahrani wird den spanischen Capitan töten.« »Einen Mann, der sich wer weiß wie viele Meilen entfernt auf hoher See befindet«, murmelte Hasard mehr zu sich selbst. »Es ist möglich, Sir! Ich habe gesehen, daß es möglich ist! Da war ein Mann, der die Gesetze des Stammes brach und ein junges Mädchen tötete. Er wurde zum Tode verurteilt und floh in den Urwald. Aber Bahrani belegte ihn mit dem Fluch, und am nächsten Tag fanden die Indianer seine Leiche. Genau an der Stelle, an der die Zauberin es vorausgesagt hatte.« Hasard zuckte mit den Schultern. Er wollte einfach nicht daran glauben. Auch für den Tod des abtrünnigen Arauk gab es irgendeine natürliche Erklärung. In einer Geste unbewußter Abwehr verschränkte der Seewolf die Arme über der Brust und einen Moment spürte er wieder den Blick der alten Indianerin und sah ihr wissendes Lächeln. Mit dem nächsten Lidschlag wandte sie sich wieder der Tonschale zu, die vor ihr stand. Langsam und feierlich griff sie in das Gefäß. Was sie heraushob, war ein unansehnlicher graubrauner Klumpen. Im ungewissen Widerschein des Feuers erkannte Hasard, daß es sich um Lehm oder feuchte Erde handeln mußte - irgendein weiches, geschmeidiges Material jedenfalls, das sich formen ließ. Ganz langsam, spielerisch fast, begannen die dürren Greisenhände, den Klumpen zu kneten, und Hasard erinnerte sich wieder an die Worte, die die Alte bei der ersten Begegnung vor der Palmhütte des toten Bootsmanns gebraucht hatte. 49
»Muneca - Puppe - Puppe aus Lehm, wie Mensch. Encato Zauber von Bahrani stark.« Jetzt war Bahrani dabei, jene Puppe aus Lehm zu formen. Ihre Finger bewegten sich flink und sicher, schienen ein seltsames Eigenleben zu entwickeln und preßten und streichelten den grauen Klumpen, bis er glatt und glänzend und schmiegsam wurde. Ein schmaler, länglicher Kopf entstand, dann eine ringförmige Einbuchtung, die wohl einen auffällig langen, hageren Hals darstellen sollte. Gliedmaßen wuchsen aus dem Klumpen hervor, Arme und Beine, selbst die männlichen Geschlechtsmerkmale. Die Puppe nahm Gestalt an, empfing ein Gesicht, tiefe Augenhöhlen, eine Mundkerbe, die die Zauberin mit ihrem krallenartigen Daumennagel formte. Einmal hielt Bahrani die Puppe hoch, rief ein paar Worte, die wie eine Beschwörung klangen, und zustimmendes Gemurmel erhob sich gleich einer rasch verebbenden Brandungswoge. Hasard konnte nicht mehr erkennen, welche Einzelheiten die dürren Finger der Zauberin jetzt noch formten. Er sah nur, daß die winzige Puppe seltsam lebendig wirkte und sich in den rastlosen Greisenhänden zu winden schien, als versuche sie zu entkommen. Ärgerlich schüttelte der Seewolf den Kopf. Ein Spiel der Lichtreflexe, nichts weiter! Wenn er diesem makabren Ritual noch lange zusah, würde er alles am Ende selber glauben. »Acabado!« Fertig! Diesmal war es ein spanisches Wort, und der Blick der alten Zauberin machte Hasard klar, daß das Ganze vor allem ihm galt. Mit einer verblüffend geschmeidigen Bewegung richtete sich die Indianerin aus der hockenden Stellung auf, ein herrischer Wink ließ einen der Eingeborenen aufspringen. Er hielt irgend etwas in der Hand, das er der Zauberin reichte. 50
Hasard hörte, wie Bill hinter ihm scharf die Luft durch die Zähne sog. »Ein Fetzen von Capitan Rafael Virgils Kleidung«, flüsterte der Junge. »Er hat ihn hier verloren. Zwischen den Fingernägeln eines toten Arauk-Mädchens, das er vergewaltigt und anschließend erwürgt hat, weil es sich gegen ihn wehrte.« Hasard biß die Zähne zusammen. Dieser Capitan Virgil mußte wirklich ein ausgesuchter Mistkerl sein. Deutlich konnte der Seewolf das düstere Glimmen des Hasses in den Augen der Indianer erkennen. Und ebenso deutlich sah er einen ganz ähnlichen Ausdruck in den Augen seiner eigenen Männer - als sei die ganze hartgesottene, salzwasser-getränkte Crew in ein unsichtbares Netz eingesponnen, das ihre Gefühle und Reaktionen bestimmte. Wie gebannt starrten die Seewölfe auf die unheimliche Puppe, die die geschickten Finger Bahranis jetzt mit dem schmutzigen Stoffetzen umwickelten. Ein unhörbares Seufzen lief durch die Reihe der halbnackten Krieger. Unmerklich, sacht wie die allmählich steigende Flut, wurde das Dröhnen der Trommeln wieder lauter und schneller. Die Zauberin reckte sich. Gemessen, fast majestätisch trotz ihrer zerlumpten Kleidung, schritt sie langsam den Kreis um das Feuer ab, und unmittelbar vor Hasard blieb sie stehen. »Acabado - El Capitan - Rafael Virgil - Muerte!« Hasard antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen angesichts der schlichten, unerschütterlichen Überzeugung, die aus der Stimme der Alten sprach. Und nicht nur aus dieser Stimme! Die Gesichter der Arauckrieger spiegelten uneingeschränkte Hingabe und Verehrung. Bill, der neue Schiffsjunge, hockte mit verkrampften Muskeln am Boden, offenbar von ungeheurer Spannung beherrscht. Und auch die anderen Männer der ›Isabella‹ standen völlig 51
im Bann des unheimlichen Geschehens - so sehr, daß Hasard sich ernsthaft fragte, ob sie überhaupt reagieren würden, wenn Ferris Tucker auf der Galeone zum Beispiel aus irgendeinem Grund einen Alarmschuß abgeben sollte. Der Seewolf blieb mit verschränkten Armen an seinem Felsen stehen. Bahrani warf ihm noch einen eindringlichen Blick zu, dann drehte sie sich wieder um. Sie wandte Hasard ihren hageren Rücken zu, als sie sich am Feuer niederkauerte. Ganz kurz hielt sie die Lehmpuppe in die Flammen und schwenkte sie herum, bis der Stoffetzen aus Rafael Virgils Kleidung zu glimmen begann. Ein paar Funken sprühten, als die Alte die Puppe hoch über ihren Kopf hob, damit alle den glimmenden Fetzen sehen konnten. Wieder wandte sie sich dem Seewolf zu, und ihre wasserhellen Augen glitzerten, als tanzten Eiskristalle darin. »Du wirst den Mörder sterben sehen«, prophezeite sie dunkel. »Sterben - Morir. Ihr alle werdet es sehen - alle!« Dabei flog ihr Blick über die »Isabella«-Crew und schien jeden einzelnen der wie gebannt im Sand kauernden Männer anzustarren. Hasard sah die bleichen Gesichter seiner Leute. Jemand ächzte dumpf. Bahrani machte eine ausholende Geste, und die Trommeln begannen noch schneller zu dröhnen. Langsam griff die alte Zauberin unter ihren weiten, vielfach geflickten Rock. Eine lange Nadel funkelte zwischen ihren Fingern. Hasard sah, wie die Eingeborenen sich unwillkürlich zusammenduckten, sah das Weiß der aufgerissenen Augen in den dunklen Gesichtern, sah die nackten, glänzenden Leiber, die sich wieder im Takt der Trommeln zu wiegen begannen. Immer schneller, immer atemloser klang das Tamtam, als jage es in sich steigernde Wellen auf ein bestimmtes Ziel zu. Die Zauberin hatte die Puppe vor sich auf den Boden gelegt, in einen mit dunkler Farbe markierten Kreis, wie der Seewolf 52
erkannte. Die lange Nadel funkelte, von der Spitze aus schienen die Reflexe der Flammen Funken zu sprühen. Für einen Augenblick hielt Bahrani das blitzende, handspannenlange Ding in der Schwebe. Der Trommelwirbel wurde zur wilden, wahnwitzigen Raserei, die sich nicht weiter steigern konnte. »Jetzt!« flüsterte Bill in einer Mischung aus Furcht und fieberhafter Spannung. »Jetzt!« Hasard konnte nicht verhindern, daß ihm ein kalter Schauer über den Rücken kroch, als Bahrani langsam die Hand hob, einen Ausdruck unheimlicher Drohung in den hellen Augen. Wie ein flirrender silbriger Pfeil zuckte die Nadel nieder. Die Spitze durchbohrte den verkohlten Stoffetzen, genau dort, wo bei einem lebenden Menschen das Herz sitzt. Tief bohrte sich die Nadel in den geformten Lehm, nagelte die Puppe am Boden fest - und jäh wie abgeschnitten verstummte der Trommelwirbel. Stille herrschte. Eine Stille, in der niemand zu atmen wagte. Bahrani hatte die Augen geschlossen. Reglos verharrte sie, das zerfurchte Gesicht emporgewandt, als erwarte sie etwas und in der nächsten Sekunde begriff der Seewolf, auf was sie wartete. Ein Schrei gellte auf. Schrill und langgezogen, markerschütternd. Ein Schrei, der von überall gleichzeitig zu ertönen schien, der in der Luft zitterte, über das Wasser der Bucht hallte - und den keiner der schreckensstarren Eingeborenen und erst recht niemand aus der Crew des Seewolfs ausgestoßen hatte. Ein letztes, wehes Röcheln - dann Stille. Wie ein tiefes Aufseufzen ging es durch die Reihe der Eingeborenen. Die alte Bahrani sank in sich zusammen, ihr Kopf pendelte auf der Brust, als habe ihr die Anstrengung den letzten Funken Kraft aus den Knochen gesogen. Selbst das Feuer in ihrem Rücken schien sich aufgebraucht zu haben. 53
Noch einmal flackerte es hoch, ein paar grünliche Flammen loderten gen Himmel, dann knisterte und glimmte nur noch das aufgeschichtete Treibholz. Einen Augenblick lang schienen sich Erschöpfung und Leere wie ein lastendes Gewicht über die Menschen zu legen. Hasard rieb sich wieder mit dem Handrücken über die Stirn. Er mochte noch so sehr dagegen ankämpfen - daß das Schauspiel ihn zutiefst verwirrt und aufgewühlt hatte, war nicht zu bestreiten. Auch seine Männer wirkten blaß und ziemlich verstört. Ed Carberry, der eisenharte Profos, mahlte mit dem Kiefer, als wolle er irgend etwas zerbeißen. Ben Brightons Augen waren sehr schmal und sehr nachdenklich, die Gesichter von Smoky, Luke Morgan und dem Kutscher spiegelten sogar helles Entsetzen. Selbst Dan O’Flynn war weit von seiner üblichen Vorwitzigkeit entfernt - und daß Bill, der neue Schiffsjunge, an den Zauber der alten Indianerin glaubte, hatte ohnehin von Anfang an keinem Zweifel unterlegen. Batuti, der riesige Gambia-Neger, fand als erster Worte. Vielleicht, weil in seiner afrikanischen Heimat die Magie noch als etwas ganz Natürliches, zum Alltag Gehöriges betrachtet wurde. Er starrte die alte Indianerin an und zeigte seine prachtvollen Zähne. »Capitan kaputt!« sagte er im Ton einer Feststellung. »Muerto. Alles gut!« »Muerto«, bestätigte die Zauberin. »Lebt noch - und ist doch schon tot. Lebender Toter!« Sie hatte den Kopf gehoben. Jetzt stand sie erstaunlich geschmeidig auf, als hätten ihr die wenigen Sekunden genügt, um sich von der ungeheuren Anstrengung zu erholen. Auch die Gestalten der Eingeborenen, die im Kreis kauerten, strafften sich wieder. Dunkle Augen funkelten, in den eben noch verängstigten Gesichtern begann sich wilder Triumph zu regen. Auffordernde Stimmen wurden laut, und einer der 54
Trommler warf den Kopf zurück und ließ Finger und Handballen in wildem Wirbel über die straff gespannte Haut gleiten. Die anderen fielen ein. Jemand warf frisches Holz auf das ersterbende Feuer, und aufs neue wiegten sich die dunklen, schweißglänzenden Oberkörper der Männer im aufpeitschenden Rhythmus. Ein paar von den Eingeborenen klatschten in die Hände, andere sprangen auf und begannen, in ersten, zögernden Tanzschritten den Boden zu stampfen. Das Dröhnen der Trommeln war jetzt nicht mehr dumpf und unheimlich, sondern voll triumphierender Leidenschaft. Hasard begriff, daß nach dem magischen Ritual nun der Sieg gefeiert wurde, ein Sieg, an dem keiner der Eingeborenen auch nur eine Sekunde zu zweifeln schien. Spannung und Furcht, die Erstarrung angesichts des Unheimlichen, Dämonischen - das alles vermochten diese einfachen, naturverbundenen Menschen binnen weniger Sekunden abzuschütteln wie Wassertropfen. Ihre Stimmen summten, skandierten Worte, vereinigten sich zu einem wilden Triumphgesang. Von irgendwoher wurden große Tonkrüge herbeigezaubert, wanderten von Mann zu Mann, und es dauerte nicht lange, bis der scharfe Zuckerrohrschnaps seine Wirkung tat. Die Männer von der ›Isabella‹ hielten kräftig mit, sie waren ohnehin genau in der Stimmung, in der sie einen Schluck vertragen konnten. Eine knappe Stunde später war dann doch ein wildes Besäufnis im Gange. Die Männer kippten in sich hinein, was hineinging. Sie wollten schleunigst vergessen, was sich vor ihren Augen abgespielt hatte, und sie erreichten dieses Ziel auf altbewährte Weise. Nach einer weiteren Stunde wußte keiner mehr so recht, welche besondere Art von Sieg hier eigentlich gefeiert wurde. 55
Und als sie sich gegen Mitternacht von den Eingeborenen verabschiedeten, war selbst Ed Carberry wieder bereit, allen Teufeln der Hölle die Haut in Streifen von einem gewissen edlen Körperteil zu ziehen. Nur der Seewolf war immer noch sehr nachdenklich. Er wußte, daß ihn die Erinnerung an diesen Abend so schnell nicht loslassen würde.
8. Im Morgengrauen briste es auf. Der Wind wehte gleichmäßig von Nordnordost, die ›Isabella‹ zerrte an der Ankerkette, als wolle sie zum Ausdruck bringen, daß sie nun lange genug hier herumgelegen habe. Ed Carberry tobte über die Kuhl und brüllte herum, wieder ganz der Alte. »Hopp-hopp, ihr versoffenen Decksaffen! Wollt ihr euch wohl bewegen, verdammich? Euch Rübenschweinen mach ich Feuer unter dem Hintern! Saufen und pennen, was? Na, wartet nur, bis ich euch die Haut in Streifen ...« Hasard grinste. Er stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und spähte zu der Bucht hinüber, deren weißer Sand in den ersten Strahlen der Morgensonne leuchtete.. Die Feuerstelle zeichnete sich schwarz in der Mitte des Strandes ab. Und davor war auch noch der mit Farbe markierte Kreis zu erkennen, die Stelle, wo die alte Zauberin die Lehm-Puppe aufgespießt und den Fluch ausgesprochen hatte. Ein »lebender Toter« sei der spanische Kapitän Rafael Virgil von jetzt an, hatte die Alte gesagt. Und Hasard erinnerte sich, daß sie ihm und der Crew prophezeiht hatte, sie alle würden miterleben, wie der Fluch den Spanier tötete. Einen Mann, der irgendwo auf hoher See war, weit weg vermutlich! 56
Der Seewolf schüttelte den Kopf. Jetzt, im hellen Morgenlicht, begriff er selbst nicht mehr, welche Faszination dieses unheimliche, geisterhafte Ritual auf ihn ausgeübt hatte. Ging es den anderen ähnlich? Natürlich, sie hatten alle mächtige Brummschädel. Dazu schnitten sie eigentümlich betretene Gesichter, aber das war zumindest bei einem Teil von ihnen darauf zurückzuführen, daß sie durchaus nicht geneigt waren, das Erlebnis von gestern abend als Unsinn abzutun. Die Männer, die die Ereignisse aus der Entfernung erlebt hatten, konnten gar nicht genug hören. Auf der Back, wo Blacky, Smoky und Big Old Shane das Ankergeschirr klarierten, wurde eifrig getuschelt. Der alte O’Flynn hörte zu und rieb angelegentlich seinen Beinstumpf. Und Ferris Tucker, der sonst fast so schön brüllen konnte, wie der eiserne Carberry, war heute morgen merkwürdig geduldig, obwohl er ganz genau sah, daß Blacky und Smoky schon mal schneller gearbeitet hatten. Dan O’Flynn, Bill und Arwenack stolperten leicht benommen an Deck. Der Schimpanse war zwar an Bord geblieben, aber Hasard hatte Dan im Verdacht, daß er eine gehörige Portion Zuckerrohr-Schnaps für seinen Liebling abgezweigt hatte. Und Arwenack soff wie ein Ketzer, wenn man ihn ließ - er war wirklich schon fast ein echter Seemann. »Ach, du liebe Zeit!« dröhnte Carberrys Stimme. »Ihr Kanalratten seid auch schon auf den Beinen? Wollt ihr euch wohl bewegen, ihr Rübenschweine? Hopp-hopp, du Wanze, rauf in den Großmars! Und wehe dir, wir begegnen ‘nem verdammten Don, und du siehst ihn doppelt!« »Selber Wanze!« knurrte Dan O’Flynn. Aber dann enterte er wie ein geölter Blitz in die Wanten, und Arwenack folgte ihm mit etwas mißgelaunt klingendem Keckem. Bill wischte eilig aus Carberrys Blickfeld, um beim Decksklarieren zu helfen. Aber er grinste dabei und sah gar 57
nicht besonders verängstigt aus. Offenbar hatte er schon begriffen, was von den blutrünstigen Sprüchen des Profos zu halten war. Er begann sich einzuleben, und Hasard lächelte zufrieden. »Ein Wetter, um Helden zu zeugen!« Auch Ben Brighton lächelte, als er neben den Seewolf trat. »Kommt wie bestellt. Die ganze Nacht die verdammte Flaute, und jetzt haben wir rauhen Wind, wenn wir auf Westkurs gehen.« Hasard nickte nur. Immer noch spähte er zu der Bucht hinüber. Denn jetzt hatte er im Schatten zwischen den schlanken Palmenstämmen eine Bewegung gesehen, und wenig später erkannte er die braunen Gestalten, die in die Sonne traten. Bahrani, die Zauberin. Ein paar Krieger waren in ihrer Begleitung, eilten zum Strand und zerrten eins der Auslegerboote aus dem Schutz der Felsen. Die alte Indianerin winkte zur ›Isabella‹ hinüber. Sie machte ein paar Zeichen, aus denen Hasard nicht recht schlau wurde. Dann traten noch vier, fünf weitere Gestalten aus dem Palmenschatten. Arauk-Mädchen! Fast ein halbes Dutzend davon! Braunhäutige, biegsame Gazellen, schwarzhaarig und glutäugig - und mit nichts bekleidet außer ein paar bunten Tüchern, die sie sich um die Hüften geschlungen hatten. »Auch das noch!« sagte Hasard und knirschte mit den Zähnen. Ben Brighton neben ihm sagte gar nichts, aber er hatte plötzlich einen gewissen Glanz in den Augen. Und Ed Carberry vergaß sämtliche Rübenschweine und Affenärsche, die sich in seinem Blickfeld befanden. Dabei wären es eine ganze Menge gewesen: ein Gutteil der Crew wandte dem Profos nämlich wie auf ein geheimes Kommando die Rückseite zu, um sich die Augen in Richtung 58
Strand auszustarren. Über die Absichten der malerischen Prozession, die dem Boot zuschritt, gab es keinen Zweifel. Die Mädchen trugen Körbe auf den Köpfen. Körbe, die mit Früchten, Mais und anderen frischen Lebensmitteln gefüllt waren. Aber da die Mädchen diese schwankenden Körbe mit hochgereckten Händen stützten und auf diese Weise ihre weiblichen Attribute höchst herausfordernd zur Geltung brachten, hatte im Augenblick nicht einmal der Kutscher einen Blick für die willkommene Bereicherung des Speisezettels. Die Mädchen bestiegen das Ausleger-Boot. Bahrani, die Zauberin, stand hoch aufgerichtet im Bug, zwei Arauckrieger pullten. Sanft schaukelte der Kahn über die Bucht, und Blacky, Stenmark und Matt Davies fingen beinahe einen Ringkampf an, weil jeder der erste an der Jakobsleiter sein wollte. »Mit deinem verdammten Haken wirst du nur die Ladies erschrecken!« knurrte Blacky. »Mit meinem verdammten Haken reiß ich dir gleich den Arsch auf!« fauchte Matt Davies, der Mann mit der Armprothese. Und Stenmark hetzte: »Laß dir das nicht gefallen! Hau ihm eins auf die Rübe!« Wenn die zwei sich stritten, dachte er wohl, würde er der dritte sein, der sich freute. Aber da hatte er die Rechnung ohne Ed Carberry gemacht, der sich wieder gefaßt hatte und zu seiner gewohnten Form auflief. »Platz da, ihr Rübenschweine!« brüllte er dazwischen. »Was sollen denn die Ladies von uns denken, was, wie? Benehmt euch, in drei Teufels Namen! Das ist ein Schiff, kein Irrenhaus! Wenn einer von euch verlausten Decksaffen vor den Ladies flucht, werde ich ihm die Haut in Streifen ...« Den Rest verschluckte er, da sich die Drohung sonst unweigerlich gegen ihn selbst gekehrt hätte. Die erste Lady enterte bereits auf - mit dem vollbeladenen Korb auf dem Kopf 59
ein Kunststück, das sie mit unnachahmlicher Grazie bewältigte. Auch Hasard und Ben Brighton standen mittlerweile auf der Kuhl und der Seewolf war nicht so ganz sicher, ob nur Ben Brighton oder auch er selbst den gewissen Glanz im Blick hatte. Dan O’Flynn jedenfalls fiel fast aus dem Großmars. Luke Morgan klarierte hingebungsvoll die Nagelbank, obwohl es da gar nichts mehr zu klarieren gab. Was ein wahres Glück war. Denn Luke achtete ebensowenig auf seine Arbeit wie Will Thorne, der Segelmacher, der leise fluchend seine Linke schlenkerte, weil er sich gerade mit der Lieknadel gepiekst hatte. Nur Arwenack, der verkaterte Schimpanse, konnte sich nicht mal zu einem müden Keckem aufraffen, als eine der braunhäutigen Schönen nach der anderen an Bord kletterte. Ein prächtiger Anblick, mußte Hasard sich eingestehen. Halb so prächtig wäre ihm allerdings lieber gewesen. Und wenn schon nicht lieber, dann zumindest beruhigender. Er bemühte sich, seinen Blick oberhalb der Kinnlinien zu halten, und da ihm das ohnehin nicht gelingen würde, wandte er sich lieber gleich der alten Bahrani zu. Was auch nicht gerade beruhigend war. Die wasserhellen Augen und das wissende Lächeln weckten jäh wieder die Erinnerung an den vergangenen Abend. Ein Abend, dessen Rätsel Hasard bestimmt nicht so schnell loslassen würden. Die alte Zauberin legte zwei Finger an ihre Stirn und verneigte sich leicht. »Presente - Geschenk für Ingles.« Sie wies auf die Körbe, die die Mädchen abgestellt hatten, und verneigte sich abermals. Mit ihrer dunklen, rauhen Stimme fügte sie ein paar Worte in ihrer Heimatsprache hinzu, und Hasard sah sich suchend nach Bill um. Der Junge lächelte ihn an. »Sie sagt, ihr Zauber werde uns schützen, wenn wir Rafael Virgil begegnen. Und er werde vor 60
unseren Augen sterben, ohne daß einer von uns ihn angerührt habe - sagt sie.« »Sagt sie«, knurrte Hasard verbissen. »Dann sag du ihr, daß sie mir mit ihrem verdammten Zauber allmählich die Nerven sägt. Oder nein: Sag ihr, wir danken ihr. Und wir werden die Arauks als Freunde in Erinnerung behalten.« Bill übersetzte getreulich. Bahrani verneigte sich zum drittenmal, und damit war die Zeremonie zur Enttäuschung der Mannschaft abgeschlossen. Die braunhäutigen Schönen enterten ab. Einen hübschen Anblick boten sie auch von hinten, aber Will Thorne, der Segelmacher, sprach den anderen aus dem Herzen, als er irgend etwas von »völlig überflüssiger Stoffverschwendung« vor sich hinbrummte. »Was steht ihr da und glotzt, ihr Rübenschweine? Euch zieh ich gleich ganz was anderes als überflüssigen Stoff vom Hintern. Ihr glaubt wohl, die alte ›Isabella‹ ist ‘n Puff - was, wie?« Ed Carberrys Donnerstimme stellte die gewohnte Ordnung wieder her. Hasard verbiß sich das Lachen, als er zum Achterkastell hinaufstieg. Und er stellte fest, daß der Anblick der halbnackten Amazonen offenbar höchst aufpulvernd auf seine Männer gewirkt hatte, denn ab jetzt klappte alles wie am Schnürchen. Die ›Isabella‹ ging ankerauf und segelte über Steuerbordbug aus der Bucht. Hasard ließ halsen, die Segel schlugen, als die ›Isabella‹ mit dem Heck durch den Wind ging, der jetzt über den anderen Bug einfiel. »Heißt Marssegel und Besan!« hallte Hasards Kommando. Knatternd entfaltete sich das Tuch, blähte sich im Wind, und unter vollem Zeug segelte die ›Isabella‹ raumschots nach Westen. Erst nach einer Weile wandte Hasard den Kopf und warf 61
einen letzten Blick zu der Insel hinüber, die achteraus im Sonnenglast zurückblieb. Schon war sie nur noch eine dunkle Kontur über der Kimm. Aber der Seewolf ahnte bereits, daß sie die Arauks und ihre alte Zigeunerin so schnell nicht vergessen würden. * Die nächsten zwei Stunden hätten in jedes Bilderbuch über die Schönheiten der Seefahrt gepaßt. Die ›Isabella‹ war noch etwas abgefallen und pflügte mit Backstagbrise durch das blaue Wasser der Karibik. Gleichmäßig und kraftvoll blähte der Wind die Segel, die Brise war gerade richtig, um die Männer munter zu halten, ohne sie allzusehr zu strapazieren. Die Sonne strahlte vom Himmel, aber noch hielt sich die Hitze in Grenzen. Erst gegen Mittag würden sich Himmel und Meer mit jenem seltsamen Perlmuttschleier überziehen, der alle Konturen verschwimmen ließ und manchmal Luftspiegelungen hervorbrachte, die den Männern Schiffe und Inseln vorgaukelten, wo überhaupt keine waren. Dan O’Flynn hatte daher keinen Grund, seinen Augen nicht zu trauen, als sich vor ihm dünn wie Stecknadeln ein paar Mastspitzen über die Kimm schoben. »Deck ho! Mastspitzen Steuerbord voraus!« Dans Stimme gellte, und Arwenack, der zusammengerollt im Großmars seinen Rausch ausschlief, keckerte beleidigt. Wie der Blitz enterte er ab, als der schlanke blonde Junge Jetzt auch noch mit den Armen fuchtelte. Donegal Daniel O’Flynn war zwar inzwischen ein Mann geworden, aber das hatte nichts daran geändert, daß er immer noch genauso versessen auf Abwechslung, Abenteuer und nach Möglichkeit handfesten Kampf war wie das Bürschchen von einst. 62
»Segel!« meldete er jetzt. »Moment mal! Die sehen ziemlich rot aus!« »Genauer, du Decksaffe!« brüllte Carberry von unten. »Sonst sieht dein verdammter Affenarsch gleich auch ziemlich rot aus, wenn ich dir die Haut in Streifen ...« »Zweimaster mit roten Lateinersegeln!« Nach dieser endgültigen Auskunft klappte Dan den Mund zu. Denn er wußte genau wie die anderen, wer diesen Zweimaster befehligte: Siri-Tong, die Rote Korsarin. Und Siri-Tong war Donegal Daniel O’Flynn nun mal ein Dorn im Auge. Was sie für den Seewolf empfand, hatte von Anfang an ein Blinder sehen können - und der Seewolf war mit Dans Schwester verheiratet gewesen, mit Gwen, die jetzt nicht mehr lebte. Der Junge blähte zornig die Nasenflügel, obwohl das niemand sehen konnte. Demonstrativ blickte er in eine andere Richtung, und der Erfolg war, daß er vor Schrecken beinahe senkrecht im Großmars hochschoß. Das war doch ... »Himmel-Arsch«, fluchte Dan flüsternd und kniff die Augen so angestrengt zusammen, daß sie tränten. Mastspitzen über der Kimm, kein Zweifel. Da drüben, weit vor ihnen, segelte ein zweites Schiff, ein Dreimaster, und damit konnte es schon mal auf keinen Fall Jean Ribaults zweimastige Karavelle sein. Karibik-Piraten? Spanier? Dan grinste sich eins. Das eine war ihm so lieb wie das andere - Hauptsache, die Burschen taten ihm den Gefallen, ihren Kurs zu kreuzen. Nach all den rätselhaften, oft unheimlichen Ereignissen am Auge der Götter und jetzt auf Jamaica war nach Donegal Daniel O’Flynns Meinung schon lange mal wieder ein richtiges Seegefecht mit einem handfesten Enterunternehmen fällig, und seine Stimme konnte nicht verbergen, daß ihn pure Vorfreude erfüllte. 63
»Deck ho! Dreimaster Backbord voraus! Wenn ihr mich fragt - ein verdammter Pirat oder ein dreimal verdammter Spanier!« * Auf dem Achterkastell des roten Seglers stand Siri-Tong und hob das Spektiv an die Augen. Vor Sekunden hatte der Ausguck im Großmars die ›Isabella‹ gemeldet. Oder vielmehr: er hatte eine dreimastige Galeone gemeldet - daß es die ›Isabella‹ war, konnte die Rote Korsarin erst durch das Spektiv sehen. Die stolze, ungewöhnlich ranke Galeone war unverkennbar. Siri-Tongs Lippen umspielte ein ganz leichtes Lächeln, und ihre schwarzen Mandelaugen schimmerten verhalten, als sie das Spektiv an Thorfin Njal weiterreichte. In den Fäusten des riesigen Wikingers wirkte der Kieker wie ein Kinderspielzeug. Thorfin Njal hatte sich nach dem Verlust seiner Schaluppe, die bei dem Unglück am Auge der Götter zerschmettert worden war, dazu entschlossen, als Steuermann unter der Roten Korsarin zu fahren. Gemeinsam wollten sie den schwarzen Segler El Diablos instandsetzen - jenes seltsame Schiff, über dessen Geheimnisse Siri-Tong offenbar mehr wußte als jeder andere. Einiges hatte sich Thorfin Njal inzwischen zusammengereimt. Und oft dachte er an jenes ferne, unbekannte Land, vor dem Siri-Tong immer wieder eindringlich gewarnt hatte. Denn ins Unbekannte zu segeln, fremde Küsten zu erforschen und zu erobern, das war etwas, das ihm, dem Wikinger, im Blut lag. Jetzt spähte er angestrengt nach Süden und schwenkte das Spektiv, bis er die Galeone im Blick hatte. Auch er erkannte die ›Isabella VIII.‹ sofort. Und noch etwas anderes erkannte er, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. »Verdammt«, sagte er. 64
Siri-Tong schoß ihm einen Blick zu. Sie kannte die wortkarge Art des Wikingers inzwischen. Bevor er sprach, stellte er seine Mitmenschen bisweilen vor Geduldproben. Aber wenn er sprach, dann konnte man auf das, was er sagte, ganze Zwingburgen bauen. »Eine spanische Galeone«, grollte er mit seinem tiefen Baß. »Falsch getakelt! Merkwürdiger Kahn!« Siri-Tong griff nach dem Spektiv, das er ihr hinhielt. Jetzt sah auch sie das zweite Schiff - genau querab, etwa ebensoweit von dem roten Segler entfernt wie von der ›Isabella‹. Jean Ribault konnte es nicht sein - die Karavelle des Franzosen hatte nur zwei Masten. Daß der Dreimaster dort vorn falsch getakelt war, interessierte Siri-Tong im Moment nur am Rande. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete sie den Spanier, schwenkte das Spektiv zurück zur ›Isabella‹ und traf in Sekundenschnelle ihre Entscheidung. »Klar zum Wenden!« klang ihre helle Stimme über das Deck. »An die Brassen! Hart über Ruder!« Der rote Segler ging über Stag. Wieder hob Siri-Tong das Spektiv, und ihre schwarzen Mandelaugen kniffen sich zu schrägen, glitzernden Sicheln zusammen, als sie sah, daß sich die Lage vor ihren Augen bereits entscheidend verändert hatte. * »Der verdammte Kahn ist falsch getakelt!« schrie Dan O’Flynn. »Die Segel stehen nicht richtig, das sieht ein Blinder mit dem Krückstock!« Hasard zog die Brauen zusammen. Daß der »verdammte Kahn« einwandfrei falsch getakelt war, hatte er auch schon bemerkt. Aber seiner Ansicht nach war das nicht das einzige, was mit dem Schiff nicht stimmte. Es war eine dreimastige spanische Galeone, soviel stand inzwischen fest. Aber sie lief 65
kaum Fahrt. Obwohl Hasard mit dem Spektiv bereits das am Bugspriet baumelnde Holzkreuz erkennen konnte, schienen die Dons die ›Isabella‹ überhaupt noch nicht bemerkt zu haben. Kein Mensch zeigte sich an Deck. Wohin sie steuerten und mit was sie gegebenenfalls zusammenstoßen würden, schien den Spaniern ganz egal zu sein. Oder aber die komplette Mannschaft war stinkbesoffen. Hasard schüttelte den Kopf, ließ das Spektiv sinken und zögerte sekundenlang, weil er ein ungutes Gefühl im Magen hatte. Dann zuckte er mit den Schultern und traf seine Entscheidung. Die ›Isabella‹ war dem Spanier dort drüben gewachsen, ganz gleich, ob der Kapitän betrunken, verrückt oder ein ganz raffinierter Hund war. Auf jeden Fall wollte der Seewolf näher heransegeln, um nachzusehen, was es mit der Galeone auf sich hatte. »Anluven, Pete!« rief er dem Rudergänger zu. »Wir gehen an den Wind! Brass an die Rahen!« Pete Ballie legte Ruder. Seine Fäuste, groß wie Ankerklüsen, bewegten mühelos das Rad, knirschend schwangen die Rahen herum, als die Männer die Brassen dichtholten. Die ›Isabella‹ rauschte jetzt in schrägem Winkel auf das fremde Schiff zu, und sie segelte rasch auf, da die spanische Galeone nach wie vor kaum Fahrt lief. »Sir! Sir!« Bills aufgeregte Stimme ließ Hasard den Kopf wenden. Der Junge war blaß, seine Augen brannten. Er wies zu der spanischen Galeone hinüber. »Das ist die ›Estrella de Porto‹, Sir!« rief er. »Das Schiff Capitan Virgils!« Hasard furchte die Stirn. »Bist du sicher?« »Ganz sicher, Sir! Die ›Estrella‹ kreuzt hier schon länger in der Nähe von Jamaica. Immer wieder hat sie die Dörfer 66
überfallen und geplündert. Ich kenne das Schiff. Ich kenne es ganz genau!« »Danke, Bill!« Der Seewolf spannte sich. Wieder hob er das Spektiv an die Augen, und sein Blick suchte die Decks des falsch getakelten, langsam dahinkriechenden Spaniers ab. Kein Mensch war zu sehen. Das ganze Schiff erweckte einen verlassenen Eindruck, niemand schien sich an Bord zu befinden. Hasard fühlte ein kühles Prickeln im Nacken. Er setzte das Spektiv ab, und seine Brauen zogen sich so dicht zusammen, daß sie nur noch von der steilen Falte über der Nasenwurzel getrennt wurden. Er dachte an Bahranis Fluch. War es möglich, daß dieser Fluch tatsächlich gewirkt hatte? Daß Capitan Rafael Virgil und seine Besatzung ausgelöscht worden waren? Unsinn, dachte Hasard ärgerlich. Es gab keine Zauberei! Und außerdem hatte die alte Indianerin den Männern der ›Isabella‹ prophezeit, daß sie den Capitan sterben sehen würden. Hasard fluchte in sich hinein, als ihm klarwurde, daß er trotz allem bereits anfing, diesen sogenannten Zauber in seine Überlegungen einzubeziehen. Er starrte zu der spanischen Galeone hinüber, als wolle er sie aufspießen. Immer noch zeigte sich niemand an Deck. Es war ein gespenstisches Bild, und wie ein leibhaftiges Gespensterschiff mußte die Galeone in diesem Augenblick den Männern der ›Isabella‹ erscheinen. Mit einer entschiedenen Bewegung warf Hasard sein schwarzes Haar zurück. »Klar Schiff zum Gefecht!« rief er in mäßiger Lautstärke. »Stückpforten bleiben geschlossen. Batuti, Shane - klar bei Brandpfeile!« Im Eiltempo begaben sich die Männer auf ihre Gefechtsstationen. Hasards Blick hing an der spanischen Galeone, die ihm 67
allmählich unheimlich wurde. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Batuti und Big Old Shane, der frühere Schmied und Waffenmeister von Arwenack, ein Becken voll glimmender Kohlen in den Schutz des Schanzkleides schoben. Jedes andere offene Feuer auf der ›Isabella‹ wurde in diesen Sekunden gelöscht, aber auf die Brandpfeile, die Batuti und Shane mit unheimlicher Präzision in die Takelage eines Gegners zu schießen vermochten, konnte der Seewolf im Ernstfall nicht verzichten. Würde es zu diesem Ernstfall kommen? Hasards Blick glitt über die Drehbassen, die noch nicht bemannt waren, da der Gegner - falls es einer war - nichts von den Gefechtsvorbereitungen bemerken sollte. Die Männer an den Geschützen hatten alles vorbereitet. Sie würden blitzschnell feuerbereit sein, wenn es darauf ankam. Oben im Großmars starrte Dan O’Flynn angestrengt zu den leergefegten Decks des Spaniers hinüber. Langsam segelte die ›Isabella‹ näher. Und dann, als nur noch etwa dreihundert Yards die beiden Schiffe trennten, passierte es. »Deck!« brüllte Dan im Großmars. »Luke mittschiffs geht auf! Da ist ein Kerl, der ...« Das Wort blieb ihm förmlich in der Kehle stecken. Aber weitere Warnungen waren auch gar nicht nötig, denn was jetzt geschah, konnte jeder auf der ›Isabella‹ nur zu genau sehen. An der Backbordseite der spanischen Galeone gingen gut getarnte Stückpforten hoch. Jäh wurde es auf dem Segler lebendig. Schlagartig erschienen mindestens dreißig Mann an Deck, und diese dreißig Männer waren weder betrunken noch von irgendeinem Fluch getroffen, sondern bis an die Zähne bewaffnet und grimmig entschlossen, das vermeintlich sichere Opfer zu kapern. Wie aus dem Nichts erschien ein großer, dürrer Mann auf dem Achterkastell der ›Estrella de Porto‹. 68
Scharf peitschten spanische Befehle über Deck - und schon entluden sich donnernd die Culverinen.
9. Sekunden vor dem Feuerbefehl war die ›Estrella de Porto‹ noch etwas abgefallen, so daß sie der ›Isabella‹ voll die Breitseite zuwandte. Im selben Moment, in dem Capitan Rafael Virgil seinen Befehl auf Spanisch herausschrie, gab Hasard das gleiche Kommando auf Englisch. »Abfallen, Pete! Stückpforten hoch! Klar bei Geschütze!« Schmutzigrote Flammenzungen leckten von der Backbordseite des Spaniers herüber. Donnernd entluden sich die Culverinen und übertönten fast Hasards Stimme. Doch die ›Isabella‹ fiel ab, schwang elegant herum und wandte dem Spanier im entscheidenen Moment den Bug und damit ein wesentlich verkleinertes Ziel zu. Brüllend und orgelnd flog die tödliche Ladung heran. Die Kugeln lagen zu kurz, rissen die Wasserfläche auf und ließen Fontänen aufsteigen. Pulverrauch vernebelte die Stückpforten des Spaniers, der Capitan fuchtelte mit den Armen. Hasards Zähne blitzten, und seine Stimme hallte laut über Deck. .Anluven! Klar bei Drehbassen! An den Wind mit dem Kahn!« Längst waren die Drehbassen bemannt und die acht Siebzehnpfünder auf der Backbordseite feuerbereit. Die ›Isabella‹ schwang herum, legte sich hart an den Wind und rauschte schräg auf das Heck des schwerfälligen Spaniers zu. Verzweifelt versuchte Capitan Rafael Virgil, die Segelfläche zu vergrößern, um mehr Fahrt zu laufen und aus dem Bereich des tödlichen Bleihagels herauszukommen. Zu spät! Schon 69
spien die Kanonen der ›Isabella‹ Tod und Verderben - und die Seewölfe hatten besser gezielt als ihre Gegner. Wie gigantische Hagelkörner prasselten die Geschosse in die Bordwand der ›Estrella de Porto‹. Teile des Backbord-Schanzkleides wurden weggerissen, ein Mann warf brüllend die Arme hoch und brach zusammen. Knirschend rissen Stage und Wanten, eine der Stückpforten erhielt einen Treffer. Die Kanone riß sich los, fegte quer über das Geschützdeck und nahm schreiende Männer mit sich, aber das war von der ›Isabella‹ aus schon nicht mehr zu sehen. Hart am Wind schnitt die ranke Galeone am Heck des Spaniers vorbei. Das war der Moment, in dem Big Old Shane und Batuti in Aktion traten. Die ›Estrella de Porto‹ lief mit Vierkant gebraßten Rahen vor dem Wind, die Segel boten ein hervorragendes Ziel für die Brandpfeile. Beinahe spielerisch spannte der hünenhafte Gambia-Neger den Bogen. Schon pfiff der erste Pfeil durch die Luft, die lappenumwickelte Spitze lichterloh brennend, und eine Sekunde später schickte auch der riesige Old Shane eins der Flammenbündel auf die Reise. Noch zweimal kam jeder zum Schuß, bevor die ›Isabella‹ an dem Spanier vorbei war und noch höher an den Wind ging. Ein vielstimmiger Aufschrei brandete über die Decks der spanischen Galeone. »Incendio! Incendio!« »Feuer! Feuer!« Das Großmarssegel stand in Flammen, am Unterliek des Lateinerbesans leckten winzige, zuckende Feuerzungen hoch. Rauch bildete sich, wehte in langen Schlieren über Fockmast und Bugkastell und mischte sich mit dem Pulverdampf, der im Wind zerfaserte. Rafael Virgil, der Capitan, stand starr an der Schmuckbalustrade des Achterkastells, als habe ihn der Schrecken in eine Salzsäule verwandelt. Mit aufgerissenen Augen starrte er zu dem brennenden Großmarssegel hinauf und zu dem dreieckigen Besan, den die Flammen jetzt völlig 70
einhüllten. Bevor der Spanier sich wieder in der Gewalt hatte, vergingen entscheidende Sekunden. Die ›Isabella‹ lag immer noch hoch am Wind und entfernte sich von dem Spanier. »Klar zum Wenden!« hallte Hasards Stimme. »Etwas voller halten! Ruder hart über!« Elegant ging die ranke Galeone über Stag und fiel ab, kaum daß der Wind über den anderen Bug wehte. Hasards Augen blitzten, als sich die Segel füllten und die ›Isabella‹ vorwärtsdrückten. Raumschots kreuzte die Galeone ihr eigenes Kielwasser, gewann rasch an Fahrt und rauschte wie ein zorniger Schwan erneut auf den Spanier zu. An Bord der ›Estrella de Porto‹ herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Die Fetzen des brennenden Besans waren vom Wind über das Deck verteilt worden, verzweifelt hasteten Männer mit Segeltuchpützen herum und mühten sich ab, die Flammen zu löschen. Capitan Virgil gab mit kreischender Stimme Befehle, Männer eilten zu den Drehbassen, stolperten über zerfetztes Tauwerk und herumliegende Spieren, Verwundete schrien. Mit dem Mut der Verzweiflung enterten ein paar Männer auf, um das brennende Marssegel außenbords gehen zu lassen, damit es nicht auch noch das Großsegel in Brand setzte. Zu spät! Der Capitan hatte nicht schnell genug gehandelt. Schon begann Holz zu glimmen, schon verkohlten Wanten und Stage, und Sekunden später krachte die ganze Rah mitsamt dem brennenden Segel nach unten. Aufbrüllend ließ einer der Seeleute die Pütz fallen, aber er schaffte es nicht mehr, sich zur Seite zu werfen. Die Rahnock krachte ihm in den Rücken, zerschmetterte ihm die Knochen und schleuderte ihn wie eine Stoffpuppe mit verrenkten Gliedern auf die Planken. 71
Ein zweiter Mann geriet mit den Beinen unter die Rah. Das brennende Segel senkte sich über ihn und setzte in Sekundenschnelle seine Kleider in Brand. Blindlings bäumte er sich auf, ein langgezogener, unmenschlicher Schrei ließ den keuchenden, verzweifelt kämpfenden Männern das Blut in den Adern gefrieren. Mit einer letzten Anstrengung schaffte es der Unglückliche, sich von dem Segel zu befreien. Als lebende Fackel taumelte er hoch. Heulend, wahnsinnig vor Schmerzen, raste er über die Kuhl, stolperte gegen das Schanzkleid und stürzte sich blindlings ins Wasser. Rafael Virgil starrte der Galeone entgegen, die unter Vollzeug auf die ›Estrella de Porto‹ zulief wie das leibhaftige Verhängnis. Virgil schüttelte wild den Kopf, in seinen Augen flackerte so etwas wie Wahnsinn. Er begriff nicht, konnte und wollte nicht begreifen. Die Falle war doch perfekt gewesen! So oft hatte es geklappt, so oft hatten sie ihren Gegner zusammengeschossen, ehe der recht begriff, und waren dann über ihre Beute hergefallen wie blutrünstige Bestien. Jetzt hatte sich das Blatt gewendet. Aus dem heimtückischen Räuber war das gejagte Wild geworden, und es konnte nur noch Minuten dauern, bis die nächste vernichtende Breitseite der ›Estrella de Porto‹ endgültig den Garaus bereitete. Die Stimme des Capitans überschlug sich, als er in schrillem Falsett seine Befehle kreischte. Die Steuerbordhalse erfolgte zu spät, längst war die Chance vertan, der heranrauschenden ›Isabella‹ mit einer Breitseite den Bug zu zerschmettern. Aber der Gegner war jetzt auf Schußweite heran. Die nackte Todesangst gab Rafael Virgil noch einmal die Kraft, mitten im ausbrechenden Chaos den einzigen jetzt noch vernünftigen Befehl zu geben. Die ›Estrella de Porto‹ ging mit dem Heck durch den Wind. Donnernd begannen die achteren Drehbassen zu feuern, und 72
jetzt waren es die Seewölfe, denen die Kugeln um die Ohren pfiffen. Ein Geschoß streifte den Fockmast und rüttelte ihn durch. »Himmel-Arsch!« brüllte Ferris Tucker, raufte sich die roten Haare und wurde von Ed Carberry überschrien, der einen noch viel wüsteren Fluch vom Stapel ließ, weil im selben Augenblick das Drehbassenfeuer in die Blinde prasselte. Segeltuch riß, weiße Fetzen lösten sich und flatterten achteraus. Die ›Isabella‹ verlor etwas an Fahrt. Drüben auf der schwerfällig halsenden Galeone ließ der spanische Stückmeister in fieberhafter Eile nachladen. Der Seewolf stand wie ein Baum auf dem Achterkastell, in seinen eisblauen Augen schimmerte verhaltene Wut. »Feuer Drehbassen Bug!« befahl er knapp. Und von irgendwoher dröhnte Carberrys Stimme: »Rasier ihnen die Köpfe weg, Al, gib ihnen Zunder, daß es nur so raucht!« Al Conroy, der Stückmeister, stand hinter der Bugdrehbasse und peilte gelassen über das Geschützrohr. Mit dem Kanönchen konnte er umgehen wie kein zweiter. Die Dons da drüben würden nicht noch einmal zum Schuß kommen, jedenfalls nicht mit den achteren Drehbassen. »Brauchst du ‘ne Extra-Einladung, du Rübenschwein?« brüllte Carberry verzweifelt. Aber das konnte Al Conroy nicht erschüttern. Gelassen hielt er die Lunte ans Zündloch. Donnernd entlud sich das Rohr, spuckte Blei zum Heck der ›Estrella de Porto‹ hinüber und fegte den Spanier weg, der gerade seinerseits nach der brennenden Lunte gegriffen hatte. Das Rohr der zweiten Drehbasse schwenkte herum und spie im nächsten Moment seine tödliche Ladung. Blacky und Stenmark luden mit hundertfach geübten Bewegungen nach, und noch ehe die gegnerische Galeone ihre Halse vollenden konnte, hatte es auch die zweite achtere 73
Drehbasse erwischt. Polternd und krachend fegte sie quer über das Achterdeck, riß schreiende Männer mit und durchbrach das BackbordSchanzkleid. Gebrüll brandete auf. Der spanische Capitan begriff, daß er dabei war, der ›Isabella‹ genau vor die schußbereiten Rohre zu laufen. Verzweifelt schrie er den Befehl zum Anbrassen über das Durcheinander hinweg, aber er hatte keine Chance, seinem Gegner zuvorzukommen. »Feuer!« peitschte Hasards Stimme auf der ›Isabella‹. Krachend entlud sich die Breitseite. Diesmal waren es die Steuerbord-Geschütze, die Tod und Verderben spuckten. Pulverdampf verdichtete sich zu dicken Wolken, einzelne Fontänen spritzten auf und dicht über der Wasserlinie wurde die Bordwand der ››Estrella de Porto‹ aufgerissen. »Abfallen!« ertönte Hasards Stimme noch in den Nachhall des splitternden Krachs. Es klappte wie am Schnürchen. Carberrys Donnerstimme drohte den Männern sämtliche Höllenstrafen an, wenn sie ihre »verdammten Affenärsche« nicht schneller bewegten, aber schneller hätten sie gar nicht sein können. Mit Vierkant gebraßten Rahen legte sich die ›Isabella‹ vor den Wind. Auch ohne Blinde lief sie noch eine Höllenfahrt, genug jedenfalls, um schneller zu sein, als Capitan Rafael Virgil denken konnte. Der Spanier stand inmitten eines grauenhaften Infernos und brüllte seinen Feuerbefehl. Was von den SteuerbordCulverinen noch nicht das Zeitliche gesegnet hatte, feuerte tatsächlich, aber da rauschte die ›Isabella‹ schon am Heck des Spaniers vorbei und erhielt nicht einmal mehr einen Spritzer, als die mächtigen Eisenkugeln wirkungslos ins Wasser klatschten. Wieder flogen Brandpfeile. 74
In raschem Wechsel spannten Batuti und Big Old Shane die riesigen Langbögen, mit ungeheurer Wucht sausten die Pfeile zu der feindlichen Galeone hinüber und zogen funkensprühende Kometenschweife hinter sich her. Zwei der Geschosse blieben im Hecckastell stecken. Zwei weitere setzten das Großsegel dicht am Unterliek in Brand, aber diesmal hatten die Spanier aufgepaßt und waren sofort mit Löschwasser zur Stelle. Philip Hasard Killigrew wußte, daß es ihnen nichts mehr nutzen würde. »Klar bei Kettenkugeln!« dröhnte seine Stimme. »Anluven, Pete! An die Brassen! Herum mit dem Schiff!« Die ›Isabella‹ luvte an. Auf der spanischen Galeone herrschte sichtlich Zustand. Die einzige Chance des Capitans wäre es gewesen, mit der ›Estrella de Porto‹ blitzartig über Stag zu gehen und eine Breitseite abzufeuern, bevor die ›Isabella‹ ihre SteuerbordGeschütze wieder klar zum Feuern hatte. Aber für ein solches Manöver hatte Rafael Virgil nicht mehr den Nerv. Statt dessen ließ er sich vom blinden Fluchtimpuls treiben. Die ›Estrella de Porto‹ fiel ab, versuchte mit halbem Wind am Bug des Gegners vorbeizuwischen, und der Capitan schien völlig zu vergessen, daß er nicht mehr unter Vollzeug segelte. Ohne Besan und Marssegel war das Schiff um mehr als nur eine Kleinigkeit zu langsam. Fast gemütlich konnten die Männer an den Geschützen der ›Isabella‹ ihrem Gegner eine volle Breitseite in die Takelage jagen. Der Fockmast knickte weg, Wanten, Stage und Segel zerrissen unter der Wucht der mörderischen Ketten-Kugeln in tausend Fetzen. Die ›Estrella de Porto‹ krängte schwer nach Steuerbord. Noch einmal brüllten ihre Geschütze, aber da hatte Hasard seine Wende bereits vollendet und war außerhalb des Schußbereichs. Wie ein waidwundes Tier trieb die spanische Galeone in der 75
Dünung. Auf der ›Isabella‹ donnerten die achteren Drehbassen, zerhackten Masten und Spieren und hämmerten in das Gewirr aus Tauwerk, zersplitterten Rahen und brennendem Segeltuch. Bei dem jähen Überholen nach Steuerbord hatte die ›Estrella de Porto‹ Wasser genommen, jetzt wurde sie sichtlich hecklastig. Stolpernde, erschöpfte, von nacktem Grauen geschüttelte Männer versuchten, die Lenzpumpen zu klarieren. An der Backbordseite holte ein verlorener Haufen unermüdlich volle Segeltuchpützen hoch, um die immer weiter um sich greifenden Schwelbrände zu löschen. Die stolze spanische Galeone war nur noch ein Wrack. Capitan Rafael Virgil krampfte die zitternden Finger um die Schmuckbalustrade und war so grün im Gesicht wie eine Landratte bei grober See. Auf dem Achterkastell der ›Isabella‹ schloß der Seewolf die Faust um den Griff des Degens. Seine Augen funkelten wie Eis. Das lange schwarze Haar flatterte im Wind, und seine Stimme übertönte mühelos den Kampflärm. »Ruder hart Steuerbord! Klar zum Längseitsgehen und Entern!«
10. Knirschend berührte das Heck der spanischen Galeone die Bordwand der ›Isabella‹. Enterhaken flogen über das Schanzkleid des Spaniers, blitzartig belegten die Männer die Leinen am Besanmast. Hasards Stimme peitschte durch den Lärm und scheuchte Al Conroy und Blacky zurück an die Drehbassen, mit denen sie notfalls das Achterkastell der ›Estrella de Porto‹ zu Kleinholz 76
verarbeiten konnten. Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, war der erste, der sich mit einem wilden Kampfschrei über das Schanzkleid des Spaniers schwang. Smoky, Stenmark und Dan O’Flynn folgten ihm auf dem Fuße - und dröhnend ließ der alte Schlachtruf der Seewölfe die Luft erzittern. »Arwenack!« »Ar-we-nack!« Die Spanier, die über das Achterdeck stürmten, um die Entermannschaft abzuwehren, prallten entsetzt zurück. Das Gefecht war schlimm genug gewesen und hatte ihr Schiff in ein buchstäblich in Fetzen geschossenes Wrack verwandelt, aber jetzt erschien es ihnen, als spucke die ›Isabella‹ eine Horde rasender Teufel aus. Ferris Tucker schwang seine riesige Axt hoch über dem Kopf. Ed Carberrys furchterregendes Narbengesicht erschien über dem Schanzkleid, mit einem mörderischen Handspaken in der Faust sprang er an Deck. Nicht weniger mörderisch blinkte der scharfgeschliffene Haken an Matt Davies Armprothese. Entermesser blitzten, Beile, Säbel. Big Old Shane handhabte eine armlange Eisenstange. Mit einem mächtigen Satz landete der Seewolf auf den Decksplanken, in den blauen Augen brannte ein wildes, eisiges Feuer. Einer der Spanier vollführte eine Bewegung, als wolle er sich bekreuzigen. Im nächsten Moment stolperte er vorwärts, weil seine Kameraden von hinten nachdrängten. Fast ein Dutzend Männer waren es, die sich mit dem Mut der Verzweiflung in den Kampf warfen und die anderen, die zurückgewichen waren, unwiderstehlich wieder vorwärts drängten. Einer von ihnen wurde unfreiwillig auf Stenmark zu katapultiert. Der blonde Schwede schwang blitzartig das Entermesser, der Spanier brach aufschreiend zusammen. Matt Davies erwischte einen großen, bulligen Kerl mit der 77
Hakenprothese und zog ihn herum. Der Bursche brüllte entsetzt, strebte blindlings weg von dem schrecklichen Haken, wurde auf Dan O’Flynn zugeschleudert - und der empfing ihn mit dem hochgerissenen Entermesser. »Das war meiner!« schrie Matt Davies aufgebracht. »Such dir einen Neuen!« brüllte Dan, während er den Burschen kurzerhand an den Beinen packte und außenbords kippte. Die Augen des schlanken Jungen funkelten vor Kampflust, aber den Spanier schräg hinter sich bemerkte er erst, als der Kerl ihm einen Belegnagel ins Genick schlug. An Deck der ›Isabella‹ sah Batuti Dan O’Flynn fallen. Der riesenhafte Gambia-Neger hatte sich eine bereitstehende Pütz geschnappt, um das Kohlenbecken zu löschen. Jetzt ließ er Feuer Feuer sein und die Pütz fallen. Ein urwelthafter Wutschrei brach über seine Lippen. Sein spezieller Schützling war in Gefahr - und wenn »kleines O’Flynn« in Gefahr war, dann wurde Batuti zum reißenden Tiger. Kopfschüttelnd sah der weißhaarige Will Thorne ihm nach, griff sich dann die nächste Pütz und löschte endgültig das Kohlenbecken, damit nicht doch noch etwas passierte. Der riesige Gambia-Neger raste quer über das Deck, mit gefletschten Zähnen und wild rollenden Augen. Mit der Rechten nestelte er bereits die Kette des fürchterlichen Morgensterns vom Gürtel. Drüben auf dem Achterdeck der ›Estrella de Porto‹ holte der Spanier, der Dan O’Flynn hinterrücks niedergeschlagen hatte, noch einmal mit dem Belegnagel aus, um seinem Opfer endgültig den Schädel zu zertrümmern. Er hätte es besser gelassen. Dan O’Flynn war zäh wie eine Katze - eine erbliche Eigenschaft seiner Familie. Er hatte zwar das Gefühl, daß sein Schädel jetzt schon gespalten war, aber er schaffte es immerhin, sich am Boden herumzuwälzen. Auf diese Weise sah er, was auf ihn zukam: ein verdammt langer, verdammt 78
harter Koffeynagel. Der Spanier brüllte triumphierend und schlug mit aller Wucht zu. In letzter Sekunde schnellte sich Dan O’Flynn zur Seite. Die Decksplanken dröhnten, als der Belegnagel darauf knallte. Der Spanier brüllte immer noch, aber jetzt nicht mehr triumphierend, sondern überrascht und wütend. Der eigene Schwung hatte ihn nach vorn auf die Knie fallen lassen. Er wollte aufspringen, aber da hatte er plötzlich das Gefühl, als habe eine fünfpfündige Kanonenkugel sein Hinterteil getroffen. Wie von einem Katapult abgeschnellt segelte er vorwärts. Und Donegal Daniel O’Flynn, der Ältere, hatte alle Mühe, das Gleichgewicht zu halten, nachdem er den Spanier so vehement mit seinem Holzbein in den Hintern getreten hatte. Wahrscheinlich wäre der Alte gestürzt. Aber da war schon Hasard heran, der Dan hatte beispringen wollen. Der Seewolf schaffte es gerade noch, einen Angreifer mit dem Degen beseitezufegen und den alten Mann aufzufangen. Mit der Faust packte er ihn am Kragen und schüttelte ihn. »Zurück mit dir, du Narr!« fauchte er. »Ist dein Bein aus Holz oder zufällig auch dein Schädel? Profos - schaff diesen verdammten, vernagelten Hohlkopf hier weg!« Der alte O’Flynn brüllte Protest, aber den Bärenkräften Ed Carberrys war er nicht gewachsen. Donegal Daniel, der Jüngere, grinste sich eins, als er sah, wie sein Alter kurzerhand über das Schanzkleid gehoben wurde. Dort landete er in den Armen des anstürmenden Batuti, und dem riesigen Schwarzen blieb gar nichts anderes übrig, als den zappelnden alten Mann vorsichtig zurück auf das Deck der ›Isabella‹ zu setzen. Dan O’Flynns Grinsen gefror, als ein sausender Krummsäbel ein Stück aus seinem Hemdsärmel fetzte. Hasard wirbelte herum und rammte dem Spanier den Degen 79
in die Brust. Mit einem Ruck zog er die Waffe aus der Wunde. »Träumen kannst du später!« pfiff er Dan an, der erschrocken den Kopf zwischen die Schultern zog. Das kurze Stocken im wilden Angriff der Seewölfe hatte den Spaniern Zeit gegeben, sich zu sammeln. Auch in ihrem Rücken tobte jetzt der Kampf: Ben Brighton, Pete Ballie, Gary Andrews und Bob Grey hatten die ›Estrella de Porto‹ mit Hilfe von Enterhaken längseits gezogen und waren auf die Kuhl gesprungen. Musketenfeuer prasselte ihnen entgegen, ein paar Spanier hatten sich hinter der Nagelbank des Großmastes verschanzt. Oder besser hinter dem Trümmerhaufen, der einmal eine Nagelbank gewesen war. Aufschreiend griff sich Bob Grey an die Schulter, als eine der Kugeln ihn streifte, und schüttelte grimmig das kurze Enterbeil. »Wartet, ihr Bastarde!« schrie er. »Aus euch mach ich Hackfleisch! Picadillo! Hört ihr? Picadillo!« »Picadillo!« fiel auch Gary Andrews ein. »Picadillo!« brüllte Pete Ballie. Wie ein neuer Schlachtruf hörte sich das an, ein Schlachtruf, der den Gegner wahrhaft schauerliche Aussichten versprach. Die verschreckten Dons zogen es vor, den strategischen Rückzug in Richtung Back anzutreten. Ben und Pete schickten ihnen ein paar Kugeln aus ihren Musketen nach. Bob Grey und Gary Andrews wandten sich zum Achterdeck. Dort versuchte ein Dutzend Spanier vergeblich, die Entermannschaft der ›Isabella‹ aufzuhalten. Batuti hatte sich in den Kampf gestürzt, rollte wild mit den Augen und ließ den Morgenstern kreisen. Er traf nicht oft, weil die Gegner schon beim Anblick dieser fürchterlichen Waffe Hals über Kopf das Weite suchten. Aber wo er traf, da richtete er Verheerungen an. Neben ihm, aber in sicherer Entfernung, wütete Big Old 80
Shane mit seiner Eisenstange. Ferris Tucker schlug mit der mächtigen Zimmermannsaxt drein, Ed Carberry schwang die Handspake, und der Seewolf hatte in einem unwiderstehlichen Ausfall die Front der Spanier aufgebrochen und kämpfte wie der leibhaftige Teufel. Seine Augen waren überall. Mit einem blitzschnellen Hieb säbelte er sich den Weg frei, pflückte einen Spanier von Smokys Rücken und schleuderte ihn Ed Carberry zu, der ihm die Spake auf den Schädel donnerte. Am Anfang zum Achterkastell rangelte Dan O’Flynn mit einem wahren Gebirge von Kerl, dem es gelungen war, beide Gelenke des Jungen zu packen. Dan fluchte, spuckte Gift und Galle und zappelte wie ein Fisch am Angelhaken. Der riesige Spanier lachte dröhnend, aber dann, als Dan O’Flynn eine schnelle Kopfbewegung ausführte, verstummte das Lachen, und dem Spanier quollen fast die Augen aus den Höhlen. Kein Wunder! Donegal Daniel O’Flynn hatte ihn nämlich in den Bauch gebissen. Der Hüne brüllte und ließ sein Opfer los. »Arwenack!« schrie Dan triumphierend, schnellte vorwärts und rammte seinen Schädel dorthin, wo er eben seine Zähne ausprobiert hatte. Das war zuviel für den Don. Mit einem langgezogenen Gurgeln knickte er nach vorn zusammen. Gleich darauf richtete er sich wieder auf, was an dem Zusammenstoß seines Kinns mit Dans Schädel lag, und knallte wuchtig mit dem Hinterkopf gegen die Unterkante der Schmuckbalustrade. »Uuuuh!« gurgelte er. Das war für eine Weile sein letztes Wort. Er legte sich schlafen, und Dan O’Flynn genoß seinen Triumph eine halbe Sekunde zu lange. Der Spanier hinter ihm hätte ihm den Säbel in den Rücken gerammt, doch da krachte Hasards sächsische Reiterpistole. 81
Der Säbelschwinger warf die Arme hoch und brach lautlos zusammen. Dan wirbelte herum und stürzte sich mit dem Entermesser auf den nächsten Gegner. Neben ihm fegte Hasard alles beiseite, was ihm in den Weg geriet. Unaufhaltsam wurden die Spanier zur Kuhl zurückgetrieben. Entsetzen verzerrte ihre Gesichter. Panische Furcht vor diesen rasenden Teufeln, die die Hölle selber ausgespuckt haben mußte, um ein fürchterliches Strafgericht über die ›Estrella de Porto‹ zu halten. Dutzende von Malen hatten die Spanier mit ihren überlegenen Waffen die Dörfer der Arauks auf Jamaica überfallen, ihre Hütten verbrannt, die Frauen geschändet, die Männer zusammengetrieben und massakriert. Jetzt waren sie es, die massakriert wurden. Dieser schwarzhaarige Riese mit den funkelnden eisblauen Augen mußte mit dem Teufel persönlich im Bund sein. Und der hünenhafte Neger mit den furchterregend rollenden Augen war fast noch schlimmer, wenn er die Zähne fletschte und seinen Morgenstern kreisen ließ. Ferris Tuckers Axt räumte auf, daß die Fetzen flogen. Ed Carberry stieß einen wilden Fluch aus, als er über einen jammernden Spanier stolperte. Im Aufspringen riß der Profos den Burschen mit und feuerte ihn mit einem einzigen kraftvollen Schwung seiner eisenharten Arme außenbords. »Arwenack!« brüllte er triumphierend über den Lärm hinweg. »Arwenack!« ertönte brausend ein vielstimmiges Echo, und das war zu viel für den entnervten Rest der spanischen Seeleute. In heller Panik warfen sich sich herum, wollten auf die Kuhl fliehen und stolperten Gary Andrews und Bob Grey in die Arme. »Picadillo!« brüllte Bob und schwang das Enterbeil. Es war Zufall, daß einer seiner Gegner gerade in dieser 82
Sekunde stolperte und sich förmlich selbst in die Waffe hineinkatapultierte. Aber es war ein Zufall, der den Spaniern den letzten kümmerlichen Rest von Mumm raubte. Der Getroffene stürzte mit einer klaffenden Schädelwunde auf die Decksplanken. Ben Brighton und Pete Ballie, die die versprengten Reste der Spanier auf der Back unter Feuer genommen hatten, wirbelten herum und gingen ebenfalls zum Angriff über. Unvermittelt sahen sich die Männer der ›Estrella de Porto‹ zwischen zwei Fronten. Vor ihnen brüllte Bob Grey immer wieder irgend etwas von »Hackfleisch«, hinter ihnen erscholl von neuem ein donnerndes »Arwenack« und die entnervten, von Panik geschüttelten Spanier hatten nur noch einen einzigen Gedanken. Weg! Ganz gleich, wie! Nur weg aus diesem höllischen Inferno. Aufschreiend warfen sich die ersten Männer herum und jagten blindlings in alle Richtungen auseinander. Einer von ihnen stolperte, blieb zitternd liegen und spielte den toten Mann, als der rothaarige Ferris Tucker über ihn wegsprang. Ein zweiter wurde von Batutis Morgenstern gestreift, überschlug sich auf der Kuhl und knallte mit dem Schädel gegen den Großmast. Die anderen schafften es, die Schanzkleider zu erreichen und sprangen verzweifelt über Bord. Sekunden später verebbte der Kampflärm auf der ›Estrella de Porto‹ wie eine ablaufende Woge. Breitbeinig blieb Hasard auf der Kuhl stehen, ließ den Degen sinken und sah sich um. Tote und Verwundete dutzendweise! Jetzt, da das Geschrei verstummt war, hörte man das Stöhnen der Verletzten, das Knistern und Knacken der immer noch schwelenden Brände, das Schlagen der nutzlosen, zerfetzten Segel im Wind. Über den Lenzpumpen waren ein paar Spanier zusammengebrochen 83
und erst jetzt wurde Hasard bewußt, daß die ›Estrella de Porto‹ schwer nach Steuerbord krängte. Die Galeone nahm Wasser. Sie würde sinken. In Fetzen gehackt von den Geschützen der ›Isabella‹, geentert und von den Seewölfen fast der gesamten Besatzung beraubt. Dazu, dachte Hasard, hatten sie keinen Zauber und keinen Fluch gebraucht. Fäuste und Entermesser, Säbel und Belegnägel waren völlig ausreichend gewesen. Aber wo, zum Teufel, steckte Capitan Rafael Virgil? Hasard fing einen Blick von Ben Brighton auf. Der Bootsmann wies mit dem Kopf zur Back. »Da stecken auch noch ein paar von den Helden«, sagte er trocken. »Wir müssen sie rausholen, ehe sie auf die Idee verfallen, uns die Drehbassen-Munition im Handbetrieb an die Köpfe zu werfen.« Hasard grinste leicht. »Na, dann los! Pete, Bob, Sten!« Die Genannten brauchten sich nicht mehr in Bewegung zu setzen. Die Spanier kamen freiwillig. Zuerst feuerten sie ihre Waffen von der Back, dann torkelten sie selbst hinterher. Vier kreidebleiche, an allen Gliedern schlotternde Jammergestalten, die das Grauen gesehen hatten und denen jetzt alles andere lieber war, als diese Bande von leibhaftigen Teufeln noch einmal in Aktion erleben zu müssen. Hasard runzelte die Stirn, als er sah, daß Capitan Rafael Virgil auch diesmal fehlte. Langsam wandte der Seewolf sich um und setzte sich in Marsch. Eine Gasse öffnete sich für ihn, als er auf das Achterkastell zuschritt. Vor dem Niedergang zur Kapitänskammer blieb er stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Capitan!« ertönte seine Stimme. »Kommen Sie aus Ihrem verdammten Rattenloch, wenn Sie nicht mit der ›Estrella‹ absaufen wollen!« 84
Eine halbe Minute verging. Alles blieb still - bis auf das Stöhnen der Letzten, um die sich inzwischen der Kutscher kümmerte. Hasard fragte sich, ob ihm dieser übergeschnappte Capitan vielleicht einen heroischen Einzelkampf liefern und mit wehender Flagge untergehen wollte. Genau in dieser Sekunde flog die Tür der Kammer auf. Sie krachte bis an die hölzerne Wand. Mit einem langen, geschmeidigen Sprung stand Capitan Rafael Virgil auf der obersten Stufe des Niedergangs. Eine schwere Pistole lag in seiner Rechten. Die Mündung zielte klar und deutlich auf Hasards Schädel. * Für die Dauer eines Herzschlags wirkte die Stille nahezu unheimlich. Hasard war geneigt, sich selbst für den größten Hornochsen zu halten, der jemals auf englischen Schiffsplanken herumgelaufen war. Er starrte den Capitan an. Rafael Virgil war verhältnismäßig jung, nicht viel älter als dreißig Jahre. Scharfe Linien lagen um seine zusammengepreßten Lippen, das Gesicht war schmal und knochig und von der KaribikSonne nur wenig gebräunt. Jetschwarze Augen lagen tief in den Höhlen. Augen, aus denen Wut und Verzweiflung sprachen und fanatische Entschlossenheit. Er wollte töten. Kein anderer Gedanke hatte Platz in seinem Hirn, nichts anderes gab es mehr, das wichtig für ihn gewesen wäre. Er wußte, daß ihn ein halbes Dutzend Musketenkugeln in ein Sieb verwandeln würden, wenn er abdrückte, und die Männer des Seewolfs wie eine entfesselte Meute über ihn herfallen und ihn wahrscheinlich im buchstäblichen Wortsinn zu Hackfleisch, zu »Picadillo« verarbeiten würden. 85
Das alles war ihm klar, aber mit seinem Leben hatte er ohnehin abgeschlossen, und für ihn zählte nur noch eins: er wollte diesen schwarzhaarigen Teufel mitnehmen auf die große Reise. Jemand stöhnte auf, weil die Spannung unerträglich wurde. Ferris Tucker krampfte die Fäuste so hart um den langen Stil seiner Axt, daß die Knöchel weiß hervortraten. Luke Morgan zielte mit der Muskete auf Rafael Virgils Kopf, Ben Brighton mit der Pistole. Bob Grey wog das schlanke Wurfmesser in der Hand, mit dem er ganz besonders gut umgehen konnte. Aber sie alle wußten, daß sie nichts gegen das Verhängnis vermochten und den spanischen Capitan nicht daran hindern konnten, noch tödlich getroffen die Pistole auf Hasard abzudrücken. Für ein paar endlose Sekunden bewegten sich auf der ›Estrella de Porto‹ nur die zerfetzten, im Wind knatternden Segel. Hasard stand unbeweglich, aber sprungbereit. Immer noch starrte er Rafael Virgil an. Etwas Seltsames schien plötzlich von dem Mann auszugehen. Keine Drohung, auch nicht mehr die wilde Entschlossenheit - irgend etwas anderes, Fremdes. Hasard fühlte ein eigentümliches Ziehen in der Magengegend. Es war nicht Furcht. Und es war auch nicht die Reaktion auf den Anblick der schußbereiten Pistole - die Waffe hatte er in diesen Sekunden fast vergessen. Sein Blick bohrte sich in die schwarzen Augen des Capitans. Diese Augen, die plötzlich durch alles hindurchgingen, als suchten sie etwas in unendlicher Ferne. Selbstvergessen, wie lauschend hob Rafael Virgil den Kopf, und jäh glaubte Hasard wieder, die Stimme der alten Zauberin Bahrani zu hören. »Du wirst ihn sterben sehen«, hatte sie gesagt. »Ihr alle werdet ihn sterben sehen!« Und jetzt ... Rafael Virgils Finger öffneten sich. 86
Die Pistole polterte auf die Stufen des Niedergangs. Er warf sie nicht weg, sondern ließ sie fallen, sie entglitt einfach seiner Hand, als habe er vergessen, daß die Waffe überhaupt da war. Seine Lider zogen sich auseinander. Mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen starrte er ins Leere. In diesen Sekunden begriff auch der letzte der Seewölfe, daß sich da vor ihnen etwas völlig Unbegreifliches abspielte. Wie versteinert standen die Männer da und starrten den Capitan an. Der Spanier schwankte. Totenbleich war sein Gesicht, die Stirn überzog sich mit glitzernden Schweißtropfen. Immer schneller und keuchender ging sein Atem, als lege sich ein unsichtbarer Eisenring um seine Brust, quetsche ihm die Rippen zusammen und presse ihm die Luft aus den Lungen. Nacktes Grauen stand in seinen vorquellenden Augen - und in einer flatternden, schon ziellosen Gebärde griff er sich mit beiden Händen ans Herz. Ein langgezogener, markerschütternder Schrei gellte über das Deck. Der gleiche Schrei, den die Seewölfe schon einmal gehört hatten - in jener Nacht in der Bucht von Jamaica, als die alte Zauberin eine Puppe aus Lehm mit ihrer Nadel durchbohrte. Rafael Virgils Augen wurden glasig. Er schwankte, krümmte sich nach vorn und wand sich wie unter Krämpfen. Noch einmal schrie er, schrie so gräßlich und gellend, daß es den Männern der ›Isabella‹Crew kalt und heiß über den Rücken rieselte, dann brach er so plötzlich zusammen, als habe ihn eine unsichtbare Gigantenfaust getroffen und zu Boden geschmettert. Schwer schlug sein knochiger Körper auf den Niedergang. Polternd, haltlos wie eine Stoffpuppe mit schlenkernden Gliedern, rollte er die Stufen hinunter. Unmittelbar vor Hasards Füßen blieb er auf den Planken liegen. Der Seewolf rührte sich nicht. 87
Er starrte die leblose, seltsam verrenkte Gestalt an, das verzerrte Gesicht, das sich schon mit der wächsernen Blässe des Todes überzog, die weit aufgerissenen gebrochenen Augen, deren gläserner Blick in die zerfetzte Takelage der ›Estrella de Porto‹ zu gehen schien. Und wieder glaubte Hasard, die dunklen, beschwörenden Worte der alten Zauberin zu hören. »Ihr werdet ihn sterben sehen alle!« Sie hatten ihn sterben sehen. Sie hatten gesehen, wie er zusammenbrach, ohne daß jemand ihn auch nur anrührte. Sie hatten seine Augen brechen sehen, sie sahen sein starres Totengesicht, das Gesicht eines gerade dreißigjährigen Mannes, der auf der Höhe seiner Kraft gestanden hatte, und nicht einmal Hasard fiel in diesen Sekunden irgend etwas ein, das diesen Tod auf natürliche Weise hätte erklären können. In einer unbewußten Geste fuhr sich der Seewolf mit dem Handrücken über die Augen. Der Fluch der Zauberin! Er verstand es nicht. Er konnte und er wollte es auch gar nicht verstehen. Mit einem tiefen Atemzug riß er den Blick von dem Toten los und sah zu seinen Männern hinüber. Jetzt erst wurde ihm klar, daß sie inzwischen Mühe hatten, sich auf dem schrägliegenden Deck zu halten. Die ›Estrella de Porto‹ sackte bedrohlich ab. Jäh und scharf wurde dem Seewolf wieder bewußt, daß sie auf einem sinkenden Wrack standen und schleunigst zusehen mußten, wieder auf die gute alte ›Isabella‹ hinüberzugelangen. Hasard straffte sich. Wild schüttelte er den Kopf, als könne er auf diese Weise das Grauen loswerden, das ihn für einen Moment wie mit eisigen Fingern gestreift hatte. Seine Augen funkelten auf, und seine Stimme, fest und energisch wie eh und je, durchbrach den Bann, der die ›Isabella‹-Crew immer noch gefangenhielt. »Wollt ihr hier Wurzeln schlagen, verdammt noch mal? 88
Zurück zur ›Isabella‹, aber ein bißchen plötzlich! Nehmt die Verwundeten mit, wir können sie nicht absaufen lassen!« »Keine Verwundeten«, sagte Ed Carberry mit belegter Stimme. »Was noch kriechen konnte, ist über Bord gesprungen. Die meisten sind ertrunken, ein paar haben sich mit einem Boot davongeschlichen.« Hasard schluckte. Er glaubte, sich verhört zu haben. Nicht, weil irgend etwas an Carberrys Worten unwahrscheinlich klang, sondern weil er, der eiserne Profos, in einem Ton sprach, als habe er noch nie dem Teufel persönlich versprochen, ihm die Haut von seinem verdammten Affenarsch zu ziehen. »Mann!« sagte Hasard leise. »Ich hoffe nur, du wirst wieder!« Und dann sorgte er zusammen mit Ben Brighton dafür, daß die sinkende ›Estrella de Porto‹ sehr schnell geräumt wurde. * Wenig später segelte die ›Isabella‹ wieder raumschots auf Westkurs. Sie mußten eine neue Blinde setzen und die Geschütze klarieren, und das alles mußte sofort passieren, damit es nicht noch nachträglich schwerere Blessuren gab, wenn jemand über herumliegendes Zeug stolperte. Niemand überschlug sich vor Eifer. Und wenn sich sonst niemand überschlug, mußte sich logischerweise der Profos überschlagen. Bemerkenswert sanft hatte er Batuti angedient, er möge doch, bitte schön, das dreimal verdammte Kohlenbecken von Deck schaffen. Aber Batuti war dabei, »großes Beule« auf dem Schädel von »kleines O’Flynn« mit Salzwasser zu kühlen. Statt dessen fing der Schimpanse Arwenack an, mit den restlichen Kohlenbrocken nach dem Rudergänger zu werfen. Der fluchte erbittert, das Kielwasser wies plötzlich eine kleine Schleife auf, 89
und das war endlich die richtige Medizin für den eisernen Profos. »Dir werde ich Beine machen, du Rübenschwein!« brüllte er Batuti an. »Beweg dich, du verlauster, dreimal um die Großrah gewickelter Hering! Hopphopp! Schwirrst du noch nicht ab, du Kakerlake, oder soll ich dir die Haut streifenweise von dem verdammten schwarzen Affenarsch ziehen?« Batuti jumpte hoch. Und Hasard stützte sich auf die Schmuckbalustrade des Achterkastells und grinste. Auf der ›Isabella‹ war die Welt augenscheinlich wieder in Ordnung. Die Stätte der Katastrophe blieb achteraus. Als wenig später der rote Segler SiriTongs heranrauschte, war schon alles vorbei. Nur noch ein paar auf den Wellen tanzende Planken verrieten, daß die ›Estrella de Porto‹ hier in die Tiefe gefahren war. Capitan Rafael Virgil würde nie wieder über die Dörfer der Eingeborenen von Jamaica herfallen ...
ENDE
Auf Kaperfahrt von Roy Palmer
Capitan Garcia y Marengo, Befehlshaber eines spanischen Geleitzugs von fünf Schiffen, hielt nicht viel von dem niederen Schiffsvolk. Aber dann beging er den Fehler, von der »spanischen« Galeone ›Isabella‹ sechs Männer zu requirieren, weil seine Schiffe unterbemannt waren. Er ahnte nicht, daß er sich Seewölfe an Bord holte. 90
Und als die ihre Zähne zeigten, war es zu spät für den Capitan, noch das Steuer herumzureißen ...
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