Friedhelm Werremeier
Taxi nach Leipzig Roman
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Friedhelm Werremeier
Taxi nach Leipzig Roman
WELTBILD
Lizenzausgabe für Weltbild Verlag GmbH mit Genehmigung des Autors und der AVA (Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn)
© 1969 by Friedhelm Werremeier Editionsidee und Redaktion: Reinhold G. Stecher, Richard Mader Einbandgestaltung: Agentur Zero GmbH, München Titelbild: Bayerischer Rundfunk; dpa/Claus Felix; Medienakademie Augsburg Tatort ist eine Produktion der ARD für Das Erste Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg Printed in Germany
Mit diesem Tatort fing alles an: Als am 29. November 1970 »Taxi nach Leipzig« über die Bildschirme flimmerte, ahnte keiner, daß Friedhelm Werremeier mit diesem Drehbuch den Grundstein Tür die erfolgreichste TV-Krimireihe legte. Trimmel, »der einzelgängerische Bollerkopp« (Regisseur Peter Schulze-Rohr), war nicht nur der erste Tatort-Kommissar, sondern auch ein Charakter mit Ecken und Kanten, der faszinierte. An der Interzonenautobahn nach Leipzig wird die Leiche eines Kindes gefunden. Es hat Socken westdeutscher Machart an und deshalb bitten die DDR-Behörden die westlichen Kollegen um Mithilfe bei der Aufklärung. Kurz danach wird das Amtshilfeersuchen zurückgezogen. Hauptkommissar Paul Trimmel macht dies mißtrauisch und er beginnt, privat den Fall zu untersuchen. Denn als westdeutscher Polizist darf er nicht in der DDR ermitteln. Trimmel stößt auf allerhand Verdächtiges. Das Kind, Folge eines intimen Verhältnisses während der Leipziger Messe, wurde seiner Mutter in Leipzig entführt. In Frankfurt/Main spürt er den Vater auf. Dessen Sohn aus erster Ehe – aufgewachsen in Hamburg – spricht merkwürdigerweise sächsischen Dialekt. Als Trimmel sich aufmacht, in Leipzig mit der Mutter des toten Kindes zu sprechen, gerät er in massive Schwierigkeiten. Denn die attraktive junge Frau hat einen Freund, der ausgerechnet Volkspolizei-Offizier ist…
TAXI NACH LEIPZIG. »Mit diesem Fernsehspiel eröffnet der NDR eine neue Sendereihe im deutschen Fernsehen, der ARD, unter dem Obertitel TATORT« – so lief es am 29. November 1970 über die Bildschirme. Es war eine Premiere in doppelter Hinsicht: der Beginn der bis heute erfolgreichsten deutschen TV-Serie, aber auch der erste gesamtdeutsche oder besser OstWest-Krimi überhaupt. Inzwischen, beinahe drei Jahrzehnte später und ein Jahrzehnt nach der Wende, ist TAXI NACH LEIPZIG naturgemäß ein historischer Film und die hier neuaufgelegte literarische Vorlage zwangsläufig ein historischer Roman. Die seinerzeit durchgehend gelobte Nähe zur Realität jedoch, nicht zuletzt in der damals entstandenen Person des ersten TATORT-Stars Kriminalhauptkommissar Paul Trimmel begründet, hat er auch im Urteil heutiger Kritiker in keiner Szene verloren. Im Juli 1998 Friedhelm Werremeier
1
Es ist nach wie vor ziemlich kompliziert, heutzutage von Westdeutschland nach, Ostdeutschland zu fahren, etwa von Hamburg nach Leipzig oder – in der umgekehrten Richtung – von Möckern nach Barmbek. Wer einen von Staates wegen anerkannten triftigen Grund für seine Reise hat, kann natürlich ohne allzu große Umstände von der BRD aus per Eisenbahn oder Auto in die DDR einreisen. Wer dort allerdings ohne Wissen der Behörden unterwegs ist, dazu noch zum allerersten Mal, schleppt verständlicherweise immer einen Zentner Angst mit sich herum. Trimmel stellt da wahrhaftig keine Ausnahme dar: an der Leipziger Autobahn-Tankstelle Merseburger Straße wartet er mit äußerst gemischten Gefühlen auf das Taxi, das ihn in die Stadt bringen soll. Es ist September und weder zu warm noch zu kalt, aber Trimmel schwitzt Blut und Wasser… an der gegenüberliegenden Tankstelle steht ein Vopo-Streifenwagen, und zum erstenmal in seinem Leben hat der Polizist Paul Trimmel Manschetten vor der Polizei. Dann aber geht er, frech und gottesfürchtig, mit lässig übergehängter Jacke, von der Autobahn zur Merseburger Straße hinunter, der alten Reichsstraße 181. Ein häßliches hellgrünes Auto kommt aus Richtung Leipzig; es ist tatsächlich das Taxi, das der Tankwart oben, ohne viel zu fragen, für Trimmel bestellt hat. Ein älterer Wartburg mit einem zurückklappbaren Schild hinter der Windschutzscheibe – Trimmel gibt dem Fahrer ein Handzeichen, und der Wagen rollt vor ihm aus. Gleichzeitig sieht Trimmel aus dem linken
Augenwinkel, daß sich die Besatzung des Polizeiwagens nach wie vor nicht für ihn interessiert. Und dennoch… Völlig überflüssig, aus lauter Nervosität, fragt er: »Taxi?« Der Fahrer nickt. »Tach, Tach. Wo soll’s denn hingehen?« Er sächselt gar nicht, denkt Trimmel. »Ich muß nach Leipzig rein, einen Keilriemen kaufen. Meiner ist gerissen…« Der Fahrer wiegt bedenklich den Kopf. »Da werden Sie aber Schwierigkeiten haben, ausgerechnet am Samstag, auch, wenn gerade Messe ist…« Aber Trimmel, den die Vopos oben neben der Tankstelle immer nervöser machen, ist schon auf den Beifahrersitz geklettert. »Wir müssen es wenigstens versuchen. Fahren Sie mich am besten zur Marschnerstraße. Ich kann ja hier nicht übernachten.« Der Taxifahrer hat bei soviel Ortskenntnis weiter keine Einwände mehr, und Trimmel atmet auf, als der Wagen anfährt. Sie wenden ein Stück weiter mitten auf der Fahrbahn, obgleich auf der Straße ziemlich viel los ist, und fahren dann zurück in Richtung Stadt. »Keilriemen«, sagt der Fahrer, mehr zu sich selbst, »damit könnt ihr doch die Straße pflastern im Westen…« Anschließend schweigt er, und Trimmel verkneift sich jede Antwort. Immer geradeaus in Richtung Zentrum; wenig Gegenverkehr, aber viel Verkehr in derselben Richtung und kaum eine Lücke zum Überholen. Eine ziemlich trostlose Gegend. Sandberg. Rückmarsdorf. Nicht allzu viele Häuser, noch weniger Ortschaften… Der Fahrer hat einen riesigen Adamsapfel, fast schon einen Kropf, und entweder redet er deshalb nicht, oder er weiß nicht so recht, was er mit seinem ungewöhnlichen Fahrgast anfangen soll. Als er von Trimmel eine Marlboro angeboten bekommt,
steckt er sie sich wortlos hinter das Ohr und zündet sich eine DDR-Zigarette an. Endlich eine Belebung: ein Friedhof zur linken Hand. »Lindenau!« sagt der bis dahin so schweigsame Taxifahrer. Aber dann geht es zügiger, und der große Adamsapfel hüpft dreimal auf und ab: »Links die Musikalische Komödie!« Gleich dahinter biegt das Taxi scharf links ab. »Die kleine Luppe!« Sie passieren eine winzige Brücke. »Das Elsterbecken!« Eine größere Brücke – die Zeppelinbrücke… Also, sagt sich Trimmel, müßte der Gebäudekomplex vorn rechts, der sowohl an Hitlers Reichskanzlei als auch an ein Stück Stalinallee im Grünen erinnert, die Deutsche Hochschule für Körperkultur sein. Trimmel war noch nie hier, auch nicht als sehr junger Mensch, als es noch einfacher war, Leipzig kennenzulernen. Aber er hat sich seine illegale Strecke sehr genau eingeprägt, bevor er losgefahren ist – sein erstes Etappenziel müßte er gleich erreicht haben. Die Straße wird durch einen Trambahn-Gleiskörper in zwei Fahrbahnen geteilt, und gleich rechts kommt tatsächlich die Intertankstelle Marschnerstraße ins Bild. »Da wären wir!« sagt der Fahrer. Trimmel nickt. Die Taxiuhr ist nicht eingeschaltet gewesen, und er fragt scheinbar verlegen: »Kann ich Ihnen Westgeld geben, oder soll ich irgendwo wechseln?« Der Fahrer sieht ihn ziemlich schräg von der Seite an. Wahrscheinlich hat er Angst, sein Fahrgast könne ein Spitzel sein. Allerdings kann er Westmark, gerade jetzt zur Messezeit, auch sehr gut gebrauchen… und am Ende sagt er diplomatisch: »Es macht zwölf Mark!« Trimmel hat sich sagen lassen, daß sie hier in der »Zone« lieber westliche Münzen als westliche Banknoten haben; also legt er dem Mann drei bundesrepublikanische Fünfmarkstücke in die offene Hand. »Stimmt so. Das heißt« – er kramt in seiner
Jackentasche und holt ein weiteres Geldstück, ein Zweimarkstück, heraus –, »Sie könnten mir einen Gefallen tun und ein paar Groschen einwechseln!« Diesmal zögert der Fahrer zwar noch einen winzigen Moment, wirkt aber lange nicht mehr so mißtrauisch wie zuvor. Er steckt die zwei Mark ein, holt sein Portemonnaie heraus und zählt Trimmel zwanzig blecherne Zehnpfennigstücke in die Hand. Und ärgerlicherweise macht er gleich darauf Anstalten, auszusteigen und Trimmel bei seinen Intertank-Keilriemen-Verhandlungen behilflich zu sein. Hastig sagt Trimmel: »Lassen Sie doch! Wenn ich das Ding hier nicht kriege, geh’ ich erst mal Kaffee trinken!« Da endlich fährt der Mann mit dem Fast-Kropf davon. Seinen Fahrgast zu fragen, ob er ihn später nicht zur Autobahn zurückbringen soll, hat er sich anscheinend doch nicht getraut. Und Trimmel ist allein in Leipzig, zwei oder drei Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt, dem größten Kopfbahnhof Europas, auf den die Leipziger angeblich viel stolzer sind als auf ihr Völkerschlachtdenkmal. Es ist ziemlich viel los an der Tankstelle. Er greift sich einen jungen Mann und fragt: »Haben Sie Keilriemen?« Der Junge sieht ihn leicht verstört an und holt einen Meister. »Für welchen Wagen denn?« fragt der Meister. »Einen Ford«, sagt Trimmel, »siebzehn Emm.« »Kenn’ ich«, nickt der Meister, »ich glaub’, da können wir Ihnen sogar helfen!« »War’ ja zu schön…« meint Trimmel dankbar; insgeheim hofft er, daß der Keilriemen, den er eigentlich gar nicht benötigt, später keinem anderen fehlt. Der Meister ist inzwischen ins Lager gegangen und kommt mit dem Ersatzteil zurück. »Der müßte passen. Sagen Sie dem Mechaniker, er soll notfalls die Lichtmaschine was versetzen. Macht« – er muß kurz überlegen – »acht Mark!«
Acht Westmark natürlich. Hier ganz offiziell und devisenbringend nach Vorschrift. Die Intertank-Kasse gibt zwei westdeutsche Markstücke heraus und eine Maschinenquittung. Trimmel, inzwischen etwas sparsamer mit seinen westdeutschen Kröten – es sind schließlich seine eigenen – gibt diesmal nur eine Mark Trinkgeld. »Wiedersehen!« sagt er und schlendert davon. Er geht bis zur Ecke Friedrich-Ebert-Straße und wartet dort, bis die Linie 13 kommt. In die steigt er ein und kramt absichtlich lange in seinen Taschen; schließlich legt er dem geduldigen Schaffner seine Schlüssel, einen Taschenkamm und außerdem einen Haufen DDR-Zehnpfennigstücke auf das Zahlbrett. »Wilhelm-Leuschner-Platz!« Der Schaffner tut ihm den Gefallen und sucht sich das Fahrgeld heraus, nämlich genau zwei Blechgroschen… Aber jetzt muß Trimmel aufpassen, daß er die richtige Haltestelle nicht verpaßt. Und wieder geht’s einfacher, als er es sich vorgestellt hatte: die Bahn hält, der Schaffner winkt ihm zu, und das Schild draußen – Wilhelm-Leuschner-Platz -ist außerdem unübersehbar. Trimmel steigt aus: Messe überall, ein fürchterliches Gedränge. Hunderttausend Fähnchen wehen, und an jeder freien Ecke werben Parolen für die Völkerverständigung. Er ist im Zentrum: vor ihm steht das Neue Rathaus mit der Pleißenburg, in der sich Martin Luther und Doktor Eck ihren berühmten Disput über die Katholiken und die späteren Protestanten lieferten. Hinter ihm – er dreht sich um – die Kuppel des alten Reichsgerichts, der Stätte so vieler weiser und nicht ganz so weiser höchstrichterlicher Entscheidungen… Geschichte allerorten. Aber Grünspan ist keineswegs immer ein Zeichen für Glanz und Gloria. Und eine Geschäftsauslage hier sieht aus wie die andere, auch zur Messezeit.
Diesmal, immerhin, kommt ein moderner Doppeltriebwagen – eine Tram ohne Schaffner, die Straßenbahnlinie 28 nach Markkleeberg. Trimmel steigt als letzter ein: manche Fahrgäste, beobachtet er, gehen einfach durch ins Wageninnere, andere stecken zwanzig Pfennig in einen Automaten und ziehen einen Fahrschein heraus. Er macht es wie sie… wieder hat er was gelernt. Und vorübergehend fühlt er sich fast schon ein bißchen heimisch: auch in der Bundesrepublik haben Friedrich Ebert und Wilhelm Leuschner bei Straßenbenennungen Pate gestanden, denkt er, und die Leute sind freundlicher, als ich es mir vorgestellt hatte – der Taxifahrer zumindest, der Intertank-Meister und der Schaffner in der vorigen Bahn. In dieser hier haben die meisten Menschen verschlossene Gesichter oder, wie’s aussieht, genug mit sich selbst zu tun – so auch das Liebespaar zwei Sitzreihen weiter vorn: es herzt und küßt sich, als führe die Bahn gleich über die Seine statt über die Mühlpleiße. Trimmel setzt sich, zwei Haltestellen weiter – Schenkendorff-Arndt-Straße. Am Anfang hatte er sich kaum zu rühren gewagt – und jetzt merkt er von Minute zu Minute, wie das Gefühl, auf kürzestem Weg nach Sibirien gefahren zu sein, unter der Leipziger Herbstsonne dahinschmilzt. Er fühlt sich sicher wie ein Autofahrer, der gerade den Führerschein gemacht hat und mit Eleganz durch den dichtesten Verkehr kurvt – ahnungslos im Hinblick auf die Tücken und Gefahren, die überall lauern… An der Haltestelle Karl-Liebknecht-Straße aber steigt ein Volkspolizist ein und sieht sich forschend im Wagen um. Zum Glück, denkt Trimmel, habe ich mich in der Garderobenfrage beraten lassen… derzeit trägt er ein offenes blaues Hemd ohne Schlips, eine altmodische Jacke aus dem Jahre 55 sowie eine Hose mit Beinbreite 65 Zentimeter und einem Aufschlag, an dem die Stoßbänder deutlich nicht mehr ganz faserfrei sind.
Außerdem hat er sich sorgfältig den Nacken ausrasieren lassen und kann deshalb, wie er glaubt, trotz seiner hier unüblichen Kurzfrisur einigermaßen als DDR-Bürger durchgehen. Aber kann ich’s wirklich? überlegt Trimmel. Weiß ich als Polizist nicht am besten, daß es nirgendwo in der Welt Polizisten gibt, die einen Mann mit schlechtem Gewissen, unvollständigen Papieren und hinterhältigen Absichten nicht schon von weitem riechen und erkennen? Es wäre die helle Katastrophe, überlegt Trimmel, wenn der Vopo mich plötzlich fragen würde, was ich – als Hamburger Kriminalhauptkommissar – hier in der Tram nach Markkleeberg zu suchen habe. Ich müßte dann wahrheitsgetreu antworten: Nur so eine Idee… ich weiß selber nicht so genau, was ich hier eigentlich will! Wiederum der Uniformierte, sofern er überhaupt noch fragen würde: Wie kommen Sie denn nach Leipzig? Höflich jedenfalls würde er bestimmt nicht mehr sein. Hinter dem Kreuz jedoch, der nächsten Haltestelle, geht der Vopo von Bord. Trimmel atmet auf. Das dumme Gefühl allerdings, sich viel zu weit vorgewagt zu haben, bleibt ihm noch lange erhalten.
2
Am 27. August, ein paar Wochen zuvor, hatte der diensttuende Beamte im Fernschreibraum des Hamburger Polizeihochhauses am Berliner Tor folgenden Text abgerissen und an die Kriminalgruppe 1 – die Kommissariate 201, 202 und 203 einschließlich der Ständigen Mordkommission – sowie an die Vermißtenzentrale weitergegeben: Nachrichtlich an alle Polizeidienststellen im gesamten Bundesgebiet. Betr.: Förmliche Anfrage des Generalstaatsanwalts der DDR an die Strafverfolgungsbehörden in der Bundesrepublik zwecks Identifizierung eines im Raum Leipzig aufgefundenen männlichen toten Kindes. Bezug: keiner. Am 21. August gegen 10.30 Uhr wurde auf einem Rastplatz nördlich von Leipzig an der Transitautobahnstrecke LeipzigBerlin die vollständig bekleidete Leiche eines etwa vier- bis fünfjährigen toten Knaben aufgefunden. Die Leiche wies keinerlei Verletzungen auf die Obduktion hat bisher keine genaue Todesursache ergeben. Die Leiche lag in einer etwa einen halben Meter tiefen Mulde, die mit Laub gefüllt war, und war etwa zehn Zentimeter hoch mit Laub bedeckt. Eine Hand ragte heraus. Es entstand der Eindruck, daß versucht worden war, die Leiche zu verbergen. Besondere Kennzeichen: Großes Muttermal, längliche, bohnenartige Form, rechtsseitig parallel zur Mammilarlinie unterhalb der Brustwarze. Befund Zähne: Lückenhaft ausgebildetes Gebiß (Milchzähne). Haarfarbe: Mittelblond. Augen: Blaugrau. Finger- und Fußnägel: Gepflegt. Spitz zulaufend geschnitten.
Bekleidet war das Kind mit einer blauen Tuchhose, einem roten Pullover (sog. Nicki), Unterhose, Unterhemd, weißen Strümpfen (Kunststoffsocken), braunen Wildlederschuhen ohne Schnürsenkel. Der Verdacht auf ein Verbrechen stützt sich bisher auf keine konkreten Anhaltspunkte, kann jedoch im augenblicklichen Stadium der Ermittlungen nicht ausgeschlossen werden. Der Generalstaatsanwalt der DDR hält es für wahrscheinlich, daß das tote Kind aus der DDR stammt. Verschiedene Indizien lassen es nach seiner Darstellung jedoch angebracht erscheinen, auf diesem Weg auch hiesige Dienststellen mit dem Leichenfund bekanntzumachen. 1. Die Transitautobahn Leipzig-Berlin wird in der Zeit vor der Leipziger Herbstmesse in besonders starkem Maße von Westberliner und BRD-Fahrzeugen benutzt. Es wäre denk bar, daß sich das Kind lebend oder tot in einem solchen Fahrzeug befunden haben könnte, oder daß es möglicher weise darin entführt worden ist. 2. Wäsche- und Konfektionszeichen in der o. näher angegebenen Bekleidung des Kindes ließen zwar auf eine Herkunft aus der DDR schließen. Dazu teilt der Generalstaatsanwalt der DDR jedoch ergänzend mit, daß als besonders auffälliges Merkmal das tote Kind sogenannte Slipper-Mokassin-Schuhe der Fabrikationsmarke »Sioux« getragen habe, die in der DDR nicht vertrieben werde. Da zur Zeit noch nicht endgültig feststeht, daß es sich um ein in der DDR vermißtes Kind handelt, bittet der Generalstaatsanwalt der DDR die Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik um die Beantwortung folgender Fragen: 1. Wird bei einer hiesigen Polizeidienststelle ein Kind als vermißt geführt, auf das die o. a. Personenbeschreibung zutreffen könnte?
2. Kann bei einer evtl. aktuell eingehenden Vermißtenmeldung geprüft werden, ob es sich um das betr. Kind handelt? BKA, Wiesbaden. Übermittelt Funkleitstelle BKA Wiesbaden. Trimmel selbst nahm das Fernschreiben bei der Mordkommission entgegen, warf es dann allerdings kurzerhand in den Papierkorb, obgleich es als Nachricht von drüben einigen Seltenheitswert hatte. Einen Tag später aber kam ein zweites Fernschreiben und darüber geriet Trimmel ins Grübeln: Nachrichtlich an alle Polizeidienststellen Betr. Förmliche Anfrage des Generalstaatsanwalts der DDR an die Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik zwecks Identifizierung eines toten Kindes bei Leipzig. Bezug: FS vom 27.8. 15.07 Uhr. Der Generalstaatsanwalt der DDR zieht seine förmliche Anfrage zurück, da die Identität des betr. Kindes geklärt werden konnte; es stammt aus der DDR. Frage der Schuhe erklärt sich dadurch, daß die Schuhe dem Kind von seinem in Hamburg lebenden Vater geschenkt worden waren. BKA Wiesbaden. Übermittelt… Trimmel kam die Sache, gerade weil sie mit einem Male wieder so heruntergespielt wurde, plötzlich sehr seltsam vor. Er hatte bis dahin zwar noch keinen Finger gerührt, um dem Generalstaatsanwalt der DDR zu helfen. Aber ein toter DDRKnabe in einer Mulde, dessen Vater aus Hamburg stammte, erregte seinen Argwohn geradezu zwangsläufig… wie, so fragte er sich mit leichtem Prickeln und einer durchaus etwas
lüsternen Neugier, kommt ein Hanseat heutzutage zu einem Kind in der Deutschen Demokratischen Republik? Trimmel rief Höffgen, der im Nebenzimmer herumlungerte und widerwillig näher kam. »Besorg’ mir mal den Durchschlag von dem Telex von gestern wegen diesem komischen toten Kind von Leipzig!« Nachmittags bekam er ihn, als er gerade sein Übungspensum im Schießkeller absolvierte. Beim Vergleich der beiden Papiere fiel ihm sofort auf, daß von dem ursprünglichen Verdacht auf ein Verbrechen im zweiten Fernschreiben überhaupt nicht mehr die Rede war – daß man ihn, so gesehen, allerdings auch keineswegs ausdrücklich dementiert hatte. Merkwürdig! dachte Trimmel. Nachdenklich und abgelenkt schoß er beim nächsten Versuch eine schäbige Fahrkarte und entschloß sich, für heute aufzuhören. Und gleich nach Feierabend ging er, da er sowieso nichts Besseres vorhatte, in seine Stammkneipe in Farmsen; von dort meldete er gegen 19 Uhr ein Ferngespräch nach Ostberlin an. Eine scheinbar harmlose Privatnummer. »Ich kann Ihnen allerdings nicht versprechen, daß es heute noch klappt!« sagte das Mädchen vom Fernamt Inland, nachdem es sich endlich gemeldet und die Nummer wiederholt hatte. »Sollen wir es gegebenenfalls morgen weiter versuchen?« »Nein, nein«, sagte Trimmel, »aber stornieren Sie es heute nicht vor Mitternacht!« »Gut. Wir geben Ihnen in jedem Fall Nachricht…« Trimmel bestellte Korn und Bier, lernte die Zeitung auswendig und sah hin und wieder mit mäßigem Interesse auf den Fernsehapparat. Die Kneipe füllte sich. Ein junger Mensch kam mit einem jungen Mädchen an Trimmels Tisch. »Ist hier noch frei?« »Nein!« sagte Trimmel ungnädig.
Da erschien auch schon der Wirt und erklärte dem Pärchen hastig: »Verzeihen Sie, das ist der Stammtisch!« 21.30 Uhr. Im Fernsehkrimi gab es den ersten Toten, und Trimmel glaubte natürlich sofort zu wissen, wer der Täter war. »Noch mal dasselbe!« rief er. Seine vierte Runde. Aber er war ziemlich trinkfest und würde das Tempo bis Mitternacht durchstehen. Kurz vor 22 Uhr indessen stellte es sich heraus, daß das Fernsehen denjenigen Tatverdächtigen zum Mörder gemacht hatte, der für Trimmel längst »sauber« gewesen war, und er brummte mißmutig: »Blödsinn!« Um halb elf setzte sich der Wirt einen Augenblick zu ihm und meinte: »Du hast ja mal wieder eine irre Stimmung, Paul!« Er war einer der ganz wenigen Menschen, die sich das leisten konnten. Trimmel grinste ihn schief an. »Ich hab’ eben meine Probleme!« Als der Wirt wieder hinter der Theke stand, hörte Trimmel, wie draußen im Flur das Telefon läutete. Es hatte schon oft geläutet an diesem Abend, aber diesmal zum erstenmal stand Trimmel auf. Er war sogar eher am Apparat als sein Freund, der Wirt. »Hallo?« sagte er. »Fernamt Platz vierzehn!« sagte eine Mädchenstimme. »Ihre Nummer bitte…« Trimmel nannte die Nummer der Gaststätte; sein Herz schlug schneller. »Sie haben Glück. Ihre Anmeldung Ostberlin. Bleiben Sie in der Leitung!« Der Wirt kam auf den Flur, sah Trimmel fragend an, und der nickte. Der Wirt verschwand wieder. Und in der Leitung knackte und dröhnte und rauschte es; irgend jemand Männliches fragte »Hallo?«, hatte sich aber
bereits wieder ausgeschaltet, als Trimmel mit »Hallo?« antwortete. Das dauerte fast fünf Minuten; dann endlich hörte der Lärm in der Leitung auf, und eine weibliche Stimme sagte überraschend klar: »Bitte sprechen!« Noch bevor Trimmel sprechen konnte, dröhnte ihm die Stimme von Karl Lincke, einem mittleren Beamten des Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik, ins linke Ohr: »Das muß doch Paule sein, das gibt’s doch gar nicht! Das ist ja irre… Mensch, Paule, wo brennt’s denn? Wie geht’s dir denn?« »Hallo, Karl!« sagte Trimmel. »Gut geht’s, hoffentlich dir und deiner Familie auch…« »Danke, danke…« Dann kam Trimmel zur Sache. »Du, ich will nicht lange stören, ich wollt dich nur mal fragen, ob du mir einen Gefallen tun kannst…« »Und?« fragte Lincke wachsam. Er lachte gleich darauf mit etwas falscher Herzlichkeit. »Willste türmen?« Trimmel lachte zurück. »Nee, nee… ich wollt’ nur ‘ne Auskunft, wenn’s keine Schwierigkeiten macht…« Lincke, der offenbar damit rechnen mußte, daß die Leitung nicht sauber war, sagte sofort: »Schwierigkeiten gibt’s bei uns überhaupt nicht!« »Um so besser!« sagte Trimmel. »Also, da kam ‘ne komische Anfrage von eurem Generalstaatsanwalt wegen ‘nem toten Kind bei Leipzig, und ich hab’ mir gedacht, wenn ich so ‘n Menschen wie dich kenne…« »Ja, ich kenn’ den Fall!« sagte Lincke. Er galt als absolut linientreu und wußte in der Regel über sämtliche DDRVorgänge mit BRD-Bezug Bescheid. Aber er war auch Profi, wie Trimmel wußte, und deshalb sagte er hin und wieder die Wahrheit und noch einiges mehr. »Was willste wissen?«
»Wie heißt der Kindsvater?« »Erich Landsberger. Stand das nicht in dem Telex?« »Nee…« »… na, wenn schon, ist ja kein Staatsgeheimnis. Der Mann wohnt bei dir um die Ecke, jedenfalls in Hamburg…« »… ja, das stand drin…« »… Chemiker ist er, außerdem soll er Millionär sein. Die Schuhe hat er dem Jungen geschickt, der ist unehelich. Konzeption und Gravidität der betreffenden DDR-Bürgerin waren ein Erfolg der damaligen Leipziger Messe…« »Und wie heißt das Kind?« fragte Trimmel. Lincke zögerte. »Muß das sein?« »Ja!« sagte Trimmel. »Also gut. Chris… Christian Billsing…« »Billsing mit einmal oder zwomal Ludwig?« »Zwo. Wohnte bei seiner Mutter Eva in Markkleeberg…« »Markkleeberg?« »Ja. Hier bei Leipzig. Besserer Wohnvorort im Süden…« »Aha. Und sonst? Sauerei?« »Was Sexuelles, meinst du? Nee, nee, is’ nicht! Gestorben ist das Kind an einer Art Leukämie. Hätte Medikamente gebraucht, dann hätt’s noch ‘ne Weile gelebt… Moment mal…« Trimmel hörte, daß er mit einer Person im Hintergrund redete. »Schulungsabend?« fragte er. »Wann kommste denn wieder?« »Um elf oder so!« sagte eine Frauenstimme. »Na, viel Spaß!« Lincke redete wieder in die Sprechmuschel. »Tschuldigung – war nur meine Frau! Noch was?« »Ja, sicher!« sagte Trimmel. »Was sagt denn die Mutter… wie ist der Junge verschwunden?« Lincke zögerte länger. »Die Mutter ist aus dem Schneider. Soll übrigens ein bildhübsches Weib sein… das Ganze ist
wahrscheinlich ein Entführungsfall. Der Entführer hat von der Krankheit nichts gewußt – das hängt aber alles noch in der Luft, die Volkspolizei kommt nicht so recht weiter. Aber mehr kann ich dir beim besten Willen…« »Warte«, sagte Trimmel hartnäckig, »irgendwas fehlt mir noch… der Todeszeitpunkt?« »Vermutlich zwei Tage vor der Auffindung!« »Also der Neunzehnte? Montag?« »Ja… Montag nachmittag oder spätestens in der Nacht zum Dienstag. Aber nu ganz im Ernst, Paul… was da jetzt noch läuft, wenn was läuft – das ist unsere Angelegenheit! Für euch ist der Fall tot – mach da keine Zicken!« »Ich und Zicken?« fragte Trimmel entrüstet. »Nee, du – ich wollt’s nur mal genauer wissen. Jedenfalls schönen Dank… meinen Vornamen kannste übrigens immer noch haben!« Karl Lincke lachte, bis es klick machte. Das Leben geht seltsame Wege, dachte Trimmel: mit seinem Vornamen hätte Karl ja tatsächlich Paul Lincke geheißen, wie der Erfinder von Frau Luna. Und ob man nun darüber lachen kann oder nicht: der Kalauer hatte zwei Jahre zuvor immerhin bewirkt, daß sie beide sich am Urlaubsstrand von Varna in Bulgarien menschlich nähergekommen waren. »Unser System ist das einzig Wahre«, hatte der Ostdeutsche spät nachts und mit schwerer Zunge argumentiert, »eure P… Polizisten sind doch Ha… Hampelmänner!« »Und?« hatte der Westdeutsche gefragt. »Was ist denn besser? Hampelmänner oder Gestapo?« »S… so kommen wir nie zusammen!« protestierte Lincke. »Wollen wir’s denn überhaupt?« fragte Trimmel. »Nu ja«, sinnierte der Ostdeutsche, »die Rasierklinge gestern, die du mir geschenkt hast, die war ja g… ganz schön scharf… man könnt sich manchmal eigentlich doch mehr unter die A… Arme greifen!«
»Ja, dann tun wir’s doch!« sagte der Westdeutsche. Betr.: Förmliche Anfrage des Generalstaatsanwalts der DDR an die Strafverfolgungsbehörden in der Bundesrepublik… So weit war’s diesmal ja sogar schon amtlich gewesen. Und nun, auf einmal, reklamierten sie den Fall mit dem toten Jungen von Leipzig wieder ganz für sich! dachte Trimmel. Nun igelt sich selbst Karl Lincke nach drei Auskünften wieder ein… warum eigentlich, wenn ich mir schon die Mühe mache, ihnen zu helfen? Trimmel ging vom Telefon durch die Schwingtür zurück in den Gastraum, setzte sich wieder an den Stammtisch und merkte, daß ihm acht Bier und Korn doch erheblich in den Kopf gestiegen waren. Er trank gleichwohl einen neunten Korn und ein neuntes Bier, denn auf acht Beinen steht man nicht. Außerdem suchte er sich die Nummer von Erich Landsberger aus dem Telefonbuch, das er sich von seinem Duzfreund, dem Gastwirt, bringen ließ, widerstand allerdings mannhaft der Versuchung, Landsberger jetzt noch anzurufen. Gute Adresse übrigens. Elbchaussee… Er zahlte neun Runden Kornpils und ein Telefonat mit Ostberlin. Er war mit der U-Bahn gekommen und fuhr mit der U-Bahn nach Hause. Er war müde wie ein Hund, schlief wie ein Stein und zog sich erst morgens, ziemlich verkatert, den linken Socken aus. Den Hammer im Kopf behielt er, bis ihn der hereinbrechende Feierabend erlöste. Dann setzte er sich in seinen alten Ford, fuhr zur Elbchaussee und stellte fest, daß an der Tür der komfortablen Zweifamilienvilla mit Blick auf Ovelgönne gar kein Namensschild Landsberger angebracht war. Nur ein heller Fleck unten… also klingelte Trimmel oben bei Elvira Kniebel Ob. Stud. Direktorin.
»Sie wünschen?« fragte die gepflegte Mittfünfzigerin, die gleich darauf öffnete. »Tja, gnä’ Frau… entschuldigen Sie die Störung!« sagte Trimmel. »Ich suche Herrn Landsberger. Ich komm’ nämlich von weit her, und im Telefonbuch stand…« »Herr Landsberger wohnt nicht mehr hier!« sagte Frau Kniebel streng. Der Landsberger hat aber komische Freunde, schien sie zu denken… immerhin, sie fand es möglicherweise ja auch ganz amüsant, wie der stämmige, ziemlich zerknitterte Mann vor der Tür verzweifelt und vergeblich versuchte, sie anzulächeln. »Das ist aber ein Jammer«, sagte Trimmel, »nun hab’ ich den Erich eine Ewigkeit nicht gesehen, und nun seh’ ich zufällig, daß er hier in Flottbek wohnt, und nun ist er auch noch ausgezogen! Ist Erich eigentlich verheiratet?« »Das«, sagte die Ob. Stud. Direktorin, »geht Sie eigentlich doch gar nichts…« »… gar nichts an!« unterbrach Trimmel. »Sehr richtig, gnä’ Frau. War auch nur wegen der Blumen!« »Wieso Blumen?« »Na ja… ich dachte gerade, wenn der Erich verheiratet ist und ich hab’ nicht mal Blumen dabei…« »Ach so!« sagte sie. Ihr Gesicht hellte sich auf, verdüsterte sich aber gleich darauf aufs neue. »Nein, nein, Herr Landsberger ist nicht verheiratet. Das heißt, er war… jedenfalls lebt er seit dem tragischen Tod seiner Frau ganz allein mit seinem Sohn…« »Mit Chris?« fragte Trimmel schnell. »Christian?« »Nein, mit Bertram!« sagte Frau Kniebel erstaunt. »Wieso Christian? Außerdem, ich sagte es Ihnen bereits, ist er doch verzogen…« »Mit Bertram, natürlich!« Er war drauf und dran, seine Dienstmarke aus der Tasche zu ziehen und amtlich zu werden.
Aber er wußte ja noch gar nicht, ob er, bei Licht besehen, schon als Polizist unterwegs war oder doch als Privatmann. »Wohin ist er denn verzogen?« »Herr Landsberger wohnt jetzt in Frankfurt«, sagte Frau Kniebel, »Falkensteiner Straße. Trotzdem… wie kommen Sie auf Christian? Oder Chris – der Junge wird doch Bertie gerufen…?« Trimmel log schnell, schamlos und überzeugend. »Sie wissen doch, gnä’ Frau, wie albern Männer manchmal sind. Der gute Erich und ich, wir hatten mal einen gemeinsamen Freund, und der hieß Christian, und Erich und ich, wir hatten uns versprochen, wir würden unser erstes Kind Christian nennen, wenn’s ein Jüngelchen wird. Unser Freund war nämlich verstorben«, er guckte ausgesprochen bekümmert drein, was ihm heute überhaupt nicht schwerfiel, »und wir wollten ihm unbedingt ein Andenken bewahren…« »Ja, das versteh’ ich!« sagte Elvira Kniebel voller Mitgefühl. »Gerade, weil Herrn Landsbergers Sohn auch noch so krank geworden ist…« »Der Bertie?« »… ja. Deshalb ist Herr Landsberger ja auch umgezogen, weil er nämlich meinte, das Frankfurter Klima würde dem Kind besser bekommen…« »Das Frankfurter Klima?« fragte Trimmel ungläubig. »Je, nun«, meinte sie. »Herr Landsberger hat mir natürlich nie gesagt, was der Junge hat, aber nach meinen Beobachtungen muß es wohl Leukämie sein. Daran ist übrigens seine Mutter verstorben… ich hatte mir auch schon Gedanken darüber gemacht, ob Bertie jemals richtig zur Schule würde gehen können, weil er natürlich kaum aus dem Haus kam…« Seltsam, dachte Trimmel. Der eine hat Leukämie, der andere angeblich auch!
»Wann war denn der Umzug?« fragte er. »Warten Sie…« Frau Kniebel rechnete; Mathematik war sichtlich nicht ihr Lehrfach. »Heute ist Donnerstag, der neunundzwanzigste August. Landsbergers sind umgezogen am… Ja, am Montag, dem neunzehnten August. Ja, also vor zehn Tagen war der Umzug!« Mehr ist hier nicht zu holen, dachte Trimmel, mehr fiel ihm auch nicht ein… außerdem war’s eine ganze Menge. »Ich danke Ihnen, gnä’ Frau, Sie haben mir sehr geholfen. Nochmals herzlichen…« »Oh, bitte sehr!« Frau Kniebel bedauerte anscheinend, den zunächst so wenig attraktiven Herrn nicht ins Haus gebeten zu haben. Er hatte sich im Verlauf des Gesprächs von einer sehr netten Seite gezeigt. Aber als sie die Tür geschlossen hatte, als Trimmel sich auf dem Weg zur Straße zu seinem alten Ford befand, war er wieder genausowenig nett und attraktiv wie zuvor. Er dachte über den Zufall nach, daß sich Landsbergers Umzug und der Tod seines unehelichen Sohnes an ein und demselben Tag zugetragen hatten. Schon sehr seltsam. Trimmel blieb stehen. Seltsam, dachte er, war’s allerdings ebenso, daß er sich hier immer noch um diesen Fall kümmerte, obgleich der ihn gar nichts anging. Daß er einer ehrbaren Ob. Stud. Direktorin die Hucke voll log, nachdem er schon ein Telefongespräch an der Schwelle zum Hochverrat geführt hatte… Langsam ging Trimmel weiter. Blödsinn oder nicht, dachte er, es war ja immerhin schon einiges dabei herausgekommen. Und deshalb wußte er auch schon, was er weiter tun würde: er würde sich – jetzt erst recht – diesen Landsberger eben doch noch selbst vorknöpfen, und wenn er die Fahrt nach Frankfurt hundertmal aus eigener Tasche bezahlen mußte!
Er zuckte die Achseln, als er vor seinem Auto stand. Er war schließlich Junggeselle und konnte sich einiges leisten. Und er tat es ja auch, immer wieder… insofern hatte Trimmel es schon seit sehr langer Zeit aufgegeben, sich über Trimmel zu wundern.
Am Freitag, dem 30. August, erledigte Trimmel als stellvertretender Leiter der Kriminalgruppe 1 seine umfangreichen Geschäfte mit ungewöhnlichem Eifer. Er teilte Höffgen mit, daß er samstags und möglicherweise auch sonntags nicht zu erreichen sein werde. Außerdem beschaffte er sich noch einige Einzelheiten, die er für seinen Besuch bei Landsberger möglicherweise brauchte. Dabei kam nur heraus, daß Erich und Bertram Landsberger tatsächlich ordnungsgemäß nach Frankfurt abgemeldet worden waren. Auch die Straße, die ihm Frau Kniebel genannt hatte, stimmte; die Sache erschien plötzlich viel nüchterner, weit weniger geheimnisvoll als bisher. Aber Trimmel fuhr trotzdem am nächsten Morgen nach Frankfurt, war am frühen Nachmittag in der Falkensteiner Straße und starrte neidisch auf das noble alte Haus, das Landsberger gekauft oder gemietet hatte. Er stieg aus, ging durch den Vorgarten zur schweren eichenen Haustür und sah, daß das Türschild E. Landsberger das einzige war; außerdem war es scheinbar aus purem Gold. Trimmel schwankte, ob er den ebenfalls goldenen Türklopfer oder die Klingel benutzen sollte, und entschied sich schließlich für die Klingel… Man hörte Schritte. Sekunden später öffnete ein hochgewachsener, bulliger Mann die Tür von innen. »Mein Name ist Trimmel«, sagte Trimmel, »ich nehme an, Sie sind Herr Landsberger?« »Ja. Was kann ich…«
Diesmal die direkte Tour. »Kriminalpolizei!« sagte Trimmel und hielt Erich Landsberger seine Dienstmarke unter die Nase. »Kann ich mal reinkommen?« Landsberger sah sich die Marke an und wirkte überhaupt nicht betroffen. »Um was geht’s denn?« fragte er. »Ich würd’s ungern hier draußen…« sagte Trimmel. Da hielt Landsberger die Tür auf. »Bitte!« Ein harter Brocken! dachte Trimmel, als er dem Chemiker in dessen piekfeinem Teak-Leder-Wohnzimmer gegenübersaß. Ein Mann mit grauen Schläfen, kalten hellblauen Augen und einem etwas brutalen Hardy-Krüger-Touch. Reich und sehr selbstbewußt – viel zu selbstbewußt und von daher wahrscheinlich doch auch sehr verwundbar. »Kennen Sie eine Frau Eva Billsing?« Erich Landsberger sah ihn ausdruckslos an. »Ich beantworte Ihre Fragen sicherlich lieber, wenn Sie mich über den Grund Ihres Besuchs unterrichtet haben!« Na so was! dachte Trimmel. »Ich bin«, begann er, »Polizeibeamter aus…« »Aus Hamburg!« unterbrach Landsberger. »… richtig – steht ja auf der Dienstmarke. Also, wir erhielten unlängst die Nachricht, bei Leipzig sei eine unbekannte Kindesleiche gefunden worden. Später erfuhren wir, daß das Kind Billsing hieß. Es war unehelich, seine Mutter hieß Eva… sagt Ihnen das was?« Landsbergers Gesicht hatte sich nur sehr kurz etwas bestürzt verzogen; gleich darauf jedoch sagte er sehr von oben herab: »Ich möchte meinen, Herr…« »Trimmel.« »Herr Trimmel… ich möchte meinen, daß es in Frankfurt sowohl eine kommunale Polizei als auch eine hessische Landespolizei gibt. Was also tun Sie hier?«
Trimmel lächelte schwach. »Ich mache Ihnen praktisch nur einen Privatbesuch. Ich könnte Ihnen allerdings auch einen hiesigen Kollegen schicken, und der würde mich bestimmt mitnehmen. Schließlich wohnen Sie ja gerade erst ein paar Tage in Frankfurt, man könnte annehmen, daß ich Ihre Hamburger Verhältnisse viel besser…« »Ich unterhalte keine Verhältnisse!« unterbrach Landsberger barsch. »Aber Sie haben eins unterhalten!« sagte Trimmel, überrascht über die Heftigkeit. »Sie hatten, so gesehen, ein Verhältnis mit jener Eva Billsing aus Leipzig. Mit der hatten Sie sogar ein Kind, und das Kind ist möglicherweise ermordet worden! Herzliche Teilnahme, Herr Landsberger… ich meine wirklich, daß Sie etwas kooperativer sein könnten!« Endlich zeigte Landsberger etwas mehr Gefühl. Es sah allerdings von vornherein so aus, als täte er es, weil es in einer solchen Situation sicherlich von ihm erwartet wurde… Seine Miene umwölkte sich, und er strich sich mit der Hand über die Stirn. »Sie müssen entschuldigen… Ihre Mitteilung trifft mich sehr unerwartet…« »Sicher!« sagte Trimmel. »… ich weiß gar nicht, was ich… ermordet, sagen Sie?« »Wahrscheinlich. Ihr Sohn hieß doch Christian?« »Ja, Christian«, sagte Landsberger, »seine Mutter und auch ich nannten ihn Chris…« Trimmel nickte. »Ja, dann stimmt’s wohl… leider muß ich Sie deshalb jetzt fragen, wo Sie in der letzten Zeit gewesen sind, in der sozusagen kritischen Zeit. Haben Sie irgendwelche Reisen unternommen?« Landsberger richtete sich kerzengerade auf. Sein ausdrucksvolles Gesicht zeigte Unglauben, dann Verständnislosigkeit und schließlich Zorn. »Ist das Ihr Ernst? Sie wollen… Sie verdächtigen mich?«
»Ist doch nur Routine!« sagte Trimmel, um Verständnis bemüht. Aber Landsberger schüttelte den Kopf. »Ein seltsamer Privatbesuch… ich überlege wirklich, ob ich nicht besser meinen Anwalt anrufe…« »Ich bitte Sie!« sagte Trimmel verwundert. »Das ist doch keine Vernehmung, Herr Landsberger… es geht doch im Grunde nur um zwei Fragen. Welches Verhältnis hatten Sie zu Ihrem Sohn Chris und wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« Landsberger dachte nach. Dann stand er auf. Er ging zu einem antiken Sekretär, der gar nicht so recht in die Wohnlandschaft paßte und für seine athletische Catcherfigur unbedingt zu zierlich war. Er nahm einige Papiere heraus; ganz obenauf lag ein grüner Paß der Bundesrepublik Deutschland, sichtlich seit längerem in Gebrauch. »Erstens. Hier sind Belege, daß ich Frau Billsing gelegentlich Pakete geschickt habe, deren Inhalt fast nur für Chris bestimmt war. Zweitens. Einige Postkarten, auf denen sich Frau Billsing bedankt… Sie können feststellen, daß nicht allzuviel Gefühl investiert worden ist…« Trimmel blätterte die Postbelege und Karten durch – die letzten Poststempel waren Monate alt. Er griff sich den Paß, und hier lag die letzte Eintragung sogar ein ganzes Jahr zurück – Erich Landsberger machte anscheinend auch nicht sehr viele Reisen. Ein Stempel vom Londoner Flughafen Heathrow. Immigration Officer. Blau auf grün: Embarked. »Eine Patentverhandlung!« sagte Landsberger, der Trimmel über die Schulter sah. »Ich bin Chemiker und mache gelegentlich sogenannte Erfindungen…« Wieder ein Jahr zurück: Lissabon, 24. Mai und 27. Mai, Entrada und Saida; dazu eine Aufenthaltsgenehmigung für Portugal, per Stempel befristet auf 57 weitere, unausgenutzte Tage.
»Man wollte von mir eine Lizenz kaufen!« erklärte Landsberger. Und noch weiter zurück: zwei, drei Stempel aus Schweden und anderen europäischen Ländern sämtlich uninteressant für die Antwort auf Trimmels letzte Frage, schon von der Geographie her. Landsberger stand nach wie vor dicht hinter ihm, und Trimmel hielt ihn plötzlich doch für einen Mann, hinter dessen Arroganz sich eine Menge intelligenter Skrupellosigkeit verbarg. Gerade jetzt ertönten Stimmen im Nebenzimmer – die helle Stimme eines Kindes und die einer Frau. Die Tür wurde aufgerissen, ruckartig, als sei jemand auf die Klinke gesprungen und so ähnlich war es wohl auch: ein Kind stürmte ins Zimmer, und eine Frau mit einem weißen Häubchen, sicher die Haushälterin, zog sich mit gemurmelten Entschuldigungen aus der offenen Tür zurück. Ein Junge: vier, fünf oder sechs Jahre alt. Er sah Trimmel, verstummte, blieb stehen – und flüchtete sich dann in Landsbergers Arme. Ein blonder Junge, dem Vater ähnlich wie ein kleines Ei einem großen Ei… geradezu ein Mini-Landsberger. Er trug blaue, verwaschene Jeans und einen total verdreckten hellblau-weißen Pullover. Landsberger hob den Jungen auf und sagte lächelnd: »Na, Bertie? Warst du im Kohlenkeller?« Bertie nahm den linken Daumen in den Mund und sah Trimmel durchdringend an. Von der sicheren Position auf Vaters Arm aus fragte er: »Horchema… wer issn diss?« »Das ist ein Onkel aus Hamburg«, sagte Landsberger, »er will wissen, wie es dir geht…« »Ja, ja«, sagte Trimmel freundlich, »hast du dich denn schon gut eingelebt?« »Ooch, ich kenn’ mich hier schon gut aus…« erklärte der Knabe gönnerhaft.
»Nun mußt du uns aber mal allein lassen!« Landsberger ging zur Tür, öffnete sie, reichte den Jungen der dahinter wartenden Haushälterin und sagte: »Irene soll dich mal waschen. Und nachher spielen wir zusammen!« Hinter ihm machte er die Tür wieder zu. Keine Widerworte momentan. Die Stimmen verschwanden. »Bertie«, sagte Trimmel, »ein hübscher Junge. Geht er schon zur Schule?« »Nächstes Jahr«, antwortete Landsberger, »er braucht dann keine Umschulung…« »Ja, er war krank, nicht wahr?« fragte Trimmel. Von Leukämie sagte er absichtlich nichts. Landsberger sah ihn überrascht an. »Sie haben sich ja wirklich gründlich erkundigt!« »Nu ja… Ihr toter Sohn drüben soll ja sogar genauso krank gewesen sein…?« »Also, das ist mir neu!« erklärte Landsberger. »Ja, Näheres weiß ich da auch nicht!« sagte Trimmel. »Jedenfalls geht’s Bertie wieder gut?« »Es geht ihm ausgezeichnet. Der Klimawechsel…« »Ach ja!« sagte Trimmel scheinheilig. »Der Klimawechsel war ja der Grund für Ihren Umzug!« Die Sprache des Kindes Bertie allerdings stammte weder aus Hamburg noch aus Frankfurt. »Er sächselt!« stellte Trimmel fest und erwartete eigentlich wieder eine heftige Reaktion. Aber Landsberger blieb friedlich. »Er hat’s von mir. Ich lasse mich da leider oft etwas gehen, wenn ich mit ihm allein bin. Nuguggemada, Bertie… man legt’s ja wohl nie ab. Steht außerdem im Paß, wenn Sie mal nachsehen wollen…«
Im Paß stand Zwickau als Geburtsort von Erich Landsberger. Und diesmal fand Trimmel dann auch endlich die Eintragung im Paß, auf die es ihm ankam: Transitvisum Nr… zur zweimaligen Durchreise durch die Deutsche Demokratische Republik mit Kfz Nr… innerhalb von… mit Aufenthalt in Leipzig… über die Grenzübergangskontrollstellen Wartha, Drewitz. GüSt. Wartha… Datum: 21. März. Der März des Jahres, in dem der Reisende Erich Landsberger auch in Schweden gewesen war – das Jahr vor seinem Besuch in Portugal. Und unter dem Datum je zwei grüne Stempel aus Wartha und Drewitz: sie dokumentierten, daß Landsberger an jenem 21. März tatsächlich in die DDR eingereist und drei Tage später wieder ausgereist war. »Seitdem nicht mehr?« fragte Trimmel. Er war enttäuscht, ließ es sich aber nicht anmerken. »Seitdem habe ich Chris nicht mehr gesehen!« erklärte Landsberger. »Seine Mutter übrigens auch nicht… mein Gott, ich kann’s immer noch nicht fassen! Wenn ich mir vorstelle, daß er tot ist…« Er erkundigt sich nicht mal, wie das Kind zu Tode gekommen ist! dachte Trimmel. Er hat den Bluff, Chris sei ermordet worden, zur Kenntnis genommen, aber überhaupt nicht nach Einzelheiten gefragt! »Haben Sie Chris eigentlich auch mal Schuhe geschickt?« »Doch, öfter!« sagte Landsberger, »ist das wichtig für die… für Ihre Ermittlungen?« »Also, jetzt wohl nicht mehr…« meinte Trimmel unbestimmt.
Eigentlich hätte Landsberger als kultivierter Mensch jetzt Cognac auf den Tisch stellen müssen, nachdem die Unterhaltung immer friedlicher geworden war, und eigentlich hatte er das auch vor. Aber wider Erwarten machte der ungebetene Gast Anstalten, sich zu empfehlen – buchstäblich mitten im Satz. »… das wär’s dann wohl!« sagte Trimmel. Landsberger erhob sich. »Gut!« sagte er – sichtlich erleichtert, wie Trimmel zu erkennen glaubte. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen sowenig helfen konnte…« »Ach, das macht nichts«, sagte Trimmel, »so was kommt immer mal vor in meinem Beruf!« Landsberger brachte ihn bis zur Straße; das Kind Bertie ließ sich nicht mehr blicken. Sein Vater indessen schüttelte dem Besucher aus Hamburg fest und vertrauenserweckend die Hand – er schien hinter seiner Trauer wirklich das allerbeste Gewissen zu haben.
Und doch, sagte sich Trimmel später, ist hier irgendwo der Wurm drin! Halb fünf Uhr nachmittags: er steuerte den Ford über die Adickesallee und die Miquelallee glatt zur Autobahn und zählte – immer wieder – zwei und zwei zusammen: Bei Leipzig ist ein Kind aus dem Wohnvorort Markkleeberg tot aufgefunden worden. Es hat einen unehelichen Vater im Westen – in Hamburg beziehungsweise Frankfurt. Der Vater hat aber auch noch einen ehelichen Sohn, der in Hamburg geboren und aufgewachsen ist. Trotzdem sächselt er, obgleich der Vater seinerseits durchaus bemüht ist, seinen Dialekt zu verbergen. Und nun fährt der Vater – er ist Witwer – zufällig am selben Tag von Hamburg nach Frankfurt, an dem laut Obduktionsbefund sein totes uneheliches Kind bei Leipzig in
einen Graben geworfen wird. Er meldet sich mit seinem lebenden ehelichen Sohn in Frankfurt an, bezieht ein großes Haus und hat augenscheinlich nicht die Absicht, in absehbarer Zeit in die Hansestadt zurückzukehren… Das alles vor zehn Tagen. Und in diesen zehn Tagen seitdem, dachte Trimmel, soll aus dem bis dahin sterbenskranken Knaben Bertie Landsberger ein offenbar kerngesunder munterer Bengel geworden sein? Während der gleichfalls kranke Christian Billsing erwartungsgemäß, wenn auch unter seltsamen Umständen, das Zeitliche segnet? Hinter Trimmel hupte jemand und er merkte, daß er schon die ganze Zeit polizeiwidrig auf der Überholspur fuhr. Er scherte nach rechts ein und konzentrierte sich ein paar Kilometer lang auf den ziemlich dichten Verkehr. Dann aber kam er erneut von der rechten Spur ab, weil ihn seine eigene Spur wieder beschäftigte. Es war sicher noch viel zu früh, um einen konkreten Verdacht zu haben – aber trotzdem gaukelte ihm seine üppige Phantasie Bilder und Tatbestände vor, bei denen sich ihm jetzt schon die Haare sträubten. Außerdem war er Pragmatiker, und so kam ihm dann in dieser Stunde, irgendwo auf der Autobahn bei Kassel, tatsächlich zum erstenmal der Gedanke, ob er in nächster Zeit vielleicht doch mal sogar nach Leipzig selbst fahren sollte. Natürlich war ihm von vornherein klar, daß ein solcher Schritt über die deutsch-deutsche Grenze schwieriger war und folgenschwerer sein konnte als eine Ermittlung in Obervolta – und trotzdem: noch vor Hildesheim fing er unversehens damit an, über die technischen Einzelheiten einer DDR-Expedition nachzudenken. Beispielsweise gab’s da das Problem des Passes. In seinem Paß stand als Beruf Beamter – war es nicht denkbar, daß die DDR-Behörden an der Grenze nachschauen würden, welche Art Beamter hier einreisen wollte? Und wenn sie dann
rauskriegen würden, daß er Kriminalbeamter war – würden sie ihn nicht gleich zurückschicken oder sogar einsperren? Waren Leute wie Trimmel in den Augen der DDR nicht allesamt verkappte Agenten des westdeutschen Verfassungsschutzes? So oder so – als erstes müßte ein Paß her, in dem gar kein Beruf steht; seit einigen Jahren ist das in der Bundesrepublik sogar die Regel. Ein zweiter Paß für Trimmel, was ebenfalls längst nicht mehr unüblich ist… immerhin gibt es in der Welt Dutzende von Spannungsgebieten, in denen es die eine Seite gar nicht gern sieht, wenn ein Paß den Stempel der Gegenseite aufweist. Ja, aber Moment mal – der zweite Paß! ging’s Trimmel hier plötzlich durch den Kopf; er trat so heftig auf die Bremse, daß ein BMW hinter ihm ins Schleudern geriet. Der zweite Paß – das war doch die simpelste und nächstliegende Idee von allen! Trimmel achtete gar nicht auf den Wagen, der ihn hupend, schimpfend und blinkend überholte – denn das ist es doch, dachte er, das ist doch möglicherweise die Lösung! Ich kann doch zumindest nicht ausschließen, daß auch Erich Landsberger zwei Pässe besitzt. Wer garantiert mir denn, daß er mir vorhin die richtige Eintragung gezeigt hat, die über seinen tatsächlich letzten DDR-Besuch? Ordnungsgemäß blieb Trimmel fortan in der Kette der roten Schlußlichter rechts. Ich werde es bald erfahren, dachte er friedlich, ob hier jemand versucht hat, mich aufs Kreuz zu legen. Dann sehen wir weiter.
Beim Paßamt an der Bleichenbrücke erfuhr er’s am Montagnachmittag auf Anhieb: Erich Landsberger hatte in Hamburg erst vor wenigen Monaten einen neuen Paß beantragt und auch erhalten – und er hatte seinen alten Paß, der noch gültig sein mußte, dabei nicht zurückgegeben!
»Sonst noch was?« fragte der Paßbeamte. Trimmel zog zwei Fotos aus der Tasche. »Ich muß ebenfalls einen zweiten Paß haben. Und zwar bis morgen…« Gleich anschließend suchte er eine Fachbuchhandlung in der Ferdinandstraße auf. »Ich brauche alles über Leipzig!« »Alles?« lächelte die Verkäuferin. »Alles, was Sie haben…« Er bekam einen Stadtplan, zwei Bildbände und ein vergilbtes Messe-ABC, dazu erwarb er noch eine halbwegs brauchbare Straßenkarte der DDR. Für alles zusammen bezahlte er aus eigener Tasche dreiundfünfzig Mark – und er hatte es dann sehr eilig, wieder ins Polizeihochhaus zu kommen und so schnell wie möglich Feierabend zu machen. Abends breitete er den Stadtplan von Leipzig auf dem Fußboden seines Wohnzimmers aus. Daneben die Karte der DDR; zusätzlich schlug er den Shell-Atlas auf, die Seiten 36 und 37. In den Bildbänden sah er sich alles genauestens an, und wenn ihm der Name eines Hotels, eines Denkmals, einer Tankstelle oder eines Wasserlaufs begegnete, ging er gleich zum Stadtplan, suchte und sagte: »Aha!« Leipzig, las er, hatte nach der letzten Zählung 591500 Einwohner; 1939 waren es allerdings 707000 gewesen. Führende Großstadt Mitteldeutschlands, verkehrsgünstig (verkehrsgünstig!) in der fruchtbaren Landschaft der Elster und Pleiße inmitten der Leipziger Tieflandbucht gelegen. Schiller hat in einem Bauernhäuschen im heutigen Stadtteil Gohlis »An die Freude« geschrieben, und die ehrwürdige Universität, 1409 gegründet, heißt heute Karl-Marx-Universität. Luther, Nietzsche, Richard Wagner, Lessing, Leibniz, Johann Sebastian Bach und Auerbach (der Erfinder des Kellers?) hatten im Lauf der Jahrhunderte Häuser oder möblierte Zimmer in Leipzig bewohnt, vom Genius Goethe gar nicht zu reden. Heute hatte Leipzig zwar seinen Anspruch verloren,
Zentrum des weltweiten Pelzhandels zu sein (die Pelzdiebe arbeiten inzwischen ja in Frankfurt, dachte Trimmel). Aber dafür hatte die Metropole ein Volkspolizei-Kreisamt (Dimitroffstraße 3 bis 5), eine Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (Dittrichring 22) sowie – man lese und staune – Häuser für fünf Parteien: die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands, die Christlich-Demokratische Union, die NationalDemokratische Partei und die Demokratische Bauernpartei. Kriminalität bildet, dachte Trimmel. Er machte sich eifrig Notizen, die er nie wieder brauchen würde. Denn was er einmal mit der Hand niedergeschrieben hatte, war auf Jahre hinaus in sein Gehirn graviert… gegen Mitternacht jedenfalls hatte er nicht nur seine geplante Fahrstrecke nach Leipzig, sondern auch alles Wesentliche über die Stadt und sogar Markkleeberg im Kopf. Jährliche Gartenund Wirtschaftsausstellung in der Nähe von Markkleeberg Fundstellen altsteinzeitlichen Feuersteingerätes. Er ging schlafen, ungewöhnlich befriedigt und mit höchstens 1,2 Promille. Wiederum einen Abend später traf er sich in seiner Farmsener Kneipe mit einem Kugelschreiberfabrikanten, den er kannte; im Zweifelsfall kannte Trimmel immer die richtigen Leute. Der Mann fuhr regelmäßig zur Leipziger Messe und mußte eigentlich auch mit den lokalen Besonderheiten vertraut sein. »Was zieht man an, wenn man nach drüben will und nicht ständig angestarrt werden will?« fragte Trimmel. Der andere lachte ihn aus. »Du kannst anziehen, was du willst, als Westdeutschen werden sie dich immer erkennen! Is’ ja auch gar nicht so schlimm…« »Doch!« knurrte Trimmel. »Also?«
Der Mann faßte ihn am Schlips. »Den laß man gleich zu Hause!« Er riß ihm fast die Knöpfe seines ButtondownHemdes vom Hals. »Unmöglich! Zieh ein offenes Hemd an!« Und er gab ihm auch all die übrigen Tips, vor allem den Tip mit der Frisur: »Zieh den ältesten Anzug an, den du hast, wenn’s geht, einen Zweireiher. Und laß dir im Genick unbedingt diesen scharfen Rundschnitt machen, du weißt schon…« »Okay«, sagte Trimmel, »wie ist es mit dem Geld?« »Wahrscheinlich kannst du hier am Hauptbahnhof was einwechseln. Am besten Münzen… übrigens, wann willst du denn fahren?« »Jetzt am Wochenende«, sagte Trimmel, »wenn’s klappt, am Freitagabend!« »Aber da ist doch Messe!« sagte der Kugelschreibermensch. »Da bin ich selbst in Leipzig – ich starte übermorgen. Da kannst du doch alles viel einfacher haben… kauf dir einen Messeausweis und hol dir an der Grenze das Messevisum. Dann kontrolliert dich kein Aas!« »Und dann?« fragte Trimmel mißtrauisch. »Dann gehst du in Leipzig gleich zur nächsten Meldestelle – ich geh’ immer ins Hotel Stadt Leipzig am Bahnhof und holst dir den Stempel für die Aufenthaltsberechtigung. Hier, sieh mal«, er zog seinen Paß aus der Jacke, »so sieht das aus. Viereckig. Kriegst du ohne weiteres, du mußt höchstens eine Stunde warten.« Trimmel sagte: »Vergiß es – ich bin Polizist. Ich glaub zwar nicht, daß die Vopos sämtliche westdeutschen Polizisten auf der Liste haben, wie unsere immer behaupten… aber Formalitäten sind da immer kritisch. Verstehste das nicht?« Der Kugelschreibermensch schüttelte den Kopf. »Ohne Formalitäten geht’s nicht. Was willst du da überhaupt?«
Trimmel grinste. Er erinnerte sich an einen Hinweis aus dem Messe-ABC »Achthundert Jahre Leipzig… ist das keine Reise wert?« Zum Abschluß der Vorbereitungen für seine Tournee erkundigte er sich am übernächsten Tag noch vorsichtig nach den amtlichen Bestimmungen für Polizeibeamte, die aus welchem Grund immer doch mal durch die DDR reisen müssen. »Wie machen Sie das eigentlich«, fragte er Höffgen, den er sonst meist duzte, absichtlich streng dienstlich, »wenn Sie Ihre Mutter in Westberlin besuchen? Wollt ich immer schon mal wissen, als Ihr Vorgesetzter…« »Meistens fliege ich«, sagte Höffgen. Er befürchtete offenbar, Trimmel wolle ihm Schwierigkeiten machen, und war deshalb gleich auf der Hut. »Kommt sehr selten vor, daß ich mit dem Wagen fahre…« »Aber in dem Fall sagen Sie doch hoffentlich Bescheid, oder?« Höffgen meinte, das sei im allgemeinen nicht nötig, aber als er mal bei Verwandten in Dresden gewesen sei, habe er sich selbstverständlich eine offizielle Genehmigung besorgt. »Ich hab’ im Präsidialbüro einen Vordruck abgegeben und am nächsten Tag zurückgekriegt, vom Präsidenten abgezeichnet…« »Okay«, brummte Trimmel zu Höffgens Erleichterung, »dann ist das ja wohl in Ordnung!« Nun war Höffgen allerdings nur Hauptmeister, und insofern hielt es Trimmel für ratsam, sich auch noch über die Bestimmungen für gehobene Dienstgrade zu informieren. Und dabei stieß er auf Dinge, die ihn doch wieder recht nachdenklich stimmten. Jeder bundesrepublikanische Polizist, erfuhr er, der in die DDR oder nach Ostberlin reist, wird zwar nur als Geheimnisträger der zweitniedrigsten Stufe angesehen – also
wie einer, der höchstens Verschlußsachen der Stufe VS Vertraulich bearbeiten darf. Das hieß wirklich noch gar nichts, denn darunter gab es nur noch die Stufe VS-NfD, Nur für den Dienstgebrauch, und Schriftsachen mit einem solchen Stempel durften sicherlich auch die Putzfrauen lesen, natürlich nur, wenn sie im Dienst waren. Nach oben aber wurde die Luft dann sehr schnell dünner: da kamen gleich die Stufen Geheim und Streng geheim und vor allem galt jeder, der mal mit der politischen Kripo-Abteilung 4 a zu tun gehabt hatte, für Jahre hinaus als »Geheimer« mit entsprechenden Reisebeschränkungen. Wie ein Aussätziger! dachte Trimmel erbost. Vor langer Zeit nämlich hatte es mal einen miesen Agentenmord gegeben; damals waren auch zwei Leute von 4 a in die Mordkommission berufen worden, und so war Trimmel mit der angeblich heißen Materie in Berührung gekommen… Im übrigen darf der Polizeibeamte bei Fahrten in die DDR weder einen Dienstausweis noch eine Waffe mit sich führen, las er zum Schluß. Wenn der Beamte von einer solchen Fahrt zurückkommt, muß er Bericht erstatten und vor allem Anbahnungsund Abwerbungsversuche des DDRStaatssicherheitsdienstes unaufgefordert mitteilen. Und wenn der Beamte gegen all dies verstößt? Dann, so erfuhr Trimmel erschauernd, wird ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet, das mit einer Verwarnung, die in die Personalakte kommt, aber auch mit einem Verweis enden kann, verbunden mit einer Geldbuße. Am Ende kann es sogar zu einem »förmlichen« Disziplinarverfahren führen, dessen schreckliche Konsequenzen niemals abzuschätzen sind… Das kann ja heiter werden! dachte Trimmel. Gehaltskürzung und Versetzung oder gar Entfernung aus dem Dienst – war die Sache das wirklich wert?
Ein bildschönes Weib, hatte Karl Lincke gesagt – na schön, bildschöne Weiber gibt’s hierzulande wie Sand am Meer. Aber das Ganze war nach wie vor irgendwie anrüchig und verlockend… das bildschöne DDR-Weib und der BRDKapitalist, die Frucht der verbotenen Liebe und möglicherweise ein daraus resultierendes Verbrechen – so was hatte es ja sogar schon mal gegeben. Und dazu kam der eigene Trotz: ein Gesuch für eine noch so private Reise in die DDR würde Trimmel mit Sicherheit abgelehnt werden, nach dem, was er gelesen hatte und das ärgerte ihn gewaltig, das vor allem. Es ärgerte ihn, daß sich hier möglicherweise ein Übeltäter nur deshalb ins Fäustchen lachen konnte, weil die Politik ihn schützte, die Politik und ihre Bürokratie… es sei denn, einer wie er würde auf eigene Faust ermitteln – buchstäblich schwarz fahren wie ein Student in der Hochbahn… Er war noch unentschlossen, als er am Freitagmorgen an den Wechselschaltern im Hamburger Hauptbahnhof herumstrich; er entschied sich, hier kein DDR-Geld zu wechseln, sondern, wenn überhaupt, sein Glück in Leipzig selbst mit Westmark zu versuchen. Denn das hielt ihm, so gesehen, nach wie vor alle Möglichkeiten offen. Gegen Mittag aber gab er sich den letzten Ruck, ein für allemal und endgültig: er würde fahren! Er würde sich sonst sein Leben lang schwarz ärgern, dachte er, wegen der verpaßten Gelegenheit. Er rief die Auskunft an und erfuhr, daß ein Anschluß auf den Namen Billsing nicht registriert sei… Was soll’s! dachte er – an Ort und Stelle sieht das wahrscheinlich ganz anders aus! Und so gab er schließlich seinen Wagen zum Waschen… denn illegal oder nicht, er wollte den Brüdern und Schwestern drüben wenigstens als sauberer Mensch begegnen.
»Tschüs!« sagte er, nachmittags gegen halb vier, zu seinen Kollegen. Als er bereits am Fahrstuhl war, fiel ihm anscheinend noch etwas ein. Er ging zurück, tat so, als habe er seine Schlüssel vergessen, und sagte betont beiläufig, wenngleich so, daß alle es hörten: »Ich fühl mich scheußlich seit zwei Stunden… hoffentlich krieg ich morgen nicht die Grippe!« Nur für alle Fälle! dachte er. Für den Fall, daß er Montag früh noch nicht wieder zurück war… Tatsächlich nämlich fühlte er sich kerngesund. Und der Himmel war blau und heiter – sogar noch gegen Abend, als er seine Reisetasche packte. Es sah wahrhaftig so aus, dachte Trimmel, still für sich grinsend, als hätten die Leute weiter östlich wenigstens auch eine Sonne, wenn sie angeblich schon keinen Himmel hatten.
3
Da steht er also nun in Markkleeberg, um einige Erfahrungen reicher. Um die Erkenntnis beispielsweise, daß er sich mit seinem Nackenrundschnitt, den er sich noch kurz vor der DDR verpassen ließ, weil er in Hamburg nicht mehr dazu gekommen war, ungewöhnlich abscheulich findet. Da steht er an der Endhaltestelle der Linie 28 in Markkleeberg, Sebastian-Bach-Straße (warum nicht JohannSebastian-Bach-Straße?) und fühlt sich wie ein Trottel. Denn die Jugend, die hier herumläuft, hat ganz enge Hosen an, im Gegensatz zu ihm, und einer hat sogar ein Radio, aus dem eine ebenso laute wie dekadente Rockband lärmt. Markkleeberg. Trimmel weiß alles. Leipzigs grüne Lunge – hier wohnen die Besseren. So wie Eva Billsing, die Freundin oder Exfreundin eines westdeutschen Millionärs. Aber ist sie wirklich was Besseres? Ich werde es bald erfahren! denkt Paul Trimmel. Da soll einer kommen und sagen, ich hätte keine Befugnisse… Trimmel fühlt sich stärker denn je. Zugleich fühlt er sich jedoch auch sehr strapaziert. Er hat dreihundertfünfzig Kilometer abgerissen, das meiste zwar Autobahn, aber dann dieser nervtötende Grenzübergang mit Paßabgabe und Filzen und Gebühreneinzahlung am Schalter 6 beim sicherlich unverschämtesten Kassierer der Welt – natürlich einem Sachsen… Morgens um sechs ist Trimmel in Kassel-Söhre abgefahren, wo er am Abend zuvor von Hamburg angekommen war und übernachtet hatte. Mit Schlafen war auch nicht viel los gewesen: zu viele Gedanken. Die Sache mit dem Haarschnitt
beispielsweise, und die Überlegung, daß er sich einen Briefbogen nebst Umschlag kaufen sollte, für den Fall, daß Eva Billsing nicht zu Hause sein würde und er noch mal wiederkommen müßte. Beides hatte er vor dem Grenzübertritt in einem Kaff namens Nesselröden erledigt, so gegen acht. An der Grenze selbst allerdings wußten sie dann offenbar nichts davon, daß Trimmel Polizist ist – oder sie mochten nicht in ihren Listen nachsehen. Die Vopos sahen durch ihn hindurch und ließen den Schlagbaum hochgehen. Seitdem hat Trimmel drei oder vier grün-weiße Streifenwagen passiert, ist etwas schneller gefahren als erlaubt, aber nicht zu schnell, und hat »fahrplanmäßig« das Hermsdorfer Autobahnkreuz passiert. Einen Augenblick war er in Versuchung, eine Tasse Kaffee in der Raststätte zu trinken. Aber was bringt’s? dachte er. Abgesehen davon, daß er mit seiner beginnenden Müdigkeit schon fertigwerden würde: das Alibi dafür, daß er viel zu spät in Berlin sein würde, am Kontrollpunkt Drewitz – das mußte er sich sowieso in Leipzig selbst beschaffen. Da steht er nun in Markkleeberg bei Leipzig und kann sich erst mal zu nichts entschließen. Er geht nach links, wo er nach rechts gehen müßte, riecht Wasser und denkt ans Ausruhen, stellt sich dann aber auch die vielen Leute auf den Kurgartenstühlen vor, die er meiden sollte… ein Orchester mit Muschelhallenklang zelebriert das Zwischenspiel aus der Oper Notre-Dame zum Einschlafen! Am schlimmsten, erinnert er sich bruchstückhaft, war die Strecke vom Hermsdorfer Kreuz bis zur Tankstelle Merseburger Straße. Schon drei Kilometer vor der Tankstelle hat er aufgepaßt. Hinter ihm, Abstand zweihundert Meter, ein Wagen mit DDR-Nummer. Also Tempo herabsetzen, ihn überholen lassen. Der wundert sich. Soll er. Dann die leere Strecke. Die Tankstelle kommt in Sicht. Gebremst, daß es
quietscht – hört ja niemand. Er sündigte an einem Ford… blöder Kalauer. Trimmel stellt den Motor ab, zieht den Haubenverschluß auf, springt heraus, öffnet die Haube; zwei, drei Griffe – man wird ganz schön dreckig dabei – und reißt den Keilriemen herunter. Wohin damit? In die Hosentasche. Da ist Platz genug bei den breiten Hosen von anno dazumal. Und dann wieder gestartet. Wirklich eine Sünde… damit kommt man weiß Gott nicht weit. Aber man kommt bis zur Tankstelle, und dort erst ringeln sich Gott sei Dank die erwarteten Dampfwölkchen aus dem Kühler. Als der Tankwart kommt, kann Trimmel glaubhaft sagen: »Ich glaub, mir ist der Keilriemen weggeflogen…« Der uralte Witz. Kommt ein Vater aufs Leipziger Standesamt und meldet die Geburt seines Sohnes an. »Wie soll er denn heißen?« Sagt der Vater: »Dankwart!« Darauf der Beamte: »Nu, ich will nich’ wissen, was er wär’n will; ich will wissen, wie er heißen soll…« Sächsisch müßte man können, dachte Trimmel, als der Tankwart kam. »Mir ham geene Geilriemen…« sagte der Tankwart. »Dann«, sagte Trimmel wie in einer auswendig gelernten Sprechrolle, »muß ich mir aus Leipzig einen neuen beschaffen… Rufen Sie mir ein Taxi nach Leipzig?« Er träumt, aber es ist alles wahr. Er merkt plötzlich, daß er drauf und dran ist, sich auf ein Mäuerchen zu setzen; und das allerdings sollte er in Markkleeberg bei Leipzig wirklich nicht tun. Er sollte arbeiten – dafür ist er hergekommen. Er steht auf und geht diesmal nach rechts, wo er nach rechts gehen müßte. Er geht durch die Karl-Liebknecht-Straße in die Karl-Marx-Straße, wo, wie er schon seit Hamburg weiß, eine Telefonzelle steht. In der Zelle gibt es aber kein Telefonbuch,
und damit ist die Hoffnung zunichte, die Adresse von Eva Billsing doch noch auf diese Weise herauszufinden. Zu Hause könnte Trimmel jetzt auf die nächste Wache gehen, selbst dann, wenn er nicht Polizist wäre: »Wo, bitte, wohnt eine gewisse Eva Billsing?« Aber hier? Glatter Schwachsinn. Er könnte Karl Lincke vom Stasi in Ostberlin privat anrufen. Aber ob der zu Hause ist? Ob er solche unwesentlichen Details im Kopf hat? Ob er sich nicht – das vor allem – halb totlachen würde über den gehobenen Dienstgrad aus dem Westen, der nicht mal fähig ist, im Umkreis von drei Kilometern eine Anschrift rauszukriegen? Schließlich geht Trimmel in eine Gastwirtschaft. »Ein kaltes Bier!« sagt er mutig. »Radeberger?« fragt die hochgeschlossene Kellnerin. »Sicher!« sagt Trimmel, obgleich er die Marke nicht kennt. Denn er hat – schon wieder andere Sorgen: Von den zwanzig Blechgroschen, die ihm der Taxifahrer gewechselt hat, besitzt er noch sechzehn – vier sind bei seinen Straßenbahnfahrten draufgegangen. Aber das Geld reicht – und das Radeberger Pils, erstaunlich gut gezapft, tut das seine, um Trimmels etwas erhitztes Innenleben abzukühlen. »Schwester«, sagt er zu der Bedienung, »ich hab’ mal eine Frage…« Sie nimmt die flapsige Anrede offensichtlich nicht übel und sieht ihn erwartungsvoll an; immerhin, er ist einer von nur zwei Gästen. »Ich such meine Nichte«, sagt er, »scheußliche Geschichte. Hat neulich ihr Kind verloren. Lag tot an der Autobahn… das Kind, mein ich. Und nun komm ich von Cottbus und hab’ jahrelang keinen Kontakt mit ihr gehabt und weiß nicht, wo sie
wohnt. Aber sie wohnt hier in der Drehe… Billsing heißt sie. Eva Billsing…« Markkleeberg ist ein Kaff. Nicht ganz so schön wie Meerbusch bei Düsseldorf, und nicht ganz so einfallslos wie Quickborn bei Hamburg. Aber eben ein Kaff… »Ach die!« sagt die Bedienung. »Ja, den Griminalfall genn ich!« Sie werde den Wirt fragen. Gleich darauf kommt sie zurück. »Robert-Blum-Straße vierzehn. Gennense dänn den Wääch?« Doch, doch, sagt Trimmel, den findet er schon… nur nicht zuviel fragen an ein und derselben Stelle. Er räumt hastig die Groschen vom Tisch, die sie übriggelassen hat, nachdem er seine ganze DDR-Barschaft demonstrativ auf den Tisch gelegt hatte, und läßt, als er geht, vorsichtshalber zwanzig Pfennig liegen, weil man nie weiß, ob und wieviel… Nun hat er noch vier Groschen. Er muß dann nur noch einmal fragen, bis er in der RobertBlum-Straße ist. Das Haus Nummer 14 allerdings, für zwei Familien gebaut, einfallslos und modern wie alle Häuser hier, erinnert ihn nun wirklich nicht an den ehemaligen Theaterkassierer Blum aus Leipzig, der wegen seiner verzweifelten Liebe zur Politik vor hundert und mehr Jahren standrechtlich erschossen wurde. Jedenfalls steht’s da tatsächlich, blau auf weiß: Eva Billsing. Unten an der Haustür, die nur angelehnt ist, und oben an der Wohnungstür auch. Aber die Klingeln unten und oben klingeln vergeblich. Eva Billsing ist ganz offensichtlich nicht zu Hause, und das ist genau das, was Trimmel befürchtet hatte. Hoffentlich ist sie nicht gerade im Urlaub in einem volksdemokratischen Land mit Sand und Sonne, denkt er, nach all den Strapazen, die ein Schicksalsschlag wie der Verlust des Kindes mit sich bringt.
Unten im Haus wohnt ein gewisser Hermann Rau: Und dessen Frau öffnet Gott sei Dank gleich nach dem ersten Klingeln… Trimmel, inzwischen mutig geworden, sagt mit seinem breitesten Lächeln: »Freundschaft!« Sie sieht ihn erstaunt, fast beleidigt an und fragt: »Sie wünschen?« Rasch fällt er in einen bürgerlicheren Ton. Er tischt auch der noch ziemlich jungen Frau Rau die Geschichte von der Nichte und dem Onkel aus Cottbus auf, der erst jetzt von dem tragischen Geschehen in der Familie erfahren hat – und er stößt schnell auf Verständnis. »Schrecklich, ja!« sagt Frau Rau. »Aber Sie können es später ja noch mal probieren. Eva ist nur mal eben nach Leipzig gefahren!« »Meinen Sie wirklich?« fragt Trimmel zögernd. »Gott, ja… so genau kann man das bei ihr nicht immer sagen…« lächelt Frau Rau. Trimmel überlegt. Er hat bereits jetzt ein paar Stunden Verspätung; wenn’s noch mehr werden, kann’s bei der Ausreisekontrolle brandgefährlich werden. »Morgen ist sie sicher auch noch da?« fragt er unentschlossen. »Ach… eigentlich geht sie ziemlich selten weg. Hat momentan Urlaub. Meist liegt sie auf dem Balkon, wenn die Sonne scheint… na ja, sie hat ja wirklich was mitgemacht…« Du alte Heuchlerin! denkt Trimmel. »Neulich hat sie ja auch noch schwer Krach gehabt mit ihrem Freund«, fährt Frau Rau fort, »das ist ihr dann noch zusätzlich an die Nieren gegangen…« »Ach!« sagt Trimmel. Landsberger ist hier sicher nicht gemeint. Drinnen klingelt ein Telefon. »Ich glaube, es wird mir doch was knapp…« überlegt Trimmel.
Das Telefon schrillt weiter. Frau Rau ist nervös. »Also gut«, sagt Trimmel, »ich steck Eva eine Nachricht in den Kasten und komm morgen noch mal vorbei. Entschuldigen Sie die Störung…« »Bitte, bitte!« Sie schließt hastig die Tür, um den Anruf noch zu erwischen – anscheinend wird sie nicht sehr oft angerufen. Und Trimmel geht wieder in die erste Etage. Er nimmt den Briefbogen aus Nesselröden heraus, benutzt seine Brieftasche als Unterlage und schreibt Eva Billsing die paar Zeilen, die er sich für diesen Fall schon zurechtgelegt hat. Möglichst unverfängliche Zeilen, aber auch mit allen nötigen Hinweisen, um sie neugierig zu machen… beispielsweise durch den Namen Landsberger. Er steckt den kurzen Brief in den Umschlag und schiebt ihn unter der Wohnungstür durch. Dann verläßt er das Haus – leicht beunruhigt wegen des Freundes, aber auch befriedigt, als ob er bereits ungeheuer viel erreicht hätte.
Alles geht glatt. Die Linie 28 fährt ab, kaum, daß Trimmel eingestiegen ist. Er steckt wieder zwei Groschen in den Automaten, zieht seinen Fahrschein und setzt sich auf den nächsten Sitz neben dem Ausgang. Vom Wilhelm-LeuschnerPlatz aus leistet er sich den Luxus, zu Fuß zum Hauptbahnhof zu gehen. Dort findet er, trotz der Messezeit, wunderbarerweise ein Taxi und läßt sich zur Autobahn bringen, Tankstelle Merseburger Straße; diesmal zahlt er, inzwischen fast schon ein routinierter DDR-Besucher, ohne zu fragen mit drei westdeutschen Fünfmarkstücken, von denen er zum Glück genug eingesteckt hat. Und schließlich geht er auf den Tankwart zu – denselben wie vorhin…
»Hier ist der Keilriemen!« sagt er stolz. Natürlich der neue; bis Berlin wird er schon halten. Und ob er hält! Der gelbe Ford scheint froh zu sein, daß es wieder in westliche Gefilde geht, wenigstens in Westberliner. Er donnert los, daß es eine Pracht ist; vielleicht hatte der alte Keilriemen wirklich zuviel Spiel, obgleich das auf die Motorleistung eigentlich keinen direkten Einfluß haben sollte… In Drewitz hat Trimmel die Intertankquittung über den Keilriemen schon griffbereit, für den Fall, daß er nach der überzogenen Zeit gefragt wird. Aber es interessiert niemanden, und so öffnet er mit dem größten Vergnügen den Kofferraum und lüftet die Sitze, um zu demonstrieren, daß er weder Eva Billsing noch Erich Honecker versteckt hat. Ein Vopo winkt: er kann weiterfahren. Ein Stückchen Niemandsland noch, und dann die Uniformen der Westberliner. Die geplagten Menschen reagieren überhaupt nicht, als er »Freundschaft« sagt, diesmal aus vollem, fröhlichem Herzen. Auf dem Weg zum Hotel Lichtburg allerdings, das ihm der Kugelschreiberfabrikant empfohlen hat, auf der Königsallee und dem Kurfürstendamm wird aus dem heiteren Trimmel sehr schnell doch wieder der eher grämliche Trimmel. »Fünf Uhr wecken!« sagt er zu dem Portier und geht sofort auf sein Zimmer. Erst, als er schon ausgezogen ist, fällt ihm ein, daß er seit dem Frühstück nichts gegessen hat. Vielleicht war er in Markkleeberg deshalb so schwach und schreckhaft… jedenfalls zieht er sich notdürftig wieder an und läßt sich wenigstens noch ein Schnittchen kommen. Und ein kühles Bier, frisch vom Faß. »Radeberger!« bestellt er aus Versehen. Aber sie haben nur Dortmunder Union und das einheimische Schultheiß im Anstich.
4
Noch am selben Abend geht in Markkleeberg die Saat auf, die Trimmel gesät hat. Sie fiel auf fruchtbaren Boden: Eva Billsings Freund, Peter Klaus, Oberleutnant der Deutschen Volkspolizei, hat immerhin schon weiche Knie, als er, aus Leipzig kommend, an der 28er-Endhaltestelle aus der Bahn klettert. Er ahnt zwar noch nicht, was ihm bevorsteht, aber er hat ein ausgesprochen schlechtes Gewissen. Kann man so mies sein wie ich? denkt er wütend. Überraschend hat der schlaksige, blonde Mann, dem im allgemeinen sogar die langweilige Vopo-Uniform gut zu Gesicht steht, vierundzwanzig Stunden vor dem Ende der Leipziger Messe nochmals Ausgang für die Nacht bekommen. Er hat sich gefreut wie ein Schneekönig – genau wie neulich, am 31. August, unmittelbar vor der Messe. Aber dann fiel’s ihm wieder schwer wie Blei auf die Seele – gerade neulich hat er Eva mit seinem Jähzorn und seiner ständigen Eifersucht einen Tanz gemacht, den sich normalerweise kein vernünftiges Mädchen gefallen läßt. Er biegt jetzt in die Robert-Blum-Straße ein. Ein paar Leute sind noch unterwegs… sie sehen gleichgültig an ihm vorbei. Immerhin kommt er seit Jahren hier in die Gegend, man hat sich an ihn gewöhnt… ja, sicher! denkt Peter Klaus – aber wie lange noch? Vielleicht heute zum letztenmal? Neulich kommt er zur Tür rein, ausgerechnet an dem Tag, an dem Eva von seinen Kollegen von der Kriminalabteilung abschließend zum Tode ihres Sohnes vernommen worden ist. Er hängt die Mütze an den Haken und hat erst mal schon gar nichts anderes im Sinn, als dringend mit ihr zu schlafen. Und
geht ihr dann auch gleich an die fliederfarbene Bluse, versucht, ihr den für DDR-Verhältnisse sowieso superkurzen Rock auszuziehen… »Bitte, Peter«, sagt sie und versucht ihn abzuwehren, »laß mir doch Zeit… eure Vernehmungsmethoden sind ziemlich ekelhaft, ich muß erst mal zu mir kommen…« Trübe Erinnerungsfetzen. »Ich werd dir schon helfen!« sagt er albern. »Trink doch erst mal ein Bier!« fleht sie. »Mach ich gleich!« sagt er und fummelt weiter. »Rothaus hat mir übrigens gesagt, du hast in der Vernehmung bis zuletzt eine hervorragende Figur gemacht… apropos hervorragende Figur…« Also gut, sagt sie sich schließlich. Gottergeben zieht sie sich freiwillig aus und da sieht er, daß sie statt eines Hüftgürtels eine Strumpfhose trägt. Strumpfhosen gibt’s in Leipzig derzeit so gut wie gar nicht. »Aha, Landsberger!« brüllt er ohne Vorwarnung. »Gib’s doch zu – das ist doch wieder so ‘n verdammtes Ding von Herrn Landsberger!« »Und wenn?« fragt Eva, natürlich sofort eingerastet. »Landsberger!« brüllt er nochmals. »Ich kann den Namen nicht mehr hören…« »Dann halt doch die Klappe!« sagt Eva scharf. »Du bist doch derjenige, welcher… außerdem, schrei nicht so! Soll ich Karin Rau gleich raufholen, damit sie dein Geschrei noch besser versteht?« Sie zieht die Strumpfhose aus. Und irgendeine Bewegung dabei macht ihn endgültig rasend… er reißt sie ihr weg, versucht, sie in Stücke zu reißen, und flippt noch mehr aus, weil Strumpfhosen erstaunlich widerstandsfähig sind. »Dieses Arschloch!« schreit er dabei. »Dieses Miststück von Landsberger! Demnächst schickt er dir noch ‘n Gummischwanz, die Sau… bloß, weil er immer noch meint, er
kann mit dir machen, was er will! Und du nimmst das dann auch noch an, statt ihm den Dreck zurückzuschicken… was stehste denn da so blöd rum?« Totenblaß, nur noch mit einem Baumwollslip am Leibe, der ganz sicher nicht von Landsberger stammt, steht Eva vor ihm. Leise wegen der Leute im Haus, aber so wütend, wie er sie noch nie gesehen hat, faucht sie ihn an: »Sag mal, bist du wahnsinnig? Hast du vergessen, daß ich…« »Ach nee!« höhnt er. »Jetzt die Tour! Da lach ich mich doch krank!« Der zehnte oder zwanzigste Krach wegen Landsberger – einer so überflüssig wie der andere. Aber diesmal geht die Granate hoch – diesmal ist er zu weit gegangen. Und weiß es sogar und kann’s doch nicht mehr ändern. Eva steht in der Schlafzimmertür – er sieht sie vor sich, wird den Anblick nie vergessen, ein Bild des Jammers. »Ich hab’ diese Strumpfhose heute zufällig im Sonderangebot gekriegt, damit du Bescheid weißt! Aber wenn ich sie hundertmal von Erich Landsberger gekriegt hätte, wär’s immer noch kein Grund…« »Zeig die Quittung her!« »Ich denk nicht dran!« sagt sie. Sie zieht sich den Slip aus. »Hier – den kannst du auch noch kaputtreißen… aber dann hau ab!« Er fängt den Fetzen auf, den sie ihm zuwirft, und bleibt stehen wie angewurzelt. »Sag das noch mal!« »Abhauen!« schreit sie. »Verduften!« Dann ist sie diejenige, die abhaut – auf der Stelle. Die Schlafzimmertür schlägt krachend hinter ihr zu, und sogar der Schlüssel kracht, als sie ihn umdreht. Er ist drauf und dran, die Tür einzutreten – aber Gott sei Dank begreift er wenigstens im Hinterkopf, daß er hier der Täter ist, und geht am Ende wie ein geprügelter Hund seiner Wege…
Selbst die Mütze läßt er hängen. Läuft dann tagelang mit einer Zweitmütze rum, rast zum Telefon, wenn’s klingelt und könnte schreien, weil sie’s wieder nicht ist. Nicht ein einziges Mal ruft sie ihn an, und er kann in diesen hektischen MesseTagen nicht mal hinfahren! Als er heute erfährt, daß er dienstfrei hat, will er sofort losrennen und Blumen kaufen. Aber wahrscheinlich gibt’s wieder keine! denkt er. Außerdem sieht ein Oberleutnant mit Chrysanthemen wahrscheinlich doch auch ausgesprochen blöd aus. Er steht jetzt – ohne Blumen – schon seit mindestens fünf Minuten vor dem Haus. Ein Häufchen Elend in Uniform… ununterbrochen starrt er die beiden schmalen Lichtstreifen an, die oben durch die Vorhänge schimmern. Wie oft, denkt er rührselig, haben sie dahinter über ihre Zukunft gesprochen… sie hat immer wieder gefragt, warum sie nicht endlich heiraten, und er in seiner Verblendung sagt, daß das Kind ihn stört und daß er überhaupt erst mal Hauptmann werden muß, damit das Geld reicht! Tränen hat’s gegeben, und westliche Dekadenz hat sie ihm vorgeworfen, obgleich sie wahrscheinlich gar nicht mal genau weiß, was das ist… aber Herrgott noch mal, bis auf dieses letzte Mal haben sie ihre Kabbeleien schließlich ja doch immer noch auf der Bettkante ausgefochten! Schließlich haben sie sich die meiste Zeit ja auch relativ wenig sehen können, oft nur in sehr großen Abständen… vermutlich liegt’s ja auch daran, daß sie immer noch scharf aufeinander sind wie die jungen Schäferhunde von Hermann Rau… Sind? denkt Peter Klaus bitter. Nun denn. Er schleicht sich förmlich an; die Haustür ist wieder mal nur angelehnt. Er geht die Treppe hoch und klingelt, einmal lang, zweimal kurz, fast ohne Hoffnung – aber fast im selben Moment wird die Tür aufgerissen.
»Peter…!« sagt Eva erstickt. Und dann schluchzt sie los, zieht ihn in den Flur, macht hastig die Tür zu und klammert sich an ihn. »O Gott… ich hab’ mir so gewünscht, daß du kommst…« »Ich ja auch!« sagt er und könnte schreien vor Glück. »Ich hab’ wirklich gedacht, ich geh’ ein… du, mir tut das so leid neulich… Eva, ich versprech dir…« »Ja, ja!« sagt sie, seltsam hektisch. »Komm mal schnell rein…« Er geht ins Wohnzimmer. Auf dem niedrigen Couchtisch liegt ein Zettel – ein handgeschriebener Brief. »Lies das!« sagt Eva tonlos. Und gleich wieder hektisch: »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll…« Ein Brief in einer klaren, gut lesbaren, leicht nach rechts geneigten und offenbar männlichen Schrift. Anscheinend auf einer nicht sehr festen Unterlage geschrieben, registriert der Polizist Peter Klaus. Sehr geehrte Frau Billsing! Mein Name ist Paul Trimmel, und ich hätte Sie gern in einer persönlichen Angelegenheit gesprochen. Leider traf ich Sie nicht an, erfuhr jedoch von Ihren Hausbewohnern, daß Sie nur kurzfristig abwesend seien und ich Sie mit einiger Sicherheit morgen sprechen könne. Es handelt sich um eine Angelegenheit, die mit Herr Landsberger zusammenhängt… Der Oberleutnant Peter Klaus sieht auf. Landsberger… Eva Billsing sieht ihn angsterfüllt an. … den ich erst unlängst gesprochen habe. Da ich heute nicht in Leipzig bleiben möchte und noch außerhalb zu tun habe, werde ich mir erlauben, Sie morgen vormittag nochmals
aufzusuchen. Ich werde voraussichtlich zwischen neun und elf bei Ihnen vorsprechen. Grüße, Paul Trimmel. »Kennst du den?« fragt Peter Klaus. »Trimmel?« »Nie gehört…« sagt sie verzweifelt. Er setzt sich und denkt nach; den Brief hält er immer noch in der Hand. Alles, was er in den letzten Wochen verdrängt hat, steht wieder vor ihm… »Soll ich flüchten?« fragt Eva in ihrer Angst. »Weiß nicht…« sagt er ratlos. Immerhin ist ihm im Moment ja genauso mulmig zumute wie ihr. »Ja, aber sag mir doch, was ich machen soll!« …in einer persönlichen Angelegenheit, liest er nochmals, die mit Herrn Landsberger zusammenhängt… Hat Landsberger kürzlich gesprochen, möchte nicht in Leipzig bleiben, kommt morgen noch mal wieder… Das ist es! denkt Peter – auf die Tour kann man’s vielleicht rauskriegen! Wofür gibt es schließlich ein angeblich erstklassiges Kontrollsystem in der DDR, wenn nicht gerade für solche Fälle? Denn der Mann, dieser Trimmel, kommt von Landsberger, denkt er – also aus der BRD, aus dem Westen. Er kommt möglicherweise als Verwandter oder Messebesucher nach Leipzig – dann ist er hier auch registriert worden. Und wenn er – so was gibt’s ja – mit einem Transitvisum durch die DDR gefahren ist und die Autobahn unerlaubterweise verlassen hat, muß er mindestens an einem der Einreise-Kontrollpunkte erfaßt worden sein; es ist alles ziemlich narrensicher. Morgen will er im übrigen ja wiederkommen, schreibt er – und spätestens da stellt sich dann ja auch die Frage, warum er nicht heute abend kommt. Das könnte bedeuten, überlegt der Vopo-Offizier, daß er tatsächlich nicht hier in der Gegend übernachtet. Daß er heute tatsächlich von Hof beziehungsweise Juchhöh oder Wartha
gekommen ist, Leipzig im Transit passiert hat und dort einen Abstecher, einen kleinen netten Schlenker nach Markkleeberg gemacht hat, bevor er weiter nach Berlin gefahren ist. Und daß er morgen in der umgekehrten Richtung fährt, wiederum dumm und dreist mit diesem Ausflug nach Markkleeberg… Oder, denkt Klaus, hat der Mann gestern die Frechheit besessen, bei Marienborn einzureisen und bei Magdeburg querfeldein in Richtung Leipzig zu reisen? Kann er sich, von Marienborn kommend, vielleicht sogar erst am Berliner Ring auf die Strecke nach Leipzig gemogelt haben? »Also, erzähl mal genau!« sagt Peter Klaus. »Wieso warst du nicht da?« »Ich war mittags in Leipzig und wollte mir ein Kleid kaufen«, sagt Eva, »ich hab’ keins gefunden, aber ich war sicher so zwei, drei Stunden unterwegs. Und als ich zurück bin, liegt er da…« sie deutet auf den Brief, sie mag gar nicht hinsehen… »So, so. Hast du Karin Rau was erzählt?« »Nein, natürlich nicht! Oder sollte ich?« »Nee, nee, war schon richtig so. Was geht die das an?« Eva sieht auf die Uhr. »Halb elf. Ich mein, ich könnt sie ja mal fragen, ob der Mann mit dem Auto hiergewesen ist oder zu Fuß oder…« »Nee, nee!« sagt Peter nochmals. Als er aufsteht und Anstalten macht, wegzugehen, fragt Eva ängstlich: »Wo willst du hin? Ich kann doch nicht allein bleiben…« Aber da grinst er, wenn auch etwas schief. »Hier klaut dich keiner. Ich werd mal sehen, ob ich den Typ irgendwie orten kann. Ist ja manchmal ganz gut, wenn man bei der Vopo was zu sagen hat!« »Willst du den Mann verhaften lassen?«
»Schätzchen«, sagt er kopfschüttelnd, »ich weiß doch noch gar nicht, was der eigentlich will! Erst mal muß ich rauskriegen, was da überhaupt läuft… vielleicht kommt der Mann ja wirklich von Landsberger und will dir was ausrichten; dem trau ich sowieso alles zu…« »Ich… ich kann’s mir nicht vorstellen«, sagt sie zögernd, »wir waren so verblieben, daß wir erst mal gar keinen Kontakt haben… im allgemeinen kann man sich ja drauf verlassen, was er sagt…« »Wart’s ab!« sagt er. Mehr fällt ihm momentan auch nicht ein. Er nimmt sie in den Arm und spürt, wie sie zittert… er will ihr ja helfen, aber was kann er denn im Augenblick anders tun, als sie fest in den Arm zu nehmen? »Bleib doch hier…« sagt sie unter Tränen. »Nein – es geht nicht! Versteh das doch – wir müssen immer noch mit allem rechnen!« Ein letzter Kuß. Aber sie hält ihn fest. »Komm bloß bald wieder…« »Ja, sicher!« sagt er. »Spätestens um neun morgen früh… je nachdem. Aber rühr dich bis dahin nicht aus dem Haus – hier bist du sicher!« Dann geht er. Scheinbar straff und zielsicher; nur der Schlips hängt etwas schief. Aber in Wirklichkeit geht ihm doch ganz schön die Muffe… er hat im Augenblick tatsächlich mehr Angst als Vaterlandsliebe. Das Ding war viel zu riskant! denkt er – ich hätte mich von Anfang an nicht darauf einlassen sollen! Im Moment kann ich mir weiß Gott doch nur noch selber die Daumen drücken, daß da nicht tatsächlich einer auf dumme Gedanken gekommen ist.
Er ist in der kühlen Nachtluft von der Robert-Blum-Straße über die Lauersche Straße zur Hauptstraße marschiert, der
Coburger Straße. Dabei ist er immerhin etwas ruhiger geworden, und irgendwie hat ihn auch der Jagdinstinkt gepackt… er hat sich schließlich, als ein Auto kam, kurzentschlossen mitten auf die Fahrbahn gestellt und den Wagen gestoppt. Ein Trabant – aber Hauptsache, er fährt! »Bringen Sie mich sofort zum Hotel Stadt Leipzig!« Der verschreckte Fahrer, der sofort nach seinen Papieren gegriffen hatte, als er den Vopo mit seinem Lametta auf der Straße sah, steckt die Fieppen wieder weg und sagt erleichtert: »Jawoll, Herr Hauptmann!« Kleiner Irrtum – Peter Klaus beläßt es dabei. Er redet kein Wort. Nur einmal, schon ganz kurz vor der Richard-WagnerStraße, macht er den Mund auf und sagt: »Hier ist Einbahnstraße während der Messe!« Also nochmals um den Block und dann den derzeit vorgeschriebenen Weg. Das Hotel Stadt Leipzig ist eines der hiesigen Interhotels, direkt gegenüber dem Hauptbahnhof… man verzeiht ihm allgemein seine Häßlichkeit, weil sie wenigstens schlicht ist und auf Zuckerbäckerei in Beton verzichtet. Aus der Distanz sieht die riesige Fassade aus wie schlecht gedrucktes Millimeterpapier – und vom Standpunkt des Besuchers aus ist es immer noch das anonymste aller Leipziger Hotels, auch wenn es eine Ausgabestelle für Aufenthaltsberechtigungen im Hause hat und damit automatisch die Volkspolizei. Als der Oberleutnant Peter Klaus eintrifft, hat er den Schlüssel schon in der Hand, weil die Vopo-Dienststelle gegen Feierabend geschlossen wird. Aber diesmal ist sie geöffnet, und ein müder Wachtmeister hängt auf einem Stuhl herum, obgleich er gar nichts mehr hier zu suchen hat, wenigstens nichts Dienstliches. »Bleib sitzen!« sagt Peter Klaus, als der Mann Männchen bauen will. »Was machste überhaupt hier?«
Der Wachtmeister druckst herum. »Ich hab’… also, Genosse Oberleutnant, die Sache…« »Krach gehabt zu Hause?« fragt Klaus. »Ja, genau…« Klaus muß grinsen. Schon komisch, was die Messe so mit sich bringt! »Sieh mal schnell nach, ob wir gestern oder heute eine Berechtigung für einen gewissen Paul Trimmel ausgestellt haben«, sagt er, »Trimmel mit zwei Emm!« »BRD?« fragt der Wachtmeister überflüssigerweise, »‘türlich. Und frag auch mal die anderen Leipziger Dienststellen, ob die ihn haben!« Wenig später weiß er, daß nicht nur gestern und heute, sondern für den gesamten Messezeitraum keine Aufenthaltsberechtigung auf den Namen Trimmel beantragt und ausgegeben worden ist. Das heißt dann schlüssig, daß Paul Trimmel, wenn er nicht einen falschen Namen angegeben hat bei Eva Billsing eben doch illegal in Leipzig gewesen ist und sich schon von daher strafbar gemacht hat. Es ist ein Uhr vorbei – ein Uhr nachts. Peter Klaus entschließt sich, die Transitkontrollstellen vorsichtshalber erst morgen früh anzurufen – das ist unauffälliger und insofern besser für ihn. Und durch die Lappen geht ihm so und so nichts: wenn Trimmel frühestens um neun in Markkleeberg sein will, wird er kaum vor sieben Uhr bei Drewitz oder Marienborn einreisen… Ich könnte also jetzt erst mal nach Hause fahren, denkt Klaus – nach Hause zu Eva. Aber irgendwie hat er plötzlich keine Lust mehr dazu, hat Angst vor ihrer Angst – und so schiebt er sich hier auf der Dienststelle zwei Stühle zusammen. Eine Minute später ist er reine Bullenroutine – fest eingeschlafen.
Er träumt von Bertie Landsberger, den er nie gesehen hat und von dem in dieser ganzen Scheiße niemand mehr redet, es sei denn im Amtsdeutsch. Er träumt von Berties Vater, dem alten Landsberger – ohne Haß seltsamerweise. Denn was, so träumt er, können alte Männer dazu, wenn sie sich in junge Frauen verlieben? Wie alt ist Trimmel? fragt sein Unterbewußtsein. Trimmel – ein Mann ohne Gesicht…? Die Hand, die ihn an der Schulter rüttelt, ist die Faust eines Riesen. »Viertel vor sechs!« sagt der Wachtmeister. Er sieht noch genauso müde und verbiestert aus wie nachts. »Ich weiß ja nicht, wann Sie… aber gleich kommt die Frühschicht, und ich dachte…« Denk, was du willst! denkt Klaus. »Danke!« sagt er. Denn jetzt wird’s ernst. Innerhalb von drei Minuten hat er Marienborn an der Strippe. »Hör mal, Genosse«, sagt er lässig, »guck doch mal schnell nach, ob ihr gestern im Transit einen gewissen Paul Trimmel abgefertigt habt…« »Wer bist du denn?« fragt der andere ungerührt. »‘tschuldige. Oberleutnant Klaus… Volkspolizei Leipzig, Hotel Stadt Leipzig…« »Ich ruf Sie gleich zurück, Genosse Oberleutnant!« sagt der Mann aus Marienborn und hängt ein. Immerhin, es geht schnell mit dem Rückruf. »Fehlanzeige, Genosse Oberleutnant. Kein Trimmel!« Pause… aber dann sagt der Beamte zögernd: »Die Sache ist nur die… ein Paul Trimmel steht komischerweise auf der Liste…« »Liste?« fragt Klaus verständnislos. »Na ja, sicher…« »… ach so, ja, ja! Und?«
»Paul Trimmel ist Hauptkommissar bei der Kripo in Hamburg… muß irgendwie mal was mit dem BRDGeheimdienst zu tun gehabt haben. Eigentlich ist er bei der Mordkommission… also, durchgekommen ist er hier jedenfalls nicht!« »Danke, Genosse!« sagt Klaus mühsam und legt auf. Mordkommission, denkt er fassungslos… der Kerl spinnt doch! Erstens gibt es hier keinen Mord, zweitens kann einer von der Hamburger Mordkommission doch nicht einfach in der DDR… Gaaanz ruhig! sagt er sich. Aber die Hände zittern ihm, als er seine Zentrale erneut anwählt. »Jetzt bitte eine Verbindung mit Herleshausen-Wartha…« Dort lassen sie sich Namen, Dienstgrad und Dienstnummer von Peter Klaus geben, dazu seine Telefonnummer, verzichten aber auf einen Rückruf. »Bleib mal dran!« sagt sein Gesprächspartner, ebenfalls Oberleutnant. Und dann dauert es noch ganze fünf Minuten. »Hier ist er. Gestern eingereist. Acht Uhr vierzig. Transitvisum nach Berlin… auch die Autonummer?« »Ja!« »Dann schreib mal mit… Heinrich Heinrich, Strich, Konrad Konrad, eins drei drei. Ha-Ha, Ka-Ka, eins drei drei… richtig. Was ist denn mit dem?« »Ach, nichts weiter…« sagt Klaus lahm. »Nu komm… mal ehrlich. Der Gefreite, der ihn hier abgefertigt hat, erinnert sich noch, daß er einen ganz neuen Paß hatte…« »Du, davon weiß ich nichts… wir haben hier bloß eine Anfrage. Irgend jemand in seiner Familie ist gestorben, er soll sich in Hamburg melden!« Er lügt tatsächlich schon fließend und wie gedruckt.
»Ach so«, sagt der andere, »ja, so was hatten wir hier neulich auch. Ruf doch Drewitz an und sag da Bescheid, falls er da noch mal einreist. Und wenn er hier vorbeikommt, bringen wir’s ihm bei… aber sag mal…« »Was denn?« fragt Klaus. »… wenn der Mensch von Hamburg nach Berlin will«, überlegt der Oberleutnant in Wartha, »wieso fährt er dann bei uns vorbei?« »Was weiß ich? Vielleicht hatte er in Frankfurt zu tun!« sagt Peter Klaus schwach. »Danke, Genosse!« »Keine Ursache!« Wie ihm der Oberleutnant in Wartha geraten hat, ruft Peter Klaus jetzt in Drewitz an, allerdings mit ganz anderen Absichten. Und ausgesprochen widerwillig… Die Vopo in Drewitz fühlt sich bei der kleinsten Kleinigkeit berlinisch, hauptstädtisch und deshalb sowieso stets überfordert. Wo hauen die meisten ab? protzen sie immer. Natürlich in Berlin – also, laßt uns in Ruhe! Außerdem kriegt es Klaus auch noch mit einem höheren Dienstgrad zu tun und muß, soweit das telefonisch möglich ist, erst mal die Hacken zusammenschlagen. »Genosse Major«, sagt er, »es ist eigentlich nichts Besonderes… wir möchten bloß gern mal wissen, ob ein gewisser Paul Trimmel aus Hamburg heute morgen bei Ihnen mit einem Transitvisum eingereist ist.« »Warum?« fragt der Major scharf. »Wir haben hier in Leipzig einen privaten Anruf gekriegt, der Mann soll sich wegen eines plötzlichen Todesfalls umgehend bei seinen Verwandten melden…« »Trimmel?« »Ja…« »Verwandte wo?« »Verwandte in Hamburg…«
Darauf der Major: »Wir haben verdammt was Besseres zu tun, als uns um so was zu kümmern… Bleiben Sie in der Leitung!« Klaus bleibt lange in der Leitung. Aber er würde an diesem Sonntagmorgen auch den Innenminister persönlich aus dem Bett klingeln, denkt er grimmig, wenn er von ihm was erfahren könnte. »Oberleutnant?« bellt der Major in den Hörer. »Genosse Major?« »Also, schreiben Sie auf. Paul Trimmel ist um sechs Uhr dreißig hier durchgekommen, mit Kraftfahrzeug Ha Ha Strich Ka Ka eins drei drei. Transitvisum. Scheint sauber zu sein, würde mir den Kerl aber trotzdem mal genauer anschauen, besser ist besser…« »Jawohl, Genosse Major«, sagt Peter Klaus, »genauer anschauen! Wird gemacht, Genosse Major… besten Dank, Genosse Major!« Er hat ihn. Er schiebt das Telefon weg und steht auf. »Ich brauch einen Wagen, ohne Fahrer. Ich muß mal für ‘n paar Stunden weg, ist ja heute nicht mehr viel los, am letzten Tag…« Er kriegt den Wagen innerhalb einer Viertelstunde; der Gefreite, der ihn gebracht hat, meldet sich zackig an und ab, und Oberleutnant Klaus meldet sich bei seinem Vertreter ab, einem Leutnant. Sechs Uhr und fünfzig Minuten. Er hätte eine gottverdammte Stunde weniger schlafen sollen. Aber er schafft’s noch… notfalls muß Eva bis nach neun Uhr warten.
Er jagt den Wagen über die Straße der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft und die Dübener Landstraße. Rechts bleibt der Interflughafen Mockau liegen, ein besserer Feldflughafen, zur
Zeit mit zwei Iljuschins bestückt. Die Autobahnauffahrt Dübener Straße: links ab zum Schkeuditzer Kreuz. Dann in Richtung Berlin. Vierzehn Kilometer bis zur Abfahrt HalleBrehna… runter, auf die Gegenfahrbahn. Ein paar Kilometer zurück. Ein Parkstreifen. Hier legt sich Oberleutnant Klaus auf die Lauer. Er steckt sich eine Zigarette an und verbrennt sich die Finger, weil er nicht hinschaut – weil er keine Sekunde den Rückspiegel aus den Augen läßt. Was für einen Wagen fährt ein Hauptkommissar der Hamburger Mordkommission in der Deutschen Demokratischen Republik? Volkswagen passieren, einer mit Frankfurter, einer mit Münchner Nummer. Ein großer Opel aus Saarbrücken… so was fährt ein Hauptkommissar bestimmt nicht. Hauptkommissar ist Hauptmann. Westdeutsche Hauptleute fahren wahrscheinlich auch keinen BMW, und der BMW, der jetzt vorbeizischt, übrigens viel zu schnell, kommt aus Kassel. Peter Klaus kann nach hinten etwa einen halben Kilometer überblicken. Aber Fahrer, die auf ihn zufahren, können ihn, wenn überhaupt, erst sehr kurzfristig erkennen. Sein Abstand ist gut gewählt. Die paar DDR-Mühlen – wir könnten wirklich mal ein paar Autos mehr bauen oder kaufen! denkt der Oberleutnant – interessieren ihn nicht. Dann kommt wieder ein Westdeutscher, anscheinend ein Ford, dunkelgelb bis hellbraun – und plötzlich dreht Peter Klaus ganz automatisch den Zündschlüssel und startet. Der Ford zischt vorbei, Tempo schätzungsweise hundertdreißig. Ebenfalls viel zu schnell. Im Vorbeifahren hat Peter einen stämmigen Burschen hinter dem Steuer gesehen – kurze Haare und ein Dutzendgesicht, sofern überhaupt was zu erkennen war. Der Ford hat allerhand Vorsprung, bis Peter auf der Autobahn ist und Tempo gewinnt. Hundertdreißig macht seiner
auch, aber viel mehr schon nicht. So bleibt er im Endeffekt etwa fünfhundert Meter hinter dem Ford, mal in einer Kurve außer Sicht, mal so eben in Sichtweite; nichts ist leichter, als auf der Autobahn einen etwa gleich schnellen Wagen zu verfolgen. Und wieder das Schkeuditzer Kreuz jetzt in südwestlicher Richtung. Hundert Meter hat sich Peter näher herangequält, das Tempo des anderen ist ein bißchen ungleichmäßig… immerhin fährt er brav geradeaus, ohne Mätzchen, immer brav auf der Transitstrecke. Aber er fährt jetzt wieder schneller, und die hundert Meter gehen wieder flöten. Peter Klaus tritt das Gaspedal ganz durch. Dann jedoch, als bei dem Ford plötzlich die Bremslichter zweimal kurz aufleuchten, reißt er den rechten Fuß vom Gas und hätte ihn fast auf die Bremse gesetzt. Sein Herz schlägt schneller. Der Ford wird langsamer. Also Raststätte Merseburger Straße! sagt sich Peter Klaus. Tatsächlich. Der Ford wird noch langsamer, seine Bremslichter leuchten und flackern in immer kürzeren Abständen – er will rausfahren. Peter muß ebenfalls bremsen, kommt auf fünfzig Meter an den Ford heran und sieht, wie er in die Raststätten-Ausfahrt einbiegt. Wenn das nicht tatsächlich dieser Trimmel ist… denkt Peter Klaus. Es ist dieser Trimmel, wie er gleich sehen wird. Der Ford ist immer noch auf gesetzlich zugelassenem Gelände – hier darf man. Der Wagen fährt stotternd an einer Reihe geparkter Autos vorbei, bunt gemischt DDR und BRD… hier kommt’s sicher häufig zu zwischenmenschlichen Begegnungen. Dann sieht der Fahrer eine Lücke, bremst hart und fährt vorsichtig hinein…
Peter Klaus hat zuletzt nur noch einen Abstand von reichlich zehn Metern. Er hat sich hundertmal vorgestellt, wie er gleich reagieren wird, wie er die Feindseligkeiten, auf die es vermutlich hinausläuft, eröffnet, aber jetzt weiß er nichts mehr: sein Gehirn ist leer. Der Fahrer des Hamburger Wagens mit dem D-Schild tippt ein letztes Mal kurz die Bremslichter an. Er macht die linke Vordertür auf, steigt aber noch nicht aus… Klaus hat den Eindruck, daß er ihn im Rückspiegel beobachtet. Mit schleifender Kupplung, im Zeitlupentempo, rollt der Vopo-Wagen näher. Er blockiert den Ford – und Peter Klaus am Steuer schaltet die Zündung aus. Halali! denkt er.
5
Trimmel hat morgens um halb sieben Uhr in Drewitz hinter Berlin seine Transitpapiere ausgefüllt; die Vopos haben ihn abermals anstandslos passieren lassen, und dann ist er dort, wo die Autobahn sich teilt, den Schildern Leipzig-München nachgefahren. Er ist nach wenigen Kilometern ins Grübeln geraten, hat plötzlich – als nähere er sich dem Ende eines langen Weges – Rechenschaft über sich selbst abzulegen versucht und dabei, wen wundert’s, wenig Erfreuliches zutage gefördert. Immer dasselbe. Sieht Geheimnisse, wo es keine gibt, bauscht Fälle auf, die ihn überhaupt nichts angehen, wird, alles in allem, einem alten Elefantenbullen immer ähnlicher. Eine wandelnde Contradictio in adjecto, wie es sein Chef formuliert hat, der humanistisch gebildete Kriminaldirektor Marshall, ein leibhaftiger Widerspruch… scheinbar humorlos, scheinbar rücksichtslos, aber auch scheinbar fassungslos über alles und jeden, der nicht so reibungslos funktioniert wie er selbst. Der Chef ärgert sich, weil Trimmel ständig kommt und geht, wie es ihm paßt. Aber immer dann, wenn er ihn zur Minna machen will, hat Trimmel gerade wieder mal einen Mörder gefangen und muß sogar von den Reportern, die ihn meist nicht leiden können, belobigt werden… Trimmel, eine Maschine – mit allem Charme einer Maschine. In seinem Büro hängt ein Schild Der Beamte hat immer recht – zumindest der Beamte Trimmel. Er ist unverheiratet und fest davon überzeugt, daß er es auch künftig bleiben wird. Aber wenn Trimmel eine Spur aufgenommen hat, kennt er sogar seine wenigen Freunde nicht mehr – alles andere hört auf
zu existieren. So jedenfalls kennt man ihn: Er kann erst wieder durchschlafen, wenn er das Ende der Spur erreicht hat – wobei es ihm fast gleichgültig ist, ob sie zu einer Verhaftung führt oder sich in Luft auflöst. Paul Trimmel, stellvertretender Leiter der Hamburger Kriminalgruppe; Hauptkommissar ohne Ehrgeiz zum Rat oder Oberrat, an Leichen gewöhnt, am Tatort und auf dem Papier… wirkt er nicht tatsächlich genauso unerfreulich wie seine Tätigkeit? Ist sein möglicherweise mal goldenes Herz nicht längst so nachgedunkelt wie beschlagenes Messing? Wenn Trimmel Erfolge zählt, so tut er es heimlich. Oft genug seit jeher nimmt er neben seiner täglichen Routinearbeit Sachen in Angriff, die jeder andere Kriminalbeamte in den Papierkorb geworfen hätte… so ja auch jetzt wieder. Er ist zu sich gekommen, als er mit hoher Geschwindigkeit einen DDR-Wagen überholte. Offenbar ist er diesmal die ganze Zeit hundertvierzig gefahren statt der vorgeschriebenen hundert… aber was soll’s, nachdem es gutgegangen ist; was er am wenigsten hat, ist Zeit. Allerdings hat er ab sofort ständig nach rechts und links geschaut, nach vorn und hinten, ob die Vopo sich irgendwo blicken ließ. Nach einer knappen Stunde und 118 Kilometern seit Drewitz hat er das Schkeuditzer Autobahnkreuz passiert und ist ordnungsgemäß geradeaus gefahren. Noch zehn Kilometer – dann wird die Raststätte Merseburger Straße angekündigt. Den Trick mit dem Keilriemen kann man leider nicht zweimal machen, denkt er. Außerdem ist heute Sonntag; der Verkehr ist viel dichter als sonst, und an der Raststätte Merseburger Straße werden sicher allerhand Sehleute parken – ähnlich wie sonntags am Hamburger Flughafen oder bei der Schiffsbegrüßung in Schulau. Er hat recht, sieht er, als er nach rechts blinkt und in die Raststätte einbiegt. Der Parkplatz ist jetzt schon gerammelt
voll; er findet gerade noch die letzte Lücke. Er bremst, taxiert die Abstände, sieht, daß es ohne Zurücksetzen geht, und fährt zwischen einen Pkw aus Darmstadt und einen uralten Opel aus Plauen. Er stellt den Motor ab, gähnt und sieht routinemäßig in den Rückspiegel… Und da wird er plötzlich von Kopf bis Fuß von kribbelnden, krabbelnden Ameisen befallen. Denn unmittelbar hinter ihm, so dicht, daß er höchstens noch einen einzigen Meter Fluchtweg hätte, stellt sich ein Wagen der Volkspolizei quer! Ruhe! sagt sich Trimmel und versucht erfolglos, die Ameisen abzuschütteln. Er steigt aus, schlägt die Tür zu, schließt ab und geht zwei Schritt nach vorn zwangsläufig auf den VopoWagen zu. Da sitzt nur einer drin, registriert er. Der steigt jetzt ebenfalls aus, offenbar ein Offizier. Der Mann macht nicht mal die Tür zu, sondern geht um seinen Wagen herum und auf Trimmel zu. »Ihren Ausweis, bitte!« Und Trimmel denkt: ich bin ein Arschloch! Ich hätte eben doch langsamer fahren sollen – auf die zehn Minuten wär’s auch nicht angekommen… Markier den Doofen! »Hier, bitte!« sagt er. Der Vopo nimmt den Reisepaß und blättert ihn durch. Paul Trimmel. Kein Beruf. Paß ausgestellt vor ein paar Tagen in Hamburg. »Ziemlich neu, was?« fragt er prompt. »Mein alter war abgelaufen!« lügt Trimmel. Auf den Laufzettel, das eigentliche Reisepapier, wirft der Vopo seltsamerweise nur einen kurzen Blick. Den Führerschein hingegen und die Zulassung für den Ford studiert er lange und sorgfältig. Trimmel denkt: Ich glaube, ich werde blind! Die ganze Zeit habe ich aufgepaßt, und ausgerechnet diesen Obermotz hier habe ich nicht gesehen. »Bin ich zu schnell gefahren?« fragt er
kleinlaut – in der irren Hoffnung, der Fall lasse sich mit Geld erledigen. Der Offizier sieht ihn flüchtig an; offenbar vergleicht er immer noch die Paßbilder in Trimmels Papieren mit der quadratschädligen Wirklichkeit. Er überlegt anscheinend, ob er Trimmel köpfen lassen oder nur verhaften soll. Plötzlich sieht er nach links. Mit ziemlichem Lärm biegt ein Schwertransporter der Nationalen Volksarmee in den Parkplatz ein, eskortiert von einer Art Feldjägerstreife. Er wirkt unversehens nervös. »Lassen Sie Ihren Wagen stehen und kommen Sie mit!« befiehlt der Vopo-Offizier überraschend. »Wieso denn?« fragt Trimmel tapfer. »Ich hab’ keine Flüchtlinge im Reserverad… gucken Sie doch selber nach, ob ich…« »Mitkommen!« wiederholt der Vopo scharf. »Ist doch Terror…« mault Trimmel frech. Aber es hilft ja nichts sie haben ihn nun mal erwischt. Er muß gehorchen, sosehr es ihm stinkt, von einem Jüngeren herumkommandiert zu werden. Also klettert er in den VopoWagen und wird davongefahren, einer äußerst ungewissen nächsten Zukunft entgegen. Der Vopo fährt irgendwelche Schleichwege, einen oder anderthalb Kilometer über eine Landstraße ohne Verkehr, allerdings immer in Richtung Leipzig Zentrum. Er sagt kein Wort und sieht stur nach vorn… schließlich bremst er scharf und biegt in einen asphaltierten Wirtschaftsweg ein, der an einem Wäldchen entlangführt. »Darf ich rauchen?« fragt Trimmel. Der Vopo antwortet abermals nicht und fährt weiter. Trimmel nimmt sich eine Zigarette und zündet sie an; er ist froh, daß er sich – für alle Fälle – vor Beginn der Expedition ein paar Marlboro-Päckchen gekauft hat. Inzwischen hat er eine
Heidenangst, von Minute zu Minute mehr. Und dann hält der Vopo an… er zieht die Handbremse derart fest an, als ob er hier überwintern möchte. »Aussteigen!« befiehlt er. Trimmel gehorcht, ob er’s will oder nicht. Er sieht, daß der Mensch ebenfalls aussteigt, und schaut sich um: weit und breit ist niemand zu sehen. »Was ist denn nun?« fragt er mit starkem Herzklopfen. »Wollen Sie mich umlegen?« Der Vopo steckt langsam die Hand in die Tasche, als wolle er tatsächlich eine Pistole herausholen. Aber auch er fördert nur Zigaretten und Streichhölzer zutage, zündet sich ein Stäbchen an, pustet den Rauch in Trimmels Richtung – und sieht ihn nachdenklich an. »Bitte… was soll das?« drängt Trimmel. Da endlich macht der Kerl den Mund auf. »Sie sind Polizeibeamter?« »Woher wissen Sie das denn?« fragt Trimmel, überrascht und erschrocken. Gelesen haben kann er’s nicht in dem neuen Paß… ist Eva Billsing wider Erwarten doch zur Vopo gelaufen, nachdem sie den Brief gefunden hatte? »Also, Sie geben es zu!« sagt der Vopo zufrieden. »Und was machen Sie hier?« »Weiß ich doch nicht!« murrt Trimmel. »Ich bin doch nicht freiwillig hier draußen…« »Was machen Sie auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik?« fragt er präziser. Trimmel zuckt die Schultern. »Ich komm von Westberlin… ist das verboten?« »Kommt drauf an«, sagt der Vopo, »jedenfalls hatten Sie gestern ebenso wie heute nur ein Transitvisum, sind aber von der vorgeschriebenen Transitstrecke abgewichen. Warum?« Ach so! denkt Trimmel. Er atmet auf… wenn’s dann doch nichts Schlimmeres ist, geht’s ja fast noch! »Mein Keilriemen
war kaputtgegangen«, sagt er, »ich hab’ mir zwangsläufig einen aus Leipzig holen müssen…« »Ach nee!« sagt der Vopo. »Seit wann gibt’s in Markkleeberg Keilriemen?« … acht, neun, aus! denkt Trimmel… also eben doch viel schlimmer, als zu befürchten war. »Okay«, sagt er, wenig überzeugend, »ich wollt dann bei der Gelegenheit auch noch jemand besuchen…« »Wen, bitte?« »Eine Frau Billsing…« »Richtig!« nickt der Vopo. »Warum?« »Ich wollte ihr Grüße bestellen…« sagt Trimmel lahm. Der Vopo nickt abermals. »In welcher Beziehung stehen Sie zu einem Herrn Landsberger?« »Den kenn’ ich nur flüchtig!« sagt Trimmel. »Warum berufen Sie sich dann trotzdem bei der erwähnten Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik auf diesen Herr Landsberger?« Aber da weiß Trimmel dann endgültig nicht mehr weiter. »Fragen Sie die Frau Billsing doch selber!« sagt er grob. »Sie haben eigentlich wenig Grund, frech zu sein!« droht der Vopo. »Ich bin nicht frech. Ich hab’ bloß…« »Angst haben Sie! Klar haben Sie Angst… aber warum schreiben Sie dann erst geheimnisvolle Briefe, wenn Sie sich hinterher in die Hose scheißen?« Irgendwas ist hier faul! denkt Trimmel plötzlich. Er hat die Zigarette bis zum Filter geraucht, wirft sie weg, fingert gleich eine neue heraus und zündet sie umständlich an, viel zu umständlich… »Los jetzt!« sagt der Vopo. »Was liegt an?« Zeit gewinnen! denkt Trimmel. Und dann wird’s ihm blitzartig klar: der Kerl hier hat ja überhaupt keine amtliche
Funktion! Der hätte ihn doch gleich auf die Wache schleppen müssen statt hier in diese gottverlassene Gegend… und warum, das vor allem, ist er eigentlich abgehauen, als die Armeeautos auf den Parkplatz kamen? »Kann es sein, daß Sie diese Frau Billsing privat kennen?« fragt er den Vopo, statt zu antworten. Der Mann wird puterrot; Trimmel hat eindeutig ins Schwarze getroffen. »Fragen tu ich… Sie haben hier überhaupt im Moment…« »Ja, Moment mal«, unterbricht Trimmel, »wenn das so aussieht… war doch nur ‘ne harmlose Frage! Kann das sein, daß Sie Frau Billsing sogar sehr gut kennen?« Inzwischen ist der Vopo fast lila. Und Trimmel reagiert ganz instinktiv… er provoziert ihn vorsätzlich. »Sagen Sie mal, Herr… Herr Kollege; wenn Sie Herrn Landsberger schon selber erwähnen… wie viele Beischläfer hat die Dame denn eigentlich?« Ohne jede Vorwarnung schlägt der Vopo zu. Trimmel fängt sich, nicht ganz unverdient, eine volle Rechte ein und geht hinterrücks zu Boden… er sieht Sterne. Viele bunte und grelle Sterne, die nur ganz langsam verblassen… er rappelt sich hoch und spuckt Blut nach diesem klassischen Kinnhaken. Der Vopo springt auf Trimmel zu, aber der ist jetzt gewarnt. Er läßt ihn ins Leere laufen, setzt nach und rammt ihm seinerseits im Sprung die Faust in die rechte Achselhöhle. Der Arm des Mannes hängt plötzlich herunter wie bei einer Marionette in der Pause; mit rechts kann er einstweilen bestimmt nicht mehr schießen, für den Fall, daß er die Absicht hätte. Aber der Vopo greift weiter mit der Faust an, mit der linken; er sucht Trimmels Leber. Er verfehlt sie, denn Trimmel macht einen Sidestep nach rechts. Und ab sofort hat Trimmel Oberwasser… der Gegner kommt zurück, hat schon wieder
Pech mit der viel zu wütenden Attacke, und zwanzig Sekunden später hat Trimmel mit zwei ausgesprochen unsauberen Schlägen gewonnen. Er könnte den anderen nach dem letzten Treffer noch auffangen – aber er läßt ihn fallen in sehr viel Modder und frühes Herbstlaub. Trimmel lehnt sich schwer atmend an den Vopo-Wagen. Mein Sündenkonto ist voll, denkt er, es langt für zehn Jahre Bautzen und mehr. Letztes von zahlreichen Delikten: versuchter Totschlag an einem Offizier der Deutschen Volkspolizei… Der Mann vor ihm am Boden macht seltsame Verrenkungen; es dauert seine Zeit, bis Trimmel erkennt, daß er mit links die Pistole zieht. Irgendein ziemlich großes Kaliber. »Also doch!« sagt Trimmel höhnisch. »Immer dasselbe. Wer nicht weiter weiß, ballert…« »Ich leg Sie um!« sagt der Vopo stöhnend. »Sag ich ja! Und dann wissen Sie immer noch nicht, warum ich hier bin!« »Is mir egal…« »Ach, hören Sie doch auf!« Mit einem Male läßt der Vopo die Waffe sinken. Er steht mühsam auf und steckt sie weg… es fällt ihm wegen seines lahmen Arms so schwer, daß Trimmel drauf und dran ist, ihm zu helfen. Aber Oberwasser hat er immer noch, und er nützt es schamlos aus… »Tut mir leid«, sagt er scheinheilig, »war ja auch von mir nicht die feine Art! Aber so, wie Sie reagiert haben… Sie hätten mich doch sofort verhaftet, wenn Sie da nicht irgendwo Ihre privaten Interessen hätten! Haben Sie da etwa Dreck am Stecken?« »Was für Dreck meinen Sie?« fragt der Vopo gefährlich leise. Er ist jetzt sehr blaß – es sieht sogar ganz so aus, als würde er gleich die nächste Schlägerei anfangen.
»Wollen Sie’s hier hören?« fragt Himmel zurück. »Ja. Sofort…« »Okay. Wie Sie wünschen. Frau Billsing hat ein Kind von diesem Herrn Landsberger; den scheinen Sie ja zu kennen… jedenfalls einem aus der Bundesrepublik. Das heißt, sie hatte ein Kind, denn inzwischen ist es ja tot… wissen Sie ja wahrscheinlich besser als ich. Aber nun hab’ ich Wind davon gekriegt… und nun will ich gern wissen, was da im einzelnen passiert ist. Das ist alles…« »Wieso haben Sie Wind gekriegt?« fragt der Vopo. »Is ja im Moment egal…« »Ich will’s sofort wissen!« »Aber ich sag’s nicht!« sagt Trimmel stur. »Ich bin doch nicht blöd und sag Ihnen alles, bevor ich nicht weiß, was Sie noch mit mir vorhaben!«
Der Mann hat ja recht! denkt Peter Klaus. Er hat unheimlich beschissen recht… ich hätte alles tun dürfen, bloß nicht schon wieder ausflippen! Allerdings hätte ich ihn ja wirklich nicht auf die Kommandantur mitnehmen können, und umlegen wäre schon gar nicht in Frage gekommen… solange ich nicht weiß, was dahintersteckt, muß ich ja glatt damit rechnen, daß er mich und Eva noch als Leiche in die Pfanne haut! »Ihr Ton paßt mir überhaupt nicht!« sagt Peter Klaus. »Wieso denn?« fragt Trimmel. »Irgendwo sind wir ja offenbar Kollegen. Kann man denn nicht mal mehr unter Kollegen offen reden?« Kalt wie eine Hundeschnauze, denkt Peter Klaus; der Mann ist ganz schön gerissen! »Sie müssen doch verrückt sein, wenn Sie hier zu ermitteln versuchen…« »Sicher!« sagt Trimmel. »Aber wenn ich nu schon mal hier bin…«
»Soll ich Ihnen vielleicht noch helfen?« höhnt Klaus. »Ja, und? Warum nicht?« Tatsächlich zum Verrücktwerden! Peter Klaus klopft sich mit der Linken den Dreck von der Uniform, und ebenfalls mit links tupft er sich das Blut von dem Kratzer am rechten Unterarm. »Also… noch mal. Wer hat Ihnen da was gesteckt?« »Tja, wissen Sie…« Der Weg steigt mit dem Wald leicht an; er führt drüben anscheinend wieder nach unten. Von der anderen Seite der kleinen Anhöhe nähert sich ein Motor; Trimmel hat’s als erster gehört. Dem Genagel nach ein Traktor… auch Peter wird unruhig. »Müssen wir hier eigentlich übernachten?« fragt der Mann aus dem Westen. »Müssen nicht…« sagt Peter Klaus unentschlossen. »Also?« Der Traktor wird oben sichtbar – er dreht zwar gleich ab nach links, fährt auf das freie Feld und stoppt, bleibt aber ärgerlicherweise in Sichtweite. »Also gut!« sagt Peter Klaus. Bevor sie einsteigen, nimmt Trimmel ihm behutsam ein paar Herbstlaubfragmente und die letzten Spinnweben von der Uniform. »Sie wissen ja übrigens, daß ich Trimmel heiße…« »Klaus!« sagt der Oberleutnant. »Peter Klaus!« Sie fahren zur Merseburger Straße und parken vor der ersten Gastwirtschaft. Dort bestellen sie Sprudel für den Offizier und Bier für den Zivilisten und verschwinden erst mal auf der Toilette… Peter Klaus wäscht sich die Hände, Trimmel spuckt geronnenes Blut ins Becken. In der Gaststube zupft der Wirt an seinen Hosenträgern; er sieht das ungewöhnliche Paar nachdenklich an. Und Trimmel plinkert Klaus unauffällig zu: wie auf ein Kommando nehmen sie ihre Gläser und trinken sie in einem Zug leer…
»Zahlen!« sagt Klaus. »Zwei zehn!« sagt der Wirt. Auch noch teuer… Aber Klaus legt ohne Protest ein paar Münzen hin, und sie gehen nach draußen. Sie steigen, jeder für sich, vorn in den Streifenwagen, als seien sie gemeinsam schon über hundert Etappen unterwegs. Als sie dann stadteinwärts fahren, hofft Klaus allerdings inständig, daß sie nicht in eine Routinekontrolle seiner Kollegen geraten. Schweigend fährt der Oberleutnant durch ein Gewirr kleinerer Straßen, vorbei an der Thomaskirche und weiter durch die Burgstraße. Am Burgplatz parkt er den Wagen und sieht Trimmel schräg von der Seite an. »Zicken machen Sie ja jetzt keine, oder?« Trimmel schüttelt den Kopf. Er geht brav neben dem Oberleutnant her durch die Anlagen, an den Denkmälern von Schiller, Geliert, Robert Koch und Robert Schumann vorbei. Ich und Zicken! denkt er… offenbar meint hier jeder DDR-Fritze, daß er mich davor warnen muß, Zicken zu machen. »Wir gehen ins Ringcafé!« sagt Peter Klaus. Trimmel grinst. Vorsichtig tastet er mit der Zungenspitze seine Zähne ab. »Menge Leute hier… stört Sie das nicht?« »Nein!« sagt Klaus kurz angebunden. Es ist in dem ständig dichter werdenden Gedränge immerhin das schiere Wunder, daß sie einen freien Tisch finden. Während sie auf die Bedienung warten, sagt Trimmel, wieder mal sehr beiläufig: »Muß ja eigentlich ‘n hübsches Mädchen sein, Ihre Frau Billsing…« Peter Klaus mustert ihn äußerst kritisch; er scheint zu überlegen, ob’s eine neue Frechheit ist. Überraschend aber holt er dann ein Foto aus der Uniformjacke – in Farbe, sechs mal neun Zentimeter, im Hintergrund Flamingos. Kurzes, rotes Haar. Eine lange, weiße Korallenkette über der seegrünen Bluse… sie betont die üppigen Brüste mit den sich
abzeichnenden Spitzen wie drapiert – der Schnappschuß wirkt beim zweiten Hinschauen wie eine Profiaufnahme. Ein ovales, unschuldiges, lachendes Gesicht mit halbgeöffneten, lüsternen Lippen… schräge, violett wirkende Augen. Irgendwie eine seltsame Mischung aus Raffael und Brigitte Bardot. »Haben Sie die Aufnahme gemacht?« »Nein«, sagt Peter Klaus leichthin, »hat Landsberger gemacht, vor einem Jahr…« »Ach! Hier in Leipzig?« »Ja. Aber was soll’s – es ist zufällig leider das beste Bild von ihr!« Trimmel nickt. Small talk mit Hintergrund, mitten in Feindesland, mit einem Offizier der Gegenseite… schon grotesk, dazu noch diese Zuckerpuppe! Immerhin kommt was dabei raus, denkt Trimmel, immerhin hat Landsberger mir weiszumachen versucht, er sei seit drei Jahren nicht mehr in der DDR gewesen – warum, wenn er angeblich nichts zu verbergen hat? »War es das letzte Mal, daß Landsberger hier war?« fragt Trimmel beiläufig. »Ich glaube, ja!« sagt Peter Klaus – vielleicht eine Spur zu rasch, vielleicht aber auch nicht; Trimmel ist sich diesmal nicht so ganz sicher. Endlich kommt die schwitzende Kellnerin und nimmt die Bestellung entgegen: wieder Bier – Radeberger – für Trimmel, aber diesmal Tee für den Oberleutnant. Und bis die Getränke kommen, hängen die beiden ihren Gedanken nach und sagen kein einziges Wort. Dann allerdings wird’s ernst – das gesamtdeutsche Gespräch im Leipziger Ringcafé, dicht an dicht geführt wegen der vielen Leute ringsum, läßt sich endgültig nicht mehr aufschieben.
Mittlerweile ist es ja neunzehn Tage her, daß Landsbergers unehelicher Sohn Christian Billsing an der Leipziger Autobahn tot aufgefunden wurde, erzählt Trimmel. »Am einundzwanzigsten August… aber was erzähl ich Ihnen, wissen Sie ja so gut wie ich…« »Erzählen Sie weiter!« sagt Klaus. Abwarten… immer der Reihe nach. Das Kind, Chris gerufen, war offenbar zwei Tage zuvor gestorben. Ein unmittelbarer Mordverdacht – die Leukämie bleibt erst mal außen vor – hat sich anscheinend nicht erhärten lassen; allerdings war das Kind seiner Mutter Eva Billsing geklaut beziehungsweise entführt worden. »Ich meine wirklich, daß ich mich da kurz fassen kann…« »Weiter!« »Weiter, weiter!« Trimmel wird ungeduldig, wenn nicht gar unwillig. Das Kind war vor vermutlich sechs Jahren von Landsberger gezeugt und vor fünf Jahren von Eva Billsing geboren worden, erzählt er. »Wissen Sie ja…« »Ja!« sagt Peter Klaus. »Geboren ist er im Mai!« »Ach ja?« sagt Trimmel überrascht. »Ja, im Mai«, bestätigt der Vopo. Trimmel fährt fort. Allmählich kann er’s auswendig: Erich Landsberger, seit einiger Zeit verwitwet, hat auch einen ehelichen Sohn, der gerade ein Jahr älter ist als der tote Chris. Und seltsamerweise ist Landsberger mit seinem ehelichen Sohn Bertram, genannt Bertie, ausgerechnet am Todestag seines unehelichen Sohnes Chris in oder bei Leipzig von Hamburg nach Frankfurt umgezogen; das kann natürlich Zufall sein, obgleich’s ein sehr ungewöhnlicher Zufall wäre, aber es kann ja auch mehr dahinterstecken. »Wie sehen Sie das?« »Ich glaube, daß es Zufall ist!« sagt Peter Klaus nach einer Weile.
»Na schön!« Dafür, daß es kein Zufall ist, meint Trimmel, spricht immerhin die Tatsache, daß Landsberger ihn hinters Licht zu führen versucht hat – daß er ihm einreden wollte, er sei ewig nicht mehr mit Eva Billsing zusammengetroffen, was ja nicht stimme, wie Klaus gerade selbst gesagt hat. »Aber das ist bisher alles. Den Rest soll mir eigentlich Ihre… Frau Billsing erzählen, hab’ ich mir gedacht…« Klaus schlürft seinen Tee; seine Augen sind die ganze Zeit hin- und hergewandert. Ich muß den Kerl ablenken! denkt er, ablenken und am besten ein für allemal abhängen… notfalls erzähle ich ihm ein paar Kleinigkeiten, die er noch nicht kennt – allerdings wirklich nur im Notfall… »Wie sehen Sie das?« fragt Trimmel nochmals. Der Oberleutnant setzt die Tasse ab und sieht Trimmel direkt an. »Vorhin, als ich auf Sie losgegangen bin… ich meine, ich konnte ja nicht ahnen, wie gut Sie noch im Training sind…« »Und?« »Na ja – Sie waren ja ziemlich unverschämt. Ist ja wirklich meine Sache, ob ich was mit Eva hab’ oder nicht, aber… Also, da ist noch was, da hakt’s manchmal bei mir aus. Mein Vater ist fünfundvierzig drei Tage vor Kriegsende von einem dienstverpflichteten Polizisten als Deserteur erschossen worden und deshalb… ich hab’ da einfach rot gesehen, verstehen Sie? Sie kommen doch aus dem Westen… solche Leute sitzen da doch immer noch bei der Polizei rum und reißen das Maul auf!« »Reden Sie keinen Stuß!« sagt Trimmel. »Vor zehn Jahren vielleicht, da gab’s vielleicht noch zwei Dutzend… aber heute, keinen einzigen! Die Leute sterben doch auch mal! Oder sie sind viel zu alt… die kriegen doch höchstens noch ihre Pension!« »Aber Ihr Staat…«
»… unser Staat ist genauso gerecht oder ungerecht wie euer Staat!« sagt Trimmel. »Wo gibt’s denn überhaupt noch so was wie Gerechtigkeit? Meiner Meinung nach ist unser Staat sogar noch ‘ne Spur besser als eurer, aber das spielt hier doch gar keine Rolle!« »Trotzdem…« »… trotzdem was? Wollen Sie jetzt auch noch sagen, ich könnte Ihren Vater umgelegt haben? Bloß, weil ich älter bin als Sie? Nee, Bester – ich bin’s nicht gewesen! Ich bin total sauber!« »Kann ja sein…« sagt Klaus widerwillig. »Nein – es ist so! Ich schwör’s Ihnen! Und nu vergessen Sie den Scheiß… Wollen Sie mich hinbringen zu Ihrer Eva? Oder soll ich wieder mit der Straßenbahn fahren?« Der verdammte Hund läßt nicht locker! denkt der VopoOffizier. Er versucht nicht ungeschickt, die Frage zu unterlaufen: »An Ihrer Geschichte fehlt immer noch was. Aber ich muß das wissen… woher wissen Sie das alles?« Trimmel grinst plötzlich über das ganze Gesicht. »Das glauben Sie mir nie…« »Wieso nicht?« »Weil ich’s erst mal selber nicht geglaubt hab’, als ich’s gesehen hab’…« »Ja, was denn?« »Ehrlich… ich weiß nicht…« »Mann«, sagt Klaus, »wollen Sie’s nun ausspucken oder wollen Sie’s nun runterschlucken?« Ein absurder Dialog – absurd wie die Sache selbst. »Ich hab’ ein Fernschreiben von euerm Generalstaatsanwalt gekriegt… Ehrenwort, ein ellenlanges Fernschreiben von euerm Generalstaatsanwalt. Ob uns ein Kind fehlt, wollt er wissen, zu einem Zeitpunkt natürlich, als der Junge noch nicht identifiziert war…«
»Das glauben Sie doch selber nicht!« sagt der Oberleutnant perplex. »Doch, doch!« sagt Trimmel. »Ich hätt’s mitbringen sollen, aber nun liegt’s in Hamburg…« Es führt zu nichts! sagt sich Klaus. Möglich ist letzten Endes alles im Arbeiter-und-Bauern-Staat… jedenfalls, beweisen kann er’s nicht, und das Gegenteil kann ich ihm genausowenig beweisen. »Sind Sie vielleicht auch noch eingeladen worden, hierher zu kommen?« fragt er grimmig. »Deutsch-deutsche Amtshilfe?« »Natürlich nicht!« sagt Trimmel friedlich. »Aber, wie gesagt, nachdem ich nun mal hier bin…« Klaus überlegt weiter. »Hinter wem sind Sie denn nun eigentlich her?« »Na – hinter wem schon?« fragt Trimmel. »Landsberger?« »Ja. Den können Sie doch sowieso nicht leiden, oder?« Peter Klaus nickt. »Stimmt. Aber es hätte ja sein können, daß Sie sich in die Idee verrannt hätten, Frau Billsing hätte was mit der Sache zu tun…« »Unsinn!« sagt Trimmel scheinheilig. »Also gut«, sagt der Oberleutnant, »dann erzähl ich Ihnen mal, was ich weiß…« Das Kind Chris ist an jenem 19. August vom Spielgelände an der Pleiße verschwunden, berichtet er. Eva Billsing war nicht weit davon in einem Café und macht sich seitdem grauenhafte Vorwürfe, gegen die er – Peter Klaus – vergeblich ankämpft. Er selbst hatte Dienst, wie meistens, und war weit vom Schuß… aber Eva hat natürlich noch am selben Tag Vermißtenanzeige erstattet, und die Kriminalabteilung der Volkspolizei hat sie zunächst mal beruhigt. »Hätten Ihre Leute ja bestimmt genauso gemacht…«
»Weiter!« drängt diesmal Trimmel. Im Moment ist ihm das alles viel zu weitschweifig. Aber Klaus hat erst mal die Ruhe weg. Eva ist ein paar Tage später von der Kriminalabteilung geholt worden und hat den Jungen im Gerichtsmedizinischen Institut identifizieren müssen; seitdem ist sie natürlich endgültig mit den Nerven fertig – eine schreckliche Geschichte. »Wenn Sie da jetzt auch noch herkommen und alles wieder aufwärmen, wird’s sicher noch schlimmer…« Trimmel paßt das nicht. »Ich weiß nicht so recht. Die paar Minuten…« Aber der Vopo ist hartnäckig. »Sehen Sie mal nur die Fakten an – vergessen Sie die Zufälle. Ihre Theorie ist ja auf den ersten Blick ganz bestechend… Landsberger schickt irgendwelche Typen nach Leipzig und läßt seinen Sohn Chris klauen, damit er zwei Kinder hat, oder er klaut ihn sogar selber… das ist doch das, was Sie sich da zusammengereimt haben, oder?« »Na ja… so etwa…« sagt Trimmel vage. »Aber so funktioniert das nicht, Herr Trimmel! So einfach bringen Sie ja nun doch kein Kind über unsere Staatsgrenze! Mir tut das ja fast schon wieder leid – unter Umständen hätte ich sicher nichts dagegen, wenn Landsberger krumme Sachen gemacht hätte, nur, wie gesagt…« »Die Fakten!« nickt Trimmel. »Aber was sind denn Ihre Fakten, abgesehen von Ihren Grenzkontrollen? Was sagt denn Ihre Kripo? Tote Kinder werden doch auch bei euch nicht bloß so einfach begraben und dann Schwamm drüber?« Da beugt Klaus sich vor, als sei er jetzt definitiv entschlossen, einem BRD-Funktionär ein paar DDRStaatsgeheimnisse zu verpfeifen. »Im Ansatz kann es natürlich erpresserischer Menschenraub sein… allerdings ist nie eine Lösegeldforderung bei Frau Billsing eingegangen. Das kann
vielleicht noch daran liegen, daß Chris zu schnell gestorben ist – aber im Grunde ist es ja viel wahrscheinlicher, daß an Lösegeld nie gedacht war. In dieser Hinsicht ist unsere Kriminalabteilung ja nicht weltfremd, Herr Trimmel… die wissen doch auch, daß man mit einem Haufen Lösegeld in unserer Währung kaum was anfangen kann! Und deswegen glauben sie eben doch in erster Linie an sexuelle Motive… Chris war ja ziemlich hübsch, und wahrscheinlich lag’s wirklich nur daran, daß er so krank war und schon wenige Stunden nach der Entführung gestorben ist, daß nichts passiert ist in sexueller Hinsicht…« Interessant! denkt Trimmel. Aber ich kenn’ die Welt – die Welt und leider auch ihre Schlechtigkeit. Triebverbrecher – denn davon ist hier ja die Rede – entführen nun mal keine Kinder, um sie Stunden später zu mißbrauchen! »Also, ich sag’s noch mal«, fährt Klaus fort, »der Fall Chris Billsing ist polizeilich eine reine DDR-Angelegenheit! Eva Billsing weiß da weniger als ich! Im übrigen will ich sie heiraten… und ich will eine intakte Frau heiraten und kein halbes Wrack! Sie ist von uns vernommen worden, und es ist völlig überflüssig, daß Sie sie sich nun auch noch vornehmen! Deshalb bring’ ich Sie jetzt zu Ihrem Wagen zurück!« Trimmel sieht, wie er der Kellnerin winkt – aber die guckt im Moment nicht hin. »Hat denn Ihre… Ihre Kriminalabteilung wenigstens eine Spurenakte Landsberger angelegt?« »Weiß ich nicht!« sagt Klaus kurz. Aber jetzt lügt er! denkt Trimmel. »Also nicht! Dann muß ich allerdings doch mal mit Frau Billsing selber sprechen… muß ja nicht lange sein…« »Nein!« sagt Klaus heftig. »Bringt doch nichts! Haltlose Theorien… schreiben Sie doch in Ihren Bericht, was Sie wollen!«
»Wieso Bericht?« sagt Trimmel erstaunt. »Ich schreib’ doch gar keinen Bericht… was hamse denn?« Peter Klaus ist so heftig aufgesprungen, daß er fast den Tisch umgeworfen hätte. Er faßt sich gerade noch… setzt sich wieder hin und lächelt den Leuten an den Nebentischen beruhigend zu. »Sagen Sie das noch mal«, sagt er zu Trimmel, »Sie wollen tatsächlich keinen…?« »Mann Gottes«, sagt Trimmel kopfschüttelnd, »Sie sagen doch selber, daß man das nicht höher spielen soll als unbedingt nötig! Was hätten Sie denn davon, wenn ich da acht Seiten vollschreibe, und dann geht auch noch automatisch die Kopie an Ihren Generalstaatsanwalt? Nix als Ärger für Sie – das können Sie sich doch an fünf Fingern abzählen! Also laß ich’s bleiben, sobald mir Frau Billsing selber gesagt hat, daß die Sache koscher ist… Sie ahnen ja gar nicht, was ich für ‘n dehnbares Gewissen hab!« »Puuhhh…« sagt Peter Klaus. Er sieht auf die Uhr… hinter seiner Stirn jagen sich die Gedanken. Es gibt offenbar keine andere Möglichkeit, überlegt er, ich muß mit diesem komischen Vogel tatsächlich zu Eva fahren… und hoffentlich – hoffentlich! – schlägt sie sich dann gut! Aber damit ist es dann ja ausgestanden; sein Versprechen dürfte Trimmel halten, schreiben wird er nichts, hat er ja schließlich freiwillig gesagt. Es sei denn… ach, Quatsch! So gut ist er ja nun auch wieder nicht! »Entschuldigen Sie mich mal ‘n Moment!« sagt er zu Trimmel. Er geht zum Telefon… Eva kann er zwar nicht anrufen, die muß eben warten, bis er kommt. Aber seine eigenen Leute im Hotel Stadt Leipzig – die werden sich inzwischen verdammt wundern, wo ihr Oberleutnant abgeblieben ist! Einen Augenblick überlegt er, ob er die Kommandantur anrufen und aus dringenden familiären Gründen um einen Tag Urlaub bitten soll. Am Ende jedoch
wählt er die Nummer der Dienststelle direkt – alles andere wäre viel zu riskant. »Hallo – Wachtmeister? Oberleutnant Klaus. Gibt’s etwas Besonderes? Hat jemand nach mir gefragt?« »Nee«, sagt der Wachtmeister, ein noch netterer als der von gestern nacht, »überhaupt geene besonderen Vorgommnisse heute!« »Ja, dann…« sagt er zögernd. Aber es muß heraus. »Ich hab’ noch in der Stadt zu tun. Und wenn was ist, ich bin… ihr könnt mich die nächste Zeit in Markkleeberg erreichen, RobertBlum-Straße vierzehn… haben Sie notiert? Gut, ich komm’ dann später noch mal rein…« »Nu, is doch glaar. Bis später, Genosse Glaus!« Nix mehr mit Oberleutnant… der Respekt läßt schlagartig nach, denkt er; er sieht förmlich, wie der junge Wachtmeister feixt. Aber das muß er in Kauf nehmen – er wird’s später schon wieder hinbiegen. Er geht zurück zum Tisch. »Wollen Sie noch ein Radeberger?« fragt er. »Danke, nein!« sagt Trimmel. Er begreift sofort, daß der Oberleutnant nachgegeben hat. »Also dann…« sagt Klaus. Alles andere als begeistert – aber er ist offenbar doch ein einsichtiger Mensch. Diesmal blickt die Kellnerin in ihre Richtung; Klaus wird sein Geld sofort los. »Fahren wir…« Und Trimmel steht schon. »Wollen Sie nicht erst Ihren Streifenwagen wegbringen? Vielleicht nehmen wir doch besser ein Taxi…« Der Kerl denkt wirklich an alles! sagt sich Klaus. Wirklich bis zuletzt. Eva kriegt dadurch zwar noch eine letzte Viertelstunde Galgenfrist, aber darauf wär’s nun eigentlich auch nicht mehr angekommen.
6
Eva Billsing war schon um sechs auf den Beinen. Sie ist eine Weile im Hemd in der Wohnung herumgelaufen, hat es dann aber ausgezogen und am offenen Fenster Gymnastik gemacht; nach der schlaflosen Nacht, neuerdings keine Seltenheit mehr bei ihr, hat sie sich wie zerschlagen gefühlt. Anschließend, ewig lange, hat sie heiß und kalt geduscht und sich nach längerer Überlegung mit einem duftenden Öl eingerieben, das – anders als die Strumpfhose – doch noch von Landsberger stammte. Inzwischen ist sie aufgetakelt wie zu einem Empfang beim Generalsekretär. Eine Windstoßfrisur wie aus der westdeutschen Fernsehreklame… Leipzigs Friseure hatten sich nach einer Durststrecke der Mittelmäßigkeit letztlich doch wieder darauf besonnen, was sie ihrem Metropolenpublikum schuldig waren. Und seit neun Uhr wandert sie zwischen der Couch und dem Wandspiegel hin und her… die Zigaretten sind gleich alle, und sie redet es sich ständig ein: Ruhig – ich bin ganz ruhig! Der helle Wahnsinn… inzwischen geht’s tatsächlich schon auf zwölf. Peter ist seit drei Stunden überfällig, und sogar dieser geheimnisvolle Mensch hat Verspätung… Trimmel! Denk bloß nicht an Trimmel! sagt sich Eva verzweifelt – vielleicht kommt er ja gar nicht mehr! Und vor allem, bleib wirklich ruhig… ist ja nicht das erste Mal, daß ich glaube, es bricht alles zusammen, und am Ende ist dann doch alles stehen geblieben!
Aber diesmal ist es schlimmer. Schlimmer als je zuvor. Chris! Ihr kleiner Chris! Sein Bild hängt noch in seinem Kinderzimmer, in dem Peter sich jetzt ein Arbeitszimmer einrichten will. Chris, Peter, Erich Landsberger… es ist zum Verrücktwerden, zum Heulen… alles ist zum Heulen. Und seit der Brief von diesem Trimmel gekommen ist, hat sie in diesen schrecklichen Tagen und Wochen zum erstenmal auch noch richtige Angst. Nie im Leben mach’ ich so was noch mal! sagt sich Eva Billsing! Nie wieder so was Schreckliches und Gefährliches, das so weh tut! Eva Billsing ist in Königsberg zur Welt gekommen – allein von diesem zufälligen geographischen Punkt aus lassen sich manche Ungereimtheiten ihres Wesens erklären. Etwa ihr Vaterkomplex spezifischer Art, eine Art Mangelkomplex… sicher hat sie von daher ein deutliches Faible für ältere Herren, aber auch eine gewisse Bindungslosigkeit, die ihr dann wiederum oft schmerzhaft bewußt wird. Gut vier Jahre nach Evas Geburt begann die große Flucht aus Ostpreußen, und davon ist Eva nur eine einzige Erinnerung geblieben: sie hat entsetzlich gefroren. Ihren Vater hat Eva nie bewußt gesehen, und ihre Reaktion darauf war von Anfang an unecht und der schiere Trotz: bis zu ihrem neunundzwanzigsten Lebensjahr hat sie nie einsehen wollen, daß zu einer normalen, einer intakten Familie eigentlich doch ein Vater gehört. Es war ihr, so hatte es den Anschein, regelrecht schnuppe, als ihre Mutter erzählte, es hätte ja auch mal einen Vater gegeben, und sie – die Mutter – sei ordnungsgemäß mit ihm verheiratet gewesen, bis er im Weichselbogen den sogenannten Heldentod fand… Später, als Eva erwachsen wurde, hat die Mutter ihr auch erzählt, wie sie gleich nach Kriegsende, schon in Mitteldeutschland, beim Einmarsch der Russen in das von den
Amerikanern preisgegebene Gebiet von zwei Kalmücken vergewaltigt worden sei, zum Glück ohne Folgen und zum Glück auch nicht von mehr als zwei. Eva hat dabei zusehen müssen, sagte die Mutter – aber das hat Eva immer bestritten. Hätte sich ihr eigenes Verhältnis zur Sexualität sonst derart normal entwickeln können, wie es der Fall gewesen ist? Eva ist nie vergewaltigt worden; sie hat ihren ersten sogenannten Verkehr sehr freiwillig mit siebzehn in einem Jugendlager gehabt, mit einem netten Jungen von der FDJ und letztlich mehr auf ihr Betreiben hin als auf seins. Dann gab es, rund gerechnet, jedes Jahr einen anderen Jungen, auch in dem Jahr, in dem Evas Mutter starb und sie allein in einer schäbigen Wohnung in Möckern zurückließ… all diese Liebhaber aber waren maximal fünfundzwanzig, und in Evas Augen waren sie Hampelmänner und Vorturner. Irgendwas Großes und Geheimnisvolles – davon war sie felsenfest überzeugt – wartete noch auf sie… Landsberger zum Beispiel. Erich Landsberger… er vermittelte Eva Billsing ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter als erster die Erfahrung, daß es auch mit einem Mann um die Vierzig sehr hübsch sein konnte. Und schon beim dritten Zusammensein beglückte er sie wie nie zuvor: das also war’s, sagte sie sich – sie hatte recht gehabt, das wahre Glück brauchte seine Zeit! Sie war damals Sekretärin in einem volkseigenen Buchverlag. Ein Angebot, sich als Lektorin ausbilden zu lassen, hatte sie ungenutzt verstreichen lassen – deshalb war und blieb sie eine bessere Stenotypistin, letztlich nur durch ihre angeborene Trägheit. Den politischen Parolen und Manifesten ihres Staates stand sie relativ gleichgültig gegenüber, und auf den Schulungsabenden träumte sie bestimmt nicht von Ulbricht oder später Erich Honecker. Und als Erich Landsberger ihr den wahren Luxus in der Liebe zeigte, fand sie
überhaupt nichts dabei, daß er aus der BRD kam… Oder doch: er hatte besseres Geld – und er gab es ihr reichlich und gern. Vor allem ja auch deshalb, weil sie sehr schnell schwanger war von ihm – und weil sie von Anfang an nie auf die Idee kam, das Kind abtreiben zu lassen… Warum auch? dachte sie manchmal. Wenn’s politisch möglich gewesen wäre, hätte sie Landsberger wahrscheinlich geheiratet, abgesehen davon, daß er noch verheiratet war; diese Frage jedenfalls stellte sich so und so nicht. Immerhin ist es in der DDR relativ problemlos, als alleinstehende Frau ein Kind zu haben – und außerdem kultivierte Eva auch da wieder eine Art Trotzreaktion. Man machte ihr gelegentlich schwere Vorhaltungen wegen ihres BRD-Umgangs – und sie kam dann, quasi im Gegenzug – mehr und mehr zu der Überzeugung, daß junge männliche DDR-Bürger durchaus mal Nachhilfestunden im Westen nehmen könnten, im Geldverdienen wie in der Liebe. Aber eines Tages kam Peter. Der damalige Leutnant Peter Klaus. Erstens war damit politisch alles im rechten Lot, zweitens war Peter auch schon Mitte dreißig und dazu ein Naturtalent. Chris war sehr früh ins Jugendheim gekommen, bereits in die Baby-Abteilung, weil seine Mutter ja wieder arbeiten mußte… abends krähte er zwar gelegentlich in der neuen Wohnung herum, die Eva inzwischen hier in Markkleeberg bekommen hatte, in seinem winzigen Zimmer – aber anfangs bemühte Peter sich wenigstens, nett zu ihm zu sein, so schwer es ihm offenbar fiel. Das wurde dann allerdings bald kritischer: auf der einen Seite war er ein immer besserer Lover, Nacht für Nacht – von daher hätten Eva und Peter wirklich das ideale Paar sein können. Andererseits jedoch kam Peter mit Chris im Laufe der Zeit zusehends weniger klar, weil er einen im Laufe der Zeit fast schon manischen Haß gegen seinen Vater Landsberger entwickelte.
Er pöbelte und brüllte, ungefähr seit Weihnachten vor einem Jahr: Der Herr Landsberger! Immer wieder Herr Landsberger! Das Kapitalistenschwein. Dieser Schnellficker…! Eva hörte die meiste Zeit einfach weg. Und sie wußte, warum sie Peter vorschwindelte, es falle ihr zu schwer, Erich Landsberger ein für allemal die Wahrheit zu sagen: ganz so »vergessen«, wie sie behauptete, war die Geschichte nämlich nicht – zweimal im Jahr kam es zwischen ihr und Landsberger immer noch zu durchaus vertrauten Begegnungen! Ein absolut unausgegorenes Problem also zwischen ihr und Peter. Landsbergers Pakete nahm Eva so selbstverständlich an wie eh und je. Und dann tauchte plötzlich die Idee auf, wie man alles besser machen könnte – sie führte schnell zu einer Hektik, bei der am Ende kaum noch einer klar denken konnte… Dann war’s passiert – unwiderruflich. Alles sollte besser werden, und alles ist schlimmer geworden! dachte Eva seitdem immer häufiger. Vor allem abends und nachts – sie wurde depressiver.
Es klingelt. Einmal lang, zweimal kurz… Peter! Aber er hat doch einen Schlüssel! denkt Eva. Sie geht hin und öffnet. »Du hast doch…« Dann erst sieht sie, daß Peter nicht allein ist. Er kommt mit einem fremden Mann in die Diele… ein Westdeutscher, erkennt sie auf den ersten Blick… Ist das Trimmel? Doch noch Trimmel? Ihr zittern die Beine. »Entschuldigen Sie mich einen Moment!« Sie geht ins Bad, bevor einer was sagen kann… ogottogott! denkt sie. Der und Landsberger! Der und Landsberger kennen? So was Unsympathisches?
Erst drei Minuten später kommt sie mit frischem Lippenstift und nachgetuschten Wimpern in den Wohnraum – sie steht allerdings immer noch total neben sich. Beim Reinkommen hat sie mitgekriegt, daß sich Peter und dieser Fremde über die Karrieremöglichkeiten bei der Deutschen Volkspolizei unterhalten haben… was soll das nun wieder? fragt sie sich, neuerlich erschreckt. »Wo bleibst du denn?« sagt Peter, ungeduldig und fast schon vorwurfsvoll. »Vielleicht darf ich dir dann doch mal Herrn Trimmel vorstellen… Herr Trimmel ist tatsächlich ein Bekannter von Herrn Landsberger…« »Angenehm!« sagt Eva. Also tatsächlich! Sie weiß nicht, ob sie dem Mann die Hand geben soll – schließlich läßt sie’s bleiben. Sie zieht sich einen Stuhl heran; Trimmel ist aufgestanden. »Bitte, behalten Sie Platz!« »Danke!« sagt Trimmel. Er sinkt zurück in den erstaunlich üppigen Sessel. »Herr Klaus war ja so liebenswürdig, mich an der Autobahn abzuholen…« Ich begreife gar nichts mehr! denkt Eva. »Wie geht’s denn Herrn Landsberger?« fragt sie tapfer. »Wenn Sie ihn sehen, grüßen Sie ihn von mir…« »Mach ich gern!« sagt Trimmel jovial. Peter Klaus aber platzt inzwischen fast vor Nervosität. »Wollen wir hier vielleicht Konversation machen?« »Nein, nein!« sagt Eva rasch. Und fragt Trimmel gehorsam und direkt: »Sie sind also derjenige, der mir diesen Brief geschrieben hat?« »Ja!« sagt Trimmel. Der Redseligste ist er bisher auch nicht. Er sieht sich im Zimmer um, und sein Blick bleibt sekundenlang – viel zu lange – auf der hübschen Aktzeichnung über der Couch hängen, wie auf einer alten Bekannten. Mit wenigen Rötelstrichen eine schlanke junge Frau mit einem Busen mindestens wie Eva…
Guck doch weg! denkt Eva Billsing enerviert – ich bin’s nicht! »Also, nun reicht’s mir!« sagt Peter Klaus schließlich entschlossen. »Paß mal auf, Eva… Herr Trimmel ist sozusagen ein Kollege von mir, und er will sich mal ganz privat mit dir unterhalten…« Deshalb also das Gespräch vorhin über die Polizei! »Aus dem… aus dem Westen?« fragt Eva, inzwischen am Rand einer Panik. »Ja. Aus Hamburg!« sagt Peter. »Soweit er mir erzählt hat, ist Herr Trimmel von Herrn Landsberger gebeten worden, privat Näheres über den… den tragischen Tod von Chris in Erfahrung zu bringen. Unangenehm für dich, ich weiß… aber vielleicht sollte man doch berücksichtigen, daß Herr Landsberger als… als leiblicher Vater von Chris ein gewisses Anrecht darauf hat, ein paar Einzelheiten…« Eva reißt sich mühsam zusammen. »Sicher. Es fällt mir natürlich sehr schwer, darüber zu sprechen… aber wenn du meinst…« »Er will’s kurz machen«, sagt Peter schnell, »nur deshalb habe ich mich ja bereit erklärt, ihn mitzubringen! Jedenfalls – soweit ich es als… als Polizeibeamter verantworten kann, sollten wir ihm natürlich alles erzählen, was in diesem Zusammenhang…« Er hört mitten im Satz auf und sieht Eva bedeutungsvoll an. Trimmel sieht’s natürlich auch. Aber Eva hat begriffen, was er ihr sagen wollte. Soweit ich es verantworten kann, hat er gesagt… natürlich kann er rein gar nichts verantworten, heißt das mit anderen Worten – und deshalb soll sie zwar möglichst viel sagen, aber um Himmels willen nichts aussagen! Aussagen? Wahnsinn! Ich als Freundin von Peter soll aussagen! denkt Eva. Der Mann ist doch nie im Leben offiziell
hier… wieso ist er überhaupt hier? Warum hat Peter ihn nicht verhaftet, notfalls unter irgendwelchen Vorwänden? Aber Trimmel lächelt, sieht sie; sie kann sich kaum vorstellen, daß ein Mann höflicher lächeln kann. »Vielleicht sollte ich eins richtigstellen«, sagt Trimmel, und plötzlich redet er wie ein Buch, »ich handle nicht ausdrücklich im Namen von Herrn Landsberger, sondern es ist eigentlich eher ein Auftrag, den ich mir, natürlich nach Rücksprache mit ihm, selbst gestellt habe. Denn, sehen Sie« – sein Lächeln verschwindet, Kummerfalten erscheinen auf seiner Stirn –, »die Teilung unseres Volkes in zwei Staaten bringt so manches mit sich…« Er hört gar nicht mehr auf! denkt Eva – auf einmal ein schrecklicher Schwätzer! »… da ist beispielsweise ein Vater in der Bundesrepublik, der nur auf Umwegen erfährt, daß sein leiblicher, wenn auch nicht ehelicher Sohn ums Leben gekommen ist. Und da sind Sie, Frau Billsing, eine Mutter in Leipzig, hier in Markkleeberg, die vielleicht den Vater drüben wissen lassen möchte, wie es geschehen ist und wie es geschehen konnte…« Er sieht nicht Eva an, sondern Klaus: das Gesicht des Genossen Oberleutnant hat sich sofort verfinstert. »Ich möchte das auch nicht andeutungsweise politisch gewertet wissen!« sagt Trimmel schnell. »Gewisse Tatsachen sollten wir allerdings als gegeben schnell hinnehmen, Herr Klaus! Und da wir hier nun trotz aller Umwege zusammensitzen, fang ich am besten doch mal gleich an… wie, Frau Billsing, haben Sie Herrn Landsberger kennengelernt?« Der Landsberger bringt mich noch ins Grab! denkt Eva Billsing. Diesen Trimmel hat er doch todsicher nur geschickt, damit er gut Wetter machen soll, weil er ja vielleicht ahnt, daß er out ist… na schön. Dann wird ihm Trimmel eben auch
beibringen müssen, daß ich was Neues habe. Irgendwann muß er ja mal Bescheid wissen – und einsehen muß er’s eigentlich auch. Was denkt er sich eigentlich all die Jahre – kommt zweimal im Jahr, wenn’s hoch kommt, und die übrige Zeit sitze ich zu Hause und warte auf ihn? Bloß wegen… wegen Chris? Müßte er sich doch längst selber sagen! Sie hört Trimmels Stimme wie von fern. »Frau Billsing, bitte… wie haben Sie Herrn Landsberger kennengelernt, hatte ich gefragt…?« Sie sieht ihn ausdruckslos an. »Es war… es war damals auf der Frühjahrsmesse. Ich bin… ich arbeitete damals als Verlagsangestellte und mußte am Stand eines Papierherstellers aushelfen. Erich kam gleich am allerersten Tag… kam drei Tage nacheinander an unseren Stand… er sei Chemiker, sagte er, und er würde sich derzeit mit Papierverbesserungen beschäftigen. Ziemlich hochgestochenes Zeug… na ja, später hat er mir ja auch gesagt, das sei alles Quatsch gewesen, bloß ein Vorwand, um mich kennenzulernen!« Sie sieht Peter an, als wolle sie sich vergewissern, daß es so richtig ist. Aber Peter verzieht keine Miene – mach mal so weiter! meint er wahrscheinlich… »Am dritten Tag fragte mich Herr Landsberger, ob ich am Abend mit ihm ausgehen würde. Da ich ihn ganz sympathisch fand, sagte ich ja… er hatte einen Mercedes und holte mich abends in Möckern ab, an der Straßenecke…« »Möckern ist ein Stadtteil?« will Trimmel wissen. »Ja. Im Norden…« »Wieso hatten sie dir eigentlich die Wohnung gelassen?« fragt Peter. »Ja… wieso nicht?« fragt Eva zurück. »Meine Mutter war gestorben, und zufällig krähte kein Hahn danach, daß ich dann zwei Zimmer für mich allein hatte. War sowieso eine ziemlich trübe Gegend…«
»Sie hatten damals keinen Freund?« erkundigte sich Trimmel. »Nein – ich war allein. Ich fuhr also mit Erich in eins von diesen Messerestaurants, und hinterher bat er mich, noch mit in ein Variete zu gehen. Irgendwie war er an die Karten gekommen – er arbeitete irgendwie mit der VEB-Chemie in Karl-Marx-Stadt und hatte sehr gute Beziehungen. Danach waren wir in Auerbachs Keller, und dort hat er mir gesagt, daß er sich… also, daß er sich in mich verliebt hat. Ich habe gelacht, aber es hat mir« – Seitenblick zu Peter, der ein Pokergesicht macht –, »doch geschmeichelt. Hinterher brachte er mich nach Hause und… und küßte mir die Hand! Ich dachte, das gibt’s doch gar nicht…« Peter steht unvermittelt auf. Er geht zu einem Schränkchen und holt eine Flasche mit einem grell grünroten Etikett. »Bulgarischer Cognac«, sagt er, »trinken Sie… trinkt ihr einen mit?« Eva lehnt zunächst ab, aber Trimmel sagt ja. »Erzähl ruhig weiter!« sagt Peter, während er mit der Flasche und den Gläsern hantiert. »Gott ja«, sagt Eva, »ich geb’s ja zu, ich fand den Mann ganz schick… was soll ich sagen – also, vielleicht trink ich doch einen!«
Peter schenkt ein; sie trinken einander stumm zu und sehen allesamt ziemlich blaß aus um die Nase – Trimmel allerdings am wenigsten. »Also, irgendwie stinkt mir das alles!« sagt Eva unvermittelt. »Peter kennt meine Vergangenheit, und harmlos ist sie außerdem. Ich hätte nie gedacht, daß mir da noch mal was zum Vorwurf gemacht wird.« »Macht ja niemand!« sagt Peter rasch.
»Aber ich bitte Sie…« sagt Trimmel. »Doch!« sagt Eva bitter. Aber das wirkt jetzt gespielt und hört sich ausgesprochen unecht an. Trimmel trinkt einen zweiten Schluck Cognac und fühlt, wie er im Hals brennt… das süße Zeug sollte man nicht mal Weinbrand nennen dürfen! denkt er. Evas Haar ist jetzt länger, registriert er. Sogar viel länger als auf dem Foto, das Landsberger gemacht hat und das Peter Klaus in der Tasche trägt. Das lange Haar steht ihr aber noch besser… sie ist eigentlich die schönste Frau, die ich kenne. »Eigentlich frage ich mich ja auch, wieso diese alten Geschichten zum Thema gehören!« sagt der Oberleutnant Peter Klaus. Trimmel sieht ihn leicht erstaunt an. »Ja, wieso denn nicht? Zu mysteriösen Todesfällen gehört leider immer die Vorgeschichte, Herr Klaus…« »Ist doch Scheiße!« sagt Klaus. Aber Eva redet plötzlich weiter – sogar wieder ziemlich flüssig. »Erich Landsberger war nach unserem ersten Abend noch vier Tage in Leipzig. Irgendwann hab’ ich in seinem Hotel mit ihm geschlafen, und dabei ist es dann gleich… ich meine, ich wurde schwanger. Sonst noch was?« »Wann hat es Landsberger erfahren?« fragt Trimmel. Sie überlegt. »Genau weiß ich’s nicht mehr… jedenfalls ziemlich schnell. Er hat dann sofort geschrieben und schien sich zu freuen…« »Sie wußten doch, daß er verheiratet war?« »Natürlich das hat er mir gleich am ersten Abend erzählt. Hat mir sogar Fotos von seiner Frau gezeigt… eine Hamburgerin, glaub ich…« »Richtig. Er selbst ist ja hier aus Sachsen, nicht?« »Ja. Obgleich man’s ihm nie anhören konnte…«
Trimmel nickt. »Sie wissen ja sicher auch, daß Landsberger noch einen ehelichen Sohn hat… Bertie?« »Mein Gott, ja!« sagt Eva aggressiv. »Landsberger hat mir wirklich nie was vorgemacht! Gehen Sie doch einfach mal davon aus, daß es Menschen gibt, die ehrlich zueinander sind! Oder verlernt man das als Polizist?« Trimmel bleibt ganz ruhig. »Als ich Landsberger neulich besucht habe«, sagt er im Plauderton, »fiel mir auf, daß der Junge ziemlich stark sächselt… man konnte wirklich meinen, er sei das Kind vom Oberbürgermeister von Leipzig! Nun hatte ich ja bisher immer gedacht, daß Sachsen im allgemeinen ziemlich… na ja, nicht gerade sehr glücklich sind über ihren Dialekt – Sie beide sächseln ja auch nicht. Aber im Fall Landsberger… der muß doch wohl sehr stolz sein auf seine Abstammung. Er selbst sächselt zwar nicht, aber Bertie hat er es offenbar beigebracht!« Niemand antwortet. Aber Evas Blick geht wieder hilfesuchend zu Peter. Und Peter starrt Trimmel an – und einzig und allein Trimmel macht ein entspanntes Gesicht. »Es war überhaupt erstaunlich, was ich bei Landsberger alles erfahren habe«, fährt er fort, »seine Frau beispielsweise ist ja gestorben, als ihr Sohn vier Jahre alt war… wissen Sie eigentlich, woran?« »Ja, sie hatte Leukämie«, sagt Eva. Sie endlich bringt das Stichwort – wie vorgesehen. »Die Ärzte haben es gemerkt, als sie… als Bertie unterwegs war!« »Richtig! Und Bertie hat ja leider ebenfalls Leukämie; ich weiß nicht, ob Sie das auch wissen. Aber neuerdings geht’s ihm besser… sein Vater ist extra mit ihm von Hamburg nach Frankfurt verzogen, weil da das Klima besser sein soll… ist zwar komisch in einer Art, weil man allgemein sagt, Frankfurt am Main sei ein einziges Drecknest, aber in der Medizin passieren ja Zeichen und Wunder! Allerdings möchte man’s
gar nicht glauben, daß sich ein Kind von einer so schweren, heimtückischen Krankheit einfach durch einen Klimawechsel erholt…« »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« fragt der Oberleutnant Peter Klaus lauernd. »Ich? Ach so, ja… die Leukämie! Landsbergers Frau hatte Leukämie, wie ich jetzt höre. Sein Sohn Bertie genauso, dann auch noch Chris, darüber haben wir noch gar nicht gesprochen… da fragt man sich doch wirklich, ob das nicht alles mit Landsberger selbst zu tun hat – oder?« »Weiß ich nicht!« sagt Eva mit abgewandtem Gesicht. »Nun ja – hätte ja sein können. Nachdem Sie selbst als… als Mutter betroffen sind… hätte ja durchaus sein können, daß Sie mal mit ihm darüber geredet haben…« »Nein!« sagt sie schrill. »Hören Sie damit auf!« Trimmel nickt, ausgesprochen verständnisvoll. Der reine Eiertanz! denkt er. »Wann haben Sie überhaupt zum letztenmal mit Herrn Landsberger geredet?« »Im Frühjahr!« sagt sie, wieder ruhiger. »In diesem Frühjahr?« fragt Trimmel überrascht. »Ja. Wie immer bei der Messe. Wie… wie früher, meine ich…« Trimmel sieht Klaus an – er denkt abermals an das Bild in dessen Brieftasche, das Foto, das Landsberger gemacht hat, angeblich im letzten Jahr. Aber vor allem daran denkt Trimmel: daß Landsberger neulich behauptet hat, er sei zuletzt im Spätsommer vor drei Jahren in der DDR gewesen – und daß seine Lüge jetzt immer größer wird. »Hat Herr Landsberger in diesem Frühjahr auch Chris gesehen?« »Ja. Chris hing sehr an ihm. Er auch an Chris…« »Ja, ja der stolze Vater und so… Aber seitdem war Funkstille?«
»Funkstille?« fragt Eva verständnislos. »Ach so… ja, seitdem war nichts mehr. Abgesehen von seinen Paketen – er hat Chris und mir ja immer noch Pakete geschickt!« »Wann ist das letzte gekommen?« »Etwa… warten Sie mal… also, das mit Chris und der Entführung, das war am neunzehnten August; am siebenundzwanzigsten August hat mich die Volkspolizei geholt, ich mußte Chris identifizieren. Heute ist der achte September… ja, jetzt weiß ich’s, das letzte Paket ist zwei Tage vor der Identifizierung gekommen – genau am fünfundzwanzigsten. Am fünfundzwanzigsten August!« Auch Trimmel rechnet: Bei einer normalen Laufzeit von sechs Tagen muß das Paket doch tatsächlich ungefähr am Todestag von Chris aufgegeben worden sein! Ziemlich merkwürdig – mehr als merkwürdig. »Woher kam das Paket?« »Aus Frankfurt«, sagt Eva, »es lag auch ein Brief drin… daher weiß ich ja auch, daß Landsberger umgezogen ist…« Trimmel rechnet weiter. Selbst dann, wenn das Paket einen oder zwei Tage nach dem 19. August aufgegeben worden sein sollte, ist’s und bleibt’s komisch. Eine Geschenksendung an einen Jungen, der gerade stirbt oder gestorben ist… die Todesnachricht als solche hat Landsberger allerdings ja angeblich erst am 31. August erhalten, angeblich erst von ihm, von Trimmel. »Was war in dem Paket?« »Hauptsächlich Sachen für Chris«, sagt Eva, »ich hab’ sie noch hier… kann sie ja mal holen…« »Ach, lassen Sie nur… hat Herr Landsberger früher auch mal Schuhe für Chris geschickt?« »Ja, öfter!« sagt sie. »Auch Pullover, eine Lederhose, diese Fliegen – Krawatten für Kinder… immer Schokolade, obgleich die immer auslief…«
Peter Klaus wirft gerade jetzt sein Glas um: es war Gott sei Dank leer. Er schenkt sich neu ein zum dritten- oder viertenmal aus der Flasche mit dem falschen, süßen Cognac. Und noch einmal wendet sich Trimmel an Eva. »Erzählen Sie mir bitte noch, wie das damals mit Chris im einzelnen passiert ist – diese Entführung…« »Nein!« sagt Peter Klaus entschlossen. »Das geht zu weit, Herr Trimmel!« »Ich kann ja gezielt fragen…« schlägt Trimmel vor. »Nein!« wiederholt Klaus stur. »Können Sie sich das nicht selber ausmalen, wie die Mutter hier in die Leichenkammer geführt wird und zusammenbricht?« »Herr Klaus – bitte!« sagt Trimmel eindringlich. »Mir kommt’s wirklich nur auf ein paar ganz allgemeine Eindrücke an… beispielsweise auf diesem Spielgelände, da, wo es passiert ist… gibt’s da Spielgeräte? Oder soll ich selber hingehen und nachgucken?« »Es gibt Rutschen und einen Kletterturm«, sagt Eva, »Balancierstangen und Schaukeln und Wippen. Die Kinder sind da übrigens immer mal allein und ohne Aufsicht, wenn Sie das meinen…« »Ja, ja, darauf wollte ich hinaus!« bestätigte Trimmel. »Wie weit waren Sie etwa von Ihrem Sohn entfernt, als Sie ihn zuletzt sahen?« »Zweihundert, dreihundert Meter vielleicht…« »Also jedenfalls außer Sicht?« Sie nickt. »Klar«, sagt Trimmel, »muß ja auch so sein! Sonst hätten Sie den Entführer ja auch beschreiben können, logisch… Tja, Frau Billsing, im Grunde war’s das schon. Ich glaube, ich weiß jetzt, wo der Hund begraben… ich meine, wo der Hase im Pfeffer liegt!«
Trimmel steht auf. Und Peter Klaus bleibt vor Überraschung der Mund offen stehen. »Ich will Sie dann auch nicht länger aufhalten«, sagt Trimmel, »vielleicht ist Herr Klaus so nett und begleitet mich wieder zur Autobahn…« »Setzen Sie sich!« sagt Peter Klaus grimmig. »Ja – wieso?« »Setzen Sie sich! Wird’s bald?« Also setzt er sich wieder hin. Und begreift sofort, daß Klaus ihn durchschaut hat… seine klammheimliche Freude verwandelt sich in Sekundenschnelle in Angst und Beklommenheit. Bis hierher ist alles nach Plan gelaufen! denkt Trimmel. Aber was mir jetzt blüht, weiß nur noch der Henker beziehungsweise der Genosse Oberleutnant. Ich hätte erstens nicht drei von diesen Juppies trinken dürfen! denkt Peter Klaus. Zweitens hätte ich netter zu Eva sein können, drittens sehr viel weniger nett zu Trimmel sein müssen. Aber jetzt haben wir den Salat. Jetzt gibt’s nur noch die Flucht nach vorn. Trimmels letzte Frage hat ihm die Augen geöffnet. Trimmel hat nicht eine Minute lang den Verdacht gehabt, Landsberger habe versucht, sein uneheliches Kind zu klauen, und es sei ihm dabei gestorben… der Mann war von Anfang an auf dem richtigen Dampfer! Der Mann ist super – ich hätt’s merken müssen. Schon vor Rückmarsdorf, als er mich eingemacht hat. »Geh mal raus!« sagt Peter Klaus zu Eva Billsing. »Ich muß mal mit Herr Trimmel unter vier Augen reden… ist besser so, glaub’s mir…« Sie geht ins Schlafzimmer – ungern, aber sie kennt diesen Ton und weiß, wann sie gehorchen muß. Peter Klaus steht auf und sieht nach, ob die Tür richtig zu ist… dann wird er dienstlich. Wie ein mieser, arroganter Uniformierter gleich
hinter dem Todesstreifen – die Karikatur eines Vopos. Er schnarrt Trimmel an: »Was haben Sie jetzt vor?« »Ich werde nach Hause fahren«, sagt Trimmel, »hoffentlich komm ich glatt durch Ihre Kontrollen, bei der Verspätung…« »Sind Sie denn zufrieden?« erkundigt sich der Oberleutnant hinterhältig. »Gott – was heißt zufrieden? Ich habe erfahren, was ich wollte, und darüber bin ich natürlich nicht unglücklich…« »Aber wollen Sie denn nicht vielleicht doch ein Protokoll aufnehmen?« fragt Klaus höhnisch. »Ja, warum denn?« sagt Trimmel fast etwas ängstlich. Ein bißchen freut sich Peter Klaus jetzt doch: Trimmel wirkt zum erstenmal unsicher. »Ich kann Ihnen ja mal auf die Sprünge helfen… Sie wundern sich doch unter anderem darüber, daß Chris Billsing mit seiner Leukämie auf diesem Spielplatz rumturnen konnte, stimmt’s?« »Also, ich weiß nicht…« »Sie wissen’s nicht? Aber das ist doch sonnenklar. Bertie Landsberger hat Leukämie und kann kaum kriechen, und Chris Billsing rennt mutterseelenallein durch die Gegend und macht Klimmzüge! Das haben Sie doch selbst gesagt! Außerdem gut beobachtet… Kompliment!« »Okay!« sagt Trimmel. Er wischt sich über das Gesicht. »Ich find’s zwar etwas merkwürdig, aber…« »Nichts aber! Daß Bertie Landsberger sächselt, finden Sie genauso merkwürdig! Auch die Sache mit dem letzten Paket… mitten im Umzug nach Frankfurt hat Landsberger Kindersachen gekauft und ein Paket gepackt und das Paket auch noch auf die Post gebracht! Ein Paket für Chris, der gerade gestorben ist… das stimmt nie im Leben, haben Sie sich da gesagt! Das kann nur eins sein – ein ganz mieser Bluff!«
»Wen hätte Landsberger denn bluffen sollen?« fragt Trimmel scheinheilig. »Nur die Polizei!« sagt Klaus sarkastisch. »Nur die Deutsche Volkspolizei, einen Hauptmann Rothaus von der Kriminalabteilung, ich kenn’ ihn ganz gut…« »Versteh ich nicht!« behauptet Trimmel. Dann muß ich ihn doch wohl frontal packen! sagt sich Peter Klaus. »Ja oder nein«, sagt er scharf, »glauben Sie, daß Chris Billsing tot ist? Oder glauben Sie, daß er noch lebt?« Ich habe ihn leider unterschätzt! denkt Trimmel. Und nun kann ich sehen, ob ich hier noch heil rauskomme! »Was würde denn passieren, wenn ich sagen würde, daß der Junge noch lebt?« »Was würden Sie denn an meiner Stelle machen?« fragt Klaus zurück. »Weiß nicht…« sagt Trimmel vage. »O doch!« sagt Klaus. »Sie wissen genau, daß mir kaum noch eine Wahl bleibt!« Er nimmt in aller Gemütsruhe seine Dienstwaffe aus der Pistolentasche, ein russisches Modell, registriert Trimmel diesmal automatisch, beziehungsweise ein tschechisches. »Was soll das?« »Ja, was schon?« sagt Klaus theatralisch. »Ich muß Sie umlegen! Mit dem, was Sie wissen, kann ich Sie doch nicht laufen lassen!« »Aber ich weiß doch gar nichts Besonderes!« behauptet Trimmel nochmals. Ich könnte versuchen, ihm den Colt aus der Hand zu schlagen, überlegt er… die Frau ist ja draußen, die müßte ich hinterher allerdings genauso ausschalten. »Ich warne Sie!« sagt Klaus. Noch hat er die Waffe nicht im Anschlag. Aber offenbar kann er Gedanken lesen. Im Grunde kann’s tatsächlich nur schiefgehen! denkt Trimmel. Selbst, wenn ich’s schaffe, ihn zu überrumpeln… ein
einziger Schuß von ihm, ob er trifft oder nicht, und die Sippschaft unten im Haus ist alarmiert! Das würde effektiv uferlos… ich kann doch nicht sämtliche Hausbewohner außer Gefecht setzen und fesseln und knebeln! »Kommen Sie«, drängt Klaus, »geben Sie’s zu… Sie sind uns auf die Schliche gekommen…« »Stecken Sie das Ding weg!« sagt Trimmel tapfer. »Sie sind doch Polizist… Sie sind ebensowenig ‘n Revolverheld wie ich! Okay, ich geb’s zu, aber ich…« »Was geben Sie zu?« unterbricht Klaus. »Meine Güte… daß Chris Billsing nicht tot ist und in Frankfurt am Main lebt! Und daß Bertie Landsberger tot ist und hier begraben ist… okay, ich hab’s mir zusammengereimt, aber was soll’s denn? Ist doch kein Kapitalverbrechen!« »Für mich schon!« sagt Klaus. »Würden Sie im übrigen so nett sein und mir etwas präziser erzählen, wieso Chris noch lebendig sein soll?« »Mann«, sagt Trimmel entnervt, »Sie wissen das doch alles viel besser als ich!« Klaus hebt die Pistole. »Trotzdem…« Es hat keinen Zweck mehr! denkt Trimmel. Ich seh’s an seinen Augen… der hat sich da reingesteigert, der kann kaum noch klar denken… also gut: »Landsberger ist vermutlich eines Tages hier aufgekreuzt und hat erzählt, daß Bertie bald stirbt. Er bringt Bertie nach Leipzig, schlägt er vor, sobald er tatsächlich tot ist, und nimmt dafür Chris mit und schafft ihn mit Berties Einreisepapieren über die Grenze… vorher wird Berties Leiche vergraben. Reicht’s?« »Nein!« sagt Klaus. »Warum soll er das vorgeschlagen haben?« »Na, warum schon… weil ihm vorher auch noch die Frau gestorben ist, und weil ja auch Chris schließlich sein Sohn ist!
Weil er nicht ganz allein sein will und Thronfolger und Erben braucht!« »Aha. Und so ist der Plan dann realisiert worden, meinen Sie?« »Ja!« sagt Trimmel. »Genau so!« Klaus nickt. »Das Ganze würde ja voraussetzen, daß ich damit einverstanden gewesen wäre…« »Wahrscheinlich waren Sie’s ja auch! Ich will Ihnen da gar nicht zu nahe treten aber wahrscheinlich wollten Sie die Frau Billsing ja doch lieber ohne Kind als mit Kind heiraten; kann man ja verstehen…« »Nett von Ihnen!« sagt er höhnisch. »Eins ist mir allerdings gar nicht klar… warum sollte die Leiche von Bertie Landsberger so oberflächlich vergraben worden sein, daß sie gleich gefunden wurde?« Trimmel zögert. »Sie mußten ja davon ausgehen, daß man Eva Billsing sehr bald fragen würde, wo Chris geblieben ist. Wahrscheinlich war er ja im Kindergarten oder so…« – er sieht Klaus fragend an. Klaus nickt. »Na, jedenfalls war’s dann besser, daß die Leiche da war – von der Mutter selbst identifiziert! Sie wissen doch, wie die Polizei auf Entführungen und verschwundene Kinder reagiert… die hätten bestimmt nie Ruhe gegeben! Jedes tote Kind hätten sie Frau Billsing gezeigt und gefragt, ob es Chris ist… da war’s doch von vornherein viel einfacher, wenn sie gleich bei der ersten Leiche ja sagt… bei Bertie Landsberger! Damit hatte sie ein für allemal ihre Ruhe… die Frau wär’ ja sonst verrückt geworden!« »Sehr gut!« sagt der Oberleutnant widerwillig. »Sie meinen, es stimmt?« fragt Trimmel, neugierig sogar noch in dieser Situation.
»Hundertprozentig!« sagt Klaus. »Gerade deshalb sind Sie jetzt ja dran…« »Aber wenn ich Ihnen nochmals in die Hand verspreche, daß ich… daß ich nach wie vor alles für mich behalte?« Klaus schüttelt den Kopf. »Geht doch nicht… sehen Sie’s doch ein!« »Und was machen Sie dann mit meiner Leiche?« »Also, das können wir ja mal durchspielen«, sagt Klaus. »Ich glaube, das Problem kriegen wir hin! Irgendwann werden Sie drüben bei sich als vermißt gemeldet, und irgendwann kommt eine Anfrage hier über unseren Generalstaatsanwalt… das heißt, natürlich sowieso nur dann, wenn jemand weiß, daß Sie in die DDR gefahren sind. Aber gehen wir ruhig mal davon aus… irgendwann würde unsere Kriminalabteilung Eva ausquetschen und vielleicht sogar mich. Dabei würden wir zugeben, daß Sie tatsächlich hier waren. Aber genauso würden wir sagen, Sie seien wieder weggefahren, wohin wüßten wir nicht. Und damit hätte es sich – damit liefe es ins Leere…« Trimmel nickt. »Weil Sie meine Leiche besser vergraben haben als den Jungen…« »Ja, unter anderem deshalb!« stimmt Klaus zu. »Wobei ich allerdings größten Wert auf die Feststellung lege, daß nicht ich den Jungen eingegraben habe, sondern Herr Landsberger persönlich!« Das reine Seelchen! denkt Trimmel bitter – dabei ist er finster entschlossen, mich hier tatsächlich nicht lebend rauskommen zu lassen! »Doch noch mal angenommen, Sie ließen mich laufen, und ich würde mein Versprechen halten… was wurde ich denn da eigentlich verschweigen, Herr Klaus?« Da sieht ihn der Oberleutnant verständnislos an. »Natürlich Republikflucht! Das, was ihr Republikflucht nennt… wahrscheinlich auch staatsfeindlicher Menschenhandel! Ich als Offizier und Beamter habe geholfen, einen Bürger der DDR
auszuschleusen! Dazu noch ein Kind ohne eigenen Willen… Sie wissen doch wohl, was Republikflucht heißt!« »Seh’n Sie«, sagt Trimmel eifrig, »das ist es! Das gilt bei euch als Kapitalverbrechen, und bei uns gibt’s das überhaupt nicht! Mir als BRD-Bürger ist es völlig egal, ob die DDR achtzehn Millionen Einwohner hat oder achtzehn minus einen! In meinen Augen haben Sie und Frau Billsing Unfug mit einer Leiche angestellt und Personenstandsfälschung und sonst nix! Überhaupt nix! Und mehr würde ich deshalb ja auch gar nicht verschweigen müssen… da können Sie mir also wirklich glauben, daß ich gut schlafen kann, wenn ich da was für mich behalte!« Klaus sieht ihn nachdenklich an. Das Argument hat offensichtlich Wirkung gezeigt. Aber nach wie vor hat er seine entsicherte Pistole in der Hand. Ich muß ihn noch mehr in die Ecke stellen! denkt Trimmel verzweifelt. Sein Gehirn rotiert… und dann fällt’s ihm tatsächlich ein! Dann hat er tatsächlich die Idee, die auch Klaus überzeugen muß… eine bestechende Idee – nur eine winzige Lüge. »Holen Sie doch bitte mal die Frau Billsing wieder rein!« »Warum?« fragt Klaus perplex. »Weil ich wissen muß, wie die… die Entführung im einzelnen abgelaufen ist… Ehrenwort, Herr Klaus, es ist absolut in Ihrem Interesse!« »Also, das kann ich Ihnen auch erzählen…« sagt der Oberleutnant zögernd. »Ja, dann tun Sie’s doch endlich!« Klaus zuckt die Achseln. Zu verlieren hat er so und so nichts mehr. »Es war verabredet worden, daß Landsberger fünf Tage vor der… vor dem Austausch ein Telegramm schickt… Omas Geburtstag wird ein großes Ereignis oder so ähnlich, vergiß die Blumen nicht. Das kam dann am vierzehnten August, und
am neunzehnten August hat sich Eva mit Landsberger am Pleiße-Spielplatz getroffen – sie hat ihm Kleider von Chris gebracht, darunter auch diese Schuhe. Die Leiche von Bertie hat im Auto gelegen, mit dem Landsberger gekommen ist, und dann ist er wohl erst mal weitergefahren… er hat Bertie die Sachen von Chris angezogen und ihn da vergraben, wo er später gefunden worden ist… ich kannte den Platz gar nicht…« »Tatsächlich nicht?« fragt Trimmel. »Damals nicht – Sie müssen’s ja nicht glauben.« »Doch, doch!« murmelt Trimmel. »Jedenfalls ist Landsberger dann zurückgekommen, und inzwischen war Chris am Spielplatz, Chris mit Eva. Chris wußte Bescheid, daß sein Vater ihn mitnimmt; das war keine Schwierigkeit. Das Ganze konnte natürlich nur funktionieren, weil sich die Jungs sehr ähnlich waren… na ja, jedenfalls hat’s dann auch funktioniert. Eva hat gesehen, wie Landsberger am sogenannten Kastanienweg auf Chris zuging und ihn umarmte und zum Auto brachte. Gleich anschließend muß er dann nach Berlin gefahren sein und glatt rübergekommen sein nach Westberlin. Von da mit dem Flugzeug nach Frankfurt… das ist alles!« Eine Weile sagt niemand was. Trimmel hat’s ja gewußt – aber die sachliche, kaltblütige Schilderung hat ihm jetzt doch die Sprache verschlagen. »Wie ist Landsberger eigentlich nach Markkleeberg gekommen?« fragt er schließlich. »Mit dem Auto«, antwortet Klaus, »wie er das später von Berlin nach Frankfurt geschafft hat, weiß ich nicht. Außerdem hatte er ein DDR-Visum… wenn man bei uns erst mal als häufiger Besucher registriert ist, macht das weniger Schwierigkeiten…«
»Und er hatte keine Angst, daß ihn zufällig jemand am… am Kastanienweg beobachtet?« Klaus schüttelt den Kopf. »Eva war ja vorsichtshalber von der Bildfläche verschwunden… sie hat das aus der Distanz beobachtet. Und Landsberger selbst – das war ja sein Risiko! Nicht unser Problem… Alles klar?« Trimmel sieht die Pistole an. »Im Moment ja…« »Aber?« »Landsbergers Risiko…« sagt Trimmel nachdenklich. »Ein irres Risiko… glauben Sie nicht, daß er bei der ganzen Aktion nicht seine Hintergedanken hatte? Daß er gedacht hat, er kann Eva demnächst auch noch rausholen? Damit die Familie endlich glücklich vereinigt ist…?« »Was weiß ich, was er sich gedacht hat!« sagt der Oberleutnant unbehaglich. »Doch – Sie wissen’s! Anders geht das gar nicht. Chris hat seine Mutter todsicher gefragt, ob sie bald nachkommt. Und sie hat ja gesagt – zu ihm und zu Landsberger!« »Na und? Ist das wichtig? Landsberger konnte sich doch an fünf Fingern abzählen, daß Eva den Jungen damit nur beruhigen wollte…« »Eben nicht!« sagt Trimmel. »Landsberger ist felsenfest davon überzeugt, daß er Eva Billsing in aller Kürze heiratet! Möglichst ganz in Weiß! Fragen Sie die Frau Billsing doch mal selber!« Klaus steht auf. Schwerfällig und widerwillig. »Sie bleiben sitzen!« befiehlt er. Dann geht er tatsächlich nach nebenan.
Auf der Flucht erschossen! denkt Trimmel – diesmal wär’s sogar wörtlich zu nehmen. Natürlich bleibt er sitzen… aber wenn das nicht klappt, klappt nichts mehr! sagt er sich. Ich
kann nur hoffen, daß Klaus nicht auf die Idee kommt, bei Landsberger anzurufen. Als Klaus nach drei oder vier Minuten mit Eva zurückkommt, atmet Trimmel zum erstenmal auf: es killt sich schwerer mit der Freundin und Mitwisserin als Augenzeugin! Klaus als Polizist weiß das. »So«, sagt Klaus, verdächtig beiläufig, »ich hab’ Frau Billsing gefragt… Landsberger ist wirklich noch ziemlich naiv!« »Sicher«, sagt Trimmel, »ich habe ja ausführlich mit ihm gesprochen! Und deshalb weiß ich auch, was passiert, wenn ich bis morgen mittag nicht wieder bei ihm bin, dann dreht der durch. Dann reimt er sich genau das zusammen, was er noch nicht weiß… daß er der Gelackmeierte ist! Und im selben Moment macht er Selbstanzeige bei der Frankfurter Polizei, und dabei schont er dann keinen mehr! Dann passiert genau das, was Sie verhindern wollen, indem Sie mich umlegen – dann gehen Sie hops!« »Aber wenn Sie morgen mittag wieder bei ihm sind…?« fragt Klaus lauernd. Trimmel zuckt die Achseln. »Versprechen kann ich Ihnen auch nichts. Ich kann Ihnen nur versprechen, daß ich versuchen werde, ihm alles schonend beizubringen. Und ihn davon abzuhalten, Amok zu laufen… mehr ist nicht drin, wenn ich ehrlich bin!« »Er kann uns ja noch mal besuchen«, sagt Eva schnell, »mit Chris gemeinsam…« »Also, davon halt ich gar nichts!« sagt Klaus. »Außerdem kann ich mir gar nicht vorstellen, daß ein Mann wie Landsberger so schnell durchdreht…« »Sie wissen ja gar nicht, was der im Moment für dünne Nerven hat!« behauptet Trimmel.
»Also, ich weiß nicht… wie hoch würden Sie denn die Chancen Ihrer… Friedensmission einschätzen?« »Neunzig Prozent!« sagt Trimmel. Er legt jedes Wort auf die Goldwaage. »Ich glaube, ich würd’s schaffen!« Er hält den Atem an. Jetzt oder nie… Dann steckt Klaus die Pistole weg.
Trimmel hat sich schon erholt, als der Oberleutnant im Schlafzimmer seine Uniform mit Jeans und Pullover vertauscht. »Haben Sie sich Berties Leiche eigentlich mal angeguckt, Frau Billsing?« fragt er beiläufig. Eva nickt. »Sie lag auf dem Rücksitz. Zugedeckt… aber ich hab’ die Decke mal kurz vom Gesicht genommen. Sah aus wie… wie ein kleiner Engel. Wie ein schlafender Engel… man mußte noch mal hinsehen, bis einem klar wurde, daß er tot war. Aber tot war er… das konnte man dann schließlich doch sehen…« »Sicher war er tot!« sagt Trimmel nachdenklich. »Aber der Mann… Landsberger, mein ich… daß der mit dem toten Kind anstandslos durch die Kontrollen gekommen ist…« »Also – damals hat er sehr gute Nerven gehabt!« sagt Eva Billsing. »Übrigens, wenn Sie ihn sehen… nachdem er mit Chris abgefahren war, hab’ ich gesehen, daß ihm was aus dem Wagen gefallen ist; Sie können’s ihm ja geben, ich glaub, er hat sich damit… ja ja, aufgeputscht.« Sie holt aus einem Sideboard, aus der mittleren Schublade, eine längliche Medikamentenschachtel. Stabilamon… es sind Ampullen drin, sieht Trimmel, als er die Packung einsteckt. Aufgeputscht mit Ampullen? Peter Klaus kommt zurück. »Ich hab’s mir überlegt… die Sache mit dem Keilriemen war ja gar kein schlechter Einfall
von ihnen. Haben Sie den noch drauf – den neuen Keilriemen, mein ich, den volkseigenen?« »Doch, ja…« sagt Trimmel. »Na, prima! Sie fahren dann bei Wartha raus… und ich ruf inzwischen die Grenze an und sag, daß wir Sie überprüft haben. Eben, daß Sie diesen neuen Keilriemen dringend brauchten… natürlich heute; von gestern reden Sie gar nicht, wenn Sie überhaupt gefragt werden!« Er lacht etwas künstlich. »Auf die Art Beihilfe kommt’s dann ja auch nicht mehr an…« Trimmel steht auf. »Machen Sie’s gut!« sagt Eva Billsing zum Abschied. »Grüßen Sie Chris von seiner… seiner Musch!« Diesmal gibt sie Trimmel doch die Hand. »Ich weiß nicht, ob das gut ist«, protestiert Klaus, »alles wieder aufrühren…« »Mal sehen!« sagt Trimmel. Er nickt Eva zu. Als er dann mit dem Oberleutnant in Zivil in der Linie 28 sitzt, fallen ihm fast die Augen zu. Und als sie mit dem Taxi zur Autobahn-Raststätte Merseburger Straße fahren, ist er froh, daß Klaus die ganze Zeit über nichts sagt. Rückmarsdorf, Sandberg. Nicht allzu viele Häuser, noch weniger Ortschaften. Der Messeverkehr ebbt ab, Leipzig und Umgebung kommen zur Ruhe. Immerhin, denkt Trimmel: es ist kein feindseliges Schweigen mehr zwischen ihm und diesem Menschen neben ihm auf dem Rücksitz. Es gibt nach dieser seltsamen Pokerpartie um Leben und Tod ganz einfach nichts mehr zu sagen… »Wie erfahren wir denn, wie’s ausgegangen ist?« fragt der Oberleutnant dann doch noch. »Indem Sie gar nichts erfahren!« sagt Trimmel. Klaus lacht. »Haben Sie auch wieder recht…« Als freier Mensch besteigt Trimmel schließlich seinen alten Ford, der unverändert in der viel größer gewordenen Parklücke
steht. Klaus hat das Taxi hundert Meter weiter warten lassen, und als Trimmel in Richtung Westen davonfährt, nach rechts blinkt, um die Autobahn zu unterqueren und die richtige Fahrbahn zu erreichen – da winkt er, wenn auch nur kurz und flüchtig. Bei der Grenzkontrolle später gibt’s tatsächlich nicht die geringsten Schwierigkeiten. Drei Kilometerweiter allerdings fährt Trimmel auf den nächsten Parkplatz und schläft ein halbes Stündchen lang wie ein Stein.
7
Er weiß später kaum noch, wie er nach Frankfurt gekommen ist. Morgens gegen sieben wird er wach, in einem viel zu teuren Hotel im Bahnhofsviertel, und ist drauf und dran, alles sausen zu lassen und Landsberger sowieso. Aber dann telefoniert er erst mal mit Höffgen, der gerade im Büro der Hamburger Mordkommission eingetroffen ist und die neue Woche in Angriff nimmt. »Ich hab’ die Grippe«, lügt Trimmel, »hab’s ja am Freitag schon gespürt. Ich geh gleich zum Arzt, aber wenn der mich krankschreibt… na ja, die Bescheinigung reich ich später nach! Irgendwas Besonderes los? Nein? Um so besser… dann sei so lieb und sag allen Bescheid!« Trotzdem – er hat nach wie vor keine Lust mehr. Und als er anschließend die Nummer des Hamburger Landesamtes für Pflanzenschutz wählt, faßt er einen Entschluß: wenn in den nächsten drei Stunden nichts Entscheidendes passiert, wird er alles vergessen und nach Hause fahren! »Bitte Herrn Doktor Lippmann!« sagt er, als das Amt sich meldet. »Besetzt? Ja, ich warte…« »Ach nee«, sagt dann Lippmann nach zwei teuren Minuten, »Herr Trimmel persönlich! Brennt’s mal wieder?« »Weiß noch nicht«, sagt Trimmel, »aber Sie kennen doch Gott und die Welt. Ich brauch ein paar Auskünfte… Kennen Sie hier in Frankfurt einen Kinderarzt?« »Auf Anhieb nicht. Rufen Sie mich gleich noch mal an?« Der Botaniker Lippmann ist einer derjenigen Freunde Trimmels, die nett und nützlich zugleich sind. Er wird bei Gerichtsverhandlungen oft als Gutachter zugezogen, daher
kennt er Trimmel, und er hilft gerne auch inoffiziell. So auch diesmal: eine halbe Stunde später kann sich Trimmel mit Dr. Georg Barth verabreden, Eschersheimer Landstraße, Höhe Musikschule. Trimmel läßt den Wagen auf dem nachts mühsam ergatterten Parkplatz stehen und fährt mit dem Taxi. Das äußerst komfortabel, das heißt mit Spielsachen aller Art eingerichtete Wartezimmer des Kinderarztes ist derzeit noch leer. Und sobald er dem freundlichen Dr. Barth die Hand geschüttelt hat, holt er das Stabilamon aus der Tasche – die Schachtel mit den Ampullen. »Darf ich zunächst mal fragen, was das ist?« »Ein Kreislaufmittel«, sagt Dr. Barth, »ziemlich massiv, ziemlich spontane Wirkung…« »Für Kinder?« »Nein, eigentlich ganz und gar nicht…« »Auch nicht bei Leukämie?« »Also, ich versteh Sie nicht!« sagt der Doktor. »Herr Lippmann hat Sie mir zwar warm ans Herz gelegt… aber was wollen Sie denn nun tatsächlich wissen?« Trimmel erklärt’s ihm… er erzählt ihm den Fall mit den vertauschten Kindern wenigstens in Umrissen, natürlich – so betont er – streng unter dem Siegel ärztlicher Verschwiegenheit. »Ist Leukämie unbedingt tödlich?« fragt er zum Schluß. »Bei Kindern bis vor kurzem fast hundertprozentig!« sagt Dr. Barth. »Man konnte den Patienten eine Weile mit krebsbekämpfenden Mitteln helfen – retten konnte man sie höchstens dann, wenn die Krankheit sehr früh erkannt worden war, von sogenannten Wundern mal abgesehen. Neuerdings gibt’s gelegentlich eine gewisse Hoffnung, wenngleich die Chancen nach wie vor nicht sehr groß sind…«
Trimmel schaut in die Notizen, die er sich, wenn auch noch so lustlos, im Taxi gemacht hatte. »Ist Leukämie meldepflichtig?« »Nein, nicht unbedingt…« »Also, angenommen, Sie hätten ein leukämiekrankes Kind in Behandlung, und der Vater käme und sagte, Herr Doktor, nehmen Sie’s mir nicht übel, aber ich meine, wir sollten es mal mit einem anderen Arzt versuchen… Sie würden ihn ohne weiteres ziehen lassen?« »Sicher…« »Und wie reagieren Sie persönlich, wenn ich fragen darf?« Dr. Barth hebt die Schultern. »Ich hätte vollstes Verständnis. Ich würde dem Mann sagen, er möge dem Kollegen vorschlagen, sich mit mir in Verbindung zu setzen… mehr kann und will ich da gar nicht tun…« »Aber wenn er’s nicht tut? Wenn das Kind auf die Weise aus Ihrem Gesichtskreis verschwindet? Interessieren Sie sich nicht irgendwie doch für sein weiteres Schicksal?« »Sicherlich dann«, antwortet Dr. Barth, »wenn es sozusagen in meinem Sprengel wohnt, in der näheren Umgebung. Aber in der Großstadt… sehen Sie, ich bin Arzt. Ich habe sehr viele Patienten, auch wenn’s im Moment noch ruhig ist. Ich kann mich nicht um jeden einzelnen, der mich nicht mehr konsultiert, bis zu seinem Tod kümmern – das ist ganz einfach auch eine Frage der Belastbarkeit!« Trimmel fragt dennoch weiter. »Können Sie sich in diesem Zusammenhang vorstellen, daß ein Vater sein leukämiekrankes Kind bei Ihnen abmeldet und dann überhaupt nicht mehr zu einem Arzt geht?« »Sie meinen, daß er die Behandlung selbst weiterführt? Das würde voraussetzen, daß er die richtigen Medikamente…«
»Sicher«, unterbricht Trimmel, »aber in meinem Fall ist der Vater Chemiker! Also Naturwissenschaftler… wie sieht die Sache dann aus?« »Wir haben gelegentlich immer wieder die Beobachtung machen können«, sagt Dr. Barth nachdenklich, »daß sich die Eltern eines kleinen Patienten besser in der betreffenden Krankheit auskennen als wir Ärzte. Das ist ganz natürlich… die Leute fangen beim Lexikon an und arbeiten sich immer tiefer in die Symptomatik und die Therapie der Krankheit ein. Ich würde außerdem einen Vater, der mir sogenannte gute Ratschläge gibt, nie abfahren lassen… vielleicht hat er ja wirklich eine Idee, auf die ich noch nicht gekommen bin!« Bis jetzt ist das Gespräch tatsächlich wenig ergiebig, denkt Trimmel – vielleicht kann ich ja tatsächlich nach Hause fahren. »Läßt sich bei der Obduktion eines Kindes eigentlich sofort feststellen, ob’s an Leukämie gestorben ist?« fragt er dennoch. »Doch, doch«, sagt Dr. Barth, »das sieht der Pathologe an der Struktur des Knochenmarks… das Mark verödet im fortgeschrittenen Stadium. Auf jeden Fall müßte er einen konkreten Verdacht äußern, vor allem gegenüber dem Histologen, der die Gewebe untersucht. Der kann die Leukämie unter dem Mikroskop praktisch schon am selben Tag feststellen.« »Aha. Aber wenn Sie mir dann mal eine sehr gezielte Frage gestatten… gibt es irgendwann einen Zeitpunkt, an dem Sie als Arzt sagen können: jetzt hat ein leukämiekrankes Kind noch zwei oder drei oder fünf Tage zu leben?« Dr. Barth nimmt seine randlose Brille ab und putzt sie sorgfältig. »Sie können im Einzelfall etwa sagen: von jetzt an beträgt die Lebenserwartung noch ein Jahr. Sie können ein Jahr später sagen: Jetzt ist’s aus – das Kind stirbt zwischen übermorgen und in vier Wochen… aber so präzise, wie Sie sich das vorstellen, wär’s sicher nicht möglich. Jeder Arzt kann
sich auch täuschen, und das arme Wurm schafft’s dann selbst noch im letzten Stadium ein halbes Jahr länger…« »Wie sieht ein an Leukämie erkranktes Kind im letzten Stadium aus?« fragt Trimmel, plötzlich doch wieder sehr interessiert, »und wie sieht’s aus, wenn es gerade gestorben ist?« Der Arzt, wie die meisten Kinderärzte offensichtlich ein gefühlvoller Mensch, schließt für einen Moment die Augen. »Leukämiepatienten gehören zu den eindrucksvollsten und schmerzhaftesten Erlebnissen in der klinischen Pädiatrie. Leukämie bei Drei- bis Sechsjährigen ist ein völlig anderes Phänomen als Leukämie im Erwachsenenalter. Sie geht Hand in Hand mit anämischen Erscheinungen… Blutarmut, kann man sagen, nicht nur als Laie. Deshalb sehen die Kinder aus wie… wie kleine Engelchen auch, wenn sie gestorben sind. Es sind die schönsten toten Kinder, die man sich vorstellen kann, wenn Sie das bitte richtig verstehen wollen…« »Ja, sicher«, sagt Trimmel nachdenklich, »den Ausdruck Engelchen hat in meinem Fall auch die angebliche Mutter gebraucht…« »In Ihrem Fall«, sagt Dr. Barth, »geht’s ja offenbar vor allem um die Frage, ob das betreffende Kind kurze Zeit nach dem Exitus den Eindruck eines Schlafenden erwecken konnte… also, aus meiner Erfahrung möchte ich das unbedingt mit ja beantworten! Ein totes Leukämiekind sieht so rührend und hilflos aus, daß selbst ein ziemlich aufmerksamer Beobachter nicht spontan erkennen müßte, daß er eine Leiche vor sich hat… von daher ließe sich Ihre entsprechende Theorie sicherlich stützen…« »Auch über Stunden?« fragt Trimmel gespannt. »Halten Sie es für möglich, daß man ein soeben gestorbenes Kind so zurechtmacht, daß es ein paar Stunden lang im Auto liegt und immer noch aussieht, als ob es schläft?«
»Zurechtgeschminkt, meinen Sie? Sicherlich… ein geschicktes Make-up würde den friedlichen Gesamteindruck wohl noch verstärken. Schrecklich, mit welchen Fragen Sie sich in Ihrem Beruf so herumschlagen müssen…« Trimmel nickt. »So was wie das hier ist mir allerdings auch noch nie untergekommen. Ich seh das förmlich vor mir… der Vater mit seinem toten Sohn auf dem Rücksitz muß doch halb verrückt geworden sein vor Angst, als er an den DDRKontrollpunkt kam! Jeden Moment muß er damit rechnen, daß ein Vopo das Kind hochnimmt oder ihm sagt, er soll’s hochnehmen… die mit ihrer panischen – na, Macke wegen ihrer Flüchtlinge! Also, bis jetzt hätte ich’s immer noch kaum für möglich gehalten… ich bin Ihnen da wirklich dankbar.« »Bitte, bitte…!« Der Arzt will aufstehen. »Ja, aber einen Moment noch«, sagt Trimmel hastig, »ich hatte Sie vorhin so verstanden, daß Leukämiekinder natürlich auch in hoffnungslosen Fällen medikamentös behandelt werden?« Dr. Barth überlegt. »Sicher. Meine letzten Fachzeitschriften habe ich zwar noch nicht durchgesehen… aber grundsätzlich sagte ich Ihnen ja schon, daß man die Lebenszeit der kleinen Patienten durch krebsbekämpfende Präparate zu verlängern versucht. Etwa sogenannte zytostatische Substanzen, ärztlich angewandte Keimgifte, die das Wachstum wuchernder Zellen hemmen. Triäthylenmelanin – was Ihnen vielleicht nichts sagen wird, sogar Lost…« »Lost?« fragt Trimmel ungläubig. »Ja, auch Lost. Sie kennen’s sicher als gefährlichen Kampfstoff… aber Stickstofflost hemmt die Vermehrung der weißen Blutkörperchen. Die Blutzellen wuchern ja krankhaft, in einem bestimmten Verhältnis, das das Spezifische der jeweiligen Leukämie ausmacht… natürlich sind all diese Mittel kein Honigschlecken für den gesamten Organismus,
man muß sie von Zeit zu Zeit absetzen und variieren… Sie sagen mir, wenn’s zu kompliziert wird?« »Danke – es geht gerade noch…« sagt Trimmel mit schwachem Lächeln. Er schaut wieder in seine Notizen, jetzt sehr viel wacher. »Was mich hier in erster Linie interessiert, ist die Frage, ob es ein Medikament gibt, das regelmäßig alle zwei oder drei Stunden gegeben werden muß. Beziehungsweise, daß das Kind stirbt, wenn man’s vergißt oder absichtlich nicht gibt…« »Oh, ich verstehe«, sagt Dr. Barth langsam, »Sie wollen darauf hinaus, ob der Vater in Ihrem Fall auf diese Weise den Tod programmiert haben könnte…« »Genau! Irgendwie ist mir das unheimlich, daß er das alles so präzise berechnet haben soll… und vor allem, daß es dann auch noch klappt!« Aber der Arzt schüttelt den Kopf. »Man könnte da was beschleunigen, aber sicher nicht terminieren! Nein, nein, das schlagen Sie sich besser aus dem Kopf…« Er wird jetzt bei aller Liebenswürdigkeit nun doch ungeduldig, sieht Trimmel. Gleichzeitig sieht er die Ampullenschachtel, die immer noch auf Dr. Barths Schreibtisch liegt. Das Stabilamon… Aber das ist es ja! denkt er plötzlich alarmiert. Und es trifft ihn wie ein Schlag: Umgekehrt – umgekehrt geht’s doch! Der Fall ist ja doch noch nicht zu Ende! »Eine allerletzte Frage, Doktor… ich stell mir vor, daß ein leukämiekrankes Kind kurz vor seinem Tod schon sehr schwach ist, quasi schon am Rande des Komas. Da muß es doch Mittel geben, die das arme Geschöpf wenigstens kurzfristig stärken können… eben diese massiven Kreislaufmittel wie dieses Stabilamon…?« »Und?« fragt er Barth skeptisch.
»Also, ich stell mir diesen Vater vor… der Mann ist Naturwissenschaftler, der ist sicher in der Lage, Injektionen vorzunehmen. Injektionen von Kreislaufmitteln… damit hält er das Kind, das sicher kaum noch sehr leidet, eine Zeitlang noch relativ munter. Wenn er das Mittel aber nun sehr kurzfristig und plötzlich absetzt – Doktor, kann das nicht zu einem sehr plötzlichen Tod führen?« Dr. Barth nickt. »Jetzt begreife ich, worauf Sie hinauswollen… Sie haben eine erstaunliche Phantasie, Herr Trimmel! Im Prinzip ist das, was Sie sagen, richtig oder zumindest vorstellbar, obgleich es aus naheliegenden Gründen mit Sicherheit keine klinischen Erfahrungen gibt!« Trimmel steht auf. »Danke, Doktor«, sagt er und weiß nicht, ob er zufrieden sein oder sich schwarz ärgern soll, »Sie haben mir wahrscheinlich sehr geholfen…« Dr. Barth bringt ihn zum Ausgang. Das Wartezimmer ist nun doch ziemlich voll… zwei Kinder wimmern, aber eigentlich ist es erstaunlich ruhig. »Grüßen Sie Doktor Lippmann!« sagt der Arzt. »Kommen Sie übrigens oft in die Frankfurter Gegend?« Trimmel sieht ihn erstaunt an. »Ach so«, sagt er dann, »nee, nee… bloß nicht!« Er marschiert stadteinwärts, bis er die nächste brauchbare Kneipe findet… unterwegs fühlt er mehrfach nach, ob er die Stabilamon-Packung auch tatsächlich eingesteckt hat. Es ist ziemlich warm in Frankfurt, und schon nach dem zweiten Schnaps hat Trimmel das Gefühl, einen zuviel getrunken zu haben. Deshalb bestellt er Frankfurter Würstchen und ißt sie ziemlich lustlos. Später läßt er ein Taxi kommen. »Landsberger Straße!« sagt er grämlich. »Wo ist die denn?« fragt der Fahrer.
»Na, gleich hier vorn!« sagt Trimmel. »Ach so, Landsberger… Falkensteiner Straße, mein ich!« Da mault der Fahrer, weil es wirklich nur dreimal um die Ecke geht und somit eine ganz miese Tour ist. Aber Trimmel, der Erich Landsberger nun doch zum zweitenmal besuchen muß, ist total mit sich selbst beschäftigt und hört überhaupt nicht zu.
8
Landsberger – was Trimmel derzeit nur ahnen kann – war zweifellos schon vor seiner ersten Begegnung mit der Hamburger Mordkommission ein Mensch gewesen, dem das Schicksal, zugegebenermaßen, etliche harte Tritte versetzt hatte. Immerhin: er pflegte den Hauch des Tragischen, der ihn umgab, vorsätzlich und auch über alle Gebühr. Dies vor allem sich selbst gegenüber – und er wußte zuweilen tatsächlich selbst nicht mehr, ob er unter dem Strich ein kreuzunglücklicher Mensch war oder gerade noch als halbwegs zufriedener Zeitgenosse durchgehen konnte. Mimikry – das war’s wohl. Anpassung und Schutztracht in einer meist feindlichen Welt… sage niemand, daß ein großer, stattlicher, athletischer Mann in seinen sogenannten besten Jahren, mit vollem Haar, dunkelblond mit dem vorteilhaften grausilbernen Schimmer, der Trimmel sofort aufgefallen war, einem nur ganz leichten Hang zum Bauch und einem alles in allem unverschämt guten Aussehen keine seelischen Prothesen braucht! Allerdings waren Landsbergers Probleme seltsam gemischt: es gab echte und schwerwiegende ebenso wie scheinbare und skurrile. Vieles rührte, wenn man der Sache auf den Grund ging, eben doch schon von seiner Geburt her, die, wie gesagt, im sächsischen Zwickau stattfand… dort, wo die Leute normalerweise eenfach nur die Gusche uffmachn und dann über ihre Herkunft nichts weiter sagen müssen. Landsberger war, wie Trimmel von Anfang an richtig vermutet hatte, äußerst ungern gebürtiger Sachse. Er hatte von frühester Jugend an gegen das Nuguggemada-Idiom seiner Heimat
gekämpft, weil er es für ordinär und seiner unwürdig hielt – und wenn er es letztlich auch fast vollkommen losgeworden war, so hatte ihn der Kampf doch sehr viel Kraft gekostet: er führte zu einer lebenslangen Unwirschheit. Noch im letzten Kriegsjahr war Erich Landsberger eingezogen worden, und Ende Februar 1945 bekam er in Norddeutschland die schreckliche Nachricht, daß seine Eltern beim großen Angriff auf Dresden umgekommen waren. Von da an zog ihn jahrelang überhaupt nichts mehr an die Stätten seines Ursprungs, bis er sehr viel später von Berufs wegen zur Leipziger Messe mußte und dort deren auffälligste Schönheit kennenlernte; aber wurde er dann wieder anderen Sinnes. In Norddeutschland, immerhin, ging’s Erich Landsberger nach außen hin sehr gut: nach dem Krieg war er Industriechemiker geworden und außerdem mehrfacher Millionär. Kurz nach dem Studium hatten zwei Wochen in einem zusammengestoppelten Laboratorium genügt, um einen Stein der Weisen zu finden und ihm ein für allemal das große Geld zu sichern: über seinen Reagenzgläsern war ihm ein Licht aufgegangen, wie man das Bergius-Pier-Verfahren der Kohlehydrierung, die Umwandlung von Kohle in Öl, gewaltig vereinfachen und damit verbilligen konnte. Seine wenigen Freunde allerdings, sämtlich aus der Branche, waren daraufhin vom Neid zerfressen worden und verliefen sich deshalb im Verlauf weniger Jahre in alle Himmelsrichtungen. So konnte und wollte Landsberger am Ende nicht mal seinen Reichtum als glückliche Fügung ansehen. Trotz der Lizenzgelder, die ihm nach wie vor aus Europa und Übersee überreichlich ins Haus flossen, trotz seiner Konten, die er sogar in der DDR und anderen Ostblockländern besaß, fühlte er sich von den Nutznießern seiner Erfindung schamlos ausgebeutet; überdies sah er rot, wenn er nur das Wort Steuer hörte. Letztlich lebte er in einem Jammertal; er wurde
regelrecht zum Miesepeter, von Tag zu Tag mehr… und mehr und mehr Leute waren schließlich geneigt, ihm das, was ihn wirklich bedrückte und quälte, von Herzen zu gönnen. Landsberger hatte reichlich spät eine blasse Hamburgerin geheiratet, eine Chemiestudentin, die ihm zuliebe natürlich sofort ihre schmale Karriere aufgeben mußte. Sie gebar ihm diesen blassen Sohn, Bertram, Bertie genannt – und als sie an ihrer auf jeden Fall zu spät erkannten Leukämie starb, stellten die Ärzte bedrückt fest, daß auch der Junge hoffnungslos von der tückischen Krankheit gezeichnet war. Von hier an lief’s in den von Trimmel mittlerweile aufgedeckten Spuren. Landsberger vergrub sich mit dem Kind in seiner geräumigen Etagenwohnung an der Elbchaussee. Vater und Sohn wurden von einer Haushälterin betreut, die das Essen pünktlich auf den Tisch stellte und unter dem Mangel an jeglichem persönlichen Kontakt erheblich litt – sie war deshalb regelrecht erleichtert, als ihr Arbeitgeber die Hansestadt verließ. Und niemand in ganz Hamburg vermißte den Sonderling, nachdem er seine Zelte abgebrochen und seinen Wohnsitz in Frankfurt genommen hatte; und niemand ahnte, daß Landsberger damit gerechnet hatte und aus triftigen Gründen in die Anonymität geflüchtet war.
Trimmel zögert diesmal keine Sekunde, ob er den vergoldeten Türklopfer mit dem Löwenhaupt oder die elektrische Klingel betätigen soll; er setzt einfach beides in Bewegung. Jemand kommt im Laufschritt an die Tür und reißt sie auf… »Was ist denn los?« Das ältliche Mädchen Irene mit dem weißen Häubchen. Die neue Haushälterin. Man bleibt etabliert, wenn man’s mal ist, ob in Hamburg oder in Frankfurt.
»Mein Name ist Trimmel, vielleicht erinnern Sie sich. Ich bin schon mal hiergewesen… ich muß Herrn Landsberger dringend sprechen!« »Herr Landsberger ist beschäftigt!« sagt Irene ungehalten und störrisch. Aber Landsberger hat wohl hinter einer Tür zur Halle gestanden – Diele kann man den riesigen Raum kaum nennen – und tritt jetzt hervor. »Muß das wirklich sein?« fragt er gequält. »Leider ja!« sagt Trimmel kühl und geht an Irene und Landsberger vorbei entschlossen ins Haus. Landsberger resigniert, öffnet die Tür zum großen Wohnzimmer, das durch den Schreibtisch zugleich als Arbeitszimmer ausgewiesen ist, und sagt: »Bitte!« »Kommen wir gleich zur Sache«, sagt Trimmel, kaum, daß sie sitzen, »ich soll Ihnen«, er greift in seine Jackentasche, »dies hier von Frau Billsing geben. Mit schönen Grüßen natürlich!« Und er reicht Landsberger das StabilamonPäckchen. Landsberger nimmt’s ihm nicht ab. Er starrt es so entsetzt an, als habe Trimmel eine häßliche Kröte aus der Tasche geholt. »Sie waren… Sie waren bei Frau Billsing?« »Gott – die Dame steht ja nicht unter Naturschutz!« sagt Trimmel, vorsätzlich unwirsch. Er legt das Präparat auf einen niedrigen Tisch. »In… in Mark…?« »In Markkleeberg, richtig. Sie kennen’s ja. Hübsche Wohnung übrigens… haben Sie da zugeschossen?« Landsberger fängt sich. »Was haben Sie denn mit Frau Billsing besprochen, wenn ich fragen darf?« »Oooch«, sagt Trimmel gedehnt, »ich hab’ ihr erst mal mein Beileid ausgesprochen, aber deswegen allein fährt man sicher nicht nach Leipzig. Vor allem haben wir uns über den Tod
Ihres Sohnes unterhalten – da gibt’s so einiges, was mich interessiert. Allerdings konnte Frau Billsing nicht alle meine Fragen beantworten. Und deshalb bin ich doch noch mal hier.« »Ich höre zum erstenmal«, sagt Landsberger, der seine Arroganz wiedergefunden hat, »daß Kriminalbeamte aus der Bundesrepublik in der DDR Ermittlungen anstellen dürfen. Offensichtlich ist mir diese Art Tauwetter in den Ost-WestBeziehungen…« Aber plötzlich reißt Trimmel die Geduld. »Passen Sie mal auf, Herr Landsberger – ich will die Dinge mal beim Namen nennen. Ich war illegal drüben; ich bin einmal, zweimal… warten Sie: viermal durch die Vopo-Kontrollen gefahren. Ich hatte dabei allerhand Ärger, Herr Landsberger, von den Kosten gar nicht zu reden…« »Vielleicht kann ich Ihnen ja unter die Arme greifen!« unterbricht Landsberger zynisch. »… aber ich bin dafür reich belohnt worden«, sagt Trimmel unbeirrt, »danke, ich kann’s verkraften! Ich hab’ jedenfalls erfahren müssen, daß Sie mich neulich nach Strich und Faden belogen haben… allerdings, wenn ich mir überlege, warum Sie mich belogen haben, kann ich’s fast sogar schon wieder verstehen…« »Was wollen Sie?« fragt Landsberger scharf. »Ihnen mitteilen«, sagt Trimmel rücksichtslos, »daß Sie Ihren Sohn Bertie als Leiche gegen Ihren lebenden Sohn Chris ausgetauscht haben! Stimmt’s?« Landsberger ist aufgesprungen. Er ist kreidebleich geworden. »Sind Sie verrückt?« »Nein! Geben Sie’s doch zu!« »Das sind Hirngespinste!« zetert Landsberger. »Haltlose Verdächtigungen! Ich werde Sie wegen Ihrer… Ihrer Unverschämtheiten…«
»Unverschämtheiten?« sagt Trimmel. Und dann wird er endgültig laut. »Sie reden von Unverschämtheiten? Sie – ich will Ihnen mal eins sagen… ich hab’ ja schon manche linke Tour erlebt in meinem Beruf. Aber daß ein Vater aus der Leukämie seines Kindes noch Kapital für sich schlägt und mit seinen eigenen Söhnen Bäumchen-verwechsel-dich spielt – also, das ist mir doch noch nie untergekommen! Dazu mußte ich Sie erst kennenlernen, Sie… Sie nachgemachter Bestattungsunternehmer!« Landsberger deutet zur Tür. »Verschwinden Sie!« »Ich denk nicht dran…« »Raus! sage ich. Ich rufe die Polizei…« »Tun Sie’s doch!« sagt Trimmel. »Lassen Sie Ihren Sohn Chris doch als Zeugen vernehmen… von der hessischen oder von der Frankfurter Polizei!« Aber Landsberger geht tatsächlich zum Telefon und wählt schon die erste Ziffer – eine Eins. Wahrscheinlich glaubt er, daß er nichts mehr zu verlieren hat, und will’s drauf ankommen lassen… »Einen Moment noch«, sagt Trimmel hinterhältig, »einen Satz noch…« Landsberger sieht Trimmel an, hat aber den Finger nach wie vor an der Wählscheibe. »Sie wollen Eva Billsing doch auch in den Westen holen, oder?« fragt Trimmel. Landsberger wählt die zweite Ziffer – die zweite Eins. »Aber das müssen Sie sich abschminken, Herr Landsberger! Eva Billsing denkt gar nicht daran, in den Westen zu kommen, sie wird Sie nie heiraten! Ihre Familienzusammenführung findet nicht statt! Sie hat einen Neuen… so, und jetzt machen Sie, was Sie wollen!«
Die dritte Ziffer – die Null – wählt Landsberger nicht mehr. Er starrt Trimmel an und legt den Hörer fast wie in Zeitlupe auf die Gabel. »Woher wissen Sie das?« »Ja, von wem denn wohl? Von ihr selber! Sie hat mir sogar jede Menge erzählt, wenn Sie’s immer noch nicht glauben! Von wem sollte ich beispielsweise wissen, daß Sie Chris am Kastanienweg an der Pleiße ins Auto gepackt haben, nachdem Sie Bertie vorher mit den Kleidern von Chris, die Sie ihm angezogen hatten, im Wald…« Er erstarrt mitten im Satz. Landsberger ist langsam an ihm vorbei durch den Raum gegangen, während er sprach; Zigaretten will er sich holen, hat Trimmel angenommen, oder Schnaps oder sonst was. Jedenfalls ist Landsberger hinter seinen Schreibtisch getreten, und Trimmel hat ihn zwar nicht aus den Augen gelassen, aber auch nicht sonderlich auf das, was er gemacht hat, geachtet. Und so hat Landsberger die obere linke Schublade aufziehen können, und jetzt mit einem Mal hat er eine Pistole in der Hand, schimmernd schwarzblau, gut gepflegt… »So!« sagt er mit verzerrtem Gesicht. »Und jetzt mal der Reihe nach…« Die Mündung zeigt genau auf Trimmels Bauch. Parabellum, stellt Trimmel mechanisch fest. Sieben Schuß im Magazin, einer im Lauf. Einer würde reichen. »Na schön«, sagt Trimmel. Und denkt gerade noch: Es ist nicht zu fassen! Im selben Moment aber schleudert er das Lederkissen, auf dem bisher sein rechter Arm lag, mit aller Kraft in Richtung Pistole und klappt gleichzeitig wie ein Taschenmesser nach links zusammen und aus dem Sessel. Der Schuß zerreißt ihm fast das Trommelfell, aber er trifft ihn nicht… Trimmel kommt am Ende einer seitlichen Rolle wieder auf die Beine und springt Landsberger an, der abermals schießt und nicht trifft –
und dann schlägt er ihm die Handkante hart an die Halsschlagader. Landsberger sackt zusammen; die Pistole fällt auf den Teppich. Trimmel beugt sich über ihn… Gott sei Dank, stellt er fest, er atmet noch, wenn auch nur röchelnd… Zwei ausgeworfene Hülsen liegen herum. Trimmel, selbst schwer atmend, schiebt sie und die Pistole mit dem Fuß vorsichtig außer Reichweite; dann packt er den regungslosen Landsberger und wuchtet ihn auf das Ledersofa. Oben im Haus schreit ein Kind. Bertie natürlich, beziehungsweise Chris… auf der Treppe hört man ihn schon poltern. Trimmel nimmt die Pistole auf – er nimmt das Magazin sorgfältig heraus und steckt’s ein. Dann wird die Tür aufgerissen. Irene mit dem weißen Häubchen steht in der Tür und hebt stumm und entsetzt die Arme hoch, als sie die Pistole in Trimmels Hand sieht. Hinter ihr stürmt das Kind in den Raum. »Babba!« schreit es, als es Landsberger auf dem Boden liegend sieht. »Babba…!« Trimmel hält den Jungen, der sich auf seinen Vater stürzen will, mit einer Hand zurück; mit der anderen legt er die Pistole endlich weg. »Sind Sie doch ruhig!« sagt er zu Irene, obgleich sie allenfalls mit den Zähnen klappert. »Es ist überhaupt nichts passiert! Herr Landsberger wollte mir die Pistole zeigen, und dabei haben sich versehentlich zwei Schüsse gelöst! Und du« – laut zu Bertie beziehungsweise Chris –, »hör auf zu schreien!« Der Junge ist daraufhin zwar still, versucht jedoch wütend, in die Hand zu beißen, die ihn festhält; Trimmel muß ihn mit beiden Händen bändigen. »Aber… aber der Herr Landsberger!« fleht Irene. »Dem ist nix passiert! Der ist bloß vor Schreck ohnmächtig geworden! Blödsinn, diese Waffen im Haus… da oben das Loch« – er deutet auf die Decke –, »und das da auch, da in der
Wand… lassen Sie die Löcher so schnell wie möglich zuschmieren!« »Die Polizei…« stammelt Irene. »Die Polizei bin ich selber!« herrscht Trimmel sie an. Im Moment ist allerdings selbst er ein bißchen konfus und durcheinander… also, das ist mir doch auch noch nicht passiert, denkt er, gestern Klaus, heute Landsberger – der nächste legt mich wohl tatsächlich um. Und Landsberger kommt zu sich. Er schlägt vorsichtig die Augen auf und sieht seinen Sohn im Ringkampf mit Trimmel ein paar Meter neben sich. Er hustet mehrmals und krächzt: »Ist was… passiert?« »Nichts!« sagt Trimmel. Landsberger richtet sich mühsam auf, zuckt zusammen und greift sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Hals. Trimmel läßt den Jungen los, und der Junge wirft sich sofort auf seinen Vater, der aufstöhnt, als er umarmt wird. Landsberger versucht, sich den Jungen vom Hals zu halten. »Aber was hab’ ich denn bloß…« »Nichts!« sagt Trimmel nochmals. »Ich hab’ schon alles erklärt. Aber können Sie jetzt bitte dafür sorgen, daß wir wieder allein sind?« Landsberger nickt, was ihm sichtlich neue Schmerzen bereitet. Seinem Gesicht, vor allem den Augen, sieht man jedoch an, daß er sich mehr und mehr wieder an alles erinnert. »Geh wieder spielen, Sohn«, sagt er, »nehmen Sie ihn mit, Irene… es ist wirklich alles in Ordnung!« Auch mit der Stimme geht’s wieder besser. Aber der verstörte Junge heult und wendet keinen Blick von seinem Babba. »Ich komm nachher sofort zu dir!« muß Landsberger ihm versprechen, bevor er endlich, von Irene geschoben, heulend verschwindet.
»Der und Leukämie!« sagt Trimmel. »Der ist doch das Leben selber!« Landsberger widerspricht nicht mehr. »Da drüben in dem Schrank steht Cognac«, sagt er mühsam, »geben Sie mir einen, trinken Sie auch einen…« Wirklich dasselbe wie gestern! denkt Trimmel, während er zwei Gläser füllt. Umgelegt werden soll ich, und vorher und hinterher gibt’s Schnaps! »Prost!« sagt er grämlich. Immerhin ist der Stoff hier besser. Landsberger hustet wieder, aber es klingt flacher. »Geht’s besser?« fragt Trimmel, als er sich setzt. »Es geht…« »Können Sie mir dann ein paar Fragen beantworten?« »Aber ich weiß wirklich nicht…« »Natürlich wissen Sie’s! Herrgott, Sie haben doch praktisch schon alles zugegeben durch Ihr Verhalten!« »Ja – was denn?« »Herr Landsberger, ich bitte Sie!« sagt Trimmel ruhig. »Ich war bei einem Kinderarzt, der hat mir gesagt, daß es gegen Leukämie in einem gewissen Stadium kein Mittel gibt. Also kann der Junge, der gerade hier war, nicht Bertie sein… ich phantasiere mir hier doch nichts zusammen, Sie können doch die Medizin nicht auf den Kopf stellen!« Da endlich sagt der Mann auf dem Sofa bedrückt: »Ja!« »Okay«, sagt Trimmel aufatmend, »also war’s tatsächlich Chris?« »Ja…« flüstert Landsberger. »Sie geben also ausdrücklich zu, daß Sie Bertie nach Leipzig geschafft und ihn dort gegen Chris Billsing ausgetauscht haben?« »Ja. Es war schrecklich…« »War Bertie tot?«
Landsberger sieht Trimmel entsetzt an. Er denkt nicht mehr an seine Schmerzen – er hat ruckartig den Kopf gehoben. »Natürlich! Was denken Sie denn?« »Ich frag mich seit längerem eins«, sagt Trimmel, »ich hab’ auch darüber mit dem Kinderarzt gesprochen. Haben Sie das Kind tatsächlich zurechtgemacht, als Sie es über die Grenze gebracht haben?« »Ja…« sagt Landsberger leise. »Wie denn? Bloß geschminkt? Oder sonst noch was?« Landsberger schließt die Augen, will den Kopf schütteln, hört aber gleich wieder auf und verzieht abermals schmerzlich das Gesicht. Gleich weint er! denkt Trimmel. Weinende Männer sind noch schlimmer als weinende Frauen… aber sie verlieren auch leichter die Übersicht. »Bitte, Herr Landsberger… was haben Sie sonst noch gemacht?« »Ich kann nicht…« murmelt Landsberger. »Doch!« »Ich hab’… ich hab’ Leichen-Make-up gemacht… das genügt doch…« »Und?« »Ich hab’ ihn gekämmt und gewaschen… und geschminkt; das sagte ich doch…« »Haben Sie ihm wenigstens auch die Augen geschlossen?« Da greift Landsberger mühsam nach dem Cognac und trinkt aus der Flasche. »Nein, ich habe ihm nicht die Augen schließen können!« sagt er anschließend. Es klingt merkwürdig sachlich. »Ich habe ihm Glyzerin in die Augen injizieren müssen… einfachsten dreiwertigen Alkohol. Die Iris färbt sich nämlich gleich nach dem Tod bräunlich, weil sie mit Blutfarbstoff durchtränkt wird. Glyzerin hebt das auf… meinen Sie nicht, daß es jetzt reicht?«
»Nein, noch nicht!« sagt Trimmel unbarmherzig. »Ich will Sie wirklich nicht quälen, aber ich muß das wissen, ich hab’ meine Gründe… reißen Sie sich doch zusammen, Herr Landsberger! Als Sie mit der präparierten Leiche an der Grenze angekommen sind… sagen Sie mal, der muß doch starr gewesen sein?« Landsberger schüttelt den Kopf jetzt sehr nachdrücklich – er achtet nicht mehr auf seine Schmerzen. »Ich hatte mich genau erkundigt, nachdem das Problem… na, akut geworden war. Die Starre verläuft innerhalb von acht Stunden von oben nach unten, von der Kiefermuskulatur bis zu den Füßen, und entsprechend bildet sie sich zurück. Bertie ist am sechzehnten August gestorben, und gleich anschließend hätte ich sicher nicht in acht Stunden nach Leipzig fahren können… kommen Sie da bloß mal in einen Stau! Außerdem mußte ich Eva ja noch benachrichtigen – ich habe ihr ein Telegramm geschickt, wir hatten das so verabredet…« Trimmel nickt. »Omas Geburtstag nicht vergessen… großes Ereignis!« »Ja, so ähnlich… also, ich hätte doch in jedem Fall warten müssen, bis die Leichenstarre verschwunden war!« »Sie haben das Telegramm aber schon am vierzehnten August geschickt«, sagt Trimmel, »zwei Tage vorher… vor dem Tod des Jungen!« Aber diesmal läßt sich Landsberger nicht aus der Fassung bringen. »Als Naturwissenschaftler sind mir biochemische Abläufe und Vorgänge durchaus geläufig, wissen Sie.« »Auch medizinische?« fragt Trimmel. »Konnten Sie den Tod so genau vorausberechnen?« »In gewissen Fällen kann man das ohne weiteres!« behauptet Landsberger. Es ist das genaue Gegenteil dessen, was der Kinderarzt gesagt hat – aber es klingt ungewöhnlich bestimmt und sicher.
»Sie wußten also effektiv am vierzehnten August«, fragt Trimmel, »daß Bertie zwei Tage später sterben würde?« »Ja. Seine Krankheit war im letzten Stadium. Und nach dem heutigen Stand der Wissenschaft… na ja. Es stand schließlich mehr auf dem Spiel als das erlöschende Leben eines Kindes… meines Kindes…« »Trotzdem!« Trimmel läßt immer noch nicht locker. »Warum fuhren Sie ausgerechnet am neunzehnten August? Beziehungsweise, warum haben Sie sich überhaupt derart festgelegt?« Allmählich bekommt Landsbergers Stimme einen ungeduldigen und leicht dozierenden Tonfall. »Erstens, weil man… weil wir uns festlegen mußten… das sollte Ihnen inzwischen klar sein. Zweitens, weil die Starre sich in der Regel zwar nach achtundvierzig Stunden zu lösen beginnt, aber in der Regel auch erst nach drei Tagen verschwunden ist! Im übrigen, Herr Trimmel… Sie wissen doch alles! Sie wissen, daß ich meinem toten Kind andere Kleidung anziehen mußte und auch von daher Rücksicht auf die… Leichenveränderungen zu nehmen hatte! Vielleicht können Sie sich wenigstens vorstellen, daß es das schlimmste Erlebnis meines Lebens war!« »Sicher«, murmelt Trimmel, »starre Leichen kann man sehr schlecht umziehen…« »Man kann’s überhaupt nicht!« stellt Landsberger sachlich fest. Ganz unvermittelt hat Trimmel das Gefühl, daß Landsberger ihn hier mit seiner ganzen Wissenschaft von der richtigen Spur abgebracht hat. Sie ist wie im Nebel verschwunden – der Faden ist ärgerlicherweise gerissen, er findet die Enden nicht wieder. »Wie kommt es«, fragt er, nur weil’s ihm gerade noch einfällt, »daß die Obduzenten in Leipzig fälschlicherweise den neunzehnten August als Todestag festgestellt haben?«
»Also, das ist mir neu!« sagt Landsberger interessiert. »Wahrscheinlich ist es allerdings ganz einfach zu erklären… es steht ja schließlich in jedem medizinischen Lehrbuch, daß hohe Außentemperaturen die Lösung der Starre wesentlich beschleunigen. Und es war damals sehr warm in Leipzig, das weiß ich noch genau… die Obduzenten haben sicher die Außentemperatur berücksichtigt, während ich… nun ja, Sie wollen’s ja wissen – ich hatte die Leiche bis zur Abfahrt möglichst kühl gelagert…« Trimmel steht auf. Das Kolleg über Totenstarre und Leichenveränderungen reicht ihm. Sein Glas steht neben ihm und ist leer. »Darf ich?« »Natürlich!« Also holt er sich die Flasche, die dicht neben Landsberger steht, und dreht ihm den Rücken zu, um sich neu einzuschenken. »Sind Sie denn jetzt wenigstens fertig?« fragt Landsberger hinter ihm. »Ich weiß nicht. Ich werd’s erst mal überschlafen…« »Ach, ich weiß auch nicht«, sagt Landsberger, seltsam beiläufig, »meinen Sie nicht, daß ich jetzt auch mal dran bin?« Trimmel erstarrt mitten in der Bewegung. Ein unangenehmes Prickeln zieht ihm über den Rücken… hat der Mensch unter dem Sofa eine zweite Pistole versteckt? denkt er im ersten Moment verstört. Landsberger erkennt die Situation. Und er lacht auf, kurz und bitter. »Drehen Sie sich um! Ich mache selten zweimal denselben Fehler, Herr Trimmel – Sie brauchen keine Angst zu haben! Ich hätte auch vorhin nicht gezielt auf Sie geschossen… Sie hätten mir schon in den Schuß laufen müssen, um zu Schaden zu kommen… bitte, setzen Sie sich hin!« Trimmel gehorcht.
»Erstens«, fährt Landsberger fort, »möchte ich mich doch mal in aller Form wegen meines Verhaltens bei Ihnen entschuldigen; ich wußte bislang gar nicht, daß ich derart schwache Nerven habe. Zweitens interessiert es mich natürlich, welche Konsequenzen mich nach Lage der Dinge erwarten… was haben Sie eigentlich mit mir vor?« Trimmel verzieht den Mund. »Das haben mich gestern auch schon zwei Leute gefragt…« »Und?« fragt Landsberger. »Was haben Sie denen geantwortet?« »Daß ich sie laufenlasse«, sagt Trimmel widerwillig, »sie haben’s kaum geglaubt. Aber leider muß es so sein…« »Das heißt… Sie wollen also auch mich laufenlassen?« fragt Landsberger ungläubig. »Ja. Leider. Wobei ich Ihnen sagen kann, daß es mir in der Seele weh tut… jedenfalls fahr ich gleich nach Hause und laß Gras drüber wachsen! Und bevor Sie noch fragen, warum – weil ich mir als Mensch sagen muß, daß es für alle Beteiligten mehr Ärger geben würde, als die Sache wert ist… in Ihrem Fall allerdings am wenigsten!« Landsberger kann’s offenbar immer noch nicht fassen. Er starrt Trimmel an wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Aber dann räuspert er sich. »Danke!« sagt er leise. »Vielleicht sollte ich sagen im Namen aller… sicherlich eine zutiefst politische Entscheidung…« »Sagen Sie, was Sie wollen!« sagt Trimmel muffig. Landsberger indessen behält den feierlichen Ton bei. »Irgendwie ist es mir im übrigen ein Bedürfnis, in dieser Stunde zumindest den Versuch zu machen, Ihnen die Motivation meines… meines Handelns verständlich zu machen. Ich war an dem Tag, an dem ich die schreckliche Wahrheit über… über Bertie erfuhr, nahe daran, mich umzubringen, Herr Trimmel… so kurze Zeit nach dem Tod
meiner Frau glaubte ich definitiv, Schluß machen zu sollen. Die Idee, die mir dann kam, hat mich vermutlich gerettet… ich konnte aktiv werden, wenn Sie das verstehen, das Prinzip Hoffnung existierte plötzlich wieder… ich war wie besessen, Herr Trimmel, nur das hielt mich aufrecht! Können Sie mir das nachfühlen – vielleicht jenseits aller Moral?« Trimmel schüttelt nachdenklich den Kopf. »Jenseits aller Moral… so was geht nie!« »Natürlich geht’s nicht!« sagt Landsberger heftig. »Ich hatte Sie allerdings um Ihr Verständnis gebeten, weniger um Ihr Urteil! Vielleicht finde ich ja auch tatsächlich nicht die richtigen Worte – es sind erst drei Wochen vergangen, Herr Trimmel, ich bin vielleicht noch viel zu unmittelbar betroffen! Aber ich schlafe keine Nacht ohne schwere Schlafmittel… mehrfach in der Nacht stehe ich auf, um nach Bertie zu schauen, genau wie früher…« »Ja, nach Bertie!« wiederholt Trimmel bitter. »Genau wie früher… Sie haben sicher auch nur daran gedacht, daß das DDR-Kind Chris Billsing es besser haben soll hier im Goldenen Westen…« »Schade!« sagt Landsberger, jäh ernüchtert. »Ich sehe, Sie wollen mich nicht verstehen!« Trimmel steht auf. »Doch, ich versteh Sie sogar! Aber soll ich Ihnen auch noch die Absolution erteilen, nachdem Sie Ihre Straffreiheit schon haben? Ist doch immer dasselbe… ich erleb’s leider zu oft, Herr Landsberger. Kaum hat einer sein Geständnis abgelegt, schon will er am liebsten heiliggesprochen werden! Kann ich jetzt gehen?« Landsberger bleibt sitzen. Er ist offenbar wirklich maßlos enttäuscht. »Ich war leider noch nicht ganz zu Ende gekommen, Herr Trimmel. Kommen Sie, einen trinken wir noch…«
»Na gut!« sagt Trimmel. Ich war vielleicht doch zu hart zu ihm! denkt er – ich hätt’s ihm auch anders sagen können, wenn er schon über seinen Schatten springt… leichtgefallen ist es ihm sicher nicht. »Zum Wohl!« sagt Landsberger, nachdem er eingeschenkt hat. »Ich glaube übrigens, ich bin doch ganz froh, daß ich Sie kennengelernt habe…« Sein Ton ist mit einem Mal anders geworden! registriert Trimmel sofort. »Wie meinen Sie das?« Landsberger nippt an seinem Glas. Und dann sagt er, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt: »Ich habe soeben den Entschluß gefaßt, nach Leipzig zu fahren. Und Sie werden mitfahren!«
Trimmel verschluckt sich. »Sind Sie… über… sind Sie übergeschnappt?« hustet er. »Oh, das kann durchaus sein«, sagt Landsberger sentimental, »wie lange, glauben Sie, kann man auf einem Menschen herumtrampeln, bis er um sich schlägt und schreit? Bis er überschnappt?« »Ja, wen wollen Sie denn schlagen?« »Ach… direkt schlagen will ich niemanden. Aber eins will ich – ich will Eva Billsing treffen und wissen, was tatsächlich mit ihr… mit uns los ist! Ich will von ihr selbst hören, ob Sie mir die Wahrheit gesagt haben! Nur dann würde ich’s glauben!« Trimmel zwingt sich zur Ruhe. »Warum soll ich denn da mitfahren?« »Sicher nicht als mein Leibwächter«, sagt Landsberger mit der Andeutung eines Lächelns, »eher als mein Entree… wenn Frau Billsing wider Erwarten tatsächlich nichts mehr von mir wissen will…«
»Und wieso glauben Sie, daß ich’s täte?« »Sie müssen, Herr Trimmel!« Landsbergers schmerzliches Lächeln wird stärker. »Wenn das, was Sie vorhin sagten, ernst gemeint war, haben Sie gar keine Wahl! Ich kann Sie doch nötigen, indem ich Ihnen drohe, Sie anzuzeigen… für Ihre offenbar illegale Fahrt nach Markkleeberg riskieren Sie mit Sicherheit ein Disziplinarverfahren, das Sie Ihre Karriere kosten dürfte. Vor allem aber wär’s Ihnen als Mensch sicher gar nicht recht, wenn ich den Spieß umdrehen und die Affäre von mir aus an die große Amtsglocke hängen würde… überlegen Sie mal, was die Menschen, die Sie schützen wollen, drüben zu erwarten hätten…« Der helle Irrsinn! denkt Trimmel. Aber die verdammte Rechnung stimmt sogar… außerdem, hab’ ich’s nicht schon geahnt und prophezeit? Gestern bei Klaus, als ich ihn bluffen wollte? »Denken Sie doch an Ihren Sohn Chris!« sagt er vorwurfsvoll – ein letzter Versuch, das scheinbar Unvermeidliche abzuwenden. »Was wird mit Chris, wenn Sie durchdrehen?« »Auch das habe ich mir bereits durch den Kopf gehen lassen!« sagt Landsberger, inzwischen fast unnatürlich ruhig. »Selbst, wenn ich ins Gefängnis müßte – das Wohl des Kindes ist doch sicherlich wohl das stärkere Rechtsprinzip! Ich bin eigentlich recht guter Hoffnung, daß ich Chris behalten könnte…« Es hatte effektiv keinen Zweck mehr, mit ihm zu diskutieren. Der Mann hat sich verbohrt und verbissen, der Mann ist manisch. Der Mann rennt mit dem Kopf voran gegen den Eisernen Vorhang, denkt Trimmel, quer durch die Minen und Selbstschüsse… es hilft nichts, ich muß tatsächlich auf seine Schnapsidee eingehen! Plötzlich fällt ihm Eva ein. Ich würde sie wiedersehen, denkt er und wundert sich, daß sein Herz mit einem Mal schneller
schlägt. Ich würde ihr – und natürlich Klaus – vielleicht sogar helfen können! »Aber wie stellen Sie sich das denn überhaupt technisch vor?« »Das ist Ihre Sache«, sagt Landsberger jetzt geradezu liebenswürdig. »Sie haben da ja mehr Erfahrung! Ich würde vorschlagen, wir lassen Frau Billsing eine Nachricht zukommen und treffen uns mit ihr an der Transitstrecke… auf die Weise müßten wir dann gar nicht erst nach Leipzig oder Markkleeberg rein.« »Sie hat kein Telefon! Sie müßten wieder mal telegrafieren!« »Also, das erscheint mir jetzt wenig sinnvoll. Aber vielleicht hat ihr… ihr angeblicher neuer Lebensgefährte Telefon…?« Frau Rau! denkt Trimmel. Die Familie in der unteren Etage… da hat’s vorgestern geläutet! Äußerst zufrieden sieht Landsberger, wie Trimmel zum Telefon geht und die Auskunft anruft. »Eine Nummer in Markkleeberg bei Leipzig«, sagt er, »der Mensch heißt Rau, Rau wie Glatt ohne Heinrich… Richard Anton Ulrich… den Vornamen weiß ich nicht das heißt, doch, Hermann, glaub ich… die Adresse kenn’ ich, Robert-Blum-Straße vierzehn…« Eine Minute später erklärt die Auskunft, daß unter dem Namen Rau in Markkleeberg – Ortsnetz Leipzig übrigens – kein Anschluß verzeichnet ist. Das DDRTeilnehmerverzeichnis sei gelegentlich leider unvollständig. »Wiederhören!« Trimmel legt auf. »Es geht nicht!« »Ach, sicher geht’s!« sagt Landsberger tadelnd. »Notfalls müssen wir eben doch in den sauren Apfel beißen und die Transitstrecke verlassen…« Er kämpft um sein Mädchen! denkt Trimmel. Dabei hat er nicht die geringste Chance… aber Mut hat er und Phantasie. »Evas Freund ist übrigens Vopo«, sagt er, »Oberleutnant!«
»Oberleutnant?« staunt Landsberger. »Ja, dann können wir ihn doch anrufen! Außerdem könnten wir ihn ja sogar unter Druck setzen, falls wir in die Bredouille geraten… eine zusätzliche Chance…« Trimmel überlegt. »Eine Frage, Herr Landsberger.« »Zehn!« sagt Landsberger euphorisch. »Hundert!« »Falls es schiefgeht mit Eva, womit zu rechnen ist, spielen Sie dann immer noch verrückt? Oder ist dann endgültig Ruhe?« Landsberger verzieht das Gesicht. »Gut«, sagt er schließlich widerstrebend, »ich versprech’s Ihnen!« Da nimmt Trimmel den Hörer wieder auf und ruft das Fernamt an. Er meldet ein Gespräch nach Ostberlin an – eine scheinbar harmlose Privatnummer… »Ich kann Ihnen allerdings nicht versprechen, daß es heute noch klappt!« sagt die Mädchenstimme vom Frankfurter Fernamt. »Na – versuchen Sie’s!« sagt Trimmel. Alles wie gehabt. Nachdem er aufgelegt hat, fragt Landsberger: »Heißt das, daß Sie sich endgültig entschlossen haben, Herr Trimmel?« »Es ist nach wie vor Schwachsinn!« sagt Trimmel heftig. Er deutet auf das Telefon. »Das da erst recht!« »Also, ich find’s trotzdem fabelhaft, wenn Sie’s mir bitte nicht übelnehmen!« Landsberger nimmt’s als Zustimmung und sofort wirkt er wie ausgewechselt. »Wann gedenken Sie zu reisen?« »Morgen!« sagt Trimmel. »Morgen oder nie!« Es ist Montag, der 9. September. Fünf Uhr nachmittags – ein denkwürdiger Tag! denkt Trimmel höhnisch. Falls sie reisen, beschließt er, werden sie sehr früh starten; er nimmt deshalb Landsbergers Angebot an, im Gästezimmer zu übernachten. Und er gibt Landsberger, wenngleich wenig begeistert, seinen
Autoschlüssel, damit er den Ford vom Hotelparkplatz holt; das Zimmer hat er bereits am Morgen bezahlt. Es klingelt allerdings nicht ein einziges Mal, bis Landsberger zurückkehrt. Und dann warten sie gemeinsam… Irene macht ihnen belegte Brote, Landsberger liest hinterher wissenschaftliche Werke, und Trimmel trinkt den Cognac mit den vielen Sternen und liest Zeitung. Und starrt immer wieder ins Leere… mein lieber Freund Karl reißt mir gleich glatt den Kopf ab! denkt er und schämt sich jetzt schon für das, was noch kommt – wenn’s kommt. Das Gespräch kommt dann aber doch schon um kurz nach neun. Eine Frauenstimme sagt: »Hallo?« »Guten Abend«, sagt Trimmel, ohne seinen Namen zu nennen, »ist der Herr des Hauses da?« »Ja, Moment…« Während er wartet, hält er die Sprechmuschel zu und sagt zu Landsberger: »Lassen Sie mich mal ‘n Moment allein!« Landsberger verläßt das Zimmer. Und dann ist Karl dran – tatsächlich Karl Lincke vom DDRStaatssicherheitsdienst. »Hallo?« »Hallo, Karl!« sagt Trimmel hastig. »Du, ich will’s kurz machen… du mußt mir einen Riesengefallen tun. Ich muß mal mit einem Oberleutnant von eurer Vopo sprechen. Kannst du dem Mann was ausrichten?« Es verschlägt Lincke hörbar die Sprache. Aber dann sagt er mit seiner falschen Munterkeit: »Soll ich das selber entscheiden oder erst den Staatsratsvorsitzenden fragen?« »Bitte, Karl… es geht bloß um das tote Kind von Leipzig! Immer noch! Ich muß der Mutter was ausrichten, und ich weiß nicht, wie ich an sie rankommen soll…« »Will sie türmen?« fragt Lincke. »Nein! Ehrenwort…« »Und was«, fragt Lincke, »soll der Offizier dabei?«
»Herrgott«, sagt Trimmel, »er könnte genausogut Bäcker oder Friseur sein – er ist nun mal Polizist! Ich hab’ keinen Einfluß darauf, mit wem die Dame ins Bett geht!« »Er schläft also mit der Kindsmutter?« »Heftig. Ganz große Liebe. Ganz linientreu… unter Oberleutnant macht sie’s nicht. Tag und Nacht. Bitte, Karl – bitte, mach’s…« Pause. Dann sagt Lincke: »Du bringst mich um Kopf und Kragen. Wenn das ‘ne miese Sache ist…« »Ist keine!« Noch mal Pause. »Was ist es denn?« »Es ist koscher!« sagt Trimmel beschwörend. »Es ist nur meine verdammte Menschenfreundlichkeit… der Kindsvater will ihr was schenken, nach dem, was sie mitgemacht hat…« »Also gut. Wie heißt der Kerl?« »Peter Klaus. Klaus mit Nachnamen. Sag ihm über Diensttelefon oder sonstwie, daß ich ihn morgen gemeinsam mit Eva Billsing in der Raststätte Hermsdorfer Kreuz treffen muß. Mittags um zwölf. Es wär’ dringend… das ist alles!« Karl Lincke schaltet sofort. »Woher kennste den Mann?« »Mensch, Karl – frag mich nicht! Ich war schon mal in Leipzig… gestern. Da hab’ ich ihn getroffen, sie aber nicht – bitte, frag mich nicht so genau! Is alles absolut unpolitisch; was willste denn hören?« »Nix mehr!« sagt Lincke. »Du lügst ja doch nur! Weißt du, warum ich trotzdem mitspiele?« »Nee, warum?« »Weil ein Offizier der Deutschen Volkspolizei erwachsen genug ist, dich an Ort und Stelle zu verhaften! So, und damit…« »Karl!« Er schreit fast. »Nix mehr!« wiederholt er. »Schrei nicht so!«
»Doch«, sagt Trimmel leiser, »bitte, Karl, dreh das Ding nicht um! Laß den Jungen in Ruhe! Er hat wirklich nichts ausgefressen.« »Das werden wir ja sehen!« sagt Lincke. Sein letztes Wort – er sagt nicht mal tschüs. Trimmel ist schweißgebadet, als er den Hörer auflegt. Er holt Landsberger, der im Nebenzimmer sitzt und von seinem wissenschaftlichen Buch aufschaut. »Alles klar«, sagt er erschöpft, »morgen wie geplant.« Landsberger sieht ihn merkwürdig zerstreut an, bevor er nickt. »Ich habe mir überlegt, daß wir besser einen Leihwagen nehmen sollten. Es fehlte noch, wenn ich wegen versuchter Beihilfe zu Republikflucht oder dergleichen auch noch meinen Mercedes verlieren würde…« Er rechnet anscheinend doch mit dem Schlimmsten! denkt Trimmel. Ich werde aufpassen müssen, daß er keine Dummheiten macht – keine Zicken! Warum sieht er mich außerdem immer noch so schräg an? »Sie haben teilweise sehr laut geredet, Herr Trimmel, ich konnte nicht umhin…« »Ach so. Dann behalten Sie’s für sich!« sagt Trimmel. »Sicher«, meint er, »aber was meinten Sie mit… mit schenken?« Trimmel nimmt sich noch einen Cognac – den allerletzten für heute! schwört er sich. »War nichts weiter. Ich wollt’s meinem… meinem Gesprächspartner nur plausibler machen, warum wir so dringend eine bestimmte Dame treffen müssen – sozusagen menschlicher…« Da lächelt Landsberger – strahlend wie bisher nie. »Aber das ist doch eine hervorragende Idee! Ich weiß allmählich wirklich nicht mehr, wie ich Ihnen danken soll… was würden Sie denn an meiner Stelle schenken?«
Trimmel überlegt nur kurz. »Blumen!« sagt er. »Vergißmeinnicht!« »Aber, aber…« »Also, ich geh jetzt schlafen!« sagt Trimmel. »Machen Sie, was Sie wollen!«
Von wegen Blumen! denkt Landsberger, als er sich mit Hilfe des Branchenbuchs ans Werk macht. Er telefoniert und telefoniert – mit einem Juwelier nach dem anderen. Bei den Vorstellungen, die er vor allem preislich hat, erklären sich gleich mehrere Schmuckschmiede bereit, ihren Feierabend zu unterbrechen und ihn zu empfangen. Aber er ist sogar schon am Telefon wählerisch, läßt sich sehr detailliert schildern, was die Herren anzubieten haben – und so steigen einige doch schon vorzeitig aus dem zu erwartenden Geschäft aus. Am Ende wird es fast Mitternacht, bis Landsberger eine Vorentscheidung trifft und sich ein Taxi bestellt. Gegen ein Uhr früh kehrt er dann zurück. Er bringt gleich auch einen Leihwagen mit, auch einen Mercedes, einen strammen 280er – der größte, der um die Zeit noch zu kriegen war. Und vor allem hat er haargenau das dabei, was er sich für Eva vorgestellt hatte – in einer flachen Schatulle, unverpackt für den Fall, daß morgen ein Vopo an der Grenze unbedingt wissen will, was da in die DDR eingeführt werden soll… Nach wie vor aufgekratzt, allerdings auch vorsichtig klopft Landsberger noch an die Tür seines Gästezimmers. Trimmel jedoch reagiert nicht… er schläft bereits seit Stunden seiner dritten Leipzig-Tournee entgegen. Und er träumt ausgesprochen wirr von Eva Billsing in all ihrer Schönheit.
9
Das Armband hat die Form einer dreifach zusammengeringelten Schlange; Erich Landsberger hat zuweilen doch einen goldenen Humor. Es hat einen Feingehalt an Gold von siebenhundertfünfzig Schrägstrich null null null und wiegt etwa dreihundert Gramm. Statt mit Schuppen ist der biegsame Körper der goldenen Ophidia mit einem sogenannten feinen Backsteinmuster bedeckt worden, wie der Fachmann es nennt; dieses Muster nimmt dem edlen Tier, das auf einer Schmuckausstellung bereits einen dritten Preis errungen hat, viel von seiner von den Menschen so gefürchteten Symbolik. Und die Augen sind rot, was selten ist bei Schlangen; genau gesagt ist der hypnotische gläserne Blick in diesem Fall durch Rubine verschönert, gemildert und ersetzt worden. Es sind Rubine der wertvollsten, nämlich der sogenannten Taubenblutfarbe mit einem leichten Stich ins Bläuliche: rote Korunde aus Burma, Auge um Auge, zehn Karat schwer, jeweils zwei Gramm und in der Relation viel zu groß für das letztlich doch sehr symbolträchtige Tier. Schlangen können bekanntlich sehr schlecht sehen. Diese hier kann sich sehr gut sehen lassen: sie hat Landsberger fünftausendachthundert Mark gekostet. Aber Landsberger ist glücklich, seltsamerweise sogar noch dann, als ihm jäh der Gedanke kommt, es handle sich hier ja vielleicht doch nur um ein standesgemäßes Abschiedsgeschenk. Also liebt er Eva wohl immer noch – vielleicht eben doch über das Grab seiner Wünsche und Hoffnungen hinaus?
Eva Eva Eva denkt Landsberger, als er – wen stört’s? – mit der Schlange ins Bett geht. Trotzdem… es tut gut, alles zu überschlafen – sei die Nacht auch noch so kurz. Landsberger ist leise hereingekommen und hat Trimmel wecken wollen. Aber der ist schon wach. »Das Bad ist gleich links. Zweite Tür!« Getrennt von der Toilette, wie sich’s gehört. Um Punkt sechs macht es sich Trimmel auf dem Beifahrersitz des geliehenen Mercedes bequem. Ein Fiat oder Rekord hätt’s auch getan! denkt er. Und als ihm Landsberger sein Geschenk für Eva zeigt und den Preis nennt, schüttelt er nur noch den Kopf. »Sie fragen ja gar nichts mehr…« sagt Landsberger nach den ersten fünfzig Kilometern, am Gambacher Autobahnkreuz. »Kommt schon!« brummt Trimmel. Es kommt dann in einzelnen Stücken, etwa ab Alsfeld. »Sie haben der Frau Billsing ja noch am Tag vor oder nach dem… dem Kidnapping« – er nennt die Sache absichtlich beim Namen –, »ein Paket geschickt!« sagt Trimmel. »Sachen für Chris vor allem… hatten Sie das eigentlich auch mit ihr abgesprochen?« »Nein, nein«, sagt Landsberger rasch, »das war allein meine Idee! Ganz spontan! Für den Fall, daß…« »Daß Sie erwischt werden?« »Ja. Ich dachte plötzlich, es kann ja sicher nicht schaden, wenn ich…« »Also eine Art Alibi?« »Indirekt richtig. Ich dachte, ich könnte mich dann mit dem Paket dahingehend rausreden, es sei ein absolut spontaner Entschluß gewesen, den Jungen mitzunehmen. Chris, meine ich… als Vater, der gerade seinen anderen Sohn verloren hat, würde ich vielleicht auf Mitgefühl stoßen können…«
»Sie lesen sicher öfter Gerichtsberichte?« fragt Trimmel ziemlich hinterhältig. Landsberger denkt nach. »Sie meinen, weil… weil Angeklagte sich heute immer öfter darauf rausreden, sie hätten im Affekt gehandelt?« »So etwa!« sagt Trimmel. »Aber ich kann Ihnen ja mal eins stecken… wenn Sie wieder mal ein krummes Ding drehen wollen – sind Sie besser nicht ganz so schlau! Dreifach genäht, das ist immer verdächtig!« Er glaubt’s nur zu gern, daß Eva nichts von diesem Teil des Planes gewußt hat. Er wäre Landsberger geradezu böse gewesen, wenn er das Mädchen da auch noch reingezogen hätte – geständnisfreudig, wie er derzeit ist… Sie nehmen, weil Trimmel darauf besteht, den Umweg über Wölfterode und Nesselröden. Trimmel hat sich erinnert, daß sich der Besitzer des kleinen Ladens, in dem er vor drei Tagen einen einzigen Briefumschlag gekauft hatte, auch als Fotograf für alle Gelegenheiten empfiehlt… er läßt sich von Landsberger das Päckchen mit dem Armband geben, geht rein in den Laden und kommt nach einer Viertelstunde wieder zurück mit dem Päckchen und einem belichteten Film. »Ich will ja nicht neugierig sein«, sagt Landsberger im Mercedes, »aber was haben Sie denn da gemacht?« »Ich hab’ das Armband fotografieren lassen!« sagt Trimmel, als wär’s das Natürlichste von der Welt. Er legt den Film ins Handschuhfach. »Bloß als Souvenir. Für mich selber…« Später überstehen sie anstandslos die Kontrollen – bei der Einreise sind die Vopos lange nicht so verbiestert wie bei der Ausreise – und passieren die DDR-Autobahnabfahrt EisenachOst. »Wieso«, fragt Trimmel, »hört Ihr Chris eigentlich so ohne weiteres auf den Namen Bertie?« »Ach, das war einfach!« sagt Landsberger leichthin. »Bertram war ursprünglich der Name eines Bruders von mir,
der im Krieg fiel. Und als Chris damals geboren wurde, habe ich Eva gebeten, sie möge ihn nicht nur Christian – so hieß ihr Vater – nennen, sondern Christian Bertram… der Name Bertram war irgendwie wichtig für mich. Und als Chris Bertram größer wurde, habe ich ihn immer nur Bertie genannt – er hörte also immer schon auf beide Namen. Ich wußte da ja auch schon, daß mein… mein ehelicher Bertram – na ja, daß es so ablaufen würde, wie es abgelaufen ist… wirklich alles sehr sentimental…« »Aha. Vor allem auch sehr weitsichtig, nicht?« »Ach Gott – so stimmt das sicher nicht. Wenn Sie mir unterstellen, daß ich den Jungen immer schon auf diese Weise rüberholen wollte… da liegen Sie doch wohl schief!« Trimmel glaubt ihm kein Wort. Es kommt zeitlich überhaupt nicht hin. Aber er läßt es dabei bewenden. »Chris wird durch Ihre Machenschaften immer älter sein, als er in Wirklichkeit ist…« »Sicher«, sagt Landsberger, »aber dafür habe ich uns ja von vornherein sämtliche Probleme mit den Meldebehörden erspart! Ob Sie das kaltschnäuzig finden oder nicht – Bertie war offiziell nicht gestorben, also mußte er auch nicht offiziell auferstehen!« Gotha wird erreicht, Erfurt-West und Erfurt-Ost, schließlich Weimar-Bad Berka. Apolda, Magdala, Jena-Göschwitz und Jena-Lobeda. Das große Schweigen ist ausgebrochen, und es dauert Stunden… es ist wie vorgestern mit Peter Klaus! denkt Trimmel. Immer wieder gibt’s diese Situationen, in denen einem sogar die Gemeinheiten ausgehen… manchmal kommt’s ja allerdings wieder. Heute auch? Dann, endlich, wird das Hermsdorfer Kreuz angekündigt… fünf Kilometer bis zur Tankstelle und Raststätte. Landsberger fährt rechts raus – die Anlage ist fast so großzügig wie westliche Raststätten. Jede Menge Autos auf dem Parkplatz,
fast alles Transit, fast soviel wie in und um Leipzig während der Messe… Es ist zwei Minuten vor zwölf. Trimmel sieht Peter Klaus sofort. Er ist in Zivil und schlendert, sich die Glieder ausschüttelnd, über den Parkplatz wie ein Langstreckenfahrer, der sich die Beine vertreten will. »Sie warten erst mal!« sagt Trimmel zu Landsberger.
Trimmel steigt aus und geht auf Klaus zu. Der Oberleutnant hat offenbar nach einem gelben Ford Ausschau gehalten, nach Trimmels Wagen, den er kennt. Und deshalb sieht er Trimmel erst, als der schon unmittelbar neben ihm steht; er bleibt ruckartig stehen. »Hallo!« sagt Trimmel. »Ja, Sie…« stottert Klaus. »Da sind Sie ja!« Sie zögern sekundenlang – dann reicht Trimmel dem Jüngeren die Hand. »Wo ist Frau Billsing?« fragt Trimmel. »Drüben im Wagen!« Ein grünes Taxi, wie die meisten oder doch sehr viele hier in der Gegend. »Ich dachte, ich peile mal erst die Lage… was gibt’s denn Neues?« »Nu ja – einiges…« sagt Trimmel. »Ja, was denn? Haben Sie mit Landsberger geredet?« Trimmel nickt. Es fällt ihm ungewöhnlich schwer, zur Sache zu kommen. »Gut, daß Sie gekommen sind. Hatten Sie keine Schwierigkeiten?« »Es ging!« sagt Klaus. »Gerade noch. Ich kann ja nicht machen, was ich will…« »Ja, das kenn’ ich«, sagt Trimmel, »hinter mir schreien sie auch schon her…« Dann aber stemmt Klaus die Arme in die Hüften. »Also. Was ist los? Abgesehen davon, daß sie ziemlich einflußreiche Freunde in der DDR haben…«
»Ach, das ist Zufall!« sagt Trimmel. »Der Mensch, der Sie angerufen hat, ist ein Bekannter aus meiner Schulzeit… ist ja auch nichts dabei, möcht’ ich meinen!« Der Name Lincke fällt nicht – kann Trimmel wissen, unter welchem Namen und Vorwand sich Karl bei der Leipziger Vopo gemeldet hat? »Was ist los?« wiederholt Klaus. Trimmel deutet auf den Mercedes mit der Frankfurter Nummer. »Ich bin nicht allein gekommen…« Klaus schaut hin und sieht den Mann, der noch hinter dem Steuer sitzt. Er sieht Trimmel überrascht an. Natürlich begreift er. Trotzdem fragt er: »Wer ist das?« »Landsberger!« sagt Trimmel. »Und? Was will er?« »Sich verabschieden… von Eva verabschieden…« »Also, wirklich…« sagt Klaus heftig. »Kommt überhaupt nicht in Frage!« »Nun sind Sie mal ruhig!« sagt Trimmel. »Ich find’s genauso überflüssig wie Sie. Aber er besteht nun mal drauf… was soll’s? Was ist daran schlimm, daß er Eva vor Jahren auch mal ganz hübsch gefunden hat?« Klaus schüttelt den Kopf. »Deswegen krieg ich Krach mit meinem Vorgesetzten! Deswegen fahr ich siebzig Kilometer Taxe… Sie sind doch behämmert!« »Siebzig Kilometer?« fragt Trimmel überrascht. »Ja, sicher… Hermsdorf er Kreuz! Haben Sie doch bestellen lassen!« »Oh, Mann«, sagt Trimmel, »da hab’ ich mich verguckt! Aber nu sind Sie mal hier… lassen Sie Landsberger seine Sprüche loswerden, und dann nehmen Sie Ihr Mädchen unter den Arm und fahren wieder weg!« »Nein!« sagt der Oberleutnant fast schreiend. »Doch! Alle zusammen habt ihr das Ding mit den Kindern veranstaltet… da habt ihr hervorragende Nerven gehabt! Und
nu hat Frau Billsing nicht mal Nerven genug, auf Wiedersehen zu sagen?« »Darum geht’s doch nicht!« sagt Klaus. »Begreifen Sie das doch…Ich will nicht, daß sie Landsberger wiedersieht!« »Wovor haben Sie denn da Angst?« fragt Trimmel. »Vor dem Kerl hab’ ich immer Angst!« antwortet Klaus, überraschend ehrlich. Er ist stur wie ein Grizzly, denkt Trimmel. Vorgestern war er noch so weit, daß er mich gefragt hat, ob ich ihm Bescheid sagen kann, sobald ich Landsberger im Griff habe. Und heute denkt er, daß er alles geschenkt kriegt… so naiv kann einer allein doch gar nicht sein! »Herr Klaus… ich hab’ gestern den ganzen Tag gebraucht, um den Mann davon abzuhalten, zur Kripo zu laufen! Genau, wie wir’s befürchtet hatten… Sie glauben gar nicht, wie froh ich war, daß er sich schließlich auf den Kompromiß mit dieser Abschiedsfeier eingelassen hat! Aber für wen hab’ ich das denn getan? Etwa für mich? Oder für Sie und Eva?« Klaus wirkt jetzt unsicher. »Was war das mit dem Geschenk… ich bin da nicht ganz hintergestiegen am Telefon…?« »Er will ihr was schenken!« sagt Trimmel. »Irgendwelchen Schmuck…« »Ach! Wofür denn?« höhnt Klaus. »Also, jetzt reicht’s!« sagt Trimmel. »Wenn Sie nicht mehr Vertrauen zu Ihrem Mädchen haben, sollten Sie die Finger davonlassen!« Das sitzt. Eva sitzt immer noch in dem grünen Taxi. Sie hat im Gegensatz zu Peter sofort gesehen, aus welchem Wagen Trimmel gestiegen ist. Und auch, wer sitzengeblieben ist… sie hat sofort die Tür aufgerissen, um hinzurennen und Landsberger zu fragen, wie’s Chris geht – aber dann hat sie es
doch nicht getan; die Angst war stärker. Peter und Landsberger! denkt sie jetzt unaufhörlich. Ich und Erich… warum? Sie sieht, wie Landsberger auf einen Wink von Trimmel hin aus dem Mercedes steigt und auf Peter und Trimmel zugeht. Trimmel macht Peter und Landsberger miteinander bekannt; die beiden deuten eine Verbeugung an, geben sich aber nicht die Hand. Alle drei gehen anschließend auf das Taxi zu, Peter vorneweg… Da reißt Eva sich aus ihrer Erstarrung und öffnet die Tür des Taxis. Sie springt heraus und will davonlaufen, irgendwohin, fort jedenfalls von diesem Parkplatz, fort von allem. »Eva!« ruft Peter. »Warte doch!« Sie bleibt stehen. »Du mußt mit ihm reden!« sagt Peter. »Er will’s von dir selber hören… das mit uns…« »Ich mit Landsberger reden…?« Er nickt nur. »… kann’s nicht ändern!« murmelt er undeutlich, mit einem Kloß in der Kehle. »Ja, aber was denn?« »Irgendwas…« sagt er hilflos. Da geht sie, gefolgt von Peter, auf Landsberger zu. Der ist blaß wie die Wand; in der linken Hand trägt er ein kleines Kästchen. »Tag, Erich!« sagt Eva und gibt ihm die Hand. »Eva…« flüstert er und läßt sie überhaupt nicht mehr los. »Wie geht’s Chris?« fragt Eva. »Fragt er noch nach… ist er sehr unglücklich?« Landsberger sieht sich nach Peter Klaus um. »Es geht ihm gut«, sagt er zu Eva, »ich… ich soll dich grüßen… sag mal, können wir nicht einen Kaffee trinken?« »Ja, sicher…« sagt Eva.
Aber dann sehen alle auf Peter. Und der zuckt die Achseln, mit zusammengebissenen Zähnen. »Bitte…« Trimmel geht als erster los, in Richtung Mercedes; Peter Klaus folgt ihm. Und der Fahrer des anderen Wagens, der grünen Taxe aus Leipzig, kurbelt die Scheibe herunter: neugierig sieht er zu, wie ein Mann aus dem Westen und einer aus dem Osten in einen westlichen Wagen steigen… und wie zur selben Zeit ein Mann aus dem Westen und eine schöne junge Frau aus dem Osten in die Raststätte gehen. Aber die beiden aus dem Osten haben ihm genug Geld gegeben, damit er wartet… außerdem sind Taxifahrer sowieso Leute, die sich am liebsten aus allem heraushalten.
»Kaffee?« fragt Landsberger. Eva nickt. »Also zwei Kaffee!« sagt er zu dem Ober, der auf die Bestellung wartet. »Kännchen oder Tasse?« fragt der Ober. »Kännchen!« sagt Landsberger gereizt. Der Ober sieht ihn über seine Brillengläser hinweg vorwurfsvoll an und verschwindet. Und Eva kramt in ihrer Handtasche nach Zigaretten. Landsberger sieht’s und hält ihr sofort eine Dunhill-Packung hin; sie nimmt eine, bedankt sich, und er gibt ihr Feuer. Er selber raucht nicht. Das schwere goldene Feuerzeug mit den Initialen E. L. und die rotgoldenen Zigaretten liegen auf dem Tisch. Eva kennt die Requisiten aus Bars, Restaurants und Hotelzimmern… Ihr wird mulmig schon bei den ersten Zügen. Denn sie macht eine Entdeckung, die schmerzhafter ist als alles, was sie in den letzten fünf Minuten erwartet hat – sie ist entsetzt über die
Faszination, die Erich Landsberger immer noch auf sie ausübt, ganz spontan. »Ich hab’s ja nicht glauben wollen«, sagt Landsberger unvermittelt, »als gestern Trimmel kam und mir sagte, du würdest nicht mehr rüberkommen wollen… ich hätte ihn fast umgebracht! Es ist gerade noch gutgegangen…jedenfalls haben wir dann beschlossen, herzukommen…« Er macht eine Pause. Eva schweigt und schaut zu Boden. »Sieh mich mal an, Eva… stimmt das?« Da nickt sie. Ich muß gleich losheulen! denkt sie… warum muß ich ihm das ins Gesicht sagen? Warum habe ich’s ihm nicht viel früher gesagt? »Also tatsächlich!« sagt er tonlos. Gleich darauf verlegt er sich aufs Bitten. Wortgewaltig und rührselig… früher hat sie da nach fünf Minuten nicht mehr nein sagen können. »Denk doch mal daran, was wir gemeinsam getan haben… da hast du doch freiwillig mitgespielt! Da kann ich nicht mehr raus – und du auch nicht! Ich kann dich doch immer noch über Jugoslawien oder Bulgarien rausbringen, was weiß ich… geht doch keinen was an!« Ihr ist hundeelend. Sie sagt immer noch nichts. »Du liebst mich doch noch!« sagt er heftig. »Ja!« sagt sie – total gegen ihren Willen. »Also!« sagt er triumphierend. Er legt die Schmuckschatulle auf den Tisch und nimmt sich auch eine Zigarette. Aber mit einem Mal redet sie. Tritt die Flucht nach vorn an, nennt’s beim Namen – nennt endlich auch Peter beim Namen. »Peter ist kein Typ, der sich hinters Licht führen läßt… außerdem, ich will das auch gar nicht! Sicher liebe ich dich noch, aber Peter lieb ich auch… das geht einfach nicht auf die Dauer! Sieh doch mal… Chris war weg, und ich war
verzweifelt – und dann war Peter da, du nicht! Und irgendwann hab’ ich dann gemerkt, daß er… daß wir wahrscheinlich sogar noch besser miteinander auskommen als… als wir beide. Ich steh doch jetzt total dazwischen… Chris soll’s gut haben, du willst mich haben, er will mich haben… aber er ist besser für mich, versteh das doch!« Er sieht sie fassungslos an. Und kriegt dann doch wieder gerade noch die Kurve – mit seinem verdammten Zynismus. »Also Volltreffer in die Munitionskammer…« »Ja, so kann man’s auch nennen!« sagt sie bitter. Er raucht hastiger denn je. Sie zerdrückt ihre Zigarette, bevor der Filter zu kokeln anfängt. Er drückt seine halb aus. »Tja«, sagt er, »dann werde ich mich ja wohl damit abfinden müssen…« Sie sehen sich an und sehen aneinander vorbei. So schnell gibt er bestimmt nicht auf! denkt sie. Nicht Erich Landsberger… ich kenn’ ihn doch; der kämpft doch noch, wenn er lange tot ist! »Trotzdem«, sagt Erich Landsberger, »ich will es noch mal ganz sachlich. Wir hatten einen Plan für drei Menschen gemacht… für weniger als drei Menschen hätte er nie funktioniert. Aber jetzt mit einem Mal steigst du aus… einfach aus! Und da frage ich mich ja dann doch, ob es ein spontaner Entschluß von dir war, oder ob du es vielleicht schon vorher gewußt hast… mit anderen Worten, ob du mich betrogen hast oder nur enttäuscht?« »Ich weiß es nicht!« sagt Eva. Und weiß genau, daß sie nicht die Wahrheit sagt. Landsberger nimmt einen neuen Anlauf. »Seit wann bist du überhaupt mit diesem… diesem Peter zusammen?« »Ich kann’s nicht sagen!« lügt sie, wenig überzeugend.
Seine Stimme wird schärfer. »Es wird sich ja noch feststellen lassen, ob du seit einem Jahr oder drei Wochen mit ihm ins Bett gehst!« »Also, ins Bett geh ich mit ihm seit einigen Jahren!« sagt sie erschöpft – sie kann nicht mehr lügen. »Sag das noch mal!« sagt er kreidebleich. »Warum denn?« fragt sie aggressiv. »Wenn du elf Monate im Jahr nicht da bist… ist es denn ein Verbrechen, wenn ich mal mit einem anderen schlafe?« Er schüttelt den Kopf. »Ist das eine Antwort?« »Bitte, Erich – hör auf! Man kann nicht zwei Männer lieben – ich geb’s ja zu, ich hab’s ja gemerkt…« »O Gott…« sagt er leise und starrt aus dem Fenster. Sie streichelt seine Hand. »Du hättest bei mir sein müssen, Erich… ich hab’ dich wirklich geliebt! Ich hätte dich auch geheiratet, glaub’s mir doch! Aber wenn ich ständig allein bin… Erich, man muß doch mal mit einem Menschen reden können!« »Reden!« sagt er und zieht die Hand weg. »Ja, auch reden…« Er sieht sie wieder an. »Wir hatten eine Absprache, wenn ich dich daran erinnern darf…« »Ja. Von Markkleeberg nach Amerika!« sagt sie. »In Amerika das große Glück; die glückliche Familie Landsberger auf der Ranch in Kalifornien… Vater, Mutter und Kind! Aber das waren doch Grimms Märchen für mich, Erich… leb doch mal länger hier in Leipzig! Kannst du das denn gar nicht begreifen?« »Nein!« sagt er hart. »Ich begreife nur eins… zweimal im Jahr komm ich zur Messe, und kaum bin ich weg, da ist er wieder dran! Und das kannst du doch wörtlich nehmen – seit Jahren! Unanständiger geht’s doch kaum!« »Bitte, sei ruhig…« flüstert sie.
»Nein! Ich kann’s dir nicht ersparen, und ich will’s nicht! Gib’s doch zu, wie’s tatsächlich gewesen ist… zuerst läuft das ganz gut mit deinem Menschen im Bett, aber dann kommt ihr nicht mehr klar, weil er immer Angst hat, Chris spielt inzwischen Vopo mit seiner Mütze! Und dann komm ich mit meiner grandiosen Idee, Chris rüberzuholen… sofort sagt der Mensch, das ist doch die Idee… bloß du darfst dir natürlich um Gottes willen nichts anmerken lassen! Wenn der Alte sagt, daß er dich natürlich auch holen will, mußt du zu allem ja und amen sagen… mußt mitspielen, bis Chris erst mal drüben ist. Dann allerdings… dann läßt du Landsberger einfach hängen! Stimmt’s?« Ja, es stimmt! denkt Eva Billsing… es stimmt Wort für Wort. Aber was kann ich dafür, daß es stimmt? »Stimmt’s?« wiederholt Landsberger. »Nein!« sagt sie plötzlich. Denn ohne jede Vorankündigung läuft’s ihr mit einem Mal heiß und kalt den Rücken hinunter… ein Gefühl packt sie, das stärker ist als alle Gefühle, die sie kennt. Eine Sehnsucht ohne Grenzen… Sie wird förmlich weggeschwemmt. »Gib mir den Jungen wieder!« fleht sie. »Bitte, Erich, bring ihn zurück!« Auch das noch! denkt Landsberger. Das allerletzte – Trick siebzehn, bloß um mit Anstand rauszukommen! »Bring Chris zurück…« wimmert Eva. »Chris? Kenn’ ich gar nicht! Oder meinst du Bertie?« »Bitte, Erich…« Landsberger winkt dem Ober. »Cognac?« fragt er Eva. Sie nickt. Sie hat nasse Augen. »Zwei Cognac!« bestellt er. Der Ober schlurft davon. Landsberger zündet zwei Zigaretten an; eine für Eva. »Du kannst ihn jederzeit wiederhaben«, sagt er, »du weißt ja, wie…«
Sie steht auf. Sie läßt die Zigarette im Aschenbecher liegen und geht zur Toilette. Ein paar Leute im Lokal folgen ihr mit den Augen… Sie sind längst aufmerksam geworden und sehen sich bedeutungsvoll an. Ihr Risiko, wenn ein Spitzel dabei ist! denkt er. Der Ober bringt die beiden Cognacgläser. Landsberger trinkt seins sofort aus. »Noch einen!« »Gern!« sagt der Ober – freundlicher als vorhin. Dann kommt Eva zurück, mit frischem Make-up. Und mit ihr schon der Ober mit dem neuen Cognac… »Prost!« sagt Landsberger. »Zum Wohl…« Sie setzt das Glas ab und starrt ihm fast feindselig ins Gesicht. »Also… was ist?« »Was soll sein?« »Chris…« sagt sie. Da schüttelt er den Kopf. »Definitiv nein. Laß dir ein neues Kind machen – Chris gehört mir!« Sie gibt trotzdem nicht auf. »Sieh’s mal ganz sachlich… dein Lieblingsausdruck. Glaubst du, ich hätte Chris weggegeben, wenn ich nicht tatsächlich noch entschlossen gewesen wäre, nachzukommen?« Landsberger glaubt ihr kein Wort. »Du meinst, du hast mich gar nicht hintergangen?« »Natürlich nicht! Ich hatte mich für dich entschieden… für dich und die Flucht! Das andere… Erich, das kam doch erst später!« »Wann denn?« fragt er gehässig. »Wann hat denn der Herr Peter seinen Volltreffer gelandet? Am einundzwanzigsten August oder am zweiten September?« »Ich hab’ nicht auf den Kalender geguckt!« sagt sie verletzt. Aber er sieht’s nicht… er will’s nicht sehen. »Ich will’s dir sogar mal glauben, so schwer es mir fällt. Trotzdem… ich habe
schließlich auch ein Kind verloren, wenn du das meinst. Und es liegt bei dir auf dem Friedhof – du hast es begraben, Eva! Du hast alles mitgespielt… also spiel doch weiter! Geh doch gelegentlich hin und stell Bertie Blumen aufs Grab! Bertie – hörst du? Meinem Bertie! Macht bestimmt viel Eindruck… wird doch sowieso von dir erwartet…« Der harte Landsberger… er spürt es selbst. Der andere Landsberger, der von Kompromissen nichts hält und von Konzilianz nichts wissen will. Keiner ist so brutal wie er, sobald er mit dem Rücken zur Wand steht, keiner schlägt derart zu, nachdem man ihm den Sessel vor die Tür gestellt hat… Schicksal! denkt er düster. Ich kann nicht anders und will’s nicht anders! Ein böser Test. »Ich mache dir einen Vorschlag, Eva. Im Moment ist es ungünstig, das seh ich ja ein… aber wie wäre es, wenn ich nächste Woche wiederkomme, und wir verbringen ein Wochenende in Dresden? Du läßt dir irgendeine Ausrede einfallen, und ich laß inzwischen meine Beziehungen spielen und besorge mir ein Visum. Auf die Idee kommt Klaus bestimmt nicht… es kratzt ihn ja auch nicht, wenn er’s nicht weiß! Und hinterher gebe ich dir Chris zurück – Ehrenwort! Wie wär’s?« »Nein!« sagt sie heftig. »Na schön…« »Das heißt…« – sie zögert. Und dann nickt sie. »Doch, Erich ich mach’s! Ich weiß zwar nicht, ob du viel Spaß an mir hast, aber bitte…« »Tatsächlich?« fragt er ungläubig. »Ja, sicher…« »Nur, damit Chris zurückkommt?« »Ja!« sagt sie nochmals. »Das heißt, nein… natürlich nicht nur deswegen… Ehrenwort nicht!«
Da greift er sich die Schmuckschatulle, die nach wie vor auf dem Tisch liegt, und reicht sie ihr hin. »Für dich!« sagt er und weiß nicht, ob er damit nicht doch noch seine allerletzte Chance verspielt, wenn’s überhaupt eine gewesen ist; immerhin, er hat sich diese Szene ja ganz anders vorgestellt! Er versucht zu lächeln – aber selbst das geht schief. »Nimm’s als Anzahlung auf die frohen Stunden…« »Was ist das?« fragt Eva. »Mach’s doch auf…« Dreihundert Gramm achtzehnkarätiges Gold ringeln sich auf dem fleckigen Plastiktisch, als die Schlange aus ihrem nachtblauen Samtkäfig befreit wird, plus vier Gramm Rubine mit dem Härtegrad neun, dem zweithärtesten Grad nach den Diamanten… Landsberger sieht sich um im Lokal, aber Gott sei Dank schaut im Moment niemand zu. »Nein…« sagt Eva erstickt. »Doch, doch!« sagt Landsberger. »Jemand, der mir noch einiges an Geld schuldet, hat’s mir gegeben… tu mir den Gefallen und steck’s ein; es steht dir sicher hervorragend, und ich kann’s nicht brauchen…« »Aber ich doch auch nicht!« »Doch! Es ist wie geschaffen für dich… frag Peter…« Sie schüttelt den Kopf. Sie legt das Armband in die Schatulle zurück. »Ich könnt’s nie tragen. Ich kenn’ dich doch, Erich… in deinen Augen ist das der Kaufpreis für unseren Jungen!« »Quatsch!« sagt er ironisch. »War’ doch viel zuwenig! Ein so liebes Kind…« »Ich kenn’ dich doch!« sagt sie nochmals. »Dann eben der Kaufpreis für mich… aber ich bin’s nicht wert, sagst du doch selber…« »Sag mal, bist du wirklich so vernagelt?« fragt er kopfschüttelnd. »Glaubst du wirklich, ich will dich für fünf oder sechs Mille kaufen?«
»Fünf oder sechs Mille?« Sekundenlang wirkt sie unsicher. Aber dann sagt sie tapfer und überzeugt: »Ja!« »Na, fein!« sagt Landsberger. Und sein Zynismus bricht wieder durch. »Dann wollen wir uns mal auf halbem Weg einigen. Nehmen wir mal an, ich will tatsächlich was kaufen – wie wär’s dann mit Herrn Peter?« »Peter kann man nicht kaufen…« »… aber vielleicht rauskaufen?« »Erich – hör auf!« Plötzlich grinst er. »Wetten, daß ich’s kann? Wenn schon nicht mit Geld…« Ein häßliches Grinsen. Unnatürlich und böse – das verzerrte Gesicht eines Mannes, der weiß, daß er verloren hat und es nicht erträgt. »Ich hätt’s dir gern erspart; Eva… aber du zwingst mich dazu. Wenn du mir die… die Chance mit Dresden nicht mehr gibst, muß ich zum Äußersten greifen…« »Du wirst uns anzeigen, meinst du?« fragt Eva – noch überraschend ruhig, wenigstens nach außen hin. »Woher weißt du das?« »Von Herrn Trimmel«, sagt sie, »er hatte es uns schon angedroht…« »Und?« fragt er lauernd. »Würdest du es tun, Erich?« Er zögert nur eine Sekunde. »Ja, sicher, ich…« »Dann tu’s!« sagt sie – jetzt haßerfüllt. Sie steht auf, nimmt ihre Handtasche und geht aus dem Lokal. Auf den letzten Metern allerdings beginnt sie hemmungslos zu schluchzen und flüchtete sich abermals in die Toilette.
Trimmel und Peter Klaus haben in Landsbergers Leihmercedes gesessen und weiß Gott keine Höflichkeiten ausgetauscht.
»Seit Sie gekommen sind«, hat Klaus gesagt, »hat es zwischen Eva und mir nur Ärger gegeben… Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie mir zumute ist? Konnten Sie uns nicht wenigstens dieses Theater ersparen?« Trimmel hat versucht, die Sache zu bagatellisieren. Aber dabei hat er offensichtlich den falschen Ton erwischt. »Ihr schreckt doch vor nichts zurück!« hat Klaus wütend gesagt. »Sogar den SSD haben Sie unterwandert… Ihr merkwürdiger Freund aus Ostberlin kriegt wohl monatlich einen kleinen Briefumschlag, was?« Trimmel ist seinerseits böse geworden. »Er hat mir geholfen und damit auch Ihnen! Und ich würde ihm genauso helfen; er weiß nicht mal, um was es geht! Könnt ihr euch denn überhaupt nicht mehr vorstellen, daß es Menschen gibt, die sich helfen, wenn einer in der Scheiße sitzt? Auch ohne Briefumschlag?« »Nun werden Sie auch noch politisch…« »Ach, hören Sie auf mit dem Stuß! Ich bin Polizist in Hamburg, und ich bin zufällig über euer totes Kind gestolpert… über irgendein Kind. Und wenn das Kind aus Feuerland gewesen wär, hätt’ ich längst nicht so viele Scherereien gehabt wie hier! Warum muß ich mich nach Leipzig schleichen wie Karl May persönlich? Was hat das noch mit Politik zu tun? Warum bettelt hier denn jeder jeden an, damit er die Schnauze hält? Ist doch grotesk!« »Hauptsache, es hält tatsächlich jeder die Schnauze!« sagt der Oberleutnant kalt. Auch Trimmel ist wieder ruhiger geworden. Ruhiger – und bitter. »Das Mädchen kennen Sie ja nun wirklich seit Jahren, haben Sie mir erzählt. Und den Jungen auch. Konnten Sie die Dame wirklich nur ohne Kind zum sozialistischen Ehebund führen?«
Genau die Frage, die sich Peter Klaus selbst nicht zu stellen wagt. Er will aufbrausen – aber dann, mit einem Mal, wird er ganz ruhig. Der Mann hat ja recht! denkt er. Der Mann hat unheimlich beschissen recht! »Ich hätte sie ja geheiratet«, sagt er trübsinnig, »das lag gar nicht nur an dem Kind… ich wollte meine nächste Beförderung abwarten und dergleichen…« »Beförderung!« sagt Trimmel kopfschüttelnd. »Manchmal bin ich froh, daß ich keine Dreißig mehr bin!« Eine Weile sagt niemand was. »Ich will Ihnen mal eins erzählen«, sagt Peter Klaus schließlich bedrückt. »Eva und ich hatten gestern abend eine Aussprache. Ich hab’ ihr auf den Kopf zugesagt, daß sie die ganzen Jahre immer noch was mit Landsberger gehabt hat… jedesmal, wenn er hier war! Zweimal im Jahr! Sie hat’s zugegeben… immer, wenn ich Dienst hatte – war deshalb ziemlich einfach für die beiden. Was sagen Sie jetzt?« »Nichts!« sagt Trimmel. »Geben Sie’s doch zu… Sie haben’s doch auch gewußt?« »Ich hab’s mir denken können…« sagt Trimmel. »Ja – und ich nicht! Ich Idiot hab’ nicht im Traum dran gedacht… bin ich doch selbst schuld, oder?« »Irgendwie schon…« sagt Trimmel. »Eben. Und deshalb unter anderem deshalb hab’ ich Eva gesagt, daß sich dadurch nichts ändert! Frauen sind auch nur Menschen. Nächsten Monat werden wir jedenfalls tatsächlich heiraten, wenn…« Er hört mitten im Satz auf und springt aus dem Auto. »Eva!« ruft er, obgleich sie ihn von der Tür des Restaurants aus sofort gesehen haben muß. »Hier…« Trimmel steigt langsamer aus. Er sieht, wie Klaus das Mädchen erreicht und mit Händen und Füßen redet – verstehen kann er nichts.
Eva schüttelt den Kopf. Nachdrücklich und immer wieder. Dann nickt sie energisch. Sie deutet auf das Taxi, das immer noch wartet…
Am Ausgang des Restaurants erscheint Landsberger, Trimmel geht zu ihm… Landsberger, sieht er schon von weitem, schleppt sein fürstliches Geschenk nach wie vor mit sich herum. »Sind Sie’s nicht losgeworden?« Landsberger gibt keine Antwort. Er gibt Trimmel das Päckchen, weil er sich offenbar sofort eine Zigarette anstecken muß. »Was ist denn?« drängt Trimmel nervös. Aber Landsberger raucht, sagt wiederum nichts und schaut mit leerem Gesicht Eva zu, die sich gerade von Peter Klaus löst und auf das Taxi zugeht… Sie steigt ein. Peter Klaus ist unschlüssig, in welche Richtung er gehen soll… dann jedoch geht er mit ziemlich schweren Beinen zu Trimmel und Landsberger. »Sind Sie jetzt zufrieden?« fragt er Landsberger. »Ganz und gar nicht!« sagt Landsberger arrogant. »Wieso denn nicht? Sie heult doch…?« »Trotzdem«, sagt Landsberger und zuckt die Schultern, »es ist nicht so gelaufen, wie ich es mir erhofft hatte!« »Und was werden Sie jetzt tun?« Höhnisch äfft Landsberger den Oberleutnant nach. »Was werden Sie jetzt tun… was anderes fällt hier keinem mehr ein! Warten Sie’s doch ab!« Klaus wird knallrot. Er schlägt jeden Moment zu! denkt Trimmel. Und ich könnt’s diesmal weiß Gott verstehen.
Aber Klaus schlägt nicht zu. »Sie sind das letzte Arschloch!« sagt er. Dann macht er auf dem Absatz kehrt und geht mit großen Schritten zu seinem Taxi. »Warten Sie!« ruft Trimmel. Der Oberleutnant bleibt zögernd stehen, schon auf der Hälfte des Weges. »Was ist denn schiefgelaufen?« »Alles!« knirscht Klaus. »Er kann froh sein, daß er noch lebt! Meint, er kann Eva immer noch… aber irgendwo hört’s doch auf! Feine Freunde haben Sie!« »Er ist nicht mein Freund!« sagt Trimmel. Und er versucht ein allerletztes Mal, die Situation zu retten. »Regen Sie sich doch erst mal ab, Herr Klaus! Sie sind doch selber…« »Ach ja!« höhnt Klaus. »Ich! Ich hab’ das Loch gegraben für Bertie Landsberger! Ich hab’ dem Meister alles eingeflüstert, ich als Vopo hab’ ihn reingelassen mit seiner Leiche… Mann, werden Sie doch Pastor!« Trimmel ist plötzlich ganz still. Loch gegraben! denkt er… durchgewinkt an der Grenze, reingelassen mit seiner Leiche… »Was haben Sie denn?« fragt Klaus. »Ja, Moment mal…« Er steht in Landsbergers Zimmer. Gestern nachmittag… sie sprechen über Leichenstarre. Starre Leichen kann man sehr schlecht umziehen… Landsberger mit seinen biochemischen Abläufen und Vorgängen. Er bringt ihn total von der Rolle… die Spur verschwindet im Nebel, der Faden reißt… Der Nebel hat sich schlagartig verzogen. Tausend und mehr Leichen hat Trimmel gesehen – Leichen in allen Lagen und Zuständen. Starre Leichen kann man sehr schlecht umziehen… kann man Leichen nach der Starre etwa besser umziehen? »Also – Wiedersehn!« sagt Peter Klaus und streckt ihm die Hand hin.
Trimmel übersieht sie. »Wo genau ist Bertie Landsberger eigentlich gefunden worden?« »Autobahn Richtung Dessau«, sagt Klaus irritiert. »Wie kommen Sie jetzt darauf?« »Das heißt also Richtung Berlin?« fragt Trimmel, obgleich er’s weiß. »Ja, sicher… warum?« »Ooch, nur so… wollt ich immer schon wissen. Aber was mir eingefallen ist… wenn Sie Landsberger noch eine einzige Chance geben, kann ich ihn wahrscheinlich immer noch auf Vordermann bringen!« »Welche denn jetzt schon wieder?« fragt der Oberleutnant mißtrauisch. Da geht Trimmel an ihm vorbei zu Eva in dem wartenden Taxi. Der Fahrer des Wagens hat sicher schon viel erlebt, aber ein Hin- und Hergelaufe wie das hier sieht er vermutlich zum erstenmal. Eva schaut Trimmel entgegen, ängstlich und feindselig. Hinter Trimmel erreicht Klaus das Taxi. Trimmel macht die Tür rechts hinten auf – dort, wo Eva sitzt. Er hält ihr Landsbergers Schmuckkästchen hin… und sie starrt die Goldschlange an voller Abscheu und Widerwillen. Sie starrt die Schlange tatsächlich an wie ein Kaninchen! denkt Trimmel. Albernes Bild. Aber in dem Fall stimmt’s sogar… »Nehmen Sie das Armband mit!« sagt Trimmel drängend. »Nehmen Sie’s um Himmels willen mit und machen Sie damit, was Sie wollen… aber nehmen Sie’s mit! Wenn Sie mir persönlich ‘n Gefallen tun wollen, können Sie’s ja sogar mal tragen…« Eva Billsing hat immer noch Tränenspuren im Gesicht. Sie sieht an Trimmel vorbei zu Peter Klaus. »Was soll… was meinst du?« Trimmel schaut sich um.
Und Klaus nickt. Widerwillig bis dort hinaus – immerhin, er nickt. »Nimm’s an!« sagt er zähneknirschend leise, damit der Taxifahrer nichts mitkriegt. »So muß man sich kaufen lassen!«
Als das Taxi nach Leipzig abgefahren ist, sagt Landsberger immer noch wütend: »Wahrscheinlich wirft sie das Armband sowieso in den nächsten Graben!« »Glaub ich nie im Leben!« sagt Trimmel. »Aber ich!« sagt er grimmig. Es ist kurz nach zwei. »Wir könnten hier schnell was essen!« schlägt Trimmel vor. »Muß das sein?« »Ja!« Also gehen sie – Landsberger zum zweitenmal – in das Restaurant mit den klebrigen Tischen und bestellen für westliches Geld ein ziemlich westliches und insofern ziemlich langweiliges Raststättenmenü. Landsberger stochert lustlos auf seinem Teller herum, und zum Reden hat er momentan offenbar noch viel weniger Lust. Gott sei Dank! denkt Trimmel… als er fertig ist, schiebt Landsberger sein halbes Essen von sich, winkt dem Ober, zahlt und rundet den Betrag – im Gegensatz zu vorhin – nur um ganze zwei Groschen nach oben ab. »Nichts wie weg!« sagt er, als er die Quittung hat, mit der sie am Kontrollpunkt Drewitz nachweisen können, was sie so lange in der DDR gemacht haben. »Noch zweieinhalb Stunden… schrecklich!« »Und dann?« fragt Trimmel. Landsberger zuckt die Achseln. »Ich bin so sauer auf dieses Pack – ich garantiere für gar nichts!«
10
Trimmel fährt jetzt den Mercedes. Landsberger hat ihn darum gebeten – er hat zwei Cognac und mehrere Bier getrunken. Und die meiste Zeit sieht er starr nach vorn auf den weißen Mittelstreifen der Autobahn. Berlin 118 km steht auf einem blau-weißen Schild. »Im Grunde können Sie das ebensowenig totschweigen wie ich!« sagt Landsberger unvermittelt. »Wie wollen Sie jemals Ihre Spesen abrechnen?« Trimmel schreckt aus tiefen Gedanken. »Was heißt hier Spesen?« »Reisekosten!« sagt Landsberger. »Auslagen, Auslagenerstattungen… Sie sind doch seit Tagen unterwegs! Außerdem haben Sie ja Anspruch drauf… ganz schön erfolgreich…« Trimmel schüttelt den Kopf. »Ich mach keine Spesen!« »Aber Sie haben doch gestern schon von Kosten geredet!« wundert sich Landsberger. »Ich hab’ Ihnen sogar noch angeboten… ich meine, das Angebot steht nach wie vor, unabhängig von allem anderen…« »Behalten Sie Ihr Geld!« sagt Trimmel. »Ich hab’ öfter schon mal was aus eigener Tasche bezahlt. Man muß sich seine Hobbys was kosten lassen…« »Hobbys?« »Ja. Ich bin meist schon ganz zufrieden, wenn ich weiß, warum einer was getan hat. Ganz egal, was. Und ob sie ihn drankriegen. Manchmal durchaus ‘ne Art Privatvergnügen…« Landsberger sagt beiläufig: »An mir haben Sie ja wohl sehr viel Vergnügen gehabt, oder?«
Na warte! denkt Trimmel. Ich mach Spesen, und er grinst sich eins und ist die Entscheidung los, ob er sich an Eva und ihrem Oberleutnant rächen soll oder nicht! Er wird sich wundern! Die Abfahrt Bitterfeld-Halle wird angekündigt. Noch vier Kilometer und ausgerechnet die Abfahrt hinter LandsbergDoberstau. »Muß nicht gleich der Parkplatz kommen, wo Sie Bertie eingegraben haben?« Landsberger antwortet nicht. Er sieht wieder starr geradeaus. Trimmel schielt nach rechts… das Profil neben ihm wirkt, mehr denn je, als sei es aus Holz geschnitzt. »Ich hab’ Sie was gefragt!« sagt Trimmel. »Ich hab’s gehört!« »Und?« »Dahinten kommt das Schild…« Trimmel stellt den Blinker an, sobald er es sieht, und fährt rechts raus. Er hält in der Mitte des einsamen Parkplatzes an… sie sind plötzlich mitten in einem Kiefernwald mit Unterholz. Ein einzelner Vogel zwitschert; von der Autobahn ein paar Meter weiter ist mit einem Mal nichts zu hören und nichts zu sehen. »Was wollen Sie denn hier?« fragt Landsberger, als Trimmel sorgfältig die Handbremse anzieht, den Schlüssel abzieht und aussteigt. »Ich guck’s mir mal an«, sagt Trimmel, »kommen Sie ruhig mit…« Wohl oder übel steigt auch Landsberger aus. Er geht ein paar Schritte ins Gehölz, muß sich mit beiden Händen den Weg bahnen und bleibt schließlich vor einer flachen, annähernd rechteckigen Grube stehen. Trimmel ist ihm gefolgt. »Hier!« sagt Landsberger düster.
Die Mulde ist bereits wieder zugewachsen mit Moos und anderem Grünzeug. An den Rändern teilweise eingefallen… an der Böschung links liegen eine DDR-Zigarettenschachtel und eine leere Filmdose. Trimmel steht im Abstand von zwei Metern davor, und es sieht groteskerweise so aus, als wolle er gleich ein Gebet sprechen… Seltsam! denkt Trimmel. Jeder zweite, der Leichen vergräbt, gräbt längliche, viereckige Löcher! »Reicht’s?« fragt Landsberger. »Noch nicht ganz…« Trimmel nimmt auf dem Rückweg einen herumliegenden Kiefernast auf. Gut einen Meter lang, knorrig und dürr; er sieht aus wie eine Alraune. Als sie wieder am Wagen sind, sagt Landsberger unbehaglich: »Herr Trimmel, was soll das?« »Ich möcht zu gern, daß Sie’s mal rekonstruieren!« sagt Trimmel. Er reicht Landsberger den Knüppel. »Hier, das ist Bertie…« Landsberger sieht das knorrige Holz angewidert an; er denkt nicht daran, es in die Hand zu nehmen. »Bitte ersparen Sie mir das!« »Aber wir machen öfter so was, wenn wir uns ein genaues Bild machen wollen!« sagt Trimmel. Er geht ums Auto herum, öffnet die rechte hintere Tür, beugt sich weit ins Wageninnere und legt den Ast ganz weit rechts auf den Rücksitz. »Nun mal los…« »Was denn, zum Teufel?« »Sag ich doch… Sie sollen’s nachmachen! Oder haben Sie was zu verbergen?« Da zuckt Landsberger die Schultern und geht ebenfalls zur linken hinteren Tür. Er zögert kurz, zieht sich die Jacke aus und schiebt sie wie ein Kissen behutsam unter die im Wagen liegende Alraune… »Halt!« sagt Trimmel.
»Was denn nun schon wieder?« »Sind Sie wirklich von links gekommen?« Landsberger zieht seinen Oberkörper aus dem Mercedes zurück, richtet sich auf und überlegt. Dann geht er um das Heck herum zur rechten hinteren Tür und öffnet sie. »Wenn Ihnen soviel daran liegt…« Er bettet das Holz jetzt von rechts auf die Jacke. Einmal noch zögert er kurz – aber gleich darauf nimmt er Jacke und Holz vom Rücksitz und trägt sie behutsam, wie ein Kind auf einem Kissen, weg in Richtung Unterholz und Grube. »Stop!« ruft Trimmel ihm nach. Landsberger bleibt stehen und sieht sich um. »Sind Sie ganz sicher«, fragt Trimmel eindringlich, »daß Sie da eben nichts falsch gemacht oder vergessen haben?« Landsberger ist deutlich aus dem seelischen Gleichgewicht geraten. Er geht zum Mercedes zurück und legt das Bündel wieder auf den Rücksitz. An dieselbe Stelle wie vorhin… er hängt wieder mit dem Oberkörper im Wagen und weiß scheinbar nicht, was er machen soll. Er will schließlich das Bündel zum zweiten Mal aufheben – und ein drittes Mal stoppt ihn Trimmel. »Was hat der Junge angehabt?« Landsberger taucht wieder auf. Sein Gesicht verrät jetzt überdeutlich, daß er angeschlagen ist – am Ende seiner Kräfte unter der schrecklichen Last der Erinnerung, die ihm Trimmel aufbürdet. »Was hat er angehabt?« wiederholt Trimmel. Keine Antwort. »Hat’s geregnet?« Wieder keine Antwort. »War’s schon dunkel? Haben Sie ihn zugedeckt? War er naß? War er tot? Wirklich tot?«
Die Fragen sind zuletzt gekommen wie Peitschenhiebe. Aber Landsberger, ganz kurzfristig in einem fast tranceähnlichen Zustand, scheint plötzlich zu erwachen. »Hat er gefroren?« fragt Trimmel. »Hat er noch was sagen können…?« Landsberger schüttelt den Kopf. »Sie haben gewonnen, Herr Trimmel… ich geb’s zu…« »Was?« sagt Trimmel. »Hat er geweint?« »Bitte, hören Sie auf!« sagt Landsberger. »Er hat nicht mehr weinen können, als ich… als ich ihm ein Kissen aufs Gesicht gedrückt habe. Er hat’s nicht mehr gemerkt; er war schon… ich hatte ihm schon eine ganze Weile kein Stabilamon mehr gegeben… er war bewußtlos, ich schwör’s Ihnen! Er hätte höchstens noch ein paar Tage geatmet, vielleicht sogar nur Stunden… glauben Sie, ich hätte es sonst fertiggebracht?« Er sieht das Holz an und schleudert es weg in den Kiefernwald. Die Jacke fällt dabei zu Boden. Trimmel geht hin und hebt sie auf. Ein Kamm fällt heraus… er steckt ihn wieder in die Innentasche. »Kommen Sie«, sagt Trimmel, »wir fahren weiter!« Erst in der Autobahnschleife zum Berliner Ring macht Landsberger den Mund wieder auf. »Wissen Sie überhaupt, was Leukämie im letzten Stadium ist? Ich hab’s sehen müssen, schon bei meiner Frau… schrecklich!« »Ja, ich glaub’s Ihnen…« sagt Trimmel. »Nur, leider… was meinen Sie, was der Staatsanwalt dazu sagen würde…?« »Euthanasie!« sagt Landsberger. Er hat anscheinend seit längerem darüber nachgedacht. »Sterbehilfe!« »Nee, Herr Landsberger… damit würden Sie nicht durchkommen! Je nachdem könnten Sie glatt wegen Mordes angeklagt werden! Überlegen Sie mal – Mord! Lebenslänglich! Mindestens fünfzehn Jahre in Ihrem Fall, trotz mildernder Umstände!«
»Das glauben Sie doch selbst nicht!« »Doch, doch! Juristisch haben Sie heimtückisch gehandelt; Ausnutzung der Arglosigkeit und Wehrlosigkeit des Opfers… das ist bei Kindern automatisch der Fall. Ob Sie zur Befriedigung des Geschlechtstriebs gehandelt haben oder um eine andere Straftat zu verdecken… auch darüber könnte man streiten. Alles Mordqualifikationen! Sie wissen gar nicht, auf wie dünnem Eis Sie sich bewegen!« »Sind… sind Sie sich da sicher?« fragt Landsberger. »Ganz nicht!« gibt er zu. »Aber es spielt ja sowieso keine Rolle mehr… im Ernstfall, mein ich. Den Ernstfall gibt’s ja nicht. Weil wir alle vernünftig sind – alle. Sie doch auch, oder?« Das ist der Punkt. Der letzte, alles entscheidende Punkt in dieser düsteren Geschichte… Landsberger begreift es innerhalb von zehn Sekunden. »Gratuliere, Herr Trimmel…« »Wozu?« »Zu Ihrem mutigen Einsatz für die höhere Moral!« sagt Landsberger – ohne jede Ironie. »Sie wollen den Fall totschweigen, weil Sie ein Mensch sind… beziehungsweise, weil Sie glauben, daß Sie ein Mensch sind, obgleich Sie ja im Grunde derjenige sind, der alles angezettelt hat. Ich bin dagegen kein Mensch in Ihren Augen… ich will mich rächen und Ihnen Ihre menschliche Tour vermasseln. Und nun gehen Sie hin und schaffen es, mich zu überrumpeln, bringen mich zum Geständnis… Sie schüchtern mich inzwischen doch derart ein mit Ihrer Drohung, ich würde lebenslänglich bekommen, daß ich im Grunde ebenfalls nur stillhalten könnte! Grandios, Herr Trimmel – die Idee könnte von mir sein!« »Und?« fragt Trimmel. »Ach, wissen Sie«, sagt er melancholisch, »nach dem, was ich heute erlebt habe… ich fühle mich eigentlich doch sehr
schuldig! Beispielsweise, wenn Sie mich jemals gefragt hätten, ob ich alles auch ohne die Aussicht auf eine Heirat mit Eva getan hätte… Herr Trimmel, ich müßte Ihnen die Frage ehrlichen Gewissens leider mit nein beantworten! Es war… es war letztlich doch in erster Linie eine Aktion, die mir mein Egoismus diktiert hatte… wissen Sie, ich bin wirklich bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen!« Rechts auf einem schmalen Sandstreifen läßt Trimmel den Wagen ausrollen. Das ist, wenn man nicht gerade eine Panne hat, sicher nicht ohne Risiko auf der Transitstrecke – aber so geht’s nicht weiter. »Sie würden alles doch nur noch schlimmer machen, Herr Landsberger! Ist Rache etwa kein Egoismus?« »Wer«, fragt Landsberger, scheinbar erstaunt, »hat mir denn dauernd gesagt, daß ohne höhere Moral gar nichts läuft?« »Unsinn! Drehen Sie mir nicht das Wort im Mund um!« »Ich?« sagt Landsberger empört. »Nachdem ich auf dem besten Weg bin…« »Ja oder nein«, sagt Trimmel, »wollen Sie Eva Billsing, Peter Klaus und sich selbst belasten oder nicht?« »Hab’ ich doch schon!« wundert sich Landsberger. »Ich hab’ Ihnen doch alles gestanden! Freiwillig! Oder glauben Sie im Ernst, Sie hätten mich mit Ihrem Holzknüppelzauber derart stark beeindruckt?« »Ja oder nein – wollen Sie zur Staatsanwaltschaft laufen oder nicht?« »Ach, ich überleg’s mir noch!« sagt Landsberger. »Warum halten Sie eigentlich an?« »Landsberger, bitte«, sagt Trimmel beschwörend, »von zehn Tötungsdelikten in der Bundesrepublik werden nach Ansicht von Kriminalstatistikern höchstens fünf, wahrscheinlich nur drei der Polizei bekannt… das hat gar nichts mit Aufklärungsziffern zu tun, sondern einfach damit, daß wir von
den restlichen drei oder vier Tötungen überhaupt nie was erfahren. Also gibt’s den perfekten Mord jährlich ein paar hundert Mal, und wenn die Polizei sich den Arsch aufreißt… kommt’s da wirklich noch auf Sie an?« Da sagt Landsberger zwei Minuten lang nichts. Und Trimmel wartet, so nervös er auch ist. Er sieht dauernd in den Rückspiegel und fürchtet jeden Moment, daß ein VopoStreifenwagen aufkreuzt. Landsberger drückt den Knopf, der das Fenster öffnet, und spuckt nach draußen. Er drückt den Knopf darunter, der das Fenster wieder schließt. »Also schön. Fahren Sie weiter. Ich werde den Herrn Staatsanwalt nicht belästigen!«
Bei der diesmal gründlichen Kontrolle in Drewitz findet ein Vopo im Handschuhfach den belichteten Film aus Nesselröden. Er macht ein Riesentheater, läßt Trimmel und Landsberger aussteigen, droht mit Verhaftung, sperrt sie in ein kahles Zimmer und verschwindet – mit dem Film – für mindestens eine halbe Stunde. Aber Landsberger macht Trimmel keine Vorwürfe. »Sentimentalitäten darf man sich heute nicht mehr erlauben«, sagt er lediglich, »wieder was gelernt…« Der Vopo kommt ohne Film zurück. Wahrscheinlich hat er ihn entwickeln lassen und gesehen, daß wirklich nur ein Armband aufgenommen worden ist, keine MiG-Jäger und keine Raketenstellungen. »Sie können fahren. Den Film«, er zeigt auf Landsberger, »kriegen Sie zugeschickt!« »Ja, sicher… ist in Ordnung!« sagt Trimmel hastig. Sentimentalitäten darf man sich heute nicht mehr erlauben. Vielleicht schicken sie den Film ja tatsächlich. Und Landsberger schickt ihm einen Abzug.
Als sie endlich in West-Berlin sind, fährt Trimmel den Weg, den er kennt. Panzerstraße beziehungsweise Hüttenweg, Königsallee, Kurfürstendamm – Richtung Tempelhof. Landsberger druckst irgendwie herum – und schließlich fragt er: »Mal von Mann zu Mann, Herr Trimmel… können Sie sich vorstellen, daß es… daß Frau Billsing sich doch noch mal alles überlegt? Ich meine, die seelische Belastung, die auf den beiden… eine solche Ehe kann doch nicht gutgehen…?« »Nein!« sagt Trimmel brüsk. »Schminken Sie sich das ab! Und lassen Sie mich in Ruhe!« »Ja, ist gut…« sagt Landsberger leise. In der Katzbachstraße fragt Trimmel, wenigstens wieder etwas netter: »Was machen Sie eigentlich in Zukunft?« »Ich gehe nach Amerika«, sagt Landsberger, »ich hab’ seit längerem ein gutes Angebot von der Berkeley University. Ich nehme Chris mit… ich hätte natürlich auch Eva mitgenommen – ich habe da ganz gute Verbindungen…« Endlich der Flughafen. Überfüllte Parkplätze – sie finden eine letzte Lücke. Die Maschine, mit der sie nach Frankfurt fliegen wollen, ist sicherlich schon gelandet. Den Leihwagen wird Landsberger in Berlin stehenlassen. Trimmel bleibt einen Moment unschlüssig stehen. Dann sagt er: »Ich fliege erst morgen!« Landsberger sieht ihn überrascht an. Aber dann begreift er. »Alles klar…« Er nimmt sein Aktenköfferchen auf. Trimmel sagt nichts und steht nach wie vor nur herum. »Ja, dann…« Landsberger streckt die Hand aus; es wird ein flüchtiger Händedruck. »Danke…« »Gleichfalls!« sagt Trimmel. Da geht Landsberger hin. Groß, breit, massig und für sein Alter sehr gut aussehend. Erich Landsberger, Chemiker und Erfinder und Millionär.
Aber wer ist schon Landsberger? denkt Trimmel. Landsberger ist weg, Richtung Mietwagenschalter, wahrscheinlich auch schon durch die Paßkontrolle, wo sich die Beamten immer so geheimnisvolle Notizen machen. Was wirklich von Interesse wäre, haben sie bestimmt nicht notiert: der Mann, der gerade durchgegangen ist, hat Sachen gemacht – da sträuben sich jedem Polizisten die Haare! Aber kein Hahn kräht danach. Kein Hahn kräht nach Landsberger. Kein Trimmel, und nicht mal Landsberger selbst – das vor allem ist wichtig. Gerade passiert, schon vergessen… Trimmel fährt mit dem Taxi in die Stadt und nimmt sich wieder ein Zimmer im Hotel Lichtburg. Der Portier bucht für ihn den Frühflug nach Frankfurt bei Pan American. Morgen mittag ist Trimmel dann wieder in Hamburg. Das seltsame Vergnügen – Landsberger soll der Teufel holen! – nähert sich seinem Ende. Morgen mittag schert Trimmel wieder ein in die Routine der Mordkommission. Attest besorgen! notiert Trimmel am schmalen Schreibtisch seines Hotelzimmers. Er hatte sich ja krank gemeldet. Es war nur eine Ausrede gewesen. Aber jetzt fühlt er sich richtig elend. Noch ist er in Berlin. Eva Billsing wohnt näher bei Berlin als bei Hamburg. Der Abend wird schrecklich, wenn man nicht sofort was dagegen unternimmt. Trimmel landet am Stuttgarter Platz. In einer Kneipe gerät er ins Gerede mit einem Mädchen, das genau wie er an der Theke herumhängt. Sie hat feste, üppige Brüste, deren Spitzen sich deutlich abzeichnen – im Hintergrund an der Kneipenwand hängen zwar keine Flamingos, aber immerhin zwei Hirsche der Firma Jägermeister. Er sagt ja, als sie fragt, ob er mit ihr in ein Hotel geht – und dort zahlt er ihr dann später unaufgefordert fünfzig Mark. Er weiß nicht und will es auch nicht wissen, ob es eine
Professionelle ist; dabei sollte er, als Profi, eigentlich wirklich wissen, daß es keine sein kann, denn sonst hätte sie von Anfang an mit ihm über Geld gesprochen und vor allem sehr viel mehr verlangt… Irgendwann geht er grußlos seiner Wege, trinkt unterwegs viel zuviel in allen Kneipen, die ihm noch begegnen, und schafft es gerade noch, mit einem Taxi das Hotel Lichtburg wiederzufinden. »Ich hab’ ‘ner Frau ‘n Armband geschenkt«, sagt er glücklich, wenngleich mit schwerer Zunge, als ihm der Nachtportier mit verständnisvollem Lächeln den Zimmerschlüssel über den Tresen reicht, »fünftausnachthunnert Mark… fünf Uhr wecken!«