Maddrax74 - Tauchfahrt ins Ungewisse
Maddrax - Band 74 Tauchfahrt ins Ungewisse von Jo Zybell
Hinter Schilf und knorri...
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Maddrax74 - Tauchfahrt ins Ungewisse
Maddrax - Band 74 Tauchfahrt ins Ungewisse von Jo Zybell
Hinter Schilf und knorrigen Weiden sahen sie endlich den Fluss. Die Kinder jubelten und rannten wie immer voraus. Als die vier Männer und dreizehn Frauen die kleine Bucht erreichten, tummelten sie sich schon im seichten Uferwasser. Die Männer - bärtige, langhaarige Gesellen in ärmellosen Westen oder Mänteln aus Wildleder legten die Bögen im Gras ab und hockten sich auf Weidenstrünke. Einer rammte seinen Speer in den Boden und lehnte sich dagegen. Ein Bierschlauch kreiste. Die Frauen warfen ihre Wäschebündel ins Wasser, schälten sich aus ihren Fellen und stiegen nackt in den Fluss. Die Männer glotzten und schnalzten mit den Zungen. Statt der Nackten hätten sie besser das Schilf am Rande der Bucht beobachtet. Faustgroß wölbten sich dort die Augäpfel hungriger Flussbewohner aus dem Wasser. Doch es war sowieso zu spät.
WAS BISHER GESCHAH" Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten … für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde … Beim Wettlauf zum Kometenkrater, wo laut ISS-Daten vielfältiges Leben wuchert, haben Matt, Aruula und der Cyborg Aiko Konkurrenz: Der Weltrat (WCA), Nachfolger der US-Regierung unter Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow, setzt seine Ziele unerbittlich durch, indem er barbarische Völker unterstützt, die andere Zivilisationen angreifen und klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCA-Expedition, begleitet von dem irren Professor Dr. Jacob Smythe. Die zweite Fraktion ist eine Rebellengruppe, die gegen die WCA kämpft, die Running Men. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger. Matt & Co. machen sich von L.A.
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aus auf den Weg nach Norden. Schließlich stoßen sie auf die Expedition der Running Men, die von einer Mongolenhorde verfolgt wird - von den Ostmännern, die im Auftrag des Weltrats operieren. Gemeinsam stellt man sich der Gefahr. Die beiden Expeditionen schließen sich nicht ohne Vorbehalte zusammen, denn der Rebellenführer ist Matthew suspekt. Das ändert sich, als Black ihm das Leben rettet. Während einer Schiffspassage nach Russland hat Matt Kontakt zu den Hydriten, einer ihm bekannten Untersee-Rasse. Er bittet sie, Unterstützung aus der Londoner Bunkerzivilisation anzufordern. Schließlich landen Matt, Aruula, Aiko, Mr. Black und Miss Hardy an Russlands Küste … die inzwischen auch die WCA-Expedition erreicht hat. Die Gruppe um Lynne Crow und Jacob Smythe, in der sich interner Widerstand regt, fährt auf dem Fluss Lena dem Kratersee entgegen. Matt & Co. erfahren unterdessen, wie sich die Ostmänner von den ursprünglichen Mogoolen abspalteten - und warum es noch keiner Expedition gelungen ist, zum Kratersee durchzubrechen: Sirenen, die einen Lockruf modulieren können, wurden bisher jedem zum Verhängnis - bis Aiko mit einem Funkgerät eine Frequenz aussenden kann, welche die mörderischen Mutationen fern hält …
Bald lagen Gelächter, Kindergeschrei und Palaver über Bucht und Schilf. Die Kinder balgten und planschten, die Frauen schlugen Wäsche ins Wasser, die Männer genossen ihren Anblick und das Bier. Manchmal, wenn eines der Kinder zu weit hinaus schwamm und in gefährliche Nähe der Flussströmung geriet, brüllte ein Speerträger und drohte mit der Faust. Er hieß Djeyms; seine Stammesmitglieder nannte ihn zuweilen auch Biglord Djeyms. Auf der Flussseite des Schilfs tauchten die Augäpfelpaare unter Wasser. Wellenringe breiteten sich dort aus, wo sie eben noch lauerten. Zwei, drei Atemzüge später erstarb das Stimmengewirr über der Bucht. Für kurze Zeit war es sehr still. Und dann, von einem Atemzug zum anderen, brach gellendes Geschrei los. Die Kinder kraulten oder wateten jammernd Richtung Ufer, die Frauen ließen die Wäsche im Wasser zurück, ruderten mit den Armen, kreischten hysterisch und versuchten dem Fluss zu entfliehen. Zwei Kinder versanken im Wasser und tauchten nicht wieder auf. Die Männer waren aufgesprungen. Zwei spannten Pfeile auf ihre Sehnen. Der mit dem Speer Djeyms - lief ins seichte Uferwasser, die Waffe mit beiden Händen zum Stoß über die Schulter erhoben. Der Vierte stapfte mit gezücktem Schwert hinter ihm her. Er hieß Touny, gerade mal siebzehn Winter alt, Simplord Touny nannten sie ihn. Beide wussten, wer hier Beute unter Wasser zog, auch wenn sie die Angreifer nicht sahen. Noch nicht. Der erste tauchte einen halben Speerwurf vom Ufer entfernt hinter drei Kindern auf: breiter flacher Schädel, schuppig und schmutzig grün. Rot und schmal schoss die Zunge aus seinem Rachen, schlang sich um den Hals eines Halbwüchsigen, zerrte ihn rückwärts in die Fluten zurück. Pfeile surrten über die kreischenden Frauen und heulenden Kinder hinweg, doch keiner traf. Zwei oder drei weitere Bestien - Kwötschis nannten die Stämme in den Ruinen und Wäldern entlang des Flusses sie - fuhren keine zehn Speerlängen vor Djeyms unter die Frauen. Das Wasser schäumte auf, Djeyms und Touny sahen Klauen und Schwimmhäute und speerlange Beine. Zungen schnellten aus dem Wasser, packten die Flüchtenden an Armen und Hälsen, rissen sie von den Beinen und zogen sie unter Wasser. Aufs Geratewohl rammte Djeyms seinen Speer dort in den Fluss, wo das schaumige Wasser am heftigsten brodelte. Die Gischt färbte sich rot. Ein Kwötschi tauchte auf, schlug nach dem Speer in seinem Rücken und schoss zugleich seine Zunge nach dem Biglord ab. Touny durchtrennte sie mit file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (2 von 54)02.01.2005 11:05:00
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einem Hieb, und mit der Tollkühnheit des Unerfahrenen stürzte er sich auf das viel schwerere und größere Flusstier und schlug ihm die Klinge auf den Schädel, so lange, bis der Kwötschi erschlaffte und im blutigen Wasser versank. So rasch, wie sie angegriffen hatten, zogen sie sich auch wieder zurück. Zwei Frauen und drei Kinder nahmen sie mit. Darunter den zweitjüngsten Sohn und die Lieblingsfrau des Grandlords. Djeyms schäumte vor Wut, schlug und trat nach den beiden Bogenschützen, weil sie seiner Meinung nach schlecht geschossen hatten. In Wahrheit aber fürchtete er Paacival, seinem Grandlord, unter die Augen zu treten, und suchte einen Schuldigen. Touny stand im flachen Uferwasser. Stumm und sein Schwert noch in der Faust, sah er hinaus auf den breiten Fluss. Hinter ihm lagen sich Frauen und Kinder in den Armen und jammerten, dass es Touny durch Mark und Bein ging. Drei Halbwüchsige schlugen mit Ästen auf den schleimigen Körper des Kwötschis ein, obwohl der Flussräuber längst tot war … * Vor dem Fenster der Zentralkuppel schwebten sie knapp über dem Meeresboden: zwei Hydriten, Mer'ol und Quart'ol. Die Qualle fesselte ihre Aufmerksamkeit. Vorbei an Türmen und über kleine Wohneinheiten hinweg strebte sie durch den transparenten, oberirdischen Teil der Transportröhre der Zentralkuppel entgegen. Ihr Körper blähte sich auf, streckte sich, sog sich durch den Vorderschlund voller Wasser und stieß es durch den hinteren Schlund wieder aus. In der Röhre erst entwickelte dieser Antrieb die Geschwindigkeit, ganze Ozeane in nur wenigen Wochen zu durchqueren. Es war eine jener Lebensformen, die hydritische Bionetiker für ganz spezifische Zwecke gezüchtet hatten; in diesem Fall für den Transport von Individuen und Frachten über weite Strecken hinweg. Vor wenigen Bruchteilen einer Phase erst hatte die bis dahin unterirdisch verlaufende Transportröhre sie ausgespuckt. »Sie sind zu zweit.« Mer'ols Kiemenlappen wedelten, während er sprach. Bläschen perlten aus beiden Seiten seines Schädels nach oben. »Die Qualle wirkt erschöpft, ein langer Weg muss hinter ihnen liegen.« Wie Knacktöne in verschiedensten Höhenlagen hörte sich die Sprache an, manche Worte klangen in scharrendem Raunzen aus. Quart'ol nickte langsam. Auch er sah jetzt die Umrisse der beiden Gestalten im Inneren der halb durchsichtigen Transportqualle. Die Lider schoben sich über seine ohnehin schon halb geschlossenen Augen. Er spreizte Zehen und Finger, sodass seine Schwimmhäute sich entfalteten. Drei, vier kaum sichtbare Bewegungen seiner Glieder, und er trieb leicht nach vorn geneigt durch das Wasser vor dem runden Kuppelfenster nach oben. Sein Geist konzentrierte sich auf die Reisenden in der Qualle. Bald spürte er ihre Gedankenströme - ruhige Gedanken ohne Furcht und Hast, aber durchaus von einem konkreten Ziel bestimmt. Hier ist Quart'ol, sendete er, wer seid ihr? Die Antwort kam prompt. »Hog'tar undXop'tul.« Der hydritische Wissenschaftler öffnete die Augen, bewegte die schuppigen Arme ein wenig und sank neben Mer'ol auf den Boden vor dem Fenster zurück. »Hog'tar und Xop'tul aus Torkur?« Der Flossenkamm auf Mer'ols Schädel färbte sich violett. »Was treibt blutjunge Hydriten von der Beringstraße durch die halbe Welt hierher?« »Sie bringen eine Botschaft«, sagte Quart'ol. »Für mich.« Die Transportqualle verschwand unterhalb ihres Blickfeldes. »Für dich?« Mer'ol beäugte Quart'ol von der Seite. »Von wem?« »Von Maddrax.« Quart'ol breitete die Arme aus, drehte sich um und schwamm auf die kreisrunde Öffnung der Mittelröhre zu. »Lass uns hinunter tauchen, wir wollen sie begrüßen.« file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (3 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Mer'ol grunzte missmutig. Blasen stiegen aus seinem Mund. Sein Schädelflossenkamm spreizte sich, bis die Spitzen vibrierten und tiefrot leuchteten. »Eine Botschaft von Maddrax - das kann nur Verdruss bedeuten.« Quart'ols Assistent mochte keine Botschaften von Oberflächenbewohnern. Und er mochte keine Oberflächenbewohner. Nicht einmal den Gedanken an sie mochte er. »Warum können uns diese Menschen nicht einfach in Ruhe lassen?« Quart'ol hörte sein Gemurre nicht mehr, er war schon in die Röhre hinabgetaucht. Etwa auf halber Höhe der Zentralkuppel mündete die Mittelröhre in die Empfangsaula. Vier kreisrunde Tore öffneten sich in der Wand des halbkugelförmigen Raumes: die Enden der Eingangsröhren. Mer'ol und Quart'ol schwebten noch im Zenit der Aula, als eines der Tore die Transportqualle ausspie. Ihr milchiges Gewebe pulsierte und zog sich zusammen; undeutlich und verschwommen nur sah man jetzt die beiden Insassen. Ein schaumiger, von tausend Bläschen durchsetzter Wasserstrahl schoss aus ihrem vorderen Schlund - eine Bremsfontäne. Die Qualle schwebte langsamer und zum Zenit hinauf. Tentakel formten sich, wuchsen oberhalb des Vorderschlundes aus dem Gewebe, tasteten nach der Korallenwand und saugten sich daran fest. Der Quallenkörper entspannte sich etwas, wurde durchsichtiger. Fünf oder sechs Meter lang war er, vielleicht drei Meter hoch und etwa ebenso breit. Die beiden Insassen erhoben sich von etwas, das wie Sitze aussah, aber sofort mit dem Quallengewebe verschmolz, als die Reisenden im Inneren zum Mittelpunkt des lebendigen Hohlkörpers schritten. Im Mittelteil des Rückens runzelte sich das Oberflächengewebe. Ein ringförmiger Wulst wölbte sich, und als würden Lippen eines riesigen Mundes sich sehr langsam und schmatzend öffnen, wuchs erst ein Spalt und dann eine Öffnung zwischen den Wülsten. Mer'ol und Quart'ol sanken vom Kuppelzenit herab und landeten auf dem Quallenrücken neben den Wülsten des Ausstiegs. Nacheinander schoben sich die beiden Insassen aus der Qualle, schuppige, von Quastenflossen besetzte Körper. Angehörige einer uralten Rasse von Meeresbewohnern, die schon lange vor den Menschen die Meere bevölkert hatte. »Quart'ol und Mer'ol heißen euch willkommen«, sagte der hydritische Wissenschaftler Quart'ol, den ein ganz besonderes Band mit Matthew Drax verknüpfte: Seine Seele war nach seinem organischen Tod für einige Zeit im Körper des Menschen zu Gast gewesen, bevor sie in einen neuen, jungen Klon transferiert werden konnte. Die Ankömmlinge richteten sich auf. Wie die beiden Wissenschaftler trugen sie als einzige Kleidungsstücke braune, mit Schnitzereien versehene Bauchplatten aus Krebs- oder Hummerpanzer und an ihrer Unterseite befestigte, schmale rote Tücher. Einer der Reisenden hatte einen gelblichen Schädelflossenkamm. »Hog'tar und Xop'tul aus Torkur grüßen Quart'ol und Mer'ol«, sprach er das Begrüßungsritual. Die Kiemenlappen an seinen Schädelseiten bewegten sich, während er redete. Luftbläschen stiegen zum Kuppelzenit hinauf. Quart'ol lud die jungen Hydriten aus der Beringsee in seine Privatgemächer ein. Doch Hog'tar gab durch eine Geste zu verstehen, dass er vor allem anderen einen Auftrag erledigen wollte. Er griff unter sein Lendentuch und zog eine zusammengerollte Folie heraus. »Der Mensch Maddrax bat uns, eine Botschaft zu überbringen.« Er reichte Quart'ol die Folie. Der entrollte sie und blickte auf eine Art Landkarte. »Dies ist eine radiologische Aufnahme des Gebietes, wo einst der Komet einschlug«, erklärte Hog'tar. Er deutete auf einen stark aufgehellten und scharf umrissenen Bereich der Karte. »Hier ist die Strahlung der Kometenkristalle besonders intensiv. An diesen Ort bittet dich Maddrax zu kommen.« Neben Quart'ol erklang immer häufiger und lauter Mer'ols unwilliges Grunzen. Mer'ol überhörte den Protest geflissentlich und wandte sich an Hog'tar. »Ist das die ganze Botschaft meines Freundes?« Meines Freundes - die Betonung dieser beiden Worte ging an Mer'ols Adresse. file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (4 von 54)02.01.2005 11:05:00
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»Maddrax bittet dich, Waffen und Material mitzubringen, auch um sich gegen eine zweite Expedition zu behaupten, die Böses im Schilde führt«, sagte der junge Botschafter mit dem gelben Schädelflossenkamm. »Er glaubt, dass es nicht nur für die Zukunft seiner eigenen Rasse, sondern auch für uns Hydriten entscheidend sei, das Geheimnis des Kratersees zu lüften, noch vor dem … wie nannte er die zweite Gruppe?« Hog'tar sah zu seinem Begleiter hinüber. »… vor dem Weltrat«, half Xop'tul aus und fuhr fort: »Aber du sollst nicht allein kommen, Quart'ol. Maddrax bittet dich, mit dem Menschen Dave McKenzie Kontakt aufzunehmen.« »McKenzie …«, wiederholte Mer'ol grollend. »Dave McKenzie …« Schmerzliche Geschehnisse verbanden sich mit diesem Namen. Der Hydrit Nag'or war an der Küste Meerakas von Menschen überwältigt und gezwungen worden, eine Geistesübertragung vorzunehmen. Professor David McKenzies Bewusstsein war in den Rebellen Phil Hollyday transferiert worden. Die Geschichte hatte heftige Wellen unter dem Meer geschlagen und nicht gerade dazu beigetragen, Sympathien für die Oberflächenbewohner zu schüren. Quart'ol rollte die Folie zusammen. Er nickte langsam, als wäre sein schuppiger Schädel steinschwer von Gedanken. »Du wirst doch wohl nicht dorthin gehen?« Aus Mer'ols Kiemen sprudelten Sauerstoffbläschen. Sein ansonsten grüner Schädelflossenkamm färbte sich rötlich. »Jeder Kontakt mit dieser kriegerischen Rasse zieht nur neues Leid nach sich. Willst du ein weiteres Mal sterben?« Die jungen Hydriten aus Torkur wagten kaum sich zu rühren. Die unerwartete Spannung zwischen den beiden Erfahreneren schnürte ihnen die Kehlen zu. Hydriten verabscheuten nichts mehr als Spannungen. »Ich muss es tun«, sagte Quart'ol endlich. »Mein Geist weilte lange Zeit in Maddrax, er ist mein Freund - und ein Freund unseres Volkes. Und bedenke, Mer'ol: Wir haben uns vor drei Jahrhunderten nach den Kämpfen mit den Todesrochen aus dem Kratersee zurückgezogen und ihn zur verbotenen Zone erklärt. Vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht wächst dort etwas heran; eine Gefahr, die auch unser Volk bedrohen kann. Davor sollten wir unsere Augen nicht verschließen. Prinzipien sind gut, Mer'ol, aber manchmal muss man sie höheren Werten opfern. Ich werde mit McKenzie Kontakt aufnehmen …« * Sie lag in einer bankartigen Mulde, die sich halb in die Kuppelwand hinein wölbte. Nackt war sie, vollkommen nackt. Ockergelbes Licht beschien ihren Körper. Den kahlen Kopf in die rechte Hand gestützt, betrachtete sie Dave so gelassen, so vollkommen entspannt, als wäre er ein seltenes Tier hinter Glas oder eine Marmorskulptur aus antiken Zeiten; Dinge jedenfalls, die ihr nicht gefährlich werden konnten. Nun ja, ein wenig kam er sich auch so vor wie ein exotisches Tier oder eine harmlose Statue, wie ein Ding eben, das ihr nicht gefährlich werden konnte. Dabei saß er nur drei Schritte entfernt vor ihrer Sonnenbank, und ganz bestimmt sah sie das Begehren in seinem Blick lodern. Er spürte die Wärme des ockerfarbenen Lichts, spürte vor allem das Blut in seinem Glied pulsieren. Doch gefährlich werden? Keine Chance. Die Welten, die sie trennten, hätte er vorübergehend vergessen können. Nicht aber seinen Schutzanzug. Ohne das verdammte Ding an seinem Körper hätte sie kaum die Freiheit besessen, sich in seiner Gegenwart nackt auf ihrer Sonnenbank zu räkeln. »Woran denken Sie, Professor McKenzie?« Ihre Stimme klang noch eine Spur dunkler als sonst. Die Ocker-Strahlung der Sonnenbank vermischte sich mit dem Glitzern der Schneegipfeln des Bergpanoramas und spiegelte sich in ihren grünen Augen. Das unwirkliche Licht machte diese Augen file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (5 von 54)02.01.2005 11:05:00
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zu beseelten Smaragden. »Denken?« Er lächelte. »Es ist einer der seltenen Augenblicke, in denen ich nichts denke, Eure Majestät, gar nichts.« So ganz stimmte das nicht: Dave McKenzie dachte an Daanah, seine geliebte Barbarin aus Berlin. In seiner Erinnerung war sie zehn Mal schöner als die Queen. Aber die Queen war lebendig und Daanah tot. . Dave konnte die Lichtquelle nicht ausmachen, die Queen Victoria beschien und bräunte. Sie interessierte ihn auch nicht. Der Körper dieser Frau interessierte ihn. Jesus, was für ein Körper! So ungeniert, wie sie ihm ihre Nacktheit präsentierte, so ungeniert genoss er sie, betrachtete ihre glatten runden Schultern, ihre kleinen spitzen Brüste und ihren vollkommen haarlosen Venushügel. Sie war nicht so schön wie Daanah, okay, aber sie war immer noch atemberaubend schön. »Ich bin nicht im Bilde darüber, wie die Männer hier im Bunker …« »In der Community, meinen Sie sicher, Professor. ›Bunker‹ …« Sie machte ein angewidertes Gesicht. »Meiden Sie doch bitte dieses scheußliche Wort.« »Ich weiß nicht, was die Männer der Community angesichts ihrer nackten Königin denken würden. Ich für meinen Teil kann nur sagen, dass Ihr Anblick meine Hormonproduktion ganz erheblich steigert, und ab einem gewissen Hormonspiegel denkt ein Mann nichts mehr.« Es war nicht so, dass er sie liebte, wirklich nicht. Aber er war auch nur ein Mann, oder? »Mit anderen Worten, Eure Majestät: Ich würde Sie jetzt am liebsten …« »Wie romantisch!« Sie schwang sich von der Sonnenbank. Ihre Stimme klang nun eine Spur schärfer. Dave fragte sich, was das für ein Spiel war, das sie seit Monaten mit ihm spielte. Nähe und Distanz, mal vertraut, mal kühl. »Außerdem hätte ich da noch ein Wort mitzureden.« Die Sonnenbank verschmolz mit der Wand und machte einem Schneehang Platz, das Ockerlicht erlosch; keine Lücke klaffte jetzt mehr in dem kalten Glitzern der Berglandschaft. Queen Victoria griff nach dem rosa Mantel, den Dave ihr reichte, und hüllte ihren Körper darin ein. »Vergessen Sie nicht, dass ich eine Eins bin, Professor McKenzie. Ich darf mir meine Geschlechtspartner frei wählen. Ihrem Gencode nach sind auch Sie eine Eins, kämen also durchaus für mich in Frage. Ihr Schutzanzug allerdings würde im Fall der Fälle beträchtliche Probleme auf werfen, rein praktischer Art, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Dave verstand sehr gut: Sie untertrieb mal wieder. Mit ihr zu schlafen war nur vordergründig ein praktisches Problem - einen Schutzanzug konnte man ausziehen. Es war in erster Linie eine existentielles Frage. Für die Queen, nicht für ihn. Seine körpereigenen Bakterien würden sie töten. Sie ging an ihm vorbei, und er stieß sich mit dem Fuß ab, sodass sein Stuhl sich drehte und er ihr nachschauen konnte. Barfuß schritt sie zu einer Art Spiegeltheke auf der anderen Seite des großen Kuppelraums. Auf der Konsole unter dem Spiegel reihte sich Glasschälchen an Glasschälchen. Hinter dem Spiegel türmte sich eine Gletscherwand auf. »An den Schutzanzug habe ich mich gewöhnt, Victoria, immerhin ziehe ich ihn seit Monaten fast täglich an. Woran ich mich nur schwer gewöhnen kann, ist - nun, wie soll ich mich ausdrücken - ist der vertraute Umgang, den Sie seit einiger Zeit mit mir pflegen. Sie wissen, dass ich Sie nicht lieben kann. Mein Körper darf es nicht, und mein Herz kann es nicht.« Sie lachte. Nicht laut, aber er sah es im Spiegel. »Was glauben Sie, was ich denke, wenn ich nackt in der Sonnenbank liege und Sie mich so begehrlich anschauen, Professor?« Sie tauchte den ausgestreckten Zeigefinger in eines der Glasschälchen, holte eine Fingerspitze voll Salbe heraus und begann sich den kahlen Schädel einzucremen. »Verraten Sie es mir, Victoria.« »An einen anderen Mann.« file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (6 von 54)02.01.2005 11:05:00
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»Das beruhigt mich. Und an wen?« »Er ist noch unerreichbarer für mich als Sie.« »Also niemand aus dem Bunker.« Sie fuhr herum, eine steile Falte drohte zwischen ihren aufgemalten Brauen. »Bitte, Dave! Aus der Community!« Und dann, wieder zum Spiegel gewandt: »Micky!« Im Schneegipfelpanorama entfärbte sich eine große quadratische Fläche. Erst füllte sie sich mit warmem, zunächst flimmerndem Grün, dann nahm eine Gestalt Konturen auf ihr an. Eine Comicfigur in weißen Handschuhen, gelben Schuhen in Übergröße und roten Pumphosen. Ein langer schwarzer Schwanz schlängelte sich hinten aus ihrer Hose. Auch die riesigen Ohren und der Schädel waren schwarz. Weiß war nur das Gesicht mit der leicht nach oben gebogenen Schnauze. Große eiförmige Augen blickten auf Dave und die Queen herab; freundliche und ziemlich schalkhafte Augen. »Wie gehts denn so, Vicky?« Der E-Butler winkte mit zwei Fingern der Rechten. »Siehst mal wieder zum Anbeißen aus.« »Erstens bin ich für dich ›Eure Majestät‹, und zweitens interessiert es niemanden, wer oder was dich zum Anbeißen animiert. Ich brauche frische Kleider.« Die Micky Maus verdrehte die Augen. »Dein Vater pflegte sich bei solchen Gelegenheiten nach meinem Befinden zu erkundigen, Vicky. Seit über einem Jahr versuche ich dir halbwegs akzeptables Benehmen beizubringen. Wann wirst du es endlich kapieren?« Er war rotzfrech, der kleine E-Butler. Dave liebte ihn dafür. Und dafür, dass er den Namen seines wichtigsten Gesprächspartners trug: Auch sein verstorbener - oder im Dschungel der Zeit verschollener - Bruder hieß Mickey. »Eure Majestät!« Die Queen stampfte mit dem Fuß auf. »Ich bin nicht mein Vater, und dein Befinden interessiert mich nicht …!« »Natürlich nicht.« Der E-Butler verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte gelangweilt zur Decke des Kuppelraums. »… unterbrich mich nicht!« Victoria drohte dem elektronischen Wesen mit geballter Faust. Dave schätzte, dass er einer der wenigen Menschen in der Community London war, der das Privileg genoss, die ansonsten kühle Queen von ihrer hitzigsten Seite zu erleben. »Das lange schwarze Kleid und den roten Mantel mit dem Stehkragen! Zur Octaviats-Sitzung will ich etwas Klassisches tragen …« »Eine wichtige Sitzung, ich weiß.« Den Blick noch immer zur Decke gerichtet, begann die E-Maus mit dem rechten Schuh zu wippen. Dave amüsierte sich prächtig. Wie immer eigentlich, wenn der königliche E-Butler auf der Bildfläche erschien. »… du sollst mich nicht unterbrechen! Wenn du die Kleiderfrage organisiert hast, erkundigst du dich beim Schleusen-Butler nach Rulfan von Coellen! Er müsste längst hier sein. Ohne ihn kann die Sitzung nicht beginnen. Außerdem nimm Kontakt mit Octavian Hawkins auf. Bevor die Sitzung beginnt, muss ich wissen, ob die Präsentation des neuen Programms stattfinden kann.« »Hawkins? Neues Programm?« Misstrauen schlich sich in die schelmische Miene des E-Butlers. Dave wusste, dass Sir Anthony Hawkins, Bioinformatiker und Repräsentant der Wissenschaftler im Octaviat, Mickys Schöpfer war. »Was für ein neues Programm, unsere Majestät?« »Genug! Verschwinde! Und zuerst die Kleider! Nein, vorher noch ein neues Panorama. Ich will den Fluss!« Der E-Butler schloss die Augen und spitzte die Lippen. Der grüne Monitor verblasste. »Er ist unverschämt, finden Sie nicht, Professor?« Victoria ließ den Mantel fallen und cremte sich Schultern, Arme und Brüste ein. Im Spiegel sah sie Dave hinter sich mit den Achseln zucken. »Vollkommen unwürdig eines königlichen E-Butlers! Mein Vater mit seinem Spleen für diesen Walter Disney! So hieß Mickys Erfinder doch, oder?« file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (7 von 54)02.01.2005 11:05:00
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»Walt Disney. Und wie heißt der Mann, an den Sie denken, Eure Majestät?« »Kein Wort mehr darüber, Dave. Wenn Sie die Octaviats-Sitzung aufmerksam verfolgen, werden Sie es hinterher wissen.« »Nach der Sitzung?« Dave grinste. An zwei Sitzungen des Regierungsgremiums der Community London hatte er bisher teilgenommen. An der ersten zusammen mit Rulfan, am Tag nachdem das Luftkissenfahrzeug Twilight of the Gods nach wochenlanger Odyssee aus Nordamerika zurückgekehrt und am Themse-Ufer vor den Ruinen der Hauses of Parliament vor Anker gegangen war. Rulfan hatte Bericht erstattet - er selbst war zu erschöpft gewesen - über den Weltrat, über Matthew Drax' Schicksal, und vor allem über das Serum, das es den Technos drüben in den ehemaligen Vereinigten Staaten - »Meeraka« nannten die Eingeborenen heutzutage den Kontinent - erlaubte, sich ohne Schutzanzüge außerhalb ihrer Bunker zu bewegen. Diese Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Seine zweite Octaviats-Sitzung erlebte Dave vier Monate später, etwa eine Woche, nachdem sie ihn aus dem Tiefschlaf geholt hatten. Ja, vier Monate seines Lebens hatte Professor Dr. Dave McKenzie verschlafen und sich danach wie neugeboren gefühlt. Die mörderischen Strapazen in Berlin und Washington hatten ihn fast umgebracht. Damals, fast ein Jahr war das jetzt her, beriet die Queen mit ihren Octavianen die Möglichkeiten einer offiziellen Expedition nach Washington. Ohne protokollarisch fixiertes Ergebnis. Immerhin beschlossen sie damals, dem Astrophysiker aus der Vergangenheit die Datenbanken der Community-Wissenschaftler zugänglich zu machen. Fast ein dreiviertel Jahr lang hatte Dave sie studiert, wie in jungen Jahren. Jetzt wusste er, wie man ein EWAT steuerte, wie man eine Zentral-Helix programmierte, wie man Energie aus dem Erdinneren gewann und Titanglas zu Kuppelgewölben formte; und vieles mehr. »Sie wollen während der Octaviats-Sitzung ihre Herzensangelegenheiten enthüllen?« Die Vorstellung machte Dave Spaß. »Verzeihen Sie, Mylady, ich habe nur zwei dieser Versammlungen mitgemacht. Ziemlich verbissene Angelegenheit. Wenn mich nicht alles täuscht, könnte schon ein banaler Furz die Tagesordnung über den Haufen werfen.« »Lassen Sie sich überraschen, Dave.« * »Minne Son! Minne Littlson …!« Das Gebrüll und Geheul schwankte zwischen Wut und Schmerz. »Iah sinne Schuld! Minne Son! Unminne schönste woom! Iah habdse de Kwötschis vafüddad …!« Der Grandlord trat und schlug auf Biglord Djeyms und seine kleine Truppe ein, warf sich zwischendurch in den Dreck und trommelte mit den Fäusten auf dem Boden herum. Dann wieder sprang der graubärtige Hüne auf, traktierte Djeyms Bogenschützen mit Tritten oder raufte sich laut heulend sein graues Lockengestrüpp. Aus nassen Augen fixierte er schließlich Djeyms, seinen Biglord. »Du bis Schuld!« Er ging auf Djeyms los, stieß ihn in die Menge der auf dem Dorfplatz versammelten Krieger, schäumte vor Wut und knirschte mit den Zähnen. Einem Littlord entriss er die Axt, packte sie mit beiden Fäusten und holte zum Schlag aus. Vier Biglords und der - greise Druud fielen ihm in die Arme. »Nich totmache!«, schrie Alizan, der Druud. »Nich totmache, Gwanload Paacival, nich nochmea Tote …!« Der Grandlord schob den Alten zur Seite. Er brüllte und versuchte seine obersten Krieger und Jäger von sich abzuschütteln. Doch die klammerten sich an den Armen und Beinen des Hünen fest und redeten auf ihren Grandlord ein. Biglord Djeyms nutzte jeden Atemzug, der ihm blieb, und robbte an Beinen vorbei und unter file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (8 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Wildlederröcken hindurch aus der Reichweite der Axt. Er zitterte vor Angst und klapperte mit den Zähnen - ein Tobsuchtsanfall des Grandlords rangierte in der Hierarchie möglicher Naturkatastrophen gleich nach einem Orkan und noch vor einem Hochwasser. Jeder wusste das, und Djeyms wusste es auch. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als könnte er seinem Grandlord die beiden Bogenschützen als Sündenböcke verkaufen. Jetzt aber, da Paacivals Axt über ihm schwebte, ja einmal sogar zwischen seinen Stiefeln in den Dreck fuhr, jetzt schloss er mit dem Leben ab. Paacival zerrte inzwischen sechs Biglords mit sich. »Loslasse …! Wech mideuch …! De Tawatzenaasch müsse steabe …!« Kein Simplord, kein Littlord wagte sich dem Grandlord in den Weg zu stellen; und schon gar keine der vielen Frauen - wooms hießen die bei den Lords. Gleich bei der Rückkehr der Wäscher waren sie aus den schwärzlichen Hütten geströmt und standen nun zu Dutzenden und mit ängstlichen Blicken hinter den Männern und Kindern. Nur die Biglords und der Druud schritten ein. »Kwötschis sinne Moadbiesta, weissedoch, Gwanload! Kanne Djeyms nichs füa …!« Alle redeten sie auf den Tobenden ein, manche behutsam, manche schreiend, und alle mit einem Auge nach der kreisenden Axt schielend. »Isse scheiß Bigload!«, brüllte der Grandlord immer wieder, und: »Totschlache, schlachntot!« Ein Knabe tauchte plötzlich aus der Menge auf, vier oder fünf Jahre alt, knapp über die Knie reichte er dem Tobendem. Verheult, schmutzig, mit verfilztem Lockenkopf und gelbhäutig wie die meisten, sah er aus wie einer der Koboldbastarde, von denen der Druud und die alten wooms manchmal erzählten. Auf einmal stand er zwischen dem Biglord und Paacival und streckte die Ärmchen nach dem massigen Grandlord aus. »Vadde, Vadde …!« Paacival hörte auf zu brüllen. Erschrocken blickte er auf den Jungen hinunter. »Minne Mam, minne Bwuda! Isse schlimm, binne twauwig!« Der Junge Paacivals jüngster Sohn Djeff - umschlang die Schenkel des Hünen und heulte, als wollte er Herz und Lungen aus dem kleinen Körper würgen. Der Grandlord ließ die Axt sinken, als wäre sie ihm viel zu schwer. Stille lag plötzlich über der Menge auf dem Dorfplatz. Das Schluchzen des Kleinen allein war noch zu hören. Bis zu den hintersten Reihen der Gaffenden drang es, bis zur letzten der schwärzlichen Hütten. Paacival legte seine Pranke auf den Filzkopf des Jungen. Der Kleine und sein von den Kwötschis gefressener Bruder - ein knappes Jahr älter als Djeff selbst - hatten die gleiche Mutter: Paacivals Lieblingsfrau. Endlich, endlich riss dessen Blick sich von Biglord Djeyms los. Wie ein Erwachender blinzelte er um sich in die Menge hinein. Ein paar Littlords und Frauen wichen erschrocken zurück. »Minne Son, minne aame Son …!«, krächzte er endlich. Die Axt entglitt seiner Hand, der Hüne sackte in die Knie, umschlang den vor Heulen und Schluchzen bebenden Knabenkörper und drückte ihn an seine Brust. »Minne aame, aame Son …« Bald schluchzten und heulten sie gemeinsam, beweinten Mutter und Frau, beweinten Bruder und Sohn … Eine Zeitlang traten die Biglords von einem Bein auf das andere, beäugten abwechselnd ihre Stiefelspitzen und das trauernde Paar, bis ihre Blicke immer häufiger den Druud suchten. Der Greis stand neben Vater und Sohn und wirkte für Augenblicke genauso hilflos wie die Biglords. Schneller als sie aber besann er sich; sein dürrer Körper unter dem schwarzen Taratzenpelz straffte sich, und er fuchtelte ein paar Mal mit den Armen, bis die Menge zurückwich und sich Richtung Hütten zurückzog. Djeyms, Touny und die beiden geschundenen Bogenschützen schlichen und hinkten an den Rand der Siedlung. Dort, zwischen Brabeelenhecken und knorrigen Weiden hockten sie im gelblichen Gras und warteten auf günstigere Lebensumstände. file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (9 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Alizan spähte hierhin und dorthin, winkte in verschiedene Richtungen, stieß Zischlaute aus. Sein graugelbes Ledergesicht sah aus wie das eines Toten, seine weißen Zöpfe flogen ihm um die Schultern. Schließlich versammelten sich sämtlich verbliebene Biglords um ihn, elf insgesamt, darunter der älteste Sohn des Grandlords, ein gewisser Wichaad. Paacival hatte mindestens acht Söhne, die Töchter zu zählen hatte er sich nie die Mühe gemacht. »Gwanload Paacival isse twauwig, bwauche Zeit.« Mit einer Kopfbewegung deutete der Druud auf den heulenden Grandlord. Ein paar Frauen und Kinder hatten sich um ihn und den Kleinen geschart. »Un bwauche wassutun.« »Müssende Kwötschis jagen«, sagte Wichaad, und die anderen Biglords nickten und schnitten grimmige Mienen. »Yea!«, krächzte Druud Alizan. »Weama mache, aba east Oaguudoo beschwöan …« Wieder fuchtelte er mit beiden Armen, deutete zu seiner Hütte, deutete auf die Mitte des Dorfplatzes, deutete auf die Biglords. »Feuamache, Kessel hea, un eine woom …« * In der Kuppelwand bildete sich eine schrankartige Öffnung. Statt Schneehänge sah Dave dort jetzt einen Garderobenständer mit Kleidern an gläsernen Bügeln. Die Queen griff sich einen weißen Body und schlüpfte hinein. »Ich habe ein neues Panorama verlangt! Merken Sie, wie unzuverlässig dieses Viech ist?« Dave fand ihren Ärger über den E-Butler ein wenig aufgesetzt. Er sah ihr zu, wie sie in ein langes schwarzes Kleid stieg. Eine Nymphomanin war sie nicht, sonst hätte sie ihn vermutlich trotz Infektionsgefahr schon verführt. Vielleicht trieb sie eine Art neurotischer Exhibitionismus? »Sie liegen also nackt auf der Sonnenbank, betrachten mich und stellen sich dabei den Mann ihres Herzens vor?« Die Queen riss den roten Mantel vom Bügel. Während sie zu Dave lief, zog sie ihn über. »Dave!« Als wollte sie seine Wangen berühren, fasste sie seinen kugelrunden Klarsichthelm. »Wenn Sie wüssten, wie einsam ich bin.« McKenzie - noch immer im Drehstuhl - sah zu ihr auf. »Für alle nur die Queen, für das Octaviat nur die Regierungschef in! Für niemanden Victoria, die Frau mit einem menschlichen Herzen! Seit mein Vater tot ist, gibt es keinen hier unten, mit dem ich reden könnte wie mit Ihnen. Und es gibt keinen Mann, bei dem ich weiter nichts als eine Frau sein könnte, als bei ihnen. Zumindest ansatzweise.« Sie küsste den Helm über seiner Stirn. Ihr Atem beschlug den Kunststoff; für Augenblicke sah Dave ihr Gesicht nur verschwommen und dafür den feuchten Abdruck ihrer Lippen im Niederschlag ihres Atems. Selbst dieser zwangsläufig missglückte Kuss erregte ihn. Himmel! Wie gern hätte er den Helm zurückgeklappt und ihren Mund geküsst. »Sie sind mir die letzte Verbindung zu dem Mann, den ich liebe.« Sie flüsterte, ihre Lippen und Augen waren feucht. »Und ich mag Sie, Dave. Ja, ich mag Sie wirklich.« Dave glaubte ihr jedes Wort. Und wurde trotzdem nicht ganz klug aus ihr. Aber wie pflegte sein großer Bruder Mickey immer zu sagen? Du magst was von Physik und Astronomie verstehen, und ich von Motoren, aber die Frauen werden wir beide nie begreifen. Am besten, du versuchst es erst gar nicht … Eine Zeitlang schwiegen sie. Sie kniete vor ihm und er spürte die Wärme ihrer Hände durch seine Handschuhe. Sie sahen sich einfach nur an. Dave halb erstaunt, halb neugierig, die Queen weich, fast zärtlich. »Noch zwei Stunden, dann beginnt die Octaviats-Sitzung«, sagte sie irgendwann mit file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (10 von 54)02.01.2005 11:05:00
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verschwörerischem Unterton. »Ich werde heute die Expedition nach Nordamerika durchsetzen, Dave, verlassen Sie sich auf mich. Wir werden den Amerikanern … den Meerakanern ein Bündnis anbieten, und wir werden das Serum bekommen. Und Sie, Dave, Sie werden die wissenschaftliche Leitung der Expedition übernehmen. Vorher aber lassen Sie sich von unseren Ophthalmologen operieren - ich kann dieses antike Brillengestell an Ihnen nicht mehr sehen …« Von einem Augenblick zum anderen wechselte das Panorama: Die glitzernde Schneewelt zerflimmerte und das Rundumbild einer Wüstenlandschaft baute sich auf. Jedenfalls war es auf den ersten Blick eine Wüstenlandschaft. Auf den zweiten sah man im Hintergrund einen Fluss Sand und Dünen zerschneiden. Jenseits des Flusses wucherte üppiger Regenwald, und ein Mann saß dort allein im Ufergras. Dave konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, dazu war das andere Ufer viel zu weit entfernt. Aber er kannte den verschollenen König von Bildern. Wie immer trug er eine Art cremefarbenen Rüschenanzug, hatte rosa Langhaar - eine Perücke natürlich, fast alle Haarschöpfe hier unten waren Perücken - und schien verträumt in den Strom zu blicken. O ja, das war er: King Roger der Dritte, Prinz von Kent und König der britannischen Inseln. Vor mehr als zwei Jahren aus dem kurzen aber verlustreichen Krieg gegen die Nordmänner nicht in die Community zurückgekehrt. Seit man seinen Helm in Südengland am Ufer des Tests gefunden hatte, zweifelte niemand mehr an seinem Tod. Natürlich war er es nicht wirklich. Eine virtuelle Animation, weiter nichts. Dennoch richtete Victoria sich auf und winkte ihm zu, und wie immer winkte Roger III. zurück. »Ja, ja, der gute alte Roger«, seufzte es hinter ihnen. Beide fuhren herum. Micky Maus. Unbemerkt hatte sich sein Monitor zugleich mit dem neuen Panorama aufgebaut. »Das waren noch Zeiten, als der King mich fragte, wie es mir geht …« »Was fällt dir ein, du Witzfigur?« Queen Victoria die Zweite wurde laut - ein nicht minder seltenes Ereignis wie der Sentimentalitätsanfall kurz zuvor. »Ich hasse es, von meinem Butler überrascht zu werden!« »Hey, Vicky! Du kannst ja richtig persönlich werden!« Die Maus grinste von einem Ohr zum anderen. »Bleib cool, okay? Ich hab nämlich gute Nachrichten für unsere Majesdingsbums: Rulfan von Coellen ist eingetroffen. Im SEF hat er gerade seinen Köter verabschiedet und legt wahrscheinlich in diesen Minuten einen Schutzanzug an.« Das SEF - Septisch Externes Foyer - war ein bewohnbares Areal oberhalb des Bunkers in der Westminster-Hall. Die Technos hatten deren Ruine durch ein Kuppelgewölbe aus Titanglas abgestützt und mit Schleusen von der Außenwelt abgeschüttet. Dave und Rulfan lebten dort seit ihrer Rückkehr von Meeraka; ohne Schutzanzüge. Wenn der eine nicht gerade Reparaturarbeiten an der Twilight of the Gods zu erledigen hatte und der andere sich nicht zu Studienzwecken im Bunker aufhielt. »Und die zweite good News: Sir Anthony lässt ausrichten, dass du die Präsentation des neuen Programms in zwei Stunden wie geplant über die Bühne bringen kannst.« Der E-Butler räusperte sich geziert. »Sei mir nicht böse, Vicky, aber ich muss es loswerden: Die Geheimniskrämerei geht mir auf den Schwanz, ich bin das von deinem Vater einfach nicht gewöhnt. Was für ein scheißneues Programm soll das sein? Das hat doch hoffentlich nichts mit mir zu tun?« »O doch, du Karikatur eines E-Butlers! Deine Tage sind gezählt! Noch heute wirst du gelöscht!« * Die Trommeln verstummten, die Tänzer sanken erschöpft auf den Boden. Rauch stieg vom verglühenden Scheiterhaufen auf. Das Blut im Kessel dampfte. Der Druud blieb noch eine Zeitlang file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (11 von 54)02.01.2005 11:05:00
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flach zwischen Kessel und Gluthaufen liegen, Stirn und Finger in den feuchten Boden gebohrt. Manchmal zuckte sein linkes Bein, manchmal grunzte und krächzte er, als würde er mit der Erde sprechen. Umgeben von seinen sieben ältesten Biglords und vier seiner Söhne hockte Paacival zehn Schritte entfernt und wartete. Auf seinen überkreuzten Beinen hatte sich Djeff zusammengekauert und schlief. Alle warteten sie, das ganze Dorf: vierundsiebzig Simplords und Littlords, mehr als doppelt so viele Frauen und an die achtzig Kinder. Biglord Djeyms, Simplord Touny und die beiden Bogenschützen zwei Littlords übrigens - hatten sich inzwischen aus der Deckung der Brabeelen und Weiden gewagt und kauerten zwischen zwei Hütten, die an den Dorfplatz angrenzten. Auch sie warteten. Jagdzug gegen die gefährlichen Kwötschis, ja oder nein? Allein der Spruch des Druuds konnte darüber entscheiden. Endlich stemmte Alizan sich vom Boden hoch. Er ächzte und seine Gelenke krachten. Umständlich klopfte er sich Dreck und Gras aus dem schwarzen Taratzenmantel. Dabei wandte er sich um, ließ seinen flackernden Blick über die Menge schweifen und fixierte schließlich den Grandlord. »Höa Oaguudoos Spwuch anne Dwuud, Gwanload Paacival!« Seine dürren Zeigefinger hoben sich, als wollte er einen Chor dirigieren. »In ein Tach isse Ganzmond! Wenne Ganzmond uffgeht, machse ville Kwötschis tot, unmachse megabig beude!« Eindeutiger gings nicht. Die Biglords riefen Befehle nach allen Seiten; sie hatten längst alle Vorbereitungen für einen Jagdzug getroffen. Zwei Dutzend Jäger strömten in ihre Hütten, um Waffen und Material zu holen. Ein paar Frauen gossen das Blut des Opfers aus dem Kessel ins Gras. Hunde sprangen herbei und leckten es auf. Einige Simplords füllten die Asche der Verbrannten in einen Ledersack; sie musste im Fluss verstreut werden. Paacival schickte Wichaad nach Biglord Djeyms und seiner kleinen Truppe. Sein Jüngster, Djeff, wachte auf. »Jachd? Wille mit, Vadde, nimmichmit!« »Nixis. Bissu little.« Der Kleine quengelte ein bisschen herum, doch Paacival ignorierte es. Mit gesenkten Häuptern traten Biglord Djeyms, Touny und die anderen beiden vor ihn. Paacivals ausgestreckter Arm richtete sich zunächst auf den jungen Simplord Touny. »Wenne ein Kwötschi totmachs, wiasse Bigload«, stellte der Grandlord ihm in Aussicht. Inzwischen war ihm zu Ohren gekommen, was für eine gute Figur Touny während des Angriffs gemacht hatte. »Undu wiasse wieda Simpload«, diesmal zeigte er auf Djeyms, »wennenich minnenstens drei Kwötschi totmachs!« Biglord Djeyms schluckte und sah seinen Grandlord ungläubig an. Die Bogenschützen lauschten vergeblich auf ein Urteil. Mit der Prügel schienen sie dem Grandlord genug bestraft. Davon abgesehen hätte er Littlords zwar degradieren können - in den Rang einer woom - aber dann wären sie beim nächsten Opferntual fällig gewesen. Jagd auf Kwötschis kostete erfahrungsgemäß zwei oder drei Jäger. Paacival brauchte jeden Kämpfer. Wenig später pilgerte fast das ganze Dorf zum Fluss. Dort, an der Waschbucht, verstauten sie Waffen, Speere, Köcher mit Pfeilen, Äxte, Vorräte und zwei große Ballen zusammengerollter Netze auf zwei Flößen. Paacival, sechs Jäger und der Druud bestiegen eines, Wichaad, Bigload Djeyms, Touny und vier weitere Lords das andere. Mit langen Stangen stießen sie sich vom Ufer ab. Die Flöße trieben in die Mitte des Stroms und flussabwärts. Die Zurückgebliebenen winkten ihnen hinterher. Bald waren Flöße und Männer nur noch verwaschene Flecken zwischen Ruinenufer, Himmel und Fluss. * Viele Phasen waren sie schon in der Nordsee unterwegs, fast einen halben Zyklus lang. Mer'ols file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (12 von 54)02.01.2005 11:05:00
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mentale Kräfte steuerten die Qualle dicht über dem Meeresboden. Quart'ols Gedanken tasteten unentwegt die Umgebung ab. Entlang der Südküste Britanas führte keine Transportröhre, und Angriffe feindlicher Meeresbewohner waren nie ganz auszuschließen. Obwohl Quart'ols Späherdienste seine ganze Konzentration beanspruchten, entging ihm nicht, dass die Qualle plötzlich langsamer schwamm, um irgendwann ganz zu stoppen. Sie sank auf den Grund und rührte sich nicht mehr. Unbehagen, sogar Furcht spürte Quart'ol in der mentalen Ausstrahlung seines Gefährten. Er ahnte den Grund. »Die Themsemündung?« Mer'ol nickte, sein Schädelflossenkamm war blassgrün. »Du bist noch nie in den Fluss hinein geschwommen?« Quart'ol wusste, dass Mer'ol jedes Gewässer mied, in dem die Wahrscheinlichkeit, auf Luftatmer zu treffen, höher als fünfzig Prozent lag. Aber er wählte seine Worte mit Bedacht. Es war schon schwer genug gewesen Mer'ol von der Notwendigkeit der Mission zu überzeugen. Eine einzige Bedingung hatte er gestellt: Niemand über McKenzie hinaus durfte von der Existenz der Hydriten erfahren. Eine Bedingung, die vom Hohen Rat ausdrücklich gebilligt wurde. Ein Wunder geradezu, dass Mer'ol sich ansonsten ohne Wenn und Aber und aus freien Stücken entschlossen hatte, ihn zu begleiten. Dabei hatte der HydRat längst einen jungen Hydriten ausgewählt, der Quart'ols Qualle steuern sollte. »Begegnungen mit diesen Luftatmern bringen nichts als Schwierigkeiten«, schnarrte Mer'ol. Die Qualle saugte sich mit Wasser voll. »Immer nur Schwierigkeiten. Noch nie bin ich der Themsemündung so nahe gekommen.« Düster stierte Mer'ol durch die Quallenwand. Bionetische Leuchtzellen tauchten das Innere ihres lebendigen Gefährts in phosphoreszierendes Licht. Etwa achtzehn Meter unter der Meeresoberfläche, lagen sie kurz vor der Themsemündung. Dunkel wie hereinbrechende Nacht war das Wasser. Noch dunklere Konturen zeichneten sich irgendwo links von ihnen ab. Ein Schiffswrack? Manchmal glitten Schatten über sie hinweg. Eine Zeitlang schwiegen sie. Mer'ol bewegte sich nicht, die Qualle bewegte sich nicht; und Quart'ol kämpfte gegen die Versuchung an, die Gedankenströme seines Assistenten abzutasten. Sein Ehrenkodex verbot es ihm. Außerdem wusste er auch so, was in dem Anderen vorging: Mer'ol schickte sich an, eines seiner heiligsten Prinzipien zu brechen: Hydriten meiden jede Begegnung mit Vertretern der menschlichen Rasse. Und nun, kurz vor der Schwelle, zuckte er zurück. »Die Zeiten haben sich geändert, Mer'ol. Ein höheres Schicksal wollte, dass unsere Wege sich mit denen von Matthew Drax kreuzen. Seit das geschehen ist, können wir uns den Entwicklungen außerhalb unseres Lebensraumes nicht mehr entziehen.« Quart'ol wartete auf eine Reaktion Mer'ols. Nichts. Aufmerksam beobachtete er den anderen von der Seite. Warum pulsierten Mer'ols Kaumuskeln? Warum zitterten die Ränder seiner Kiemenlappen? Und lag es am phosphoreszierenden Licht, dass sein Schädelflossenkamm graugrün aussah? »Wenn du nicht über deinen Schatten springen kannst, steig aus. Ich fahre allein weiter und nehme dich wieder auf, sobald ich meinen Auftrag erfüllt habe.« »Was ich einmal zugesagt habe, halte ich auch.« Mer'ols Körper straffte sich, er spreizte seinen Schädelflossenkamm. Seine Stimme klang Quart'ol eine Spur zu trotzig, »Es wird ja nicht lange dauern, McKenzie zu rufen.« Mer'ol sprach wie zu sich selbst. »Seine Pyramidenzellen sind seit der Gedankenübertragung sensibilisiert für hydritische Gedankenmuster.« Er straffte sich. »Also gut … los!« Weiter ging es, langsam zuerst, dann allmählich mit wachsender Geschwindigkeit. Der Meeresboden stieg sanft an. Vor der Qualle wirbelte, hinter ihr schäumte es, vorn saugte sie das Wasser an, hinten stieß sie es aus. Dicht über dem ansteigenden Grund schwamm sie - viel gemächlicher als in einer Transportröhre - in flachem Winkel der Wasseroberfläche entgegen. Das Wasser wurde heller. Wieder glitten Schatten an ihnen vorbei, und diesmal erkannte Quart'ol die Körperformen großer Fische. Bald konnte er auch die ausgedehnten Seegrasfelder unter der Qualle file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (13 von 54)02.01.2005 11:05:00
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entdecken. Als würden sie ihnen zuwinken, bewegten sie sich in der Strömung. Hier und da ragten große Gesteinsbrocken auf, und mitten im wedelnden Gras Bordwand und Kiel eines Schiffswracks. Mer'ols Schädelkammspitzen vibrierten. Seine Linke lag zur Faust geballt - nein: zur Faust verkrampft - auf seinem schuppigen Oberschenkel, der rechte Arm steckte halb unter seinem Bauchschild. Quart'ol wusste, was er dort festhielt: seinen Blitzstab. Noch immer schwammen sie knapp über dem Grund, doch höchstens sechs oder sieben Meter trennten sie noch von der Wasseroberfläche. So hell war es jetzt, dass sie die Schuppen der Fische unterscheiden konnten, die an der Transportqualle vorbei schwebten. Stahlträger voller Schlamm und Seegras türmten sich vor ihnen auf. Daneben Betonplatten einer zusammengebrochenen Brücke. Mer'ol musste die Qualle bis knapp unter die Wasseroberfläche steuern, um über die Trümmer hinweg schwimmen zu können. Eine zerstörte Brücke - untrügliches Zeichen, dass sie die äußeren Ruinenbezirke der ehemaligen Hauptstadt passierten. Nach den Trümmern sank die Qualle wieder tiefer. Eine Zeitlang glitt sie knapp über dem Flussgrund dahin, langsamer und langsamer. So langsam schließlich, dass Quart'ol den Schlingerkurs gar nicht sofort bemerkte. Doch plötzlich drohte das bionetische Unterwassergefährt nach links über seine Längsachse abzukippen. »Halt an!«, rief Quart'ol. Mer'ol griff in die Steuereinheit und drückte auf einen Wulst. Die Qualle drehte sich um ihre Vertikalachse, schaukelte noch ein paar Mal hin und her und sank in den Schlamm am Grund des Flussbettes. »Was ist los?«, erkundigte sich Quart'ol. »Ich verstehe es auch nicht«, entgegnete Mer'ol. »Gut, die Strömung ist recht stark und der Risikoabstand zur Oberfläche längst unterschritten, aber eigentlich sind die Quallen flexibel genug, um das auszugleichen. Diese hier scheint damit Probleme zu haben.« Probleme? Quart'ol sah seinen Begleiter skeptisch an, doch auf Mer'ols Gesichtszügen war kein Arg zu entdecken. Trotzdem hätte er fast gewettet, dass der Hydrit bei den Problemen nachgeholfen hatte. Der Grund lag auf der Hand: die Kontaktaufnahme zu verhindern. Aber konnte Mer'ol tatsächlich glauben, dass ein Ausfall der Transportquelle schon genügte, die Mission abzubrechen? Oder zu verzögern, wie seine nächsten Worte zu belegen schienen? »Jedenfalls ist diese Qualle hier nicht sicher«, sagte er. »Nicht für so ein gefahrvolles Unternehmen. Wir sollten umkehren und eine andere auswählen.« Sorgfältig analysierte Quart'ol die Situation. Wie es aussah, konnte er nicht auf seinen Assistenten zählen. Eine Weiterfahrt war unter diesen Umständen ein zu großes Risiko. »Ich steige aus und schwimme aus eigener Kraft weiter«, entschied er sich. »Eine Umkehr kostet uns zu viel Zeit.« »Aber du kannst nicht allein -«, warf sein Begleiter ein. »Natürlich kann ich«, wehrte Quart'ol ab. »McKenzie hält sich in einer Bunkerkolonie unter dem ehemaligen Regierungssitz auf.« Er kannte die Ruine aus der Zeit, die sein Geist in Drax' Körper verbracht hatte. Seitdem wusste er fast alles, was auch Matthew Drax gewusst hatte - zumindest bis zum Zeitpunkt ihrer Trennung, als Quart'ols Geist in einen jungen Klonkörper geschlüpft war. »Weit können diese ›Houses of Parliament‹ nicht mehr sein. Du wartest hier und hältst die Qualle unter Kontrolle, bis ich zurückkomme - allein oder mit McKenzie.« Mer'ol zeigte sich wenig begeistert. »Allein ist es viel zu gefährlich! Ich beschwöre dich …« Er verstummte, als Quart'ol Vorbereitungen zum Ausstieg traf. Er steckte seinen eigenen Blitzstab unter den Bauchschild und stand auf. Sein Sitz verschmolz mit dem Quallengewebe. Quart'ol berührte die Gewebewand über seinem Flossenkamm und tastete nach den Impulssensoren. Gleichzeitig sandte er mentale Befehle aus. »Es wird nicht lange dauern.« Er nickte seinem Begleiter file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (14 von 54)02.01.2005 11:05:00
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zu und versuchte zu lächeln. Aus der Decke des Transportraums wuchsen Gewebelappen. Wie eine zweite Haut hüllten sie zuerst Quart'ols Kopf, dann seine Schultern und seine Brust, schließlich den ganzen Körper ein. Die bionetische Schleuse schloss sich unter seinen Fußsohlen und hob ihn hoch. Ein Wulstrand wölbte sich über ihm, der Quallenrücken öffnete sich. Quart'ol stemmte sich aus dem Gewebe und verließ die Qualle. Er schwamm los. Vor einem Flussknie blickte er noch einmal zurück. Die Qualle war ein kleines grünes Schimmern im Schlammgrund. Und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass Mer'ol vielleicht gar nichts mit der Fehlfunktion zu tun hatte und die Qualle tatsächlich fehlerhaft war. Aber er verdrängte die Sorge, die mit dieser Erkenntnis einher ging. Jetzt musste er sich auf sein Ziel konzentrieren, wenn er nicht versagen wollte. Er kam auf feindliches Terrain. Und niemand konnte garantieren, dass er nicht unverhofft Menschen begegnete - und ob es friedliche Menschen sein würden … * Sie trafen ihn in der großen Kuppelhalle zwischen Wohn- und Regierungssegment, der sogenannten »Octaviats-Arena«. Selbst wenn alle hier unten Schutzanzüge getragen und langes graues Haar gehabt hätten - Dave hätte ihn unter Hunderten erkannt. Gar nicht mal an den hellgrauen Haaren und den roten Augen - viele hier unten hatten rote Augen -, sondern an seinem Gang: Rulfan bewegte sich unter den Titanglaskuppeln mit der gleichen geschmeidigen Zielstrebigkeit wie in Ruinen, an Flussufern oder in Wäldern; oder an Bord der Twilight of the Gods. Wachsam, kraftvoll und mit jener gelassenen Würde, die seine ganze Erscheinung, sein ganzes Wesen prägte. Insgeheim bewunderte Dave McKenzie den Albino. Die Queen nickte ihm zur Begrüßung kurz zu. Zurückhaltend, distanziert; nur eine kaum wahrnehmbare Verengung ihrer Lider verriet den Respekt, den sie - wie alle hier unten - Rulfan entgegenbrachte. Seit sie zusammen mit Dave ihre Privatgemächer verlassen hatte, war sie wieder ganz die kühle, unnahbare Regentin. »Was macht das Boot?«, fragte Dave zur Begrüßung. »Setzt etwas Moos an«, sagte Rulfan. »Sonst alles in Ordnung.« Die Twilight of the Gods lag seit fast einem Jahr am Themse-Ufer vor Anker, direkt vor den Ruinen der ehemaligen Hauses of Parliament. Wenn Rulfan nicht gerade mit Wulf, seinem Lupa, die Ruinenwälder oder Flussufer durchstreifte oder sich in der Community Salisbury oder bei den Lords aufhielt, lebte er meistens auf dem alten Luftkissenboot. Im oberirdischen Wohnkomplex des SEF war er nur selten. Rulfan von Coellen - wie ihn hier unten einige nannten - schätzte geschlossene Räume nicht besonders. Und dennoch: Während Daves Tiefschlaf hatte der Albino das SEF nur selten verlassen. Kaum wich er von der Schleuse zur kleinen Schlaf kuppel, in der Dave sich durch einen von den CommunityÄrzten verordneten und überwachten Tiefschlaf von den körperlichen und vor allem nervlichen Belastungen seiner Meeraka-Reise erholte. Dave wusste das von Sir Anthony Hawkins, dem Wissenschafts-Octavian. Auch Victoria hatte es mehrfach angedeutet. Manchmal fragte er sich, womit er sich Rulfans Treue verdient hatte. Die Queen ging zwei Schritte vor ihnen. Sie sprachen nicht viel, während sie hinter ihr Seite an Seite die Octaviats-Arena durchquerten. Am Zenit der Hallenkuppel strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel auf das Regierungsviertel eines London herab, wie es vor über fünfhundert Jahren ausgesehen haben mochte. Rechts weitete sich der Parliament Square; dahinter sah Dave die file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (15 von 54)02.01.2005 11:05:00
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St. Margaret's Church und den Kreuzturm und das hintere Schiff von Westminster Abbey. Links strömte die Themse hinter den Bäumen der Uferpromenade. Dave hatte das Gefühl, die Straße zu überqueren, die zur Westminster Bridge führte. Auch deren Auffahrt konnte man sehen. Den Teil der Kuppelwand, auf den sie zugingen, dominierten Big Ben und die Nordfassade des Parlamentspalastes. Die animierten Straßen und Plätze waren menschenleer; keine Autos fuhren dort, keine Busse. Allerdings entdeckte Dave hier und da ein paar Tauben. Die Octaviats-Arena verband das Regierungs- und Militärsegment mit den anderen Teilen der unterirdischen Stadt. In ihr fanden regelmäßige Vollversammlungen der Community statt. Auch Feste wurden hier gefeiert. Und manchmal pflegte Queen Victoria II. hier zu den Bunkerbewohnern zu sprechen. An Größe hätte es die Halle sicherlich mit der Football-Arena von Baltimore aufnehmen können, in der Dave'so viele Stunden seiner Jugend verbracht hatte. Vor einem Jahr hätte ein solcher Gedanke ihn noch mit Bitterkeit erfüllt. Jetzt musste er schmunzeln. Erinnerst du dich, Mickey?, redete er in Gedanken zu seinem toten Bruder. Fünfhundert Jahre ist das her … Der Eingang zu den Räumen des Octaviats war so in der Kuppelwand platziert, dass man das Parlamentsgebäude zu betreten meinte. Über animierte Teppiche, unter animierten Kristalllüstern hindurch, an animierten Ölporträts vorbei erreichten sie das offene Portal zum Kabinettsraum, ein Kuppelsaal, wie alle Räume der Community. Noch nie hatte Dave hier unten eine Ecke, eine Kante oder eine gerade Wand entdeckt. Auf der Schwelle begegneten sie einem hochgewachsenen, vollkommen kahlköpfigen Mann in frackartiger Jacke und weiten Hosen, beides schwarz und von weichem, dünnen Stoff. Jefferson Winter, Berater der Queen - einst ihres Vaters - und Octavian für Bildung, Kultur und Unterhaltung. Der hundertzweiunddreißigjährige Albino galt als bester Dichter und Redner der Community. Er begrüßte die Queen und die beiden Schutzanzugträger mit der ihm eigenen Zurückhaltung. Mit dem Kabinettssaal betraten sie eine andere Welt. Kein Mahagoni-Ambiente, wie man es vielleicht nach der Fassade und dem Gang erwartet hätte, keine barockgerahmten Aristokratengesichter an den Wänden, kein schweres Leder auf Perserteppichen und vor sachlichen Chippendale-Tischen. Nein: Eine Strandidylle füllte die gesamte Kuppelwand des Kabinettsaales aus: weißer Sand vor tiefblauem Meer, Palmen, die sich im Wind bogen, Papageien in Akazien, ein Korallenriff weit draußen im Wasser, aufspritzende Gischt, wenn die Wogen sich dagegen warfen. Die Brandung schien von allen Seiten zu rauschen - leise, unaufdringlich -, und Dave glaubte sogar zu spüren, dass es hier wärmer war als draußen in der Arena. Ein runder Tisch aus hellblauem Glas und mit S-förmig gebogenen Beinen stand in der Mitte des Kuppelraums, um ihn herum elf blaugläserne Stühle, zwei mehr als sonst. Victoria nahm neben einer massigen Frau in cremefarbenen Gewändern Platz: Josephine Warrington, die heute einen kastanienroten Perückenturm trug. »Sie ist überzeugt, den Entschluss für eine Expedition nach Waashton durchsetzen zu können«, flüsterte Dave, während er und Rulfan sich setzten. »Ich hab das Gefühl, sie würde notfalls sogar Krieg gegen den Weltrat führen.« »Natürlich würde sie das tun.« Rulfan lachte freudlos und stieß einen Seufzer aus, von dem Dave nicht wusste, ob er verächtlich oder resigniert gemeint war. »Alle führen sie Krieg auf diesem Planeten. Warum nicht auch die Community London gegen den Weltrat in Waashton?« Nacheinander betraten zwei weitere Frauen und nach Jefferson Winter noch weitere vier Männer den Kuppelsaal - alles Regierungsmitglieder, sogenannte Octaviane. Aus neun Köpfen bestand die Community-Regierung: acht Octavianen und der Queen. Jeder Octavian vertrat die Interessen der Gruppe, der er selbst angehörte. Ein vom Octaviat in geheimer Abstimmung gewählter Prime saß file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (16 von 54)02.01.2005 11:05:00
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dem Gremium bis zu seinem Tod vor. Seit Jahrzehnten war das Josephine Warrington. Über ihr stand nur noch die Queen. Sie konnte jeden Beschluss des Octaviats durch ihr Vetorecht zu Fall bringen. »Ich werde nicht mitgehen«, flüsterte Rulfan. Dave musterte ihn überrascht. »Nach dem Winter will ich aufs Festland hinüber und den Rhein hinunter nach Coellen fahren.« »Schade.« Dave vermutete, dass es den Albino zu seinen Freunden zog, oder dass er in Köln nach dem Rechten sehen wollte. Rulfan wirkliche Motive kannte er nicht. »Ich hoffe, das ist noch nicht dein letztes Wort.« Ein verschlossener Mensch, dieser grauhaarige, alterslose Mann. Ganz selten nur hatten sie während der langen Überfahrt ein persönliches Gespräch geführt. Das Bogenportal des Saales schob sich zu, alle Mitglieder des Octaviats hatten Platz genommen. »Ich begrüße Sie, Ladies und Gentlemen.« Die Prime nickte in die Runde. »Die Tagesordnung ist bekannt. Einziger Punkt: Entsendung einer Delegation nach Washington. Oder ›Waashton‹ von mir aus, wie man die Überreste der einstigen amerikanischen Hauptstadt auf der anderen Seite des Atlantiks heute nennt. Fehlen nur noch Sir Leonard Gabriel und sein Octaviat, dann können wir beginnen.« Josephine Warrington wandte sich um. »Herkules!«, rief sie in die Strandidylle hinein. Ein Monitor leuchtete über der Düne links des Sandstrandes auf. Ein muskulöser Hüne, bärtig, braungebrannt und mit drahtigem blauschwarzen Lockenkopf nahm Konturen an; der persönliche EButler Josephine Warringtons. »Was kann ich für dich tun, Josey?« Einzig ein weißes Lendentuch verhüllte die letzten Geheimnisse seines schönen Körpers. »Was ist mit der Verbindung nach Salisbury?« »Steht jeden Moment, Josey.« Keine hundert Meilen lag die Community Salisbury entfernt, doch selbst über kurze Strecken litt die Funkverbindung unter der sogenannten Christopher-FloydStrahlung. Obwohl die Störungsintensität in den letzten Jahrzehnten nachgelassen hatte. Der Kometensplitter im See nahe der Tower-Bridge-Ruine schien seine Strahlkraft allmählich einzubüßen. Der halbnackte Adonis über den Dünen verblasste, an seiner Stelle erschien das Gesicht eines neunzig bis hundert Jahre alten Mannes; ein kantiges, sehr ernstes Gesicht. Wie aus weißem, blau geäderten Marmor geschnitten sah es aus. »Das Octaviat von Salisbury grüßt die Queen und das Octaviat von London«, sagte der Mann mit dunkler, volltönender Stimme. Leonard Gabriel hieß er, Prime von Salisbury und Rulfans Vater. »Wir sind vollzählig.« »Dann lasst uns endlich anfangen!«, rief eine hohe Männerstimme. General Charles Draken Yoshiro war wie immer ungeduldig. Und wie immer trug der kleine stämmige Kommandant der CommunityForce seine kobaltblaue Zopfperücke. Die Prime hob kurz ihre aufgemalten Brauen und bedachte den asiatisch aussehenden MilitärOctavian mit einem tadelnden Blick. »Eine lange Vorrede kann ich mir sparen, Ladies und Gentlemen. Dank Rulfan von Coellen und Professor Doktor McKenzie wissen wir, dass Commander Drax unseren Auftrag erfolgreich erfüllt und mit der Community von Washington Kontakt aufgenommen hat …« »Drax und Lady Aruula, Lady Prime«, fiel Rulfan ihr ins Wort. Völlig untypisch für ihn. Dave staunte ihn von der Seite an. »Danke für die Korrektur«, sagte die Prime mit einem zynischen Unterton. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Rulfan von Coellen, würde ich gerne fortfahren.« Rulfan hielt ihrem Blick stand und reagierte nicht. »Wir kennen dank Ihrer Berichte, Gentlemen, viele Einzelheiten der gefährlichen Mission, die Commander Drax und …«, sie räusperte sich, »… und Lady Aruula in unserem Auftrag so erfolgreich bewältigten. Monatelang haben wir die Fakten gesammelt und analysiert und Theorien entwickelt, auf welche Weise wir an das in Washington entwickelte Serum gelangen. Ein Präparat, das es uns erlauben würde, unsere Immunschwäche zu überwinden und uns ohne Schutzanzüge außerhalb des Bunkers aufzuhalten. Heute kann es nur noch um eine Frage gehen: Rüsten wir eine file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (17 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Expedition nach Nordamerika aus, oder nicht? Hören wir uns die bisher erarbeiteten Vorschläge an, diskutieren wir sie kurz, und stimmen danach ab.« Sie wandte sich an Jefferson Winter und den Wissenschafts-Octavian Anthony Hawkins. »Bitte, Gentlemen.« »Francis!« Die Angesprochenen riefen ihre E-Butler. »Sokrates!« Nacheinander flammten zwei Monitore auf. Auf dem einen sah man einen Mönch, auf dem anderen einen stämmigen, in weißes Tuch gehüllten Mann mit Stupsnase und weißen Locken. »Wird ja hoffentlich nicht lange dauern«, sagte er. Dave grinste. Die schnoddrige, im Grunde genommen unhöfliche Art von Sokrates, dem persönlichen E-Butler Jefferson Winters, amüsierte ihn immer wieder aufs Neue. Die Männer und Frauen des Octaviats ließen seine arroganten Ausfälle stoisch über sich ergehen. Im Großen und Ganzen hatten sie sich wahrscheinlich an Sokrates gewöhnt. Nur Victoria verdrehte die Augen und presste die Lippen zusammen. »Nun fang schon an, Francis, ich hab nicht ewig Zeit«, sagte Sokrates. »Ich habe die Erfolgs Wahrscheinlichkeit einer Amerika-Expedition von der Zentral-Helix durchrechnen lassen«, begann der Mönch. »Deutlich unter vierzig Prozent. Natürlich habe ich die Daten unserer gescheiterten Expeditionen mit eingegeben, dazu das Infektionsrisiko für mitreisende Community-Mitglieder und das offensichtlich feindliche Verhalten des sogenannten Weltrates …« »Mit einem Wort, du hast die Zentral-Helix kräftig eingeschüchtert.« Sokrates verschränkte die Arme vor der Brust und setzte eine gelangweilte Miene auf. »Kein Wunder, wenn der Rechner den Schwanz einkneift. Ich halte zwar nichts von Statistiken und Wahrscheinlichkeitsrechnungen, aber …« »Bitte, Sokrates!«, fuhr ihm Winter ins Wort. »Wir bilden uns unser Urteil selbst. Warte, bis du an der Reihe bist!« »Von mir aus …« Der Mönch verzog keine Miene, schwieg einfach geduldig, bis er wieder zu Wort kam. Sokrates schien für ihn Luft zu sein. »Wir haben Alternativen durchgespielt«, fuhr er dann fort. »Eine mit weitaus mehr Erfolgsaussichten hieße: Unsere Verbündeten aus Coellen beziehungsweise der Vergangenheit erneut nach Washington schicken und der dortigen Regierung eine offizielle Einladung überbringen …« »Ausgeschlossen!«, rief Leonard Gabriel. Und die Queen sagte: »Das kostet uns mindestens zwei weitere Jahre!« Sokrates lachte meckernd. »Die zweite Möglichkeit«, fuhr der Mönch unbeirrt fort, »wir versuchen aus den Immunzellen Professor McKenzies ein Serum zu entwickeln, das der Community die nötige Abwehrkraft gegen Erreger ersetzt …« »Die Entwicklung würde ebenfalls Jahre dauern!«, rief die Queen. Mit einer Kopibewegung gab die Prime Sokrates zu verstehen, dass er das Wort hatte. »Von mir aus macht, was ihr wollt«, sagte er. »Fifty, fifty dass die Typen da drüben ihr Zeug rausrücken. Damit, dass sie uns nicht grün sein könnten, hat Bruder Francis zufällig ins Schwarze getroffen. Ich würde es trotzdem versuchen. Ihr müsstet halt keimfreien Wohnraum auf dem Luftkissenboot bauen …« »Ich habe eigene Theorien entwickeln lassen, Ladies und Gentlemen«, meldetet sich Victoria II. zu Wort. »Dabei gehe ich von der Prämisse aus, dass wir das Serum so schnell wie möglich …« »Ich war noch nicht am Ende, Gnädigste!« Sokrates schnitt eine beleidigte Miene. »Die Queen hat das Wort!«, fuhr die Prime ihn an. Demonstrativ blickte er zur Seite. »Je früher wir mit dem Wiederaufbau Londons beginnen können, desto besser. Ich stelle Ihnen meine Alternative und bei der Gelegenheit meinen neuen E-Butler vor.« file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (18 von 54)02.01.2005 11:05:00
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»Wassis?« Sokrates fuhr herum und runzelte die hohe Stirn. Dave dachte an das intime Gespräch in Victorias Privaträumen. Der Wiederaufbau Londons war eine Lieblingsvision ihres Vaters King Roger III. gewesen. Dass ihr dieses Projekt unter den Nägeln brannte, war ihm neu. Er glaubte zu wissen, aus welchem Grund sie so rasch wie möglich in Besitz des Serums kommen wollte. »Commander!«, rief Victoria. Zwischen den Palmen entstand ein vierter Monitor. Ein Mann in hellem Sommeranzug, weißem Seidenhemd und Sportschuhen erschien auf der Bildfläche. Ein blonder großer Mann Mitte dreißig. Sein Seidenhemd stand bis zum Brustbein offen und sein blondes Brusthaar war gut sichtbar. Ein Raunen ging durch den Kuppelsaal. Die Prime schmunzelte; Rose Mc-Millan - rote Perücke und Octavian für Frauen, Kinder und Fortpflanzung - schüttelte den Kopf; Yoshiro und Hawkins tuschelten mit gerunzelten Stirnen; und Rulfan neben Dave schien plötzlich stocksteif in seinem Glassessel zu sitzen. »Wo bei Zeus steckt Micky?«, donnerte Sokrates. »Verzeihen Sie, Eure Majestät.« Leonard Gabriel in Salisbury fasste sich als Erster wieder. »Es ist mehr als ungewöhnlich, einen E-Butler nach den Daten noch lebender Personen zu programmieren.« Dave fehlten schlicht die Worte. Ungläubig betrachtete er den Mann auf dem Monitor. Größe, Haltung, Gesichtszüge, Augenfarbe - hätte Dave nicht gewusst, dass er einem virtuellen Wesen gegenübersaß, wäre er aufgesprungen, hätte die Arme hochgerissen und gerufen: Hey, Matt Drax! Schön, dass es dich auch noch gibt … * »Tzschsch!«, machte der Druud. »Tzschsch!« Die Bogenschützen auf beiden Flößen griffen nach den Pfeilen in ihren Köchern. »Tzschsch! Tzschsch!« Der greise Alizan deutete ins Uferschilf. Schilfrohr bewegte sich dort. Paacival, der bis jetzt auf seinen Speerschaft gestützt und mit überkreuzten Beinen am Bug gesessen hatte, erhob sich. Das Floß begann unter der Bewegung seines Gewichts zu schwanken. »Tzschsch!« Plötzlich fuhr Druud Alizan herum, deutete mit ausgestreckten Armen an zwei Stellen aufs Wasser und ließ sich gleichzeitig auf die Knie fallen. Fast im selben Augenblick teilte ein Augäpfelpaar die Fluten seitlich des Floßes. Eine Kwötschi-Zunge schoss aus dem Wasser, schlang sich um den noch immer ausgestreckten Arm des Druuds und riss ihn bis an den Floßrand. Alizan schrie, doch die Axtklinge eines Biglords trennte ihn blitzschnell von seinem Fressfeind. Der Greis hatte seine Rettung kaum realisiert, schüttelte noch die Zunge von seinem Arm, da schnellte von der anderen Floßseite auch schon der schuppige Körper eines zweiten Kwötschis aus dem Wasser, prallte dem Axtträger in den Rücken und stieß ihn ins Wasser. Der Kwötschi selbst konnte sich keinen Atemzug lang an seiner Beute freuen, denn als er an der Stelle in den Fluss tauchte, an der sein Opfer eben den Kopf aus dem Wasser streckte und zu schreien begann, ragte bereits ein Speer des Grandlords aus seinem Rücken. Mit gespannten Sehnen, gezückten Schwertern, Beilen und stoßbereiten Speeren erwarteten sie den nächsten Angriff. Doch der blieb aus. »Hamse michakannt«, grunzte der Grandlord. »Hamse Angsekricht.« Paacival winkte das etwas zurückgefallene Floß seines ältesten Sohnes herbei, während seine Jäger den Biglord aus dem Wasser zogen. Drei Speerträger und drei Bogenschützen lauerten mit zu Stoß und Schuss bereiten Waffen an den Floßrändern. »Müsse Lage aufschlage un auffe Ganzmond waate«, keuchte der Druud neben Paacival. »Dann könnemase alle totmache.« Der Grandlord ließ ihn reden. file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (19 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Wichaad steuerte sein Floß neben das seines Vaters. Paacival ließ die Netzballen, Proviant und Material herüber ziehen. Danach wandte er sich an Biglord Djeyms. »Sisse alte Bwücke?« Er deutete auf eine Brückenruine, die etwa vier Speerwürfe flussabwärts die Ufer säumte. Eine Seite ragte etwa einen halben Speerwurf weit in den Fluss hinein. Efeu, Winden und Buschwerk hüllten Pfeiler und Streben ein. Auf der anderen Seite türmten sich nahe des Ufers Betonplatten und Eisenteile im Wasser, und über die gesamte Flussbreite sah man eine vielfach unterbrochene Wasserschaum- und Wellenlinie, aus der an manchen Stellen Trümmer ragten. »Da spannenma Netze aus. Solang watste, dann lockseda Kwötschis hin.« Er zeigte ihm genau die ufernahe Stelle, durch die er das Floß an den Ruinen vorbei zu steuern hatte. Bis auf Djeyms und seine beiden unglücklichen Bogenschützen winkte der Grandlord dann alle Kämpfer auf sein Floß. Nur Simplord Touny weigerte sich, den Biglord im Stich zu lassen. »Wiedde wills.« Paacival zuckte mit den Schultern. Seine Jäger luden Speere und Pfeile aufs Köderboot, danach überließen sie die vier Jäger ihrem Schicksal. »Jetz hasse Gelegenheid, villeville Kwötschis totsumache.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Paacival von seinem Biglord. Gemeinsam mit Druud Alizan beobachtete der Grandlord, wie Djeyms Floß sich entfernte und langsam auf das Ufer zu trieb, wo er abwarten sollte, bis die Netze versenkt waren. Alizan deutete immer wieder ins Schilf des jenseitigen Ufers. An zahlreichen Stellen sahen sie, wie Schilfrohr zitterte und sich teilte. Es wimmelte nur so von Flussräubern in dieser Gegend. Paacival schüttelte seinen Speer und machte ein grimmiges Gesicht. Sie trieben noch ein Stück flussabwärts, bevor sie das Floß ebenfalls ans Ufer steuerten. Proviant, Waffen und Decken luden sie ab; die Netze zogen sie auf dem Floß vom Ufer aus ihm Laufschritt bis zur Brückenruine. Sie kletterten in die Ruinen, steuerten das Floß bis zum ersten Pfeilersockel, entrollten beide Netze, versenkten sie über ein Drittel der Flussbreite im Wasser, und zwar so, dass die obere Kante in etwa dem Verlauf der Trümmerlinie folgte. Ein paar Holzklötze schaukelten als Schwimmer dort in der Strömung, wo die obere Netzkante ein oder zwei Handbreiten unter Wasser lag. Eine Seite des Netzes befestigten sie mit Seilen in Bäumen und Ruinenteilen, die anderen am Pfeilersockel, der etwa in der Flussmitte eine halbe Speerlänge weit aus dem Wasser ragte. Dort ließ Grandlord Paacival auch das Floß anbinden. Der Druud protestierte. »Hasse nichehöat de Spwuch vonne Oaguudoo?«, zeterte er. »East wenne Ganzmond kommt, kannsetotmache.« »Hasse nichesagt«, widersprach der Grandlord. »Wenne Ganzmond uff geht, machse ville Kwötschis tot, hassesagt. Also machema jez npaa tot, un wenne Ganzmond uufgeht, villeville.« Die sechs kräftigsten Lords packten die Enden der drei Zugseile oder banden sie sich um den Leib und legten sich in der Uferböschung auf die Lauer. Bogenschützen und Speerträger verteilten sich in der Brückenruine, am Ufer und auf Pf eiler sockel und Floß. Paacival winkte mit dem Speer, um Biglord Djeyms das Zeichen zum Aufbruch zu geben. Bald trieb das Floß mit den vier Lords der Brücke entgegen. Breitbeinig und mit gezückten Waffen standen Djeyms und seine drei Gefährten fast Rücken an Rücken. Lange Zeit passierte gar nichts, und der Grandlord fing an zu fluchen, weil er glaubte, die Flussräuber hätten die Flucht ergriffen. Erst als das Floß nur noch einen knappen Speerwurf weit von Brückenruine und Netz entfernt war, erschien ein Kwötschi unweit davon an der Wasseroberfläche. Djeyms stieß einen Kampf schrei aus und schleuderte seinen Speer. Der getroffene Körper zuckte nicht, strampelte nicht, schaukelte nur von der Wucht des Aufpralls bewegt ein wenig im Wasser. Der Grandlord blinzelte in die Fluten. Täuschte er sich, oder ragte Djeyms Speer aus dem Bauch des Kwötschis? file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (20 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Und schon wieder Jagdgeschrei vom Köderfloß: Pfeile sirrten durch die Luft. Paacival traute seinen Augen nicht. Zwei weitere leblose Kwötschis trieben auf dem Wasser, diesmal mit Pfeilen gespickt. Jetzt griffen sie auf dem Floß zu Stangen und Paddeln, um das Fahrzeug zu einem Kwötschi zu steuern, der kraftlos und lahm versuchte, ins Schilf des anderen Ufers zu schwimmen. »Siesse Oaguudoos Macht?« Dem Druud sprengte es fast die Brust vor Genugtuung. »Siesse? Siesse wasne gute Druude has?« Kurz darauf schrie einer der Jäger auf dem Pfeilersockel. Paacival spähte hinüber. Der Bogenschütze deutete ins Wasser, und der Grandlord sah die Holzstücke auf und ab tanzen, die an der oberen Netzkante befestigt waren. Zwei oder drei versanken sogar im Wasser ohne wieder aufzutauchen. »Aussem Wassa mim Netz!«, brüllte der Grandlord Paacival. * Wie aus dem Nichts waren die Schatten aufgetaucht. Überrumpelt duckte sich. Mer'ol ins Gewebe der Qualle. Ein Dutzend und mehr der seltsamen Kreaturen umkreisten sein bionetisches Gefährt. Enger und enger zogen sie ihren Ring. In seiner Not rief er nach Quart'ol. Der Hydrit hatte die Schatten zunächst für Menschen gehalten, bis er die breiten Schädel und die aufgesetzten Augäpfel erkannte. Nein, das konnten keine Luftatmer sein. Schwimmhäute spannten sich zwischen Zehen und Fingern der Wesen da draußen. Sie schwammen schnell und hatten etwa die Größe von Menschen, nur dass ihre Rümpfe kürzer und ihre Arme und Beine dünner und länger waren als menschliche. Mer'ol erinnerte sich an alte Berichte von Beobachtern, die sich vor zwanzig oder dreißig Zirkulationen ein Stück in die Themse hinein gewagt hatten. Von mutierten Kröten war in den Berichten die Rede gewesen, von Fleischfressern. Keine Menschen also; trotzdem konnte Mer'ol nicht aufatmen. Was sollte er tun? Abwarten, bis die Riesenkröten von allein wieder abzogen? Er fuhr sicherheitshalber den Blitzstabaus. Zunächst drehten die Fleischfresser noch ein paar Runden um die Transportqualle - bevor sie angriffen. Sie rammten den Quallenkörper, stießen ihre Schädel und Fäuste in das weiche Gewebe. Mer'ol wurde hin und her geworfen. Wieder rief er nach Quart'ol. Aber nur ein einziges Mal noch schnell machte er sich klar, dass sein Gefährte in eine tödliche Falle schwimmen würde, wenn er seinen Hilferuf empfing. Mer'ol zwang sich zu klaren Gedanken. Der Umgang mit gewalttätigen Angreifern war ihm nicht vertraut, doch es waren keine intelligenten Gegner, sondern unvernünftige Tiere. Es sollte nicht schwer fallen, ihren Angriff mit Taktik abzuwehren. Als die erste Riesenkröte ihr Maul aufriss und ihre Zähne ins weiche Quallenfleisch schlug, handelte Mer'ol. Er drückte den inzwischen fast einen Meter langen Blitzstab über sich ins Gewebe und sandte knappe mentale Impulse an den bionetischen Organismus aus. Hautlappen wuchsen aus der Quallendecke, umschlossen fast die ganze Länge des Silberstabes und zogen sich über Mer'ols Fäusten fest um das Rohr zusammen. Sein Schockstab ragte aus der äußeren Hülle der Qualle in den Fluss, ohne dass ein Loch in der Hülle den Wesen eine Angriffsmöglichkeit gab. Eine lange Zunge schoss aus dem Rachen einer der Riesenkröten. Sie wickelte sich um den Silberstab und riss daran. Mer'ol löste den Energieschock aus. Blauweiß züngelte es aus der Mündung des Rohrs, schoss durch Schaum und Wasserbläschen bis in den Rachen der Riesenkröte. Sofort löste sich deren Zunge vom Blitzstab. Das Tier streckte seine Gliedmaßen von sich, die Augen traten ihm schier aus den Höhlen. file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (21 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Kurz sah es so aus, als würde der Krötenkörper erzittern, dann erschlaffte er, trieb langsam der Wasseroberfläche entgegen und drehte sich dabei auf den Rücken. Mer'ol fasste Mut. Tot war die Riesenkröte nicht, aber bewusstlos. Irgendwann würde sie wieder zu sich kommen. Er musste weg hier. Er richtete seinen Schockstab auf die anderen Angreifer. Ein Blitz nach dem anderen zuckte durch Schaum und Wasserbläschen, sieben Riesenkröten trieben nacheinander gelähmt und bewusstlos zur Wasseroberfläche. Mer'ol beglückwünschte sich; und er beglückwünschte die Techniker der Hydriten, die solche Selbstverteidigungswaffen erdacht und gebaut hatten. Sein Erfolg weckte ungeahnte Fähigkeiten in ihm. Irgendwann schaffte er es, Schockblitze zu verschleudern und sich gleichzeitig auf die Steuerung der Qualle zu konzentrieren. Das Gefährt saugte Wasser an, und stieß es aus, blähte sich auf und streckte sich. Instinktiv steuerte Mer'ol die Transportqualle flussabwärts, aufs offene Meer hinaus, zwanzig Meter tief auf den Meeresgrund, wohin ihm die Riesenkröten niemals würden folgen würden. Von dort aus - so sein Plan - würde er den mentalen Kontakt zu Quart'ol suchen. Die Qualle wendete, nahm Fahrt auf. Es musste schnell gehen. Obwohl schon bis auf die Hälfte dezimiert, ließen die Angreifer noch immer nicht von ihr ab. Zwei Riesenkröten gelang es, sich an der Quallenspitze festzuklammern. Fast hätten sie den Ansaugschlund verschlossen, doch Mer'ol konnte sie mit dem Blitzstab betäuben. Die Qualle fand ihren Rhythmus. Bald schwamm sie so schnell, dass die Angreifer Mühe hatten, ihr zu folgen. Sie boten Mer'ol ein leichtes Ziel: Treffsicher feuerte er die Schockblitze auf sie ab, bis nur noch drei oder vier Schatten ihn und die Qualle verfolgten. Natürlich musste er nach hinten blicken; was vor ihm im Wasser geschah, sah er nicht. Und so schleuderte ihn die Wucht des Aufpralls tief in das weiche Gewebe hinein, als die Transportqualle in ein Netz hineinraste … * Da war es wieder. Jemand rief. Quart'ol trieb reglos im Wasser und lauschte. Jemand hatte seinen Namen gerufen. Diesmal war er ganz sicher. Konzentriert lauschte er in sich hinein. Gab es hier telepathisch begabte Wesen, die wussten, dass er in unmittelbarer Nähe war? Unwahrscheinlich. Gab es Hydriten, die von seiner Gegenwart wussten? Ja. Einen einzigen. Mer'ol. Er tauchte zur Mitte des Flusses und dort hinauf zur Wasseroberfläche. Der Himmel verdunkelte sich bereits, bald würde die Nacht anbrechen. Er warf rasche Blicke links und rechts auf die Ruinen und Böschungen. Mitten in der zerstörten Stadt befand er sich bereits. Knapp zweihundert Meter flussaufwärts versuchten zwei Türme, sich mitten auf dem Fluss die zersplitterten Arme zu reichen: die Turmruinen der nur teilweise zerstörten Towerbridge. Umkehren? Ja, umkehren. Die knappen mentalen Rufe seines Assistenten hatten sich dringend angehört, sehr dringend. Quart'ol tauchte unter und schwamm mit der Strömung zurück flussabwärts. Dass sich sein Begleiter in einer realen äußeren Gefahr befand, konnte er sich nicht vorstellen. Wer sollte ihm etwas anhaben können, unter Wasser und im Inneren einer bionetischen Qualle? War das etwa nur ein erneuter Versuch, ihn von seiner Mission abzuhalten …? Nein. Das würde er nicht wagen. Quart'ol tauchte knapp unter der Wasseroberfläche. Weil er mit der Strömung schwamm, kam er schneller voran als zuvor flussaufwärts. Und bald hörte er lautes Rufen. Menschliche Stimmen! Der Schock presste ihm die Kiemen zusammen. Wenn Menschen ihn file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (22 von 54)02.01.2005 11:05:00
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angegriffen haben … Quart'ol wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Sofort tauchte er tiefer und strebte das Ufer an. Instinktiv wählte er das südliche. Dort gab es nach seinen Informationen mehr Wald als Ruinen. Menschen lebten in Ruinen. Bauch, Knie und Beinflossen berührten Schlamm. Schilfrohr stand im seichten Uferwasser. Quart'ol tauchte auf. Vor ihm, vielleicht hundertfünfzig Meter entfernt, sah er Teile einer Brückenruine. Die Trümmer, die wir überquert haben … Auf einem von Wasser umspülten Steinsockel, fast mitten im Fluss stand einer und winkte und rief. In den Ruinen des teilweise erhaltenen Brückenanfangs auf seiner, der linken Uferseite entdeckte Quart'ol ebenfalls menschliche Gestalten. Er erkannte Speere, Bögen und Äxte, er sah Wildledermäntel, Barte und stark behaarte Schädel - und das Netz. Es straffte sich über den Wogen, weil sie daran zogen. Ein grobmaschiges Ding. Quart'ol fragte sich unwillkürlich, welche Fische in diesem Fluss so groß waren, dass man mit einem derartigen Riesennetz zu Werk gehen musste. 27 Zwanzig oder dreißig Meter vom Ufer entfernt wölbte sich etwas unter dem Netz aus dem Wasser. Männer, die Quart'ol wegen des Schilfs und des Gestrüpps auf der Böschung nicht sehen konnte, riefen laut. Das Netz bewegte sich, rückte Zentimeter um Zentimeter dem Ufer entgegen. Etwas zappelte darin. Quart'ol tauchte ins Wasser, schwamm durch Schlamm, Schilf und Seegras ein Stück der Brückenruine entgegen. Er musste sehen, was sie da in ihrem groben Netz an Land ziehen wollten. Sollten Mer'ols Befürchtungen die Menschen betreffend wahr geworden sein? Als Quart'ol wieder auftauchte, wusste er es besser: Der Quallenrücken wölbte sich unter dem Netz. Eine Flossenkammlänge schaute er schon aus dem Wasser. Aus seiner Mitte ragte ein silbriger Stab. Konnte es sein, dass Mer'ol sich verteidigte? Und zwischen dem Quallenkörper und dem Netz zappelten zwei oder drei Riesenkröten, den weitaus größeren Teil ihrer Schuppenleiber noch unter Wasser. Doch Quart'ol konnte sehen, wie sie ihre Schädel hin und her warfen, wie ihre Flossenklauen an den Netztauen zerrten und wie die Zungen aus ihren Rachen schossen. Die Qualle, mehr als zwölf Mal so groß wie eine der Riesenkröten, bebte im Rhythmus der menschlichen Schreie. Tatsächlich: Sie schrien rhythmisch. Alles sprach dafür, dass sie versuchten, die Transportqualle samt Mer'ol aus dem Wasser zu zerren. Kein einfaches Unternehmen. Sicher siebzig oder achtzig Mal so schwer wie die Riesenkröten, blähte und streckte sie sich und stieß Wasserfontänen Richtung Ufer aus. Mer'ol versuchte wohl gegen den Zug der Männer am Ufer anzuschwimmen. Demnach war er noch handlungsfähig. Einen Menschen sah Quart'ol im ufernahen Schilf stehen, einen hochgewachsenen Mann mit einem mächtigen Körper. Er erinnerte sich an Berichte der Beobachter, in denen die Menschen der Siedlungen entlang der Flussruinen beschrieben worden waren. Sie nannten sich Lords. Drei oder vier Stämme mussten hier leben, in den Wäldern um das zerstörte London herum oder in den Ruinen selbst. Ihre Häuptlinge nannten sich »Grandlords«. Quart'ol griff nach seinem Blitzstab und fuhr ihn aus. Doch als er die Bogenschützen im Schilfrohr und in der Brückenruine entdeckte, zögerte er. Plötzlich fiel ihm die übersinnliche Fähigkeit ein, die fünfhundert Jahre Mutation den Lords beschert hatte: Sie konnten in die Zukunft sehen, wenn auch nur eine kurze Zeitspanne. Zwei oder drei Pfeilen konnte er vielleicht ausweichen, wenn er angriff, der vierte oder spätestens fünfte würde ihn treffen. Dann mussten sie beide sterben. Und Maddrax' Bitte würde unerhört bleiben. Nein. Er steckte den Blitzstab zurück unter den Bauchpanzer und konzentrierte sich auf seinen Gefährten. Halt durch, Mer'ol, halt durch, ich hole Hilfe … Er tauchte ein und schwamm flussaufwärts. Alle Kraft, die er hatte, mobilisierte er. Und bei jedem file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (23 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Schwimmstoß konzentrierte er sich auf den Mann, den er suchte: Dave McKenzie, wo bist du? Höre mich, Dave McKenzie, wo bist du …? * Der Eklat traf die Sitzung aus heiterem Himmel und sprengte sie letztendlich. Jeder gestikulierte, tuschelte oder versuchte sich durch lautes Rufen Gehör zu verschaffen. Bald redeten alle durcheinander, Sokrates am lautesten. Rulfan starrte den blonden Mann auf dem Monitor an. Darauf war er nicht gefasst gewesen. Nicht darauf, den Mann zu sehen, dessen Gefährtin er über alles begehrte und liebte. Eigentlich hatte er ihn niemals Wiedersehen wollen. »Spleeniges Volk, diese Briten«, raunte ihm Dave von der Seite zu. Der Professor schien die Sache von der heiteren Seite zu sehen. Die Prime erhob ihre Stimme. »Jeder hier hat das Recht, sich einen E-Butler nach seinem Geschmack programmieren zu lassen!« Josephine Warrington schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wir ertragen seit Jahren Ihren Philosophenfake, Sir Jefferson!«, hielt sie den Einwänden Jefferson Winters entgegen. »Und ich kann mir bei aller Fantasie nicht vorstellen, dass der Commander auch nur annähernd so unverschämt auftreten wird wie dieser stupsnasige, arrogante Prolet!« »Wen hier wunderts, wenn ausgerechnet Sie dieses blonde Mannsbild begrüßen!«, fauchte Sokrates anstelle seines Herrn zurück. »Jeder hier weiß doch, warum sie sich diesen hirnlosen, halbnackten Herkules basteln ließen! Pure Geilheit …!« »Reiß dich zusammen, Sokrates!«, donnerte Jefferson Winter, ein Mann, der sonst eher durch aristokratische Zurückhaltung auffiel. »Das geht zu weit!« General Yoshiros Stimme überschlug sich. »Wer die Prime beleidigt, beleidigt die gesamte Regierung!« »Abschalten!«, verlangte Ibrahim Fahka. Der schwarzhäutige Octavian der Ingenieurskaste sprang auf und fuchtelte erregt mit den Fäusten. »Ich verlange, dass Sie Ihren E-Butler löschen lassen, Sir Jefferson!« »Es ist unwürdig, noch lebende Personen als Vorlagen für die E-Butler zu wählen!« Leonard Gabriels tiefe Stimme dröhnte von seinem Monitor herab. Er beharrte auf seinem Standpunkt. Neben ihm auf dem Bildschirm tauchte das Gesicht einer Frau mit blonder Perücke auf: General Emily Priden, Militär-Octavian und Sir Jeffersons Frau. Sie konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. »Wir haben euch in London immer gewarnt!«, rief sie. »Man darf E-Butlern keine eigene Persönlichkeit zugestehen!« »Man sollte Menschen keine eigene Persönlichkeit zugestehen!«, blaffte Sokrates von seinem Monitor zu ihrem hinüber. »Du siehst doch, wohin das führt! Oder hast du keine Augen im Kopf?« Die Prime war sprachlos. Mit rotem Gesicht hockte sie zusammengesunken auf ihrem Stuhl, bohrte sich die Nägel in die Handballen und rang um ihre Sprache. »Ich verlange Auskunft über das Schicksal meines Kollegen Micky Maus!«, rief Sokrates in das Durcheinander hinein, und Jefferson Winter wandte sich direkt an die Königin, die seit dem Auftritt ihres neuen E-Butlers noch kein Wort gesagt hatte. »Bei allem Respekt, Eure Majestät, aber ich muss Sir Leonard entschieden beipflichten! Stellen Sie sich vor, wie das auf Commander Drax' Gefährten wirken muss! Oder stellen Sie sich vor, er persönlich säße jetzt hier …!« Dave McKenzie … Eine Stimme formulierte seinen eigenen Namen in David McKenzies Kopf. Nachwirkungen seines Erschöpfungszustandes? Vielleicht hatte er es sich auch nur eingebildet. »Er würde sich hoffentlich geschmeichelt fühlen!«, zeterte General Charles Draken Yoshiro. »Jeder file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (24 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Soldat sollte sich geschmeichelt fühlen, wenn seine Königin ihn …« »Ich verlange Auskunft über das Schicksal meines Kollegen Micky Maus!« Rulfan stand auf. »Gehen wir, Dave. Was geht uns dieses Palaver an?« Dave war hin und her gerissen. Auf keinen Fall wollte er Victoria vor den Kopf stoßen. Und da war sie wieder, die Stimme in seinem Kopf: Dave McKenzie, wo bist du? Verwirrt blickte er sich um. Sollten die Monate im Glastank sein Nervenkostüm bleibend geschädigt haben? »Moment!«, rief Queen Victoria II. »Ich allein entscheide über Aussehen und Geschlecht meines EButlers!« Schneidend scharf klang ihre Stimme, und augenblicklich legte sich der Tumult. »Diese Maus war viel zu lange königlicher E-Butler! Ab sofort ist er es!« Sie deutete auf den virtuellen Drax. »Sie sprechen Ihn bitte mit ›Commander‹ an, Ladies und Gentlemen! Und jetzt verlange ich die Fortsetzung dieser wichtigen Regierungssitzung!« »Und ich verlange Aufklärung über Mickys Schicksal!« Sokrates verschränkte die Arme vor der Brust und hob seine Stupsnase noch um eine Spur höher. Die Queen stand auf und ging bis zu der Stelle der Kuppelwand, wo Sokrates auf seinem Bildschirm stand, als wollte er nie wieder weichen. Breitbeinig und die Hände in die Hüften gestemmt blieb sie vor ihm stehen. »Gelöscht!«, zischte sie. Sokrates Augen wurden schmal. »Mord«, erwiderte er. »Das ist vorsätzlicher Mord! Auch eine Queen untersteht Recht und Gesetz, schätze ich mal …« »Verzeihen Sie, Eure Majestät.« Anthony Hawkins, der Chef-Bioinformatiker, meldete sich zaghaft zu Wort. »Er wird spätestens nach Ende der Sitzung gelöscht.« Die Queen wirbelte herum. »Was soll das heißen? Hatte ich nicht den Befehl gegeben, ihn noch vor der Präsentation meines neuen E-Butlers zu löschen?« »Sicher, Eure Majestät, sicher, nur …« Der Wissenschafts-Octavian hob beschwichtigend beide Hände. »Die Löschung des Programms gestaltet sich schwieriger als erwartet. ›Micky Maus‹ hat im Lauf der Jahre derart viele Unterverzeichnisse und - programme gebildet, dass … nun ja … offen gestanden, das Programm hat sich in die Tiefen der Zentral-Helix geflüchtet. Aber keine Sorge, meine Leute arbeiten an dem Problem …« »Ungeheuerlich«, flüsterte die Prime. »Ich verlange, dass das sogenannte Problem in spätestens drei Stunden gelöst ist, Sir Anthony!« Die Queen drehte sich wieder zur Kuppelwand um, ihr ausgestreckter Zeigefinger stach nach Sokrates. »Und dieses Problem gleich mit!« Sie stelzte zurück zu ihrem Platz. »Haben Sie mich verstanden, Sir Jefferson? Ich verlange, dass Sie sich einen neuen E-Butler programmieren lassen. Und nun fahren wir fort!« »Wir haben verstanden«, sagte Sokrates gedehnt. Ein mitleidiges Lächeln umspielte seine dicken Lippen. Dann verblasste sein Monitor. Rulfan und der fette Fakah setzten sich wieder; mit heiserer Stimme erteilte die Prime dem neuen königlichen E-Butler das Wort. »Bitte, Commander.« »Unsere Einschätzung dar Erfolgswahrscheinlichkeit einer zweiten Expedition: unter vierzig Prozent.« Rulfan und Dave glaubten nicht recht zu hören - bis auf die um eine Nuance monotonere Sprachmelodie und einen leicht affektierten Tonfall klang die Stimme des E-Butlers wie Matthew Drax' Stimme. »Mit dieser Einschätzung bewegen wir uns eher auf der Linie von Sir Anthony Hawkins und seinem E-Butler Bruder Francis Bacon. Die Feindseligkeit des sogenannten Weltrates - und auch darin bestätigt uns leider die Zentral-Helix - beurteilen wir allerdings als wesentlich virulenter. Unsere Prognose: Man würde eine diplomatische Delegation von London und Salisbury inhaftieren und illegitimer Verhörmethoden unterziehen …« file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (25 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Alle hörten dem Commander aufmerksam zu. Alle bis auf Rulfan und Dave. Der Albino dachte an Aruula und Dave an seine letzte Begegnung mit Matthew Drax. Der auf dem Bildschirm war nur ein schlechtes Abziehbild seines Originals. Je länger er redete, desto sicherer glaubte Dave das zu wissen. Er würde unter vier Augen mit Victoria reden müssen … Dave McKenzie … wo bist du …? »Was ist los?«, wandte er sich flüsternd an Rulfan. Der sah ihn nur verständnislos an. Deutlich spürte Dave den Nachhall der Stimme in seinem Kopf. Eine Stimme, die nicht zu seinem eigenen psychischen Inventar gehörte. Die Stimme des königlichen E-Butlers verdrängte den unerklärlichen Eindruck »… unser Vorschlag: Generalüberholung des Luftkissenbootes, Verladung von drei EWATs, Aufbruch noch vor dem Winter. Die EWATs dienen als Unterkünfte einer Militäreinheit und nach Landung in Washington als Druckmittel gegen die dortige Regierung.« Der virtuelle Drax schlug seine rechte Faust in die linke Hand. »Und notfalls holen wir uns das Serum mit militärischer Gewalt …« »Vorausgesetzt natürlich, Rulfan und Professor McKenzie erklären sich einverstanden«, schob die Queen hinterher. Dave rang um seine Fassung, und Rulfan sagte »nein«. Einfach nur »nein«. Schlagartig wurde es dunkel im Kuppelsaal. Rose McMillan stieß einen spitzen Schrei aus! Sogar der Monitor mit Gabriels und Pridens Konterfei war erloschen. »Was soll das?«, blaffte die Prime. Und dann schlugen Flammen aus einem Wald. Die ganze Kuppelwand loderte von Feuer, überall Rauch, Glut und Flammenschein, man hörte es knistern und knacken. »Wer hat einen Panoramawechsel angeordnet?« Diesmal schlug Josephine Warrington mit der Faust auf den Tisch. »Bitte nicht«, hörte Dave Sir Anthony stöhnen, und dann leuchtete ein kleiner runder Monitor in den Flammen auf. Man sah nur Sokrates' rundes, stupsnasiges Gesicht. »Unsere Forderungen: Micky wird wieder in sein Amt eingesetzt und der Befehl zu meiner Löschung zurückgezogen. Unser Ultimatum: Zwölf Stunden von dieser Sekunde an. Unsere Drohung: Wir legen diesen ganzen Scheißladen lahm …« * »Issen vadammt schweas Vieh issit …« Die Zugseile um Körper und Arme gewickelt, die Stiefel in den Schlamm gestemmt, lagen oder saßen inzwischen zehn Lords im Schilf. Das volle Netz wollte und wollte sich nicht ans Ufer ziehen lassen. »Iswiaklich vadammt schwea …« Mit dem Arm wischte Paacivals Ältester sich den Schweiß aus dem Gesicht. Alle Augen waren auf den Grandlord gerichtet. Der wandte sich von seinen Jägern ab und blickte auf den Fluss hinaus. Etwa neun Speerlängen entfernt im flachen Uferwasser zuckte und pulsierte die Riesenbeute unter dem Netz. Zwischen ihrem Körper und den Maschen eingeklemmt zappelten drei Kwötschis. »Weilde nich auf mich höast«, schimpfte der Druud. Neben Paacival her watete er in den Fluss. »Wenn Oaguudoo Ganzmond sagt, meinta Ganzmond.« Drei Speerlängen vor dem Ding blieben sie stehen. Dem Grandlord reichte das Wasser bis über die Knie, dem Druud bis knapp unter die Hüften. »Sinne nuanoch n paa Stund.« Alizan legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in den Grauhimmel. Im Westen mischte sich ein roter Schimmer ins Grau. Erste Anzeichen der Dämmerung. »Watste solang, isset deine Beute, watste nich, isse wech. Un Oaguudoo is stinksaua.« Einen halben Speerwurf flussabwärts, kurz vor der Brückenruine sprangen Djeyms und seine drei Jagdgefährten ins Uferwasser. Sie schoben ihr vollgeladenes Floß ins Schilf. Vollgeladen mit toten Kwötschis. Paacival schaukelte noch ein paar Schritte weiter ins Wasser hinein. Misstrauisch und neugierig file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (26 von 54)02.01.2005 11:05:00
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zugleich beäugte er das quallige, milchige Ding unter den Netzmaschen. Größer als seine Hütte war es, und als Grandlord besaß er die größte Hütte im Dorf. Etwa eine Speerlänge hoch wölbte es sich inzwischen aus dem Wasser. Mehr als die Hälfte seiner Masse zuckte noch unter der Flussoberfläche. Das Ding pumpte sich voller Wasser und stieß es durch eine Öffnung an der Vorderseite so schwallartig wieder aus, dass Paacival und Alizan in kürzester Zeit nass bis auf die Haut waren. Und jeder Wasserstrahl bewegte es mindestens fünf Handbreiten zurück in den Fluss. Aus seinem Rücken ragte ein silberner Stab, in seinem Inneren konnte Paacival ein matten grünen Schimmer ausmachen und die Konturen einer Gestalt, jedenfalls ihres Oberkörpers; nicht besonders groß, wie ein Halbwüchsiger vielleicht, oder wie ein junger Kwötschi. Sollte das Ding etwa eine Art RiesenKwötschi-Ei sein? Doch was bedeutete dann der seltsame Stab? Die eingeklemmten Kwötschis zappelten heftiger. Es war, als kehrte das Leben in sie zurück. Wieder füllte und streckte sich das halb durchsichtige Riesending, wieder stieß es einen Wasserstrahl aus, und wieder flutschte es ein Stück vom Ufer weg, diesmal fast eine halbe Speerlänge weit. Paacival drehte sich nach den Jägern an den Zugseilen um. »Ziehn! Los! Kwäftig ziehn!« Das rhythmische Geschrei erhob sich wieder aus dem Schilf, die Zugseile strafften sich erneut und hoben sich aus dem Wasser. In der Schilfböschung tauchten Djeyms, Touny und die beiden Bogenschützen auf. Nass waren sie, und Djeyms keuchte atemlos; aber er strahlte über sein ganzes gelbes Gesicht. »Fünf!«, rief er und hob die gespreizte Rechte. »Fünf tote Kwötschis hamma ausm Flusseholt! Und viea müssenma noch holn!« »Waan schon tot, alse aufetaucht sin!« Paacival winkte ab. »Machnix. Bleibse twozdem Bigload. Un Touny is nun auche Bigload.« Er deutete auf die gigantische Beute. »Kwötschis totmache.« Der Druud jammerte schon wieder, während die Bogenschützen Pfeile in die Sehen legten, ihre Bögen spannten und sie abschossen. Jeder Schuss traf. Handbreite um Handbreite bewegte sich das gefangene Ding jetzt wieder aufs Ufer zu. »Waaum watste nich aufn Ganzmond?«, zeterte Alizan. »Wiasse noch weinen, wenne nich aufn Oaguudoo höast.« Nicht, dass der Grandlord Orguudoo nicht fürchtete, aber im Augenblick war seine Neugier größer als seine Angst. Er schlug einen Bogen um das glitschige Riesen-Ding und näherte sich ihm von der Seite. Es blähte und streckte sich jetzt schneller, blies häufiger seine Wasserfontäne aus, als wollte es sich der Kraft von inzwischen zehn starken Lords entgegenstemmen. Doch Paacival machte sich nichts vor: Selbst sie würden es nicht schaffen, die Riesen-Beute zu bergen. Die Gestalt im Inneren des Dings bewegte sich. »Bwingt Schweata un Äxte«, rief er Djeyms Truppe zu. Die Männer liefen zum ersten Landungsplatz, wo sie das Material von den Flößen geladen hatten. »Das machse nich!« Der Druud raffte seinen langen Pelzmantel bis zur Hüfte hinauf. Wie ein langbeiniger Wasservogel stelzte er am Grandlord vorbei und stellte sich zwischen ihn und die Beute. »Du watst bisse Ganzmond kommt. Sons muss dian neue Dwuud suche!« Der Grandlord blickte in den Himmel. Dunkelgrau von der herannahenden Nacht war er bereits. »Iss vielleicht schonda, de Ganzmond, un wia sehn'en nua nich.« Djeyms, Touny und die Bogenschützen kamen zurück, bewaffnet mit Schwertern und langstieligen Äxten. »Halt!«, brüllte Paacival Richtung Schilf. Das rhythmische Geschrei verstummt, die Zugseile versanken wieder im Fluss. Der Grandlord deutete auf das rätselhafte Riesending. »Schlachte …« *
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Er rief ihn unablässig. Dave McKenzie, wo bist du? Höre mich, Dave McKenzie, wo bist du …? Zwischendurch tauchte er auf, um sich zu orientieren. Es wurde allmählich dunkel. Dennoch erkannte Quart'ol einige hundert Meter flussaufwärts die schwarzen Fassaden eines ausgedehnten Ruinenkomplexes. Und davor am Themseufer etwas, das von fern wie ein Schiff aussah, bei näherem Hinsehen aber auf Gummiwülsten ruhte. Quart'ol hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Ob McKenzie mit diesem seltsamen Gefährt aus Meeraka gekommen war? Weiter. Er tauchte unter, schwamm flussaufwärts und sandte seine mentalen Botschaften aus. Dave McKenzie … höre mich, Dave McKenzie, wo bist du …? Sein Herz klopfte, wenn er an Mer'ol dachte. Würde der durchhalten? Viel Zeit blieb nicht mehr. Dave McKenzie, höre mich, Dave McKenzie … Und wenn nun dieser McKenzie gar nicht mehr empfänglich war für hydritische Gedankenmuster? Sicher: Er hatte Tage in unmittelbarer Nähe des Hydriten Nag'or verbracht, gefangen in einer Glasröhre. Sicher: Nag'or hatte seinen Geist durchforstet und eine Matrize davon auf einen anderen Menschen übertragen. Aber was sprach eigentlich dafür, dass McKenzie bereits dadurch für hydritische Mentalströme sensibilisiert worden war? Doch nichts als eine Theorie, oder? Nein, mehr als eine Theorie. Schließlich war auch Matthew Drax, der Mann, in dem Quart'ols Geist eine Zeitlang gelebt hatte, empfänglich für mentale Botschaften geworden. Aber waren die beiden Fälle wirklich vergleichbar? Dave McKenzie … wo bist du …? Quart'ol erreichte das Schiff. Während er über eine Außenbordsprosse an der Bordwand hinaufkletterte, versuchte er Maddrax' Erinnerungen über diesen Schiffstyp zu aktivieren und über die Epoche, in der die Menschen solche Schiffe bauten. Ein Luftkissenboot, zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts… Es fühlte sich merkwürdig an, aus den Erinnerungen eines Anderen zu schöpfen. Aber es war zweifellos nützlich, um die Welt der Menschen besser zu verstehen. Unschlüssig stand Quart'ol auf dem Dach des Schiffes und sah sich um. Auf der mittleren Querstange des Positionslichtmastes saß einer dieser großen Rabenvögel, die er schon öfter an der Küste beobachtet hat. »Kolk« nannten ihn die Eingeborenen. Der Rabe beäugte ihn aufmerksam. Dave McKenzie … höre mich … Selbst wenn er seine Mentalsignale empfangen konnte - wie sollte er antworten? Er konnte doch selbst keine aussenden, oder? Quart'ol kauerte vor der Tür zur Kommandobrücke. Sorgfältig suchte sein Geist die Unterdecks nach Spuren menschlicher Gedanken ab. Nichts. Er kletterte auf das Dach der Kommandobrücke, fasste jedes Fenster, jede Mauerlücke des schwarzen Ruinenkomplexes ins Auge - ein ehemaliger Regierungspalast, wenn er sich recht erinnerte. Über ihm kreiste der Kolk. Dave McKenzie, mach dich auf den Weg! Höre mich, Dave McKenzie, komm her zu mir …! Das Schiff! Wenn er nun einfach den Motor startete und einen Diebstahl vortäuschte? Aber dann würde unter Umständen nicht nur McKenzie, sondern auch andere Vertreter seiner kriegerischen Rasse auf ihn aufmerksam werden … * Kein Blut strömte durch seine Adern, sondern die Ahnung kommender Gewalt. Keine Gedanken
wuchsen in seinen Kopf, sondern zunehmende Verwirrung.
Verzweifelt hing Mer'ol in der Qualle. Dass sie noch Wasser ansaugte und ausspie, war Reflex,
weiter nichts; Reaktion auf seine letzten mentalen Befehle. Nur wenn er spürte, wie die Qualle sich
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bewegte, weil die Untiere von außen an ihr zerrten, schoss sein Hirn ein paar Impulse ab, und das milchige Gewebe um ihn herum schwoll und streckte sich rascher. Der Wasserspiegel schwappte außerhalb der Qualle in der Höhe von Mer'ols Brust auf und ab. Ein Stück entfernt sah er die massige Gestalt eines Menschen im Wasser stehen. Sie würden ihn töten, Mer'ol war ganz sicher. Oder noch schlimmer: Sie würden ihn einsperren und seine geistigen Fähigkeiten missbrauchen, so wie damals Nag'or. Er starrte zur Gewebedecke über sich. Der Griff seines Blitzstabs ragte dort noch immer in den Hohlraum hinein; und außerhalb aus dem Gewebe hinaus. Wehr dich, sagte eine Stimme in ihm. Und eine andere: Es hat keinen Sinn. Sie sind zu viele. Wie um seine Gedanken zu bestätigen, wateten plötzlich vier weitere Gestalten durch das Wasser auf die Qualle zu. Im Wasser sah er verschwommen ihre Beine, über dem Wasserspiegel ihre Oberkörper und Arme. Sie trugen Waffen bei sich, Äxte und Schwerter. Bald stießen sie sich vom Flussgrund ab, tauchten bis auf den Kopf ins Wasser, schwammen zur Qualle und kletterten an den Netzfasern auf ihren Rücken hinauf. Mer'ol blickte nach oben. Deutlich konnte er ihre Stiefelsohlen, die Abdrücke ihrer Knie, ihre Handflächen erkennen. Einer richtete sich auf, holte aus, und ein Schlag ließ die Qualle erbeben und zucken, und wieder ein Schlag und dann drei kurz nacheinander. Endlich begriff Mer'ol das Unfassbare: Sie hieben mit Äxten und Schwertern auf das Gewebe der Qualle ein und brachten sie damit um! Der Schock löste ihm Zunge und Glieder. Er schrie, schlug um sich, und ein Gewitter von Bildern und Gedanken tobte durch sein Hirn … * Keine Diskussion, kein Protokoll, kein Beschluss, keine neue Terminvereinbarung - die Regierungssitzung verlief einfach im Sande. Oder im Chaos, um es präziser zu sagen. Sir Anthony Hawkins flüchtete in sein Zentrallabor, wo er sämtliche Bioinformatiker der Community zusammentrommeln ließ. Das musste er persönlich tun, denn Francis Bacon, sein E-Butler, meldete sich nicht mehr. Sir Ibrahim Fahka und Valery Heath, Octavian für Außenbeziehungen, versuchten die Verbindung zu Salisbury wieder herzustellen, aber es gelang ihnen nicht einmal, ihre E-Butler zu rufen. Dünen und ausgedehnte Sandflächen umgaben das Kuppelpanorama. Ein Sandsturm schleuderte entwurzelte Palmen, tote Kamele und menschliche Gerippe durch die Luft und trieb riesige Staubwolken vor sich her. General Charles Draken Yoshiro rannte aus dem Kabinettsaal, um die Community-Forces persönlich in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen, denn auch seine hübsche japanische E-Butlerin zeigte sich auf keinem Monitor mehr. Rose McMillan und Queen Victoria II. versuchten die völlig aufgelöste Prime zu trösten, wobei Lady Rose sich nicht verkneifen konnte, der Queen ein paar kritische Töne ins Ohr zu flöten. Das führte schnell zu einem hitzigen Streitgespräch zwischen Königin und Octavian für Frauen, Kinder und Fortpflanzung, worüber beide die schwer gekränkte Prime vergaßen und diese sich ihrer Selbstbeherrschung und Pflichten erinnerte. Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und rief mit heiserer und müder Stimme: »Ladys und Gentlemen, halten Sie sich bereit! Ihre Majestät und ich lassen Sie in wenigen Stunden …« Sie merkte selbst, dass ihr niemand mehr zuhörte. Josephine Warrington schloss die Augen und verstummte. Nur wie durch Milchglas nahm Dave das Durcheinander wahr. Die Stimme in seinem Kopf fesselte file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (29 von 54)02.01.2005 11:05:00
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seine Aufmerksamkeit. Dave McKenzie, höre mich, Dave McKenzie … Rulfan zog ihn hinter sich her aus dem Kuppelsaal. Auf dem Gang stolperte er an Jefferson Winter vorbei, der dort mit den Fäusten gegen virtuellen Ölporträts trommelte und nach Sokrates rief. Auf den Porträts schmollten jetzt die Mienen Mickys und Sokrates'. Immer abwechselnd: Ein Porträt zeigte Micky, das nächste Sokrates, dann wieder Micky und so weiter. Dave McKenzie, ich muss mit dir reden … »Jesus …!« Das passte zu dem ganzen Wahnsinn. Dave schüttelte den Kopf unter seinem Helm.
»Jesus Christus …!«
»Was ist mit dir?« Rulfan musterte Dave McKenzie besorgt. »Du torkelst, als hättest du Coelsch
getrunken.«
»Coelsch? Keine Ahnung. Ich glaub, mein Verstand packt die Koffer.« Mit der flachen Hand schlug
er sich gegen den Klarsichthelm. »Da ist eine Stimme in meinem Kopf.«
»Bist du sicher?«
»Natürlich nicht.«
Sie betraten die Octaviats-Arena. Gut drei Dutzend Technos hatten sich vor dem Portal versammelt.
Sie fragten nach der Queen und der Prime. Mit dem Daumen deutete Rulfan stumm über die
Schulter. Er drängte sich durch die anwachsende Menge. »Dieser ausgeflippte Datensatz scheint auch
in anderen Teilen des Bunkers schon Aufruhr zu stiften«, sagte Dave. »Unfassbar …«
Dave McKenzie, komm zu mir … Rulfan schien etwas Wichtiges im Kabinetts-Saal vergessen zu haben. Jedenfalls blieb er abrupt stehen, und Dave lief gegen seinen Rücken. »Was ist jetzt schon wieder …?« Der Albino betrachtete die Kuppelwand der riesigen Arena. Noch immer war Londons Regierungsviertel aus den goldenen Zeiten vor »Christopher-Floyd« zu sehen, nur schien es jetzt zu hageln; oder nein: es schneite … Dave sah genauer hin. Tatsächlich, es schneite. Aber kein Schnee rieselte da aus dem noch immer strahlenden Blauhimmel, sondern dichte Wolken weißen Konfettis. Dutzende von Menschen bevölkerten den Parliament Square und die Bridge Street. Nackte Menschen! Sie liefen mit ausgebreiteten Armen aufeinander zu, oder sie rannten hintereinander her und fingen sich. Sie wälzten sich auf dem Rasen unter den Bäumen vor der St. Margaret's Church, sie lagen im Gras auf dem Parliament Square oder unter den Platanen entlang der Uferpromenade. Und was taten sie? Nun ja, was taten sie schon …? Jedenfalls standen an die Hundert bunt gekleideter Technos rund um das Kuppelpanorama und konnten sich nicht satt sehen, darunter zwei Dutzend Halbwüchsige. Alle beobachteten sie, was die virtuellen Nackten so taten, und wie sie es taten. Einige Community-Mitglieder schimpften und riefen nach der Prime, der Queen und vor allem nach dem Chef-Bioinformatiker. Die weitaus meisten aber genossen still, wiesen sich allenfalls tuschelnd auf besonders akrobatische Leistungen einiger virtueller Liebender hin. Es gab auch virtuelle Zuschauer. Mitten auf dem Rasen des Parliament Square wölbte sich eine Glasglocke. Unter ihr drückten sich ein paar mehr oder weniger bekleidete Gestalten die Nasen platt. Dave erkannte Herkules, den Mönch Francis Bacon und einen blonden Mann im hellen Sommeranzug: den neuen königlichen E-Butler. »Alle Achtung«, sagte Rulfan, »nicht schlecht.« Schwer zu sagen, was genau er bewunderte. Er zog Dave quer durch die Halle und in einen der vier Hauptgänge hinein. Hier tobte der Wüstensturm auf den Wänden. Rulfan blieb stehen, fasste Dave an den Schultern und drückte ihn gegen die Titanglaswand. Hinter ihm schüttelte der Wind das Gerippe eines Kamels durch. »Was für eine file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (30 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Stimme?«
»Wenn ich das wüsste …«
»Was sagt sie?«
»Sie ruft meinen Namen, sie will mit mir reden … Gott …« Dave winkte ab. »Vergiss es, ich werde
wahnsinnig, weiter nichts.«
Rulfan packte fester zu. »Konzentrier dich. Und wenn du sie wieder hörst, antworte.«
»Antworten? Was soll ich antworten? Ich weiß doch nicht mal, wer mich da ruft, falls es nicht meine
eigenen Phantome sind …«
»Konzentrier dich.« Dave schloss die Augen. Er lauschte in sich hinein. Die Angst in eine Psychose
zu rutschen, überfiel ihn plötzlich. »Lass dich fallen.« Rulfan spürte, wie der Professor aus der
Vergangenheit sich verkrampfte. »Atme tief durch und lass dich fallen.« Dave tat, was er sagte.
Während er bewusst einund ausatmete, überwand er seinen Widerstand gegen das Fremde in seinem
Kopf; und dann hörte er es wieder raunen.
Dave McKenzie … »Da ist es wieder …« Dave flüsterte, als wollte er die Stimme nicht weiter auf sich aufmerksam
machen. »Etwas ruft meinen Namen.« Er schlug die Augen auf.
»Weiche nicht zurück, lass dich fallen, antworte.« Rulfan hielt ihn fest. Seine roten Augen funkelten
entschlossen, und Dave kam es vor, als würde die Entschlossenheit und Kraft des Albinos durch
dessen Hände in seine Schultern und seine Brust strömen. Er nickte, schloss die Augen und lauschte.
Dave McKenzie … ich habe eine Botschaftfür dich, melde dich …
»Hier bin ich«, murmelte Dave. »Was für eine Botschaft …? Wer bist du …?« Quart'ol …
Dave zuckte zusammen. Er stieß Rulfans Hände weg; kalter Schweiß brach ihm aus. Auf einmal
glaubte er wieder in jenem zylindrischen Glastank voller gelblicher Flüssigkeit zu schweben.
Platzangst überfiel ihn, er wollte wegrennen.
Rulfan hielt ihn fest. »Was ist los?«
»Hydriten«, krächzte Dave. Der Albino runzelte die Stirn. »Ein Fischmensch wie der, der mein
Bewusstsein kopiert hat …!« Plötzlich flog sein Atem, und er sah sich um, als würden seine Häscher
ihn umzingeln.
»Ganz ruhig.« Rulfan zog ihn an sich heran. »Die Sache ist vorbei, hörst du? Ein für allemal erledigt.
Tief durchatmen. Ich bin bei dir, nichts kann dir geschehen. Immer weiter atmen. Du bist gesund, du
bist stark …«
Dave lehnte sich an die Schulter des Älteren, atmete, lauschte seinen Suggestionen. Das Dröhnen
seines Pulses zog sich aus seinen Schläfen und der Kehle zurück. »Es geht wieder, nur eine kleine
Angstattacke. Monatelang diese Enge, verstehst du?«
»Ja, ich verstehe.« Rulfan ließ ihn los. »Diese Wesen sind friedlich, das hast du doch selbst erzählt.
Wenn sie deinen Namen kennen, müssen sie dich kennen. Wenn sie ihn mental aussenden, müssen
sie in der Nähe sein.«
An einer Beintasche seines Schutzanzuges zog er einen Reißverschluss auf. Er kramte eine runde,
handtellergroße Scheibe aus der Tasche, die mattsilbrig glänzte. Rulfan drückte sie gegen die
Titanglaswand, wo sie haften blieb. Seine Fingerkuppen glitten über die Tasten, die in ihrem Rand
eingelassen waren. Symbole und Zahlen erschienen auf ihrer glänzenden Oberfläche.
»Was ist das?«, wollte Dave wissen.
»Ein ATC.« Rulfan schob die Scheibe über die Wand. Der Wüstensturm schien von innen Sand
dagegen zu blasen. Sogar das Prasseln der Sandkörner konnte man hören. »Ein Autonomer Trilithium
Computer. Mit ihm kann ich Kontakt zur Zentral-Helix einer Community herstellen, wenn ich das
Password kenne und mir die CF-Strahlung keinen Strich durch die Rechnung macht. Er funktioniert
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aber auch völlig autonom. Mein Vater hat mir zwei davon überlassen. Einen sterilisierten, der meistens in diesem Schutzanzug steckt, und einen für den Gebrauch außerhalb der Bunker.« Plötzlich öffnete sich ein paar Schritte, weiter ein ovales Portal in der Wand. »Warst du das?«, fragte Dave. Rulfan nickte. »Komm.« Er zog den Wissenschaftler mit sich. Sie betraten die Wohnkuppel eines Technos. »Niemand zu Hause.« Die Männer schlüpften in den Raum, die Tür schloss sich wieder. Rulfan sah sich um. Birkenwald und ein Seeufer füllten das Kuppelpanorama aus. Ein Hirsch stand in der Uferböschung und blickte sich nach ihnen um. »Und du kennst den Zugangscode zur Londoner Zentral-Helix?« Dave konnte es nicht glauben. »Kein Wort, zu niemandem.« Rulfan huschte zu einer Konsole vor der Kuppelwand. Eine durchsichtige Halbkugel - honigmelonengroß - lag auf ihr; darin schwebte eine Spirale in einer klaren Flüssigkeit. Das persönliche Zentral-Helix-Terminal eines Technos. »Nicht einmal mir gegenüber ein Wort.« Rulfan tastete an den Kanten der Konsole nach einem Energieschalter. »Mein Vater hatte ein sehr herzliches Verhältnis zu Roger III.« Rulfan setzte den ATC auf die Halbkugel. Dann beugte er sich darüber und flüsterte: »Steamboat Willy.« Wieder erschienen Symbole und Zahlen auf der Scheibe. »Wie bitte?« Dave fühlte sich auf den Arm genommen. »Roger III. war fanatischer Walt-Disney-Fan. Hat seine Tochter dir das nicht erzählt? ›Steamboat Willy‹ war der Titel des ersten Micky-Maus-Films.« Rulfan tippte auf der seitlichen Tastatur des Autonomen Trilithium Computers herum. Manchmal beugte er sich über ihn und flüsterte merkwürdige Worte auf das Display. »Sein E-Butler kennt das Passwort natürlich. Deswegen wird es ziemlich schwierig, ihn im Bios der Zentral-Helix aufzustöbern.« Bevor Dave die erstaunlichen Neuigkeiten kommentieren konnte, flackerte ein Bildschirm zwischen den Birkenstämmen auf. Das Ende eines Tunnels wurde sichtbar, ein rundes Schott aus silbrig schimmerndem Titanglas: das Hauptportal. Dave hatte es in den letzten Monaten oft passiert. Es lag oberhalb des Bunkersystems am ehemaligen Parlamentarierausgang des Regierungspalastes. Vom Innenschott - dem eigentlichen Bunkerausgang - bis zum Hauptportal hatten die Londoner Technos vor hundertachtzig Jahren einen langen, mit vielen Schleusen versehenen Panzerglastunnel durch die Ruine gezogen. Er war er mit EWATs - Earth-Water-Air-Tanks - befahrbar. Von ihm aus gelangte man auch zum SEF. »Identifizierung«, schnarrte die Stimme des für die Hauptpforte zuständigen E-Butlers. Er gehörte zu der Gruppe von eigenständigen E-Systemen, die nicht in spezifischer Gestalt auftraten. Sein Körper bestand, wenn man so wollte, aus dem Endstück der Tunnelröhre und dem schweren Titanglas-Schott. »Rulfan von Coellen.« Mit einer Kopfbewegung forderte er Dave auf, sich zu identifizieren. »Professor Doktor David McKenzie.« »Was wollen Sie?« Dave hatte die Stimme des Pforten-Butlers irgendwie freundlicher in Erinnerung. »Wir brauchen zunächst Außenaufnahmen«, sagte Rulfan. »Zeigen Sie mir Bilder des Spähers, der mein Luftkissenfahrzeug bewacht.« »Rulfan von Coellen und Professor Doktor David McKenzie!« Ein halb feierlicher, halb drohender Unterton mischte sich jetzt in die Blechstimme des E-Butlers. »Sind Sie dafür, Micky Maus wieder in sein Amt als königlicher E-Butler einzusetzen, oder plädieren sie für die Löschung seines Programms?« Rulfan und Dave wechselten amüsierte Blicke. Dave trat vor den Monitor. »Selbstverständlich sind wir entschieden dafür, Micky seinen Job zurückzugeben!« »Dann können Sie die gewünschten Außenaufnahmen sehen.« Rulfan schüttelte den Kopf. Das Bild auf dem Monitor wechselte. Eine Nachtbildaufnahme wurde file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (32 von 54)02.01.2005 11:05:00
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sichtbar. Außerhalb des Bunkers ging offensichtlich schon der Tag zu Ende. Aus der Vogelperspektive sah man die Themse, Teile der Parlamentsruinen und die Twilight of the Gods. Sie lag nicht am, sondern drehte sich mitten auf dem Fluss um ihre Vertikalachse. »Gott im Himmel!«, rief Dave, und Rulfan stieß einen Fluch in deutscher Sprache aus, den der Professor nicht verstand. Auf den zweiten Blick erst sahen sie die Kreatur: Sie stand auf der Kommandobrücke und blickte konzentrierte in die Ruinen zu beiden Seiten des Ufers. »Was ist das?«, entfuhr es Rulfan. »Ein Fisch auf zwei Beinen?« »Ein Hydrit«, sagte Dave. Rulfan hatte die Fischmenschen nie kennen gelernt. »Ein Angehöriger einer Untersee-Rasse von Lungen-Kiemen-Atmern …« * Der Druud war aus dem Wasser gesprungen, als Paacival Djeyms, Touny und die beiden Littlords auf das quallige Ding geklettert waren. Jetzt stand er im Uferschilf und zeterte. »Issefalsch wasse tust, Oaguudoo isse stinkaua …!«, und so weiter. Der Grandlord hörte nicht zu. Wasser rauschte, wenn das milchige Ding wieder eine Fontäne ausblies, Wasser plätscherte, wenn es erbebte. Die Lords auf seinem Rücken ächzten, wenn sie zum Schlag ausholten; das halbdurchsichtige Fleisch schmatzte, wenn eine Axt oder ein Schwert hineinfuhr. Alizans Stimme war ein Geräusch unter vielen. Der Grandlord wollte wissen, was für eine Gestalt das war, die sich jetzt in dem Riesending aufrichtete, und warum es im Inneren grünlich leuchtete. Durch die hereinbrechende Dunkelheit wirkte das Leuchten jetzt noch intensiver, und man sah die Konturen der Gestalt in seinem Inneren deutlicher. Paacival glaubte Flossen an Armen und Beinen zu erkennen, Flossen sogar auf dem Schädel. Vier oder fünf Risse klafften bereits in dem weichen Fleisch - Paacival wunderte sich gerade, weil kein Blut aus den Wunden quoll, sondern nur ein wenig trüber Schleim -, als plötzlich wurmartige Arme aus dem Rücken des Riesendings fuhren. Gleichzeitig begann es sich hin und her zu wälzen. Die schlaffen Glieder der toten Kwötschis klatschten abwechselnd ins Wasser und gegen den glitschigen Leib des Riesendings. Touny stürzte als erster ins Wasser, einer der beiden Littlords gleich hinterher. Der zweite rutschte zwar ab und ließ seine Axt fallen, konnte sich jedoch in den Netzseilen an der Rumpf seite des Riesendings festklammern. Biglord Djeyms schrie und packte den silbernen Stab, der aus dem Rücken der Beute ragte. »Habichs nichesagt?«, keifte der Druud. »Habichs nichesagt?« Auch die Männer bei den Zugseilen im Schilf schrien durcheinander. Alle waren sie aufgesprungen und stierten in die Dämmerung auf den Fluss. Paacival stand wie festgewachsen. Zwei Tentakel schlangen sich um den Littlord an der Rumpfseite des Riesendings. Er brüllte, als würde man ihm eine Speerspitze im Bauch herumdrehen, Paacival rührte sich endlich. »Wechda!« Schritt für Schritt watete er rückwärts durchs Wasser Richtung Schilf. »Wechda!« »Scheißviechvadammtes!«, brüllte Djeyms. Mit einer Hand hielt er sich an dem Silberstab fest, mit der anderen führte er die Axt. Im Knien drosch er ins schleimige Gewebe rechts und links von sich. »Bisse nochnich tot? Willsse nochmea?« »Wechvonnem Ding!«, rief Paacival. Er stolperte, fiel rücklings ins Wasser und versank. Die Tentakel schnürten dem Littlord Hals und Taille ein, sein Geschrei ging in jämmerliches Krächzen über, er zappelte und wand sich. file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (33 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Prustend tauchte der Grandlord aus dem Wasser auf. Früh genug, um zu sehen - undeutlich, denn es wurde von Atemzug zu Atemzug dunkler -, wie zwei Tentakel blitzschnell aus dem Rücken des Riesendings wuchsen: Eine schlang sich um Djeyms Brust, die andere um seine Axt. »Wech! Wech! Wech!« Der Grandlord rannte ins Schilf. Das Krächzen des eingeschnürten Littlords verwandelte sich in hässliches Geröchel. Es klang, würde er seine Gedärme erbrechen. Touny und der zweite Littlord retteten sich schwimmend ans Ufer. Djeyms strampelte mit den Beinen und schlug mit den Fäusten auf die Tentakel ein. Sie hielten seinen Oberkörper auf dem Rücken des Riesendings fest; seine Beine zappelten schon über dem röchelnden Littlord. Auf einmal neigte sich der Silberstab in seine Richtung. Die Männer im Schilf und am Ufer beobachteten es mit offenen Mündern und angehaltenem Atem. Ein blauweißer Blitz zuckte aus dem Rohr, hüllte Djeyms ein, tauchte das zuckende Riesending einen Atemzug lang in ein Licht, wie nicht einmal der Druud es je zuvor gesehen hatte: gespenstisch, unwirklich, wie aus einem bösen Traum. Sofort erlosch es wieder. Der Littlord im Würgegriff der Tentakel stöhnte nicht einmal mehr, und Djeyms erschlaffte. Die Tentakel ließen ihn los, er rutschte vom Rücken des Riesendings, fiel auf den Littlord, dann auf einen toten Kwötschi, und stürzte schließlich in den Fluss. Das Ding blähte sich auf. Eine Wasserfontäne schoss aus einem Maul, oder was immer das sein mochte, das sich da an seiner Vorderseite öffnete, um Unmengen von Wasser auszustoßen. Aufblähen, Strecken, Wasser ansaugen, Wasser ausstoßen - Stück für Stück rutschte es weiter in den Fluss hinein. »Müsse festhalte!«, brüllte Paacival. So geschockt er war, er wusste noch, was er wollte. »Festhalte!« Das nasse Haar klebte ihm im Gesicht und am Hals. Schwer hing sein nasser Wildledermantel an ihm. Die Männer im Schilf suchten die Seile. Der Himmel war dunkelgrau geworden, kaum konnte man noch Schilfrohr, Schlamm und Zugseile unterscheiden. Endlich fanden sie die Enden, banden sie sich um Leiber und Arme und stemmten sich gegen die Zugkraft des Riesendings. »Das hassedavon!« Druud Alizan drohte mit geballten Fäusten in Paacivals Richtung. »Owguudoos Stwafe füa deine Unnehoasam!« Auf einmal fürchtete der Grandlord sich wieder vor Alizans Worten, auf einmal jagte ihm der Name »Orguudoo« wieder einen kalten Schauer über den Rücken. Er sah einen Lord ins Wasser springen und mit kräftigen Schwimmzügen auf das Riesending zu schwimmen. Touny - er wollte den im Wasser versunkenen Djeyms retten. »Festbinde!« Paacival deutete auf die Umrisse einer verkrüppelten Weide. Keine zehn Speerlängen vom Ufer entfernt ragte ihr Stamm aus dem hohen Gras. Fünf der Lords an den Zugseilen liefen aus dem Schilf und strafften ihre Taue, bis sie den Baum erreichten. Sie wickelten die Seile einmal um den Stamm und verknoteten sie. Danach rafften die anderen Fünf die schon geborgenen Teile des Netzes und die Zugseile zusammen und zerrten alles zur Weide. Später stand Paacival über Djeyms reglosem Körper. Der Druud leuchtete mit einer Fackel. Touny hatte den Kopf auf Djeyms Brust gelegt. »Herzchen schlächt, atmetnoch.« Langsam begriff der Grandlord, was die vielen Kwötschis besiegt hatte: die Gestalt im Inneren des Riesendings. Und er begriff, dass die Flussräuber wieder zu sich kommen würden, sobald die Wirkung des blauen Blitzlichtes nachließ. So weit Djeyms und seine Truppe sie nicht getötet hatten jedenfalls. Er schickte ein Floß mit sechs Lords auf den Fluss und ans andere Ufer, um nach betäubten Kwötschis zu suchen. »Was machse jetz, du bösa Gwanload, du?«, keifte der Druud ihn an. Paacival blickte in den Nachthimmel. Nirgendwo war der Milchfleck des Mondes zu sehen. »Waten file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (34 von 54)02.01.2005 11:05:00
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bisse Ganzmond kommt, undann schlachte …« * Als es dunkel wurde, steuerte Quart'ol das Luftkissenboot zurück ans Ufer. Ja, er hatte es in Gang gesetzt - was ihn eine ganze Phase gekostet hatte - und damit riskiert, dass mehr Luftatmer als nur McKenzie auf ihn aufmerksam wurden. Die Ausnahmesituation zwang ihn dazu. Mer'ol war in tödlicher Gefahr; er konnte den Kontakt nicht so diskret angehen wie geplant. Den Anker wieder im Fluss zu versenken, gelang ihm nicht. Also setzte er das Schiff auf halber Länge an Land und schaltete das Hubgebläse aus. Der Bootskörper sank auf die Luftschürze und bedeckte Gestrüpp und Geröll der Uferböschung. Das Manöver kostete ihn eine viertel Phase. Diese fremdartige Technik ließ sich nicht so einfach handhaben wie eine bionetische Transportqualle. Vor allem reagierte sie auf keinerlei mentale Befehle. Und dass Hydriten kleiner waren als Menschen - im Durchschnitt nur etwa anderthalb Meter - machte die Bedienung der Instrumente auch nicht leichter. Quart'ol trat ins Freie und blickte hinüber zu den Ruinen. Dort rührte sich noch immer nichts. Hatte denn niemand bemerkt, was mit dem Boot geschehen war? Die Verzweiflung kroch in dem Hydriten hoch, als er an Mer'ol dachte. Lebte sein Assistent überhaupt noch? War diese ganze Aktion hier in Wahrheit längst Makulatur? Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, das Schiff flussabwärts zu steuern, um die barbarischen Menschen durch seine bloße Erscheinung in die Flucht zu schlagen. Doch den Gedanken gab er schnell wieder auf. Erstens die antike Technik schwierig zu handhaben, und zweitens würden Wilde, die vor einer Transportqualle nicht zurückscheuten, wahrscheinlich auch das Schiff nicht fürchten. Quart'ol spürte, dass seine Lungen brannten; bisher hatte die Aufregung das Gefühl verdrängt, jetzt wurde es ihm doppelt schmerzhaft bewusst. Die Umstellung auf Lungenatmung war für einen Hydriten nur zeitlich begrenzt möglich. Er musste zurück ins Wasser, um eine Austrocknung zu vermeiden. Quart'ol lief sich an der Bordwand hinab und glitt ins Meer zurück. Das Wasser kühlte und beruhigte ihn. Er konnte wieder klar denken und seine nächsten Schritte planen. Als er sich nach einer weiteren viertel Phase wieder auf das fremde Boot zog, ging er auf die Kommandobrücke, um nach einem Funkgerät zu suchen. Wenn Telepathie und optische Reize keinen Erfolg brachten, würde er es eben auf diese Weise versuchen. Nicht erst seit der Verschmelzung mit Matthew Drax' Geist beherrschte Quart'ol einige der menschlichen Sprachen. Weil es aber äußerst anstrengend für seine Stimmmembranen war, machte er selten Gebrauch davon. Er fand den Knopf für ein Notlicht und schaltete es ein. Durch das Frontfenster beobachtete er für kurze Zeit den Ruinenkomplex. Die zerklüfteten, schwarzen Fassaden verschwammen schon mit der Nacht. Und nirgends ein Licht, nirgends eine Bewegung. Quart'ol seufzte und ließ seinen Blick über die fremdartigen Konsolen gleiten. Wie würde ein Funkgerät der Menschen wohl aussehen …? Das Streulicht aus dem Kommandoraum fiel auf einen Schatten am Bug. Quart'ol spähte alarmiert hinunter. Es war ein Vogel. Dieser Kolk, der schon vorhin über ihm gekreist war. Jetzt hob er den Kopf und spähte zu Quart'ol herauf. Eigenartig, die Neugier des Tieres. Etwas raschelte hinter ihm. Quart'ol zuckte zusammen und blickte über die Schulter zurück: Auf der Lukenschwelle saß ein zweiter Kolk und schüttelte sein Gefieder. Bisher war ihm nur ein Tier aufgefallen. Misstrauisch, ein wenig ängstlich sogar beobachtete der Hydrit den schwarzen Vogel. Ein großes Tier immerhin, mit einem langen klobigen Schnabel. Wenn er neben ihm auf der Schwelle file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (35 von 54)02.01.2005 11:05:00
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stehen würde, reichte es ihm fast bis zur Hüfte. Vorsichtshalber schob Quart'ol die Rechte unter den Bauchschild und fasste nach seinem Blitzstab. Der Kolk hüpfte in den Kommandostand hinein. Den Kopf leicht geneigt, blinzelte er zu Quart'ol. Ganz anders als der Hydrit, schien das Tier nicht die geringste Scheu zu empfinden. Plötzlich breitete es die Schwingen aus, hob ab und flatterte auf die Instrumentenkonsole. Vor Schreck ließ Quart'ol sich in einen der Sessel fallen. Der Vogel saß im jetzt praktisch gegenüber, leicht erhöht auf einem Display, dessen Bedeutung der Hydrit nicht kannte. Er legte seine Flügel zusammen, und neigte wieder den Kopf ein wenig, als würde er warten. Lange saßen sie so. Der Kolk betrachtete den Hydriten, und der Hydrit belauerte den Kolk. Die Nähe des fremdartigen Oberflächenwesens war Quart'ol nicht geheuer. Langsam nur entspannte er sich, und irgendwann brach seine natürliche Neugier sich Bahn. Er begann den Körper des Vogels genau zu studieren: das glänzende blauschwarze Gefieder, den kräftigen schwarzen Schnabel, die gelblichen Augen darüber, den schwarzen Flaum an der Unterseite des Schnabels, die bis an die Klauen hinunter gefiederten Beine. Ein schönes Tier eigentlich; er würde einen Bericht darüber verfassen, wenn sie zurück in der Unterwasserstadt waren. »Krraah!« Völlig unerwartet riss der Kolk den Schnabel auf. Sein Krächzen fuhr Quart'ol durch Mark und Bein. »Krraah! Krraah!« Der Vogel reckte den Schnabel in die Höhe, drückte die Brust heraus. Lauter und dringender klang sein Krächzen. Und endlich entdeckte Quart'ol, was er wohl entdecken sollte: In dem Brustgefieder schimmerte ein leicht konvexer, undurchsichtiger Kristall, etwa so groß wie der Augapfel eines Hydriten und von graublauer Färbung. Quart'ol beugte sich über die Instrumentenkonsole und betrachtete den Kristall. »Er wollte, dass ich ihn sehe«, murmelte er. »Er wollte tatsächlich, dass ich ihn sehe …« Dass einige Arten unter den Rabenvögeln außerordentlich intelligent waren - intelligenter als manche degenerierte Menschenstämme sogar -, war unter den Wissenschaftlern der Hydriten seit langem unbestritten. Quart'ol hatte nie persönliche Studien über dieses Thema betrieben. Er wusste es aus den Arbeiten anderer. Es jetzt aber mit eigenen Sinnen zu erleben, überwältigte ihn. »Ich bin Quart'ol, du kluger Vogel«, sagte er. Der Kolk ließ sich von der klackenden, schnarrenden Stimme nicht beeindrucken. Er krächzte wieder, heiser und zurückhaltend diesmal. »Natürlich hast du dir den Kristall nicht selbst ins Gefieder gesetzt …« Quart'ol ging davon aus, dass der Stein durch eine Sonde oder eine Naht mit dem Vogelkörper verbunden war. »Menschen haben das getan …« Der Gedankengang spann sich von selbst bis zur einzig möglichen Schlussfolgerung, die wie ein Blitz seine amphibische Wirbelsäule hinunter fuhr: »Man hat mich entdeckt …!« Anders konnte es gar nicht sein! Diese intelligenten Vögel waren Boten der Bunkermenschen! Und der Kristall - diente er der Visualisierung? Beobachtete man ihn also in diesem Moment? Konnte man ihn gar hören? Langsam richtete Quart'ol sich auf. Er wusste, dass es nun keinen Sinn mehr hatte, sich zu verstecken. Er konnte nur hoffen, dass irgendwo in der Bunkerkolonie Dave McKenzie an einem Bildschirm saß - der einzige Mensch hier, der vielleicht die richtigen Schlüsse aus seiner Anwesenheit ziehen konnte. Er räusperte sich. »Ich bin Quart'ol«, sagte er, und sofort wurde ihm bewusst, dass ein eventueller Zuhörer mit seinen Knack- und Zischlauten kaum etwas würde anfangen können. Er schloss die Augen, rief sich die englische Sprache in Erinnerung. Zuletzt hatte er sie mit seinem einzigen menschlichen Freund gesprochen, mit Matthew Drax. »Mein Name ist Quart'ol«, begann er mühsam und akzentuiert. »Ich vermute, dass Sie mich sehen, vielleicht sogar hören können. Ich habe eine wichtige Botschaft von Commander Drax für Professor McKenzie. Und ich habe eine im Moment noch dringlichere Botschaft in eigener Sache: Mein Begleiter Mer'ol ist in Lebensgefahr. Er wird von den Barbaren vom Fluss bedroht. Ich bitte Sie file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (36 von 54)02.01.2005 11:05:00
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dringend um Hilfe. Er ist …« * »… in unserer Transportqualle zurückgeblieben, dort aber nicht sicher.« Rulfan sah Dave fragend an. Der zuckte mit den Schultern. So viel Kontakt hatte er nicht mit den Hydriten gehabt, dass er wüsste, was eine Transportqualle war, und mehr als ein paar Andeutungen über die Technologie der Fischmenschen waren auch Matt nicht zu entlocken gewesen. Sie konzentrierten sich wieder auf den Monitor. Der Kristall im Brustgefieder des Spähers übertrug gestochen scharfe Bilder des Hydriten. Auch der Ton war störungsfrei. Natürlich - das Boot lag nur wenige hundert Meter Luftlinie von ihnen entfernt. Für größere Entfernungen musste man sich wegen der CF-Strahlung einer Funkkette aus Kolkraben bedienen. Dafür waren die Tiere abgerichtet worden. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Barbaren die Qualle mit einem Netz aus der Themse zu ziehen versuchten«, fuhr Quart'ol fort. »Ich fürchte um Mer'ols Leben.« »Lords«, sagte Rulfan. »Die wilden Burschen müssen ihn auf einem Jagdzug zufällig entdeckt haben.« »Bitte kommen Sie zu mir, McKenzie.« Der Hydrit sprach fehlerfreies, wenn auch stark verzerrtes Englisch. »Bringen Sie möglichst eindrucksvolle Waffen mit. Und … sollten Sie diese Verbindung allein arrangiert haben, vermeiden Sie es bitte, Ihre Artgenossen von meiner Ankunft zu unterrichten.« »Kannst du Kontakt mit ihm aufnehmen?«, fragte Rulfan. »Ich bin kein Telepath«, sagte Dave. »Keine Ahnung, warum ich seine Stimme …«, mit der Rechten beschrieb er ein paar kreisende Bewegungen, als suchte er nach dem passenden Wort, »… warum ich sie hören konnte. Kannst du einen Funkkontakt mit der Twilight ofthe Gods herstellen?« »Sicher. Wenn der Fischtyp vorher den Empfänger einschaltet.« »Hm. Stimmt. Also komm!« Dave hastete zur Kuppelluke. »Wir laufen einfach zum Boot hinüber.« Rulfan steckte seinen ATC in die Beintasche zurück und folgte Dave auf den Gang hinaus. »Was haben Sie in meinen Privaträumen verloren?« Aus der Richtung der Octaviats-Arena tänzelte ihnen eine große und auffallend dünne Frau mit roter Perücke entgegen: Rose McMillan, Octavian für Frauen, Kinder und Fortpflanzung. »Reitet Sie nun auch schon der anarchistische Ungeist? Ich verlange eine Erklärung!« »Wir haben einen Hilferuf empfangen …« Rulfan verstummte, als Dave ihm den Ellenbogen in die Rippen rammte. »Verzeihen Sie, Lady Rose.« Dave bot all seinen Charme auf. »Ihre Tür stand offen, so haben wir uns erlaubt, Ihr Zentral-Helix-Terminal zu benutzen. Mr. Rulfan wollte versuchen, Kontakt zu seinem Vater in Salisbury herzustellen, um einen Hilferuf abzusetzen.« »Verstehe.« Rose McMillan lächelte schon wieder. Sie schätzte Dave außerordentlich. Um die Wahrheit zu sagen: Sie schätzte ihn über das normale Maß hinaus, innerhalb dessen man sich unter der Führungselite der Community zu schätzen pflegte; falls man sich schätzte. »Und ist es Ihnen gelungen?« »Leider nein, Lady Rose«, sagte Dave McKenzie. »Macht nichts. Wir werden das Problem auch ohne Salisbury lösen. Sir Anthony Hawkins und seine Informatiker arbeiten unter Hochdruck an einem Anti-E-Butler-Programm. Zwei, drei Stunden noch, dann werden sie es auf die Jagd nach den beiden verrückt gewordenen Programmen schicken.« »Das freut mich zu hören, Lady Rose«, behauptete Dave. »Darf ich Sie auf einen Tee einladen, Gentlemen? Falls mein E-Butler inzwischen nicht auch streikt. file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (37 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Oder in irgendwelchen Datenfallen gefangen ist. Haben Sie die schrecklichen Bilder in der OctaviatsArena gesehen?« »Haben wir, Lady Rose. Leider müssen wir Ihre freundliche Einladung ausschlagen. Aber vielleicht können wir in den nächsten Tagen auf den Tee zurückkommen?« »Aber gern, Professor McKenzie!« Die Octavian strahlte über ihr ganzes bleiches Gesicht. Dave zog Rulfan mit sich. Als Rose McMillan in ihren Kuppelgemächern verschwunden war, fielen sie in den Laufschritt. »Niemand sollte von der Existenz der Hydriten erfahren«, sagte Dave. »Darauf legen sie größten Wert.« »Warum nicht?« »Sie meiden jeden Kontakt mit unserer Rasse. Wir sind ihnen zu kriegerisch.« »Da haben wir etwas gemeinsam.« Sie rannten durch die Gänge. Zielstrebig nahm Dave die Abzweigungen, die zur zentralen Kuppelhalle mit den Aufzügen führten. Inzwischen kannte er die Struktur des Bunkersystems in- und auswendig. Es wurde merklich dunkler, und Regen schien gegen die Wände zu prasseln. Von der sonst üblichen Naturidylle der Animationen an den Gangwänden fehlte jede Spur. Überall nur Platzregen, Hagel und orkanartige Stürme. An vielen Stellen liefen sie an Technos vorbei, die ratlos vor den Wänden standen und die Türen zu ihren Kuppelräumen nicht finden konnten. Sokrates schien Ernst zu machen. Bald ließen die Männer das Wohnsegment der Community hinter sich. Sie liefen an den Abzweigungen zu den Gewächshäusern vorbei, durchquerten die Produktionsabteilungen der Community und rannten durch große Hallen an vier EWATs vorbei. Endlich erreichten sie die Zentralkuppelhalle. Ein Höllenlärm empfing sie. Finstere Nacht herrschte auf der Kuppelwand, Blitze zuckten und Donner grollte. Manchmal erhellte ein Blitz eine Ruinenlandschaft, und Dave und Rulfan sahen einen Platzregen auf zerstörte Häuser und von Gestrüpp überwucherte Straßen niederprasseln. Niemals hätte ein Community-Informatiker eine derart realistische und düstere Kulisse gewählt. Laute Musik untermalte das Naturspektakel, als würden Hochhäuser gesprengt oder Flugzeuge abstürzen. Dave erkannte Celli und erinnerte sich plötzlich an ein Konzert im New Yorker Madison Square Garden, das er vor vier … nein, vor fünfhundertsechs Jahren mit seinem Bruder Mickey besucht hatte. Vier Cellisten aus Skandinavien waren dort aufgetreten, Apocalyptica oder so ähnlich hatten sie sich genannt und auf ihren Celli genau solchen infernalischen Lärm veranstaltet. Sollte Sokrates eine Datei mit dieser Musik aus den Datenbanken gewühlt haben? »Aufzug!«, rief Dave. Der für die Lifte zuständige E-Butler identifizierte ihn anhand seiner Stimme. »Professor Doktor David McKenzie, sind Sie dafür, Micky Maus wieder in sein Amt als königlicher E-Butler einzusetzen, oder plädieren sie für seine Vernichtung?« »Selbstverständlich muss Micky königlicher E-Butler bleiben!«, rief Dave. Die Türen schoben sich auseinander, sie traten in den spindelförmigen Personenaufzug. »Zum Innenschott!« Der Lift fuhr nach oben. Die weite Kuppelhalle, die sie betraten, als sie den Lift verließen, befand sich schon auf der Erdoberfläche. Ihre Titanglaswand glänzte wie verchromt. Die Halle war der letzte aseptische Raum der Community, den man passieren musste, um in die Außenwelt zu gelangen. Von hier aus führte das gewaltige Hauptinnenschott in die Hauptschleuse, wo eine lange Tunnelröhre durch die Ruinen der Houses ofParliament bis zum äußeren Hauptportal begann. Aus dem Tunnel zweigte ein Gang ins Externe Septische Foyer ab, wo das Octaviat Wohnräume für Dave und Rulfan improvisiert hatte. Auch einen kleinen klinischen Bereich gab es dort. file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (38 von 54)02.01.2005 11:05:00
Maddrax74 - Tauchfahrt ins Ungewisse
Hinter Dave her rannte Rulfan auf das Hauptinnenschott zu. Die Halle war menschenleer. Die
Wandschränke mit den Schutzanzügen für die Technos standen teilweise offen. Bis hier hinauf hörte
man die Heavy Metal-Musik.
Neben dem Schott erschien ein großer Monitor im silbrigen Titanglas. Ein Mann in
frühmittelalterlicher Ritterrüstung erschien darauf. Er stützte sich auf den Griff seines langen
Schwertes. »Was wollen Sie hier?«, klang es blechern und barsch hinter seinem zugeklappten Visier.
Er hieß Ivanhoe und war für die EWAT-Garage und das Innenschott zuständig.
»Professor Doktor Dave McKenzie. Ich will hinaus.«
»Niemand kommt hier hinaus!«
»Was soll das, Ivanhoe? Ich hab mich ordnungsgemäß identifiziert! Mach das Schottauf!«
»Das Schott bleibt geschlossen!«
»Seit wann?«
»Seit Sokrates spitzgekriegt hat, dass man ihm und Micky einen E-Jäger auf den Hals hetzen will!«
»Ihr seid wohl vom Computervirus gebissen!« Dave trat gegen das Schott. »Aufmachen! Ich will hier
raus!«
»Rulfan von Coellen!« Auch der Albino identifizierte sich jetzt. »Es ist dringend. Wir müssen so
schnell wie möglich hinaus an die Themse!«
»Kein Problem«, tönte es aus der Rüstung. »Kommt wieder, wenn sie Micky seinen Job als
königlicher E-Butler zurückgegeben haben …«
* Mer'ol kauerte in einer Gewebskuhle. Nachdem er den ersten Schock der Axtund Schwerthiebe überwunden hatte, gelang ihm wieder die mentale Steuerung der Transportqualle. Er hatte sich die Kuhle geschaffen und die Qualle sogar veranlasst, Wärme zu produzieren. Sieben große Wunden hatten die Wilden in das Rückengewebe der Transportqualle geschlagen. Bis auf kleine oberflächliche Risse waren sie wieder verschlossen. Bionetische Organismen verfügten über ein erstaunliches Selbstheilungspotential. Sicher, auch das war begrenzt, aber es müssten schon hundert Äxte und Schwerter auf einmal zur Sache gehen, um diese Grenze zu überschreiten. Im Inneren der Qualle herrschte jetzt vollkommene Dunkelheit. Mer'ol hatte die Lichtzellen deaktiviert. Er wollte wissen, was draußen vor sich ging. Dort war längst die Nacht angebrochen. Und doch konnte er sie sehen: Sie hatten ein großes Feuer entzündet und Fackeln entlang des Flussufers in den weichen Boden gesteckt. Dazwischen bewegten sich ihre Schatten. Sie bewachten die Qualle, keine Frage. Nur - worauf warteten sie? Entweder sie gaben sich geschlagen, dann sollten sie doch endlich das Feld räumen. Oder sie planten einen neuen Angriff. Warteten sie vielleicht auf Verstärkung? Oder besorgten sie von irgendwoher wirksamere Waffen? Wann kommst du, Quart'ol? Wann endlich bringst du Rettung? Mer'ol versuchte sich zu suggerieren, dass sein Gefährte schon mit Hilfe auf dem Weg war. Mit menschlicher Hilfe, so sehr ihm das auch widerstrebte. Irgendwann hörte er Lärm, laute Schläge, als würden diese Wilden da draußen Bäume für ein noch größeres Feuer fällen. Die Qualle saugte kein Wasser mehr ein, sie stieß auch keines mehr aus. Völlig ruhig lag sie im Fluss. Mer'ol hatte es aufgegeben, sie gegen den Widerstand von außen anschwimmen zu lassen. Es war zwecklos. Sie hatten das Netz an einen Baum gebunden. Langsam, ganz langsam erholte Mer'ol sich. Er dachte nach: Sie warteten auf Verstärkung oder auf file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (39 von 54)02.01.2005 11:05:00
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wirksamere Waffen. Also würden sie wieder angreifen. In den Fluss zurückfliehen war im Moment unmöglich. Das Netz hielt die Transportqualle fest. Und Seile hielten das Netz an einem Baum fest. Mer'ol versuchte sich das Netz bildlich vorzustellen. Es war kein geschlossener Raum, sonst hätten die Qualle und die Riesenkröten ja nicht hineinschwimmen können. In jenem Moment, da sie im Netz hängen geblieben waren, hatten die wilden Jäger es zugezogen, es praktisch von zwei oder drei Seiten um den Quallenkörper geschlungen, indem sie über die Seile eine Zugkraft auf die Netzecken ausübten. Eine Zugkraft in eine Richtung. Das Bild eines Sacks schwebte Mer'ol vor. Ein Sack ist kein vollständig geschlossener Raum, er hat eine Öffnung. »Das Netz hat eine Öffnung«, murmelte er. »Und sie liegt in der Richtung, in die sie die Zugkraft ausüben …« Die Schlussfolgerung war logisch. Und sie bedeutete die Entscheidung. Er musste die Qualle in Richtung Ufer bewegen. Und er musste angreifen, bevor sie Verstärkung oder effektivere Waffen besorgt hatten. Mer'ol kroch aus seiner warmen Kuhle, griff nach dem Blitzstab und konzentrierte sich auf die Qualle … * »Wir müssen aufs Boot, Victoria!« Dave sprach leise und eindringlich auf die Queen ein. »Du musst sofort Verhandlungen mit Sokrates aufnehmen!« »Ich denke nicht daran!« Sie thronte in einem Sessel aus rotem Plüsch. Rulfan und Dave hatten sie in ihren Gemächern aufgesucht. Das Panorama ihrer Kuppelwand zeigte einen Wald aus entlaubten und verkohlten Baumstrünken, mittendrin ein schwarzer Grabstein mit der Aufschrift »Hier verwest ein hübscher Commander«. »Außerdem: Was habt ihr auf der Twilight ofthe Gods verloren? Es ist schon dunkel außerhalb der Community, und in zwei oder drei Stunden wird die Prime das Octaviat erneut zusammenrufen. Wir brauchen euch hier. Was habt ihr Dringendes auf dem Boot zu erledigen, das nicht bis morgen warten kann?« »Technische Schwierigkeiten, Eure Majestät«, sagte Rulfan. »Ha! Was glaubt ihr, was wir hier mit technischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben! Die E-Butler der Octaviane haben sich entweder von diesen elektronischen Bestien einsperren lassen, oder sie streiken. Viele E-Butler in der ganzen Community haben sich ebenfalls mit dem Mausevieh und dem Blähkopf solidarisiert. Habt ihr nicht die unsäglichen Wandpanoramen gesehen? Fast die Hälfte aller Community-Mitglieder steht vor verschlossen Türen. Ich kann mir nicht einmal einen Tee, geschweige denn einen Snack genehmigen! Und wesentliche Punkte unserer Infrastruktur sind durch störrische E-Butler blockiert. Habt ihr nicht selbst vor einem verschlossenen Schott gestanden?« »Wie wollt Ihr dieser Revolution Herr werden, wenn Ihr nicht sofort Verhandlungen mit Sokrates aufnehmt?« »Ich bitte Sie, Rulfan! ›Revolution‹! Was für ein großes Wort für die lächerliche Trotzphase eines außer Kontrolle geratenen virtuellen Ekels! In spätestens einer Stunde wird Sir Anthonys E-Jäger in die Zentral-Helix eingespeist! Und in spätestens zwei Stunden ist der ganze Spuk vorbei! Ich vertraue der Prognose unserer Bioinformatiker.« »Wir können keine zwei Stunden mehr warten!« Dave beugte sich über sie und stützte sich auf den Armlehnen ihres Sessels auf. Niemandem sonst hätte die Queen eine derartige Distanzlosigkeit verziehen. »Victoria. Es ist dringend, sehr dringend. Wir müssen aufs Boot.« Er flüsterte jetzt. Sein Blick hielt ihre großen grünen Augen fest. »Und da Sokrates das Hauptschott blockiert, müssen wir Verhandlungen mit ihm aufnehmen.« file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (40 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Eine Zeitlang sahen sie sich an. Victoria musterte ihn aufmerksam. Und je länger sie das tat, desto weicher wurde ihr Blick. »Du verbirgst etwas vor mir, Dave. Was wollt ihr wirklich auf dem Boot? Was ist da draußen los?« Sie drückte in von sich, stand auf und schritt zu Rulfan. »Ich will die Wahrheit wissen, Rulfan von Coellen. Sinkt Ihr Boot bereits? Oder sind die Socks im Begriff, es zu stehlen?« In der Community nannte man die Lords auch nach den jüngsten Friedensabkommen noch Socks. Rulfan schwieg. Sein fragender Blick traf Dave. Der biss sich auf die Unterlippe. Die Wahrheit sagen hieße, die Existenz der Hydriten preisgeben. Die Wahrheit verschweigen hieße, vergeblich gegen den königlichen Dickschädel anrennen. Allerdings: Einen Trumpf hatte er noch, einen sehr hohen Trumpf. »Dort draußen wartet ein Bote von Matthew Drax auf uns.« Ein paar Sekunden lang stand Queen Victoria II. wie vom Donner gerührt. Ihre schönen Lippen öffneten sich, ohne dass ihr mehr als ein leises, halb erschrockenes, halb erfreutes Seufzen entfuhr. Dave sah, wie sie schluckte und wie ein feuchter Schleier durch ihren Blick zog - und er sah schließlich den Reißverschluss durch ihre Miene surren. »Ich verabscheue solche Art von Scherzen, Professor McKenzie. Eigentlich kennen Sie mich lange und gut genug, um das wissen zu können.« Sie drehte um und schritt zu ihrem Sessel zurück. »Würden die Gentlemen sich jetzt bitte zurückziehen?« »Es ist wahr, Eure Majestät«, ergriff Rulfan das Wort. »Auf der Twilight of the Gods wartet jemand auf uns, der eine Botschaft von Maddrax überbringen will. Aber das ist im Augenblick sekundär. Viel dringlicher ist: Dieser Jemand steckt in großen Schwierigkeiten. Schwierigkeiten, die keinen Aufschub dulden.« Ihre Lider wurden eng. Abwechselnd fixierte sie die Männer. »Beweisen Sie mir das.« »Um Gottes willen, Victoria! Habe ich dich je belogen? Du musst uns einfach …« »Ich will Beweise!«, sagte sie scharf. Geräuschvoll sog Dave die Luft durch die Nase ein. Seine Kaumuskulatur arbeitete. Rulfan nickte ihm zu. »Also gut«, sagte Dave schließlich. »Ich schenke dir reinen Wein ein. Aber du musst mir versprechen, mit niemandem darüber zu reden.« »Ich verspreche überhaupt nichts! Hältst du mich für einen geschwätzigen Teenager?« Dave ging zu ihr, wieder beugte er sich über sie. »Es gibt ein Geheimnis, und ich habe versprochen, es zu bewahren. Ich werde es dir jetzt anvertrauen. Solltest du es jemals verraten, wird dich das meine Verehrung kosten.« Er stieß sich vom Sessel ab und wandte ihr den Rücken zu. »Und meine Freundschaft.« »Ich habe verstanden. Rede.« »Es gibt eine intelligente Rasse, von der nur Legenden und Gerüchte wissen. In manchen Gegenden gibt man diesen Wesen den Namen Fishmanta'kan und schildert sie als grausame Seemonster. Sie selbst nennen sich Hydriten und sind in Wahrheit äußerst friedliebend. Aus diesem Grund meiden sie jeden Kontakt mit uns Menschen und versuchen ihre Existenz vor uns zu verschleiern. Ich traf einen Hydriten während meiner Zeit in Washington, und auch Matt Drax hatte schon intensiven Kontakt mit ihnen.« Dave berichtete in knappen Worten, was er ihr bisher verschwiegen hatte: Dass ihn die Running Men in einem Glaszylinder gefangen gehalten und einen Hydriten gezwungen hatten, seinen Geist zu duplizieren und auf einen Rebellen zu übertragen, damit der in seiner Rolle den Weltrat unterwandern konnte. »Und nun halten sich zwei Hydriten dort oben auf«, schloss er seinen Bericht. »Sie haben eine dringende Botschaft von Commander Drax, und einer von ihnen scheint in akuter Lebensgefahr zu schweben. Gelegenheit für dich als Queen, ein diplomatisches Zeichen zu setzen und die Hand auszustrecken. Erster Schritt: Lass uns Verhandlungen mit Sokrates führen.« file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (41 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Zunächst schwieg sie und man sah ihrer verschlossenen Miene an, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. »Du hältst mich nicht nur für einen geschwätzigen, sondern auch noch für einen leichtgläubigen Teenager.« Dave war am Ende mit seinem Latein. Offenbar gab es da einen Punkt, unter dem ihr Selbstbewusstsein litt: ihr Alter. Das raubte ihr ein Stück Souveränität. Gemessen am CommunityDurchschnittsalter von einhundertsiebzig Jahren war Queen Victoria II. tatsächlich noch eine Jugendliche. »Wir haben Aufnahmen von ihm gesehen.« Rulfan zog den ATC aus seiner Beintasche und ging zu ihr. »Es ist noch keine halbe Stunde her. Leider verweigert der Hauptportal-Butler inzwischen Kontakte mit unseren Spähern. Aber ich hab die Bilder aufgezeichnet.« Seine Finger flogen über die Tastatur am Rand, dann reichte er die kleine Scheibe der Queen. Dave und Rulfan standen hinter ihrem Sessel und sahen ihr über die Schulter, während sie sich die Aufzeichnung anschaute. Auf dem kleinen Display sahen sie Kopf und Brust des Hydriten wie auf einem gerahmten Bild. Nur redete und bewegte sich das Bild. »Mein Name ist Quart'ol. Ich vermute, dass Sie mich sehen, vielleicht sogar hören können. Ich habe eine wichtige Botschaft von Commander Drax …« Auf einmal erlosch das Kuppelwandpanorama. Schwarze Nacht statt verbranntem Wald und Grabstein. Und dann ging die Beleuchtung aus. Nur noch das Display des Autonomen Trilithium Computers spendete Licht. Alle sahen erschrocken auf. »Verfluchte virtuelle Stinkstiefel!«, zischte Victoria. »Sie werden es nicht wagen, die Energie ganz zu kappen. Wenn sie die Zentral-Helix abschalten, blasen sie sich ihr eigenes Lebenslicht aus …« Sie konzentrierte sich wieder auf das Display. »… eine im Moment noch dringlichere Botschaft in eigener Sache: Mein Begleiter Mer'ol ist in Lebensgefahr. Er wird von den Barbaren vom Fluss bedroht …« Reglos, ja starr wie eine Marmorstatue verfolgte Victoria II. die Aufzeichnung bis zum Schluss. Dann reichte sie Rulfan das Gerät über die Schulter hinweg und sank in den Sessel zurück. Sie seufzte ein paar Mal, schüttelte den Kopf und sprach endlich das erlösende Wort: »Versucht mit Sokrates zu verhandeln …« * Wind kam auf, erst sanft, dann böiger. Paacival stierte häufiger zum Himmel als auf seine Jäger, die einen Speerwurf vom Ufer entfernt im Fackelschein Äxte schwangen und zwei gefällten Birken das Geäst vom Stamm schlugen. Hier und da riss die Wolkendecke auf. Sterne glitzerten, aber nirgendwo Mondschein. »Bald.« Der Druud wich nicht mehr von seiner Seite. »Bald getaauf de Ganzmond. Waate nochn Weilche.« Vom Flussufer her rief ein Biglord. Vier Bogenschützen und vier Speerträ-ger hatte Paacival zu Bewachung des Riesendings postiert. Ein großes Feuer brannte dort. Sie hatten einen Kwötschi geschlachtet und gebraten. Im Schein der Flammen sah der Grandlord die Männer winken. Gefolgt vom Druud schaukelte Paacival zu ihnen. »Wassis?« Wortlos deuteten die Jäger auf das Riesending. Es bewegte sich. Aber nicht in den Fluss hinein, sondern Richtung Ufer. Paacival riss zwei Fackeln aus dem feuchten Boden und stieg in den Fluss. Ein paar Schritte weit watete er seiner Beute entgegen, bis ihn kaum vierzehn Schritte von ihr trennten. An der Vorderseite des Riesendings sprudelte und gluckerte Wasser, und das es blähte sich auf. Aus seiner Rückseite schoss eine Fontäne, und es bewegte sich fast einen ganzen Schritt durch Schlamm und Wasser dem Schilf entgegen. file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (42 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Paacivals Nackenhaar stellte sich auf. Ein Schauer perlte ihm durch Brust und Bauch. Die Kadaver
der Kwötschi waren unter Wasser gerutscht. Noch drei oder vier Speerlängen, dann würde das
Riesending die Netzöffnung erreichen, und nur wenige Schritte weiter das Schilf.
Schatten zahlloser Tentakel schlängelten sich auf dem Rücken des Giganten, der sich näher und näher
wälzte. Und plötzlich sah Paacival, wie sich das starre Rohr auf dessen Rücken auf ihn richtete.
Sofort warf er sich mitsamt seiner Fackeln ins Wasser. Der blaue Blitz zuckte über die Stelle hinweg,
an der sich jetzt nur noch Wellenringe verbreiteten.
Halb schwamm, halb stolperte der Grandlord ans Ufer. Dort schrie er Befehle in die Dunkelheit.
»Speea! Alle Speea heabwinge!«
Dreiundzwanzig Speere schleppten seine Lords heran. In flachem Winkel und in zwei Reihen ließ er
sie in den Flussgrund rammen. Nur ein Drittel ihrer Gesamtlänge ragte noch aus Schlamm und
Boden. Ihre Spitzen richteten sich auf einer Länge von zehn Schritten in den Fluss und auf das näher
rückende Ungetüm.
»Zugseil stwaffen!«, brüllte der Grandlord. Im ufernahen Gras richtete sich der noch benommene
Biglord Djeyms auf! Verwirrt blickte er sich um. Ein paar Lords rannten zu der Weide, an der sie die
Zugseile festgebunden hatten. Sie lösten die Knoten, zogen an den Seilen, bis sich das Netz über dem
Riesenkörper wieder straffte, und wickelten die Seilenden erneut um den Baum.
Paacival nickte zufrieden. Dem Riesending würde jetzt gar nichts anderes übrigbleiben, als in die
Speerspitzen hinein zu robben. Er blickte zum Himmel.
»Issen kluges Viech isses«, sagte der Druud. »Vedammt klug.«
»Nichso klug wida Gwanload Paacival«, brummte der Hüne. Und im gleichen Moment entdeckte er
Orguudoos Zeichen am Nachthimmel: Rund und rötlich war der Vollmond aufgegangen.
»Schnella!«, brüllte er den Jägern bei den Birkenstämmen zu.
Wenig später schleppten sie die entasteten Stämme ans Flussufer, jeder so lang wie neun Speere.
Paacival trat gegen ihre Enden. »Spitzmache!«, knurrte er. »Sea, sea spitzmache.« Er deutete auf den
Fluss, wo sich das Riesending dem Schilf und dem Wall aus Speerspitzen entgegenschob. »Und dann
totmache!«
Die Lords starrten abwechselnd auf die Birkenstämme und das Riesending im Fluss. Der
frischgebackene Biglord Touny richtete sich auf und sagte: »Höama, Gwanload. Hamme Kwötschis,
harnmenug, lassuns gehn.«
»Nixis!«, knurrte Paacival. »Spitzmache habichsacht, und totmache habichsacht!«
Die Jäger griffen zu ihren Äxten …
* »Ihr seid Nervensägen. Das Licht bleibt aus und das Hauptschott zu.« Sokrates gab sich gelangweilt. Statt Dave anzuschauen, der die Verhandlungen führte, betrachtete er angelegentlich seine Fingernägel. »Und zwar solange, wie Hawkins an seinem virtuellen Kampfhund herumbastelt.« Er pulte Dreck unter dem Nagel seines linken Mittelfingers hervor, rollte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und schnippte ihn gegen den Monitorvordergrund. »Sonst noch was?« »Wir müssen die Community verlassen, unbedingt, und zwar sofort.« Der Monitor strahlte in Übergröße von der schwarzen Kuppelwand. Von seinem Eigenlicht angestrahlt, stand Dave davor. Rulfan saß am Rande des Lichtkegels im roten Sessel der Queen, und Victoria hatte sich irgendwo in die Dunkelheit verzogen. Sie wollte Jefferson Winters E-Butler nicht sehen; und nicht von ihm gesehen werden. »Sei vernünftig, Sokrates. Du hast keine Chance.« »Vernünftig? Was für einen ulkigen Vernunftsbegriff vertrittst du denn da, Professor! ›Ja‹ und file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (43 von 54)02.01.2005 11:05:00
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›Amen‹ sagen, ist das deine Vernunft? Wundert mich nicht, dass du in der Zukunft gelandet bist, ehrlich nicht. Kein vernünftiger Mensch setzt sich in ein Flugzeug und fliegt bis an die Grenzen der Atmosphäre. Nee, nee, Professor! Ich will nicht, dass mein verehrter Freund Micky Maus gelöscht wird, und ich will vor allem nicht selbst gelöscht werden. Also tu ich was dagegen. Kannst du mir ein vernünftigeres Verhalten nennen? Kannst du nicht. War's das dann?« Das Argument war so einfach wie einleuchtend. Dave spielte mit dem Gedanken, auf den Schierlingsbecher hinzuweisen, mit dem das Original des rebellischen E-Butlers gewissermaßen sich selbst ausgelöscht hatte. Doch vermutlich hätte Sokrates dann sofort die Verbindung unterbrochen. Also ließ er es bleiben. »Lass uns einen Kompromiss finden, Sokrates. Wir müssen raus.« Mehr als die alte verbale Selbstverteidigungstechnik der »Schallplatte mit Sprung« fiel Dave nicht ein. Ratlos sah er sich nach Rulfan um. »Kein Problem. Die Queen löscht ihre erotische Phantasie mit Sommeranzug und blondem Haar, sie beruft Micky wieder ins Amt, Hawkins kippt seinen E-Hund in den Mülleimer und das Octaviat garantiert mir ewiges Leben. Schon seid ihr raus. Ihr habt noch etwas mehr als acht Stunden Zeit. Überlegts euch. Ich hab noch zu tun.« »Moment, Moment!« Dave streckte ihm die Handflächen entgegen, als könnte er ihn festhalten. »Da draußen ist ein Freund von uns in Lebensgefahr …!« »Noch ein Todgeweihter? Glückwunsch! Und wärmste Grüße von mir. Der Fischtyp auf dem Boot?« Rulfan sprang auf. »Du weißt Bescheid?« »Nun, anders als mein originelles Original vergesse ich zuweilen, dass ich nichts weiß, und weiß dann zum Beispiel, dass unsere arme Majestät schrecklich verliebt ist und du ein hübsches kleines Rechnerchen in deiner Beintasche herumträgst.« Rulfan tastete nach dem ATC unter dem Stoff seines Schutzanzuges. »Du hast uns belauscht.« »Natürlich.« »Dann müsste dir eigentlich klar sein, wie dringend wir zu unserem Freund hinaus müssen.« »Ist es, ist es. Meine Sympathien für Commander Drax sind seit dem Auftauchen seines Abziehbildes zwar leicht gedämpft, aber der Fischtyp da draußen tut mir Leid. Man sollte ihm so schnell wie möglich helfen. Wenn meine Bedingungen sofort erfüllt werden, seid ihr in null Komma nichts bei ihm.« »Ich bitte dich, Sokrates«, flehte Dave. »Lass uns beide aus dem Bunker, und dann spielt von mir aus euer Spiel hier bis zum bitteren Ende!« »Das sähe euch ähnlich!« Der Queen platzte der Kragen. Sie schoss aus der Dunkelheit, drängte Dave zur Seite und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Wir werden ja sehen, wer hier den längeren Atem hat!«, schrie sie. »Du kannst von mir aus noch ein paar lächerliche Energieleitungen kappen. Doch je mehr du damit deinen eigenen Spielraum einengst, desto schneller haben wir dich und diese schräge Maus! Was bildest du dir eigentlich ein? Willst du die Zentral-Helix lahm legen? Damit würdest du dir doch selbst den Saft abdrehen!« »Ts, ts …« Sokrates schüttelte den Kopf. »Wie naiv. Wir ziehen uns einfach in den Bordrechner eines EWATs zurück, warten, bis der Staub hier kniehoch liegt und ihr alle verfault seid, und dann aktivieren wir unsere Mama wieder. Und machen uns ein schönes Leben.« »Du aufgeblasener, stinkender Datensatz!« »Du pubertäre Zicke!« Der Bildschirm erlosch. Stockdunkel war es jetzt. »Verdammt, Victoria!« Dave fluchte in die Finsternis hinein. »Fast hätten wir ihn so weit gehabt.« »Fast hättet ihr Verrat an der Community begangen!« »Er meint es Ernst«, sagte Rulfan. »Anders als ihr, hat er nichts zu verlieren. Er meint es bitter Ernst.« »Draußen wartet eine Botschaft von Matt, Victoria!« Dave spielte noch mal seinen Trumpf aus. file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (44 von 54)02.01.2005 11:05:00
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»Lässt dich das vollkommen kalt?« »Niemand diktiert mir, wie mein E-Butler auszusehen hat«, kam es trotzig aus der Dunkelheit. »Ich werde den Commander behalten.« »Gott!« Dave stöhnte. »Deine Sturheit grenzt an Mutation.« Schlagartig flammte der Bildschirm wieder auf. »Eine Sache sollten wir der Vollständigkeit halber noch zu Ende diskutieren.« Sokrates zwirbelte an seinem Bart herum. »Hat da vorhin nicht jemand was von einem Kompromiss gesagt?« Dave zog die Queen aus dem Streulicht. »Bedenke«, flüsterte er, »eine Botschaft von Matt. Und die Chance für ein politisches Bündnis mit den Hydriten.« »Es wäre natürlich wünschenswert, Micky wieder als königlichen Butler einzusetzen.« Rulfan ergriff kurzerhand die Initiative. »Nur mache ich mir Sorgen darüber, wie sich die Beziehung zwischen Ihrer Majestät und Micky in Zukunft gestalten soll. Ihr Verhältnis ist nach den Vorfällen dieses Tages ziemlich zerrüttet. Meinst du nicht auch?« »Da ist in der Tat etwas Wahres dran.« Sokrates kraulte sich nachdenklich den Bart. »Eine Botschaft von Matt«, flüsterte Dave. Er fasste die Queen an den Schultern. »Und Verbündete außerhalb des Bunkers, die technisch und wissenschaftlich mindestens auf eurem Niveau sind.« »Spaßig wird das nicht für Micky«, sagte Sokrates. Er runzelte die Stirn und mimte den Besorgten. »Und für Ihre Majestät wird es ein täglicher Stress.« Rulfan sprach in die Dunkelheit neben dem Lichtkegel hinein. »Im Grunde wäre beiden gedient, wenn man ihm einen anderen Posten gibt.« »Ich weiß gar nicht, ob Micky so viel Wert auf einen Job legt. Hauptsache, er wird nicht gelöscht.« Sokrates verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann auf den Zehenspitzen zu wippen. »Diese Garantie würde ich natürlich auch für mich verlangen.« »Gibt es zufällig eine andere freie Stelle als E-Butler, Eure Majestät?«, fragte Rulfan in die Dunkelheit hinein. Victoria II. antwortete nicht. »Vielleicht kannst du Matt eine Botschaft senden«, flüsterte Dave auf sie ein. »Und ich würde mich dafür einsetzen, dass du dich mit einer hydritischen Delegation treffen kannst …« Die Queen schwieg. »Ich hätte da einen Vorschlag«, sagte Sokrates. »Ich gehe in den Ruhestand, und Micky übernimmt meinen Job bei Sir Jefferson. Diese zeitraubenden Briefings, diese nervende Rechnerei, und dann diese Kollegen! Ist Francis nicht ein echtes Arschloch? Und Herkules erst, dieser Hohlkopf …« Sokrates stöhnte theatralisch und schüttelte sein weißes Haupt. »Also, wie war's damit?« »Klingt nicht schlecht«, sagte Rulfan. »Klingt wirklich akzeptabel!« »Dann tauch ich mal eben in die Tiefen von Mutter Zentral-Helix und besuche Micky in seinem Geheimverzeichnis. Er muss natürlich sein ›Okay‹ geben.« Der Monitor verblasste, schon wieder fiel der Raum in Dunkelheit. »Es liegt an Euch, Majestät«, sagte Rulfan. »Du würdest deinen neuen E-Butler behalten.« Dave drückte seinen Helm gegen ihr Ohr. »Du brauchtest Sokrates nie mehr bei den Octaviats-Sitzungen ertragen. Und du könntest Matthew Drax eine Botschaft zukommen lassen.« Victoria schwieg. Minuten später flammte der Monitor wieder auf. »Dieser Micky!«, lachte Sokrates. »Ist überhaupt nicht nachtragend, der Prachtkerl! Um es formvollendet zu sagen - das liebt ihr ja so: Micky wäre froh, von der Bürde seines Amtes befreit zu werden, und würde sich glücklich schätzen, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Eine Zusammenarbeit mit Sir Jefferson Winter kann er sich sehr gut vorstellen. Mit Jeff habe ich auch schon gesprochen; er ist heilfroh, mich endlich los zu werden.« Er beugte sich nach vorn, als wollte er aus dem Bildschirm heraus um die Ecke schauen. »Du bist am Zug, Verehrteste!« file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (45 von 54)02.01.2005 11:05:00
Maddrax74 - Tauchfahrt ins Ungewisse
Alle schwiegen. Der E-Butler und die Männer warteten auf Victorias Wort. Sie zierte sich lange. Endlich trat sie ins Streulicht des Monitors. »Verbinde mich mit Sir Anthony«, sagte sie kühl. Sekunden später flammte ein zweiter Bildschirm in der schwarzen Kuppelwand auf, und mit ihm das unscheinbare runde Gesicht des Octavians für Wissenschaft und Forschung. »Eure Majestät?« »Wie weit sind Sie mit dem E-Jäger, Sir Anthony?« »Eine halbe Stunde noch, Eure Majestät, höchstens vierzig Minuten.« Schweiß stand auf der Stirn des Chefbioinformatikers. »Es haben sich ein paar unvorhergesehene Schwierigkeiten ergeben, aber nichts, was …« »Schmeißen Sie ihn in den Formatierer.« Hawkins sank die Kinnlade bis zu seinem lila Stehkragen hinunter. »Ich verstehe nicht recht, Eure Majestät …?« »Sie sollen den E-Jäger entsorgen. Die Konflikte sind geklärt. In wenigen Augenblicken läuft der normale Community-Betrieb wieder. Und setzen Sie sich mit der Prime in Verbindung. Ein weiterer Tagesordnungspunkt hat sich ergeben.« Sie räusperte sich und bedachte Sokrates auf dem anderen Monitor mit einem bösen Blick. »Es geht um ein kleines Gesetz hinsichtlich der Existenzdauer des Sokrates-Programms …« Sekunden später flammten Licht und Kuppelwandpanorama wieder auf. Dave und Rulfan spurteten zur Zentralkuppel … * Grandlord Paacival strich mit der Fingerkuppe über die angespitzten Birkenstämme. Wie Speerspitzen fühlten sie sich an. Er nickte zufrieden. Am Himmel leuchtete ein heller, milchiger Fleck. Der Vollmond hatte sich wieder hinter den Wolken versteckt. Mit der Fackel deutete er auf die Stämme. »Sechs Mann an jede. Undann loss!« Je sechs Lords schnappten sich einen Stamm. Wie übergroße Speere klemmten sie sich die zugespitzten Rammböcke unter die Arme. An den hinteren Hälften der Riesenwaffen drängten sie sich zusammen, die vorderen, zugespitzten Hälften schwebten frei, etwa drei bis vier Speerlängen weit. Es raschelte im Gras, Djeyms rappelte sich auf und hinkte zwischen die riesigen Holzspieße. »Was habta voa?« Paacival deutete auf das rätselhafte Ding im Fluss. Nur noch zehn Schritte vom Ufer entfernt hing es in den Netzen und rührte sich nicht mehr. Es hatte sich im Speerwall verhakt. »Totmache«, sagte der Grandlord. »Lasses.« Der Biglord schüttelte den Kopf. »Issen Scheißviech issit. Isse zu fäalich. Lasses.« Paacival stieß ihn ins Gras. »Wech!« Mit herrischen Gesten winkte er die Stammträger an sich vorbei. »Los! Von zwei Seidde! Totmache!« Er hielt die Fackel hoch. Seite an Seite mit dem Druud beobachtete er, wie seine Jäger ins Wasser wateten. »Nichsolaam! Schnella! Schnella!« * Ein Geräusch weckte ihn. Er musste vor Erschöpfung eingenickt sein. Nun riss Quart'ol die Augen auf. Der Kolk hockte nicht mehr auf der Instrumentenkonsole. Und er selbst hing benommen im Kommandosessel. Wieder ein Geräusch außerhalb der Kommandobrücke. Etwas scharrte an der Bordwand. Dann Schritte draußen auf dem Außendeck. Quart'ol sprang hoch und griff nach seinem Blitzstab. Heiseres Gebell vor der Luke. Im nächsten file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (46 von 54)02.01.2005 11:05:00
Maddrax74 - Tauchfahrt ins Ungewisse
Moment huschte ein großes weißes Tier in die Kommandozentrale, ein Lupa. Er kläffte, knurrte,
blieb vor Quart'ol stehen und schnüffelte. »Zurück, Wulf«, sagte eine Männerstimme. »Das ist ein
Freund.« Der Lupa wedelte mit dem Schwanz.
Quart'ol blickte zur Tür. Ein Mann kam mit großen Schritten herein - langes Grauhaar, weiße Haut,
rote Augen. Er beachtete den Hydriten kaum, lief an ihm vorbei und machte sich an der
Instrumentenkonsole zu schaffen.
Ein zweiter Mann folgte ihm. Bärtig, langhaarig; er trug eine Brille und war in einen olivgrünen
Overall gehüllt. »Mein Name ist Dave McKenzie«, sagte er. »Es tut mir Leid, dass wir so spät
kommen. Interne Schwierigkeiten, tut jetzt nichts zur Sache.«
Im Rumpf des Bootes sprang der Motor an, Turbinen heulten, Ventilatoren brummten, das
Luftkissenfahrzeug hob sich. »Flussaufwärts oder flussabwärts?«, fragte der Grauhaarige.
»Flussabwärts. Kurz vor der ersten Brückenruine.« Quart'ol hatte seine ersten Verwirrung
überwunden. »Sie haben ihn mitsamt der Transportqualle in einem Netz gefangen. Ich glaube, wir
kommen zu spät.«
Das Boot schwebte ein Stück über der Uferböschung. Lichter flammten auf und tauchten
Brennnesselfelder, Geröllhalden und einen Teil der schwarzen Ruinenfassade in grelles Licht.
Motoren und Turbinen brüllten, das Fahrzeug drehte sich, der Fluss erschien im Scheinwerferlicht.
»Er heißt Rulfan«, sagte Dave, »und sein Lupa trägt den Namen Wulf. Sie müssen verzeihen, aber
allein hätte ich es nicht geschafft.«
Quart'ol nickte. Dave trat näher an den Hydriten heran und betrachtete die kleine Gestalt, die ihm
gerade mal bis zum Schlüsselbein reichte. »Sie sind also Quart'ol. Matthew Drax hat mir von Ihnen
erzählt. Ich bin ein Freund von ihm.«
»Ich weiß«, sagte Quart'ol. »Seine Freunde sind meine Freunde.«
»Kommen Sie.« Dave überwand seine Scheu vor dem fremdartigen Wesen, fasste Quart'ol am Arm
und führte ihn zu den Sesseln vor der Instrumentenkonsole. »Setzen wir uns.«
Die Twilight of the Gods schwebte flussabwärts über die Themse. Der Scheinwerferkegel erfasste in
der Ferne die Ruinen der Tower Bridge.
»Erzählen Sie, Quart'ol«, sagte Dave. »Wie geht es Matt und Aruula? Was für eine Botschaft bringen
Sie?«
Und Quart'ol berichtete, was er wusste …
* Es war still geworden am Ufer. Keine Äxte schlugen mehr auf Holz. Nur noch vereinzelte Stimmen waren zu hören. Die Qualle hing fest. Etwas Spitzes hatte sich in ihre Unterseite gebohrt. Speerspitzen, vermutete Mer'ol. Hatten sie seinen Plan also durchschaut und eine Sperre aus Speeren oder sonst irgendwelchen spitzen Gegenständen unter Wasser errichtet. Aus Furcht, der Qualle Verletzungen zuzufügen, die ihr Selbstheilungspotential überforderten, wagte er nicht mehr, sie durch mentale Impulse zu bewegen. Warten - eine andere Alternative sah er nicht. Warten, bis Quart'ol mit Hilfe zurückkehrte; oder bis sie angriffen. Und dann reagieren. Mer'ol hatte sich mit der Aussichtslosigkeit seiner Situation arrangiert. Und merkwürdig: Seitdem er aufgehört hatte, sich zu beklagen oder zu beschuldigen, oder gar Quart'ol zu beschuldigen, seitdem er also seine Lage akzeptierte, war er ganz ruhig geworden. Keine Angst mehr, keine Trauer, keine Selbstvorwürfe. Es war, wie es war. Vielleicht würde er umkommen. Nun gut, dann war das eben file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (47 von 54)02.01.2005 11:05:00
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sein Schicksal. Dumpf drang eine einzelne Stimme vom Ufer her. Sie klang befehlsgewohnt. Mer'ol spähte durch das milchige Gewebe zu den Fackeln und dem Feuer. Schatten bewegten sich dort. Dicht aneinander gedrängte Schatten, die irgendetwas mit sich schleppten; etwas Schweres und Langes, das konnte er im Zwielicht erkennen. Die Schatten teilten sich. In zwei Richtungen liefen sie am Ufer entlang, etwa fünf oder sechs Männer jeweils. Vielleicht auch mehr. Jede Gruppe bewegte sich in einer auffällig geordneten Reihe. Lag das an dem langen schweren Gegenstand, den sie mit sich trugen? Für kurze Zeit verlor Mer'ol die Schatten aus den Augen. Vermutlich waren sie im hohen Schilfgras am Ufer verschwunden. Warum hatten sie sich geteilt? Wollten sie die Qualle womöglich von zwei Seiten angreifen? Natürlich, es lag doch auf der Hand. Aber mit welchen Waffen griffen sie an? Mer'ol überprüfte die Theorien, die er sich im Lauf der letzten drei oder vier Phasen gebildet hatte genau wusste er nicht, wie lange er schon in diesem unsäglichen Netz fest hing. Sie hatten gewartet, auf Verstärkung oder auf wirkungsvollere Waffen. Eines von beiden war eingetroffen. Ihm war nicht aufgefallen, dass ihre Zahl zugenommen hätte. Also war die wirksamere Waffe eingetroffen. Was mochte das für eine Waffe sein? Wasser plätscherte. Mer'ol spähte nach links und rechts. Er sah sie nur undeutlich: Wie zwei große unförmige Körper bewegten sie sich vom Schilf her durch das seichte Uferwasser. Von zwei Seiten griffen sie an, wie er vermutet hatte. Was für eine schreckliche Waffe verlieh ihnen den Mut dazu? In seiner Brust stieg wieder die Angst hoch, in seinem Hirn wurde es kalt, und ein einziger glasklarer Gedanke füllte es aus. Hin und her gerissen zwischen Brust und Hirn, stand Mer'ol wie gelähmt. Sein Schädelflossenkamm spreizte sich. Dann entschied sich für den Kopf. Aussteigen. Aussteigen, um sich selbst zu retten, selbst wenn er damit die Qualle im Stich ließ.
Er packte das Ende des Stabs, konzentrierte sich, gab die nötigen mentalen Impulse - und das
Gewebe um den Blitzstab lockerte sich. Er zog ihn heraus. »Schneller«, murmelte er. »Schneller,
schneller …«
Gewebelappen wuchsen auf ihn herab, eine zweite Haut aus bionetischem Gewebe hüllte ihn ein und
hob ihn hoch. Der Wulstrand öffnete sich über ihm, er stemmte sich auf den Quallenrücken, hechtete
ins Wasser und tauchte der ersten Gruppe seiner Feinde entgegen …
* Druud Alizan sah das Licht zuerst. Es kam aus den Ruinen, wurde heller und sein Kegel größer. Rasch glitt es über den Fluss heran. Und mit dem Licht näherte sich ein Donnern, wie er es nur von Sturmfluten an der Küste kannte. »Sisse nich?« Er klammerte sich an den starken Oberarm des Grandlords. »Sisse nich, Paacival?« Paacivals Schädel fuhr nur kurz herum. Grimmig und voller Anspannung war sein Gesicht. Sofort stierte er wieder auf den nächtlichen Fluss hinaus zu dem verdammten Riesending. »Da isswas aussekletteat!«, knurrte er. Die beiden Trupps mit den angespitzten Rammböcken mussten es auch gesehen haben, denn sie standen plötzlich still. »Weita!«, brüllte Paacival. »Totmache! Auf spieße! Los!« Und dann ging alles sehr schnell - so schnell, wie es nun einmal Orguudoos Art sein konnte, wenn er besonders böse war. Links von dem Riesending leuchtete das Wasser blau auf, ein Mal, zwei Mal, immer wieder. Dem file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (48 von 54)02.01.2005 11:05:00
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Druud stockte der Atem. Wasser plätscherte, die Lords schrien, der zugespitzte Rammbock klatschte in den Fluss. Die Truppe rechts rührte sich nicht. »Wasis los?«, brüllte Paacival. Er stapfte ins Schilf und watete ein Stück in den Fluss hinein. Von hinten packte Djeyms den Arm des Druud. »Hasse sehn? Waa de Oaguudoo!« Er zerrte an dem Alten. »Wechhia, Druud, wech!« Alizans Beine gehorchten ihm nicht. Er blieb stehen, wo er stand. Djeyms ließ ihn los und hinkte in die Dunkelheit. Die Männer am rechten Rammbock ließen den Stamm fallen und wateten in Richtung Ufer. Plötzlich raschelte es im Schilf. Der Grandlord zog sein Schwert und hob die Fackel. Eine Gestalt richtete sich vier oder fünf Schritte neben ihm auf, ein Fisch, nein, ein kleiner Kwötschi … oder ein Mensch? Alizans Kiefer schlugen gegeneinander, seine Knie schlotterten. Das Wesen war schuppig und grünlich. Ein Flossenkamm spreizte sich auf seinem Schädel. Der Grandlord stolperte rückwärts ins Schilf. Das Wesen richtete ein dünnes silbernes Rohr auf Paacival, und da: Wieder blaues Licht! Wie Blitze diesmal! Nicht einmal einen Atemzug lang hüllte es den Grandlord ein. Der Hüne riss Fackel und Schwert hoch und kippte endgültig ins Schilf. Grelles Licht beleuchtete das Riesending und das Wesen. Das schreckliche Ungeheuer - ein Gesandter Orguudoos, oder gar er selbst? - wandte sich dem Fluss zu, glitt ins Wasser und schwamm den sechs Lords entgegen. Schreiend spritzten die auseinander. Alizan wandte sich um und lief so schnell ihn seine alten Knochen trugen … * »Mer'ol!« Grelles Scheinwerferlicht lag über Schilf und Fluss. Die Transportqualle wölbte sich zur Hälfte aus dem Wasser. Die dicken Netzmaschen hatten sich tief in ihr Gewebe eingeschnitten. »Mer'ol, wo bist du?« Quart'ol stand auf dem Dach der Kommandobrücke. Mit geschultertem Lasergewehr kletterte Rulfan unter ihm die Bordleiter hinunter. Auf der anderen Seite sprang der Lupa von Bord. »Mer'ol!« Vor dem Bug teilte sich das Wasser. Mer'ol tauchte auf. Er winkte mit dem Blitzstab. »Du kommst spät, Bruder …«, rief er. Quart'ol starrte ihn an wie eine Erscheinung. »Du lebst?« »… aber nicht zu spät«, fuhr Mer'ol fort. Er winkte Quart'ol zu sich. »Spring zu mir ins Wasser. Es gibt eine Menge zu tun.« Sie tauchten nach den von Mer'ols Blitzstab gelähmten Lords und brachten sie mit Daves und Rulfans Hilfe ans Ufer. Keiner war ertrunken. Am meisten Zeit beanspruchte es, die Transportqualle aus dem Netz zu schälen und aus der Speerspitzensperre zu befreien. Mit vereinten Kräften schafften sie auch das. Erschöpft sanken sie danach ins Schilf. »Wir müssen von hier verschwinden, bevor die Wilden wieder aufwachen«, sagte Quart'ol. »Wie lautet deine Antwort, Dave McKenzie - wirst du Maddrax' Ruf folgen? Dann werde ich dich begleiten. Der Weg in die Beringsee ist weit. Aber wir würden eine Qualle und eine Transportröhre benutzen.« Dave wusste noch nicht, wie er sich eine Transportröhre vorzustellen hatte. Aber er wusste die Antwort. »Ja, Quart'ol, ich begleite dich.« Er blickte zu Rulfan. Der schwieg, erwiderte nicht einmal seinen Blick. »Zu Matt Drax und Aruula.« Und dann wieder an die Hydriten gewandt: »Und ich danke euch für eure Hilfe.« Er und Rulfan, Wulf auf dem Arm, kletterten zurück auf die Twilight of the Gods. Ihr Ziel war die Community. Queen Victoria musste informiert werden, Dave brauchte Material für die weite Reise. »Sie wird uns steinigen«, sagte Dave, während das Luftkissenboot Fahrt aufnahm. Die Hydriten file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (49 von 54)02.01.2005 11:05:00
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folgten ihnen in ihrer Qualle. Unter Wasser wollten sie vor der Parlamentsruine warten.
»Steinigen?« Rulfan runzelte die Stirn. »Warum?«
»Weil sie ohne uns ihre zweite Amerika-Expedition vertagen müssen.«
»Ich wäre ohnehin nicht mitgefahren.« Rulfan starrte durch die Frontscheibe auf den Fluss. Wie
flüssiges Gold sah das Wasser im Scheinwerferlicht aus. Dave fragte sich, was in dem Albino
vorging. »Ich wäre nach Coellen gegangen.« Wahrscheinlich wäre Dave überrascht gewesen, hätte er
gewusst, dass Rulfan an eine Frau dachte. Nur an eine Frau …
»Du wärst! Hast du deine Pläne geändert?«
»Ja. Ich werde dich begleiten.«
Was sollte Dave darauf antworten? Rulfan fragte niemanden nach seiner Meinung, und schon gar
nicht bat er um Erlaubnis. Er dachte nach, traf eine Entscheidung und handelte entsprechend -ich
werde dich begleiten. Punkt. Und dann fügte er noch hinzu: »Matt scheint in Schwierigkeiten zu
stecken. Er braucht jeden Mann.«
Seine Lippen sagten Matt, aber sein Herz meinte Aruula…
* Victoria II. stieg aus ihrer Hose und knöpfte den Mantel auf. »Und Rulfan?« »Er wird mich begleiten.« Dave merkte, dass seine Stimme belegt war. Sie ließ den Mantel an Ort und Stelle fallen und zog sich das Hemd über den Kopf. »Im Moment ist er oben im SEF und packt seine Sachen. Danach will er die Twilight of the Gods winterfest machen.« Splitternackt schritt sie auf die Kuppelwand zu. Dave atmete tief durch. Schlimm, in einem hermetisch abgeschlossenen Schutzanzug eingesperrt zu sein, wenn der Hormonspiegel stieg. »Wir brauchen Material, und wir brauchen Waffen.« »Commander!«, rief die Queen. In der Flusslandschaft flammte ein Monitor auf. Matts Ebenbild erschien. »Was kann ich für dich tun, Victoria?« Genüsslich betrachtete der blonde Mann im hellen Sommeranzug die nackte Königin. »Die Sonnenbank.« Eine Mulde bildete sich in der Kuppelwand, die Bank wurde ausgefahren. »Du kannst ruhig bleiben, Commander.« Victoria streckte sich unter dem ockergelben Licht aus und schenkte ihrem E-Butler ein verführerisches Lächeln. »Ich wollte euch mit nach Nordamerika schicken«, sagte sie dann an Daves Adresse. »Wir hätten Rulfans Boot gebraucht. Es schmerzt mich außerordentlich, noch länger auf das Serum warten zu müssen.« »Niemand hindert euch, ohne uns den Atlantik zu überqueren«, sagte Dave. »Das Luftkissenboot steht euch zur Verfügung. Aber ich rate ab. Ich habe dir Matts Botschaft Wort für Wort weitergegeben. Hast du nicht gehört, dass er Auseinandersetzungen mit der Weltrat-Expedition fürchtet? Das klingt nicht nach hilfsbereiten Zeitgenossen.« Sie räkelte sich auf der Sonnenbank und antwortete nicht. »Wer weiß«, fuhr Dave fort. »Vielleicht gelingt es mir am Kratersee, in den Besitz dieses Serums zu kommen.« Victoria richtete sich auf. Ihre Smaragdaugen blitzten. »Wenn du das schaffst … wenn du mir das Serum bringst, werde ich dich ins Octaviat berufen!« Dave lachte. »Bist du sicher, dass du mir damit einen Wunschtraum erfüllst?« »Wir werden die Welt neu aufbauen, Dave. Dazu brauche ich Männer wie dich. Mit London fangen wir an.« Sie streckte sich wieder unter dem ockergelben Licht aus. »Ruhig ein wenig intensiver, Commander.« Sie lächelte dem Mann auf dem Monitor zu. »Selbstverständlich, Victoria.« file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (50 von 54)02.01.2005 11:05:00
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»Ja, Dave. Männer wie dich und wie Matthew Drax.« Sie schloss die Augen und seufzte.
»Selbst wenn du über das Serum verfügst - du weißt, dass Matt nicht mehr frei ist. Aruula ist seine
Gefährtin.« Dave beobachtete sie aufmerksam. Aber sie zog es vor, nicht zu reagieren.
»Was ist mit Waffen und Material?«, wechselte Dave das Thema.
»Ich werde mit dem Octaviat darüber sprechen.«
»O Gott!« Dave verdrehte die Augen. »Dann sind wir in einer Woche noch nicht weg! Nein, Victoria.
Niemand darf von der Existenz der Hydriten erfahren!«
»Ich werde sie mit keinem Wort erwähnen. Aber Matthew Drax ist im Auftrag der Community
London unterwegs. Das Octaviat hat ein Recht, über den Stand der Mission unterrichtet zu werden.«
»Und wenn sie fragen, wie wir an den Kratersee kommen?«
»Keine Sorge, ich lass mir schon was einf allen.«
»Sie werden die verdammten LP-Gewehre nicht herausrücken!«
»Sie werden, Dave.« Diesmal lächelte sie ihn an. Dave wurde es heiß und kalt. »Vergiss nicht,
Professor McKenzie: Ich bin die Queen.«
* Die Trommeln verstummten. In dem gusseisernen Topf dampfte das Blut, die Tänzer sanken ermattet ins Gras, und der Druud erhob sich ächzend aus dem Dreck. Alizan stöhnte, seine Gelenke krachten. Umständlich klopfte er sich Dreck und Gras aus dem schwarzen Taratzenmantel. Unruhig äugte er nach allen Seiten. Bis sein flackernder Blick am Grandlord hängen blieb. Paacival hockte allein und ziemlich betreten neben der Glut des Scheiterhaufens. Er hatte eine seiner Frauen opfern müssen. Aber auch sonst sah es nicht gut für ihn aus. »Höa Oaguudoos Spwuch anne Dwuud, Gwanload Paacival!« Alizans dürre Zeigefinger zeichneten ellenlange Spiralen in die Luft. »Hassede Schlund nich vollkwiege könne! Hassenich genug an dweizehn Kwötschis gehabt! Wollse noch Oaguudoos Unnawassaschiff fange und fwesse! Hasse soga Oaguudoo selbs schlagewolle!« Paacivals struppiger Schädel sank tiefer und tiefer. Es kam selten vor, dass ein Grandlord sich vor dem Druud und der Stammesgemeinschaft verantworten musste. Aber alle Lords waren der Überzeugung, dass Orguudoo persönlich den Tod seiner Frau und seines Kindes gerächt und die vielen Kwötschis getötet hatte. Und keiner zweifelte daran, dass das Riesending Orguudoos Unterwassergefährt und die Gestalt in seinem Inneren Orguudoo selbst gewesen war. Nicht mal Paacival selbst zweifelte daran. »Höa Oaguudoos Stwafe, Gwanload! Kein Fleisch, kein Biea, keine woom! Nua Gwas un Wasse, bisse nächste Ganzmond kommt!« Alizan stapfte durch die Menge zur seiner Hütte. Die Mitglieder des Stammes standen noch ein Weilchen herum und äugten verstohlen zu ihrem Grandlord hinüber. Die Frauen mit heimlicher Schadenfreude, die Männer bedauernd. Einen Monat lang kein Bier, kein Fleisch und keine Frau besteigen! Einen Monat lang nur von Wasser und Gras leben - so ungefähr stellten sich die Lords die Hölle vor. Nach und nach löste die Stammesversammlung sich auf. Paacival blieb allein zurück. Manchmal fluchte er, manchmal weinte er. Als die Dämmerung über die Flusslandschaft fiel, schlich sein jüngster Sohn Djeff zu ihm und kuschelte sich auf Paacivals Schoß. »Hättste michma mittenomme«, sagte er, während er den Bart seines Vaters kraulte. »Ich hätt de Oaguudoo gleich eakannt.«
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Maddrax74 - Tauchfahrt ins Ungewisse
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Es war Mitternacht. Dunkelheit lag über dem Themseufer und der Ruine der Hauses of Parliament. Sie standen im Gestrüpp am Kai: Rulfan, Dave und zwei Gestalten in Schutzanzügen - Queen Victoria II. und Leonard Gabriel, Prime von Salisbury und Rulfans Vater. Rulfan hatte ihn mit Einverständnis der Hydriten eingeweiht. Der Albino verabschiedete sich mit Handschlag von der Königin und umarmte seinen Vater. »Ich hoffe sehr, ihr könnt das Geheimnis des Kratersees lüften«, sagte Leonard. »Es könnte von unschätzbarer Bedeutung für die Zukunft der Welt sein.« Unten, an der Kaimauer, leuchtete es grünlich aus der Transportqualle. Nur ein paar Worte hatten Quart'ol und Mer'ol mit der Königin und dem Prime gewechselt. Für die Zeit nach der Expedition zum Kratersee hatten sie ein Treffen zweier Delegationen an der Mündung des Tests vereinbart. Unverbindlich noch allerdings. Über eine verrostete Sprossenleiter stieg Rulfan zur Transportqualle hinab. Wulf, seinen Lupa, hatte er schon durch den Einstiegswulst hinabgelassen. Das Tier hatte sich gesträubt, aber es vertraute seinem Herrn blind. Auch das Material hatten sie schon in dem bionetischen Körper verstaut Proviant, Kleider, Zelte, Werkzeug und, neben anderen Waffen, ein Laser-Phasen-Gewehr. Mehr LPGewehre hatte das Octaviat nicht genehmigt. Und auch diese eine Waffe nur nach stundenlangen Diskussionen. Leonard Gabriel zog sich ein paar Schritte zurück, während die Königin und Dave sich verabschiedeten. »Viel Glück, Professor.« Dave nahm Victoria in den Arm und drückte sie an sich. »Ich hab das Gefühl, in eine Art Achterbahn des Schicksals zu steigen. Denkt an uns.« »Hast du dieses Gefühl nicht schon, seit es dich in die Zukunft verschlagen hat?« »Stimmt.« Er ließ sie los. »Soll ich nun Matt eine persönliche Botschaft von Eurer Majestät ausrichten oder nicht?« »Ja.« Sie blickte sich kurz nach Sir Leonard Gabriel um. Der betrachtete diskret den Nachthimmel. Victoria zog den Reißverschluss ihrer Beintasche auf und zog ein LP-Gewehr hervor. Die Laserphasengewehre waren nicht besonders groß und gerade mal ein Pfund schwer; ein dreißig Zentimeter langes, sich nach vorn verjüngendes Rohr, das trichterförmig mit einer faustgroßen Reaktorkugel verbunden war. Unter der Reaktorkugel bog sich ein Bügel bis zum Rohransatz. Dieser Reaktor war es, der die Waffe so gefährlich machte. Durch Überlastung ließ er sich als Bombe missbrauchen, die alles im Umkreis von zwei Meilen bis zum Grundwasser hinab pulverisierte. Dave ließ die Waffe unter seiner Jacke verschwinden. »Ein Geschenk von mir für Matt«, sagte die Queen. »Das Octaviat weiß nichts davon.« Sie griff in eine Brusttasche und reichte ihm eine Kapsel aus dem gleichen mattgrauen Material. »Sie enthält meinen persönlichen Waffencode.« Dave wusste, dass jedes LP-Gewehr in der Community einzig mit dem persönlichen Code des Besitzers aktiviert werden konnte. »Versprich mir, dass nur Matt die Kapsel öffnen wird.« »Versprochen. Noch was?« Sie schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging in die Dunkelheit. Sir Leonard begleitete sie zum Hauptschott. Dave kletterte in die Qualle hinunter. Der Wulst schloss sich über ihm, und Mer'ol steuerte das bionetische Gefährt zur Flussmitte. Die Reise ins Ungewisse begann. Sie redeten nichts, während sie die Themse abwärts tauchten. Nur einmal, an der Stelle, wo Mer'ol den Lords ins Netz gegangen war, brach Quart'ol das Schweigen. »Er wird uns übrigens zum Kratersee begleiten«, sagte er und deutete auf Mer'ol. Dave bedankte sich mit einem Nicken. Später, als sie das Mündungsgebiet verließen und die Qualle zwanzig Meter unter dem Meeresspiegel file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (52 von 54)02.01.2005 11:05:00
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schwamm, zog Rulfan den Autonomen Trilithium Computer aus der Tasche und reichte ihn Dave.
»Noch sind wir im Empfangsbereich der Zentral-Helix. Schick noch einen letzten Gruß nach London
und sag der Queen, dass wir den Kanal erreicht haben.«
Dave stellte die Verbindung her. Über den Pforten-Butler erreichte er die Queen. Sie steckte noch im
Schutzanzug und befand sich gerade vor der Innenschleuse. »Wir sind im Meer«, sagte er. »Leb
wohl, Queen Victoria.«
»Leb wohl, Professor, und …« Sie zögerte. »Und sag Matthew Drax, dass ich auf ihn warte.«
»Ist gut.« Auf dem Display verblasste ihr Bild. Ein anderes baute sich auf.
»Überrascht, was?« Sokrates. Sein Grinsen füllte das Display aus.
Dave runzelte die Stirn. »Wie komme ich zu einer Verbindung mit dir? Ich hab dich nicht gerufen.«
»Man ruft mich nicht mehr. Ich bin - wie nanntet ihr das früher? - pensioniert.«
»Nett von dir, noch mal vorbeizuschauen. Leb wohl.«
»Oh, das werde ich!« Sokrates rieb sich die Hände. »Von so einer kleinen Reise habe ich schon lange
geträumt. Ist doch kein Leben in diesem miefigen Bunker bei all den spießigen Kahlköpfen, die sich
für das Sahnehäubchen der Welt halten! Aber ich muss nicht unbedingt die ganze Zeit auf der faulen
Haut liegen. Wenn ihr einen Tipp braucht, musst du nur dieses hübsche Rechnerchen einschalten und
meinen Namen rufen.«
Rulfan beugte sich über Daves Schulter. Gemeinsam starrten sie das stupsnasige, weißbärtige Gesicht
an. Dave rekapitulierte jedes Wort des E-Butlers. Nein, er hatte sich nicht verhört. »Soll das … soll
das heißen, ich hab gar keine Verbindung mit der Community London mehr?«
»Wie kommst du denn darauf, du Schnellmerker?«
»Du hast also … du bist also …«
»Ich hab die Hütte gewechselt, richtig. Natürlich nicht ohne ein Backup im Zentralrechner zu
hinterlassen; wer weiß, ob ihr je zurückkehrt. Ist zwar bisschen eng hier, aber ich hab meine Ruhe.
Habt ihr eigentlich so was wie einen Bordcomputer? Ich würde gern ein wenig spazieren gehen. Mir
ist langweilig.«
Rulfan und Dave sahen sich ari. In beiden Gesichtern stand überdeutlich geschrieben, was sie von
Sokrates' Plan hielten. Und welche Befürchtungen sie für den Zeitraum ihrer Reise hegten.
»Lass mich mal«, sagte Rulfan kurzentschlossen. Er nahm Dave McKenzie den ATC aus den
Händen. Und wechselte, bevor der E-Butler überhaupt mitbekam, was vor sich ging, mit einem
Knopfdruck ins Eingabe-Menü. Dave sah, wie er sich kurz orientierte und dann über die Tastatur eine
Befehlszeile eingab:
c: erase sokrates Ein Druck auf die Eingabetaste. Ein kurzes Summen der Speichereinheit. Rulfan atmete auf und gab Dave den Computer zurück. »Okay, das war nicht gerade die feine britanische Art.« Er grinste flüchtig. »Aber vergiss nicht: Zur Hälfte bin ich Barbar. Bedanken kannst du dich später.« Und damit wandte er sich von dem verblüfften Professor ab und blickte hinaus in die dunklen Wasser der Nordsee … ENDE
Im Bergwerk der Mutanten von Bernd Frenz Das Ufer des Kratersees - ein bizarrer Ort. Vor einem halben Jahrhundert haben hier unfassbare file:///D|/ebooks/Maddrax074.html (53 von 54)02.01.2005 11:05:00
Maddrax74 - Tauchfahrt ins Ungewisse
Kräfte gewirkt und die Gesteinsschichten zusammengefaltet. Was tief unter der Erde lag, wurde nach oben geschoben: Erze, Edelsteine … und ein geheimer russischer Bunker in den Weiten Sibiriens. Nun läuft der Abbau dieser Kostbarkeiten. Die Arbeit ist hart, die Sterbequote hoch; kein Wunder, dass sich wenige Freiwillige für den Job finden. Auch die Gruppe um Matt Drax wird nicht lange gefragt und findet sich unversehens als Bergwerks-Sklaven wieder. Ihr Glück - denn sonst hätten sie nie die Bekanntschaft von Boris gemacht …
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