Die dunklen Seiten ...
des Alltags
Ihre Physionomie zeugt nicht von Agressivität. In ihrem Antlitz finden sich keinesf...
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Die dunklen Seiten ...
des Alltags
Ihre Physionomie zeugt nicht von Agressivität. In ihrem Antlitz finden sich keinesfalls Spuren enormer krimineller Energie und, auch das muß ich zugeben - ihre Augen wirken nicht verschlagen. Und doch: Diese Taube ist mein Gegner. Das einzige, was dieses Tier und mich verbindet, ist unser gemeinsames Faible für meinen Balkon. Allerdings nutze ich ihn - im Gegensatz zu meinem gefiederten Feind - so gut wie nie, um dort meine Notdurft zu verrichten. Und das schon gar nicht mit Vorliebe auf meinem Lieblings - Teakholzsessel. Die Frevlerin muß sterben. Lieber einmal eine saubere Exekution, als den ganzen Sommer unsaubere Exkremente. Zunächst erwäge ich Gift. Doch diese Option befriedigt mich nicht. Ich will es selbst tun. Auge in Auge. Und zwar im Augenblick ihres, vermeindlich, größten Triumphes; in der Sekunde, in der sie ansetzt ihren Darminhalt auf meinen Freiluftmöbeln zu platzieren. Als Tatwaffe wähle ich mein Luftgewehr, den tödlichen Schuß werde ich aus dem dichten Blattwerk des Baumes gegenüber des Balkons abfeuern. Ich muß nicht lange in meinem natürlichen Anstand, fünf Meter über Bodenniveau auf sie warten. Sie kommt pünktlich jeden Abend zur gleichen Zeit. Tauben besitzen offensichtlich ein Verdauungssystem, das in seiner Präzision einer Rolex kaum nachsteht. Sie gleitet heran. Sie stellt die Flügel quer. Sie landet. Sie furzt. Tatsächlich; ich habe es deutlich gehört. Darüber habe ich in Brehm's Tierleben nie etwas gelesen ! Egal. Das macht mir die Entscheidung nur noch leichter. Das Gewehr ist gespannt, mein Blut kühl, die Hand ganz ruhig.; Als ich sie im Zielring erfasse, schaut sie zu mir herüber. Wahrscheinlich sieht sie mich sogar. Zu spät für Reue. "Ich kenne da ein todsicheres Mittel gegen Durchfall. Wir Menschen nennen es Blei", zische ich zu ihr, hinüber um mich dann klassisch zu verabschieden:
"Hasta la vista, Baby !"
"Wer ist Karla ?" "Unsere Brieftaube. Sie besucht dich doch jeden Abend." Jetzt weiß ich wenigstens, wie die diarrhöische Flugsau heißt, die mir jeden Tag den Balkon vollkackt. "ICH ? Karla erschießen ?" "Ach du Dummchen. So was würde der Onkel nie tun. Karla und ich sind Freunde. Würde sie denn sonst regelmäßig bei mir vorbeischauen ?" "Falls du vorhast, Karla etwas zu tun, Onkel, wirst du dein Auto nicht mehr wiedererkennen und außerdem werden alle erfahren, dass du mit der Post Zeitungen ohne Absender in blickdichtem Umschlag bekommst." Einerseits fühle ich mich beruhigt, dass die soziale Kontrolle in unserem Viertel noch funktioniert. Anderseits bereitet mir meine Situation, mit einem Luftgewehr im Baum hockend, von einer Sechsjährigen in die Enge getrieben, Unwohlsein.
Platsch! Was Karla da gerade unüberhörbar fallen ließ, war nicht nur einer mitteleuropäischen Wandertaube würdig, es hätte jedem geschlechtsreifen Anden-Geier zur Ehre gereicht - so denn die Fäkalmenge in der Ornithologie eine relevante Größe ist. "Kann das sein, dass deine Karla mir gerade auf den Gartentisch geschissen hat ?", frage ich, mehr rhetorisch, meine kleine Gesprächspartnerin. "Was erwartest du denn, Onkel ? Dass eine Taube sich an einen Baum stellt und das Beinchen hebt ? Oder bei dir klingelt und fragt, ob sie 'mal auf deine Toilette darf ?"
"Was machst du da im Baum, Onkel ?", reißt mich eine Kinderstimme just in dem Augenblick aus meinem Blutrausch als ich den Finger krümmen will. "Ich mache Tierfotografien und habe mir diese moderne Langbild-Kamera gekauft und wollte sie gerade ausprobieren", antworte ich der sechsjährigen Nachbarstochter. "Ist das ein Gewehr ?", bohrt das Cleverchen nach. "Na, so drastisch würde ich das nicht bezeichnen. Es ist eher so eine Art Spielzeug für Erwachsene." "Willst du etwa Karla erschießen ?"
Ich denke, ich werde mich vom Baum stürzen.