mi ro sl av k rl ež a tausendundein tod
Erzählungen
Fischer
das buch »Meine Gespräche mit Toten sind unverhältnismäß...
209 downloads
585 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
mi ro sl av k rl ež a tausendundein tod
Erzählungen
Fischer
das buch »Meine Gespräche mit Toten sind unverhältnismäßig lebendiger als alle Berührungen und alle Worte, die ich mit Personen zu wechseln pflege, die mich als angeblich Lebende umgeben.« Dieser Satz aus der Erzählung Die Grille unter dem Wasserfall könnte als Motto über allen Erzählungen stehen, die Miroslav Krleža 1933 unter dem Titel Tausendundein Tod zusammengefaßt hat. Ob der Realschullehrer Kuketz die unsäglich traurigen und schäbigen Sonntagnachmittage in der Provinz nicht länger erträgt, die kleine Hure Maria aus panischer Angst vor der Göttlichen Gerechtigkeit sich in einem Hotelzimmer vergiftet, ob der Polizeiwachtmeister gegen Ende seines Lebens plötzüch aus seiner vorschriftsmäßigen Untertanengesinnung herausfällt und ein intellektueller Phantast dahinstirbt, weil er den Glauben an die Menschheit verloren hat – alle diese Tode sind, auch und gerade in ihrer Banalität, ein Gleichnis. Sie stehen für die verzweiflungsvolle Leere, die Trostlosigkeit und Unmenschlichkeit in einer Gesellschaft, die in ihren abgelebten Konventionen erstarrt ist und nur noch dazu dient, die soziale Ungerechtigkeit zu verwalten. Die lebendig Toten sind es, die Krleža am meisten beklagt. Die Schärfe seiner Kritik, die Heftigkeit seiner Resignation sind nicht übersteigertem Pessimismus zuzuschreiben: der Erzählungsband Tausendundein Tod erschien im Jahre 1933.
der autor Miroslav Krleža (1893–1981) ist neben Ivo Andrić der be deutendste Repräsentant der modernen jugoslawischen Literatur. Als Sohn eines Polizeioberwachtmeisters in Agram, dem heutigen Zagreb, geboren, besuchte Krleža Kadettenschule (in Pećs) und Militärakademie (in Budapest). Im Ersten Weltkrieg arbeitete er als Journalist. Krleža war ein streitbarer Humanist, hochgebildet und unangepaßt, der mit seinen sozialrevolutionären Gesinnungen großen Einfluß auf die Jugend hatte. Er hinterließ meisterlich gestaltete Romane (u.a. Die Rückkehr des Filip Latinović), Erzählungen, Verse, Dramen, Essays und publizistische Schriften. Im Fischer Taschenbuch Verlag erschien außerdem der Roman Ohne mich. Eine einsame Revolution (Bd. 5824).
m i rosl av krle ž a
Tausendundein Tod Erzählungen
Fischer Taschenbuch Verlag
föhn über der provinzstadt
D
er Südwind blies schon fünf volle Tage. Direkt aus der Sahara, heiß und unerträglich. Es war ein Sonntagnachmittag, ein so altertümlich jämmerlicher, wie Sonntagnachmittage schon sein können in einer kleinen Provinzstadt mit einer einzigen Gasse: vom Bahnhof bis zur Ziegelfabrik und vom Militärkrankenhaus bis zum Gaswerk. Verzweifelt wandelten Menschen, wie Tiere in einer Menagerie, den ganzen lieben Nachmittag vom Bahnhof bis zur Ziegelfabrik und vom Militärkrankenhaus bis zum Gaswerk, mit hängenden Köpfen, träge vom satten Schlaf, wie Wiederkäuer nach dem Futtern. Im Halbdunkel zeichnete sich der ruhmvolle bronzene Kavalleriegeneral auf dem Hauptplatz wie ein Gespenst ab, der Omnibus des Hotels »Zum Lamm« kehrte leer vom Nachmittagszug zurück, und der livrierte Hoteldiener streckte sich behaglich auf den abgewetzten Plüschbänken und drückte sich vor dem ovalen goldumrahmten Spiegel, der an der Rückseite des Omnibusses hin und her baumelte, gemütlich Pusteln und Mitesser aus. Im »Jägerhorn« waren zwei Juden abgestiegen, zwei Handelsreisende, einer in Seidenkrawatten, der andere trug seinen Handelsartikel nicht ins Hotelbuch ein. Die verrosteten Gasometer des Gaswerkes, stellenweise mit Minium gestrichen, sahen traurig wie geflickte Töpfe aus, und im Bräuhaus spielte eine Militärkapelle Melodien aus dem Maskenball, während alle Kirchenglocken zur Abendandacht läuteten. Lauer Frühlingsregen nieselte. Die geschlossenen Läden, der Bahnhof, die Gasometer, 9
die schmutzig aufgeweichten Felder, die Nebel über den fernen Waldparzellen an der Peripherie, das wehmutsvolle Geläute, alles floß zusammen in einen unsäglich traurigen und schäbigen Sonntagnachmittag. Langsam, faul spulte sich die Zeit ab wie struppiger Flachs, und Rafael Kuketz, Professor für Mathematik am Realgymnasium, saß im Kaffeehaus bei einem dunklen Kapuziner und mit dem Gefühl, vor Langerweile und Leere werde sein Kopf bersten. Im bläulichen Halblicht der Dämmerung schien es, als würden im blanken Quadrat des Kaffeehausfensters alle Gestalten vorbeischwimmen; durch die Straße wälzten sich Soldaten in Paradeuniform und Dienstmädchen mit roten und gelben Seidentüchern und mit schwellendem Busen, die Herren königlichen Amtsdiener und Offiziale samt Spazierstöcken und Silberknöpfen und mit ihren Frauen und Kindern, ein Paar nach dem anderen, in geziemlicher, bürgerlicher Ordnung. Die Pferdebahn klimperte, und die Glocke am Hals des müden Gauls unterhielt sich mit seinen Hufen und Hufeisen in der Eintönigkeit des Widerklangs. Zinzin-zin-zin, kloppe-kloppe-kloppe-klopp! Rafael Kuketz, den sein Vater, auch Professor für Mathematik am selben Realgymnasium, an dem er jetzt wöchentlich achtzehn Stunden Mathematik vorträgt, auf den Namen Rafael taufen ließ, aus gewisser visionärer Verzückung für den berühmten Maler (von dem im Lexikon geschrieben steht, er sei an Buhlerei und Ausschweifung gestorben), horchte auf die Pferdeglocke der Straßenbahn, betrachtete durchs Kaffeehausfenster die vorbeischwimmenden Kreaturen und fühlte eine unbe10
schreibliche Unruhe aus Südwind, Verzweiflung und gequälten Nerven. Nach einem miserablen Mittagessen in der Auskocherei einer Witwe war er spazierengegangen durch die altertümlichen Gassen, in denen alles nach Fisch und Metzgerei roch; er betrachtete die massiv beschlagenen Tore der Häuser und dachte darüber nach, wie Schriftsteller, die das Leben in diesen stinkenden und abscheulichen Häusern im siebzehnten Jahrhundent beschrieben hatten, schlechte Schriftsteller waren und romantische Lügner, denn da diese Häuser heutzutage ein so schmutziges und abstoßendes Aussehen haben, wie mußte es wohl erst vor dreihundert Jahren gewesen sein! Föhnige Depression drückte auf die Schornsteine, und der rauhe Geruch beißenden Rauchs zog sich hin durch alle Gassen. Wegen des pfeifenden Luftdrucks auf Häuser und Mauern und des prickelnden Geheuls des Wirbelwinds an den Straßenecken, wo die steinernen Heiligen die Passanten segneten, hatte Rafael Kuketz das Gefühl, in den Gassen einer Hafenstadt zu wandern, in der er nach zwei, drei Schritten, schon hinter der nächsten Mauer, die blau-grünlich schäumenden Gewässer erblicken könne, auf denen die Mastbäume der verankerten Segelschiffe schwanken und knarren. Die Unruhe biß sich immer tiefer in sein Fleisch und zerfraß es immer heftiger, der Regen gurgelte in den Dachrinnen und sprudelte über den Gehsteig, während aus den Kirchen duftende Weihrauchwolken quollen. Die Kirchentür gaffte halboffen, man spürte hinter ihr den tiefen, dunklen Raum mit den flimmernden Lichtzungen, und dieses blutrote 11
Flackern entfernter Lichter im Halbdunkel zog Rafael Kuketz magnetisch an, sodaß er müde, wie in ein offenes Grab, in die Kirche trat. Der Raum war leer, und wegen der guten Akustik konnte man deutlich das Zwitschern der Vögel, die den Kirchturm umkreisten, vernehmen. Rafael Kuketz kniete auf einen riesengroßen, verfaulten Betstuhl nieder, senkte den Kopf und lauschte lange Zeit still dem tief im Holz bohrenden Wurm. In dieser modrigen Stimmung begann auch irgendwo in seiner Leibhöhle, unterhalb der Luftröhre, wie eine alte Wunde in Rafael Kuketz die Sehnsucht nach den toten Zeiten seiner verblaßten, entfernten, imaginären Kindheit, als er noch nicht in Nebel und Leere herumgejagt wurde, zu brennen. Das Bohren des Wurms im Eichenholz, die verstaubten, in die Bänke gesteckten Seidenfahnen, wie in einem Militärmuseum die Trophäen und Zeichen endloser Siege und gewonnener Schlachten, der Südwind und der Regen, alles wirkte schwerfällig und unerträglich. »Wer könnte wohl wissen, ob nicht die Kirche noch einmal im Leben ihre Fahnen aufrollen und Schwert und Kanonen ins Treffen führen wird, um uns Heiden und Ungläubige samt und sonders totzuschlagen und niederzustampfen, bis keine Spur übrigbleibt? Schau nur hin! Solang es Menschen gibt, die so verlogen vor der Leere knien können, wie jener dort, ist alles möglich und gar nichts ausgeschlossen!« Wahrlich! Vor dem vergoldeten großen Kruzifix zündete irgendeiner eine Wachskerze an und senkte, kniend, den Kopf tief auf die Brust. Er bewegte sich nicht, wie aus Stein gemeißelt, und seine Hände hingen senkrecht, tief 12
hinab bis zu den steinernen Quadraten des Bodens. Die ungewöhnlich gebrochene Haltung (derart durchdrungen von Zerknirschung, daß es schien, als hätte sich der kniende Körper, völlig niedergeschmettert in der letzten Verzweiflung, auf Gnade und Ungnade ergeben) stach Kuketz so in die Augen, daß ihm der Gedanke kam, es sei ein Leichnam, der kniend erstarrt war. Dieser spontane Gedanke überwältigte ihn mit solcher Kraft, daß er sich erhob und mit nervösen und geräuschvollen Schritten der Figur näherte, um den dort wahnsinnig Knienden näher anzuschauen. Von diesen derben und rohen Schritten aufgescheucht, fuhr der Mann auf und sah den Rohling an, der so provokant den heiligen Frieden der Kirche zu stören wagte; im Licht der Wachskerze, das eine Seitenansicht des Mannes gewährte, erblickte Kuketz ein grünliches, gequältes Antlitz. »Verdammter Idiot! Was für einen Sinn hat es, heutzutage hier so umherzuknien«, packte Kuketz solche Wut, daß er den Wunsch verspürte, diesem Menschen einen Fußtritt zu versetzen, eine Ohrfeige zu geben und mit ihm einen skandalösen Streit anzufangen! Doch er beherrschte und schämte sich zugleich,und beendete, unwahrscheinlich gereizt, diese stumme Szene, indem er mit einem nervösen Grinsen aus der Kirche hinauseilte. Wütend auf sich selbst, auf seine Nerven, auf den Nebel, den Schmutz, den Regen, fand er sich in dieser Stimmung vor dem Bronzedenkmal eines Infanteriegenerals, der ein General, aber auch ein lorbeergekrönter Poet war und in der Hand eine Papierrolle hielt, höchstwahrscheinlich eine Rolle mit lyrischen Gedichten. Dort, 13
bei diesem Denkmal, war das Ende der Stadt, und hinter dem Bahnhof sah man Ziegeleien, Weidenbüsche, Ackerland und Schlamm. Bauern in Pelzröckeh trieben Vieh zum Schlachthaus, und alles zusammen war kotig und grau; grobe Stimmen der Treiber und dumpfe Schläge der Knüppelstöcke auf das Steißbein des Viehs hallten herüber. Zin-zin-zin-zin, kloppe-kloppe-kloppe-klopp hörte man die Straßenbahn den Schlamm kneten, und das rote Band der Straßenbahnlampe kroch über Regenpfützen, träge, hoffnungslos, lässig, provinziell, verzweifelt. Rafael Kuketz ging über den Hauptplatz, am Bronzedenkmal des Kavalleriegenerals vorbei, und blieb am anderen Ende der Straße vor dem Denkmal eines Mönchs stehen. Auch dieser Franziskaner war ein Dichter, so daß ihn der Bildhauer im heiligen Augenblick der Inspiration verewigte, in dem er mit einem Griffel einen Vers in sein Büchlein niederschrieb. Schon vor zwanzig Jahren schlug ein Betrunkener diesen Griffel aus der Hand des Franziskaners, und als sich jetzt Rafael Kuketz daran erinnerte, daß dieser Mönch hier, im Mittelpunkt der Stadt, schon seit zwanzig Jahren steht und ein und denselben Vers ohne Griffel niederschreibt, erkannte er die lebendige und einfache Wahrheit, wie zum Verzweifeln schwer es ist, in einer Stadt zu leben, die nur drei Denkmäler hat: zwei Generale und einen Franziskaner ohne Griffel. »Übrigens: Alles das sind bizarre Dummheiten! Zwei Generale und ein Mönch! Was geht das ihn an. Er irrt schon den ganzen Nachmittag in den Straßen umher, wie eine Hyäne, will sich in’ der Kirche mit schwachsin14
nigen Betbrüdern schlagen, zerbricht sich den Kopf mit überflüssigen Dingen, seine Nerven sind gereizt, das ist der Südwind, er sollte sich irgendwo ausruhen und Atem schöpfen!« So durchnäßt schlich er wieder ins Kaffeehaus zurück und verfolgte mit den Blicken die Soldaten und die Dienstmädchen, die Träger und die Totengräber und hörte auf das Geklingel der Straßenbahnglocke. »Siehe da! Dort geht ja der alte Hampelmann!« Tatsächlich! Dort draußen stampfte der alte Hampelmann die Straße entlang, und Rafael Kuketz schien es, als sei das Gesicht des Alten aus grünlicher Pechmasse gegossen. Dieser hochbetagte, gichtige Greis war Pförtner am Bahnhof, und sein Sohn ließ sich noch als Universitätsstudent mit einer Schneiderin, einem gutmütigen, jedoch ungewöhnlich beschränkten Mädchen ein; er quälte sich mit dieser Frau eine Zeitlang und erschoß sich eines Tages. Die Frau war mit dem dritten Kind hochschwanger, sie verkühlte sich in jenen Tagen der sogenannten dramatischen Spannung und starb eine Woche nach dem Begräbnis des jungen Doktors, die Mutter des Doktors aber starb an Herzeleid wegen dieser Unglücksfälle. Kuketz kannte die ganze traurige Geschichte gut, denn der alte Hampelmann wohnte im selben Haus wie er; und so kam es, daß der graubärtige Greis, der gebückt, mit einer Zigarre im Mund, im Rahmen des Kaffeehausfensters vorbeihuschte, ganze Schwärme überflüssiger Gedanken und Kombinationen in ihm aufwirbelte. Kuketz begann nachzudenken, wie das Leben eigent15
lich eine kriminelle Angelegenheit sei, und wie der junge Mann, wenn er das armselige Ding nicht geheiratet hätte, noch heute .königlicher Gerichtsassessor wäre und im Gehrock, unter dem schwarzen Kreuz mit dem vergoldeten Christus, zivilrechtliche Urteile fällen würde. Sein Vater wäre draußen auf der Bahnstrecke an seinem Wachtposten geblieben, im kleinen roten Ziegelhäuschen, das von Reben umrankt ist und vor den Fensterscheiben hölzerne Balken hat, in die Menschenherzen geschnitten sind, durch welche an Hundstagen das Licht in das Zimmer strömt. Wäre all das nicht geschehen, würde der Alte noch immer auf der Strecke mot der rot-weißen Signaltafel Waggons und Lokomotiven grüßen, nun aber lebt er einsam in der Stadt unter fremden und unbekannten Menschen, unter seiner Nasenspitze steigt der Rauch seiner Zigarre, und an Sonntagen wandert er im Regen umher, schwerfällig und bedrückt. Kuketz versuchte die Schicksale dieser kleinen und unbedeutenden Menschen in irgendwie bessere zu variieren, in glücklichere und erfolgreichere Schablonen: wie wäre es, wenn sich der junge Doktor, der königliche Gerichtsassesor, in eine wunderschöne, reiche Frau verliebt und das Glück gehabt hätte, im eigenen Kutschierwagen zu fahren, aber plötzlich erschien ihm all das zu blöd, und um fruchtlose Gedanken zu verjagen, griff er mechanisch nach einem Zeitungshalter und begann zu lesen, wie der Präsident einer gewissen europäischen Republik eine diplomatische Jagdpartie abgesagt habe, weil dieser Republikpräsident Mitglied des Tierschutzvereins ist und grundsätzlich nicht auf die Jagd geht und das Blut 16
unschuldiger Tiere vergießt, und dann noch, daß irgendwo ein Lastschiff gesunken sei. Wieder geriet Kuketz in heftige Wut, wegen dieser Nachricht über den Präsidenten der Republik und Mitglied desTierschutzvereins, warf die Zeitung beiseite und trat wieder auf die Gasse, und da es noch immer in Strömen regnete, begab er sich nach Hause. Zu Hause schrien Kinder im Hof, und auf den Treppen unterhielten sich Dienstmädchen laut. Das Haus war eines jener mißgestalteten Hinterhofhäuser mitten in der Stadt, wo im Halbschatten der Schnee erst gegen Ende März zu tauen beginnt und das Licht stets dunkel und schmierig ist. Die Frauen der Amtsdiener, Aufseher und Dienstmänner bedienten in den vorderen Straßengebäuden bei reichen Leuten, und dort gab es rote Teppiche in Gängen, und Leuchter, die Tür.klinken blitzten und Tropenblumen blühten. Die reichen Leute lebten eingeschlossen hinter Vorhängschlössern und Patentriegeln, geschützt mit hohen Versicherungsbeträgen gegen Einbruch und Diebstahl, mit Ketten, Haushunden, bezahlten Nachtwächtern, Beschließerinnen, elektrischen Klingelanlagen, Stahlkassen, Revolvern und Feuerwehrspritzen, wie belagerte und in Festungen einer unbegreiflich harten und dämonischen Wirklichkeit verschanzte Menschen. Im Zimmer des Kuketz roch es nach faulen Eiern und Sumpf, und drüben, in der Wohnung des Nachbarn, stritten irgendwelche Menschen über irgend jemands Erbschaft. Diese Leute stritten schon ununterbrochen vier Tage lang um diese Erbschaft, und da die Wände porös waren, 17
konnte man jedes einzelne Wort vernehmen. Das Anhören dieser heiseren Stimmen sonderbar fremder und irrealer Gestalten hinter der Wand weckte in Rafael Kuketz die Scheinvorstellung, daß alles nur ein Mißverständnis sei und daß das nicht die endgültige und einzige Wahrheit sein könne, die zu Ende gehe mit Erbschaftsstreitigkeiten und in Gräbern, in denen Tote mit fingerdünnen, gebundenen, wie auf einem Misthaufen zerfetzten Krawatten liegen. Da drüben streiten gewisse, heute vorläufig noch lebende, in Fetzen gehüllte Skelette über fremde Kästen und Töpfe, armselige, bettelnde Betbrüder, die in Hinterhofhäusern leben, Aufziehpuppen, die ihre unteren Kinnladen wie hölzerne Spielzeugvögel bewegen, diese selbstsüchtigen Skelette, unterwegs auf der Durchreise durchs dumme Leben, streiten über Erbgut und Kästen. Im Halbdunkel hatte Rafael Kuketz das Gefühl, daß ihm eine Stunde Schlaf Erlösung bringen würde, das aber war nicht möglich, wegen des Höllenlärms beim Nachbarn. Also stand er auf und trat wieder auf die Gasse. Es regnete noch immer. Da fiel Kuketz ein, daß er bis morgen die mathematischen Schulhefte der sechsten AKlasse ausbessern müsse (siebenundzwanzig Hefte) und daß er diese siebenundzwanzig Hefte heute früh, nach der Messe, im Konferenzzimmer vergessen hatte, und so lenkte er seine Schritte zum Gymnasium, um diese unangenehmen und langwierigen siebenundzwanzig Hefte zu holen. Das Konferenzzimmer war offen und beleuchtet vom Licht einer unmittelbar vor den Fenstern auf der Straße stehenden Gaslaterne. Im Konferenzzimmer herrschte Stille, und diese wohltuende Stille wirk18
te sich so angenehm auf die Nerven des Rafael Kuketz aus, daß er gleich, ohne den Überrock abzulegen, auf das Sofa der abgewetzten Salongarnitur in der Zimmerecke niedersank und in dieser beruhigenden Stille die Augen schloß. Wie halbzerschlagen streckte er sich auf diesem zu kurzen Konferenzzimmersofa aus, seine Füße blieben über der Lehne in der Luft hängen; zerbrochen und zerdrückt quälte er sich auf dem Sofa des Konferenzzimmers und strengte alle seine Nerven an, um jenen einzigen gewissen Punkt zu erreichen, der gar nicht vorhanden ist, damit er wenigstens für einen Moment seine Augen zudrücken und sich beruhigen könnte. In eigenartig beengendem Halbbewußtsein fühlte er, wie alles unsagbar stickig sei, wie keine einzige Möglichkeit, wie keine Öffnung vorhanden sei, damit der Mensch sich ausstrecke, damit er alles niederschlage, sich erhebe, auferstehe; und so würde er sich in diesem Dämmerzustand immer mehr und immer schmerzvoller gequält haben, hätte nicht in diesem Moment das Telephon an der Wand zu läuten begonnen. Es riß ihn hoch, er sprang auf, hölzern und starr, und alles roch nach engem, ungelüftetem Raum. Die Roßhaarsträhnen, die durch den zerrissenen Plüschbezug stachen, brannten Kuketz und juckten ihn. »Hallo! Hallo!« Niemand meldete sich. Man hörte fernes Donnern in den Telephondrähten. In der Hörmuschel surrte es, als würden in ihr Tausende und Abertausende harter Käfer kratzen. Kuketz hielt mechanisch die Hörmuschel eine Zeitlang ans Ohr und horchte, wie durch die schwarzen 19
und weiten unbekannten Räume die Städte, die Telephonzentralen, die Bahnstationen schrien, wie jemand magyarisch fluchte, und diese Ferne im Telephonhörer verführte ihn zu Gedanken, daß es gut wäre, sich zusammenzuraffen, irgendwohin zu ziehen, weit hinaus, in die Dunkelheit, in die Einsamkeit, in die Ferne, hinaus aus dieser Schwere und Begrenztheit. So hängte er den Hörer zurück und ging ins Freie. Rafael Kuketz war von Natur aus ein Nervenbündel. Sein Leben in der engen und grauen Provinzstadt verlief so langweilig, daß er in letzter Zeit völlig resignierte und sich mit halbverrückten und aufrichtigen Ideen zu befassen begann, daß es besser wäre, zu sterben als so weiterzuleben! Professor Kuketz schien es, daß es im Grab doch nicht so unangenehm sein werde, wie in dieser schmutzigen und unglaublich langweiligen Stadt. Im Grab wird schwarze, spanische Stille herrschen, eine höfische, eine zeremonielle Stille, in der alle Menschen in ihren besten Festtagsgewändern liegen werden, als wären sie zur Hochzeit oder Familienfeier gekommen. Eine Stadt wie diese erschien Kuketz wie eine schwarze Mühle, in der alle mächtigen Entfernungen und .Räume zermahlt werden, und die Mühle mahlt ununterbrochen, jeden Tag, vom frühen Morgen, wenn Wachmänner bleiche, in Ketten gebundene Dirnen und Einbrecher abführen und die Soldaten trommeln, bis in die späte Nacht; wenn die von roten Lampen beleuchteten Banktresore gähnen und sich Nachtinspektoren in Krankenhäusern und in Redaktionen abplagen. Professor Kuketz fühlte in der letzten Zeit stets intensiver das Verlangen, aus dieser 20
Mühle herauszukommen, irgendwohin bis zum »Ende«, und sich von dort, von diesem »Ende«, in die Leere zu stürzen. Er wußte wohl, daß im leeren Raum, in großen astronomischen Entfernungen, leuchtende himmlische Kugeln stehen (die er sehr oft mit Kreide auf die Schultafeln der höheren Klassen zeichnete), aber all das war ihm doch, wenn er auch in seinem bürgerlichen Beruf mit astronomischen Entfernungen manipulierte, ziemlich unklar und unverständlich, und dennoch träume er des öfteren von diesem festlichen »Ende« und der endgültigen Leere, in der es, allem Anschein nach, nichts mehr geben kann. Weder Mathematik noch astronomische Entfernungen, gar nichts! Er war ein krankhaft gutmütiger Mensch, aber sein Lebensgrundsatz, man müsse Menschen lieben und solle legendär gut und anpassungsfähig sein, entsprang nicht irgendwelchen in letzten Zeiten so laut verkündeten »allmenschlichen Programmen«, sondern einfach seiner eingeborenen süßlichen, geradezu schleimigen Gutmütigkeit. Er liebte die Menschen und dürstete nach Menschen, vertrank mit ihnen in Gasthäusern das Geld, das er mit Nachhilfestunden bei Kindern reicher Leute verdiente, er suchte nach Menschen auf der Straße und in den Kneipen, aber hauptsächlich lebte er allein, und es schien ihm, als wäre alles vor ihm durch ein Vorhängschloß versperrt und niemand lasse ihn an sich heran. Die Menschen waren größtenteils selbstsüchtige kleinbürgerliche Spießer. die ihren rotzigen Egoismus mit sich zogen wie Schnecken ihr Häuschen, und alle spannen ihr Leben in dunklen Familienecken, wie Spinnen ihre Net21
ze, und niemand konnte seine aufrichtige Menschenliebe völlig begreifen. So klopfte er auch heute an die Tür eines Kollegen, aber dieser öffnete sie erst nach langem und andauerndem Klopfen, puterrot, mit geschwollenen Adern und blutunterlaufenen Augäpfeln, und wies ihn mit zitternder Stimme brüsk zurück – das sei doch keine Art, so aufdringlich zu klopfen, wenn nicht gleich geöffnet werde, er konnte ja nicht, Pardon, er habe Besuch … »Na ja! Natürlich! Er klopfte ja dreimal, aber aus Sympathie und wegen seiner Einsamkeit, nicht aus Arroganz! Aus Sehnsucht nach einem Menschen! Aber natürlich! Ach so! Na ja! Ein Weibchen ist im Zimmer! Ach so! Jawohl! Ein Weibchen!« In Kuketz war aber verzweifelte Leere, die finstere Leere eines Sonntagnachmittags, er hatte kein Weibchen, ihn plagte ein melancholischer Hunger nach menschlicher Gesellschaft, nach Freunden, nach Musik, Lachen, nach lichtdurchfluteten Sälen, und so wurde alles dunkel in ihm, und sein Inneres zog sich wie im Krampf zusammen, und er kehrte auf die Straße zurück. Dies alles geschah schon am frühen Nachmittag, und seither wanderte er bis zur Erschöpfung hin und her unter den Bronzegeneralen, hörte bis zum Überdruß die Straßenbahnglocke am Pferdehals, war in der Kirche, im Kaffeehaus, schluckte Pillen, war in seinem Wohnzimmer, lag im Konferenzzimmer, und jetzt irrte er wie ein gehetztes Wild, und in Gedanken beschleunigte er seinen lässigen Schritt, als würde er zu einem bestimmten Ziel eilen. 22
Im Zimmer eines einstockhohen Herrschaftshauses, das oberhalb des Eingangstores ein gemeißeltes Adelswappen schmückte (ein Bock auf seinen Hinterbeinen), konnte man durchs Fenster schwarze Draperien sehen, und der Widerschein der Wachskerzen flackerte auf dem schweren schwarzen Stoff. Im Zimmer des ersten Stocks lag ein Toter. »Wachskerzen, Leichendekorationen, beleuchtete Fenster, die Stadt ist leer, alles geschlossen, und er irrt durch diese dunklen Gassen, betrachtet diese unwirklich beleuchteten Häuser mit ihren verschiedenfarbigen Fensterscheiben wie Papierstädte auf den Schirmen altmodischer Petroleumlampen! Noch immer werden diese Häuser mit Petroleum beleuchtet, und Menschen wohnen inmitten irgendwelcher unmöglicher und geschmackloser Möbel in diesen gelb-rot-dunkel beleuchteten, wie Krankenurin trüben Räumen. Was ist denn das für eine verfluchte Architektur mit ihren Balkons und Türmchen, an denen alles wie die Kulissen eines blöden, taubstummen Balletts aussieht? In diesen Häusern sitzen seine Kollegen, glatzköpfige Professoren mit falschen Gebissen, sitzen bei Tisch mit ihren Frauen, aneinandergebunden mit bürgerlichen Ketten, und während die Frau nachdenkt, was sie morgen kochen wird (Bohnen oder Nudeln), bessern sie Schulhefte aus. Das sind seine glatzköpfigen, hungrigen und abgenützten Kollegen, die den Kindern vortragen, daß Chile ein ödes, steiniges Küstenland sei, in dem salzig scharfe Winde vom Pazifik her wehen, obwohl sie noch nicht einmal das Adriatische Meer gesehen haben. In den Klassen 23
sprechen sie mit erhobener Stimme von Euklid, von Kopernikus, von Platos Republik, obwohl sie todmüde sind, leer wie leere Säcke und absolut gleichgültig gegenüber Plato oder Euklid oder Chile, dem steinigen Land, in dem salzige Winde vom Pazifik her wehen.« Ekel erfaßte Rafael Kuketz vor all dem, vor seinem eigenen Schicksal, lebenslänglich siebenundzwanzig Schulhefte siebenundzwanzig schlechter Schüler ausbessern zu müssen, und vor dem langweiligen Vegetieren in schlecht durchlüfteten Zimmern, und er schritt weiter mit festen Schritten auf der schmutzigen, von Kastanienbäumen umsäumten Straße, weit draußen vor der Stadt, und da die Straße den Bahndamm überquerte und der Kot immer dichter und mühsamer wurde, bog er ein und setzte seinen Weg durch .die Nacht auf dem Eisenbahndamm fort. Auf der Strecke blinzelten grüne Lichter der Semaphore, und dröhnend raste die schwarze Eisenmasse einer Lokomotive vorbei, und man konnte noch lange, in gleichmäßigen Abständen, das Schlagen der Schienen, wie sich langsam verlierenden Hammerschlag, hören. Hinter den Zäunen, Ställen and Warenlagern, die man in der Dunkelheit nur vermuten konnte, pfiff der Nordwind in eiskalten Wellen über die winzigen und kaum bemerkbaren Konstruktionen, die der Mensch zu jämmerlichen, geringfügigen und der Natur völlig indifferenten Zwecken über die riesige Erdkruste gezogen hatte. Die Eisstromkaskaden des Nordwindes stürzten über die Berge ins Tal, in dem fünf volle Tage, wie in einem Kessel, die giftigen Schwaden des Südwinds brodelten, unter den Schlägen 24
des Wirbelsturms schäumten am Kamm der Gebirgssilhouette die Wolken wie Delphine über Meereswellen, die Nebel stoben auseinander, und Sterne kamen in Sicht. Professor Kuketz kannte diese Sterne aus astronomischen Karten, und obwohl es ihm immer unangenehm war, wenn jemand in seiner Gegenwart pathetisch über Sterne zu sprechen begann (denn er wußte, daß auf diesen Sternen alles ebenso sinnlos und leer ist wie auf diesem unserem Erdball), bereiteten ihm diesmal die fernen Irrlichter Freude, und er atmete tief auf, daß er den eisigen Nordwind wie ein Glas kalten Wassers hinunterschluckte. »Schön ist es, hier aufrecht den Elementen in der sternklaren, windigen Nacht zu trotzen! Und dennoch gibt es sternklare, windige, elementare Gedanken, die in der Stadt niemand begreift, außer einem einsamen Menschen. Das Gefühl für diese Wirklichkeit des Lebens ist das einzig Wesentliche. Aber das ist eben die Frage für Sein oder Nichtsein: Die Tiefe dieser Sternenwirklichkeit zu verstehen, allen anderen fremd, allein und vereinsamt, überflüssig, täglich um seine Sternenwirklichkeit zu kämpfen, allen Grimassen und Greueln, allen dreckigen Verrücktheiten zum Trotz sich durchringen zu wollen zum eigenen sauberen, windigen, läuternden Sternenbad. Wahrlich, man muß herauskommen! Herauskommen in freie, blaue Räume! Man muß heraus!« Zur Linken bleibt die schmutzige Welle der Stadt zurück und das Flattern der Laternen, die Hunde bellen, die Stadt ist leer, fremd und abstoßend, und die Straßenlam25
pen an der Peripherie brennen genauso traurig und totenbleich wie in jener weit zurückliegenden Zeit, als wir uns gegenseitig mit den Weibchen auffraßen (dem ersten, zweiten und dem dritten), alles bleibt zurück hinter uns. Hunde bellen und der Mann mit dem Stock spaziert durch die himmlische Herrlichkeit zwiscnen Orion und den Plejaden, und sein Schal flattert siegreich im Raum. Es gibt weder Regen noch Kirchen, weder Konferenzzimmer noch siebenundzwanzig Schulhefte. Der Wind singt, der Mensch schreitet tapfer und mächtig aus, die Sterne knirschen unter seinen Füßen – und alles ist vergessen. Der Mensch ist jetzt nicht mehr ein bestimmter Mensch, nicht Rafael Kuketz, Professor der Mathematik an dieser oder jener Mittelschule, und wohnt nicht mehr in der kleinen Provinzstadt, in der es verwanzte Kaffeehäuser und drei Denkmäler (zwei Generale und einen Mönch) gibt, verdreckte Gassen, geschlossene Gardinen, versperrte Türen und in den Kneipen Wein, Einsamkeit und Rauch! Rafael Kuketz schlürfte das stürmische Elixier und füllte sich damit an, wie ein Seidenballon immer höher und höher steigend. Energisch stapfte er vorwärts, Schritt für Schritt, mit seinem Holzstock links und rschts auf Sternenwelten schlagend, als würde er Gläser zertrümmern. Funkensprühend zerstoben Sterne und Sonnen im himmelblauen Glasraum, und hoch über der Stadt brausten triumphierend die Fanfaren des Nordwindes. Am nächsten Morgen fanden Passanten den Leichnam des Professor Kuketz im Nebel auf dem Bahndamm. 26
Ob es sich um einen Unglücksfall oder Selbstmord handelte, konnte niemand feststellen.
27
der tod des florian kraintschetz
F
lorian Kraintschetz, dem Polizeiwachtmeister der königlichen Polizeiwache, war im Leben schon immer alles schiefgegangen. Zunächst diente er als Aktiver beim glorreichen königlich ungarischen Infanterieregiment des Grafen Hunyady in einer barocken Provinzgarnison, um dann nach dem dritten Jahr im aktiven Liniendienst als »längerdienender« Unteroffizier zu den Honveds überzuwechseln. Einst, in dem längst vergangenen und begrabenen achtundvierziger Jahr, waren die Honveds Lajos Kossuths revolutionäre Achtundvierziger-Formation gewesen, die zu den Klängen der Marseillaise und Petöfis jakobinischer Carmagnole »Hängt die Könige« vorwärtsgestürmt war; da jedoch nach Königgrätz und dem im Jahr siebenundsechzig zwischen den ungarischen Herren Grafen und dem Wiener Hof getroffenen Ausgleich in der Habsburgermonarchie alles wieder in die uns so wohlbekannte »Ordnung, Arbeit und Gesetzlichkeit« zurückgekehrt war, wurden auch die selig im Herrn entschlafenen Honvedfahnen wieder hervorgeholt und erfuhren als ungarische Freiheitssymbole ihre Auferstehung im Rahmen dieser gräflich ungarischen »Gesetzlichkeit, Arbeit und Ordnung«. Im übrigen war diese Auferstehung der ungarischen Honvedfahnen eine trübselige und außerordentlich aufs Dekor bedachte Angelegenheit. Zwar erhielten die ungarischen Landwehrregimenter ihre ungarischen rotweißgrünen Fahnen zurück, und sie durften auch – wenn sie zum 29
Angriff stürmten – statt des vom kaiserlich-königlichen Reglement vorgeschriebenen »Hurra, Hurra« ihr ungarisches »Ratja, ratja, elöre« brüllen. Noch heute kann man in ungarischen Chroniken und Zeitungen lesen, daß es den zu jener Zeit lebenden ungarischen Patrioten völlig unbegreiflich war, wie denn eigentlich ungarische Honveds zu den Klängen des österreichischen Kaiserliedes »Gott erhalte« hätten marschieren und ihren Soldateneid auf die Initialen des Kaisers von Österreich Franz Joseph des Ersten ablegen können, da es doch ungarisch in umgekehrter Reihenfolge »Erster Franz Joseph« (Elsö Ferencz Jozsef) heißt. Obgleich die Honveds später neue ungarische Initialen erhielten, auf denen die römische Eins vor dem Namen Franz Josephs stand, bleibt es eine historische Wahrheit, daß diese in der ungarischen Ebene neuauferstandenen Achtundvierziger Landwehrregimenter jenseits der Drau nie richtig populär geworden sind, solange nicht alle Achtundvierziger – jene also, die aus eigener Anschauung das achtundvierziger Jahr miterlebt hatten – ausgestorben waren. Im Sinne des ungarischen Ausgleichs mit dem dreieinigen Königreich Kroatien, Slavonien und Dalmatien war es tatsächlich ein Problem, was mit den Honvedkompanien im Raum zwischen Save und Drau geschehen sollte. Nach dem Zusammenbruch im Jahr 1848 waren die schwarzgelben Grenzpfähle ganz einfach vom Militärkordon bis zur Drau zurückgenommen worden, und alle romantischen Versuche »illyrischer« Rebellion für ein Slawenreich verschwanden innerhalb von achtundvierzig Stunden von der Tagesordnung, wie ausradiert. 30
Nun war es aber eine etwas heikle Angelegenheit, dieses unglückselige dreieinige Königreich auf die rotweißgrüne (ungarische) Fahne zu vereidigen und hier auf ihrem eigenen Boden Kader der Kossuthischen Honved aufzustellen, zumal es allgemein bekannt war, daß das ganze Königreich lichterloh aufgeflammt war vom Meer bis an die Wälder und Sümpfe der Saveniederung und sich gerade gegen diese gleichen ungarischen Fahnen erhoben hatte! Und so wurde in den Wiener Köpfen nach langem Überlegen eine ausnehmend ingeniöse Idee ausgeheckt, derzufolge im Sinne der Verordnungen und Paragraphen »Ordnung, Gesetzlichkeit und Arbeit« auf dem Territorium des Königreichs Kroatien ungarische Honvedbataillone gegründet wurden, die man, hier zwischen Save und Drau, ungarische kroatisch-slavonische Domobranen – also Landwehr-Bataillone – nannte, mit kroatischer Dienstsprache und kroatischen Fahnen, die das ungarische Wappen des heiligen Stephan trugen. Das Volk im ganzen Land empfing diese Mißgeburten mit Hohngelächter, und keiner glaubte, daß diese, »Paradeiser« genannten, rotbehosten Affen lange im dreieinigen Königreich herumtrommeln würden. »Heu und Stroh, Heu und Stroh, Eins, zwei – hohoho! Domobran tomatenrot Geb dir Gott ein’ sanften Tod Domobran tomatenrot!« sang die Bevölkerung lauthals, wenn die neugebackenen Domobranen – Landwehrsoldaten – in ihren scharlachroten Hosen durch die Stadt marschierten und auf 31
ihren Trompeten bliesen, als wären sie eine richtige reguläre Armee. So wurden die Honveds also als eine lächerliche Operetten-Landwehr angesehen, als Witzfiguren, und keiner von uns wußte, was es eigentlich mit ihnen auf sich hatte. Waren unsere kroatischen Landwehr-Domobranen nun rotweißblau oder waren sie schwarzgelb? Warum trugen die Domobranen-Offiziere das kaiserliche Portepee, wenn sie keine kaiserlichen, sondern sowohl ungarische als auch kroatische königliche Offiziere waren? Warum hatten sie das ungarische Wappen auf den Fahnen, wenn doch ihre Regimentsfahnen die kroatischen Farben trugen, dies also eine evidente Verletzung unserer Rechte bedeutete? Warum unterstehen sie dem Kommando des ungarischen Königs, werden aber als Domobranen zu den Klängen des Kaiserliedes vereidigt? Was soll aber aus der Domobranen-Landwehr werden, wenn unsere Truppen eines Tages wieder gegen die Lombardei, Verona oder in die Somme-Campagne ziehen müssen? Und dann in diesem Fall ganz bestimmt nicht die Rolle einer Landwehrtruppe spielen werden, also nicht den Feind abwehren und ihr Heimatland verteidigen werden, so wie sie es übrigens ja auch im Jahre achtundvierzig nicht getan hatten, ebensowenig im Jahre sechsundsechzig und auch weder vorher noch nachher? Wenn aber unsere Domobranen eine richtige Landwehrtruppe wären, müßten sie unsere kroatische Heimat gegen die Magyaren verteidigen! Was aber soll erst aus ihnen werden, wenn eines Tages der König von Ungarn dem Kaiser von Österreich den Krieg erklärt? Auf welcher Seite werden in einem 32
derartigen ungewöhnlich interessanten Völkerrechtsfall die Domobranen stehen? Wären die Domobranen aber wirklich unser nationales Heer, dann müßten sie von Rechts wegen singen: »Noch ist Kroatien nicht verloren« und »Frei schwingt sich der Vogel in die freien Lüfte« und nicht irgendwelche magyarischen Hymnen, von denen keiner ein Wort versteht, die so überaus komisch klingen und an Paprikaspeck und Debreziner Würste erinnern. So sprach man damals in unseren patriotischen und vaterländischen Kreisen, man empörte sich gegen die ungarischen Honveds privat und in der Öffentlichkeit, man schrieb und schrie in den Zeitungen und im Landtag, doch die Zeit rollte über alles hinweg, ihr stummer und grausamer Mechanismus mahlte und zermahlte all dieses winzige Provinzgeschwätz; die Zeit fuhr fort, unentwegt Kasernen zu bauen und Rekruten zu schleifen, und so kam es, daß diese Totgeburt einer königlich ungarischen Landwehr-Idee nicht nur Wurzel faßte in diesem unserem Schlamm, sondern sogar wuchs und gedieh. In der Zeit dieser Domobranen-Wirren diente der Held unserer Erzählung, Florian Kraintschetz, die drei Jahre seines Militärdienstes als Korporal der kaiserlichen Armee ab. Nachdem damals in den Kasernen Gerüchte die Runde machten, daß alle kaiserlichen Unteroffiziere, die zur kroatischen Landwehr übergehen, richtige ungarische Offiziere werden können, meldete sich auch Florian Kraintschetz, geblendet von der großen Illusion, eines Tages den Offiziersstern unter dem Hals tragen zu dürfen, zu den Domobranen. 33
Und in der Tat: rasch kletterte er, den Rang des Zugführers überspringend, zur Rangstufe eines Feldwebels empor (was in der Domobranensprache »Herr Narednik« hieß) und trug als solcher den gelben Streifen am Kragen und weiße Handschuhe an den Händen. Als dann endlich die Kandidaten für den Offiziersausbildungskurs in Budapest ausgewählt werden sollten (denn die Honvedregimenter gab es nur auf dem Papier, die Kader mußten daher aufgefüllt und subalterne Offiziere fabriziert werden, wie es eben ging), also gerade zu dieser Zeit vor Beginn des Offiziersausbildungskurses zog sich der Herr Narednik Florian Kraintschetz eine Geschlechtskrankheit zu und lag im Hospital. Später, beim nächstfolgenden zweiten Kurs, konnte Florian Kraintschetz nicht zur Bewerbung antreten, weil er sich zu dem Zeitpunkt bei einer Schlägerei in der Kantine (als er sich mit dem besoffenen diensthabenden Kadetten wegen der Kellnerin in die Haare geraten war) einer Subordinationsübertretung im Dienste schuldig gemacht hatte und dafür zwei Wochen Einzelhaft absitzen mußte. Diese seine Arreststrafe fiel aber gerade in die kritische Zeit des zweiten Wettbewerbs, und nachdem er nicht rechtzeitig auf die Kandidatenliste gesetzt worden war, zerschellte auf immer seine ganze Karriere- an einem Glas Wein. Im Rahmen der ungarischen Achtundvierzigerarmee war dies die einzige Chance für einen gemeinen Honvedsoldaten, zum Marschallstab zu kommen. Nur – launenhaft, wie die Natur schon ist – hat es bisher keiner jener Kandidaten aus den Volksrängen bis zum Marschall gebracht. Einem einzigen Feldwebel 34
aus der Schar der »Achtundsechziger« gelang es, in die Generalmajorshosen hinaufzuklettern, doch starb er vor freudiger Aufregung an dem Tag, da er sich anschickte, zur ersten Audienz bei Hof vor dem Allerhöchsten Angesicht zu erscheinen. Du lieber Gott! Zwanzig Jahre lang in der Domobranen-Kaserne sitzen in paradeisfarbenen Zirkushosen, jeden Morgen, den der Herr gibt, das traurige Blasen der Reveille in den Korridoren zu hören, den Domobranen die Fußlappen zuteilen, in den Lagerräumen zwischen Ratten, Kampfer und Mottenpulver endlose Winter hindurchzufrieren, alte Gewehre und verschimmelte Stiefel in Evidenz zu halten – das müßte ja selbst dem Teufel, dem hinkenden, eines Tages zu dumm werden, wie erst einem Kind Gottes! Und wenn dann an so einem sonnigen Sonntagnachmittag wieder einmal dem Herrn Feldwebel Florian Kraintschetz das Glück blüht, gerade der vom Dienst zu sein (was nicht selten vorkam) – oh – an so einem »diensthabenden« Feldwebel-Sonntagnachmittag merkte Florian erst mit aller Klarheit, was das eigentlich für ein scheußliches, menschenunwürdiges, geradezu schweinemäßiges Leben war, das er führte. Wäre er jetzt doch irgendwo als Finanzkanzlist oder in einem beliebigen Zivilamt im Dienst! Dann könnte er sich schön in Zivilkleidern ergehen, eine Zigarre anzünden, ein, zwei Gläser im Bräuhaus bei Musik hinter die Binde gießen und müßte nicht hier in die Erde gerammt stehn wie der rotweißblaue Pflock dort drüben, an dem die Gewehre lehnen und die gelbe Messingtrompete hängt. Bis in alle Ewigkeit wird er hier in der Kaserne 35
so stehen müssen, und jeder rotznäsige, schäbige Kadett wird sich herausnehmen können, ihn nach Strich und Faden herunterzuputzen – ohne daß er auch nur das geringste erwidern dürfte. Habtachtstehen und Maul halten! War denn das ein Leben? Im Zivil hat es der Mensch doch leichter! Tut ordentlich seine Arbeit, erledigt die zuständigen Akten, sitzt vorschriftsmäßig seine acht Stunden ab, und Amen! Sein eigener Herr ist er, keiner kann ihm etwas anhaben, tut er nur brav seine Arbeit, streicht er brav sein Gehalt ein, und die Pension ist ihm sicher. Zwölf lange Jahre hindurch hatte sich Florian Kraintschetz nach einem unbestimmten, nebelhaften, jedoch einigermaßen menschlichen und zivilistischen Leben gesehnt, und als dann in unserer Stadt die königliche Polizeidienstordnung geregelt und solcherart das ungarische Zwangssystem der Banatverwaltung gefestigt wurde, schrieb man eine Bewerbung für fünf königliche Polizeiwachtmeisterposten aus. Auch der Domobraner Landwehr-Infanteriefeldwebel Florian Kraintschetz meldete sich, und so wurde aus dem Herrn Feldwebel ein Herr Polizeiwachtmeister. An diesen Übergang knüpfte Florian die große Hoffnung, sich rasch in der neuen Karriere und im glitzernden Uniformrock hervorzutun und auf diese Weise alsbald die Uniform auszuziehen und irgendwo im Winkel einer Registratur unterkriechen zu können, also ein Herr Beamter und Zivilist zu werden. Zu jener Zeit gab es in der Tat Gelegenheiten mehr als genug, sich im Polizeidienst auszuzeichnen. Der politische Apparat des Statthalters Graf Khuen hatte begon36
nen, dem Panzer der Opposition die ersten empfindlichen Schläge zu versetzen, so daß die Erfolgsaussichten der nationalen Belange von Tag zu Tag geringer wurden. Auf unserer kleinen politischen Börse am Markusplatz quotierten diese »nationalen Belange« dauernd auf Baisse, und die Opposition ging dazu über, mit »der Straße« zu operieren, Brände zu legen, Wappenschilder und andere Hoheitszeichen zu zertrümmern, Fenster und Köpfe einzuschlagen, Krawall zu machen, verzweifelt aufzubegehren. In jenen Tagen also, da in unseren Straßen Menschenmassen brüllten und randalierten, ungarische Fahnen verbrannt wurden und keine Nacht verging, wo es nicht blutige Köpfe gab, zu jener Zeit also war, trotz Verstärkung, auch die Polizei häufig noch zu schwach und mußte, von den Stein- und Ziegelwürfen der Demonstranten verwundet, oft den Rückzug antreten und telefonisch aus den Kasernen militärische Assistenz anfordern. So kam es, daß viele Tage lang österreichische kaiserliche und königliche Infanterieeinheiten in der Stadt ihr Lager aufschlugen, Gewehre und Bajonette zu Pyramiden zusammenstellten, Kavalleriepatrouillen in den Straßen über die Trottoirs donnerten und die ganze Stadt mit ihren geschlossenen Haustoren und den menschenleeren Plätzen den Eindruck einer eroberten Festung machte, die nach ihrer Einnahme von feindlichen Truppen besetzt ist. Und so kam auch Herr Florian Kraintschetz mit der Königlichen Polizei in unsere kleine Provinzstadt, und in dieser Stadt lebte er nun ein Leben, das so ungewöhnlich 37
trübselig und leer war und schließlich mit einem gewaltsamen Tod sein Ende nahm, einem Tod, von dem niemand je etwas erfahren hätte, wäre dieser Tod nicht in unserer Erzählung verewigt worden. Nichts zu wollen! Die Zeit vergeht! Furchtbar schnell jagt die Zeit vorwärts und vergeht. Da hatte sich der Herr Feldwebel Kraintschetz gedacht, er würde so etwas wie Karriere machen, aber was hat er erreicht? Gar nichts hat er erreicht. Statt heute ein Oberst zu sein – ein Landwehroberst, Herrgott! – ist er nur eben in dieser Stadt gelandet, um in ihr herumzustehen, jahraus, jahrein, etliche tausend lange Nächte. Zwanzig Winter und zwanzig Frühlinge steht er bereits in den Straßen dieser Stadt, aufgepflanzt wie eine aus Holz geschnitzte Figur, und sieht sie aus der Erde emporwachsen vor seinen Augen. Kanalleitungen werden gelegt, Gehsteige asphaltiert, Gräben für die Gas- und Wasserrohre gezogen, er aber steht immerzu bloß auf der Straße, lenkt die Pferdedroschken nach rechts und nach links, nimmt Zigeuner und Diebe fest, und immerzu steht er auf ein und demselben Fleck, während alles um ihn herum strömt und fließt – an ihm vorbei. Die Stadt! Die sogenannte »weiße Stadt«! Die sogenannte Residenz unseres Dreieinigen Reiches! Unser Athen! Die Perle unter den Städten! Unsere Metropole! Jawohl! Eine Großstadt ist sie heute! Amerikanische Straßen verlieren sich in der Ferne, schnurgerade, wie mit dem Lineal gezogen! Auch der Fluß soll eines Tages reguliert und neue Brücken sollen gebaut werden – die Stadt wird sich auf unerhörte Weise entwickeln, wach38
sen! Eine wirkliche amerikanische Großstadt sein! Bahnhöfe werden neu gebaut, ein breites Straßennetz – eine wahre Pracht. Als Florian Kraintschetz einst vor Jahren durch die Stadt marschiert war, während eines Manövers als Landwehrmann – er weiß es noch gut, lang ist’s her, noch vor dem großen Erdbeben –, da war unsere Metropole noch ein Dorf. Säulen mit den Dreifaltigkeitsfiguren ragten mitten auf den Plätzen empor, zu Stein gewordene Gelübde gegen Pest und Türkenkriege, hölzerne Kruzifixe hingen an den Plankenzäunen, die Aborte stanken vor dem Regen, und die Äcker und Felder erstreckten sich fast bis zur Stadtmitte. Wie so armselig war doch alles! Die Häuser einstöckige Fachwerkbauten, aus Holzblökken zusammengefügt, und Florian dachte staunend, während er mit dem vollgepackten Kalbsledertornister auf dem Rücken in den ungarischen Viererreihen vorbeimarschierte und diese unsere »Residenz« betrachtete: ist es denn die Möglichkeit, daß unsere königliche Hauptund Residenzstadt, von der so viel gesprochen und geschrieben wird, so erbarmungswürdig aussieht? Heute jedoch baut man Häuser mit drei Etagen, und die blaue Stadtfahne weht stolz über den fünfzigtausend Köpfen ihrer Einwohner, auf dem Hügel des Domkapitels steht die neue Kathedrale, und von dem Dach der Markuskirche leuchtet und funkelt im Sonnenschein das Wappen des Königreichs Kroatien, Slavonien und Dalmatien, und selbst Seine Majestät der Kaiser und König Franz Joseph der Erste bemerkte anläßlich seines letzten Besuches, »daß die Landeshauptstadt sich ja großartig 39
entwickelt hätte«. Ach, waren das glorreiche Tage, als Seine Majestät der Kaiser und König in unserer Stadt zu weilen geruhte! Es regnete Rosen auf die sechs Araberschimmel, die die goldene Hofkutsche zogen, und längs der Straßen standen die Kinder im Spalier. Ganz genau erinnerte sich Florian Kraintschetz nicht mehr an dieses Ereignis, auch könnte er es nicht gerade beschwören, daß die Kutsche aus purem Gold gewesen sei, doch immer, wenn er so in seinen strahlenden Erinnerungen kramte, schien es ihm, als wäre die Hofequipage doch aus purem Gold gewesen. Gleich römischen Legionen standen die Korporationen bereit – alle, die römisch-königlichen, die nationalen mitsamt der Feuerwehr – hinter ihren Fahnen und jubelten dem Apostolischen Imperator zu, huldigend senkten sich die Fahnen die Straßen entlang, als mähte sie jemand nieder, Kanonen donnerten, Glocken läuteten, und durch die Gassen voll gebeugter Rücken fuhr der König im Triumph und im Galarock, im Frack der Magnaten, geschirmt von der regungslosen Mauer seiner treuen Truppen und seines loyalen Volkes, das er aus dem Füllhorn seiner Huld auch mit einer Reihe sonniger Herbsttage, beschenkte, wie sie sonst bei uns im Oktober äußerst selten vorkommen. Wenn es stimmte, was die Zeitungen schrieben, würde nämlich zusammen mit Seiner Majestät auch das schöne Wetter unsere Stadt verlassen. Florian Kraintschetz war überglücklich darüber, daß es ihm beschieden gewesen, sich einmal in seinem Leben in so unmittelbarer Nähe Seiner Majestät zu befinden, Ihn 40
von Angesicht zu Angesicht zu erblicken, ganz nahe, so daß zwischen ihnen eine Distanz von kaum fünfzig Zentimetern verblieb, und er barg diesen Augenblick in der kostbarsten Seidenschatulle im Schrein seiner strahlendsten Erinnerungen; er pflegte diese Schatztruhe nur in ganz stillen Stunden zu öffnen; nur dann, wenn er ganz ruhevoll, zufrieden und satt seine Zigarre rauchte und sanfte Weisen den Raum durchtönten, heraufbeschworen von allem, was einst hell und feierlich wie ein Feuerwerk gewesen war, wie ein Traum entschwand und sich für immer verflüchtigte. An jenem Abend stand Polizeiwachtmeister Florian Kraintschetz im marmornen Vestibül des Neuen Theaters (»das seinesgleichen in ganz Europa nicht hat«) steif wie ein holzgeschnitztes Bildwerk zwischen zwei gestutzten Lorbeerbäumchen, und der elegante schlanke weißhaarige General, der durch die Allee von Oleandern und Palmen herankam, jener weiße Herr in scharlachroter Marschall-Galauniform, der immer wieder bloß den Kopf nach links und rechts neigte, während die Feder auf seinem Kaipak erzitterte und er über den weichen Teppich weiterschritt – war kein anderer als Seine Majestät der Kaiser Franz Joseph der Erste, Imperator von Österreich, König von Jerusalem in höchst eigener Person. Noch aus seiner Militärzeit wußte Florian Kraintschetz, daß die Kaiserliche Galauniform sich von der Marschallsgala unterschied. Er wußte, daß das goldene Eichenlaub auf dem Kaiserlichen Rockkragen nach oben gerichtet war, während es auf dem des Marschalls nach unten wies, und er nahm sich fest vor, genau aufzupassen, 41
was es eigentlich für eine Bewandtnis hatte mit diesem goldenen Laub auf des Kaisers Rock. Aber wo denn! Wie zum Teufel könnte einer noch in diesem Orkan der Begeisterungsrufe auf das Kaiserliche Eichenlaub achten, wenn alle Hände die Zylinder schwenken, die weißen gestärkten Hemdbrüste sich aus den Fräcken der hochmögenden und hochgeborenen Herren hervorblähen wie gasgefüllte Luftballons, die erregten und verzückten Frauen kleine Schreie ausstoßen und die Musik das Kaiserlied anstimmt? Dies ist der Augenblick, der einem die Tränen in die Augen treibt – wie sollte der Mensch da noch Zeit finden, auf die Marschalls-Distinktionen zu achten? Und so schaffte Florian Kraintschetz es auch diesmal nicht – obgleich der Kaiser von Österreich mit seinem Erhabenen Leib dicht an dessen niedrigem Untertanen-Polizeiwachtmeisterskörper vorbeigeschritten war –, sich davon zu überzeugen, inwieweit ein Kaiser sich von einem Marschall unterscheidet, welch letzteren es heutzutage gar nicht mehr gab, denn der letzte Marschall war der selige Radetzky gewesen, bei dessen Beerdigung zum Zeichen besonderer Ehrung der Kaiser mit gezücktem Säbel den Befehl über das Truppenkommando übernommen hatte. Ach ja! Was waren das doch für triumphale goldene Herbsttage gewesen! Kirchenfeste! Unvergeßliche kaiserliche Feiertage! Glockengeläute! Geschützdonner vom Kalvarienberg ganz wie zu Ostern und am Fronleichnamstag! Das Volk trinkt, prostet, schwenkt die Taschentücher, während der Kaiser durch die Stadt kutschiert und die Grundsteine der Kultur, der Schönheit, Güte und 42
Erhabenheit legt, Krankenhäuser baut, Musentempel einweiht, innerhalb von vierundzwanzig Stunden Wunder wirkt in diesen unseren sumpfigen nebeligen Gefilden. Die Begeisterung der Menge kannte keine Grenzen und steigerte sich zu solchem Ausmaße, daß die gräflichen Bauern den Wald im gräflichen Forst auf dem Berg über der Stadt in der Form der alten Kaiserlichen Initialen F.J.I. (»Ef-Je-Ajnc«) abholzten und diese geheiligten Lettern mit Fackeln beleuchteten, wobei der Wald auf der Rodung in Brand geriet, aber was machte das schon, mochte es brennen, mochte alles zugrunde gehen – einmal und nicht wieder wird dem Kaiser auf kaiserliche Art gehuldigt! Obgleich in dieser Nacht Regen fiel, konnte das ganze Turopoljer Land hinter dem Berg dem gräflichen Forst ablesen, daß die Residenzstadt ihrem Edlen und Erhabenen Gast eine Fackel entzündet hatte. In jenen Tagen fühlte sich Florian Kraintschetz durchaus auch als ein Teil der Staatsgewalt, der den Dienst eines wirklichen königlichen Dieners der Krone versah. Infanteriekordons halten die erregte Menge in Schach, auf den Gehsteigen stehen die Menschen Kopf an Kopf, alles wogt neugierig hin und her, und, auf den Herrn Polizeiwachtmeister in Parade blickend, fragen sich die Leute, wo er wohl hineilen mag über den menschenleeren Fahrdamm und was er wohl für wichtige und hochwichtige Botschaften überbringt? Zu jener Zeit sah tatsächlich alles geradezu königlich, hochwichtig aus, und Florian Kraintschetz vergaß auf achtundvierzig Stunden, wie schwer es war, als Bleisoldat eine lange verregnete Herbstnacht hindurch auf den Stra43
ßen der Stadt zu stehen, wie schwer es war, wachzubleiben im Verlaufe der nächtlichen Inspektionsgänge und jedem verdammten Fiaker nachblicken zu müssen, der mit seinen gelben Totenlichter-Laternen dumpf polternd über die Katzenköpfe des Straßenpflasters rumpelte. »Fährt diese Kutsche nicht am Ende einen Korb mit zerstückeltem Menschenfleisch? Oder eine Bombe? Einen gefährlichen Oppositionellen? Was sind das wohl für Betrunkene? Warum brüllen sie denn, zum Teufel, so laut? Ruhe, meine Herren! Im Namen des Gesetzes!« So ging das Leben des Florian Kraintschetz seines Weges: heraus aus den tiefsten schmierigen Gründen einer Provinzkaserne zu leidvollen Nachtwachen auf städtischen Straßen über einzelne strahlende glückliche Sternstunden, bis ihm dann eines Tages beschieden war, in die leibliche Nähe Seiner Majestät zu gelangen und solcherart ein wenig an jenen überirdisch-erhabenen Gefühlen teilzuhaben, die es zwar im Leben wirklich gibt, die einem armen Teufel jedoch nur ganz selten geoffenbart werden. Das sind dann jene weihevollen Augenblicke, wenn der Mensch sich einbildet, er könnte unendlich glücklich und zufrieden sein, weil es ihm vergönnt ist, nah dem Leib eines lebenden Kaisers zu atmen oder sich im Schatten des Allerheiligsten kirchlichen Sakraments zu berauschen. Da sitzt man – zum Beispiel bloß – bei der eigenen Hochzeit an blumengeschmückter Tafel, die Verwandtschaft ist bereits betrunken, brüllt, singt, hält Trinksprüche aus voller Kehle. Und an der Stirnseite der Tafel sitzt die junge Jula in 44
weißer Seide, geschmückt mit Rosmarin – und alles liegt noch vor dir: Liebe, Freude, Zukunft, Glück! Oder der Stammhalter hat das Licht der Welt erblickt, bei der Taufe reden die Taufpaten davon, daß der Kleine eines Tages Minister werden wird! »Selbstverständlich wird er es zum Minister bringen, warum auch nicht? Oder zum Doktor! Ein großer Herr sein!« Nur sind leider solche lichten Momente allzu selten im Leben, und von so einer Hochzeit pflegt viel dumpfes Leid bis zur Kindstaufe durch die Adern der Menschen hindurchzufließen, auch von der Taufe bis zu dem ersten Vorzugsschülerzeugnis des Einzigen, wenn sich in der Vaterseele weite Ausblicke auf tun und man für ein kurzes Weilchen dem Vergessen und der Illusion anheimfällt, das Leben sei doch nicht ganz so hart, und es ließe sich schon leben … Als Florian Kraintschetz ein Sohn geboren wurde, wußte die Familie zunächst eine ganze Weile nicht, welchen Namen er bei der Taufe erhalten sollte. Den Namen des Erzherzogs Maximilian oder den des Erzherzogs Leopold? Aus unerfindlichen Gründen, niemand weiß warum und wieso, war zu jener Zeit der Bruder Seiner Majestät, Erzherzog Max von Österreich, in der Tat bei uns außerordentlich beliebt, und eine ganze Anzahl Neugeborener wurde damals auf den Namen des heiligen Maximilian (Maximus Æmilianus) getauft, in Wahrheit jedoch zum ehrenvollen Angedenken an den unglücklichen Kaiser von Mexiko. Während es in den Kreisen der bodenständigen Erzkroaten der zwanziger Jahre, 45
Anhänger der »Rechtspartei« – der »Prawaschi« (zu deren Kampfrüstzeug tausendjährige Urkunden und Petschaftssiegel gehörten) –, üblicherweise Sitte war, ihren Kindern ausschließlich die Namen der erloschenen kroatischen Dynastien zu geben, so daß in den Taufscheinen jener Zeit lauter Trpimire, Zvonimire, Kreschimire und Tomislave aufschienen, erhielten die Kinder der Staatsbeamten, Amtsdiener und öffentlichen Bediensteten die Namen jener hohen Dynastie, die kraft der Beschlüsse des Landtags von Cetinje aus dem Jahre 1526 sowie der pragmatischen Sanktion und des Ausgleichs mit Ungarn über das kroatische Volk herrschte. Sollte einmal, eines Tages (nach hundert Jahren), irgendein kurzsichtiger Professor in den Kulturdokumenten aus jener traurigen Zeit unserer unrühmlichen Vergangenheit blättern, so würde er mit Leichtigkeit, einfach nach dem Vornamen unserer Kinder, auf die politische Einstellung der Väter schließen können, sofern natürlich alle diese politischen Irrungen und Wirrungen sich bis dahin nicht schon längst in Nichts aufgelöst haben oder in den Nebeln ferner und unbekannter Jahrhunderte versunken und vergessen sind. Den erstgeborenen Sohn des Florian Kraintschetz auf den Namen Maximilian zu taufen, dafür sprach vor allem der Umstand, daß ein verstorbener Onkel Florians im Jahre tausendachthundertachtundsechzig unter der Flagge des Admirals Tegetthoff nach Mexiko gesegelt war, um die Leiche des füsilierten Kaisers heimzuholen, wovon er des öftern zu erzählen pflegte, so daß die ungewöhnliche Beerdigungsszene, so voller Dramatik, und 46
vor allem der Umstand, daß der Sarg mit den sterblichen Überresten des Kaisers bei Vollmondschein auf das Schiff verladen wurde, sich tief in das Gedächtnis des alten Florian eingeprägt hatte: Mondschein, der kaiserliche Sarg unter einem schwarzen Tuch, von dem sich ein Kreuz aus weißem Stoff abhob. Jula, die Mutter, wollte hingegen nichts von Maximilian hören. Sie war für Leopold, nach dem Erzherzog Leopold Salvator, der damals in unserer Stadt weilte, Bälle veranstaltete und ebenso »außerordentlich beliebt« war wie jener andere, zunächst darum, weil es erstens überhaupt kein Mitglied des »Allerhöchsten Herrscherhauses« gab, das nicht »außerordentlich beliebt« gewesen wäre, zweitens aber auch, weil die »erzherzoglichen Kinder« den ganzen lieben Tag in den Straßen der Stadt hin- und herkutschierten, schwarzes, von einem berühmten Bäcker in der Langegasse verfertigtes Kornbrot aßen, wovon die ganze loyale und kaisertreue Stadt wußte, und am Nachmittag des Karnevalstags von ihrem Balkon herab Orangen, Schokolade und Silbermünzen unter das gemeine Volk warfen. Schließlich wurde eine Kompromißlösung zwischen den Erzherzögen Leopold Salvator und Maximilian gefunden, und zwar durch den Namen des gottseligen unglücklichen Kronprinzen Rudolf, worauf der kleine Kraintschetz bei der Taufe den Namen Rudolf für ewige Zeiten erhielt und von seiner Taufpatin als Taufgeschenk ein Bildnis seines Namensvetters Rudolf im verschnürten Waffenrock der Husaren. Der alte Kraintschetz liebte sein Kind und liebte es andererseits auch wieder nicht. Letzten Endes liebt man 47
sein Kind ja nicht an sich, sondern im Zusammenhang mit allen jenen Begleitumständen, die gleichzeitig mit einer solchen neugeborenen Leb’enserscheinung aufzutreten pflegen. Nun pflegen in unseren kleinstädtischen und einfachen Lebensverhältnissen Kinder in fünfundsiebzig von hundert Fällen als Folgeerscheinung des heiligen und unverletzbaren Sakraments der Ehe aufzutreten, welches die Menschen nicht nur durch das Bett zu einer unlösbaren Einheit zusammenführt, sondern – und das ist überaus wichtig – in diese Einheit auch den Tisch miteinbezieht. Doch Jula, Florian Kraintschetz’ Ehefrau, die als Tochter eines Weinberghüters ihre Jugend in Weinkellern und Weingärten verbracht hatte, waren nicht die besonderen Künste von Schenke und Keller zu eigen, die den Tisch zu einer Quelle köstlicher Erwartungen verwandeln. Ihre Suppen schmeckten durch die Bank nach Eingebranntem, das Fleisch war regelmäßig bis auf die Fasern so zerkocht, daß es zerfiel, und das einzige, das sie vorzüglich zuzubereiten verstand, war gerösteter Speck mit Eiern, das echte Zagorjaner bodenständige Weinbauern-Gericht, das sogenannte »Zwrtje«. Doch wer könnte tagaus, tagein Speck mit Eiern, dieses verdammte »Zwrtje«, essen? Unmittelbar nach Rudolfs Geburt erkrankte die unglückliche Mutter Jula an einem Gebärmutterleiden und lag fast ein halbes Jahr im Spital: die Ärzte zerschnitzelten sie kreuz und quer, und als sie dann heimkehrte, war sie ein siecher Mensch, einer jener armen Teufel, deren Leben immer bloß an einem Faden hing, im wahren Sinne des Wortes, und deren Tod von ihrer Umgebung mit 48
Recht als Erlösung und glücklicher Abgang ins Jenseits betrachtet wird. Julas Zimmer war ewig angefüllt mit Medikamenten, Pulvern und Arzneimitteln, was alles »ein Heidengeld kostet und außerdem noch stinkt«. Besser wär’s, das viele Geld zu vertrinken, als es hinauszuschmeißen, für nichts und wieder nichts in diese bitteren Tränke zu stecken, in die Fläschchen, die ohnehin nichts nützen. Und immer nur mit leiser Stimme reden – aber davon, wofür man schließlich eine Frau hat, eine eigene, angetraute, davon kann natürlich gar nicht die Rede sein! Immer bloß von Rezepten, Krämpfen, Gebärmüttern – eine Hölle! Die Ehe an sich ist nichts weiter als ein viereckiger Hohlraum, in den unsere Spießer ihre Köpfe zwängen wie der Vogel Strauß seinen in den Sand – das Rückgrat geknickt und geschlagen von dem Mißgeschick draußen im Leben. Die Menschen, winzig und hilflos, haben ein unbegreifliches tiefes Bedürfnis, aufzuatmen und die Augen zu schließen in dem trüben Halbdunkel des Geschlechtes, worin gleich ewigen Lämpchen von Morgen bis zum Abend die Triebe schwelen. Auch Florian Kraintschetz hatte einst gehofft, sich einen derartigen nur ihm allein gehörigen Raum zu schaffen, wo er die Augen schließen und aufatmen könnte. Doch was hatte er sich aufgebaut? Nichts. Er hatte eine junge Frau, aber sie siechte dahin – mehr tot als lebendig –, was hatte er denn von ihrer ganzen Jugend? 49
Er hatte ein Kind – und nichts als Schwierigkeiten mit ihm, vom ersten Tag an. Sein Sohn war für ihn nicht zu jener Synthese all der kleinen ehelichen Freuden geworden, die, wie winzig und unbedeutend sie zunächst auch scheinen, im Grunde doch in ihrer Gesamtheit zu einem großen, geheimnisvollen Gewebemuster werden, süß und schlaftrunken, aus Pantoffeln und Federbetten gewoben, das in den Seelen von Millionen und Abermillionen von Europäern schlummert und mit einem allumfassenden Wort bezeichnet werden kann: illusio domestica. Zunächst einmal hatte Florians Sohn Schulden ins Haus gebracht, Krankheit und Medikamente; später wurde er der lebendige Zeuge unzähliger Auftritte zwischen dem lebenshungrigen Florian und seiner kränkelnden Frau Jula, die still und resigniert den lieben langen Tag durchzuweinen pflegte. Dem alten Kraintschetz fehlte jene gewisse melancholische Saite, die zuweilen bei anderen Menschen in Schwingung geraten kann – von einem Hoffnungsstrahl berührt oder von der freudigen Erinnerung an ein Abenteuer aus den Manövern: zum Beispiel, wie dem damals das Fell seiner Trommel platzte; oder wie jemand jemandem etwas ganz Saftiges sagte, und noch dazu ins Gesicht! Doch mit dem Gedanken an seinen Sohn verband sich für Florian nicht das geringste Freudige oder Helle: schon seit den ersten Lebenstagen war dieses Kind, wenn er so zurückdachte, für ihn immer bloß ein überflüssiger Ballast gewesen, ein Bleigewicht, das ihn in eine trübe schwarze Finsternis hinabzog, etwas, das man sehr gut 50
hätte entbehren können, und ohne das er sich’s viel leichter täte im Leben. Erst später, als Kraintschetz sich bereits an die vielen Widerwärtigkeiten gewöhnt hatte, die ein Kind so mit sich bringt, und sich mit ihnen abfand, nahm das Leben wieder seinen gewohnten Lauf, als könnte es nicht anders sein. Nach dem ersten Aufbegehren, da Florian sich noch mit der ganzen Wucht seines Temperaments dagegen aufgelehnt hatte (»es kann doch nicht immer so weitergehen mit diesem Spitalsbetrieb«), beruhigte er sich und versank in ein gleichmäßiges Wiederkäuen, in einen Zustand der Fäulnis, der sich hinzog von einem Tag zum andern, zäh und klebrig und schmierig wie Pech. Darauf trat eine Zeitlang Ruhe ein. Doch als der kleine Rudolf aufs Gymnasium kam und dann, nach anfänglichen guten Erfolgen, Schulkrisen, Fünfer, Verweise und schriftliche Ermahnungen auf sein Haupt niederzuprasseln begannen, hob für die Familie Kraintschetz eine Ära von Skandalen an, von Prügeln und Auftritten, die im Grunde kein Ende nahm. Allerdings kam es zu einer Pause zwischen der fünften und der siebenten Gymnasialklasse, als es schien, daß alles sich zum Guten wenden, alle Schwierigkeiten sich in Frieden und Wohlgefallen auflösen würden. Rudolf hatte sich plötzlich aus seinen Mißerfolgen und Fünfern herausgearbeitet und schwamm jetzt ganz obenauf unter den ersten der Klasse. Dann aber, ganz aus heiterem Himmel, als wäre der Leibhaftige selber in den kurzsichtigen Jungen mit der Professorenbrille gefahren, wurde 51
er ganz und gar verrückt: die verdammten Bücher hatten ihm den Kopf verdreht! So war niemals Ruhe! Niemals Friede! Zugegeben: es stimmte schon, daß Rudolf jetzt gut lernte. Und alle sagten, er habe einen hellen Kopf! Ja, es war, als sei in seinem Hirnkasten plötzlich ein Knopf aufgegangen und als käme er auf einmal zur Vernunft … Er könnte es noch zu etwas bringen, Karriere machen. »Wenn ich schon ein Nichts und ein Niemand bin, warum sollte nicht er seinen Weg machen? Wenn er bloß Vernunft annehmen wollte! Wenn er bloß seinen närrischen Kopf nicht mit diesen verdammten Ideen vollstopfte! Mit solchen Ideen im Kopf ist es natürlich völlig ausgeschlossen, Karriere zu machen!« Eine Karriere! Dieses Zauberwort schwebte über den Träumen des alten Kraintschetz wie der Komet von Bethlehem; Tausende in diesem unserem Zwischenstromland zwischen Save und Drau träumten von dieser Chimäre, durchirrten unsere Wirklichkeit, dieser magyarenfreundlichen Fata Morgana nachtaumelnd wie der Vision von einer überirdischen Insel. Je klarer es dem alten Florian Kraintschetz wurde, daß ihm selber alles im Leben schiefgegangen war, desto intensiver versenkte er sich in Träumereien von der Karriere seines Sohnes. Alle zerronnenen Hoffnungen und Illusionen übertrug er auf seinen Buben, und da die Phantasien, die er in diesem für unser Land typischen Zeitabschnitt spann, typisch waren, müssen sie auch auf determinierte und typische Weise gedeutet werden: so 52
träumten zu jener Zeit bei uns alle Väter von der Karriere ihrer Söhne. Die Menschen jener Zeit waren noch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geboren, in jenem merkwürdigen Windschatten der Ereignisse, als die Ruhe vor dem Sturm gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte: ungefähr kurz vor dem letzten Dezennium des Jahrhunderts. Damals herrschte die Stille der Fäulnis über ganz Europa; kein Wunder, daß die größten Ereignisse in unserer kleinen Provinzstadt Kaisermanöver und Militärparaden waren oder der Namenstag der hohen Frau Gemahlin des Banus, der Statthalterin. Oder: der Geburtstag Seiner Majestät, diverse Jubiläumsfeiern des Allerhöchsten Herrscherhauses oder der Todestag des einen oder anderen unglücklichen Mitgliedes dieses Allerhöchsten Hauses. Dies alles waren Feiertage, die zwar nicht rot von der Heiligen Mutter Kirche im Kalender angemerkt waren, an denen aber trotzdem die Glocken läuteten und in den Kirchen feierliche Pontifikalämter abgehalten und sogenannte »Monster«-Messen gelesen wurden, die Geistlichen in weißen Galagewändern und brokatenen Dalmatikas, die Altäre silbern bekleidet. An solchen Tagen konnte man schon in aller Frühe den schweren Schritt von Infanteriekompanien hören, die durch die Straßen marschierten. Die Generalität mit Trompetern und regennassen Papageienfedern auf den Hüten ritt vorüber, weißgekleidete Kinder schritten in feierlicher Prozession einher, die Beamtenschaft im Frack und die Zünfte mit ihren Fahnen: Spiele gab es und Brot 53
im Überfluß für das Volk, das in den kleinen Provinzstädten und Garnisonen satt und selig dahinlebte; die Zeitrechnung richtete sich nach den Kaiserfeiern – von einer zur andern, von Fackelzug zu Fackelzug, von einem Allerhöchsten Geburtstag zum nächsten Durchlauchtigsten, beziehungsweise Hochwürdigsten Namenstag. Es war, als hätte alles, was sich ereignete, sich seit eh und je auf die gleiche Weise ereignet, und alles wäre immer schon so gewesen, wie es jetzt war. Zwar hatte man von den Alten erzählen gehört, daß wir Kroaten einst unter Jellatschitsch als Rebellen und Rote Grenzersoldaten fünf Tage lang über die Drau setzten, und daß unsere nationale Regierung und unsere Minister einmal auf dem Markusplatz saßen. Doch das war schon lange her, sehr lange, und die »Illyrier« gibt es nicht mehr! Ab und zu kann man den einen oder den anderen rheumatischen taubstummen winzigen Greis im roten Illyrerwams sehen, wie er im Rollstuhl durch die Straßen gefahren wird, und die Straßenrangen zeigen mit den Fingern auf ihn: »Ein Illyrier, ein Illyr – hat keinen Heller, keinen Filir!« Die illyrischen Volkserwecker scheinen wirklich alle schon tot zu sein (und haben offenbar wirklich ohne roten Heller, wie zum Hohn und Spott in rheumatischer Trübsal, das Zeitliche gesegnet), und so ist das Volk heute ohne aufrechte Führer und aufgeschlossene Köpfe geblieben! Menschen, die heute noch bereit wären, vorzustürmen für die Freiheit ihres Königreiches unter der Fahne der Heiligen Jungfrau, der Mutter der Kroaten, müßten 54
auf die Magyarenpartei den Eindruck von kompletten Narren machen, deren patriotisches Gebrüll von den ungarischen Herren Doktoren und Advokaten in den Zeitungen als »Trinksprüche«, »besoffene Phrasendrescherei«, »leeres Gewäsch« und »romantische Schwärmerei« abgetan werden kann. Andererseits spuckt man diesen »Magyaronen« in den Zeitungen auch ins Gesicht und beschuldigt sie in aller Öffentlichkeit, Judasse zu sein, die uns systematisch für dreißig Silberlinge an die Ungarn verkaufen – wer zum Teufel kann sich da noch auskennen in diesem Durcheinander? Das ist alles die Politik – viel gescheiter wär’s, sich ein Gläschen hinter die Binde zu gießen und in eine saftige Krainerwurst zu beißen! Das ist das einzig »Reale« und »Positive«! (»Real« und »positiv« waren die Schlagworte jener Zeit, und diese Losungen sprangen aus dem Landtag – dem Sabor –, der Politik und der Presse auf die Straße, die Straße schlürfte sie ein, besoff sich an ihnen und hielt sich so im Sinne von »Gesetz und Ordnung« unserer »Banalverwaltung« an die einzig »reale und positive« Grundlage – nämlich an das allgemein anerkannte bodenständige gute Tröpfchen und die knusprig gebratene Truthenne, an den Sankt-Martins-Tag und die Blutwürste, die von den zeitgenössischen Feuilletonisten in lyrisch überschwenglichen Artikeln als Symbole unseres Volkstums verherrlicht wurden.) Solchermaßen geartet war die Zeit, in welcher der Polizeiwachtmeister Florian Kraintschetz sich seine Vorstellung vom Leben bildete, was folgendermaßen aussah: da gibt es zunächst den Markusplatz mit der Kirche des hei55
ligen Markus und den rotweißblauen Wappen auf dem Kirchendach. Die Wappen funkeln im Sonnenschein, so daß man vor so viel Licht nur mit Mühe in diesen Glanz blicken kann. Auf dem Markusplatz steht das Palais des Banus-Statthalters, und im Palais residiert Seine Exzellenz der Banus des Dreieinigen Königreichs. »Der Banus-Statthalter des Dreieinigen Königreichs«, das ist eine Vorstellung, die letzten Endes überhaupt schon nichts Menschliches mehr in sich birgt. Diese metaphysische Persönlichkeit steht an der alleräußersten Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen: die majestätische Gestalt des durchlauchtigsten Herrn Grafen im goldverbrämten Purpur mit dem Kaipak auf dem Haupte und einer Pergamentrolle in der Hand, auf der in kalligraphisch verschnörkelten Schriftzeichen eine Botschaft der Allerhöchsten Hofkanzlei steht, die mit der glorreichen Anrede beginnt: »An alle Stände und Rangklassen des Dreieinigen Königreichs«, und wo jedes zweite Wort wie »ergebene, aufrichtige, geliebte und treue« an »uns«, die treuen und geliebten Untertanen, gerichtet ist. Der Banus-Statthalter des Dreieinigen Königreichs ist also eine unbegreiflich erhabene und durchlauchtige gräfliche Person, die in direktem Kontakt und höchstpersönlich mit dem Allerhöchsten Hof verkehrt im Namen aller niedrigen Sterblichen in diesem nebligen Tal der Save, ihm ist die hohe Ehre zuteil geworden, sich nach Wien vor den erhabenen Kaiserthron zu begeben, wo er demütig die loyalen Wünsche und Forderungen des kroatischen Volkes niederlegt. Der Banus-Statthalter, das 56
ist jener vornehme Exzellenzherr im grauen Winterrock, der, stets streng und finster, an jedem Nachmittag über die Cmrok-Promenade wandelt. Wenn sich das große Portal des Banus-Palais öffnet und der Herr Banus »sich nahen« (denn von den Exzellenzherren wagen die Söhne der hörigen Bauern nur in der dritten Person Mehrzahl zu sprechen), dann erstarren alle Geheimpolizisten und militärischen Ehrenwachen in ihren leopoldinischen Waffenröcken mit den gelben Litzen des Infanterieregimentes Numero Sechzehn Seiner Kaiserlichen und Königlichen Hoheit Erzherzog Leopold, alle Schutzleute und Polizeiinspektoren und Gendarmen, die mit ihren Hahnenfedern, in weißen Handschuhen und dem gelben funkelnagelneuen Lederzeug wie hölzerne Schießbudenfiguren habtacht stehen. Sie alle erstarren und salutieren auf dem Platz des heiligen Markus, während Seine Exzellenz der Herr Banus über das Trottoir »schreiten« und mit seinem silberbeschlagenen Spazierstock ab und zu auf den Boden »schlagen«. Und der Durchlauchtigste Graf und Herr Banus »schreiten mit ernster Miene« vorbei, gefolgt von Dero Herren in Zylinderhüten – wie Schatten, die Köpfe demütig gesenkt – lauter »Illustrissimusse«, »Magnificusse« und »Barone« sind es, und hinter den Illustrissimussen und Magnificussen und Baronen kommt Herr Pessek, königlicher Geheimagent, mit zwei Polizeihunden einher. Maximilian Pessek, der berühmte Geheimpolizist, der schon bis nach Paris gekommen war, um Diebe und Hochstapler zu fangen! Von dieser berühmten Reise nach Paris, über die noch lange wie von einer erstrangigen 57
Sensation bei der Polizei gesprochen wurde, hatte Max Pessek dem alten Florian einige Ansichtskarten geschickt, denn die beiden waren miteinander »per Du« und alte Regimentskameraden noch aus ihrer Jugendzeit. Eine Karte hatte der Pessek dem Florian aus Basel geschickt und über dem blau kolorierten Rhein mit der schweren, des Schreibens unkundigen Hand eines Analphabeten einen dicken Pfeil hingemalt und die Bemerkung: »Das ist der Rhein-Strom! Hier habe ich gebadet!« Aus Paris aber schickte er ihm ein Bild des Eiffelturms mit dem gleichen Pfeil: »Das ist der Aifelturm! Hier habe ich Kaffee getrunken!« Die Karriere des Maximilian Pessek, der nach Paris fuhr, um Diebe und Hochstapler zu fangen, und der immer hinter den Fersen Seiner Exzellenz des Herrn Banus einhergeht, erscheint dem alten Florian als unerreichbarer Gipfel des Glücks, und unausgesetzt träumt und phantasiert er davon, wie herrlich es doch wäre, mit den zwei Hunden hinter dem Banus-Statthalter einherzugehen … Wie viele traurige Nächte bei fallendem Schnee hatte doch der alte Florian Kraintschetz vor dem Banus-Palais durchwacht, die Schatten verfolgt, die an den durchsichtigen Fenstergardinen vorbeihuschten, und der Musik gelauscht, die aus dem Palast hervordrang! Wie viele Kutschen der städtischen Hocharistokratie mit livrierten Dienern in Zylindern waren an ihm vorbeidefiliert, die Damen in Seide und Pelzen, die Herren im Frack – wie viele waren bloß an diesem einen Abend an ihm vorübergezogen! Und vor ihnen allen stand der Polizeiwachtmeister stramm im Spalier und grüßte die Kutscher in 58
ihren Pelzmänteln; und stets, wenn eine Kutsche vor dem Portal anhielt und die Diener dann den Wagenschlag zuknallten, an dem das Familienwappen in Gold prangte, und die Rappen schon wieder in die Nacht hinaustrabten, stand der Polizeiwachtmeister Kraintschetz immer noch starr da und sprach automatisch die Titel und Namen der erlauchten Gäste nach, als wollte er überprüfen, ob auch alle der hohen Einladung des Banus Folge geleistet hatten. »Das ist die Baronin Fromage! Das ist der alte Baron Winter Szigety von Szigetvár! Dies der Graf Trombelles! Ulanenrittmeister – und kommt in Zivil? Merkwürdig!« So steht Kraintschetz unter den Fenstern und lauscht der Musik, und denkt dabei, daß jetzt oben in dem Statthalterpalast Champagner getrunken und Braten gegessen wird, und Trinksprüche auf Seine Majestät ausgebracht werden! »Wahrscheinlich sind es knusprig gebratene Spanferkel oder Truthühner. Hier aber ist’s kalt! Sicher minus zehn, zumindest! Es beißt einen richtig in den Fingerspitzen! Man müßte sich ein wenig die Beine vertreten. Die Ohren warm reiben! In die Handflächen hauchen! Zwei- oder dreimal die Arme um die Achsel schwingen! Es kneift ganz tüchtig!« Und so stampft denn Polizeiwachtmeister Florian Kraintschetz auf und ab, auf und ab, die ganze liebe trunkene Karnevalsnacht hindurch, bleibt hin und wieder stehen, um sich die Augen zu reiben und die Füße gegeneinanderzuschlagen, damit ihm wärmer wird, und dann blickt er wiederum zu dem gelben Licht im ersten 59
Stockwerk hinauf, wo seltsame Gemälde an den Wänden hängen, altertümliche Bildnisse: Offiziere und Kavaliere und Barone in Paraderöcken, alle noch mit weißen Perücken wie zu den gottseligen Zeiten weiland Kaiserin Maria Theresias. Da hängen sie an den Wänden, die Bildnisse großer Herrschaften: Statthalter, Grafen und Magnaten in Galagewändern mit goldenen Verschnürungen, in Samt und Seide gekleidet, hängen steif und zeremoniell in ihren Goldrahmen an der roten Wand, gespenstische Gestalten, die ganz so tun, als blickten sie zwischen den Damastvorhängen und funkelnden Kronleuchtern hindurch auf den Platz hinunter und geradewegs auf ihn, den Polizeiwachtmeister Florian Kraintschetz – ob er nicht etwa eingeschlafen sei auf seinem nächtlichen Wachtposten vor der Residenz des Banus, und ob er auch treu den Palast hüte und seinen Dienst genauest und vorschriftsmäßig versähe, wie er es unter Eid zu tun gelobt hatte? Während wie vieler Nächte war der Polizeiwachtmeister Kraintschetz so dagestanden, Aug in Aug mit den Bildnissen der Banus-Statthalter, und hatte in den hohen geschliffenen Spiegel gestarrt, wo sich das Licht an den Rändern in Regenbogenfarben brach wie bei dem Glasund Kristallzeug der Leuchter und der Fensterscheiben in der Kirche? Was wohl so einem Sohn von Bauern und Hörigen für Gedanken durch den Kopf gehen mögen, wenn er sich, melancholisch wie ein Kalb, in all diesen feudalen Pomp verschaut und den Mund aufsperrt vor Staunen, so daß man meinen würde, er sei im Begriff, Gott weiß was für 60
wichtige Wahrheiten zu entdecken und tiefsinnige Probleme zu lösen. In Wahrheit aber löst er gar nichts – und wenn ihn in einem solchen Augenblick jemand mit der strengen Stimme eines Vorgesetzten gefragt hätte: »He, Sie, Wachtmeister, was glotzen Sie zum Teufel diese einstockhohe Statthalterei an, als sähen Sie sie zum ersten Mal?« – er wäre verwirrt aufgefahren, wie aus dem Schlaf gerissen, und hätte keine Antwort gefunden. Die schwarzen arabischen Gottesmütter mit ihren diamantübersäten Königsmänteln in unseren Kirchen, all die Fahnen, Keulen, Morgensterne und Rüstungen auf den Marmorgrüften der Banus-Statthalter, die päpstlichen Mitren und Wappen über den Toren der bischöflichen und Domherrn-Kurien – alles, was feudal und adelig ist in unserer Stadt, hält unsere in Livreen und Uniformen gesteckten Bauern zu sklavischer Ehrfurcht an und versetzt sie in einen Zustand krankhafter Gedrücktheit; der Blick aus den Augen unseres Volkes, der Amtsdiener, Polizeiinspektoren, Kanzlisten, dieser armseligen Untertanen von »Banalräten« und königlichen Amtsvorständen, ist der Blick eines blutenden zertretenen Frosches unter dem Huf des blöden feudalen Nashorns. Und so blickt auch Florian Kraintschetz in die hellleuchtenden Fenster des Banus-Palais und denkt im stillen: »Das also ist der Feenpalast, wo der Herr BanusStatthalter wohnt. Dies ist das Haus, von dem aus das ganze Königreich regiert wird.« Noch zwei oder drei Gebäude gibt es in der Stadt, die sich annähernd mit dem Banuspalais und seiner methaphysischen Bedeutung messen könnten. Das Erzbischöf61
liche Palais zum Beispiel: dort steigen die Kardinäle des Heiligen Vaters, des Papstes zu Rom ab, denen drei Kleriker mit Posaunen voranschreiten, um vor Seiner Eminenz die silbernen Posaunen zu blasen! Auch bei uns hat es Kardinäle gegeben! Aber sie sind weggestorben. Jetzt hängt nur noch der Kardinalshut neben dem Hauptaltar in der Kathedrale. Vielleicht steht auch noch das kaiserlich-königliche Korpskommando nicht hinter dem Banuspalais zurück. Dort ist der Sitz des Durchlauchtigsten Baron Feldzeugmeisters, der achtzehnhundertsechsundsechzig mit einer einzigen Eskadron bei Custozza die ganze italienische Kavallerie zusammenhieb. Dort, im Kommando des kaiserlichen Korps, steigen hinwiederum Erzherzöge und Prinzen des Allerhöchsten Hauses ab, wenn die Geschikke sie in unsere Stadt verschlagen. Doch wenn auch die Bischofsburg und das Korpskommando ruhmvolle Gebäude sind (zweifellos von historischer Bedeutung), so reichen sie dennoch nicht an das Bantuspalais heran, denn dieses steht hoch über allen Burgen und Palästen der ganzen Stadt, weil darin Herz und Haupt des Königreiches Kroatien und Slavonien residieren. Dieses »Königreich Kroatien und Slavonien« nahm in der Vorstellungswelt eines Kraintschetz eine ihrem Wesen nach unbegreifliche und unsachliche Bedeutung ein, ähnlich der Empfindung, die er wiederholt im Theater erlebt hatte, wenn er, müde und schläfrig, während seines Inspektionsdienstes ganz oben unter dem Dach von der Galerie herunter auf die Bühne blickte, wo im grünlichen Mondlicht Könige, Prinzessinnen und 62
Grafen sangen. Zwischen den Gräfinnen, die in goldenen Schühlein im grünen Mondschein sangen, und jenen Damen, die in Karossen zum Ball in den Palast des Banus gefahren wurden, machte das Gehirn des Wachtmeisters Kraintschetz keinen Unterschied. Alles, was auf der Bühne geschah, wie auch hier in der Wirklichkeit, stellte für ihn das gleiche Mysterium dar, von dem kein Mensch jemals ganz erfassen konnte, was es und wie es seinem Wesen nach ist – er kann nur dastehen und glotzen, und alles bleibt unverständlich, und doch ist das, was er sieht, zweifellos wirklich und wahrhaftig vorhanden: sowohl die Szene des Theaters als auch die der Macht. Dieses »Königreich Kroatien und Slavonien« war für ihn ein Begriff von überirdischer göttlicher Souveränität, Ziel und Endzweck von allem, was geschieht, und um dessent-willen jedes und alles werkt und wirkt, auf daß dann über allem ein solches unergründliches, seinem Wesen nach unirdisches Königreich sich erhebe. Klar, wenn dann das Oberhaupt eines solchen Reiches eine Reise antritt, tut es das in einem Salonwagen; rote Teppiche werden dann auf den Boden gebreitet, vom Eisenbahnwaggon bis zur Kutsche, damit der Fuß des Höchsten Oberhauptes des Königreichs nicht die gemeine, bloße und schmierige Erde berühre. Und wo immer das Höchste Oberhaupt auch hinfahren möge, stets reisen Diener mit, Musikkapellen, Mörser und Fahnen, und so trägt er die Idee des Königreichs mit sich herum, die ebenso heilig ist wie die Sakramente der Heiligen Mutter Kirche oder wie eben alles, das auf dieser Erde heilig gehalten wird: der Eid, die straßenpolizeilichen Vorschrif63
ten und die Gesetze alle an und für sich. Und ebenso wie der gewöhnliche Sterbliche und Bürger das Knie beugen und die Stirne senken muß, wenn die Klingel ertönt und in den Straßen das Allerheiligste vorbeigetragen wird, so hat er auch dem Königreich und seinen Priestern, Bischöfen, Gouverneuren und Oberhäuptern seine Ehrfurcht zu erweisen. Immerhin gab es für den alten Kraintschetz – wenn auch in unbekannten geographischen Fernen – auch außerhalb unseres dreieinigen Königreichs Kroatien, Slavonien und Dalmatien noch die übrige Welt. Irgendwelche Staaten waren zwar noch da, die mobil machten und Kriege führten, wo große Eisenbahnkatastrophen passierten – in Rußland gar wollten die Nihilisten ihren Kaiser umbringen! Aber das war alles so weit, und wen kümmerte es schon? Die politischen Grenzen seines Königreichs, dessen Karte in jedem Amt und in allen Polizeiexposituren an der Wand hing, diese beiden parallelen Linien, welche den Lauf der beiden vielbesungenen Ströme Save und Drau bezeichneten, stellten auch die äußerste Begrenzung von Florians politischem Anschauungsvermögen dar: Save und Drau strömen dahin »und verkünden der Welt, daß der Kroate seine Heimat liebt«. Und darum gerät der alte Kraintschetz sich in dem einen oder anderen Wirtshaus mit seinem alten Busenfreund Sleptschek in die Haare. Dieser Mathias Sleptschek war früher Setzer gewesen und wurde erst später Redaktionsdiener der »Kroatischen Fahne«, für die schon der alte Startschewitsch höchstpersönlich seine Artikel geschrieben hatte. Natürlich war dieser Mathias Sleptschek 64
ein wütender Oppositioneller, ein Fanatiker und Anhänger der »Prawaschi« – der »Rechtspartei«, also für Unabhängigkeit und Lostrennung, bereit, sollte es nötig sein, sein vaterländisch gesinntes Haupt zu opfern, darzubringen auf einer Schüssel, wenn es sein mußte, auf der Stelle, heut abend noch, oder spätestens morgen, für das Wohl und das Glück unseres herrlichen und ach so unglücklichen Vaterlandes. Hätte den alten Polizeiwachtmeister Florian nicht eine langjährige Freundschaft mit Mathias Sleptschek verbunden und wären sie nicht Busenfreunde von der ersten und frühesten Jugend an gewesen, längst schon hätten diese beiden politischen Kampfhähne sich gegenseitig bespuckt, gezaust und wechselseitig verhaftet, sobald das Gespräch beim Wein eine Wendung ins Politische nahm. »Was hast du denn eigentlich gegen Budapest einzuwenden, wenn ich fragen darf? Budapest liegt doch nicht im Königreich! Zwischen Budapest und dem Königreich gibt es eine reale Beziehung! Jawohl! Eine reale Beziehung! So steht es in der Nationalzeitung! Und diese reale Beziehung bindet uns aneinander! Nichts anderes!« »Ein Esel bist du mit deinen realen Beziehungen. Wir sind durch keinerlei reale Beziehungen gebunden. Der Ausgleich ist’s, der uns bindet, das ist es ja eben, aber dieses Abkommen können wir lösen, heute abend noch!« »Die Esel seid ihr! Wißt selber nicht, was ihr eigentlich wollt! Was wollt ihr denn wirklich, frag ich dich? Das erklär mir einmal! Ihr wollt – was? Das Abkommen mit Ungarn lösen! Verhaften müßte man euch alle miteinander als Hochverräter!« 65
»Unsere Freiheit wollen wir, unsere tausendjährige! Das ist’s, was wir wollen! Den ungarischen Ausgleich wegschmeißen, weil er gegen unsere Interessen geschlossen wurde! Gar nichts bindet uns, keine realen Beziehungen, wir haben sie alle gelöst im Achtundvierzigerjahr!« »Merkst du denn nicht, was du für ein Esel bist? Eine oppositionelle Bande und Bagage seid ihr alle miteinander! Den Strick um euren Hals, und aufgeknüpft gehört ihr, nicht aber die Magyaren! Was euch nur einfällt – wollt Politik machen, zum Teufel! Wär ich euer Banus (wenn es sich zufällig so getroffen hätte), zu Paaren treiben würd ich euch, und nicht im Landtag mich mit euch herumschlagen! Er aber, weil er ein Kavalier ist, bestellt euch gar die Musik von den Fünfundzwanzigern hinein, damit ihr euern Sabor auch noch feierlich mit Musik eröffnen könnt! Die Militärmusik gibt er euch und eine ganze Kompanie in Paradeadjustierung obendrein, und die Fahne dazu und den Bischof, ihr aber spuckt ihn noch an! Viel zu gütig ist er, zu gut für euch undankbares Gesindel! Jawohl, das seid ihr, ein Gesindel, eine Bagage, nichts anderes!« »Nicht er gibt uns das alles, du Esel! Er gibt, weil er muß! Hängt ja nicht von ihm ab, ob bei der Landtagseröffnung die Musik aufspielt oder nicht!« »Ah, so ist das also? Nicht er ist’s, der euch alles gibt? Wer denn, wenn nicht er? Wer gibt euch die Musikkapelle, das sag du mir! Wer? Ist es der Banus, der zu befehlen hat oder nicht? Ja oder nein?« »Nein! Er hat nichts zu befehlen! Befehlen tut das Volk!« 66
»Geh, geh, ich bitte dich gar schön! Wie sollte denn das lausige Volk befehlen? Wenn der Banus will, so gibt’s binnen vierundzwanzig Stunden kein Volk mehr! Er steckt euch alle samt und sonders ins Loch – in den Arrest vom Landgericht – das ganze nationale Pack!« »Das möchte denen so passen, wenn wir’s uns gefallen ließen. Wir lassen es uns aber nicht gefallen! Weißt du denn, ob wir nicht eines schönen Tages auf dem Markusplatz erscheinen und nach unserem verbrieften Recht fragen werden? Dann wird er merken, was es geschlagen hat, der Banus!« »Was wird er denn merken, der Banus? Wer seid ihr denn schon? Niemande! Ich will dir einmal was sagen: Wenn du nicht mein Freund wärst, hätt ich dir schon gezeigt, was du für ein Nichts und Niemand bist! Jetzt, sofort, an Ort und Stelle, im Namen des Gesetzes! Nimm dich gut in acht! Verstehst du? Mir willst du drohen, mit dem Aufstand willst du mir kommen? Was? Ein einziges Wort noch!« »Meinst, ich fürcht mich vor dir? Was kannst du mir schon tun? Einen Dreck kannst du mir tun!« So also dachte Wachtmeister Kraintschetz über die Ungarn, über das Königreich Kroatien, so von den realen Beziehungen, vom kroatischen Landtag, vom Banus-Statthalter und von der Opposition, das war seine Ansicht von allen anderen wichtigen und unwichtigen Dingen, die in jener Zeit auf der Tagesordnung unseres öffentlichen Lebens standen. Da steht er also, der Palast des Banus auf dem Markusplatz, und im Präsidialamt laufen alle Telephonlei67
tungen zusammen aus allen Komitaten und Bezirksämtern, Gemeinden und Gendarmeriestationen,, und diese ganze kostspielige Maschine arbeitet so, wie es Seine Durchlaucht der Durchlauchtige Herr Banus »befehlen«. Die Ämter atmen mittels der Akten (acta und ad acta), Schriftstücke wandern hin und her, Haftbefehle, Klagen; da ist auch das Landesgericht und der Galgen im Hof des Landesgerichts. Wird ein Staatsbürger, der sich gegen die geltenden positiven Gesetze vergangen hat, gehenkt, dann macht man von seinem Kopf einen Gipsabguß, und diese Schädel stehen, bedeckt mit grauem Staub, oben im zweiten Stock auf einem Schrank und blecken die Zungen, lang wie die von Kühen. Und über allen diesen Ämtern und über allen den Illustrissimussen und Serenissimussen steht Seine Exzellenz der Herr Banus und »kommandieren« allen. Der Exzellenzherr in der dritten Person Mehrzahl sind allen übergeordnet, und alles andere ist Seiner Exzellenz Untertan. Denn Exzellenz sind der Oberste und Höchste, und über Ihnen ist niemand mehr, nur noch Seine Apostolische Majestät, der Heilige König von Jerusalem und Kroatien, unser Allergnädigster Kaiser und König, Sieger in dreiunddreißig Kriegen, der ein Schloß mit dreitausenddreihundertdreiunddreißig Zimmern bewohnt. Das ist also unser »banales« Verwaltungssystem! Die Septemvirentafel! Die Banaltafel! Die Referate der Landesregierung! Die städtische Polizeiwache mit dreizehn Roten Laternen samt der Zentrale! In der Zentrale dient er, der Herr Polizeiwachtmeister Kraintschetz! Er wohnt an der Mautlinie, dort hat er sein Dach, seinen Zaun, seinen Garten. Früher hatte er auch 68
Karfiol und Paradeiser in seinem Garten, jetzt aber ist alles öd und wüst; nicht einmal Salat ist da, nicht der Boden gedüngt, alles verkommt! Auch der Schweinestall ist leer! Alles hat die kranke Jula zugrunde gehen lassen, seine unglückselige Frau, die Weinbauerntochter, die ihm nichts als zwei hohe Schränke in die Ehe mitgebracht hat – das war alles. Er hat eine Frau – und hat doch keine! Wenn sie der liebe Gott nur sterben ließe! Auch einen Sohn hat er! Jawohl! Einen Sohn! Und alle sagen, daß der ein Teufelskerl ist und daß er auch gut lernt, jetzt, in der Oberstufe, dieser sein Sohn! Auf und ab geht der Polizeiwachtmeister Kraintschetz vor dem Banus-Palais, lauscht der Geigenmusik, die aus fernen, verschlossenen warmen Räumen zu ihm herausdringt, und denkt an seinen Sohn. Warum sollte es nicht möglich sein, daß sein Sohn einmal ein großer Herr wird? Wenn der Herrgott es ihm selbst schon nicht gegeben hat und er es nicht schaffte, etwas aus sich und aus seinem Leben zu machen – warum sollte sein Sohn nicht mehr Glück haben? Wie plastisch und anschaulich stellte der alte Kraintschetz sich den Aufstieg seines Sohnes vor, wenn er über dessen Glück nachdachte! Für Kraintschetz war die Welt ein ungeheurer Acker und Weidegrund, eingesäumt von zwei Strömen: Save und Drau, und mitten in diesem Land, schwerem, dunklem Bauernland, das (wie im Lied) »unser schönes Heimatland« hieß, steht der Markusplatz wie eine süße Torte, verziert mit Schnörkeln und Serpentinenwegen. Ihm, Florian, war es nicht vergönnt, diese Torte, den Markusplatz, zu erklettern. Unterwegs war 69
er bei der Roten Laterne steckengeblieben und mußte draußen bleiben – auf der Straße! Sein Sohn jedoch, der könnte vielleicht hinaufgelangen! Warum auch nicht? Sein Sohn wird brav seinen Doktor machen, ein Herr Doktor werden, wird in den Frack schlüpfen und mit dem Salonwagen nach Budapest fahren, und das Amtsblatt wird mit fetten Lettern die Nachricht bringen: »Illustrissimus Herr soundso, Sektionschef der Regierung, ist in Begleitung seines Sekretärs Dr. Kraintschetz nach Budapest gefahren.« Doktor Kraintschetz, das ist ja der Rudo, sein Sohn! Sein Fleisch und Blut! Warum sollte das letzten Endes nicht möglich sein? Das ist der Beginn der Karriere! Von da an geht es dann schon allmählich aufwärts! Nur schön langsam voran. Von Stufe zu Stufe! Bis dahin wird er selbst schon in Pension sein. Ein Zivilist! Ins Kaffeehaus gehen, die Bilder in den Illustrierten anschaun – ein Herr! Und seine Zigarre rauchen – warum bloß eine? Zwei! Drei! Fünf! Wenigstens fünf Zigarren am Tag! Zigarren wird es dann geben – wie Mist! Zwei würden zwar genügen – alten Leuten schadet der Tabak – ist schlecht für die Augen … Na, und wenn schon! Warum sollte er sich schonen? Man lebt nur einmal! Zwei am Vormittag und zwei am Nachmittag. Ja, so wird’s gehn: Das mittlere Maß halten. Das sind vier Groschen mal dreißig, macht zusammen sechs Gulden monatlich, bloß für Zigarren! Die wird ihm sein Sohn geben, die sechs Gulden! Und auch noch etwas drüber für Kaffee und für eine Badekur – und zwar in den Sutinske-Toplice-Quellen, die wirken am besten und sind besonders gut fürs 70
Herz; wenn man älter wird, ist es ratsam, auch aufs Herz, das abgekämpfte, ein wenig aufzupassen, auch unbedingt auf die Blase, will ich meinen! So stapft der alte Kraintschetz auf und ab unter den hellerleuchteten Fenstern des Banus, hört der Musik zu und träumt von Zigarren und von der Karriere seines Sohnes, baut riesengroße Luftschlösser: wie er »in Zivil« gehen wird, und in ein Heilbad, und wie alles noch schön sein wird und das Leben lebenswert! Mittlerweile ist es immer kälter geworden, der Frost beißender, von den Telefondrähten stäubt der Rauhreif, und aus dem Wald hört man die Raben und Krähen krächzen. Am Himmel aber klettern die Sterne hoch, Orion und Siebengestirn stehen schon über dem Kirchturm – funkelnd und gleißend wie die Uniformknöpfe der Rekruten. Diese Träume des alten Kraintschetz von der Karriere seines einzigen Sohnes muß man (aus unserer heutigen nebeligen und recht unruhigen Perspektive betrachtet) als durchaus natürliche und richtig aufgestellte Prämissen verstehen, die sich früher oder später in einem besseren Leben verwirklichen konnten, in einem menschlicheren und würdigeren, als es das seine war, verbracht in Kasernen und auf den städtischen Straßen. Damals pflegte für uns das Leben wie ein Waggon über festliegende Geleise dahinzurollen, und keinem von unseren kleinstädtischen sogenannten Intelligenzlern wäre es jemals eingefallen, nicht einmal im Traum, daß dies alles eines Tages auch zusammenrumpeln könnte und einstürzen in einer furchtbaren apokalyptischen Katastrophe. 71
Das alles beherrschende Symbol unseres Lebens zu jener Zeit war die Rote Laterne der Polizei. Dieses schaurige rote Licht leuchtete nicht allein über Wachstuben und Polizeikommissariaten, es erhellte nicht bloß das Gehirn des Polizeiwachtmeisters Kraintschetz und andere ähnliche Gehirne von »Banalräten« und höheren Rechnungsbeamten der königlichen Landesregierung gleich einem roten Leuchtturm, dessen Licht in den schwarzen Wellen der Adria gebadet hat und nun auf die Wälder und Moore im Norden tröpfelte, wo auch noch in unseren Tagen die Wölfe heulen, diese verfluchte Rote Lampe war nicht nur jene stinkende Petroleumfunzel, die noch qualmt, wenn schon längst der Tag angebrochen ist und aus den Kellern sich die letzten Hähne mit ihrem Krähen melden, nein, diese Lampe war das blutigrote Totenlicht über einem Grab, das Kerzenstümpfchen über gigantischen Paragraphen, die das gesamte Verwaltungssystem unseres Lebens verstopfen und es hermetisch wie unter einer steinernen Gruftplatte einschlossen. Ja, in der Tat! Damals war alles tot und öde und melancholisch wie in einer Gruft voll Verwesungsgestank, und auch die kraftvollsten von unseren Menschen wandelten umher als vermodernde Skelette, mit Wachskerzen in den Händen, und sangen Totenlieder, wie nur erstorbene Dinge unter der Erde besungen werden. Alle unsere romantisch blauen Perspektiven, die bläßliche Rückschau auf eine tausendjährige Vergangenheit, all das war ein trauriger Beweis dafür, wie vergiftet und erstickend unsere damalige Atmosphäre war, so daß man in ihr kaum atmen konnte. Die Menschen verschlossen 72
die Augen vor der Wirklichkeit und träumten von einem Königreich, wie es einst zu jener glorreichen Zeit gewesen, als seine Herrscher so souverän waren, daß sie mit Byzanz und Rom Briefe gewechselt hatten, und die nationalen Dynastien mächtig und unbesiegbar schienen. Dieser patriotische Royalismus flimmerte pathetisch und dreifarbig wie ein Irrlicht über dem Sumpf aller politischen Reden und Projekte jener Zeit. Vieles daran war krankhaft, vieles lag an der Unfähigkeit und dem Mangel an Lebenstüchtigkeit, doch ebensoviel auch an den Umständen. Das System der Banalverwaltung gliederte sich nach dem Ausgleich in drei Hauptkasten: Beamtenschaft, Militär und Geistlichkeit. So kamen die Kinder der Bauern und Hörigen aus der Universität des Banus fix und fertig wie Puppen in ihre Schachteln: Staatsbeamte, Soldaten, Priester, gedrechselt und lackiert, in Seidenpapier verpackt – alle untereinander gespenstisch ähnlich wie maschinell hergestellte ausgestanzte Spielzeugfiguren. Dann trat eine Generation von unreifen Halbwüchsigen auf den Plan, die unsere Probleme mit Bakunin und Darwin anpacken wollte, wovon eine Zeitlang auf Gymnasiastentreffen und literarischen Zusammenkünften viel deklamiert und geschrieben wurde, nämlich: das Leben sei nicht die Spielzeugschachtel des Banus, sondern ein Problem, und zwar ein noch ungelöstes. In dieser unserer von der Roten Lampe der Polizei beleuchteten Gruft, wo Alkoholiker herumtorkelten, lallend Trinkreden auf die toten nationalen Dynastien hielten, in diesem Kessel, wo Charaktere und Willenskräfte, Ideale 73
und Sehnsüchte zerkocht und in die schmutzige Pechbrühe der magyaronischen Wirklichkeit von »Ordnung, Arbeit und Gesetzlichkeit« umgeschmolzen wurden, mitten in diesem krankhaften Schlammgebräu tauchte eine Phalanx von größenwahnsinnigen Rotznasen auf, die auf Bakunin und Darwin schworen und darauf, daß der Mensch vom Affen abstammt! Was für ein Kroatien, zum Teufel! Der Mensch ist vom Affen zum Menschen geworden! Was für ein lausiges Kroatien? Ein Königreich! Eine Banschaft! Dynastien! Rotweiß-blaue Dynastien! Aus dem Affen wurde der Mensch ein Mensch! Schwarzgelbe Dynastien! Weg mit alledem! Lauter Unsinn! Leben muß man! Einfach leben! Stark! Persönlich! Tief! Individuell! Tierisch! Es erhob sich der Sturmwind eines dekadenten, so durchaus uns eigenen, bodenständigen jungromantischen Kroatentums, das auf das Leben zustürzte wie die Motte ins Licht, jung, toll, trunken, voll Freude und Begeisterung, um schon Sekunden später, verkrampft und verbrannt, zu Boden zu fallen, eine Flutwelle, getragen von unserem einheimischen Jakobinertum, das aus der Gegend um das Domkapitel und der Walachischen Gasse stammte, hochgeschleudert von unserer Jugend in vulkanische Höhen und Gluten, um dann im tiefen und hoffnungslosen Leid unserer schwarzen, doppelt schweren Dunkelheit zu zerrinnen. In dem Auftreten unserer Jugend in jenen fernen Tagen manifestierte sich unsere slawisch-rebellische Gemütsart, unser teils verrücktes, teils hochbegabtes wirres Naturell, das sich mit einem Lied auf den Lippen den Kopf ein74
rennt und aus einem tiefen Lebensdurst, der keinen Ausdruck findet, zu Fall kommt. Rudo, Florian Kraintschetz’ Sohn, wuchs also mit dieser Generation auf, die zum ersten Mal sich ins äußerste Extrem der Verneinung stürzte, aufräumen wollte mit diesem ganzen hundertjährigen, adeligen, oberstädtischen Spuk, die, grünschnäbelig und naiv, überzeugt davon war, unsere Absurdität zu leugnen, so vehement wie nur möglich, bedeute schon soviel wie leben. Leben – wie man eigentlich leben müßte! Und all die süßen und sehnsuchtsvollen Prämissen des alten Florian bezüglich der sicheren Karriere seines Sohnes waren auch tatsächlich richtig aufgestellt im Hinblick auf unsere ungesunde rotlaternbestrahlte Mitte, doch sie hatten nicht Rudolfs Innenleben und seine sogenannten Ideale, wie man sie damals nannte, einberechnet, kurz, nichts von allem, was Rudolf aufwühlte und vorwärtsstieß. Denn Rudolf (nach der Mutter auch Julius getauft), Florians Sohn, ein »Teufelskerl« und »offener Kopf«, zeigte weder die geringste Begabung noch Neigung, sich in die verwaltungsbejahende und karrieregläubige Ideologie seines Vaters hineinzuleben, ja, er machte sich sogar tagaus, tagein und bei jeder nur passenden Gelegenheit darüber lustig. Der alte Florian Kraintschetz glaubte an die sieben allerheiligsten Sakramente, die zehn Gebote Moses und an die Paragraphen von »Arbeit, Ordnung und Gesetz«: das waren die fundamentalen sakrosankten Grundlagen, auf denen er sein Leben aufgebaut hatte. Dies alles stand für ihn fest – so solid und unerschütterlich fest, wie das 75
im Rechenbuch geschriebene »Zwei-mal-zwei-ist-vier«, und notfalls trug er auch noch dazu bei – mit seinem Säbel, seinem Revolver, beiden Schultern und auch seinem Kopf, all das »Große, Reale und Positive« zu erhalten, nach dem Allerhöchsten Wahlspruch: Viribus unitis, und über allen schwebten zwei glorreiche ungarische Engel und schwenkten ein Spruchband in den Händen, auf dem in großen Lettern geschrieben stand: kroatischslavonisch-ungarische Karriere. Fleisch, Nerven und Gehirnmasse des alten Kraintschetz waren von diesem Klischee geprägt, als hätte ein königliches Amtssiegel darübergestempelt; alles hatte sich bei ihm in starren Gußmodeln verhärtet wie Beton – und wohl niemand wäre imstande gewesen, diesen Beton Kraintschetzscher Lebensansichten zu zertrümmern, um daraus eine Gußmasse zu machen und in neue Formen zu gießen. Die einzige Kategorie einer banusobrigkeitlichen Weltanschauung waren seiner Ansicht nach die Gehaltsstufen: zwischen einem königlichen Adjunkten Erster Klasse und einem Schreiber in der Statthalterei war der Abstand bedeutend größer als alle kosmischen Abstände und Unterschiede in den verschiedenen Entwicklungsstufen des interstellaren Raumes. Das Gehirn seines Sohnes glich aber eher einer mit Sprengstoff gefüllten Kapsel, einer Mischung, die aus unserer sogenannten »modernen revolutionären Retorte« kam und nach chemischen Formeln aller nur möglichen »Ismen« zusammengebraut war, welche zu jener Zeit über unserem Land wie brennende Drachen durch die Luft schwirrten. Was Wunder, wenn dann dieser »pan76
sexualistische, atheistische, pandestruktive, darwinistischanarchistische, marxistisch-national-revolutionäre Antiklerikalismus« mit dem »Königlich polizeilich realen und positiven« Klischee des alten Wachtmeisters in einen Kampf auf Leben und Tod geriet. Mit mathematischer Klarheit hätte man voraussehen können, daß diese beiden Lebensrichtungen in einem dramatisch zugespitzten Konflikt zusammenstoßen würden, zumal der Sohn die väterlichen Ideale als »scheußliches Bordell«, »eitrige verfaulte Kloake«, ein »für den Untergang reifes Babylon« bezeichnete, während der Vater ihn verfluchte und eine »Ausgeburt der Hölle«, einen »Lumpen«, »Dickschädel« und »Antichrist« nannte. Dieser Konflikt im Hause Kraintschetz hatte schon in der ersten Gymnasialklasse begonnen und hielt ohne Unterbrechung an, immer tiefer ins Dramatische verbohrt; nicht selten weckte er schlummernde Leidenschaften und Urtriebe, so daß Blut floß und Köpfe zerschlagen wurden, wonach dann einige Wochen lang ein dumpfes Schweigen eintrat, um jäh von neuem aufzuflammen und sich bis zur blinden Wut in einen schwarzen barbarischen Haß hineinzusteigern, der ebenso im Vater wie auch im Sohne weiterfraß, obwohl es ja kein Haß zwischen Vater und Sohn war, sondern einer zwischen zwei Welten. Im Park unter dem Balkon des Bischöflichen Palais hält der Polizeiwachtmeister Kraintschetz Wache; die Maiennacht ist lau, von den Rondells duften die Blumen, von den Balkonen herab leuchten die Kandelaber, und durch die herabgelassenen Jalousien des ersten Stockwerks dringen Stimmen, Gläserklingen und, wie eine tiefe 77
Menschenstimme, das schluchzende Fiedeln des Violoncellos aus dem Streichquartett. An diesem Abend findet dort oben ein politisch sehr wichtiges »Souper« statt, zu dem die ungarischen Herren Minister, Staatssekretäre und Banalräte eigens aus Budapest gekommen sind, und jetzt werden beim Bischof außerordentlich wichtige Dinge verhandelt, die Polizei hatte den strengen Auftrag erhalten, durch den ganzen Park einen Kordon zu ziehen, damit die blöde und blinde Opposition nicht am Ende etwa irgendeinen Skandal anzetteln könnte. Der Polizeiwachtmeister Kraintschetz verteilte seine Leute rings um das Palais, er selbst aber wanderte unter dem Balkon auf und ab, da schien ihm plötzlich, als bewege sich jemand im Schatten des voll aufgeblühten Flieders. »Halt! Wer da?« »Brüll nicht so, zum Teufel, am Ende wirst du mich noch verhaften!« »Du bist’s? Um Gottes willen, was tust du denn hier?« »Na, na, nur keine Angst! Ich hab ja keine Bombe mit! Ich wollt nur sehen, ob du auch deinen Dienst gut versiehst! Aber ihr habt ja nicht die geringste Begabung, ihr von der lieben Polizei! Alle hätte ich euch in die Luft sprengen können! Hehe! In die bischöfliche Kutsche hab ich mich versteckt! Drin schläft sich’s herrlich!« »Verschwind augenblicklich! Marsch!« »So schrei doch nicht, bist du verrückt geworden? Wenn du noch Gott weiß wen bewachen würdest! Aber lauter Diebe und Mörder sitzen dort oben, Lumpen und Schufte! Und der Banus ist der Obergauner! Und sein erster Adjutant, der Illustrissimus Perkowitsch, siebzehn 78
Leute hat er umgebracht bei den letzten Wahlen! Ihn bewachst du, diesen blutigen Schuft! Der Präsident der Banaltafel hat die Syphilis, sein Sohn hinkt, er geht mit mir in die Schule! Ich kenne sie, diese Bande, und du bewachst sie noch!« Überall, wo es auch sei, in den angespanntesten und gefährlichsten Situationen, taucht plötzlich der Sohn von irgendwoher vor dem Vater auf wie ein Schatten und spuckt auf seine heiligsten Güter, und der Alte ist ihm wehrlos ausgeliefert! Er kann weder schreien, noch ihn niedermachen oder verhaften, muß ihn so, wie jetzt eben, noch bis zum Kordon geleiten, damit ihn die Polizisten passieren lassen, und dann völlig erledigt und zutiefst gekränkt zu seinem Wachtposten zurückkehren, verschreckt und verprügelt, voll Angst, es könnte vielleicht jemand ihr Gespräch mit angehört haben. Welcher Teufel war in sein Kind gefahren? Was will denn dieser Lauser von ihm, daß er ihn so unmenschlich quält? Oder ein anderes Mal, gerade, wenn er dabei ist, auf der Straße einen zerlumpten Bettler anzuschreien, damit der schleunigst verschwinde und was dem denn einfiele, ausgerechnet hier vor dem vornehmen Palais die Hand auszustrecken – steht plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, wieder sein Sohn da, nimmt Partei für den Armen und beschimpft die Polizei. »Scheren Sie sich nicht um die Polizei! Nehmen Sie Ihre Krücken und hauen Sie diesem Polizisten auf den Schädel! Dann kommen Sie ins Loch, dort haben Sie’s besser als auf der Straße!« 79
So taucht Rudo immer wieder vor dem Vater auf – wie eine Erscheinung; und er macht diese Szenen nicht etwa mit einer besonderen Absicht, sondern ganz einfach nur so. Immer kommt es zu so einer Szene ganz von selber, völlig zufällig, fast elementar, unter dem Imperativ der Unvermeidlichkeit. Er geht durch die Straßen, und plötzlich stößt er auf den Vater, der wieder einmal in irgendeiner Dienstsache »amtshandelt«, und dieses Amtshandeln kommt Rudo, von seiner »übermenschlichen und hyperindividualistischen« Warte aus betrachtet, so unsagbar schäbig vor, daß er nicht an sich halten kann, und dann gibt eben immer wieder ein Wort das andere, und Vater und Sohn geraten in aller Öffentlichkeit einander in die Haare, mitten auf der Straße, wie zwei Kampfhähne. Das letzte Mal gab ein kleiner unglückseliger Hund Anlaß dazu – Sonntag war es, an einem nebeligen bewölkten Vormittag vor Allerheiligen. Immer wieder wird bei uns von Zeit zu Zeit eine große Treibjagd auf streunende Hunde veranstaltet, denn wiewohl das ganze Land ein gigantischer Hundezwinger ist und unsere Provinznächte erfüllt sind von Hundegekläff (es gibt kaum ein Haus ohne Kettenhund), darf dennoch kein Hund ohne königlich-banschaftliche Marke die Schwelle unserer Haupt- und Residenzstadt übertreten, ohne sofort den Zugriff der geltenden Gesetze zu verspüren. Ständig werden behördliche Aufrufe gegen die Tollwut erlassen, und wirklich erhebt sich zeitweilig die ganze Stadt in einer Art tollen Psychose, um Jagd auf Hunde ohne Marke zu machen. In solchen kritischen Zeiten liegen überall blutige Hundekadaver auf den Stra80
ßen unserer Metropole: die Stadt wird von der Tollwut gesäubert. In solchen Zeiten gefährlicher Psychose schlenderte Rudolf an einem nebeligen Sonntagvormittag durch eine fade, kotige, graue Straße der Unterstadt, die den Namen eines berühmten Minnesängers aus Ragusa trägt. Im Gymnasium mußten sie Aufsätze über diesen Ragusaner Dichter schreiben, und Rudolf mußte zwangsläufig an ihn denken und wie merkwürdig es sei, daß man gerade dieser endlos langen und kotigen Straße seinen Namen gegeben hatte. Was wohl der vornehme Herr im roten Mantel mit der gepuderten Perücke gesagt hätte, wenn er durch diese seine Straße gewandelt wäre und die dicken vollbusigen Zagorjaner Weiber in den Fenstern gesehn hätte, die staubige Wischtücher über den Köpfen der Passanten ausbeutelten, während irgend jemand verzweifelt auf dem Klavier Tonleitern klimperte: ce, de, e, ef, ge. »Wie merkwürdig das alles ist! Aber das allermerkwürdigste daran ist, daß von Amts wegen und in allen Lesebüchern behauptet wird, dieser Mann aus Ragusa wäre ein hervorragender, ein großer Dichter gewesen, weshalb man auch diese Straße nach ihm benannt hatte, wohingegen kein Schüler an diese Größe glaubt und von all den Gesängen kaum eine Strophe verstehn kann.« Doch unversehens wurde Rudolf durch einen Lärm aus diesen literarischen Betrachtungen gerissen. Um die Ecke rannte eine Meute von Schusterbuben, Halbwüchsigen, Straßenjungen, alten Weibern, Schülern mit Reißbrettern hinter einem kleinen, weißschwarz gefleckten Hündchen her, das ängstlich bellend um sein Leben lief. 81
Rudolfs Sympathie gehörte seit eh und je diesen unglücklichen verfolgten Hunden – gutmütig, wuschelhaarig, scheckig oder zottig –, die es aus den fernen Ebenen der Provinz in diese unsere »Großstadt« verschlagen hatte, um schließlich verloren und elend unter den Schlägen einer den königlich straßenpolizeilichen Verordnungen und wasenmeisterlichen Gesetzen des gräflich Khuenschen Regimes hörigen Menge zu verenden. Kurz, im Verlauf der Ereignisse rannte die verfolgende Menschenmeute durch die Straße des Ragusaner Dichters, an deren Ende sich der Oberpolizist Kraintschetz eingefunden hatte, mit blankgezücktem Säbel dem Hund eins über den Kopf hieb und ihn so mitten auf der Straße erledigte. An diesem Ereignis war an und für sich nichts außergewöhnlich, doch als Rudolf, erstarrt in panischer Angst, ob es dem unglücklichen Hund gelingen würde, sich zu retten, dann am Ende der Straße die dunkle mystische Gestalt des Polizeiwachtmeisters auftauchen sah, der den Säbel zog und – oh! mit einem einzigen Hieb den Hund zu Boden streckte, da lag in dieser blutrünstigen straßenpolizeilichen Geste solches Übermaß an Schauerlichem, Schicksalhaftem, scharfrichterlich Entsetzlichem, daß Rudolf sich an den Kopf faßte und verzweifelt mit aller Kraft aufschrie: »Was hat er ihm denn getan, was hat er dir denn getan?!« Als jedoch Rudolf zur Stelle der Untat eilte, war schon alles zu Ende. Noch ein-, zweimal zuckte das schwarzweiße Hündchen mit den Beinen, dann lag es still, und 82
die laue Wasserpfütze unter ihm, in der eine kreisrunde Blechdose der »Admiral-Schuhcreme« schwamm, färbte sich blutig. Um den Hundekadaver sammelte sich eine Menschenmenge. Jemand stellte eine ganze Nummer der Kroatischen Fahne zur Verfügung, und so wurde das unglückliche Opfer mit der Kroatischen Fahne bedeckt. Lehrlinge beschwerten die vier Ecken mit Steinen, damit der Wind die Kroatische Fahne nicht davontragen könne und alles zugedeckt bliebe bis zum Eintreffen des Wasenmeisters. Wachtmeister Kraintschetz wischte siegesbewußt seinen blutigen Säbel mit einem schmutzigen »oppositionellen« Zeitungsblatt ab, die Weiber schnatterten wichtigtuerisch und steigerten sich in Übertreibungen hinein: der Hund sei von der Tollwut befallen gewesen, und wie er gebellt hätte, und was der Herr Wachtmeister für ein mutiger und tapferer Mann wäre, und wie er unsere Stadt vor einem so großen Unheil zu bewahren vermochte. Unterdessen leierte irgend jemand in der ersten Etage mit verzweifelter Einförmigkeit Tonleitern herunter. »Das ist also das Henkerswerk meines Vaters.« Rudolf starrte blöde auf die beschmutzte, mit vier Steinen beSchwerte Kroatische Fahne, über die sich bereits große Wasser- und Blutflecken ausbreiteten. »Das also ist meines Vaters Lebenszweck! Hunde erschlagen! Bettler jagen! Lumpen und Gauner bewachen! Das ist er also, mein Vater! Wie er’s ihm nur über den Kopf gegeben hat! Das arme Tier! Geradezu mörderisch hat er es erwischt!« »Du bist kein Mensch, ein Mörder bist du!« schrie spä83
ter am Nachmittag des gleichen Tages der Sohn auf den Vater ein, als sie zum erstenmal nach dem blutigen Ereignis einander begegneten. »Deine Hände sind blutig!« »Du glaubst wohl, du kannst meinen ehrlichen Graukopf anspucken? Schäm dich! Kein Vogel beschmutzt das eigene Nest, du aber beschimpfst deinen Vater! Stolz könntest du sein auf deine Abkunft, verstehst du?« »Du bist kein Mensch! Ein Schinder bist du!« Und so ernannte der Sohn denn seinen Vater zum Schinder, und diese Bezeichnung verblieb dem Alten für alle Zeit und wurde bei allen zukünftigen Auseinandersetzungen angewendet. Wann immer sich Vater und Sohn gegenüberstanden in Kampf und Streit, um wieder einmal Rechenschaft zu fordern, pflegte Rudolf seinen Vater anzuschreien, er sei ein Mörder und seine Hände seien blutig. Nachts, wenn der Alte von seinem Inspektionsrundgang heimkam und den Sohn antraf, wie er beim Licht der Petroleumlampe in seinen Büchern blätterte, da verlangte es den Alten in seiner gehobenen weinseligen Stimmung nach einem warmen und intimen Gespräch mit seinem Sohn: vom Glück zu reden, von der Karriere, vom Staatsdienst, von der Zukunft. Aber rein, als wäre der Leibhaftige in den Jungen gefahren – es war vollkommen unmöglich, an ihn heranzukommen. »Karriere! Staatsdienst? Pension? Das würde dir so passen, was? Davon kann keine Rede sein, keine Rede, mein Lieber! Das ist ja alles ohnehin schon nicht mehr wahr! Eines Tages wird das alles überhaupt zusammenkrachen! Kaputtgehen!« 84
»Wer wird es denn kaputtmachen, sag mir, wer?« fragt der alte Kraintschetz seinen Sohn verzweifelt, mit einer Stimme, die um zwei Oktaven tiefer liegt als sonst, und blickt sich dabei vorsichtig nach den Fenstern um, ob nicht ein Unberufener diese gottlose Frage gehört haben könnte. »Was für eine dumme Frage«, lacht Rudolf, und da er Oberschüler mit fünf »ausgezeichnet« ist, imponiert er eben wegen dieser fünf »ausgezeichnet« seinem Vater, der ihm grundsätzlich doch nicht ganz unrecht geben kann. (»Vielleicht ist doch etwas daran, wenn dieser Hitzkopf so fest dran glaubt.«) … »Wer es kaputtmachen wird? Von selber wird es zusammenkrachen! Das alles ist ja schon so morsch, daß es von selber, beim ersten stärkeren Anstoß, zusammenbricht!« »Und wer wird denn den ersten Anstoß geben, mein Sohn, das möcht’ ich von dir wissen! Wer? Du schläfst ja! So wach auf, um Himmels willen! Du schläfst!« »Wer den Anstoß geben wird? Ich werde losschlagen! Hörst du? Wenn es kein anderer tut, so werde ich allein zuhauen. Aber ich bin nicht allein! Wir sind viele! Alle werden wir losschlagen! Die neue Zeit wird zuschlagen! Ahnst du denn überhaupt, in welcher Zeit wir leben? Ahnst du denn, wo es hinsteuert, dieses unser morsches Schiff?« »Aber Unsinn! Lächerlich! Mit zwei Infanteriekompanien jagt man euch auseinander, euch Narren alle! Was sag ich: zwei Kompanien? Die Stadtwache allein würde genügen, um euch auseinanderzujagen, daß euch keine 85
Katz mehr findet! Verstehst du? Die städtische Wache! Keine neun Katzen werden euch finden! So gründlich wird man euch zu Paaren treiben, Hitzköpfe, ihr alle miteinander! Keine neun Katzen! Hast du verstanden?« »Wer redet denn von Infanterie? Von was für einer blöden Infanterie? Sind wir denn Soldaten? Wer glaubt übrigens schon in Europa noch an die Macht des Militärs? Nur Neger im Urwald trommeln heute noch öffentlich. Wir werden doch nicht so wahnsinnig sein und direkt in deine Pandurensäbel und Bajonette hineinlaufen! Als wenn es nicht andere Kampfmittel gäbe! Bist du schon einmal in einer Druckerei gewesen? Ja? Hast du dort die Maschinen gesehen und die vielen Lettern? Alle Patronen in euren Pandurenflinten vermögen nicht das, was eine einzige von unseren Setzmaschinen vermag!« (Der alte Kraintschetz war schon oft in Druckereien gewesen, um Zeitungen zu konfiszieren, und er verachtete zutiefst alles, was mit einer Druckerei, mit der Zeitung, mit Politik, vor allem aber mit der Opposition zusammenhing. Ein Journalist – das war für das Gehirn des Wachtmeisters Kraintschetz ein Mensch, der auf der Rangleiter weit, weit unter einem Kanalräumer und Abortputzer steht. Erst kommt der Kanal- und Abortreiniger, dann die Kellnerin, dann lange niemand, und erst ganz zum Schluß kommt der Journalist.) »Na, mit diesen deinen Zeitungen und Zeitungsschreibern werdet ihr allerhöchstens der Königlichen BanusMacht den Hintern kitzeln, das vielleicht, das glaub ich gern!« »Eine Zeitung ist viel mehr wert als alle deine Kanonen 86
und Bajonette! So ein Militär gibt’s gar nicht, das nicht von einer einzigen Druckerei besiegt werden könnte! Die Druckereien siegen, auf allen Linien. Druckereien haben schon größere Mächte bezwungen als die Tyrannenherrschaft deines ungarischen Grafen!« »Geh zum Teufel mit deinen verdammten Druckereien! Alle würde ich verbieten, mit einem einzigen Federstrich! Wozu das alles gut sein soll? Stiftet nichts als Verwirrung in der Welt!« »Alter, es ist spät geworden. Laß mich in Ruhe lesen! Wir beide verstehen uns nicht! Was für dich weiß ist, ist für mich schwarz! Ist doch ganz klar! Du legst deine alte Walze auf, ich die meine!« »Natürlich, weil du lauter Unsinn redest!« »Wieso red ich Unsinn ? Das ist gar kein Unsinn! Und eins merk dir: ich geh in keinen ungarischen Staatsdienst! Amen! Das ist beschlossene Sache! Gute Nacht!« (Rudolf ist zwar vorläufig noch in der siebenten Gymnasialklasse, Mitternacht ist schon vorüber, der Alte, betrunken und müde, fühlt, daß dieses Gespräch über Rudolfs Berufswahl und die Frage seiner Karriere und ob er in den Staatsdienst eintreten wird oder nicht, augenblicklich alles eher als aktuell ist. Und trotzdem bringt der Alte nicht genug seelische Courage auf, diesen diplomatischen Gesprächsfaden abreißen zu lassen, sondern irgendein Teufel reitet ihn, doch noch ein letztes Wort zu sagen, und diesem grünen Jungen definitiv klarzumachen, für alle Zeiten, worum es eigentlich geht, wenn von seiner Karriere die Rede ist.) »Du willst also nicht in den Staatsdienst, sagst du?« 87
»Hab ich dir denn nicht schon hundertmal gesagt: ich will nicht! Laß mich in Frieden!« »Nein?« »Nein!« »Auf keinen Fall also?« Schweigen. »Siehst du nicht, wie undankbar du bist, Junge? Bist du denn nicht mein Kind, mein einziges ? Und so sprichst du mit deinem Vater?« ‚ »Ich bin nicht dein Kind, dein einziges! Wir sind zweierlei! Du bist das Eine und ich bin das Andere.! Wir sind zwei völlig verschiedene Menschen! Wir bekämpfen einander, wir heben einander auf! So ist das eben im Leben! ›Der Lebenskampf!‹ Englisch heißt das ›struggle for existence‹!« »Was willst du damit sagen? Wie sollten wir einander bekämpfen? Auf englisch? Was soll das für ein Kampf sein? Was ist denn in dich gefahren?« »Nun, wie wir einander bekämpfen? Schön, so: Du bist ein Pandur, der auf den Straßen Hunde totschlägt und die magyaronischen Lumpen und Schufte bewacht, ich aber stehe auf dem Standpunkt, daß man den ganzen Markusplatz mit Dynamit in die Luft sprengen müßte!« »Du, hüte dich, paß auf, was du sprichst!« »Warum soll ich mich hüten? Gar nicht hab ich mich zu hüten! So eben liegen die Dinge! Du bewachst ein Regime der Tyrannei, von Skandalen, Panama-Affären, Betrügereien, und ich spuck auf dieses dein magyarenhöriges gräfliches Regime! Den Revolver werde ich nehmen und schießen, du aber wirst dann mit dem Säbel 88
auf mich losgehen! Was bedeutet für dich schon die grundsätzliche Frage, ob dein Sohn hin wird oder nicht? Und das soll kein Kampf sein? Wir bekämpfen einander! Du willst und willst es nicht begreifen, daß wir Feinde sind!« »Gott sei mit dir, du dummer Bub!« »Was für ein Gott? Es gibt keinen Gott! Übrigens sollte man diesen Banus erschießen, dann gäb’s auch keinen Banus mehr!« »Waaas?« »Jawohl! Erschießen müßt man ihn, den Banus! Das war das einzig Vernünftige! Und den ganzen Markusplatz in die Luft sprengen!« »Kein Wort weiter!« (Der Sohn weiß sehr gut, daß jetzt jedes weitere Wort nur Öl ins Feuer gießt und ein rotes Tuch für seinen Vater ist! Und doch steigert er .sich in eine krankhafte Wut hinein, in einen Paroxysmus.) »Warum soll ich still sein? Ich will nicht schweigen! Dir ist deine katholische Kirche heilig! Für mich ist sie ein ganz gewöhnliches Handelsgeschäft, wie es der Jud an der Ecke beim ›Schwarzen Kater‹ betreibt! Nur daß unser Volk blöd ist und immer noch bei der Firma einkaufen geht. Aber auch sie wird bankrottmachen! Bald!« »Aha, sor glaubst du das? Dein Hitzkopf wird bankrottmachen, nicht die Kirche!« »Aber! Lächerlich! Siehst du, schon wieder ein Beweis dafür, daß wir uns beide nie verstehen werden! Begreifst du nicht, daß sie, deine Kirche, schon bankrott ist? Sie existiert nicht mehr! Es scheint dir nur so, als existiere sie noch! Aber in Wirklichkeit gibt es sie nicht mehr!« 89
»O Kind, Kind, wie blind du doch bist und wie blöd! Siehst du’s ein? Wenn dir einmal das Licht aufgehen wird, dann ist’s zu spät! Du bist ja nicht mehr normal! In deinem armen Kopf geht alles drunter und drüber!« »Mir ist das Licht schon aufgegangen! Wenn dir das gelänge, wär’s besser! Ich bin ganz normal, aber ihr gehört alle ins Irrenhaus! Jetzt weißt du’s! Das alles um uns herum ist ein Irrenhaus. Auch deine Kasernen, wo du fünfzehn Jahre deines Lebens – deine ganze Jugend – dich durchgehungert und durchgeschnarcht hast, auch deine Polizeiwache und deine ›Rote Laterne‹ und dein ›Markusplatz‹ – alles ein und dasselbe Irrenhaus! Verstunken, ekelerregend und fluchwürdig!« »Wovon soll ich denn leben, mein Sohn, wovon?« »Um Gottes und aller Heiligen willen, hört doch schon endlich einmal auf«, seufzt Mutter Jula, die sich von einer Hüfte auf die andere hinüberwälzt, so daß das Bett kracht – morsch und halb aus den Fugen geraten. Endlich war es ihr mühsam gelungen, sich zu einem Knäuel zusammenzurollen und eine geeignete Lage zu finden, um für einen kurzen Augenblick einzuschlummern, als diese beiden Verbrecher, diese verdammten Schinder und Barbaren sie aufweckten! Jetzt muß sie wieder schlaflos daliegen bis zum Morgengrauen, erschöpft, zerschlagen, mit brennenden Augenlidern, krank. »So ist das also! Nicht einmal in der eigenen Wohnung darf einer den Mund aufmachen, nicht reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist! Immer nur flüstern und auf den Zehenspitzen herumschleichen! Der Teufel soll alles holen!« 90
Der alte Kraintschetz erhob sich und torkelte auf sein Bett zu. Dort bückte er sich und mühte sich vergeblich ab, seine Schuhbänder aufzuknoten, und unterdessen ging es ihm immerfort im Schädel herum – denn was wahr ist, ist wahr – daß sein Sohn fünf »ausgezeichnet« hat und ein heller Kopf ist. »Ja, ja, ein helles Köpfchen ist er, nichts zu sagen! Aber was hat er schon davon?« Aus einer dunklen Tiefe, vom Grunde seiner Seele empor steigt der Dunst einer bösen Vorahnung in Florians Bewußtsein, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist mit seinem Sohn und daß er kein gutes Ende nehmen werde. Der Sohn aber sitzt über seinen Büchern, den Kopf auf beide Ellenbogen aufgestützt, hat Kopfschmerzen, ist schläfrig, die Augen brennen ihm, und die Zeilen verschwimmen vor seinem Blick, er aber gibt nicht nach, sondern verharrt auf seinem Stuhl, kämpft mit dem Schlaf und verschlingt Sätze, Seiten, ganze Bücher und ganze Jahrhunderte. Die Vision vom Kommen und Gehen ganzer Kulturen und Zivilisationen, vergehend und verlöschend wie das Laub und das Licht, schlingt er in sich hinein. Kuppeln wachsen in die Höhe, Tempel und Städte, Heere ziehen dahin, Brände wüten, Köpfe rollen – das Leben, das ungeheure, furchtbare Leben wogt auf und ab, alles bewegt sich, schwillt an und sinkt in sich zusammen … und so verschlingt irgendwo in kosmischen Nebeln der Urstoff sich selber in den Widersprüchen des Darwinismus, und dies alles bezeichnet man mit dem magischen Wort »struggle for existence«. 91
Die unheilvollen Ahnungen des alten Kraintschetz, die drohend wie dunkle Wolken über ihm standen, daß dies alles mit seinem einzigen Sohn kein gutes Ende nehmen werde, bestätigten sich. In der Tat: Es nahm kein gutes Ende. Wieder war der Tag eines kaiserlichen Jubiläums angebrochen. Die kaiserliche Armee feierte einen glorreichen historischen Sieg, über den die Volksschulkinder drei schlechte Strophen aus ihren Lesebüchern auswendig wußten. Die Regimenter waren in voller Paradeadjustierung ausgerückt – mit Tschakos, Lorbeerlaub und Fahnen. Eine Pontifikalmesse wurde zelebriert, und der Bischof unter seiner seidenen Mitra stimmte mit nervösem Vibrato das Te Deum an. An solchen Tagen sitzt im linken Schiff der Kathedrale die Beamtenschaft vom Markusplatz korporativ, nach Sektionen geteilt, ordnungsgemäß wie die Rekruten, angeführt von den jeweiligen Sektionschefs, angetan mit weißen Glace-Handschuhen, Zylinderhüten und Perlmutterknöpfen, entsprechend der vierundzwanzig Stunden vorher im Amtsblatt und der Nationalzeitung verlautbarten Vorschrift. Rechts von der Beamtenschaft sitzt die Generalität: die alten Herren Generäle mit grünen Federhüten und den roten Streifen an der Hose und daneben ihre Adjutanten mit goldenen Sporen. Bis auf die Beamten und Generäle ist jedoch niemand in der Kirche, denn grundsätzlich wird der »Plebs« an so feierlichen und triumphalen Tagen von Siegesfeiern nicht zugelassen. Der »Plebs« steht draußen und späht hinter dem Polizei- und Militärkordon auf die »Sereschanen« – die Leibgarde des Banus – in reichverschnürten 92
pelzverbrämten Röcken, auf die nickelglänzenden Kartuschen und Säbeltaschen der Kavallerieordonnanzen, die Karossen des Banus-Statthalters mit dem Wappen am Schlag und auf das kleine scheckige Pferdchen, das die Trommel der Militärmusik zieht, deren Trompeten in der Sonne blitzen. Von ihnen prallt ein Sonnenstrahl ab und fällt als gelb glänzendes Band in breitem Reflex über die Straße und auf die im Schatten liegende Wand einer »Kurie«, auf das Wohnhaus eines Kanonikus des Domkapitels, wo er dann hin- und herkriecht, sobald einer der Trompeter der Ehrenkompanie sich bewegt. Als der Banus, gefolgt von seiner »Sereschanen« genannten Leibgarde, mit der Würde des Stellvertreters Seiner Majestät des Kaisers und Königs als Höchst-Oberhaupt Regni Croatiae et Slavoniae die Kirche verließ, genau in diesem Augenblick, als er sich anschickte, die Karosse zu besteigen, sprang hinter einem Haufen von Steinen, die dort für die Erneuerung des alten Kirchenportals aufgeschichtet waren, ein junger zerzauster Bursche hervor und gab aus einem Revolver hintereinander drei Schüsse auf den Banus ab: bum, bum, bum … Da das schwere Tor des Domkapitels und die Festungsmauern des Wehrturms die Detonationen verschluckten, war die Akustik so schlecht, daß es schien, als wären drei Bretter zu Boden gefallen, nicht aber drei Revolverschüsse danebengegangen – und so ging der ganze Effekt verloren. Die Leibgarde, die Polizisten, Generäle, Adjutanten, sie alle zogen sofort die Säbel und stürzten sich auf den Attentäter, während der heil und unversehrt gebliebene Banus bloß zynisch auflachte, seinen Diener auf unga93
risch anbrüllte und in seiner Equipage im Galopp, ganz ohne das übliche Zeremoniell, davonjagte. Ein völliges Fiasko! Bei der Polizei wurde festgestellt, daß der Attentäter ein Schüler der siebenten Gymnasialklasse war, der wegen »herausfordernden Betragens« und »wiederholter Übertretungen der Disziplinarordnung« acht Tage zuvor aus dem Gymnasium hinausgeworfen wurde, weiters, daß er die Schüsse aus einer Dienstpistole abgegeben hatte, von der Art, wie sie die königliche städtische Polizeiwache trägt. Noch am gleichen Abend wurde auf Grund »sorgfältiger Untersuchungen« festgestellt, daß der Attentäter die Pistole von Rudolf Kraintschetz, seinem Schulkameraden aus der siebenten Gymnasialklasse, erhalten habe. Die Ereignisse entwickelten sich in der Folge mit dramatischer Rasanz und Logik. Auf Grund eines bestimmten Paragraphen wurde der Sohn des Wachtmeisters Kraintschetz als Mitschuldiger am Attentat vom Landesgerichtshof verurteilt, und infolge dieses rechtskräftigen, von der Septemvirtafel abschreckenden Beispiels halber hervorgehobenen und bestätigten Urteils für dreieinhalb Jahre in das Zuchthaus von Lepoglava geschickt. Dies alles traf den alten Kraintschetz wie ein Blitzschlag: diese Hauptverhandlung, der unmittelbar vorher erfolgte Tod seiner Gattin Jula, und daß er dort vor dem Tribunal des Landesgerichtshofes in seiner Eigenschaft als Vater stehen und Zeugenschaft ablegen mußte – all das hatte den alten Mann sozusagen »binnen vierundzwanzig Stunden« gebrochen. Und bevor er noch richtig Zeit gefunden hatte, sich einigermaßen zu sammeln, 94
war alles bereits wieder zerstoben wie eine dunkle Wolke, und das Leben floß weiter dahin – trübe, einförmig, schwer und bodenlos tief. »Die Frau tot, der Sohn im Zuchthaus! Tot die Frau! Im Zuchthaus der Sohn!« Zwei im Grunde unfaßbare und unglaubliche Tatsachen, und der alte Kraintschetz, dem es auferlegt worden war, sie als unabänderlich und unwiderruflich zu erkennen, ergab sich besinnungslos dem Suff. Wenn er so auf einen Zug dreimal drei Zentiliter Sliwowitz hinuntergegossen hatte, pflegte er später nachts wie ein waidwundes Tier nach Hause zurückzukehren, angekleidet aufs Bett zu fallen, in lautes Schnarchen auszubrechen und so bis zum Morgengrauen durchzuschnarchen. Wenn er dann zwischendurch erwachte und feststellte, daß die Frau tot war und sein einziger Sohn in Lepoglava, stürzte er eine Flasche Wasser hinunter und schlief weiter bis zum Morgen. Das Leben, jenes zähe Stoffgebilde, das wie der unförmige Klumpen einer klebrigen fettigen Materie im leeren Raum trudelt, dieses geheimnisvolle Element wälzte sich weiter auf seiner Bahn, nahm den alten Polizeiwachtmeister in seinen Strudel, zermalmte und verschluckte seinen Waffenrock, sein Fleisch und seine Gedanken, so daß er wie ein kleingekauter und hinuntergewürgter Speisehappen weiterbefördert wurde in den Eingeweiden dieses gigantischen und unbekannten monströsen Gespenstes, das Menschenschicksale verschlang und sich vom menschlichen Glück nährte. Wachtmeister Kraintschetz hörte auf, regelmäßig sei95
ne Mahlzeiten einzunehmen, und zog von einer Kneipe zur andern, und dort, wo er sich volltrank, dort blieb er auch, um appetitlos und widerwillig sein Gulasch hinunterzuschlingen, gerade nur so viel, um nicht vor Hunger zu krepieren und etwas Warmes in den Bauch zu kriegen, als Unterlage für ein, zwei Deziliter draufgegossenen Schnaps. Der alte Mann fühlte tief innen, daß er jetzt keinen Sohn mehr hatte und daß er diesen seinen Sohn ein für allemal aus seinem Herzen reißen mußte: »Ein für allemal und bis in alle Zeiten!« Und dennoch, dort unter der linken Brustwarze, wo sich angeblich die Stelle befand, wo sein Sohn mit seinem Fleisch und seinem Herzen verwachsen war, dort klaffte jetzt eine tiefe blutende Grube, die sich nicht mit Schnaps ausfüllen ließ. »Ich habe keinen Sohn mehr! Er sitzt in Lepoglava, im Zuchthaus! Der Leibhaftige ist es, nicht mein Sohn! Der Teufel selber! Was habe ich denn verschuldet, daß es dem Allmächtigen gefallen hat, mich so schwer zu strafen?« An jenem Nachmittag, vor dem Tribunal des Gerichtshofes, hatte der Alte zutiefst empfunden, daß dort, wenige Schritte vor ihm, auf der Anklagebank ein Wesen saß, das zwar die Maske seines Sohnes trug, aber dennoch nicht sein Sohn war, sondern ein tollgewordener furchtbarer Dämon, aufgetaucht, um ihn zu vernichten, ihm die Leber und sein wachtmeisterliches Polizistenherz aufzufressen. Und selbst dort, vor dem Tribunal, auf der Anklagebank, Aug in Auge mit dem Hohen Gerichtshof und dem großen berühmten Bildnis Seiner Majestät im Goldrahmen, vor dem Landesgericht senkte dieser Dä96
mon nicht den Kopf, auch dort noch trumpfte er auf, war frech zu den Richtern und vor dem Gesetz! Vor Nervosität die flache französische Infanteristenmütze zwischen den Händen zerknüllend, blickte der alte Florian unverwandt auf das von eingewebten roten Fäden durchzogene silberne Stadtwappen und mußte mithören, wie unverschämt und herausfordernd dieser Ausbund mit den Richtern herumstritt, und nur mit Mühe konnte er sich davor zurückhalten, aufzuspringen und im Angesicht aller, dort mitten im Saal, diese seine leibliche schwerste Schmach zu erwürgen. »Hoher Gerichtshof! Nicht auf die geheiligte Person Seiner Exzellenz des Herrn Banus hat dieser Unglücksmensch geschossen! Auf mich, auf mich, hoher Gerichtshof! Mich haben seine Schüsse getroffen, mich und meine Ehre!« Laut schluchzte der unglückliche Vater vor dem Tribunal und dem gesamten Publikum. Die Szene war unbeschreiblich erschütternd, und die Damen der hohen Beamtenschaft in Pelz und Seide auf der Galerie tupften mit ihren weißen Tüchlein die feucht gewordenen Augen ab und den Puder, der in der großen Hitze von den weißmattierten Damenwangen stäubte. »Hoher Gerichtshof! Hier, vor der ganzen ehrlichen Öffentlichkeit und vor Ihrem erlauchten Antlitz verfluch ich ihn! Ich sag mich los von ihm! Möge er verflucht sein in alle Ewigkeit, Amen!« »Aber, aber, lieber Herr Wachtmeister! Beruhigen Sie sich doch! Das Gericht versteht Ihren Kummer und Ihr Unglück und achtet Sie. Und Sie, sehen Sie jetzt, Sie junger Unglücksmensch, Sie, was Sie angerichtet, Ihrem leib97
lichen Vater angetan haben? Ihrer armen kranken Mutter haben Sie den Todesstoß versetzt, Ihre eigene Zukunft haben Sie vernichtet, Ihren greisen Vater ins Herz getroffen! Sehen Sie das ein?« »Ich teile keineswegs die philiströsen Ansichten des Herrn Richters! Ich bedauere nichts, ich habe nichts zu bereuen! Ich bin stolz darauf, auf dieser Bank zu sitzen! Die Zuchthäuslernummer, die sie mir in Lepoglava auf den Sträflingsrock aufnähen werden, will ich wie einen Orden tragen!« Der alte Kraintschetz sitzt im Wirtshaus »Zur Marille« bei einem Glas Wein, und ein ganzes Jahr ist seither vielleicht schon vergangen, doch immer noch klingen ihm die Worte seines Sohnes im Ohr wie die Stimme Satans, und immer noch glaubt er das Tribunal und den überheizten Gerichtssaal vor sich zu sehen, wo alle Leute zu gähnen anfingen wie nach Luft schnappende Fische in fauligem, verschlammtem Wasser, und immer noch hört er die gottlosen heidnischen Reden seines Sohnes, Wort für Wort – so, als sei es gestern gewesen und nicht vor einem ganzen langen Jahr. Sein Kind! Sein leibliches Kind war es, das jetzt im Zuchthaus saß. Was kann man da noch tun? Mit dem Kopf gegen die Wand rennen, damit er in Trümmer geht! Das ist alles, was einem bleibt! Und was hätte er davon? Das einzig Kluge war, nicht daran zu denken! Immer, wenn am Morgen derartige Hirngespinste, ganz von alleine, in seinem Kopf auftauchten, pflegte der alte Kraintschetz ihnen energisch den Faden abzuschneiden, nur um nicht weiterdenken zu müssen, und schüttete neu98
erlich zwei Deziliter Schnaps in die bodenlosen Schlünde des Schreckens hinein, mit rauher Kehle aufstoßend, wie beim Sodbrennen: hol’ alles der Teufel! Und wie sehr er auch wünschte, nicht mehr nachdenken zu müssen und alles in die schwarzen Tücher des Vergessens einzuhüllen, so wühlte er dennoch unaufhörlich und besessen immer in den jüngsten Ereignissen herum, eine Einzelheit nach der anderen ans Licht holend, bis zu den unglaublichsten winzigsten Kleinigkeiten, die er beobachtet hatte – und alles lebt und bebt in ihm mit krankhafter Schärfe und aufgedunsener Plastizität. So erinnert er sich zum Beispiel daran, wie drei Tage »vorher« das Bild der Madonna von Loreto, die zwei Engel über das Adriatische Meer und die Landkarte von Italien und Frankreich tragen, von der Wand fiel. Es fiel zu Boden, dieses Unglücksbild, und zerbrach, er aber hatte seine Alte noch ausgeschimpft, weil sie »flennte« – verdammt noch einmal – wo doch alles bloß ein Altweibergewäsch ist. Ja, das Bild fiel zu Boden, und dann kam alles Unglück hinterdrein. Kein Altweibergewäsch war es gewesen, sondern die reine Wahrheit! In jener Nacht, als sie Rudolf holten (noch vor Mitternacht), war Kraintschetz wie gewöhnlich leicht benebelt vom Wein heimgekommen und hatte den Jungen bei der Petroleumlampe gefunden. Etwas blaß war er ihm erschienen, dieser sein Bub, wie einer, der sterbenskrank ist. Dann aber hörten sie vor dem Haus Pferdegetrappel und eine Droschke, die im Straßenschlamm stehenblieb, und der Strahl einer Wagenlaterne kroch auch noch über den Schlamm. Es war schon etwas merkwürdig, daß jetzt, 99
mitten in der Nacht, eine Pferdedroschke vor ihrem Hause hielt, und der Alte fuhr auf und blickte seinen Sohn an: sah in seine schwarzen, auf Nußgröße geweiteten entzündeten Augen – und mit einem Schlag wußte er alles. Natürlich. Was denn sonst! Das Attentat! Klar! Er hatte seine Finger dabei! Das war ja die .Polizei! Die Polizei, in seinem Haus, und noch dazu mitten in der Nacht! »Im Namen des Gesetzes! Aufmachen!« ‚ Polizei in seinem eigenen privaten, geheiligten Heim! Im Namen des Gesetzes! Die Droschke – wie lange wohl hatte er noch der Droschke nachgehorcht, die ihm seinen Einzigen entführte! Wohin? Wohin um Gottes willen? Wohin? Nach Lepoglava! Ins Zuchthaus! Zum Teufel allesamt! Wieder nahm der Alte einen Schluck, dann zündete er seine Virginia an und starrte der dunklen Rauchfahne nach, die sich bleiern schwer wand und ringelte, als täte sie’s wider Willen; und so schaute er dem Rauch nach und spürte immerwährend irgendwo draußen und doch in sich drin, und so nahe, daß es deutlich zu hören war: jemand atmet, tief und intensiv. Schläft. Der Alte lehnte das Ohr auf die Tischplatte und horcht: einer schläft da und atmet im Schlaf. Als lehnte er sein Ohr an die dicke eisenbeschlagene Kerkertür von Lepoglava und horchte auf die Atemzüge seines Sohnes in der Einzelzelle, mit einem Vorhängeschloß versperrt – sein Sohn, der Zuchthäusler, da atmet er. Er atmet! Wie krankhaft atmet er! Es wird ihm doch nicht schlecht sein? Er wird doch am Ende nicht sterben? »Geh zum Teufel!« Wieder nimmt der Alte einen 100
Schluck, die düsteren Gedanken zu verscheuchen. Geh zum Teufel! Ach ja! Und wieder, vielleicht zum hundertstenmal, zündet er ein Zündholz an, um die Glut der Virginia-Zigarre anzufachen, nicht und nicht will sie brennen, möglich, daß sie naß geworden ist, so daß er nichts als Luft durch den speichelfeuchten langen und dünnen Strohhalm saugt und der Speichel im Halm förmlich zischt, während Florians dicke, blutgefüllte, wie aufgeschwollene Lippen unartikuliert die Konsonanten P und F paffend und zischend von sich spucken. »Gevatterin! Geben Sie mir noch drei Zenti! Bitte!« »Wär’s denn nicht genug für heut, Herr Gevatter? Da! Es geht ja schon auf Mitternacht!« »Ach, egal! Ganz egal! Geben Sie mir wenigstens zwei! Hol alles der Teufel!« Boten des Unheils begannen einzutreffen. Eine schlimme Nachricht drang bis zum Kraintschetz vor (über fünf oder zehn oder Gott weiß wie viele Zwischenträger), ein alter Aufseher aus Lepoglava, der in die Stadt gekommen war, um beim Gerichtshof einen neuen Sträflingstransport abzuholen, hatte sie Herrn Florian überbracht. Dieser Profos brachte die scheußliche schlimme Nachricht, sein leiblicher Sohn sei in Eisen gelegt und in ein unterirdisches Verlies geschafft worden, wohin nur die schwersten Verbrecher geworfen werden. Er habe angeblich – erzählte der Kerkermeister – eine Meuterei unter den Sträflingen anzetteln wollen, eine Revolution! Einen Plan hätte er ausgeheckt, wonach alle Sträflinge eines Tages sich erheben sollten, die Wachen totschlagen, durch das große Gefängnistor ausbrechen 101
und in alle Himmelsrichtungen auseinanderlaufen. Und der Rädelsführer von alledem war angeblich sein Sohn. Diese schlimme Nachricht also gelangte zum alten Kraintschetz, und er wollte es und wollte es nicht glauben. Wäre es denn wahrhaftig möglich, daß sein Sohn so tief gefallen sei? Andererseits hatte sich schon soviel Mißtrauen in ihm angehäuft, daß es ihm letzten Endes wahrscheinlich schien, Rudo habe sich mit derartigen Plänen befaßt. Eines Tages würde er noch einen Menschen töten und auf dem Galgen enden! Er hat den Verstand verloren! Der Teufel selber ist in diesen Unglücksburschen gefahren! Es wühlte und wühlte in dem alten Mann, bis er sich dann am Ostersonntag selbst entschloß, einen Sprung nach Lepoglava zu machen und sich mit eigenen Ohren zu überzeugen, was mit seinem Sohn eigentlich los war und ob das stimmte, was in der Stadt herumgeschwatzt wurde. In jenem Jahr fielen die Ostern früh, in die erste Hälfte des März, die Schneeglöckchen und Weidenkätzchen waren eben erst zum Vorschein gekommen, und von der Schwalben fehlte noch jede Spür. Es war ein schöner und heller warmer Märzentag, als der alte Kraintschetz durch die Pforte des altersgrauen Paulinerinnenklosters trat; alles roch nach Weihrauch, die Orgel dröhnte, und über den vergoldeten Blitzableitern tanzten blaue Schatten der himmlischen Heiterkeit. Der heilige Ostertag! Oh! Wie schwarz und wie verflucht war jener Ostertag! Und dennoch betrat der alte Kraintschetz das Zuchthaus mit einer geheimen Hoffnung im Herzen – aber er 102
verließ es als gänzlich Schiffbrüchiger. In der Verwaltung gab man ihm Bescheid, also an maßgebendster Stelle – und daselbst in der Verwaltung erfuhr er vom Herrn Direktor persönlich, daß sein Sohn ein »unverbesserlicher und renitenter« Rebell wäre … »ein Megalomane«, ein Größenwahnsinniger, ein »krimineller Typ mit allen Merkmalen eines Delinquenten«, kurz, ein verkommener Mensch, ein Einbrecher und eine degenerierte Ausgeburt, und das beste wäre, über ihn den Stab zu brechen. Ein »unmoralisches und lasterhaftes Wesen«, dem man nur wünschen könnte, daß es sich noch hier, in Lepoglava, den Kragen bräche. Denn es ist mehr als gewiß, daß er, kaum in der Freiheit, beim ersten Schritt sofort wieder straucheln und binnen kürzester Zeit wieder im Arrest landen werde. »Ich kann nicht verstehen, Herr Wachtmeister, wie Sie es mit Ihrem Sohn so weit haben kommen lassen?« fragte der Herr Gefängnisdirektor, ein strenger Herr mit goldgefaßter Brille, der Kraintschetz nicht einmal einen Stuhl angeboten und sich ihm gegenüber so eisig verhalten hatte, als trüge Kraintschetz persönlich die Mitschuld an den Verfehlungen seines Sohnes. »Ich weiß nicht, Herr Direktor«, erwiderte Kraintschetz erschüttert und verzweifelt, und seine Stimme bebte vor ängstlicher Aufregung wie beim Rapport, wenn er sich wegen einer Sache rechtfertigen mußte, bei der er nicht gerade das reinste Gewissen hatte. »Ich weiß nicht, bitte gehorsamst, was mit dem Jungen los ist! Er war der Beste in der Klasse! Sieben ›vorzüglich‹ hatte er!« »Wissen Sie auch, Herr Wachtmeister, daß er selbst 103
hier, vor uns allen, einbekannte, ein Nihilist und Anarchist zu sein, und daß es sein erster Schritt sein werde, sobald er wieder draußen ist, Dynamit zu nehmen und unsere ganze Hauptstadt in die Luft zu sprengen?« Anarchist? Sein eigener Sohn sollte ein Anarchist sein? Ein Anarchist also? Wie ein Truthahn, dem man den Kopf abgehackt hat, taumelte der alte Kraintschetz aus dem kalten und öden Paulinerinnenkloster von Lepoglava ins Freie. Sein Sohn war also ein Anarchist. Auch das noch. Auch das! Anarchist! Er wandte sich um und blickte auf das gewaltige unsympathische vergitterte Gebäude, als sähe er sein eigenes Grab. Den Sohn wollte er gar nicht mehr sehen. Die weiße, an den vier Zipfeln verknotete Serviette, in die ihm die Gevatterin einen Gugelhupf mit Rosinen und fünf bemalte Ostereier eingeschlagen hatte, um damit seinem Sohn ein Osterge-schenk zu machen, packte er und warf sie in den Dreck – wütend, unglücklich, zertreten! Alles soll der Teufel holen! Alles ist verflucht! »Rebell! Anarchist! Größenwahnsinniger!« Von keinem dieser Wörter kannte der alte Kraintschetz eigentlich die genaue Bedeutung, doch jedes von ihnen schien ihm so wuchtig und so besonders geeignet, all das Fürchterliche zu verkörpern, was sich in seinem Kopf beim Aussprechen dieser Wörter zusammengebraut hatte, daß er bis ins Innerste vor Abscheu erschauerte, als würden Wanzen auf ihm herumkriechen. »Rebell! Größenwahnsinniger! Anarchist! Jawohl! Habe ich denn nicht immer schon gesagt, daß es kein gutes 104
Ende nehmen würde!« Und da haben wir es nun! Alles zum Teufel! Schwamm über »das alles«, auslöschen »das alles«, vergessen »das alles«! Und der alte Kraintschetz bemühte sich redlich und mit ganzer Kraft, »das alles« zu vergessen, »das alles« in Wein und Schnaps zu ertränken, doch es ging beim besten Willen nicht. Und wenn dann schließlich »das alles« so aussah, als hätte er die letzten Fäden, die ihn noch mit seinem Sohn verbanden, zerschnitten, erwies es sich doch, daß Blut kein Wasser ist und daß »das alles« so fest mit dem alten Mann verwachsen war, daß er es einfach nicht mehr ausreißen konnte – wie ein altes vergessenes Krebsgeschwür, von dem man angenommen hat, es wäre bereits längst vernarbt, das sich jedoch wieder von Zeit zu Zeit zu regen beginnt in dem unbekannten Dunkel der Eingeweide und sich hineinverbeißt gleich einer giftigen Spinne, daß man laut aufschreien möchte vor Schmerz. Und so sitzt er denn, der alte Kraintschetz, im Wirtshaus, wund und trübselig, und begießt seine Schwermut mit Wein und klagt den Freunden und Gevattern sein Leid: wie sich »das alles« mit ihm im Leben unglückselig und elend angelassen hat und wie ihm nichts mehr geblieben ist, wofür es sich zu leben lohnte. Und die Freunde und Gevattern versuchen ihn zu trösten (lauter freie Bürger, und keine Regierungstreuen gleich ihm, sondern Oppositionelle, die grundsätzlich diesen Attentatsversuch der Studenten nicht mit so bösen und blutunterlaufenen Augen betrachten wie er) und meinen, daß »das alles« doch nicht ganz so hoffnungslos zum Teufel ist und daß »das alles« vielleicht einmal auch noch eine 105
Wendung zum Guten nehmen könnte. »Rudo ist zwar jetzt im Zuchthaus, das stimmt! Aber er hat ja nichts gestohlen! Nur die Politik hat ihn dort hineingebracht. Und wenn er wieder herauskommt, dann wird er sich in die vordersten Reihen der nationalen Kräfte einreihen! Journalist werden, Volkspolitiker, Abgeordneter, und das Volk wird ihn noch auf den Händen tragen!« »Also sagen Sie selbst! Meine Lieben – sehen Sie jetzt? Gibt es auf der ganzen Welt etwas Abstoßenderes als einen Journalisten? Sind denn das noch Menschen? Journalisten sind ja keine Menschen mehr! Für einen Liter Wein schmiert dir so ein Journalist hin, was du nur willst! In alles und jedes stecken sie ihre Nase, diese Journalisten! Wo nur ein Skandal ist, wo immer man einschreitet, gleich ist auch ein Journalist dabei. Und wenn dieser verdorbene Viehskerl jetzt auch noch Journalist werden sollte, das fehlte noch! Habe ich denn auch diese Schande noch erleben müssen und einen Journalistenlumpen zur Welt bringen? Das möcht’ ich von euch hören! Mein leiblicher Sohn ein Zuchthäusler von Lepoglava!« »Na, na«, trösten ihn die Freunde und Kameraden (mehr der Form halber, denn sie glauben den eigenen Worten nicht) –, »verlieren Sie nicht jede Hoffnung, Gevatter! So schlecht steht es wieder nicht! Ohneweiters kann Ihr Rudo, sobald er wieder draußen ist, Abgeordneter werden. So schön, so begeistert hat die Kroatische Fahne von ihm geschrieben! Ein Patriot ist er, Ihr Rudo! Das war eine patriotische Tat, eine Tat für sein Volk! Für die nationalen Belange! Und die nationalen Belange gehen uns alle an!« 106
»Gehen Sie mir mit der Politik! Das wär ja noch schöner! Was ist das schon für ein Brot, unsere dreckige Politik? Im Kerker sitzen, Schande über die Familie und den ehrlichen Namen bringen, Krawallmachen auf den Straßen! Ist das eine Beschäftigung für einen, anständigen Menschen? Wenn er wenigstens so viel erreicht hätte im Leben wie ich! Denn schließlich bin ich doch heute irgendwer und werde nicht hinter einem Zaun verrecken wie ein Hund! Ein anständiger Mensch bin ich! Mein Dach hab’ ich über dem Kopf, die Pension ist mir sicher – und die Pension ist doch auch nicht zu verachten! Aber mein Sohn ist von Stufe zu Stufe tiefer gesunken! Statt hoch über mich hinauszuwachsen, ist er ein Strolch aus Lepoglava geworden! Was kann denn überhaupt noch aus diesem Burschen werden? Wenn er herauskommt, wird er nur lauter verschlossene Türen finden! Der Teufel soll ihn holen, ihn und mich und ›das alles‹ miteinander!« Und in dem Maße, als der Zeitabstand größer wurde, von jenem Ostersonntag an, da der alte Kraintschetz zum letzten Mal mit seinem Einzigen hätte zusammenkommen sollen, verflüchtigte sich in ihm das Bild seines Sohnes, wurde durchsichtiger, unwirklicher, gespenstischer. Eine übernatürliche, grausame und gewaltige Überlegenheit strahlte jetzt von Rudolfs Erscheinung aus, und diesen Schatten seines Sohnes trug der alte Florian in sich wie eine teuflische Vision. Wie sehr er sich bemühte, diesen Prozeß, der sich in ihm vollzog, zu verleugnen und sich selber einzureden, daß es nichts als Einbildung sei, etwas in Wirklichkeit gar nicht Vorhandenes – es gelang 107
ihm nicht. Sein Sohn hätte für ihn zu kostbarem, geschliffenem Kristall werden sollen, zu einem venezianischen Spiegel von der Art, wie sie in dem Palais des Banus an der Wand hingen (und in welchen sich der alte Florian frisch rasiert, frisiert und gebürstet so gern zu beschauen pflegte, um sich an seiner eigenen Person, seiner Uniform, seiner Zigarre und Pension zu erfreuen), aber er entwickelte immer mehr die Eigenschaften einer chemischen Lösung, die alte verborgene und vergessene Flekken aus dem Menschen ans Tageslicht bringt. Doch diese höllische Chemikalie, weit entfernt davon, diese Flecken zu löschen, zu bleichen und zu reinigen, zieht sie bloß an die Oberfläche, an die Sonne, aus der weißen Fettschicht hervor, die sich als unsere Leibes- und Seelenfarbe über uns ergossen hat. Und so erscheinen diese Flecken noch schwärzer, noch schmutziger und gräßlicher, als sie tatsächlich sind. Sie breiten sich aus und greifen weiter wie eine Überschwemmung und zerfließen schließlich in einen einzigen hoffnungslosen schwarzen Fleck, der sich über alles ergießt, alles verschlingt, eingesaugt wie ein gieriger Schlund des Verderbens. Dieser sein Sohn hatte in ihm wie ein Schatten aufzutauchen begonnen, und die Injektionen aus Rudolfs zahllosen Worten während der Zeit ihrer nicht enden wollenden nächtlichen Dialoge waren unter die dicke Haut des Alten gegangen, brannten immter stärker, und wie sehr auch der alte Kraintschetz versuchte, diesen brennenden Schmerz mit Schnaps zu löschen, er vermochte es nicht! »Es geht nicht und geht nicht! Je mehr du zu löschen versuchst, um so heftiger brennt und loht es, um so of108
fensichtlicher wird es!« Dieser sein Rudolf, der in ihm steckte und den er mit sich trug durch die Welt, war zu einer blutgierigen gespenstischen Vision aufgeschossen, die er weder verscheuchen noch in Stücke reißen konnte. Keiner von jenen Schatten war es, den man mit einer Handbewegung verjagen kann, sondern ein schwarzer Koloß, ein Gigant, der dich an Höhe überragt, eckiger, gewaltiger als du, der auf eigenen Füßen steht, mit dem eigenen harten Schädel denkt und sich weder überwältigen noch zertreten läßt! Spät in der Nacht, wenn es auf Mitternacht geht und keine Menschenseele mehr im Wirtshaus ist, sitzt nur der alte Kraintschetz bei einem Glas Wein: draußen über der Eingangstür klappert der blecherne Ventilator wie ein winzig kleines Skelettchen mit seinen Rippenknöchelchen, der Regen rauscht, und der Wind fiedelt in den dürren sterbenskranken Baumkronen. Wie sind doch im Branntweindunst alle Tischtücher rot, so gräßlich rot! Sie flammen, die roten Tischtücher, wie rote Kleckse, und über alles ergießt sich das gelbe Licht der Petroleumlampe, und keine Menschenseele ist da, das Wirtshaus ist völlig leer, nur die große Wanduhr tickt an der Wand; ihre Gewichte hängen schon ganz tief, nur wenig fehlt noch, bis sie den Spucknapf erreicht haben, der auf dem von den Ratten völlig unterwühlten und ausgehöhlten Bretterboden steht, und mitten in diesem höllisch purpurnen Dekor sitzt zwischen den karminfarbenen Flecken auf dem Tischtuch der Herr Polizeiwachtmeister Kraintschetz im verlassenen Gästezimmer, stützt die Ellbogen auf, und das gelbe Phosphorlicht der Petroleumlampe 109
fließt über sein Antlitz, so daß es wächsern erglänzt wie eine Totenmaske. Er starrt ins Leere, starrt auf die von den Stuhllehnen zerkratzte Wand, auf die schwarzgerahmten Schanklizenzen an dieser Wand, auf denen die großen roten Petschafte der Stadt prangen unter den Unterschriften der hohen Herren Banalräte, der Gehilfen und Delegierten des Herrn Finanzministers höchstpersönlich. Der alte Florian glotzt die rauchgeschwärzten, von Fliegenpunkten gesprenkelten Schankwirtsdiplome an, und so sitzt er denn und starrt vor sich hin in das Nichts, denkt an nichts, bloß schwer ist ihm ums Herz, und so seufzt er tief. Und während er sich so in den Tisch verschaut, ist ihm, als strömten die Bretter der Tischplatte dahin, als wüchsen sie in die Länge und streckten sich unfaßbar weit, wie von unsichtbaren Händen ausgezogen, so daß der Tisch sich zu dehnen scheint wie eine endlose Baumreihe, deren Parallelen sich weit draußen am Horizont in einem einzigen Punkt verlieren. Fern, ganz am Ende im leeren Raum, steht diese unerreichbare irreale äußerste Grenzlinie des roten Tisches, der sich durch die Wand hindurch in die Nacht hinaus dehnt, wie jene Leiter ohne Ende, auf der einst ein biblischer Heiliger die Engel erschaut hat, wie sie zum Himmel emporstiegen. Der alte Kraintschetz blickt an diesem langen blutigroten Brett entlang, das aufklaffend von ihm weg in die Unendlichkeit führt, als stünde er an einem Bahngeleise und blicke längs der parallelen Linien des Schienenstrangs in die Weite und warte auf den Zug. Der alte Florian weiß sehr gut, was jetzt geschehen wird: an dem fernen Ende des rot brennen110
den Brettes wird ein winziges geflecktes unscheinbares Klümpchen auftauchen, das wachsen wird, stets weiterwachsen und mit einer ungeheuren unwahrscheinlichen Geschwindigkeit näher auf ihn zukommen, als säße es auf einem Dampfroß, wird wuchern und wachsen, schwellen und aufquellen wie ein Luftballon, wenn man ihn mit Gas füllt – und hier vor ihm, am andern Tischende, wird plötzlich der Zuchthäusler von Lepoglava erscheinen! In der Sträflingskleidung aus Sackleinwand, mit seiner großen schwarzen Nummer auf einem weißen Flecken, Rudolf, sein Herr Sohn. Jawohl, da ist er nun, sein leiblicher Sohn! Dort sitzt er am anderen Ende des Tisches, zerschlissen und abgerissen wie einer der Diebe aus der »Roten Laterne«, mürrisch und finster, und mit einem Gesicht wie aus bleichem Papier. Er sieht dem Vater gerade in die Augen, unentwegt, ohne mit der Wimper zu zucken, durchbohrt ihn mit seinen tiefen brombeerschwarzen Augen, durchbohrt ihn im wahrsten Sinne des Wortes, und der alte Kraintschetz spürt durch und durch die Magie des schwarzen Blicks, und daß sein Sohn kantig und hart ist wie ein Denkmal aus Bronze, und daß er nicht aus Fleisch und Blut ist, sondern aus einem unbezwinglichen Stoff, und falls er jetzt aufstehen und zu ihm hingehen würde, mit der Absicht, ihn zu schlagen, dann würde – das fühlt er genau – sein Armknochen dabei zersplittern wie ein Streichholz. Als solch ein Phänomen an Härte erscheint dem alten Kraintschetz der Sohn. »Marsch, pack dich, du Strolch, ich will dich nicht mehr sehen!« möchte er ihm ins Gesicht schreien, auf111
stehen und den ganzen Tisch mitsamt den Gläsern und Flaschen auf ihn kippen, ihm das Messer in den Kopf stoßen, ihn niedermachen auf der Stelle, und dennoch fühlt er, wie seine Glieder gleichsam gebunden sind, er sich nicht rühren kann, und daß seine Stimme bebt und kein einziges Wort hervorbringt. Und inzwischen nagelt ihn noch immer der Sohn mit seinem Blick fest und sieht ihn an wie ein Untersuchungsrichter, streng, unerbittlich, grausam, und seine Lippen sind so dünn wie Zigarettenpapier und so fürchterlich böse, und er blickt ihn unentwegt an, als wollte er ihn hypnotisieren. »Was ist denn nur? Was will er denn von mir? Warum starrt er mich so an?« »Hör mich an«, sagt jetzt dieser Zuchthäusler aus Lepoglava mit der Nummer auf der Brust. »Hör mich an! Wie kannst du nur so grauenhaft dumm sein und nicht einsehen wollen, daß ich recht habe? Sei doch kein feiger Hund! Sei ein Mensch! Dein ganzes Leben bist du auf der Straße herumgestanden wie ein Köter! Deine Augen sind dir ausgeronnen, das Rheuma hat dich zerfressen, und nichts hast du davon gehabt, Offizier hast du werden wollen, Oberst – einen Fußtritt in den Hintern haben sie dir gegeben! Kanzlist hast du werden wollen – einen Fußtritt hast du bekommen! Nicht einmal in die Polizeizentrale hat man dich aufgenommen ! Auch heute noch mußt du auf der Straße Dienst tun! Ins Zivilleben will man dich nicht gehen lassen! Und nicht einmal zum Geheimpolizisten hast du’s gebracht! Nichts haben sie dir gegeben, und du ereiferst dich noch immer für diesen 112
herrschaftlichen und gräflichen Markusplatz? Was schert dich dieser –Markusplatz‹, du blöder blinder alter Trottel du!« Aufspringen hätte er wollen, der Wachtmeister Kraintschetz, und diesen Strolch verhaften auf der Stelle, ihn niedermachen, ihn hinter Schloß und Riegel werfen, ihn zerschmettern im Namen des Gesetzes, und kann doch kein Glied rühren. Heiligenschändung ist das und Hochverrat – aber wie wahr scheint es andererseits zu sein, was er da sagt, wie richtig alles, was dieser Schlingel zusammenredet, den er da vor sich sieht. Nichts hatte man ihm gegeben! Das stimmt! Noch immer steht er auf den Straßen wie ein Bleisoldat, und den Sohn, seinen Einzigen, hat man ihm ins Zuchthaus geworfen. »Ja, so ist das, mein Lieber! Nicht ich habe den Banus erschossen! Der kleine Junge, der es versuchte, war ein Feigling – seine Hand zitterte. Doch ich werde ihn erschießen, sobald ich aus Lepoglava herauskomme! Du aber wirst nach Budapest fahren und den Ministerpräsidenten erschießen! Hast du verstanden?« Kraintschetz möchte aufschreien, protestieren, in kalten Angstschweiß gebadet rutscht er auf der langen Bank an der Wirtshauswand bis zum äußersten Ende des Tisches, näher dem Sohn zu, damit keiner hört, was sie untereinander ausmachen und was für furchtbare Verschwörungspläne sie schmieden. »Pssst! Sprich leise! Daß dich das Fräulein bei der Schank nicht hört! Oder die Polizei!« Und so besprechen Vater und Sohn miteinander flü113
sternd das Komplott, das so rasch als möglich ausgeführt werden muß! Der ganze Komplex dieser krankhaften Ideen ist dem alten Wachtmeister fremd, doch der Sohn hat seine Hand gepackt, hält sie krampfhaft fest und führt ihn wie, ein kleines Kind durch diese Räume, und der Alte fühlt, daß er sich nicht losreißen kann, und so geht er mit und leidet dabei unsäglich. Und meint, einen Sinn und eine Logik in alledem zu finden, und glaubt, daß es schon seine Richtigkeit hat und man diesen Weg gehen muß, denn es ist der einzige Weg, der noch aus diesem ganzen verpfuschten Leben hinausrettet. »Mit wem unterhalten Sie sich denn da?« Zwischen zinnernen und messingenen Krügen auf der Schank fährt die Kellnerin aus dem Schlaf auf. Auch sie hatte ein Weilchen gedöst, und auf ihrem Gesicht waren die Abdrücke ihrer Haare zu sehen, da sich einzelne Strähnen in das weiche Fleisch ihrer Wange eingepreßt hatten. »Ich unterhalte mich? Mit wem sollte ich mich denn unterhalten? Es ist doch keiner da!« Wachtmeister Kraintschetz hob verwirrt den Kopf, dann stand er schwerfällig auf, um zur Wand hin zu gehen, wo er so tat, als suchte er den Zündholzbehälter auf dem Nebentisch, in Wahrheit jedoch, um nachzusehen, was es dort gab, weil es ihm so geschienen hatte, als ob dieser Zuchthäusler dort verschwunden wäre. Nur ein Schatten war es, der Schatten des Lampenschirms an der Wand! Die Wand! Hm! »Ich rede ja gar nicht, Sie, Fräuleinchen! Geben Sie mir lieber noch drei Zenti, bitte schön!« Ein Dreizentiglas goß sich der Alte hinter die Binde, als wär’s ein Fingerhut voll, und dann begann er sich 114
selber zynisch und streitlüstig auszulachen: wie blöd das alles sei und was einem so für alberne Ideen im Kopf herumkröchen, ganz von allein. Diese dramatischen Betrachtungen, denen der Alte in seinem Inneren nachging, nahmen zuweilen auch andersartige und heftigere Formen an, und dann stöhnte der alte Mann und krümmte sich unter den peitschenden Worten des Sohnes zusammen, wie unter dem Zugriff glühender Zangen. Und es kam ihm dann zu Bewußtsein, wie sehr er tatsächlich ein armer Teufel war, ein Mensch, den man mit grenzenloser Roheit zertreten hatte und auf dem ein langes Leben lang jedermann nach Belieben herumtrampeln konnte, und nur er allein hatte noch nie zurückgeschlagen. Wie gut wäre es doch, die Hiebe zurückzugeben! Und – was bisher noch nie geschehen war – ein Gefühl der Bitterkeit breitete sich in ihm aus: alle Demütigungen fielen dem alten Kraintschetz ein, jede zugefügte Schmach, die Rippenstöße, die er jahraus, jahrein wortlos eingesteckt hatte, wie ein Esel, der bloß mit den Ohren zuckt, wenn unverdiente Hiebe auf ihn niederprasseln. Sekundenlang schien es dem Alten, daß es richtig wäre, sich auf die Hinterbeine zu stellen, seine Rechnung zu präsentieren und die Faust zu heben – mochte kommen, was wolle! In derartigen Augenblicken erschien ihm das Leben in der Tat als ein schrecklicher und heimtückischer Kampf, für den es weder Gesetze noch Paragraphen gibt, ein Kampf ohne Gerechtigkeit und Spielregeln, in welchem man rechts und links Hiebe austeilen muß, alles niederreißen, was über dir ist, und siegen. Viel dachte er über diesen Kampf 115
nach, nur konnte er sich nicht erinnern, wie sein Sohn diesen Kampf auf englisch genannt hatte. Nach solch kühnem Aufbegehren im Wirtshaus bei einem Glas Wein fühlte sich der Alte am nächsten Morgen zerknirscht und sündig, und beim Rapport wagte er es nicht, dem Kommandanten der Polizeiwache in die Augen zu sehen. In der vergangenen Nacht noch hatte er den Einflüsterungen seines Sohnes gelauscht, der ihn zu überreden versuchte, eben diesen Wachekommandanten zu erschießen – zu seinem eigenen Seelenheil –, und jetzt stand er hier von Angesicht zu Angesicht diesem gleichen Vorgesetzten gegenüber; wie könnte er dessen Blick ertragen? Mörder! Rebell! Größenwahnsinniger! Dieser doppelte innere Zwiespalt nahm immer größere Dimensionen an, und der Alte empfand das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. Eines Tages begab er sich in die Kirche, kniete im Beichtstuhl nieder und beichtete durch das schwarze Gitter hindurch all das Schwere, Dunkle und Trübe, das ihm schon lange auf der Seele lag. Er gestand dem Priester, daß ihm sein Sohn zu erscheinen pflegte und diese Vision gräßliche Gedanken in ihm auftauchen ließ: ermorden müßte man sich gegenseitig, erschlagen, erschießen, um zu siegen! »Da hilft nichts anderes, als zum Herrgott beten! Beten, lieber Bruder in Christo! Nur das Gebet kann dich erlösen!« Der Beichtvater legte dem alten Kraintschetz eine schwere Buße auf, riet ihm, das Skapulier auf der nackten Brust zu tragen und auch stets ein Fläschchen mit Weihwasser bei sich zu haben; wenn ihm dann der Sohn erscheine, solle er ihn nur einfach mit Weihwasser 116
besprengen und ein Kreuz schlagen, dann werde wieder, alles gut. So wanderte also der alte Kraintschetz von Morgenandacht zu Abendandacht hin und her, und eines Tages ging er dann nach sehr langer Zeit wieder einmal hinaus zum Grabe seiner seligen Frau Jula und zündete zwei Kerzen an für ihren ewigen Frieden. Beim heiligen Markus ließ er zwei stille Messen lesen, und bei jeder verblieb er auf den Knien hegend, den Kopf tief gesenkt. Die eine heilige Messe war für die Verewigte bestimmt, die andere für seinen Sohn, auf daß der gütige Herrgott ihn auf den rechten Weg zurückführen und zu einem ganzen und rechtschaffenen Mann machen möge. Der alte Kraintschetz schien von einem Tag auf den anderen sichtlich zu verfallen, alles im Leben war ihm unaussprechlich gleichgültig geworden. Nicht einmal an seiner königlichen Uniform – bisher der Stolz seines Lebens – lag ihm noch etwas. Sein Waffenrock war mit Fettund Schnapsflecken bedeckt, und er, der einst eine geschlagene halbe Stunde für sein Aussehen zu verwenden pflegte – den Schnurrbart mit Brillantine einschmieren und mit der Bartbinde fixieren, damit die hochgezwirbelten Bartspitzen den richtigen Husarenschwung behielten –, hörte jetzt auf, sich zu rasieren und die Kleider zu bürsten, so müde fühlte er sich. Beim Rapport vor dem Wachkommando wurde er einmal sogar eigens darauf aufmerksam gemacht, daß es vorschriftswidrig sei, unrasiert beim Rapport zu erscheinen, was er mit seinen dreißig aktiven Dienstjahren eigentlich wissen müßte. Doch war ihm jetzt auch gleichgültig geworden, daß man ihm 117
Vorbehaltungen machte. Selbst das. »Bellt nur, soviel ihr wollt! Ihr bellt nicht mehr lange! Mir ist das alles so egal! Müd bin ich! Wozu soll ich mich rasieren, wo ich doch so müd bin!« Und so verflüchtigte sich aller Ehrgeiz Florians und jedwede Leidenschaft, eine nach der andern, wie Regenwasser. Früher einmal, sobald die Militärmusik ertönte und allen die Tschinellen, Trompeten, Trommeln, Klarinetten, die Blechbombardons und Flöten ins Blut gingen, ließ er sich hinreißen, ihr nachzurennen, und alles in ihm geriet in Wallung. Solche glorreichen Augenblicke im menschlichen Leben, wenn man hochaufgerichtet im Rhythmus der Militärmusik mitmarschiert, jugendlich gestrafft, und spürt, wie der Körper über sich hinauswächst in den Raum hinein und die Seele wie eine Fahne weht und flattert und jede Faser vor Ungeduld zittert und lechzt nach einem Vorbeimarsch vor kaiserlichen Generälen, nach einem Krieg, einem Sturmangriff, wenn rechts und links die Toten nur so niedersinken wie Garben … solche Augenblicke waren Florian über alles teuer, und aus ihnen schöpfte er seine tiefsten Inspirationen. Jetzt aber, wenn die Militärkapelle an der Spitze des Bataillons oder einer Kompanie von einem Begräbnis mit schrillen Klarinetten und Flöten und brummenden Trommeln zurückkehrte und Häuser und Fensterscheiben im fröhlichen Marsch mitschwangen, die Lehrbuben brüllten, die Hunde bellten und Scharen von Kindern vor dem Regimentstambour mit dem Marschallstab einherrannten, pflegte der Alte bloß einen Augenblick lang stehenzubleiben und lauschend die Ohren zu spitzen. 118
»Ja, ja, die Militärmusik! Marschieren vom Begräbnis heim und freuen sich! So ist das eben im Leben! Der eine stirbt, der andere jubiliert! Nichts zu wollen! So ist das eben!« Und wieder läßt er den Kopf hängen und steht mitten auf der Straße seinen Inspektionsdienst durch, träg und apathisch, als gingen ihn weder diese Straße noch die Musik, das Begräbnis oder die Menschen auf den Gehsteigen auch nur das geringste an. Ja, so weit war es mit ihm gekommen, so tief war er in müde und hilflose Stumpfheit versunken, daß er es aufgegeben hatte, als diensthabender Polizeiwachtmeister mit einer glorreichen Nummer auf dem halbmondförmigen Blechschild unter dem Hals, also in seiner Eigenschaft als königliches Ordnungsorgan, brüsk und autoritär aufzutreten. Jene imposante Befehlsform »Im Namen des Gesetzes!«, die er sonst immer so streng und scharf zu betonen pflegte, daß es schien, als gebrauche er diese Formel ganz genau im unerbittlichen Sinne des Wortes, nicht in Ausübung seiner Funktion im Namen eines geheimnisvollen und unsichtbaren Gesetzes, sondern im eigenen Namen, direkt unmittelbar und in ureigener Sache sozusagen, so, als würde er persönlich mit dem blanken Säbel dem in Frage kommenden Missetäter einen Hieb über den Schädel versetzen – diese Formel murmelte Florian jetzt schlecht und recht zwischen den Zähnen, fast widerwillig, und nahm kaum noch halb so viele Verhaftungen vor wie einst. »Soll alles der Teufel holen! Was geht’s mich an?« Immer mehr zerfraß ihn das Rheuma, die Haare fie119
len ihm jeden Morgen büschelweise aus. Zähne, Augen, Muskeln – sein ganzer Körper, alles Leibliche zerfiel und verfaulte, schwand dahin, schmolz wie Talg. Er kam so herunter, daß er nicht mehr imstande war, etwas anderes als seine völlige Ohnmacht zu empfinden, und daß alles über ihn hinwegschritt, und wie tieftraurig doch das alles war. Dabei liefen ihm die Tränen über das Gesicht wie einem alten Weib. So hockt er dann da im Wirtshaus, mutterseelenallein wie ein abgeschnittener Ast, und klagt sein Leid irgendwelchen Trunkenbolden und Strolchen – einem Gesindel, das er früher nicht einmal angespuckt hätte. Jetzt aber packt er vor diesen verkommenen Lumpen seine intimsten Geheimnisse aus und legt sie hin auf den Tisch vor diese Besoffenen, damit auch sie sehen könnten, wie abscheulich es im Grunde ist, so ein Leben zu leben, wie er es ein ganzes leeres Leben lang gelebt hatte. »Ich, meine Herren, ich hasse, hasse alle! Fürchterlich verabscheue ich alles, alles widert mich an! Wenn ich bloß könnte – binnen vierundzwanzig Stunden würde ich diese verdammte Stadt verlassen! Alles hat sie mir weggefressen, meine Herren, diese dreckige, nebelige Stadt! Verflucht der Tag, hundertmal verflucht, da mein Fuß diese Stadt betreten hat! Auch meinen einzigen Sohn, auch ihn hat sie mir genommen! Meine Jugend! Mein Glück! Wie schön hätte doch alles sein können! Wie herrlich! Weinen könnte man, wie das alles zusammengerumpelt ist! Ich hasse! Alles hasse ich! Sobald ich in den Ruhestand trete, geh ich weg, verreise, verschwinde von der Bildfläche, als hätte es mich nie gegeben!« 120
So spricht der Polizeiwachtmeister Florian Kraintschetz zu müden Strolchen, Ziegelarbeitern und Vagabunden, die sich alle, naßgeregnet bis auf die Knochen, jetzt hier zu wärmen suchen und voll fauliger Ausdünstungen, nach Moder, Feuchtigkeit und Schmutzwasser stinkend, ihre Zwiebeln verspeisen und dem betrunkenen Polizeiwachtmeister zuhören, wie der weint und wehklagt und sich rüstet, diese verfluchte Stadt zu verlassen. Was schert sie denn das alles, diese besoffenen Landstreicher und Baraber? Daß der Sohn des Herrn Polizeiwachtmeisters in Lepoglava sitzt? Hat sich einen Rausch angetrunken, der Alte, und spinnt jetzt. Am liebsten würden sie ihn auslachen, aber sie wagen es denn doch nicht! Man kann nie wissen! Der Teufel schläft nicht! Der Herr Polizeiwachtmeister, das Zuchthaus von Lepoglava! Sie sind ja auch schon in Lepoglava gewesen! Ist ja nicht halb so schlimm! Auch dort läßt es sich leben! Man lebt eben! Überall in der Welt ist im Grunde das Leben gleich! »Auf die Gesundheit des Herrn Polizeiwachtmeisters! Auf Ihre Gesundheit!« Obwohl Florian Kraintschetz sich nichts sehnlicher wünschte, als die Stadt zu verlassen, wo ihm auf Schritt und Tritt die eine oder andere schmerzliche Erinnerung einen Schlag versetzte, war ihm dieses Glück dennoch nicht beschieden. Nicht beschieden war ihm, der grauen schweren Masse zu entrinnen, diesem Wust von Marktabgaben, Verwaltungsstrafen, Abteilungen, Behörden; dem Markusplatz, den Waagen, Maßen und Gewichten, Märkten, Pässen, dem: »Im Namen des Gesetzes« und den Stempelgebühren – kein Entrinnen gab’s aus dieser bunt121
wuchernden Wirrnis, die so laut und wichtig tat und doch so grau und öde war, nicht beschieden, herauszuschwimmen – und sei es auch nur für die Dauer eines einzigen Frühlings – aus der Flut dieses Lebens, nicht enden wollender nächtlicher Inspektionsgänge, bleiernschweren, grausigen Ausharrens auf den Straßen, wo man auf die Stundenschläge von den Kirchtürmen horcht und fühlt, wie endlos lang und tief die Nacht ist. Die abscheulich formlose Materie des Lebens, die sich dahinwälzt, dickflüssig und pechschwarz, verschluckte ihn eines sonntäglichen Spätnachmittags auf seltsame und betrübliche Weise. Er war zur Kaserne hinüberspaziert, um einen Augenblick lang Luft zu schöpfen, als er einen Anruf von der »Roten Lampe« erhielt, der ihn dringend zur Zentrale zurückrief: die Polizei war alarmiert worden, daß in der Stadt wieder große Demonstrationen ausgebrochen wären. In der Tat waren die Massen wieder einmal dabei, die ungarischen Aufschriften am Bahnhof zu zertrümmern, Wappen herunterzureißen, Fahnen zu verbrennen. Die Polizei zog Kordons und bewachte die Hauptstraßen der Stadt. Die Masse war äußerst gereizter Stimmung, denn im Landtag hatte der Kampf der Opposition seinen Höhepunkt erreicht, und da überdies die Gendarmen in der vergangenen Nacht auf einigen Provinzbahnhöfen mehrere Personen erschossen hatten und diese Nachricht noch am Abend in die Stadt gedrungen war, flammte die Straße lichterloh auf wie Spiritus. Das Klirren zerbrochener Fensterscheiben, die schrillen Banditenpfiffe und das Gedröhn vielhunderter Stimmen, die sich schon seit halb 122
sieben gegen die Tyrannei erhoben hatten, übertönten alles andere Geräusch. Zufälligerweise oblag es dem Kordon, in welchen auch Polizeiwachtmeister Kraintschetz eingereiht war, in diagonaler Linie gerade jene Straße des Minnesängers aus Ragusa abzuriegeln, wo Kraintschetz – falls der Leser sich dessen noch erinnern sollte – eines Vormittags ein kleines schwarzweißes Hündchen niedergemetzelt hatte, woraufhin ihm dann sein Sohn mitten auf der Straße eine Szene gemacht und ihn einen blutigen Schinder genannt hatte. In dieser Straße befand sich die Wohnung einer gewichtigen magyarenfreundlichen Persönlichkeit, und die Menge wogte und drängte vorwärts, um das Haus zu erreichen, den Polizeikordon zu durchbrechen und die Wohnung dieses magyaronischen Verräters kurz und klein zu schlagen. Das liebten unsere Massen über alles: die Wohnungen von ungarischen Agitatoren und von Universitätsprofessoren zu zerstören, die von sich selbst behaupteten, Gelehrte zu sein und sich der Wissenschaft hinzugeben, in Wahrheit aber ganz gewöhnliche Tabaktrafikanten waren, die hinter ihrem Ladenpult stehen und ihre Überzeugung im Kleinverschleiß für Wissenschaft und politische Programme verkaufen. »Krach – hahaha!« Das schwarze Klavier ist vom Balkon im ersten Stock heruntergestürzt und auseinandergekracht – »Hahaha! Nieder mit den Magyaren, Abzug!« Ein gelbgepolsterter Stuhl ist heruntergeflogen, und alle vier Beine sind zerbrochen! »Nieder mit den Verrätern! Es lebe Kroatien!« 123
Teller zersplittern! Krach! Krach! Ein Sofa! Ein rotes Plüschsofa! Topfpalmen, ein Gummibaum, ein großer, vielblättriger Gummibaum! »Anzünden alles, mit Petroleum übergießen! An die Laterne! Nieder mit der ungarischen Bande!« Die Situation ist gefährlich. Die Menge wächst noch immer, Fäuste recken sich empor, Steine fliegen, die Polizei hat die Säbel gezückt und weicht zurück, Schritt für Schritt, denn es wurde Befehl gegeben, standzuhalten, ohne von der Waffe Gebrauch zu machen, bis das Militär kommt! Mari telefonierte in die Kasernen, erwartete die Ankunft der Artillerie von einem Augenblick zum andern, doch bevor die Ulanen nicht im Rücken der Menge auftauchen, muß durchgehalten werden um jeden Preis! Polizeiwachtmeister Kraintschetz steht am rechten Flügel des Kordons und blickt auf die Menge. Vor seinen Augen wogt die schwarze Masse – ein hundertköpfiges Monstrum – wütend und finster wie ein tausendfüßiges Untier, Arme strecken sich vor, dunkle elastische, schlangenartige Arme, Augen glühen, brüllend wächst die stinkige, abscheuliche Bestie! Steine, spitze Steinbrocken fliegen durch die Luft, die Straßenjungen pfeifen durchdringend, krach – da fallen die ersten Fensterscheiben auf die Straße herunter – nieder mit der Tyrannei, weg mit den Magyaren, hoch lebe Kroatien! »Was wollen sie denn, diese Erzgauner? Was heulen sie wie tolle Hunde? Nicht einmal am Sonntagnachmittag lassen sie einen verschnaufen! Immerzu auf der Straße, bei Tag und bei Nacht! Verdammt sollen sie sein! Was 124
haben sie denn nur immer mit diesem ihrem Kroatien? Haben sie es noch immer nicht satt bekommen? Richten ja nur sich zugrunde und ihre Kinder! Wieder werden sich die Gefängnisse füllen! Maulesel, oppositionelle!« »Zurück! Im Namen des Gesetzes, zurück!« Kraintschetz hört, wie seine Kameraden auf die Menge einbrüllen und verharrt plötzlich, als hätte er einen Hieb über den Schädel bekommen, die Erinnerung durchzuckt ihn, daß sein Sohn im Zuchthaus von Lepoglava sitzt! Jawohl! In Lepoglava! Ein Zuchthäusler! Zugrunde gerichtet von diesen kopflosen Schreihälsen, die einen anständigen Menschen nicht einmal am Sonntagnachmittag in Ruhe lassen! Verhaften müßte man sie alle miteinander, diese arbeitsscheuen Lehrburschen! »Tod der Tyrannei! Auf zum Markusplatz! Nieder mit der Banus-Sau! Abziehen!« So hatte auch sein Sohn geschrien, so hatte er sich herumgetrieben auf Demonstrationen, und jetzt saß er in Lepoglava! Mit krankhaftem Haß starrte Polizeiwachtmeister Kraintschetz auf die schwarze Masse, die immer näher und näher auf ihn zukam und lärmend und fluchend die Fäuste gegen die Wache erhob, die regungslos und bleich mit gezücktem Säbel dastand. Ja, das sind sie, diese Sakramentsgauner, die über unschuldige Kinder hinwegtreten und sie vernichten! Verfluchte Herodesse! Gebt mir meinen Sohn zurück! Meinen Sohn habt ihr mir geraubt, ehrlose Diebe! Fensterscheiben klirren, und in dem Gedränge schlägt ein Polizist einem kleinen Mädchen ungeschickterweise (höchstwahrscheinlich) über den Kopf. Blutüberströmt 125
begann das Kind loszuplärren, was die Kehle hergab, und dieses Kinderweinen wurde für die Menge das Signal zum Vorstürmen – vom blinden’Trieb des aufgewühlten Fleisches angetrieben. »Sie schlagen unsere Kinder tot! Mörder! Nieder mit den Tyrannen!« »Ihr seid die Kindermörder! Meinen Sohn gebt mir wieder! Abscheuliches Pack!« Steine kamen geflogen, und neben dem Polizeiwachtmeister stürzte einer seiner Kameraden zu Boden: Kraintschetz sah bloß, wie das Gesicht des Polizisten, einer roten Maske gleich, sich mit Blut überzog. Dann sah er nichts mehr als die schwarze Mauer der Menge vor sich, die ständig anwuchs mit ihren Hunderten phosphoreszierenden Augen, und nur noch in der Ferne, längs der Straße, die Reihe der Gaslaternen, die eben in blaßgrünlichem Schein aufflammten – da spürte er im gleichen Augenblick auf der Wange einen schrecklichen schwarzen Fleck, der nach warmem Blut roch, und fühlte, wie dieses mammutartige finstere und gewaltige Untier auf dem Vormarsch war, den Rachen aufgerissen, um ihn zu zermalmen, und daß es ihm den einzigen Sohn genommen hatte, so wie es jetzt sich anschickte, seine Kameraden zu zerreißen. Und in ihm erwachte der Urinstinkt des alten Kriegers. Kaltblütig, wie der Kapitän eines Schiffes, griff er nach der Trillerpfeife auf seiner Brust und pfiff scharf und durchdringend mit vollem Atem. »Zurück, im Namen des Gesetzes!« Sein Pfiff hatte überhaupt keine Wirkung. Alles ging im Getöse und Geschrei unter, und Polizei126
wachtmeister Kraintschetz fühlte jetzt, wie ein scharfkantiger Gegenstand seinen Kopf traf und ihm ein warmer Blutstrahl über das Gesicht spritzte, einen brennenden Schmerz unter dem Auge verursachend. Jawohl, das waren sie, diese Mörder und Verbrecher! Wenn sie nicht wären, gab es dies alles gar nicht! Die Stadt hätte Ruhe, und alle wären glücklich! Mit einem automatischen Griff riß Polizeiwachtmeister Kraintschetz die Pistole aus dem Gurt und feuerte in die Menge. »Paff, paff, paff, ihr schwarzen Bestien, zurück, marsch, im Namen des Gesetzes! Marsch! Marsch!« Panik ergriff die Menge, das schwarze Untier geriet in Bewegung und reagierte zunächst damit, daß die Menschen zu laufen begannen. Polizeiwachtmeister Kraintschetz spürte nur das eine: daß die Mauer aus Fleisch ins Wanken geraten war und vor seinen Schlägen zurückwich, und mit blankem Säbel stürzte er in die Straße hinein, ihm nach der ganze Polizeikordon von Wachleuten, die aus ihren Revolvern das Feuer eröffnet hatten und so unverhofft Herren der Lage geworden waren. Kraintschetz sieht die schwarze Masse von Leibern, die vor ihm flieht, und flucht, schimpft sie Feiglinge und Schufte, und dabei jagt er es vor sich her, dieses dunkle Ungetüm, das ihm den Sohn geraubt hat: zurück, ihr Bestien, im Namen des Gesetzes, zurück! Marsch! Bis ihm finster vor den Augen wurde, und er der Länge nach auf das Pflaster aufschlug. Jemand hatte ihm aus einem Fenster einen Ziegelstein auf den Kopf geworfen! Das Ganze sah ziemlich erbärmlich aus: 127
Der wachtmeisterliche Waffenrock, obendrauf der zertrümmerte Schädel, aus dem die blutige Hirnmasse quoll, in Schaumbläschen wie das Innere eines aufgeschlitzten Fisches, und die um den blanken Säbel verkrampfte Faust – alles auf dem schmierigen, kotigen Asphalt, über dem Unmengen von Glassplittern zerstreut lagen. Irgend jemand hatte den Einfall, bis zum Eintreffen der Untersuchungskommission über diese blutige Masse eine Nummer der Kroatischen Fahne zu breiten, die er mit vier Steinen an den Ecken beschwerte, damit sie der Wind, der durch die wieder menschenleere und dreckige Straße des Minnesängers von Ragusa zu heulen begonnen hatte, nicht davonwehe. Alles war mit einemmal öde und leer, nur von irgendwoher ertönte die alte sonntagnachmittägige Tonleiter auf dem Klavier: Ce, de, e, ef, ge, a, ha, ce! Ce, ha, a, g, ef, e, de, ce.
128
in extremis
D
ie ganze Landschaft hatte eine braungraue, pechartige Tönung, der Staub auf den Straßen war rußig-schwarz. Alles war schmierig von der mit Lehm vermischten Braunkohle, und überall stank es bitter nach Schwefel und warmen Mineralquellen. Über diesem öden, welligen Gelände, von Pflug und Axt aufgerissen, wo einst vor Jahrtausenden Vulkane ihre Lava ausgespien und ungeheure vorsintflutliche Moore zum Himmel gedampft hatten, waren jetzt Banken und Aktiengesellschaften mit großangelegten Plänen und Projekten aus dem Boden geschossen. Tag und Nacht gruben die Menschen in den fettig verwitterten Schichten der Erde. Bergarbeiterkolonien breiteten sich wie Zelte eines großen Wanderzirkusses über diese Landschaft aus, wo das Brunnenwasser giftig und schal schmeckte und die Luft von verseuchten Dämpfen gesättigt war, wo die riesigen Rechtecke der Fabrikfenster erstrahlten, hinter welchen Transmissionsriemen surrten, gigantische Schwungräder donnerten und die Ziehharmonika der Bergleute in den Schenken greinte. Ein neues und mühseliges Leben hatte auf dem Grunde der flachen schlammigen Mulde des Moors begonnen, und wenn vor Tagesanbruch die Bergleute, schwarz und schmutzbedeckt, mit ihren flackernden Öllichtern über die Felder den Gruben zustrebten, ihrer täglichen Fron entgegen, sah es an lauen Morgen zuweilen aus, als kehrten Tote in ihre Gräber zurück, und etwas Unbegreifliches, Übernatürliches liege in der Luft. Die zweistöckigen Aufzüge und das massive teergestri131
chene Maschinenhaus der Seilbahn, die mit Steinkohle beladenen Loren und rotglühenden Koksöfen erinnerten in der Morgendämmerung mit ihren scharfen Umrissen an die Hebel, Kräne und Maschinenanlagen eines großen Überseehafens, so daß der rote, von Akazien und Linden umstandene Ziegelbau der kleinen ungarischen Bahnstation mit ihren fünf Gleispaaren und den gelbgrün gestrichenen Weichen und Semaphoren einem Hochseedampfer glich, der im Begriff ist, auf die Meeresfläche auszufahren und Kurs über Wiesen und Äcker auf ferne Inseln am Horizont zu nehmen. Auf der nordseitigen Veranda der ersten Etage dieser kleinen Provinzstation lag der alte Walter, ihr Chef und Kommandant, bereits seit zwei Monaten im Sterben. Sein Sohn, ein junger Arzt, kurzsichtig, sympathisch und neurasthenisch, war in sein Elternhaus geeilt, verständigt von einem Telegramm, daß es um seinen Vater sehr schlecht stünde, keine Hoffnung mehr vorhanden sei und er mit dem ersten Zug kommen möge. Die ganze Nacht hatte der junge Arzt auf der Reise verbracht und als er ankam, fand er den Vater auf der Veranda, in der goldbetreßten Majorsdienstbluse eines Stationschefs mit den geflügelten goldenen Merkursrädern auf dem Kragenspiegel aus schwarzem Plüsch. Gelb und ausgemergelt wie ein Skelett saß der alte Mann in seinem Lehnstuhl, den glasigen Blick unverwandt auf die geflochtenen Körbe mit Feldblumen gerichtet, die an langen Drähten von dem mit »arabischen« Holzschnitzereien geschmückten Verandabogen herabhingen. Der junge Doktor setzte sich neben seinen sterbenden Vater und starrte stumm auf die Feld132
blumenkörbe und auf die gemalte Phantasielandschaft an der Wand. Den ganzen Vormittag wartete er so auf den Tod seines Vaters. Als die Familie Walter hierhergekommen war, fand sie das Wandbild bereits vor, und seither waren etliche Jahre vergangen. Salpeter, Schimmel und Feuchtigkeit hatten die Freskomalerei zerfressen, so daß es nun schien, als dampfe das ganze Bild und als stiegen von seinem Grunde graue Nebelschwaden auf, und alles – sowohl die Schiffe auf dem grünen Wasser, als auch die Prozession, die mit ihren Fahnen zur Kirche auf der Bergspitze emporstieg – war wie in Moderdünste eingehüllt und nur mehr in den Umrissen zu unterscheiden. Das Bild war im Begriff zu verlöschen. Auf der Veranda war es still. Aus dem Erdgeschoß drang dann und wann das Ticken des Telegraphenapparates herauf, und ein leiser Luftzug bewegte den wilden Wein und die Weißdornranken, die sich an dem verdorrten knorrigen Rebenstamm zur Veranda emporschlangen. Das Laub sah kränklich aus, fleckig und verrunzelt, verbraucht, zersetzt von den im Regenwasser aufgelösten Erzen und Salzen. Das Wasser hatte in die Blätter tiefe Furchen gerissen und sich muldenförmige Abflußgräben gegraben. Bis ins Mark verfault, welkten die Stengel schon im Ansatz, und über die grüne Blattfläche krochen die gelblich-modrigen Flecken des Todes. Durch die Ranken der Veranda konnte man im Schatten der Maulbeerbäume zur Schenke auf der anderen Straßenseite hinübersehen. Pausenlos gackernd wühlten die Hühner im Mist, schlugen ab und zu wie in panischer Angst mit den Flügeln, ganze Wolken von Staub hoch133
wirbelnd. Der Doktor betrachtete den grünen verwitterten Plankenzaun vor dem Wirtshaus, die Hühner, die im Staube badeten, und ließ dann den Blick über die Straße schweifen, auf der zwei schwarz gekleidete Frauen näherkamen, Körbe voll Kohle auf den Köpfen. Die beiden Frauen zogen wie zwei schwarze Magnete die ganze Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf sich, so daß er ihnen noch lange nachstarrte entlang der Maulbeerbäume und der Telegraphenstangen, als wären es gar nicht zwei bestimmte schwarze Bergarbeitersfrauen, sondern bloß optische Erscheinungen und Flecken, die im Kreis seines Blickfeldes aufgetaucht waren. Und er dachte darüber nach, wie seltsam es war, daß gerade hier – mit mathematischer Genauigkeit zuverlässig feststellbar – an genau der gleichen Stelle, wo diese Frauen vorüberschritten, einst südamerikanische Palmen, Lorbeerbäume und Zypressen gestanden und Sträucher mit süßduftenden Rinden geblüht hatten. Alles war einst üppig und tropisch schwellend gewesen, eingehüllt in heiße Äquatorialdünste wie in einem Dampfbad. Jetzt war das ganze Gelände verödet, nackt, staubig und drekkig. Fische hatten hier mit ihren Flossen das Wasser zu Schaum gepeitscht, Aale gezappelt, Riesenschlangen und Delphine geplätschert, und vielleicht hatte sich gerade an der Stelle, wo jetzt die Veranda stand, ein gigantisches fettes Nashorn gesuhlt. Und jetzt schleppen halbverhungerte Frauen Kohle, und ihre Kinder sind bleichsüchtig, rheumatisch, skrofulös. Ihr Essen schmeckt klebrig nach Pech; dünn und wäßrig ist es, ein Fraß für Frösche. Ihr Blut ist verdünnt, sie siechen dahin an Hunger, Schwind134
sucht, Rachitis – in nicht enden wollenden Kolonnen von Ziffern und Tabellen der amtlichen Sterbestatistiken. Alles kommt davon, daß es eben diesen Gesichtskreis eines bestimmten Blickfeldes gibt, in welchem irgendwelche Flecken, Formen, Ereignisse sich spiegeln. Nashörner, Ichthyosaurier, Bergarbeiterfrauen und alte Männer mit goldenen Flügelrädern auf dem Kragen – sterbende Stationschefs auf der Veranda eines Provinzhauses. Doch ist dieser Kreis einmal weg, dann gibt es gar nichts mehr. »Ja, was tu ich denn da? Betrachte das Laub, denke über vorsintflutliche Tiere nach und über rachitische Bergarbeiterskinder, ganz auf die gleiche Art und Weise wie über meinen armen, meinen einzigen Vater! Ist denn das noch menschlich? Wo steckt denn in mir der Mensch?« Auf diese Frage schien Doktor Walser wie aus dem Schlaf aufzufahren, doch da in ihm noch ein ziemlicher Vorrat eines gewissen logischen Trotzes aufgestapelt war, erschien ihm die im Grunde unbegreifliche Tatsache, daß sein Vater im Sterben lag, am Ende doch begreiflich. »Er hat sein Leben zu Ende gelebt, so wie das Wandgemälde auf der Veranda, wie das Weinlaub und alle übrigen Phänomene – so ist es eben.« Aber dann zog sich doch etwas zusammen in seinem Brustkorb, und es wurde ihm unbehaglich. Mit einer sklavisch-patriarchalischen Bewegung beugte er sich über die dürre Hand seines Vaters und drückte einen Kuß auf die hervortretenden blauen Adern über dem goldenen Siegelring. Der Alte lächelte ihm zu und machte eine Bewegung, als wollte er ihn liebkosen, doch seine Hand fiel auf das Kopfkissen zurück, und er seufzte leise und 135
schmerzlich auf. Die Luft auf der Veranda war schwül; Schatten schwankten wischen dem Laub und den Bündeln von Sonnenstrahlen, die durchsetzt waren von spitzen Rußteilchen aus dem Rauch der Lokomotiven. Der Doktor hatte die ganze vergangene Nacht viel um seinen Vater gelitten. Im raucherfüllten Abteil dritter Klasse, zwischen barbarisch fluchenden Reisenden, eingeschläfert von dem gleichmäßigen Schaukeln des Zuges und dem einförmigen Flackern der von der Plankendekke baumelnden Öllampe, versuchte er angestrengt sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn sein Vater einmal tot sei. Daß er sich bei dem Alter auf ein endgültiges und unvermeidliches Ereignis gefaßt machen müßte, wußte er, und nun versuchte er sich zu vergegenwärtigen, was sein würde, wenn der Vater einmal begraben war, er selber dann allein auf der Welt zurückblieb und irgendwelche Bank- und Einlagebücher, goldene Wertsachen und Ringe erbte, auch die alte Goldmanteluhr mit den drei dünnen Deckeln und dem rubinbesetzten Läutwerk. Voller Abscheu vor sich selbst schrak er vor dem Gedanken an die goldene Uhr mit den drei Deckeln zurück und nahm sich fest vor, nicht mehr daran zu denken. Doch mit teuflischer Beharrlichkeit kehrte dieses Motiv immer von neuem in seinen Gedanken wieder und quälte ihn mit außerordentlicher Heftigkeit die ganze Nacht hindurch. Die Landschaft draußen war in Dunkel gehüllt, und nur ab und zu zogen irgendwelche Lichter in der Ferne vorbei. An einem waagrechten Strom von Telegrafenstan136
gen und schwarzen Baumkronen entlang bohrte der Zug sich durch die Nacht und ließ Straßenlaternen, Brücken und Hundegebell hinter sich zurück. Auf der anderen Bank saß, Walter Aug in Aug gegenüber, ein Ordenspater. Der Mann mußte schon über fünfzig sein, doch seine Wangen waren fest und gesund, prall mit Blut gefüllt. Leise Gebete murmelnd, blätterte er mit seinen fettgepolsterten Fingern im Brevier. Walter hatte sich nie viel Gedanken über die Kirche oder kirchliche Dinge gemacht. Sooft er eine Kirche betrat, schien sie ihm ein ungeheurer leerer Raum zu sein, der schon seit Jahrhunderten in Schweigen verharrte. Draußen in der Welt wird Blut vergossen, Leidenschaften branden auf; Bücher, Kriege, Geld – alles fließt, strömt dahin wie ein reißendes Gewässer. Doch die Kirche steht da – steinern und stumm. Und steht. Ja, auch dieser dikke Mönch dort drüben, neunundneunzig Kilo schwer zumindest, der mit feisten Fingern in dem Brevier blättert, ist reinen Gewissens. Er hat keine verbrecherischen Gedanken im Sinne, wie er seinen toten Vater abstieren wird. Das Leben wirft ihn nicht von einem Zweifel in den anderen, aus einem Extrem ins andere – und völlig ergebnislos. »Verzeihen Sie bitte, hochwürdiger Vater, wenn ich Sie störe. Ich möchte gerne wissen, was Sie mit einem Menschen täten, der im Begriffe ist, seinen toten Vater zu bestehlen? Er reist an das Sterbelager seines Vaters, um ihn noch am Leben zu finden, und dabei denkt er an Diebstahl, an schmutzige irdische Dinge! An die Erbschaft, an das Gold, das er erben wird!« 137
»Wie, bitte? Ich verstehe Sie nicht! Was ich tun würde? Wen sollte ich richten?« »Wenn Sie die Macht über einen Mann hätten, der so abscheulich ist, auf der Reise zu seinem schwerkranken Vater darüber nachzudenken, daß dieser sterben muß, damit der Sohn sich das Gold und das Geld seines Vaters aneignen – also stehlen – könnte!« Der schwarze Pater blickte Doktor Walter von unten her aus seinen gedunsenen und glasigen Augen voller Argwohn an. Über die Schatten um seine Nasenflügel und Mundwinkel flossen die gelben Lichtflecken der Öllampe, und der ganze mit dem Büßerstrick umgürtete Fleischsack schnaufte laut und schwer. »Ein Mensch kann sich nicht anmaßen, Richter über einen anderen zu sein, mein Herr, denn nur Gott der Herr ist unser aller oberster Richter. Dies fürs erste. Zum zweiten aber – versteh ich Sie nicht! Ein Mensch, der das vierte Gebot kennt und weiß, daß man Vater und Mutter zu ehren hat, kann doch nicht auf so gotteslästerliche Gedanken kommen und dem eigenen Vater wegen irgendwelcher irdischer Güter den Tod wünschen! Jawohl! Das vierte Gebot sagt es klipp und klar!« (Wirklich! In diesem Augenblick erinnerte sich auch Doktor Walter, daß es so etwas wie das vierte Gebot gab, und das verwirrte ihn vollends.) »Nun gut, hochwürdiger Vater, setzen wir einmal voraus, daß dieser Mann Ihr viertes Gebot vergessen hätte! Einfach vergessen. Das kann doch vorkommen!« »Mein viertes Gebot – wieso meines? Dieses Gebot ist ebensogut meines wir Ihres! Übrigens, wenn Sie die Ab138
sicht haben, mich zu beleidigen, mein Herr, dann sind Sie gewaltig im Irrtum! Alle Ihre gottlosen Greuel werden auf Sie selbst zurückfallen, ihr alle, die ihr nicht an Gott glaubt, verzehrt euch selber wie Skorpione!« »Aber werden Sie doch nicht gleich böse, ich bitte Sie! Ich wollte Sie keineswegs beleidigen!« »Sie haben mich auch nicht beleidigt! Nur sich selbst haben Sie beleidigt. Gott ist unser Herr, und wir alle sind seine Knechte, ob wir nun wollen oder nicht. Wer ein guter und gehorsamer Knecht ist, dem wird auch der Herrgott ein guter Herr sein. Und wer es nicht ist, dem gereicht es zu seinem eigenen Schaden! So ist es und nicht anders! Jawohl!« Der Pater hatte sich in Zorn geredet, und er begann zu schreien, was die Aufmerksamkeit der Mitreisenden auf die Szene lenkte. Etliche Köpfe der Passagiere hoben sich neugierig, so daß dem Doktor die Situation peinlich wurde und er aufstand, um hinaus auf die Plattform des Waggons zu gehen. Der Zug schleppte sich so langsam dahin, daß ihn zwei tüchtige Traber hätten überholen können; rechts und links von der Strecke dröhnte aus den Rodungen zwischen den gefällten Baumstämmen das Donnern der Räder wider. Der Doktor stand draußen im Fahrtwind und klammerte sich mit ganzer Kraft an die rußige Eisenstange, um nicht zwischen die Räder zu fallen. Hundertmal war er diese Strecke gefahren, jede ihrer Kurven kannte er, alle Brücken und Tunnels, auswendig wußte er im voraus, was jetzt kommen würde; ebenso kannte er alle Wächterhäuschen, die mit ihren roten Fähnchen und Signaltafeln im Sog des Fahrtwindes 139
dastanden wie hölzerne Heilige, und alle Stationen und Statiönchen, die im Schlamm hinter ihnen zurückblieben wie rote durcheinandergeworfene Ziegel. Dies alles war dem Doktor längst so vertraut wie eine alte, langweilig gewordene Truhe voll zerbrochener Spielsachen. Wie schön waren doch jene Fahrten in den ersten Jahren des Medizinstudiums gewesen, als er den großen Städten des Nordens entgegenfuhr, erfüllt von einem größenwahnsinnigen Glauben an das Leben und an den Sieg. Europa! Die Wissenschaft! Vorwärts, großen und herrlichen Dingen und Ereignissen entgegen! Auch damals donnerte der Eisenbahnwaggon über die neun Meter langen Schienen, von einem Geleisabsatz zum andern, und jede Sekunde flitzte eine Telefonstange am Fenster vorbei, während die Rodungen längs der Strecke von der heroischen Musik des Stahls widerhallten! Und jetzt stand er hier, schlapp, ein zerfetzter willenloser Lappen, und nichts war getan, kein Problem gelöst. Seine Studien hatte er beendet, verbrachte sein Leben in Krankenhäusern und verzehrte sich selber in einem höllischen Chaos gleich einem Skorpion, wie es ihm eben erst jener schwarze Mönch so gut ins Gesicht gesagt hatte, zu keinem gütig, am wenigsten zu sich selbst. Dieser Fleischsack von einem Pater lebt friedlich und seelenruhig in einem inneren Gleichgewicht. Er hat seine Gebote, seine Dogmen, denen er sich unterordnet, nach denen er lebt, seine Pole und Oasen, um die er kreist wie das Zahnrädchen einer Maschine – das einfachste Ding der Welt und bis ins letzte geordnet. Er aber, Doktor Wal140
ter, hat kein Dogma, an das er sich halten könnte, keinen festen Pol, und das war die fundamentale Schwäche seines Lebens! Und gerade das ist es, was man im Leben haben muß: ein Dogma! Einen ruhenden Pol! Aus dem tiefen Drang heraus, diesem sich selbst auferlegten Imperativ zu entsprechen, sehnte sich Doktor Walter unwiderstehlich danach, alle seine Unsicherheiten von sich abzustreifen, abzukratzen, sich außerhalb davon zu stellen, hinaus und hinweg davon, zur Ruhe zu kommen, sein eigenes Gewicht festzustellen, denn was wußte er schließlich von sich? Alles in seinem Leben, alles, was ihm widerfahren, war so schnell geschehen, daß er keine einzige Sekunde Zeit gehabt hatte, um über sich selber und sein Leben ruhig und objektiv nachzudenken. Doch das Leben kann nicht so gelebt werden: ohne Sinn und Zweck, als reine Improvisation! Aufbauen muß man sein Leben, architektonisch daran arbeiten, tagaus, tagein nach einem bestimmten Plan. Mochte dieser Plan nun eine Phrase, ein Dogma, die Heilige Schrift, ein Paragraph oder irgendeine andere Formel sein, das goldene Kalb, eine offensichtliche Lüge oder was immer sonst – nur eine Grundlage muß es geben! Eine Grundlage mußte man sich schaffen für sein Leben! Doch das konnte er ja noch immer tun, noch war nichts verloren, noch war er jung und konnte sich von diesen Giften befreien, die nun schon seit Jahren sein Leben anfraßen. Es war ihm, als hätte er einen leuchtenden Faden erspäht, eine neue Möglichkeit, sein Gleichgewicht wiederzufinden und aufrecht auszuschreiten, sich nicht unterkriegen zu lassen, trotzig die Stirn zu erheben. Während 141
ihn eben noch eine Depression niedergebeugt hatte, so tief, daß er den in sein Brevier vergrabenen Mönch wie eine geordnete und übermächtige Gewalt empfand (so daß er imstande gewesen wäre, sich diesem kurzatmigen Idioten zu Füßen zu werfen, seine Knie zu umfassen und zu beichten, er sei ein Vatermörder, eine Hyäne, die einem Toten sein Gold raubte), fühlte er jetzt, da er einen Strahl des taugetränkten nächtlichen Luftzugs mit vollen Lungen in eine imaginäre Tiefe seines Leibes eingeschlürft hatte, das Walten übernatürlicher Kräfte in sich selbst. Zwischen den einzelnen Wagen rasselten die Räder, klirrten die Scharniere der tellerförmigen Puffer, Funken stoben in Schwärmen auf und wehten wie feurige Schnüre durch die Luft. Die schweren rußigen Eisenketten, die ausgezahnten Haken und Schrauben, die ganze höllische Maschinerie öffnete sich zu so teuflisch verrußten Schlünden, daß der Doktor, müde und unausgeschlafen wie er war, ganz benommen in diesen heulenden Abgrund hineinstarrte, aus welchem die Funkenschnüre auf- und niederschwirrten. In diesem Augenblick empfand er die ganze Schwere dieses massiven lastenden Ungetüms, das sein Leben war, und die eigene Unzulänglichkeit, diesem schweren und primitiven Ungetüm die Stirn zu bieten. Eine Art perversen Wohlbehagens ergriff Besitz von ihm wie von einem Kranken, dessen zerschmetterte Gelenke in linde Verbände gehüllt werden, und er stellte sich vor, wie sanft und weich es wäre, die Augen zu schließen und für immer zu vergehen. Und der Ausweg lag so greifbar nah – einen Schritt bloß, und der Tod erschien Doktor Walter höchst einfach und folgerichtig. 142
Als er so in jenes dunkle rasselnde Loch zu seinen Füßen starrte, glaubte er eine schwere schwarze Erscheinung zu sehen, die von unten her, aus der Finsternis unterhalb des Waggons, die Plattform zu erklimmen versuchte, es jedoch nicht fertigbrachte und deshalb ihn, Walter, zu sich hinunter zwischen die Räder zog. Ganz deutlich fühlte der Doktor, wie ihn etwas Schwarzes am Fuß packte und daran zerrte, zerrte, zerrte, immer heftiger und stärker. Er klammerte sich mit beiden Händen an die ölverschmierte rußige Eisenstange und wehrte sich mit dem letzten Rest seines Willens, um nicht im nächsten Augenblick in jene schwarzgraue Masse zu stürzen und dann zermalmt als blutiger Brei über die Schienen und neben das Geleise in das traurige, vom Blitz versengte schwarze Gestrüpp zu rutschen. In der gleichen Sekunde, da er sich von dem Schwarzen, ihm einen Stoß mit der Ferse versetzend, losriß und dabei einen stechenden Schmerz im Gelenk verspürte, glaubte er die knochigen Hände seines Vaters zu sehen, die ihm zuwinkten, und in der Tiefe unterhalb des Waggons das bleiche Gesicht, das jäh aufleuchtete und erlosch. Der sterbende Vater kam ihm in den Sinn, und es wurde ihm schwer ums Herz. Die schrillen Pfiffe der Dampfmaschine durchstießen die Dunkelheit. In stumpfen Kurven schlängelte sich die Lokomotive, den Zug hinter sich herziehend, an den finsteren senkrechten Wänden vorbei, die unmittelbar neben der Strecke aufragten, und das dumpfe Geraune des parallel mit den erleuchteten Waggons schwarz und gewaltig dahinströmenden Wassers verschmolz mit dem Keuchen der Maschine. 143
Der alte Walter, Stationschef, starb am Nachmittag gegen drei Uhr. Der Sohn wusch den Körper des Toten, zog ihm die beste Paradeuniform an (die sich der Alte eigens für die Audienz bei Seiner Exzellenz, dem Herrn Minister höchstpersönlich, hatte zuschneiden lassen), ließ die Leinenvorhänge an den Fenstern herunter und zündete zwei Talgkerzen an. Fliegen summten im sommerlichen, vom gelben Kerzenlicht erhellten Halbdunkel, und das Bahnhofspersonal begann zu dem Toten zu pilgern: Maschinisten, deren Frauen und Kinder, Gepäckträger in Sandalen und blauen Kitteln, mit dem Nummernschild aus Messingblech auf der Brust. Die Frauen weinten halblaut, denn der verstorbene Herr Chef war ein gütiger Mann gewesen, hatte allen die Hähne kastriert, Gesuche geschrieben, Geld geborgt, die Obstbäume vor den Wärterhäuschen längs der Bahnstrecke aufgepfropft, so daß das Bahnpersonal ihn schätzte und achtete. Die Leute traten ein, besprengten den Toten mit einem in eine silberne Teekanne getauchten Sträußchen Rosmarin. Sie bekreuzigten sich, knieten nieder; dann hörte man die schweren müden Schritte ihrer Nagelschuhe dumpf auf der hölzernen Treppe widerhallen. Der Doktor hatte Kopfschmerzen von der durchwachten vergangenen Nacht, und er setzte sich auf die Veranda und starrte müde auf die graue Landschaft und die Kronen der Maulbeerbäume. In der Kehle würgte ihn eine tiefe, ihm völlig unbegreifliche Trauer. In der Schenke drüben spielten die Zigeuner auf, Zymbal und Geige erklangen zur Feier einer Bergarbeiterhochzeit. Die Bergleute hatten die Jungvermählten zur Bahn begleitet und 144
waren kurz in der Schenke eingekehrt; dann brach der Hochzeitszug wieder auf, lange rote Bänder, Rosmarinsträußchen und Papierblumen mit goldenen Glasperlen auf den Hüten. Alle waren betrunken, und sie hopsten und kreischten auf ordinäre Art, so daß der kleine Warteraum der Station von ihrem Gebrüll und dem Harmonikagedudel dröhnte; alles war abstoßend und albern und erweckte den Eindruck, als wären da aus zähem, klebrigem Material lauter Puppen angefertigt worden. In den Oktobertagen des achtzehner Jahres hatte der Warteraum einiges abgekriegt. Die Geschoßeinschläge hatten Narben und Risse in den Wänden hinterlassen; die Fensterrahmen waren versengt und zerbrochen, die Scheiben mit Blech und Papier vernagelt. Das Ganze stank nach Feuchtigkeit, Kalktünche und Moder. In dieser schmutzigen Hölle zwischen Leitern, Gerüstbökken und Kalkeimern hatten die besoffenen Bergleute einen wüsten Hochzeitsreigen zu tanzen begonnen, und das ganze Gebäude der Eisenbahnstation erbebte von dumpfem Donnern, bis plötzlich alles wie abgeschnitten verstummte. Jemand mußte wohl der betrunkenen Hochzeitsgesellschaft gesagt haben, daß oben im ersten Stock ein Toter läge. Die Bergleute zwängten sich in den Abendzug und fuhren ab; die Dämmerung senkte sich auf die Station; in der Ferne grollte Donner. Dem Doktor fiel sein möbliertes Zimmer in der Stadt ein, in einem widerwärtigen Dreistockhaus, wo es ganz ähnlich von leeren Fässern dröhnte, denn im Keller befand sich eine Weingroßhandlung, und das ganze Gebäude roch säuerlich nach dem Gepansche. 145
Ja, so ist es eben! Das ist es! Er wird nun in sein möbliertes Zimmer zurückkehren und sich das Donnern der Fässer anhören, jeden Vormittag immer die gleichen Zettel für immer die gleichen oder zumindest einander ähnliche Patienten schreiben, die ihn nichts, aber auchschon gar nichts angingen; er wird in Operationssälen stehen und, während auf dem Operationstisch die blutigen Nieren und Gedärme seiner Patienten zittern, zum Fenster hinaus auf den Bügel der Straßenbahn blicken, der am Draht entlanggleitet, und den Stimmen der Zeitungskolporteure lauschen. Und dann wird auch er sich eines Tages hinlegen im Schein gelber Talgkerzen, die Hände falten und unter dem linken Augenlid durchschielen; und Menschen werden auch weiter auf Hochzeiten tanzen und Harmonika spielen. Donnern und blitzen wird es, regnen auch, Lokomotiven werden heulen, und alles wird bleiben wie es war. Dumm. Ungeheuerlich. Unfaßbar. Nach einem heftigen Regenschauer, der gegen Abend mit schwarzen Wolken und Donnerschlägen einsetzte, heiterte sich dann das Wetter auf, und Mondschein überflutete das Land. Das dichte hellgrüne Licht floß in alle Mulden und Wasserrinnen, und die Erde tauchte, gleich einer jungen Stute, unter in einer Flut üppig strömender, strotzender Säfte. Tief wühlte sich die Erde in den kristallklaren Mondschein ein, bettete ihre schweren, massig gemeißelten Glieder irgendwo in der Tiefe blauschimmernder Gründe und Schatten, und nur auf dem Silber ihrer Oberfläche wogten wie grüne Mähnen die Tafeln der Wälder, von denen phosphorfarbene 146
Regentropfen funkelnd herabtroffen. Orangegelb und klar leuchteten die Lichter auf der Station, nur an den Rändern verschwammen sie in ein dichteres, krankhaft entzündetes Purpurrot, das allen Gegenständen in den Rechtecken der Fensterscheiben wie in einem Spektrum einen leidenden, fiebrig-blutigen Heiligenschein aufsetzte. Über den Pappeln und den Äckern dampften in himmelstürmenden Vertikalen weiße Wolkengeysire. Im Mißverhältnis zur Höhe dieser nebelverhangenen, vom schwindelnden Flug der Sterne durchwebten Senkrechten schien die dunkelbraune, kaum merkbar gewellte Erdkruste zu einer endlosen Waagrechten zu erschlaffen, auf der alle Dinge – sowohl die Eisenbahnstrecke mit ihren beleuchteten Stationen als auch das im Mondschein kreideweiß getünchte Dorf und seine barocke Kirche – bis zu fast unsichtbarer Winzigkeit abgeplattet dalagen. In der Ferne wetterleuchtete es lautlos über dem Gebirge. Es war Frühsommer, die Linden waren schon abgeblüht, und im weiten Rund des Sumpfes quakten die Frösche in Chören, wie sie es eben nach dem Regen im Mondschein in allen sumpfigen Gegenden Pannoniens zu tun pflegen. Der Duft der Erde wurde spürbar, und die aus dem Bauch der Lokalbahn herausgeschaufelten Kohlenstücke knisterten und zischten, vom Regen vollgesogen. Um einen Augenblick lang aufzuatmen nach dem Dunst des Sterbezimmers und den bedrückenden Ereignissen des Nachmittags, trat Doktor Walter, vorbei an dem Semaphor und dem gläsernen Wächterhäuschen der Weichensteller, auf die Strecke hinaus. Hier, auf 147
der ebenen Bahntrasse, auf diesem mit Gänseblümchen und blauen Glockenblumen übersäten endlosen grünen Schienendamm, der sich zwischen Pappeln und Akazien verlor, war seine Jugend verflossen. Zehn volle Jahre war er im Schatten des Eisenbahndamms gelegen, hatte den Kuhglocken gelauscht und sich aus den Depressionen und Verzweiflungen seines Gymnasiastendaseins und fruchtlosen Einsamkeiten nach einem Leben voller Größe und Intensität gesehnt. Und jetzt war er aus alledem herausgewachsen, und dieses sogenannte große und intensive Leben verlebt er in einem grauen Spital, wo es nach Suppendämpfen stinkt und Krankenschwestern in Nonnentracht mit Rosenkränzen und Kruzifixen klappern. Jahrelang hatte er hier neben der Bahnstrecke unter den Maulbeerbäumen mit Marjan, dem Sohn des Fleischers, bis aufs Blut gekämpft und gestritten: ob es einen Gott gibt oder nicht. Marjan war später dann Militärgeistlicher geworden, und Walter hatte diesen Feldkaplan getroffen – den Revolver an der Hüfte und so kriegerisch gestimmt, als wäre er als Offizier zur Welt gekommen. Dieser gleiche Marjan sprach über öffentliche Dirnen und Kellnerinnen in der Sprache eines waschechten Kavalleristen und Fleischersohns, der nun schon viele Jahre lang in Gräben und Festungen das Kriegshandwerk ausübt. An diesen mageren gelben Lulatsch mit dünnen blutlosen Lippen, unangenehm gerunzelten Fältchen und Schatten um die Augen und den sichelförmig abgenagten Vorderzähnen mußte er jetzt denken und daran, daß einst dieser gleiche Marjan an seiner neothomistischen These über ein Motto aus der Enzyklika Æterni Pa148
tris Leos des Dreizehnten aus dem Jahre 1879 gearbeitet hatte. Schau, schau, aus diesem idealen Neothomisten ist ein Säufer und Feldkurat ausgekrochen, der den Revolver an der Hüfte trägt, fachmännisch über Weiberfleisch spricht und toten Soldaten das letzte Geleit gibt, so ungerührt und geschäftsmäßig, als zähle er zerrissene Säcke ab. Hart ist das Leben! Wahrlich, hart ist das Leben! Aus dieser ganzen Wanderung – ab und auf – in der grünen Abenddämmerung blieb für Doktor Walter als einziges Ergebnis bloß eine Erkenntnis, die sich plastisch hervorhob: daß das Leben hart sei, urweltlich und primitiv, und es schwer sei, so weiterzuleben. Nichts hatte er bisher fertiggebracht, nichts geschaffen, was wirklich Wert hätte, nichts von alledem entwickelt, was in ihm vorhanden gewesen, nicht vermocht, sein Ureigenstes architektonisch zu bewältigen. Nur die Mühsal, die Seufzer und Bitternisse eines Menschen waren übriggeblieben, eines, der immer weitergeht, unentwegt geht und geht und sein Leid mit sich schleppt, bis zur Grausamkeit gleichgültig allem und jedem gegenüber, auch dem blutigschmerzlichen Fazit seines heimlichsten ureigensten persönlichen »Ich«. Weit draußen in dem lauen grünlichen, aufgelösten, einer Glyzerinlösung gleichenden flüssigen Mondlicht blieb er stehen und hätte am liebsten die Arme gehoben und laut aufgeheult wie ein Hund. Doch dann schämte er sich dessen und kehrte schweren Schrittes zum Stationsgebäude zurück. Im gleißenden Licht, wie von einer wunderwirkenden Essenz übergossen, schien der 149
diabolische Charakter der rotbraunen Station mit den stinkenden, eisenvergitterten Lagerhäusern sich aufzulösen, und alles hatte mit einemmal ein um viele Grade erträglicheres und milderes Aussehen, nicht mehr ganz so hoffnungslos verzweifelt wie am Tage, wenn der blendende Scheinwerfer der Sommersonne erbarmungslos herniederbrennt und schmierige, mit Brettertransporten und schwarzen Schweinen beladene Lastzüge kurze Rast machen, um sich mit Wasser vollzusaufen. Stille grüne Moll-Stimmung lag über der Station, an deren Ende, bei den Weichen, jemand eine Laterne schwenkte. Der Doktor stand eine Weile da und starrte auf die Lichter und auf die Geleise, durch das Laub der Lindenkrone hindurch, auf das rote Stationsgebäude, wo im ersten Stockwerk hinter der Gardine sein Vater unter einem weißen Totenlaken lag. Dieses Stationsgebäude war sein Elternhaus. In wenigen Tagen würde er abreisen und nie mehr auf diesen Fleck Erde zurückkehren. Und doch lagen auf dieser Provinzstation nicht allein die Särge mit den Gebeinen seiner Eltern in der Erde, sondern auch – dort in den Lagerhäusern und Veranden – ganze zwei Drittel seines eigenen Lebens. Seines Lebens, das noch nicht recht gegrünt und sich entfaltet hatte und schon in kränklich dahinsiechender Resignation ohne Nahrung und ohne Flamme verglimmt. Zwischen zwei ölgetränkten Schienenschwellen kroch eine große Kröte umher und mühte sich ab, über die mammutgroßen Geleise zur Hauptweiche zu klettern. Sie blähte sich auf, um über die Schiene zu gelangen, doch immer wieder fiel sie hinunter und kehrte um, zu den 150
heißen Kohlenstücken zurück, die rauchend in mattroten Klecksen verglühten. Sobald das arme Tier das fremde heiße Element verspürte, verlor es die Richtung und begann in kopfloser Panik in dem weiten, mit spitzem Kies bestreuten Raum zwischen den Schwellen und den noch glimmenden Kohlen umherzuirren. Dieses verzweifelte Suchen nach einem Weg hinaus, das Klettern über die Schienen, das Fallen und vergebliche Suchen wiederholte sich lange und hartnäckig immer wieder, während der Doktor dastand und stumpf diesen Vorgang betrachtete. Es ekelte ihn vor diesem Gekrieche, dennoch fühlte er, daß diese Kröte im Mondschein eine sehr – eine blutig ernste Angelegenheit war. Endlich hatte die Kröte die erste Schiene erklommen und kroch jetzt eben über die gleißende Glätte, da fühlte der Doktor in seinem Rükken das Fauchen eines gewaltigen Windes und warf sich instinktiv zur Seite, stolperte über den Weichenhebel und stürzte auf die heißen Kohlen und Glutstücke nieder. Heftig verbrannt am linken Unterarm, riß er sich zusammen und machte einen Satz, als von dem feierlich erleuchteten Expreßzug, der an der Station vorbeigedonnert war, nur noch weiße Rauchwolken über weißen, rot gesprenkelten Rechtecken zu sehen waren und am anderen Ende des Bahnhofes beim Semaphor die scharfen Pfiffe der Lokomotive von den Wänden der Lagerhäuser widerhallten. Der Doktor verspürte einen heftigen brennenden Schmerz am Ellenbogen, wo der Stoff des Ärmels versengt worden war und alles nach Verbranntem roch. Die Kröte war spurlos verschwunden. Oben im Zimmer war es schwül, als mache sich be151
reits der unangenehme Geruch verwesenden Fleisches bemerkbar, und der Doktor öffnete beide Fenster. Vom Klirren der Scheiben und dem Knattern der Leinenvorhänge erschraken die Vögel in den Baumkronen, die intensiv angestrahlt im gelben Lampenlicht vor den Fenstern standen; das verzweifelt ratlose Gezwitscher und Geflatter flutete durch die Dunkelheit, dann folgte eine lange Stille. Ein Falter war ins Zimmer geflogen, kreiste über den Totenkerzen und schlug hörbar, mit der ganzen übernatürlichen Kraft seines Leibes, wütend gegen die Decke und die Schränke. Auf dem Nachtkästchen neben dem Sterbebett funkelte auf einem roten, mit Muscheln und Perlmuttschnecken gesäumten Seidenpantöffelchen eine altertümliche goldene Taschenuhr. Die gleiche Uhr, die in der vergangenen Nacht den Doktor im Eisenbahnwaggon mit einem ganzen Komplex krankhafter Vorstellungen von Diebstahl und Verbrechen gequält hatte. Er erhob sich, und mit einer raschen Bewegung, der flinksten, deren er überhaupt fähig war, packte er die Uhr, tastete unter dem weißen Sterbelaken nach der Uniformblusentasche des Toten, ließ das eiskalt glatte Goldding in die leere Tasche gleiten, kehrte zum Tisch zurück, während ihm das Herz im Halse wie rasend schlug. Dort sank er zusammen und dachte lange darüber nach, ob das alles irgendeinen Sinn hatte oder nur eine bizarre Lächerlichkeit, eine übertriebene neurasthenische Dummheit war? Denn eines ist sicher, diese Uhr wird nicht in der Tasche des Toten bleiben. Die Träger werden sie klauen, oder die Frau des Amtsdieners, oder die Tischler, wenn sie den 152
Sarg bringen, und es wäre viel gescheiter, sie an sich zu nehmen, sich zu sammeln, einige Dinge zu erledigen, die Verwandtschaft zu verständigen, dem Chef um Urlaubsverlängerung zu telegraphieren, einige dringende Briefe zu schreiben, etwas tun, sich rühren, nicht hier verwesen, lebendigen Leibes verfaulen wie ein Todkranker. So erhob er sich also und ging zu dem Toten, nahm die Uhr wieder aus dessen Tasche heraus und legte sie auf das rote muschelverzierte Pantöffelchen zurück. Dann fiel ihm ein, daß es das Gescheiteste wäre, sich niederzulegen und sich gründlich auszuschlafen. Er wandte sich um und wollte zum Schrank gehen, um das Bettzeug herauszunehmen, als jemand kurz und energisch an die Türe klopfte. »Herein!« Viktor Kunej war es, der Sohn des Obermaschinisten an der Bahnstation, des Doktors Spielgefährte aus der Kindheit, als sie noch mit Steinschleudern die Fenster an den Lagerhäusern einzuschlagen pflegten, Steine vor die Lokomotiven legten und im Schatten der Akazien neben dem Schienenstrang Schach spielten. Dieser Kunej flog vor der Matura wegen der Politik aus dem Gymnasium hinaus. Später begegneten sie einander nicht mehr, hörten nur hie und da einer vom anderen. So erfuhr der Doktor, als er noch Medizinstudent war und als Militärheilgehilfe in einem galizischen Infektionsspital Dienst machte, daß dieser Kunej vom Ural bis nach Aserbeidschan in der Roten Garde kämpfte und einer Delegation angehörte, die irgendwo in der Südukraine mit österreichischen Generälen verhandelte; dort hatten ihn Bekannte gesehen 153
und mit ihm gesprochen. Angeblich hätte er sich diesen Generälen gegenüber am grünen Tisch herausfordernd benommen, sie wie Ordonnanzen behandelt und wie letzte Ignoranten und ganz ordinäre Analphabeten mit seiner Dialektik geschlagen. Nach dem Zusammenbruch von Österreich-Ungarn hatte Doktor Walter wiederholt von einer Verhaftung Kunejs in der Zeitung gelesen. Und jetzt klopfte dieser Kunej an seine Tür und trat ins Zimmer! Kunej war ein knochiger, blasser Mensch mit eingefallenen Wangen, so daß sich deutlich die muskulösen Oberkiefer über dem Zahnbein abzeichneten, als wären sie geschwollen. Seine kräftige Stirne war nicht übertrieben hoch, doch hart und in Rillen vorgewölbt, was starke Willenskraft und einen festen Charakter verriet. Kunej gehörte zu einem bodenständigen Menschentyp mit dichtem schwarzem, borstigem Haar, widerspenstiger Haut und gesundem Gebiß, mit hartem, trotzigem Knochenbau und übermäßigem und aggressivem Temperament. Zwei Jahre jünger als Doktor Walter, verprügelte er ihn trotzdem damals mörderisch, egal, ob es nun um das Flobertgewehr und Pistolen ging oder später um die ersten Liebeswirren oder Kämpfe in der Schule mit Klassenkameraden oder um Schulden. Kunej war immer der Anreger und Initiator aller ihrer Unternehmungen gewesen. Sie schüttelten sich die Hände und umarmten einander. Der Kuß, den sie sich gaben, war aufrichtig und fiel etwas länger und feierlicher aus als üblich. Kunej ging auf den Toten zu, hob das Laken auf und blickte lange in 154
die grünlich verfärbte Maske, die bereits um die Nasenflügel und an den Schläfen einen übernatürlichen wächsernen Glanz bekommen hatte. Dann kehrte er an den Tisch zurück, setzte sich und fragte Doktor Walter, ob er etwas zu trinken habe? Jetzt erst fiel es dem Doktor ein, daß er seit vollen vierundzwanzig Stunden keinen Bissen zu sich genommen hatte und daß dies mit eine der Ursachen seiner Müdigkeit sein mochte. Er ging in die Speisekammer hinaus und brachte ein Stück Selchfleisch, ein mit Pergamentpapier verschlossenes Einmachglas mit sauren Gurken und eine versiegelte Flasche alten Sliwowitz. Sie aßen und tranken; die Gedanken vertrugen sich gut mit dem Schnaps, und so sprachen sie denn vom Verstorbenen: Wie er sie mit seiner Motordraisine über die Strecke hin und her gefahren hatte, was er für ein gütiger Mensch gewesen sei – und die ganze Kindheit dieser beiden Männer kam in das Zimmer hereingeflutet, wo es nach welken Blumen, geräuchertem Fleisch und Zwetschgenbranntwein roch wie bei einem Totenmahl, und erfüllte es ganz. Später, als der Branntwein bereits durch die Adern floß, bohrten sie sich mit ihren Worten immer tiefer in den Rohstoff des Lebens hinein, sie begannen die übereinandergelagerten Schichten abzuschälen, in den Ereignissen, Beziehungen und Problemen zu wühlen, und die Sehnsüchte wurden immer unmittelbarer und heftiger. Weite Ausblicke taten sich auf, die Ausmaße wuchsen ins Unermeßliche, und die beiden Kameraden verloren sich unter den gewaltigen Kuppeln der Erinnerungen wie zwei kleine Jungen unter dem Himmelsgewölbe. 155
Zwei Gehirne aus vollkommen entgegengesetztem Stoff waren hier zusammengeraten. Zwei Charaktere, zwei Naturen und zwei Schicksale, die vor vielen Jahren aus dieser Provinzstation hervorgesickert waren wie aus einer trüben Quelle, und die sich durch weite Räume und Komplexe des Lebens durchgewühlt hatten, um wieder zusammenzufließen im gemeinsamen Strom ihrer tiefinneren und schicksalsschweren Erlebnisse. Schon seit etlichen Jahren empfand Doktor Walter es als allergrößten Mangel, als etwas, was ihm in seinem Leben am meisten, abging, daß es keine einzige Sache, keinen Gedanken, keinen Gegenstand gab, von denen er eine präzis umrissene Vorstellung, ein erhärtetes, abgerundetes Wissen gehabt hätte. In ihm flatterten bloß vage Gedankenfetzen und Erinnerungen herum, durchtränkt von der flüssigen Lösung sogenannter bildhafter Begriffe, die mit nebelhaften und unbestimmten Konturen immer breit auseinanderflossen, Vorstellungen, bei denen es unmöglich war, klipp und klar festzustellen: so ist es oder so ist es nicht, sondern alles war gleichzeitig da – das Ja und das Nein und das Vielleicht. Ja, Vielleicht und auch Nein! Trotzdem lag irgendwo tief drinnen in der Persönlichkeit des Doktor Walter ein Wissen um die Wahrheit vergraben, aber er war niemals imstande, dieses innere Erkennen der Wahrheit in Worte zu fassen, weder für sich selber noch für andere. Er fühlte auf dem Grunde seines Seins diese seine Wirklichkeit, ungeheuer und unbegreiflich gleich einer Dämmerung, wo man die Dinge zwar sieht, aber nicht erkennt. Und wenn es dann darauf ankam, diese seine Wahrheit im Leben anwenden 156
zu müssen, dann erschien ihm das Leben plötzlich um so viel schwerer und größer und fragwürdiger, und seine eigenen Wahrheitsbeweise kamen ihm auf einmal so fadenscheinig, schwammig, unbestimmt und armselig vor, daß er außerstande war, das reale Leben beim Schopf zu packen und immer außerhalb blieb, abseits jener Zone, die man überschreiten muß, um zu jeder Art von Tätigkeit zu gelangen. Aus dieser seiner Passivität heraus entstand dann seine Unrast, seine Selbstquälerei, dies ständige ungesunde Nagen in seinem Innern, bis schließlich alles in einem trägen Mißbehagen zur Ruhe kam, in einem ziellosen Irregehen, Herumtrödeln – und darüber lasteten wie eine ungeheure Gesteinsmasse Unmengen von vertaner und verlorener Zeit. In dieser inneren Zerrissenheit dampfte, tückisch wie giftige vulkanische Dünste, aus ihm ein öder und träger Zweifel an seinen eigenen Fähigkeiten, stockte und verhärtete sich zu einem schmerzlichen Gefühl der Hilflosigkeit und Bewegungslosigkeit – kurz, in dem von ihm vollzogenen Querschnitt rurch sein eigenes Selbst erschien dieses dem Doktor in seinen Selbstanalysen so unaussprechlich elend, armselig, daß :nm darüber das Weinen ankam. Auch an jenem Abend redete er zu Kunej von seinen tiefen Krisen: von der goldenen Uhr seines Vaters, die dort auf dem flittergesäumten Pantöffelchen glänzte, von den trüben Nebelschwaden verbrecherischer Regungen, die er in seinem Inneren fühlte und die jener dicke Pater im Eisenbahnwaggon vergangene Nacht nicht begreifen konnte, von der kranken Kröte auf den Geleisen, die der Expreßzug zermalmt hatte … und in diese Beichte leg157
te er soviel leiderfülltes Empfinden, daß seine Stimme ganz leise wurde, kaum hörbar, als wäre sie von Tränen erstickt. Kunej waren schon von früheren Zeiten diese Absonderlichkeiten seines Freundes bekannt, und immer schon war ihm diese exzentrische Erlebnisweise leicht krankhaft und literarisch-dekadent erschienen, also als etwas Fernes und Fremdes. Denn schon im Gymnasium hatte sich ihm, als er die Werke der großen Materialisten des neunzehnten Jahrhunderts las, von diesem Materialismus eine Vorstellung wie von einer Art protestantischlutheranischen Bewegung gebildet, in die man sich als Kämpfer einreihen müßte, als Kämpfer und als Protestant in einer großen Freischar. Und dieses Aufgehen in den gewaltigen Reihen der materialistischen Legionen hatte man militärisch diszipliniert aufzufassen und mußte sich ihren Regeln und intellektuellen Exerzitienbüchern unterordnen. Dieser Materialismus erschien Kunej wie ein geniales neues Lehrbuch der Mathematik, und er meinte, daß man an seine Formeln glauben müßte, vom neunzehnten Jahrhundert angefangen bis ins zweiundzwanzigste, ganz so, wie man vom neunten bis zum zwölften an die Heilige Schrift geglaubt hatte. Eine neue Weltanschauung und ein systematisch festgefügtes Lebensprinzip, deren Formeln man rückhaltloses Vertrauen schenken muß und denen man zu glauben hat – so wie einer eben bis zu den letzten Konsequenzen glaubt. »Denn alles ist ja kristallklar: Alles beruht auf der ökonomischen Grundlage, das ist doch einleuchtend. Die ökonomische Grundlage bedeutet Erzeugung und 158
Austausch von Waren. Zunächst wurde Ware gegen Ware getauscht. Dies war der primitivste Zustand der Zivilisation. X Ware – Ypsilon Ware. Doch Ware X wird nicht nur gegen Ware Ypsilon getauscht, sondern auch gegen Ware Alpha, Ware Beta, Ware Gamma und so weiter. Also die Ware Alpha, Gamma, Delta gleich X. Alles wird auf den gemeinsamen Nenner (X-Ware) gebracht, doch statt Ware X nahm man später ›Gold‹ – ›Aurum‹. So entsteht das Geld - die Monete, und alle auf dem monetären System aufgebauten Zivilisationen der Geschichte, seit zehntausend Jahren bis auf den heutigen Tag, sind unvereinbar mit der Menschenwürde. Der Mensch befindet sich nicht länger auf einer derart tiefen Stufe, daß er es hinnehmen müßte, sich der Herrschaft eines so toten Dinges, wie es das Geld ist, zu unterwerfen. Die Formel dieses Kreislaufs von Geld und Ware, nämlich Ware-Geld-Ware, und umgekehrt Geld-Ware-Geld, ist der Schlüssel für das Verständnis dieser komplizierten Welt von heute. Denn jenes Moment, welches auftritt, sobald in der zweiten dieser Abfolgen des Warenkreislaufs aus der Ware Arbeitskraft wird, bedeutet, daß das Geld, nachdem es durch die Arbeitskraft hindurchgegangen ist, zum Profit wird, was demnach bedeutet, daß das Geld nur dann zum Profit werden kann, wenn es gelingt, den Preis der Arbeitskraft unter ihr Äquivalent hinunterzudrücken. Dies ist eine der grundlegenden historischen Formeln, so wie auch Christus, Kolumbus, Kopernikus Wendepunkte und Achsen entscheidender Kapitel der Weltgeschichte sind, und alles hängt nur noch davon ab, mit welcher Geschwindigkeit sich diese Formel im subjektiven Be159
wußtsein der Menschen auf dem ganzen Erdball durchsetzt. An jenem Tage (der Begriff dieses Tages muß im biblischen, also zeitlich unbestimmten Sinn verstanden werden) wird alles gelöst sein.« Unerschütterlich und felsenfest glaubte der kleine und naive Gymnasiast Kunej an diese marxistische Formel, und sie war es auch, die ihn aus dem Gymnasium hinaus und ins Gefängnis hineinbefördert hatte und seinem Leben einen gewaltigen romantischen Auftrieb verlieh, der ihn wie ein Sturmwind erfaßte und von Lemberg bis Krasnojarsk, von Tscheljabinsk bis an den Baikal wirbelte, der ihn von Moskau nach Archangelsk und Berlin trug – einen Funken, einen brennenden Span – und neue gewaltige Feuersbrünste entfachte: das große internationale europäische Kataklysma. In seinem Inneren kannte Kunej keinen Zweifel. Unduldsam, haßte er alle jene Köpfe, alle jene Beweise und alle vernagelten Menschen, deren Ansichten und Gedankenklischees nicht mit seinen eigenen betonharten, auf den Traversen einer fünfundzwanzig Frühlinge jungen Logik aufgebauten Systemen übereinstimmten. Das ganze Leben dieses unseres pannonischen Zwischenstromlandes war in Kunejs Augen derart zersetzt und morsch, daß er die Vorstellung hatte, man könne eben dieses Leben »binnen vierundzwanzig Stunden« beliebig ummodeln und daraus machen, was immer man wollte. »Umpflügen müßte man diese heimtückischen Sümpfe wie eine einzige ungeheure Riesenfarm, an den Flußläufen elektrische Kraftwerke errichten, das ganze Land mit sieben Milliarden Volt in Licht tauchen, gewaltige 160
Aerodrome anlegen, auf denen Flugzeuge der Luftlinien Velebit-Shanghai-Peking-London landen würden und die Fluglinien Helsingfors-Karthago-Kongo! Arbeiten muß man, arbeiten!« Zutiefst empfand Kunej den fundamentalen Widerspruch zwischen unserem kleinbürgerlichen armseligen Provinzleben und den großen europäischen Fragen und Projekten, und er wütete gegen dieses schläfrige, langweilige, noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts steckengebliebene Leben unserer Heimat, gegen die Zeit, da die Bücher mit altmodischen Holzschnitten illustriert waren und die Eisenbahnlokomotiven auf gedrungenen Leibern flache tellerförmige Rauchfänge trugen, die den Trichtern der unmodernen Kaffeemühlen ähnlich sahen. Er haßte dieses dahindämmernde idyllische Land, wo in den Dorfschenken auch heute noch ängstlich von toten Räubern geflüstert wird, die im Jahre » vierundsechzig « unter der oder jener Brücke der Post»Diligence« auflauerten, und wo in den sogenannten »besseren Häusern« die Zimmerdecken der Salons mit Stieglitzen und Rotkehlchen, die auf rotweißblau bebänderten Zweiglein sitzen, bemalt sind. Die Herren schmieren sich Brillantine fingerdick in den Schnurrbart, lecken sich die Lippen nach jedem »Gespritzten«, rülpsen in tiefem Baß, während »holde Mädchenblüten« verschimmelte und vergilbte Schmöker lesen, wo »Liebe« sich auf »Triebe« reimt und »Herz« auf »Schmerz«. Tag und Nacht wird auf pannonische Art gefährlich gefressen: »Pitas« und Backhendel, Palatschinken, verschiedene Strudel und faschiertes Fleisch, gebratenes Fleisch, bluti161
ges Fleisch, Fleisch und immer wieder Fleisch! Schweine grunzen, in den Kellern gluckst der Wein, Kühe brüllen unter dem Metzgerbeil, Ziehharmonikas greinen, Kirchenglocken läuten, man lebt wie im Traum, so idyllisch, als wären nicht bereits all die kristallklaren Formeln über Geld, Ware, Profit und Materialismus gefunden worden. »Und die Intelligenz? Was ist das schon für eine Intelligenz? Bei uns gibt es gar keine! Es hat auch niemals eine gegeben. Was ist das schon für eine Intellektuellenschicht, der Teufel hol sie, je früher desto besser! Fette Pfaffen, die mit sentimentalem Augenaufschlag behaupten, sie wären schlechter bezahlt als die Proleten, ja, eigentlich wären sie die Proleten – während sie doch ganze Wagenladungen voller Schinken und Mehl als Kirchenabgaben und Naturalsteuern nach Hause schleppen. Dann irgendwelche Dummköpfe, Schreiberlinge und Speichellecker – abscheuliche Streber und Beamtenseelen, aber keine Schriftsteller! Oder magyarenfreundliche Politikanten, die früher einmal das Volk an die Budapester Magnaten und Bankiers verkauften, ganz so, wie sie es heute an die jetzigen politischen Machthaber verkaufen, die sie ihrerseits morgen wieder an eine neue Konjunktur verschachern werden, ja, an den Leibhaftigen selbst, wenn es dafür nur klingende Dukaten und Orden gibt! Oh, diese unsere frischgebackenen, ad hoc ernannten Landesverweser, diese Obergespane, die ihren ›Preference‹-Partien und königstreuen Jakobiner-Ideologien, unsere römischkatholischen Gottesleugner … Sind das alles etwa Intelligenzler? Leute, die aus einer überfahrenen Kröte ein Problem machen! Sentimentale Ärzte, die nicht wissen, 162
was sie eigentlich wollen! Das alles gehört auf den Kehrichthaufen wie altes Gerümpel!« Zum fünfhundertundfünftenmal steht Kunej so vor den schwarzen Menschenmassen und spricht zu den Leuten hinter dem Pflug und aus der Fabrik, wie man sie angetrieben hatte, sich gegenseitig tierisch abzuschlachten, und daß an allem die Bankiers, die Minister und die Generäle schuld sind! Von Limousinen spricht er, von Ausfuhrbewilligungen, von Berlin, Paris und Moskau. Davon, daß wir die Sklaven Österreich-Ungarns waren und die Serben Sklaven und Marionetten von Paris und daß wir auch heute nicht befreit sind, denn es geht ja nicht darum, ob die Zeitungen schreiben, daß wir jetzt frei sind oder nicht, sondern darum, ob wir in Wohlstand leben oder ob unsere Taschen so leer sind, daß wir unsere Arbeitskraft verkaufen müssen – davon schreiben die Zeitungen allerdings nichts. Und er spricht zum Volke, man müßte den Großgrundbesitz zerschlagen, alle Banken in einer einzigen Nationalbank zentralisieren, die Gewerkschaften organisieren, den Boden den Bauern geben und die Fabriken den Arbeitern. Und während er so redet, ist ihm, als hielte er die Griffe des Pflugs in den Händen und bearbeite den Acker. Fahnenträger ist er, der die Fahne einer neuen Zukunft hier in diesem altväterlichen eingeschlummerten Königreich aufpflanzt, wo überall auf den Wegkreuzungen der blecherne Christus hängt und wo noch heute, da Spartakus sich auf fünf Kontinenten erhoben hat, Feuerwehrfeste gefeiert werden mit Tamburitza-Kapellen und Feuerwerken. * 163
Es war schon tief in der Nacht, und immer noch dreht sich das Gespräch im Sterbezimmer des verstorbenen Stationschefs um die gleiche Frage: Kann das Leben geändert werden, kann es sich in etwas anderes verwandeln, etwas Höheres, Intensiveres, als es heute ist? Analytische Thesen wurden aufgestellt, die dieses unser gegenwärtiges Leben behandelten, dieses irrsinnige Chaos, und der Doktor behauptete unentwegt, daß der einzelne absolut nichts unternehmen, nicht helfen und nichts vorwärtsbringen könnte, auch nicht den Lauf der Dinge bremsen oder verlangsamen oder ihm Einhalt gebieten. Alles, was er tun kann, ist, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen und zu verspielen. Was ihn persönlich anginge, hätte er die Nase voll und sei entschlossen, auszuwandern. Er stehe im Briefwechsel mit einer kroatischen Kolonie in Kalifornien und wolle schon in diesem Herbst emigrieren, um dort drüben an der Küste des Ozeans ein neues Leben zu beginnen, ein Leben ganz auf sich gestellt, völlig abgeschnitten von der Welt und von diesem Chaos, aufzuatmen wie ein Wiedergeborener und ganz von vorn zu beginnen. Was hätte er auch hier zu suchen, zwischen diesen betrügerischen Geschäftemachern und politischen Konjunkturrittern, nachdem er weder ein Betrüger noch ein Geschäftsmann sei? Trübe dreckige Wasserläufe fließen durch unsere verschlammten Gräben, geschmacklose Städte sind im Bau, mit endlosen steinernen, von grünen Gaslaternen beleuchteten Straßengevierten. Zweistockhohe, dreistockhohe, fünfstockhohe Gebäude wachsen im Fieber des Aufbaus empor, 164
und diese Betonmassen, diese Traversen und Balken, die Maurer und die Banken – dies alles verstellt dem Menschen den Weg, denn dies alles ist erst im Werden – Leben, das eben erst entsteht und organisiert werden muß. Das Ergebnis – wer kann es heute voraussagen ? Ihm aber, als Subjekt genommen, liegt nichts, aber schon gar nichts an dieser Art von Leben, das erst nach sieben oder siebzig Jahrzehnten ordentlich organisiert sein wird – und selbst das ist noch fraglich. Bei diesem ewigen Geschiebe und Geschleppe, dem Geknarre der Transportfuhren, in Wolken von Kalk und Mörtel, Gips und Staub, bei Politik und Automobilunfällen, Nachtlokalen, Weinstuben und Selbstmorden gibt es kein Leben für einen, der sich nur in der Mittagsstille eines Waldes wohl fühlt. Das Meer braucht er, Tannenwald, tiefe Schatten von Nadelbäumen. Börse, Parlament und Presse hat er satt – bis daher –, das alles ist für ihn wesenlos geworden, widerlich, kotzt ihn unaussprechlich an. Deshalb will er auswandern und alles zum Teufel schicken! Kunej fand diese Ansichten kleinbürgerlich, sentimental, weibisch und eines Mannes unwürdig. »Denn was ist denn das alles, was wir da heute haben? Eine konjunkturelle Prosperität, das kann man nicht leugnen. Das wirtschaftliche Leben jedoch muß mechanisch aufgefaßt werden. Wir haben also jetzt diese Konjunktur einer scheinbaren Prosperität. Doch nach dem gleichen Prinzip, nach welchem ein in die Höhe geworfener Stein der Wirkung der Schwerkraft unterliegt, wirkt auch auf die Konjunktur einer scheinbaren Prosperität die Schwerkraft der Krise ein. In dem gleichen Augen165
blick, da die Grundlage, auf der die Konjunktur beruht, wegfällt, beginnt ihr Fall, der (wie es aus den irdischen Gesetzen bekannt ist) einer neunkommaachtfach wachsenden Beschleunigung unterworfen ist. Die Dinge bewegen sich also von der Prosperität zur Katastrophe hin, und dieser Zusammenbruch ist um das Neunkommaachtfache beschleunigt: wir stürzen von Tag zu Tag immer schneller der Katastrophe entgegen. Und zwar mit mathematischer Sicherheit. Auch die Schwerkraft der Ökonomie hat ihr Gleichgewicht und die Beschleunigung ihres Falles in Richtung auf die kritischen Zonen, wo sich die Menschen gewöhnlich unverhältnismäßig blöder als etwa ein Huhn zu verhalten pflegen. Das ist doch sonnenklar. Und da noch lyrischen Stimmungen nachzuhängen und sich nach stillen Meeresgestaden zu sehnen, ist nicht männlich.« Er hielt es seit geschlagenen sieben oder acht Jahren anders! Aus dem Gymnasium auf die Anklagebank und ins Gefängnis, aus dem Gefängnis in die Kaserne, ins Lazarett, in die Gräben, an die Front! Und wieder in russische Lazarette, in sibirische Gefangenenlager, wieder nach Odessa, an die Front. Dann die Revolution. Mit einer revolutionären Batterie nochmals nach Sibirien. Dann die Revolution in Europa, zurück hierher in die Gefängnisse. Was ist das doch für ein furchtbarer Teufelskreis! Wenn er so zurückblickte auf diese schweren sieben Jahre, denkt auch er manchmal, es wäre an der Zeit, sich irgendwo zur Ruhe zu setzen, zu rasten, für eine Weile aufzuatmen. Aber wo Halt machen? Wo ausruhen? Da – auch jetzt sind 166
sie ihm auf den Fersen! Schon wieder ist ein Steckbrief ausgestellt, und er kam nur hierher, um seine alte Mutter zu sehen, achtundvierzig Stunden lang sich auszuschlafen – denn die Polizei wisse nicht, daß seine Mutter noch hier lebe. Und nachher wieder weiter, wie Ahasver! Ja, so ist es eben! Da gibt es kein Überlegen! Das muß ertragen werden! Einer muß auch das auf sich nehmen! Daß diese Lebensweise aber bedeutet, sein Leben aufs Spiel zu setzen und zu verspielen, darüber gibt es natürlich auch keinen Zweifel. Es bedeutet, mit seinem Leben abzurechnen, den Schwamm zu nehmen und sich von der Tafel zu löschen, wie Kinder es tun, wenn sie »Eselein« spielen und sich selber einfach auslöschen. Jawohl! Und das ist nicht leicht. Es wäre eine Lüge, wenn einer behauptete, es wäre leicht. In solchen menschlichen Krisen werden finstere, subjektive Stimmen des Zweifels laut, Stimmen der Versuchung, die dir zuflüstern, daß es um dein Leben geht, dein einziges, einmaliges Leben – doch solche Krisen werden überwunden. Eine seiner schwersten persönlichen Krisen habe er vor einigen Nächten durchgemacht, am Meeresstrand. Es war in einem Olivenhain. Hier in diesem Olivenhain brach bei ihm wörtlich der Todesschweiß von Gethsemane aus. Es ging nämlich darum, daß er verprügelt werden sollte. Kunej trank einen Schluck Schnaps und begann zu erzählen, wie das gewesen war, als er sich in dem Olivenhain befand wie Christus am Ölberg, und darauf wartete, daß sie kämen, um ihn zu holen und blutigzuschlagen. * 167
Einige Tage vorher war er in den Talkessel des Kvarner niedergestiegen. Der Himmel war dunkel, die ersten Grillen meldeten sich, die ersten Kirschbäume blühten. In den Waldrevieren war ein Streik ausgebrochen, Brände flammten auf, und dann standen die Bauholztransporte im Hafen still; auch in den Eisenbahnwerkstätten hatte eine verdächtige Bewegung begonnen; da hatte das Grenzkommando den Befehl gegeben, Kunej zu verhaften und ihm einen tüchtigen Denkzettel zu verabreichen. Jemand, der im Grenzkommando an der Demarkationslinie gegen Italien Dienst tat, warnte Kunej, nicht in sein Hotel zurückzukehren, da man ihm dort auflauern und ihn noch in der gleichen Nacht bis aufs Blut verdreschen wolle. Er kehrte also nicht ins Hotel zurück, sondern ging ins Dunkel hinaus, dem Meer zu, Setzte sich in einem Olivenhain auf einen Felsbrocken und horchte auf das dumpfe und tiefe Donnern des Schirokkosturmes. Volle vier Jahre hatte er das Meer nicht gesehen, die grüne Wassermasse hatte es ihm schon immer ungeheuer angetan, hatte die gefährliche Selbstüberschätzung aus seinen Gedanken hinausgespült, und er hatte am Meeresstrand, ergriffen von dem gewaltigen Horizont der Erdkugel, empfunden, daß die Erde ein Stern und auf diesem Stern ein Einzelwesen ein völlig bedeutungsloses Nichts ist. Doch diesmal waren weder Meer noch Sterne zu sehen, alles war bleischwer und schwarz. Wütend schäumte das Wasser, und in der sturmgepeitschten Finsternis hatte alles ein schmutziges und häßliches Aussehen. Kunej fühlte sich zutiefst gedemütigt, als hätte ihn einer mit Füßen getreten, ihm ins Gesicht gespuckt, er krümmte sich un168
ter der Woge des schwarzen Frühlingswindes und starrte gedrückt und gebrochen in das Wasser. Alles in ihm war in Aufruhr. Er wollte aufstehen, die Arme heben und in den Sturm schreien, um das Gebrause zu übertönen, aber nur bittere Galle stieg in seinen Mund, und er schluckte daran und rang so mit sich bis nach Mitternacht. Das letzte Mal, als er hier am Kvarner gewesen war, hatten die Kanonen gedonnert, er aber hatte im Spitalshemd des gemeinen Soldaten der Militärmusik gelauscht, die von der mit Lampions und bunten Lampen erhellten Terrasse des Lazaretts herübertönte. Auf der Terrasse tranken Marschälle und Generale kostbare Weine, küßten schöne Frauen und feierten den Sieg. Er aber saß auf einer Felsenklippe unterhalb der Terrasse, mit dem Revolver in der Hand (welch bizarre Albernheit – aber so war es eben), und kämpfte einen Kampf in seinem Innern aus, ob er diesen versoffenen, vertierten Kondottieri eins auf den Pelz brennen sollte, um ihnen zu zeigen – hungrig, krank und tuberkulös, wie er war –, daß es doch noch einen gab, dem sie Abscheu einflößten und der ihnen ins Gesicht spie. Damals hätte er nicht einmal im Traum gedacht, daß die Internationale der Kondottieri so stark wäre. Er hätte sich nicht vorstellen können, daß er immer noch auf diesen gleichen Felsen sitzen und sich in ohnmächtigem Haß verzehren würde, wenn von diesen Marschällen und Generalen keine Spur mehr übrig wäre – ihm selbst aber andere Kondottieri auf den Fersen sein würden, um ihn halbtot zu prügeln! Wie widersinnig das alles doch war! Damals war er, vom österreichisch-ungarischen Militärtransport von der Bucht des Kvarner in die Sümpfe des 169
Weichselgebietes geworfen, noch ein letztes Mal nach Fiume gekommen und hatte sich dort vollgesoffen wie ein Faß. Was doch das Leben für exzentrische Tollheiten mit sich brachte! Mit einer Rotte betrunkener Infanteristen, Matrosen und Kavalleristen (die alle gleich ihm aus dem Lazarett hinausgeflogen waren und in neue Skandale und in neues Blutvergießen hinein, um als frische Reserve gegen den Durchbruch des Generals Brussilow eingesetzt zu werden) betrank er sich bis zur Besinnungslosigkeit bei den Mädchen, schluchzte laut und schlug den Kopf gegen den Fußboden. Dort irgendwo, in einem jener steilen südlichen Gäßchen, wo rote Laternen mit mattem Lichtschein schwelen, hatte er mit unwiderstehlicher Gewalt an Fran Supilo denken müssen und die ganze Hoffnungslosigkeit seines »Apostel-Konzeptes« empfunden. (Sie waren noch bartlose Buben in den unteren Gymnasialklassen gewesen, als sie, begeistert von Supilos Romantik, die Fenster der Magyarentümler einschlugen und bei patriotischen Umzügen Fackeln trugen.) Im trunkenen, tollen, rasenden Rausch des Bordells dämmerte ihm auf, wie weit entfernt dies alles von unseren politischen Idealen der Vorkriegszeit war, und er fühlte ganz verzweifelt, was es bedeuten mußte, ein armseliger, kropfiger Autodidakt zu sein – Apostel und selbstbestallter Vertreter unbekannter Volksstämme am Balkan – und im panischen Angstschweiß in den Vorzimmern schwarzer, grausamer und zynischer internationaler Kabinette herumzustehen. Inmitten dieser Meute besoffener Militärs, beim Kreischen der beschwipsten Mädchen und dem Rasseln der schweren Kavalleriesäbel sah er (zum ersten Mal) klar 170
diesen unseren »Apostel« in einem vergoldeten Vorzimmer, voll stummer goldbetreßter Lakaien mit fünfarmigen Kerzenleuchtern in den Händen, stehen und Blut schwitzen. Seine Handschuhe sind sicher drei Nummern zu groß, die Stärke seines steifen Hemdkragens löst sich im plebejischen Angstschweiß auf, in der Brust spürt er ein Würgen, und er krümmt sich zu einer Parabel zusammen vor dem Schlüsselloch an der Rokokotüre, an die er pocht wie ein lahmer Invalide, um vor das Antlitz einer der »hochmögenden« Exzellenzen im Ministerfrack treten zu dürfen. Eiskalte Augen hat dieser schwarze Frack – dieser abscheuliche Repräsentant westlicher Banken und großstädtischer Zivilisation, dieser bezahlte Anwalt der internationalen Lüge. Die Schnurrbarthaare dieser blutrünstigen Bestie, dieses internationalen Herrn und Diplomaten sind grau wie Borsten einer abgenützten Zahnbürste. Für ihn bedeutet unser ganzes »Apostel-Problem« nichts – aber schon gar nichts – als bloß einen unbekannten fremden und dunklen Fleck auf der ethnographischen Landkarte der Balkan-Halbinsel. Und dennoch ist dieser halbe Krüppel und Apostel der Fürbitter der betrunkenen Kavalleristen, rasenden Matrosen, der Dirnen aus den engen Gäßchen – und dieses ganzen elenden unglücklichen Stückchen Lebens mit seinem gepanschten Wein und seinem stinkenden Kaffee! Und auch für ihn bittet er, für Kunej, den Infanteristen ohne Rang, der jetzt als österreichischer Soldat nach Galizien fährt, um-gegen die Kosakendivisionen des Generals Brussilow eingesetzt zu werden. In diesem Lichte sah Kunej alles in jener Nacht, da er laut weinend und klagend, 171
Jeremias dem Propheten gleich, mit dem Kopf gegen den Fußboden des Bordells schlug. Nun, und was ergab sich dann? Es stellte sich heraus, daß gerade diese »apostolischen« Methoden Fran Supilos die einzigen und richtigen waren! Der »Apostel« jedoch hat den Verstand verloren! Er ist gestorben! Er mußte ja sterben, es war das einzig Folgerichtige – ein Mensch muß ja den Verstand verlieren, verrückt werden unter diesen Umständen, und unter den Bedingungen dieser unserer rückständigen verelendeten Balkan-Misere konnte einfach nichts anderes geschehen als eben dies! Entweder man verliert den Verstand, oder sie schneiden einem die Gurgel durch, so daß er nur noch zwei oder drei Tage mit Hilfe eines Röhrchens atmen kann; oder aber er krepiert vor Hunger. Alles Schwarz in Schwarz! Einmal steht dann ein Gymnasiast auf, so einer mit dikken Brillengläsern, und schießt auf einen österreichischen oder ungarischen, mit Sägespänen ausgestopften Hanswurst. Eine Handvoll Sägespäne fließt aus dem Loch heraus, doch der Hanswurst bleibt auch weiter auf seinem goldenen Sessel sitzen, als wäre nichts geschehen, der Gymnasiast jedoch stirbt nach zwei Jahren an der Auszehrung! Ein anderer junger Bursche taucht auf, kritzelt in den Spalten der Provinzzekungen herum, segnet das Zeitliche, stirbt!! Er erklärt dem Archimandriten, daß die’Kirche eine Art stumpfsinniges und überholtes unnützes Theater ist, er wendet sich an die Menschen aus dem Volk, stellt sich kirchlichen Prozessionen in den Weg – und das Volk steinigt ihn! Kränkelnde Studenten, Schriftsetzer – Autodidakten erheben sich, ein 172
Haufen Elend! Wie im Delirium, aus schweren Träumen erwachend, sprechen sie die eine oder die andere offensichtliche, klare Wahrheit aus. Doch sie werden in Eisen geschlossen und eingesperrt. Hundert Jahre lang rasseln die besten, die einzigen wahren Männer unseres Volkes mit ihren Ketten! Wie naiv war es doch von ihm gewesen, auf betrunkene österreichische Kondottieri schießen zu wollen! Dem »Apostel« nachzuweinen! Dies konnte keine Lösung sein! Alles blieb auch weiter, wie es war. Die Hausdurchsuchungen, die Polizei, die Detektive, die Verfolgungen und die Protokolle – alles bis aufs Haar gleich wie früher. Wer könnte beweisen, daß diese Hausdurchsuchungen und diese Detektive nicht die gleichen Hausdurchsuchungen und Detektive wie anno dazumal waren? Was machte es ihm schon aus, daß heute an der Spitze des Apparates Provinzler, die mit Zwetschgen, Kerzen und Honigkuchen handelten, und analphabetische Journalisten standen, gestern aber der gleiche Apparat von albernen österreichischen Baronen und Paralytikern beherrscht wurde? Er war gestern ebensowenig Baron gewesen, wie er etwa heute ein Lebzelter ist und einen Handel mit Talgkerzen, Gewürznelken oder mit Politik treibt. Gestern wie heute war er das Objekt von Verfolgungsmaßnahmen. Offene Briefe! Nicht enden wollende Untersuchungen darüber, was er denkt und wo er sich bewegt! Ständig von Detektiven beschattet! (Was die wohl nur für Unsummen ausgeben mochten? Wenn sie das viele Geld lieber für Unterstützungen kranker Studenten verwenden wollten! 173
Oder zur Bekämpfung des Analphabetentums!) »Man hat Sie wieder gesucht«, sagt ihm seine Hausfrau, eine nervöse Dame und gute Katholikin, die jeden bedauert, auf den Jagd gemacht wird. »Wer hat mich gesucht?« »Ein Detektiv! Schon wieder waren sie hier.« »Wer war hier?« »Die Detektive! Alle Bücher hat man Ihnen wieder weggetragen. Die Tischlade haben sie eingeschlagen und das Vorhängeschloß vom Koffer abgerissen! Gottes Zorn soll sie treffen!« »Denen ist alles gestattet, meine liebe Dame, die dürfen sich alles erlauben!« Warum zum Teufel suchen sie ihn bloß? Hat er ihnen nicht so oft schon geschrieben und auch ins Gesicht gesagt, was er von ihnen hält? Daß sie das Ideal unserer Jugendtage zu einer skandalösen Fratze verzerrt haben, der scheußlichsten, die man sich denken konnte! Alles geschändet haben, was in diesem Land heilig, licht und beschwingt schien! Was wollten sie denn jetzt noch von ihm? Sollte er etwa in ihre Reihen treten, sich einen hohen Orden um den Hals hängen und in der zweiundzwanzigsten Paradekutsche des spanisch-zeremoniellen Paradezugs mitfahren? Artikel schreiben darüber, wie alles, was sie taten, staatserhaltend und weise sei? Verdammte Idioten! Vertrottelte Maschinen! Nicht einmal ausspucken konnte man, ohne einen Detektiv oder eine jener feigen Kröten zu treffen! Und nicht nur ihm allein erging es so, sondern allen seinen Freunden und Bekannten. Der eine hatte ihm durch einen Boten Nachricht aus 174
einem elenden Gebirgsdorf geschickt, wo man die Bären brummen hört, siebzig Kilometer von dem nächsten Postamt entfernt. Keine Briefe dürfe er schreiben, keine Spaziergänge machen, fünfmal täglich habe er sich beim Gendarmerieposten zu melden! Ein anderer, der so romantisch veranlagt war, daß er zwei Liter eigenes Blut in den Balkankriegen vergossen hatte, liegt sei dem ersten Tag, da wir in diesem Land erwacht sind, in Ketten. Noch ein anderer von Kunejs intimen Genossen sitzt niedergeknüppelt und wundgeschlagen in den Kasematten; seine Schwindsucht hat er noch in den Kasematten Österreich-Ungarns bekommen! Und viele andere noch, eine namenlose, eine nicht enden wollende Menge! Kerker! Kerker, immer und ewig! Von frühester Jugend an bis auf den heutigen Tag Gefängnisse und nichts als Gefängnisse! Und was das merkwürdigste an dieser Geschichte ist: daß es immer die gleichen sind, die einkerkern, und die gleichen, die eingekerkert werden! Im Grunde war es gar nicht so merkwürdig – nur natürlich! Zwei Linien der Klassen-Gesellschaft – alles übrige ist bloß Lüge und Verbrämung dieser Lüge! So zermarterte Kunej sich den Kopf in jenem Olivenhain, doch waren es keine geformten Überlegungen – alles in seinen Gedanken wogte durcheinander wie das schwarze Element im Südsturm zu seinen Füßen: das Hotelzimmer mit dem flimmernden Talglicht und den Wanzen, die über die Wände krochen, der ungeschlachte Offizier mit der Metzgervisage, der im Cafe gespornt und mit umgeschnalltem Säbel vor dem Billard stand – ein Bär von einem Mann, ein Viechskerl, der mit Unschulds175
miene die roten und die weißen Kugeln auf dem grünen Tuch hin- und herstieß und sich insgeheim anschickte, ihn, Kunej, zuschanden zu schlagen … die schwarzen Zypressen und Olivenbäume, die sich wanden und bogen und Detektiven glichen, geheimnisvoll miteinander raunend, die tiefschwarze, dickflüssige Masse des Meeres – dies alles wogte und flutete in Kunejs Seele wie eine Überschwemmungskatastrophe, eine Sintflut. Doch die ganze Zeit über fühlte er den tiefen Wunsch und den erheblichen Willen, diesen Sturm zu bezwingen, festen Halt unter den Füßen zu gewinnen, sich hinüberzuretten zu etwas Zuverlässigem, Handfestem, woran er sich anhalten könnte – sich durchzuringen zu einer Formel, einer Feststellung, um Atem schöpfen zu können nach dieser Beklemmung, diesem Asthma, das sich auf seine Brust gelegt hatte und ihn zu ersticken drohte. Die gewaltigen Steintrümmer des nackten Karstes ragten in kräftig gezackten Konturen ins Dunkel wie die mächtigen Zinnen einer titanischen Burg. Alles schien sich in jener Nacht in einem heimlichen verbrecherischen Einvernehmen zu ducken und den Atem anzuhalten: die schwarzen Geschütze am Grenzstrich der Demarkationslinie, die Verlassenheit der erloschenen Leuchttürme auf dem nackten Gestein, der tote Hafen mit seinen Ankerketten, an welchen die angebundenen Segelboote knatternd im Winde zerrten, schwankend auf der grün und schwarzblau gestreiften Aquatinta der Schirokkowellen, die sich im Licht eines fernen Wetterleuchtens am Ufer brachen, und dazu das hellerleuchtete Hotel – alles das war wie eine scheußliche Vision, eine Erscheinung, als 176
hätte sie der Leibhaftige in seiner finstersten Laune ausgedacht. Eine wahre Teufelsmühle, dieses Hotel: Bäche von Licht sprangen aus den Balkons und Fenstern und ergossen sich in den Olivenhain, Musik quoll hervor, und Schatten krochen über die Vorhänge, Schatten abscheulicher Polizeiagenten und Schwarzhändler, die von Valuten und Waggons voller Schmuggelware flüsterten, dicke Zigarren kauten und schwere Ringe mit blitzenden Edelsteinen, groß wie Haselnüsse oder wie Hagelkörner am Eliastag, trugen; Schatten von Zollbeamten, ehemaligen russischen Großfürsten und aristokratischen WrangelOf-fizieren, die jetzt als Gen’darmen den Dienst yersahen, und Schatten ihrer halbnackten Damen in Seide und Pleureusen, Schatten von Zigeunern und Operetten-Marineoffizieren in weißen Leinenuniformen – ein alberner Karneval in einem Hotel, wo Detektive auf ihn warteten, mit Rippenstößen und Flüchen und Handfesseln, die bis aufs Blut ins Fleisch schneiden! Und hier draußen wehte der Wüstenwind aus der Sahara, wehte ihm Gesteinssplitter und spitze Staubkörnchen in die Augen, verstopfte seine Poren mit Teerteilchen. Lastwagen knarrten, und die Fuhrleute stießen anhaltende Juchzer aus, urtümlich wie Steinzeitmenschen. Es rauschen die Olivenbäume am schwarzen Ölberg, das Meer brandet an die Küste, und über die mariatheresianische Straße rollt die Ware. Langgedehnt juchzen auf ihrem Weg nach Süden die Fuhrleute vom Kastell in der nördlichen Provinz, das auf sechshundert Türkenschädeln dereinst errichtet wurde; die Ware rollt auf kreischenden Radnaben der Fuhrwerke, durch Wälder, 177
darin noch Wölfe hausen, und alles ist verpestet – das ganze Land – mit Schlamm und Kot und Gendarmeriestreifen; aus jedem Busch blitzt ein blankes Messer… Und das dunkle Meer, die drohenden Hiebe – nur hinaus von hier, fort! Doch wie – und wohin aus dieser Mausefalle? Eine einzige grundlegende Lösung gibt es allein für alle verwickelten und alle chaotischen Zustände, das ist die Formel: Ware-Geld-Ware und umgekehrt: GeldWare-Geld! Übrigens hat das schon Aristoteles gewußt und nicht erst Marx! Und wo ist heute Aristoteles geblieben, zum Teufel noch einmal! Diese beiden Formeln müßten in den Elementarschulen gelehrt werden, parallel und gleichzeitig mit dem Einmaleins! Ware-GeldWare. Dann wüßten die Menschen, woran sie sind, und alles wäre geklärt – das ist doch einfach! Wie aber diese Formel auf seine bestimmte Situation hier im Olivenhain anwenden? Wie sie anwenden auf tausend und abertausend Verwicklungen und Verknotungen, mit denen sich eben jetzt in dieser gleichen Minute nicht bloß er, sondern zahllose andere Menschen herumschlagen, in diesem Raum zwischen der Demarkationslinie und dem Kastell und überhaupt im ganzen Land? Die schlaflosen Nächte und alles Leid der hungrigen Streikenden sind objektiv wirkliche Tatsachen, unwiderruflich erlebt und abgeschlossen. Für vergossene Tränen gibt es kein Heilmittel. Wie soll nun der Konflikt in dem Transportunternehmen Hainisch und Compagnie gelöst werden? Die einen schreien, der alte Hainisch sei ein Schuft, weil er 178
sich pro Kubikmeter bezahlen läßt, seine Leute hingegen pro Tag entlohnt. (Ganz logisch im übrigen – das ist das Prinzip des Profits!) Die Arbeiter wollen jetzt auch pro Kubikmeter entlohnt werden. (Ebenfalls vollkommen logisch – die Abwehrmaßnahme des Arbeitssklaven und der ausgebeuteten Arbeitskraft!) Sehr richtig! Wenn ihm nach Raummeter, dann auch ihnen nach Raummeter! Da bleibt ihm immer noch ein Reingewinn von dreihundertsechzigtausend! Natürlich gibt der alte Hainisch nichts her von seinem vorkalkulierten Siebenhunderttausend-Profit! Wie sollte er sich auch mit dreimalhunderttausend begnügen? Um ganze vierhunderttausend weniger! Und so wirft er eben dreihundertzwanzig Arbeitssklaven (mitsamt einer ganzen Karawane von Kindern und Frauen) auf die Straße und läßt unter militärischer Assistenz im Schutz von Maschinengewehren weiter im Taglohn arbeiten! Sollen sie bloß versuchen, sich an der Arbeitsfreiheit zu vergreifen! Niederschießen wird er sie wie tolle Hunde! Ohnmächtig stehen sie da, die ausgesperrten Arbeitssklaven, und irgendeiner aus der Menge berichtet, er hätte gehört, das Hotel habe einen Brief von einer Gräfin erhalten, in dem sie zweiundzwanzig Zimmer für sich reservieren ließ. Und ein anderer sagt, es wäre ihm schon zu dumm, hier zu leben; in Rußland hätte er es besser gehabt. Dort hätte an der Wand seiner Kaserne eine Inschrift gehangen, auf der stand: »Ehre dem Andenken Platos, dem Schriftsteller der Republik! Ewiger Ruhm Thomas Moore, dem Autor von Utopia! Es lebe Lavoisier! Es lebe Babeuf!« Dort 179
hätte er den Rang eines Offiziers gehabt, hier aber müsse er beim Hainisch arbeiten! Viel lieber würde er dorthin zurückkehren als hier krepieren! Und alle stehen da wie verprügelte Hunde und erwarten Hilfe von Kunej! Doch er, Kunej, ist ja ein ebenso armer Hund wie sie, nur noch siebenmal öfter verprügelt! Wie sollte er ihnen helfen können? Wie liebt er sie doch, diese schwarzen, analphabetischen, armen Menschen! Mit vulkanischer Gewalt bricht aus ihm diese Liebe für das versklavte balkanische Menschenfleisch hervor! Der Schmerz preßt ihm die Kehle zusammen, und er ringt verzweifelt mit sich selbst, um nicht laut aufzuschreien! Er war zusammen mit einem amerikanischen Heimkehrer und dessen Familie hierhergereist. Siebzehn Jahre hatte der Mann in den Minen (»Mains«) und den Stahlgießereien von Los Angeles gearbeitet und kehrte jetzt krank und ausgepumpt mit der Frau und fünf kleinen Kindern ins Vaterland zurück, um sich auf der Heimatscholle ein Haus zu bauen und wie ein Mensch zu leben. Die Kinder hatten neue gelbe Schuhe an den Füßen und aßen Keks und Schokolade. Ihre Münder waren mit klebrigem Keksbrei verschmiert. Das ganze Abteil roch süß nach der Muttermilch auf den Lippen des Säuglings, und alle waren grau und rußverschmiert, verdreckt und gerädert von der langen Fahrt. Da saß er nun, der Mann, in seinem weiten amerikanischen Anzug mit dem Sternenbanner im Knopfloch und einem kleinen kroatischen dreifarbigen Fähnchen über dem bunten Emailabzeichen, und sein gelber kahler Schädel war wie ausgepreßt von Sorgen wegen der 180
Dollars, die er tief unter dem Kurswert eingewechselt hatte. Nachdem der Dollar jedoch wie verrückt in die Höhe kletterte, hatte er seine siebzehn verrackerten Jahre mit einem Schlag verspielt, so gründlich, als hätte er sie zum Fenster hinausgeworfen. Die hinkende Frau in der Barchentbluse, die neben einem kurzsichtigen kleinen Mittelschüler die »Amerikaner« an der Bahnstation erwartete und sofort, wie bei einem Begräbnis, in Tränen ausbrach – dies alles verdichtete sich in Kunejs Herzen zu tiefer, hoffnungsloser Trauer. Er preßte sein Gesicht ans Waggonfenster und blickte auf das armselige Drama auf dem Perron des kleinen Bahnhofs hinab, über dem der Gebirgsregen in Strömen niederging, und dachte, wie doch das Leben, dies unser Leben, schwer sei! Wie arm sie waren, diese Lohnsklaven unserer Heimat, die auf den Börsen der Welt in einer einzigen Minute siebzehn Jahre ihres Lebens verloren! Und wie armselig die Trikolore im Knopfloch über dem Emailabzeichen aus USA! Wie schwer dies alles war, wie mühsam das Reisen in verlotterten Waggons, krank, betrogen, gekreuzigt! Wie arm die hinkenden Frauen in ihren Barchentblusen! Elektrizität täte not! Turbinen! Dampfmaschinen! Ideen! Licht! Diese armen, armen Menschen! Diese unglücklichen Menschen! Als er so dasaß, den Kopf ans Waggonfenster gelehnt, löste sich eine Träne aus seinem Auge, glitt schwer und glitzernd über die Glasscheibe, langsam zunächst, um dann jäh abwärts zu stürzen in einer senkrechten Falllinie, wie ein Regentropfen. Kunej seufzte, riß sich zusammen, tauchte den Finger in das Naß der Träne und 181
setzte schon an, um schwungvoll das Wort »Blödsinn« auf die Scheibe zu schreiben. Doch die Träne verging unter dem Finger, und so blieb bloß ein großes B und daneben ein kleines l auf dem Glas. »Jawohl, mein Lieber! So ist das gewesen! Ich saß auf dem Felsen, und die Eulen schrien von dem schwarzen mittelalterlichen Kastell, aus dem man eine Kaserne gemacht hatte, und an seinem Wall brachen sich die Wellen, und angesichts dieses schäumenden Meeres und Windes erschien mir alles unglaubwürdig und peinlich. In der unruhigen und gereizten Gemütsverfassung eines gejagten Wildes, in der ich mich befand, voll Ungewißheit, ob sie mich fassen würden, nackt ausziehen und blutig schlagen, kaute ich vor Scham auf meinen Nägeln und fragte mich unentwegt, wie schwachsinnig, immer ein und dasselbe: was, wenn das alles nicht tragisch ist, sondern bloß lächerlich? (Dies nämlich: daß das alles einfach lächerlich sein könnte, schien mir in diesem Augenblick wie ein gefährlicher Schlüssel, der mir in einem gegebenen Augenblick dazu verhelfen könnte, ganz allein, für mich, subjektiv und ›solipsistisch‹ in deinem Sinne, ›auszusteigen‹ aus dieser ganzen Situation und für mich persönlich eine Lösung zu finden!) Was dann, wenn dies alles wirklich lächerlich wäre und es all das gar nicht gab, wenn es nicht in diesem Sinn existierte, und nur ich es so sehe, als wäre es so, während es gar nicht so ist, sondern eben bloß lächerlich! Ist es nicht komisch, daß ich hier stehe, mit bloßen Händen diesen mittelalterlichen gewaltigen Geschützbatterien, Kastellen und Wehrtürmen gegenüber, wo bis auf 182
die Zähne bewaffnete Inspektionen auf der Wacht sind! Lächerlich ist es, daß ich diesen schwarzen Analphabeten Dinge vorquatsche und vordeklamiere, die sie nicht begreifen und die letzten Endes diese Leute auch gar nicht interessieren! Was sie interessiert, ist die Lohnerhöhung von zweiundzwanzig Kreuzer zusätzlicher Stundenlohn, und nichts weiter, kein Haar! Ich aber warte hier, daß ich verdroschen werde wegen dieser zweiundzwanzig Kreuzer! So etwas ist einfach komisch! Völlig hilflos bin ich und allein, wo sind die Meinen? Wo die Legionen mit den harten Händen und geballten Fäusten? Wo sind meine Kampftruppen? Wo? Sie schnarchen unter den Federbetten! Sie schnarchen! Diese ironische Betrachtungsweise erschien mir damals auf meinem Ölberg als einzig ehrlich und zulässig. Und ehrlich mußte ich denken bis ins letzte, alles herunterschlucken, wie bitter es auch sein mochte! Wie die Arzneien in meiner Kindheit! In jenem Augenblick offenbarte sich mir wie noch nie zuvor die traurige Verzweiflung unseres Lebens in ihrer ganzen Lächerlichkeit! Die Tragikomik unserer siebzehn Jahrhunderte alten Verzweiflung hier auf dem Balkan! Es donnerte und blitzte, und bei jedem grünlichen Blitz (dem ein tiefes, zwischen Felsklippen widerhallendes Grollen folgte) gähnte vor meinen Augen der abgründige Teer der schroffen Karstfelsen über dem tobenden, schäumenden wüsten Meer. Jawohl – dies war jenes ›Unsere‹ – unser ›Ureigenstes‹! Das allein! Fels, Donnerschlag, nackter Stein! Auf diesem Boden haben wir uns schon immer gegenseitig bekämpft und zerfleischt wie wilde Tiere, auch heute noch zerfleischen und bekämpfen 183
wir uns gegenseitig in Lumpen und Opanken, wie wilde Tiere! Nur das Meer rauscht dazu, der Wind heult, und das schwarze Gestein ragt schweigend in den Himmel und sieht zu. Die Handvoll Miniaturmaler aus unserem Volk hingegen, und unsere Philosophen – Reformatoren und Gegenreformatoren –, die an den Universitäten von Ravenna und Pisa bis Amsterdam und Rom gelehrt hatten, standen auch schon damals im gleichen Mißverhältnis zu dieser Welt pechschwarzen Gesteins, zu diesem Zwingturm am Meer und dem tobenden Element, wie die Kulturmenschen unserer Zeit der heutigen Wirklichkeit gegenüberstehen. Und wer dieses Mißverhältnis nicht sehen will, der macht sich lächerlich! Ebenso lächerlich war es auch damals schon, in den Tagen, als Österreich in Karlovac und Varašdin strategische Stützpunkte errichtete und die Arkebusiere des Banus von Kroatien zusammen mit spanischen Söldlingen säbelklirrend und kanonenrasselnd ihre Lager in diesem armen Land aufschlugen, unter solchen Umständen so etwas wie einen Lichtbringer Europas spielen zu wollen. Und ebenso lächerlich ist es auch heute. In dieser Stimmung, während neben den erloschenen Leuchttürmen und den schwarzen Kanonenschlünden die aneinandergebundenen Segelschiffe an ihren Ketten knirschten und stöhnten, kam die Versuchung und Prüfung über mich: Wie ein jäh aufsteigender Blutstrahl schoß mir der Gedanke an Flucht in den Kopf, das unwiderstehliche, tiefe Verlangen, mich in deine ›imaginäre kalifornische Ferne‹ zu retten. In einem beschämenden wirren Knäuel von Selbstbetrug, Verlogenheit, hysteri184
scher Anarchie, voll Blasphemie allem gegenüber, was mir bis dahin als heilig, stark und zuverlässig erschienen war, fühlte ich den leidenschaftlichen Wunsch, mit einem Satz auf ein Schiff zu springen, die Segel zu hissen und mich loszureißen von diesen Höllenklippen, diesem Dunkel und mich zu retten, davonzusegeln, für immer! Dies alles war albern und lächerlich, und in meinem Fieberwahn (denn die ganze Zeit über vermeinte ich, fast hysterisch, die blutrünstigen Finger der Soldaten auf meinem nackten Fleisch zu spüren, die Prügelmale und die Striemen) und obwohl es ohnehin unmöglich gewesen wäre, bei so einer See auszufahren, erhob ich mich, um zu gehen. Da fühlte ich neben mir einen Menschen. Mein erster Gedanke war: sie sind gekommen, mich zu holen! Noch heute schäme ich mich dieses Gedankens. Es war nur die Küstenwache. Ein Soldat. Ich grüßte, und er antwortete mit mazedonischem Akzent, leise, in einer Art unirdischem Moll. Noch heute habe ich diesen Mollklang im Ohr. Und auch heute noch habe ich dabei die Empfindung von etwas Überirdischem. Ich fragte ihn, wie er denn hierhergeraten wäre, und er antwortete, er wüßte es selber nicht. Er stamme aus Mazedonien und wäre bereits seit zwei Monaten hier. Als ich hörte, daß er aus Mazedonien sei, fragte ich ihn, ob er Serbe wäre – ich glaube, ich hab es nicht nötig zu betonen, daß ich mit dieser Frage überhaupt keinerlei besondere Absicht verfolgte. Sie war mir unwillkürlich entfahren, ganz assoziativ, im Zusammenhang mit Mazedonien, er aber antwortete mit keinem einzigen Wort und seufzte bloß tief auf. 185
›Nun, Bruder, was gibt’s denn? Warum schweigst du? Ich tu dir ja nichts! Mir ist es vollkommen egal, was du bist!‹ ›Mir auch, Herr! Mir auch! Ich will nichts als heimkehren! Sieben Jahre diene ich schon! Und so dienen wir alle! Der eine da, der andere dort –‹ ›Und wer von deinen Leuten ist daheim geblieben?‹ ›Keiner, Herr! Mein ältester Bruder diente unter der türkischen Fahne, da kamen die Serben und raubten uns hundertsieben Schafe. Das war noch im ersten Krieg. Und ich hab unter dem serbischen König gedient, dreimal, und habe den Rückzug nach Albanien mitgemacht. Da kamen die Bulgaren und schleppten mir die Mutter weg. Und die Schwester. Den Vater hatten mir die Komitadschi schon früher umgebracht. Alles haben sie uns genommen.‹ Wir schwiegen lange, dann sagte er noch einmal, daß er schon sieben Jahre beim Militär sei. Und vier Joch Boden hätten sie gehabt, er aber muß hier so herumstehen. Von der Mutter hätte er gehört, sie wäre irgendwo in Kleinasien an Typhus gestorben. Den Vater hatten sie ihm umgelegt. Den Bruder ermordet. Auch die Schwester haben sie ermordet. Das Vieh geraubt, das Haus in Brand gesteckt. Der Boden aber liegt brach! Och! Merkwürdig war das damals im Olivenhain mit mir und diesem Wachtposten. Wenn es blitzte, erblickte ich sekundenlang dieses graue, wie von Magnesiumlicht beleuchtete Soldatengesicht. An die Züge kann ich mich nicht mehr erinnern. Eine dunkle und harte Erscheinung, der Mann roch nach Knoblauch. Meine Nerven 186
müssen wahrscheinlich überreizt gewesen sein von der schlaflosen Nacht, dem warmen Schirokko und der peinigenden Ungewißheit; rückblickend kam es mir dann auch selbst so vor, daß der Zustand meiner überreizten Nerven daran schuld war, kurz – dies alles erschütterte mich dermaßen, daß ich laut aufweinte und dem Mann zu Füßen fiel. So sehr schämte ich mich, Bruder, darüber, daß ich daran gedacht hatte zu desertieren, Hochverrat zu begehen an diesem Menschen! Denn – wenn ich ihn verließe, wer bliebe dann an seiner Seite? Übrigens nahm die ganze Szene ein idiotisches Ende. Der Soldat glaubte, hier im Gewitter an einen Irrsinnigen geraten zu sein, und stieß eine Verwünschung zwischen den Zähnen aus, die ich nicht verstand. Dann ging er mit militärischer Strenge und Härte gegen mich vor: es sei verboten, nachts am Ufer zu sitzen, und vertrieb mich so aus meinem Ölberg. Ich kehrte ins Hotel zurück. Dort wurde ich bereits erwartet, festgenommen, in den mittelalterlichen Festungsturm überführt und gleich auf die Bretter gelegt. Da, Bruder, sieh dir’s an!« Kunej streifte das Hemd ab und zeigte sein nacktes, von blaugelben blutigen Striemen überzogenes Fleisch. An drei Stellen hatte das Hemdleinen an offenen Wunden geklebt, dort, wo aus den entzündeten Flecken die eitrige Flüssigkeit ausgetreten war. »Eins aber mußt du mir aufs Wort glauben! Die ganze Zeit über, während ich auf den Brettern lag (zweimal verlor ich das Bewußtsein), wußte ich ganz genau, warum ich da lag, und habe nicht bereut! Nichts habe ich bereut, auf mein Wort!« 187
der tod des thomas bakran
H
err Koloman Edler von Balotschanski de Sztara Vesz, Sohn des seligen Henrik Edlen von Balotschanski de Sztara Vesz, Regierungsrat der Banalverwaltung und Ritters der Eisernen Krone, seinem Amtsrang nach Adjunkt und siebente Pfeife im Orchester der königlichen Staatsanwaltschaft, feierte vorige Nacht seine Verlobung mit dem lieblichen Fräulein Lydia, der Tochter seines Vormunds, des kaiserlich und königlichen Rates Julian von Zadravecz. Fräulein Lydia wurde in Hernais erzogen, las englische Romane, radebrechte Chopin und Beethoven (auch Skrjabin und Rachmaninow), war also, auf Grund ihrer Erziehung als Offiziersenkelin, eine in jeder Beziehung vornehme und tadellose Dame. Der Abend war nicht die offizielle Bekanntgabe der Verlobung (die vor vierzehn Tagen, entsprechend allen Vorschriften der Etikette, im Familienkreis und in Anwesenheit sämtlicher näheren Verwandten der Familie Zadravecz zelebriert wurde), sondern ein feierlicher Empfang, den der alte Zadravecz zu Ehren des künftigen Schwiegersohns gab. Koloman Edler von Balotschanski, den sein verstorbener Vater Henrik, der Regierungsrat der Banalverwaltung und Magyarophile vom Zwetschgenadel, auf den Namen des weisen ungarischen Königs, des buckligen Literaten Koloman, taufen ließ, hatte eher die schlanke, brünette Figur eines jungen Kavallerieoffiziers als die eines der Staatsanwaltschaft zugeteilten Gerichtsadjunkten. Er trug einen nicht gestutzten Schnurrbart, um auf 189
diese Weise auch durch ein äußeres dekoratives Barbiermerkmal seine konservative Lebensanschauung, seine Zwetschgenadel-Abstammung und seine Abneigung gegen das plebejische Milieu, in dem Jammergestalten von Zahntechnikern und Handelsgehilfen ihren Schnurrbart auf englische Art stutzen lassen, anzukündigen. Sein Vater, der Regierungsrat, der seine hohe Karriere als junger Vizegespan mit der Erschießung von zwölf Bauern begann, starb bereits im zweiundvierzigsten Lebensjahr, indem er sich, dramatisch überraschend, an einem Sonntag in seiner Kanzlei im Präsidium der königlichen Landesregierung vergiftete. Alle unerledigten und höchst verwickelten finanziellen Verpflichtungen und Wechselgeschäfte, die sein seliger Vater auf dieser Welt hinterließ, dazu noch dieser anstandswidrige und unerwartete, wahrlich fast skandalöse Tod (der für die höhere Beamtenschaft unserer Stadt ein Ereignis ersten Ranges war), das alles bedrückte seine Mutter Christine Lucia, geborene Majetich (aus der Familie der Warasdiner von Majetich, die Gardisten und Prätorianer der Kaiserin Maria Theresia waren), so sehr, daß sie schon ein Jahr nach ihrem Gatten ins Grab sank. Am ersten wie auch am zweiten Leichenbegängnis nahm Koloman von Balotschanski in voller Gala des Magnatenkonvikts Franzisco-Josefinum mit Degen und Kaipak teil, mit zwei Fingern der linken Hand an seiner linken Hüfte den Metallkopf des Löwen an seinem ritterlichen Degenknauf haltend. Sein Vormund Julian von Zadravecz ließ die Familiengruft mit einer monumentalen Marmorplatte verschließen und von einem unserer berühmten sezessioni190
stischen Bildhauer das Adelswappen der edlen Familie de Sztara Vesz in Bronze gießen, samt ihrem Wappenspruch »Justitiae et Libertati«. Die Balotschanski waren ein altes Adelsgeschlecht mit ungarischem Untersatz aus Transdanubien, aus der Umgebung des Plattensees, und die ersten Wurzeln des angefaulten Stammbaumes reichten zurück bis in die Zeiten des Banus Bakatsch, als die Kulpa der Grenzfluß des Banats Kroatien war. In der Familie gab es Großgespane und Delegierte zum Reichstag in Preßburg, auch Generale, von denen einer beim Abschluß des Friedens von Campo-Formio persönlich zugegen war und mit einem hohen Orden, mit Lilien und Kokarde ausgezeichnet wurde. Kolomans Vater Henrik hätte eine frischgebackene Baronesse heiraten sollen, deren Eltern achtzehnhundertsiebzig bei der Okkupation Bosniens als Kriegslieferanten und Schmuggler das Baronat erwarben, aber diese Absicht mißlang, und so machte er der armen Adeligen Christine Lucia seine Liebeserklärung, in einer mondhellen Nacht, als jemand in der Ferne eine Barkarole zur Gitarrenbegleitung sang. Diese Ehe entwickelte sich später zu einem schwerbelasteten, lügenreichen Dahinsiechen, wie es eben die Existenz unserer hochbeamteten Herren im Oberst- oder Generalsrang ist, die auf persischen Teppichen zwischen falschen Biedermeiermöbeln, mit japanischen Vasen, Schulden und Wechseln leben, umgeben von einer klebrigen Melasse, die wie dickes Gummiarabikum an allen unseren kleinbürgerlichen Gesellschaftsformen und Erlebnissen haftet. Die hochedle Frau Christine reiste aus Badgastein nach Meran, aus Graz 191
und Abbazia auf den Semmering und nach Wien, ihre Schneiderin kam aus der Kärntnerstraße, ihre Liebhaber waren Fregattenoffiziere der Kriegsmarine aus Triest und Cattaro, und auf diese Weise verdichtete sich eines Tages dieser Knäuel und das Gewirr von Stubenmädchen und Gouvernanten, Liebhabern und Toiletten, Bällen, Reisen, Kaleschen, Schulden und Gästen zu der schmerzvollen Grimasse des illustren Verzweiflers, dem im Todeskampf Schaum aus dem Munde quoll und der mit einem Fluch auf den Lippen starb, eigentlich in Panik vor seinen problematischen Schulden. Koloman, Henriks erstgeborener Sohn, der das Franzisco-Josefinum, beschenkt mit einem Brillantring Seiner Majestät, »sub auspiciis Regis« absolvierte, war für den diplomatischen Dienst bestimmt. Er träumte vom goldbestickten Botschafterfrack und dem Zweispitz mit der Straußfeder und davon, daß er als diplomatischer Geheimkurier in Expreßzügen hin- und herkutschiert, Akkreditivschreiben überreicht und eine große Rolle in historischen Ereignissen spielt, als plötzlich, und entgegen allen Erwartungen, der Weltkrieg als historisches Ereignis ausbrach und ihm, Koloman, die sehr bescheidene Rolle eines Husarenkadettaspiranten zuteilte. Er diente zwar in derselben Brigade, in der der Herzog von Parma, Seine Hoheit Alphons Amadeus Maria Immaculata Hermenegildo Frederick champagnisierte, aber trotzdem ging Österreich zugrunde, und Koloman Edler von Balotschanski wurde kein österreichischer Diplomat, sondern promovierte zum Doktor der Rechte und leistete als königlicher Adjunkt dem neuen Balkanstaat, des192
sen Dreibuchstaben-Name an Operettenmonarchien erinnerte, den Treueeid. Der glückliche Verlobte des Fräulein Lydia trank in dieser Nacht relativ viel, kam erst gegen Morgengrauen nach Hause und konnte nicht einschlafen. Schon meldeten sich die ersten Vögel und die Morgenglocken, doch Herr Doktor Koloman fand keinen Schlaf; nervös wälzte er sich von einer Seite auf die andere, durchtränkt von zu starken Eindrücken und vom Alkohol. Müde und schwerfällig stand er auf, mit einer vollen Stunde Verspätung, und sein erster Gedanke war das nächtliche Fest und gleich danach »der Fall Thomas Bakran«, über den er noch am selben Vormittag seinem Chef referieren mußte. Dieser Thomas Bakran, ein Tagdieb und linksradikaler Agitator, schlich sich, gerade inmitten des Untersuchungsverfahrens (mit Hilfe gewisser unbekannter unterirdischer Verbindungen), in ein Krankenhaus ein, zog dann alle seine Aussagen vor den Untersuchungsbehörden zurück und rief in der gesamten Konstruktion eines von der Staatsanwaltschaft vorbereiteten Monsterprozesses unvorstellbares Durcheinander, Unordnung und Konfusion hervor. Es handelte sich um gewisse Geldbeträge, die besagter Thomas Bakran angeblich von der im Ausland befindlichen Parteizentrale erhalten haben soll, und eben dieses Geld, dieses »abscheuliche kapitalistischmaterialistische Instrument«, war einer der wichtigsten Ansatzpunkte zur Entwirrung des Knotens, des Komplotts und des versuchten Hochverrats. 193
Da Thomas Bakran seinerzeit zusammen mit Koloman Balotschanski in derselben Klasse des Untergymnasiums die Bank drückte und der beschuldigte Thomas ein gewisses Vertrauen, sogar auch Sympathien für Koloman zeigte, betraute der Chef nun Balotschanski mit der delikaten Mission, in das Krankenhaus zu gehen und nochmals zu versuchen, die evidenten Widersprüche in den Aussagen des Angeklagten zu bereinigen und darüber Bericht zu erstatten. Koloman Balotschanski war schon ein paarmal resultatlos bei Bakran und beschloß am Morgen, über seine Verlobung und baldige Hochzeit nachdenkend und sich mit kaltem Wasser waschend, dieser unangenehmen Sache um jeden Preis ein Ende zu machen. Er wird jetzt bald um Urlaub ansuchen müssen, und wenn es gelingen sollte, in diesem verdammten »Fall Bakran« dem Chef irgendein positives Ergebnis zu präsentieren, wäre es nicht ausgeschlossen, daß der Chef ihm in diesem außerordentlichen Fall für Hochzeit und Hochzeitsreise auch sechs Wochen Urlaub genehmigen könnte, und so was wäre keineswegs zu verachten. Der Morgen war sonnig und klar, ein richtiger Maienmorgen. Prozessionen schwerfälliger, gutgenährter, satter Steirerpferde zogen mit Stahlbändern massiv gefesselte schwere Wagenlasten. Das Gepolter der Ketten, der Bremsklötze und der stahlbereiften Wagenräder auf den Granitsteinen, das Knarren der Achsen und die weißgehobelten, noch nach frischem Tannenholz riechenden, mit Waren gefüllten Kisten, all das überflutete die Straße 194
mit gewaltigen Eindrücken von Bewegung, Überwindung der Schwerkraft und der Last, von einem kraftvollen und anstrengenden Sieg über die Materie. Dieses Gefühl des Sieges über die Materie überwältigte auch Koloman Baiotschanski. Über dem Asphalt verdunsteten rotzigbläuliche, vom morgendlichen Straßenspritzen zurückgebliebene Pfützen; in diesen Pfützen badeten sich da und dort Silhouetten der Straßenlaternen, die blauweißen Fetzen des heiteren Himmels, die roten Sonnenschirme vorbeihuschender Frauen, die Goldbuchstaben der Firmenschilder, und diese verwirrende Buntheit verknäulte und umschlang sich, wogte hin und her wie Vexierbilder eines übervollen und üppigen Lebens, und über diese Erscheinungen schoben sich die steirischen Lastpferde wie tiefe Akkorde eines Glockengeläuts, schlugen klingende Hufeisen gegen Granit, Funken sprühten unter behaarten Pferdefüßen, die Tiere strafften sich in der Vorwärtsbewegung und senkten die Köpfe, Pferdegeschirr klirrte, Nüstern dampften, kreischend und siegreich bewegte sich der Zug. Für einen Augenblick fühlte Koloman Balotschanski die lapidare Kraft des menschlichen Muskelgewebes und die Zuverlässigkeit unseres anatomischen Baues, er empfand deutlich die Dichte unseres Skeletts, das ist kein Nebel, das sind feste Knochen, die Jahrhunderten Widerstand leisteten, dieser menschliche, von Muskeln und Nerven umspannte anatomische Apparat kann alles zermalmen. Die glänzenden Pferdeschenkel, das anatomische Wunder der knorpeligen Sehnen, das sich, fest und richtig vorgespannt, im sonnigen Morgen vorwärts bewegte, aus allem fühlte Balotschanski die Er195
kenntnis, daß auch der Mensch im Leben fest eingespannt und alles Geschehen ein außerordentlich tiefsinniger Imperativ sei, der jeden Menschen verpflichtet, seine Last bis ans Ende zu ziehen. Und wahrlich, auch er wird seine Frau, seine Kinder, seine Familie nach sich ziehen, und diese Vorstellung, nämlich zu heiraten, einen’ außerordentlichen sechswöchigen Urlaub anzutreten, Nachfolger zu zeugen, erschien ihm wertvoll und glänzend in diesem sonnenklaren Zusammenklang. Das ganze mächtige, brodelnde Leben der morgendlichen Straße zeigte sich ihm so weise und richtig konstruiert, daß ihm Tränen in die Augen kamen und er Lust hatte, vor glücklicher Erregung laut aufzuschreien. Auch die krüppelhaften Asphaltarbeiter, die auf fetzenumwickelten Knien wie verstümmelte Heuschrekken über rauchenden und stinkenden Teer krochen, erschienen ihm in dieser Stimmung als höchst wichtige Geschöpfe und ihre Verrichtungen als ernst und heilig. Die Pyramiden von Granitwürfeln, die prallen, staubigen, kreuzweis aufgeschichteten, mit Blei versiegelten Zementsäcke, die übereinander gelagerten roten Ziegel, die katastralen und die geodetischen Marken auf den trigonometrischen Stäben und die in der Morgenbrise flatternden Fähnchen eines Fußballklubs verdichteten sich in Balotschanski immer mehr und immer stärker zu einem musikalischen Motiv. Antennen, Bündel von Telephondrähten, aufgerissene Wasserleitungskanäle, lautes Feilschen und das Geschrei der Kolporteure, Sonnenschutz-Vorhänge, die wie kleine Segel über Glasscheiben flatterten, glänzende Silberwaren in den Schaufenstern 196
der Juweliere, auch jener brennrot lackierte Tank der Wasserspritze, die einen starken Strahl üher die Straße goß, alles begann in Balotschanski zu summen, daß sein ganzer Körper vibrierte im Gleichklang dieses morgenfrischen Lebens. Auf einen monumentalen Steinbau, der mit Gerüsten und Pfosten gespickt war, hoben Arbeiter ein riesiges Bronzedenkmal, und das Knirschen der Flaschenzüge und der Hebel, das rhythmische, archaisch eintönige Rufen der Männer, deren Halsadern daumendick aufgeschwollen waren, wirkte archimedisch einfach. Knapp neben dem Gehsteig wurden schwarzgebundene Bücher auf einen Wagen geladen, und der feuchte Geruch von Klebstoff und Druckerschwärze, das Donnern der Maschinen in den Kellern, die breit offenstehenden Wohnungen, die man mit gelben Rosen tapeziert hatte, dieses Bewegen und Gären mündete in eine gewaltige, konstruktive, von starkem und frischem Leben durchströmte Harmonie. »Voilà«, dachte der junge Doktor Balotschanski, »die trompetenden Fabriksirenen, mit nutzbringenden Gasen gefüllte Gasometer, Akkumulatoren mit gesichertem Strom. Cherry-Brandy fließt, Stoffe werden in Fabriken gewebt, und die ganze Stadt überflutet, mitreißend, lebendig, sieghaft der Fortschritt. Und doch sind da noch gewisse Personen, die behaupten, daß keine Zivilisation bestehe und das Leben eine Hölle sei! Wohl behaupten es nur die destruktiven verdammten Idioten, die verschiedenen deklassierten Bakrans, die alle Burgen der Zivilisation schleifen und im Trüben fischen möchten! Solche 197
Leute sollte man wie Ungeziefer zerquetschen! Sie wollen den Fortschritt vernichten, gerade da, den Fortschritt dieses sonnigen Morgens! Diese Paläste, diese Automobile, diese Geschäftsläden, diese zivilisierte Lebensart! Wenn sie könnten, würden sie alles niederbrennen und zerstören, dieser Auswurf, dieses widerliche Gesindel!« Im Halbdunkel eines Neubaus, an dem er vorbeiging, prasselte ein Feuer unter dem Gerüst, jemand röstete Speck, der appetitliche Geruch breitete sich ringsum aus. Balotschanski, der Hunger bekam, spürte die Eßgier in allen inneren Organen. Er erinnerte sich, daß hier, gerade auf diesem Platz, auf dem jetzt das marmorne, große Bankhaus mit den wertvollen Metallbeschlägen erbaut wurde, früher ein von dichten Reben umranktes Parterrehaus inmitten von Blumenbeeten stand, in dem seine verstorbene Tante (eine Balotschanskische) wohnte, die eine Vitrine mit rotem Porzellan besaß, in deren Scheiben er als kleines Kind sein Spiegelbild betrachtet hatte. Das Biskuit dieser greisen Tante hatte einen ganz besonderen Geruch, und bei dem Gedanken an den Geruch der Biskotten seiner Tante leuchtete in seinem Gehirn eine ganze Reihe von Dingen, Beziehungen und Ereignissen auf, als hätte ein starker Reflektor seinen Strahl auf einen Komplex verborgener und aus dem Sinn entschwundener Kleinigkeiten gerichtet und diese genau und hell belichtet. Vor vielen Jahren hatte er in diesem grauen, von Reben umrankten Parterrehaus einen warmen Kürbisstrudel gegessen, es war an einem seiner. Geburtstage, draußen glänzte der Sommer, und Kinder brieten Äpfel im Feuer. Die Leinenvorhänge waren her198
untergelassen, und ein lichter Schein des satten Grüns in den Kronen der Kastanienbäume zitterte über die Zimmerdecke. Der Tisch war beladen mit Kuchen, Süßspeisen, Obst, Himbeersaft, seine erste und größte Freude an diesem Geburtstag war aber der Kürbisstrudel mit Mohn. Als er jetzt in ein Kaffeehaus einkehrte und den Morgenkaffee schlürfte, noch ganz in Kindheitserinnerungen versunken, spürte Doktor Koloman Balotschanski auf der Zunge den süßlich-schalen Geschmack der verwässerten Kürbisse, die mit nicht völlig vermähltem Mohn bestreut waren und unter den Zähnen knirschten, während er Zeitungen durchblätterte, die zweispaltig und in fetten Lettern das Neueste über die Verschwörung Bakrans berichteten. Neue unterirdische Magazine von Explosivstoffen, Dynamit, Ekrasit und Maschinengewehren entdeckt! Bela Kuhns Millionen! Der russische Rubel rollt! Neueste Wendung im kommunistischen Skandal! Auf einem Strohsack im Spital, ohne Polster unter dem Kopf, lag Thomas Bakran im Sterben. Im bösen Dämmern seiner Agonie sank dieser junge Mann immer tiefer in jenem unbestimmbaren süßlichbitteren Schlamm der sentimentalen und klebrigen Lösung, die zertretene tuberkulöse Gehirne bei Todesbeginn für gewöhnlich füllt. Thomas Bakran zerfiel von Minute zu Minute. Aus ihm stieg dichter, herbstlicher, schwarzer Nebel, und in seinem sechsundzwanzigjährigen Körper vergoren alle Hoffnungen und Erinnerungen zu einer harzigen und unverdaulichen Mischung aus Galle und Elend. Dieses 199
Sterben hatte nichts von jenen panischen Dramen, in denen der Tod, grob wie ein Metzger, mit einem eisernen Beil die Knochen und das Rückenmark des Helden zermalmt, alles nach dem Henkerblock stinkt und die durchschnittenen Halsadern wie Tunnel klaffen. Sein Tod war bedrückend und roch nach Verwesung und ausgekochtem Fleisch, das im hohen Fieber und stummen Leid verfault. Bei Nacht und einsamem Liegen schäumt und gärt das Leben Thomas Bakrans, wie aus verfaultem Obst Blasen zur Oberfläche steigen. Am unteren Ende des Zimmers schnarcht jemand, und der grüne Strahl der Straßenlaterne zittert auf der Zimmerdecke, sich über dem schwarzen Kreuz an der Wand brechend, aber zu Füßen des Thomas Bakran sitzt eine krumme Figur und kämpft mit dem Schlaf. Da wird am Totenbett des Thomas Bakran Wache gehalten wie am Grab des Nazareners, weil er ein vom Gesetz verstoßener Mensch ist, ein Auswurf und ein hochverräterisches Tier, auf das man schießen, das man auf der Stelle schlachten muß, wenn es sich rührt und versuchen wollte, »in geheimer Absicht die Flucht zu ergreifen« – mit vierzig Grad Fieber. Bakran beobachtet den sich auf seinen Karabiner stützenden Wachmann, wie er im Dämmerzustand des Schlafs gleich einem leeren Sack in sich selbst versinkt. Er würde sich ja ungeniert auf seinen Karabiner lehnen, aber das blanke Bajonett auf dem Gewehr stört ihn, und instinktiv ängstigt er sich, daß es sein Auge ausstechen könne; also windet er sich und redet irr, sein Speichel 200
tropft, er hat Kreuzstechen, und so hält er Wache neben dem Bett des sterbenden Thomas. Da der Lüftungsflügel in der oberen Fensterscheibe offen ist, spiegelt sich im herabgeklappten Glas eine Reihe von Fiakern, die unten auf der Straße, neben dem jenseitigen Gehsteig, ihren Stand haben. Fiakerpferde stehen im Licht gelber Laternen, und im Spiegel des Fensters betrachtet Bakran die ganze lange Nacht, wie ihre schwarzen melancholischen Pferdeköpfe friedlich schweigen. Taubstumm ist die Stille. Ab und zu schnaubt eines der Pferde. Dann wieder Stille. Das Pferd läßt den Kopf sinken, und an ihm vorbei huscht von Zeit zu Zeit ein wehender Frauenschatten; das Pferd schweigt und klopft nur mit dem Huf gegen den Asphalt, das Pferd schweigt, und Bakran bildet sich ein, daß dieses Pferd, gerade dieses fünfte Pferd in der Reihe, über das die rußigen Streifen der Talgkerze des Fiakers kriechen, daß dieses Pferd sein schweres Sterben, hier in der Ecke im ersten Stock des Krankenhauses, mitempfindet. Das Fiakerpferd im Licht der gelben Laterne spürt und bedauert seinen Tod! »Auch das Dienstmädchen fühlte, daß er im Sterben liegt!« Das Dienstmädchen putzte die Fenster im ersten Stock des dem Krankenhaus gegenüberliegenden, großen gelben Gebäudes und schaute, plötzlich innehaltend, herüber in das Spital. Lange starrte sie die Reihen der Krankenbetten an und brach dann in lautes Weinen aus. »Was vermochte wohl das Herz des Dienstmädchens so zu erschüttern, daß ihre Tränen in Strömen zum 201
schmutzigen und fetten Wasser in der Waschschüssel rannen? Sie fühlte, daß er, Thomas Bakran, der Jüngste im ganzen Zimmer, dahinstirbt wie ein Hund, und sie wollte ihm helfen. Ein Dienstmädchen! Ein ganz gewöhnliches Dienstmädchen!« In der Luft surren Saiten aus Seide und Därmen, gespannt auf Instrumente der Orchester in Kaffeehäusern und Schenken rund um das Krankenhaus. Dort sitzen jetzt seine Freunde und Genossen in den verrauchten Zimmern und sprechen sicher über die Art und Weise, wie das Leben so potenziert werden könne, daß auch Meerestiefen, von tausend Volt bestrahlt, smaragdgrün glitzern würden, und wie es wohl wäre, wenn die Menschen in lichten und hellen Räumen wie in weißen Atrien leben würden, und so sitzen sie in den Kaffeehäusern, vergiften sich mit gepanschtem Wein, fühlen, wie alles zum Teufel gejagt wird und stirbt, aber reden nur, sprechen hin und her und trinken. Der Kaffee ist bitter, das Orchester jammert wie bei einem Begräbnis, die Frauen sind gelblich wie Leichen in Seidenstrümpfen, und alles ist zum Verzweifeln. Seine Genossen fühlen jetzt, daß er ein Todgeweihter ist, und durch Weingläser hindurch betrachten sie sein grünliches, verzerrtes Gesicht und können keinen Augenblick den Gedanken loswerden, daß sich Thomas Bakran auflöst, und das vergiftet ihre Stimmung. Bakran wünschte heiß, bei seinen Freunden und Genossen zu sein, und fühlte, wie eng er mit allen diesen Erscheinungen verbunden ist und wie es ihm schwerfällt, sich von diesen Dingen zu trennen. Er fühlte, wie er diese 202
Menschen bis zum letzten Atemzug, bis ins Gehirnmark, leidenschaftlich liebt, und seine Luftröhre zog sich zusammen, und er begann durch den Nasenschleim Tränen zu rotzen. Dann aber stieg ein schleichender Gedanke in ihm hoch und überschattete alles. Es fiel ihm ein, daß er diesen Leuten gar nichts bedeute! »Sie kommen her und stellen sich an, als bedauerten sie ihn! Tatsächlich aber bedauern sie ihn ganz und gar nicht! Weshalb sollten sie sich auch um einen Bakran Thomas kümmern? Sie lieben Frauen, trinken Wein, freuen sich ihrer Gesundheit! (Auch er würde sich gleichfalls freuen, wenn sie hierlägen und er gesund wäre! So ist das Leben! Das Leben bewegt sich über Leichen! Entweder man ist eine Leiche oder man geht über Leichen! Das ist es!) Sie sind ja jung, die Freunde und Genossen! Es gibt Entfernungen von Mensch zu Mensch wie vom Mond zur Erde! Da, in diesem Augenblick leuchtet der Mond über der Stadt und über dem Spital, aber was kümmert es den Mond, daß hier, in dieser Minute, irgend jemand im Sterben liegt? Das alles ist dem Mond völlig gleichgültig! Und ebenso sind auch die Menschen einander gleichgültig!« Sich tief unter der Oberfläche in solche trüben Gedanken verbohrend, wurde es Thomas Bakran klar, daß auch ihm diese Menschen völlig gleichgültig sind! »Sie gehen ihn absolut nichts an! Und auch alles andere, das ihn mit diesen Leuten verband, auch das geht ihn absolut nichts an! Alles ist zu Ende! Er müßte aus allem herauskommen! Alles ist häßlich und krankhaft! Auch jenes hysterische, hinkende Weib in ihrer Barchentbluse, 203
mit geschwollenen Krampfadern, die halbverrückte Geisteskranke, die seine leibliche Mutter ist! Auch sein verstorbener Vater, der in einem Straßengraben ersoff, und auch sein Stiefvater, Amtsdiener der königlichen Landesregierung, mit seiner Pfeife im Mund!« Diese drei Figuren plastisch vor sich, überkam ihn Ekel vor seiner Mutter, und er fühlte den Haß gegen sie aufsteigen. Seinen Vater, den Säufer, ließ sie im Graben, schmiegte sich an diesen uniformierten Hausknecht aus der Oberstadt und wurde in ihren alten Tagen schwanger von ihm! »Pfui! Wie abstoßend! Oh, man müßte allen diesen selbstsüchtigen und launischen Genossen und Freunden (vollgestopft mit dunklen Trieben, die einen Menschen bis zur extremen Unerträglichkeit tyrannisieren) die Wahrheit ins Gesicht schleudern! Brechen mit allen! Allein bleiben!« Angst stieg in Thomas Bakran auf vor dieser äußersten Verleugnung; er begann sich wieder auf seine schüchterne Normale zurückzuziehen, und in diesem bestürzten Einschrumpfen stellte er sich die Frage, ob ein Mensch gut sein könne und ob ein Mensch gut sein solle? Ist der Mensch gut, dann ist er Christ! (Aber er will ja kein Christ sein!) Belanglos! Wenn aber ein Mensch gut sein will, wäre das dann die Lösung des Problems ? Und es schien ihm, als wäre es eine ernst zu nehmende Lösung. Man müßte die Menschen lieben, aufopfernd und mit voller Selbstverleugnung! Man müßte schmiegsam und hingebungsvoll sein, verständig und mild! Aber was würde es nützen, wo doch die Menschen Scheusale sind! Einer wie 204
der andere, Scheusale! Jeder trägt eine Giftschlange im Herzen! Die Menschen sind kleinlich, zerknittert, armselig! Menschen kranken an Gedärmen, Schulden, Affairen! Von Geburt auf sind Menschen trüb! So dachte er die ganze Nacht über die Menschen, über sich selbst, über Möglichkeiten, wie die Dinge geregelt werden könnten, definitiv und endgültig, und dann, vor dem Morgengrauen, schlief er ein und träumte von der Frau Mailaender. Als dann die schwefelrötliche morgendliche Sonnenflüssigkeit sein Bett überflutete, die zerrissene rote Bettdecke und das ganze Spitalzimmer, erwachte Thomas Bakran aus einem lichten Traum, und Friede war mit ihm. Knapp neben seinem Bett, zu seinen Füßen, mit hergewandtem Gesicht, Aug in Auge mit ihm, stand der Wachmann. Sein Bajonett blitzte in der Morgensonne, und der Abglanz des blanken und scharfen Messers flimmerte auf der schwarzen Tafel über dem Kopf Bakrans, auf der sein Name, irgendwelche Daten und klinische Angaben verzeichnet waren. Ein riesengroßes altertümliches Gewölbe, zerfressen und schadhaft, überwölbte das Bett, und unter diesem halbdunklen Bogen mit Schichten von Spinnweben schimmelte Salpeter, daß es schien, als stünde das ganze Bett unter dem Ovalbogen einer schmutzigen Brücke. Friede war mit Thomas Bakran. Die Motive seiner lichten Visionen, die ihn im Traum wie Wellen hochgetragen hatten, strömten jetzt in ihm zusammen, und er fühlte nichts mehr als die Macht der Stille in seinem Herzen, die ihn wie ein heller Himmel überwölbte. In diesem 205
ersten friedlichen morgendlichen Augenblick bemerkte er die ausgemergelte und verunstaltete Maske des verschlafenen Wachmanns neben seinen Füßen gar nicht, seine blutunterlaufenen Augen und das scharfe, blanke Messer, das ihn jeden Morgen beinahe aufschlitzte zum Zeichen, daß er hier, auf dem Spitalstroh, wie ein Hund krepiere. Heute früh bemerkte er das alles nicht, denn vor einigen Minuten träumte er noch von Frau Mailaender und sah sie in ihrer grünen Seidenbluse deutlich vor sich stehen. Sie dünkte ihn so weich, so weiß, und es schien ihm alles so reich, so gut und so liebevoll geregelt. In kräftigen, von Ozon durchwaschenen lenzlichen Farben, in einem übernatürlich saftigen, geradezu tropisch schwellenden Kolorit stand er dort an einem sandigen Ufer, an einer unendlichen horizontalen, silbernen Sandlinie und betrachtete die blauen Wellen, die schäumten und die sich wälzten – geradezu rollten – wie dicke Delphine. Dieser Traum hatte etwas Afrikanisches an sich, von jenem kolonialen Afrikanismus, von dem Kinder vor den Schaufenstern der Kolonialwarenhandlungen träumen, Rosinen, Vanille, Zimt und Schokolade betrachtend und die Neger, die auf den Blechschildern der Kaufläden Pakete mit exotischen Waren auf Schiffe verladen. Blätter eines Palmenbaumes rauschten am Ufer, und über dem dunkelgrünen Meer dampften Wolken. In der gleichen silberweißen, übernatürlichen Beleuchtung stand auch Ida Mailaender barfuß im Sand neben Thomas Bakran; sie hielten sich an den Händen und sogen die unendliche Weite der See ein, und alles war gesund und kühn. Sobald er die Augen öffnete, spürte er neben sich auf 206
der Serviertasse den Geruch einer warmen, frischgebakkenen Semmel, und die Semmel füllte das ganze Zimmer mit dem Duft warmen Brotes. Die Sonne überflutete ein Tischchen, auf dem Honig in einem Glas stand, und diese flüssige Sonne, die Rosen in der durchsichtigen Vase und der goldgelbe Honig und die Schokolade im glänzenden Stanniolpapier vereinigten sich zu einem guten und großen Ereignis. Das Zimmer war in diesem Augenblick voll Sonne, alle Umrisse der Gegenstände glänzten, vom hellen Licht umspielt, dazu die junge Frau aus dem Traum, und die krankhaften schmutzigen Zweifel waren wie Sumpfgas verdunstet, um Bakran war es nun vollkommen licht und klar, und es schien ihm, als gäbe es im Leben Gründe, für die man leben könnte und leben sollte. Der Mensch kann eine junge Frau lieben! Kann glücklich sein! Kann fortreisen! Sich erneuern! Wirklich! Sämtliche Möglichkeiten sind noch nicht erschöpft! Und als wären diese enormen Möglichkeiten, diese rettenden Inseln Wirklichkeit, Räume, zu denen man über Treppen hinaufsteigen könne, setzte sich Thomas Bakran in seinem Bett auf, wie wenn er sich erheben wollte, und streckte seine Hände aus nach diesen imaginären Räumen, um zu jenem silbernen Sandufer zurückzukehren, an dem er noch vor einigen Minuten die nassen Wellendelphine und die bloßfüßige Ida Mailaender sah. Doch im selben Augenblick spürte er im Brustkorb einen scharfen Stich und fühlte zurücksinkend, daß er Ida Mailaender aus tiefem Herzen unleugbar und unsagbar lieb habe und daß nur sie allein ihn wieder gesund machen könnte! 207
Diese friedliche Morgenstimmung dauerte nicht lange. Die Glocke vom benachbarten Kirchturm meldete sich mit einem sehr hohen Ton, und dieses unangenehme, abgerissene Läuten weckte panikartig die Erinnerung an das theatrale Bimmeln des Leichenhausglöckleins. Auf der Straße vor dem Krankenhaus wälzte sich der Menschenstrom, und genau unter den Fenstern rief jemand laut »Fliegenfänger«; durch den Lärm von Straßenbahnsignalen, Autohupen und Pferdegetrappel vernahm man eine gebrochene Frauenstimme in stets gleichmäßigen Intervallen: Tabak, Zigaretten gefällig! Tabak, Zigaretten gefällig! Fliegenfänger! Tabak, Zigaretten gefällig! Bald darauf kletterten Maurer und Spengler zum Fenster des grüngrauen, schmutzigen Zimmers, das mit schwindsüchtigen Kranken überfüllt war, kletterten außen auf Leitern, wie übernatürliche Teufelsgestalten, und begannen in der Höhe des ersten Stockes in die Fassade des Krankenhauses eiserne Stützen für Reklamen, Laternen und Reflektoren einzuschlagen, für rote, höllische Lichter als Wegweiser zu den Nachtlokalen in der Nebenstraße, in denen die ganze Nacht hindurch Musik spielt. Die Maurer stießen mit dicken Eisenstäben ein meterbreites Loch in die Wand, daß ein Ziegel nach dem anderen in das Krankenzimmer stürzte und trockener Mörtelstaub wie Mehl aus einer Mühle in den’ Raum rieselte und rötlich rauchte. Das Lachen der Maurer, der Strombügel der Straßenbahn, der in der Höhe des ersten Stocks vorüberglitt, der Lärm auf der Straße, der immer mehr anschwoll, weil Truppen, Kavalleristen und Batterien aufmarschierten zur großen Parade vor dem Statthal208
ter, am Ehrentag des historischen Sieges, all das erregte eine gewisse Nervosität unter den Kranken. Sie begannen zu fluchen und zu schreien, protestierten gegen eine derartige Tätigkeit der Maurer, andere wieder drängten sich vor den Fenstern, um die Festlichkeiten und den Vorbeimarsch zu sehen und die Musik zu hören, so daß noch vor der Ankunft des Sekundarius Doktor Walter starke elektrische Spannung in der Luft knisterte. Zu den Füßen Bakrans saß im grauweiß gestreiften Krankenhemd Viktor Kunej. Zwei Tage nach dem Begräbnis des alten Walter war der junge Walter in die Stadt zurückgekehrt und hatte Viktor Kunej unter einem falschen Namen auf einem nicht exponierten Bett, neben der Glastür im Eck, in seiner Abteilung des Krankenhauses untergebracht. Die Idee war an und für sich nicht schlecht, denn so wurde Kunej eine günstige Gelegenheit geboten, sich erstens für eine Zeitlang der steckbrieflichen Verfolgung zu entziehen, ferner sich ausgiebig auszuschlafen und auszuruhen, und schließlich ein wenig seinen Lungenkatarrh, der die Lungenspitzen angegriffen hatte und schon monatelang wie Glut glomm, behandeln zu lassen. Kunej kannte Thomas Bakran, sie arbeiteten zusammen, waren auch einige Male gemeinsam in Haft, aber er konnte sich mit diesem jungen Mann nie anfreunden. Dessen bleiche und verblühte Maske, das flaumig-rötliche Bärtchen, das sich um Bakrans Gesicht kräuselte, die langen, durchsichtigen knochigen Hände: alles erinnerte Kunej an die Gestalten der Asketen und der Heiligen, al209
les roch nach Kirche, Weihrauch und Messianismus, und diesbezüglich war Kunej ein Gottloser, er haßte jedes, auch das kleinste metaphysische Vorbild. Seiner persönlichen Meinung nach waren Märtyrer und Heilige die Revolution gefährdende Erscheinungen. Kunej sah klar, wie der zertretene Bakran dahinsiechte, im wahren Sinn des Wortes zertreten, aber er wußte auch mit Bestimmtheit, daß für Bakran alles zu spät war, auch die Frage, wie und wann er gegen dieses Zertreten durch die europäische Gesellschaftsordnung zu reagieren begonnen hatte. Kunej als Intellektueller wußte genau, daß gewalttä- • tige Reaktionen gegen das Negative im Leben keinen Erfolg haben werden, und weil er eben sehend die Illusionen dieses verstörten, halbintelligenten, barbarischen Handelsgehilfengehirns durchschaute, daß man tatsächlich, persönlich, körperlich aus dieser Hölle heraussteigen könne, fand er Bakran seit jeher abstoßend. Denn tatsächlich sah Bakran dieses umfassende Problem weitreichender revolutionärer Perspektiven nicht als eine gewaltige, mammuthafte konstruktive Kraftanstrengung des Gehirns, sondern als eine reale Frage des Sieges seiner persönlichen, wirklichen, körperlichen, physiologischen, geschlechtlichen und magensättigenden Bedürfnisse. Die religiösmessianische Begeisterung für Thesen und Dogmen bedeutete für den schwindsüchtigen Bakran Genesung, für den Geschlechts-Märtyrer, der in der Einsamkeit unendlich viel gelitten hatte und dann von kranken Frauen vergiftet wurde, aber eine kulturelle, höhere und gesündere Erotik. Sein von der ersten Kindheit und frühesten Jugend an so oft erniedrigter, beleidigter und 210
zurückgesetzter innerer Mensch sehnte sich nach Satisfaktionen und Nivellierungen irgendwelcher Art, nach Gleichberechtigung, und zwar innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Jene Zimmeranstreicher in der Rolle von Gewerkschaftsfunktionären, jene Schuhflicker, die zu Renegaten, und jene Schriftsetzer, die zu Ministern wurden, alle jene dummen und tückischen Journalisten und Schriftsteller, die allerlei blödes und überflüssiges Zeug zusammenschreiben, das aber zwischen den Zeilen nur sagen will, daß es keine Lösung innerhalb von vierundzwanzig Stunden gibt und geben könne, diese intellektuelle Bande samt und sonders war für Thomas Bakran Dreck und Schlamm und müßte gleichzeitig mit dem Apparat der Bourgeoisie zerstampft und auf den Mist geworfen werden. Die Phrase und die Formel der Erlösung, die einzige rettungsverheißende Geste war für Thomas Bakran die Aktion, die alles niederbrennen und im Feuer vernichten wird, um nach dieser Brandstiftung von vorne anzufangen: ehrlich, gesund und gerecht! Dieser arme, sterbende Bursche mit eingefallenem Unterkiefer, vorspringendem Adamsapfel und geschwollenen Kinnbacken möchte eine Legion ihm ähnhcher Verzweifelter und Schwindsüchtiger in den letzten Kampf führen. Er träumt vom Sieg nach vierundzwanzig Stunden, von Blechmusik, Triumph und Fahnen und davon, wie er, als Sieger nach vierundzwanzig Stunden, an der Spitze seiner Truppen reitet: ein Triumphator in Rüstung auf einem weißen Pferd. »Und nun! Wo ist sein weißes Pferd?« Thomas Bakran mit seiner allgemeinen Antipathie 211
gegen Intellektuelle konnte, unterbewußt und triebhaft, auch Kunej nicht ertragen, und beide fuhren einander bei Parteiversammlungen noch heftig und rücksichtslos an. Für Bakran war Kunej ein Plebejer, der Sohn eines Lokomotivführers, mit einer ihm prinzipiell antipathischen, kleinbürgerlichen, vorurteilsvollen, sogenannten akademischen Bildung, und weshalb sollte er, der Sohn eines Säufers und Ersoffenen, auch nur um einen Millimeter tiefer stehen als ein ebensolcher Sklave, wie er einer ist? Wegen dieser sogenannten akademischen Bildung vielleicht, oder weil Kunej gelernt hat, orthographisch zu schreiben und ihn nur schulmeistern will, weil er, Thomas Bakran, ein Vorkämpfer der Partei, Beistriche und Doppelpunkte nicht richtig zu setzen versteht? (Was sind denn das für kleinbürgerliche Dummheiten, diese sogenannte Bildung und ihre Rechtschreibung?) Die Krankheit aber, das Hinsterben und sein hoffnungsloses, langandauerndes Leiden, schwächte Bakran, und so fühlte er, als er hier im Krankenhaus Kunej nach langer Zeit wieder sah, daß ihm dieser Mensch viel näher stehe als alle anderen Patienten, diese Lümmel und Lumpen. Während seiner Krisen stürzte er sich von Zeit zu Zeit in einen aristokratischen, individualistischen Nihilismus, und so erzählte er Kunej schon am ersten Tag ihres neuerlichen Zusammentreffens, daß er »seine Lungen in verrauchten und stinkenden Schenken den Massen geopfert« habe und »wie ein Angestellter und Taglöhner sklavisch jener finsteren, schriftkundigen Menge diente, die ihren Marxismus verkaufte und sich vom vierten Stand ausbeuten ließ«. 212
In solchen Augenblicken, die Tag für Tag wiederkehrten, verleugnete er seine Märtyrerrolle, bespuckte seine »vierundzwanzigstündige Nivellierung« und quälte Kunej empfindlich und andauernd. Mit weinerlicher Stimme berichtete er Kunej, erzählte ihm von seiner Liebe, seinem Leben und seinen Leiden, hielt ihn krampfhaft an der Hand, als wisse er genau, daß es Kunej unangenehm sei, in seiner Hand die verschwitzten Finger eines Sterbenden zu spüren. Bei der Schilderung trauriger und aussichtsloser Episoden, von denen es in seinem Leben viele gab, küßte er Kunej auf den Mund (stets auf den Mund), er forderte ihn auf, seine Suppe zu kosten, ob sie genügend gesalzen sei, Wasser aus seinem Glas zu trinken, weil ihm schien, daß es abgeschmackt oder lauwarm wäre, und das wiederholte er immer wieder, absichtlich und böswillig. Heute früh, als er aus seinem herrlichen Liebestraum mit der Frau Mailaender erwachte, konnte Thomas Bakran dieses wogend durchsichtige Weibchen mit ihren Spiegelchen und Schminken plastisch vor sich sehen, diesen bebenden Schmetterling in weicher Seide und Batist, und in seiner tiefen Sehnsucht nach diesem Geschöpf, wie aus der Watte zarter und verfeinerter Regungen, erzählte er Kunej wahrscheinlich schon zum hundertstenmal von seiner großen Liebe zu dieser Frau und seinem Selbstmordversuch, bei dem er drei Schüsse in sich feuerte. Er lernte Frau Ida, die Gattin des Kommandanten der Autokolonne, des Wiener Bankiers und Reserveleutnants Erich Mailaender (bei dem Bakran als Ordonnanz dien213
te) im regnerischen Herbst Galiziens kennen, als Angst die Menschen bedrückte und als ihm diese Frau wie eine Ampel erschienen war, an der man sich erwärmen könnte. Als Diener und Ordonnanz wickelte er Frau Ida warmes Fell um die Füße, half ihr beim Einsteigen in das Auto, trug ihre Koffer und schloß hinter ihr die Wagentür, putzte ihre Kleider und Schuhe und sog dabei, wie ein Blutegel, gewisse körperliche Vertraulichkeiten ein, die sich wie kostbare Hüllen vom Körper einer Frau lösen, ihre Bewegungen, ihren Duft, ihre Blicke, die Gesamtheit des Körperlichen, des Warmen, des Liebreizenden. Er verfolgte diese weiße Frau in der Gesellschaft gemästeter Geldsäcke, die ständig in ihren Mäulern daumendicke Zigarren kauten und zum Sport als Automobilisten Krieg führten, um fünfzehn Kilo Fett zu verlieren, und diese Frau sang zusammen mit diesen besoffenen Autooffiziersbäuchen, und er, der Diener, mußte ihnen Glühwein einschenken und glaubte den Verstand zu verlieren. Den glatzköpfigen, kurzsichtigen, achtundneunzig Kilo schweren Mailaender haßte und verachtete er aus tiefstem Herzen so lange, aber am Tag, an dem Frau Ida abgereist war, beschloß er, ihn zu erschießen. Mailaender war Säufer, Zyniker, Schürzenjäger und luderte mit allen Kellnerinnen, Zigeunerinnen, Jüdinnen und Frauen höherer Beamten im Umkreis von fünfzig Kilometern. Und dieser Vielfraß besudelte mit seinem Abschaum nicht nur sich selbst, sondern riß auch Bakran mit in diese Affairen, der als Diener, als Hundemensch, neue Weibware auftreiben und dem Ehemann dieser herrlichen, warmen, wachsweißen, legendären Venus hungernde, elen214
de, durchnäßte und traurige Jammergestalten zuführen mußte. An jenem katastrophalen Morgen fuhr Mailaender zu einem Lokalaugenschein an den Platz, an dem sich ein Fahrer, ein Jude, Zugsführer der Autoabteilung, erhängt hatte, und dort, am Ort des Selbstmordes, unter dem Heuboden, wurde Mailaender fuchsteufelswild, lärmte laut und begann pöbelhaft zu fluchen. »Was brüllt denn dieses Schwein und flucht hier angesichts eines Toten, statt die Mütze abzunehmen? Dieses Schwein, das abscheuliche, und ich muß vor ihm kuschen und die Stiefel putzen, ihm und seinen Weibsbildern.« Bakran erinnerte sich in diesem Augenblick lebhaft an Frau Ida, und da Mailaender gerade das Auto bestieg und seine Hand im Spalt der lackierten Autotür hielt, genau zwischen den gut geölten Türangeln, schlug Bakran in einem Anfall starker Antipathie voll Ekel gegen diesen Rüpel mit voller Kraft die Autotüre zu. Die Brillanten am Ring des Bankiers splitterten, der Daumennagel war zerquetscht wie aus Wachs, und Mailänder, aufgebracht vom großen Schmerz und blutend, schlug Bakran mit der Faust auf den Kopf, daß dieser vom Trittbrett des Wagens in den Kot stürzte. Als sich Bakran, benommen vom heftigen Schlag, wieder erhob, trugen die Soldaten gerade den Leichnam des toten Juden über die Straße, und die im Rückgrat (als wäre es gebrochen) schlaff gebogene Leiche und der Arm des Toten, der traurig hinund herbaumelte, als wäre er kein Arm, sondern ein mit Sägespänen gefüllter Ärmel, alles zusammen wirkte auf Bakran so, daß er sein Frommergewehr von der Schulter 215
riß und auf Mailaender abfeuern wollte, dann aber Angst bekam und in letzter, schwarzer, leidenschaftlich süßer Furcht etwas wie heißes warmes Feuer und Pulvergeruch verspürte. »Jawohl! Ich hatte nicht die Charakterstärke, den Halunken zu erschießen! Angst überwältigte mich im letzten Augenblick! Schau her! Da traf mich eine Kugel, da die andere!« Bakran setzte sich im Bett auf und wollte sein Hemd ausziehen, um mit der tagtäglichen Demonstration der von wildem Fleisch überwucherten Narben zu beginnen, an den Stellen unter den Rippen, wo die Kugeln Löcher gebohrt, das Schulterblatt durchschlagen und dann den Körper wieder verlassen hatten. Diese Prozedur hätte bestimmt bis zur ärztlichen Morgenvisite gedauert, wäre inzwischen nicht Paul Krischanitsch, der Freund und Schulkollege Bakrans, im Türrahmen aufgetaucht, unter dem Arm einen großen, rotweiß gestreiften Polster, der mit Spagat fest zusammengebunden war, wohl, damit er kleiner aussehe. Veranlaßt hatte das die Einbildung Bakrans, daß die Spitalpolster zu hart seien (womit er eigentlich nicht unrecht hatte), und daß er nicht einschlafen könne, weil die Spitalpolster zu hart seien, und so meckerte er und plärrte schon eine Woche lang nach einem weichen Polster mit »geschlissenen Federn«. Dieser Wunsch Bakrans konnte nicht erfüllt werden, weil es nach der Hausordnung des Spitals Patienten dritter Klasse nicht erlaubt war, eigenes Bettzeug zu benützen, und Paul Krischanitsch, der an diesem Sterbebett die Rolle eines Samariters spielte, 216
scheiterte schon mehrere Male mit seiner edlen und biblischen Absicht, einen Polster durch das Tor des Krankenhauses einzuschmuggeln. An diesem Morgen aber schien es, als sei Krischanitsch dieses Unterfangen endlich gelungen, Thomas Bakran jedoch, wäre ihm in diesem Augenblick das letzte Geheimnis der Geheimnisse offenbart worden oder hätte man ihm den Herrgott selbst vom Himmel geholt, könnte nichts glücklicher gemacht haben, als dieser jämmerliche, rot und weiß gestreifte Polster. Er breitete beide Hände aus, umarmte den unglückseligen Polster und begann wie ein Narr zu lachen, aber schon wieder ging die Tür auf, und die ehrwürdige Schwester Krankenpflegerin trat ein, machte einen Rundgang durchs Zimmer, entdeckte den Polster auf Bakrans Bett und wollte ihn wegnehmen. Kurz und gut, Bakran wollte der Schwester den Polster nicht geben, und sie ging, ganz bleich und zitternd, den Herrn Sekundarius holen, damit er in diesem Zimmer vor der Morgenvisite Ordnung schaffe, weil der Chef, der Herr Primarius, ein gestrenger und pedantischer Herr sei, eine Maschine mit Glasaugen und unnachgiebig in Kleinigkeiten. Als dann der Sekundarius Doktor Walter ins Zimmer kam, stritten gerade einige Patienten mit den Maurern, die rücksichtslos die Mauer demolierten und dabei waren, eine Schlägerei mit den Patienten anzufangen, weil sie sich in ihrer Arbeit nicht stören lassen wollten; von der Straße drang Lärm und das Morgengeschrei herein, der Bügel der Straßenbahn schleifte über den Draht und versprühte rote Funken; alles schien erregt, 217
in Aufruhr und Bewegung. Walter geriet in Wut, ebenso gegen die Maurer wie gegen die Patienten, begann zu schreien, entriß in seiner Aufregung Bakran den Polster und schritt dem Ausgang zu. Kunej sah den Wachmann neben Bakrans Bett, sein blankes Messer auf dem Gewehr, die blöden Gesichter der Maurer und der Kranken, hörte den Straßenbahnbügel schleifen, und in diesem Augenblick kam ihm das bleiche Gesicht Bakrans derart verzweifelt vor, Doktor Walter derart miserabel, sein eigenes Inkognito derart schändlich und das samaritisch-passive Verhalten Krischanitschs derart unerträglich, dumm und abstoßend, daß er seinem Freund Walter nachlief, ihn anhielt und mit energisch-erhobener Stimme aufforderte, Bakran das Polster zu lassen. »Was heißt denn das? Was wollen Sie von mir? Was soll denn das bedeuten? Zurück auf Ihren Platz!« schrie Walter hysterisch Kunej an, völlig logisch und der Situation entsprechend, denn Walter und Kunej hatten verabredet, daß während des Aufenthaltes Kunejs im Krankenhaus die beiden Freunde, im Interesse Kunejs, einander nicht kennen sollten. Kunej sah wohl ein, daß jedes weitere Wort fehl am Platz und dumm wäre und daß alles keinen Sinn habe, daß die Hausordnung vorschreibe, Patienten dritter Klasse dürfen kein eigenes Bettzeug haben, auch, daß Bakran mit oder ohne Polster sterben werde – aber er konnte sich nicht mehr beherrschen, weil ihm ein Rückzug in dieser Lage ebenso lächerlich vorkam wie die Hausordnung, wie der Polster und Walter und sein eigenes Inkognito und überhaupt diese ganze dumme und unwürdige 218
Situation. Und so stellte er sich vor Doktor Walter, ergriff den Polster mit beiden Händen und wiederholte laut: »Ich bitte dich, laß den Polster!« »Zurück auf Ihren Platz, verstehen Sie mich?« »Aber, aber! Ich bitte dich! Welchen Sinn hat denn dieser Witz? Laß dem Mann den Polster! Deshalb wird das Krankenhaus nicht einstürzen!« »Verzeih, aber dein Benehmen übertrifft jede Erwartung! Das ist eine alle Grenzen übersteigende Frechheit!« Panischer Schrecken verbreitete sich im ganzen Zimmer. Es hatte den Anschein, als werde sich Doktor Walter auf Kunej stürzen, und auch die Tatsache, daß der Herr Doktor, entgegen seiner Gewohnheit, einen Patienten mit »Du« anredete, machte die Menschen stutzig; und hätte nicht in diesem Augenblick draußen, auf der Straße, der Trommelwirbel eingesetzt, hätten die Reitertrompeten nicht Signal gegeben und die Musik nicht die Hymne zu spielen begonnen, wäre ein Skandal ersten Ranges ausgebrochen. So aber drängten sich die Menschen zu den Fenstern, um die Militärparade zu sehen, Walter riß sich zusammen, verzog sein Gesicht, zuckte widerstandslos apathisch mit den Achseln, ließ den Polster los und schritt wortlos hinaus, als ginge ihn das Ganze gar nichts mehr an; alles löste sich in blödes, unerträgliches Schweigen auf, das wie ein Druck auf der Seele lastete, von dem Röte ins Gesicht stieg und hinter dem weder irgendeine Harmonie noch höherer Sinn zu finden war. Im Rahmen unserer Geschichte spielt Paul Krischanitsch 219
keine große oder wichtige Rolle, aber dennoch scheint es angebracht, jeinige Worte über ihn zu sagen: Dieser Paul war ein Mensch ohne ständigen Beruf, der seine Studien wegen gewisser freisinniger Ideen aufgab, von denen er später selbst behauptete, sie seien blöd und steril, und von denen er dennoch nicht einen Millimeter abgehen wollte. Er war von Natur aus kontemplativ und verlor sich des öfteren in aussichtslosen Analysen, die Passivität seines Charakters war aber, wie er selbst erzählte, ein Erbe seiner seligen Mutter, die irgendwo unter den Wehrtürmen der alten Stadt eine Wäscherei betrieb, sich für höhere Dinge begeisterte, für Papierblumen und in Schildpatt gebundene Gebetbücher, und die öfters in den Abenddämmerungen langweilige Weisen eintönig auf der Zither zupfte. Im tragischen Geschehen am Totenbett des Thomas Bakran übernahm Paul Krischanitsch die fiktive und verrückte Verpflichtung, mittels andauernder Krankenwachen, Verrichtung kleiner Gefälligkeiten, Vorlesen aus Zeitungen und Büchern, Mitbringen von Arzneien und Blumen (lieblicher tagtäglicher Kleinigkeiten) im sterbenden Thomas den Glauben an die Menschen wiederzuerwecken und auf diese Weise die Idee der Menschlichkeit zu retten, an der dieser sterbende gottlose Mensch so schrecklich zu zweifeln begonnen hatte. Bakran Thomas, Krischanitsch Paul und Balotschanski Koloman besuchten seinerzeit zusammen dieselbe Klasse des Untergymnasiums, und hier, in diesem Spital, trafen sie sich nach vielen Jahren am Krankenbett Bakrans zum erstenmal wieder, jeder in einer anderen Funktion. 220
Bakran als leidender Dulder, Balotschanski als Vertreter des Staatsapparats und Krischanitsch als ein Mensch, dem unsagbar viel daran lag, die Idee der Menschlichkeit zu retten. Im Gymnasium war Balotschanski, der Sohn des Illustrissimus, des Herrn Banalrats, ein zartes Muttersöhnchen im feinen Marineanzug aus Schurwolle, mit Photoapparat und Violine, einer der besten Schüler der ganzen Anstalt: fünf »vorzüglich«, alles andere »sehr gut«. Bakran hingegen, der Sohn eines Säufers, der im Regenwasser eines Straßengrabens (das Wasser reichte bis an die Knie) umkam, zeigte, außer für Geschichte und Geographie, für keinen Gegenstand besonderes Interesse, und schon in der dritten Klasse des Untergymnasiums war vorauszusehen, daß er nicht durchhalten, aus den Reihen der Knaben in Matrosenanzügen aus Schurwolle treten und in einem schwierigen, schwärzeren und klebrigeren Leben ausrutschen werde. So geschah es auch. Bakran fiel durch, wiederholte die Klasse und fiel wieder durch, dann verschwand er als Lehrling in einem Kaufladen. Krischanitsch begegnete Bakran zum erstenmal nach dem Gymnasium in Galizien, an einem Samstag-Vorabend, als die Juden in den Fenstern Talgkerzen brennen ließen und alles feierlich aussah wie vor Passah. Bakran diente in Mailaenders Autoabteilung und konnte Krischanitsch eine Tafel feinster Schokolade schenken, so fanden sie sich wieder und kamen sich bei dieser Tafel gestohlener österreichischer Schokolade wieder näher. In jener kritischen galizischen Zeit trachtete Krischanitsch, sich von den Überresten nationaler Romantik freizumachen, und 221
sah in den Dingen um sich herum eine teuflische Mühle, die unzählige Leben und Existenzen sinnlos und ohne jeden tieferen Grund mahlt und zermalmt. Bakran aber, das hagere Bürschlein mit den typischen Gesten eines Handelsgehilfen, mit schwindsüchtigen, bis zu krankhaft bläulicher Durchsichtigkeit verfeinerten Händen, geriet in Wut und versuchte Krischanitsch die Notwendigkeit neuer, »rettender« Ideen und Pläne klarzumachen, die das Problem zerbrechen würden wie er diese Tafel gestohlener österreichischer Schokolade. »Zerbrechen soll alles, wie diese Schokolade!« Bakran entzündete sich an einem Funken jenes nebelhaften, wohlwollenden, erleuchteten Messianismus, der damals durch alle Gehirne der Europäer wehte, alle Gefühle und Nerven galvanisierte und bis zu einer verrückten und abnormalen Begeisterung anspannte, bis zu einem fanatischen Glauben an »Wahrheit« und an »Gerechtigkeit«, dann aber zerbrach dieser im Krieg entstandene, akute Glaube wie ein morscher Ast und blieb gebrochen liegen. Vorige Nacht betrank sich Paul Krischanitsch in Kneipen und diskutierte volle achtzehn Stunden lang über »höhere Sinngebungen«. Als er am frühen Morgen die Straße betrat, samt dem Polster, den er für Bakran mitgenommen hatte, fühlte er plötzlich den gewaltigen Kontrast zwischen dem lichten und klaren Morgen und dem schmutzigen, giftigen krankhaften Hindösen der vergangenen Nacht. Er fühlte, mit vollen Lungen die Frische des Morgens einatmend, wie sich sein Brustkorb wie ein Blasbalg dehnte und wie sich, munter wie eine Eidechse, 222
sein Muskelgewebe lustvoll über sein ganzes Knochengerüst ausbreitete. »In all dem krankhaften Chaos, in den jämmerlichen Komplikationen der alltäglichen Wirklichkeit, existiert schließlich und endlich auch die Schönheit des sonnigen Morgens«, dachte Paul Krischanitsch. Über diesen Perfiditäten und Dummheiten, Krankheit, Unrat, Schmutz und Gestank (kurz, über allen negativen Auswüchsen des Lebens), über diesem ganzen Unflat und Graus, der aufbricht und klafft wie ein zerfetzter Darm in der Höhle des menschlichen Leibes (einen denkenden Menschen an die schwarzen Schlacken und Säuren und die ekelhaften Prinzipien erinnernd), oh! über allen diesen besoffenen Schweinen, die grunzend um Dirnen werben: – Nun, Kleine, na, na! Kleine, he! heda! Pst, pst, also Kleine! – (bei der Erinnerung an irgend jemandes abstoßendes, gespenstisches Zwinkern nach den Reibflächen einer bleichen Frau in der vergangenen Nacht überlief Krischanitsch ein Frösteln), über diesem bis zum Selbstvergessen tierischen, kotzenden, winselnden, saufenden und zwinkernden Leben, über diesem Wahnsinn, der tötet und vergiftet und kopf- und sinnlos lumpt, schau nur! über all dem existiert das reine Leben des sonnigen Morgens! Der tiefgründige, stille, große Morgen, an dem der Mensch durch die Straßen geht, die taufrische Luft schlürft, auf die Morgenglocken hört und mit seinem Auge, wie mit einer Lampe, die endlosen Weiten unseres Lebens erhellt. Doch diese Stimmung hielt nicht lange an. Den unglückseligen, rot-weiß gestreiften Polster unter 223
den Arm knutschend, erinnerte sich Krischanitsch, daß er diesen bald durchs Eingangstor werde schmuggeln müssen, um ihn einem Sterbenden zu bringen, daß alles in allem hoffnungslos sei und daß es keine Hilfe gebe und keine geben könne. Da die Kolporteure Zeitungen mit den neuesten Sensationen über die Verfolgung der Kommunisten ausriefen und Truppen in schweren, mittelalterlichen Sturmhelmen zur Parade marschierten, stieg im Krischanitsch Unmut auf und verdichtete sich zu faulem und elendem Kummer. Zwei, drei Menschen gingen vorbei, mit grünen und krankhaft leeren Gesichtern, als wären sie tödlich an Krebs erkrankt, aber ihre Bewegungen waren hämisch, katzbuckelnd und verbrecherisch. Kriminell. Ein Fleischerwagen fuhr vorbei, vollbeladen mit stinkenden, blutigen Tierleichen, und ein Pferd blickte Krischanitsch so schmerzerfüllt und intim an, daß er seinem besten Freund in die Augen zu schauen meinte. Vor der Kirche standen Blinde mit Rosenkränzen, und aus den leeren Augenhöhlen gaffte unangenehmes Schwarz; eine Frau mit dem aufgedunsenen Gesicht einer Ertrunkenen weinte leise, und die Orgel brummte aus der Kirche. »Erste Christenverfolgung«, dachte traurig Krischanitsch. »Die ersten Christen verfolgt und schlachtet man, wirft sie in die Arena, hetzt gegen sie Hunde, Polizei und wilde Tiere. Da haben wir’s! Behelmte Truppen marschieren, Legionen, Kohorten, Rom geht unter, Barbaren drängen vor, alles ist beschämend dumm und niederträchtig! Wenn ich wenigstens einfältig sein und ihnen Glauben schenken könnte! Wäre ich doch charakterfest 224
(auch im Negativen – meinetwegen), wäre ich doch ein Schuft und ein Demagog, um mit diesen Panzerreitern Kriegs- und Staatsspiele zu treiben! Dann würde ich mich nicht so durch die Straße schleppen wie eine faule Larve, weder nach links noch nach rechts gehörend!« So stumpf zerrissen trat Krischanitsch ins Krankenhaus, geriet dort mit der Nonne in Streit, sah, wie Kunej von Doktor Walter angebrüllt wurde, und als der Doktor das Zimmer verließ, folgte er ihm. Er kannte den Arzt aus der Studentenzeit, sie wohnten als Landsleute einmal auch ein ganzes Jahr lang zusammen, in einem der großen nördlichen Industriezentren des Auslands, und deshalb glaubte er, dem Doktor Kunejs Erregung erklären und diese Affäre nach Möglichkeit bereinigen zu können. Aber Doktor Walter wollte kein Wort der Aufklärung hören. »Vor allem ist es blöd und unbesonnen, durch derartige Ausfälle die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und zweitens ist es ein unloyales Vorgehen! Ich habe mich der Freundschaft zuliebe exponiert und Kunej im Spital einen Platz verschafft als unbekanntem Kranken, der keine Dokumente hatte (ich habe für ihn die Verantwortung übernommen), und nun spielt er leichtfertig mit meiner Güte und macht Skandale! Das ist gemein, ein ungezogenes Benehmen!« Da er nichts ausrichten konnte und auch einsah, daß Doktor Walter im großen und ganzen im Recht war, kehrte Krischanitsch in das Krankenzimmer zurück; alle Patienten drängten sich an den Fenstern, vollauf beschäf225
tigt mit dem Vorbeimarsch und der Militärparade auf dem großen Platz vor dem Spital. Auch Thomas Bakran hatte den Wunsch geäußert, die Parade zu sehen, so hatten sie sein Bett vor das eben durch die Wand geschlagene Loch gezogen, und er konnte nun, wie durch das Vergrößerungsglas eines altmodischen Panoramas, den Platz überblicken, auf dem Infanterieeinheiten, Kavallerie und Batterien paradierten. Der Statthalter, von einer Suite von Automobilen, Zylinderträgern, Generalen und Adjutanten umgeben, stand wie ein Wetterhahn, den Stößen des Vorbeimarsches ausgesetzt, rem Krankenhaus genau gegenüber, so daß sich seine Gestalt auf dem Quadrat des Gehsteigs an der anderen Platzseite klar abzeichnete. Die langen Züge der bewaffneten Infanterie, die in parallele Defileekolonnen gruppiert war, die sechsspännigen Batterien, die Reiter und die technischen Truppen, alles stampfte mit Eisenbeschlägen tapfer auf den Asphalt, unter Waffenklirren und exaktem Säbelrasseln; wie starr wirkte die Haltung des gestrafften Fleisches, wie Schnüre aus bleichen Gesichtern wirkten die Reihen der Soldaten, eine gleich wie die andere, und gleich auch die Intervalle zwischen den Schlägen auf die große Trommel. Der Statthalter sah aus der Entfernung wie ein kleines Männlein mit Zylinder aus und sein schwammig aufgedunsenes, marzipanhaftes Gesicht wie ein gelblicher Fleck über dem Frack und dem weißen Plastron. Man sah nur, wie er mit monotonem Zylinderlüpfen eine Truppe nach der anderen grüßte, und es sah so aus, daß ihn das alles trotzdem noch nicht langweilte. 226
Erregt wegen des Zwischenfalls mit Doktor Walter brannte Kunej, diesen Statthalter dort drüben auf dem Gehsteig betrachtend, in wildem Zorn. »Dort steht er, das ist er, der Generalissimus, unser Heerführer, der Fahnenträger unserer Politik, mitten auf dem Hauptplatz, in dieser Gegenwart mit ihren Ereignissen und Problemen, steht ein solches Individuum mit dem Generalstab und den Generalen da und begrüßt die vorbeimarschierenden Truppen. So, wie dieser Kerl auf dem sonnbeschienenen Gehsteig heute früh die Truppen betrachtet, genau wo wird er sie morgen und anderswo im Kanonenfeuer betrachten und beim Vorbeimarsch in den Tod begrüßen.« Mit allen gesunden Instinkten seines machtgierigen Gehirns konnte Kunej, lebhaft und plastisch, ein gigantisch wogendes, von Waldparzellen umsäumtes Terrain vor sich sehen, den Kanonendonner hören und die imaginären Heerführer, deren rotgefütterte Mäntel im Wind wie Fahnen flatterten, beobachten. »Sie und ihresgleichen waren stets Generale, Minister, Heerführer, er aber war in dieser Gesellschaftsordnung immer nur Sklave und Kanonenfutter, ein Paria, ein demütiger Statist unter dem Helm, in Reih und Glied ganz am Ende, in der Prozession ebensolcher namenloser Spielfiguren, wie auch er eine ist: eine Figur, deren es Hunderte und Hunderttausende gibt! Ein Bleisoldat! Eine Puppe mit einem Mausergewehr! Eine Nummer!« Kunej beobachtete den Statthalter haßerfüllt. Er hatte diesen Mann gut gekannt und viele Nächte fruchtlos mit ihm gestritten in Gesprächen, die zwischen zwei Le227
bensaltern geführt wurden, von denen das eine schon sein Abitur macht, während das andere in der ersten Gymnasialklasse den archimedischen Lehrsatz zu lernen beginnt. Im Gymnasium trennten sie einst acht Klassen voneinander, heute trennen sie Welten! Kunej erinnerte sich, wie er diesen berühmten und hervorragenden Volkstribun, den heutigen Statthalter, vor langer Zeit in einem schmutzigen Tanzlokal sprechen hörte, wo es nach verschüttetem Wein, Frauenschweiß und durchlumpter Nacht roch und wo von den mit Laubgirlanden geschmückten Balustraden große Papierclowns in den mit Proletarierköpfen vollgestopften Saal hinunterhingen. Es hatte geschneit, und man konnte vernehmen, wie die Leute mit den Füßen stampften und den Schnee von den Stiefeln abzuschütteln versuchten. Auf der Rednertribüne, zwischen zwei baumelnden traurigen Clowns, stand der heutige Statthalter und wetterte gegen Generale, gegen Kriegsschulden und Aufrüstung und feuerte mit seinen zur Genüge bekannten Phrasen die Volksleidenschaften an, und das Volk glaubte ihm und klatschte begeistert Beifall. Und heute steht er dort auf dem Gehsteig, begrüßt mit seinem Zylinder die vorbeimarschierenden Truppen, und das Volk mit Helm und Säbel paradiert brav vor ihm. Krischanitsch stellte sich neben Kunej und verschaute sich in den Vorbeimarsch und in den Statthalter. Wie Kunej kannte auch Krischanitsch den Statthalter noch aus ihrer Gymnasialzeit und wurde im Untergymnasium sogar für ein Jahr aus der Schule ausgeschlossen, weil er in der Anstalt irgendein revolutionäres soziali228
stisches Blättchen für die Mittelschuljugend verbreitete, veröffentlicht und redigiert – vom heutigen Statthalter. Später dann, mit der Partei sympathisierend und als Mensch mit Neigungen zur Analyse, Haarspalterei und Negation, durchschaute er diesen Statthalter und sprach von ihm stets leicht ironisch, als sei ihm unwiderlegbar klar (wie es auch anderen hätte sein können), daß dieser Mann Amerika nicht entdeckt habe! Aber auch jetzt, während er den Statthalter an der Spitze der Generalität betrachtete, sah er im schwerwiegenden Mangel irgendwelcher moralischer Fähigkeiten an ihm eher einen traurigen als einen schändlichen Zustand. Wenn ein Mensch sich mit Frack und Zylinder, mit Orden und Titeln maskiert, seine Parteiprogramme, seine Überzeugungen und seine Ideologien ändert, ausschließlich im Interesse dekorativer, oberflächlicher und karrieristischer Ziele, nur um Knochen an der höchsten Tafel nagen und im Salonwagen reisen zu können, dann ist so etwas eine sentimentale kleinbürgerliche Beschränktheit und deshalb traurig und bedauerlich. Ein solches Gehirn empfindet keinerlei Bedürfnis nach Auswegen in senkrechten, gewagten und infinitesimalen Linien. Wozu steht dieser jämmerliche Mensch da inmitten des Platzes und inspiziert die Armee? Er leistet diesen elenden Dienst für namenlose reiche Budapester und Wiener Aktien und die Belgrader Zinzaren-Firmen, er dient ihnen, als wäre er ein Handelsgehilfe oder Nachtwächter oder Feuerwehrmann! Er grüßt frühmorgens die Kanonen, weil jene Herren, für die die Kanonen donnern sollen, zu faul sind, um so früh aufzustehen! Die 229
Herren Bankiers putzen keine Schuhe, lenken nicht ihr Auto oder den Staat. Dafür bezahlen sie Dienstmädchen, Chauffeure und Minister! Dieser Mann da hat keine Ahnung von der Anonymität des wahrhaft Mächtigen, dessen Existenz allen unbekannt ist, weil er-namenlos schweigt und schwelgt, heute früh genauso, wie er in China oder Babylon und in allen Zivilisationen schwelgte. Und völlig unabsichtlich, halblaut und für sich, xrurmelte er spontan: »Eine Jammergestalt!« »Das ist keine Jammergestalt, das ist ein Schuft! Man seilte ihn am erstbesten Laternenpfahl aufhängen!« geriet Kunej in Wut über dieses hingeworfene Wort Krischanitschs. »Wenn man dir so zuhört, könnte man glauben, du seist ein Blutsauger, der nach links und rechts Menschen abschlachtet! Warum an die Laterne, um Gottes willen? Er ist doch ein armer Tropf! Heute versucht der Teufel schwache Geister mit Etatismen, Fahnen, Wappenschildern, Manövern, Militärparaden, demokratischem Parlamentarismus, Blechmusik und Trommeln, dem ›Willen zur Macht‹, der übrigens auch dir nicht unbekannt ist, denn auch du warst Offizier). Das alles ist viel zu bedeutend für Gehirne mit einem kleinen Diameter! Wer könnte wohl solchen Versuchungen widerstehen?« »Stimmt! Doch es müßte sich endlich jemand finden, der widersteht! Das ist Paranoia, an der unsere Menschen kranken, reinste Paranoia ist es! Unsere Leute können die Tragweite und Bedeutung ihrer öffentlichen Tätigkeit nicht begreifen ! Glaubst du denn, daß der dort sich heute noch dessen bewußt ist, was er einmal am An230
fang seines Anfangs wollte? Wie war sein Profil vor fünf Jahren, und wie ist es jetzt, in diesem Augenblick, wo er seinen Zylinder vor Maschinengewehrmauleseln lüftet? Davon hat er keine blasse Ahnung! Vielleicht könnte er unter dem Einfluß von Alkohol seine wahnwitzige Zerfahrenheit noch erkennen, jedoch auch das ist nur eine Sekunde, bestimmt nicht länger, als ein feuchtes Streichhölzchen zum Abbrennen benötigt, dann aber würde er wieder alles in seiner krankhaften, süßlich-faulen Impotenz ertränken!« »Ich bitte dich, reg dich nicht auf! Ich habe überhaupt keine Absicht, jemanden zu verteidigen und am allerwenigsten ihn – das versteht sich doch von selbst. Ich will absolut niemanden schöner und heller zeichnen, als er ist! Aber du übertreibst in jeder Hinsicht! Man muß gerecht sein! Bei der Beurteilung müssen sämtliche Umstände in Betracht gezogen werden! Soziale und moralische Komponenten, politische Möglichkeiten, alles muß man berücksichtigen! »Dein ewiges Verständnis für alles und jedes ist einfach ekelhaft. Ein ganz rotziger Franziskaner-Standpunkt! Ein abstrakter Buddhismus! Du bist ein Hypokrit, ein schäbiger Anthroposoph und gar kein Mensch!« Kunej sprach schon völlig im Leerlauf. Krischanitsch schenkte seinen Worten überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr, völlig benommen von einer Idee, die wie helles Licht in seinem Hirn aufgeflammt war. Er hörte, wie neben ihm Thomas Bakran im hohen Fieber phantasierte, vom Sieg und vom Triumph, vom weißen Roß, von Fahnen und von der Rettung, wie er seinen rot-weiß gestreif231
ten Polster umarmte und drohte, er werde sterben, aber seinen Polster nicht zurückgeben – da schaute er wieder hinüber auf den von der Sonne beschienenen Statthalter, und in diesem Augenblick durchzuckte ihn ein Gedanke, ein eigentlich wasserklarer und ganz einfacher, wie die simpelste Rechnung im Einmaleins. »Gibt es denn etwas Einfacheres? Dieser Zylinderträger dort drüben entscheidet völlig souverän im Rahmen der präzis festgesetzten Relationen von Bakrans Schicksal! Er kann erlauben, daß Bakran seinen Polster benützt – obwohl es von der Hausordnung verboten ist! Und nicht allein das, er kann auch – mit Rücksicht auf den außerordentlichen Zustand Bakrans – für eine Zeitlang die Untersuchung einstellen lassen, ihn so vor Quälereien bewahren und seine letzten Tage erleichtern! Er kann den Wachmann von seinem Totenbett entfernen, auch kann er mit einem Federstrich oder einem einzigen Wort in die Telephonmuschel Bakran aus dieser Hölle in ein Sanatorium versetzen lassen! Das alles kann dieser Mann mit Zylinder, nur müßte jemand menschlich an ihn herantreten, ihm den Stand der Dinge erklären ind zu einer logischen und einzig und allein menschlichen Geste anregen.« Begeistert von der Unmittelbarkeit seiner plötzlichen allmenschlichen Eingebung begann Krischanitsch sich immer mehr für diese Idee zu erwärmen, während er gleichzeitig Kunej zu erklären versuchte, wie es dazu kommen konnte, wie sich aus einem sozialistischen Volkstribun und Demagogen ein königlicher Statthalter entwickelte, bis er von einem Zylinderträger immer 232
warmherziger sprach und das Gefühl für die tatsächliche Distanz, die sie voneinander trennte, verlor. In seiner Vorstellung war der andere kein antipathischer Repräsentant der Staatsgewalt mehr, kein Mensch, der alle seine besseren Überzeugungen wegen kleinbürgerlicher Vorteile weggeworfen hatte, sondern »ein guter Mensch«, mit dem man aufrichtig und direkt, wie eben mit einem »guten Menschen«, sprechen müßte, weil es unmöglich ist, daß er dann nicht einsehen würde, wie es das Höchste im Leben ist, ein »guter Mensch« zu sein. Paul versuchte sich daher in die Lage des Statthalters einzuleben, sich die volle Last der moralischen Verantwortung für die politischen Unzulänglichkeiten dieses Mannes aufzubürden, und gab sich der wohlwollenden Einbildung hin, daß auch er an dessen Stelle die Meinung geändert hätte, gleich ihm abgefallen wäre. »Denn schließlich und endlich glaubte auch dieser Mann vor einigen zehn oder fünfzehn Jahren an glanzvolle Parolen und trat als braver und brotloser Bursche mit dem intensiven, unbefleckten Glauben der Jugend in die Internationale ein. Auch er kam jungfräulich naiv in die Parteischule der kindlichen Seelen und brachte seine Seele wie ein weißes Täubchen auf der Handfläche dar, sie in die schwieligen und verrußten Hände der mythologischen Göttin Internationale legend. Aber die beschränkten Misanthropen, die kleinlichen Parteileute, die Intriganten und Lumpen, die Schenken, die Diskussionen über die Idee im Wirtshaus beim Abknabbern der Bratenknochen und bei Spritzern, der kleinbürgerlichen Vorkriegsmarxismus an Sonntagvormittagen, auf Kegel233
bahnen und in Kinematographen, das alles zusammen verdroß den Mann! Das ist menschlich, das ist begreiflich, das ist verzeihlich! Schließlich sind das nur Kleinigkeiten und dekorative Äußerlichkeiten im Leben eines Menschen! Hauptsache ist, er bewahrt seine menschlichen Qualitäten – alles andere ist Nebensache! Ein Urteil über einen Menschen zu fällen, bevor wir diese Hauptsache geprüft haben, ist sinnlos und lächerlich! Wenn man dem Statthalter als Menschen die Dinge darlegen und an ihn als Menschen einen Appell richten würde, scheint es ausgeschlossen, daß er eine Kleinigkeit nicht gestatten würde! Schließlich handelt es sich um Menschenleben! Was bedeutet schon, im Vergleich dazu, ob jemand Royalist ist oder nicht! Einfach lächerlich!« Und so, überschäumend von einer transroyalistischen, transrealen und transpolitischen fiebrigen Nervosität, verabschiedete sich Krischanitsch von Kunej und beeilte sich, unbemerkt (damit Bakran es nicht wahrnehme) hinauszukommen, um rechtzeitig in den Palast des Statthalters zu gelangen, sich zur Audienz vormerken zu lassen und das Problem Bakran zu bereinigen, noch rechtzeitig das Leben dieses unglücklichen Menschen zu retten, zu retten auch die menschliche Würde eines Statthalters! Vor allem: es war kein Tag für Privataudizenzen, sondern ein Tag für festliche Empfänge der Korporationen und der Beamtenschaft, an dem der Statthalter im Festsaal die Vertreter der Stände, Ränge und Angestellten vorzulassen hatte, um ihre Glückwünsche zum Tag des historischen Sieges entgegenzunehmen. Das erfuhr Paul Krischanitsch 234
vom Pförtner in der Torloge, und das wiederholte ihm der Privatsekretär Seiner Exzellenz. Nach einer längeren Auseinandersetzung mit diesem Privatsekretär Seiner Exzellenz, der übrigens glatt rasiert war und eine weiße Krawatte trug (wie ein Diener) wurde es Krischanitsch tatsächlich klar, daß es vergebliche Mühe wäre, die Mauern dieser chinesischen Mandarinenfestung durchbrechen und bis zu Seiner Exzellenz vordringen zu wollen, und daher entschloß er sich schon zu gehen, als plötzlich eine grün tapezierte Tür aufging, im Türrahmen die Person des Statthalters auftauchte und dem Sekretär etwas anzuordnen begann. Krischanitsch nutzte diese Gelegenheit, trat zum Statthalter und ersuchte ihn, ihm in einer äußerst wichtigen Angelegenheit einige Minuten Gehör zu schenken, es handle sich um Leben und Tod eines Menschen. Der Statthalter, der ganz beiläufig neben der halbgeöffneten Tür stehengeblieben war, geistig völlig abwesend und zerstreut, mehr mit dem Telephonat seines Sekretärs als mit der Angelegenheit Krischanitschs beschäftigt, schien schlecht gelaunt und mürrisch zu sein, als hätte er vor irgend etwas Lampenfieber, und so wies er Krischanitsch energisch ab. Er bedauere sehr, doch sei es ihm absolut unmöglich, jemanden zu empfangen, denn heute sei kein Empfangstag, und er empfange grundsätzlich niemanden außerhalb der Empfangstage, und außerdem erwarteten ihn Abordnungen, er bedauere, habe aber keine Zeit, bedauere nochmals. »Mensch Gottes, es handelt sich um Leben und Tod, mein Ehrenwort!« 235
»Exzellenz, das Auto ist eiligst hingefahren, ich habe verständigt, bitte sehr …«, meldete sich der Privatsekretär Seiner Exzellenz, und scheinbar hatte diese Nachricht Seine Exzellenz besser gestimmt, denn Seine Exzellenz wendete sich zum Privatsekretär, ordnete an, den »Herrn« anzumelden, sobald alles beendet sein werde, und verschwand dann mystisch und lautlos hinter der grün tapezierten Tür wie ein Magier hinter den Vorhängen seines Tempels. Also ließ sich Krischanitsch im Vorzimmer in einen Lehnstuhl nieder, betrachtete die goldumrahmten großen Spiegel und wartete. Vorbei zogen Reihen von Deputationen, komische, graue, unproportionierte Leute, mit bleichen, mißmutigen, ausgehungerten Beamtengesichtern, mit fingerbreiten, schlecht gebundenen, komischen Krawatten, mit abgetretenen altmodischen Zugstiefeln, die zu den Fracks, den Zylindern und zu den Orden gar nicht passen wollten; kanzlistische Typen ähnlich einer gewissen Art von Volksschullehrern, alle erschrocken und lächerlich, gleichsam aus den Tiefen der Spiegel wie Gespenster hervortretend, um dann im nächsten Augenblick zu verschwinden, als hätte sie ein Abgrund verschluckt. Krischanitsch war zerfahren und konnte sich nicht sammeln, er dachte darüber nach, wie alle diese Beamten und Feuerwehrleute, diese karitativen Frauenvereine in absolut keinem Verhältnis zu dem glorreichen Sieg des heutigen Tages stehen, und wie Seine Exzellenz, der Statthalter, zu Hause wegen seiner Antwortrede auf die Begrüßung der Huldigungsdeputationen anrufen ließ, die er auf seinem Schreibtisch vergessen hatte, und wie 236
in diesem Augenblick, gleichzeitig mit dem Aufmarsch dieser hungrigen Armensünderreihen, das Auto wahnwitzig schnell durch die Straßen rast, mit der amtlichen Antwortrede des Statthalters als Wimpel, um im richtigen Moment dazusein. »Das alles ist doch nur Theater«, dachte Krischanitsch, bemüht, die zerrissenen Fetzen der Ereignisse und der Erscheinungen einigermaßen harmonisch und sinnvoll zusammenzufügen. »Hier wird auf echten Brettern gespielt, ich möchte aber wissen, ob und was für eine übernatürliche Macht diese Leute samt und sonders zwingt, auf dieser Szene zu bleiben und nicht mit Fußtritten die Rampe und die Kulissen zu zerschlagen, damit der Wind sie zu allen Teufeln verweht.« Lange blieb Paul Krischanitsch im Lehnstuhl des Vorzimmers sitzen; durch die geschlossene Tür vernahm er, wie Deputationen wie ein Fußballklub vor dem Match brüllten: Hoch! Hoch! Hoch! Und sie kamen durch denselben Spiegel zurück, durch den sie eingetreten waren, und irgendwelche Referenten mit Aktenbündeln zogen vorbei und kamen zurück, und das Telephon läutet vielfach, bis der Privatsekretär Seiner Exzellenz wieder erschien und dem »Herrn« Paul Krischanitsch mitteilte, daß ihm Seine Exzellenz befohlen habe, ihn entschuldigen zu lassen, aber Exzellenz mußte unerwartet zum Erzbischof, und Exzellenz erwartete ihn eventuell morgen zur selben Stunde, dann werde er ihm zur Verfügung stehen. Mittag war vorbei, und durch die offenen.Fenster hörte man das Girren der Tauben und fernes Läuten. Krischa237
nitsch hörte zu, wie ihm der Privatsekretär erklärte, daß er sich nicht in das Audienzbuch beim Portier einzutragen müsse, er möge sich gefälligst direkt bei ihm melden, das wäre das Vernünftigste; also erhob er sich und verließ wortlos das Palais des Statthalters. Im Krankenhaus, in das er zerknirscht und betrübt zurückgekehrt war, fand er zwei Polizeiwachen neben dem Bett von Thomas Bakran und konnte gar nicht zum Kranken gehen, weil ihm die Ehrwürdige Schwester energisch und rückhaltlos die Türe wies: hier sei ein Krankenhaus und kein kommunistisches Brutnest. Draußen auf dem Gang erzählte.ihm ein Patient, daß es zu einem ungewöhnlich lauten Skandal gekommen sei, daß der Patient Pawlitsch (das war Kunejs Deckname) gegen den Staatsanwalt tätlich wurde, ihn ohrfeigte und aus dem Zimmer warf, daß danach Patienten gegen den Wachmann am Bett Bakrans aufbegehrten und eine Schlägerei mit dem Polizisten provozierten und daß dann Kommissare kamen und den Patienten Pawlitsch festnahmen, der übrigens gar nicht Pawlitsch heiße, sondern ein berühmter, von der Polizei schon lange gesuchter Dieb und Kommunist sei. Nach dem Mittagessen, das er in Eile in einem sehr bescheidenen Kellerlokal in der Nähe des Krankenhauses hinuntergewürgt hatte, kehrte Krischanitsch ins Krankenhaus gerade in dem Augenblick zurück, als Polizisten im Gang des Spitals den verhafteten Doktor Walter vorbeiführten, der, bleich und aufgeregt, sichtlich niedergeschlagen voranschritt. Krischanitsch ging auf Doktor 238
Walter zu, um ihn zu fragen, was eigentlich los sei und was das alles zu bedeuten habe, aber ein Polizist stieß ihn zurück, er möge sich entfernen, denn es sei Befehl erteilt worden, daß kein Lebender auch nur ein Wort mit dem Verhafteten wechseln dürfe. Die Untersuchungsbehörden erfuhren zufällig, daß der Doktor ein Bekannter und ein Freund des berüchtigten Kunej sei (der auf Intervention des Doktors ohne Dokumente im Krankenhaus untergebracht worden war), worauf die Polizei auf Anordnung des Staatsanwalts eine Hausdurchsuchung in der Wohnung des Doktors vornahm und dort eine geheime Druckerei und ganze Stöße von Flugblättern und Propagandamaterial fand; so ereilte den Doktor sein Schicksal. Auf der Polizeidirektion wollte man Krischanitsch nichts über diese Affäre mitteilen, und nach langem Warten in den verschmutzten und übelriechenden Polizeikorridoren kehrte er wieder ins Krankenhaus zurück. In den Straßen der Stadt herrschte eine stille, barocke Nachmittagsharmonie, in der Hunde und Katzen und Menschen leise über das Pflaster strichen und hinter herabgelassenen Rollos Klaviere zu hören waren, die Schumann und Schubert klingen ließen und in der alles satt und langweilig war. In weiten und seidenen Perspektiven vibrierte das Blau der Luft, und auf einem fertiggestellten Neubau flatterten Bänder und Tannenkränze um eine bunt beschriebene Tafel: Hoch die Gewerbe- und Handelsbank! Hoch die Baumeister! Hoch die Arbeiter! Hoch! Hoch! Und das ist der Bericht über die Ereignisse im Kran239
kenhaus, während der Zeit, als Krischanitsch im Vorzimmer des Statthalters auf die Audienz wartete. Kunej wurde es von Minute zu Minute klarer, daß er eine Dummheit begangen hatte, als er wegen Bakrans Polster gegen den Doktor aufbegehrte, und der Ärger stieg in ihm noch und schwoll an, wie Schwellungen nach dem Stich eines giftigen Stachels. Den unglückseligen Vorbeimarsch auf dem Hauptplatz unten betrachtend, wurde er immer gereizter, und die Art Krischanitschs, Entschuldigungen zu ersinnen, regte ihn seit jeher auf; schon heute früh konnte er sich kaum noch davor zurückhalten, loszubrüllen und »diesen Idioten und Anthroposophen« abzukanzeln. Die Erinnerung an die unlängst am Kvarner erhaltenen Prügel, als Gegensatz zu diesen bewaffneten Truppen und Kanonen, begann in ihm, dem unbewaffneten und erniedrigten Menschen, der sich vor jenen dort unten, »diesen Dummköpfen, Statthaltern und Schuften«, in Spitalsbetten versteckt halten mußte, einen Kampfgeist und einen kühnen und blinden Willen zur Herausforderung zu entfachen. »Alles in allem ist Krischanitsch der Abstoßendste! Eine ekelhafte Mediokrität! Etwas unternehmen, etwas fertigbringen, etwas wollen, das kann er nicht! Nur so in den Wind faseln von Menschheit und Menschlichkeit, das ist das einfachste und das billigste! Behauptet, seine Passivität von der Mutter geerbt zu haben! Ein Lügner und Hypokrit! Seine Mutter sei schuld, weil sie in der katholischen Kirche zu Gott betete; sie hätte ihn aus der Realität herausgerissen, und sie sei schuld, daß er keinen Mut habe, Mensch zu werden! Zu dumm! Ein kontem240
plativer Trottel! Alle derartigen kontemplativen Trottel müßte man in eine Kanone stopfen und hinausschießen, damit sie der Teufel hole! Für alle kriminellen Greueltaten will niemand persönlich verantwortlich sein! Die einen sind Opportunisten aus metaphysischen Gründen, aus Humanismus oder Kontemplationshumbug, die anderen wieder reden von politischen Grundsätzen oder Rücksichten oder Erfahrungen, nur unternehmen, persönlich unternehmen will niemand etwas! Allgemeine Zersetzung des Verantwortungsbewußtseins! So wird aus dem allen ein Kampf von Phantomen werden, nicht von Menschen und Tatsachen.« Der Zufall wollte, daß in diesem Augenblick der Stellvertreter des Staatsanwalts, Herr Doktor Koloman Balotschanski, das Zimmer betrat und seine täglichen Torturen Thomas Bakrans fortsetzte. Diese Figur im grauen, amerikanisch geschnittenen Covercoat und in Shimmy-Schuhen, dieser Gentry mit einem ungarischen Prädikat und der fiktiven Tradition einer angeblich vornehmen Abstammung, dieser beamtete Schinderhannes, der dem in Agonie sterbenden Bakran täglich ein vermeintliches Geständnis abluchst, dieser antipathische Fant mit seiner knarrenden Aktentasche brachte schon durch seine Erscheinung Kunej in derartige Wut, daß er sofort, im selben Augenblick, das ganz bestimmte Gefühl hatte, es werde etwas geschehen! »Angeblich eine natürliche Sache! Man flunkert, daß es keine Klassen gebe! Als ob die Ahnherren dieses Rotzbuben nicht die Ahnen des Thomas Bakran auf Schandbänke fesseln und ihnen hundertfünfzehn Stockhiebe 241
verabfolgen ließen! Als ob in diesem rassereinen, vollblütigen Trottel nicht das Blut der alten Verböczyaner fließen würde und als ob sein Ohr nicht genau so staatsanwältisch borstig wäre, wie es auch das Ohr seines Vaters war! Man sieht’s ja! Das ist der junge Staatsanwalt als Embryo und Fötus, denn auch sein Vater war Staatsanwalt! Bakrans Vater war ein Säufer und Taugenichts und ertränkte sich im Regenwasser, und auch sein Sohn krepiert wie ein Hund! Gewiß verfolgte der Vater dieses Balotschanski den Vater Bakrans, wie sein Sohn dessen Sohn verfolgt. Und dann kommen verschiedene Dummköpfe, wie dieser Krischanitsch, und faseln von Humanismus und Anthroposophie und was weiß ich noch allem! Dummheit!« So stieg in Kunej der Groll gegen die antipathische »Gentry-Kröte« immer höher, und so mengte er sich in die Amtshandlung des jungen Staatsanwalts, des Herrn Balotschanski, und provozierte einen Streit, und im Streit fiel manches schwerwiegende Wort und schließlich auch jene berüchtigte Ohrfeige, die eine ganze Lawine von Ereignissen ins Rollen brachte: Kunejs Verhaftung, die Hausdurchsuchung bei Doktor Walter und so weiter, und so weiter. Nachmittags, gegen drei Uhr, gelang es Krischanitsch, sich im Gedränge der Besucher neuerdings durch das Tor des Krankenhauses einzuschmuggeln und auf diese Weise unbemerkt Bakrans Zimmer zu erreichen. Bakran lag bewußtlos, und an seinem Bett saß seine Mutter, ein verwachsenes, dunkelbraunes, hochschwangeres Frauenzimmer mit einem hellen Seidentuch. Die Mutter brach242
te ihrem sterbenden Sohn einen warmen Fleischfladen (den er sich heute früh so heiß gewünscht hatte), ein Glas Marmelade und eine Art trockenen Kuchens, der Stiefvater von Thomas saß auf einem danebenstehenden Bett und unterhielt sich mit dem Wachmann, von einer Pendeluhr erzählend, die er vor achtzehn Jahren bei Kohn gegen monatliche Abzahlung gekauft hatte und die noch heute gehe, ohne ein einziges Mal beim Uhrmacher zur Reparatur gewesen zu sein. Auch Krischanitsch setzte sich neben das Sterbebett Bakrans und saß, dieses durchsichtige, von Leid gezeichnete Gesicht betrachtend, das an gewissen Stellen, an den Kinnbacken und den Nasenflügeln wie Wachs glänzte, und er dachte, gefühllos wie eine Maschine, über den Lauf der Dinge nach. »Hier sieht man’s! Dieser junge Mann da liegt in den letzten Zügen, erledigt. Die armen Schlucker daneben schleppten aber ihr Dorf in die Stadt und leben wie Schweinezüchter in Kanzleien und schmutzigen Küchen, beim Licht der Petroleumlampe, beschauen Dinge, tasten sie ab, unterhalten sich über Pendeluhren, backen Fleischfladen für Tote, gebären unglückliche Kinder, halten Wachen für Nazarener! Und ich menge mich unter sie und begrabe Märtyrer, und heute abend werde ich zum Gefängnis pilgern und für Doktor Walter und Kunej Tabak, Insektenpulver und Trockenwurst hintragen, ich werde dumme Bücher lesen und ebenfalls wie ein Irrlicht erlöschen, das für einen Augenblick über dem sumpfigen Moor züngelt und bläulich flackert, bis es sich in Schmutz und Finsternis auflöst.« 243
der tod der dirne maria
E
s ereignete sich in einer – Gott möge uns verzeihen – Zivilisation, die so geartet war, daß solche und ähnliche Ereignisse in den gedruckten Chroniken als etwas kaum Erwähnenswertes vermerkt wurden. Am gleichen Tag, als in den Zeitungen die Nachricht erschien, daß sich in dem und dem Hotel die kleine Hure Maria vergiftet hätte, füllten die Meldungen über den Empfang Seiner Majestät des Königs von Schiavonien, über Fußballwettspiele und Korruptionsaffären in den Ministerien ganze Seiten der Presse. Und so kam es, daß der Tod des Freudenmädchens Maria keinen einzigen Reporter soweit inspirierte, ihm zumindest ein paar Zeilen zu widmen und das ganze Leid, welches dieses schlichte Objekt zerstört hatte, wenigstens vierundzwanzig Stunden lang in dem in schwindelerregendem Tempo dahinrasenden Wirbel der Ereignisse, Sensationen und Bluffs festzuhalten. Maria vergiftete sich eines Morgens gegen vier, und ihr Stöhnen wurde durch die verschlossene Zimmertür von einem Hoteldiener gehört, der gerade im Begriff war, in die dritte Etage hinaufzusteigen, um auf Zimmer einundachtzig einen Gast zu wecken, der mit dem Morgendampfer abreisen wollte. Schon zu der Zeit, als der erste Mensch das Stöhnen des vergifteten Mädchens durch die versperrte Türe ihres Hotelzimmers gehört hatte, war es eigentlich für jeden rettenden Eingriff zu spät, denn die Magensäfte hatten sich bereits mit dem Gift vermischt, und nach menschlichem Ermessen war nichts mehr zu 245
machen. Aber etliche Stunden vorher, als ein unglückliches verweintes Mädchen an der Tür des Archimandriten, Zimmer vierundsiebzig, angeklopft hatte, da waren noch allen Möglichkeiten Tür und Tor geöffnet, und es erscheint uns daher nicht übertrieben, daß zu jener Zeit das Leben, dieses ganze unglückliche Leben des Mädchens, in der Hand des Archimandriten lag – wie ein Porzellanfigürchen, das ein besoffener Bär in seiner klobigen Tatze hält und das er zerbricht, um dann der Welt seinen Hintern zuzukehren und auf vorsintflutliche und hundsordinäre Weise weiterzuschnarchen, rülpsend wie ein Schwein, in dessen Reichweite eine Rose niedergefallen war. Doch da wir nicht die Absicht haben, eine puritanische Abhandlung über diesen Gegenstand zu schreiben, sondern einfach in Ausübung unserer Chronistenpflicht einen Bericht, wird es notwendig sein, dem Leser die Ereignisse in der mehr oder weniger gleichen – übrigens von uns völlig unabhängigen – Reihenfolge darzustellen, in der die Verwicklungen abrollten. Es war also, wie gesagt, spät in der Nacht. Das ganze Hotel schlief bereits, und die mit dem letzten Schnellzug eingetroffenen Reisenden hatten sich in ihren Betten zur Ruhe begeben – wie in Kajüten eines Dampfers, wenn nichts zu hören ist als das Stampfen der Maschinen und nur das Lämpchen auf dem Hauptmast blinkt. Von unten her, aus den Kellerräumen, erklang Musik, aber gedämpft, wie unter einer Glasglocke hervor. An den Enden der langen, mit weichen Teppichen belegten Korridore leuchte246
ten die abgeschirmten Glühbirnen, und von Zeit zu Zeit surrte der Aufzug, dann wurde es wieder still, um nach einer kleinen Pause wiederum eintönig zu surren. Der Archimandrit, ein Riesenkerl von einem Mann, in pelzgefüttertem Mantel, ein kostbares juwelengeschmücktes Kruzifix an einer massiven Kette um den Hals, war noch nicht genügend betrunken, um nicht – eingesperrt mit dem Liftboy in der gläsernen Schachtel des Fahrstuhls – auf den Gedanken zu kommen, wie leicht es doch geschehen könnte, daß das Seil des Fahrstuhls riß und alles zusammen, also auch er mitsamt seinen hundertachtzig Kilo, in die Tiefe sauste. Vor vielen Jahren hatte er einmal dergleichen in der Zeitung gelesen, daß nämlich ein Fahrstuhl auf diese Weise abgestürzt sei mit allen Insassen der gläsernen Kabine, und dieser ungemütliche Gedanke verließ ihn während der Fahrt nicht mehr, so daß er erleichtert aufatmete, als das livrierte Bübchen ihm die Türe öffnete und er feste Traversen und eine solide Betonkonstruktion unter den Füßen fühlte. Der Archimandrit von Zimmer vierundsiebzig, dritte Etage, ein bärtiger Mann mit fettigem, gewelltem Grauhaar, die klassische Erscheinung eines Priesters griechisch-orthodoxer Konfession (wie Mussorgski sie durch mildes Scherzo, Damjan Bjedni jedoch als Spinne mit Popenmütze und üppig wuchernder Nase darzustellen pflegte), der Archimandrit also öffnete weit seine Zimmertür, überströmend gut gelaunt. Halblaut summte er ein frivoles Kutscherliedchen vor sich hin, legte seinen pelzgefütterten Mantel ab, dann seine seidengefütterte Soutane, und schließlich beugte er sich schwerfällig – von harter 247
Verdauung, wie er ohnehin war – über seine Leibesmitte hinunter und mühte sich, mit blutunterlaufenen Metzgerhänden seine Schuhe auszuziehen. Erst fiel der eine schwere klobige Schuh zu Boden, bald danach der andere, worauf der Archimandrit, ein weithin berühmter Prediger, der die ganze Nacht in der Gesellschaft von drei Ministern, sieben Defraudanten, diversen Einbrechern und anderen dunklen Gestalten durchgezecht hatte, die allesamt den König und den Staat hochleben ließen und Reden über Millionen und Blut führten, der Archimandrit also, ein gewaltiger Saufbruder, in tiefsinniges Grübeln darüber versank, ob er nun aus seinem Koffer die Schachtel mit Sodabicarbonat herausnehmen und einen oder zwei Löffel davon schlucken sollte, um solcherart den unangenehmen Geschmack aus dem Munde wegzuspülen, als leises Klopfen an seiner Tür ertönte. Und der Archimandrit verwunderte sich, wer wohl an seine Tür klopfen mochte? Erst dachte er, es sei ein Irrtum gewesen. Doch als sich das Pochen wiederholte und scheu, aber hartnäckig andauerte, erhob er sich, und so wie er war, in Unterhosen und dicken Wollsocken, ging er öffnen. Vor der Türe stand ein Mädchen – blutarm, barhäuptig, in einem Seidenfähnchen und mit grünlich verfärbtem Gesichtchen. Es zitterte wie in Todesangst. »Was gibt’s denn? Sie haben sich in der Zimmernummer geirrt, Fräulein!« »Nein, ich habe mich nicht geirrt! Mein Zimmer ist gleich daneben, Nummer dreiundsiebzig! Ich flehe Sie an wie den lieben Gott – es geht um Leben und Tod!« 248
»Schon gut! Schon gut! Ich versteh! Nur leise, sprechen Sie leiser! Warum sind Sie denn so aufgeregt? Deswegen müssen Sie sich ja nicht so aufregen! Ich verstehe alles! Bitte kommen Sie herein! Nur leise!« Das Mädchen glitt ins Zimmer, schleppte sich zu einem Stuhl und sank dort, laut weinend, nieder. Ihr Weinen war so krampfhaft, daß der Archimandrit (halbnackt unter seiner rotgefütterten umgehängten Soutane, so daß seine Unterhosen und die um die Knöchel gebundenen Hosenbänder hervorsahen) innehielt und absolut nicht beurteilen konnte, ob die Tränen echt oder falsch waren. »Wenn sie lügt, lügt sie gut, alle Ehre«, dachte der Archimandrit und beobachtete verstohlen das Mädchen. Und da dies eine ganze Weile währte, so daß die Zeit stillzustehen schien, machte der Archimandrit eine Bewegung, und als das Mädchen das bemerkte, warf es sich nieder und kroch auf den Knien zu dem Priester hin. Dort, zu Füßen des Archimandriten, brach es erneut in Tränen aus. Die Nähe des jungen, parfümierten Weibes, das weiche Haar, das Seidenkleid, durch das man die Wärme des Körpers ahnte – dies alles ging dem alten Säufer ins Blut und ließ seine Stimme erbeben. »Mein liebes Kind! Alles ist mir unklar! Ich kann es nicht verstehen! So beruhigen Sie sich doch! Es ist ja mitten in der Nacht! Hier hört man alles durch die Wand, selbst das Knarren des Parkettbodens! Was soll denn das für einen Sinn haben, jetzt und hier?« Das Mädchen war noch ganz jung, kaum über siebzehn, und sein Weinen war ein richtiges Kinderweinen. 249
Es konnte nicht ein einziges Wort herausbringen vor lauter Tränen. Der Archimandrit streichelte ihr das Gesicht und fühlte auf der Handfläche, wie ihre Wangen brannten. Er wandte sich ab, ging zum Waschbecken, füllte ein Glas mit Wasser und reichte es dem Mädchen. »Nehmen Sie sich doch zusammen, mein Kind! Was bedeutet denn das alles?« »Mein Herr! Mein lieber Herr und Vater! Ich bitte Sie, ich habe Angst, fürchte mich, ich möchte beichten, die Angst packt mich, Herr, ich bin krank!« »Mir wollen Sie beichten, Kind? Wie stellen Sie sich das vor? Und weshalb?« »Gestern habe ich Sie ausgehen sehen und da wartete ich, bis Sie zurückkamen. Ich habe solche Angst! Ich möchte meinen Frieden machen, ehrwürdiger Vater, mich mit meinem Leben aussöhnen! Ich fürchte mich ja so! Ich werde noch wahnsinnig! Ich fürchte mich vor Gott!« Der Archimandrit, ein Frauenjäger und Säufer, glaubte nicht an Gott. Noch aus seiner Büchner-Darwinschen Zeit, noch von den unteren Gymnasialklassen her, war für ihn dieser ganze übernatürliche sogenannte Überbau ein für allemal erledigt, und da ihn später das Leben dahin und dorthin geschoben hatte, blieb für ihn das alles auch weiterhin zerstört für alle Zeiten. Und so lebte er denn in seinem Priesterhabit als Ungläubiger und Zyniker. In Ausübung seiner Berufspflicht betreute er die Gebeine legendärer Kaiser und Heiliger, doch wenn er sich betrunken hatte, machte er sich lustig über diese Skelette, spuckte die Ikonen an, zerbrach die Schnapsflaschen am 250
Kruzifix, kotzte in den Schatzkammern seinen Rausch aus und log von der Kanzel herab. Und da ist nun zu später Stunde, lang nach Mitternacht, ein betrunkenes Weib, eine Hure zu ihm gekommen, die nach Kognak riecht und nach Schnaps, und plärrt hier zu seinen Füßen und will, daß er ihr die Beichte abnähme! Der Archimandrit hätte am liebsten laut aufgelacht, mit seinem tiefen gesunden Baß, so laut, daß alle Gäste aus ihren Kajüten herausgerannt kämen, als versinke das Hotel wie ein leckes Schiff. Und er beugte sich zu der jungen unbekannten Frau, die vor ihm mit gesenktem Halse auf den Knien lag, nieder und begann ihr mit der routinierten Gebärde des alten Seelsorgers über das Haar zu streichen, vom Haaransatz über den Scheitel, zum Nakken hinunter und unterhalb des Nackens jene schmale mit flaumigen Härchen bedeckte Rinne und die Rükkenwirbel entlang, über die Schultern, den Hals, er streichelte dieses ganze kleine Vögelchen, dieses arme, kleine Mädchen, das unglückliche, das da weinte, sich vor dem lieben Gott fürchtete und beichten wollte. Das Mädchen weinte, wühlte den Kopf in die rotgefütterte Soutane und erzählte irgendeine banale alltägliche Geschichte, von einem Vater, der sich immer betrank, und von der Mutter, die ganze Nächte hindurch die Nähmaschine surren ließ, und wie dann der Krieg ausbrach und sie, hungrig, sich in den Großstädten herumtrieb und jetzt nicht mehr weiterkonnte. Das eine war sicher: sie konnte so nicht mehr weiter, und die Angst vor dem unbeschreiblichen Gewicht eines überirdischen Systems, das zu beschreiben sie außerstande war und das 251
sie nicht gerade intelligent »das göttliche Gericht« nannte, die Angst also vor dieser ganzen, allfällig existenten antibüchnerschen Weltenordnung hatte sie hierhergeschleudert, vor die Füße des Archimandriten, auf daß sie beichte, ihre Bürde abwerfe und geläutert stürbe. Höchstwahrscheinlich meldete sich gleichzeitig damit in ihrem kindlichen Organismus auch der starke unausrottbare Trieb eines tiefen und gesunden, noch unausgeschöpften Lebenswillens, so daß die Tatsache, daß sie mitten in der Nacht an die Türe des Zimmernachbars geklopft hatte, die Gebärde einer Ertrinkenden war, die verzweifelt die Hand nach der Rettung ausstreckt. In der Tat sah es einen Augenblick lang aus, als würde der Archimandrit zu guter Letzt doch begreifen, was da vorging, aktiv in diesen Vorgang des Ertrinkens eingreifen und die moralisch Ertrinkende ans rettende Ufer ziehen. Ihm aber erschien vor allem der künstliche Kitsch der ganzen Fabel, die so verzweifelt nackte Banalität des Lebens einer unbekannten kleinen Großstadtdirne, die Anwesenheit einer jungen Frau an sich und dazu noch der viele Wein und die durchzechte Nacht – alles dies erschien dem Archimandriten zutiefst verlogen, und unter der Oberfläche regte sich in seinem Innern das trunkene hartgesottene Nashorn der Wollust und Triebhaftigkeit: so hob er denn das weinende Mädchen zu sich auf den Schoß wie einen Verwundeten. Und liebkoste dieses verzweifelt unglückliche Kind, streichelte es und sprach zu ihm vom lieben Gott, der allem Anschein nach gütig und ewig sei, und daß er selbst schon von Tausenden ähnlichen Fällen gehört hätte und daß es ja nicht sündhaf252
te oder sündenlose Menschen gäbe, sondern alle seien gleich sündig vor Gott, und Gottes Gebot zufolge müsse man leben, nur leben – leben sei nicht sündig, sondern im Gegenteil heilig, das einzig Heilige, Weise und allein Seligmachende … So sprach der Archimandrit von Gott, und unter seinen Fleischerpratzen fühlte er die Waden, Schenkel, Hüften und Strumpfbänder des jungen Weibes (diese verflixten Strumpfbänder, die an der Taille befestigt sind!), schlürfte die Tränen des Mädchens und liebkoste es, bis es still wurde – und schließlich auch still im Zimmer. Es war noch sehr früh am Morgen und durch die Vorhänge drang das erste bläuliche Tageslicht, als der Archimandrit aus seinem bleischweren Schlaf aufschreckte. Draußen auf dem Korridor schrien die Menschen durcheinander, und der Archimandrit setzte sich, als er die Stimmen hörte, einen Augenblick lang im Bett auf und griff ins Dunkel hinein, um nach der Frau zu tasten. »Weg ist sie! Sie wird mich doch nicht bestohlen haben?« Müde, betäubt, streckte er im Halbschlaf die Hand nach dem Nachttisch aus, doch als er unter den Fingern seine Kette, das kostbare Brillantkreuz und die goldene Uhr im Rehlederbeutelchen spürte, drehte er sich von der linken Seite auf die rechte und nahm sein lautes Schnarchen wieder auf, als hätte er alle Bewegungen in einem unbewußten und mondsüchtigen Zustand ausgeführt. Draußen auf dem Korridor dröhnte der Lärm wegen des Mädchens, das sich im Nebenzimmer vergiftet hatte. Jemand herrschte die Diener an, nicht so laut zu sein! »Psst! Leiser! Die Gäste schlafen!« 253
die grille unter dem wasserfall
S
eit jüngster Zeit lebe ich mit den Toten, mit ihnen halte ich Zwiesprache, nächtelang, und das ist mein Geheimnis: Meine Gespräche mit den Toten sind unverhältnismäßig lebendiger als alle Berührungen und alle Worte, die ich mit Personen zu wechseln pflege, die mich als angeblich Lebende umgeben. Mein behandelnder Arzt, der in Ausübung seines bürgerlichen Berufs meine Nerven betreut, behauptet, es seien im Grunde eben nur meine angegriffenen Nerven, und es hätte weiter keinerlei tiefere oder wesentliche Bedeutung auf sich, das Ganze sei nur eine Art Müdigkeit, die sich allmählich mit der Zeit geben würde. Ich kann weder essen noch schlafen, quäle mich und fühle mich in der Tat müde und zerschlagen. Auch ohne ärztlichen Rat leuchtet es mir ein, daß es sich in meinem Fall um zerrüttete Nerven handelt – nur kann ich eines nicht begreifen: Wie diese Müdigkeit »sich geben wird«, da sie sich mit der Zeit steigert, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen schlimmer werden und alles immer dunkler und auswegloser erscheint. Ich verbringe meine Zeit in ärztlichen Vorzimmern und Warteräumen, blättere hier in diesen ungemütlichen und ungelüfteten Stuben in den Propekten der Reisebüros und Fremdenverkehrsagenturen, überfliege alte zerlesene Zeitschriften, in denen sich kaum je was Interessantes findet; nichts als langweilige und unbegabte Gedichte, Streitereien über Literaturfragen, etwa »ob die Literatur tendenziös zu sein hat oder nicht«. Ich aber – schäbig und materiell ziemlich auf den 255
Hund gekommen, wie ich es im Laufe meiner Behandlung in der letzten Zeit geworden bin, im Grunde ein hilfloser armer Teufel, mit zerrissenen Taschen – was gehen mich eigentlich diese belanglosen literarischen Streitereien an, und was schert es mich schon, ob »die Literatur tendenziös zu sein hat oder nicht«? Die Fremdenverkehrsagenturen locken mit ihren Reiseprospekten und laden mich auf das höflichste ein, die Osterfeiertage in Florenz oder Weihnachten in Ägypten zu verbringen; hier bei uns jedoch wird der Vorzimmerofen nicht geheizt, und durch die Wand hört man hinten den kaputten Wasserbehälter der Toilette rauschen wie einen fernen Wasserfall; es stinkt nach Gummiüberschuhen, nach aufgeweichtem Schnee, die Zeitschriften schreiben von der Tendenz auf dem Gebiet künstlerischen Schaffens, und der Tisch biegt sich unter Stößen von Arzneimittelreklamen: Über zwanzigtausend Heilmittel empfiehlt man den Patienten einzunehmen, bis zur vollständigen Genesung. Eigentlich wäre es gar nicht so übel, die Weihnachtstage in Assuan zu verbringen, auch Ostern in Florenz wäre nicht schlecht, vor allem, wenn es nicht regnet … Zwanzigtausend Medikamente in Stanniol und Cellophan verpackt, zwanzigtausend Arzeimittel, vollendet in der Ausstattung, säuberlich serviert wie Vorkriegspralinen, dazu Ägyptens Mondscheinnächte, Florentiner Osterglocken, Luxusdampfer, Frauen, Heiterkeit, Oblaten, Silberröhrchen versprechen Befreiung von Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Verzweiflung und schlechter Verdauung – kurz, mit einem Wort: Gesundheit und Gesundung, die magische, die überirdische Heilung von uns Bedauernswerten, die 256
wir dem Rauschen einer fernen Klosettspülung lauschen, zerknittert, fahl und müde, im aschgrauen Licht eines dämmerigen Vorzimmers, der Hölle gleich: verschimmelte, feuchte Zeitungspapierfetzen, nasse Regenschirme und ein altes Weib, das seine Lippen mit dem Zeigefinger der linken Hand massiert – von einem Mundwinkel zum andern, und dabei die Schleimhaut kneift, als wäre sie eine runzlige Pflaume, so daß sich die aufgequollene und gedunsene Haut zwischen den knochigen Fingern wie ein roher Fleischspalt öffnet, einer schwärenden dunklen Wunde ähnlich. Die geheimnisvolle Polstertür des Ordinationszimmers geht auf, und in ihr erscheint, kurzsichtig blinzelnd, die magische Gestalt des Hauptakteurs dieser Zauberposse, im weißen Burnus, angestrahlt von einer grellen weißen Lichtgarbe. Der Herr Doktor höchstpersönlich ist in der Tür aufgetaucht, und mit einer kühlen, leichten, kaum wahrnehmbaren Berührung seiner Handfläche an meiner Wange entführt er mich richtiggehend irgendwohin in die Ferne jenseits der Polstertüre, an ein anderes Ufer, in sein Ordinationszimmer, entführt mich mitsamt meinem trüben Vorleben – diesem ganzen kranken Chaos in meinem Inneren, das in seiner Gesamtheit dem Herrn Doktor bloß Anhaltspunkte für seine Diagnose bietet. Dabei ist er mit mir nur in seine Ordination hinübergesegelt, und hier finde ich mich ihm wieder gegenüber, ohne eigentlich überhaupt eine Ahnung zu haben, wie ich aufgestanden bin, daß wir einander die Hände geschüttelt hatten – einzig daran kann ich mich erinnern, daß ich plötzlich gewichtslos wurde, so, als würde ich im 257
Wasser treiben. Und jetzt stehe ich wieder hier vor ihm, in seinen Händen bin ich weiter nichts als Körper, ein Objekt der Diagnose, ein Gegenstand. »Nun, mein Freund, was gibt es also für neue Momente, seitdem wir uns zum letztenmal gesehen haben?« »Besondere neue Momente, Herr Doktor, aufrichtig gesagt, keine, doch immer noch melden sich meine Toten mit der gleichen Deutlichkeit und Intensität. Mit dem einen habe ich heute nacht im Mondschein Zwiesprache gehalten, eine herrliche hochsommerliche Mondscheinnacht, er aß Kirschen und sprach mit mir über die Unbefleckte Empfängnis der heiligen Jungfrau Maria – ein religiöses Mysterium, das ihm angeblich bis zu allerletzt noch klar und einleuchtend geblieben sei und an dem er keinen Augenblick lang gezweifelt habe. Seine Worte könnte ich Ihnen nicht ganz getreu wiedergeben, doch an einige Einzelheiten dieser Begegnung erinnere ich mich noch jetzt: Sein linker vorderer Schneidezahn war grau verfärbt, als wäre er aus Blei, und eben dies – nämlich daß sein Zahn grau war und seine Hände sich naßkalt anfühlten, daß die Kirschen, die er aß, in eine Tüte aus Zeitungspapier eingepackt waren und noch feucht vom Tau der Juninacht –, dies ist ungefähr als das Wesentlichste in meinem Gedächtnis haften geblieben. Vielleicht habe ich auch noch die Klangfarbe seiner etwas schwindsüchtigen Stimme behalten, diesen leicht angefressenen, unreinen und abgenützten Ton, auch die von dem Saft der großen schwarzen Kirschen verfärbten Lippen und seine Worte über die Jungfrau Maria, deren angelobter Bräutigam er seit seiner Kindheit gewesen war und deren him258
melblaue Kongregationsschleife er schon in jenen längst vergangenen Tagen um den Hals getragen hatte, als wir Kinder in den schlammigen Gewässern nach Fischen angelten und unter dem alten Nußbaum spielten.« »Haben Sie vielleicht irgend einmal diesem Ihrem verstorbenen Spielkameraden irgend etwas gestohlen? Ganz egal was, vielleicht eine ganz wertlose Kleinigkeit, einen Radiergummi, eine Feder?« »Gestohlen, ich ihm? Nein! So weit ich mich erinnern kann, habe ich ihm niemals etwas gestohlen. Im Gegenteil, er hat mir etwas gestohlen, und zwar ein Aquarell! Ich hatte den aufgehenden Mond gemalt: Aus grauen, aschfarbenen Nebeln steigt die orangegelbe Mondscheibe über den Fluren auf, links im Vordergrund steht ein Nadelbaum, eine finstere, dunkelgrüne, fast schwarze, ernste Tanne; und dieses Aquarell hat er mir gestohlen und es mit nach Hause genommen und an die Wand neben seinen Schulstundenplan genagelt, als wäre es ein Werk von ihm. Auch vor seinem Vater rühmte er sich seines Werkes. Ich aber habe ihn nie und an niemand verraten, Sie, Herr Doktor, sind der erste Mensch, dem ich dieses Geheimnis anvertraue. Der Vater meines Kameraden war Schuster, ein Flickschuster mit grüner Schürze und dichtem, seidenweichem Schnurrbart, die blitzende Schneide des Schustermessers glitt in seiner Hand über das duftende Ziegenleder, völlig geräuschlos und unheimlich scharf. Er war Facharbeiter für orthopädisches Schuhwerk; in dem Glaskasten seines Schaufensters hatte er immer eine Anzahl von Gipsfüßen ausgestellt – verunstaltete, verkrüppelte, hellrosa angestrichene Füße, 259
über und über mit blutigen Geschwüren und Wunden bedeckt. Und diese wunden, entstellten, mißgestalteten Fußmodelle aus Gips, die leise Bewegung der väterlichen Hand mit dem Zuschneidemesser über die Fläche des Ziegenleders, der Mondschein und die schwindsüchtige Knabenstimme – das ist alles, was mir von ihm hinterblieben ist. Und auch das verblaßt allmählich, wird grauer und grauer, und eines Tages wird es vollständig und endgültig grau sein. Alles wird verlöschen im Grau, auch das laute Lachen meines Freundes im Mondschein, und daß er Kirschen im Hausflur aß, durch den man in die Wohnung der Schustersleute gelangte. Zwei Engelchen aus Gips hielten über dem Eingangsbogen zum Flur die ovale Fläche eines blinden Gipsspiegels, geschmückt mit Birnen, Weintrauben, Quitten und anderen üblichen Symbolen der Fruchtbarkeit und des Überflusses, ausgeschüttet über dem Gewölbe des gigantischen Portals. Drinnen hallte es ständig von dumpfem Pferdegetrappel, denn im Hof des gleichen Hauses hatte ein Fiaker seine Wohnung. Und – sehen Sie, Herr Doktor, so steht es heute mit mir: Mein Leben kommt mir vor wie der Blick in einen Raum, dessen Türe langsam zufällt: Ganz sachte und lautlos verengt sich allmählich der halbgeschlossene Türspalt, wird schmaler und schmaler. Immer weniger dringt aus der Welt jenseits der Pforte herein, wo doch einst viel Lachen war, viel Bewegung und Klänge und Menschen. Jetzt aber geht die Türe zu – konsequent und unerbittlich. In dieser Dämmerung verzehre ich mich vor Unruhe und lausche den Stimmen der Toten, die einst an die Unbefleckte Empfängnis der seligen Jung260
frau geglaubt haben, heute aber nicht mehr unter den Lebenden weilen. Dennoch höre ich sie, weil ihre Stimmen immer noch in mir weiterklingen – und das ist es, was mir nicht ganz klar ist und w.as ich Sie mir zu erklären bitte. Was soll ich bloß tun mit dieser ungeheuren Menge der zahllosen Toten in mir, Herr Doktor? Mehrere von ihnen starben im Irrenhaus, und fast alle hatten Verse geschrieben und sich in Wirtshäusern von Zeit zu Zeit einen Rausch angesoffen. Ungewaschen zogen sie umher, wie Vogelscheuchen – mit zerknittertem Gewand, abgetretenen Schuhabsätzen, mit fettigen Bändern auf den Hüten, und doch waren unter diesen Freidenkern auch solche, die vor ihrem Tod noch beichteten und das Letzte Abendmahl nahmen. Einer von ihnen hatte eine kaum handbreithohe Stirn, dichtes, borstiges, widerspenstiges Haar, gekräuselt wie ein Faun, so daß man, während man mit ihm sprach, unwillkürlich erwartete, plötzlich in dieser dichten, dunklen, undurchdringlichen, borstigen Masse zwei kleine Hörner zu entdecken – so eigensinnig wirkte sein Kopf! Und doch war er ein Schwächling, weichlich, schwankend, der mir immer wieder zu beweisen versuchte, wie schmierig das Leben wäre – das Leben an sich schon in seinem Ablauf, so daß man alle Erscheinungen, alle Äußerungen dieses Lebens bloß mit Handschuhen berühren dürfte – aristokratisch! Und in der Tat! Dieser graue verhungerte Vagabund, mit zerrissenen Schuhen und im verstunkenen Hemd, dessen Kragen so grau war wie eben Kragen von Reisenden im Morgenzug nach einer Nachtfahrt zu sein pflegen – diese ewig barhäuptige, durch dick und dünn gesiebte Gestalt pfleg261
te wirklich graue Zwirnhandschuhe zu tragen! Graue Zwirnhandschuhe an den Fingern, und am Handgelenk ein silbernes Armband, verziert mit einem Skarabäus aus hohlem Blech. Dieser hohle, auf dem Armband thronende, bauchig gedunsene Blechkäfer schillerte grün wie ein kleiner Wetterfrosch mit hervorquellenden Glotzaugen. Als man den Mann begrub, hatte sich der Himmel mit Regenwolken überzogen, und wirklich quakten Laubfrösche im jungen saftigen Gras, so daß es mir schien, als quake das Fröschlein am Armband meines Freundes mit. Irgend jemand sprach an diesem frühen Grab, richtiger: er las eine Trauerrede herunter, und alles fiel recht albern aus, wie das schon bei derartigen Gelegenheiten zu sein pflegt. Der Grabredner war ein Mann mit Zylinderhut, einer guten Verdauung und der berechtigten Aussicht auf eine Pension. Ungewöhnlich intelligent scheint er gerade auch nicht gewesen zu sein, denn wie hätte er es sonst über sich gebracht, an offenen Gräbern Reden zu halten … Ein anderer wieder spielte Flöte …« »Pardon, verzeihen Sie, daß ich unterbreche! Ich versteh aber nicht ganz: wer war denn dieser ›andere‹, der Flöte spielte?« »Wieder einer meiner Toten selbstverständlich, Herr Doktor, einer der Toten, von denen wir ja die ganze Zeit reden! Flöte spielte er, ansonsten war er etwas dümmlich, und die Linzertörtchen in seinem Elternhaus schmeckten nach Schweinefett, das so unangenehm nach tierischem Urin riecht. Auch der Himbeersaft in diesem Hause schmeckte schal, und die Pfauenfedern in den Vasen hatten ganz bestimmt eine düster drohende Vorbedeu262
tung: tatsächlich wurde der Mieter, der dieses Zimmer bewohnt hatte, eines Tages in einem Maisfeld erschlagen aufgefunden. Der Mann, der ihn blutüberströmt fand, erzählte mir, wie sich alles zugetragen hatte am Nachmittag eines warmen, sonnigen Altweibersommertages. Vollkommene Stille, und plötzlich ein einziger Knall, der über den Waldgründen hinrollte und noch lange als Echo in der Luft hing, als schwebe er ganz langsam mit einem kleinen Fallschirm über die Landschaft.« »Also mit einem Wort: erschossen im Krieg?« »Also: erschossen wohl, aber wo und wie, das ist für mich völlig unwichtig!« »Ich verstehe. Für Sie sind die Pfauenfedern viel wichtiger als der Tod eines Menschen!« »Nein, Herr Doktor, umgekehrt: für mich ist sein Tod viel wichtiger als die Pfauenfedern, und ich will es Ihnen auch gleich erklären, wenn Sie nichts dagegen haben. Dieser eine Tote, dieser erschossene Flötenspieler, war mit einer gewissen Zosia D. verheiratet, einer Frau mit auffallend blondem Haar und der Hautfarbe eines blutarmen Neugeborenen. Heute ist auch sie tot – ebenso tot wie ihr Gatte, der in einem Maisfeld erschossen wurde wie ein Hase. Zosia D. ist tot, und doch hat sie sich einst photographieren lassen, im Hochzeitskleid mit ihrem Gatten beim Verlassen der Kirche; er war bleich, und auf den Knien seiner schwarzen Paradehose (die er als Offizier sich ausschließlich für diese Gelegenheit hatte nähen lassen) waren zwei graue Kreise geblieben – vom Knien auf den staubigen Stufen vor dem Altar. In der Kirche hatten wir alle die Köpfe hängen lassen, bedrückt von einer Vor263
ahnung, daß dieser hastig – sozusagen in einer einzigen Nacht in einem Lemberger Hotel als eine Art Kriegsimprovisation – geschlossenen Ehe kein Glück beschieden sein konnte. Und doch war sie glücklich, diese Ehe, trotz der düsteren Erwartungen von uns allen. Nur war das Glück nicht von langer Dauer, weil er erschossen wurde, was ja nur natürlich ist, wenn man’s richtig betrachtet, denn im Kriege wird bekanntlich auf Neuvermählte keinerlei besondere Rücksicht genommen! Mit Zosia D. und diesem ihrem verstorbenen Flötenspieler bin ich am Vorabend ihrer Hochzeitsreise in den Tod noch im Kaffeehaus gesessen. Ich verstand nicht polnisch, Zosia aber hatte keine Ahnung von irgendeiner anderen Sprache, so saß ich denn mit ihnen beisammen als eine Art Trauzeuge, verlegen, geistesabwesend, in meinem Inneren zutiefst überzeugt davon, daß hier ein überaus gefährliches, ja verhängnisvolles Spiel gespielt wurde. Auch der Verstorbene konnte kaum ein Wort von Zosias Muttersprache, trotzdem waren die beiden glücklich mit ihrem Gestammel und dem Versuch, sich mit Fingern und Gesten zu verständigen, und in ihrer fast taubstummen Trauer. Ich saß mit ihnen zusammen in diesem Cafe, wo ich schon jahraus, jahrein zu sitzen pflegte in der Gesellschaft der verschiedenartigsten Leidtragenden – Durchreisenden, Neuvermählten, Abenteurern, mit Menschen, die über die drückende Enge und Einförmigkeit ihres Lebens klagen, doch ihr Schicksal verfluchen, wenn sie dann einmal eine weite Reise antreten sollen … Wenn alle diese Toten, mit denen ich an dem Kaffeehaustisch gesessen bin (an dem wir mit Schinken und Ei und Limonaden Zosias Hoch264
zeit feierten) auf einmal in Ihrer Ordination auftauchten, Ihr Sprechzimmer wäre zum Bersten voll von Toten, Ihre ganze Wohnung, dieses ganze unsympathische Gebäude, ja das gesamte Stadtviertel würde wimmeln von Totenzügen. Endlose Kolonnen Verstorbener würden vorbeimarschieren in alle Richtungen, alles würde widerhallen von ihren Stimmen, alles wäre aufgestört von ihrer, ungeheuren Menge; sie würden uns mit sich ziehen, emporheben wie die Flut einer Überschwemmung, hinwegschwemmen … Sie schreiten, sie trommeln rings um uns, hören Sie doch, Herr Doktor, sie rasseln mit den Waffen, sie spielen ihre Märsche, Herr Doktor!« Wirklich ertönte in dem gleichen Augenblick auf der Straße dröhnender Trommelwirbel, von dem die Fensterscheiben leise erzitterten, und mit Helmen auf den Köpfen und wehenden Fahnen marschierte in starrem Paradeschritt eine Kompanie vorbei. Der Doktor warf durch die Brillengläser einen freundlich-mitleidigen Blick auf mich und bemerkte überlegen lächelnd, das seien ja keine Toten, sondern bloß Soldaten! »Jawohl, gewiß, Herr Doktor, Soldaten sind es, ich weiß. Soldaten, die von einem Begräbnis heimkehren, an dem sie als Ehrenkompanie teilgenommen haben. Vorläufig ist von ihnen nur der eine tot, Herr Doktor!« »Sie sind doch nicht unintelligent und werden begriffen haben, daß im Leben eben auch gestorben wird, was ein ganz natürlicher Vorgang ist. Das Leben ist eine Art Perpendikel: zwischen zwei Ausschlägen pendelt es hin und her. Den einen Ausschlag nennen wir Leben, den anderen Tod.« 265
»Stimmt. Aber der eine meiner Toten litt an Angina pectoris, und während er eine rote Apfelsine verspeiste und mühsam atmete, pflegte er uns zu erklären, daß ihm das Atmen so schwerfalle, weil er an Angina pectoris leide – das ist nämlich ungefähr das, was Sie mir anhand Ihres Pendels erklären wollten. Wir müssen sterben, weil der Tod ein Naturgesetz ist. Aber sagen Sie mir, wie war es möglich, daß bei mir in meinem Zimmer gesungen und musiziert wurde, während sich zur gleichen Zeit mein Nachbar im Nebenzimmer vergiftete? Weder vorher noch nachher – noch nie hat jemand in meinem Zimmer gesungen – mein Leben ist an und für sich zu grau, so inhaltslos und unbedeutend, daß es keinem einfallen würde, bei mir zu singen. In jener Nacht jedoch hatte ich Gäste, und sie sangen, und ein Mädchen zupfte die Gitarre. Wir hörten Gepolter und Lärm im Nach-barzimmer, und als wir dann sofort hineinstürzten, war schon alles vorbei. Ein gelbes Federbett, flackerndes Kerzenlicht, der Unterkiefer des Toten vorschriftsmäßig, wie es sich gehört, mit einer Serviette hochgebunden, leises Weinen im halbdunklen Raum … Ein anderer wieder hatte das Gesicht voller Pickel, abstoßend häßlich war er, versoffen, wunderlich, und ganz düster – und keiner weiß, wieso er so jung gestorben ist. Wieder ein anderer war ein alter Mann und erinnerte an einen krächzenden Raben. Immer, wenn ich an ihn denke, taucht – warum, weiß ich nicht – in meiner Erinnerung das Bild eines stillen Sommemachmittags in mir auf: glasklare Luft, eine Wiese, fernes Vogelgezwitscher aus den Weinbergen und im hohen ungemähten Gras das Lied einer Grille. Nie bin ich mit 266
diesem Toten auf einer sonnigen Wiese gewesen, in seiner Wohnung standen Einmachgläser auf den Schränken, und es roch dort nach Katze. Er war an sich also bloß mit unangenehmen Erinnerungen an die in seinem modrigen Greisenbau verbrachten Augenblicke meines Lebens verbunden. Und doch, wann immer ich seiner gedenke, steigt eine sommerlich freudige Flut von Klängen, Wölkchen und Vogelgezwitscher in mir hoch … Von so manchem meiner’Toten habe ich im Schlamm des Schützengrabens Abschied genommen; alle waren wir grau, ernst uhd finster, ewig in Angst vor den Kanonen, bedeckt mit Schmutz und angefüllt mit Bitterkeit. Und wenn sie dann abmarschierten durch Dreck und Schlamm, fühlte man, wie schwer es ihnen fiel zu gehen; so voll banger Ahnung – wie Menschen eben gehen, die alle Hoffnung auf Wiederkehr aufgegeben haben. Mit vielen bin ich an Tischen gesessen, bedeckt mit Tischtüchern, die voll Asche und Flecken von vergossenem Wein waren, in ebenerdigen, raucherfüllten Kammern, wo auf den Wänden ausgestopfte Vögel auf ihren Borden flatterten und im Goldrahmen ein Neger einer weißen Dame seine Abenteuer schildert, in einer Stadt, wo Gondeln unter dem Balkon vorbeiziehen, also höchstwahrscheinlich in Venedig, und wenn man einmal all das sammeln würde, was so beim Wein und Tabakqualm aus einem heraussprudelt im Fieberrausch der aufgewühlten Verdauungstätigkeit, Wolkengebilde von Gedanken und Plänen und Träumen würden entstehen, die dampfend wie Schweiß aus uns hervorbrechen und im Grunde doch nichts weiter sind als bloßer Wasserdampf, Rauch und Atem aus 267
erhitzten Köpfen. Sehen Sie, Herr Doktor, das ist es ja im Grunde: Ich bin müde, vom Krieg etwas abgekämpft, und habe mich auch ein wenig versoffen, auch ödet es mich an, für ein kleines Gehalt an Büroschreibtischen herumzusitzen. Aber zu alledem frißt ständig ein grundlegender Gedanke an mir: daß man am Ende dennoch sterben muß, absterben noch vor dem eigenen und endgültigen Tod. So viele sind vor uns gestorben, und ihre Zimmer, ihre kindlichen Geburtstagsfeiern mitsamt den Torten und neuen Spielsachen, ihre Bücher und alle ihre Worte, das Kerzenflimmern auf den Decken ihrer Zimmer und das Klingeln ihrer Türglocken – dies alles lebt und webt noch immer in mir weiter, und so, wie meine eigenen Bewegungen und der Klang meiner Stimme zusammen mit ihnen und ihrem Erinnerungsvermögen gestorben sind, so leben sie selber in meinen Vorstellungen noch immer weiter. Was aber in mir ihnen gehört und was in ihnen mein ist, wäre schwer zu bestimmen. Denn immer noch ist dies alles auf außerordentlich lebensfähige Weise ineinanderverflochten und wogt und fließt durcheinander, ist immer noch gegenwärtig in meinem Blutkreislauf und pocht in meinem Herzen. Wenn dann eines Tages diese Froschdrüse, die mein Herz ist, erschlafft sein wird, dann werden auch all diese Schatten in mir endgültig verblassen, grau nachdunkeln und sich in Nichts auflösen, sich verflüchtigen wie der unangenehm muffige Geruch, den ein leerer Koffer ausströmt. Doch solange ich noch atme und lebe, bleibe ich unwiderstehlich an meine Toten gebunden, ihnen verhaftet, und in dem ungeheuren Zug, in welchem auch mir mitzuwandern beschieden war, sind 268
sie – die unzähligen Gestalten Verstorbener – im Grunde meine Vorgänger: Vor mir sind sie abgereist – nach einem anderen Fahrplan. Zum Beispiel jener blasse, kleine, liebe, schwerverwundete Fähnrich, der im Rotkreuzzug auf dem Weg von Galizien nach Wien im Oktober neunzehnhundertsechzehn in der Koje über mir schlief und der mich aus dem Schlaf riß, weil ich ihm die Urinflasche reichen sollte, und als ich mich, noch schlaftrunken und verwirrt, zunächst zurechtfinden mußte und mich dann erhob, um ihm das Gefäß zu reichen, füllte er es bis zum Hals mit einer Flüssigkeit, klar wie destilliertes Wasser, und, den Kopf neigend, schlief er automatisch sofort wieder ein. Nur an dem einförmigen, leblosen Auf- und Niederschwanken seiner Knabenhand, die der Fortbewegung des Eisenbahnwagens in gleichmäßigem Takte folgte, konnte man merken, daß er endgültig eingeschlummert war und aus diesem Schlaf nicht mehr erwachen würde. Er starb, erfüllt von den Bildern meiner Kindheit, die ich ihm, ohne zu ahnen, daß ich mich einem Sterbenden anvertraute, noch wenige Minuten vor seinem Hinscheiden erzählt hatte. Und so war dieser Tod eines unbekannten jungen Mannes gleichzeitig auch der Tod meiner eigenen Kindheit: Denn ich bezweifle es, daß alle diese Erinnerungsbilder aus meiner Kindheit jemals wieder von einem derart intensiven Leben erfüllt sein werden wie in jener Nacht, als ich an dem Sterbelager eines unbekannten Knaben wachte und ihm mein Herz ausschüttete, so als ahnte ich, daß meine Stimme durch die Ohrmuschel dieses Sterbenden hinabdringen würde bis in die Tiefe jener Räume, die zwar um nichts rätsel269
hafter sind als unsere alleralltäglichste Wirklichkeit, aber ebenso unerforscht wie diese. Viele von meinen Toten entschwanden, bevor wir noch Zeit gefunden hatten, uns miteinander auszusprechen, und immer noch stehen seltsame, unausgesprochene Worte zwischen uns, die sich oft mitten in der Nacht vor uns aufpflanzen, Fragen, auf die es keine Antwort gibt und die dunkel sind wie Baumreihen an einem wolkenverhangenen Abend, wenn es finster wird und aus der Ferne die Eisenbahn zu hören ist. An andere wieder denken wir noch nach Jahren voller Haß, ähnlich wie an lateinische Konditionalsätze aus schriftlichen Schulaufgaben, die mit einer derart tükkischen Vertracktheit zusammengestellt wurden, daß wir nicht imstande sind, uns in ihnen zurechtzufinden, nie – weder so noch so. Doch wenn einer aus unserem Bekanntenkreis uns verläßt und wir erfahren, er wäre von uns gegangen, reißen wir ihn kaltblütig aus unserer Liste der Lebenden, so wie wir Kalenderblätter abreißen, und beugen in hilfloser Ergebung den Kopf vor dem Unvermeidlichen. Auch frischgebackene Tote gibt es in unserem Bewußtsein, ganz frisch wie die Eindrücke, die wir aus den Überraschungen der Morgenblätter empfangen; doch es gibt auch solche, die welk und grau sind wie alte unbezahlte Schulden, von denen wir uns absolut nicht mehr erinnern können, ob wir sie getilgt haben oder nicht. Mit einem der Toten habe ich einst Krapfen gegessen, es war in der Faschingsnacht, wir tranken Schnaps dazu, es war im Krieg, dann brach der Föhn ein, und der Mann ent270
schwand. Und heute entsinne ich mich nur ganz blaß einer Einzelheit: daß er Angina hatte, krank war und man über seinem Kopfende ein nasses Bettuch spannte, damit er keine Lungenentzündung bekomme, er aber war bereits tot. Das Zimmer, in dem er lag, war ebenerdig, von der Straße drang das Geräusch von Schritten der Vorübergehenden herein, und ich mußte an seine Lieblingsspeise, gebratene Truthenne mit Teigfladen, denken und daß er auch Heidensterz mit saurem Rahm so gerne gegessen hatte.« »Schön, lieber Freund, alle diese Einzelheiten sind interessant und auch recht aufschlußreich, aber trotzdem konnten wir bis heute in unseren Gesprächen nicht genau feststellen, wann eigentlich in Ihnen zum erstenmal dieser interessante Gedanke aufgetaucht ist: daß die Verstorbenen mit uns zusammen leben, und zwar so, daß ihr Leben wichtiger wird als unser eigenes.« »In Paris war es, über drei Jahre sind es her, so zu Herbstbeginn. Auch das kann ich Ihnen schildern, Herr Doktor, wenn es Sie interessiert, denn ich erinnere mich sofort jeder, auch der unscheinbarsten Einzelheit. Still und mild ist der Herbst in Paris. In jenem Herbst jedoch erfüllte der Dunst blutigen Wildbrets die Luft, es roch nach nassen Wäldern, nach Ferne. Auf den alten engen Gäßchen im Schatten des Turmes von Saint Germain war plötzlich eine Unmenge von geschundenen Hasen und krepierten Fasanen aufgetaucht, die mit der bläulich krankhaften Verfärbung ihrer pastellzart durchscheinenden perlmutterschimmernden Augenlider so unangenehm an die graue Farbe von Präservativen er271
innern. Worüber kann ein neurasthenischer Wanderer beim Anblick dieser Masse dunkelvioletter abgehäuteter Hasensehnen und blutiger Hälse nachgrübeln, aus denen die lächerlichen Hasengesichter hervorgucken wie die Physiognomien leicht verblödeter pelzkragenumrahmter Gesichter von Bonvivants (es fehlt nur noch das Monokel und die einem angesehenen Bürger von hohem Rang gebührende posthume Ehrung)? Worüber kann er inmitten dieses blutigen Gemetzels nachdenken, das in den verrußten Gassen – ein frühherbstliches Symbol – zum Himmel dampft, als an die leere Sinnlosigkeit des Hasenlebens und darüber, in welchem Maße doch der Mensch im Grunde noch ein merkwürdiges ›gottgläubiges‹ Raubtier ist, das Hasen metzelt und gleichzeitig zur höheren Ehre der Heiligen von Siena ganze Wagenladungen von Margariten in den Straßen verkauft. Allerheiligen ist vor der Tür, und in den französischen Haushalten werden Palatschinken gebacken. Kalte Regenschauer sind im Anzug, und heute ging schon in der Wand meines Hotelzimmers das Zischen und Seufzen in den Eisenröhren der Dampfheizung los. Gestern nacht hallte das Winseln der Hunde über der Seine so traurig, so zutiefst schwermütig, als habe das Leben doch vielleicht noch einen anderen, tieferen, versteckteren Sinn als diesen blutigen Handel mit krepierten Vögeln und abgeschossenen Hasen. Mitten aus dieser grauen Masse blutiger Reh- und Fasanenaugen fühlte ich plötzlich von der gegenüberliegenden Straßenseite einen Blick auf mich gerichtet – so durchdringend und intensiv, daß mir schien, als tauchten im Gesichtskreis dieses geheimnis272
vollen Blicks Landschaften und Räume in weiten unscharfen Bildern vor mir auf. Drüben, auf der anderen Seite des Gehsteiges, saß unter dem blauorangefarben gestreiften Sonnendach eines Cafes ein Herr mit seiner Dame in einem Korbstuhl. Er sog an einem Strohhalm, die Frau aber blickte mit dem Ausdruck allergrößten Interesses zu mir herüber. Nebelschleier. Ferne Horizonte. Herbst in einem jener schmalen schmierigen Gäßchen des linken Seine-Ufers, die immer dunkelgrau sind wie die teergestrichenen Wände der öffentlichen Pissoirs. Von irgendwo dringen Klänge einer Harmonika, der Gesang einer Frauenstimme: Parlez-moi d’amour. Getrappel von Pferdehufen auf Granit. Pause. Wo bin ich bloß diesem Menschen begegnet? Zehn, zwanzig blutige Jahre sind seither vergangen, zwanzig finster blutige, verzweifelte Jahre; Kriege, Schiffbrüche, Aufstände, ganze Prozessionen von Toten, eine unübersehbare Horde lebender und toter Menschen, die ich gekannt, und jetzt mit einemmal, und hier mitten in dieser Masse blutiger Hasenköpfe dieses eine Auge, das mich anrührt mit seiner magnetischen Leuchtkraft … Vielleicht sind das bloß meine erregten Nerven, eine neurasthenische Einbildung? Ein Ausländer unter vielen, der Paris besucht, um mit seiner Frau das Sterbezimmer Oscar Wildes oder das von Delacroix zu besichtigen, ein Spiel aus Trug und Schein, die zufällige Begegnung zweier Blicke, eine Schwingung der Selbsttäuschung, nichts weiter. In dem Schaufenster, vor welchem diese Begegnung 273
meinen Schritt stocken ließ, war das riesige Becken eines Aquariums ausgestellt. Braungestreifte flache Fische glitten und kreisten lautlos durch die dunkelgrüne Masse des Wassers, erregt von den sprühenden, rauschenden Bläschentrauben der aufsteigenden Luft. Unmittelbar an das Schaufenster des Fischhändlers schloß sich, einer kleinen beleuchteten Bühne ähnlich, der Verkaufsraum eines Antiquitätenhändlers an. Der Widerschein eines dunkelgelben seidenen Lampenschirms floß schimmernd über die prunkvolle Fläche eines golddurchwirkten Gobelingewebes, auf welchem im kupferfarbenen Halblicht eines dämmerigen Buchenwaldes vor dem tiefgrünen Rasenplan einer Waldlichtung eine Eberjagd abgebildet war. Wolken, Abenddämmer, blutige Hasenleiber, flache Riesenfische in smaragdgrünem Wasser, das Gedudel einer Harmonika – und all das überstrahlt von dem Glanz eines unbekannten menschlichen Blicks wie von der Leuchtspur eines Lichts, das in der Finsternis aufgeflammt und sofort wieder erloschen ist. Pause. Diskret wandte ich meinen Blick vom Fleischladen ab, und scheu, unmerklich, um nicht aufzufallen, warf ich nochmals einen Blick auf die vom orangefarbenen Sonnensegel beschattete Kaffeehausterrasse, wo der Fremde mit seiner Dame regungslos saß, in die Betrachtung meiner Erscheinung vertieft, vor dem Hintergrund der aufgescheuchten Fische, die stumm unter den schäumenden Luftkaskaden in ihrem Aquarium zwischen Moosen und Muscheln hin und her glitten wie unter glasklaren Baumkronen einer versunkenen Allee. 274
Der Unbekannte, bärtig, mit angegrautem Haar, elegant in seinem roten Korbstuhl, sog kühl und unberührt an seinem Strohhalm, während seine junge, hellblonde, englisch schlicht gekleidete Begleiterin, die Zigarette im Mund, offenbar interessiert und von ihrem Gefährten auf meine Wenigkeit aufmerksam gemacht, regungslos auf die gegenüberliegende Straßenseite starrte, deren .Übergang mit ganzen Korbladungen von Artischocken, Austern und Schnecken verstopft war. Wo konnte ich bloß diesem Mann begegnet sein, und wann? Etliche tausend Menschen sind mir im Lauf meiner Irrfahrten begegnet; was bedeutet schon in dem endlosen Strom aller dieser vergessenen Augen ein einziger unbekannter Blick? Vielleicht war es der Blick des Stewards auf dem Dampfer einer südamerikanischen Schiffslinie, von dem sich damals ein Irrsinniger mitten zwischen die Alligatoren stürzte, worauf nur das Wasser an den Schaufelrädern sich blutig färbte, als der Dampfer unberührt, als wäre nichts geschehen, weiter seine Bahn zog? Vielleicht war es der Blick des italienischen MGSchützen auf Kote 312 vor Görz, der ruhig den schwarzen Kaffee aus seiner Thermosflasche trank, als wir in seine Stellung einfielen? Im übrigen: was hat es denn für einen Sinn, auf der Straße stehenzubleiben, nur weil mich plötzlich der Blick eines Unbekannten gestreift hat, der keinerlei tiefere Bedeutung besaß als der Blick eines jener dunklen, flachen, metallschimmernden Fische, der im Sprühregen der Luftfontäne, mitten im schäumenden Sauerstoff an seinem eigenen kranken Darmende kaute, das sich in seinem Maul auf und ab bewegte wie ein fau275
lender Schnurrbart, während der Fisch sich einbildet, es wäre ein Wurm? Verwirrt und beunruhigt wandte ich mich noch einmal zu dem Schaufenster der Antiquitätenhandlung zurück und betrachtete zerstreut und geistesabwesend, ganz mechanisch, die zwischen silbernen Barockleuchtern aufgestellte Folge kolorierter Lithographien in roten Mahagonirahmen, hergestellt zu Ruhm und Ehre des kaiserlich-französischen Besuches in England. Die Bilder stellten Ihre Majestät die britische Königin Victoria dar, die auf den Marmorstufen unter purpurnem Baldachin Seine kaiserliche Majestät den Kaiser Napoleon den Dritten erwartet. Schon wollte ich mich losreißen und weitergehen, als der Mann von gegenüber sich erhob und auf mich zuging. Ich stellte fest, daß seine Schritte ungewöhnlich elastisch und seine Hosenbeine vollendet gebügelt waren und überhaupt alle seine Bewegungen – entschieden, muskulös, geradezu stählern – den langjährigen Fechtsportler verrieten. Noch einen verwirrten hilflosen Blick warf ich auf die blonde Dame unter dem Regenschutzdach des Kaffeehauses, und schon fühlte ich die warmen, strotzenden Lippen des Mannes auf meinem Mund. Fest in die Arme geschlossen von dieser schlanken und männlichen Erscheinung des Fremden, geradezu emporgehoben von seinem hellen und hohen Lächeln erkannte ich, daß es Christian K. war, der Pole, den wir Gattamelata zu nennen pflegten, der erste bewußte Anhänger Stirners in unserem Kreise, embevido de las stellas – sternentrunken, wie sich dieser schwärmerische Bewunderer von Christoph Kolumbus, in spanischer Sprache deklamierend, 276
selber zu bezeichnen pflegte, er, der sprühende Feuergeist unserer Studententage an der Sorbonne, dieser flammende Ruhelose zwischen unserer aller Unruhe, der allzu frühreif bewußte Anarchoindividualist zwischen verworrenen Knaben, Christian, mein Kamerad, den ich zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen hatte, Sekundant meines einzigen Duells im Wäldchen von Vincennes, mein Liebesbote, mein teurer alter Freund, mit dem ich unzählige Male eine Sardinenbüchse in meiner Mansarde der Rue Bonaparte geteilt hatte (gleich um die Ecke hinter der Rue Jacob, nur wenige Meter von hier)! Oh mein Gott, er war es wirklich, der Mann aus den dämmerigen Fernen des Ostens, wo seltsame Völkerschaften sich vermengten: Slawen, Zigeuner, Mongolen, Böhmen; mein Intimus aus Polonien, wo seit eh und je geschossen und rebelliert wurde wie in Irland; Christian, der, auch selber schon immer geheimnisvoll, in verschiedenen russischen und mongolischen geschlossenen Zirkeln vertraut ein und aus ging! Ich weiß es noch heute, wie er eines Tages bei mir in einer Hutschachtel etliche Kilogramm Sprengstoff versteckte, Moos darüberschüttete und noch obenauf eine lebende Schildkröte setzte, so daß ich die ganze Nacht schaudernd dem Kratzen der Schildkröte auf dem Hutschachteldeckel lauschte und darauf wartete, daß wir alle in die Luft fliegen: die Kröte und die Rue Jacob und der alte Turm in der Rue Bonaparte. Mein alter guter K., der schon immer im Augenblick gerade keine Minute Zeit hatte, immer mit drei Frauen verbandelt war und der auch jetzt, in der Stunde des Wiederfindens nach zwanzig Jahren, im Augenblick keine Zeit hatte, verhin277
dert im Augenblick von einer unangenehmen Sache, aber so beglückt war, mich wiederzusehen, und so erfreut, daß es ihm außerordentlich lieb sei, wenn ich ihm die Ehre erweisen und ihm ein paar Minuten auf der Soiree der polnischen Botschaft (heute abend) widmen wollte … Ich schlug ihm vor, uns nach der Soiree zu treffen, er aber mußte wegen einer Verabredung gerade zu dieser Soiree gehen und beharrte auf seinem Vorschlag. Ob es ihm technisch möglich sein werde, trotz der edelsten Absichten, die er hege, sich von den langweiligen Verpflichtungen im Rahmen dieser Soiree freizumachen, wisse er nicht, doch sei es ihm unendlich lieb, mich getroffen zu haben, und diese unsere Begegnung bedeute für ihn eine überaus wertvolle und freudige Überraschung – er hatte nämlich gehört, ich sei getötet worden. Und siehe da, als er mich vorhin vor den Fischen erblickte, glaubte er zu träumen und erkannte mich nicht gleich. Leider vergehe die Zeit, ohne daß wir dessen gewahr werden: auch uns beginnen die Zähne auszufallen und die Bärte zu ergrauen – die ersten unzweifelhaften Anzeichen des Todes –, aber was macht das schon: noch immer sind wir jung und halten uns aufrecht! Ob ich mich noch seiner Worte entsänne, als er im Mondschein auf dem Sockel des Löwen von Beifort mit mir um eine Flasche Champagner gewettet habe, daß das Schicksal Europas, dieser alten Hure, besiegelt, ihr Todesurteil bereits unterzeichnet sei? Das war am Vorabend des europäischen Zusammenbruchs gewesen, und die Flasche Champagner sei ich ihm bis heute noch schuldig geblieben (denn ich sei naiv von Geburt und hätte nie ein nennenswertes Ver278
ständnis für die Wirklichkeit gehabt), und diese Schuld müsse ich noch am heutigen Abend begleichen! Oh, jene schönen Mondscheinnächte, als wir auf dem Friedhof von Montparnasse Gitarre spielten und dem fetten, schnaufenden, geizigen Bäcker in Passy einen Korb voll warmer Madeleines klauten (die heutzutage nicht mehr öffentlich gebacken werden). Und ob ich mich noch erinnere, wie wir einmal eine ganze Nacht lang im Regen unter den Kastanienbäumen des Boulevard Arago ausharrten, um die Guillotine zu sehen und der Hinrichtung irgendeines Verbrechers beizuwohnen, und doch nichts sahen – nur den Trommelwirbel konnten wir hören! Mit einem Wort: im Augenblick hätte er keine Zeit, er wäre mit zweitrangigen Dummheiten beschäftigt, doch rechne er ganz bestimmt, geradezu mit unaufschiebbarer Bestimmtheit damit, daß ich ihm diese kleine Bitte nicht abschlagen würde und wir uns am Abend noch einmal sehen könnten, ohne Rücksicht auf allfällige Möglichkeiten, wenn auch nur für wenige Minuten, denn mir dürfte es ja nicht schwerfallen, da ich frei sei, er aber hoffe, sich trotz allem schon irgendwie drücken zu können. Sollte es aber doch so kommen, daß es uns nicht gelingen würde, uns heute abend zu sprechen, so könnten wir uns dort zumindest für ein anderes Mal verabreden, vielleicht zu einem Tagesausflug nach Chantilly, wo wir damals auf die fetten alten Karpfen Bonapartes mit dem Revolver schossen … Ihm wäre es egal – in diesen Wäldern gäbe es ja keinen einzigen Winkel, der nicht voll zahlloser Erinnerungen an unsere Knabenzeit sei. Doch wenn mich nicht Geschäfte hier zurückhielten, könnte ich mit ihm 279
nach London fahren, wo er in drei, vier Tagen hin müsse, um Unterseeboote einzukaufen; ich sei sein Gast, er habe hier als Chef einer Handelsmission zu tun, doch heute sei es das wichtigste, daß wir uns verabredeten, und allenfalls sei es auch nicht ausgeschlossen, daß er sich trotz allem freimachen könnte. In diesem Strom von Worten und Bildern, von Dunst und Begeisterung (echter!), von Händedrücken und Freudenäußerungen, zog er aus seiner Brieftasche eine Visitenkarte hervor und schrieb (für alle Fälle – wegen der Stumpfsinnigkeit des diplomatischen Personals – ich möge ihm doch bitte, verzeihen) einige Worte darauf, schwenkte dann die von der Tinte noch nasse Karte in der Luft, und in einem Wirbel von freudiger Bewegtheit, von Lachen, von unmittelbarster Herzlichkeit, füllte er mich ganz und gar aus wie ein Sturmwind, machte mich sich Untertan, und noch bevor es mir gelang, die in diesem Augenblick einzig logische Frage auszusprechen – was ich denn eigentlich auf dieser Soiree zu suchen hätte –, war er bereits wieder unter die Sonnenplane des Kaffeehauses zu seiner blonden Unbekannten zurückgekehrt und verschwand mitsamt der Dame und ihrem Pekineser Zwerghündchen in einem gewaltigen Hispano-Suiza und einer Wolke von Benzindämpfen, verschluckt von dem Gewirr der Großstadt. Fische, flache, scheußliche, seltsame Fische kreisten in dem hellgrünen Schaufenster der Fischhandlung hin und her, ich aber starrte noch immer – zwischen blutigen Hasen und krepierten Vögeln – im Licht des Aquariums die merkwürdige Visitenkarte in meiner Hand an, 280
die mir an jenem Abend den Zugang zu der Botschaft in der Avenue Yokohama öffnen sollte.« »Sie sind hingegangen?« »Natürlich bin ich hingegangen, Herr Doktor!« »Und haben Sie dort Ihren Freund getroffen? Haben Sie sich mit seiner Karte ausgewiesen?« »Ihn habe ich dort nicht angetroffen, weil er überhaupt nicht erschienen ist. Man sagte mir nämlich, der Oberst Christian Kavaljerski wäre noch im Juli Neunzehnhundertzwanzig vor Warschau gefallen; es muß den Leuten merkwürdig vorgekommen sein, daß ihn jemand dreizehn Jahre nach seinem sagenumwobenen, in allen Volksschulbüchern verherrlichten Heldentod nun im Gebäude der Pariser Botschaft suchte.« »Was ist denn aus der Visitenkarte geworden? Die war doch als eine Art Einladung gemeint … Was hat man Ihnen denn gesagt, als Sie die Einladungskarte eines Verstorbenen vorweisen wollten?« »Ich habe sie überhaupt nicht vorgezeigt, da ich annehmen mußte, man würde mir keinen Glauben schenken und mich als Irrsinnigen einsperren!« »Vielleicht doch eher als einen naiven Menschen, der einem dummen Spaß auf den Leim gegangen ist. Und wo ist sie denn jetzt, diese Visitenkarte Ihres Obersten?« »Ich habe sie nicht hier bei mir, Herr Doktor, doch kann ich sie Ihnen jederzeit bringen, wenn Sie es wünschen.« In diesem Augenblick trafen sich unsere Blicke, und ich stellte fest, daß der Doktor mir kein einziges Wort glaubte, und daß ihn, den alten Routinier, die ganze 281
Geschichte ziemlich anödete; daß er mich einfach für einen harmlosen Narren hielt, den man am besten auf geschickte Art hinauskomplimentieren sollte. Auch ich begriff im gleichen Augenblick, wie naiv es war, von diesem Herrn im weißen Arztmantel menschliches Verständnis zu erwarten für dieses halbverrückte Spiel von Lüge, Wahn und Schatten in unseren Gehirnen. Und beide atmeten wir erleichtert auf, als wir zum sachlichen Teil unseres Gesprächs übergingen, nämlich wie es seit unserem letzten darauf bezüglichen Gespräch um meine Verdauungsstörungen stünde, ob ich noch immer an hartem Stuhlgang litte, an Reizbarkeit, Herzklopfen, Kopfschmerzen, Schmerzen in der Ferse, chronischer Verstimmung, an schalem Geschmack im Mund, an Müdigkeitserscheinungen vom übermäßigen Rauchen, mangelndem Appetit. Er schrieb mir ein neues Rezept auf und verabschiedete sich an der Tapetentür zu seinem Behandlungszimmer auf das liebenswürdigste, nicht ohne mir vorher fünfundsiebzig Dinar für die heutige Ordination abgeknöpft zu haben: Auf baldiges Wiedersehen, empfehle mich, Kompliment! Draußen auf der Straße strömt der Regen nieder. Wandern im Regen, im trüben Licht der Gaslaternen, die Fensterscheiben fremder verhängter Fenster betrachten, schlafen unter den gewölbten Decken dunkler Untermietzimmer, allmählich sich vollaufen lassen mit Seufzern und müden Bewegungen wie ein fluchbeladenes Gefäß und weiterwanken in die Ferne, immer müder, über schlammige, finstere Straßen, horchen, wie der Regen weinend niederströmt, Arzneien einkaufen, in 282
Apotheken herumsitzen und warten – darin erschöpft sich in der Hauptsache alles in allem das Leben in einer Kleinstadt. Alte Baumstämme, dunkel und unbegreiflich auf den ersten Blick wie alles Häßliche, alle dämonisch entstellten Erscheinungen unserer Wirklichkeit; taubstumme Baumstämme in den verregneten Alleen sind so scheußlich und grauenhaft wie eine kranke Prostata, wie alte geräucherte aufgequollene Schweinsdärme in den Schaufenstern der Fleischerläden, und an ihrem ungestalten, borkenrindenbedeckten Elefantenbein entlang rieselt der Regen herab, schwarz und fettglänzend gleich einem Teerfaden; alles in der Umgebung des schwarzen verregneten Baumstamms gemahnt an die Sintflut, an Überschwemmungen und das Durcheinander einer Elementarkatastrophe. Faulende Südfrüchte, aufgeweichtes Zeitungspapier mit dem Bild eines überfahrenen Mädchens auf den Eisenbahnschienen, Spuren von Hundepfoten, nasse Zigarettenstummel – das alles schwimmt auf der waagrechten Fläche des Gehsteiges wie auf der Glastafel eines tiefen schwarzen Spiegels, wo alles bloß für die Dauer eines flüchtigen Augenblicks verweilt, der so kurz ist wie das Echo auf einen unbekannten Klang, der aufwogt, sich ausbreitet in einer Unzahl von Wellenkreisen und dann versinkt, ganz wie ein aus unfaßbar hoher Himmelsvertikale schlicht und natürlich herabgefallener Regentropfen, der sich einen Augenblick lang unruhig um die verfaulte Schale einer zertretenen Apfelsine geschlängelt hat, um sich dann über den schwarzen Asphalt fortzubewegen und in die Unterwelt tief unter unseren Füßen hinabzustürzen, wo schmutzige Gewässer 283
rauschen und gurgeln. Auch an sonnigen Tagen hauchen alle Keller einen Grabesdunst aus; alle menschlichen Wohnungen sind erfüllt vom Gestank, der aus WC-Muscheln und alten ungelüfteten Schränken hervordringt. Doch nichts auf der Welt ist so traurig wie der Anblick eines weißen Seidenschuhs im Schaufenster eines Schuhladens bei Regenwetter. Dieser weiße jungfräuliche einsame Gegenstand, spitz, altmodisch, mit hohem Absatz – Wunschtraum junger Bräute und unschuldsweißes Bild der ersten Kommunion –, hier steht er in seinem beleuchteten Glasschrein wie in Schneewittchens Sarg, und so verlassen und losgelöst von dem ruhelosen Getriebe, das rings um ihn her brodelt, so hoffnungslos isoliert und so sinnlos geworden im niederrieselnden Regen, wie eben alles Vergessene und Verstoßene sinnlos und gegenstandslos wird. Unentwegt und endlos strömt der Regen herab, und alle Dinge bekommen ein trübseliges, regennasses Aussehen: Pferde, Spatzen in den Baumkronen, ja selbst das einsame Monument im triefenden Schatten der Tannen. Alle Fensterscheiben sind trüb und grau, so grau, daß die Stuben versunkenen Räumen gleichen, ersoffen und ertrunken in bodenlos unfaßbare Fernen und Tiefen bis auf den untersten Grund, wo die Zeit stillsteht und nichts sich regt; nur die grauen, glasgerahmten, ertränkten Stuben ragen im Regen wie leere erhellte Schaufenster, und in einem von ihnen, unbeweglich und in stummem Schweigen, steht ein ganz bescheidener und unscheinbarer weißseidener Frauenschuh. Der Regen rinnt über die alten Dächer seltsamer, unbegreiflich alberner und grauer Häuser, hüpft über 284
Dachziegel und Dachrinnen, über alte Dachböden und vollkommen leere Balkons, und eine Träne läuft über das Antlitz des blinden Mädchenkopfes auf dem Hauptportal des Stiegenhauses. Ein Tröpfchen hat sich den Weg durch die Gipsfrisur gebahnt und gleitet jetzt an der klassisch kalten Wange des Frauengesichts herab, das, erhaben und regelmäßig geformt, als lorbeergekrönte Maske über dem irdischen Geschehen am Hauptportal thront. Geschmiegt an diese tragische Frauenphysiognomie hat sich eine nasse Taube hingekauert, das Köpfchen unter den Flügel gezogen, und läßt sich vollregnen. Wer hat wohl diese kleinen leeren Städtchen gegründet mit ihren regelmäßigen Promenaden, diesen idiotischen Balkonen und unbeleuchteten Wohnungen, wer hat diesen Herbsttag erfunden, die öde Langeweile der Kleinstadt, die im Regen dasteht wie ausgestorben und weit und breit ist kein Mensch zu sehen, nicht ein einziger? Nur den Regen kann man rauschen hören durch die finsteren Schleier der Dämmerung. Ein Mann geht durch die verödete Allee, er trägt ein Paket, er stöhnt, unter seiner Nase flammt die Zigarette auf und hinterläßt eine Wolke von warmem Rauch, dann verglimmt sie im Halbdunkel wie ein roter waagrechter Strich. Hinter dem Schreitenden bleibt die Ausdünstung müder Füße zurück, eines ungewaschenen Körpers, durchnäßter Lumpen und warmen Rauchs. Jetzt ist er vorübergegangen mit seinem Paket und entschwindet in der Richtung der Bahnhofshalle, die mit ihren hohen orangegelb leuchtenden Fensterscheiben an ein riesengroßes Treibhaus erinnert, durchwärmt, erfüllt vom Tau und 285
fauligem Dampf, in welchem seltene fleischige Pflanzen gedeihen. Und weiter wandert der müde Passant (den Kopf zwischen die Schultern gesenkt), riesengroß und finster, als trage er seine eigene Grabtafel mit sich herum, mit der Inschrift: Er lebte, wanderte, bewegte sich, trug Pakete durch kleine unbekannte Städtchen, bis er eines Tages (auf Nimmerwiedersehen) verschwand. Ohne Wiederkehr, beherrscht von einem letzten ungesunden Gedanken: Daß er eigentlich seine Füße hätte waschen können und es doch nicht getan hatte, obwohl er es wollte und darüber nachgrübelte, wie gut und wie notwendig dies gewesen wäre (»für alle Fälle«), und der von dieser Erde schied, ungewaschen und verdreckt, auf der er auch im Dreck gelebt hatte: Wie es geschrieben stand von Anbeginn. Keine Spur blieb nach diesem müden Unbekannten zurück, nur ein melancholischer Schatten in unserem Gehirn, er aber entschwand in einen fernen blaßblauen, pastellgrünen, sonnenbeschienenen Raum, wo im Kristallglanz eines Sommertages eine Sonnenstadt steht: Ameisen wimmeln zwischen Ameisenhaufen hin und her, Katzen dösen im warmen Schatten, Spatzen zwitschern, und von einem Balkon herab bauscht sich eine blauseidene Fahne mit dem schwedischen Kreuz, durchsichtig wie ein Frauenhemd, und von ihren feinen, im sommerlichen Lufthauch immer winziger gekräuselten Fältchen geht in der stillen Schwüle eine erfrischende Kühle aus wie von dem Plätschern eines Springbrunnens. »Was in aller Welt machen denn Sie hier in diesem Regen?« »Na, so eben. Nichts! Ich phantasiere über den toten 286
Sommer, trauere dem Sommer nach, der leider nie mehr wiederkommt! Außerdem warte ich, daß man mir in der Apotheke meine Arzneien zusammenbraut, Ich kuriere mich! Ich öde mich an!« »Guten Abend. Es freut mich, Sie zu sehen! Ich finde es von Ihnen gar nicht so töricht, daß Sie dem Sommer nachtrauern. Schon seit Jahren habe ich keinen richtigen, anständigen, menschenwürdigen Sommer mehr erlebt! Im übrigen gibt es ja einen Sommer an sich gar nicht; der Sommer ist eine Illusion, die sich schon in der vierten oder fünften Gymnasialklasse von selbst in Nichts auflöst. Aus dem besonders schwermütigen Summen einer Fliege am Kaffeehausfenster können Sie ganze Waldlichtungen heraushören, sich stille, weite blaue Fernblicke vergegenwärtigen: Kuhglocken, Berge, Schafe – viel intensiver als in dem erstbesten blödsinnigen Dummenjungensommer, wenn man seine erste Gonorrhöe durchmacht. Was bedeutet überhaupt Sommer für uns Großstadtneurastheniker? Graue, staubige, ungewaschene Fensterscheiben, abgenommene Gardinenstangen, eingemottete Teppiche, großes Reinemachen, Lampions in den Schaufenstern der Papierhandlungen und zwei, drei Saufereien mit Strohwitwern. Pomme de paille, homme de paille – Strohmänner – alles bloß leeres Stroh! Überhaupt: so ein Sonntagnachmittag in unserer kleinen Stadt – gibt es denn im ganzen Weltall etwas, das noch sinnloser und armseliger wäre? In der Tat, ist in der ganzen Welt jemand, der imstande wäre, im Sinne einer höheren, kosmischen Ordnung die tiefere Bedeutung eines unserer sommerlichen Sonntagnachmittage zu ergründen, wenn die Straßen 287
mit Ausgeburten der Hölle überschwemmt sind, wie hier zum Beispiel mit Photographien von Dienstmädchen in den schwarzgerahmten Aushängekästchen?« »Und ich, sehen Sie, habe eben erst darüber nachgedacht, wie trübselig sich dieser weiße Damenschuh im verregneten Glaskasten der Schusterauslage ausnimmt! Mir scheint gerade dieser Schuh das allertrübseligste Ding der Welt!« »Sie haben recht! Dieser Ihr Schuh ist noch trauriger als meine Photographien! Richtig! Und auch dieser bronzene Pater fühlt sich nicht gerade behaglich auf seinem Granitsockel im Regen. Stellen Sie sich aber diesen Pater bei einer Hundstagshitze vor, wenn er, mit dem Buch in der Hand, der Sonnenglut Gottes ausgesetzt dasteht, während kleine Stenotypistinnen um ihn herum ihr Gefrorenes schlecken. Noch unangenehmer! … Und Sie, Sie warten, wie Sie sagten, daß man Ihnen Ihre Medizin zusammenbraut? Waren Sie bei L.W.? Auch ich war bei ihm. Er hat mir Ihren Fall erzählt. Sie wissen doch, daß wir Kollegen von der Klinik sind. Heute ist er mein Mäzen, mein Wohltäter. Er erhält mich sozusagen. Er erweist mir eine Unmenge Gefälligkeiten. Ein hundertprozentiger Trottel, der keine Ahnung von der Medizin hat. Schmeißen Sie die Medikamente, die Ihnen L.W. verschrieben hat, zum Teufel! Kommen Sie lieber mit mir, einen halben Liter Dingatsch trinken, das wird unvergleichlich vernünftiger sein!« Das war Doktor Sirotschek, ein Sonderfall. Doktor Sirotschek kenne ich seit langem. Unsere Beziehungen sind, wie soll ich es ausdrücken – einigerma288
ßen delikat, wir sind einander nämlich tatsächlich nähergekommen, wenn wir uns, immer wieder, in den Pissoirs unserer abscheulichen Spelunken trafen, im mürrischen, dicken, ausweglos besoffenen Dunkel unserer bodenständigen Saufgelage, bei denen man sich betrinkt, weil man die Vernunft betäuben, das Herz vergiften möchte; sich aus einem selbstzerstörenden Drang vollaufen läßt, um so bald wie möglich zu krepieren und die Last dieser unserer Depressionszustände abzuwerfen, unsere Albernheiten und unseren Nihilismus – kurz, unsere Lebensweise an sich. In jenen abscheulichen Örtlichkeiten, wo alles nach Pech und Teer riecht, und Wässerchen, plätschernd in Schleiergerinseln, gleich durchsichtigen, über stinkende Mauern niederrieselnden Vorhängen an schwarzen Wänden herabfließen, dort an diesen Orten pflegte ich seit Jahren dem Doktor Sirotschek zu begegnen. Und auch wir plätscherten mit, so wie alles plätschert, rauscht und fließt in diesem Menschenleben, denn alles ist bloß eine Fleischblase und ein Wasserschwall – es fließt in uns hinein und durch uns hindurch aus den Wolken in die Flüsse, Bäche und städtischen Kanäle. Genau besehen, scheint der Zweck unseres irdischen Daseins kein anderer zu sein, als daß wir fleischgewordene, blasenförmig erweiterte Adern werden, eine Abart himmlischen wasserleitenden Gefäßsystems, durch welches Wasser vom Himmel fließt und sich in Porzellanmuscheln ergießt, während wir wie Wasserblasen auf dem Grund einer wolkigen Masse treiben und dort gleich bleichen Unterwasserpflanzen plätschernd blühen, feucht, blind und durch und durch verwirrt, ob wir nun besoffen oder 289
nüchtern sind, und immer schmerzlicher in den Pfützen unserer eigenen Tränen oder Darmkatarrhe ertrinken. Immer, wenn wir jahraus, jahrein, mit mathematischer Pünktlichkeit einander an den gleichen Örtlichkeiten begegneten, pflegten wir, Doktor Sirotschek und ich, in dieser menschlich-allzumenschlichen Situation zweier fast Ertrinkender wie zwei müde Wassermänner ein paar nichtssagende graue und leere, beinahe konventionelle Worte zu wechseln. Wenn ich dann zurückkehrte zu Wein und Rauch, in die Schenke und in die Nebeldünste meines Tisches, hatte ich, zumindest am Anfang unserer Bekanntschaft, das sichere Gefühl, dieser Doktor Sirotschek sei einer der liebenswerten, gutgesinnten, harmlosen und positiven Menschen, folglich also zu jenem Typus unserer Leute gehörend, die mit mathematischer Sicherheit dazu verurteilt sind, unter die Räder zu kommen. Aus dieser bläßlichen, lyrischen, schwankenden, hochbegabten Persönlichkeit, die zweifellos etwas verworren und in ihren Ansichten und Überzeugungen ziemlich unbeständig war, aus dieser weinseligen Erscheinung sprach zumeist eher der Magen als der Verstand. Doch während dieser unsichtbare Bauchredner aus der Tiefe von Doktor Sirotscheks Verdauungstätigkeit sich zu Wort meldete (mehr mit einem deutlichen Grunzen als mit menschlicher Stimme), sprach dieser Säufer trotz seines fiebrig glasigen Blicks, der unsicher zitterigen Hand, der an der Unterlippe klebenden brennenden Zigarette und der aus dem Urgrund seines Körperbaus dringenden besoffenen Töne der Gedärme und der Eingeweide, stammelnd in einer Mischung aus Vernunft und Alkoholrausch, mit 290
einer solchen Begeisterung und einem derartigen Selbstvertrauen von sich, seiner hohen dichterischen Sendung in diesem unserem Pfuhl, daß mir seine in den verschiedenen Pissoirs gehaltenen besoffenen Monologe im Gedächtnis geblieben sind und mir auch heute noch in den Ohren klingen, wie man Musikmotive behält und nicht vergessen kann. Und in der gleichen glorreichen männlichen Stellung erzählte er mir, hilflos wie ein neugeborenes Kind, auch eines Tages den Inhalt einer Novelle über eine nackte Frau, die er geschrieben und, wie er gestand, nicht weniger als siebzehnmal Wort für Wort eigenhändig abgeschrieben hatte, mit der er jedoch noch immer nicht zufrieden war, weil ihm die Schilderung einer bestimmten Bewegung der besagten Frau, die über der Waschschüssel hockte und sich den Bauch wusch, nicht und nicht gelingen wollte. Als die Novelle dann in verschiedenen Zeitschriften erschien, wurden die Leute auf ihn aufmerksam, doch hörte man überall die Meinung, er sei verrückt und die Werke, die er unter einem Decknamen veröffentlichte, wären typische Beispiele literarischer Produkte eines Irren. In seinem bürgerlichen Beruf war er Arzt und stand am Beginn einer »überaus blendenden akademischen Karriere«, ein junger Mann, der sich bereits mit sechsundzwanzig Jahren als Assistent einer internationalen Koryphäe in Paris mit seinen wissenschaftlichen Publikationen einen Namen gemacht hatte, so daß sogar eine bestimmte Nervenresektionsmethode in der Heilkunde nach ihm den Namen »Sirotschechiana« erhielt. Der solcherart berühmte Träger eines wissenschaftlichen Prädi291
kats verlor jedoch überraschenderweise unterwegs auf seinem steilen Aufstieg zum Ruhm den Halt, tat sich mit einer Frau von verdächtigem Ruf zusammen, kam moralisch herunter, ergab sich dem Suff, der Unzucht und einem liederlichen Lebenswandel, verfiel der Trunksucht, verprügelte seinen Berliner »Herrn Professor«, verbrachte mehrere Jahre in verschiedenen Heilanstalten und kehrte dann – komplett schiffbrüchig – in unseren kleinen stillen Flecken zurück. Doch auch hier fand er sich in der Stellung eines praktischen Arztes nicht zurecht, und nachdem er in allerhand Affären mit nicht ganz einwandfreien Patienten hereingeraten war, begann er sich in den Zeitungen über die hohe Berufung des Arztestandes herumzuzanken, ohrfeigte in der Folge eine Lokalgröße – einen bekannten Universitätsprofessor – und wurde in die Irrenanstalt von Stenjevatz zur Beobachtung geschickt. Heute besäuft er sich in dunklen Weinkellern mit Dingatsch, hungert sich durch, um Abschnitte seiner ausgefallenen, seltsamen und verworrenen Prosa zu veröffentlichen, lebt als obdachloser Poet mehr oder weniger von den Almosen seiner ärztlichen Kollegen, von denen er wie der verlorene Sohn behandelt wird, der den Schweinetrank aus dem Trog den reich gedeckten Tafeln einer geordneten bürgerlich-patriarchalischen Lebensweise vorzieht, in welchem die Triebe gezähmt und gezügelt sind und lügenhafte Autoritäten verr ehrt werden – um jeden Preis, auch um den einer besseren Überzeugung. Dr. L.W., der Arzt, der mich seit mehr als einem Jahr behandelt, hatte ihm »meinen Fall« erzählt, und da auch Doktor Sirotschek ihn gerade heute aufgesucht hat292
te, um ihn um eine Kleinigkeit anzupumpen, sprachen sie natürlich auch von mir. So interessierte es Doktor Sirotschek, auch meine eigene Darstellung »meines Falles« zu hören, denn daß Doktor L.W. ein ausgemachter Trottel war und was es also mit »meinem Fall« für Bewandtnis hatte, stand sowohl für Doktor Sirotschek als auch für mich von vornherein außer jedem Zweifel, so daß sich jede weitere Debatte darüber erübrigte. Im Dalmatiner-Keller, zwischen Weinfässern, die dort wie in einer unterirdischen Seeräuberspelunke herumstanden, waren wir beim zweiten Liter Dingatsch – und nachdem ich mit einem neuen Armvoll von neuerdings von Doktor L.W. verordneten Medikamenten aus der Apotheke zurückgekehrt war – bereits völlig darüber einig, daß »mein Fall« nicht nur »mein Fall«, sondern auch »sein Fall« war – zwei »identische Fälle« im Grunde, bezeichnend nicht so sehr für uns als Patienten, als für dieses ganze steinzeitliche, kannibalische Troglodytenmilieu um uns herum. »Ihre Toten irritieren Sie also wie alte Erzieherinnen, und diese Idioten massieren Ihnen die Prostata! Da haben Sie nun unsere Wissenschaft. Ihr grundlegender Gedanke, von dem Sie ausgehen, nämlich der, daß wir in dem Bewußtsein der vor uns. Abgeschiedenen noch vor unserem eigentlichen Ableben sterben, ist ja eine der allergrundlegendsten und folgerichtigsten Voraussetzungen für jeden, auch den primitivsten Gedanken, den man sich über den Tod macht. Pilgern müßte man von einem Grab zum andern, um an der Überfülle von Elend und unsäglichem Leid eines jeden dieser erloschenen 293
Leben kleine Kerzen der Erkenntnis und der Erfahrung zu entzünden. Sie alle – verstorbene Schwindsüchtige, Witwen, Bettler, auf Operationstischen der Kliniken gemordete Verwundete – alle hätten uns so manches zu beichten und ein oder zwei offene Worte der Erleuchtung zu sagen, und jeder, auch der geringste Lichtschein, der von der Weisheit dieser Dahingegangenen ausgeht, kann dazu beitragen, auch unser eigenes Dunkel mit zu erhellen: Das Dunkel in uns, unsere Unfähigkeit, uns Unbekannten gegenüber zurechtzufinden, erschiene uns dann weniger fremdartig und unbekannt, denn es würde sich herausstellen, daß alle Dinge einander viel ähnlicher sind, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Diese Toten haben bereits vor uns ihre Nachprüfungen abgelegt, und wenn wir ihre Erfahrungen richtig einschätzten, kämen wir zu der Erkenntnis, daß die Examen, vor denen wir stehen, gar nicht so schwer sind, wie sie uns, die wir mit nicht ganz reinem Gewissen vor diese endgültige Prüfungskommission hintreten, erscheinen. Natürlich kommt etwas derartiges den Herren Ärzten krankhaft vor, in den Augen der Neurologen sind solche Gedankengänge reif fürs Irrenhaus, denn jeder, auch der kleinste, Schatten einer höheren Inspiration, mag er auch noch so geringfügig sein, ist für Spezialisten vom Schlage eines L.W. ein pathologischer Falk Alles hier bei uns ist eine ungeheure Anhäufung von Dreck, ein Müllhaufen, auch unsere ›Wissenschaft‹ ist ein ganz ordinärer Mist; ich weiß gar nicht, ob Sie schon eine, übrigens ganz alltägliche, Tatsache beobachtet haben, nämlich daß bei uns überhaupt alles auf Mist und 294
auf Misthaufen aufgebaut wird! Fuhrleute kommen mit ihren Fuhren angefahren und heben das Niveau unserer Stadt, indem sie Mist heranfahren: alte blecherne Waschschüsseln, Säcke, Pappendeckel, unbrauchbare Löffel, verwitterte Hutschachteln, verstunkene Lumpen, die nach Verbranntem riechen. Und auf diesen alten Waschschüsseln, auf Ballen von verschimmeltem Zeitungspapier werden dann die Pavillons unserer selbstbestallten bodenständigen Kultur errichtet! In diesen aus alten Säcken und verwitterten Zahnbürsten erbauten Zelten, diesen Zigeunerbuden aus Gips und zerfetzten Lumpen, in diesen Hütten und Lehmbehausungen wohnt dann unsere Zivilisation. Und unter anderem ist daselbst und auf die gleiche Weise unsere medizinische Wissenschaft untergebracht. Hier thronen sie und käuen wieder, unsere Mandarine und Autoritäten. Ich aber sage Ihnen – passen Sie gut auf, denn ich möchte nicht als unheilkündender Prophet gelten –, das alles steht auf schwachen Beinen wie eine Kulisse aus Papier, die nur auf den ersten Windstoß, auf das erste Sausen einer Granate wartet, damit alles wieder wird, wie es war: eine alte lecke Waschschüssel, eine Kasserolle mit durchlöchertem Boden, ein kaputter Nachttopf und das Blech von leeren Konservendosen! Alle unsere auf Zeitungspapier aufgebauten festen Burgen werden zerfetzt, in alle Winde zerstreut, und keiner wird wissen, daß es sie jemals gegeben hat. Auch das wird man nicht mehr wissen, denn unsere Mitbürger wischen sich die Hintern mit Zeitungspapier ab und vernichten so selber ihren eigenen Ruhm wie der alte Saturn! Übrigens habe ich ja dies alles diesen Herren bereits geschrie295
ben und mit meiner Unterschrift bestätigt – deshalb haben sie mich auch im bürgerlichen Sinn liquidiert, als eine Person, die reif fürs Irrenhaus ist. Wie kann ich also gegen diese lautstarken Grammophone unserer Wissenschaft aufkommen, ich, der ich in der Krankenliste der Irrenanstalt von Stenjevatz evidentiert bin? Ich habe ihnen bereits in aller Öffentlichkeit erklärt, und mit meiner bürgerlichen Unterschrift und meinem akademischen Doktortitel besiegelt, daß ein einziger, auch der oberflächlichste Blick auf unsere Chirurgie, unsere Laryngologie oder Neurologie genügt, um zu erkennen, daß dies alles, wissenschaftlich betrachtet, nichts weiter ist als das bescheidenste Amtshandeln von in den Generalsrang erhobenen kleinen subalternen Beamten, daß wir in den Augen der internationalen Wissenschaft überhaupt nicht zählen und vor einem europäischen Forum noch immer als letzte Provinz gelten! Bemühungen um experimentelle Forschung, originelle Entdeckungen, wissenschaftliche Initiativen – alles gleich Null. Ich lasse mir von kleinen Ärzten mit Provinzpraxis, die in der akademischen Toga herumlaufen, nicht imponieren und ebensowenig von Plagiatoren, die sich mehr mit Politik als mit Wissenschaft beschäftigen. Und ich habe es diesen Leuten auch gesagt, schriftlich: daß sie allesamt zu Angestellten geworden sind von Aspirin, Pyramidon und Indanthren, jawohl, so und nicht anders verhält es sich: Vertreter der großen europäischen Chemiekonzerne sind sie, weiter nichts! Lassen Sie mich, bitte, übrigens sehen, was Ihnen dieser Weise aus dem Morgenland eigentlich verschrieben hat – nur für einen Augenblick!« 296
Ich übergab Sirotschek das Rezept des Doktor L.W. Er überflog es mit der überlegen spöttischen Verachtung eines strengen Professors, der die Schularbeit eines notorischen Repetenten zur Hand nimmt. Na, wir werden einmal sehen: Rp. Infusi Sennae 30,0 Natrii Sennae 30,0 Natrii chlorati ana 30,0 5–3 mal täglich 2–1 Eßlöffel Gardenal-Tabletten ½ 3 mal täglich Probilin p. 3–4mal täglich a) abends vor dem Schlafengehen b) am Morgen 1 Stunde vor dem Essen auf nüchternen Magen Natrii chlorati 15,0 Natrii sulfurici 40,0 Natrii bicarbonici 50,0 Kalii sulfurici 5,0 M.F. 110,0 D.S. 4 Kaffeelöffel in 4 Deci abgekochtem Wasser zusammen mit den Pillen abends und morgens Coffeini natriosalycilici 0,15 Ergotini Bonjouani 0,2 Acidi acetylosalycilici 0,4 in capsulis amylaceis D.D.t.d. No 15 D.S. nach dem Frühstück und nach dem Mittagessen. 297
Noch einmal überflog Doktor Sirotschek das recht ausführliche Rezept (für die Medikamente hatte ich in der Apotheke hundertsechsundsiebzig Dinar und siebzig Para bezahlt), dann legte er kurz seine langen, spinnenähnlichen, vom Tabak gelb verfärbten Finger auf meine Hand, und ich fühlte, daß seine blutarmen, nervösen, arachnoiden Fingerspitzen kalt waren wie Kokain. »Was haben Sie für diesen Blödsinn bezahlt?« »Hundertsechsundsiebzig Dinar und siebzig Para. Übrigens hat der Apotheker jeden Posten der Rechnung gesondert aufgeschrieben.« »Schön. Und was haben Sie diesem Ihrem Kurpfuscher gegeben?« »Fünfundsiebzig Dinar.« »Also zweihundertundfünfzig Dinar haben Sie für diese Molièresche Verordnung bezahlt. Ein berühmter Arzt hat einmal gesagt, der Unterschied zwischen einem Arzt und einem Veterinär liege nur im Patienten! Und wissen Sie, was er Ihnen verschrieben hat? Nichts als Abführmittel! Senna-Blätter, ein Extrakt, der auf die glatte Darmmuskulatur einwirkt und die Behebung von Verstopfungen beschleunigt. Er hat Ihnen einen so sakramentsmäßigen Durchfall verordnet, daß Sie davon den Verstand verlieren, falls Sie diesen ägyptischen Blödsinn fressen sollten. In Ägypten und in Senegal wird damit das Trachom behandelt, Folia Sennae – das sind blaßgrüne, wollige Blättchen, die sich ungewöhnlich weich anfühlen, wie Watte, eine Tropenpflanze, die gelb blüht und durchdringend duftet, eine Abart der Cesalpiniacaea, deren Frucht prall und klebrig ist wie Hagebutten, 298
man nennt sie Manna – das himmlische Manna. Einmal habe ich in Paris am Flohmarkt einen Senegalneger diese Frucht anpreisen hören, als allersicherstes Mittel gegen die Gonorrhöe. Wie Sie also sehen, herrschen in der wissenschaftlichen Welt über die Heilkraft dieses biedermeierischen Schabernacks geteilte Meinungen. Vielleicht leiden Sie aber gar nicht an hartem Stuhlgang?« »Nein! Seit ich mich erinnere, leide ich an Durchfall, und zwar chronisch!« »Unglaublich, einfach nicht zu glauben! Gardenal-Tabletten, der allergewöhnlichste Mist, das ist es ja, was ich Handel nenne, Geschäfte machen für I.G. Farben. Probilin ist ein Präparat, das die Gallensekretion fördert. Natrium, Kalium, Koffein – alles Mittel gegen Kopfschmerzen, Sie aber – was nehmen Sie, wenn Sie Kopfschmerzen haben?« »Veramon!« »Selbstverständlich! Wozu brauchen Sie, zum Teufel, einen halben Kaffeelöffel in vier Dezi abgekochtem Wasser zusammen mit den Probilinpillen morgens und abends, wenn Sie überhaupt keine Kopfschmerzen haben, sondern an nervösen melancholischen Depressionszuständen leiden, weil Sie, wie ich annehme, kein geregeltes Geschlechtsleben haben. Wann haben Sie zuletzt mit einer Frau geschlafen?« »So ungefähr vor einem halben Jahr.« »Na also! Sie brauchen eine Frau, mein lieber Freund, und keinen halben Kaffeelöffel in vier Dezi abgekochtem Wasser mit Probilinpillen, drei bis vier Pillen und gleich zweimal am Tag! Ein Narr ist er, dieser L.W., und ein 299
Zwangsneurotiker dazu, der sofort eingesperrt gehört, in eine Irrenanstalt. Übrigens will ich mich nicht aufregen. Einer, der sich wegen solcher Narren aufregt, verdient nichts Besseres, als in die Zwangsjacke gesteckt zu werden. Sehen Sie sich das doch einmal an: Schwefelnatrium fördert die Leberfunktion, wenn Sie aber diese Unmenge Schwefelpapp auffressen, werden Sie sich Ihre Verdauung so gründlich verpatzen, so endgültig, daß auch der beste Dingatsch Sie nicht mehr auskurieren kann! Wenn Sie sich an dieses Rezept hielten, dann hätten Sie von jetzt ab drei Wochen nichts anderes zu tun, als zwischen fünf und sechs Durchfällen täglich je drei Eß- und drei Kaffeelöffel von diesem Dreck hinunterzuschlucken, und zwar fünfmal täglich je zwei Löffel Natrii sulfurici am Morgen, abends Natrii chlorati, und nach dem Frühstück und nach dem Mittagessen Ergotini Bonjouani und Acidi acetolisalicylici, was Sie ja in der Form eines einfachen Aspirins zu sich nehmen können oder irgendeines anderen harmlosen Wurmzuckers. Wieviel, sagten Sie, haben Sie diesem Trottel gezahlt? Fünfundsiebzig Dinar? Ich habe ihn um einen ganzen Hunderter angepumpt, also hat er mir Ihr Geld zurückgegeben, und das wollen wir jetzt vertrinken! Hallo! Noch ein Liter Dingatsch!« Nervös wie ein Herrschaftshund sprang Doktor Sirotschek mit einem Satz zum kleinen Eisenofen, der purpurn glühend m der Ecke des Kellers rauchte, und warf mit einer eleganten Bewegung mein Päckchen mit den Arzneien, das neben ihm auf einem umgestülpten Faß gelegen hatte, ins Feuer. Dann kehrte er siegesbewußt zurück, klopfte mir auf die Schulter wie einem alten, ver300
trauten Freunde. »Diesen Blödsinn hätten wir liquidiert. Und jetzt haben Sie, lieber Freund, im Interesse Ihrer Gesundheit nur noch eine einzige Pflicht: Suchen Sie sich ein Frauenzimmer! Da kommt der Dingatsch! Auf Ihr Wohl!« Wir besoffen uns bis zur Bewußtlosigkeit, und Doktor Sirotschek redete die ganze Nacht von Frauen. Davon, daß Frauen verfault sind wie Feigen, und daß wir uns alle an diese angefaulte Weibesfrucht kleben, uns in dieses Fruchtfleisch einwühlen, und keiner die Kraft hat, sich einzugestehen, daß wir bloß aufgescheuchte Raupen sind und es nicht besser verstehen als haften zu bleiben auf diesen zerfallenden Feigen wie verstörte Würmer, und so geht unsere Zeit dahin in dieser wurmigen Fäulnis, während um uns herum Kanonen donnern und wir uns untereinander Jahrhunderte hindurch niedermetzeln. Und in dem blutigen Pathos des Kanonendonners und Trompetengeschmetters fühlte er, Doktor Sirotschek, bloß das eine: daß er Angst hat, und wie wunderbar es wäre, sich einzuwühlen in das Chaos eines Frauenschoßes, wie er auch einst und irgendwo aus einem gleichen Schoß hervorgequollen war, irgend einmal und irgendwo – unendlich fern und vor unfaßbar langer Zeit; zwischen Federbetten im Dunkel, als die Bettstatt knarrte, der Wind heulte und nasser, schmutziger, klebriger, nebelgrauer Schnee grenzenlos öde und unendlich einförmig vom Himmel fiel. Aus lauter kleinen, elenden, albernen Belanglosigkeiten bestand sein Privatleben: unendlich kaltem und leerem Glockengeläute – Glocken, die ihr Gebimmel zur höheren Ehre eines verwasche301
nen hundertköpfigen Begriffs anstimmen, eines Begriffs, für den es im Grunde sehr schwer zu bestimmen wäre, wofür er eigentlich steht; aus Frauen, die in letzter Zeit um ihn sind, und von denen eine an Drüsentuberkulose leidet, schwarze Strümpfe trägt, Mussja heißt und als Kellnerin in einer kleinen Kaschemme arbeitet, wo Unteroffiziere auf ein Gulasch einzukehren pflegen, irgendwo weit draußen am Rande der Stadt, wo die Kasernen stehen. Keine andere aus dem gesamten Weiberkosmos, nur gerade diese skrofulöse Mussja allein ist die Trägerin dieses geheimnisvollen Schoßes, dem der Doktor Sirotschek entgegenkriecht wie eine Schnecke; zu dem er sich hinbewegt wie ein Wurm durch die röhrenförmigen Hohlräume von Mussjas Eingeweiden, die für ihn das Aussehen einer ungeheuren, gigantischen, überirdischen, dantesken, dämmerigen Unterwelt haben. »Warm ist es in diesen weiblichen Eingeweiden, man kann hoffnungslos in ihnen versinken, sich in diesen dämmerigen Räumen verlieren als Mensch und als Mann, nicht länger Subjekt sein und sich in etwas verwandeln, das, gemessen an einer Menschenwürde, noch winziger und stammelnder ist als ein lallendes Neugeborenes in den Windeln; sich verkriechen in den Urstoff, rückverwandeln in eine Art glitschigen Schleim, nur gerade soviel, um noch zu existieren, die Wärme des Schoßes zu spüren, eingeschrumpft auf ein Etwas ohne Verstand, ohne Logik und ohne Erinnerungsvermögen, reduziert zu dem taubstummen Zustand eines warmen Fleischklümpchens, weit entfernt von jeglichem Gedanken an das Sterben, an die Vergänglichkeit und die vielen Toten, 302
die um uns sind, und an diese ganze akademisch gebildete Welt, in der wir leben. Denn was ist im Grunde wirklich in unserem Alltagsleben? Die Straßen? Sind die Straßen in der Tat eine Erscheinung der Wirklichkeit? Die Telefonapparate? (Aus der Ferne hörte man gerade das Klingeln eines Telefons im leeren Raum.) Das Wirtshaus des Dalmatiner Kellers? Das Netz des Verwaltungsapparates über dem allen? Die Flimmerbewegungen meiner angegriffenen Lungenspitzen? Ich wandle durch die Straßen – ein Wesen, so ganz und gar bedeutungslos, daß ich höchstwahrscheinlich auch fürs Auge gar nicht wahrnehmbar bin, eigentlich hin ich jedoch ganz durchscheinend und strahle ein grünliches Licht aus wie die Retorte in einem elektrischen Transformator, halte Zwiesprache mit den Sternen und singe wie meine Grille hier unten im Männerabort. Eine Grille habe ich entdeckt, mein lieber Herr und Leidensgenosse, hier unten im Pissoir habe ich eine Grille entdeckt! Unter der Wasserkaskade an der teergestrichenen Wand, dort, wo Zitronenscheiben herumschwimmen und Ammoniakdünste einem die Nasenlöcher zerfressen wie in einem Laboratorium, genau dort, auf dem tiefsten Grunde menschlichen Auswurfs, habe ich unlängst nachts die Stimme einer Grille vernommen. Keine Menschenseele war mehr im Wirtshaus, der Wind heulte wie toll, hier unten aber im dämmerigen Pissoir erklang die Stimme des reifen Mittsommers, der Duft des August, die Weite der Wiesen, wogend wie grüne Seide: die Stimme einer Grille mitten aus dem Urin und Dreck. Die Stimme der Natur, welche selbst verstunkene städtische Aborte zu sternübersäten Abenddämmerungen zu 303
verzaubern vermag, wenn in braunen Fernen die Mühlenräder klappern und die ersten Grillen ihre Stimme erheben als frühe Botinnen nahenden Herbstes … Da, sehen Sie, ich habe ihr Milchbrot gebracht, kommen Sie mit, wir wollen sie besuchen!« Hilflos linkisch wie ein kleines Kind zog Doktor Sirotschek eine Handvoll Milchbrotkrümel aus der Tasche, und so stand er – die Handfläche mit den Krümeln ausgestreckt in einer fliehenden Gebärde – eine ganze Weile wie eingeschlafen da, während in seinen Augen Tränen glänzten. Im Abort kam die Grille nicht zum Vorschein. Die Stille wurde nur von dem Plätschern unterbrochen, das, einem zitternden Schleier ähnlich, an der teergestrichenen Wand herabsickerte. Mit lauschenden Ohren, den Blick, der sich in der Ferne verlor, fern von allem, was in dieser Welt als Wirklichkeit bezeichnet zu werden pflegt, verweilte Doktor Sirotschek so mit gesenktem Kopf, eine ganze Weile. Dann warf er mit einer Handbewegung den brennenden Zigarettenstummel weg, der zischend wie eine Rakete im Wasser erlosch. »Alle sind wir nichts als Zigarettenstummel im Urin«, sagte er dann sentimental, drehte das Futter seiner linken Tasche um, schüttete den Rest seines Milchbrotes aus, und bürstete mit vier Fingern die Brotkrümel für die Grille von seinem Rock, wie ein Hund, der sich hinter dem Ohr kratzt.
304
begegnung mit dem leibhaftigen
I
ch lernte ihn in einer Julinacht kennen, auf dem griechischen Dampfer »Angeliki«, irgendwo zwischen Piräus und Saloniki auf der Höhe von Chalkis. Das war vor zwölf Jahren. Ich war damals noch ein Grünschnabel und dachte in den ausgefahrenen Bahnen irgendwelcher Ideen. So glaubte ich zum Beispiel an Hegel, die Realität des Begriffs, das objektiv wahre Sein und an die sich wissende Wahrheit. Das alles mischte sich in meinem Kopf mit den Phrasen des Risorgimento, Mazzini, Piemont, der Fahne Garibaldis. So glaubte ich auch, daß die »Idee des Krieges« eine Hegelsche Idee sei und daß es in ihrer Macht lag, uns über alle Sorgen und Mißlichkeiten des Daseins zu erheben, in einen überwirklichen magnetischen Zustand, der uns befähigt, unser Blut mit Begeisterung zu verspritzen. Bewaffnet mit einem Denksystem solcher Art befand ich mich auf dem griechischen Dampfer »Angeliki« auf der Reise nach Saloniki. Ich hatte in meinem jungen Leben schon viele Qualen und viel Blut gesehen, trotzdem hatten sich Hegel und Garibaldi in meinem Kopf als eigenartiges System behauptet. Es war eine warme Sternennacht. Der Südwind strich sanft und regelmäßig über die Angeliki hin und schwoll langsam an. Auf dem Deck dritter Klasse, zwischen Ankerketten und Tauen, lag eine kleine ägyptische Jüdin im Sterben. Die Frauen, die um sie versammelt waren, weinten und sagten, sie sterbe am Sonnenstich. Alles roch nach Pech und Teer. Er (das heißt: der Leibhaftige) erschien im Halbdunkel. Er hatte 307
schwarze Zwirnhandschuhe an und gab vor, ein Doktor der Medizin aus Smyrna zu sein; er erklärte, die Kranke habe die Krise bereits überwunden. »Sie wird am Leben bleiben.« So lernten wir einander am Krankenbett der kleinen ägyptischen Jüdin kennen. Er sah in mir einen serbischen Soldaten und begann mit mir über gleichgültige Dinge zu sprechen. Er erzählte, er sei aus dem Epirus gebürtig und arbeite in Smyrna; in den neunziger Jahren habe er als griechischer Freischärler bei Janina gekämpft. Er äußerte die Überzeugung, daß Griechenland und Serbien gemeinsame Interessen hätten, daß Saloniki wahrscheinlich in die serbische Einflußsphäre fallen würde – »sobald den größenwahnsinnigen Bulgaren das Genick gebrochen worden ist«, und so weiter, wie man eben auf einem Schiff in Kriegszeiten spricht. Ich dachte zu dieser Zeit ungefähr so: wenn eine völkische Idee die Massen in einen höheren und seherischen Zustand erhebt, und wenn der Fluß Wardar, das Agäische Meer und die Weißen Adler ihr Bewußtsein erfüllen, ergibt das einen großen historischen Augenblick. In solchen Augenblicken bringt man tränenden Auges Opfer, und alle Gaumen sind salzig. Die Materie vergeistigt sich. Die in einem rassischen Nationalstaat zusammengefaßte Materie vergeistigt sich. Aus der schweren Erdmasse wird in diesem Augenblick ein Stern. Der Rauch seiner Pfeife roch nach Feigen und Honig. Der Tabak war sicher von bester englischer Qualität. Er bot mir auch davon an, und mir war beim Rauchen, als trinke ich Lindenblütentee. Er hatte feine, nervöse Hän308
de und trug auf dem Ringfinger seiner Linken einen antiken Stein von blutroter Farbe. Im Lichte des Streichholzes ging die Farbe in phosphoreszierendes Grün über. Als er erfuhr, daß ich gar kein Serbe sei, sondern ein aus Wien gebürtiger Kroate, der vergleichende Literaturwissenschaften und Kulturgeschichte studiere, gab er dem Gespräch eine tiefsinnigere Note. Bisher hatten wir wie zwei Delphine an der Oberfläche einer seichten Konversation, wie sie Zufallsbekanntschaften entspricht, geplätschert; nun aber schien mir, als ziehe er mich mit sich in die Tiefe, ein riesiger Delphin aus Blei, schwarz und glänzend wie eine Wolke in einer windigen Nacht. Zu Anfang hatten sich seine Äußerungen im Rahmen eines billigen, kosmopolitischen Kaffeehaus-Humanismus bewegt, so dumm wie irgendein liberaler Leitartikel. »Wissenschaft, Kunst, Religion – all das sind Grundlagen einer höheren kosmopolitischen Zivilisation. Die Abschlachtung, wie sie im modernen Krieg betrieben wird, ist der menschlichen Spezies absolut unwürdig. Es gibt und es kann keine Hegelsche Idee geben, die dieses Morden rechtfertigt.« Dieser angelesenen dekadenten Skepsis eines ehemaligen Pariser Schülers (er erwähnte, daß er fünf Jahre lang in Paris studiert hatte) hielt ich die »nationale Idee an sich« entgegen. »Wieso gibt es keine Ideen? Wissen Sie nicht, daß die Idee der Schlacht auf dem Amselfeld eine greise, bucklige Analphabetin bewogen hat, bei einem Militärkommando zu erscheinen und dort fünf Zechinen auf den Tisch zu legen? Sie bat, mit diesem Geld den Sohn einer anderen Frau als Soldaten auszurüsten, da sie selbst unfruchtbar 309
sei. Dafür verlangte sie nichts weiter, als daß der Soldat auf dem Amselfeld eine Kerze für die Befreiung ihrer Seele anzünden solle. Was hat diese Greisin zu solchem Tun bewogen, wenn nicht die Idee vom metaphysischen Sinn des Wortes Amselfeld? Jener Universitätsprofessor, der am Tag der Mobilisierung Säcke schleppte, wir jungen nationalen Terroristen, die wir uns unserer Individualität begeben, um uns einer höheren kollektiven Idee unterzuordnen – wir alle sind ein lebendiger Beweis für die Existenz von Ideen an sich. Das sind Augenblicke des Opfers für die Idee. Das ist Hegelscher Logos im Prozeß der Ereignisse. Ethnische Kollektive treten aus dem Chaos in die historische Realität. Die Hegelsche Idee transformiert sich in Staatsorganismen, und das ist es, was heute mit unserer Rasse geschieht. Wir sind da!« »Ich bitte Sie: haben Sie jemals einen Menschen umgebracht?« »Wie meinen Sie das? Das ist eine bizarre Frage. Ob ich einen Menschen umgebracht habe?« »Ja. Sie persönlich. So wie Sie da stehen. Ich frage Sie, ob Sie irgendeinmal einen Menschen umgebracht haben, wegen irgendeiner Hegelschen Idee?« »Nein.« »Und warum nicht?« Es entstand eine Pause. Die Sterne verschwanden hinter dunklen Wolken. Das Schiff »Angeliki« schaukelte stark und knirschte in den Planken. Die Passagiere flüchteten vor dem Sturm einer nach dem anderen von Deck. Der Wind pfiff theatralisch in den Tauen. Im Schein seiner Pfeife beugte sich der unbekannte griechische Arzt 310
zu mir und berührte meine Hand. Heute noch, zwölf Jahre später und nach allem, was ich inzwischen erlebt habe, spüre ich die Berührung seines Zwirnhandschuhs auf meiner Haut. »Sie haben also noch keinen Menschen getötet? Und jener junge Albaner auf der Höhe 953?« »Ich habe ihn doch nicht getötet!« »Nein, Sie haben ihn nicht getötet. Ihn hat die Hegelsche Idee umgebracht. Mazzini. Garibaldi!« Unter dem suggestiven Einfluß des unbekannten Griechen und berauscht von seinem Tabak, sah ich plötzlich wie im Fieber sehr klar das Gesicht jenes jungen Albaners auf der Höhe 953. Von dem Schilderhäuschen an der mazedonischen Grenzhöhe, wo wir lausbübischen Studenten die Verschwörer spielten und bereit waren, für die Idee zu töten, hatte man einen weiten Ausblick gegen Süden. Wenn ich Wache stand, konnte ich wie auf einem japanischen Holzschnitt zweiunddreißig Bergkämme zählen. In der Tiefe rauschte schwarzes Wasser, und Feuer blitzten in den weit auseinandergezogenen Dörfern im Tal. Dort schlachteten die konterrevolutionären albanischen Knechte Abdul Hamids alle Christenmenschen. Eines Abends faßte unsere Patrouille einen jungen Albaner, der einem greisen Hirten den Hals durchschnitten und ein Mädchen vergewaltigt hatte, und mir oblag es, ihn zu erschießen. Ich hatte solche Erschießungen schon mit angesehen, aber als Schüler hatte ich mich bisher immer aus der Affäre ziehen können. Diesmal jedoch forderte unser Anführer, daß auch ich einmal sehen müsse, wie es sei, wenn man in lebendiges Fleisch schießt. 311
Ich wollte nicht. »Du willst nicht?« »Nein.« »Du mußt.« »Ich will nicht!« »Ach so, du willst nicht.« Es entstand eine gefährliche Stille. Es war eine einfache Alternative: entweder der Albaner oder ich. Ich dachte, ich würde sowieso an die Reihe kommen, selbst wenn ich ihn jetzt noch erschoß. Ich hatte es schon zu weit getrieben. Dieses Gefühl, daß es für mich schon zu spät sei, hinderte mich daran, abzudrücken. In der vollkommenen Stille krachte ein Revolver. Ein anderer hatte den Albaner erschossen, ein Jüngling, der mit uns kämpfte und dem ich vor ein paar Tagen Speck und Zigaretten gegeben hatte. So kam ich davon und verließ noch in derselben Nacht den Posten. Ich war aus Angst geflüchtet. »Wer hat also jenen Knaben umgebracht: Mazzini? Garibaldi? Die Idee? Wer?« Diese Frage des unbekannten Griechen beunruhigte mich außerordentlich. Vom Wasser, vom Wind, vom Dunst, von der Nacht und von seinem sehr süßen Tabak wurde mir schlecht. Ich stand plötzlich vor einer unbarmherzigen, dunklen, kriminellen Wirklichkeit, und ich dachte, daß dieser Grieche ein Detektiv sei, dessen Auftrag es war, meine verborgensten Geheimnisse zu erforschen. Ich mit meiner hysterisch zitternden Hand, mit meiner schwachen Stimme und mit Rilkes Stundenbuch in der Tasche – wie hätte ich einen Menschen umbringen können? Meine Gedanken gerieten durcheinander, 312
und ich war sprachlos. Ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte. Es fiel mir auch nicht ein, ihn zu fragen, woher er mein intimes Erlebnis auf der Höhe 953 kannte, da ich es doch bestimmt niemals jemandem mitgeteilt hatte. Er hatte zwar gesagt, daß er eine Zeit in Tibet verbracht habe, daß er Hypnose studiere, und nebenbei später auch, ich sei ein femininer Typ, der bestimmt ein gutes Medium abgeben würde. Aber allein die Tatsache, daß er alle Details meines grausamen Erlebnisses auf der Höhe 953 kannte, lähmte mich vollkommen. Er verbreitete sich dann noch lange darüber, daß es nicht einerlei sei, ob man im Cafe Beethoven in der Alserstraße saß und Rilke las, oder als Skelett auf der Höhe 953 modere. Dann kam ein Gewitter mit Donner und Wolkenbruch, das Schiff schaukelte unheimlich, und ich phantasierte die ganze Nacht. In Saloniki roch es nach Hölle, und man hörte sieben Tage lang ein unterirdisches Grollen. Die Erschütterung kam täglich siebenmal wieder, und siebenmal täglich spie das Meer alte Blechschüsseln, Dachziegel und krepierte Fische aus. Man starb ziemlich häufig an Cholera. Wir tranken Tee und aßen französischen Zwieback. Das war unsere einzige Nahrung, weil wir Angst vor Cholera hatten. Neun Tage und neun Nächte wehte ununterbrochen Südwind. Papatatschi-Mücken, Wanzen und gewöhnliche Moskitos, und dazu der Walzer aus La Traviata aus einem Restaurant am Kai, die ganze Nacht hindurch; in ihrer Panik schliefen die Leute unter freiem Himmel, während hundertfünfzig Bataillone griechischer Infanterie, fünfzig Küstenbatterien und eine Flotte, bestehend 313
aus sechs Torpedobooten und einem mit 18-ZentimeterKanonen bestückten Panzerkreuzer, Saloniki vor zwei schwachen bulgarischen Bataillonen bewachten. Das alles war so fürchterlich dumm, daß wir vor Langeweile beinahe gestorben wären, in schattenloser Hitze von 50 Grad Celsius, zwischen Cholera, Typhus, Gestank und Dreck. Im östlichen Teil der Stadt befand sich ein kleiner Friedhof, zu dem ich allabendlich spazierenging. Es war ein armseliger Friedhof, in dessen Zypressen über den Grabsteinen riesige, stinkende Krähen hockten. Jede Nacht sangen griechische Popen in Brokatgewändern über den Toten und schifften sie hinüber nach Karaburma. Am zehnten Tag um neun Uhr früh eröffneten die griechischen Herren von ihrem Panzerkreuzer, von ihren Torpedobooten und aus ihren Küstenbatterien, das Feuer, und hundertfünfzigtausend Griechen stürzten sich auf tausend Bulgaren. Hundertfünfzigtausend Griechen schlachteten den ganzen Tag lang tausend Bulgaren, und die ganze Kanonade und all das Morden waren ziemlich langweilig. Am Abend ging ich wie gewöhnlich zu meinem armseligen Friedhof, hörte im Halbdunkel dem Geschwätz der fetten Krähen zu und starrte in die Leere. Man erzählte in der Stadt, daß bei dem morgendlichen Turnier mehr als zweihundert Bulgaren getötet worden seien. Ein Kellner aber hatte mir für den nächsten Tag einen garantiert desinfizierten Topfenstrudel versprochen, und dieser Strudel war mir wichtiger als alle blutigen Köpfe zusammen. So saß ich im Halbdunkel, dachte an 314
den berühmten Topfenstrudel und schaute in den Mond, der sich wie eine grüne Lampe über den östlichen Bergkämmen erhob. Dann geschah folgendes: Ein Schatten sprang über die Mauer und versteckte sich hinter einem Grabstein aus Marmor. Man hörte noch, wie ein Steinchen herabfiel. Der Schatten hinter dem Grabstein kam mir sehr behend vor. Das heißt: behend wie ein Tier. Zwei, drei Sekunden später sprangen vier weitere Schatten über die Mauer. Zuerst zwei auf einmal, dann einer und dann noch einer. Das geschah in vollkommener Stille. Die vier begannen mit blanken Klingen auf den gekrümmten Schatten loszuschlagen. Das muß sehr schnell gegangen sein, mir schien es aber, als hätten sie sieben Jahre lang zugeschlagen, und ich sei so lange dagesessen, stumm wie ein Stein. Die Krähen über unseren Köpfen wurden unruhig. Man hörte das Rauschen ihrer Flügel, dann wurde es wieder still, vielleicht siebentausend Jahre lang und noch mehr. Ich weiß nicht, wie die vier dann verschwanden, und kann mich auch nicht erinnern, wie spät es war. Der Mond stand sehr hoch, und aus einem Gasthaus auf dem Berg hörte man Grammophonmusik. Ich stand auf und schlich mich wie ein Dieb aus dem Friedhof. Ich spürte, daß zwischen der Mauer und dem Grabstein eine dunkle, blutige Masse lag, aber ich hatte keine Kraft, hinzusehen. Ich schleppte meine Füße, die schwer waren wie nach einem Sechzig-Kilometer-Marsch. Eine Frau trieb einen Esel vorbei, und ich hörte das Wasser an die Trogränder klatschen. Drei Tage und Nächte lag ich im Fieber, und 315
man sagte mir später, daß ich während dieser Zeit ununterbrochen mit einem Griechen aus Smyrna gesprochen habe, über Hegel, über Ideen, Verbrechen und Tod. Zweifellos stammt aus jenen Nächten mein Glaube an Ihn. Und die Menschen, die an ihn glauben, nennt man Satanisten.
316
die maske des admirals moskau 1925
A
dmiral Sergej Michajlowitsch war kein dummer Mensch, und man könnte über diese nicht übertrieben schmeichelhafte Phrase hinaus sogar sagen, daß er die Dinge und Ereignisse mit viel Phantasie erfaßte. Schon als junger Korvettenleutnant stand Sergej Michajlowitsch auf der Tiger-Halbinsel in Port Arthur bei einer Batterie von 15-cm-Kanonen und erlebte Stössels Kapitulation, worauf er seine Espada in die Hände eines japanischen Admirals niederlegte. Der Panzerkreuzer, an dessen Bord Sergej Michajlowitsch in Port Arthur angefahren war, war gleich zu Beginn der Belagerung in dem engen Kanal zwischen dem Festland und der Tiger-Halbinsel gestrandet, in einer dieser verdammten Meerengen, die voll gefährlicher Riffe die Bucht von Port Arthur als unüberwindliche Barriere absperren. In diesem Kessel von Port Arthur mit seiner terra rossa, wo sich über dem blutigen Kot kein einziger Baum erhebt und nur der Wind vor Einsamkeit und Trauer über den niedrigen Wacholderbüschen weint, in diesem vom gelblich-grünen, schmutzigen Chinesischen Meer umspülten Land, dieser sumpfigen, malariaverseuchten Gegend, erkrankte Sergej Michajlowitsch an Melancholie. Auf dem Schemtschug, (»Die Perle«), galt er als guter Pianist, aber dieser Kreuzer, der einen so poetischen Namen führte, versank samt Chopins Etüden äußerst prosaisch in der Hafeneinfahrt. Er hatte bei der Batterie ein paar gute Kameraden gehabt, ausgezeichnete 319
Schachspieler, aber diese überantworteten ihre Seele dem Herrn noch während der Belagerung: die einen erlagen japanischen Kugeln und die anderen dem Skorbut. Es gab hier keinen Schatten, kein Wasser, keine Konserven; die Sonne brannte immer unerträglicher, und die japanischen Geschütze schossen immer präziser, vierundzwanzig Stunden täglich. Von diesen längst vergangenen Tagen in Port Arthur sprach Admiral Sergej Michajlowitsch mit sehr viel sarkastischer und überlegener Verachtung, wie es eben alte müde Krieger tun, die rückschauend alle sie betreffenden militärischen Probleme aus tiefster Seele verachten. »Dieses ganze Port Arthur, das heißt diese ganze zaristische Blamage größten Stils bei Port Arthur, war eigentlich das unverschämteste Panama der Welt. Der Beton der Bastionen und der Kasematten für die Artillerie war völliger Mist und Staub billigster englischer Qualität! Die Forts waren falsch auskalkuliert und schlecht untermauert, in einem Maß, daß für die allernötigsten Korrekturen, minimal gerechnet, drei Jahre systematischen Umbaus nötig gewesen wären, unter der Leitung von Fortifikatoren, die etwas davon verstehen, und nicht von Betrügern aus Shanghai, die diesen ganzen Schwindel von Anfang an als japanische Agenten durchgeführt hatten. Das Bauholz war vollkommen verfault, die Traversen, die Kabel, das Dynamit, die Geschütze – alles englischer Kehricht letzter Sorte. Warum der russische Generalstab gerade diese alte chinesische Festung um so viele Millionen ankaufte, weiß kein Teufel! In Sankt Petersburg wurde herumgesprochen, daß die Hofkreise an 320
der Holzindustrie am Yalu und an den mandschurischen Bergwerken interessiert wären, aber das waren nur Intrigen der Petersburger Salons. Am Schluß der Ballade muß eben jemand für alle historischen Blamagen die Schuld auf sich nehmen …« So sei es bei den Russen heute schon zur Gewohnheit geworden, alle Skandale dem Saldokonto jenes kaiserlichen Dummkopfs Nikolaj und seiner Wirubowa anzulasten, aber was Port Arthur betrifft, könnte doch er, Sergej Michajlowitsch, ein objektiver historischer Zeuge dafür sein, daß Rasputin mit diesem blutigen Aderlaß nichts zu tun gehabt hätte. Port Arthur war eben etwas ganz anderes … Der klarste Fall strategischen Wahnsinns und keine Sabotage. Das ganze Befestigungssystem war augenscheinlich auf vollkommen schwachsinnigen, ja, man könnte sogar sagen, auf klinisch debilen Voraussetzungen aufgebaut. »Alle Generalstäbe der Welt sind aus Paranoikern, manisch Besessenen und Schizophrenen aller Art zusammengesetzt, das ist schon richtig, aber die Hypothesen des zaristischen Generalstabs waren unter jedem Niveau idiotisch: nach diesen Hypothesen wurde angenommen, daß die Japaner überhaupt nicht landen könnten und daß die 15-cm-Geschütze vollkommen genügen würden, alle derartigen Versuche zum Scheitern zu bringen. Aber dann zeigte es sich, daß der Japaner ganz elegant an Land spazierte, ohne irgendwelche Interventionen von russischer Seite sozusagen, und den Festungsgürtel Port Arthurs aus modernsten 30-cm-Batterien zu beschießen begann – nach eigenen Kalkulationen, die zum Unter321
schied von den russischen exakt waren. ›Ein Befestigungsgürtel genügt‹, so schwatzte man daher, aber dann zeigte es sich, daß auch ein dreifacher Festungsgürtel eine zu schwache Garantie für den Erfolg einer wie immer beschaffenen systematischen Verteidigung gewesen wäre. Die Halbinsel Liaoteschan hatten die Herrschaften natürlich nicht befestigt, weil die Herren ›Fortifikatoren‹ als feststehend annahmen, daß die Japaner eine direkte Beschießung über den Liaoteschan nicht würden durchführen können. Dann aber stellte sich heraus, daß die japanischen Artilleristen aus einer Entfernung von zwölftausend Metern mit vorzüglichem Resultat zu zielen verstanden … Lauter imbezile Dummheiten, eine nach der anderen, lauter falsche Voraussetzungen und nichts als Korruption, Dirnen, Champagnergelage und Spionage, das war dieses Irrenhaus eines kaiserlichen Generalstabs! … Übrigens, was bedeutet schon der heutige moderne Krieg? Auch die allergrößten Dreadnoughts sehen heute auf eine Entfernung von ungefähr zwanzig Kilometern wie Tuberkeln im Mikroskop aus. Es ist alles nur ein Maulwurfshügel, in dem auf eine Distanz von zwei, drei Kilometern herumgewühlt wird. Nur Unterseeboote … Das ist alles.« Wenn Sergej Michajlowitsch heute an jene fernen Tage von Port Arthur zurückdenkt, ist das ganze Grauen verwischt, und das einzige, woran er sich mit panischem Schrecken erinnert, ist der Motor der Eisfabrik in Port Arthur. Die ganzen Nächte hindurch lauschte er dem Keuchen dieses verdammten Motors der Eisfabrik, das von der Mauer eines Magazins widerhallte: töf-töf, töf-töf, 322
töf-töf … Und so musizierte der Melancholiker Sergej Michajlowitsch, seine Admiralskarriere verachtend, und so befehligte er, als sich das Spiel seinem Ende näherte, eine Eskader der baltischen Flotte während des Ersten Weltkrieges, welchen die russischen Poeten Madame la Guerre zu nennen geruhten, und diesen Flottenteil übergab Sergej Michajlowitsch einem sozialdemokratischen Deputierten der baltischen Sowjets, ohne während des ganzen Krieges auch nur ein einziges Geschütz von irgendeinem seiner Kreuzer abgeschossen zu haben. Sein Admiralsschiff, auf dem er die Kapitulation unterzeichnete, hieß Gloria. Sic transit gloria … Dann nahmen die Dinge ihren normalen, logischen Verlauf … Er hörte vollkommen auf, sich für die politischen Ereignisse zu interessieren, und als man ihm im Jahre zwanzig die Gattin (eine blonde kurländische Baronin) erschoß, da war er schon ziemlich erhaben über alle banalen alltäglichen Nichtigkeiten … Es geschah im Winter des Jahres zwanzig, daß die G.P .U. (Gossudarstwennoje polititscheskoje uprawlenije – Staatliche politische Verwaltung) seine Frau erschoß. Moskau war damals so eingeschneit, daß der Schnee den Leuten bis. zum Gürtel reichte, und über die Petrowka führte nur ein einziger schmaler Füßsteig zwischen zwei Meter hohen Schneewänden. Sergej Michajlowitsch brachte seiner Gattin täglich ein paar Löffel Suppe ins Gefängnis, und als man ihm dann sagte, morgen brauche er nicht mehr zu kommen, da wußte er, was das bedeutete … Sein erster Gedanke war, daß es das beste wäre, diese Suppe sofort selbst aufzuessen, damit sie nicht kalt 323
würde. Und so trank er die warme Suppe gleich bis auf den letzten Tropfen aus, dann kehrte er nach Hause zurück, setzte sich auf das Sofa und dachte darüber nach, wie er, gleich einem Hund, die Suppe seiner Frau verschlungen habe, ja, und was weiter! … Ja, so war es, und das war auch alles … Jetzt sei er in einem Industriebetrieb als Korrespondent tätig, er erledige die englische Korrespondenz, es gehe ihm gut. Er musiziere … Unter den jungen russischen Komponisten gäbe es einige ganz interessante Namen, aber leider komponierten sie wenig für das Klavier … Ein ganz eigenartiger Mensch, dieser wunderliche Admiral Sergej Michajlowitsch, ein guter Schauspieler mit den Allüren eines Artisten: in seiner Wohnung sah es aus wie in einem Wachsfigurenkabinett. Er bewohnte ein einstöckiges Holzhaus aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, und durch das Fenster des Hofzimmers konnte man die verschneiten Birken des Gartens und am Ende des Parkes eine hohe unverputzte Mauer aus roten Ziegeln sehen. Auf der anderen Seite rauchte aus dem Nachbarhof irgendein Dampfrohr, und im Zimmer selbst hörte man es unaufhörlich, in den bekannten Intervallen von Port Arthur, widerhallen: töf-töf, töf-töf, töf-töf, töf-töf … Vielleicht, daß zu jener Zeit, als der junge Korvettenleutnant, im goldbetreßten Waffenrock mit allen Orden und Epauletten, am Royal-Flügel, über die elfenbeinernen Tasten gebeugt, phantasierte und Romanzen spielte, während Kerzenlicht auf dem Porzellan und auf der glänzenden Politur flimmerte und in den jetzt erblinde324
ten Spiegeln die Schultern schöner junger Frauen schimmerten, marzipanweiße Büsten, diskret von schwarzem Samt oder Seide umsäumt – vielleicht, daß damals in den Räumen der Admiralswohnung intime Wärme und Gelächter herrschte und wie Champagner aufschäumte bei geistreichen Aperçus; vielleicht, daß die Mise-enscène jener Tage diesem modrigen, grauen Raum eine andere, charmantere Tönung zu geben vermocht hatte, aber heute riecht alles nach feinem, fast unmerkbarem Schimmel, der sich wie ein silberner Hauch über die stumpfgewordene Politur, über die Spiegel und über die Bezüge der Lehnstühle gebreitet hatte. Die Leuchter, die abgewetzten Bärenfelle, die Makart-Ampeln, der Samowar, alles ist wie getränkt mit schweren Erinnerungen an eine tote Baronin, an eine schlanke Dame mit einem Sonnenschirm, gemalt im Plein-air und jetzt von einem Trauerflor umrahmt. Gleich neben dem niedrigen Ofen aus gewöhnlichen rohen Ziegeln, grob ausgeführt und unverputzt, mit einer glühenden Herdplatte, auf welcher der Admiral sein Essen kocht, ist feuchtes Tannenholz aufgeschichtet, einige Armvoll knorrigen Holzes, eine Axt und eine kleine Handsäge. Alles stinkt nach den Katzen der Baronin, drei alten, fetten, grindigen Bestien, die um den Admiral herummiauen, um diesen alten, zahnlückigen, gebeugten Herrn mit den Büscheln struppigen, hanffärbigen Haares. Ja, auch diese verdammten Katzen, auch sie verbittern ihm das Leben, aber was soll er tun? Sie sind das einzige, was ihm von seiner seligen Gattin noch verblieben ist. * 325
Ich lernte den Admiral Sergej Michajlowitsch in einem Kreise kennen, wo man sich über die Stahldrucke des achtzehnten Jahrhunderts unterhielt und im Zusammenhang damit über alte russische Veduten; er hatte mich eingeladen, ihn zu besuchen, weil er, wie er sagte, eine große Sammlung alter russischer Veduten aus dem achtzehnten Jahrhundert besitze und sähe, daß er es mit einem Connaisseur zu tun habe (was seinerseits eine äußerst schmeichelhafte Phrase sein sollte). Und tatsächlich, der Admiral hatte eine ganze Serie sehr interessanter Veduten aus der vornapoleonischen Periode und alte Waffen aus der Zeit Peters des Großen, Porzellan und Möbel (russisches Louis-Philippe), und er versicherte mir, das alles sei nur ein Rest der Reste von dem Reichtum, der einst hier angehäuft gewesen war und der »Wrubeljscher Familienbesitz« hieß. Die ganze Porzellansammlung und das wrubeljsche Familiensilber waren zum Teufel gegangen. In den Jahren Neunzehn und Zwanzig, bis zum Tode seiner Gemahlin, lebten sie beide von dem Familiensilber und dem Porzellan, und so sei alles, was heute noch hier in diesen Vitrinen zu sehen wäre, der schäbigste Kehricht im Vergleich mit den Schätzen, die einst dieses Heim füllten, als hier noch sein gottseliger Großvater, Admiral Wrubelj, lebte. Ja, das waren Tage, an denen man wie durch eine Kanüle verblutete und dahinstarb – tropfenweise … Jeden Morgen nahm Sergej Michajlowitsch eine der silbernen Ikonen oder eine der Miniaturen und machte sich auf den Weg zur Sucharewka. Dort stand er dann stundenlang bei grimmiger Kälte, um dann am Abend mit einem 326
geräucherten Fisch und einer schimmligen Brotkruste, die er für einen Silberling des Zaren Peter erstanden hatte, zurückzukehren. Und das Dümmste an diesem Handel war die Tatsache, daß auf diese Weise zahllose kulturhistorische Unikate in die Hände ausländischer Agenten fielen und um einen lächerlichen Preis, um eine Bagatelle ins Ausland verschoben wurden. In den Jahren Neunzehn und Zwanzig, bis zum Tode seiner armen Frau, die, unschuldig wie ein Lamm, erschossen, wurde, lebte man hier wirklich auf perverse Weise, in ständigem Todeskampf und dauernder Agonie. »Warum erschoß man Madame Wrubelj?« »Warum? Aus Perversität! Um nichts! Aus welchem Grunde hätte man sie auch erschießen sollen? Nur so … Es fiel ihnen eben eines Tages ein … Vielleicht langweilten sie sich. Sie entdeckten, daß sie die Absicht hatte zu emigrieren, deshalb haben sie sie erschossen.« »Deshalb wird sie doch wohl nicht erschossen worden sein? Man erschießt doch Menschen nicht aus Perversität, Sergej Michajlowitsch, um Gottes willen!« »Sie sind noch ein junger und naiver Mensch, mein Teuerster! Was wissen denn Sie davon, warum Menschen einander erschießen? Aus Perversität, natürlich, aus welchem anderen Grunde hätten sie sie erschießen sollen? Warum haben sie damals nicht auch mich erschossen? Das alles wäre doch erst logisch gewesen, wenn sie mich erschossen hätten und nicht sie. Denn wenn sie Vorbereitungen zum Emigrieren getroffen hätte, dann hätte ich doch auch, logischerweise, etwas davon wissen müssen. Und mich, sehen Sie, haben sie nicht erschossen … Sie 327
ahnen eben nicht, was die G.P.U. ist! Die haben Hunderttausende erschossen, ganz ohne jeden Grund! Aus Perversität!« »Sie erzählten mir doch selbst, Sie hätten gleich, nachdem man Ihnen den Tod Ihrer Gattin mitgeteilt habe, deren Suppe aufgegessen. War das auch Perversität?« »Ja, das versteht sich, gewiß war es das, Perversität, ganz richtig! Das alles war pervers, verrückt und unberechenbar … Alles war pervers, aber trotzdem, sehen Sie: ein Menschenleben zu vernichten, nur darum, weil sich jemand zu emigrieren entschloß – nein, pardon …?« »Also hatte Ihre Frau doch die Absicht, zu emigrieren?« »Gewiß hatte sie das …« »Und Sie?« »Ich auch, natürlich, auch ich wollte emigrieren! Was könnte denn ein Hund ohne Hundemarke und ohne Obdach sonst tun, als den Schwanz einzuziehen und auf gut Glück den Weg unter die Beine zu nehmen … Wir waren doch alle am Ende unserer Kraft, und niemand von uns war mehr normal …« »Wie kam es dann, daß Sie trotzdem resignierten?« »Ich hatte nicht die moralische Kraft, mich zu erschießen. Ich könnte Ihnen nicht sagen, weshalb. Es geschah nicht aus Feigheit, sondern eher wegen des guten Geschmacks. Einstmals, in Riga, an Bord, schoß sich in seiner Kabine einer meiner Offiziere, ein guter Junge, mit dem Karabiner in den Mund, und sein Schädel flog in tausend Stücken an die Decke der Kabine … Also, ich habe mich eben nicht erschossen … Und nach dem Tode 328
Alice Petrownas fiel ich in vollkommene Willenlösigkeit und wurde eine Art Kretin. Und wenn wir zufälligerweise weggekommen wären, dann wären wir heute gesund und am Leben …« »Und Sie, Sergej Michajlowitsch, Sie glauben wirklich, daß es Ihnen heute in der Emigration besser ginge? Sie wissen eben nicht, wie Emigranten leben! Was wären Sie denn als Emigrant? Klavierspieler im Konzert-Kaffee und auch das wohl kaum … Sie würden im Kosakenkostüm Balalaika spielen. Als ein Hetman vom Don, in roten Hosen, würden Sie den Trepak tanzen in Provinzkabaretts auf dem Balkan oder in der Türkei …« »Und was würde mir schon fehlen? Ich wäre ein freier Mensch! A propos! Bei Ihnen dort, in Ihrem Lande, gibt es doch ziemlich viele meiner Landsleute? Hält sich dort nicht auch der Generalstab Wrangels auf?« Admiral Sergej Michajlowitsch zeigte ein äußerst lebhaftes Interesse für das Leben der russischen Emigranten in meinem Lande; für die Herren Generäle, für die Wladikas und andere hohe geistliche Würdenträger in Syrmisch-Karlowitz, und ich mußte ihm bis in alle Einzelheiten von den Leiden dieser armen Don Quijotes erzählen. Wie sie Kabaretts und Bordelle eröffnen, als Finanzer und Gendarmen dienen, als bezahlte Söldner Achmed-Beg Zogus in Albanien Krieg führen, auf der Straße Zeitungen verkaufen, Polizeikonfidenten abgeben und sinnlos viele Leiden ertragen ohne jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft. »Die Leiden dieser vielen Emigranten sind überhaupt vollkommen sinnlos. Vor allem ist das alles aussichtslos …« 329
»Wieso ist es aussichtslos? Die Herren Wrangel und Kutusow und Golenjischtschew und Denjikin wissen, warum sie leiden! Die Herren sind eben Hasardeure, die Herren spielen va-banque! Wer kann sagen, wie sich das Kartenglück noch wenden kann? Und sollte sich das Glück wirklich und trotz allem wieder wenden, dann werden diese Herrschaften nach Rußland zurückkehren gleich der französischen Aristokratie, die nach vierundzwanzig Jahren mit ihrem König zurückkehrte … Und dann werden diese Emigranten-Herrschaften sich doch eine moralische und materielle Genugtuung erkämpft haben, aber wir, die wir hiergeblieben sind, wir werden der Auswurf bleiben, der wir heute sind. Für uns ist alles verloren, und etwas anderes haben wir ja auch nicht verdient …« Um Sergej Michajlowitsch zu trösten und nur, um ihn von seinen Hirngespinsten zu heilen, erzählte ich ihm den äußerst traurigen und erniedrigenden Auftritt, den ich selbst mit dem russischen zaristischen Gesandten, dem bekannten Botschafter von Giers, im Salon eines Grafen, dem Träger eines berühmten historischen Namens Ragusas, erlebt hatte. Während meines Aufenthaltes in Ragusa hatte jemand meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß Graf Gozze eine ganze Reihe alter holländischer Schränke aus der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts besäße, und da der Herr Graf mit diesen verfluchten Schränken gewisse Kombinationen vorhatte, fand ich mich schließlich in einem Gespräch mit diesem naiven, schon kindisch gewordenen, rotzigen, gräflichen Greis und in eine aussichtslose Konversation über die330
se vermaledeiten Schränke verwickelt, sowie darüber, wie man den Oberkonservator Professor M. überreden müßte, sie für den Rektorenpalast zu erstehen. Die Situation war schon vollkommen hoffnungslos geworden, als ein junges bäurisches Ding, quasi als Stubenmädchen, im Salon erschien und dem Herrn Grafen den Besuch des Barons von Giers anmeldete. Und Seine Exzellenz, der kaiserlich-russische Gesandte in Konstantinopel, ein Anhänger des Generals Wrangel und Emigrant, Baron von Giers, der ehemals mit einem Gespann von zwölf Arabern dahinfuhr, mit türkischen Paschas Champagner soff und diplomatische Minen von Madrid bis zum Quirinal auslegte, erschien jetzt vor uns, bescheiden und demütig wie ein Bettler an der Kirchentür. Der Mann hatte schließlich auf dem Dachboden des Grafen ein Unterkommen gefunden und hauste nun, in der wenig beneidenswerten Rolle eines Untermieters, zusammen mit Ratten, Mäusen und Tauben unter dem Dache des gräflichen Palastes. Ein wahres Bild des Elends, schäbig und armselig, in einem fadenscheinigen, bis zu den Knien reichenden Salonrock, mit abgewetzten, grünlichschimmernden Aufschlägen, dünn wie ein Besen, mit rötlichem Spitzbart wie ein spanischer Grande, so erschien Baron von Giers vor seinem liebenswürdigen gräflichen Wirt, um energischen Protest in einer – ganz ohne Zweifel – delikaten Affäre zu erheben. Unser lieber Conte hatte ihm den Dachboden seines Palastes zur freien Verfügung überlassen, das gräfliche Dachgeschoß, mit all dem zerbrochenen Hausrat und allerhand Mist, und das war seitens des Conte, ganz unbestreitbar, eine 331
äußerst liebenswürdige Geste, denn so konnte Giers den Gesang des Windes und des Regens genießen, die ganze Nächte lang über ihm weinten, und dem Spiel der Mäuse, das an und für sich ziemlich lustig und laut zu sein pflegt und kein Ende nimmt, zusehen, aber die Frau Gemahlin des Barons und Botschafters ist eine schwerkranke Dame, und so werde jeder, der Sinn für Objektivität besitzt, zugeben müssen, daß dieses Hinabsteigen vom Boden ins Erdgeschoß, in die Toilette, das Hinabsteigen durch ganze vier Stockwerke, um dann wieder vier Stock hinauf bis zur Dachkammer zu klettern, zum Dachgeschoß, zu den Mäusesalons, ins Hôtel au Courant d’Air keine beneidenswerte Situation sei, selbst unter allernormalsten Umständen und wenn man von wirklich charmanten und guterzogenen Mitbürgern umgeben wäre, welche nicht der Ansicht seien, daß sie ein Monopol auf diese eine, einzige Toilette besäßen … Es ist wahr, der Herr Graf hat dem Baron seinen Dachboden überlassen, um nicht weiter belästigt zu werden, und das ist vom Herrn Grafen äußerst generös, da der Herr Graf ganz allein eine Wohnung von elf Zimmern einnimmt und nicht auf den bizarren Gedanken gekommen ist, das Universum wäre ein Meisterwerk, welches eigentlich von Unzulänglichkeiten strotzt, wie ganz besonders unser armer Menschenleib, von dem schon Gautama Buddha sagte, er sei ein zerrissener Sack mit neun Löchern, he-he, ja, es ist ein wahres Elend mit unserem armen Menschenleib, also, im Zusammenhang mit diesem zerrissenen Sack Buddhas, unserem Leib, bestehen eben perverse Naturgesetze, besonders bei älteren und 332
kranken Damen, was gewisse Barbaren nicht ad notam nehmen wollen… »Und wer ist es, der hier etwas nicht will?« unterbrach der Conte diplomatisch unseren Baron, über dieses querulantische Gejammer sichtlich verärgert. Das sei Herr Majditsch, der Herr Schuster aus dem Erdgeschoß, ein sehr angesehener Meister, gewiß, und der Besitzer des einzigen Schlüssels zu dieser unglückseligen einzigen Toilette, und dieser Herr Meister Majditsch geruhte eben diesen fatalen Schlüssel mit Beschlag zu belegen, womit er praktisch über alle Bewohner des Dachgeschosses die Quarantäne verhängt hat, er hat sie, sozusagen, zum Tode verurteilt, und falls nicht sofort eine Intervention der maßgebenden Stelle erfolgen sollte, seitens des Herrn Grafen als, wie man gestehen muß, schließlich der einzigen Autorität in dieser Affäre, einer Autorität, welcher nach allen Gesetzen ganz unzweifelhaft die endgültige Arbitrage zukommt –, wenn also der Herr Graf diesem Sansculotte nicht das Monopol auf den Schlüssel zur Toilette absprechen sollte, ein Monopol, welches der »Herr Meister Majditsch« als sein ersessenes Recht ansähe, dann bleibe dem Baron und der Baronin nichts anderes übrig, als Selbstmord zu begehen … »Warum hat der Herr Baron diese Bagatelle nicht direkt mit diesem Vandalen im Erdgeschoß erledigt?« – widerstand der Conte der Verbalnote des Botschafters mittels einer ausweichenden Frage, die in dem Augenblick, als sie ausgesprochen wurde, nicht gerade sehr viel Sinn hatte. »Ich kann dem verrückten Herrn Schuster nichts sa333
gen … II nous déteste comme des êtres les plus détestables, excellence, er hat vor meiner Gattin ausgespuckt, wir sind für diesen Menschen Bagage, heimatlose Herumtreiber, die ihn wegen dieses verdammten Schlüssels belästigen …« Chacun de nous déteste tous les autres, c’est bien entendu, aber es sei trotzdem durchaus notwendig, daß der Herr Graf mit diesem Herrn Schustermeister spräche – und zwar direkt, daß er sich seiner Autorität bediene, um einen modus vivendi zu schaffen in diesen unmöglichen Beziehungen, weil es äußerst schwer sei,unter so traurigen Verhältnissen krank zu sein, die einen zwingen, seine Mitbürger zu belästigen und zu molestieren durch die ganz gewöhnliche Ausübung seiner mehr oder weniger anerkannten bürgerlichen Rechte, und man dabei, leider, keinerlei gesellschaftlichen Attribute mehr besitze, da man ja, leider, sozusagen, zu den sozialen Nullen gehöre … Das war die Manier und der Ton eines alten Diplomaten und dessen virtuose verbale Meisterschaft, die sich in der so konsequenten Vermeidung des direkten Ausdrucks »Toilette« äußerte; alles wurde in so vornehme, diplomatisch verschleierte Phrasen gehüllt, als handelte es sich um die Festsetzung einer strittigen Grenzlinie von internationalem Interesse, und wurde mit der Androhung eines Doppelselbstmordes verbunden, unter gleichzeitiger vollkommener Achtung vor dem sakrosankten gräflichen Recht, in seiner aristokratischen Isolation ganz allein in einer Wohnung von elf Zimmern zu wohnen, ohne es sich einfallen zu lassen, seinem in Not geratenen blaublütigen Standesgenossen mit einer direkten Geste 334
beizustehen. Unser schwachsinniger Conte blieb bis zum Schlusse erhaben und geheimnisvoll. Voll erheuchelter Arglosigkeit und Verstellung verzog er seine sklerotische rosige Maske zu der Grimasse eines Gummigesichts, sich wie ein Hähnchen ereifernd, und so bot er nun Baron von Giers den vergoldeten Fauteuil an – vor dem Kamin, auf dem eine Empirelampe mit goldgesticktem Abajour stand; dann servierte er uns Sliwowitz, bot uns Zigaretten an, in der augenscheinlichen Absicht, das unterbrochene Gespräch über seine holländischen Schränke wieder aufzunehmen, nur um keine Zeit mehr mit der offenen Frage, den Schuster Majditsch betreffend, verlieren zu müssen, mit diesem russischen Botschafter und diesem unseligen Schlüssel, der zu einer Lebensfrage für diesen Schatten eines Emigranten auf dem gräflichen Dachboden geworden war. Diese Szene war unvergleichlich gespenstischer, als es mir wohl gelungen sein mochte, dem Admiral Sergej Michajlowitsch mit Worten zu veranschaulichen, ihm zu schildern, wie die Lage der russischen Emigranten gar nicht so brillant sei, daß er sich nach diesem idealen russischen Leben jenseits der Grenze sehnen müßte, wo Bojaren zu Concierges werden und, wie er glaubt, als Taxichauffeure ein »freies« Leben führen. »Die Freiheit ist, wie alles im Leben, ein relativer Begriff …« »Ja, ja, gewiß, ich bin ganz Ihrer Meinung, die Freiheit ist ein relativer Begriff, und ein Mensch, der sich nicht frei fühlt, fühlt relativ, daß er relativ nicht frei ist, und das ist ja auch relativ logisch … Alles auf der Welt ist relativ, 335
gewiß, und auch dieses Provisorium hier’kann nicht umhin, relativ vergänglich zu sein …« »Sie irren, Sergej Michajlowitsch, wenn Sie glauben, daß dies hier ein Provisorium sei! Dieses Provisorium dauert nun schon das achte Jahr und ist gar kein Provisorium, sondern das Leben selbst in seiner allen Regeln gemäßen Entwicklung. Aus Ihrer Verständnislosigkeit für die Realität, aus Ihrer kindischen. Verwirrung, in der Sie sich verlieren, erkennt man, daß Sie glauben, alles, was Sie umgibt, sei ein Provisorium, und daß Sie hoffen, daß irgend etwas die Rolle einer metaphysischen Intervention von oben übernehmen werde … Eine vis major in der Gestalt eines neuen Weltkrieges? Das sind doch alles Fiktionen … Es wäre gut, Sergej Michajlowitsch, wenn Sie logisch und realistisch Stellung nehmen würden zu dieser ganzen Reihe von Tatsachen, wenn Sie Frieden schließen würden mit der Realität, wenn Sie einsähen …« »Mir ist es egal, ich habe nichts einzusehen, ich stehe am Ende des Weges, ich werde, wie ich hoffe, sehr bald meine Augen für immer schließen, und was hätte es dann für einen Sinn, wenn ich noch besonders Stellung nähme und schließlich, warum und für wen? Wir liegen hier schon alle in der Gruft, sie brauchen nur noch Erde auf uns zu schaufeln, und alles ist aus.« Und wirklich! Im grauen Halbdunkel des verschneiten Märznachmittags sah dieser Mensch in seinem AdmiralsWaffenrock, von dem die Zeit alles Gold abgenagt hatte, wirklich wie ein Gespenst aus dem Jenseits aus. Bleich, zahnlückig, mit einer über den Schädel gekämmten asch336
grauen Haarsträhne, den welken, wie Pergament durchsichtigen, pastellblauen, vibrierenden Augenlidern eines halbkrepierten Huhnes, das aus Angst vor dem Messer, von Panik erfaßt, zu einem einzigen kopflosen Geflatter geworden ist, glich der Admiral, mit dem Rücken zum Lichte sitzend, der Leiche eines völlig entnervten Morphinisten. Er sprach zwar, und seine Lippen bewegten sich, seine durchsichtigen, neurasthenischen Finger blätterten in den Stahlstichen des achtzehnten Jahrhunderts, als rührten sie an vermoderte Schleier, aber der verängstigte, grünliche Blick, der aus der Iris der blutunterlaufenen, gelblichen Augäpfel, aus den wie mit chinesischem Lack schwarzgefärbten Augenhöhlen starrte, dieser Blick berührte die Dinge wie Tangenten, die über dieses Gespräch, über diese Wohnung und über diese Zeit wie Asymptoten hinausreichten und sich, irgendwo weit draußen, in unbekannten, endlosen Räumen verloren. Ja, ja, vielleicht hätte ich recht! Vielleicht sei er wirklich mit den Vorurteilen seiner Erziehung und seines Gesellschaftskreises belastet, vielleicht gehöre er zu jenen abnormalen, maniakalisch veranlagten Leuten (deren es im russischen Leben leider so viele gibt!), die nicht imstande seien, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich aussehen, sondern so, wie es den Herrschaften eben genehm wäre, daß sie aussähen … Vielleicht handle es sich bei ihm auch um politischen Daltonismus, um eine falsche Perspektive auf Grund einer optischen Täuschung … Er selbst sähe nicht ein, daß er nichts mehr zu sehen vermöge … Er selbst sei durch die Ereignisse eben verwirrt, ihn treibe die Dynamik des russischen Lebens vor sich her 337
wie Kehricht … Vielleicht irre er sich tatsächlich bei der Abschätzung der Wirklichkeit … Ich sei ein Ausländer, ich wäre zum erstenmal in Rußland, und was für einen Eindruck mache heute Rußland auf mich ? Wie ist denn dieses heutige russische Leben im Vergleich mit dem europäischen? Was macht Europa? »Etwas ist mir gleich nach dem Überschreiten der russischen Grenze aufgefallen, und diese Sache habe ich ganz besonders aufmerksam verfolgt: ich habe nirgends auch nur einen einzigen Menschen mit schlechter Fußbekleidung gesehen! Alle tragen mehr oder weniger gute Leder- oder Filzstiefel.« »Es ist Ihnen, aus dem Waggonfenster und en passant, nur so vorgekommen, daß die Fußbekleidung gut sei! Und schließlich, wenn heute auch wirklich alle russischen Stiefel gut beschlagen wären, ja, hat es sich denn verlohnt, für diese unglückseligen Stiefel so viel Blut zu vergießen?« »Es handelt sich ja nicht nur um Stiefel und Galoschen! Auf den Straßen herrscht mittelmäßige Einfachheit, es gibt keinen Luxus, aber ich habe auch nirgends ein besonders augenfälliges Elend feststellen können, von dem es in den westlichen Großstädten nur so wimmelt! Einen ungewöhnlichen Pauperismus habe ich nicht bemerkt!« »Dann haben Sie eben nicht gut hingesehen, mein Lieber! Unser russisches Elend sitzt nicht im Schaufenster! Man zeigt es den Ausländern nicht! Es ist zu tief vergraben, und Sie haben keine Ahnung, wie unser russisches Elend aussieht. Wenn Sie nur Gelegenheit gehabt hätten, das russische Dorf zu sehen!« 338
»Ich bin doch auch in den Dörfern gewesen! Und in den Dörfern sah ich elektrisches Licht und hörte Rundfunksendungen!« »Sie sind ein bizarrer Mensch«, lachte Sergej Michajlowitsch voll Bitterkeit. »Ich versichere Sie, daß Sie Potemkinsche Dörfer gesehen haben, wenn Sie dort Radio hören konnten! Auf mein Ehrenwort, mein Bester! Aber wenn Sie Petersburg gesehen hätten, was war das doch für eine Stadt! Ganz Petersburg, dort um die Admiralität herum, war eine einzige kulturhistorische Schatzkammer! Dieses ganze Empire-Petersburg hätte man in einer Museumsvitrine ausstellen können! Und heute? Ruinen und Kehricht!« (»Kehricht« war das ständige Wort des Admirals, und er gebrauchte es mit einer ganz besonderen Betonung.) »Mein Gott, die Klasse, die ein Sklavenleben führte, als Petersburg eine Empirevitrine war, hatte von dieser Vitrine absolut nichts, wie sie es auch heute nicht hat! Diese Klasse hat also durch das Zerschlagen dieser Vitrine weder etwas bekommen noch etwas verloren! Außerdem: ich besuchte hier auch Sammlungen und Museen und fand sie in recht gutem Zustand. Es dürfte also doch so sein, daß diese Schatzkammern mit den russischen historischen Schätzen nicht so ganz und gar vernichtet wurden, wie man erzählt. Überhaupt: es wird zuviel gekläfft! Hier ist alles von Haß verseucht. Niemand vermag so zu hassen wie eine Klasse, die deklassiert worden ist.« »Ihre Einseitigkeit ist wirklich bizarr! Und Sie glauben tatsächlich an die Klasse? Sie glauben, daß es Klassen wirklich gibt? Ein Mensch wollte mich schon vor langer 339
Zeit davon überzeugen, daß eine Klasse wirklich bestehe und historisch wirke, und gab mir das kommunistische Manifest zu lesen. Ich las diese kleine Broschüre bis zur siebenten Seite, aber das alles war so naiv, daß ich sie wegwarf … Was für eine Klasse, ich bitte Sie! Die Wrubeljs leben auf dieser Welt seit über vierhundert Jahren, was schriftlich belegt ist, und ein Wrubelj, der Bruder meines Großvaters, fiel im Juli 1830 inParis auf den Barrikaden! Was ist das für eine Klasse? Was hat der Tod meines Großonkels mit der Klasse zu tun ? Achtzehn Jahre vor Ihrem kommunistischen Manifest fiel schon mein Wrubelj für die Revolution! Und heute schlägt mir dieselbe Revolution den Schädel ein! Gehen Sie doch, ich bitte Sie, was ist das für eine Logik?« So sprachen wir denn von der baltischen Flotte, von dem unerträglichen, unmenschlichen und unnatürlichen Leben auf Kriegsschiffen und daß so ein Kriegsschiff einerseits der Gipfel technischer Organisation sei und daß andrerseits das Leben auf einem Kriegsschiff ganz dehumanisiert wäre, daß die Hälfte der Offiziere aller Kriegsflotten der Welt abnormale Narren seien und daß, wenn es in der baltischen Flotte zu keinem Aufstand gekommen wäre, die Revolution nicht den Sieg davongetragen hätte. »Das war eben damals, als ein übelriechendes Stückchen Hering als erstklassige Delikatesse angesehen wurde, da erhoben sich die Hungernden und stürzten die Staatsgewalt. Es kommt mir ganz so vor, als ob uns wieder eine Zeit bevorstünde, da ein stinkender, verfaulter Fisch als Delikatesse gelten wird. Dann werden sich die 340
Hungernden wieder erheben und das Regime stürzen! Heute wird Rußland von einem Triumvirat (Bronstein, Dschugaschwili, Dzerschinski) regiert, und nach dem Triumvirat ist die Zeit des ersten Konsuls nicht mehr fern! He-he! Und was nach dem achtzehnten Brumaire kommt, ist bekannt! Ôte-toi de là, que je m’y mette! Das ist alles.« Es war schon fast Abend geworden, als ich Abschied nahm, um fortzugehen. Admiral Sergej Michajlowitsch war um mein Fortgehen so konventionell gastfreundlich besorgt, daß ich ihm nicht verwehren konnte, mich zu begleiten, und so gelangten wir schließlich auf die Straße. An diesem gelben Spätnachmittag im März schneite es noch. Schwere, nasse Schneeflocken klebten sich an die schweißfeuchten Nasenlöcher und Augenlider, und die Straßen Moskaus waren erfüllt von einem ungewöhnlich lebhaften Getöse, welches sich dahinwälzte gleich einem unterirdischen Strom, der unaufhörlich und verborgen rauscht. Auf der Lubjanska Ploschtschad, um die Fontane Vitalis, erklang das grelle, verhallende Läuten der Straßenbahn, Sirenen und Klaxons winselten, Kolporteure riefen den Moskauer Abend aus, indem sie ausgelassen auf dem von kotigem Schnee bedeckten Pflaster eine Art Golf um einen silbernen Paltschinik, (einen halben Rubel), spielten. Es war gerade der Tag, an dem im Palast der Vereinigten Gewerkschaften, im großen Saal der Marmorsäulen, der Präsident der Sowjets, Doktor Narimanow, aufgebahrt lag und von allen Häusern schwarze Fahnen wehten. 341
In den Kaufläden leuchten die ersten Lampen auf, und schwarze Menschenströme wogen im hellen Licht des frühen Abends auf und ab; die massigen schwarzen Kuppeln der Stadt mit den Glockentürmen und Antennen, in der grauen, nebligen Perspektive schwarze, schneenasse Fahnen und das Straßengetümmel ergeben ein unruhiges Bild voller Bewegung. Durch die Straßen Moskaus marschieren endlose Züge gewerkschaftlicher und politischer Organisationen, um dem toten Präsidenten der Sowjets die letzte Ehre zu erweisen, und über der Menge auf den Plätzen und Straßen wehen zahllose rote, schwarzumflorte Fahnen, hoch emporgehoben an den Fahnenstangen, als ob sie sich allein über der Menschenmasse mit dem Straßenstrom fortbewegten, ganze Reihen roter Fahnen der östlichen Völkerschaften, mit Inschriften in türkischer und arabischer Schrift, englischen Parolen, und eine Menge Fahnen mit den Parolen einzelner Fabriken und Stadtteile, eine unübersehbare Menge von Fahnen aus Moskau und Leningrad, von grusinischen, tatarischen, lappländischen und finnischen Fahnen. Menschen mit waagrecht geschnittenen Augen, mit bronzeartig dunkelbraun getönten und wie lackierten Gesichtern, eine Masse von Letten, Ukrainern, Weißrussen und dann die russische Masse, die sowjetische revolutionäre Masse, die wie ein großer Fluß dahinströmt und an das Trottoir spült. Mongolen aus den fernen Gegenden Asiens, in hellgelbe Rentierfelle gehüllt, schwenken die Stangen eines riesigen Transparents: Camérades, préparez-nous l’Octobre Universel, dann marschieren Schulkinder mit Trommeln und Trompeten, übervolle Lastwagen mit den 342
Arbeiterabordnungen aus den entferntesten Fabriken der Stadtperipherie donnern heran, und diese ganze Masse von mehreren hunderttausend Köpfen strömt vor dem Palais der Vereinigten Gewerkschaften zusammen, wo der Präsident der Sowjets, Narimanow, aufgebahrt liegt. »So sehen Sie doch, Sergej Michajlowitsch« – (ich konnte den Wunsch nicht unterdrücken, meine Impressionen mit ihm zu teilen) – »Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß der Aufmarsch dieser Massen hier nicht spontan ist, daß er nicht einen Akt der Sympathie für den toten Präsidenten vorstellt! Es wäre doch einfach technisch unmöglich, nur durch eine Verfügung mehrere hunderttausend Leute in Schnee und Wind hinauszujagen!« »Mir kommt es ganz so vor, als hätten Sie die Geschichte keiner einzigen Revolution wirklich gelesen! Nehmen wir, zum Beispiel, die französische: Ist es Ihnen denn nicht bekannt, daß die Pariser Straße Robespierre bis zwei Wochen vor seiner Hinrichtung noch zujubelte? Wissen Sie denn nicht, was die Straße ist? Sehen Sie sich lieber jenes erleuchtete Gebäude an! Dort ist die G.P.U.!« Admiral Sergej Michajlowitsch Wrubelj sprach diese drei Buchstaben – G.P.U. – mit so mysteriöser Betonung, daß ich ganz unwillkürlich auf die in gelbem Licht erstrahlenden Fenster des hohen, dunklen Gebäudes auf der Lubjanska Ploschtschad blickte, wo im Tympanum des Giebels eine transparente Erdkugel aus Glas schimmerte, umstrahlt von einem roten Äquator, den Meridianen und den Symbolen proletarischer Diktatur: Ham343
mer und Sichel. G.P.U.! Diese drei Buchstaben werden in ganz Rußland mit tiefstem Ernst ausgesprochen, und die Bedeutung des Begriffs G.P.U. ist so gewichtig, daß man ihn sogar in Theaterstücken und im Film als tragischen Effekt im letzten Akt verwendet. Die Rolle der G.P.U . in der zeitgenössischen Dramatik entspricht der Rolle des Schicksals in der klassischen Tragödie des Altertums, und wenn die G.P.U. auf der Szene erscheint, dann sind alle Gegner verloren … »Ich begreife nicht, in welcher Beziehung dieses Gebäude auf der Lubjanska Ploschtschad zu diesen Manifestationen steht?« »In kausaler, mein Herr! In kausaler … Wenn Sie nichts dagegen haben: das ist ein spezifischer Fall russischer Kausalität! Wären diese erleuchteten Fenster nicht, würde auch diese Parade hier nicht sein! Nichts von alldem gäbe es heute in Rußland, wenn es jenes Haus mit dem strahlenden Globus nicht gäbe! Es ist das blutigste Haus der Welt! Aber Sie haben ja noch nicht erlebt, was es bedeutet, wenn ein Ihnen nahestehender Mensch hinter jener Türe verschwindet! Sie gaben ihm das Geleit bis hierher, bis zu dieser Wache dort – und nie wieder … Sie wissen nicht, was das heißt …« Sergej Michajlowitsch starrte auf das erleuchtete Haus auf der anderen Seite der Lubjanska Ploschtschad, und ich bemerkte, wie eine Träne aus seinem linken Auge rollte. Er biß sich nervös auf die Unterlippe, nickte langsam und bedeutungsvoll, nahm dann den Hut vom Kopf, bekreuzigte sich fromm dreimal und blieb barhäuptig stehen. Traurig, stumm und gebeugt. 344
»Polnoe sotschinenje Gertzena, poltora!« (Herzens gesammelte Werke, anderthalb Rubel!) – brüllt durch den Schneesturm ein heiserer Bouquinist hinter unserem Rücken, und das Leben wälzt sich weiter, unförmig und träge, nach unergründlichen und unumstößlichen Gesetzen. Händler preisen Äpfel aus der Krim an, spucken die Samenschalen aufs Pflaster, bieten geräucherte Fische feil und kleine Frösche aus Blech, grüne Grasfrösche, die auf kleinen Rädern hin und her laufen, und über den Kitajgorodski Zid (Mauer der Chinesenstadt), von der Nikoljinka her, wälzen sich Schwaden dicken, schwarzen, undurchsichtigen Rauches, die ganze Straße mit Ruß und schwerem Brandgeruch erfüllend. Ich beobachtete den grauköpfigen, blassen Admiral, der barhäuptig, verweint und schwachsinnig in die intensiv erleuchteten Fenster der Lubjanska stiert, und ich empfinde, wie mir dieser Mensch von Minute zu Minute unangenehmer wird. Was zum Teufel quält er mich so systematisch mit seinen Angelegenheiten? Ein pathologischer Narr … Ich kann ihm doch ohnedies nicht helfen … Ich wollte diesem Dummkopf von einem Admiral entgehen, indem ich eine Straßenbahn bestieg, die in Richtung Arbat fuhr, aber er erklärte gleich, er habe in Arbat zu tun, und so bestiegen wir gemeinsam die gedrängt volle Straßenbahn, indem wir uns nur mit Mühe zwischen schwitzende, fleischige Menschentrauben, zerdrückte Kleiderstoffe und nassem Gummi auf die Plattform drängten. »Sehen Sie doch, bitte«, machte mich der Admiral auf 345
diesen Haufen von Fleisch, Mänteln, Stiefeln und Straßenkot aufmerksam. »Ich bitte Sie, sehen Sie nur, wie alle diese Gesichter verzweifelt und traurig aussehen. Es gibt ja hier keinen einzigen Menschen, von dem man sagen könnte, er wäre glücklich …« »Die Leute kommen gerade von der Arbeit, sie sind müde, haben Sorgen, mein Gott, wer hat heutzutage keine Sorgen?« »Und diese Witwe hier, sieht diese Dame nicht aus, als hätte sie den ganzen Nachmittag den Moskaufluß gemessen, um zu erfahren, wie tief er ist?« Das war richtig! Eine bürgerliche Witwe saß zusammengekauert auf der Bank, mit schwarzem Schleier und traurigem Gesicht, genau nach allen dekorativen Trauervorschriften, wie eben Witwen auf den Genrebildern der achtziger Jahre aussahen, auf einer solchen.Leinwand, die traurig zu wirken hat und sentimental, denn sie hat ja keinen anderen Zweck, als unglücklichen Witwen zu gefallen. Die Dame mit entzündeten Augen, dichten, besenähnlichen Wimpern, in bürgerlicher Trauerkleidung, ganz in Schwarz, versunken, mit den im Schoß gefalteten Händen, sah über allen Straßenlärm und das Gedränge in der Bahn erhaben aus und auf ihren persönlichen Schmerz konzentriert; in regelmäßigen Intervallen trocknete sie sich mit einem schwarzumränderten Taschentuch und unter tiefen Seufzern eine Träne nach der anderen ab. Außer dieser zweifellos unglücklichen Witwe war da noch, mit einem verbundenen Arm, ein Mann, der bei jedem stärkeren Ruck Grimassen schnitt und die Farbe wechselte, als durchzucke ihn Schmerz 346
in der verrenkten Rechten. Das waren die beiden Personen, von denen ein objektiver Zeuge hätte behaupten können, sie wären traurig: eine Witwe und ein Mann, der den Arm im Schultergelenk verrenkt hatte. Die übrigen Gesichter in der Straßenbahn waren banale, schmutzige, graue Masken unter fettigen, schneedurchnäßten Pelzmützen, und in diesem Dunst von nassen Kleidern und Leder, in dem Quatsch, der als ein kleines Bächlein durch den Straßenbahnwagen floß, hinter angelaufenen Scheiben und in der schwachen Beleuchtung klebten wir alle aneinander und hauchten uns gegenseitig ins Gesicht. Auf der Bank der unglücklichen Witwe in Trauer gegenüber saßen zwei junge Mädchen mit roten, jakobinischen, parteitreuen Kopftüchern, zwei Mädchen, denen es allem Anschein nach großen Spaß machte, mit dieser Straßenbahn zu fahren. Eine von ihnen, an der Fensterseite sitzend, klebte kleine Abziehbilder an die Scheibe des nassen Straßenbahnfensters und entwickelte sie sehr sorgfältig durch Reiben mit dem Zeigefinger. Diese Klebezettel waren nicht größer als jene, die für gewöhnlich an den Schaufenstern der Geschäfte angebracht werden. Eine Stimme aus der Menge im Wagen machte das Mädchen darauf aufmerksam, daß es bei Strafe von fünf Rubeln verboten sei, an die Scheiben der Straßenbahn Vignetten zu kleben, aber das Mädchen, das schon mehrere von diesen Bildern am Fenster abgezogen hatte, brachte immer neue an, ohne auf die gutgemeinte Mahnung des liebenswürdigen Fahrgastes zu achten. »Haben Sie es gehört, Bürgerin? Es ist verboten, Vignetten an die Scheiben zu kleben! Sie werden eine Strafe 347
von zehn Rubeln erlegen müssen« – erklang die Stimme eines Mitfahrenden von einer anderen Bank. »Das ist eine ganz harmlose Vignette, die stört doch niemanden! Deshalb wird man mich nicht bestrafen!« – verwahrte sich das Mädchen und klebte ihre Abziehbilder ruhig weiter an die Fensterscheiben. »Man wird nicht nur Sie bestrafen, sondern auch mich, Bürgerin«, mischte sich der Schaffner in diesen Dialog. »Es ist verboten, irgendwelche Zettel an die Wagenscheiben zu kleben, bitte, seien Sie so gut und lesen Sie doch, was auf dieser Tafel geschrieben steht!« »Wenn man mich bestraft, werde ich eben bezahlen«, antwortete das Mädchen unbeirrt und setzte ihre Tätigkeit fort. »Aber ich verbiete es Ihnen, in meinem Wagen, für den ich verantwortlich bin, Zettel zu kleben! Bürgerin, haben Sie mich verstanden?« »Warum schreien Sie mich an? Die Zeiten sind vorüber, wo Männer die Frauen anschreien durften!« »Ich schreie überhaupt nicht, ich bitte Sie nur ganz ruhig, diese Zettel sofort von den Scheiben zu nehmen, Bürgerin!« »Ich will nicht.« »Und ich rate Ihnen, sie abzunehmen, und wenn Sie es nicht sofort tun, rufe ich die Miliz!« »Dann rufen Sie sie doch, tun Sie’s doch, bitte! Das ist doch lächerlich! Was drohen Sie mir mit der Miliz, warum schreien Sie mit mir?« »So also? Sie wollen es ja selbst, daß ich die Miliz herbeihole, nicht? Na schön, das wollen wir jetzt sehen!« 348
Und der Schaffner, durch dieses Zwiegespräch gereizt, riß hysterisch am Glockenriemen und gab dem Fahrer das Zeichen, anzuhalten. »Warten Sie nur, wir wollen doch sehen, ob wir Sie nicht mit Hilfe der Miliz zu Verstand bringen können!« Erregt und in seiner Würde gekränkt, begann der Schaffner sich durch die Menge zum Ausgang zu drängen. Der Wagen blieb stehen. Stimmen der Fahrgäste: »Und warum wollten Sie nicht Ihre dummen Abziehbilder abnehmen? Was soll diese Spielerei?« Das andere Proletariermädchen, das bisher in erhabener Neutralität geschwiegen hatte: »Warum hat er sie angeschrien, was hat er da herumzuschreien, wir wissen doch ganz genau, was man darf und was man nicht darf!« Ein Mann mit einer Beethoven ähnlichen Totenmaske: »Genossin, bitte, seien Sie so gut und nehmen Sie dieses Zeug von den Scheiben herunter, wir haben es eilig, wir haben keine Zeit für Ihre Dummheiten!« Eine Kursbesucherin mit einer Schultasche voller Bücher: »So ist es, wir können doch wegen anderer Leute Dummheiten nicht unsere Zeit verlieren!« Die Witwe in ihrem Trauerschleier, scheinbar hocherhaben über alle irdischen Verwicklungen: »Ist es denn einer Frau würdig, mit solchen Dingen ihr Spiel zu treiben?« Das Mädchen, welches bis jetzt die Vignetten ganz ruhig weitergeklebt hatte, mit erregter und fast unmerklich vibrierender Stimme: »Was wollen Sie damit sagen? Was 349
heißt das: mit solchen Dingen sein Spiel treiben? Mit welchen Dingen, und was bedeutet dieses: ein Spiel treiben? Entschuldigen Sie, Bürgerin, aber ich bin auf Ihre Meinung nicht neugierig, um so weniger, als sie unintelligent ist!« Ein Bürger mit Spitzbart und Zwicker erhob sich und drängte sich zu der mit neuaufgeklebten Vignetten bedeckten Scheibe des Wagenfensters, nahm seinen Zwicker ab, neigte sich ganz bis zur Scheibe und las: »M.O.P.R.« Diesen kurzsichtigen Bürger nachahmend, verließen nun mehrere Fahrgäste ihre Plätze, und alle drängten sich zu den Vignetten auf den Wagenscheiben, um die geheimnisvolle Bedeutung der Initialen M.O.P.R. zu enträtseln. Das andere Mädchen: »Bitte, Bürger, seid so gut und mischt euch nicht in diese Angelegenheit! Euch geht das alles überhaupt nichts an!« Ein Mann im schwarzen Hemd: »Das sind ja Vignetten der Internationalen Organisation zur Unterstützung der Revolutionäre – M.O.P.R. Unsere Kameraden vermodern in europäischen Gefängnissen, und wir müssen ihnen helfen! Das ist eine vernünftige Tat! Die kann man nicht verbieten!« Die Straßenbahn war in einer der verkehrsreichsten Straßen Moskaus, die von Mohovaja über die Teatralna Ploschtschad nach Arbat führt, stehengeblieben, hinter unserem Wagen standen schon ungefähr zwanzig Straßenbahnzüge, und alle gaben nervöse Glockensignale. Stimmen, Aufregung, Geschrei. Signale der Straßenbahn. Nervöses Läuten unseres Fahrers, die Weiterfahrt for350
dernd. Schimpfworte. Pause. Als unser Schaffner schließlich den Milizionär herbeischleppte, stieg die Spannung im Wagen beträchtlich an, und alle Fahrgäste machten dem Hüter des Gesetzes Platz. Der Soldat, ein blondhaariger, bartloser Junge von gutmütigem Aussehen, stand dieser ganzen Verwicklung sichtlich indifferent gegenüber, er fand sich vor dieser Quadratur des Kreises ganz einfach nicht zurecht. Jawohl, Vignetten auf die Fensterscheiben eines Straßenbahnwagens zu kleben ist im Sinne positiver Vorschriften verboten, daran ist überhaupt nicht zu zweifeln! Aber um Hilfe für eingekerkerte Revolutionäre, die in den kapitalistischen Gefängnissen verschmachten, zu agitieren, ist nicht verboten, sondern im Gegenteil: ein pflichtbewußter Revolutionär muß diese Hilfeleistung als seine oberste Pflicht betrachten. Das Geschrei, die verschiedenen Bemerkungen und die eilige Tätigkeit des Proletariermädchens, welches diesen Skandal hervorgerufen hatte und in Wirklichkeit, aus Solidarität, für die gefangenen Revolutionäre kämpfte und nun ihre Vignetten immer schneller und schneller an die Scheiben klebte, als sei nichts geschehen, verwirrte den Milizsoldaten in einem Maße, daß er einfach nicht wußte, was er tun sollte: dienstlich einschreiten oder nicht. »Ich habe Sie aufmerksam gemacht: Bürgerin, seien Sie so gut, die Vorschriften lauten so und so, ich bin für den Wagen verantwortlich und nicht Sie, es ist verboten, mit irgendwelchen Parolen oder Zetteln die Scheiben zu bekleben, und das steht auch gedruckt auf dieser Tafel«, stänkerte der Schaffner, der vom Wachmann Hilfe erwartete. 351
»Gehen wir, gehen wir, wir haben keine Zeit, es ist schon spät, werft sie aus dem Wagen, setzt euch auf der Straße auseinander!« Jemand zog am Riemen und gab so dem Fahrer das Signal zur Weiterfahrt, worauf unser Schaffner mit aller Kraft zu brüllen begann: »Ich erkläre, Bürger, daß ich so meine Pflicht nicht erfüllen kann! Ich werde den Wagen verlassen!« Eine Stimme: »Glückliche Reise!« Stimmenlärm: »Er glaubt, er sei noch immer Offizier! Die Zeiten sind vorüber, mein Freund! Heute gibt es keine Epauletten mehr, mein Lieber! Und wo haben Sie Ihre Legitimation? Wir sind Parteimitglieder und haben die Erlaubnis erhalten, diese Vignetten überall aufzukleben. Sie lesen ja keine Zeitungen! Sie verfolgen ja nicht unsere Presse! In allen Zeitungen stand ganz klar und deutlich, daß die M.O.P.R. von dem Verbot ausgenommen ist! Analphabeten! Das ist doch eine internationale Angelegenheit. Es ist Pflicht jedes Revolutionärs, aus Solidarität unseren Genossen, den Revolutionären in den kapitalistischen Kerkern, zu helfen! Schön, Genossen, auf welchem Planeten lebt ihr eigentlich? Wollt ihr denn M.O.P.R.-Leute verhaften?« Gegenstimmen: »Genosse Milizionär, so schreiten Sie doch ein, wie es Ihnen die positiven Bestimmungen vorschreiben! Bitte! Wo kommen wir denn hin, wenn für den einen die Vorschriften gelten und für den anderen nicht? Was ist das für eine Gleichberechtigung? Wir sind alle Proletarier, ich bin ein Proletarier wie Sie!« Ein kurzsichtiger Intellektueller mit einer Tasche voller 352
Papiere und Manuskripte: »Bürger, ich bitte euch, Bürger, ich bitte euch, laßt uns doch weiterfahren, man erwartet mich auf der Arbeiteruniversität …« So schwoll der Lärm an. Im Gedränge hinter uns donnerten die Signale der anderen Straßenbahnzüge, und Schaffner und Fahrer versammelten sich um unseren Wagen und schlugen mit den Fäusten an die Scheiben, daß wir doch weiterfahren sollten, auf was warteten wir denn, hätten wir denn den Verstand verloren? Sergej Michajlowitsch Wrubelj beobachtete diesen Kampf um die durchsichtigen Vignetten der M.O.P.R. vollkommen passiv und mit einer Art ironischer Verachtung, aber dann flammten seine Blicke plötzlich in verhaltener Leidenschaft auf. Gleich einem alten Kavallerieklepper, der auf das Klirren gezogener Säbel sofort aufhorcht, ließ sich dieser Mensch zu einem ganz unverantwortlichen Ausfall hinreißen. Im Wortwechsel mit dem Milizionär, mitten unter Drohungen und Geschrei, löste sich eine jener Lawinen finsterer Leidenschaften, welche so oft mit dem Aufkleben einer belanglosen Vignette am Wagenfenster einer Straßenbahn beginnen, um plötzlich, um sich greifend wie ein Brand, zu umgestürzten Waggons, zu zerstörten Städten, zerrissenen Schienensträngen, zu Kanonen und Katastrophen zu führen. Sergej Michajlowitsch versuchte sich anfangs sichtlich zu beherrschen, was auch an gewissen Zuckungen seines ganzen Körpers zu bemerken gewesen war, aber dann stürzte er sich ins Chaos wie eine Kartätsche und begann den Wachmann anzuschreien: »Tun Sie Ihre Pflicht, Genosse! Wir sind alle Bürger 353
dieses Landes, wir sind alle gleichberechtigt! Bürger! Wir dürfen es nicht gestatten, daß für die einen die Vorschriften gelten und für die anderen nicht! Wir haben auch Rechte und nicht nur Pflichten!« Ich beobachtete den Admiral, seinen zerschlissenen Marinemantel, seinen zahnlückigen Mund, die zitternde, heisere Stimme, und unter diesem dummen Geschrei »für und gegen« dachte ich, wie es doch zwei Lebensanschauungen, zwei Mentalitäten gäbe, unversöhnlich getrennt auf immer, in allen Dingen, angefangen von der ganz belanglosen Frage einer gewöhnlichen Vignette der M.O.P.R. bis zu den philosophischen Grundproblemen von Geld und Arbeitskraft, Gott und Teufel, Schön und Häßlich, Gut und Böse … In diesen rohen Stimmen brüllten die Kampftruppen der Roten und Weißen, der Herren und der Sklaven, der Bojaren und der Leibeigenen – und den Admiral Sergej Michajlowitsch Wrubelj betrachtend, wurde mir klar, daß dieser Dummkopf jetzt der Schicksalsstimme seines Inneren gehorchte. Enerviert von diesem ganzen ermüdenden Nachmittag ließ ich schließlich diesen Menschen allein um seine Fiktionen weiterkämpfen, sich auflehnen und auf seine Art selbstmörderisch brüllen, und mich unauffällig durch das Gedränge windend, stand ich schließlich, ganz erdrückt und schwitzend, draußen im Schneesturm. Große Schneelappen trieben in dichten, schrägen Strichen vor dem Wind. Im wässerigen Quatsch, der wie feuchter Schlamm in die Galoschen rinnt, als nasser Schnee unter den Pneumatiks der Automobile hervorspritzt wie das Wasser unter dem Bug eines Motorbootes, 354
nahm in dem trübgrauen Schein der violetten Lampen des Boulevards das Getümmel der Droschkenkutscher, der Fleischer, Kolporteure und Passanten die gespenstischen Konturen von Evolutionen eines ruhelosen Reigens schimmernder Geistererscheinungen an. Die Menschen verkauften blutiges, in Zeitungspapier gewickeltes Fleisch, schwangen mächtige, fette Fische, liefen über die Straße und verschwanden in Wolken von Nebel und Schnee, und aus der Tiefe des Boulevards kam, wie vom Winde getrieben, ein gewaltiger Zug von Menschen, die rote Fahnen trugen, bärtige, an Stöcken gehende Greise, Frauen, die sich an den Händen hielten, und Kinder, die traurige und unverständliche Lieder sangen. Dieser Zug schritt dahin wie eine Schar Wallfahrer, fromm und feierlich, und alle diese Menschen gingen erhobenen Hauptes, hoch in den nebeligen, windverwehten Himmel starrend. An der Spitze des Zuges breitete sich horizontal ein Transparent aus, auf hohen Stangen und mit einer leuchtenden goldenen Inschrift: Es lebe die Arbeit der Blinden! Der Wind wehte, nasser Schnee fiel, und über den Köpfen der Blinden donnerten die tiefen Bässe der Kirchenglocken, tiefernst und theatralisch, wie bei Mussorgski, wenn Boris Godunow gekrönt wird. Ich erinnerte mich an Swerdlow, der zu seinen Freunden noch im Sterben vom großen Glück der Menschen sprach, denen gegeben worden war, jene herrlichen Tage zu erleben, als die Menschheit aus ihrem Schlaf zu erwachen begann. Und nun! In jenem Straßenbahnwagen lehnte sich ein 355
Zeitgenosse Swerdlows gerade gegen die Schönheit dieser Tage Swerdlows auf, und dabei hatte er keine Ahnung, wo er sein Leben verbracht, noch was es für Tage waren, die er nun so erbittert verfluchte. Ich erfuhr auf vertraulichem Wege, daß Admiral Sergej Michajlowitsch Wrubelj während der Matrosenunruhen in Odessa in den Jahren 1905–06 eine äußerst fatale Rolle gespielt habe, da er sich als einer der amibitioniertesten Henker hervortat, und so ward dieses Blutvergießen in Odessa zur Grundlage seiner Karriere, in welcher er es bis zum Admiral brachte. Zweitens: Daß er im Jahre 1915 auf seinem Admiralsschiff drei Matrosen wegen Meuterei erschießen ließ. Vor dem Revolutionsgericht verteidigte er sich, indem er den Wahrheitsbeweis antrat, daß dieses Blutvergießen auf höheren Befehl erfolgt war. Drittens: Sergej Michajlowitsch Wrubelj war niemals verheiratet und die Ermordung seiner Frau, der kurländischen Baronin, reinste Erfindung. Zum Schluß und als Wichtigstes: Sergej Michajlowitsch berichtete seiner vorgesetzten Polizeibehörde über mich, daß er sorgfältig meine Meinung über die russischen Emigrantenkreise sowie die Art meiner russischen Eindrücke geprüft habe. Ich dächte über die Emigration negativ und über die russischen Zustände kritisch und in der Hauptsache günstig.
356
tausendundein tod
M
arschall Fara-Dzong eroberte die Stadt Ki-Ang am oberen Jang, dem gelben und trostlosen Wasser. Es war eine Abenddämmerung im Spätherbst: Regen und Schlamm. In den Straßen der Stadt stank es nach Pulver und Blut. Ein Leiterwagen mit zwei blinden Maultieren fuhr, überdeckt mit einer gelben Plane, vorüber. Ein hungriger Hund schleppte sich den Zaun entlang hinter den Rädern des Leiterwagens her, der unter der Last des frischen Menschenfleisches knarrte. Auf dem Bahnhof qualmten die schwarzen und düsteren Öltanks der englischen Petrol-Compagnie: aus der dichten Rauchwolke loderte die purpurrote Flamme und fraß die Kronen der alten Maulbeerbäume längs der Straße ab. Zweihundert Meter vom Bahnhofsgebäude (das auch durch Granaten zerstört war) stand eine komplette amerikanische Pullman-Garnitur mit einer jener riesigen Lokomotiven davor, wie sie drüben – jenseits des Pazifiks –, verkehren: Die Pullman-Garnitur des Marschalls Fara-Dzong. Marschall Fara-Dzong eroberte die altertümlichen Befestigungen von Ki-Ang, an der Spitze seiner ruhmreichen Armee, nach einer achtundvierzigstündigen blutigen Kanonade. Die Festung ergab sich dem Marschall auf Gnade und Ungnade. Nur das Bleibergwerk (sieben Kilometer weiter südlich) wollte nicht kapitulieren. Bis drei Uhr nachmittags feuerten Maschinengewehre in Richtung auf das Bergwerk, und dann verstummte alles. Marschall Fara-Dzong saß im Salon des mittleren Wa359
gens seiner Pullman-Garnitur und hörte die Maschinengewehre und das monotone Geräusch des Regens. Tropfen auf Tropfen kroch in geschlängelten Linien am Glas der Fenstervierecke herab, der Regen rieselte langweilig wie in einer Mehldampfmühle. Fara-Dzong, Sieger und Held des Tages (der noch zur Zeit des Russisch-Japanischen Krieges auf dem mandschurischen Schlachtfeld goldene Uhren und Ringe gestohlen hatte), war müde. Mit seinen hundertachtundzwanzig Kilo döste er wie eine Fleischerdogge, tief und asthmatisch atmend: Musterexemplar eines fetten Fleischberges, eines Molochs. Vor ein paar Minuten waren hohe geistliche Würdenträger bei ihm gewesen und hatten dem Marschall zum Zeichen der Anerkennung seines hochweisen Protektorats eine siebeneinhalb Kilo schwere Buddha-Figur aus massivem Gold übergeben, als Geschenk – die Priesterschaft dem Sieger. Auch der Doyen des diplomatischen Korps, Monsieur Philippe, war beim Marschall zur Audienz: ein Herr im Biberpelz mit spanisch langgezogenem Kiefer und zwei hündisch raubgierigen Eckzähnen. Seine Exzellenz Minister Plenipotentiaire Monsieur Philippe machte ihn im Namen seiner Hohen Regierung und im Namen der Internationalen Kolonie als ihr Repräsentant und ältestes Mitglied darauf aufmerksam, daß das Krankenhaus der spanischen Dominikaner (obwohl es außerhalb der europäischen Zone liegt) dennoch das Recht der Exterritorialität genieße, so daß jeder, und auch der geringste Verstoß gegen die bekannten und durch Erfahrung festgelegten Konventionen des internationalen Rechtes von unabsehbaren Folgen für beide Hohen Regierungen 360
sein könnte: für Seine kaiserliche Hoheit Marschall FaraDzong einerseits, wie auch für die Regierung der Republik des Monsieur Philippe (sowie für alle übrigen Behörden, die er in der Würde seines siebenundfünfzigsten Lebensjahres zu vertreten die Ehre hatte) andererseits. Seine Exzellenz Monsieur Philippe verhandelte mit Fara-Dzongs Adjutanten, General Petar Leonowitsch Morgens, dem russischen Emigranten, der als Pilot in des Marschalls Diensten diesen vor dem sicheren Tod gerettet hatte und so General und persönlicher Adjutant des Bluthundes wurde, vor dem sieben Provinzen zitterten. Marschall Fara-Dzong saß im roten Polstersessel aus Plüsch, von den vorderen Abteilen des Pullman-Salons durch einen kostbaren gold-durchwebten Paravent getrennt, so daß er im großen Spiegel den Kopf Seiner Exzellenz Monsieur Philippe betrachten konnte, wobei er über Landkarten gebeugt wie ein Hund vor tiefer innerer Unruhe knurrte: Monsieur Philippe seinerseits lächelte wie ein Hund, und General Petar Leonowitsch Morgens sprach so ausgezeichnet Französisch, als spiele er Rommé. Während er auf die einzelnen Laute der ihm unbekannten Sprache lauschte, verspürte Marschall Fara-Dzong für seinen General Morgens eine unklare und zugleich wunderliche Sympathie, eine Art warmer Zuneigung, wie sie Herren für ihre Hunde empfinden, wenn diese vor ihnen mit dem Schwanz wedeln. Er hatte diesen verkommenen russischen Menschen eines Nachts wie einen Ertrinkenden in seinen Waggon verfrachtet, und es zeigte sich, daß er in dieser glücklichen Nacht seinen treuesten Hund gefunden hatte. Denn wer sonst hätte mit diesen europä361
ischen Gaunern Verhandlungen auf französisch führen können, wer hätte Artillerie und Flugzeuge organisiert, wer hätte seine umfangreiche Buchhaltung bewältigt und seinen intimen Zahlungsverkehr mit der »Hongkong and Shanghai Banking Corporation« ? »Was ist mit dem Bergwerk, Morgens?« »Um drei Uhr sieben haben zwei Kavallerie-Eskadrons im Bergwerk die Ordnung wieder hergestellt! Siebzehn Köpfe hängen am Eingang zum Kraftwerk!« »Und was ist mit Dzu-An-King, Morgens?« »Ich habe den Befehl um zwei Uhr unterzeichnet, Eure kaiserliche Hoheit!« »Und was noch?« »Eure kaiserliche Hoheit, es ist alles in Ordnung!« »Ich will einmal sehen, Morgens.« General Petar Leonowitsch Morgens verbeugte sich vor dem Marschall, knickte tief in den Hüften ein wie ein Klappmesser und verließ den Waggon. Nach zwei Minuten kehrte er mit einem aus Schilfrohr geflochtenen Korb zurück, noch naß vom frischen Regen. Der Korb war flach und rund und mit einem jener geflochtenen Dekkel zugedeckt, unter denen man in südlichen Gegenden Feigen aufbewahrt. General Petar Leonowitsch Morgens setzte den Korb auf den Marmortisch und stand stramm neben dem Marschall, regungslos und streng. Eine Pause entstand. Man hörte den Regen auf dem Blechdach des Pullman, und einer der Köche im ersten Waggon sang halblaut ein altes, vergessenes tibetanisches Lied. Zurückgelehnt in die rote Lehne aus Plüsch schnippte der Marschall mit dem rechten Zeigefinger zum Zeichen 362
für den General, den Korb zu öffnen. General Morgens knallte die Sporen zusammen, verbeugte sich von neuem aus den Hüften wie ein Klappmesser, und vorsichtig, als öffne er ein Bündel frischer Bananen, hob er den flachen Deckel. In Sägemehl, mit Maulbeerblättern vermischt, blutig und schon blau angelaufen, lag der Kopf des Generals Dzu-An-King. Durch die Nasenlöcher des toten Generals war ein Draht gezogen, und das linke Auge blickte grau, farblos, wie das Auge eines krepierten Fisches. Marschall Fara-Dzong rückte an den Tisch, beugte sich über den Korb, und nachdem er den Draht gepackt hatte, der durch die Nasenlöcher gezogen war, hob er den Kopf des Dzu-An-King heraus und hielt ihn so eine Weile in der Hand. An der Kehle klebte eine fette schwarze Masse von Blutwasser und Sägemehl, die sich von Dzu-An-Kings Kopf bis zu den Maulbeerblättern im Korb herabzog wie ein ausgespuckter Kaugummi. All das dauerte ziemlich lange. Der Marschall betrachtete den blutigen Kopf DzuAn-Kings, das verfaulte Fischauge, die blaugewordenen blutigen Lippen, legte dann langsam und vorsichtig den Kopf von Dzu-An-King wieder in das Sägemehl zurück und sprach zufrieden die zwei englischen Wörter, die er kannte: all right! »All right, Morgens! Dzu-An-King setzte auf meinen Kopf fünfundzwanzigtausend Dollar aus! Nageln Sie seinen auf dem Hauptplatz an einen Telegrafenmast! Lassen Sie Bekanntmachungen drucken, daß es Dzu-An-King nicht mehr gibt! All right!« Regen. Fabrikumzäunungen. Abenddämmerung. Das Feuer der brennenden Tanks der englischen Petrol363
Compagnie. Die schlammige Hauptstraße mit zerfetzten Reklamen. Eine Kavallerie-Eskadron trug den Kopf des Generals und Aufrührers Dzu-An-King durch die Stadt und nagelte die kostbare Trophäe unter dem Schmettern der Trompeten und dem Wiehern der Pferde auf dem Hauptplatz fest. All right! Die Pullman-Garnitur des Fara-Dzong-Zuges kroch langsam durch die Nacht und ließ schlafende und unbeleuchtete Stationen auf der langen gebirgigen Strecke zurück. Der General Petar Leonowitsch Morgens hatte keine Lust zu schlafen; aber auch zu jeder konkreten Arbeit fühlte er sich unfähig. Er saß über dem Referat, das er im Auftrag des Marschalls über die politische Situation im Bereich des Aufruhrs in den südlichen Distrikten ausarbeiten sollte, das Referat für amerikanische Bankiers in Schanghai, bestimmt ein schäbiges Spionagegeschäft. Die Gedanken des Generals rauchten blutig und müde. Er dachte über China nach, über seine Sehnsucht nach diesem China, von dem er schon im Gymnasium geträumt hatte wie von einem Bild auf einer Teepackung: in jenem längst versunkenen China, wie er es sich in seiner Gymnasialzeit vorgestellt hatte, blühte der Lotos, die Brücken waren rot lackiert, und die Mandarine hörten Nachtigallen und betrachteten den Vollmond auf dem Kirschzweig. Seidene Lampions in der Abenddämmerung, Lyrik der Stille, Dschunken mit Bambusmasten und Segel aus Schilf. »Aus all diesen Fasanen, Pagoden, aus Mondschein und Blumen, was ist daraus geworden? Der besoffene Blues im diplomatischen Viertel, mit amerikanischen 364
Prostituierten zum Tee bei irgendeinem Konsul, beim Spiel der Zither, des Saxophons und der hölzernen Negertrommel aus dem Kongo. Hyänen aus Tungusien und Spione in Marschalls-Uniform, mit Gold galoniert, mit weißen Schwanenfedern und Pferdeschwänzen. Stinkende Eier als Leckerbissen; Spione, denen der Blutrünstige mit glühendem Eisen die Ratte in den Hintern treibt.« In einer südlichen Hafenstadt, während einer Straßendemonstration, als Morgens mit seiner Eskadron das Feuer auf die Menschenmenge eröffnete, schnitt sich ein Mannsbild aus der Masse seinen eigenen Zeigefinger ab und schrieb mit diesem abgeschnittenen, blutigen Zeigefinger, wie mit einem Griffel, auf ein Holzbrett eine vertraute aktuelle politische Parole. Petar Leonowitsch Morgens saß über seinem Referat und ordnete dieses langweilige statistische Material über die feudalen Agrarverhältnisse in den Nordprovinzen; daß das Zentrum dort übervölkert und wie es industrialisiert ist; daß unter der Intelligenz im Süden Gewerkschaftsparolen mit Washingtons republikanischen Thesen auftauchen – all das hatte er zu bedenken, als es ihm plötzlich schien, der Federhalter zwischen seinen Fingern sei eben jener blutige abgeschnittene Finger, und erst das Kratzen des Federhalters, der gegen Glas klirrte, brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Der Zug kroch langsam, behutsam, mit einer Geschwindigkeit von achtzehn Kilometern voran, und durch die Fensterscheibe waren feurige Bahnen von Funken zu sehen, die langsam und schwer aus dem Schornstein der Lokomotive herabtaumelten. Hinter dem golddurchwebten Paravent schnarchte Seine kai365
serliche Hoheit Marschall Fara-Dzong. General Morgens stand auf und verspürte das verrückte Verlangen, sich die Hände zu waschen. Im Waschbecken schrubbte er lange an ihnen herum, begoß sie mit einer starken Lysollösung und dachte an den schrecklichen und blutigen Kopf des Dzu-An-King und daran, wie der Draht, der ihm durch die Nasenlöcher ging, verrostet war. »Komisch! Für Dzu-An-King gab es keine Gefahr mehr, sich zu infizieren!« Er setzte sich an den Tisch zurück und begann, die Ziffern in den Rubriken abzuschreiben. Dann griff er nach der letzten Nummer des Daily Worker und verlor sich in irgendwelchem Nebel über Sorels Action Directe, über die Maschinengewehre, über Moskau, über Konfutse, über Buddha und Christus, warf die Zeitung fort, ging einige Male im Waggon auf und ab. Er spürte, wie die Unruhe in ihm wuchs. Er öffnete eine Fensterscheibe. Draußen schneite und regnete es, alles war rußig. Er schloß das Fenster wieder, nahm den Kopfhörer und schaltete das Radio ein. Radio Schanghai! Hotel Esplanade: Marsch aus Meyer-beers Hugenotten. Hotel Continental in Hongkong: La Rose Bleue, Blues. Bangkok! Hotel Carlton: Valencia! Ein schwarzer riesiger Raum und Leere. Es meldete sich ein transozeanisches Schiff, ein sibiro-russischer Sender gab chiffrierte Morsezeichen durch, und im Hintergrund immer ein und dasselbe: Bangkok! Hotel Carlton: Valencia! Petar Leonowitsch Morgens, der schon volle fünfzehn Jahre zwischen Blutbad und Tod lebte, im Geruch von Lei366
chen und im Gestank von Pulver und Blut, verspürte das Verlangen nach einer stillen, blauen Unendlichkeit. Nach einer sternenübersäten Ozeannacht, nach einem erleuchteten Luxusdampfer, wo die Herren im Frack Charleston tanzen und wo alles am rechten Platz ist: die Worte, die Plastrons und die Bewegungen. Ah, wenn er jetzt von hier wegkönnte, in den kalifornischen Mondschein, wo die Orangen blühen, wo die leuchtend lackierten Cadillacs durch die Palmen- und Kakteen-Alleen sausen! Aber da drüben schnarcht der blutige Büffel, Seine kaiserliche Hoheit Fara-Dzong, und der goldene, siebeneinhalb Kilo schwere massive Buddha leuchtet im Reflex der Lampe (auf demselben Tisch, wo heute Dzu-An-Kings Kopf lag). Funken sprühen, der Zug stöhnt langsam auf den Serpentinen, man hört die Dampfmaschine schluchzen, und Hotel Carlton in Bangkok spielt Valencia. Heute hielt er Dzu-An-Kings Kopf, und morgen wird ein anderer DzuAn-King den Kopf Fara-Dzongs in der Hand halten, und dann wieder Fara-Dzong den Dzu-An-Kings, und so immer ein Kopf nach dem anderen, aussichtslos und ohne Ende. Und immer wird der Regen so fallen. Die Lokomotiven stöhnen, und ferne Morsezeichen summen im Radio wie Moskitos in den Tropennächten: si-si-si! Und in diesem Geruch von Leichen, stinkenden Eiern, Butter und Rauch, überall dort, wo chinesische Buchstaben mit abgeschnittenen Zeigefingern geschrieben werden, wird er sich nach hell erleuchteten Hotels sehnen, nach Dollars, nach Sternennächten, nach Musik. So zurückgeworfen in den Sessel, den Kopfüber die Plüschlehne geneigt, die Kopfhörer an den Ohren, nahm General Petar Leo367
nowitsch seinen Browning vom Tisch, und indem er den funkelnden Lauf ableckte wie ein Kind, das an seinem Schnuller lutscht, schoß er sich in den Mund.
368
ungekürzte ausgabe veröffentlicht im fischer taschenbuch verlag gmbh, frankfurt am main, juni 1987 lizenzausgabe mit freundlicher genehmigung des athenäum verlags gmbh, königstein/ts. copyright der deutschsprachigen ausgabe: © 1966 by stiasny verlag gmbh, graz, wien, köln die serbokroatische originalausgabe erschien 1933 unter dem titel hiljadu i jedna smrt. umschlaggestaltung: jan buchholz/reni hinsch unter verwendung eines gemäldes von karl hubbuch: berliner grossstadtszene mit zirkuswagen ( ausschnitt ) gesamtherstellung: clausen & bosse, leck printed in germany 1280-isbn-3-596-25494-9
aus dem serbokroatischen von božena begovi (Die Maske des Admirals) ina jun-broa (Florian Kraintschetz, In extremis, Der Tod der Dirne Maria, Die Grille unter dem Wasserfall) milo dor (Begegnung mit dem Leibhaftigen) maksimilian mrzljak (Föhn über der Provinzstadt, Der Tod des Thomas Bakran) miodrag vuki (Tausendundein Tod)
Miroslav Krleža, neben Ivo Andrić der bedeutendste Autor der modernen jugoslawischen Literatur, sieht in den neun Erzählungen dieser Sammlung den Tod als Symbol für die verzweiflungsvolle Leere, die Hoffnungslosigkeit und den melancholischen Hunger der Menschen nach Menschlichkeit in einer mörderisch provinziellen, in ihren Konventionen erstarrten Gesellschaft. Krležas Diagnose von der » Diktatur der Beschränktheit « ist nicht als pessimistisch abzutun: der Erzählungsband Tausendundein Tod erschien im Jahr 1933.
Fischer