Arabische Märchen aus Syrien Herausgegeben und aus dem Arabischen übersetzt von Uwe Kuhr
Insel Verlag
Erste Auflage ...
45 downloads
1221 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Arabische Märchen aus Syrien Herausgegeben und aus dem Arabischen übersetzt von Uwe Kuhr
Insel Verlag
Erste Auflage 1993 © Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1993
Alle Rechte vorbehalten Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Kuhr sammelte während seines 6-jährigen SyrienAufenthalts über 1000 Märchenbeispiele; 120 davon, darunter 18 mündlich tradierte, wählte er für diesen Band aus, der eine aktuelle Bestandsaufnahme des arabischen Märchenschatzes aus Syrien am Ende der 80er Jahr sein will und nicht auf existierende Sammlungen zurückgreift. Die Texte zeigen Syrien, bedingt durch seine geographische Lage und seine historische Vermittlerrolle, als Schmelztiegel für Märchenstoffe aus Orient und Okzident, orientalische Erzähltradition verbunden mit uns durchaus bekannten Motiven. Keine Überschneidungen mit Littmanns berühmter Sammlung „Arabische Märchen“, der im Jahre 1900 die Märchen einer syrischen Märchenfrau sammelte.
Vorwort
Der Orient galt in Europa zu Recht als ein schier unerschöpflich sprudelnder Quell für vielerlei Märchen und Geschichten, Mythen und Legenden. Ob waghalsige Abenteuer, tolldreiste Begegnungen mit allmächtigen Geistern und Dämonen, ob Streiche naiver Schalksnarren, nachdenkliche Belehrung zu allen Lebenssphären oder religiöse Weltbetrachtung: vielfach tragen die Helden Turban und Krummdolch, die schönen und klugen Frauen geheimnisvolle Schleier. Die Exotik der Märchen bedient sich auch im Abendland gern der Kulisse von Minaretten, dem Marktgedränge orientalischer Basare, der Zauberkraft geheimnisvoller Derwische sowie der gewaltigen Kräfte von Unterweltkönigen und Dschinnen. Die ›Geschichten aus 1001 Nacht‹, die nach Grimms ›Hausmärchen‹ auch in Deutschland Allgemeingut geworden sind, haben ganze Arbeit geleistet. Der ›wilde‹ Kulturaustausch über die Jahrhunderte im Troß der Kreuzzüge, über Handelskarawanen und mit Pilgerfahrten, durch Kriege und Besetzung, über Missionare, Dichter und Wissenschaftler hat gründlich gewirkt. Jener Teil Arabiens, zu dem Syrien gehört und an dem drei Kontinente ineinander münden, war daran besonders intensiv beteiligt. Mit kaum vergleichbarer Innigkeit hat der Orient auch das mittelalterliche Europa beeinflußt: Neben bahnbrechenden Kenntnissen aus den fortgeschrittenen arabischen Wissenschaften wurden von der Kunde über diese fremden Völker die Phantasien mannigfaltig angefacht. Reiz und Exotik des Orients begannen Deutschland mit dem zweiten Kreuzzug (1147-1149) zu erfassen. ›Niuwe maere‹ (neue Märchen)
kamen in reichem Strom auf dem Landweg und über das Mittelländische Meer auf den Alten Kontinent, denn Spielleute waren in Scharen den waffenklirrenden Glaubensrittern gefolgt. Die Unterhalter schätzten den erzählfreudigen Orient als eine üppig gefüllte Schatzkammer von Märchen und Geschichten. An den aufgesogenen Stoffen entzündete sich nicht selten ihre Dichtung von neuem. Dabei mag es verwundern, daß bis in die Gegenwart dieser Schatz arabischen epischen Volksschaffens nicht ganz gehoben, nicht ganz erforscht, klassifiziert sowie mit dem Märchengut des Abendlandes und aus anderen Kulturkreisen verglichen ist. Arabien selbst steht auf diesem Gebiet erst am Anfang. Europäische Orientalisten und Sprachkundler – darunter federführend viele Deutsche – leisteten enorme Vorarbeiten, doch noch sind sie nur Fragmente. Noch immer gibt es ›weiße Flecken auf der Landkarte der Märchenforschung‹. Diese Feststellung der dem arabischen Märchen besonders verbundenen Ursula Nowak-Assaf gilt weiter. In ihrer Schrift ›Beiträge zu Typologie des arabischen Volksmärchens‹ (Freiburg 1969) bedauerte sie, daß in der Gegenwart reiches Erzählmaterial aus Arabien verlorengehe. Dieses Reservoir könnte aber ihrer Meinung nach »einen außerordentlich wichtigen Beitrag zur vergleichenden Märchenforschung« leisten. Vielleicht kann dieses Buch einen neuen Anstoß geben. Es will versuchen, einen aktuellen Einblick in den wie Märzenschnee in der Sonne schmelzenden arabischen Märchenschatz aus Syrien zu vermitteln. Dazu wurde das repräsentative Ergebnis einer ›Bestandsaufnahme‹ Ende der achtziger Jahre zugrundegelegt und nicht auf existierende Sammlungen aus der Vergangenheit zurückgegriffen. Möglicherweise kann diese in der Gegenwart aufgezeichnete Märchensammlung Stoff zu neuen Studien und Vergleichen
zumindest für Syrien geben und zudem mit den klassischen Reizen des Orients unterhalten. Während eines sechsjährigen Aufenthaltes in diesem arabischen Land trug ich über eintausend Märchenbeispiele aus den verschiedenen geographischen Regionen und den großen Religionsgemeinschaften zusammen. Ein Vielfaches ließ sich in den Nachbarstaaten und auf der Arabischen Halbinsel zu Tage fördern. In über fünfzig Fällen zeichnete ich mündlich tradierte Märchen auf, wobei mir nicht selten befreundete Syrer halfen. Aus diesem authentischen Material sind achtzehn Beispiele in diesen Band eingeflossen, der mit seinen einhundertzwanzig Märchen natürlich nur Splitter dieser ›Feldforschung‹ bieten kann und deshalb unvollständig bleiben muß. Grundsatz für die Auswahl war vor allem die Häufigkeit bestimmter Genres und nicht die bestimmter Märchentypen. Die eine oder andere Parallele zu klassischen Sammlungen – vor allem den ›Geschichten aus 1001 Nacht‹ – liegen im Bereich der Absicht. In der bekannten Sprichwörtersammlung des al-Midani vom Beginn des 12. Jahrhunderts läßt sich ein Vorfahre des Märchens ›Der Gesang des Kaffees‹ aus diesem Band finden. Ein Urahn von ›Sperling und Heuschrecke‹ wurde sogar schon im 10. Jahrhundert festgehalten. Verwandte Texte zu ›Filzchen‹ und zum ›Barbier aus Tradition‹ lassen sich bis Marokko, solche zu ›Eisenhart und die Ghula‹ im ganzen Nahen Osten und in der Türkei finden. Trotz mancher Abstriche und berechtigter Befürchtungen ist das Märchengut Syriens, einem alten orientalischen Kulturland, thematisch noch erstaunlich reich. Die besondere historische Vermittlerrolle des Landes zwischen Orient und Okzident, am Schnittpunkt vieler Handelsstraßen, die von Südarabien bis China, von Indien bis Europa reichten, hallt bis in die Gegenwart nach. In Syrien hatten sich einst Märchenstoffe wie
in einem Schmelztiegel verbunden: vor- und altarabische Motive wetteiferten mit indischen, persischen, chinesischen, nord- und ostafrikanischen, ja gingen in ihnen auf. Vielfach zeugte diese Berührung neue Geschichten. Diese Kraft hat das Märchen in der Gegenwart offensichtlich verloren. Märchen werden zudem nur noch von wenigen Altersgruppen, besonders der im Alter fortgeschrittenen Generation gepflegt. Der Quell, der schier unerschöpflich sprudelte und Märchenweiden anderer Kulturen mit sprießen ließ, ist am versiegen. Die wenigen Märchensammler Syriens wie anderer arabischer Länder begreifen sich vielfach als ›Rettungsgräber‹ in Sachen mündliches Erzählgut. Sie erfassen, wessen sie habhaft werden können, und verzichten zumeist auf eine theoretische Durchsicht. In Syrien sind es oft Lehrer, die sich des Märchens annehmen. Ihnen zur Seite stehen wenige Schriftsteller, Rechtsanwälte, Ethnographen und Hausfrauen. Bei ihren Bemühungen wird es ihnen oft schwer gemacht. Die Erforschung der Folklore und darin eingebunden das Sammeln, die Wiedergabe und die Analyse von Märchen wird im Orient überwiegend am Rande der ›offiziellen‹ Kulturpolitik betrieben. Nach der osmanischen Fremdherrschaft richtet sich die Aufmerksamkeit weiterhin auf die Erschließung der großen kulturellen Leistungen der Araber und der Wiederbelebung der arabischen Hochsprache. Bei einem derart reichen Erbe wie dem der arabischen Völker ist diese Bündelung der begrenzten eigenen Kräfte durchaus verständlich. In Syrien fühlt sich auch heute keine staatliche Stelle für diesen Teil der Kultur – die Folklore – recht verantwortlich. Ein ganz anderes Problem schafft der scheinbare Konflikt, in den für viele Araber das Märchen mit dem Geist der Epoche geraten ist. In der High-Tech-Ära droht das Märchen auch in Arabien unter das Rad der Geschichte zu geraten: Märchen in
den Dekaden von Computern? Fliegende Teppiche im Dunstkreis von Raketen? Nicht selten wird mit diesem geschichtlichen ›Ballast‹ schon deshalb gebrochen, um zeitgenössisch, angepaßt zu erscheinen. Außerdem vollzog sich in diesem Jahrhundert auch sprachlich eine schwerwiegende Umdeutung: Das einst vor allem in der Umgangssprache gebräuchliche Wort für Märchen ›khurafa‹ und das davon abgeleitete Verb für Märchenerzählen ›kharafa‹ sind heute nurmehr Begriffe für ›altersschwachsinniges Gefasel‹ und ›zusammenhanglos schwätzen‹. Konnten Kinder einst noch bedenkenlos die Großmutter auffordern: ›khirfina‹ (Erzähl’ uns ein Märchen), hat sich ein fataler Sinnwandel vollzogen. Einen schlechten Dienst erwies zudem der Ägypter Muhammad Abd al-M. Khan der Beschäftigung mit arabischem Volkserzählgut. In seinem Buch ›Die vorislamischen Mythen‹ (Kairo 1937) stellte er die These auf, daß es in diesem Metier gar keine eigenständige arabische Entwicklung gegeben habe, sondern daß die arabischen Völker diesen Schatz lediglich von den geistig entwickelteren Ariern übernommen hätten. Khan kam – auch unter Berufung auf den deutschen Philosophen Hegel – zu dem Schluß, daß ›der Araber nur wenig Schöpfergeist besitzt‹ (S. 3 8), der wiederum das Tor zu den Märchen und die Grundlage für das Entstehen von Mythen sei. Die prinzipielle Debatte um dieses Postulat hat seither in Arabien kein Ende gefunden. Für die außerarabische Wissenschaft ist diese Frage längst zugunsten des arabischen Märchens entschieden: der originär arabische Anteil an der Entwicklung des orientalischen Märchens ist unumstritten. In Syrien gehen nennenswerte Anfänge der Märchenforschung in die sechziger Jahre und besonders in die Zeit nach der Niederlage im Sechstagekrieg von 1967 zurück.
Sie hatte nachweislich erheblich das nationale Identitätsgefühl der Araber auch in Syrien erschüttert. Folklore diente damals als ein ›Strohhalm‹ der nationalen Wiederbesinnung. Dieser Impuls aus Existenzangst im Gefolge der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Israel ist bei mehreren arabischen Völkern nachzuweisen. Am nachhaltigsten wirkte er bei den palästinensischen Arabern. Dieses ›einfache kulturelle Aufbegehren‹, das der Wiederfindung und Untermauerung des nationalen Selbstwertgefühls diente, unterlag jedoch starken Schwankungen. Sobald neue Probleme oder politische Kurswechsel in diesen Ländern auftraten, verfiel die Folklore erneut ihrem sonstigen Schattendasein. In den folgenden Phasen geriet die Folkloristik nicht selten sogar in Widerspruch zur offiziellen Politik: In Syrien war es der Panarabismus der herrschenden Baath-Partei. In extremer Ausprägung und Ausdeutung wendet er sich gegen lokales nationales Volkserbe, soweit es sich eben nicht in ein großoder überarabisches Erbe eingliedern oder unterordnen läßt. Das selektive Verhältnis zum Volkserbe ist nach wie vor Reibfläche, die ein vorurteilsfreies und kontinuierliches Studium der Volkstradition ver- oder zumindest behindert. Das Märchen gilt bei bestimmten Moralisten und Kulturpolitikern als ›Entwicklungsbremse für die neue Gesellschaft‹ und nicht selten sogar für ›die Revolution‹ wegen der Darstellung als überlebt geltender Verhaltens- und Denkweisen. Die Zahl von Publikationen der Märchensammler, die bis Mitte der siebziger Jahre zugenommen hatte, tendierte anschließend gegen Null. In der für Syrien innen- wie außenpolitisch konfliktreichen Folgezeit trat das Märchen weiter in den Hintergrund. Der in dieser Zeit scheinbar die wahren Interessen der arabischen Völker ausdrückende Panarabismus überging auch das Märchen und brachte seine Vertreter in mancherlei Nöte: nicht wenige resignierten, einige lavierten, wiederum andere erlagen
dem geistigen Druck, ›ewig gestrig zu sein‹, wandten sich vom Märchen ab oder wurden sogar zu seinem Gegner. Ein neuer Aufschwung des Märchensammelns war seit Ende der ersten Hälfte der achtziger Jahre zu verzeichnen, der mit einem Nachlassen der politischen Bevormundung einherging. Die Tagespresse polemisierte wiederholt gegen das Thema Märchen, zumeist in Verbindung mit der Erbe-Diskussion oder zum gesellschaftlichen Wert der Folklore. Zu Wort kommende Künstler anerkannten mehrheitlich den kontraproduktiven Wert der Volkstradition. Oft blieb das Märchen aber umstritten, gern wurde es auf einen Teil der Kinderliteratur reduziert. Der im syrischen Schriftstellerverband einflußreiche Autor und Kritiker Abdullah Abu Haif stellt die Märchenforschung und deren Sinn überhaupt in Frage. In einem Gespräch im Frühjahr 1988 vertrat er die Ansicht, daß das »Sammeln von Märchen und Sprichwörtern sinnlos ist, weil in ihnen alte Denkweisen und Verhaltensmodelle zementiert werden. Dieser Teil des Volkserbes ist es wert, vergessen zu werden.« In einem Pressebeitrag vom Januar 1989 kommt Abu Haif zu dem Schluß: »Unser Volkserbe in seinem gegenwärtigen Zustand, besser Rohzustand, ist ein lästiges und zerteiltes Erbe, das zielgerichtet wissenschaftlich untersucht gehört. Dieses Studium muß trennen zwischen dem, was Rückständigkeit verewigt, und dem, was der Sache der Revolution, der panarabischen Einheit und der Entwicklung dient… Nicht die bloße Wiederbelebung des Erbes, sondern seine Rückgewinnung steht auf der Tagesordnung.« An Adil Abu Sanabs einzigem Märchenbuch ›kana ya ma kan‹ bemängelte die Literaturkritik schon 1973, daß er am Märchen zu sehr die negativen Seiten hervorhebe, »die Kinder seit der Wiege in sich aufnehmen, wie Gewalt, Egoismus, krankhafte Sexualität«. Auf Widerspruch stieß vor allem seine Ansicht, mit der er das Aufzeichnen von Märchen überhaupt ablehnte:
Mit diesem Akt des Festschreibens würde ›dessen Entwicklung verhindert, die es möglicherweise hätte zum Guten nehmen können‹. Noch 1980 erhärtete Abu Sanab seine Ansicht, daß Märchen »Erzählstoffe mit vielen negativen und nur wenigen positiven Seiten sind«. Seine Textsammlung sollte diese Ansicht nur bekräftigen. Munir Kayyäl erhebt – als eigentlich vehementer Verfechter der Pflege von Volkstümlichkeit – zu Märchen warnend die Stimme. Sie drückten »befremdliche und beargwöhnenswerte Vorstellungen aus… die unsere Gesellschaft in Zeiten der Unterdrückung überschatteten«. Ganz anders widmete sich der bei der UNESCO in Paris beschäftigte Syrer Nabil Gurg Salama diesem Thema. In seinem Buch ›Das mündliche Erbe im Nahen Osten und ein Programm zu seiner Bewahrung‹ (Damaskus 1987) vertritt er die Ansicht, daß »das mündliche Erbe der Allgemeinheit gehört. Niemand kann es deswegen für sich allein in Anspruch nehmen.« Für ihn war diese Hinterlassenschaft eine »ungeschriebene Historie des Orients«, die es mit allen Mitteln zu bewahren und zu erfassen gelte. Der Lehrer Abd al-Razzaq Gafar wendet sich in seinem analytischen Buch ›Wundersames Märchen‹ (Damaskus 1985) gegen jene Eiferer, die Märchen in Bausch und Bogen ablehnten, »weil das Kind in seiner moralischen Entwicklung gestört werden könnte«, oder aus diesem Grund für oder gegen bestimmte Arten von Märchen sind. Ihnen hält er eine ›einseitige Sicht‹ und eine ›Banalisierung von Erziehung‹ entgegen. Das Erzählen von Märchen »erfüllt ein tiefes reales menschliches Bedürfnis« (S. 34). Auf diesem Standpunkt steht auch der Schriftsteller Khalid Ramadan, der für seinen Heimatort Zabadani bei Damaskus große Teile des epischen Volksschaffens aufgezeichnet hat. Seiner Meinung pflichtete der Hochschullehrer Bassam al-Sal bei, dessen Buch
›Volksmärchen aus Lathakia‹ ein eindrucksvolles Plädoyer für die Erforschung der Märchenwelt Syriens ist. Nizar al-Aswad legte mit über zweihundert Märchen die umfangreichste Sammlung aus Damaskus vor, die er zwischen 1977 und 1986 zusammentrug. Seinen ersten Band ordnete er nach einzelnen Damaszener Stadtteilen, was erstaunlich große Abweichungen im sozialen Gehalt der tradierten Stoffe widerspiegelt. Im zweiten Band bot er Märchenschätze einiger Familien aus Damaskus und umliegender Dörfer an. Außerdem stellte er eine größere Zahl Sprichwortmärchen vor, zu denen er die Ansicht vertritt, daß sie ein Zwischenprodukt im Prozeß einer ständigen Reduzierung von Märchen auf ihre Quintessenz seien, bis letztlich nur noch die Spruchweisheit als Extrakt übrigblieb. Salma Salman konstatierte trotz aller Schwierigkeiten, daß »in den jüngsten Jahren Aktivitäten zur Aufzeichnung und Veröffentlichung von Volksmärchen in Syrien und den anderen arabischen Ländern zugenommen haben«. Der Beamte Muhl al-Din Qurunfula gab in seinem Buch ›Die schönsten Geschichten aus Damaskus‹ sprachlich in die fünfziger und sechziger Jahre zu datierende Texte wieder, die nicht nur Märchen, sondern oft auch die Umstände wiedergeben, unter denen Märchen erzählt wurden. Qurunfula schildert, was auch der Germanist und Märchensammler Zihni Qutras bestätigte, daß noch heute vereinzelt bei Abendgesellschaften Märchen erzählt werden. Viele Volksmärchen sind im Sinne von Lebenshilfe um Deutungen selbst komplizierter Abläufe in Natur und Gesellschaft bemüht. Dinge des Zusammenlebens von Mann und Frau, der traditionellen ›Gewaltenteilung‹ in der Familie, der Erziehung der Kinder, deren Verheiratung und vieles mehr sind Gegenstand von Märchen. Dabei werden eherne Gesetze nicht nur gutgeheißen. Natürlich spielt die Sexualität eine Rolle, die die Menschen in älterer Zeit viel alltäglicher und
weniger anstößig nahmen, als es heute der Fall ist. Dabei ist es kein Geheimnis, daß Märchen für Erwachsene lasziv und ›nicht jugendfrei‹ sein können. Manche versuchen sich in praktischer Eheberatung und Aufklärung, andere frönen purer sexueller Lust. In Märchenform waren auch philosophischreligiöse Deutungen parat, wie beispielsweise Gott im Augenblick der Zeugung das Geschlecht des neuen Erdenbürgers bestimmt. Auch der mitunter derbe Humor kommt nicht zu kurz, wobei Texte dieser Art gemessen am Volkswitz wohl den turbulentesten Veränderungen in den Details unterliegen. Interessant ist Munir Kayyals Ansicht über den Gebrauch des Dialekts. Die meisten Autoren verfechten den Einsatz der arabischen Hochsprache. Kayyal, Qurunfula und Abu Sanab hingegen plädieren für die sprachliche Urform des Märchens, das nur in den verschiedenen lokalen arabischen Dialekten lebe. Deren Gegner stehen auf dem Standpunkt, daß die Dialekte in ihrem panarabischen Verständnis stark eingeschränkt seien und deshalb Märchen in der Hochsprache niedergeschrieben werden müßten. Ramadan und Salman und einige weitere Märchensammler versuchen sich diesem linguistischen Zwist dadurch zu entziehen, indem sie sich einer von lokalen Dialektbegriffen gefärbten Sprache, der sogenannten Mittelsprache ›lughat al-wusta‹, bedienen. Das Problem der Sprache ist – und das sollte man nicht unterschätzen – durchaus ein Hemmschuh bei der Erforschung von Märchen: Der Sammler muß gleich zu Anfang entscheiden, ob er bei seiner Beschäftigung mit dem Märchen auch noch den nur wenig gelittenen Dialekt einsetzen oder sich der Hochsprache bedienen will. Andererseits zeigt die Erfahrung, daß der eine oder andere Sammler der Versuchung erliegt, bei der Übertragung der Urtexte in die Hochsprache
etwas ›korrigierend‹ in die Handlung des Märchens einzugreifen. Die erfaßten Texte widerspiegeln ein lebendiges Bild religiöser Einflüsse. Dadurch daß sie ausschließlich von muslimischen Sammlern niedergeschrieben wurden, dominiert der Islam unter den drei im Nahen Osten entstandenen Weltreligionen. In den Texten ist das Auftreten von allerlei Geistern und Dämonen auffallend, deren Vielfalt in den Bergregionen Syriens ebenso zunimmt, wie sie sich in den Städten vor allem auf den menschenfressenden Ghul reduziert. Dabei ist der Glaube an Geister unter Arabern weit verbreitet. In Syrien wird dafür nur selten das auch in Deutschland bekannte Wort Dschinn verwandt. Neben dem Ghul kennt der Syrer den Ifrit, ein teufelsähnlicher und zumeist sehr bösartiger Erdgeist, den Marid, wohinter sich ein Dämon von der Art des Flaschengeistes aus ›Aladins Wunderlampe‹ verbirgt, und natürlich Geisterkönige. Der Glaube an Geister und der damit verbundene Aberglaube stehen zum Teil in Widerspruch zur offiziellen Religion und dem Koran. Verbreitet ist die Annahme, daß das Ausgangsmedium der Geister Feuer sei, aus dem sie durch Abkühlung stoffliche Gestalt annehmen können. In der Mehrzahl werden Schlangen und schwarze Hunde mit Geistern in Verbindung gebracht, wobei der Charakter ihres Verhältnisses zum Menschen oft beeinflußbar ist. Interessant ist auch, daß der Mensch durch Freundlichkeiten, wie mit einer einfachen Grußformel beim Ghul und durch Beschneiden der Haare sowie Finger- und Fußnägel beim Marid, Geister besänftigen kann und gar dauerhaft umzustimmen in der Lage ist. Durch Saugen an den Brüsten der Ghula, die schwarze Milch geben sollen, kann der Mensch sogar in eine Art Adoptivverhältnis zum Geist treten, der ihn dann wie seinesgleichen behandelt, ihn schützt und ihm hilft. Erstaunlich ist im Verhältnis Geist-Mensch, daß es alle Formen
menschlichen Zusammenlebens, einschließlich Heirat und gemeinsame Nachkommen, ausprägen kann. Welchem Orbit von übernatürlichen Wesen sich der gläubige Muslim gegenüber sah, verdeutlicht ein sechshundert Jahre altes Beispiel, auf tausend Wesen zählte ein Mensch, neun Dschinnen, neunzig Teufel und neunhundert Engel. Das arabische Märchen aus Syrien hat über die Zeiten eine charakteristische Form angenommen, die es von manch anderer arabischen Region unterscheidet. Das Märchen beginnt mit einem Teil, Dahliz oder vulgärarabisch Bsat genannt, was soviel bedeutet wie Korridor und ausgerollte Sitzmatte. Gemeint ist eine Einstimmungsformel oder -geschichte, die sowohl tief religiös als auch derb humoristisch ausfallen kann, und im allgemeinen nichts mit dem eigentlichen Märchen zu tun hat. Aus vorliegenden etwa dreißig Dahliz läßt sich ablesen, daß dieser ›Vorspann‹ in Prosa abgefaßt oder gereimt sein kann: »Was soll ich sagen und mich plagen immerdar, als ich noch ledig und frei und ungebunden war. Mein Rücken war nicht krumm, meine Hüften nicht fett, doch jetzt – wie dumm. Ich hatte vom Liebreiz der Rose so viel, meine Lebensart dem Sultan gefiel und für Sorgen war ich kein Ziel… Da lief die Mutter mit Gefolge, schaut, und klopften an der Muslime Türen um eine Braut… Als nun die Hochzeitsnacht kam, war sie wie ein Schemel so lahm, auf ihrem Gesicht lag ein Fluch, es war wie ein Knittertuch, ihre Brüste glichen, welch Qual, eher einem Bücherregal… sie lahmte auf einem Bein, das andere hinkte obendrein. Wir gaben sie einem Gottesknecht und schieden ihn wieder nach Allahs Recht.« Oder: »Fassen wir uns in Geduld und laßt uns sprechen, ein richtiger Kerl versteht der Rede Sinn: Die Zeit ist ein Rad – ein Tag sei für Euch gut, einer mache uns Mut. Ich habe schon ans Tor vom Paradies geklopft. Heraus trat ein hübscher Maghrebiner Knabe, der ließ einen Vogel steigen. Oh, die ihr
edle Pferde kauft, oh, die ihr auf rasenden Hengsten lauft: Erwidert meine Sehnsucht, denn mir bleibt weder Kraft noch Saft.« Nach derartigen Worten kommen die Eingangsformeln, die allgemein dem berühmten »Es war einmal…« entsprechen. Die vulgär-arabische Entsprechung »kana ya ma kan« nimmt allerdings einen Sinnwandel: Wurde es einst verstanden und (auch in diesem Band übersetzt) als »Es war, es war nicht«, wird es heute schon oft interpretiert als »Es war und oft sogar«. Das Vage im Alten tendiert zur Gewißheit im Neuen. Die Schlußformeln sind ebenso variabel wie die Eingangsformeln. Dieser Band bietet einen guten Überblick über die Vielfalt und den Witz der Märchenschlüsse. Für deren Einsatz gibt es ebensowenig Regeln wie für die Einleitungssprüche. Für die Unterstützung und Mithilfe gilt mein besonderer Dank dem syrischen Germanisten und Übersetzer kurdischer Abstammung, Zihni Qutras, der mir zur Mehrzahl der mündlichen Märchen verhalf, indem er selbst mit Tonband unterwegs war und mir anfänglich half, das Gehörte niederzuschreiben und zu interpretieren. Gleicher Dank gebührt dem Dramatiker, Theaterkritiker, Germanisten und Übersetzer Nabil al-Haffar, der mir großzügig seine private Büchersammlung arabischer Märchen und Folklore zugänglich machte. Dank sei dem Ethnographen Kamil Ismail, der mir seine Mitte der siebziger Jahre in seinem Heimatdorf Scheich Badr aufgezeichneten Märchen uneigennützig zur Verfügung stellte und mir darüber hinaus auch einige Geschichten aus seiner Kindheit niederschrieb. Ehre gebührt dem pensionierten Lehrer Abd al-Razzaq Gafar, der sich in besonderer Weise um Märchen verdient machte und mir eine unveröffentlichte Sammlung von dreißig Märchen anvertraute. Dank gilt der einfachen und um so liebenswürdigeren Adiba Haidar aus dem Bergdorf Ranküs, der es nicht zu ungewöhnlich war, mir als
Ausländer selbst Märchen auf Band zu sprechen. Dankenswert ist das Bemühen des in Syrien bekannten Bildhauers Mahmud Sahin, der in seinem Heimatort in der eigenen Familie für mich auf ›Märchenjagd‹ ging.
Hassan und die Tochter des Königs von China
Es wird erzählt, daß Allah einst einem König nur einen einzigen Sohn schenkte, der den Namen Hassan trug. Um ihn war sein Vater auf das äußerste besorgt und stets abzuwenden bereit, was dem Jungen an Unheil hätte zustoßen können. Das Kind wuchs zu einem stattlichen Jüngling heran, der seinen Vater eines Tages bat, ihm das Reisen zu erlauben, damit er kennenlerne, welche Länder sein eigenes Reich umgäben. Bisher habe er nichts außer die heimischen Gegenden durchstreift. Der König willigte in die Pläne seines Sohnes ein und gab ihm einen Säbel mit auf den Weg und außerdem noch den Rat, diese Waffe immer dann zu benutzen, wenn er in arge Bedrängnis gerate. Hassan zog aus dem Palast hinaus und durchstreifte Ebenen, erklomm Berge und überschritt Flüsse. Als er vom Reiten ermüdet war, stieg er von seinem Pferd, breitete eine Matte auf der Erde aus, richtete sich eine Mahlzeit her und begann zu essen. Gerade in diesem Augenblick kam ein Reiter vorüber, der bei ihm kurz verweilte. »Willst du dich nicht mit mir im Zweikampf messen, Jüngling?« fragte jener. »Komm, laß uns erst essen und dann laß uns kämpfen!« schlug Hassan vor. Der Reiter nahm Platz und aß. Wenig später kam ein weiterer Reiter, der Hassan ebenfalls zu einem Zweikampf herausforderte. Der Jüngling bat diesen wie seinen Vorgänger zum Mahle. Einem dritten Reiter erging es nicht anders. Als sie ihre Mahlzeit beendet hatte, riefen sie streitlustig: »Wohlan, nun auf zum Wettstreit!« Hassan machte einen Einwand geltend. »Wie könnten wir miteinander kämpfen, wo wir doch von einem Teller gegessen haben. Uns verbindet nun das alte
Band von Salz und Brot. Wir dürfen uns nicht gegenseitig töten. Vielmehr ist es an uns, den Bruderbund zu schließen und von Stund an einander im Guten und im Bösen beizustehen.« Alle teilten Hassans Ansicht, sie reichten sich die Hände und nahmen sich an Bruder Statt an. »Nun laßt einmal hören, was ein jeder von uns Nützliches für alle hat!« forderte Hassan seine neuen Gefährten auf. »Ich besitze einen Spiegel«, begann der erste. »Wenn ich in ihn hineinschaue, kann ich jeden Flecken der Erde, den ich will, erblicken.« »Ich habe einen Teppich«, berichtete der zweite, »mit dem kann ich in kürzester Zeit zu den entferntesten Winkeln der Welt fliegen.« »Ich bin ein Taucher«, erklärte der dritte, »und kann sehr lange in die tiefsten Wasser tauchen und vom Grund des Meeres heraufholen, wonach mir der Sinn steht.« »Ich nenne diesen Säbel mein eigen, der jeden meiner Feinde niederstreckt«, stellte sich Hassan vor. »Allerdings ist an ihn meine Seele geknüpft. Sollte ich die Waffe verlieren, verlöre ich auch mein Leben.« Danach erhoben sich alle, schwangen sich in die Sättel ihrer Pferde und ritten gemeinsam weiter, bis sie in eine Stadt gelangten, deren Bewohner sämtlich schreckensbleiche Gesichter hatten und deren Leiber von Krankheit und Schwäche gezeichnet waren. Als sie sich nach der Ursache erkundigten, erzählte man ihnen, daß ein großer Walfisch im Meer jedesmal die Sonne verschlucke, wenn sie aufgehen wolle. »Wir sehen die Sonne nicht mehr und auch sie sieht uns nicht.« Hassan entbot sich, die Leute von dem Walfisch zu befreien, und diese wiesen ihm den Weg zu dem Untier. Dort wartete der Jüngling, bis der Wal wieder auftauchte und versetzte ihm mit seinem Säbel einen Hieb, der ihn zur Strecke brachte. Die Leute waren außer sich vor Freude und der König
ließ nach den vier Rittern senden, um sie zu ehren. Hassan aber bot er sogar seine Tochter zur Frau für die große Wohltat an. »Ich bitte, sie meinem Bruder mit dem Wunderspiegel an meiner Statt zu vermählen. Wir sind wahre Brüder. Zwischen ihm und mir besteht kein Unterschied.« Der König war einverstanden und vermählte seine Tochter mit dem, der den Spiegel besaß. Die drei anderen Gefährten zogen alsdann weiter und ließen den vierten bei seiner Frau zurück. Nachdem sie ein weiteres Stück Weges zurückgelegt hatten, kamen sie in eine zweite Stadt, in der alle Einwohner Trauerkleider trugen. Die drei erkundigten sich nach dem Grund für die Trauer. »Ein Ghul hat uns das Wasser abgeschnitten. Er läßt es nur fließen, wenn wir ihm jeden Tag ein Mädchen bringen, das er frißt. Heute ist die Reihe an des Königs Tochter«, erzählte man ihnen. Hassan erkundigte sich sogleich nach dem Unterschlupf des Ghuls. In seiner Nähe traf er auf ein Mädchen, das zum Ghul unterwegs war. Hassan hielt es auf und bat es, den bösen Dämon herauszurufen. Das Mädchen tat, wie ihm geheißen, und der Ghul fuhr aus seinem Versteck hervor. Der Jüngling trennte dem Geist mit einem derben Schlag den Kopf vom Rumpf. Das viele Blut des Ghuls ergoß sich in den Wasserlauf. Die Prinzessin eilte mit der frohen Botschaft zu ihrem Volk, das in große Freude ausbrach. Der König rief die drei Gefährten zu sich und ließ ihnen alle Ehren angedeihen. Als Hassan nach dem Willen des Herrschers die Prinzessin zur Frau nehmen sollte, erbat er sie für seinen Bruder mit dem fliegenden Teppich. Und so geschah es. Die zwei übrigen Gefährten setzten ihren Weg fort. Bald kamen die beiden in eine Stadt, über deren Einwohner von Zeit zu Zeit ein blutrünstiger Drache hereinbrach und stets eine große Anzahl Menschen packte. Auch dieses Ungeheuer überwältigte Hassan und der Taucher heiratete des Königs Tochter. Hassan nahm Abschied und zog allein weiter.
Unterwegs beobachtete er zwei Reiter, die mit Säbeln auf eine große marmorne Säule einhieben, bis sie völlig entkräftet waren. Schweiß rann an ihren Körpern herab und sie waren so geschwächt, daß sie ihre Arme zu keinem neuen Schlage hätten erheben können. Immer wenn ihnen eine Klinge zerbrach, ergriffen sie eine neue Waffe, bis sie schließlich mehr als zwanzig Säbel zerbrochen hatten, ohne daß sie etwas hätten ausrichten können. Hassan schaute den beiden aus einiger Entfernung zu, wobei ihn Erstaunen über ihr Tun erfaßte. Dann lachte er, daß er fast der Länge nach hingeschlagen wäre. Sie schauten sich nach ihm um und wollten den Grund für seine Heiterkeit wissen. »Ich wundere mich über eure fruchtlosen Versuche, diese Säule zu erschlagen«, sagte der Jüngling. »Was hat es eigentlich zu bedeuten, daß ihr auf den Stein einhaut?« »Wisse, daß sich die Tochter des Königs von China in dieser Säule befindet«, klärten ihn die beiden auf. »Ihr Vater hat sie innen aus Sorge vor dem König von Persien verborgen. Diesem alten Herrscher von achtzig Jahren war einmal aus Zeichen im Sand geweissagt worden, daß, sollte er die Tochter des Königs von China heiraten, er wieder ein Jüngling von zwanzig Jahren würde. Der Vater der Prinzessin hatte es zurückgewiesen, sie dem Greis zur Frau zu geben. So versuchte der König von Persien, das junge Mädchen zu entführen. Ihr Vater verbarg es in dieser Säule und ließ verkünden, daß derjenige, der diese Säule zu zerbrechen imstande sei, auch würdig wäre, die Prinzessin vor dem König von Persien zu beschützen.« Hassan wartete noch ein wenig, während sich die beiden Reiter verzweifelt von der Säule abwandten, dann zog er selbst seinen Säbel blank und hieb einmal, zweimal auf die Marmorsäule, die sich daraufhin spaltete. Im Inneren der Säule kam die liebreizende Prinzessin von China zum Vorschein, die
auf einem großen Stuhl thronte und alles um sich hatte, was sie an Speisen, Kleidern und sonstigen Dingen brauchte. Der Jüngling half ihr aus der Säule und ritt mit ihr auf schnellstem Wege zum Palast ihres Vaters. Der König von China hieß sie aufs herzlichste willkommen. Er schloß seine Tochter in die Arme, und auch den Prinzen drückte er an sein Herz. Der König beglückwünschte Hassan, daß er es vermocht hatte, die Säule zu bezwingen, und tat kund, daß der Jüngling von Stund an Gemahl und Beschützer seiner Tochter sein sollte. Der Prinz bat darum, daß man ihnen beiden einen Palast inmitten des Meeres erbauen solle, in dem die Prinzessin vor allem Bösen sicher wäre. Er persönlich werde diesen Palast bewachen, der nur über eine von Seilen gezogene Leiter zu betreten sein sollte. Der König wies den Bau des Palastes an, der umgehend ausgeführt wurde, und die Prinzessin zog ein. Ihr Gemahl riet ihr, niemandem die Leiter herabzulassen, was auch immer der Grund sei. Ging er aus dem Palast, senkte er die Leiter vom Dach und stieg hinab, worauf die Prinzessin die Leiter wieder einzog, die sie erst wieder hinabließ, wenn Hassan zurückkam. Der König von Persien nun hatte erfahren, daß die Tochter des Königs von China in diesem Palast im Meer lebte. So befahl er, einen Tunnel von der Küste bis an den Palast zu graben, an dessen Ausgängen er Wachen postierte. Er ließ sich eine alte Frau kommen, der er genau auftrug, was sie zu tun hatte. Dann schickte er sie durch den unterseeischen Tunnel auf die Insel. Die Prinzessin wurde auf die Alte am Fuße der Palastmauern aufmerksam, als sie gerade auf einer der Balustraden spazierenging. »Was tust du dort, Frau?« fragte sie von oben. »Ich war mit einem Schiff unterwegs nach Mekka«, log die Angesprochene. »Wir hatten hier des Nachts Anker geworfen, und ich war von Bord gegangen, um das Gebet zu verrichten.
Ich hatte gebeten, auf mich zu warten, bis ich zurück sei. Aber als ich mein Gebet beendet hatte, war man ohne mich in See gestochen und hatte mich zurückgelassen.« Die Prinzessin empfand Mitleid mit der Alten. »Willst du zu mir heraufkommen?« fragte sie die Alte. Die junge Frau ließ die Leiter hinab und bat ihren Gast herauf. Das falsche Weib grüßte und dankte überschwenglich. Die Alte legte ihr Überkleid und ihr Kopftuch ab und schaute sich um. »Bist du jungvermählt?« fragte sie, und die Prinzessin nickte. »Und warum richtest du dann dein Heim nicht her, wie es jemand wie dir ansteht?« Die Alte griff nach einem Besen und begann, den Palast zu fegen, zu wischen und zu putzen, bis er strahlte und glänzte. Damit nicht genug, denn die Alte badete und schmückte die Prinzessin, daß sie noch liebreizender wurde. Als Hassan zurückkam, begrüßte ihn die Prinzessin, die nicht wie sonst war. Überrascht war er allerdings, als er die Alte erblickte, die an ihn herantrat und ihm die gefangenen Fische abnahm, aus denen sie sogleich eine Mahlzeit bereitete. Hassan fand dies sehr merkwürdig, aber die Prinzessin war schnell mit einer Erklärung bei der Hand. »Diese alte Frau ist zu uns gekommen, nachdem sie auf Pilgerfahrt war. Aber ihr Schiff hat sie am Strand zurückgelassen. Deshalb ließ ich sie herauf. Die Ordnung, die du hier ringsum siehst, ist ihr Werk.« Hassan hörte seinem Weib zu, hielt ihr aber dann entgegen: »Hatte ich dir nicht angeraten, daß niemand – wer es auch immer sei – den Palast betreten darf?« »Aber sie ist doch eine gottesfürchtige und gutherzige Alte, die uns bestimmt kein Leid zufügen wird«, wandte jene ein. Hassan schwieg widerwillig, aber auch der Teufel höchstselbst wäre von dieser Alten hinters Licht geführt worden, wenngleich Hassan zu ihr nicht einen Funken Vertrauen faßte.
Die Alte war schon fünfzehn Tage im Palast und hatte währenddessen all seine Winkel und Geheimnisse sowie die Gewohnheiten von Prinz und Prinzessin kennengelernt. Als Hassan eines Tages nicht im Palast war, saßen die beiden Frauen beieinander. »Mein Töchterchen, woran ist die Seele deines lieben Mannes geknüpft?« fragte die Alte, die indes schon vom König von Persien wußte, das Hassans Lebensgeist an dessen Säbel hing. Die junge Frau fand die Frage merkwürdig und begriff deren Bedeutung nicht. »Woran soll denn die Seele meines Mannes hängen? Hat er keine Seele wie alle Menschen?« »Mitnichten, sie ist gänzlich unterschiedlich«, belehrte sie die Alte. »Wie das? Sind denn nicht alle Seelen einander ähnlich?« »Das schon, aber die Seele deines Mannes ist nicht so wie die der anderen Menschen. Frage ihn, wenn es dich interessiert.« Die Prinzessin wunderte sich über das Gehörte, schwieg aber, bis Hassan heimkehrte. »Wie ist sie, deine Seele, geliebter Gemahl?« fragte sie ihn, als sie beisammen waren. »Warum diese Frage, mein Liebes? Meine Seele ist wie andere auch.« »Keineswegs, mir scheint, sie ist anders.« »Da irrst du, Liebes«, wehrte er weiter ab. »Nur, wer hat dir das eingeredet?« »Niemand«, war ihre schnelle Antwort. »Nun weiß ich aber, daß deine Seele ganz anders ist, und ich muß erfahren, worin sie besteht.« »Gut, meine Seele hängt von jenem Besen ab.« Bei diesen Worten wies Hassan auf den Feger in der Kammerecke. Nachdem er am anderen Tag den Palast wieder verlassen hatte, lief die Prinzessin zu dem Rutenbund, reinigte und parfümierte ihn, ordnete und schmückte ihn und begann ihn zu küssen. Die Alte beobachtete dabei das Mädchen. »Was geht in dir vor, Töchterchen. Ich sehe dich den Besen küssen. Deinem
Verstand ist doch wohl nichts Böses widerfahren?« erkundigte sie sich. Die Prinzessin lachte auf. »Aber nein, ich küsse nur die Seele meines Mannes. Sie steckt in diesem Besen.« »Oh, dein Mann hat sich ganz ohne Zweifel über dich lustig gemacht. Seine Seele kann unmöglich in einem Besen stecken. Du mußt ihn noch einmal fragen, denn sie muß an einem anderen Ort verborgen sein.« Die Prinzessin wurde ärgerlich. Sie packte den Besen, schwang ihn hin und her und schleuderte ihn letztlich hinaus ins Meer. Dann wartete sie auf die Heimkehr Hassans und schützte dabei eine Unpäßlichkeit vor. Hassan trat zu ihr und wollte wissen, was mit ihr sei. »Du hast mich verspottet«, platzte sie heraus. »Du hast mir gesagt, deine Seele läge in dem Besen, aber ich habe herausgefunden, daß sie an etwas anderem hängen muß. Belogen hast du mich.« Hassan besänftigte sie. »Gut, meine Liebe, so wisse denn, daß mein Leben an dieses Fenster hier geknüpft ist«, dabei wies er auf das Kammerfenster. Sie gab sich zufrieden, erhob sich von ihrem Lager und schloß Hassan fröhlich lachend in ihre Arme. Die Prinzessin lief anderntags, nachdem ihr Gemahl den Palast verlassen hatte, zu eben jenem Fenster und putzte und schmückte es. Sie drückte seinen Rahmen fest an sich und küßte ihn, wobei die Alte sie beobachtete. »Was ist dir, mein Töchterchen? Ist dir etwas zugestoßen, daß du das Fenster herzt und küßt?« »Aber ich herze doch die Seele meines Gatten.« »Ach, nun hat er sich noch einmal über dich lustig gemacht. Sein Geist kann unmöglich an ein Fenster gebunden sein. Er muß in etwas ganz anderem verborgen sein, das er dir nicht offenbaren will. Du mußt ihn solange bedrängen, bis er dir die Wahrheit sagt, sonst liebt er dich nicht.« Die junge Frau schwieg betroffen. Heftiger Zorn stieg in ihr empor, sie zerschlug das Fenster und schleuderte es ins Meer. Voller
Ungeduld setzte sie sich nieder, um auf ihren Gemahl zu warten. Als Hassan zurückkam, fand er seine Frau wie tags zuvor auf dem Bett hingestreckt. Bei seinem Eintreten wandte sie ihr Gesicht von ihm ab. »Du belügst mich in einem fort«, warf sie ihm vor: »Deine Seele ist nicht in dem Fenster, wie du sagtest. Du mußt mir die Wahrheit anvertrauen, ansonsten hieße das, du liebst mich nicht.« Hassan überlegte kurz, was er tun sollte, worauf er sie nachgebend ansah. »So soll es denn sein, mein Liebes. Du sollst wissen, worin meine Seele verborgen ist. Aber dieses Wissen muß ein Geheimnis allein zwischen uns beiden bleiben. Meine Seele ist in meinem Säbel, den ich zwischen dich und mich lege, wenn wir schlafen. Bist du nun zufrieden?« Die Prinzessin lachte und erhob sich. Sie herzte Hassan und dankte ihm für den Beweis seiner Liebe und seines Vertrauens. Das Mädchen lief, als der Prinz am anderen Morgen gegangen war, zu dem Säbel, nahm ihn in ihre Arme und begann, ihn mit Küssen zu überhäufen. »Was tust du da?« erkundigte sich die Alte scheinheilig, wie sie die junge Frau so sah. »Ich küsse die Seele meines Gebieters, sie ist in diesem Säbel.« »Ach ja, das wäre wohl denkbar, denn in einem Besen oder einem Fenster konnte sie unmöglich sein. Aber dein Gemahl muß doch sehr bedacht sein auf seine Waffe, hängt doch sein leben ab von ihr.« »Er ist auch sehr vorsichtig, deshalb legt er sie zwischen uns beide, wenn wir schlafen.« Das war es nun, was die hinterlistige Alte zum einen wissen und zum anderen bestätigt haben wollte. Nachdem Hassan am Abend heimgekehrt war und alle zu Abend gegessen hatten, ging man schlafen. Das böse Weib wartete bis Mitternacht, dann erhob sie sich von ihrem Lager, um in die Kammer der Jungvermählten zu schleichen.
Behutsam öffnete sie die Tür und näherte sich vorsichtig dem Bett, in dem sie beide tief schlafend vorfand. Die Alte erspähte den Säbel zwischen ihnen und zog ihn weg, ohne daß sie es bemerkten. Alsdann holte sie weit aus und schleuderte die Waffe ins Meer hinaus, wo sie auf den Grund hinabsank. Als Hassan am Morgen aufstehen wollte, war er außerstande sich zu rühren. Er blickte noch zu der Alten hinüber, dann schwanden ihm alle Kräfte, und kaum daß seine Bewegungen erloschen, wich von ihm jedes Leben. In diesem Augenblick packte die Alte das Mädchen bei ihren langen Haaren, die sie sich um ihre Hand gewunden hatte, und schrie es an. »Los, hoch, erhebe dich! Du dachtest wohl, ich bleibe zwanzig Tage in diesem Palast, auf daß mich der Teufel holt? Los doch, erhebe dich! Der König von Persien erwartet dich schon in seinem Palast.« Die Prinzessin war in ihrem Innersten getroffen, und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen, was sie mit ihrer Neugier angerichtet hatte. Sie drehte sich zu Hassan um und rief nach ihm. »Mein Gebieter, mein Gemahl!« Aber die garstige Alte zerrte sie mit Macht an den Haaren beiseite. »Was, das soll dein Gemahl sein?« höhnte sie. »Der ist tot. Nun komm schon mit!« Danach zerrte sie das Mädchen zum Eingang des unterirdischen Ganges, wo bereits eine Wache wartete. An dieser Stelle verlor die Prinzessin den Verstand, und Wahn bemächtigte sich ihrer. Sie ging wie eine Furie auf die Soldaten los und begann, mit bloßen Händen und Füßen auf sie einzuschlagen, wobei sie einem ein Auge ausschlug, einem ein Bein brach, einem dritten in den Bauch trat, bis schließlich alle verwundet waren. Allerdings war sie gezwungen, den Gang entlangzulaufen, wobei sie an keinem Wachposten vorbeiging, ohne ihn geschlagen und verwundet zu haben, bis sie in den Palast des Königs von Persien gelangte.
Als der Herrscher die Prinzessin in diesem Zustand erblickte, wie sie links und rechts nach den Wachen schlug, war er tief erschüttert. »Ist das etwa die Prinzessin, durch die ich, sollte ich sie tatsächlich heiraten, wieder ein zwanzigjähriger Jüngling werden soll?« wandte er sich angewidert an die Umstehenden. Dann befahl er, sie in einen nur ihr vorbehaltenen Palast weitab jeder menschlichen Seele zu sperren. In ihrer neuen Bleibe kam die Prinzessin ebenfalls nicht zur Ruhe, sondern sie trachtete selbst hier noch jedem nach dem Leben, der ihr nur Speise und Trank brachte. Auf diese Weise hatte sie einige Bedienstete auf dem Gewissen, andere verletzte sie. Bald fand niemand mehr den Mut, zu ihr hineinzugehen, und so warf man ihr Essen und Trinken durch ein Loch von der Zimmerdecke herab. Für Hassan verstrichen indessen neununddreißig Tage, ohne daß sich an seinem Zustand etwas geändert hatte. Und wären vierzig Tage vergangen, ohne daß er seinen Säbel zurückbekommen hätte, wäre er auf immer und ewig verloren gewesen. Aber an jenem neununddreißigsten Tag drückte Hassans Bruder mit dem Wunderspiegel der Ring am Finger, der ebenfalls Zauberkraft besaß und damit anzeigte, daß sein Gefährte in Gefahr war. Er schaute in den Spiegel und sah Hassan bewegungslos auf seinem Lager im Palast hingestreckt. Ein zweiter Blick in den Spiegel verriet ihm, daß die Tochter des Königs von China in einen Palast des persischen Königs entführt war. In größter Eile begab er sich zum Besitzer des fliegenden Teppichs. »Dein Bruder ist in der Klemme«, rief er ihm zu. »Komm, wir wollen ihn retten!« Beide setzten sich auf den fliegenden Teppich und holten noch den Taucher, bevor sie gemeinsam zu dem Palast flogen, in dem Hassan leblos auf seinem Bett lag. Der mit dem Spiegel schaute in sein Wunderding und erblickte Hassans Säbel auf dem Grund des
Meeres. Der Taucher stieß furchtlos auf den Boden des Meeres hinab, von wo er die Waffe heraufholte. Er legte sie neben den Kopf Hassans, der auf der Stelle vom Tod auferstand. Der Jüngling blickte verstört um sich und rief nach der Prinzessin. »Frau, Frau, wo bist du?« Da gab ihm der Taucher links und rechts eine Ohrfeige. »Wer sein Weib beschützen will, muß schon vorsichtiger sein und sollte wissen, wie er mit alten Weibern zu verfahren hat, die sich in seinen Palast stehlen.« Nun berichtete er Hassan, daß die Alte eigens dazu gekommen war, um ihn aus dem Weg zu räumen und die Prinzessin zum König von Persien zu entführen. Ihr Plan sei zwar gelungen, aber das Mädchen sei von Sinnen geraten. Sie lebe jetzt in einem Palast für sich allein. »Wir werden zu viert aufbrechen, um sie zu retten«, schloß der Taucher. »Ich werde allein zu ihr gehen«, verlangte Hassan. »Ich verbiete euch geradezu, mit mir zu kommen, denn nur ich kann sie retten.« Seine Brüder fügten sich seinem Entschluß, brachten ihm aber noch ein persisches Gewand, mit dem er sich verkleidete. Dann lief Hassan durch den unterirdischen Gang, bis er in das Land der Perser gelangte. Dort streifte er umher, bis ihm eine sympathische alte Frau auffiel. »Friede sei mit dir!« sprach er sie an. »Friede sei auch mit dir und Allahs Barmherzigkeit und Segen. Viele Jahre lang habe ich diesen Gruß nicht mehr gehört. Die Bewohner dieses Landes sind Ungläubige. Bist du Moslem, mein Lieber?« erkundigte sie sich. »Ja, ich bin Moslem, Allah sei Dank«, gab Hassan zur Antwort, die die Alte hoch erfreute. »Auch ich bin Moslem, aber ich habe nicht Mut genug, mich als solcher zu erkennen zu geben, sonst würde man mich töten«, erzählte sie. »Hast du die Geschichte von der Prinzessin von China gehört, die dieser Tage in deinen Landen vor sich geht?« erkundigte sich Hassan. »Wie könnte ich nicht davon gehört haben. Allah stehe diesem armen Mädchen bei, das man zu einer Heirat mit dem König zwingen
will.« Hassan weinte, bis ihm die Tränen versiegten. Die Alte fand sein heftiges Weinen seltsam. »Was macht dich so weinen?« wollte sie wissen. »Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen, Alte?« – »Dein Geheimnis ist – so Allah will – sicher bei mir, mein Sohn. So sprich und ängstige dich nicht!« »Diese Frau ist mein Eheweib. Man hat sie mir entführt. Ich bin gekommen, um sie zurückzuholen. Dazu brauche ich deine Hilfe.« »Ich höre und gehorche, mein Sohn«, antwortete die freundliche Alte. Hassan zog ein Stück Papier aus der Tasche und schrieb darauf eine Botschaft für die Prinzessin. Dann teilte er einen Apfel und verbarg den Zettel zwischen den zwei Hälften. Die Alte bat er, eine List zu gebrauchen, um an die Prinzessin heranzukommen und ihr den Apfel zuzustecken. Die alte Frau lief zum Palast der Prinzessin. Den Wachposten bat sie um Zutritt bei der Prinzessin, um ihr einige frische Äpfel zu bringen. »Was hast du mit dieser Irren zu schaffen?« wollte er wissen. »Sie bringt doch jeden um, der zu ihr tritt.« Die Alte bedrängte den Soldaten. »Laß mich doch mein Glück versuchen!« Jener sah sie von der Seite an und dachte bei sich: ›Sie ist ohnehin nur ein altes Weib. Soll sie doch sterben, wenn es ihr beliebt. Mit ihrem Tod geht uns nichts verloren.‹ Dann ließ er sie ein. Die Alte trat zu der Prinzessin, die sich ihr sofort zuwandte, um ihr ans Leben zu gehen. Die Besucherin zeigte ihr da den Ring ihres Gemahls. Das Mädchen hielt auf der Stelle in ihrem Angriff inne und begriff, daß ihr Gemahl nahe bei ihr sein mußte. Der Brief, den jene ihr zusteckte, gab ihr obendrein Gewißheit. Die Alte sprach mit dem Mädchen ab, dem König von Persien Mitteilung geben zu lassen, daß sie in eine Ehe mit ihm einwillige. Außerdem gab sie der Prinzessin noch ein
Betäubungsmittel, das sie dem König in der Hochzeitsnacht ins Glas mischen solle. Die Prinzessin sandte nach dem König der Perser, um ihn ihr Jawort wissen zu lassen und wünschte sich, daß er schnell die Hochzeitsfeier ausrichte. Kaum daß der König das Fest verkündet hatte, begab sich die Prinzessin im Hochzeitszug zu ihrem vermeintlichen Bräutigam. Als sie gemeinsam das Brautgemach betraten, verlangte sie nach etwas Wein. Er ließ alle erdenklichen Weine und Speisen herbeischaffen und reichte ihr einen Trunk. Ihm gab sie heimlich das Betäubungsmittel ins Glas, daß er bewußtlos zu Boden sank, sobald er davon getrunken hatte. Hassan hingegen war verkleidet zur Hochzeitsfeier erschienen. Als diese zu Ende war, schlüpfte er in die Kammer, die auf König und Königin wartete. Dort lauerte er, bis das Betäubungsmittel beim König seine Wirkung gezeigt hatte. Dann trat er an den grausamen Herrscher heran und tötete ihn mit seinem Säbel und schloß die Prinzessin endlich in seine Arme. Lange flüsterten sie noch miteinander, bis sie sich dem Schlaf überließen. Am anderen Morgen streifte Hassan die Kleider des Königs über und trat vor das Volk, um ihm mitzuteilen, daß ihn die Heirat mit der Prinzessin von China wirklich und tatsächlich wieder zu einem Jüngling von zwanzig Lenzen hat werden lassen, wie die Weisen vorhergesagt hatten. Die Leute jubelten ihm zu und wünschten ihrem Herrscher Glück. Sie wußten ja nicht, daß ihr eigentlicher König bereits ins Jenseits eingegangen war. Jahr um Jahr verging und das Volk liebte seinen gerechten König mehr als je zuvor. So kam der Tag, an dem Hassan mit einer Offenbarung vor das Volk trat. »Euer richtiger König ist tot. Das närrische Geschwätz, wonach er wieder ein Jüngling werden würde, wenn er die Prinzessin von China heiratete, wurde mit ihm hinweggefegt.«
Er habe seine Stelle eingenommen seit jener Nacht der Eheschließung mit der Prinzessin und werde von der Regentschaft zurücktreten, wenn sie ihn nicht mehr zum König wollten. Doch da ließen sie ihn hochleben und forderten, daß er auf dem Thron bleibe. So blieb Hassan ihr Herrscher und lebte mit der Prinzessin ein Leben in Fülle und Wohlstand, in Glück und Eintracht.
Mit holden Wonnen, Seligkeit und Glück versüße Allah der Hörerschaft Geschick.
Drei Zitronen
Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn. Eines Tages erschien dem Prinzen im Traum eine schöne Frau. »Ich begehre die Frau zum Weib, die ich im Schlaf gesehen habe«, verkündete er seinem Vater, als er erwachte. »Wie du willst, mein Sohn«, erwiderte dieser und ließ dem Prinzen freie Hand. Noch am Morgen brach der Prinz mit seinem Pferd und einem stattlichen Reiseproviant auf und ritt, bis er den Strand des Meeres erreichte. Dort stieß er auf ein Schiff und bat den Kapitän, ihn über das Meer zu fahren. Der Kapitän riet ihm von seinem Vorhaben ab. Falls er fahre, werde er heil nicht wiederkehren, denn der König des Meeres zermalme jedes Schiff, das ihm unter die Augen kommt. »Dann werde ich das Schiff eben von dir kaufen, solltest du nicht einwilligen und mich nicht übersetzen wollen«, hielt ihm der Prinz entgegen. Der Kapitän willigte schließlich ein, und wie durch ein Wunder gelangten sie wohlbehalten ans andere Ufer des Meeres. Dort sah der Emir mit eigenen Augen die Wracks der Schiffe, die der Meereskönig zerschmettert hatte, und das zerrissene Skelett eines Mannes. Der Prinz lief, bis er an ein kleines Haus kam, in dem eine Frau saß und Blätter zerriß. Beim Eintreten entbot er ihr seinen Gruß und fragte nach ihrem Tun. »Jedesmal, wenn ich ein Blatt zerreiße, stirbt ein Mensch«, gab sie zur Antwort. Der Emir erzählte ihr seine Geschichte. »Geh zu meiner Schwester«, sprach sie darauf zu ihm, »sie wird dir helfen, das Mädchen aus dem Traum zu suchen, damit du es heiraten kannst.« Der Prinz ging weiter, bis er das Haus der Schwester erreichte. Er sah eine Frau, die mit der Nadel nähte. Sie
befragte er ebenfalls nach ihrem Tun. »Jedesmal, wenn ich ein Kleid genäht habe, wird ein Kind geboren«, antwortete sie. Der Emir erzählte auch ihr seine Geschichte, worauf sie ihm drei Zitronen gab. »Immer, wenn du eine Zitrone in zwei Hälften teilst, erscheint eine schöne Frau, die dir gefällt und die du begehren wirst. Sei aber auf der Hut! Gibst du ihr nichts zu trinken, wird sie wieder verschwinden«, erklärte die Frau. Als sich der Prinz auf der Rückfahrt zu seinem Vater inmitten des Meeres befand, sprach er zu sich: »Ich werde eine Zitrone erproben.« Er zerteilte die erste Zitrone, und eine schöne Frau erschien, die aber sofort wieder verschwand, weil er ihr keinen Trunk gereicht hatte. Am anderen Ufer zerteilte der Emir eine weitere Zitrone. Er trennte sie in zwei Hälften und ein wunderschönes Mädchen erschien. Unversehens war auch sie verschwunden, weil der Prinz vor Verwunderung abermals vergessen hatte, ihr zu trinken zu geben. Im Palast des Vaters angekommen, stellte er einen Becher mit Wasser bereit und teilte die letzte Zitrone. Es erschien ein Mädchen, wie es seine Augen schöner noch nicht gesehen hatten. Rasch gab er ihm zu trinken. »Bleibe hier in der Nähe meines väterlichen Palastes, bis ich dir das Brautkleid bringe!« bat der Prinz das Mädchen. Während er in den Palast ging, erstieg das Mädchen den erstbesten Baum und wartete sinnend auf den Prinzen. Aus dem Palast trat indessen eine häßliche Dienerin, deren abstoßendes Äußere auf ihre verdorbene Seele wies. Als sie an den Bach trat, um die Kleider des Königs zu waschen, schaute sie ins Wasser und erblickte ein schönes Spiegelbild. Sie wandte ihren Blick zum Baum hinauf und sah das zauberhafte Mädchen. »Komm doch vom Baum herab«, rief ihm die Dienerin zu, »damit wir ein wenig schwatzen können, liebe Schwester!« Kaum war das Mädchen herabgestiegen, erstach
die Dienerin es aus purer Eifersucht. Das Zitronenmädchen verwandelte sich in einen braungefiederten Vogel. An seiner Statt setzte sich nun die Dienerin in den Baum. Als der Prinz aus dem Palast zurückkehrte, kletterte die Dienerin aus dem Geäst und trat zu ihm. Er war verwundert, aber begriff, daß sie nicht sein Mädchen war, glaubte jedoch, sie würde wieder so schön wie zuvor. Im Palast kam es zwischen dem Emir und seinem Vater zum Streit. Der König sagte über die künftige Gemahlin seines Sohnes, sie sei böse und häßlich. »Meine Braut ist schön und hat ein gutes Herz«, verteidigte sie der Prinz. Eines Tages setzte sich ein schöner braungefiederter Vogel an das Fenster des Schlafgemachs. Die Dienerin bekam es mit der Angst und verjagte ihn. Der Vogel kam seither aber jeden Tag, und als die Dienerin einmal das Fenster zu schließen vergaß, flog der Vogel sogar in die Kammer hinein. Die Dienerin schlug wie wild um sich, zerbrach das Fensterglas und zerschnitt dem Vogel dabei den Hals. Drei Tropfen seines Blutes fielen auf die Erde im Garten und verwandelten sich in kleine Zitronenbäume, die der Prinz durch einen Zufall erblickte. Er befahl umgehend, die Bäume zu bewachen, bis sie reife Früchte trügen. Sodann nahm er die Zitronen mit in sein Gemach und verschloß die Tür. Als er die dritte Zitrone geteilt hatte, erschien vor dem Prinzen das Mädchen seiner Träume. Die zauberhaft Schöne erzählte ihm von der Gemeinheit der Dienerin. Der Königssohn befahl, der Dienerin auf der Stelle den Kopf abzuschlagen. Dann führte der Emir mit seinem Zitronenmädchen ein glückliches Leben.
Die gelbe Kuh
Es lebte einmal eine Frau und ein Mann, die hatten eine Tochter. Eines Tages legte sich die Frau krank nieder und starb, und das Mädchen blieb allein bei ihrem Vater. »Väterchen, du mußt wieder heiraten. Hole dir eine neue Frau ins Haus!« sagte sie immer wieder. »Nur wegen dir steht mir nicht der Sinn danach«, wehrte jener ab. »Ich werde keine nehmen. Sie könnte dich später schinden und quälen.« Doch die Tochter wollte von all den Warnungen nichts hören, so daß der Vater schließlich heiratete. Die Stiefmutter gebar zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen. Ihre Kinder schickte sie in die Schule, die Stieftochter nur auf die Weide Kühe hüten. Tagein, tagaus trieb das arme Kind die Rinder aus, wofür ihm die Mutter nur ein Essen mitgab, das sie nur aus Kleie gekocht hatte. Das Mädchen nahm die Kleiebrote mit auf die Weide, vermochte sie aber nicht zu essen. Und weil es nichts aß, wurde es dünner und dünner, es kränkelte und sein Gesicht wurde fahl. Da lief es eines Tages zum Grab seiner Mutter. »O Mutter, ich bin hungrig und bloß. Ich fühle mich wie zerschlagen«, klagte ihr die Tochter unter vielen Tränen. »Ich flehe dich an, Mutter, was soll ich nur tun?« Mit des Allmächtigen Macht antwortete ihr die Mutter aus dem Grab. »O meine Tochter, ich hatte einst eine gelbe Kuh. Ist sie noch am Leben?« fragte sie. »Ja, Mutter, und ich weide sie jeden Tag«, antwortete das Mädchen. »Dann geh zu dieser Kuh und sprich zu ihr: ›Meiner Mutter Kuh, öffne deine Hörner und gib mir Essen im Nu,‹ Wonach
dir der Appetit steht, wird sie dir geben«, erklärte ihm die Mutter weiter. Der Tochter fiel ein Stein vom Herzen, in das wieder Freude einzog. Nun weidete sie die Rinder bis zum Mittag und trieb sie dann auf einer großen Wiese zusammen. Sobald das Stiefkind Hunger verspürte, ging es zu der gelben Kuh. »Meiner Mutter Kuh, öffne deine Hörner und gib mir Essen im Nu!« sprach sie, und im selben Augenblick hatte die Kuh bereits ihre Hörner geöffnet und hervor kam ein Tablett mit allen erdenklichen Speisen, und das Mädchen aß sich richtig satt. »Meiner Mutter Kuh, schließe deine Hörner wieder zu!« sprach es da, und das Tier tat, wie ihm geheißen. Das Mädchen folgte nun Tag für Tag dem Rat seiner Mutter, daß es bald seine Gesundheit und Statur und die natürliche Farbe seines Gesichts zurückgewonnen hatte. Die Stiefmutter wunderte sich bald, wie das Mädchen so zu Kräften kommen konnte. ›Was ißt sie bloß, daß sich ihre Wangen sogar röten,‹ fragte sie sich. Dann herrschte sie ihren Sohn an, daß er mit der Stieftochter aufs Feld gehe, um zu sehen, was sie esse. ›Jeden Tag gebe ich ihr einen Kleiekuchen, aber wenn sie gegen Abend nach Hause kommt, wirft sie ihn mir vor die Füße. Wovon lebt und ißt sie nur,‹ zermarterte sie sich ihren Kopf. Stieftochter und Sohn brachen am frühen Morgen auf und hüteten die Kühe bis zum Mittag. Als sich die Rinder zum Wiederkäuen niederlegten, meldete der Bruder Hunger an. »Und was werden wir essen?« jammerte er. »Wenn ich dir etwas zu essen gebe, wirst du es deiner Mutter verraten?« fragte ihn das Mädchen, und er verneinte bei Allah. Da erhob sich die Stiefschwester und sagte ihren Spruch zu der gelben Kuh, die ihm die Hörner öffnete und beiden Kindern Speisen in Hülle und Fülle bot, von denen sie aßen, bis sie gesättigt waren.
Am Abend trieben sie die Kühe heimwärts, wo schon die Stiefmutter auf sie wartete. »Geh, binde das Vieh im Stall an!« befahl sie dem Mädchen. »Und wehe dir, du hast den Jungen beim Hüten zu Schanden gemacht und zu Tode erschöpft.« Dann wandte sie sich an den Jungen. »Na, nun sag mir schon, was hat die Verfluchte gegessen und wer speist sie?« Doch der Knabe verriet nichts. »Was sie ißt? Allah steh dieser Verhungernden bei. Geh und gib ihr zu essen. Den ganzen Tag liefen wir und hüteten das Vieh, doch von Essen keine Spur«, log der Kleine. »Zum Donnerwetter, wenn du nur nicht für sie lügtest. Soll ich etwa glauben, sie hätte nichts gegessen?« schimpfte die Mutter, doch der Junge blieb bei seinen Worten. Die Mutter schickte ihre Tochter als Aufpasserin am anderen Tag mit der Stieftochter auf die Weide. Als die beiden Mädchen gegen Mittag hungrig wurden, fragte das Hirtenmädchen: »Wenn ich dir zu Essen gebe, sagst du es deiner Mutter?« Als ihre Begleiterin verneinte, ging es zu der gelben Kuh. »Meiner Mutter Kuh, öffne deine Hörner und gib mir Essen im Nu!« sagte es seinen Zauberspruch. Die Halbschwester staunte nicht schlecht, als die Kuh ihre Hörner öffnete und allerlei feine Speisen, Früchte und Leckereien zum Vorschein kamen. Dann aßen sie sich satt. Doch noch während sie aßen, sagte jene zur Hirtin: »Lauf den Rindern nach, sie haben sich in alle Winde verstreut.« Als das Mädchen aufgesprungen war und den Rindern nacheilte, nahm die andere von jeder Speise ein Stück und verbarg es in ihrer Tasche, um es später der Mutter zu zeigen. Wie die Sonne sich dem Abend zuneigte, gingen die beiden nach Hause. »Allah möge dir keine Gesundheit schenken«, polterte die Stiefmutter los, als sie die Stieftochter erblickte. »Jeden Tag schleppst du jemanden mit. Jetzt eile und binde die Kühe im Stall an.« Während sie gehorchte, erkundigte sich das garstige Weib bei ihrer Tochter, ob sie nun gesehen hätte, was jene gegessen
habe. Die Tochter entleerte ihre Taschen. »Davon ißt sie«, verriet sie. »Das alles gibt ihr die gelbe Kuh ihrer toten Mutter.« Die Stiefmutter tobte. »Bei Allah, ich werde ihr schon noch diese Kuh austreiben. Deshalb also hat sie nichts von meinem Essen zu sich genommen.« Der Vater ging am anderen Morgen den im Oberdorf gelegenen Acker pflügen. Sein Weib holte unterdessen grobes Stroh herbei und verbrannte es, bis nur noch gelbe Asche blieb. Damit rieb sie sich vom Scheitel bis zur Sohle ein, daß ihre Haut ganz wächsern schimmerte. Dann forderte sie ihre Tochter auf, laut zu schreien, sich die Haare zu raufen, auf das flache Dach des Hauses zu rennen und sich sogar von oben herabzustürzen. Den Vater sollte sie glauben machen, daß sein Weib des Todes sei. »Sie ist krank und wird sterben«, heuchelte das Mädchen, während sie sich ins Gesicht schlug. »Eile dich, vielleicht kannst du sie noch einmal lebend schauen.« Der Vater rannte zu seinem Weib. »Bei Allah, ich werde sterben«, hauchte diese. »Der Wundarzt war hier und er hat mir nur ein einziges Heilmittel verschreiben können, das Herz einer gelben Kuh.« Der Mann wußte nicht, woher er eine solche gelbe Kuh nehmen sollte. »Aber wir haben doch selber eine«, zischte die garstige Frau. Der Vater schreckte zurück. »Aber es ist doch die Kuh des armen unglücklichen Mädchens. Es hat nur dieses Tier, was es an seine Mutter erinnert«, gab er zu bedenken. »Was, für die schönen Augen dieses kleinen Teufels willst du, daß ich sterbe«, schrie jene auf. Was sollte der verzweifelte Mann nur tun? Zum einen tat ihm seine Tochter leid, zum anderen lag seine eigene Frau vor ihm im Sterben. »Bei Allah, wir werden die gelbe Kuh schlachten und zerlegen«, überwand er sich schließlich. Und so geschah es. Er nahm dem Tier das Herz heraus, briet es und gab es seinem Weib zu essen. Auf der Stelle erhob sich die böse Stiefmutter, wusch, kleidete und schminkte sich und war wieder wie zuvor.
Das Stiefkind trieb am anderen Tag die Kühe wieder auf die Weide, wobei es nicht wußte, wovon es nun leben sollte. Als es vor Hunger dem Tod nahe schien, lief es wieder an das Grab der Mutter und weinte. »O Mutter, ich sterbe vor Hunger. Aber was soll ich tun?« flehte das Kind. »Ist denn die gelbe Kuh nicht mehr da?« fragte die Mutter aus der Gruft, und die Tochter erzählte ihr, daß man sie geschlachtet hatte. »Geh und sammle ihre Knochen Stück für Stück und lege sie in einen tönernen Krug, den du im Abfall vergräbst. Was du auch immer von ihm verlangst, er wird es dir geben«, verhieß sie ihrem Kind. Das Mädchen suchte die abgenagten Knochen zusammen und tat, wie ihm geheißen. Von nun an kam es jeden Tag an diese Stelle und erhielt, was es wollte. Eines schönen Tages sollte es im Dorf eine Hochzeit geben. Die Stiefmutter wollte mit ihrer Tochter das Fest nicht versäumen. Sie putzte sich und ihr Kind heraus. Dann bestieg der eine den Besen, der andere die Schaufel. Doch bevor sie aufbrachen, stellte die Stiefmutter vor die Stieftochter noch eine große Schüssel mit Mehl. »Das knetest du mit deiner Augen Tränen zu Teig!« befahl das garstige Weib. Kaum war sie mit ihrer Tochter zur Tür hinaus, als ihre Tränen in wahren Sturzbächen die Wangen herunterschossen, aber das Mehl wollte nicht zu Teig werden. Wie sie noch so dasaß und weinte, kam eine alte Frau an ihrer Tür vorbei, die wissen wollte, warum sie so weinte. Das Mädchen erzählte ihr seinen Kummer. »Du wirst dich noch um dein Augenlicht bringen. Geh und hole mir Wasser!« forderte sie das Mädchen auf. Dann goß die Alte Wasser in das Mehl und knetete den Teig, wie er sein sollte. »So und nun lauf auf die Hochzeit und sieh zu, wo du selber bleibst«, redete sie ihm gut zu. Das arme Ding nahm seinen Stock und lief zu dem Krug mit den Knochen. »Ich möchte ein grünes Wams und ein Pferd mit grünem Packsattel«, erbat sich das Mädchen,
nachdem es mit dem Stock an den Krug geklopft hatte. Im Handumdrehen stand alles vor ihm bereit. Das Mädchen füllte außerdem die Satteltaschen mit Perlen, Korallen und Gold und ritt zum Hochzeitsfest. »Oh, ihr Leute schaut«, riefen sogleich die Brauteltern, »ein Emir, ein König aus einem unbekannten Land gibt uns die Ehre!« Der Reiter sprengte mit seinem Pferd auf und ab und streute Smaragde, Damaszener Rosen und Gold unter die Menge. Die Tochter der Stiefmutter stürzte herbei und konnte zwei Stücke erhaschen. »Man bitte den neuen Gast zu Tisch«, riefen die Gastgeber und man breitete vor dem vermeintlichen Prinzen alle erdenklichen Speisen aus. Das in Männerkleider gehüllte Mädchen setzte sich und ließ es sich schmecken. Einige Gäste reckten neugierig die Hälse, um diesen König zu Gesicht zu bekommen, und einige wunderten sich, woher er wohl komme und wer er wohl sei. Auch die Stiefmutter versuchte, einen Blick von dem edlen Herrn zu erhaschen, aber in Blitzesschnelle warf ihr die Stieftochter einen großen Batzen Fleisch aufs Auge, daß es dahin war. Die Leute heulten auf vor Jammer, doch die Stiefmutter tat, als sei nichts geschehen. »Könnte ich ihm auch mein zweites Auge opfern; es ist gemessen an ihm nicht mehr wert als ein Dinar«, plapperte sie. Da erhob sich der vermeintliche König und bat die Frau um Verzeihung. »Trage es mir nicht nach. Es geschah ohne Absicht«, sprach er. »Gott behüte, und wenn du mir auch noch das andere Auge ausgeschlagen hättest, ich zürnte dir nicht«, erwiderte sie. Aus Furcht, die Stiefmutter könne sie früher oder später erkennen, schwang sich das maskierte Mädchen auf sein Pferd und ritt schnell nach Hause. In Windeseile zog es sich um und brachte die Kleider und das Pferd an den Krug zurück. Dann griff es nach der Teigmulde und weinte von neuem hinein und knetete die Masse wie zuvor. »Allah soll dir den Verstand
rauben!« fiel die Stiefmutter über das Mädchen her, als sie mit ihrer Tochter heimkehrte. »Bis jetzt knetest du noch Teig.« Das Mädchen schaute zu der bösen Frau. »Was ist mit deinem Auge?« fragte sie. »Mir ist nichts zugestoßen. Bei Allah, wir waren Zeuge eines seltsamen und wunderlichen Schauspiels. Der König schlug mir ein Auge aus, und Allah nahm es als Opfer hin. Hätte er auch das andere getroffen, mir hätte es nichts ausgemacht.« Dann zeigte die leibliche Tochter dem Mädchen ihre beiden Edelsteine. »Du Ärmste, nun mußt du dir die feinen Dinge anschauen, die ich vom König bringe, der auf der Hochzeit war«, hänselte sie das arme Mädchen. Nur wenige Tage später wurden Stiefmutter und Tochter zu einer anderen Hochzeit geladen. Bevor sie zum Fest ging, stellte die Stiefmutter vor die Stieftochter wieder eine Teigmulde voll Mehl, das sie mit ihren Tränen zu Teig kneten sollte. Dann wandte sich die Stiefmutter um und ging zum Fest. Das Mädchen bereitete rasch den Teig mit Wasser und lief zum Knochenkrug. Von ihm erbat sie sich diesmal ein weißes Wams, einen Schimmel, und auch alles, was sie sonst noch brauchte, sollte blütenweiß sein. Doch Stiefmutter und Tochter waren an diesem Abend nicht fortgegangen, sondern hatten sich versteckt, um zu sehen, was das Mädchen in ihrer Abwesenheit treibe. Das streifte die weißen Kleider über und zog davon wie schon beim letzten Mal. Die Stiefmutter indessen wühlte und suchte in dem Müllhaufen herum, bis sie den Knochenkrug fand. In hundert Scherben zerbrach sie das Gefäß und verstreute die Knochen in alle Himmelsrichtungen. Das verkleidete Mädchen war unterdessen auf der Hochzeit angelangt, es konnte aber nirgends die Stiefmutter und deren Tochter erblicken. ›Bestimmt haben sie gegen mich etwas ausgeheckt‹, fiel es ihm ein, und es eilte heimwärts. Dort fand es alles zerwühlt, den Krug zerbrochen und die Knochen ins
weite Rund verstreut. »Das ist dein Werk, du übelgesinntes Wesen«, schrie die Stiefmutter es an, als sie aus ihrem Versteck hervortrat. »Bei Allah, ich könnte dich lebendigen Leibes verbrennen.« Dann wartete sie bis Mitternacht und hieß das Mädchen aufstehen. »Nimm den Krug, geh zum Fluß und hole Wasser!« befahl sie dem armen Ding. Die Alte dachte, ein wildes Tier würde das Mädchen fressen und sie hätte ein für alle Male ihre Ruhe vor ihm. Das Mädchen nahm den Krug auf die Schulter und lief furchtlos in die Nacht. Unterwegs kam sie an einer Mauer vorbei, die im Wind hin und her schwankte. »Stütze mich, stütz mich ab, daß der Wind an mir prallt ab«, flehte die Mauer. Das Mädchen stellte artig seinen Krug zu Boden und stützte die Mauer, so daß der Wind an ihr vorüberziehen mußte. Dann lief es weiter, bis es auf ein kleines räudiges Fohlen traf. »Stelle ab den Krug und tu dich bücken, striegle mir den wunden Rücken, dann gib mir Dornenwuchs als Speis in Stücken«, bat das arme Tier. Das mitleidige Mädchen tat ihm den Gefallen, bis es sagte: »Es ist genug, Allah möge dich beschützen.« Dann lief es weiter und stieg zum Fluß hinab. Dort traf es auf die drei Mädchen von Tau und Dunst, Töchter der Propheten, beim Bade. »Sei willkommen«, riefen sie, »willst du uns nicht beim Bade helfen?« So rieb das Mädchen der einen den Rücken, die andere übergoß sie mit Wasser, bis sie alle gebadet hatten. »Wo füllst du deinen Krug, hier in unserem Bach oder von der Quelle?« fragten sie dann. »Bei Allah, hier bei euch«, antwortete das Mädchen, füllte den Krug und machte sich auf den Heimweg. »Was wünschen wir diesem Mädchen?« berieten die Töchter des Propheten. »Allah möge ihm das Gesicht wie die Sonne leuchten lassen«, sagte die erste. »Bei jedem Wort soll Allah ihm eine Goldlira von den Lippen fallen lassen«, sprach die
zweite. »Allah möge es zur schönsten Erdentochter machen, die seinesgleichen nicht kennt«, wünschte ihm die dritte. Als das Mädchen das Haus betrat, leuchtete es in seinem Inneren und alles strahlte und glänzte. »Wehe mir«, kam die Stiefmutter heran, »was hast du mit dir angestellt, daß du so geworden bist?« Das Mädchen wußte es nicht. Die Stiefmutter lief zu ihrer Tochter. »Hoch mit dir, schütte den Krug aus und hole neues Wasser!« befahl sie. »Tue alles so, wie sie es tat. Wir wollen doch mal sehen, was sie so zum Strahlen gebracht hat.« Die Tochter erhob sich mißmutig und trollte sich. Als sie an der wackeligen Mauer vorbeikam, bat diese wieder um Hilfe. »Stütze mich, stütz mich ab, daß der Wind an mir prallt ab«, flehte sie. »Was denn, bin ich etwa hierhergekommen, um dich abzustützen. Geh, Ruß wird dich schwärzen. Und wenn du fällst, was wäre schon dabei.« Sprach’s und ließ die Mauer, wie sie war. Wenig später stieß die Tochter der Stiefmutter auf das räudige Füllen. »Stelle ab den Krug und tu dich bücken, striegle mir den wunden Rücken«, bat es die Vorüberkommende. »Ach was, Ruß wird dich schwärzen. Es fehlte mir gerade noch, daß ich einen wie dich mit Krätze striegle. Ich hätte nicht einmal Zeit dazu.« Sprach’s und ging weiter zum Fluß. Dort traf auch sie die Töchter des Propheten, die das Mädchen willkommen hießen und es aufforderten, sie zu baden. »Ich? Wie komme denn ich dazu? Ich bin doch nicht gekommen, um euch zu waschen«, wies es das freundliche Ansinnen barsch zurück. »Dann reibe uns wenigstens ein wenig ab«, baten jene. »Gott behüte«, zeterte das Mädchen weiter. »Wo füllst du deinen Krug, hier bei uns im Bach oder gleich von der Quelle?« fragten sie hierauf. »Das fehlte mir noch, bei euch das Wasser zu schöpfen. Nein, bei Allah, ich hole mir das Wasser gleich von der Quelle«, polterte es und trottete zur Quelle, um den Krug zu füllen.
Als das unfreundliche Mädchen auf dem Rückweg wieder an den Prophetentöchtern vorbeikam, fragte eine ihre Gefährtinnen, was sie ihm wünschen sollten. »Allah möge ihr auf dem Rücken einen Höcker wie einem Kamel wachsen lassen«, sagte die erste. »Allah möge ihr das Gesicht so schwarz wie Ruß färben«, sprach die zweite. »Allah möge sie zur häßlichsten und widerwärtigsten Person auf Erden machen«, wünschte ihm die dritte. Die grobschlächtige Tochter kehrte heim und überschritt die Schwelle des Hauses, wo ihre Mutter schon ungeduldig wartete. Doch was mußte sie sehen! Ihre Tochter war im Gegensatz zur Stieftochter in eine Gestalt verzaubert worden, die vor Häßlichkeit strotzte. »Welch ein Unglück, welch ein Schicksalsschlag!« jammerte die Mutter. »Was ist dir nur widerfahren.« Aber die ungeratene Tochter konnte es sich nicht erklären. Einige Tage nach diesem Vorfall lief der Königssohn an eben diesem Fluß entlang und erblickte auf dem Weg einen Fuß reif aus Gold. Ihn hatte die Stieftochter verloren, als sie verkleidet zu Pferde auf der Hochzeit war. Er mußte zu Boden gefallen sein, als sie in höchster Eile nach Hause geritten war. Der Prinz hob den Schmuck auf und trug ihn zu seiner Mutter. »O Mutter, ich nehme mir keine andere Erdentochter zur Frau als die Besitzerin dieses Fußreifs«, verkündete er ihr. »Aber Söhnchen, ich kenne doch die Besitzerin des Reifs nicht, und die Stadt ist groß.« Doch der Prinz war nicht umzustimmen. »Dann geh und lasse jedes Mädchen der Stadt den Reif überstreifen! Wem er wie angegossen ans Bein paßt, der muß seine Besitzerin sein«, schlug er der Mutter vor, und die ging und begann, den Reif allen Töchtern der Stadt anzupassen. Doch der einen war er zu klein, der anderen viel zu groß, und so ging es, bis kein einziges Haus mehr blieb, das sie nicht schon erfolglos betreten hätte. »Da ist nur noch eine arme, vom
Unglück verfolgte Familie«, sagte man der Prinzenmutter. Der Jüngling war nicht aufzuhalten. »So laß uns denn nachsehen, Mutter«, drängte er. »Vielleicht haben auch sie Töchter.« Prinz und Königin betraten das armselige Häuschen und die Stieftochter maß sich den Fußreif an und er paßte wie angegossen. »Siehst du, mein Söhnchen, dieses Mädchen ist vom rechten Wuchs«, frohlockte die Königin, und der Prinz bat seine Mutter, für ihn um seine Hand anzuhalten. Die Stiefmutter war unter einer Bedingung mit der Werbung einverstanden. »Niemand außer mir darf sie zur Hochzeit kleiden, kämmen und schminken«, verlangte die böse Alte. Man war einverstanden und gab ihr den Segen für diese Arbeit. Die hinterhältige Stiefmutter tat nun einen Verschlag in der Wand auf, stieß die schöne Braut hinein und strich die Öffnung mit Lehm zu. Dann rief sie ihre stockhäßliche Tochter und kleidete, schminkte, kämmte und puderte sie. Zum Schluß hüllte sie das Kind von Kopf bis Fuß in dichte Schleier. »Da habt ihr eure Braut!« verkündete die Stiefmutter den Brautführern, die zur Feier des Tages mit einer stolzen Kamelstute kamen. Als dieser Zug durch die Gassen kam, schlug das Volk die Trommeln und besang die Hochzeit des Königssohnes. Als die Mutter der richtigen Braut noch gelebt hatte, hatte sie der Tochter ein Kätzchen gehalten. Und genau diese Katze lief jetzt hinter dem Kamel her. »Miau, miau, im Mauerloch sitzt die richt’ge Braut, die auf dem Kamel ist die Häßliche, schaut!« mauzte das Tier hinter dem Hochzeitszug her. »Miau, miau, im Mauerloch sitzt die richtige Braut, die auf dem Kamel ist die Häßliche, schaut!« Am Schluß des Zuges ging ein gebrechlicher alter Mann, der die Worte der Katze vernahm. »Hört doch, was diese Katze spricht!« rief er den Leuten zu. Und plötzlich lauschten alle wie gebannt. Als sie die Worte der Katze verstanden hatten,
gerieten alle in helle Aufregung. »Nimmt sich denn auch jemand eine Schwiegertochter, die er nicht selber gekleidet und der er sich nicht genähert hat?« macht sich die Königin Vorwürfe und eilte zu der vermeintlichen Braut und entblößte ihr Gesicht. Allah möge ihr verzeihen. Dann stieß sie das häßliche Ding in einen tiefen Abgrund und befreite sich ein für alle Mal von ihr. Eilig setzte sie der kleinen Katze nach, die den Zug direkt an das verputzte Mauerloch führte. Dort begann es, an der Wand zu kratzen, und alle hoben zu scharren und zu bohren an, bis sie zu dem armen Mädchen vorgedrungen waren. Sie befreiten es aus ihrer tödlichen Falle und führten es dem Sohn des Königs zu.
Das war die Mär, die’s zu erzählen gab, die ich euch in den Rock geschoben hab.
Der Traum des Königs
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Wer gesündigt hat, der spricht: ›Allah vergib,‹, das ist Pflicht. So soll es denn sein. Es lebte einmal ein König, der hatte nur einen einzigen Sohn, und den liebte er über alles. Der Junge wuchs heran und erwarb sich umfassende Kenntnisse in den Wissenschaften und Künsten, erlernte sämtliche Arten des Reitsports und gehörte zu den wenigen wahren Rittern seines Landes. Eines Nachts träumte dieser Jüngling einen sehr quälenden Traum. Am anderen Morgen zog er sich in seine Kammer zurück, ließ niemanden zu sich und verweigerte jegliche Nahrung. Den ganzen Tag über blieb der Prinz in seinen vier Wänden. Doch gegen Abend trieb die Sorge die Mutter an seine Tür. »Warum bleibst du den ganzen Tag allein?« warf sie ihm vor. »Ich habe dich überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Hast du Kummer?« Der Prinz blieb verschlossen. »Mir ist ein sehr quälender Traum erschienen, der mich tief getroffen hat«, sagte er nur und erzählte ihr seine Vision auch dann nicht, als sie ihn nachdrücklich darum bat. »Ich werde dir nichts darüber sagen, dazu besteht keine Not«, und er ließ sich nicht erweichen. »So höre doch und sag es mir, ich bin doch deine Mutter«, flehte sie, aber er blieb unerbittlich. Ärgerlich verließ die Mutter das Gemach und berichtete dem König von dem Vorfall und dem Alptraum, den ihr der Sohn nicht enthüllen wollte. Da stieg der Vater selbst hinauf in die
Kammer des Prinzen. »Warum hast du heute deine Kammer nicht verlassen?« wollte der Monarch wissen. »Mir ist ein häßlicher Traum erschienen, der mich in tiefe Unruhe versetzt hat und mich traurig stimmt«, antwortete der Jüngling. »So erzähle ihn mir, damit ich dir eine Lösung finden kann«, forderte jener seinen Sohn auf. »Der Traum betrifft nur mich allein, in werde ihn deshalb niemandem enthüllen. Warum sollte ich auch dich noch in Unruhe versetzen?« rechtfertigte er sich. Der König mühte sich sehr, etwas von dem Traumbild zu erfahren, doch ohne Erfolg, und er mußte schließlich unverrichteter Dinge, aber voller Groll abziehen. Des Abends trafen sich in der Runde des Königs die Wesire, Emire und die Hofleute, die im Antlitz ihres Herrschers schäumenden Zorn ablasen. »Möge sich alles zum Guten wenden, o König. Was hat dich nur derart verärgert?« erkundigten sie sich. »Mein Sohn. Seit drei Tagen schon hat er weder Essen noch Trinken zu sich genommen und sein Gemach nicht mehr verlassen. Er hatte einen bösen Traum, den er niemandem erzählt. Die Königin und ich haben ihn umzustimmen versucht, aber er ist nicht gewillt, auch nur ein Wort darüber zu verlieren«, schimpfte er. Alsdann entbot sich der Erste Wesir, seinen Einfluß bei dem Jüngling geltend zu machen, und stieg mit des Herrschers Zustimmung zum Zimmer des Prinzen hinauf, wo er eine unverfängliche Unterhaltung mit diesem anknüpfte. Als er nun das Gespräch auf den Traum lenkte, bekam auch er keine befriedigende Antwort. »Ich möchte dich nicht beunruhigen. Dir sei gedankt, Wesir«, sprach der Jüngling. Selbst als der Minister sein Drängen verstärkte, mußte er unverrichteter Dinge gehen, wonach er dem König von der Halsstarrigkeit des Prinzen berichtete. Nun fühlte sich der Zweite Wesir herausgefordert und ging hinauf zu dem jungen Herrn, aber auch er kam wie seine beiden Vorgänger zurück. Ihnen folgten gleichermaßen ergebnislos die einzelnen Prinzen
und Diener. Der Königssohn gab niemandem seinen Traum preis. Nun schwor allerdings der König einen heiligen Eid, daß er seinen eigenen Sohn in einen tiefen Brunnen werfen lassen werde, wenn jener sich weiterhin weigern sollte, sein Traumbild zu offenbaren. Der Prinz wurde von dem Schwur unterrichtet und viele rieten ihm, sein Geheimnis zu lüften. Er lehnte ab. Letzten Endes schickte der König seine Soldaten, die den Prinzen packten. Der Herrscher selbst schritt neben den Häschern bis zu einem abgrundtiefen Brunnenloch, wo er befahl, den eigenen Sohn hinunterzuwerfen. Man ließ ihn dennoch an Seilen bis auf den Grund des Schachtes hinab, zog die Stricke ein und überließ ihn seinem Schicksal. Der Prinz litt Hunger und Durst, denn der Brunnen war ausgetrocknet. Mit einem scharfkantigen Knochensplitter, den er fand, fing er zu graben an. Er scharrte und scharrte, bis er einen schwachen Lichtstrahl bemerkte. Dann erweiterte er die Stelle so lange, bis er hindurchkriechen konnte. Unvermittelt trat er in ein großes geräumiges Haus, das er durchforschte, bis er in einen reichen Garten mit Wasserbecken gelangte, in dem Obst und Gemüse jeder Art gedieh. Sodann kam der junge Fürst in die Küche des Hauses, aus der verführerische Düfte von Speisen strömten. Dort hingen die verschiedenen Gerichte noch in Töpfen über dem Herdfeuer, aus denen er sich etwas Fleisch, Reis und Brühe nahm und aß, dazu trank er, und zu guter Letzt verschnaufte er für einen Augenblick. ›Vielleicht kommt gar jemand‹, durchfuhr es ihn, und er lief zurück in seinen Brunnenschacht. Kurz darauf kam eine Dienerin in die Küche, um das Essen für ihre Herrin anzurichten. Sie bemerkte, daß von den Speisen etwas fehlte, wurde unsicher und bestürzt, erzählte aber ihrer Herrin nichts. Am darauffolgenden Tag versah die Dienerin die Töpfe mit einem Zeichen. Zur Mittagszeit kam der Jüngling aus dem Brunnen und lief schnurstracks in die Küche, wo er sich wieder an
Fleisch und einem Huhn gütlich tat. Dann aß er noch eine Apfelsine und einen Apfel und trank sich an Wasser satt. Als er in sein Versteck zurückgegangen war, kam die Dienerin und stellte wieder fest, daß Essen fehlte. »O Herrin, seit wir uns hier verbergen, fehlte an keinem der Tage etwas von den Speisen, aber heute war es anders«, berichtete sie und erzählte ihre Beobachtungen der letzten zwei Tage. »Ich glaube, du bildest dir das alles nur ein«, entgegnete die Herrin. Doch die Dienerin blieb unerschütterlich, so daß ihre Herrin einlenkte. »So sei es denn, morgen passen wir gemeinsam auf!« Eine der beiden Frauen war vom Morgengrauen an ständig in der Küche. Als es Mittag wurde, trat der Jüngling aus dem Brunnen und kam in die Küche. Die Herrin hielt sich gerade in einem Versteck verborgen. Der Prinz entnahm sich aus jedem Kessel ein wenig und setzte sich zum Essen nieder. Bei jedem Bissen, den er zu sich nahm, wünschte sie ihm innerlich ›Wohl bekomm’s,‹ Nachdem er sein Mahl beendet und zum Abschluß sein Obst gegessen hatte, wollte er an seinen bewußten Ort zurück. Da ergriff sie den Burschen an der Schulter. »Laß mich gehen«, bat er in höchstem Schrecken. »Wohin soll ich dich denn gehen lassen?« fragte sie lächelnd. Zu guter Letzt folgte er ihr in ein Gemach, wo sie ihm einen Kaffee bereitete und ihm dabei ihre Lebensgeschichte erzählte. Sie sei die Tochter des Königs Soundso, der sie aus seinen Augen verbannt habe. Der Prinz hingegen erzählte ihr nichts, nicht einmal, wie er in das Haus gekommen war. Zwei, drei Tage ging es so weiter, bis schließlich zwei Monate verstrichen waren. Währenddessen beließ er es bei Gesprächen und machte ihr den Hof. »Morgen wird mein Vater kommen«, kündigte sie eines Tages an. »Ich möchte, daß du dich nicht zeigst.« Der Vater nahte bereits am frühen Morgen, und die Prinzessin las in
seinem Antlitz Kummer und Trübsal. »Der König des Westens hat mir eine Aufgabe gestellt und verlangt, daß ich sie erfülle. Andernfalls soll Krieg zwischen uns sein. Ich bin aber gegenwärtig nicht zu einem Waffengang gerüstet«, berichtete er seiner Tochter, die sich nach der Art der verlangten Aufgabe erkundigte. »Es lebt ein Meeresungeheuer, Panzerschild genannt. Das Tier ist eine fürchterliche Bestie, die einen Menschen durch die Lüfte wirbelt, wenn es ihn nur mit der Nase anfaucht. Der König des Westens verlangt nun von mir, daß ich das Ungeheuer packe und ihm einen Ring in jedes Ohr zwicke«, sprach der Monarch. »Morgen werde ich dir mitteilen, was zu tun ist. Sorge dich nicht«, beruhigte die Prinzessin ihren Vater. Als der König gegangen war, kam der Jüngling aus dem Brunnen und fand die Prinzessin traurig und bedrückt. »Was ist dir?« fragte er behutsam. »Meinem Vater ist dies und jenes widerfahren«, berichtete ihm das Mädchen, das sich bereits in den Burschen Hals über Kopf verliebt hatte. »Das ist eine Kleinigkeit«, verkündete er. Sie sollte ihrem Vater durch einen Boten unverzüglich Nachricht geben, daß sie jemanden gefunden habe, der die Aufgabe unter der Bedingung erfüllt, daß er bekommt, was er verlangt. Der Bote übermittelte die Nachricht dem König, der jenen Mutigen zu sehen verlangte. Begleitet von Soldaten, begab sich der Jüngling zum König. Jener führte ihn vor das Ungeheuer, das in einem großen Käfig inmitten eines riesigen Wasserbeckens gefangengehalten wurde. »Ich brauche vierzig Mädchen«, verlangte der Prinz vom König. »Eine jede muß wie eine Braut gekleidet und mit Diamanten geschmückt sein.« Unverzüglich befahl der König, die gewünschten Jungfrauen herbeizuschaffen. Der Bursche ließ die Schönen in zwei gleich große Gruppen niedersetzen und wies dem Wärter von Panzerschild einen Platz in der Mitte an. Nachdem er die Ohrringe zur Hand genommen hatte,
weihte er die Mädchen in seine Pläne ein. »Sobald die Bestie das erste Mal auf euch losgeht, müßt ihr wehklagen und kreischen. Auch den zweiten Angriff beantwortet ihr mit viel Geschrei, aber den dritten Ansturm erwidert ihr mit Freudenträllern. Das Panzertier wird überrascht einen Augenblick verharren und ich durchbohre ihm beide Ohren.« Dann befahl er dem Bewacher, Panzerschild loszulassen. Das Scheusal fuhr gegen die Mädchen los und sie taten getreulich, wie er ihnen geheißen hatte. Im Handumdrehen hatte er die Ohren des Ungeheuers durchstoßen und Ohrringe befestigt. Die Menschenmenge rief wie aus einem Munde »Allah ist groß!« und brach in Freudenjubel aus. Der Jüngling kehrte zur Königstochter zurück und berichtete ihr, wie alles ausgegangen war. Sie war überaus froh, und wieder war er mit ihr zwei Monate zusammen. »Morgen kommt wieder mein Vater«, eröffnete sie ihm eines Tages und bat den Prinzen, deshalb in seinem Versteck zu bleiben. Als der König eintrat, las die Prinzessin sogleich in seinem Antlitz tiefe Verzweiflung ab. »Der König des Westens hat mir eine zweite Aufgabe aufgetragen«, klagte er. »Vermag ich sie nicht zu lösen, wird er gegen mich zu Felde ziehen.« Die Prinzessin wollte wissen, worin die neue Aufgabe bestünde. »Er sandte mir eine große Steinplatte und verlangt, daß ich daraus ein Kleid fertige. Aber kann je aus einem Stein ein Gewand werden?« Wieder beruhigte die Tochter ihren Vater. »Mach dir nur keine Sorgen. Morgen sende ich dir eine Lösung.« Nachdem der König abgereist war, kam der Jüngling herauf und fand die Prinzessin in tiefer Trübsal. »Was denn, jedesmal wenn dich dein Vater besucht hat, bist du hernach voller Sorge«, sprach er. »Mein Vater ist bedrückt aus diesem und jenem Grund«, berichtete sie ihm. »Das ist doch kinderleicht«, sprach der Prinz. »Man fülle zwei Säcke mit Flußkieseln und schicke sie dem König des Westens, damit er
sie auffädle. Man lege ihnen einen Begleitbrief mit den Worten bei: ›Wir haben aus diesen Kieseln Garn gesponnen, damit du dir aus der Platte einen Rock schneidern kannst.‹« Als das Sendschreiben den König des Westens erreichte, fragte er, ob denn Kiesel tatsächlich zu Fäden würden, worauf man ihm entgegenhielt, ob aus einer Steinplatte ein Kleid werden könnte. Der König mußte sich eingestehen, daß eins gegen das andere stand. Daraufhin schickte der dem König des Ostens ein Geschenk als Erwiderung auf dessen Antwort und füllte mehrere Säcke mit Weißkohl und Blumenkohl und verkündete Frieden mit seinem Nachbarn. Als die Geschenke den König des Ostens, in dessen Reich dieses Gemüse unbekannt war, erreichten, fürchtete dieser zunächst, es sei giftig. Daher nahm er sich vor, seine Tochter zu befragen. Die Prinzessin verlangte die gefüllten Säcke, damit ihr der Jüngling helfen könne. »Oh, dies gehört zu den vorzüglichsten und wohlschmeckendsten Gemüsesorten«, antwortete er. Sogleich bereitete er aus dem Gemüse ein Mahl, und die Prinzessin lud ihren Vater dazu. Der fand beim Probieren, daß das unbekannte Gemüse so köstlich schmeckte, daß er unverzüglich anordnete, daß das Volk diese Pflanzen anzubauen habe. »Wo ist eigentlich der tapfere Bursche, der dem Ungeheuer die Ohren durchlöchert hat? Ich möchte ihn belohnen«, erinnerte sich der König bei Tische des Prinzen. »Nun, an welchen Lohn dachtest du?« verlangte seine Tochter zu wissen. »Er hat uns vor drohendem Unheil bewahrt. Ich werde ihm deshalb gewähren, wonach es ihn verlangt, selbst wenn er um dich anhielte«, sprach der König. Als der Herrscher gegangen war, trat der Prinz aus dem Brunnen hervor. »Geh auf der Stelle zu meinem Vater«, sagte das Mädchen schnell. »Er will dich belohnen.« Aber den Jüngling verlangte es nicht nach irdischen Gütern. »Ich liebe dich und möchte nur dich zur Frau«, sagte er zärtlich. Dann
lief der Jüngling in den Palast und trat geradewegs in den Audienzsaal. Der König hieß den Burschen willkommen und sprach: »Fordere von uns, wonach es dich beliebt, mein Junge! Du hast etwas gut bei uns.« »Euch zu helfen, war meine Pflicht, o König«, antwortete der Prinz bescheiden. »Verlange dennoch, was du willst an Geld, Kleidern, Pferden«, drängte der Herrscher. »Ich begehre nur die Prinzessin zur Frau«, sprach nun der Prinz. »Sie sei dein«, willigte der König ohne viel Aufhebens ein und zog sich sogleich zurück, um sich mit der Tochter zu beraten, die ebenfalls einwilligte. Dann wurde ein rauschendes Hochzeitsfest ausgerichtet, und Prinz und Prinzessin wurden Mann und Frau. »Mich interessiert doch noch etwas«, bat die Braut. »Wie hast du eigentlich zu meinem Palast gefunden?« Der Jüngling berichtete: »Ich bin der Sohn des Königs Soundso«, und er begann ihr alles zu erzählen, auch was er einst im Traum gesehen hatte. »Und alles, was mir damals im Schlaf erschienen ist, ist eins ums andere in Erfüllung gegangen.« Zwei Wochen später erfaßte den Prinzen so starkes Heimweh, daß er den König, dem er auch seine Geschichte erzählt hatte, bat, ihn zu den Seinen reisen zu lassen. Die Eltern des Prinzen waren aus später Reue und Trauer um ihren Sohn erblindet. Als sie aber seine Stimme vernahmen, kehrte ihr Augenlicht zurück und alle waren froh.
Und sie lebten in Liebe und Laben, zeugten viel Mädchen und Knaben. Sie kehrten ein in ihr Haus. Ich verließ sie und zog zu euch hinaus.
Das verräterische Weib
Es lebte einmal ein einsamer König, dem der Vater gestorben war. Eines Tages saß er am Fenster seines Palastes, als ein steinalter Mann mit schneeweißem Bart und in schneeweißen Kleidern vorüberkam. Dieser ging auf den König zu und entbot ihm seinen Gruß. »Friede sei auch mit dir, ehrwürdiger Alter«, erwiderte der Fürst. »Ich möchte, daß du mir Schicksal und Zukunft wahrsagst.« Der Alte war zu Diensten. »Des Buches weiße Seiten werden dich in die Zukunft geleiten«, sagte er geheimnisvoll und nahm die Hand des Königs, um ihm zu prophezeien. »Mein Söhnchen, wenn du dir ein Weib nimmst, dann schlafe mit ihr nur einmal, und zwar am Tage deiner Hochzeit. Dann schlage ihr den Kopf ab«, tat er dem König kund. »Was sind das für Worte, o Scheich!« schrie der Monarch auf. »Wahrsage mir neu!« Doch der Alte weigerte sich. »Bei Allah, mein Söhnchen, das ist dein mir offenkundiges Los«, entgegnete er ihm. Da setzte sich der König nieder und grübelte. Wer würde ihm schon seine Tochter geben, wenn er ihr am anderen Tag den Kopf abhieb. Er suchte unter den armen Leuten, denen er Geld gab, damit sie ihm ihre Tochter gaben. Dieserart lebte er eine ganze Weile, bis er fünf oder sechs Mädchen auf dem Gewissen hatte. Die siebente Braut blieb bei dem König auch den zweiten Tag, nachdem der Wesir ihm gut zugeredet hatte. »O größter König aller Zeiten, dein Vater hat nur dich auf Erden hinterlassen. Wenn du selbst nach einem langen Leben stürbest, wer wird dann das Königreich regieren? So wie bisher kann es nicht weitergehen. Laß wenigstens diese Gemahlin an deiner Seite, damit sie dir einen Sohn schenkt!« sprach der
Wesir. Der König sann darüber nach und schließlich gefiel ihm der Gedanke seines Wesirs und er behielt die siebente Braut, die zwei, drei Monate später schwanger ging, und, als die Zeit heran war, einen Knaben gebar. Da stürzte der König herein, um ihr nunmehr den Kopf abzuschlagen. »O größter König aller Zeiten«, beschwichtigte man ihn, »der Knabe öffnet seine Augen und soll seine eigene Mutter nicht erblicken? Das wäre undenkbar. Laß sie noch bei ihm, bis der Junge etwas herangewachsen ist!« Und der König gab abermals nach. Der Prinz wuchs heran, und wie es sich für einen Königssohn gehört, mußte er Reiten und alle Arten Reitsport erlernen. Der Knabe war noch keine sechs, sieben Jahre, als er schon die besten, aber auch die widerspenstigsten Pferde zu beherrschen und dazu noch mit den edelsten Klingen zu fechten verstand. Da wandte sich der König an seine Wesire. »Die Zeit ist reif, daß wir den Rat des Scheichs vollstrecken und dem Weib den Kopf abschlagen«, sprach der Herrscher, und dieses Mal pflichteten ihm seine Berater bei. Der Knabe hatte die Unterhaltung zwischen König und Wesiren gehört und wußte nun, was sie seiner Mutter antun wollten. Mit seinem edlen Pferd jagte er kurz davon, um es zu erhitzen. Währenddessen holten jene des Königs Weib herbei, um ihm den Kopf vom Leib zu trennen. »Haltet ein«, bat es, »bis ich meinem Sohn Lebewohl gesagt habe.« Man hielt inne und rief den Jungen, der jedoch nicht vom Pferderücken stieg. Seine Mutter bat ihn abzusteigen, aber nach seinem Willen sollte sie zum letzten Gruß an das Pferd herantreten. Kaum stand sie vor ihrem Sohn, als dieser seiner Mutter bedeutete, ihren Fuß in den Steigbügel zu setzen, und schnell wie der Wind hatte er sie hinter sich auf das feurige Pferd gezogen und preschte von dannen. Die Wesire, die Gefolgschaft und die Soldaten machten sich an die Verfolgung, doch sie verloren die Flüchtenden bald aus den Augen und ließen von ihnen ab.
Der Prinz indessen ritt ohne Rast den ganzen Tag bis zum Sonnenuntergang. »Söhnchen, ich bin sehr müde. Wir sollten uns und der Stute eine Ruhepause gönnen«, bat die Mutter, und sie rasteten auf einer großen saftigen Weide. Auf dieser grünen Wiese fand der Junge eine große steinerne Platte, unter der ein derber Knüppel herausragte. Der Stock mußte dazu dienen, die Platte zu heben, was er unverzüglich versuchte. Unter dem Stein kam eine Treppe zum Vorschein. »Es scheint jemand unter dem Stein zu hausen«, rief er der Mutter zu. »Ich werde vor dir die Treppe hinabsteigen. Sollte ich nicht zurückkehren, dann bin ich tot. Nimm die Stute und reite zum Vater zurück.« Der Jüngling stieg die Treppe hinab und fand Unmengen von Geld, Speisen und Kleider sowie einen vollständig eingerichteten Unterschlupf. Dann rief er seine Mutter, die das Pferd anband und ihm folgte. Als sie aber beieinander saßen, hörten sie eine Stimme vor dem Höhleneingang. »Wäre der jetzt in der Grotte nicht stärker und mutiger als ich, hätte er den Stein nicht bewegen können und wäre nicht hinuntergestiegen.« Der beherzte Bursche hieß die Mutter sich verstecken und zückte sein Krummschwert, bevor er sich selbst am Eingang verbarg. Da kam der erste Erdgeist – Allah behüte, was für ein scheußlicher Anblick – herab. Mit festem Griff packte der Junge zu und hieb dem Unhold den Kopf ab. Das gleiche geschah mit dem zweiten Ifrit, dem dritten, dem vierten… Als der siebente Teufel hereinstürzte, erlahmte dem Knaben die Hand und er vermochte ihm keinen so kräftigen Schlag zu versetzen, daß auch der Kopf dieses Scheusals rollte. »Mutter, stoße die Unholde alle ins tiefe Innere der Höhle!« rief der Junge, der sich vom Anblick der Scheusale befreien wollte, und die Mutter tat, wie ihr der Sohn aufgetragen hatte. Der Junge zog von nun an tagtäglich auf die Jagd, damit er und seine Mutter genug zu leben hatten. Doch eines Tages, als die Mutter mit sich und der Welt haderte, hörte sie ein dunkles
Stöhnen aus der Tiefe der Grotte. Als sie nachsah, stieß sie auf einen der großen Erdgeister. »Ich bin hungrig«, ächzte der Ifrit. »Du lebst noch? Wieso bist du nicht tot?« wunderte sich die Mutter, dann half sie dem Geist herauf, wusch und speiste ihn. Die Mutter saß so lange mit ihm beisammen, bis sie den Hufschlag der Stute ihres Sohnes hörte. »Geh zurück ins Innere der Höhle, denn wenn dich mein Sohn erblickt, tötet er dich!« riet sie dem Erdgeist. Als der Sohn zu seiner Mutter hereintrat, bemerkte er, daß sie froh und ausgelassen war, da er sie doch sonst immer bedrückt und still angetroffen hatte. Und sie pries sogar Allah, als sie ihm bestätigte, daß es ihr wieder gut ging. Von nun an rief die Mutter alle Tage, nachdem der Sohn ausgeritten war, den Ifrit, um ihn zu speisen und mit ihm mancherlei Kurzweil zu treiben. Bei Rückkehr des Sohnes verbarg sie ihn erneut in der Höhle. Doch eines schönen Tages fühlte die Frau, daß sie erneut guter Hoffnung war. »Wenn das mein Sohn erfährt, bringt er mich um«, klagte sie dem Geist. »Wir müssen ihm eine tödliche Falle ersinnen, denn wenn er deine Schwangerschaft bemerkt, erschlägt er dich und mich noch dazu«, fürchtete der Teufel. »Weib, koche grobes Stroh, bis das Wasser quittegelb ist. Damit färbst du dich von Kopf bis Fuß. Deinem Sohn sagst du, wenn er kommt: ›O Söhnchen, ich bin so schwach und krank. Ein Scheich, der gerade des Weges kam, sagte mir, nur ein Granatapfel aus dem Garten der Löwen könne mich wieder gesund machen,‹ Es ist unmöglich, daß jemand aus diesem Garten mit heiler Haut zurückkehrt.« Die nichtswürdige Mutter tat, wie ihr der Ifrit geheißen, und streckte sich auf dem Lager aus. »Mutter, um Allahs Willen, was ist dir?« fragte der Sohn bestürzt, als er die Höhle betrat. Die Mutter erzählte ihm vom Löwengarten und dem Granatapfel. »Wo ist dieser Garten?« fragte der Sohn, aber die Mutter wußte es nicht. »Nimm dir das Schicksal deiner Mutter nicht so zu Herzen und laß sie an ihrem Gebrechen sterben,
auch wenn du die rettende Arznei kenntest«, flüsterte sie mit brechender Stimme. »Nein, ich werde dir den Granatapfel bringen, und wenn ich dafür die ganze Welt durchstreifen müßte!« sprach er, nahm sich Proviant und brach auf. Bei allen Leuten, die der Jüngling traf, erkundigte er sich nach dem Garten der Löwen. »Zum Teufel mit dir, wohin willst du?« gab man ihm immer wieder zur Antwort. »Bei Allah, noch niemand ging zu diesem Garten, ohne darin umgekommen zu sein.« Doch dann wies man ihm den Weg, so daß er zum Wächter des Gartens, einem Ifrit, gelangte. »Friede sei mit dir«, wünschte der Jüngling dem Teufel beherzt. »Friede sei auch mit dir«, erwiderte dieser. »Doch wäre nicht erst dein Gruß gekommen, bevor ich noch ein anderes Wort vernommen, tät ich dich in Stücke reißen und dich jetzt ohne Knochen verspeisen.« Der Jüngling wußte den Ifrit zu beschwichtigen und bat ihn schließlich: »Ich brauche einen Granatapfel aus diesem Garten. Meine Mutter liegt krank, und ein Scheich hat ihr verheißen, daß sie nur von einem dieser Granatäpfel genesen könne.« Der Teufel war nicht abgeneigt. »Du hast großes Glück, denn wenn ich nicht hier säße, wärst du bereits tot. Hätte mein großer Bruder heute Wache, er hätte dich ohne viel Federlesens gefressen«, sprach er und ging in den Garten, um einen Granatapfel zu holen, den er dem Burschen gab. »Geh jetzt und beeile dich, bevor mein Bruder kommt.« Das Abenteuer hatte nicht mehr als drei, vier Tage gedauert. Währenddessen die Mutter und der Ifrit sich in dem Glauben wähnten, der Sohn sei tot, gaben sie sich den ausschweifendsten Unterhaltungen hin. Doch mit einem Male hörte die Mutter Hufe schlagen. »Bei Allah, er ist gekommen!« erschrak sie und der Erdgeist versteckte sich, indes sie zum Lager eilte und stöhnte und ächzte. »Es geht zu Ende mit mir«, stammelte sie, als ihr Sohn an das Lager trat. Er reichte ihr den
wundertätigen Granatapfel und sie aß die Frucht. Als der Bursche wie gewöhnlich zur Jagd ausgeritten war, kam der Ifrit hervor. »Du mußt von ihm eine Melone verlangen, die er vom Weinberg der Erdgeister holen soll«, trug das Scheusal der Mutter auf. Kaum war der Junge von seinem Streifzug zurück, erkundigte er sich nach ihrem Befinden. »Ach ja, mein Söhnchen, gar nicht besser, nicht ein bißchen«, wehklagte sie. »Aber als du nicht da warst, kam wieder jener Scheich vorbei, der mir diesmal eine Melone vom Weinberg der Ifrite verordnete. Nur diese Melone könne mich heilen.« Der Sohn war verwirrt. »O Mutter, ich wüßte nicht, wen ich um Rat bitten sollte. Als ich den Granatapfel holte, hatte mich der Ifrit gewarnt. ›Wenn mein Bruder heute den Garten bewachte, hätte er dich verschlungen‹«, meinte resigniert der Sohn. »Du flößt mir Kraft ein, und sicher fühlst du auch, daß deine Seele teurer ist als die meinige«, stachelte die Mutter wieder seinen Ehrgeiz an. »Aber nein, Mutter, für mich gibt es nichts Teureres als dich auf dieser Welt«, wehrte der Junge ab, griff nach Proviant und Futtersack und begab sich abermals auf die Suche. Auf seinem Weg hielt er hier Ausschau und holte dort Nachricht ein, bis er vor dem ersten Tor zum Weinberg der Erdgeister stand, an dem ein Ifrit Wache hielt. »Friede sei mit dir«, sprach der Bursche jenen an. »Friede sei auch mit dir«, erwiderte dieser. »Doch wäre nicht zuerst dein Gruß gekommen, bevor ich noch ein anderes Wort vernommen, täte ich dich in Stücke reißen und dich jetzt ohne Knochen fressen.« Nun bat der Junge um eine Melone. »Eine Melone? Gäbe ich dir auch nur eine Melone, bei Allah, meine Brüder schlügen mich tot«, wehrte der Geist ab. »Doch warte, Junge, bis meine Brüder schlafen, dann geh zum zweiten Tor. An dem findest du drei Teufel. Schau dir aufmerksam die Fliegen um ihren Köpfen an: Schwirren sie ihnen in den Mund hinein und kommen aus den Ohren wieder heraus, so schlafen sie. Du
kannst dann den Garten unbesehen betreten und eine Melone abnehmen, wobei du dich aber auf Zehenspitzen bewegen müßt. Sollten sie wach werden, fressen sie dich mit Haut und Haar. Siehst du aber, wie die Fliegen durch die Ohren hineinschwirren und zum Mund wieder herauskommen, so sind die Ifrite munter, dann nähere dich ihnen um nichts in der Welt.« Der Bursche wartete bis zum Abend, bevor er sich dem zweiten Tor näherte. Nun beobachtete er die Fliegen, die den Ifriten zum Munde hineinflogen und aus den Ohren herauskamen, und sprach bei sich erleichtert: ›Sie schlafen,‹ Auf Zehenspitzen schlich er sich in den Weinberg und nahm vorsichtig eine Melone ab, die er sich unter die Achsel klemmte, ohne die Ifrite aufzuwecken. Dieses Abenteuer hatte einen Monat gedauert. Während dieser Zeit war der schwangere Bauch seiner Mutter schon sichtbar angeschwollen. Als er sich der Höhle wieder näherte, hörte sie abermals den Hufschlag und fluchte. »Möge er ihn mit Blindheit schlagen, das Kind ist wieder zurück«, zischte sie. »Wie geht es, Mutter?« fragte der Sohn beim Eintreten. »Ach, Söhnchen, Allah steh mir bei, jeden Tag wird es schlechter«, klagte sie. Dann zeigte ihr der Junge die Melone. »Wie vermagst du nur all die Sachen herbeizuschaffen?« fragte die Mutter. »Mit Allahs Hilfe und deinen Stoßgebeten, Mutter. Damit werden alle vor mir liegenden Mühen leicht«, sprach er und gab ihr von der Melone zu kosten. Schon am anderen Morgen zog der Junge wieder auf die Jagd. »Was machen wir nur mit ihm? Alles, was wir von ihm verlangt haben, hat er erfüllt«, fragte die Mutter den Teufel, kaum daß der Sohn aus der Höhle war. Der Erdgeist heckte einen neuen Plan aus. »Wenn er heute abend zurückkommt, sagst du zu ihm: ›Ich sitze hier und langweile mich. Du ziehst auf Jagd, aber mir vertreibt niemand die Zeit. Da ich schon krank darniederliege, sitzt du mir nicht zur Seite,‹ Geht er
darauf ein und fragt dich, was er tun solle, antwortest du ihm: ›Ich möchte mit dir Schach spielen,‹ Er wird dir gefällig sein, worauf du eine Bedingung stellst. ›Der Sieger fesselt dem Verlierer die Hände auf den Rücken,‹ Sobald du ihn beim Schach geschlagen hast, binden wir ihn, blenden ihm die Augen und reißen sie ihm obendrein noch aus.« Wenn der Bursche sonst gegen Abend heimkehrte, ging ihm die Mutter gewöhnlich entgegen und empfing ihn mit einem freundlichen Gesicht und wärmte ihm Wasser zum Waschen. An diesem Tag rührte sie kein Glied. »Ich bin ärgerlich über dich«, antwortete die Mutter, als der Sohn sich nach ihrem Befinden erkundigte. »Du siehst mich krank darniederliegen, gehst aber auf die Jagd.« Der Bursche wandte ein, daß sie ansonsten nichts zu essen hätten; aber die hinterlistige Frau ließ nichts gelten. »Ich bin nicht hungrig. Morgen bleibst du hier, und wir vertreiben uns gemeinsam die Stunden«, bestimmte sie. Nach dem tückischen Plan des Ifrit schlug die Mutter dem Sohn am anderen Morgen ein Schachspiel vor. Als er einverstanden war, stellte sie ihre Bedingung. »Wer gewinnt, bindet dem anderen die Hände auf den Rücken«, forderte die Frau, und der Junge willigte ein. Als sie nun endlich spielten, gewann der Sohn. »Schande über dich! Willst du nun etwa deine Mutter fesseln? Was werden sich die Leute über dich die Mäuler zerreißen«, protestierte die Verliererin. Der Junge verzichtete auf seine Gewinnerrechte, auch als er ein zweites und drittes Mal gewann. Allerdings in der vierten Partie gelang es ihr, den Sohn zu besiegen. »Wirst du mich jetzt binden?« sagte er lachend zu seiner Mutter, die auf ihrem Recht bestand. »Mutter, ich habe es dir aber dreimal erlassen, und du willst mich wirklich knebeln?« wunderte sich der Junge. »Ach, nur um zu sehen, wie stark du bist. Ich habe dich bereits oft auf die Probe gestellt und weiß, daß du kräftig bist. Allerdings glaube ich nicht, daß du derart stark bist«, zerstreute sie seine
Bedenken, holte ein Seil und band ihn gewissenhaft. »Befreie dich aus der Fessel, wenn du dazu imstande sein solltest«, sagte sie, kaum daß sie den letzten Knoten geschlungen hatte. Der Jüngling bewegte sich langsam und dehnte seine Glieder, bis er schließlich das Seil gesprengt hatte. Die Mutter war über die Kräfte ihres Sohnes äußerst verwundert. Wieder setzten sie die Steine des Schachspiels und erneut gewann die Mutter. »Diesmal werde ich dich nicht mit einem Seil fesseln, denn das müßte sehr dick sein«, kündigte sie an und band ihn mit der Kette seines Pferdes. Bevor sich der Jüngling ins Zeug legte, rief er Allah um Hilfe an, dann krachten die Glieder und fuhren auseinander. »Warum quälst du mich, Mutter?« wollte er nun wissen. »Ich will dich nicht quälen. Alles, was ich möchte, ist, daß ich stolz auf dich sein und den Kopf ob deiner Stärke und Jugendlichkeit hochtragen kann. Dazu will ich aber wissen, wie groß deine Kraft wirklich ist und worauf sie sich gründet«, erwiderte die erfindungsreiche Frau. »Und wenn du alle Ketten und Seile der Welt brächtest, du hättest mit ihnen kein Glück bei mir. Eine einzige Sache nur kann mich aufhalten: Nimm sieben Stirnhaare von mir und eine Strähne aus dem Schwanz meiner Stute«, gab der Sohn sein Geheimnis preis, das die Mutter umgehend auf die Probe stellen wollte. Als er stutzig wurde, beruhigte sie ihn, daß sie nur die Richtigkeit seiner Worte prüfen wolle. »Nun befreie dich!« forderte sie ihn auf, als sie ihn mit den Haaren gebunden hatte. »Ich kann diese Fessel nicht überwinden«, bekräftigte der Junge. Die Mutter hatte indessen im Herd ein Feuer entzündet und schob Eisenstäbe in die Glut. Der Knabe schöpfte zu spät Verdacht. Die herzlose Mutter rief bereits nach dem Ifrit, der, sobald er den Jungen erblickte, wie geblendet dastand und zu keiner Regung imstande war. »Geh zu ihm und nimm ihm sein Augenlicht«, geiferte die Mutter. Doch der Erdgeist scheute. »Das ist dein Sohn, mache, was du willst!« weigerte er sich.
Da ging die Mutter zum Herd, griff sich einen rotglühenden Spieß und blendete ihren Sohn mit eigener Hand. Auf Anraten des Teufels nahm sie sogar des Jungen Augäpfel und steckte sie ihm in seine Tasche. Dann hob sie die Steinplatte zum Brunnen an und gemeinsam warfen sie den unschuldigen Burschen hinein, nachdem sie seine Fesseln gelöst hatten. In dem unterirdischen Wasserlauf irrte der Jüngling lange umher. Er stürzte zu Boden, stieß sich an Steinen und riß sich die Haut an den Wänden der Grotte auf, aber er kroch so lange vorwärts, bis er endlich an der Quelle ins Freie treten konnte. Dort hoffte er, auf Menschen zu stoßen. Gerade in diesem Augenblick ließen sich drei Tauben an der Quelle nieder. »Wie schön dieser Jüngling ist. Aber wie traurig ist es, daß man ihm die Augen ausgerissen hat«, gurrte eine von ihnen wehmütig. »Komm her und schau nach, ob er seine Augen vielleicht in der Tasche bei sich trägt!« raunte eine andere. »Suche, damit wir wissen, wie wir ihm helfen können!« schnäbelte die dritte Taube. Nun näherte sich dem Jüngling einer der Vögel und holte mit dem Flügel beide Augen aus dessen Tasche. »O Brüderchen, wir wollen dir helfen, wenn es beliebt«, gurrte sie und der Jüngling bat sie herzlich. Da kam die älteste der Tauben heran und riß sich drei Federn aus dem Flügel, die mittlere gab zwei und die jüngste eine Feder. Dann suchten sie ein Streichholz, um die sechs Federn zu verbrennen, konnten aber keines finden. Zum Glück kam eine Wäscherin, die an der Quelle waschen wollte, die zündete sich ein kleines Feuer an. Von dort holten sich die Vögel ein Hölzchen und verbrannten die Federn. Die älteste Taube nahm deren Asche und bestrich damit die leeren Augenhöhlen des Burschen und setzte ihm anschließend die Augen wieder an ihre alte Stelle. Sie hafteten fest und, kaum daß der Jüngling die Augen aufschlug, konnte er wieder sehen, wofür er sich bei den drei Tauben sehr bedankte. Nach allem, was geschehen war, wollte er nach
seiner Mutter suchen. Doch hatte er weder, wie gewohnt, sein Schwert noch sein Pferd an seiner Seite, mit dem er als Emir sich hätte hinwenden können, wohin es ihn gelüstete. So ging er in die Stadt und verdingte sich, um ein Krummschwert, wie ehedem das seine, zu kaufen. Darüber vergingen drei volle Jahre. Dann nahm er seine Waffe und suchte seine Mutter auf. Er hob die Steinplatte am Eingang an und erblickte drei Kinder. Auch seine Mutter sah ihn. »Willkommen, mein Söhnchen, willkommen!« ereiferte sie sich. »Kinder, sagt eurem Bruder guten Tag!« Als sich die Kinder dem Jüngling näherten, hieb er ihnen einem nach dem anderen die Köpfe ab. »Das sind deine Brüder. Wie kannst du sie töten?« kreischte die Mutter wie von Sinnen. Da ging er auch auf sie los und schlug ihr den Kopf ab. Dann zog er ihr die Kopfhaut mit den Haaren ab, stülpte sie sich über und warf sich auch ihre Kleider über. Bald kam der Ifrit auf des Jünglings Pferd geritten und hatte auch dessen Schwert umgegürtet. »Komm her, Weib, heb mich runter! Ich bin müde vom langen Ritt«, rief das Ungeheuer. »Ich bin auch wie zerschlagen und schaffe es nicht einmal vor das Haus, um dich zu begrüßen. Die Kinder sind schuld«, krächzte der verkleidete Sohn von drinnen. So mußte der Ifrit wohl oder übel das Wildbret selbst vom Pferd nehmen. Als er die Höhle betrat, stutzte er. »Wieso siehst du so ärgerlich aus? Du kommst mir so verändert vor?« sagte er. Aber weil sich Mutter und Sohn sehr ähnlich sahen, konnte der Erdgeist den Unterschied nur ahnen. Als der Geist doch Verdacht schöpfte, weil er die Kinder weder sehen noch hören konnte, nahm der Jüngling das fremde Haar vom Kopf und erhob sein Schwert gegen den Teufel. »Verschone mich, ich habe dir doch nichts zuleide getan. Deine Mutter hat dir all das angetan«, flehte der Ifrit. Doch der Jüngling ließ keine Gnade walten, denn der
Erdgeist hatte alles ausgeheckt, und schlug ihm deshalb den Kopf ab. Nach vollzogener Rache bestieg er sein früheres Pferd und ritt zur königlichen Residenz. Die Leute strömten zusammen, als sie den Jüngling auf dem edlen Pferd reiten sahen. Die Wesire und der ganze Hofstaat eilten vor den Monarchen. »O größter König aller Zeiten, ein Jüngling ist in die Stadt gekommen, wie es ihn großartiger und schöner nicht gibt. Er reitet ein Pferd wie einst das deine war«, riefen sie. Der König wollte sogleich den Jüngling sehen, und als dieser vor dem alten Herrscher stand, wurde ihm das Herz weich. ›Bei Allah, er ähnelt meinem Sohn wie aufs Haar‹, sprach er zu sich und rief den Burschen zu sich heran. Als er wissen wollte, wer er sei, erzählte der Jüngling seine Geschichte. »Erkennst du mich denn nicht«, rief dann der König aus, »bei Allah, ich bin dein Vater.« Der Jüngling konnte sein Glück kaum fassen, und alle waren erleichtert und froh. Der Sohn folgte später seinem Vater auf den Thron und wurde König.
Meine Geschichte ist verteilt, sie ist euch unters Hemd geschnellt.
Das Märchen von Sommer und Winter
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’, ihr Hörerschaft von heut. So soll es denn sein. Es war einmal eine Frau, die hatte nur einen einzigen Sohn, den sie sehr liebte. »Ich möchte mich deiner noch erfreuen, mein Sohn, bevor ich sterbe, und sehen, daß du selbst Kinder hast«, sprach sie jeden Tag. »Laß mich dir ein Mädchen zum Verlöbnis suchen! Laß mich für dich um ein schönes Eheweib anhalten, an der du deine Freude haben wirst!« Der Jüngling aber lehnte immer wieder ab. »Vielleicht quält dich die Schwiegertochter«, gab er zu bedenken; aber letzten Endes gab er dem Drängen der Mutter nach. Die verlobte ihn und war froh, als sie ihn unter der Haube hatte. Aber es sollte kommen, wie der Sohn vorausgesagt hatte. Die Schwiegertochter überhäufte die Mutter mit Schlechtigkeiten: Einen Tag ließ sie die alte Frau hungern, einen anderen schrie sie sie nur an und beschimpfte sie vor der ganzen Familie und so weiter. Die Mutter ertrug es schweigend und sagte auch ihrem Sohn nichts, weil sie sein Glück nicht trüben wollte. »Mann, entscheide dich, entweder ich oder deine Mutter. Ich jedenfalls werde nicht länger mit ihr unter einem Dach leben«, forderte die Frau eines Tages. Der Mann wehrte ab. »Meine Mutter liebt mich aber. Sie hat nur mich. Wohin soll sie denn?« Aber seine Frau blieb unerbittlich. »Nein, nein, nein!« rief sie und wollte nichts hören. »Am besten, du setzt sie in der
Wildnis aus und läßt sie am Wallfahrtsort des Propheten Abdan zurück.« In seinem Inneren seufzte er schicksalsergeben: »Es ist keine Macht und keine Kraft außer bei Allah.« Dann setzte er die Mutter auf einen Esel. »Wir machen nur einen kleinen Ausflug, Mutter«, belog er die Alte, die ihm für die kleine Abwechslung dankbar war. Der Sohn hatte ihr alles Nötige für eine Woche eingepackt. Als sie am Ziel waren, ließen sie sich nieder und rasteten. Mit hereinbrechender Dämmerung erhob er sich. »Ich verlasse dich nur für einen Augenblick, dann komme ich wieder und hole dich«, sprach er. »Allah sei mit dir, mein Sohn! Mögen dich die Engel beschützen!« und die alte Frau nahm den Koran und hob an, laut zu deklamieren und den Rosenkranz zu beten. Als die Sonne untergegangen war, wunderte sie sich dennoch, daß ihr Sohn so lange wegblieb. ›Was mag ihm zugestoßen sein,‹ ging es ihr durch den Kopf. ›Ich flehe zu Gott, daß ihm kein Leid geschehen ist,‹ Dann bettete sie ihren Kopf auf einem Stein und schlummerte ein. Gegen Mitternacht erwachte sie. ›Mein Sohn ist immer noch nicht gekommen‹, schoß es ihr durch den Sinn. ›Bei Allah, ich mache mir Sorgen um ihn,‹ Es war stockfinster, als plötzlich zwei Männer neben der Alten standen. Es waren der Sommer und der Winter, die menschliche Gestalt angenommen hatten. »Laß sehen, warum die Alte von ihrem Sohn hier zurückgelassen wurde«, sprachen sie zueinander. »Liebes Tantchen«, redete daraufhin einer der beiden die Frau an. »O herzlich willkommen, daß ihr mich beehrt«, begrüßte sie die Ankömmlinge überschwenglich. »So setzt euch doch zu mir.« Sie bot den beiden sofort zu essen an und war bemüht, es ihren Gästen wohl zu tun. »Liebst du mehr den Sommer oder den Winter?« fragte sie einer der beiden.
»Kann man denn einen mehr als den anderen lieben?« erwiderte sie mit freundlichen Worten. »Im Sommer reifen Obst und Gemüse, es gibt herrlichen Joghurt, alles blüht, und selbst die Luft leuchtet. Der Winter aber, gibt er denn auch nichts Schönes und Prächtiges? Es regnet und die Wolken ziehn, die überall Wohl und Wachstum bringen. Des Abends lädt er zu trauten Gesellschaften.« Die beiden waren ob dieser Rede des Lobes voll. »Wie schön du das gesagt hast, Tantchen«, entschieden sie, steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. »Mein Seelchen, so Allah will, wird kein Wort mehr über deine Lippen kommen, ohne daß eine Goldlira herabfällt«, sprach einer zu der Alten. Alsdann nahmen sie Abschied und gingen ihrer Wege. Die Alte nun hob mit kräftiger Stimme an, den Rosenkranz zu beten, wobei sich vor ihr ein Berg von Gold anhäufte. Ihr Sohn kam auch am zweiten Tag nicht. Als fünf Tage verstrichen waren, hatte der Sohn keinen anderen Gedanken mehr, als wie es seiner Mutter ergangen sein mochte, und verspürte starke Sehnsucht nach ihr. »Möge Allah den Satan mit Schande überhäufen!« rief er außer sich. »Wie konnte ich nur meiner Frau gehorchen!« Unverzüglich eilte er zum Ort des Propheten Abdan und fand die Mutter unversehrt. »Willkommen, sei willkommen!« rief diese. »So Allah wollte, ist dir nichts Böses widerfahren. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.« Der Sohn erblickte den Haufen Gold vor der Alten und sah, wie bei jedem Wort, das sie sprach, ein neues Goldstück zu Boden fiel. Er stürzte an ihre Hand und küßte sie. Die Mutter berichtete ihrem Sohn, wie es ihr ergangen war. Jener bat Allah inständig, daß er ihm seinen Fehltritt vergeben möge. Dann hob er seine Mutter auf den Esel und führte sie nach Hause. »Hast sie also zurückgebracht«, fauchte ihn sein Weib an. »Wenn es dir nicht paßt, dann scher dich zu deiner Familie
zurück, und zwar auf der Stelle und ohne noch ein einziges Wort zu verlieren. Los, beeile dich!« entgegnete ihr der Mann, und sie begriff, daß er es ernst meinte, und schwieg. Der Mann erzählte dann, was der Mutter zugestoßen war. »Und bei jedem Wort gibt es eine Goldlira«, schloß er. Da schwanden seiner Frau die Sinne, und Neid stieg in ihr hoch. Nach kurzer Überlegung entschloß sie sich, ihre Mutter auch an den gesegneten Ort zu schicken. Die Mutter war allerdings ein schwatzhafter Drachen, deren Zunge keine Gelegenheit ausließ, sich an anderen Leuten zu wetzen, und den lieben langen Tag nicht still stand und allweil widerliche Reden führte. »Dann schnüre ihr doch ihr Bündel«, knurrte der Mann und seine Frau packte alles zusammen, was die Alte brauchte. »Mutter, du wirst jetzt mit meinem Mann einen Spazierritt machen«, machte sie dem garstigen Weib den Ausflug schmackhaft. »Ich mag aber keinen Spaziergang!« wetterte diese sofort los. »Nichts da, du wirst gehen!« beharrte ihre Tochter. »Soll dir doch ein Unglück zustoßen! Wohin willst du mich eigentlich schicken, he?« polterte die Alte weiter. »Du sollst wie die Schwiegermutter werden«, ließ die Tochter nicht locker, und schließlich willigte die Alte ein. Der Mann lud sie auf einen Esel und führte sie zum Ort des Propheten Abdan, breitete ihr sogar eine Matte aus und setzte sie nieder. »Sei Allahs Schutz anempfohlen! In Kürze hole ich dich zurück«, sagte er noch, doch da zeterte die Alte schon wieder mit bösen Worten los. Als Mitternacht herangerückt und der Schwiegersohn sich noch immer nicht hatte blicken lassen, begann sie lauthals zu schimpfen und zu fluchen. Da plötzlich standen Sommer und Winter neben ihr und grüßten sie freundlich, was die Alte nicht einmal erwiderte, und auch sonst tat sie den Gästen gegenüber nicht dergleichen. »Wen liebst du mehr: Winter oder Sommer?« richtete einer der beiden die Frage an sie. »Keinen
kann ich leiden«, plärrte die Alte. »Im Sommer ist es unerträglich heiß und staubig, und Ungeziefer fliegt herum. Im Winter stürmt und blitzt es und alles versinkt in Schlamm und Dreck. Wie kannst du von mir wollen, daß ich einen der beiden gern haben könnte. Also schert euch weg! Wer seid ihr eigentlich und was habt ihr hier verloren?« Die beiden Männer flüsterten miteinander. »So Allah will, wird dir fortan bei jedem deiner Worte ein stinkender Furz entfahren«, verhieß ihr dann einer der beiden. Darauf gingen sie ihrer Wege und überließen die Alte sich selbst. Die schleuderte ihnen sogleich Scheltworte und Flüche hinterdrein. Doch mit jedem Wort donnerte es unter ihr auf das häßlichste, daß ihr vor Gestank die Sinne zu schwinden drohten. Zwei Tage danach erschien der Schwiegersohn wieder, den sie schon von weitem mit garstigen Reden und Verwünschungen empfing. »Wo warst du so lange, du Lügenbold?« fauchte sie. Wie dieser an die Schwiegermutter herantrat, war ihm sofort klar, was geschehen war. Gefragt nach dem Grund, erzählte sie ihm alles. Der Mann setzte die Alte auf den Esel und führte sie heim. Ihre Tochter kam voller Ungeduld herbeigeeilt, um ihre Mutter zu sehen und um das Gold von ihrem Mund abzunehmen. Sobald die Mutter ihre Tochter erblickte, überhäufte sie auch diese mit einer Flut von Schimpfworten. »Wo ist denn nun das Gold, Mutter?« fragte die Tochter, doch unversehens wußte auch sie, was ihr widerfahren war. »Was ist das, Mann?« fragte ihn sein Weib. »Wie du siehst, jeder Mensch hat eine Zunge. Die meiner Mutter ist anmutig und so rein wie ihr Herz. Sie ist eine edelmütige Frau. Das ganze Gegenteil siehst du in deiner Mutter, die eine Zunge so scharf und schmutzig wie die Schere des Flickschusters hat.« Da erkundigte sich die Tochter bei der Mutter, welches Unglück sie geschlagen habe.
Die Alte erzählte daraufhin ihre Geschichte, die die Tochter verstummen und die Wahrheit erkennen ließ.
An diesem Punkte in der Mär verließ ich sie und kam hierher.
Der Brunnen der Liebe
Es lebte einst ein König, der hatte eine Tochter, mit der er in seinem Palast lebte. Wie gewöhnlich saß sie nachmittags am Fenster ihres Gemachs und schaute den Vorübergehenden zu. Dabei betrachtete sie aufmerksam die Gesichter der Männer, wobei sie jeden Mann nur danach beurteilte, was sie in dessen Gesicht abgelesen hatte. Die Prinzessin war zudem überzeugt, daß sich hinter jedem erfolgreichen Mann ein weibliches Wesen verberge, das der eigentliche Grund für dessen Glück sei, wie sich hinter jedem Versager ebenfalls ein Weib verbergen müsse, das Schuld an dessen Mißgeschick habe. Der Vater wußte vom Zeitvertreib seiner Tochter, den er zutiefst mißbilligte. Eines schönen Tages erblickte das Mädchen von ihrem Fenster aus einen armen Mann in geflickten Kleidern. Es schickte seine Dienerin nach dem armen Teufel, damit sie ihn in die Kammer führe. Nachdem er eingetreten war, erkundigte sich die Prinzessin nach seinem Befinden. Der König erfuhr von dem befremdlichen Besuch bei seiner Tochter und befahl in seinem Zorn, beide auf der Stelle zu Mann und Frau zu erklären. Dann wies er sie aus dem Palast. Da gingen sie und ihr Gemahl zu einer verlassenen Gruft am Rande der Stadt und verbrachten dort ihre erste gemeinsame Nacht. Am anderen Morgen schickte die Prinzessin ihren Mann fort, damit er arbeiten gehe. Er schuftete den ganzen Tag, konnte aber am Abend nur mit einem dürftigen Abendbrot heimkehren. Sie aß die grobe Mahlzeit und redete ihrem Mann Mut für den kommenden Tag zu. Der Mann litt nicht wenig darunter, daß er der Grund dafür war, daß seine
Frau aus dem Palast verstoßen worden war und mit ihm sein hartes Leben teilen mußte. Eines Tages übermannte ihn sein Schmerz, der ihn Arbeit und Heimkehr vergessen ließ. Er kam zu einem Brunnen auf freiem Feld, an dem Leute Wasser schöpften. Dort blieb er stehen und schaute ihnen zu, wobei er ihre Gespräche hörte. »Jeder, der in diesen Brunnen steigt, kehrt nicht ans Tageslicht zurück«, sprach einer. Da entschloß sich der Mann, in den Brunnen zu gehen. ›Entweder ich sterbe‹, ging es ihm durch den Kopf, ›und ich werde von meinem Schmerz befreit, unter dem ich leide, weil ich der Grund für die Erniedrigung der Prinzessin war, von der sie dann ebenfalls befreit ist und in den Palast zurückkehren kann, oder der Abstieg wird für beide eine glückliche Wendung bedeuten.‹ Wie der Mann Fuß um Fuß in die Tiefe setzte, erregte nahe des Grundes ein Lichtschein seine Aufmerksamkeit, der aus einem Spalt zu ihm drang. Als er hindurchschaute, bot sich ihm ein herrlicher Anblick. Er sah einen weiten Garten, wo eine Vielzahl von Bäumen voller Früchte standen. Seinen Boden bedeckte ein duftiger Teppich aus den verschiedensten Kräutern und Blumen. Nun kroch er durch das Loch und lief durch den Garten. Unter einem dichtbelaubten Baum blieb er stehen, denn er sah in diesem Augenblick, wie ein Jüngling die Äste herabstieg, dem zwei unvergleichlich schöne Mädchen folgten, das eine war weißhäutig, das andere schwarz. »Welches der Mädchen ist schöner?« wollte der Bursche sogleich wissen. »Das Liebste, für das dein Herz in Flammen steht, ist immer das schönste«, versetzte der Mann schlagfertig. Dem Jüngling gefiel die Antwort. Bisher hatte er jeden, der in den Brunnen gestiegen und durch das Loch in den Garten eingedrungen war, getötet, der ihm auf seine Frage entgegnet hatte, daß ihm entweder das weiße oder das schwarze Mädchen besser gefiel. Auf diese Weise war bisher niemand wieder aus dem Brunnen
zurückgekehrt. Der Herr über den Garten belohnte nunmehr den Mann und schenkte ihm sieben Granatäpfel. Jener nahm sie dankbar an und stieg nach oben. Der Mann kehrte zu seiner Frau zurück, die noch immer in der Gruft hauste, denn sie war überzeugt, daß er wiederkommen würde. Nachdem er ihr erzählt hatte, was ihm widerfahren war, reichte er ihr die großen Granatäpfel. Sie erkannte sogleich, daß die sieben Früchte kostbare Edelsteine waren. Gleich am anderen Tag begab sich der Mann zu einem reichen Juwelier und verkaufte einen der wertvollen Granatäpfel. Von dem Erlös kaufte er ein Haus, das einem reichen Kaufmann zur Ehre gereicht hätte. Darüber hinaus erwarb er noch einen geräumigen Laden, in dem er mit Erfolg einen Handel zu betreiben begann. Fortan trug seine Frau die Tracht der Kaufmannsfrauen und er die der Kaufleute. Zu guter Letzt kaufte die Prinzessin ein beträchtliches Stück Boden gegenüber dem Palast ihres Vaters. Dort ließ sie einen eigenen Palast errichten, der dem des Königs ebenbürtig war, und stattete ihn auf das Kostbarste aus und unterhielt eine Schar von Dienern. Sodann unterwies sie ihren Gemahl in den Sitten und Gepflogenheiten des Hofes und begann, große Feste für die Händler und Beamten zu geben, bis sie schließlich sogar den König und sein Gefolge zu sich lud. Voller Freude nahm sie deshalb die Einladung an, mit der der Herrscher die ihre erwiderte. Der König lobte den geladenen Kaufmann in den höchsten Tönen. Als dessen Frau den König um das Einverständnis bat, daß er sich mit den beiden Eheleuten zurückziehe, erteilte er gnädig sein Einverständnis. In einem prächtigen Saal erkundigte sich die verschleierte Kaufmannsfrau beim König nach dessen Tochter, die den armen Mann heiraten mußte und anschließend aus dem Palast verstoßen wurde. »Ich weiß nichts von beiden,
und sie interessieren mich auch nicht. Sie hat die Ehre und den Ruf meines Hofes verletzt«, antwortete der Monarch. »Erkennst du mich?« fragte die Frau nun geradeheraus, die zaghaft ihren Schleier lüftete. »Meine Tochter«, rief der König und stürzte auf sie zu. Er nahm sie in seine Arme, herzte und küßte sie, und Tränen der Freude benetzten seine und ihre Wangen. Auch den Schwiegersohn zog der König an seine Brust und küßte ihn. Er segnete ihre Ehe und lud ihretwegen zu einem wogenden Freudenfest.
Der Fisch, der die Königin verlachte
Es lebte einmal ein Fischer, der hatte drei Töchter, mit denen er im Vertrauen auf Allah und auf sein Netz lebte. Eines schönen Tages, als er in aller Frühe aufgestanden war, sprach ihn seine älteste Tochter an. »O Vater, heute soll dich mein ganzes Glück beim Fischfang begleiten«, wünschte sie ihm. Dann machte er sich auf den Weg und warf bis zum späten Abend sein Netz in die Meeresfluten. Doch an diesem Tag war ihm kein Fang beschieden, also packte er sein Netz zusammen und kehrte mit leeren Händen heim. Seine Tochter nahm ihm das Netz ab und küßte ihm die Hand. »Das Netz ist leer, dein Glück war mir nicht hold«, sprach er zu ihr. »Du und deine Schwestern, ihr müßt euch heute mit dem begnügen, was noch im Speicher ist.« Sie aßen gemeinsam und dankten Allah für seine Gnade. Dann legten sie sich nieder und schliefen. Als der neue Tag graute und sie sich alle einen ›Guten Morgen‹ gewünscht hatten, trat die Mittlere zu ihrem Vater. »O Vater, wirf dein Netz heute auf mein Glück hin aus«, sprach sie. »Allah möge ihr Gesicht weiß wie die Unschuld werden lassen«, dankte er seinem Gott. Und schon wie am Vortag warf der Fischer von früh bis spät sein Netz ergebnislos ins Meer, denn kein Fisch verfing sich in den Maschen. Ermattet packte er sein Netz zusammen und schleppte sich müde nach Hause. Gleich als die mittlere Tochter ihren Vater heimkehren sah, lief sie ihm eilig entgegen, küßte seine Hand und nahm ihm schweigend das Netz ab. »Wer vom Pech verfolgt ist, dem gelingt so schnell nichts Gutes, meine Tochter«, sagte er niedergeschlagen. »Das Netz ist wieder so leer wie gestern. Ihr müßt euch mit dem begnügen, was noch
im Haus ist. Vielleicht spendet uns Allah Trost.« Wieder erhob er sich beim ersten Hahnenschrei, und diesmal küßte ihm die jüngste Tochter die Hand. »Möge dir Allah beistehen und dein Leben verlängern!« sprach sie. Auf seinem Weg zum Strand sagte er bei sich: »Heute soll mir das Glück der Jüngsten eine göttliche Gabe verheißen.« Als er das Meer erreicht hatte, warf er voller Zuversicht sein Netz aus und sofort zappelte ein so strammer Fisch in den Maschen, daß er den Mann fast um den Verstand gebracht hätte. Jede seiner Schuppen war von anderer Gestalt. »Wehe dem, der Allah nicht fürchtet. Gepriesen sei Gott in seiner Schöpfung«, überlegte der Fischer laut. »Dieser Fisch wurde nicht geschaffen, um gegessen, sondern um bestaunt zu werden. Bei Allah, er gebührt Königen.« Darauf beschloß er, den wunderschönen Fisch dem König des Landes zu schenken. »Beim Propheten, o größter König aller Zeiten, nimm diesen Fisch als Geschenk«, bat der Fischersmann den Herrscher, nachdem er den Palast betreten hatte. Der König betrachtete das prächtige Tier, pries Allah für seine Schöpfung und setzte den Fisch in einem Bassin aus. Dort schwamm er vergnügt umher und wühlte das Wasser auf, daß die Wellen in allen Farben glitzerten. Vor lauter Freude gab der König dem Fischer einen Beutel mit eintausend Dinaren und dazu noch von den schönsten Dingen, wie sie ihm gerade in den Sinn kamen. Auch die Königin beschaute sich den Fisch. Der allerdings hielt bei ihrem Anblick im Schwimmen inne und begann laut zu lachen, bis er untertauchte und nicht wieder an die Oberfläche kam. Die Fürstin ergriff ein Grimm, wie er größer hätte nicht sein können. Der König wollte sie beruhigen, raunte ihr süße Worte zu und versuchte, sie zu erheitern, aber alles ohne Erfolg. Sie wollte um jeden Preis wissen, warum der Fisch gelacht hatte. Man bestellte den Fischer in den Palast.
»Du mußt mir sagen, warum der Fisch so laut gelacht hat, als er die Königin erblickte«, verlangte der König. Der Fischer wollte sich damit entschuldigen, daß er nur ein einfacher Mann sei, aber der König ließ nichts gelten. »Du mußt es herausfinden. Ich gebe dir drei Tage Zeit. Solltest du es nicht ergründen, dann schlage ich dir – was mir eigentlich fernliegt – den Kopf ab«, befahl der König. Der Fischer wankte niedergeschlagen nach Hause. Er wußte nicht ein noch aus, so daß ihm die Tränen in Strömen über das Gesicht rannen. »Mache dir keine Sorgen«, wollte ihn seine Frau trösten, »in drei Tagen sterben Leute und werden zu neuem Leben erweckt, ein lichterloh brennendes Feuer verlischt bald zu Asche. Mann, lege dein Schicksal getrost in Allahs Hände«, sprach sie. Doch bis er endlich Ruhe und Schlaf fand, raufte er sich die Haare und den Bart. Am anderen Morgen machte sich die jüngste Tochter lautlos davon und begab sich in den Palast. Dem König war dieser frühe Besuch angenehm. »O größter König aller Zeiten, ich bin die Tochter des Fischers«, erklärte sie ihr Erscheinen. »Ich bin zu Dir gekommen, um Dir zu sagen, was es mit dem Lachen des Fisches auf sich hat, das er über die Königin anstimmte.« Der König schickte nach der Königin, und das Mädchen begann zu erzählen: »O größter König aller Zeiten, es war einmal und war doch nicht vor langer, langer Zeit, hätte aber sein können. Es lebte einmal ein Wasserträger, der tagein tagaus seinen ledernen Wasserschlauch füllte und auf dem Rücken in die Häuser der Leute schleppte. Er schuftete vom ersten Hahnenschrei bis zum Anbruch der Nacht, denn ein Schlauch reichte allenfalls für vier, fünf Häuser. Seine Freunde rieten ihm deshalb, sich ein Lasttier anzuschaffen. Der Mann schränkte sich da ein, borgte von dort und dort und legte sich so ein paar Ersparnisse zur Seite, die gerade reichten, daß er sich eine einäugige, lahme und schwärige Maultierstute kaufen
konnte. Von da an zog er mit dem Tier durch die Gassen. Nur, o größter König aller Zeiten, legte der Wasserträger ihm Futter nach der Art der Lasttiere vor, fraß dieses Maultier keinen Bissen. Der Mann zermarterte sich den Kopf, warum es wohl nicht fressen mochte. Als er eines Tages wieder darüber nachgrübelte, kam ihm in den Sinn, daß dem Tier das Futter nicht schmecken könnte. ›Sohn, bringe vom Bsuriyye-Basar etwas Mandelraspel mit Zucker, Haselnüsse und Pistazien und lege alles auf einen Teller! Verstecke dich obendrein, denn vielleicht schämt es sich sogar, in deiner Gegenwart zu fressen,‹ sagte der Mann. Gesagt, getan. Wie der Mann das Maultier heimlich beobachtete, sah er, wie es plötzlich sein Fell abstreifte und ein wunderschönes Mädchen hervortrat. Es war so vollkommen wie der Vollmond, zu dem es hätte sagen können: ›Vergeh, damit ich an deiner Statt steh’ als Kadi, Mufti, Stadthauptmann, seh’,‹ Das Mädchen ließ sich nieder und begann zu essen. Der Mann indessen schlich sich auf Zehenspitzen heran und nahm das Fell an sich. Als das Mädchen den Diebstahl bemerkte, schrie es auf. ›Wir sind wie Bruder und Schwester, uns trennen Schwert und Koran‹, sagte er zu dem Mädchen. ›So sprich denn ‘Ah,’ und zwinkere einmal mit den Augen,‹ forderte es ihn auf. Der Wasserverkäufer zwinkerte mit den Augen, doch wie er sie wieder öffnete, befand er sich in einem Palast, in dem er dem Mädchen den Rhythmus zum Tanz schlug. Er sah deren Gefolge, Diener und Eunuchen. Was soll ich dir, größter König aller Zeiten, sagen, dem Wasserverkäufer wurde es ganz leicht ums Herz. Die beiden lebten einträchtig miteinander, wie gut, weiß nur Allah allein, gepriesen sei er. Eines Nachts konnte er nicht einschlafen. Unablässig warf er sich im Bett von einer Seite auf die andere, aber der Schlaf wollte ihm nicht die Augen schließen. Da sah er plötzlich das
schlafende Mädchen vor sich liegen, das der Mond mit seinem Lichtstrahl beleuchtete, und der Teufel setzte dem Wasserverkäufer das verwerfliche Verlangen nach der Jungfrau in den Kopf. Behutsam legte er Schwert und Koran beiseite und küßte sie auf den Mund. Da versetzte sie ihm eine schallende Ohrfeige und zauberte ihn zurück in seinen alten Arbeitskittel mit Seil und Wasserschlauch. Wie sehr, o größter König aller Zeiten, hat es diesen Mann um sein Tun gereut?« beendete die Fischerstochter ihre Geschichte. »Ihn wird die Reue fast umgebracht haben«, vermutete der König. »Und auch ich befürchte, größter König aller Zeiten, daß es dich schwer reuen wird, wenn ich dir sagte, was du zu wissen begehrst«, warnte sie. »Tut nichts, sprich!« »Erst morgen früh«, verabschiedete sie sich und eilte davon. Die Fischerstochter kehrte nach Hause zurück, wo niemand von ihrem Besuch beim König wußte. Bei der Mutter erkundigte sie sich, wie es dem Vater gehe. »Sein Zustand ist unverändert. Er sitzt drinnen, spricht und ißt und trinkt nicht. Er weiß nicht, was er dem König sagen soll«, antwortete sie, dann ging sie ihren Schwestern zur Hand, die das Haus fegten, schrubbten und wischten. Die Jüngste erhob sich am anderen Morgen noch vor dem ersten Sonnenstrahl und lief zum König, der bereits mit der Königin auf sie wartete. »Was wolltest du uns also gestern erzählen«, nahm der König das Gespräch vom Vortag wieder auf. »O größter König aller Zeiten«, hob die Fischerstochter an, »es war einmal und war doch nicht, hätte aber sein können. Es lebte einmal vor langer Zeit ein Mann, der einen Vogel gezüchtet hatte. Dieser Vogel war ihm sehr teuer, daß er ihn überallhin mitnahm. Tag für Tag gefiel es diesem Mann, einen Spaziergang zu unternehmen. Mit einer Wegzehrung versehen, marschierte er mit dem Vogel auf der Schulter bis zu einem Garten. Unter einem Baum ließ er sich nieder, packte seine Verpflegung aus und begann zu essen.
Dabei verschluckte er sich an einem Bissen, sprang in die Höhe und suchte nach etwas zu trinken. Wie er sich umsah, fiel sein Blick auf Wassertropfen, die von einem Baum rieselten. Der Mann streckte seine hohlen Hände aus und füllte sie. Als er aber zum Trinken ansetzte, sprang ihm sein Vogel auf den Arm und vergoß alles Wasser. Der Mann streckte geduldig noch einmal die Hände aus und füllte sie an dem Rinnsal, aber der Vogel verhinderte durch einen erneuten Sprung, daß sein Herr trinken konnte. Gereizt wiederholte der Mann sein Unterfangen, das der Vogel abermals verhinderte. In blinder Wut packte er nun seinen Liebling, riß ihn in Stücke und schleuderte diese weit von sich. Nun schritt er wieder zu dem Baum, um zu trinken, doch diesmal schaute er nach oben in den Baum und erblickte eine gewaltige Schlange. Die scheußliche Kreatur verspritzte ihr überschüssiges Gift, daß es von dem Baum herabrann. Wie sehr wohl reute den Mann, größter König aller Zeiten, was er seinem Vogel angetan hatte, der ihn vor Schaden zu bewahren suchte?« endete die Fischerstochter ihre zweite Geschichte. »Sicher sehr«, sprach der König. »Und auch ich befürchte, größter König aller Zeiten, daß es dich reuen wird, wenn ich dir sagte, was du zu wissen begehrst«, warnte sie. Da packte sie der König. »Entweder sprichst du endlich oder ich haue dir den Kopf ab«, drohte er voller Ungeduld. »O größter König aller Zeiten, du gewährtest meinem Vater eine Frist von drei Tagen. Der morgige Tag ist noch nicht angebrochen«, verteidigte sie sich und nahm Abschied. Zu Hause erkundigte sich die jüngste Tochter nach ihrem Vater. »Er wird bald seinen Geist aufgeben und sterben«, jammerte die Mutter. »An seinem Bart ist kein Haar mehr, er zerfleischt sich geradezu. Immerzu brubbelt er unverständliches Zeug.«
Im Morgengrauen des dritten Tages erhob sich die Jüngste, doch diesmal zog sie ihre besten Kleider an und putzte sich heraus. Dann lief sie zum König, der mit der Königin schon auf sie wartete. »Heute ist der dritte Tag. Entweder du sprichst oder ich schlage dir deinen und den Kopf des Vaters ab«, empfing sie der Herrscher unwirsch. »Ich werde nichts sagen, bevor du mich nicht unter deinen besonderen Schutz stellst«, forderte die Fischerstochter, und er erwies ihr diese Gnade. »Ich verlange, o größter König aller Zeiten, daß ein jeder, der sich im Palast aufhält, so wie ihn Allah geschaffen hat, in das Bassin steigt. Nackt – Männer wie Frauen und in Gegenwart der Königin«, tat das Mädchen kund. Der König überlegte und dachte bei sich: ›Was ist schon dabei,‹ und gab entsprechende Befehle. Alsdann stieg einer nach dem anderen nackt in das Bassin. Als alle durch das Wasser geschritten waren, versuchte die unruhige Königin beim König eine List. »Wie konntest du diese Verruchte das tun lassen?« empörte sie sich. »Ich habe sie unter meinen Schutz gestellt. Was sie zu tun gedenkt, wird ihr erfüllt, damit wir sehen, wohin sie uns führen will«, wies er den Protest zurück und befahl nun, daß auch die Eunuchen in das Bassin stiegen. Als das geschehen war, fragte er in die Runde, ob niemand ausgelassen wurde. »Niemand außer der Zofe der Königin«, gab man ihm zur Antwort. »Auch sie soll, wie jeder hier, in das Becken steigen«, befahl er unbeirrt. »Das Schwert wird dir den Kopf abhauen«, drohte die Königin. »Und wieso soll sie auch hinabsteigen? Nein, sie wird nicht!« »Bei meinem Kopf, die Zofe wird sich ausziehen und in das Wasserbecken steigen, wie jeder hier.« Der König war nicht zu erschüttern. Dann zerrten sie die Zofe an den Beckenrand und
entkleideten sie mit Gewalt. Und da kam es an den Tag: Sie war ein Mann. Die Fischerstochter wandte ihren Kopf zum König. »Nun weißt du, o größter König aller Zeiten, warum der Fisch die Königin verlachte: weil sie nicht würdig ist, Königin zu sein. Sie hatte dich mit einem Sklaven eingetauscht.« »Henker«, schrie da der König, »bringe mir die Köpfe der Königin und des Sklaven!« Dann klopfte der Herrscher mit dem Zeremonienstab auf den Boden. Kadi, Mufti und Stadthauptmann kamen herbei, und es wurde ein Ehevertrag über die Heirat des Königs mit der Fischerstochter aufgesetzt.
Dann verließen wir sie in Wonne und Glück und kehrten zu euch zurück. Möge Allah der Hörerschaft Leben versüßen. So soll es denn sein.
Nuss Nassis der Halbsogroß
Es lebte einmal ein Mann, der hatte drei Frauen, die alle keine Kinder bekommen konnten. Er hörte sich nach einer Medizin um, damit sie endlich schwanger würden. Man sagte ihm, Äpfel könnten helfen. So kaufte der Mann drei Äpfel und gab jeder seiner Ehefrauen eine Frucht, damit sie ein Kind bekämen. Alle verzehrten ihren Apfel ganz, nur die dritte nicht. Die aß lediglich eine Hälfte, die andere legte sie ins Fenster. Eine Eselstute, die die Straße entlangtrottete, fraß sie auf. Monate später waren die drei Frauen guter Hoffnung, und eine jede schenkte nach Ablauf der Frist ihrer Leibesfrucht das Leben. Die erste gebar einen Knaben, der Hassan genannt wurde. Die zweite brachte einen Hussein zur Welt. Die dritte genas von einem kleinen Jungen, den man wegen seiner Winzigkeit und körperlichen Schwäche ›Nuss Nassis den Halbsogroß‹ nannte. Mit der Zeit wuchsen die Söhne heran, wie man im Märchen stets im Handumdrehen erwachsen wird. Der Vater fragte eines Tages die drei Jünglinge, ob sie einen Wunsch hätten, den er ihnen erfüllen sollte. »Ich möchte ein Pferd und ein Gewehr«, bat Hassan. Hussein hegte die gleiche Bitte. »Ich möchte eine Ziege und ein langes Wurfholz, das vorn breit und hinten schmal ist«, sagte Nuss Nassis. Dem Vater blieb nichts anderes übrig, als die Wünsche seiner Söhne zu erfüllen. Eines Morgens zogen die drei Brüder auf die Jagd. Hassan und Hussein schossen mit ihren Flinten auf allerlei Tiere, konnten aber nichts zur Strecke bringen, weil sie nicht gut genug zu zielen verstanden. Nuss Nassis hingegen schleuderte sein Holz und erlegte viele kleine und große Vögel, daß seine
Brüder regelrecht eifersüchtig wurden, auf Halbsogroß losgingen, ihn einschüchterten und ihm schließlich seine Jagdbeute wegnahmen. Die drei zogen eines Tages durch einen schier menschenleeren Wüstenstrich, als sie plötzlich auf eine Ghula stießen. »Oh, ich bin doch eure Tante«, heuchelte die Alte hinterlistig. »Euer Vater nahm mich zur Frau, als ihr noch klein wart, so daß ihr mich nicht kennen könnt.« Nach diesen Worten führte sie die Brüder zu ihrer Behausung. In der Nacht brubbelte sie vor sich hin: »Ich werde Hassan, Hussein und Nuss Nassis fressen.« Das hörte Halbsogroß und mußte sich räuspern. »Was ist dir, du Winzling?« erkundigte sich die Ghula. »Wie könnte ich schlafen, wenn mein Bauch leer ist«, log er. Da ging sie und schlachtete einen Hammel, den Nuss Nassis verspeisen sollte. Er aber war darauf bedacht, sie mit seinen Wünschen und Gesprächen zu beschäftigen und unterhielt sie bis zur Dämmerung mit Taschenspielereien. Als seine Brüder die Augen aufschlugen, raunte er ihnen zu: »Das ist eine menschenfressende Ghula und niemals eure Tante. Seid auf der Hut.« Die böse Alte trat heran und wollte von den beiden Brüdern wissen, was ihre Pferde wohl tränken. »Durchgeseihtes Wasser«, antworteten sie, und die Ghula lief zur Quelle, um Wasser durchzuseihen. Die drei Jünglinge nutzten diese Gelegenheit und machten sich aus dem Staub. Als die Alte ihre Flucht entdeckte, gebot sie den Pferden auf magische Weise Halt, und die Tiere blieben wie angewurzelt stehen. Hassan und Hussein saßen rasch ab und schwangen sich hinter Nuss Nassis auf dessen Ziege und setzten ihren Heimritt unangefochten fort. Im Haus bot sich Halbsogroß an, die Ghula zu fangen und unschädlich zu machen. Sein Entschluß stand bald fest, und er lief auf den Basar, um eine feste Truhe zu kaufen. Mit diesem Kasten ritt er erneut zur Hütte der Ghula. Diesmal gab er vor, er sei ein fahrender Händler und biete feil, was in der Truhe sei.
Die Ghula kam neugierig heran. »Du ähnelst Nuss Nassis«, fiel ihr auf. Doch der entgegnete, daß er jenen nicht einmal kennen und nie zuvor gesehen habe. »Wenn dir die Waren nicht gefallen, die oben auf der Truhe liegen, suche getrost weiter unten. Vielleicht ist etwas Rechtes für dich dabei, woran du Gefallen findest. Du wirst wunderschöne Sachen schauen, die dir einfach zusagen müssen«, warb der Wicht um die Aufmerksamkeit der Alten. Die Ghula wühlte schließlich alles bis auf den Grund der Truhe durch und begann schon, unter den Dingen auszuwählen. Da schlug Nuss Nassis den Deckel über ihr zu und ritt auf dem schnellsten Wege nach Hause zurück. »Holt Holz und Schwefelhölzer«, rief er. Man schichtete Scheite übereinander und setzte die Truhe in Flammen, so daß die Ghula im Feuer umkam.
Die Rosine
Es lebte einmal ein armer Mann. Er klagte stets und stöhnte in einem fort. Jeden Tag ging er am Fluß entlang, kaufte sich Rosinen und verzehrte sie am Ufer. Einmal fiel eine Rosine in den Fluß. Der Mann begann zu jammern: »Meine Rosine, wo ist meine Rosine?« Lange klagte und stöhnte er über den Verlust der Süßigkeit. Da schwoll plötzlich das Wasser im Fluß an, dem eine gütige Flußjungfrau entstieg. »Nimm diesen Kessel!« sprach sie liebevoll zu ihm. »Ach, ich will den Kessel nicht, ich möchte meine Rosine zurück!« klagte er unentwegt. »Nimm diesen Kessel anstelle deiner Rosine. Er ist aus purem Gold und jedes Mal, wenn du ihn umstülpst, spendet er dir Gold. Aber du darfst keiner Menschenseele von diesem Geheimnis erzählen.« Der Mann nahm den Kessel und eilte damit rasch zu seiner Frau. Er berichtete ihr, was ihm widerfahren war. Dann warnte er sein Weib, niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen von dem Geheimnis des Kessels zu erzählen. Tage später ging der Mann wie immer zum Fluß. Zuvor hatte er sich Rosinen gekauft und verzehrte sie nun am Ufer. Wieder fiel eine Rosine in den Wasserlauf. »Meine Rosine, wo ist meine Rosine?« heulte er auf und klagte lange, bis sich der Fluß plötzlich wieder hob und die Flußjungfrau erneut hervorkam. »Nimm diesen Besen!« bot sie ihm an. »Jedesmal, wenn du damit kehrst, kommt statt Staub pures Gold heraus. Aber verliere zu niemandem auch nur eine Silbe darüber.« Der Mann nahm den Besen und eilte zu seiner Frau. »Schau, die Flußjungfrau hat mir noch einen Besen gegeben, der Gold gibt.«
Eine Nachbarin erbat sich eines Tages von der Frau einen Kessel, damit sie darin Essen kochen könne. Diese gab ihr sorglos den Gold spendenden Kochtopf. »Das ist ein Zauberkessel, aus dem Gold hervorkommt«, verriet sie dabei einfältig und nahm der Nachbarin obendrein das Versprechen, das Geheimnis niemandem zu entdecken. Die Nachbarin nahm den Zauberkessel und vertauschte ihn mit einem alten Topf. Den gab sie zurück, als ob es der Zauberkessel wäre. Bald kam die Nachbarin einen Besen borgen. Die Frau verlieh den Zauberbesen, wobei sie verriet, welche Bewandtnis es mit ihm hatte und wollte, daß jene das Geheimnis bewahre. Die gierige Nachbarin nahm den Zauberbesen und vertauschte auch dieses Wunderding mit einem alten Feger. Als die ursprüngliche Besitzerin aus Kessel und Besen Gold holen wollte, blieben ihre Hände leer, was sie ihrem Mann verheimlichte. Der Mann sagte eines Tages zu seiner Frau: »Ich möchte noch andere Geräte, aus denen Gold kommt. Ich werde deshalb noch einmal zu der Flußjungfrau gehen und diese Gaben von ihr verlangen.« Am nächsten Tag ging er zum Fluß und warf gleich eine Rosine in das Wasser. Dann klagte und stöhnte er wie gewöhnlich. Das Wasser schwoll abermals an und die Flußjungfrau kam an die Oberfläche. »So also verrätst du Geheimnisse!« rief sie empört. »Ich habe aber niemandem etwas von Kessel und Besen erzählt«, beteuerte er. »Aber deine Frau hat alles der Nachbarin hinterbracht, die Kessel und Besen gestohlen hat. Von heute ab gebe ich dir nichts mehr.« Danach verschwand die Jungfrau, und der Fluß war wieder still, als wäre nichts geschehen. Der Mann warf abermals eine Rosine in den Fluß, beklagte aber vergeblich sein Unglück, ächzte und jammerte über die Zeiten wie immer.
Der Hahn und die Henne
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Erzählen wir nun oder schlafen wir fein? Oder soll es von beidem gleichzeitig sein? So soll es denn sein. Es lebte einmal ein armer Mann namens Bu Ahmed, der aber auch gar nichts sein eigen nennen konnte und nicht einmal das Mahl für denselben Abend hatte. »Auf, Mann, schaffe zu essen an, damit die Kinder etwas zu beißen haben!« forderte ihn seine Frau auf. Der Mann hatte einen Esel als Lasttier, mit dem er tagtäglich Holz aus dem Wald holte und es auf dem Basar verkaufte. Von diesem Erlös brachte er den Kindern Essen und Trinken. Jeden Morgen schulterte er seine Axt und zog auf den Berg. Dort war ein großer Stubben, von dem schlug er eine Ladung Holz ab, veräußerte sie und kehrte heim. Als er eines Tages wieder auf den Wurzelstumpf einhieb, kam eine Schlange – Allah behüte uns vor dem Teufel – hervorgekrochen. Die Schlange war so dick wie sieben Deckenbalken und beäugte den armen Holzhauer argwöhnisch. »Willst du nicht endlich aufhören, hier herumzuhacken, der Stumpf wird noch stürzen. Bei Allah, wenn du dich dieser Stelle noch einmal näherst oder sie auch nur berührst, dann verschlinge ich dich mit Haut und Haaren!« drohte das riesige Reptil. Vor lauter Furcht und Schrecken stürzte der Mann mit seinem Esel Hals über Kopf davon. Zu Hause sah ihn seine Frau, wie er seine leeren Hände über dem Kopf zusammenschlug. »Wehe dir, du hast den Kindern nichts
gebracht! Sie werden noch Hungers sterben«, empfing ihn seine Alte mürrisch. »Frau, ich bin einer riesigen Schlange begegnet, die mir einen furchtbaren Schrecken eingejagt hat, denn sie wollte mich fressen. Da habe ich mein Heil in der Flucht gesucht«, berichtete er aufgeregt. »Allah hätte sie dich wirklich fressen und von dir reinweg nichts übriglassen sollen. Gibt es denn keine anderen Stämme, die du spalten kannst?« zeterte die Frau. Am anderen Tag schulterte Bu Ahmed doch wieder seine Axt. Er hatte es satt, daß seine Alte andauernd mit ihm schimpfte und die Kinder vor Hunger unentwegt greinten. ›Ach, da soll mich doch die Schlange fressen‹, sagte er verzweifelt zu sich und ging zu dem alten Wurzelstock zurück. Zweimal sauste die Axt krachend auf das Holz, dann kam die Schlange herausgeschnellt, bäumte sich hoch auf und kam auf ihn zu. »Was habe ich dir denn gestern gesagt?« zischelte die Schlange scharf. »Ich flehe dich an, meine Kinder haben Hunger, und ich bin ein armer Mann, der nicht das Schwarze unter dem Nagel besitzt. Gestern mußten die Kinder gar ohne Essen zu Bett gehen«, klagte der Alte. »So du arm bist, nimm! Ich gebe dir jetzt drei Körner, die du hinunterschlucken mußt«, sprach die Schlange. »Was geschieht dann mit mir? Wenn mich die drei Körner schon satt machen sollten, aber was essen meine Kinder?« fragte der einfältige Holzhauer. »Ich sage dir, du sollst sie schlucken«, fauchte die Schlange, keinen Widerspruch duldend, und er gehorchte und schluckte die Körner und ging seiner Wege. Mit Allahs Hilfe verstand Bu Ahmed auf einmal alle Sprachen und Zungen, die der Menschen wie die der Tiere. Auf dem Heimweg zog er an zwei einäugigen Raben vorbei. »Krah, krah, wo schlafen wir denn heute?« krächzte der eine dem anderen zu. »Krah, krah, wir fliegen wieder zu jenem Hügelchen, wo die beiden großen Goldkrüge sind. Du schläfst
in dem einen Krug und ich in dem anderen«, sprach der zweite Rabe. Der Holzhauer hatte alles mitangehört und frohlockte. ›Der Herr hat mir ein göttliches Geschenk bereitet‹, sagte er sich und folgte den beiden Vögeln, die hoch in der Luft einem Hügel zuflogen. Kaum hatten sich die beiden gefiederten Burschen auf den Krügen niedergelassen, als auch schon Bu Ahmed herangeschlichen kam, beide Raben packte und an den Beinen zusammenband. Dann wartete er, bis es dunkel wurde und belud seinen Esel mit Gold. Auch die beiden einäugigen Raben nahm er mit nach Hause. Dort waren seine Kinder bereits vor Hunger eingeschlafen. Kaum hatte er die Tür einen Spalt geöffnet, als sein Weib über ihn herfiel. »Still, Alte, gleich wirst du staunen, was ich dir mitgebracht habe«, flüsterte der Holzhauer. »Was bringst du schon außer Unheil und Pech«, höhnte diese. »Nimm zuerst die Raben und brate sie für die Kinder. Für dich habe ich eine Eselsladung Gold vor dem Haus«, tat er ihr kund. »Was, woher? Oh, Jammer über dich! Steht dir etwa Gold ins Angesicht geschrieben?« heulte die Alte auf, die unrechtes Gut vermutete. »Wecke jetzt die Kinder und gib ihnen zu essen!« beharrte er ohne weitere Erklärungen und die Alte gehorchte. Als die Kinder gegessen hatten, holten die Eltern die Goldmünzen und versteckten sie auf dem Speicher. Noch in jener Nacht zogen sie erneut mit dem Esel los, um aus den Krügen das restliche Gold zu holen. Als sie nach getaner Arbeit wieder in ihrer Hütte beieinander saßen, konnten sie ihr Glück noch immer nicht recht fassen. Bu Ahmed erhob sich schon in der ersten Morgenröte und fragte, was er besorgen sollte. »Lauf zum Suk und hole von allem, denn wir haben reinweg gar nichts im Haus«, jauchzte sein Weib. Der Holzhauer kaufte Mehl, Olivenöl, Weizengrütze, Fett, Zwiebeln, Reis und Linsen. Auch Fleisch vergaß er nicht. Es wurde ein köstliches Mahl, bei dem allen Hören und Sehen verging.
Bei seinem zweiten Gang auf den Basar brachte der Mann Möbel, Decken und vielerlei Einrichtungsgegenstände. Später erwarb er ein Stück Boden, auf dem er Viertelpächter anstellte. Bald nannten die Leute den Holzhauer nicht mehr einfach Bu Ahmed, sondern würdevoll Abu Ahmed. Lohnarbeiter bebauten sein Land, während er zu Hause thronte wie ein Aga. »Mann, du mußt wissen, wie die Viertelpächter den Boden bestellen und die Saat ausbringen. Sattle dir den Esel und schaffe ihnen das Mahl aufs Feld. Schau ihnen auf die Finger, daß sie auch die Körner richtig in die Erde bringen«, riet ihm eines Tages sein Weib. Abu Ahmed mußte ihr zustimmen, nahm sich selbst Proviant und den Futtersack für den Esel und ritt auf den Acker hinaus. »Kommt her und eßt!« rief er seinen Arbeitern entgegen. »Einen Augenblick Geduld! Erst wollen wir noch diese zwei Furchen umbrechen«, erwiderte man ihm. Der Holzhauer ließ sich dieweil am Feldrand nieder. Da blickte ein Ochse wehmütig zum Esel Abu Ahmeds hinüber, der den Kopf im Futtersack mit bester Gerste stecken hatte. »Wohl bekomm’s, kleines Grautier. Dein Leben lang besteht deine ganze Arbeit nur darin, daß man auf dir vom Haus hierher und wieder zurück reitet. Wir dagegen ziehen den Pflug von Sonnenaufgang bis in die Dämmerung und bekommen nichts anderes als Stroh mit einer Handvoll Gerstenkörnern zu fressen«, klagte der Ochse. »Allah möge dir keine Genesung schenken«, schimpfte der kleine Reitesel hochmütig. »Sobald ihr am Abend wieder im Stall seid, verweigere das Fressen, dann wird man dich auch nicht zum Pflügen einteilen.« Abu Ahmed hatte das Gespräch der beiden mit angehört und wiegte bedächtig seinen Kopf. »Wir werden ja sehen, was der Ochse tut«, sagte er leise zu sich. Der Ochse befolgte den Rat des Esels und rührte das Futter weder am Abend noch am anderen Morgen an. Die Feldarbeiter wollten weiter pflügen und waren sich unschlüssig, wen sie vor den Hakenpflug
schirren sollten. »Nehmt den Reitesel«, wies Abu Ahmed seine Löhner an. Der Esel zog und zerrte schwer an dem Pflug, denn er war diese Arbeit nicht gewohnt. »Ach, hätte ich bloß dem Ochsen nichts gesagt«, klagte er sich immer wieder selbst sein Leid. »Es hat mir doch nur Mühe eingebracht.« Als man am Abend dem Esel das Joch abnahm, eilte er vom Feld zum Ochsen. »He, Langschläfer, steh’ auf!« kreischte der Esel zum Ochsen. »Der Knochenhauer ist bei unserem Meister, der jenem einen kranken Ochsen versprach. Bevor er sterbe, solle er geschlachtet werden. Für jedes Pfund Fleisch will er ein kleines Maß Gerste geben, sobald das Korn gedroschen ist. Sie werden gleich kommen, um dich zu holen und zu schächten.« Der Esel wußte auch gleich noch einen Ausweg, der darin bestünde, wenn der Ochse wieder kräftig fresse, damit ein jeder sehen könne, daß er wieder gesund sei. Da erhob sich der Ochse und machte sich über das angebotene Futter her, er fraß und malmte und leckte, bis kein Stäubchen mehr in der Krippe war. Als der Viertelpächter nach ihm schauen kam, hatte jener alles blitzblank geschleckt. »Allah sei Dank«, rief der Löhner, der rasch zum Meister lief, »der Ochse frißt wieder und ist wohlauf!« »Den Reitesel soll doch der Blitz treffen«, wunderte sich Abu Ahmed laut, »was mag er bloß dem Ochsen gesagt haben, daß dieser wieder frißt.« Das hatte nun sein Weib gehört. »Was hat das zu bedeuten, Abu Ahmed? Wie kannst du wissen, was der Esel gesagt hat?« ereiferte sie sich. »Misch dich nicht ein, bis ich es dir anvertraue. Kaum spricht man ein Wort, willst du eine Erklärung«, brubbelte der Holzhauer. »Nein, bei Allah, so billig kommst du mir nicht davon. Erst sagst du mir, was hier vor sich geht«, beharrte die Alte. »Aber wenn ich es dir sage, muß ich unweigerlich sterben«, wollte Abu Ahmed seine Frau abweisen. »Du mußt sterben? Allah erbarme dich deiner, wir müssen alle früher oder später sterben. Du mußt mir alles
sagen«, polterte die Alte und war nicht umzustimmen. »Ich werde nicht eher reden, bis du die Leute eine Woche lang bewirtet hast, damit sie für mich Gottes Gnade erflehen«, versuchte er Zeit zu gewinnen, und sie war einverstanden. Nun wurden Hammel zum Schlachten, säckeweise Reis und Büchsen von Bratfett angeschafft und alle Leute zum Gastmahl gebeten. Bei jedem Bissen wünschten sie Abu Ahmed: »Allah möge sich deiner erbarmen!« Währenddessen hockte der Holzhauer miesgrämig in seiner Ecke. Als alle Gäste gespeist und gesättigt waren, liefen die Leute wieder auseinander. »Nun verrate schon dein Geheimnis, Abu Ahmed«, drängte sein Weib, kaum daß der letzte gegangen war. »Haben alle am Mahl teilgehabt?« fragte jener bange. »Wirklich jeder?« Seine hartherzige Alte bedeutete ihm, daß keine Menschenseele gefehlt habe. »Und die Hühner und der Hund, hast du denen auch vom Mahl abgegeben?« wollte er wissen, aber seine Alte hatte die Tiere vergessen. Rasch holte sie ein Tablett herbei, füllte es mit gekochter Weizengrütze und eilte auf den Hof. »Putt, putt, putt«, lockte sie die Hühner und streute die Körner auf den Boden. Die Hühner und der Hahn kamen und pickten mit Wonne den Leckerbissen. Da kam der Hofhund und schüttelte den Kopf. »Du kannst dich an den Körnern freuen, wo doch dein Herr sterben wird?« knurrte er verwundert den Hahn an. »Ja, bei Allah, ich bin froh«, gackerte der Hahn. »Allah wird dem Hausherrn nicht aus dieser mißlichen Lage helfen. Warum muß er denn sterben, he? Ich habe zwanzig Frauen, alle stehen unter meinen Fittichen, und eine jede schenkt mir ihren Gehorsam. Er dagegen hat nur ein einziges Weib, das er sich nicht hörig zu machen imstande ist. Wenn sie ihn drängt, sein Geheimnis zu verraten, warum packt er dann nicht den Stock und zieht ihn ihr ein für das andere Mal über, bis sie sich endlich versagt, ihn mit Fragen zu löchern und zu verärgern?« Wieder hatte Abu
Ahmed die Worte der Tiere vernommen. »Ich werde dem Luder nichts sagen, sondern den Rat des Hahns befolgen«, beschloß er. Da hatte sein Weib auch schon ihre Arbeit geendet und trat zu ihm. »Also los, Abu Ahmed, nun erzähle schon!« begann sie ihn unter Weinen und Schluchzen um ihrer Neugier wieder zu drängen. »Bringe mir einen großen Knüppel. Ich kann nicht aufstehen, wo ich doch sterben muß«, bat der Holzhauer, und sie holte das Verlangte. »Komm, ich will im Speicher und nicht hier auf der Schwelle sterben«, sprach er, und sie gingen hinein. Dort trat er nahe an sie heran, als wolle er ihr etwas zuflüstern, doch verpaßte er ihr statt dessen eine kräftige Ohrfeige. »Warum schlägst du mich, Abu Ahmed?« kreischte die Alte auf. Ohne viel Worte zog er den Knüppel hervor und walkte sie ordentlich durch. »Du Hündin, Tochter eines Hundes, um ein einziges Wort wolltest du, daß ich sterbe«, schrie er. »Ich flehe dich an, bei Allah, nie wieder in meinem Leben werde ich dich mit meinem ›Sag’s mir‹ bedrängen«, versprach da dem Holzhauer sein Weib.
Meine Geschichte ist verteilt, sie ist euch unters Hemd geschnellt.
Der Fischer und die Prinzessin
Es lebte einmal vor langer Zeit und in grauen Epochen weit ein armer Fischer. Der lief tagein tagaus an das Ufer des Meeres, um sein Netz in die Fluten zu werfen, um schließlich einen oder zwei Fische zu fangen, die er verkaufte, um von dem Erlös seinen Lebensunterhalt fristen zu können. Manchen Tag verließ er schon in aller Frühe seine armselige Hütte und kehrte bei einbrechender Dunkelheit dennoch mit leeren Händen heim, weil sich kein Fisch in den Maschen seines Netzes verirrt hatte. Dann mußte er mit leerem Magen auskommen. Eines schönen Tages schleuderte der Fischer wieder sein Netz ins Meer, doch als er es herausziehen wollte, war es so schwer geworden, daß es seine Hände aufrieb. ›Nun wurde mir endlich wieder ein stattlicher Fang zuteil‹, frohlockte er bei sich und zog kräftig. Und wirklich, in den Maschen hatte sich ein großer schöner Fisch verfangen, wie er ihn seinen Lebtag noch nicht gesehen hatte. »Höre, Fischer«, sprach der Fisch auf einmal, »ich bin dir aus freien Stücken ins Netz geschwommen. Ich weiß, daß du nur deshalb Fische fängst, weil du arm bist. Können wir nicht einen Pakt schließen? Trügest du mich auf den Basar und verkauftest mich, könntest du mit dem Erlös nicht mehr als zwei, drei Tage oder höchstens eine Woche leben. Ich gebe dir dagegen drei Schuppen von meiner Haut. Solltest du je meine Hilfe brauchen, so verbrenne eine davon, und ich bin in Windeseile am Ufer zu deinen Diensten. Stelle mich auf die Probe, du wirst es nicht bereuen und nichts einbüßen.« Der Fischer überlegte und sprach zu sich selbst: ›Selbst wenn ich das Geld für den Fisch verliere, so werde ich doch das Angebot
annehmen.‹ Dann wandte er sich mit einem bitteren Lächeln dem Fisch im Wasser zu. »Es scheint, daß du die Wahrheit sprichst, also werde ich es wagen«, sagte er und nahm die drei Schuppen an sich. Dann warf er sich sein Netz über die Schulter und versank in Grübeln über sich und den Fisch, der in sein entbehrungsreiches Leben etwas Hoffnung und einen Lichtblick gebracht hatte. Wie er noch seinen Gedanken nachhing, drangen ein gefährliches Zischen und ein verängstigtes Piepsen an seine Ohren. Der Fischer hob seinen Kopf und erblickte eine schreckliche Schlange, die gerade versuchte, ein hilfloses Adlerküken zu verschlingen. Der alte Adler saß niedergeschlagen auf einem nahen Felsen, denn er hatte nicht den Mut, der Schlange sein Junges zu entreißen. Doch der Fischer griff geistesgegenwärtig nach seinem Stock und schlug dem Reptil auf den Kopf. Das Küchlein war gerettet. Der Altvogel kam herangeflogen. »Du hast meine Familie vor dieser schrecklichen Schlange gerettet, die uns schon lange verfolgt. Das Scheusal fraß Jahr für Jahr meine Jungen. Ich werde dich für deine gute Tat belohnen. Nimm von meiner rechten Schwinge drei Federn. Solltest du einmal in Not geraten und du brauchst mich, dann verbrenne eine davon und ich bin in Windeseile bei dir«, dankte der Altvogel dem Fischer. Der nahm die drei Federn und steckte sie zu den drei Schuppen und folgte noch ganz verdutzt seinem Weg. Plötzlich sah er einen zerschundenen Fuchs, hinter dem eine Meute Hunde her war. Der Fischer empfing die wilde Rotte mit einem Hagel von Steinen, so daß sie von dem armen Fuchs abließen. »Guter Fischer, du hast mir das Leben gerettet, denn die Hunde hätten mir schon beinahe den Garaus gemacht. Zum Dank will ich dir drei Haare von meinem Kopf schenken. Wenn du meine Hilfe brauchst, verbrenne ein Haar, und ich werde dir sogleich zu Diensten sein. Mitunter braucht der
Mensch die Schläue eines Fuchses.« Der Fischer nahm die drei Haare, steckte sie zu den Schuppen und den Federn und setzte seinen Weg fort in einem Gefühl, als ob er mit wachen Augen einen Traum erlebte. Die Tage verstrichen, und der Fischer verließ seine Stadt, um in der Fremde seinen Lebensunterhalt zu suchen. Aber er entfernte sich dabei nicht vom Meer, das er so sehr liebte, und vergaß dabei Schuppen, Federn und Haare. Eines Tages gelangte er auf seiner Wanderschaft in eine seltsame Stadt. Sie zierte ein gewaltiger Königspalast, auf dessen Mauerzinnen unzählige Menschenköpfe gespießt waren. Als er sich nach dem Grund für diesen grausigen Anblick erkundigte, sagte man ihm, daß die Tochter des Königs ein Mädchen von außerordentlicher Schönheit und gerade im heiratsfähigen Alter sei, die aber ihren Freiern eine Reihe von schweren Bedingungen stelle. Wer ihre Forderungen nicht erfüllen konnte, wurde wie ein Hammel dahingeschlachtet und sein Haupt kam neben die anderen auf die Mauerkronen. ›Nun denn, auch ich werde mein Glück bei der Prinzessin versuchen. Ich bin arm, und der Arme ist schon zu Lebzeiten ein toter Mann. Mißlingt mir mein Versuch, ergeht es mir wie jenen dort oben. Ist mir das Schicksal hold, gewinne ich die Prinzessin. Entweder ich sterbe durch das Schwert des Königs oder ich lebe im Palast des Königs‹, reifte in ihm immer stärker der Entschluß, bis er schließlich den Palast betrat. Dort verkündete er, daß er um die Hand der Prinzessin anhalten wolle. Der König hatte keine Einwände, aber er warnte den Fischer. »Hast du die Schädel gesehen, bevor du hierher kamst?« fragte er und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Hast du denn gar keine Angst?« Der Fischer verneinte. Daraufhin wies ihm der Herrscher einen Platz an und schickte nach seiner Tochter.
Als die Prinzessin eintrat, schlug das Herz des Jünglings doch schneller, so schön war sie. Doch das hohe Fräulein blickte mit Geringschätzung auf den neuen Freier. »Höre er! Meine Bedingung für eine Vermählung ist allemal, daß sich ein jeder Werber dreimal an einem ihm genehmen Ort verbirgt. Ich werde sein Versteck erraten, wo auch immer er sich aufhält. Das erste und zweite Mal vergebe ich noch. Doch nach dem dritten gescheiterten Versuch ereilt ihn das Schicksal all der anderen. Willigst du dennoch ein?« sprach sie ungerührt. »Natürlich bin ich einverstanden«, gab er ruhigen Herzens zur Antwort. »So werde ich dir morgen in der Früh das erste Mal die Aufwartung machen, damit du mir sagst, wo ich mich verborgen gehalten habe.« Danach entließ die Prinzessin mit überheblicher Stimme den mutigen Burschen, der artig seinen Gruß entbot und sich entfernte. Vom Palast lief der Fischer rasch zum Ufer des Meeres, zog eine Schuppe hervor und verbrannte sie. Im Nu wurde die Wasseroberfläche aufgewühlt und der Kopf des großen Fisches wurde sichtbar. »Sei willkommen und möge dir kein Unglück widerfahren sein!« begrüßte der Fisch den Jüngling, der ihm die Geschichte mit der betörend schönen Prinzessin erzählte. »Steige auf meinen Rücken, denn ich werde mit dir in die tiefsten Tiefen des Meeres tauchen. Wir werden ja sehen, ob die Königstochter dein Versteck erraten wird.« Am anderen Tag lief der Fischer in den Palast, wo die Prinzessin bereits auf ihn wartete. »Ich weiß, wo du warst. Ich sah dich in den Tiefen des Ozeans. Dies war der erste Versuch. Geh und verbirg dich ein zweites Mal!« eröffnete sie ihm, kaum daß er Platz genommen hatte. Der Jüngling war verärgert, denn wie konnte die Königstochter nur sein Versteck wissen. Dann lief er in eine einsame Gegend und verbrannte eine der Federn des Adlers, der im gleichen Augenblick auch schon vor ihm niederging.
Ihm erzählte der Fischer ebenfalls die Geschichte mit der Prinzessin. »Nichts leichter als das. Steige auf meinen Rücken!« wies dieser den Burschen an und stieg mit ihm auf in die höchsten Höhen, daß niemandes Auge sie hätte mehr sehen können. Dort zogen sie bis zum Sonnenaufgang unentwegt ihre Kreise. Wieder ging er in den Palast. »Hast du mich diesmal entdecken können?« erkundigte er sich bei der Königstochter. »Ich habe dich gesehen«, sprach sie mit einem triumphierenden Lächeln, »du schwebtest hoch in den Lüften auf dem Rücken eines Adlers. Nun bleibt dir nur noch ein Tag. Geh und verabschiede dich von deinen Lieben, morgen ist deine Zeit abgelaufen!« Das Herz des Fischers schlug heftig und seine Augen röteten sich vor Zorn über diese zweite Niederlage, doch er konnte sich im Zaum halten. »Ich habe nur dich auf der Welt, und ich werde dich besiegen«, kam es mit fester Stimme über seine Lippen. Dann entbot er seinen Gruß und entfernte sich. Die Prinzessin hielt noch einen Augenblick inne, denn ihr gefiel durchaus sein Mut. Ihr Herz fing so heftig an zu schlagen, wie sie es nie zuvor kennengelernt hatte, und sie fühlte sich allmählich zu ihm hingezogen. Der Jüngling suchte einen fernen Ort auf und zog eines der Fuchshaare hervor. ›Ich habe den Fisch und den Adler versucht. Sie taten, was in ihren Kräften stand. Nun bleibt mir nur noch der Fuchs‹, überlegte er und verbrannte das Haar. Sofort erschien der Fuchs vor ihm und fragte ihn nach seinem Begehr. Der Fischer berichtete ihm von der Bedingung der schönen, aber hartherzigen Prinzessin. Da lachte der Fuchs. »Sagtest du nicht, du hättest dich in den tiefsten Tiefen des Meeres und den höchsten Höhen der Lüfte verborgen? Die Sache ist ein Kinderspiel. Erwarte mich um Mitternacht am Palastportal!« sagte der Fuchs keckernd. Als Mitternacht heran
war, trafen sich Fischer und Fuchs vor dem Palast, den Reineke durch einen Geheimgang betrat. Durch diesen Stollen führte das Tier den Jüngling direkt in die Kammer der Prinzessin. Die schlief fest in ihrem Bett und glich darin einem Engel. Inmitten des Gemachs stand eine große Truhe und in deren Nähe ein kleiner Spiegel, vor dem auf dem Boden ein Stück Stoff ausgebreitet lag, auf das wiederum eine Schicht Sand gestreut war. »Habe keine Angst!« flüsterte der Fuchs. »Die Prinzessin schläft tief und fest. Das hier ist ihr Hilfsmittel: ein Sandbett. Damit kann sie dich sehen, wo auch immer du dich aufhältst. Aber sie wird dich nicht erspähen können, wenn du dir diese Truhe zum Versteck wählst. Wisse, ein solches Sandbett verfügt über gewaltige Kräfte, Dinge in nah und fern zu entdecken, aber Menschen oder Dinge, die in dieser Truhe sind, kann es unmöglich offenbaren. Dessen bin ich mir sicher.« Der Fischer schlüpfte leise in die Truhe, um die Prinzessin nicht aufzuwecken. Der Fuchs verschwand wieder durch den Gang, den sie gekommen waren. Am anderen Morgen erwachte die Königstochter, sprang aus ihrem Bett und eilte sofort zu ihrem Sandbett. Doch sie konnte den Fischer nicht sehen. Sie war verwirrt. Wo konnte er sich nur versteckt haben, daß ihn das Sandbett nicht zum Vorschein bringen konnte? Hatte sie doch die Zauberei und ihre Künste studiert. Sie veränderte die Lage der Sandkörner und überlegte und überlegte, doch nichts konnte ihr helfen. Da schickte sie nach ihren Lehrmeistern unter den Wahrsagern, doch auch sie konnten ihr keinen Aufschluß darüber geben, wo der Jüngling sich aufhielt, während er doch die ganze Zeit bei ihnen in der Kammer war. Als der Abend hereinbrach, lüftete der Fischer den Deckel der Truhe und entbot der erschrockenen Prinzessin und all den Anwesenden seinen Gruß. »Nun, hast du mich sehen können?« fragte er die Prinzessin. »Nein, und ich bin bereit, dich zum Manne zu nehmen«, mußte sie zugeben.
»Hatte ich nicht vorausgesagt, daß ich zu guter Letzt siegen werde? Du magst zwar die Mittel haben, um in die tiefsten Tiefen der Meere und die höchsten Höhen der Berge und Lüfte zu blicken, aber du kannst damit nicht erkennen, wer in deiner Nähe ist. Deshalb konntest du mich nicht aufspüren und so werde ich dir nah bleiben«, verkündete der Jüngling. Die Tochter des Königs wollte noch wissen, wie er in den Palast gelangt sei. »Das werde ich dir erst nach der Hochzeit verraten«, scherzte der Bursche. Es dauerte gar nicht lange und der Fischer und die wunderschöne Prinzessin wurden Mann und Frau. Der Jüngling wurde Erster Wesir. Seine erste Amtshandlung war, die vielen Schädel von den Mauerzinnen entfernen zu lassen. Dann lebte er ein Leben in Fülle und Wohlstand und vergaß bald die Tage des Elends und der Entbehrungen.
Fliehe ihr, o Schlummer
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, verehrte Hörerschaft im Saal, oder wollen wir beten für den Propheten, der eine Gnade ist für die Welt und ein Lichtstrahl am Himmelszelt? So soll es denn sein. Es lebte einmal eine alte Frau, die hatte nur einen einzigen Sohn, den sie in die Ehe gab. Er schwängerte seine Frau, die einem Mädchen das Leben schenkte. Kurze Zeit darauf verstarb der Mann. Die junge Witwe ließ ihr Kind bei der Alten, die sich redlich mühte, um für das kleine Mädchen zu sorgen. Tag und Nacht saß sie über ihren einfachen Webstuhl gebeugt, bis die Enkelin herangewachsen war und der Alten bei der Arbeit zur Hand ging, die beide ernähren mußte. Eines Tages übermannte der Schlaf das Mädchen beim Weben. Die Alte wollte sie mit einer Handvoll Kichererbsen vom Schlummer abhalten, aber nichts vermochte dem Kind den Schlaf aus den Augen zu vertreiben. »Ich will schlafen, Großmutter!« flehte das Kind. »Ich bin so schrecklich müde.« »Wir haben aber noch Garn, das wir diese Nacht verweben müssen«, sagte die alte Frau, aber sie konnte das Mädchen nicht umstimmen. Da begann die Großmutter eine Beschwörung zu sprechen. »Fliehe ihr, o Schlummer, fliehe ihr!« Zufällig schlenderte der König mit seinem Wesir durch die Gassen und gerade in diesem Augenblick kamen sie unter dem Fenster der beiden Weberinnen vorüber. »Hast du das
gehört?« wandte sich der König an seinen Wesir, der die Frage bejahte. »Siegele diese Tür, schnell!« worauf der Minister das Siegel des Königs auf die Pforte drückte. Am anderen Morgen sandte der König seine Soldaten zu der alten Frau. Der Hauptmann schlug an die Tür und die Alte öffnete. »Auf geht’s, der König verlangt nach dir!« befahl er, und sie begann zu weinen. »Was will er von mir? Wer bin ich denn, daß der König nach mir schickt?« schluchzte sie. Letzten Endes lief sie zum König. »Ich habe dich gestern nacht sagen hören: ›Fliehe ihr, o Schlummer, fliehe ihr‹«, sprach der König zu der alten Frau, als jene zu ihm hereingeführt war. »Mein Sohn Schlummer verschwand vor Jahresfrist. Er muß also bei dir sein. Wo finde ich ihn? Sag es auf der Stelle, sonst lasse ich dir den Kopf abschlagen!« Nun war allerdings die Alte mit Witz und Bauernschläue geschlagen. »O ja, er ist bei mir, o König«, tat sie scheinheilig kund. »Schlummer ist mein Schwiegersohn, der Gemahl meiner Enkelin. Jedoch zeigt er sich niemandem und kommt nur des Nachts. Er möchte, daß keiner ihn kennt.« »Oh, was für eine Freudenbotschaft!« frohlockte der König und schickte nach der Königin. Er eröffnete ihr die frohe Kunde, daß sie vor Freude außer sich war. Dann ließ er von allen Dingen in Hülle und Fülle aufladen und schickte mit der Alten reiche Last an Speise und Kleidung. Er selbst half ihr auf ein Reittier und sandte die Garde zu ihrem Geleit mit vor ihr Haus. Als sie mit ihrer Enkelin wieder allein war, erzählte die Großmutter, was geschehen war. Da machte ihr das Kind bittere Vorwürfe. »Wie konntest du das nur tun, Großmutter?« klagte es. »Wer ist überhaupt jener Schlummer? Morgen schon wird uns der König umbringen lassen.« Die Alte beruhigte die Kleine. »Ach was, freue dich an dieser göttlichen Wohltat«, wollte sie die Bedenken zerstreuen und zitierte dazu noch einen alten Spruch: »Geht’s auch vom Regen in die Traufe
manchen Tag, zeigt Allah doch den Ausweg aus der Plag’.« Aber nichts half. Das Mädchen wurde noch trauriger, bis es vom vielen Grübeln ganz krank an Leib und Seele wurde. Drei Tage darauf machte die Königin ihre Aufwartung bei der Schwiegertochter, für die sie die verschiedensten Geschenke herbeibringen ließ. Das Mädchen zog sein schönstes Kleid an, daß die Königin an ihm Gefallen fand. »Meine Liebe, wann kommt dein Gatte?« wollte sie wissen. Aber sie bekam keine Antwort. »Er kommt doch nur des Nachts«, warf die Alte rasch in das Schweigen der Jungen ein. »Ach, wenn ich ihn doch nur sehen könnte!« schwärmte die Königin. Als die Fürstin wieder gegangen war, weinte und klagte die Enkeltochter bitterlich. »Was soll werden, Großmutter?« schluchzte sie. »Geht’s auch vom Regen in die Traufe manchen Tag, zeigt Allah doch den Ausweg aus der Plag’«, wiederholte die Alte ihren Spruch. »Freue dich lieber der schönen Geschenke und vertraue auf Allah.« Beide hatten das Spinnen und Weben aufgegeben. Als ein Monat verstrichen war, lief die Alte in den Palast. »Die Schwiegertochter ist guter Hoffnung«, verkündete sie der Königin, »das Mädchen hat jetzt die Schwangerschaftsgelüste.« Schlummers Mutter geriet außer sich vor Freude. Sie eilte sogleich mit reichen Gaben zum Haus der werdenden Mutter. »O weh, Großmutter, nun hast du mich auch noch als schwanger hingestellt!« weinte das Mädchen, nachdem die Königin gegangen war. »Woher sollen wir ein Kind nehmen? Was soll ich nur tun?« Die Großmutter beruhigte die Enkelin. Die Königin zählte unterdessen ungeduldig die Monate der Schwangerschaft und traf alle Vorkehrungen für den Tag, an dem das Kind das Licht der Welt erblicken sollte. Das Mädchen stopfte sich mit Lumpen und Fetzen das Kleid aus, um den Leuten ihre gesegnete Hoffnung glaubhaft
vorzutäuschen. Als der neunte Monat anbrach, kam die Königin. »Warum kommt die Schwiegertochter nicht bei uns im Palast nieder?« fragte sie bei der alten Frau nach. »O nein, Schlummer hat uns angeraten, sie solle hier bei uns entbinden«, wehrte sie ab. Das Mädchen weinte wieder. Die Großmutter ging einige Tage später zu einer gewitzten Hebamme, der sie sich offenbarte. »Sei ohne Sorge!« willigte die Wehmutter in den Schwindel ein, und eines Tages kam sie ins Haus der beiden. Sie gab vor, dem Mädchen bei der Niederkunft beizustehen, war sich aber mit der Alten über eine List einig. »Die Schwiegertochter liegt in den Wehen«, hinterbrachte die Großmutter der Königin. »Ich habe für sie schon die Hebamme kommen lassen.« Die Königin eilte wie im Fluge zu ihrer Schwiegertochter und fand sie im Bett. »Sie hat einem Jungen das Leben geschenkt«, verkündete die Wehmutter. »Er ist so schön wie der Vollmond. Aber sein Vater kam und nahm ihn an sich.« Da wurde die Königin zornig. »Und wann bekommen wir ihn zu Gesicht?« fuhr sie auf. »Erst zum Bad-Fest in gut einer Woche. So trug uns sein Vater auf«, beschwichtigte sie die Hebamme. »Aber von der Badestube werde ich meine Schwiegertochter unverzüglich in den Palast überführen«, hatte die Königin das letzte Wort. Gegen diesen Vorsatz hatte die Großmutter nichts einzuwenden, und die Königin zog von dannen. Das Mädchen schüttelte heftiges Weinen. »Geht’s auch vom Regen in die Traufe manchen Tag, zeigt Allah doch den Ausweg aus der Plag’«, versuchte die Großmutter das Mädchen zu beschwichtigen. Schlummers Mutter zählte die Tage, und es war, als ob sie auf glühenden Kohlen saß. Als der neunte Tag sich neigte, sandte sie einen Sklaven zu der alten Frau, um in die Badestube einzuladen. »Sage der Königin, es dauert noch zwei Tage«, antwortete die Großmutter. Als aber auch jene Frist verstrichen war, lud die Königin die Frauen der Prinzen,
Wesire und sonstigen Leute vom Hof ein und nahm ein abgelegenes Badehaus. Sie schickte ihre Dienerinnen zu der Alten und ihrer Enkelin. In der Badestube hoben das Feiern und die Freudenrufe an, und man ließ des Königs Schwiegertochter gehörig hochleben. »Wo ist nun der Junge?« drängte die Königin auf die alte Frau ein. »Ich werde ihn holen«, antwortete diese ruhig. Dann brach sie auf und flehte inständig zu Allah, wobei ihr die Tränen über die Wangen rannen. Diese Schande, heute nun würde ihre Lüge aufgedeckt, ging es ihr durch den Kopf. Und wie sie so lief, trat sie in ein zerfallenes Haus, um ihre Notdurft zu verrichten, als sie Säuglingsschreie hörte. Sie schaute sich um und erblickte einen Hund, der einen kleinen Jungen fortschleppte. Die Alte ergriff geistesgegenwärtig einen Stein und schleuderte ihn gegen das Tier, das erschrocken das Kind fahren ließ und das Weite suchte. Schnell eilte die Großmutter zu dem Kleinen. Bei Allah, an seinem Nabel hing noch die Nachgeburt. Sie trennte die Nabelschnur ab und trug den Säugling nach Hause. Dort legte die Alte ihm Sachen und Edelsteine an. ›Bei Allah, es gibt keinen Schöneren als ihn‹, sprach sie bei sich und trug das Kind in das Bad, wo sie es im Kleiderraum niederlegte, bis die Gesellschaft mit der Waschung der vermeintlichen Mutter geendet hatte und das Mädchen aus dem Wasserbecken gestiegen war. »Wo ist der Junge?« bohrte die Königin sofort. »Da ist er doch«, sagte die Alte und wies auf das Wickelkind. Schlummers Mutter nahm den Säugling auf den Arm und begann, mit ihm herumzutanzen. Das Mädchen war völlig überrumpelt. Seine Großmutter flüsterte ihm kurz ins Ohr, was sich ereignet hatte. »Wie er doch seinem Vater ähnelt!« rief auch schon die Königin, die die Schwiegertochter nun zu sich in den Palast nahm, in den auch die Alte mit all ihrem Hausstand einzog.
»Wo bleibt nur Schlummer, meine Liebe?« erkundigte sich dessen Mutter jeden Tag bei dem Mädchen. »Er kommt und geht des Nachts, und immer sagt er, sprich zu keinem über mich ein Wort«, antwortete jene stets. Das ließ die Königin verstummen. Doch das Mädchen wurde ihrer Lage überdrüssig. Es weinte und fürchtete um seiner selbst. Eines Tages strauchelte die junge Frau und stürzte auf der großen Steintreppe. Unter ihrem Fuß hatte sich eine Stufe gelöst, unter der sie ein unterirdisches Gewölbe entdeckte. Durch diesen Gang gelangte sie in einen reichen Garten, in dem alle Arten Bäume und Blumen zu sehen waren. Die Schönheit des Anwesens betörte das Mädchen, daß es neuen Mut schöpfte. Es lief an den Blumen entlang und sog begierig ihre Düfte ein, aber es brach keinen Stengel ab. Auch von dem Obst nahm es keine Frucht, sondern erfreute sich lediglich an deren Anblick. Die königliche Schwiegertochter lief immer weiter, bis sie das Ende des Gartens erreicht hatte. Dort stand ein Bett, in dem ein Jüngling so schön wie der Mond lag. An seiner Seite lag eine schwarze Frau, die einer Ghula glich, denn ihr Mund war weit geöffnet. Das Mädchen zog ihren gestickten Schleier vom Kopf und bedeckte damit Jüngling und Negerin und lief zurück, woher es gekommen war. Unversehens erhob sich die dunkelhäutige Frau, die auch den Jüngling wachrüttelte. »Du bist mir von nun an verboten wie ein leiblicher Bruder«, sprach sie zu ihm. »Steh auf und scher dich nach Hause!« Sie wandte sich von ihm ab. »Geh zu deiner Frau, sie ist ein Menschenkind, wie es kein gutmütigeres und passenderes gibt. Sie brach keine Rose, pflückte keine Frucht, sondern sie schenkte dir Vergebung. Also geh! Doch nimm ihr eine Gabe von all den Blumen und Früchten mit!« Prinz Schlummer kehrte unbeobachtet in sein Gemach im Palast zurück, in dem das Mädchen mit ihrer Großmutter ruhte. Der Jüngling weckte vorsichtig das Mädchen. »Ich bin Prinz
Schlummer«, stellte er sich vor. Seine vermeintliche Frau war überaus froh. Dann rüttelten sie auch die Großmutter munter. »Rufe nun meine Mutter und teile ihr mit: ›Schlummer ist zurückgekehrt‹«, trug der Prinz der Alten auf und erzählte ihr alles. Die Alte beichtete ihm wiederum auch alles, was bisher geschehen war. Inzwischen nahte die Königin mit Freudenrufen und trommelte den ganzen Palast zusammen. Als der König selbst kam, jubelten und feierten alle von neuem, und Prinz Schlummer nahm das Mädchen zur Frau.
An dieser Stelle in der Mär verließ ich sie und kam hierher.
Die drei Schwestern
Es lebten einmal in alter Zeit drei arme Schwestern. Eines Nachts erzählten sie sich ihre geheimen Wünsche. Dabei belauschte sie der König, der gerade einen Spaziergang machte. »Ich wünschte den Koch des Königs zu heiraten, damit ich mir den Bauch mit den schmackhaftesten und besten Speisen füllen könnte«, sagte die Älteste. »Ich wünschte mir den Zuckerbäcker des Königs zum Manne, damit ich die köstlichsten und feinsten Süßigkeiten, gefüllt mit Mandeln und Pistazien, essen könnte«, sprach die Mittlere. »Und wen würdest du erwählen?« drangen jene beiden auf ihre jüngere Schwester ein, die, bekannt für ihren Übermut und ihre Liebe zum Abenteuer, sofort antwortete: »Ich möchte gern den König. Ich würde mir nichts von ihm erbitten. Alles, was ich wünschte, wäre, ihm einen klugen und starken Sohn nach seinem Vorbild zu schenken, der von ihm den Thron erbt.« Wegen dieses Wunsches verspotteten sie ihre Schwestern. Doch am folgenden Morgen sandte der König einen Boten, um die drei Mädchen zu holen. Im Palast richtete der Herrscher an jedes die Frage. »Wen möchtest du heiraten?« »Ich, o mein Herrscher, möchte den Fleischpasteten-Koch Seiner Majestät zum Manne«, verriet die Älteste nach einigem Drängen. »Ich möchte den Honigkuchen-Bäcker Seiner Majestät heiraten«, gab die Mittlere zu. »So soll es sein«, verkündete der König kurzerhand und traute die beiden nach ihrem Willen. Eine jede bekam zehn
Rial Brautgeld, und der Herrscher richtete ihnen die Hochzeitsfeier als Geschenk aus. Beide Mädchen waren vor Freude außer sich. Dann wandte sich der König gewinnend der jüngsten der drei Schwestern zu. »Und du, wen wolltest du zum Manne nehmen?« Das Mädchen fürchtete sich zu sprechen. »Du kannst ohne Sorge sprechen«, ermutigte sie der König, und nachdem er die Prinzen und Wesire in den Palast gerufen hatte, forderte er die Jüngste auf: »Wiederhole, was du gestern gesagt hast!« »Ich möchte den König heiraten.« Da gab der König die Vermählung bekannt, und die jüngste Schwester wurde Königin. Ihren beiden Schwestern hingegen füllte der Teufel die Herzen mit Neid, Mißgunst und Haß. Als ein Jahr vergangen war, kam es zwischen dem König und einem anderen König zum Krieg. Wenige Tage nach dem Auszug des Herrschers ins Feld kam die Königin nieder und schenkte Zwillingen, einem Mädchen und einem Knaben, das Leben. Die Schwestern kochten vor Eifersucht, und im Dunkel der Nacht kam es zum Komplott: Die Zwillinge wurden in einen Korb gelegt und der Korb in den Fluß geworfen. Die beiden Schwestern sandten dem König sodann einen Brief, in dem sie ihm mitteilten, daß die Königin ein totes Kind geboren habe und ihn in seiner Abwesenheit betrüge. Als der König heimkehrte, lähmte ihm Bestürzung die Zunge. Er befahl, daß man die Königin in das finsterste Verlies werfe. Um Ufer des Flusses war vordem ein Mann entlanggegangen, hatte den Korb bemerkt und die Zwillinge gerettet und an sich genommen. Er trug sie in sein Haus und zog sie auf, da er selbst keine Kinder hatte. Der Mann gab ihnen die Namen Dschamil und Dschamila. Nur wenige Jahre darauf verstarb seine Frau. Er aber lebte noch lange und ward ein geachteter Scheich. Als er dem Tode nahe war, scharte der Alte seine
Familie um sich sowie Dschamil und Dschamila und enthüllte ihnen das Geheimnis. »Ihr seid nicht meine leiblichen Kinder. Ihr triebt auf dem Fluß umher, und ich habe euch in mein Haus gebracht. Bevor ich meine Augen auf ewig schließe, rate ich euch, immer treu in Liebe zusammenzustehen. Euch allein soll mein großer Reichtum gehören.« Tage darauf starb der gutherzige Scheich. Dschamil liebte die Jagd über alles. Eines Tages, als er zur Pirsch ausgezogen war, erblickte während seiner Abwesenheit eine der beiden bösen Schwestern der Königin Dschamila im Garten ihres Palastes und erkannte sie. Aus Furcht, daß alles ans Licht kommen könnte, faßte sie den Plan, zwischen Dschamila und Dschamil Zwietracht zu säen. Sie trat in den Palast. »Oh, wie schön und stolz ist dein Palast«, sprach sie hinterlistig zu Dschamila. »Allerdings fehlt ihm noch das Silberwasser.« »Wo ist das Silberwasser?« »Auf dem Berg der Wunder«, antwortete ihr die Tante und verließ den Palast. Sie war sich ihrer Sache gewiß, alles gut ins Werk gesetzt und Dschamil und Dschamila an den Quell des Verderbens geführt zu haben. Dabei vergaß die Tante, daß die beiden wie ihre Mutter Strebsamkeit und Lebenskraft verkörperten. Dschamil fand, als er von der Jagd zurückkam, seine Schwester weinend vor. »Was ist dir?« fragte er teilnahmsvoll. »Du mußt mir für den Palast das Silberwasser vom Berg der Wunder bringen. Ich liebe Vollkommenheit und erstrebe sie.« Dschamil fügte sich seiner Schwester und entschloß sich, das Wagnis auf sich zu nehmen. Unterwegs traf er einen alten Mann, dem er seine Geschichte erzählte. »Wo ist das Silberwasser?« fragte Dschamil den Greis. »Da du nicht aus Gier gekommen bist, sondern weil du deinen Palast verschönern willst und das Abenteuer liebst, um deinen Mut zu beweisen, so werde ich dir den Weg weisen. Das
furchterregende Massiv, das du dort siehst, das ist der Berg der Wunder. Wenn du ihn ersteigst, stößt du zwischen den Felsen auf einen schlafenden Löwen. Dieser Löwe ist der Wächter des Springquells mit dem Silberwasser. Siehst du seine Augen geschlossen, so wisse, daß er dich beobachtet. Sind seine Augen geöffnet, wisse, daß er schläft und du ihn nicht zu fürchten brauchst.« Dschamil stieg auf den Berg und fand die Augen des Löwen geöffnet. Unerschrocken schritt er auf den Springquell zu, obwohl es ringsum dunkel und wüst war, und füllte seinen Krug mit Silberwasser. Alsdann kehrte er froh und munter zum Palast zurück, wo ihn seine Schwester beglückt willkommen hieß, daß er heil zurückgekommen war. Dschamila goß das Wasser in das Bassin des Palastes. Anderntags kam die böse Tante wieder in Dschamilas Palast und war erstaunt über Mut und Kühnheit Dschamils sowie seine wundersame Rettung aus den Klauen des Löwen. Die Tante ersann sogleich eine neue List, um Dschamil und Dschamila zu entzweien. »Oh, wie schön und stolz ist dein Palast«, rief das böse Weib aus. »Allerdings fehlt ihm noch der Goldene Baum.« Auch diesmal wies der Scheich Dschamil den Weg an den Ort, wo der Goldene Baum auf dem Berg der Wunder wuchs. Der Jüngling vermochte abermals dank seiner Klugheit und seines Mutes den wunderschönen Baum zu gewinnen. »Oh, wie schön und stolz ist dein Palast«, rief das böse Weib bei ihrem dritten Besuch aus. »Allerdings fehlt ihm noch der Pfauenvogel, der die Wahrheit spricht.« Die Tante verließ den Palast dieses Mal in der Gewißheit, daß Dschamil bei diesem Abenteuer keine Rettung finden werde. Der Jüngling ging wieder zu dem Alten, dem das Streben Dschamils nach Verwirklichung seiner Selbst gefiel, und dieser gab ihm einen Spiegel.
»Wenn alles leicht geht«, sagte er, »wird der Spiegel klirren und sich eintrüben. Steht die Sache aber schlecht, schwärzt er sich.« Er gab dem Bursche noch den Rat, dem Pfau in allem, was er sagt, zu gehorchen. Dschamil ging zu seiner Schwester zurück und gab ihr den Spiegel, damit sie sich seiner vergewissern könne, und brach zum Berg der Wunder auf, wo er den Pfau auch bald fand. »Wer wird mich heute fangen? Niemand kann mich heute fassen«, gurrte der Vogel vor sich hin und schlief. Trotz dieser deutlichen Worte folgte Dschamil nicht dem Geheiß des Alten, sondern der Jüngling ging auf den Pfau zu und packte ihn. Der Vogel flog auf und davon, und Dschamil verwandelte sich in einen Stein. Der Spiegel bei Dschamila färbte sich zur gleichen Stunde schwarz, und das Mädchen wußte, daß ihr Bruder in Gefahr schwebte. Sie suchte den Scheich auf und zeigte ihm den Spiegel. »Ich werde dir beistehen, weil du deinen Bruder retten willst«, sprach der Alte, der im Menschen dessen menschliche Gesinnung verehrte und schätzte. »Laufe zum Pfau und warte, bis er tief in den Schlaf gesunken ist. Dann packe ihn und frage ihn nach deinem Bruder. Er wird dir sagen, was du tun sollst.« Dschamila liebte nicht weniger als ihre Mutter und ihr Bruder das Abenteuer und war nicht weniger strebsam als sie. Sie ging hin und wartete, bis der Pfau schlief, wie ihr der Scheich geraten hatte. Dann ergriff sie den Vogel, der sich ihr unterwarf. Sie hatte getan, wie sie tun mußte. »Ich bin von Stund an dein unterwürfiger Diener«, verkündete der Pfau. »Nenne mir dein Begehr!« »Wo ist mein Bruder Dschamil?« »Nimm diesen Krug und fülle ihn mit dem Silberwasser der Quelle. Benetze jeden Stein, den deine Augen hier erblicken, mit einem Tropfen«, antwortete ihr der Pfau, der die lauteren Gefühle der Schwester und den wirklichen Grund ihres Tuns erkannt hatte. Das Mädchen gehorchte. Immer wenn sie einen
Stein mit einem Tropfen Wasser besprengt hatte, entstieg ihm ein Prinz, Wesir oder König. So ging es fort bis zum letzten Tropfen, den sie vergoß, und ihr Bruder Dschamil erhob sich vor ihr. Er dankte seiner Schwester auch für die Rettung jener Edelleute. Dschamila und Dschamil kehrten mit dem Pfau frohen Herzens nach Hause zurück. »Ihr müßt zum König gehen und ihn bitten: ›Komm in unseren Palast, denn wir haben der Wunder drei: Silbernes Wasser, einen Goldenen Baum und einen Pfau, der nichts als die reine Wahrheit spricht.‹« Der König folgte neugierig der Einladung und blieb nachdenklich vor dem Pfau stehen. »Das sind dein Sohn Dschamil und deine Tochter, die Prinzessin Dschamila«, wandte sich der Pfau an ihn. »Du hast ihre Mutter zu Unrecht und wegen der Eifersucht und Dummheit der beiden bösen Schwägerinnen unter einer falschen Anschuldigung in den Kerker geworfen.« »Ja. Ein Mann hat meine Schwester und mich in einem Korb gefunden, der in den Fluß geworfen worden war«, erzählte Dschamil. Der König, der seine Tochter und seinen Sohn herzte und küßte, fragte den Pfau: »Und wenn du mir nun nicht die Wahrheit eröffnet hättest, was wäre dann geschehen?« »Keine Wahrheit bleibt im Leben verborgen. Alles kommt unabwendbar früher oder später ans Tageslicht. Ich bin nur ein Symbol, das die Wahrheit befördert.« Als der König mit seinen beiden Kindern in den Palast einzog, befahl er, die beiden bösen Schwägerinnen herbeizuschaffen und ihnen die Köpfe abzuschlagen. Dann ging er zur Königin, die in einem finsteren Kerker unter der Erde schmachtete. Dort traf er sie betend an. Sie lächelte ihm zu, unterbrach aber ihr Gebet nicht. Der König entschuldigte sich bei ihr und war von ihrer Standhaftigkeit beeindruckt. »Ich war mir meines Rechts gewiß«, sagte die Königin. Noch bevor der Scharfrichter seines Amtes walten konnte, vergab die Fürstin ihren bösen Schwestern. Sie starben
ohnehin bald, weil sich die eine an Fleischpasteten und die andere an Honigkuchen übergessen hatten. Dschamil wurde Thronfolger und, nachdem sein Vater gestorben war, König.
Hassan der Kaufmann
Es lebte einst in alter Zeit ein einflußreicher Kaufmann, dem nur ein einziger Sohn beschieden war, und der hörte auf den Namen Hassan. Als aber der Kaufmann älter und älter wurde, konnte er nicht mehr das Haus verlassen. Sein Sohn nahm seinen Platz auf dem Basar ein und betrieb einen Handel. Hassan war zu dieser Zeit ein Jüngling von hübschem Gesicht und wohlklingender Rede, so daß er viel Käufer anzog. Eines schönen Tages kam ein Derwisch in einem fremdartigen Gewand zu ihm und kaufte einige Bahnen Stoff. Dann ließ er sich bei dem jungen Burschen nieder, dessen Redegewandtheit und Verkaufsgeschick ihm gefielen. Während der Alte im Laden saß, strömten Scharen von Kunden herbei, so daß bald die Schatulle des jungen Kaufmannes voll von Gold war und er kaum verstehen konnte, was ihm für ein großer Tagesverdienst zuteil geworden war. Als der Abend hereinbrach, stellte der Jüngling fest, daß er in der kurzen Zeit, in der der Derwisch bei ihm verweilt hatte, mehr Ware als die Vortage zusammen hatte verkaufen können. Beim Schließen des Geschäfts bat Hassan den Derwisch, am anderen Tag erneut zu ihm zu kommen, was der wundersame Alte auch versprach. Kaum hatte sich der fromme Derwisch am anderen Tag eingestellt, als der Strom der Käufer erneut nicht abriß. Dieser Ansturm hielt einige Tage an. Der Derwisch kam zum Laden Hassans, der in den Stunden, wo der Alte bei ihm saß, soviel wie sonst in einer Woche verkaufen konnte. Da gerieten die Besitzer der Nachbargeschäfte in Aufruhr. Sie beschlossen, in dieser Angelegenheit den Vater Hassans aufzusuchen. Alle
Kaufleute schlossen ihre Läden, nahmen ihre Schlüssel und liefen zu Hassans Vater. Als jener zu ihnen vor das Haus trat, legten sie ihm die Schlüssel zu Füßen und erklärten, daß sie sich fürderhin vom Handel zurückziehen würden. Nachdem sich der Vater von dem seltsamen Derwisch hatte erzählen lassen, versprach er, Hassan nicht mehr auf den Suk gehen zu lassen. An seiner Statt wurde für das Geschäft ein Lohnbursche eingestellt. Hassan konnte dadurch für Tage keinen Fuß auf den Basar setzen. Der Derwisch kam in dieser Zeit vergeblich in seinen Laden. Bald erfuhr er auch, daß der Vater Hassans ihm wegen des Derwischs im Geschäft zu arbeiten untersagt hatte. Der Alte ging daraufhin schnurstracks zum Haus des Vaters. Als dieser vor die Tür trat, gab sich der Derwisch zu erkennen und bat um die Erlaubnis, daß Hassan wieder in den Laden zurückkehren dürfe. Der Vater wies die Bitte entschieden zurück. Doch da blickte ihm der Derwisch tief in die Augen, so daß der alte Kaufmann plötzlich zwischen Himmel und Erde schwebte. Er hob zu schreien an und warf alle Verbote mit der Zustimmung über den Haufen, daß Hassan in den Laden zurück dürfe. Da warf ihm der Derwisch einen zweiten tiefen Blick zu, worauf der Alte wieder auf den Boden gelangte. Auf diese Weise kehrte Hassan auf den Basar zurück, wo ihn der Derwisch tagein tagaus besuchte und bei ihm saß. In seiner Gegenwart fanden so viele Waren wie nie zuvor Absatz, so daß sich Ruf und Ruhm von Kaufmann Hassan im ganzen Land verbreitete. Diese Nachricht drang bis zur Tochter des Sultans, die beschloß, auf den Markt zu gehen und bei Hassan einige Gewänder zu kaufen. Der Herold des Sultans ließ den Ladenbesitzern ausrufen, daß ein jeder von ihnen am anderen Tag seine Tochter oder Schwester in das Geschäft zu schicken habe, die den Platz des Verkäufers einzunehmen hätten, denn des Herrschers Tochter wolle den Suk beehren.
Als Hassan die Botschaft des Ausrufers gehört hatte, beriet er sich mit dem Derwisch. »Überlasse die Sache getrost mir«, sagte jener und riet dem Jüngling, sich am anderen Tag zu schminken und sich in Frauenkleidern als angebliche Schwester Hassans ins Geschäft zu setzen. Schließlich flüsterte er ihm noch ins Ohr: »Wisse, die Sultanstochter kommt nur deinetwegen auf den Basar, drum sei gescheit.« Am anderen Morgen zog sich Hassan einen schwarzen Lidstrich, legte Wangenrot auf und zog Frauenkleider an, um anschließend in seinem Geschäft auf die Prinzessin zu warten. Es dauerte auch nicht lange, bis sich der Zug mit der Tochter des Sultans, die von Dienern und Sklaven begleitet wurde, in die engen Gassen des Basars ergoß. Von ihrem kunstvollen Kamelreitsitz erstrahlte sie so anmutig wie der Vollmond. Als das berittene Geleit den Laden von Kaufmann Hassan erreicht hatte, ließ die junge Prinzessin absitzen. Hassan hieß sie willkommen und begann eine überaus reizende Unterhaltung. Die Prinzessin setzte die Schönheit des Mädchens in Erstaunen, und sie malte sich aus, daß der Bruder ihm an Anmut nicht nachstehe, und so wünschte es sich sehnlich, Hassan einmal selbst zu Gesicht bekommen zu können. Die Tochter des Sultans dehnte ihren Aufenthalt bei Kaufmann Hassan aus, der ihr süße Worte sagte, sie unterhielt und ihr näher kam, wobei sie die besten Gewänder aussuchte. Als sie ihre neuen Kleider bezahlen wollte, entschuldigte sich der verkleidete Hassan. »Ich kenne leider nicht die Preise, aber ich werde mich bei meinem Bruder erkundigen. Morgen komme ich dann zu dir, um das Geld zu holen.« Bei diesen Worten stutzte die Tochter des Sultans und nach einiger Verwunderung begriff sie, daß sie nicht mit Hassans Schwester, sondern mit Hassan selbst gesprochen hatte. Sie blickte ihm tief in die Augen, nannte ihm den Zeitpunkt für ein Treffen und wies ihm den Weg zum Eingang des Palastes
sowie in ihre Gemächer. Kaum war der neue Tag angebrochen, verkleidete sich Hassan abermals und begab sich zur vereinbarten Zeit in den Palast. Man gewährte ihm Einlaß, und er nahm den Weg zu den Gemächern der Prinzessin, bis er plötzlich am Fuß einer Treppe stand, auf der auf jeder Stufe ein Wachsoldat stand. Er scheute zurück, doch erinnerte sich der Jüngling, daß er Mädchenkleider trug, und schritt mit klammem Herzen durch das Spalier. Oben angekommen, lief er schnurstracks zu der beschriebenen Tür. Als er anklopfte, erwartete sie ihn bereits. Die beiden Verliebten verbrachten gemeinsam viele Stunden. Der eine kam dem anderen näher, so daß bald keiner mehr vom anderen lassen konnte. Als die Nacht hereinbrach, mußte Kaufmann Hassan dennoch aufbrechen und er verließ mit äußerster Vorsicht den Palast, wie er ihn betreten hatte. Von nun an wurden die Besuche Hassans bei der Prinzessin immer häufiger, bis er ihr tagtäglich seine Aufwartung machte. In den Kleidern eines Mädchens brachte er ihr des Morgens feine Seidenkleider, und er schied von ihr nicht vor dem Abend. In diesen Tagen saß anstelle Hassans der Derwisch im Geschäft auf dem Basar und betrieb einen regen Handel. Er kaufte und verkaufte zu guten Gewinnen, so daß die Besitzer der anderen Läden das Nachsehen hatten. In dieser Lage steckten die Kaufleute wiederum die Köpfe zusammen, um sich zu beraten, wobei sie sich entschlossen, Hassans Vater erneut aufzusuchen. Sie verriegelten ihre Läden und liefen zu Hassans Vater, um ihm zu hinterbringen, daß sein Sohn nicht mehr auf den Basar komme, sondern der Derwisch ihn im Geschäft vertrete, so daß kein Kunde mehr ihre Läden aufsuche. Der Vater bestritt dies, denn er wußte zu berichten, daß Hassan tagein tagaus auf den Suk gehe. Da kamen den Händlern doch starke Zweifel und sie beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Die Kaufleute wählten einen aus ihrer Zunft, der das Haus von Hassans Familie beobachten sollte. Als Hassan am Morgen heraustrat, folgte dieser dem Jüngling unauffällig und sah ihn ein Haus betreten. Aber schon einen Augenblick später verließ ein junges Mädchen das Gebäude wieder, das flink davoneilte. Der Aufpasser wartete noch lange auf Hassan, aber nichts passierte, bis jener begriff, daß dieses Mädchen niemand anderes als der verkleidete Hassan gewesen sein konnte. Am anderen Tag wiederholte sich alles wie zuvor, doch diesmal folgte der Späher dem vermeintlichen Mädchen bis zum Palast. Dann lief er zu den Händlern und berichtete, was vorgefallen war. Sie beschlossen, den Sultan zu unterrichten. Dieser ließ sogleich das Gemach seiner Tochter räumen und füllte es mit seinem Gefolge. Dann ließ er ein Feuer entzünden, so daß sich beißender Rauch ausbreitete. Als Hassan in seiner Verkleidung kam, lief er wie immer an den Soldaten auf der Treppe vorbei und klopfte bei der Prinzessin an. Doch als er eintrat, drang ihm der Rauch in die Augen, daß ihn die Soldaten packen und vor den Sultan schleppen konnten. Der befahl auf der Stelle, dem Jüngling den Kopf abzuschlagen. Doch Hassan bat den Herrscher um ein letztes Wort, das ihm gewährt wurde. Da verkündete der Bursche, daß er einen Mittäter bei seinem Verbrechen hatte, den ebenfalls die Strafe ereilen müsse. Als der Sultan dessen Namen wissen wollte, nannte Hassan den Derwisch, der ihm geraten hatte, so zu verfahren. Der Sultan befahl auf der Stelle, auch den Derwisch herbeizuschaffen. Sogleich setzte sich ein Trupp Soldaten zum Haus des Derwischs in Bewegung. Beim Eintreten sahen sie den sonderbaren Mann im Garten seines Palastes Spazierengehen. Die einfältigen Häscher waren von der Pracht dessen, was sie sahen, ganz benommen. Als sie dem Derwisch übermittelten, daß er vor dem Sultan zu erscheinen habe, bat jener, sich
umkleiden zu dürfen, und geleitete die Soldaten dieweil in eine Kammer, wo ihnen die Augen vor prächtigen und edlen Militäruniformen übergingen. Der Derwisch forderte sie unverfänglich auf, sich getrost mit dem zu kleiden, wonach ihnen gerade der Sinn stand. Dann überließ er sie sich selbst und die Soldaten schlüpften in Paradeuniformen, behängten sich mit ziselierten Schwertern und schmückten ihre Brustlätze mit zahlreichen Orden. Aber es dauerte nur wenige Augenblicke, da hatte sie der Schlummer übermannt und sie sanken in einen tiefen tiefen Schlaf. Der Sultan bemerkte bald das Ausbleiben seiner Soldaten und schickte deshalb einen neuen Trupp aus. Als die Soldaten bei dem Derwisch eintraten, saß er unter einem Vordach im Garten seines Palastes. Vor ihm standen Früchte, wonach es einer Seele nur verlangen konnte. Sängerinnen umschwärmten ihn, die ihm jeden Wunsch von Augen und Lippen ablasen, während Sänger hervortraten, die die süßesten Lieder darboten. Hinzu kam ein Reigen anmutiger Tänzerinnen, die sich zu einschmeichelnden Melodien bewegten. Die Soldaten waren verwirrt. Musik und Tanz hatten sie ganz und gar in ihren Bann geschlagen. Nachdem die Sänger ihre Darbietung beendet hatten, begrüßte der Derwisch die Bewaffneten und bot einem jeden an, sich eine der jungen Damen auszuwählen und sich mit ihr in einem Winkel des Gartens zu vergnügen. Übermütig machten die Soldaten sogleich von dem Angebot Gebrauch und sie verschwanden mit den Mädchen an schattigen Plätzen und auf den Wiesen. Der Derwisch blickte ihnen nach und erwartete indessen das Eintreffen weiterer Soldaten. Dem Sultan währte die Rückkehr seiner Soldaten wiederum zu lange, so daß er einen weiteren Trupp zu dem von Hassan beschriebenen Palast des Derwischs entsandte, doch war dieser plötzlich ein Stall. Sie betraten eine schäbige Hütte, die sich als Scheune entpuppte, wo sich einige ihrer Kameraden im Stroh
fanden. Sie waren in einem schlimmen Zustand: einer hatte sich unter einem Eselsattel ausgestreckt, ein zweiter trug um seinen Hals das Halfter eines Maultiers und ein dritter steckte in einem Futtersack. Die Streife weckte ihre Kameraden unter lautem Rufen. Die Schläfer waren auf das äußerste erstaunt, in welcher Lage sie sich wiederfanden, halfen aber sogleich mit, nach den anderen Soldaten zu suchen. Die lagen auf dem Parcours des Stalls, wo die Pferde zugeritten werden. Und auch sie waren in einer denkbar schlechten Verfassung und wälzten sich in Schlamm und Erde: einer lag an der Seite eines Esels, ein anderer umarmte ein Maultier und ein dritter hatte sich auf die Läufe eines Hundes gelegt und schlief. Die Soldaten rüttelten sie wach und suchten anschließend gemeinsam nach dem Derwisch. Als sie den sonderbaren Mann entdeckt hatten, drangen sie heftig auf ihn ein. Er ergab sich, worauf sie ihn banden und in einen Sack steckten und vor den Sultan schleppten. Dem Herrscher berichteten sie, was vorgefallen war, und übergaben den Sack. Zu ihrer großen Überraschung fanden sich darin nur ein paar verblichene Knochen. Nun übermannte den Sultan der Zorn, und es verlangte ihn nach Genugtuung, so daß er sich entschloß, eigenhändig den Derwisch zu stellen. Er verließ seinen Thron und lief in den Palastgarten, wo er sich unvermittelt dem Derwisch gegenüber sah. »Der Derwisch, der Derwisch«, schrien die Soldaten, und auch dem Sultan war der Schreck in die Glieder gefahren. Mit zittriger Stimme befahl er, auch dem Derwisch den Kopf abzuschlagen. Da fuhr ihm der Verurteilte empört ins Wort: »Es ist dir nicht gestattet, o Sultan, über einen Menschen ein Urteil zu fällen, solange du noch neben ihm stehst. Es ziemt sich, daß du dich zuvor einem reinigenden Bad unterziehst«, sprach er.
Der Monarch mußte dem Derwisch recht geben und wies seine Soldaten an, das Geleit zum Badehaus zusammenzustellen. Doch der Derwisch wies auf ein Bassin im Palastgarten. »Vor dir ist ein Badebecken. Es ist viel näher. Also steige hinein und bade«, sprach er bestimmt. Dem Sultan blieb nichts anderes übrig, als sich vor den Soldaten all seiner Kleider zu entledigen, denn auch er war den magischen Kräften des Derwischs erlegen. Der Fürst eilte zu dem Becken und wollte hineinspringen, als er sich in einer Wildnis wiederfand, über die weder ein Vogel seine Flügel breitete noch in die ein Raubtier seinen Fuß setzte. Er irrte umher, ohne zu wissen, wohin der Weg führt. Als den Sultan Durst und Entkräftung zu zermürben drohten, stieß er auf eine Quelle. Er kam näher und trank. Auf der Stelle gewahrte er eine Veränderung an seinem Leib: Er hatte sich in eine Frau mit langem Haar und prallen Brüsten verwandelt. Er wußte nicht ein noch aus und schleppte sich zu einem dichten Wald, aus dem er die Schläge einer Axt hörte. Er folgte dem Geräusch und stand bald einem jungen Holzhauer gegenüber, der auf die Wurzel eines verdorrten Baumes einhieb. Kaum daß der Jüngling den verzauberten Sultan erblickt hatte, machte er ihm den Hof und warf ihm verlangende Blicke zu. Der Herrscher war ganz verwirrt, aber er war ja nun eine Frau und schickte sich deshalb in sein Los. Als der Bursche ihm schließlich zu heiraten vorschlug, willigte er ein und folgte und gehorchte dem Holzfäller schweigend. Der zur Frau gewordene Sultan hatte von nun an Holz haufenweise zusammenzutragen und zur fernen Hütte zu schleppen, Feuer zu machen, zu kochen, Wasser herbeizuschaffen, die Hütte zu besorgen, Wäsche zu waschen und die ehelichen Pflichten einer Frau gegenüber ihrem Mann zu erfüllen. Tage und Monate gingen ins Land, bis sich ihm als Frau des Holzhauers der Bauch wölbte. Bald schon bewegte
sich das ungeborene Kind in seinem Leib, und als er eines Morgens erwachte, schüttelten ihn die Wehen, an deren Ende er einem Sohn das Leben schenkte, dem er den Namen Hassan gab. Kaum war dieser etwas herangewachsen, ging der Sultan erneut schwanger. Er gebar einen zweiten Knaben, den er Hussein nannte, und nur kurze Zeit später kam der Sultan noch mit einem dritten Sohn nieder, der den Namen Hassun erhielt. Bei alledem hatte er dem Holzhauer unablässig zu helfen, er mußte in den Wald gehen, das Holz anhäufeln und schleppen, das Essen bereiten und Wäsche waschen. Eines schönen Tages schleppte der Sultan wieder ein Bündel Holz, wobei er auf einen glatten Felsen trat. Als sein Fuß abglitt, strauchelte er, fiel zu Boden und schlug hart mit dem Kopf gegen einen Stein. Schnell erhob er sich wieder, aber zu seiner Verwunderung befand er sich nun wieder neben dem Wasserbecken in seinem Palast. Sein Blick fiel auf seine Soldaten, den Derwisch und Hassan, die alle noch wie regungslos dastanden. »Seid ihr denn diese lange Zeit über überhaupt nicht müde geworden? Ich habe Hassan, Hussein und Hassun geboren und ihr steht immer noch am selben Fleck?« stieß er verwundert aus. Da lachten die Soldaten dröhnend und riefen immer wieder: »Der Sultan hat den Verstand verloren!« Der Derwisch bedeutete dem irre gewordenen Sultan, daß er noch immer nackt sei. Dann rief er die Soldaten auf, den Sultan abzusetzen, wozu sie sofort bereit waren. Der seltsame Alte schlug vor, Hassan zum neuen Sultan zu krönen, womit die Soldaten einverstanden waren. So bestieg der Kaufmannssohn den Thron und nahm sich die Tochter des alten Sultans zur Frau und holte Vater und Mutter in seine Nähe. Der Derwisch indessen verabschiedete sich von Hassan und begab sich in ein Land, daß nur Allah allein kennt.
Das Märchen ›O Scheich Schari‹
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Wer gesündigt hat, der spricht: »Allah vergib!«, das ist Pflicht. So soll es denn sein. Es lebte einst ein Hirte, der bei einem der reichsten Schafhändler arbeitete. Jener Kaufmann hatte eine wunderschöne Tochter, in die der arme Hütebursche unsterblich verliebt war. Den ganzen hellichten Tag träumte er nur von ihr. »Ich möchte mich mit Su’ad, der Tochter meines Meisters, verloben«, bat er schließlich seine Mutter. »Verderben und Unglück über dich, daß du Su’ad zum Weib begehrst!« schreckte die Frau auf. »Wird ihr Vater sie dir etwa geben, wo du doch bettelarm bist, nicht einen roten Heller hast und noch dazu Hirte seiner Schafe bist? Du bist ein Hungerleider, dem Allah keine Macht gegeben hat. Ich werde auf keinen Fall zu ihr gehen und um ihre Hand anhalten.« Alsbald wurde Su’ad einem Reichen verlobt. Der Hirte hätte vor Trauer und Liebesweh fast den Verstand verloren. Als der Hirte eines Tages in Feld und Flur war, kroch ein großes Schlangenmännchen zischend vor ihm vorbei. Der beherzte Bursche packte seinen Hütestock fester und hieb ihn so hart dem Reptil auf den Kopf, daß es keinen Laut mehr von sich gab. Einen Augenblick später kroch ein sprechendes Schlangenweibchen heran. »Wie soll ich dir nur danken?« sprach es züngelnd. »Womit nur kann ich dich belohnen, daß du mich von der bösen Giftschlange befreit hast? Nenne mir
deinen Wunsch!« Als der Bursche vor Überraschung kein Wort hervorbringen konnte, sprach sie weiter: »Solltest du – wann und warum auch immer – einmal in Not geraten, so sprich nur: ›O Scheich Scharia‹. Er wird dir jeden Dienst erweisen.« Damit verschwand die Schlange aus seinen Augen. Während dieses Erlebnisses waren die Schafe in alle Himmelsrichtungen auseinandergestoben, und ihm war es leid, die Tiere zusammenzutreiben. Da erinnerte er sich des Spruchs der Schlange, und weil es auf den Abend zuging, wollte er ihn auf die Probe stellen. »O Scheich Schari, sammle mir die Schafe ein!« rief er also. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, kamen die Schafe, wie von unsichtbarer Hand getrieben, von allen Seiten herbei, und schon stand die ganze Herde vor ihm. Der Hirte war auf das äußerste verblüfft und trieb seine Schafe zum Haus des Kaufmanns. Die Hochzeit seiner Su’ad war für den folgenden Tag festgelegt. »Heute sollst du die Hühner hüten«, sagte der Viehhändler zu dem Burschen und überantwortete ihm etwa hundert Hennen. Kaum war er mit ihnen im Freien, als sich das Federvieh in alle Himmelsrichtungen zerstreute. Eine jede sollte zum Fest geschlachtet werden, und der Hirte bürgte mit seinem Kopf, daß keines der Hühner verlorenging. Da erinnerte sich der Jüngling wieder des Spruchs der Schlange. »O Scheich Schari, treibe um alles in der Welt die Hühner zusammen!« flehte er, und siehe da, alle Hennen ohne Fehl tummelten sich im nächsten Moment schon vor ihm. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, und er kehrte zurück. Der Hütejunge begann, die Hochzeitsgesellschaft zu beobachten. Zu vorgerückter Stunde zog sich der Bräutigam mit seiner Angetrauten in das Brautgemach zurück. »O Scheich Schari«, rief da kein anderer als der Hirte, »klebe sie aneinander!« Im Handumdrehen waren die Brautleute vor allem an den Händen festgeklebt. »Laß meine Hand los!« kreischte die Braut und
auch ihr Mann forderte, daß sie ihn loslasse. Sie hoben an, sich gegenseitig anzuschreien, bis sie sogar grob gegeneinander wurden. Die Brautmutter und ihr Gefolge hörten den Lärm. Die Mutter stürzte in das Gemach. »Laß die Hand meiner Tochter los, Verrückter!« keifte die Alte. Der Hirte verfolgte verstohlen das Treiben. Als die Mutter herzutrat, um ihre Tochter gewaltsam loszureißen, wiederholte er seinen Spruch: »O Scheich Schari, klebe sie an!« Im Nu haftete auch das geifernde Weib an den beiden. Die Mutter packte die Tollheit, und ihre Schreie schrillten hell. Nun kam auch die Mutter des Bräutigams herbeigerannt, die ebenso klebenblieb wie die Väter der Brautleute und alle, die noch in die Kammer traten. Der Hirte stellte sich erst in die Kammertür, als das Schreien und Lärmen an Lautstärke nicht mehr zu übertreffen war. »Hirte«, bettelte ihn sein Meister an, »lauf zur Zauberin Soundso. Vielleicht kann sie den Zauber lösen!« Der Bursche ging und holte die Zauberin. Unterwegs hob sich zufällig ihr Kleid, und als ein Vorübergehender die Hand ausstreckte, um es auszustreichen, kam wieder der Spruch über die Lippen des Hirten. »O Scheich Schari, klebe sie an!« Und flugs haftete der Mann mit der Hand am Allerwertesten der wundertätigen Alten fest, die nicht einmal sie lösen konnte. Dieserart mußte sie bis zum Kaufmann und seiner Familie laufen. Als die Alte hinzutrat, klebte der Hirte sie kurzerhand an die hilflose Gesellschaft an. Der Bursche ließ die Gäste volle drei Tage aneinandergefesselt, während der sich keiner vom anderen zu lösen vermochte. »Ich könnte euch unter einer Bedingung voneinander lösen«, gab der Hirte schließlich zu bedenken. »Nenne deine Bedingung und ich werde sie erfüllen!« flehte der Kaufmann sofort. »Ich will Su’ad zur Frau«, verlangte der Jüngling. »Ich willige ein«, gab sich Su’ads Vater geschlagen. Der Hirte ließ den Scheich holen, der
den Ehevertrag aufsetzte und seine Braut von ihrem vormaligen Bräutigam schied. »O Scheich Schari, gib sie frei!« befahl der Hütebursche zu guter Letzt. Alle lösten sich wieder voneinander und hoben an, ihn zu küssen und ihm zu danken. Der Hirte faßte seine Braut Su’ad an der Hand und zog davon. Bald schon wünschte er sich: »O Scheich Schari, bau mir einen Palast und fülle ihn mit den erlesensten Möbeln!« Noch im selben Augenblick erhob sich ein prächtiger Palast. Der Hirte betrat ihn mit Su’ad, und sie lebten in Glück.
An diesem Punkte in der Mär verließ ich sie und kam hierher.
Nichtsnutz Nasenfurz
Einst hatte eine alte Frau nur einen einzigen Enkel, der Nichtsnutz Nasenfurz genannt wurde. Er war kahlköpfig, so daß seine Glatze unter der Sonne glänzte, und er näselte so stark beim Sprechen, daß man den Jungen kaum verstehen konnte. Obendrein war er völlig ungeschickt und zu keiner Arbeit zu gebrauchen. Als ihn seine Großmutter zu einem Schmied gab, verletzte er sich die Finger und hatte für keinen Handgriff die rechte Geduld. Da gab ihn die Alte zu einem Schneider. Aber Nichtsnutz schaffte es nicht einmal, den Faden durch das Öhr zu fädeln, wie hätte er es da länger aushalten können. Unermüdlich hingegen konnte er essen. Er konnte sich den Bauch so vollstopfen, daß er fast platzte. Ging er irgendwohin, mußte er stets mehrere Fladenbrote bei sich tragen, die er unterwegs, einen nach dem anderen, verschlang. Die letzte Arbeit, die ihm die Großmutter verschaffte, war bei einem Baumeister. Die Alte bettelte den Meister sehr, damit er Nichtsnutz Nasenfurz als Lohnburschen einstellte. Als jener ihn fragte, was er könne, antwortete Nichtsnutz im gleichen Atemzug: »Essen.« Der Meister lachte herzhaft und schickte den Burschen an den Brunnen, damit er das Wasser für die Arbeit heraufhole. Die Großmutter war zufrieden, für ihren Enkel Arbeit gefunden zu haben, dankte dem Meister und ging. Nichtsnutz trottete mit seinen Fladenbroten zum Brunnen. Wenn er nun einen tropfenden Eimer nach oben gezogen hatte, rief er: ›Sei willkommen!‹ und leerte ihn bis zum Grund. Dann verzehrte er einen Fladen. Und weil es ihm gefiel, trank er
einen Eimer nach dem anderen und aß so lange Fladen dazu, bis sein Brotvorrat aufgebraucht war. Nichtsnutz Nasenfurz lief zum Meister und teilte ihm mit, daß er für heute seine Arbeit beende. Der Mann mußte den Burschen ziehen lassen, verlangte aber, daß er am anderen Tag mehr Fladen mitbringe. Am zweiten Tag packte ihm die Großmutter die doppelte Zahl Brote als am Vortag ein, und Nichtsnutz stellte sich am Bauplatz ein. Er machte sich über die Fladen her und vertilgte sie mit großem Eifer, wozu er maßlos aus dem Brunnen trank. Als die Brote verzehrt waren, ging Nichtsnutz zu seinem Meister und forderte seinen Lohn. »Lohn gibt es erst am Wochenende«, sagte der Meister, der hoffte, Nichtsnutz halte es solange nicht bei ihm aus. Doch der Bursche verdoppelte seine Freßgier, so daß sich seine Großmutter übel schinden mußte, nur um für Nichtsnutz Nasenfurz das Brot zu bereiten. Der Junge wurde zusehends dicker und dicker. Als Nichtsnutz am Wochenende seinen Lohn abermals forderte, wußte der Meister zuerst nicht, was er tun sollte. Der Kerl hatte doch überhaupt nichts getan. Da fiel ihm ein kleiner Hühnerstall ins Auge. »Siehst du den Hühnerschlag dort?« wies er Nichtsnutz die Richtung. »Klettere hinein und nimm dir ein Ei zum Lohn für deine Arbeit!« Der Bursche war verdutzt. »Ja, nur ein Ei. Und komme nächste Woche nicht mehr zur Arbeit!« bekräftigte der Meister. Nichtsnutz lachte. Geschwind lief er zum Hühnerhaus und wähnte sich in der Hoffnung, viele Eier zu finden. Aber wie er auch suchte, es war leer. Nun durchwühlte er all das Stroh und den Kot am Boden und fand ein seltsames Ei von gelber Farbe, das größer und schwerer als ein gewöhnliches Ei war. Dann rannte er heimwärts und rief unablässig unterwegs: »Großmutter, ich habe Lohn bekommen, Großmutter, ich habe Lohn bekommen!« Als die Großmutter Nichtsnutz Nasenfurz rufen hörte, war sie froh, denn es war der erste Lohn, den er nach Hause brachte.
Doch als der Bursche das gelbe Ei vorwies, war sie tief enttäuscht. »Das Ei hier ist faul. Wirf es besser weg«, stöhnte sie. Nichtsnutz Nasenfurz geriet in Wut und stürzte voller Grimm aus dem Haus, entschlossen, dem König seine Sache vorzutragen. Vor dem Palast hielten ihn die Wachen auf, und weil sie ihn nicht eintreten lassen wollten, hob er ein lautes Geschrei an, daß der Herrscher aufmerksam wurde. Er schaute aus dem Fenster, mußte beim Anblick von Nichtsnutz lachen und befahl, ihn eintreten zu lassen. Nichtsnutz brachte dem König seine Beschwerde vor und zeigte ihm das Ei. Als der König das Streitobjekt erblickte, war er überrascht und erfreut zugleich, denn es war aus purem Gold. Rasch griff er nach dem Ei und wollte sogleich wissen, was Nichtsnutz dafür haben wolle. »Ich will nichts«, plapperte der Bursche einfältig. Als der König ihm aber einen Wunsch für das Ei freistellte, sagte Nichtsnutz Nasenfurz: »Einen Backofen, ein Becken und ein zerfallenes Haus.« Der König sah ihn fragend an. »Den Backofen für das Brot, was ich esse. Das Becken für das Wasser, was ich trinke, und das verfallene Haus für meine Notdurft«, erklärte Nichtsnutz seine seltsame Bitte. Unter Lachen befahl der König seinen Soldaten, den Wunsch von Nichtsnutz zu erfüllen. In nur zwei Tagen wurde für Nichtsnutz Nasenfurz am Rande des Ortes ein Backofen errichtet, daneben ein Brunnen gegraben und das Stück Land umzäunt. Der Bursche verbrachte von nun an seine Tage nur noch zwischen Backofen und Brunnen, er aß und trank und dankte Allah für diese Wohltat. Die Tage gingen ins Land und er hatte nicht mehr zu tun, als zu essen und zu trinken und seine Notdurft zu verrichten, ein Leben zwischen Ofen, Brunnen und Abort. Das trieb er so lange, bis er eines Tages dieses Leben satt hatte und einen Spaziergang unternehmen wollte. Er wies seine Bäcker an, für
den kommenden Tag einen Berg Fladen zu backen. Die Brote lud Nichtsnutz am Morgen auf einen Esel und führte ihn an einen nahen Fluß. Dort begann er, zu essen und das Wasser des Flusses zu trinken. Als er seinen Vorrat aufgebraucht und seinen Wanst gefüllt hatte, fühlte er sich matt und wollte zurück. Aber der arme Esel vermochte ihn ob seiner Leibesfülle nicht zu tragen, und so mußte Nichtsnutz Nasenfurz wohl oder übel laufen, was ihm den Schweiß in Strömen aus allen Poren trieb. Auf halbem Weg begegnete ihm eine Schlange, die ihn bat, sie zu verbergen, denn sie werde von einer Giftotter verfolgt. Nichtsnutz war unschlüssig, was er wohl tun sollte, als er schließlich seinen Mund öffnete. »Hier hinein«, sprach er, und die Schlange kroch ihm in den Mund, worauf er sie hinunterschluckte. Wenig später kreuzte die giftige Otter seinen Weg, die ihn fragte, ob er eine Schlange gesehen habe. Nichtsnutz bejahte und wies ihr einen falschen Weg. Dann klopfte er auf seinen Wanst, und die Schlange kam wieder heraus. »Ich stelle dir einen Wunsch frei, um dir deine Tat zu vergelten«, sprach sie anschließend. Aber der Bursche machte sich über das Tier lustig. »Dann trage mich zu meinem zerfallenen Haus«, witzelte er, aber kaum hatte er es ausgesprochen, kroch die Schlange unter ihn und trug ihn gemächlich davon. Gerade zu dieser Zeit hielt sich die Königstochter in einem nahen Garten auf und lustwandelte unter den Bäumen, als Nichtsnutz Nasenfurz auf dem Rücken einer Schlange reitend vorüberkam. Über diesen Anblick mußte sie herzhaft lachen und vor lauter Übermut bewarf sie den Dickwanst mit einem Apfel, den sie gerade in der Hand hielt. Nichtsnutz wurde zornig und verwünschte das Mädchen, es solle von ihm schwanger gehen. Wie die Tage vergingen, wölbte sich unvermittelt der Bauch der Prinzessin und sie wurde immer
beleibter. Das Mädchen begriff sofort, daß Nichtsnutzens Verwünschung in Erfüllung gegangen war. Es eilte zur Mutter und weihte sie ein. Die Königin war ratlos, wußte sie doch, daß ihre Tochter unschuldig war und sie niemand berührt hatte. Nach einigem Zögern zog sie auch den König ins Vertrauen. Der zürnte und sann auf Rache, aber die Königin versicherte ihm, daß die Tochter die Wahrheit sprach. So entschloß er sich, seine Tochter Nichtsnutz Nasenfurz zur Frau zu geben. Der König schickte nach dem Burschen. Als dieser vor ihm erschien, befahl er seinen Dienern, den Kerl ins Bad zu schleppen, wo er unter Schreien und Zetern gebadet und neu eingekleidet wurde. Dann führte man ihn wieder zum König. Nichtsnutz war außer sich und wollte zurück zu seinem verfallenen Haus. Da teilte ihm der König mit, daß er ihn mit seiner Tochter zu verheiraten beabsichtige. Da fuhr Nichtsnutz ein gewaltiger Schreck in die Glieder, er stürmte zur Tür und lief Hals über Kopf davon, so schnell, daß ihm niemand folgen konnte. Bei seiner Flucht riß sich der Bursche die neuen Kleider vom Leibe. Endlich hatte Nichtsnutz seine Wüstenei fast nackt, aber froh über seine Erlösung erreicht. Da merkte er, daß er in etwas Weiches und Glitschiges getreten war, daß sich unter seinem Fuß hin und her warf. Als er hinunterschaute, erblickte er eine gewaltige Schlange, auf deren Kopf er seinen Fuß gesetzt hatte. Es war eben jene Giftotter, die er in die Irre geschickt hatte, als er die Schlange in seinem Wanst verborgen hatte. Nun fürchtete Nichtsnutz Böses, denn er begriff, daß sich jene rächen wollte. Aber die Schlange konnte sich gerade noch zwei-, dreimal aufbäumen, dann sank sie unter Nichtsnutzens Gewicht tot hin. Da kam plötzlich auch die Schlange herzu, die er einst beschützt hatte. Sie dankte Nichtsnutz Nasenfurz für ihre endgültige Rettung vor dem üblen Giftwurm, die sie zur Heirat
zwingen wollte, obwohl sie den Bräutigam weder liebe noch zum Manne begehre. Wieder fragte sie, ob er nicht einen Wunsch habe, den sie erfüllen könne. »Mir geht es wie dir«, näselte er. »Man will mich mit der Tochter des Königs vermählen, aber ich will nicht.« Da mußte die Schlange lachen. »Was bist du doch dumm. Warum willst du sie denn nicht?« fragte sie. »Ich bin glatzköpfig, rede fürchterlich durch die Nase und bin bettelarm. Sie aber ist die Tochter des Königs«, klagte er ihr sein Leid. »Überlaß die Sache nur mir«, zischte sie geheimnisvoll und forderte ihn auf, diese Nacht fest zu schlafen und an nichts zu denken. Nichtsnutz trottete wie gewohnt in eine Ecke seines zerfallenen Hauses und streckte sich in einem Haufen Stroh aus, schloß die Augen und schlief. Als er am anderen Morgen aufwachte, empfingen ihn Diener, und sein Trümmerhaus hatte sich in einen gewaltigen Palast verwandelt. Er selbst lag in einem goldenen Bett unter einem Schleier aus Perlenschnüren. Staunend erhob er sich und bestaunte sich in einem ausladenden Spiegel, der die ganze Wand bedeckte. Er trug ein besticktes Festkleid und hatte einen blonden Schopf, von dem eine Locke ihm in die Stirn fiel. Dann rief er nach seiner Dienerschaft und bemerkte, wie kräftig und edel seine Stimme schallte, derer sich die mächtigsten Männer nicht erfreuten. Als es Vormittag wurde, trat ein stattlicher Diener vor Nichtsnutz, der ihn daran erinnerte, daß es Zeit für seinen Besuch beim König sei, wofür er bereits habe anspannen lassen. Nasenfurz fuhr mit einem ehrfurchtgebietenden Gefolge zum Palast des Königs, der ihm einen fürstlichen Empfang bereitete. Er gewährte ihm drei Tage Gastrecht und ließ den Jüngling einen ganzen Flügel seines Palastes bewohnen. Dann wurde Verlobung gefeiert, der die Heirat folgte. Sieben Tage und sieben Nächte hindurch währte das Fest. Aber am
Morgen des achten Tages erwachte Nichtsnutz niedergeschlagen. Als sich seine junge Frau nach dem Grund seiner Traurigkeit erkundigte, sprach er: »Ich habe gerade an meine Großmutter gedacht und möchte sie sehen.« Sie riet ihm, zu ihr zu gehen und sie in den Palast zu holen, wo sie bei ihnen wohnen könne. Nichtsnutz lief zu seiner Großmutter. Aber als er bei ihr eintrat, erkannte sie ihn nicht. Er mußte ihr erst erklären, was für eine göttliche Wohltat ihm widerfahren war, dann nahm er sie und trug sie in den Palast. Dort teilte sie den Wohlstand ihres Enkels und konnte in aller Ruhe und ohne Sorgen ihr langes Leben beschließen.
Gepriesen sei Allah, der das Leben zu verändern vermag.
Der Umm-Hassan-Brunnen
Umm Hassan war eine Nervensäge für ihren Mann Abu Hassan. Eines schönen Tages gingen beide zu einem Spaziergang hinaus und hielten unterwegs Rast an einem Brunnen. In einem unbeachteten Augenblick gab Abu Hassan seinem Weib einen Stoß, damit sie in den Brunnen stürze und er vor ihren ständigen Nörgeleien Ruhe habe. Auf dem Grund des Brunnens lebte von alters her ein Geist. Umm Hassan setzte auch dem Geist heftig zu, wo sie nur konnte. Er war ihr hilflos ausgeliefert, denn er vermochte es nicht, ohne fremdes Zutun dem Brunnen zu entsagen. Nach Ablauf einer Woche kam Abu Hassan noch einmal an den Brunnen, um herauszufinden, ob Umm Hassan wirklich tot sei oder doch noch lebe. Er rief laut ihren Namen, aber anstatt daß sie ihn bat, sie wieder heraufzuholen, überschüttete sie ihren Mann aus der Tiefe mit üblen Flüchen und Scheltworten. Der Dschinni war froh, daß Abu Hassan gekommen war. Ihn flehte der Geist an, ihn für eine große Belohnung aus dem Brunnen zu befreien, damit auch er endlich Umm Hassan vom Halse habe. Abu Hassan ließ ein Seil in den Brunnenschacht hinab, an das sich der Geist hängte und so nach oben gelangte. Umm Hassan mußte auf dem Grund des Brunnens zurückbleiben. »Ich wandere nach Indien aus, und du folgst mir auf dem Fuße«, eröffnete der dankbare Geist Abu Hassan. »Dort schlüpfe ich in die Tochter des dortigen Königs, und sämtliche Ärzte Indiens werden die Prinzessin nicht heilen können. Sodann wirst du um eine Audienz beim König bitten und ihm versprechen, daß du sie heilen wirst. Sobald du an sie
herantrittst, werde ich aus ihr herausfahren und sie wird auf der Stelle wieder gesund. Zum Dank für deine Heilkünste wird dich ihr Vater mit wertvollen Geschenken überschütten. Danach aber unterstehe dich, mir weiter zu folgen.« Nachdem der Dschinni in Indien sein Versprechen gehalten hatte, begab er sich zurück nach Bagdad und schlüpfte in den Körper der Tochter des dortigen Königs. Auch Abu Hassan machte auf seinem Heimweg in Bagdad Station. Ihm eilte bereits großer Ruhm wegen seiner medizinischen Künste voraus. Nur hatte sich – was niemand mehr für möglich gehalten hatte – auch Umm Hassan aus dem Brunnen befreien können und war auf der Suche nach ihrem Mann nach Bagdad gelangt. Es dauerte nicht lange, da hatte Abu Hassan in Erfahrung gebracht, daß sein garstiges Weib ihm auf den Fersen war. Schon dachte er an Flucht, als ihm das Gefolge des Königs zuvorkam, denn es hatte erfahren, daß er sich in der Stadt aufhielt. Es bemächtigte sich seiner und brachte ihn in den Palast, damit er des Königs Tochter heile. Als Abu Hassan zu der Prinzessin in die Kammer trat und der Dschinni ihn bemerkte, hob dieser zu zetern an. »Hatte ich dir nicht in Indien gesagt, du sollst mir nicht weiter folgen!« brauste er auf. »Ich bin dir nicht gefolgt, sondern zufällig in Bagdad. Das Gefolge des Königs wurde meiner habhaft, um die Prinzessin zu heilen. Und nun sage ich dir, daß Umm Hassan ebenfalls in Bagdad ist«, wehrte Abu Hassan ab. Da lenkte der Dämon ein. »Also, ich tue dir noch diesen Gefallen und fahre jetzt aus der Prinzessin. Aber danach fliehe ich an einen fernen, fernen Ort, wo Umm Hassan zumindest mich nicht mehr erreichen kann. Des Königs Tochter wird gesund werden, wofür ihr Vater dich beschenken wird. Betrachte es als meinen Lohn für deine Warnung vor Umm Hassan, womit du mir die Gelegenheit zur Flucht sowie den Triumph gibst, in weiter Ferne und in Ruhe vor Umm Hassan leben zu können.«
Der Schneider des Königs
Ein König hatte einst einen Schneider. Am Haus dieses Schneiders war ein Garten, durch den ein kleiner Bach floß. Der Schneider hatte keine Frau und war auch sonst ganz allein auf sich gestellt. Hatte er zu essen oder hatte er eine Süßigkeit zu naschen, so aß er stets am Ufer des Bachs, weil er gern den hübschen Anblick des Wassers genoß. Alsdann kehrte der Schneider in sein Haus zurück, legte sich nieder und schlief. So geschah es jeden Tag. Saß er am Ufer des Baches und brockte sich ein wenig Brot, tauchte sofort ein Frosch auf, der etwas von den Krumen fraß, die dem jungen Mann herunterfielen. Einmal hatte der Schneider einen Granatapfel. Er ließ für den Frosch einen Kern fallen, worauf das Tier erschien und ihn verzehrte. Immer wenn er später einen Granatapfel aß, denn er liebte diese süße Frucht, war es ihm zu einer lieben Gewohnheit geworden, einen Kern in den Bach fallen zu lassen, worauf der Frosch treu erschien und ihn verspeiste. So vergingen zwei, drei, vier Tage – Allah allein weiß es genau. Als er eines Tages aus dem Palast nach Hause kam, fand er seine Wohnung sauber und aufgeräumt. Auf dem Feuer stand eine Mahlzeit, die Schlafmatte war hergerichtet und alle Räume gelüftet. Es war einfach unglaublich. ›Wer ist das gewesen?‹ grübelte er. ›Bei Allah, ich habe doch niemanden.‹ Zwei, drei, vier Tage verstrichen auf diese Art. Jeden Mittag fand er ein anderes Gericht im Topf, der Tisch war gedeckt, der Teller zurechtgestellt und überhaupt alle Arbeit getan. Der Schneider wollte ergründen, wer ihm das Haus so vorzüglich besorgte. ›Ich tue so, als ob ich die Haustür hinter mir schließe‹,
überlegte er sich, wobei ihm die kleine Kleiderkammer hinter der Tür in den Sinn kam. In diesem Versteck verbarg er sich, um zu sehen, wer ihm soviel Gutes angedeihen ließ. Gesagt, getan. Kaum hatte er sein Versteck bezogen, als der kleine Springbrunnen im Innenhof brodelte und schäumte und wallte, bis plötzlich der Frosch aus dem Wasser stieg. Der streifte unverzüglich seine Froschhaut ab, legte sie auf den Beckenrand und ein betörend schönes Mädchen kam zum Vorschein. Das Mädchen eilte ins Haus, fegte, wischte, schrubbte und richtete alles auf das beste her. Es stellte dem Hausherrn eine Mahlzeit aufs Feuer, es deckte den Tisch und wusch das Geschirr. Nichts ließ es aus. Als der Schneider das Treiben beobachtete, schwanden ihm förmlich die Sinne. Unverzüglich packte er das Kleid des Frosches. »Um Allahs Willen, rühre das Kleid nicht an! Rühre es nicht an!« flehte das Mädchen. »Ich will es verbrennen, damit du nicht mehr zurückkehren kannst«, entgegnete ihm der Schneider und zog kurzerhand ein Streichholz hervor. Er setzte das Kleid in Flammen, und es verbrannte lichterloh. Das Froschmädchen mußte nun bei ihm bleiben. Doch der Jüngling bat es um seine Hand, und er ließ den Ehevertrag aufsetzen und heiratete es. Der Sohn des Königs hegte eines Tages ebenfalls die Absicht, sich zu verheiraten, und man verlobte ihn. Zur Hochzeitsfeier sollten auch der königliche Schneider und seine Frau geladen werden. Weil sie aber nichts Rechtes anzuziehen hatte, hieß sie ihrem Mann: »Geh zum Haus meiner Eltern, dort wo du mich gefüttert hast, klatsche dreimal in die Hände, dann wird dir meine Mutter erscheinen! Sage ihr: ›Gib mir das Schatzkleid für deine Tochter, sie will zur Hochzeit gehen!‹« Der Schneider ging, wohin ihn seine Frau geheißen hatte. Dort klatschte er dreimal in die Hände, und die Mutter des Froschmädchens erschien. »Was ist dir, Schwiegersohn, was fehlt dir?« quakte sie freundlich. »Ich möchte das Schatzkleid
für meine Frau. Sie will zur Hochzeit«, bat sie der Schneider. »Mit dem größten Vergnügen. Warte einen Augenblick!« Im Handumdrehen kam sie zurück und gab ihm ein winzig kleines Bündel. Was? Hier hinein will sie das Schatzkleid getan haben? Da müßte es doch so klein wie eine Fingerkuppe sein. Was will die Frau nur damit anfangen? wunderte sich der Schneider im stillen. Doch bei jedem Schritt wuchs das Bündel und wurde größer und schwerer. Selbst auf beiden Händen konnte er es kaum noch tragen. Im Haus dann zog er ein herrlich schönes Kleid hervor. Seine Frau zog es an und ging damit zum Hochzeitsfest. Als es durch das Tor des Palastes trat, hielt ein jeder das Froschmädchen für die Braut. Aller Augen waren auf das anmutige Wesen und sein bezauberndes Kleid gerichtet. Man wies ihm einen Platz an der Seite der Braut und hätte gern geglaubt, es sei die eigentliche Verlobte des Prinzen. Als der Bräutigam erschien, faßte er statt der Hand seiner Braut die Hand des Froschmädchens. Da erhob es sich und verschwand so schnell, wie sich Salz in Wasser löst. Es lief geradewegs nach Hause und kam nicht wieder auf das Fest zurück. Der Sohn des Königs wollte von Stund an seine Braut nicht mehr, sondern jenes schöne Mädchen. »Mutter, nimm von mir das Hennabett der Freude und bereite mir ein Spinnenlager. Dein Sohn Aladin ist dem Tode nahe!« jammerte der Emir. »Nun, mein Sohn, wir aber haben dir diese Ehe bestimmt«, blieb die Königin fest. »Ich mag diese Heirat nicht.« »Wir haben dir nun einmal diese Hochzeit ausgerichtet.« »Ich mag sie nicht.« »Was willst du denn?« wollte die Mutter nun wissen. »Ich will, ich will die Frau des Schneiders.« »Aber mein Sohn, sie ist vergeben. Der Schneider ist ihr rechtmäßiger Ehemann. Es wäre unrecht, sie ihm zu nehmen. So geht das nicht. Das läßt das Gesetz nicht zu«, wehrte die
Mutter weiter ab. »Ich will sie aber«, wiederholte der Prinz trotzig. Man überließ den Emir sich selbst und keiner würdigte ihn mehr eines Wortes. Er indessen grämte sich, wurde dünner und dünner und wäre beinahe gestorben. In dieser Lage gab der Wesir dem König einen Rat. »O mein Herrscher, du mußt den Schneider ein Wunder vollbringen lassen. Das muß sein, denn du hast mit ihm keinerlei Zwist. Sage ihm, vollbringt er das Mirakel, ist es gut, wenn aber nicht, schlägst du ihm einfach den Kopf ab und nimmst ihm dann die Frau.« »Das wird wohl das beste sein«, stimmte der König zu und ließ den Schneider rufen. Als dieser zu ihnen hereintrat, verneigte er sich ehrfurchtsvoll, entbot mit gewandter Zunge seinen Gruß und wünschte den Anwesenden Kraft und Wohlergehen. »Was steht zu Diensten, o größter König aller Zeiten?« erkundigte er sich. »Ich möchte von dir den Sproß einer Weinrebe, der, sobald gepflanzt, augenblicklich sprießt, unverzüglich Blätter treibt und auch schon Trauben trägt. Sättige mich und die hier versammelte Runde mit seinen Beeren. Nicht eine darf zuwenig sein. Ich gebe dir drei Tage Zeit. Bringst du diesen Sproß, ist es gut, wenn aber nicht, schlage ich dir den Kopf ab.« Bei diesen Worten schwanden dem Schneider die Sinne. ›Was für ein Wunder ist das nur?‹ fuhr es ihm durch den Kopf und er schlich niedergeschlagen nach Hause. Das Froschmädchen bemerkte die Sorgenfalten im Gesicht ihres Mannes, der nicht den Mut fand, alles zu erzählen. Zwei, drei Tage schlief, aß und trank er nicht. »Was ist mit dir? Vielleicht kann ich dir helfen?« fragte ihn dann seine Frau. Da berichtete er ihr, was der König von ihm verlangte. »Lauf rasch zu meinen Eltern und bitte sie: ›Gebt mir einen Ableger von eurem Weinstock. ‹ Sie verschneiden ihn gerade. Laufe mit dem Reis unverzüglich zum Palast.« Der Schneider lief zu der
Stelle am Bächlein und klatschte dreimal in die Hände. »Was ist dir? Was fehlt dir?« wollte sogleich die Mutter des Froschmädchens wissen, als sie aus dem Wasser auftauchte. »Gib mir bitte einen Sproß von deinem Weinstock!« »Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte sie und holte einen Weinsproß. Als er in den Palast kam, war der Rat bereits erwartungsvoll versammelt. Der Schneider steckte ohne Zögern den Weinsproß zwischen die Steinplatten. So gepflanzt, wuchs die Rebe, trieb Blätter, blühte und trug auch schon riesengroße Trauben. Der Schneider pflückte die Früchte und speiste den Rat. Nicht eine Beere war zu wenig. Der König sah zum Wesir und fragte: »Was ist das?« »Ich weiß es auch nicht. Gib ihm noch ein zweites Wunder zu erledigen auf!« Der König war einverstanden. »Sag ihm, du begehrst ein Kleid in deiner Größe!« raunte der Wesir. Der König erhob sich. »Höre! Ich möchte ein Kleid nach meinem Maß: Es darf von keiner Schere zugeschnitten und von keiner Nadel genäht sein. Es muß mir passen wie ein Ring am Finger. Bringst du das Kleid, ist es gut, bringst du es aber nicht, schlage ich dir den Kopf ab.« Bei sich sagte der Schneider: ›Hat meine Frau die eine Aufgabe für mich gelöst, wird sie auch dieses Wunder vollbringen können.‹ Und er erzählte ihr, was der König diesmal verlangte. »Geh und hole das Kleid meines Vaters!« riet sie ihm. Der Schneider lief an die Stelle am Bach und klatschte dreimal in die Hände. »Was ist dir?« wollte die Schwiegermutter sofort wissen. »Was willst du?« »Gib mir bitte das Kleid meines Schwiegervaters!« Wieder gab sie ihm ein Bündelchen so klein wie eine Fingerkuppe. Als er das Bündel trug, fragte sich der Schneider, wie der König in ein derart kleines Kleid passen könne. Allmählich aber wuchs das Bündel, daß er es mit beiden Händen fassen mußte und
bald kaum mehr zu tragen vermochte. Schnurstracks lief er in den Palast, wo er zur rechten Zeit eintraf. Der König kam heran und probierte das Kleid an. Er fand es wunderschön: kein Schnitt, keine Naht, kein Fehl. Der Rat prüfte es Zoll für Zoll, aber man konnte weder eine Naht noch überhaupt etwas finden. Der König verkündete auf der Stelle: »Schneider, vor dir liegt ein drittes Wunder.« »So Allah will, wird es gut«, sprach der Schneider. »Ich will ein Kind, das, unmittelbar nachdem es seine Mutter geboren hat, spricht und mir ein Lügenmärchen erzählt. Es muß noch mit der Nabelschnur vor mir stehen, wenn es die Geschichte darbietet.« »Zwei Wunder haben wir euch vollbracht. Aber dieses liegt im Willen Allahs allein«, gab der Schneider zu bedenken. »Woher sollen wir ein solches Kind nehmen? Wer würde es austragen und zur Welt bringen? Wie sollen wir seiner habhaft werden? Ich weiß es nicht.« Verzweifelt kehrte er zu seiner Frau nach Hause zurück. »Alle Wunder hast du gelöst, aber die neue Aufgabe können wir unmöglich erfüllen«, meinte der Schneider zu seiner Frau, und er erzählte ihr, was der König diesmal verlangte. »Oh, meine Schwester liegt gerade in den Wehen«, rief sie, und er eilte auf der Stelle an den Bach und klatschte dreimal in die Hände, aber die Schwiegermutter erschien nicht. Wieder klatschte er. Nichts rührte sich. Noch einmal schlug er die Hände zusammen. »Bei Allah, ich habe mich verspätet, o Schwiegersohn. Meine Tochter hatte die Wehen und eben hat sie entbunden.« »Überlasse mir das Kind!« »Es soll mir eine Ehre sein«, gab die Mutter des Froschmädchens zur Antwort und wickelte den Knaben mitsamt der Nabelschnur in eine Windel und reichte ihn dem Schneider. Als er den Säugling auf der Straße trug, sprach das
Kind plötzlich: »Huch, Onkel, wärme mich! Wärme mich, Onkel! Huch, Onkel, wärme mich!« Als der Schneider das Kind sprechen hörte, hätte er es fast zu Boden fallen lassen, solch ein Schreck war ihm in die Glieder gefahren. Geradewegs lenkte er seine Schritte in den Palast, wo der Säugling ihm von der Brust sprang und sich in die Mitte des Palastsaales stellte. »Friede sei mit euch!« grüßte der Knirps den Hohen Rat. Alle blickten verwundert zu ihm hin und einige erwiderten verdutzt den Gruß: »Friede sei mit dir!« »Seid Ihr der König?« wandte sich der Kleine an den Herrscher. »Ja. Ich bin der König.« »Es ist uns eine Ehre«, versetzte der Knabe und begann zu erzählen. »Ich bin unglücklicherweise verliebt. Als meine Großmutter mit meiner Mutter schwanger ging, sprach ich zur Hebamme, noch bevor sie auch nur ein Wort zu mir sagen konnte: ›Löse mein Steckbett! Wenn ich auch noch ein Säugling bin, so bringt mich die Liebe fast um den Verstand.‹« Der König unterbrach das Kind. »Wiederhole dein Märchen. Ich habe nicht recht verstanden.« »Ich bin dabei, dir zu erzählen, du Herzensblinder, daß ich unglücklicherweise in Liebe fiel. Als meine Großmutter mit meiner Mutter schwanger ging, sprach ich zur Hebamme, noch bevor sie auch nur ein Wort zu mir sagen konnte: ›O Wehmutter, löse mein Steckbett! Ich bin in Liebe gefallen und die Liebe bringt mich fast um den Verstand.‹ – Und du, Hoheit, willst meinen Onkel in den Tod treiben, nur weil es dich nach seiner Frau verlangt. Bei Allah, ich werde dich deines Augenlichts berauben und dich… und dich…« Eins, zwei, drei nahm er den Anwesenden die Sehkraft und schlug sie mit Blindheit.
»Mit Eurer Erlaubnis«, verabschiedete sich das Wickelkind und sprach zum Schneider. »Wärme mich, Onkel, wärme mich! – Lebt wohl.«
Der Falke
Es lebte einmal in alter Zeit ein König, der hatte von seiner ersten Frau zwei Söhne mit Namen Saif ad-Din und Baha adDin und von seiner schwarzen Zweitfrau einen dritten Sohn namens Aladin. Zum Palast dieses Königs gehörte ein Garten, in dem ein Baum stand, dessen Blätter von Silber, Gold und Diamant waren. Doch das Geheimnis dieses Baumes war einem riesigen Falken zu Ohren gekommen. Er flog jede Nacht herzu und stahl eines der kostbaren Blätter. Der König grämte sich und war betrübt über den Diebstahl an seinem Wunderbaum, der seinem Herzen so teuer war. Er beauftragte seinen ältesten Sohn Saif ad-Din, den Baum zu bewachen. Aber den Jüngling übermannte der Schlaf, während er nachts Wache hielt. Da flog der Falke herzu, raubte ein Blatt von Silber und schwebte mit ihm davon. Den Vater erzürnte die Pflichtvergessenheit seines Sohnes und jagte ihn deshalb aus dem Palast, damit er sich als Diener verdinge. Dann gab er Baha ad-Din den Auftrag, den Baum zu beschützen. Aber auch ihn überwältigte der Schlaf. Der Falke kam, stahl ein Blatt von Gold und flog von dannen. Den König packte der Zorn und er schickte auch diesen Sohn aus dem Palast, damit er sich als Diener verdinge. Sorge und Gram des Königs wuchsen indessen mit jedem Blatt, das von seinem Baum verschwand. So befahl er dem jüngsten Sohn Aladin, den Baum zu bewachen. Aladin fügte sich an der Hand eine Wunde zu und streute Salz hinein, damit der Schmerz ihn wach hielt. Als der Falke abermals kam, um sich ein diamantenes Blatt zu nehmen, ging Aladin gegen ihn los und riß ihm drei Federn aus, eine silberne, eine goldene und eine diamantene. Der
gewaltige Falke hingegen, wie ihn seinesgleichen Aladin noch nicht geschaut hatte, erhob sich in die Lüfte und zog davon. Aladin erzählte seinem Vater von dem Riesenfalken. Da verlangte der König, daß er dem Vogel nachstelle und ihn fange. Der Jüngling rüstete zur Verfolgung und nahm dazu seine Brüder Saif ad-Din und Baha ad-Din mit. Er führte sie bis zu einem freien Platz, in dessen Mitte ein Brunnen stand und wo sich der Weg dreifach gabelte. Sie ließen sich nieder, um zu essen und zu trinken. Als sie die Pferde tränken wollten, fand allein Aladin den Mut, in den Brunnen hinabzusteigen. Dort benetzte er seine lange Schärpe mit Wasser und tränkte auf diese Weise die Pferde. »An diesem Brunnen werden wir uns wiedertreffen«, verkündete Aladin seinen Brüdern. Darauf trennten sie sich auf den drei Wegen mit den Namen Feuerweg, Sumpfweg und Dämonenweg. Aladin versäumte nicht, jedem Bruder eine Falkenfeder zu geben, von denen er selbst die diamantene behielt. Während Aladin auf seinem Weg ritt, beobachtete er eine Schlange, die von einem Schlangenmännchen so hart verfolgt wurde, daß es sie fast umbrachte. Die Schlange flehte Aladin inständig an, sie an seiner Brust zu verbergen. Aus Mitleid versteckte er sie in seinem Kleid, damit das Schlangenmännchen ihre Fährte verliere. Nachdem es von ihr abgelassen hatte, ließ die Schlange Aladin versprechen, ihr Geheimnis niemandem zu verraten. »So sicher wie in einem tiefen Brunnen liegt das Geheimnis verborgen«, gelobte Aladin. Auf der Stelle streifte die Schlange ihre Haut ab und wurde zu dem zauberhaft schönen Mädchen, das sie als Tochter eines Geisterkönigs eigentlich war. Es erzählte Aladin, daß das Schlangenmännchen es schon seit dreizehn Jahren verfolgte, bis es Aladin gerettet hatte. Das Mädchen dankte Aladin für seine Hilfe und wünschte, ihm diese Tat mit einem
Dienst erwidern zu können. Aladin zeigte ihm seine Falkenfeder. »Ich will den Vogel finden, dem diese Feder gehört.« »Ich kann keine Macht über ihn erlangen«, erwiderte das Schlangenmädchen. »Er ist um vieles stärker als ich. Ich fürchte, daß er mich zur Frau nehmen würde, sollte er mich bezwingen. Ziemt es sich aber für Geisterköniginnen, einen Falken zum Gemahl zu nehmen? Ich werde dich zu meinem Vater führen, damit er dir einen hilfreichen Geist zur Seite stellt. Dieser wird dir den Weg zu dem Falken weisen und dich bei der Erfüllung deiner Aufgabe unterstützen.« Dann nahm das Mädchen Aladin zwischen seine Schultern und erhob sich mit ihm in die Lüfte. In seinem Reich angekommen, bat es den Vater, Aladin bei seinem Vorhaben zu helfen. Der Vater stellte dem Prinzen einen Geist zur Seite, auf dessen Schultern er aufsaß und hoch in den Himmel flog. »Was siehst du?« erkundigte sich der Geist. »Ich sehe die Erde so groß wie einen Granatapfel«, rief Aladin; und etwas später: »Wie eine Walnuß, eine Kichererbse, eine Linse.« Als er schließlich verkündete: »Ich sehe nichts mehr«, stieg der Geist mit ihm zu einer Stadt herab, die im Himmel schwebte. »Höre, was ich dir zu sagen habe!« wandte sich der Geist an Aladin. »Du mußt jetzt in den Palast des Königs der Stadt gehen. Wenn du den Saal der Greifvögel betrittst, nimm diese Pistazie und iß entweder ihren Kern oder ihre Schale! Hüte dich aber, beides zu essen! Hast du das befolgt, wird deine Sprache zur Sprache der Vögel. Sie werden Zutrauen fassen und nicht mehr vor dir zurückweichen. Wenn du den Vorderteil des Saales erreicht hast, wirst du den gewaltigen Falken finden, neben dem ein Käfig steht. Nimm entweder den Falken oder den Käfig, aber hüte dich, den Falken und den Käfig zusammen zu nehmen!« Getrieben von
unwiderstehlichem Verlangen, setzte Aladin aber den Falken in den Käfig und trug ihn fort. Da fuhren die Vögel auf einmal aus ihren Federn und wurden zu Dämonen. Sie fielen über Aladin her und banden ihn. Dem Geist kam zu Ohren, was Aladin widerfahren war. Er legte die Kleider eines Wesirs der Stadt an und schlüpfte in dessen Gestalt. Er ging in den Palast und nahm an der Seite des Königs Aufstellung. »Schafft das Menschenwesen herbei, damit ich es richte!« befahl der König gerade seinem Gefolge. »Sei gerecht, o größter König aller Zeiten, denn Allah liebt die Gerechten!« sprach der als Wesir verkleidete Geist dem Herrscher ins Gewissen, als Aladin hereintrat. »Vielleicht vermag es dieses Menschenwesen, das Fliegende Pferd des Gigantendämons herbeizuschaffen, mit dem wir seit langem schon im Streite liegen.« Der König war einverstanden, und Aladin versprach, das Wunderpferd zu holen. Der Geist hatte dennoch Furcht vor dieser Aufgabe. Der tollkühne Aladin hingegen verspürte keinerlei Angst. Nach einigem Zögern setzte der Geist den Jüngling zwischen seine Schultern und erhob sich mit ihm in die Lüfte. »Wie groß siehst du die Stadt?« fragte er Aladin im Fluge. »Ich sehe die Stadt so groß wie einen Granatapfel, wie eine Walnuß, wie eine Kichererbse, wie eine Linse.« Bis Aladin schließlich rief: »Ich sehe überhaupt nichts mehr.« Da stieg der Geist mit ihm in eine fremde Stadt hinab, die im Himmel schwebte. »Du mußt jetzt in den Palast des Königs der Stadt gehen«, erklärte der Geist. »Wenn du in den Saal der Pferde trittst, nimm diese Pistazie und iß entweder ihren Kern oder ihre Schale. Hüte dich aber, beides zu essen. Hast du das befolgt, wird deine Sprache zur Sprache der Pferde, die zu dir Zutrauen fassen und sich an dich gewöhnen werden. Du wirst essen, was sie fressen. Sie werden dich zur Stirnseite des Saales durchlassen, wo du das Fliegende Pferd findest. Nähere dich ihm ohne Furcht und zäume es auf.
Aber du darfst ihm im Palast nur die Steigbügel anlegen und mußt es führen. Reite es nur außerhalb des Palastes und fliege dann mit ihm zum Falken und übergib das Pferd.« Aladin tat, wie ihm der Geist geheißen hatte. Als er aber zu der edelblütigen Stute gelangt war, reizte es ihn unwiderstehlich, sie zu versuchen. Er legte ihr Steigbügel auf und ritt sie noch im Palast. Da wieherte die Stute seltsam auf, was die anderen Pferde aus ihren Häuten fahren ließ. Sie wurden zu Dämonen, die über den Burschen herfielen und ihn banden. Der Geist erfuhr, was mit Aladin geschehen war. Wieder legte er das Gewand eines Wesirs der Stadt an und betrat den Palast. Dort nahm er an der Seite des Königs Aufstellung, als dieser gerade seinem Gefolge zurief: »Bringt das Menschenwesen herbei! Ich will es richten.« Aladin wurde herbeigebracht und trat vor den König. »Sei gerecht, o größter König aller Zeiten!« mahnte ihn da der verkleidete Wesir. »Allah liebt die Gerechten. Vielleicht vermag es dieses Menschenwesen, dir das Alleszermalmende Schwert zu bringen. Wenn du diese Waffe in Händen hältst, kannst du alle Dämonen deiner Feinde besiegen.« Der König willigte ein, und Aladin gelobte, das Schwert herbeizuschaffen. Der Geist hatte erneut Furcht vor dieser Aufgabe, während Aladin frei von Angst war. Ohne Zögern bat der Jüngling den Geist, ihn auf seine Schultern zu nehmen und mit ihm davonzufliegen. Schließlich willigte der Geist ein. Und wie die anderen Male schwand die Stadt unter ihnen, bis Aladin rief, er könne überhaupt nichts mehr sehen. Da landete der Geist mit ihm in der Stadt des Alleszermalmenden Schwertes und gab Aladin einen Schlüssel. »Nimm diesen Schlüssel und öffne damit die oberste Kammer im Palast des Königs. Du wirst dort das Alleszermalmende Schwert aufgehängt vorfinden. In der Kammer steht der Spruch geschrieben: ›Dieses Schwert nimmt niemand außer Aladin.‹ Du darfst aber nur das Schwert
nehmen und mußt die Scheide zurücklassen. Dieses Schwert ist das Gegenstück zu seinem Futteral.« Aladin konnte dennoch nicht widerstehen, Schwert und Scheide gemeinsam zu nehmen. Als er sich zum Gehen wandte, wurde auch das Schwert zum Dämon, der Aladin niederwarf. Dem treuen Geist wurde kund, was Aladin widerfahren war. Er wartete bis zum Morgen und ging verkleidet als Wesir der Stadt zum Gerichtstag gegen Aladin. »Sei gerecht, o größter König aller Zeiten«, sprach er zum König, »denn Allah der Erhabene, gepriesen sei er, ist gerecht und liebt die Gerechten. Vielleicht kann dieses Menschenwesen deine Tochter wiederbringen, die der Ghul gestohlen hat.« Der König willigte ein und Aladin versprach feierlich, die Königstochter zu befreien. »Das ist das letzte Mal, daß ich dir helfe«, sagte der Geist zu Aladin, als er mit ihm zum Palast des Ghuls flog und die Stadt unter ihm verschwand. »Entweder wir sterben gemeinsam oder wir überleben, und dir gehört von der Welt, was du begehrst.« Mitten im Himmel stieg der Geist bei einem Palast herab, der frei dort schwebte. »Stelle dich unter diesen Palast, Aladin, und rufe so laut, wie du vermagst: ›Frau Fatima!‹ Wenn sie dir antwortet, sage ihr: ›Ich komme, um dich vom Ghul zu holen.‹ Solltest du keinen Aufgang zu ihr finden, rufe ihr zu: ›Ich kann nicht zu dir hinauf.‹ Sodann wird sie dir ihr Haar herablassen. An diesem klettere nach oben. Bist du zu ihr gelangt, wird sie dir sagen, wie du den Ghul töten kannst. Sollte sie dich aber nicht erhören, wird dich der Boden bis zu deinen Beinen verschlingen. Rufe sie mit noch lauterer und kräftigerer Stimme als zuvor. Ich selbst werde mich in einen Vogel verwandeln, der vor ihrem Fenster umherflattert, damit sie hinschaut und zuhört. Sollte sie dich wiederum nicht hören, wirst du bis zum Hals in den Boden hinabgerissen. Beim
dritten Mal verschluckt uns der Boden ganz, und wir müssen sterben. Sollte dich Fatima aber erhören, werden wir am Leben bleiben.« Den ersten Ruf hörte Fatima nicht und die Erde verschlang Aladin bis zu den Beinen. Nach dem zweiten Ruf verschluckte sie ihn bis zum Hals. Beim dritten Schrei zerbrach der Vogel das Fenster von Fatima mit seinem Schnabel, und sie schaute endlich herab. »Ich bin hier! Ich bin hier, Aladin!« rief sie, und der Boden gab Aladin wieder frei. Der mutige Prinz gab sich ihr zu erkennen und hieß sie, ihr Haar herabzulassen, woran er zu ihr hinaufgelangte. Kaum hatten sie sich niedergesetzt, verdunkelte sich die Welt, Donner grollte und es regnete in Strömen: »Der Ghul ist gekommen«, sprach Fatima. »Er kann nur mit seinem eigenen Schwert getötet werden. Ich verzaubere dich nun, damit er dich nicht finden kann.« Und sie verwandelte ihn in ein Schminkfläschchen, einen Strohbesen und einen Bügel. »Ich rieche Menschenfleisch«, brüllte der Ghul schon beim Eintreten. »Der Mensch ist in deinem Kopf, und das Schwert wird dir den Kopf abschlagen. Wir sind im Land der Ghule. Woher soll denn der Mensch kommen?« widersprach ihm das Mädchen. Der Ghul begann nun Fatima zu schlagen und hörte nicht eher auf, bis ihn die Kräfte verließen. Dann streckte das Mädchen ihm die Beine hin, damit er darauf schlafe. Als er eingeschlummert war, nahm es den Zauber von Aladin und gab ihm seine ursprüngliche Gestalt zurück. »Du mußt zur indischen Schärpe eilen und das Schwert herausziehen. Dann komme zum Ghul«, hieß Fatima Aladin. »Wenn du seine Augen geöffnet siehst, ist dir das Glück hold. Findest du die Augen geschlossen, ist es dein Unglück, und alles läuft gegen dich.« Der Ghul hielt aber seine Augen offen, und da führte Aladin einen kräftigen Streich und schlug dem Ghul den Kopf ab. »Tu das noch einmal, o Aladin!« flehte er
sterbend. »Das hat mich meine Mutter nicht gelehrt«, wehrte Aladin ab, denn er wußte, daß der Dämon bei einem zweiten Schlag wieder zu Kräften und Macht gelangt wäre. »Tu das noch einmal, o Aladin! Ich werde dich reich machen, daß es noch deinen Kindeskindern reicht.« »Das hat mich meine Mutter nicht gelehrt«, war Aladins Antwort, und er blieb fest. Das Blut rann in breiten Strömen aus dem Ghul. Mit letzter Kraft griff er nach einer Dose auf seiner Brust, in der ein kleiner Vogel war, und warf sie in die Blutlache und war tot. Aladin setzte sich zwischen die Schultern von Fatima, und sie trug ihn zu ihrem Vater, der das Alleszermalmende Schwert besaß. Dort erzählte sie, daß sie Aladin liebe, ihn zum Gemahl begehre und mit ihm in sein Land ziehen wolle. Der Vater willigte ein. Er gab dem Jüngling die Hand von Fatima und schenkte ihm obendrein noch sein Schwert. So kehrte Aladin mit dem Wunderschwert zum König mit dem Fliegenden Pferd zurück. Dieser schenkte ihm die Stute, weil er so kühn war. Alsdann kehrte der Jüngling zum König mit dem Falken zurück, und jener schenkte ihm für seinen Mut den Riesenvogel und noch den Käfig dazu. Aladin nahm die Geschenke entgegen und gemeinsam mit Fatima begann er, am Brunnen auf die Rückkehr seiner Brüder zu warten. Wie Aladin Ausschau hielt, erblickte er seine beiden Brüder nackt und hungrig. Nur an der Tätowierung an ihren Füßen hatte er sie erkannt und erbarmte sich ihrer. Trotz ihrer glücklichen Rettung haßten sie ihn für das Glück, das ihm, dem jüngsten Bruder, widerfahren war. »Wie konnte der Sohn einer schwarzen Sklavin das vollbringen?« fragten sie sich. »Wir werden ihn töten und uns nehmen, was er an Geld und Gut bei sich trägt. Fatima kann nichts dagegen tun, denn ihre Zauberkraft ist verloren, weil sie einem Menschen angetraut ist.«
Die Pferde dürsteten und wieder brachte nur Aladin den Mut auf, in den Brunnen zu steigen. Er ließ sich in den Brunnenschacht hinab, und die Pferde konnten sich satt trinken. Als er aber wieder herauf wollte und auf halbem Wege angekommen war, hieben seine Brüder das Seil mit dem Schwert durch, und Aladin stürzte bis auf den Grund des Brunnens. Seine Brüder nahmen sich das Geld und die sonstigen Habseligkeiten Aladins und bemächtigten sich auch Fatimas, die sich aus Trauer um ihren Geliebten stumm stellte. Die Brüder kehrten zu ihrem Vater zurück und erzählten ihm von Taten und von Siegen, die sie errungen hätten, und von den Schrecknissen, die ihnen begegnet seien. Fatima stellten sie ihm als ein Findelkind vor, das sie unterwegs aufgelesen hätten. Aladin hingegen folgte der Sohle des Brunnens, bis er zu einem riesenhaften Dämon gelangte. Auf einem Bein hatte er eine schwarzhäutige, auf dem anderen eine weißhäutige Frau sitzen. Aladin erzählte dem Dämon seine Geschichte. »Wähle dir eine von beiden Frauen, und du wirst dein Glück machen!« forderte der Dämon Aladin auf. Aladin entschied sich für die schwarze Frau. »Warum?« wollte der Dämon wissen. »Liebe deinen Liebsten und wenn er auch ein schwarzer Sklave wär!« entgegnete Aladin mit einem Sprichwort. Dem Dämon gefiel die Antwort und so warnte er den Burschen. »Am Tor des Brunnens ist ein Wächter, der noch stärker ist als ich. Er will mir alles nehmen. Sei deshalb vor ihm wegen deines schwarzen Weibes auf der Hut.« In diesem Augenblick besann sich Aladin des Schlangenmädchens, dem er zu Beginn seines Abenteuers begegnet war. Ihm fielen die drei Haare ein, die es ihm mit dem Rat gegeben hatte, immer dann eines zu verbrennen, wenn er in Not geraten sei. So entzündete Aladin ein Haar und sogleich erschien das Mädchen in Gestalt eines Vogels vor ihm. »Ich bin deine Dienerin«, sprach es und verwandelte sich
flugs in eine Schlange, auf deren Schultern Aladin unangefochten dem Brunnen entkam. Wieder ans Tageslicht gelangt, eilte er unverzüglich in den väterlichen Palast. Dort war gerade die prächtige Hochzeitsfeier zur Vermählung der Brüder Aladins im Gange. Wie Saif ad-Din und Baha ad-Din sowie die geladenen Gäste in den von Lichtern und Zierat erfüllten Saal traten, ahnte Fatima, was vor sich gehen würde. Sie brach ihr langes Schweigen und tat dem König die Wahrheit kund. Sodann eilte sie zum Palasttor, wo sie Aladin erblickte und verkündete ihre Vermählung. Der König dankte zugunsten seines jüngsten Sohnes vom Thron des Reiches ab und tötete die beiden bösen Söhne.
Möge Allah aber das Leben der Zuhörer versüßen.
Ein Korb roter Pflaumen
Es war einmal und war doch nicht in alter, grauer Zeit. Es lebte einst ein großmächtiger König, der eine schöne Tochter hatte, die auf den Namen Banan hörte. Ihr Vater liebte sie über alles, so daß er ihr gelobte, sie nur dann in eine Ehe zu geben, wenn ihr selbst der Sinn danach stünde, und daß er ihr keinen Jüngling zum Manne geben werde, den er ihr bestimmt habe. Er wollte ihr vielmehr selbst die Freiheit lassen, sich den künftigen Gemahl zu wählen. Der König liebte seine einzige Tochter so sehr, daß er sie nur glücklich sehen wollte. Eines schönen Tages ließ Banan ihren Vater wissen, daß sie sich zu vermählen wünsche. Die anfängliche Freude des Vaters wurde allerdings bald von einer seltsamen Bedingung der Prinzessin getrübt, denn sie verlangte, daß ein jeder Freier ihr einen ganzen Korb von den außerordentlich seltenen roten Pflaumen überreichen müßte. Im ganzen Königreich gab es scheinbar nicht einen einzigen derartigen Pflaumenbaum, der Früchte trug, wie sie Banan verlangte. Der König versuchte, Banan umzustimmen und ihr diesen Gedanken auszureden. Doch da erinnerte sie ihn an sein Versprechen, so daß er verstummte. In diesem Königreich lebte nun ein alter Bauer, der klug und rege war und voller Hingabe seinen Garten pflegte, in dem er die verschiedensten Obstbäume und schönen Blumen pflanzte. Er hatte drei Söhne, die allesamt im heiratsfähigen Alter waren. Dieser alte Bauer hörte von dem Heiratswunsch der Prinzessin Banan und ihrer Bedingung. Da rief er seine Söhne zu sich. »Hört meine Kinder! In meinem Garten steht ein äußerst seltener Pflaumenbaum, dessen Früchte nicht ihresgleichen haben, denn sie sind groß und… rot, genau wie
sie die Tochter des Königs wünscht. Wer nun von euch möchte die Prinzessin zur Frau?« wandte er sich an sie, und wie aus einem Mund riefen die drei, daß sie das Mädchen zur Frau begehrten. Der Alte entschied, daß als erster Freier der Älteste um die Hand der edlen Prinzessin anhalte. »Ihr anderen kennt die Sitte, daß vor allen anderen zuerst der Älteste unter der Haube sein muß«, erklärte der Bauer beiläufig. Froh nahm der älteste Sohn einen Korb roter Pflaumen und brach zum Palast auf. Auf halbem Wege begegnete er einem alten Weib. »Einen schönen guten Morgen, mein Sohn«, grüßte sie den Burschen, aber der würdigte sie keiner Silbe. Als die Alte ihren Gruß etwas lauter wiederholte, schrie er ihr gleich ins Gesicht. »Ach, ich habe dich schon gehört. Aber was grüßt du mich, wo ich dich nicht einmal kenne.« »Vergelt’s mein Sohn, ich höre ein wenig schwer. Ich bin hungrig, kannst du mir nicht etwas aus deinem Korb zu essen geben? Seit drei Tagen hatte ich nichts zu beißen.« Der Kerl lachte hell auf. »Eh, ich habe doch bloß Frösche in meinem Korb«, log er. »Nichts für ungut, mein Sohn«, sprach die Alte. »Gehe deiner Wege, und ich werde zum allmächtigen Allah flehen, daß jeder Frosch in deinem Korb so groß wie dieser Stein in meinen Händen werden möge.« Zornig setzte der Älteste seinen Weg fort und eilte zum Königspalast. Am Tor bat der Bursche um Eintritt, um der Prinzessin Banan seine Aufwartung machen zu dürfen. Ihr teilte er voller Stolz mit, daß er ihr einen ganzen Korb großer roter Pflaumen bringe. Doch als die Prinzessin ihn das Tuch von seinem Korb nehmen hieß, sprangen Frösche so groß wie Wackersteine heraus, die in alle Ecken und Winkel des Palastes hüpften und mit lautem Quaken den Palast erfüllten. Daraufhin schlugen die Wachen den Jüngling für seine vermeintliche Lüge windelweich. Nun war die Reihe an dem mittleren Bruder, der sich gleichfalls einen Korb mit den seltenen roten Pflaumen füllte
und zum Palast des Königs aufbrach. Unterwegs stellte sich auch ihm die alte Frau in den Weg. »Einen schönen guten Morgen, mein Sohn«, grüßte sie den Burschen. Doch auch der Mittlere würdigte sie keiner Silbe. Als die Alte ihren Gruß etwas lauter wiederholte, schrie er ihr ins Gesicht. »Was willst? Sage es rasch, denn ich habe es eilig!« »Mich beißt der Hunger seit vier Tagen. Kannst du mir nicht etwas aus deinem Korb zu essen geben?« flehte sie. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? In diesem Korb sind nichts als Mäuse, du gieriges Weibsstück«, polterte er weiter. »Ziehe deiner Wege, mein Sohn. Ich werde zum allmächtigen Allah flehen, daß jede Maus in deinem Korb so groß wie dieser Stein in meinen Händen werden möge«, sprach sie. Der Mittlere lachte töricht, als er diese Verwünschung hörte und eilte weiter. Vor dem Palast bat er um eine Audienz bei Prinzessin Banan. Als sie ihn das Tuch von seinem Korb nehmen hieß, sprangen Mäuse, so groß wie Wackersteine, ins weite Rund, worauf die Soldaten ohne Gnade über den Burschen herfielen, ihn grün und blau schlugen und im hohen Bogen aus dem Palast warfen. Nun war die Reihe an dem jüngsten der drei Brüder, der mit einem Korb voller roter Pflaumen zum Königspalast aufbrach. Als ihn die Alte um etwas zu essen bat, hielt der beherzte Jüngling inne. »Ich habe seltene und dazu noch große rote Pflaumen in meinem Korb, wie es sie nicht ein zweites Mal gibt. Sie sind zwar ein Geschenk für die Prinzessin Banan, aber solange du hungrig bist, hast du ein Recht auf Pflaumen von ihr. Also nimm und iß, bis du satt bist! Eine Königstochter kann warten, denn sie ist nicht besser als du und ich«, sagte er und lud sie ein. »So Allah will, läßt er jede Pflaume in deinem Korb so groß wie diesen Wackerstein in meiner Hand und von unvergleichlicher Süße werden«, rief die alte Frau gen Himmel. Dann nahm sie sich eine Frucht. Der Jüngste lief
weiter und gelangte bald zum Palasttor. Höflich bat er um Einlaß, um der Prinzessin Banan rote Pflaumen zu überreichen, wie sie ihresgleichen nicht hätten. Als er seinen Korb öffnete, waren die Königstochter und alle Anwesenden äußerst erstaunt. Solche Früchte hatte noch keiner bei Hofe gesehen. Die Prinzessin erhob sich und gab dem Jüngling wie versprochen ihre Hand zur Ehe.
Sitt Warda und König Pinie
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Erzählen wir nun oder schlafen wir fein? Ein Märchen wollt’ ihr, so soll es denn sein. Es lebten einst zwei Brüder in Armut und Elend. Ihr Vater war gestorben, so daß sie auf das Mitleid der Leute angewiesen waren, bis sie zu jungen Burschen herangewachsen waren. »Bruderherz«, sprach eines Tages der eine zum anderen, »wollen wir etwa in dieser schändlichen Lage bleiben? Das ist kein Leben. Wäre es für uns nicht besser, wir verließen dieses Land und arbeiteten, statt von Almosen unser Dasein zu fristen?« So entschlossen sie sich auszuwandern und kamen überein, daß sich der eine nach Osten und der andere nach Westen wenden solle. Außerdem sagten sie sich zu, einst ihre Kinder miteinander zu vermählen, falls sie sich Frauen nähmen und Sohn und Tochter zeugen sollten. Alsdann brach ein jeder in seine Richtung auf. Der Ältere gelangte zerlumpt in eine Stadt des Westens. Staub bedeckte ihn, sein Gesicht war fahl und von Entbehrung gezeichnet. Als er eintraf, geriet er in eine große Versammlung von Leuten, unter die er sich aus lauter Neugier mischte. Ihrem Verhalten entnahm er, daß der König des Landes gestorben war und eine berufene Körperschaft den Greifvogel des toten Monarchen aufsteigen ließ. Auf wessen Kopf er sich niederließe, der sollte der künftige König sein. Aber unvermittelt saß das Tier auf dem Kopf des Fremden. Die Leute packten den Mann unfreundlich und fragten ihn aus, wer
er sei und woher er käme. Er stamme aus dem fernen Dorf Soundso, antwortete er. Doch weil die Leute die Königsehre keinem Fremden überlassen wollten, schleppten sie ihn ins Gefängnis und schlugen ihn sogar. Jener weinte und verfluchte sein Mißgeschick. Als sie aber den Vogel ein zweites Mal fliegen ließen, landete er auf dem Gefängnis. Die Menge ergriff den Vogel und wiederholte den Versuch noch viele Male, aber das Tier traf keine andere Wahl. Da traten die Wesire und Edlen des Reiches zusammen. »Wir handeln dem Gesetz unserer Vorväter zuwider. Das darf nicht sein«, entschieden sie. Nun holten sie den Fremden aus dem Kerker, führten ihn unter die Leute zurück, und man ließ den Vogel ein letztes Mal fliegen, und erneut setzte er sich auf das Haupt des Armen. Nun führten sie den Ankömmling in die Badestube, wo man ihn wusch und kleidete. Zu guter Letzt krönten sie den älteren der beiden Brüder mit der Königskrone und überreichten ihm das Reichszepter. Der Arme regierte gerecht und weise, so daß die Leute froh waren und glücklich lebten. Der neue König nahm die Tochter des alten Monarchen zur Frau, und sie gebar ihm eine schöne Tochter. Zu diesem Zeitpunkt erinnerte sich der König seines Bruders, und er sann darüber nach, wie es jenem wohl ergangen sei. In einem Brief an ihn, den er mit der Post nach Osten absandte, schilderte er ihm, was ihm selbst widerfahren war. Dem jüngeren Bruder war es dank vieler Zufälle ähnlich wie seinem älteren Bruder ergangen. Er war König des Ostens geworden, hatte geheiratet und war Vater eines Sohnes. Seit dieser Zeit wechselten sie beständig Briefe, während die Tochter und der Sohn heranwuchsen. »Mein Sohn, ich möchte dich mit deiner Base, der Tochter des Königs des Westens, verloben«, verkündete der König des Ostens eines Tages. Sodann rüstete er ihm eine großartige Karawane aus, mit der er eine Botschaft und ein prächtiges Geschenk für seinen Bruder sandte. Der Sohn
durchzog die Lande, bis er das Königreich seines Onkels erreicht hatte, machte dem Herrscher seine Aufwartung, und jener faßte zu dem beherzten Jüngling großes Zutrauen und empfand tiefe Freude an seinem Neffen. »Lieber Onkel, ich bin gekommen, weil ich deine Tochter zur Frau nehmen möchte«, eröffnete ihm der Jüngling. »Sie gehört dir, Brudersohn«, antwortete der Onkel voller Freude. Der König des Ostens rief seine Tochter. »Der Sohn deines Onkels bittet um deine Hand. Er ist ein netter und anmutiger junger Mann. Seit langer Zeit besteht über eure Vermählung eine Absprache zwischen meinem Bruder und mir«, erklärte er dem Mädchen. Aber die Tochter schlug den Wunsch des Vaters aus und lehnte den Vetter ab. Der Vater erzürnte sich sehr und rief die Königin, damit sie die Tochter frage, warum sie den Jüngling verschmäht. »Ich nehme ihn nicht zum Mann, bis er mir nicht die Geschichte von Sitt Warda und König Pinie bringt«, beharrte das Mädchen. Niedergeschlagen teilte der König unter Entschuldigungen und Bedauern dem Neffen das Ansinnen der Prinzessin mit. Der Sohn des Königs des Ostens sandte seinem Vater unverzüglich eine Nachricht über das Vorgefallene und schickte die Karawane zurück. Dann nahm er Abschied von seinem Onkel. »Ich werde nach Indien reisen, um meiner Base das verlangte Märchen zu bringen«, kündigte er an und zog davon. Länder kamen, Länder zogen an ihm vorbei, aber auch nach zwei Monaten Fahrt und ungezählten Fragen nach der Geschichte war dem jungen Mann keine gute Antwort beschieden worden. Er zog weiter, bis er die bewohnten Lande hinter sich ließ und nur noch durch menschenleere Gegenden und dichte Wälder streifte. Schließlich kam er zu einer einsamen Hütte, an deren Tür er klopfte. Dem Prinzen tat ein Mädchen auf, dessen Schönheit so vollkommen war wie der Vollmond. Zu dem hätte es sagen können: »Vergeh’, damit ich
an deiner Statt steh’ als Kadi, Mufti, Stadthauptmann, seh’.« Der Jüngling war verwirrt, bezaubert vom Glanz der Schönen. Das Mädchen faßte Zutrauen zu dem Jüngling, ließ ihn eintreten und erwies ihm alle Wohltaten der Gastfreundschaft. Der Prinz aß, trank Kaffee und erst danach bot die Hausherrin ihm auch Herberge an. Nun wollte sie aber wissen, welches Geschick ihn hierher zu ihr verschlagen hatte. »Jene, die dich nach dem Märchen von Sitt Warda und König Pinie aussandte, tat dies nicht aus Liebe, sondern aus Feindschaft zu dir«, sprach sie, als der Prinz seine Geschichte geendet hatte. »Bald wird mein Vater kommen. Wir werden den Abend gemeinsam verbringen. Sobald er eingeschlafen ist, will ich dir einen Schlüssel geben, der zu einer der Kammern paßt. Du wirst die Tür aufschließen und eine Treppe vorfinden, die weiße und schwarze Stufen hat. Steige hinab, aber immer eine um die andere. Bist du zuerst auf eine schwarze getreten, dann berühre keine weiße mehr und umgekehrt. Am Fuß der Treppe steht ein Pferd bereit. In dem Augenblick, wo du es erschaust, wird es gar heftig erzittern. Verbirg dich unter seinem Körper. Beim zweiten Erschauern schwing dich auf seinen Rücken und reite los. Kaum daß es mit dir davongeflogen ist, setzt es dich vor dem Palast von König Pinie ab. Wenn du absteigst, reiß dem Pferd ein Schwanzhaar aus, das du gut verbergen mußt. Hast du deine Aufgabe erfüllt, verbrenne es und dir wird das Pferd wieder erscheinen. Kehre auf ihm zurück und verhalte dich so, wie du es schon getan hast.« Der Jüngling bedankte sich. »Möge es dir Allah mit Gutem vergelten.« Der Vater kam, und sie verbrachten den Abend gemeinsam. Kurz nach Mitternacht gab das Mädchen dem Königssohn den Schlüssel, und er tat, wie sie ihm geheißen hatte. Das Pferd setzte den Prinzen vor dem Palast von König Pinie ab und verschwand, nachdem er ihm ein Schwanzhaar ausgezupft hatte. Der Bursche stand vor einem erhabenen Palast, der an
vier Säulen aufgehängt war. Er hatte weder Tor noch Türhüter, keine Treppe und nicht einmal eine Gebetsnische. Als der Prinz schon ratlos werden wollte, trat eine Dienerin auf die Balustrade und entdeckte den Prinzen. Sie unterrichtete König Pinie von dem Neuankömmling, der heraustrat, ihn willkommen hieß und ihm alle Ehren der Gastfreundschaft angedeihen ließ. »Was hat dich hierher getrieben?« verlangte schließlich König Pinie zu wissen. Nun erzählte der Jüngling all seine Erlebnisse, worauf König Pinie seine Dienerin rief: »Bring den Käfig!« Der Käfig war entzwei, nahezu zerborsten, der Rabe darin war struppig und zerzaust. »Bring nun den Schädel!« befahl König Pinie dann. Sobald der Rabe den Schädel erblickte, hob er an, sich die Federn zu rupfen, mit dem Schnabel den eigenen Leib zu hacken und sich so selbst zu quälen und zu martern. Der König ergötzte sich an diesem Anblick. »Bring Käfig und Schädel wieder an ihren Platz zurück!« wies er schließlich die Dienerin an. »Hier ist nun meine Geschichte«, sprach König Pinie und begann einen langen Bericht. »Ich bin der bekannte König Pinie, meine Worte waren in aller Munde, und alle Welt drehte sich nur um mich. Ich hatte eine Base, Sitt Warda genannt, mir seit der Kindheit zur Braut auserkoren. Als ich nun herangewachsen war, verlobte ich mich mit ihr, und als der Tag der Hochzeit herangerückt war, nahm ich sie zur Frau. Mit mir traten noch etwa zwanzig Burschen meines Alters in den Stand der Ehe. Nach Ablauf etwa eines Jahres luden mich all meine Freunde zu Freudenfesten ein, der eine zur Beschneidung seines Sohnes, ein anderer zur Geburt seines Sohnes und so fort. Nur mir war kein Kind beschieden gewesen. Eines Tages wurde ich zu einem Fest beim Wesir gebeten, auf dem ich einem mir treu ergebenen Freund begegnete. Ihm schien ich irgendwie traurig, so daß er mich bedrängte, um den Grund meiner
Niedergeschlagenheit zu erfahren. ›Du bist doch ein großer König‹, sagte er. ›Ich bin traurig über meine Lage‹, gestand ich ihm. Da erkundigte er sich nach meinem Leben mit der Königin. ›Nach dem Abendessen und der Gesellschaft‹, erzählte ich dem Freund, ›bereitet mir mein Weib stets eine Tasse Kaffee. Ich trinke ihn und schlafe sofort ein. Seit unserer Vermählung kann ich mich nicht erinnern, daß sie und ich auch nur einmal abends beieinander gesessen hätten. Tagsüber drücken mich die Lasten des Regierens und die Angelegenheiten des Königreiches. Ich bin mit ihr also nur selten zusammen.‹ Darauf riet mir der Freund, in dieser Nacht den angebotenen Kaffee nicht zu trinken. ›Tue nur so, als ob du die Tasse austrinken würdest, beseitige alle Spuren des Getränks und geh zu Bett, wie du es immer getan hast. Was sie auch immer mit dir anstellt, ertrage es.‹ Ich verlor die Beherrschung, weil er mir Zweifel an meiner Gemahlin einflößte, aber er ertrug meinen Zorn. An diesem Abend reichte mir die Königin wieder meinen Kaffee, aber ich lenkte sie ab und goß ihn heimlich aus. Danach gab ich vor zu schlafen. Ich fühlte, daß sie an mich herantrat und mich in die Seite stieß. ›Ein Auge schlägt, ein Auge stößt, schlaf nun tief und fest!‹ zischte sie dabei. Keinen Laut gab ich von mir, während ich auf dem Bett ausgestreckt lag. Sie verließ das Gemach, und ich folgte ihr auf den Fersen. Im Stall sattelte sie ein Pferd und ritt davon. Sogleich schwang ich mich auf ein zweites Pferd und folgte ihr zu einer Höhle auf dem Berg. Dort stieg sie ab und trat ein. Nach einem Augenblick des Wartens stieg auch ich vom Pferd und lief zum Eingang der Höhle. Vorsichtig hielt ich Ausschau und sah einen schwarzen Sklaven sowie drei Kinder. Der Sklave blickte finster in ihr Gesicht, aber sie küßte ihn, um ihm zu schmeicheln. Sie gab den Kindern zu essen und schließlich schlief sie mit dem Sklaven, wobei sie ihre Lust und Leidenschaft stillte. Als ich
alle in tiefem Schlaf wußte, zog ich mein Schwert blank und schlug dem Sklaven sowie den Kindern die Köpfe ab. Die Schädel packte ich in den Futtersack des Pferdes und ließ die Königin weiter schlafen. In den Palast zurückgekehrt, legte ich mich zu Bett, nachdem ich die Köpfe verborgen hatte. Als Sitt Warda am anderen Morgen erwachte, das Blut und die leblosen Rümpfe fand, verlor sie den Verstand. Im Palast legte sie schwarze Kleider an und zeigte tiefe Trauer. Als ich mich erkundigte, was mit ihr sei, antwortete sie mir nicht. Statt dessen begann sie mich finster und feindselig anzustarren. Schweres Unbehagen lastete auf uns. Schließlich ließ ich sie zwei Tage in der Kammer allein und warf ihr dann den Kopf des Sklaven vor die Füße. Sie wurde blaß und bleich. ›So, du warst es also, der ihn getötet hat‹, schrie sie, und mit den Worten ›Dir werde ich es noch zeigen‹ griff sie nach einem Wasserschälchen, das vor ihr stand, und goß seinen Inhalt über mich. ›Laß ab von deiner menschlichen Gestalt‹, verwünschte sie mich dabei, ›werde zu einem Maultier!‹ So verwandelte ich mich in ein Maultier, das sie zu einem Steinbrecher führte. ›Nimm dieses Maultier unter der Bedingung zum Geschenk, daß du es gnadenlos schindest‹, sprach sie zu dem Mann. Dieser nahm an und bepackte mich aufs schwerste. Nach einem Monat war ich dem Tode nahe, und er ließ mich am Wegesrand liegen. Ich schleppte mich dahin, bis ich einen Fluß erreichte. Dort trank und fraß ich ein wenig. Zwei Tauben flogen herbei und rasteten auf einem Ast des Walnußbaumes, unter dem ich mich hingestreckt hatte. ›Laß uns ein Bad nehmen‹, forderte die eine ihre Gefährtin auf. ›Dort ist ein Mann‹, gurrte die andere. ›Wo soll ein Mann sein? Ich kann nur den Fluß und ein Maultier sehen‹, erwiderte die erste. ›Das dort ist König Pinie‹, klärte jene ihre Gefährtin auf. ›Sein Weib hat ihn verhext und in ein Maultier verwandelt. Komm, laß uns seinen Zauber brechen.‹ Eine der beiden
Tauben schwebte mit einem Becherchen Wasser heran, das sie besprach. Kaum hatte sie mich damit besprengt, nahm ich wieder meine menschliche Gestalt an. Ich kehrte heim, aber als ich vor Sitt Warda stand, benetzte sie mich abermals mit Wasser und verzauberte mich in einen Esel. In dieser Gestalt schleppte sie mich zu einem Heizer, der mich auf das schwerste belud, bis er mich nahezu totgeschunden hatte. Als er sah, daß er von mir keinen Nutzen mehr haben würde, jagte er mich davon. Wieder lief ich zu dem Fluß, wo es mir wie beim ersten Mal erging und ich entzaubert wurde. Eine der Tauben gab mir diesmal gar ein Schälchen Zauberwasser. Als ich meinen Palast wieder betrat, besprengte ich nun mein Weib mit Wasser und verwandelte sie in einen Raben, den ich in einen Käfig sperrte. Diesen weitabgelegenen Palast ließ ich erbauen, damit ich den Raben quälen kann, was ich auch jeden Tag tue. Ich stelle den Schädel vor den Vogel, und er rupft sich selbst sein Federkleid aus. Nach all meinen Erlebnissen versagte ich mir eine erneute Heirat. Laß dir von mir raten, denn deine Base ähnelt in vielem der meinigen, und sei auf der Hut! Höre auf mich und nimm dir ein anderes Mädchen!« Der Sohn des Königs des Ostens verließ den Palast von König Pinie und verbrannte das Pferdehaar. Im Handumdrehen stand sein Roß vor ihm und brachte ihn mit der Eile eines Blitzes an den Ausgangspunkt zurück. Der Jüngling erstieg die Treppe in der gleichen Weise und Obacht, wie er sie hinabgestiegen war. Dann trat er in die Kammer, wo das Mädchen auf ihn wartete. Ihr berichtete der Prinz die ganze Geschichte, bevor er sich zur Ruhe legte. In der Nacht fühlte er eine starke Zuneigung zu diesem Mädchen. »Ich werde mich von der Base lösen und zu dieser hier zurückkehren«, sprach er zu sich. Am anderen Morgen nahm er Abschied und kehrte in das Königreich seines Onkels zurück. Der junge Bursche erzählte
auch ihm die Geschichte. »Wenn du herausfinden willst, was meine Tochter getan hat, wohlan«, ermunterte ihn der König. Daraufhin verkleidete sich der Jüngling und begann, Erkundigungen einzuziehen, bis er ihr Geheimnis entdeckt hatte. Die Prinzessin liebte ebenfalls einen Sklaven, mit dem sie bereits Kinder hatte. Der Jüngling gab sein Wissen dem Onkel preis, der Tochter und Sklaven beobachtete und sie, als er Gewißheit hatte, selbst tötete. Der Sohn des Königs des Ostens kehrte zu seinem Mädchen zurück, nahm sie zur Braut und heiratete sie. Sie lebten in Glück und Wohlbefinden.
Mit holden Wonnen, Seligkeit und Glück versüße Allah der Hörerschaft Geschick. An diesem Punkte in der Mär verließ ich sie und kam hierher.
Seepferd
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’, ihr Hörerschaft von heut. Erzählen wir nun oder schlafen wir fein? So soll es denn sein. Es lebte einmal ein König, und dieser König war, wenn auch wahres Königtum allein bei Allah liegt, von allerhöchster Majestät. Eines Tages suchte ihn ein Mann auf. »O größter König aller Zeiten«, sprach er, »ich möchte dir ein einmaliges Geschenk verehren.« Und als der Herrscher wissen wollte, was es wohl sei, fuhr jener fort. »Ich werde dir ein Pferd aus dem Meer schenken, das auf den Namen Seepferd hört. Wenn du mir eine Gnade erweisen willst, so nimm diese Gabe in Huld an.« Der König erklärte sich mit dem Geschenk einverstanden, denn er liebte Pferde über alles; sie ließen ihm keine Ruhe, und er wußte einfach alles über diese wunderbaren Tiere. Der Mann ging, um das Pferd zu holen. Der König besah sich das schöne Tier und war entzückt von dessen Anmut und Vollkommenheit. Auch die Emire und Wesire und alle, die sich im Palast aufhielten, fanden an ihm Gefallen. Der König nahm das Pferd bei den Zügeln und führte es in den Stall. Die Leute erfuhren vom Seepferd und strömten herbei, um es anzuschauen. Die Herrscherfamilie mit den Töchtern kam empört zum König gelaufen. »Alle Welt hat das Pferd gesehen, nur wir nicht«, protestierten sie. »Wir wollen es auch bestaunen.« Als sie zu dem Pferd herantraten und es sich ausgiebig anschauten, war auch Prinzessin Lapislazuli dabei,
die so schön wie der Mond war. Sie hätte zum Mond sagen können: ›Vergeh, damit ich an deiner Statt steh als Kadi, Mufti, Stadthauptmann, seh’!‹ Von dem Augenblick an, als das Pferd das Mädchen erblickt hatte, welkte es dahin. Es fraß weder noch trank es. Den ganzen Tag ließ es den Kopf hängen. Der Stallbursche lief, um dem König Nachricht zu geben. Dem Herrscher schwanden die Sinne und ohnmächtiger Zorn packte ihn aus Liebe zu diesem Tier. Er selbst ging in den Stall, um dem Pferd mit eigener Hand Futter vorzulegen, aber es war nicht zum Fressen zu bewegen. Der König holte sich Rat beim Wesir und bei den Gelehrten. »Du mußt es in ein eigenes Gemach stellen und ihm besonderes Futter geben«, empfahlen sie. Darauf führte man das Pferd in eine mit Teppichen ausgelegte Kammer und fütterte ihm nur das Beste vom Besten. Aber alles blieb ohne Erfolg. Das Pferd fraß aus niemandes Hand, vielmehr kränkelte es und war allmählich dem Tode nahe. »Laß mich es füttern, Väterchen«, bat des Königs jüngste Tochter, Lapislazuli. Er ließ sie gewähren, damit auch sie ihr Glück bei dem Tier versuche. Kaum war die Prinzessin bei Seepferd und streckte ihm die Hand entgegen, fraß es sogleich das dargebotene Futter. Lapislazuli gewöhnte sich an das Tier, und Tag für Tag kam sie nun, um es zu füttern. Einmal verwandelte sich das Pferd in ihrem Beisein unvermittelt in einen stattlichen Jüngling. Vollkommen wie der Mond thronte er auf einem Stuhl. Das Mädchen war überrascht. »Fürchte dich nicht!« sprach er in diesem Augenblick. »Ich bin Seepferd. Als ich dich zum ersten Mal sah, gefielst du mir und ich verliebte mich in dich. Nur konnte ich dir nicht vor all diesen Leuten erscheinen, denn ich bin kein Geringerer als der König der Ghule. Hüte dich, jemandem von mir zu erzählen! Gib Obacht!« Sie setzten sich nieder und ihr gefiel der Jüngling so sehr, daß sie nicht mehr von ihm lassen konnte.
Weil die Prinzessin aber wunderschön war, bewarben sich um sie viele Freier: der Sohn des Königs Soundso, der des Wesirs Soundso. Sie wies einen um den anderen Werber ab, daß ein jeder bar aller Hoffnung, je erhört zu werden, heimkehren mußte. Nachdem ihre Schwestern bereits verheiratet worden waren und glanzvolle Hochzeiten stattgefunden hatten, war sie als die Jüngste noch ledig. Kam ein Freier zu Lapislazuli, fühlte sich Seepferd jedesmal so krank, daß es dem Tod nahe schien. Der König zog seine Sterndeuter zu Rate. »O größter König aller Zeiten, das Pferd begehrt deine Tochter zum Weibe, weil sie es war, die es fütterte und tränkte«, ließen sie verlauten. »Nun möchte sich das Pferd mit ihr vermählen.« Der König war sehr verärgert. Wie hätte er seine Tochter einem Pferd zur Frau geben können. Aber weil er Seepferd so sehr mochte, befragte er Lapislazuli. »Meine Tochter, das Pferd möchte dich zur Frau. Ich komme um deinen Rat und deine Antwort in dieser Sache«, sprach er. »Ja, Väterchen, ich willige ein«, erwiderte das Mädchen zu seinem Erstaunen. »Tu, was du für richtig hältst«, sprach der König. »Aber ich habe mit dir Rat gehalten.« Alsdann vermählte der König seine Tochter mit Seepferd, und die Leute zerrissen sich die Mäuler, wie der Monarch sein eigen Fleisch und Blut einem Pferd hatte geben können, denn niemand kannte die wahren Gründe. In der Stadt fanden alltäglich große Wettrennen statt, an denen der König mit Seepferd teilnehmen wollte. Könige, Wesire und Edelleute sollten kommen, und der König wünschte, daß man viel Volks herbeischaffte. »Ich selbst werde im Wettrennen laufen«, verriet Seepferd Lapislazuli kurz vor Beginn. An seiner Statt führte er ein Pferd herzu, das ihm aufs Haar glich. »Sei aber auf der Hut und sage niemandem ein Wort. So sehr dich deine Schwestern auch necken und dich verlachen mögen, beachte sie nicht. Laß ihr
Gerede an dir abprallen. Ich werde in den Kleidern eines Ritters in die Arena hinabsteigen und alle im Wettstreit übertreffen.« Das Rennen begann. Die Reihen der Wettkämpfer formierten sich und machten sich bereit. Die Prinzessin saß bei ihren Schwestern, deren Ehemänner alle zum Kräftemessen angetreten waren. Die Schwestern begannen miteinander zu tuschein und zu kichern. »Schau, deinen Mann, den reitet unser Vater«, stichelten sie. »Sieh dir dagegen unsere Männer an.« Lapislazuli würdigte sie keiner Antwort. Der Wettlauf begann und Lapislazulis Gemahl lag allen anderen um Längen voraus, ihm folgte der König. Die Schwestern trieben ihre Hänseleien immer ärger, aber sie ertrug es. Ihr Gemahl lag stets in Front und am Ende trug er den Sieg davon. »Mein Mann ist der Sieger«, brach ein Jubelschrei aus Lapislazuli heraus, nachdem ihre Schwestern sie so sehr in die Enge getrieben hatten. Als Lapislazuli wieder in die Runde blickte, war Ritter Seepferd nicht mehr zu sehen. Er war bei ihren Worten verschwunden. Das Mädchen hob an, zu klagen und zu weinen, kleidete sich in tiefes Schwarz und trauerte sehr. Ihr Vater empfand großes Mitleid mit Lapislazuli und tat schier Unmögliches, damit sie ihren Frieden wieder fände. Er ging bei ihr ein und aus, um ihr Trost zuzusprechen. »Meine Tochter, es ist niemand hier.« Mit jedem Tag verfiel Lapislazuli mehr und mehr, bis sie nur noch Haut und Knochen war. Ihrem Vater schwanden die Sinne, als er sie in diesem Zustand sah. »Verlang von mir, was du willst und wünschst«, sprach er immer wieder zu ihr, »damit ich dir den Sieger über deinen Mann bringe.« Doch nur sie wußte, daß Seepferd auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Lapislazuli fing an, eine öffentliche Badestube zu betreiben, in der sie den lieben langen Tag saß. Niemand wurde eingelassen, ehe er nicht dem Mädchen eine Geschichte erzählt hatte, damit ihre Sorgen verflögen. Tag für Tag kamen von
fern her ins Bad arme Leute mit Geschichten. Eine Frau und ihre Tochter waren seit langem nicht mehr im Bad auf dem Basar. »Gleich nach dem Morgengebet wollen wir aufbrechen«, verabredeten sie sich. »So sind wir zeitig dort und schaffen auch den Heimweg.« In dieser Nacht schliefen sie nur kurz. Als die Mutter zur Tür hinausschaute, war alles vom Vollmond taghell erleuchtet, daß sie glaubte, die Sonne sei bereits aufgegangen. Rasch weckte sie die Tochter, und sie machten sich auf den Weg. Bald wußten sie, daß nur der Mond schien, aber es dauerte nicht mehr lang, bis der Tag anbrechen mußte. »Laß uns noch ein wenig ruhen«, schlug die Mutter vor, als sie auf eine Lichtung traten, auf der sich ein stattlicher Baum erhob. »Wenn es tagt, gehen wir weiter.« Darauf legten sich beide in das Dunkel seiner Zweige nieder. Bei Sonnenaufgang erwachten sie durch eine Stimme. »Erde sei benetzt und gefegt. Ihr Stühle, rasch seid aufgereiht. Tisch steh auch du bereit.« Und siehe da, in der Nähe von Mutter und Tochter wurde der Boden mit Wasser besprengt und gefegt sowie Stühle um einen Tisch aufgestellt. An dessen Stirnseite stand ein hoher Lehnsessel, in dem ein Mann saß. »O Ostwind, o Westwind, grüßt mir Lapislazuli ihr zwei, die mir mein Herze brach entzwei«, flehte er mit schwermütiger Stimme. Dabei rannen dem Mann die Tränen in Strömen herab. Wenig später erschienen seine Gefährten und ließen sich auf den Stühlen nieder. Sie aßen gemeinsam und unterhielten sich ungezwungen. Dann erhoben sie sich wieder und gingen ihrer Wege. Mutter und Tochter hatten sich all die Zeit unter dem Baum verborgen gehalten. »Bei Allah, diese Geschichte werden wir der Prinzessin erzählen«, rief die Mutter froh aus. »Alles was recht ist, es gibt keine ergreifendere.«
Beide liefen nun schnurstracks zur Badestube. Beim Eintreten trafen sie des Königs Tochter an. Die wollte aber diesmal gar keine Geschichte hören. »Ach, mein Herz ist übervoll mit Geschichten«, wehrte sie ab. »Tretet ein und wascht und reinigt euch nach Herzenslust! Ich möchte nicht, daß ihr mir als Obolus etwas erzählt.« Mutter und Tochter redeten lange auf die Prinzessin ein. »Es ist aber nur eine kurze Geschichte«, bettelten sie, bis Lapislazuli ihnen schließlich doch ihr Ohr lieh und die beiden ihr Erlebnis berichteten. »Das ist die lautere Wahrheit, genauso hat es sich zugetragen«, schlossen die aufgeregten Erzählerinnen. Die Prinzessin ließ sich von jener Alten noch einmal den Tischherren beschreiben, den sie als ihren Gemahl erkannte. »Bei Allah, tretet unverzüglich in das Bad und laßt euch waschen«, rief sie und holte für die beiden noch schöne Gewänder aus ihrer Garderobe. Voller Ungeduld wartete Lapislazuli, bis die beiden Frauen endlich das Bad verließen. »Ich möchte euch begleiten«, sprach die Prinzessin sie an, »damit ihr mir den Weg zu jenem Ort weist, wo euch die seltsame Geschichte widerfahren ist.« So liefen sie zu dritt zu der bewußten Stelle und warteten, bis die Zeit heran war. Lapislazuli konnte es kaum erwarten, als plötzlich jener Mann wie von Geisterhand gerufen dastand. »O Ostwind, o Westwind, grüßt mir Lapislazuli ihr zwei, die mir mein Herze brach entzwei«, begann er, wie beim vorigen Mal zu flehen, worauf er sich auf seinen Sessel setzte und weinte. Lapislazuli erkannte Seepferd sofort. Aber sie wartete ab, bis er und seine Gesellschaft allerlei Kurzweil trieben, und sprang dann unter seinen großen Armstuhl, der sie keinem Auge preisgab. Nur er hatte sie bemerkt. Von diesem Augenblick an hatte er keinen sehnlicheren Wunsch, als daß seine Gefährten abzögen, damit sie die Prinzessin nicht entdeckten. Er ließ alle vorangehen, wobei er sich absichtlich verspätete. »Wie hast du
hierher gefunden«, wunderte er sich, als Lapislazuli hervorgekommen war. Die Prinzessin berichtete ihm, was ihr widerfahren war: wie sie eine Badestube gegen Geschichten als Eintritt betrieben hatte, bis ihr Allah diese Frau sandte, die jene Geschichte erzählte, die sie hierher führte. »O Lapislazuli, heute soll meine Hochzeit sein. Meine Familie hat mich der Tochter meiner Mutterschwester verlobt«, seufzte er. »Unmöglich, ich will mit dir gehen«, warf sie ein. »Wohin willst du denn gehen, Lapislazuli?« fragte er mutlos. »Meine Mutter und all meine Verwandten sind doch Ghule. Sie würden dich fressen.« Die Prinzessin war von ihrem Vorsatz aber nicht abzubringen. »Und wenn schon, laß sie mich fressen. Ich will mit dir gehen und dich nie mehr verlassen.« Da sah er sich gezwungen, sie mit sich zu nehmen. »Sobald ich dich zu meiner Mutter geführt habe, wünsche ihr: ›Friede sei mit dir, Großmutter Ghula!‹« riet er ihr. »Dann eile, um von ihren Brüsten zu trinken. Sie wird dir antworten: ›Wäre nicht zuerst dein Gruß gekommen, bevor ich noch ein ander Wort vernommen, hätte ich dich zu Tode gehetzt und dir das Fleisch von den Knochen gefetzt. ‹ Tust du nicht, wie dir geheißen, frißt sie dich auf der Stelle. Wenn sie wissen will, wer dich zu ihr geführt hat, hüte dich, es ihr zu verraten.« Dann ließ er sie aufsitzen und brach mit ihr ins Land der Ghule auf. Als sie in sein Dorf kamen, ließ er sie absteigen und ging seiner Wege, während sie geradewegs auf sein Elternhaus zuschritt. Als sie davor stand, begann sie, mit liebreizender Stimme zu singen: »O Tür, o Tür, mich hat verwirrt die Liebe zu dem, der in der Ferne ist ab heut. Mit meinem Gruße sage ihm: Ach gäb’s doch keine Sorge mehr! O Tür, o Tür, mich hat verwirrt die Liebe zu deinen Leut’! Bei Allah, ja, nun ist’s soweit, daß ich die Schwelle überquer.« Die Ghula hörte die süße Weise und
tat das Tor auf. Lapislazuli war nicht faul, beugte sich unverzüglich über deren Brüste und saugte daran, dann grüßte sie des Liebsten Mutter. »Wäre nicht zuerst dein Gruß gekommen, bevor ich noch ein ander Wort vernommen, hätt’ ich dich zu Tode gehetzt und dir das Fleisch von den Knochen gefetzt«, erwiderte die Ghula und trat mit Lapislazuli in die Stube. »Es riecht nach Menschenfleisch«, raunten sofort die Ghule und drängten heran, um zu sehen, wer gekommen sei. »Lapislazuli, heute hält mein Sohn Hochzeit und wir wollen ihm diese Nacht die Braut zuführen. Nimm den Besen und fege die Kammer«, trug ihr sogleich die Ghula auf. Sie gab dem Mädchen allerdings nur einen winzig kleinen Besen und zum Staubwischen einen ebenso kleinen Wedel. »Die Stube ist voller Perlen. Sollte dir auch nur eine Perle herunterfallen, fresse ich dich.« Lapislazuli nahm Besen und Wedel, dann weinte sie bittere Tränen. Ihr Gemahl befahl indessen seinem Geistergefolge, die Kammer zu kehren und Staub zu wischen, was so geschwind ging, daß nach kaum einer Viertelstunde das Zimmer blütenrein war. Der König der Ghule reichte Lapislazuli Besen und Wedel zurück. »Geh nun zu meiner Mutter und sag ihr, daß du fertig bist.« »Tante Ghula, die Kammer ist bereit. Erheb dich und sieh sie dir an«, rief sie der Alten zu. Die Ghula beäugte argwöhnisch das Gemach, doch keine Perle war zu Boden gefallen. »Hm, hm, das ist nicht dein Werk«, brummte sie. »Das ist das Werk meines Sohnes, du Biest.« Nun raffte die Ghula all ihre schmutzige Wäsche und die ihrer Töchter zusammen und schleppte sie zu der armen Lapislazuli. Sie gab dem Mädchen nur ein winzig kleines Stück Seife und führte es an den Fluß. »In einer Stunde will ich die Wäsche schneeweiß gewaschen haben, sonst fresse ich dich«, sagte die garstige Alte. Lapislazuli begann zu weinen, daß ihr die Tränen in Strömen die Wangen hinabrannen. Die
Ghule fletschten unterdessen schon die Zähne, weil sie die Prinzessin zu fressen hofften. Kaum war das Mädchen zwei Schritte gegangen, als es unter der Last der Wäsche fast zusammengebrochen wäre. Da plötzlich war wieder der Liebste an ihrer Seite, der umgehend seiner Dienerschaft anwies, die Wäsche zu waschen. »Hab noch ein wenig Geduld«, bat er sie, als sie sich über seine Mutter beklagte. Die Wäsche war im Handumdrehen gewaschen, gebügelt und gelegt. »Nun eile und bringe alles der Ghula«, verabschiedete sich Seepferd. Hilfreiche Geister trugen ihr den Wäscheberg bis in die Nähe des Hauses, wo Lapislazuli den Stoß übernahm und in die Kammer trat. »Hier Tante Ghula, nimm! Ich habe alles gewaschen, aufgehängt, gebügelt und gelegt«, sagte das Mädchen. »Zeig her!« knurrte die Alte und besah sich staunend die blütenweiße Wäsche. »Du Menschenkind, das hier ist nicht dein Werk, das war mein Sohn. Ich werde es dir schon noch zeigen. Geh jetzt zu meiner Schwester in der und der Gasse und borge das Sieb aus!« Dabei hoffte sie, daß ihre Schwester Lapislazuli den Garaus mache. Dem ahnungslosen Mädchen erschien auf halbem Wege der Geliebte. »Hör gut zu«, sprach er auf sie ein. »Wenn du zu meiner Tante kommst, eile auf sie zu und sauge an ihren Brüsten, dann entbiete ihr den Gruß. Nimm diese Schere und schneide ihr die Nägel sowie diesen Kamm, mit dem du ihr die Haare auskämmst und entlaust. Danach erst nimm das Sieb und kehre zurück.« Als Lapislazuli zur Schwester der Ghula gelangte, griff sie geschwind nach deren Brüsten, die sie über die Schultern auf den Rücken geworfen hatte, und saugte und trank daran. »Friede sei mit dir, Großmutter Ghula«, grüßte das Mädchen anschließend. »Friede sei auch mit dir«, antwortete die Dämonin. »Wäre nicht zuerst dein Gruß gekommen, bevor ich noch ein ander Wort vernommen, hätt’ ich dich zu Tode gehetzt und dir das Fleisch von den Knochen gefetzt.« Sodann
ergriff die Prinzessin die Finger der Alten und verschnitt ihr zuerst die Nägel an den Händen und dann an den Füßen. Zuletzt nahm sie den Kamm und kämmte ihr die Schuppen aus und knackte die Flöhe und Läuse, bis das Haar der Alten vollkommen sauber war. »Woher kommst du Menschenkind? Was hat dich in unser Land geführt«, erkundigte sich die Ghula. »Großmutter Ghula, deine Schwester will von dir das Sieb. Leih es ihr!« übermittelte Lapislazuli. Die Alte gab ihr das Verlangte, und das Mädchen lief zur Mutter des Geliebten zurück. »Was denn, meine Schwester hat dir gar nichts angetan?« wunderte sich jene und brummte. »Hm, hm, ich werde es dir schon noch zeigen.« Der Tag neigte sich inzwischen seinem Ende zu und die Ghule fanden sich einer nach dem anderen zur Hochzeit ein. »Lapislazuli, nimm diese zehn Kerzen und setze auf jeden Finger eine!« befahl die alte Ghula. »Wir wollen im Bad die Braut herausputzen.« Die Prinzessin betrachtete die Ghule, von denen eine jede ihre Haare mit Olivenöl getränkt hatte und wild zerzaust zu Berge stehen ließ. Auch die Braut hatte ganz struppige Haare und ihre Augen schielten. Lapislazuli trat in eine zweite Kammer und versuchte mit Wachstropfen den Kerzen auf den Fingern Halt zu geben, aber es gelang ihr nicht. Wie aus dem Nichts erschien der König der Ghule, der ihr die Kerzen an den Fingern befestigte. »Befrei mich von all dem«, bat sie ihn. »Wenn du jetzt wieder eintrittst, um die Braut schmücken zu helfen, drück ihr die Kerzen ins Haar und setz es in Flammen. Während die Ghule zu löschen versuchen, komme ich, dich zu holen, und wir fliehen gemeinsam.« Lapislazuli trat nun an die Braut heran und half, sie zu putzen. Den Ghulen lief ob des Menschengeschöpfs das Wasser in den Mäulern zusammen und sie fletschten ihre Zähne. Nichts als das Mädchen zu fressen war ihr Sinnen und Trachten. Die Prinzessin machte alsdann die Ghule singen und tanzen und in einem
unbeobachteten Augenblick steckte sie der Braut die brennenden Kerzen ins Haar. Sofort schossen die Flammen in die Höhe, und die Ghula hob laut zu schreien an. Lapislazuli eilte zur Tür, während die Ghule damit beschäftigt waren, die Braut zu löschen. Wie aber sollten sie das Feuer ersticken, wo es doch schon lichterloh brannte. Da kam der König der Ghule herangeschwebt, nahm Lapislazuli auf und schwang sich mit ihr in die Lüfte. Über fremde Länder hinweg waren sie im Nu in der Heimatstadt der Prinzessin, wo ihre Familie in tiefer Sorge lebte, nachdem sie ohne jedes Zeichen verschwunden war. Ihre Mutter war sogar vor Gram erblindet. Gleich nach ihrer Ankunft trat Lapislazuli vor ihren Vater und grüßte ihn. Vor Freude sprang der Vater auf. »Wer ist das, Tochter?« erkundigte er sich bei Lapislazuli nach dem schönen Mann, der sie begleitete. »Das ist Seepferd, mein Gemahl«, erwiderte sie und berichtete alles, was ihr zugestoßen war. Dann trat Lapislazuli in das Gemach der Mutter und grüßte auch sie. »Wer bist du?« fragte jene. »Ich bin Lapislazuli, Mutter.« Von dem Augenblick an, in dem sich das Mädchen zu erkennen gegeben hatte, konnte die Mutter wieder sehen. Aller Jubel begann von neuem. Eine großartige Hochzeit wurde gefeiert. Gäste wurden geladen und sieben Tage aß und trank jedermann nur auf Kosten des Sultans. Und Lapislazuli und Seepferd erfreuten sich aneinander. An diesem Punkte in der Mär verließ ich sie und kam hierher.
Daus, daus – die Geschichte ist aus. Mit holden Wonnen, Seligkeit und Glück versüße Allah der Hörerschaft Geschick.
Der Apfel und der Ifrit
Man erzählt, daß in alter Zeit ein König lebte, der drei Söhne hatte: Ahmed, Mohammed und Aladin. Dieser König besaß einen großen Garten, in dem ein Apfelbaum wuchs, der jedes Jahr nur eine einzige Frucht hervorbrachte. Zu der Stunde, in der jener Apfel ausreifte, erschien des Nachts ein Ifrit und stahl das Obst. Eines Tages trug es sich zu, daß der König sein Augenlicht verlor. Die Ärzte waren machtlos, sie vermochten nicht, den Herrscher von seiner seltsamen Krankheit zu heilen. Ein gottesfürchtiger Scheich suchte den blinden Herrscher auf. »Die Medizin für dich, o Herr«, sprach der weise Mann, »findest du in deinem eigenen Garten. Dort steht ein Apfelbaum, der im Jahr nur einen Apfel reifen läßt. Riechst du an diesem Apfel, wirst du von deinem Gebrechen genesen und dich wieder deines Augenlichts erfreuen können.« Der König wartete, bis der Apfel nahezu reif war. Dann trug er seinem ältesten Sohn, Ahmed, auf, des Nachts den Apfel vor dem Zugriff des bösen Erdteufels zu schützen. Aber kaum war Mitternacht herangerückt, als den Prinzen der Schlummer übermannte. Der Ifrit war nicht säumig, er huschte rasch heran, brachte den Apfel an sich und machte sich von dannen. Als Ahmed am anderen Morgen erwachte, war der Apfel verschwunden. Niedergeschlagen kehrte er zu seinem Vater zurück. Im darauffolgenden Jahr trug der König seinem mittleren Sohn Mohammed die Wache an dem Baum auf, um den teuren Apfel vor dem Zugriff des Geistes zu schützen. Mohammed aber erging es nicht besser als Ahmed. Auch ihn überkam der
Schlaf, und der Ifrit schlich erneut heran, um den Apfel zu rauben. So mußte auch Mohammed unverrichteter Dinge und zutiefst betrübt vor den Vater treten. Im dritten Jahr betraute der Herrscher den jüngsten Sohn, Aladin, mit dem Schutz des Apfelbaums. Aladin nahm seinen Dolch und fügte sich an der Hand eine Wunde zu, in die er noch Salz streute, wovon seine Hand vor Schmerzen so brannte, daß er kein Auge zu schließen vermochte und dadurch munter und wachsam blieb. Als Mitternacht verstrichen war, stahl sich der Ifrit an den Apfel heran. Aladin zückte sein Schwert und hieb ihm den Kopf ab, daß er auf der Stelle tot war. Bei Tagesanbruch trug Aladin stolz den Apfel zu seinem Vater, der, so wie er den süßen Duft der Frucht einsog, unverzüglich genas und sein Augenlicht wiedererlangte. Der König küßte und dankte Aladin und verzichtete zu dessen Gunsten auf den Königsthron.
Daus, daus – die Mär schaut aus eurer Bluse heraus.
Fatima und der Hahn
Man erzählt sich, daß einst drei Mädchen Schafwolle spannen und zu Stoff verwoben. Jeden Tag lief eine von ihnen in die Stadt, um das Ergebnis ihrer Mühen feilzubieten und von dem Erlös etwas Fladenbrot und Käse zum Leben zu kaufen. Als eines Tages Fatima, die Jüngste, an der Reihe war, lief sie wie gewöhnlich auf den Basar, beladen mit dem von ihnen allen gewobenen Stoff. Einem Mann fiel sie ins Auge, der ihr kurzerhand das Tagewerk abnahm und der jüngsten Schwester dafür nur einen Hahn in die Hand drückte. Dann eilte er davon, ohne ihren Einwänden und Bitten auch nur Gehör zu schenken. Fatima begann zu weinen, denn woher sollte sie das nötige Geld nehmen, um Brot und Käse für sich und ihre Schwestern zu kaufen. Niedergeschlagen und traurig ging sie nach Hause, fand aber nicht den Mut zum Eintreten, weshalb sie sich neben der Tür auf dem Boden niederließ. Als Fatimas Verspätung die Schwestern beunruhigte, trat eine aus dem Haus, um die Jüngste suchen zu gehen. Dabei stieß sie auf das Mädchen, das neben der Tür hockte. Als jene wissen wollte, was geschehen sei, zeigte Fatima ihr den Hahn und erzählte alles. Ein Mann habe ihr nur den Hahn gegeben und sei davongeeilt, ohne ihr Geld bezahlt zu haben, von dem sie Brot und Käse hätte kaufen können. Beide Schwestern packte der Zorn. Sie schalten Fatima und sperrten sie zur Strafe mit dem Hahn in eine winzige Kammer. Gegen Mitternacht erwachte Fatima von einem seltsamen Geräusch und erblickte etwas Glitzerndes neben dem Hahn. Angst beschlich das Mädchen, und es begann, nach ihren Schwestern zu rufen, die nicht antworteten. Aber weil es nicht
zu schreien aufhörte, regte sich das Mitleid der Mittleren. Sie erhob sich von ihrem Lager und schloß die Kammertür auf. Dort fand sie einen großen Edelstein, den der Hahn gelegt hatte. Die Mittlere eilte zur Ältesten, rüttelte sie wach und zeigte ihr das kostbare Juwel. Jubelnd fielen sich die drei Schwestern in die Arme und küßten einander inniglich. Am anderen Morgen liefen sie zu einem Juwelier und verkauften den Diamanten für einen Batzen Geld. Der Hahn legte von nun an immerfort kostbare Steine, und die Schwestern verkauften sie an den Goldschmied. Bald hatten sie einen gewaltigen Reichtum zusammengetragen. Der mißgünstigen Vaterschwester der drei Mädchen kam die Geschichte von dem Wunderhahn zu Ohren, so daß sie von heftigster Begierde ergriffen wurde. Eines Nachts stahl sie sich in die Hütte der drei und schlich zu dem unersetzlichen Hahn, dem sie aus purem Neid den Hals umdrehte. Als Fatima und ihre Schwestern am anderen Tag erwachten, fanden sie ihren Hahn tot vor. Wie traurig waren sie da, als sie das Tier in ein Grab im Garten ihrer Behausung betteten. An eben dieser Stelle sproß wenige Tage später ein Rebstock, der goldene Weinbeeren trieb. Wieder zog Freude bei den Mädchen ein, die das Gold von der Rebe pflückten und verkauften. Die böse Tante erfuhr auch von dem Wein. Erneut drang sie im Schutz der Nacht in den Garten ein und hieb die seltene Pflanze ab. Als der Morgen graute, fanden die drei Schwestern ihren Wein abgeschnitten am Boden. Voller Trauer nahmen sie das tote Gewächs und übergaben es dem Meer. Unvermittelt verwandelte sich der Rebstock in ein mächtiges Schiff, das mit Waren auslief und mit reichem Gewinn zurückkehrte. Der Tante blieb auch der Segler nicht verborgen, den zu versenken sie kam. Doch bevor das Meer den Segler verschlang, sprach er zu dem bösen Weib: »Ich war der Hahn, den du erwürgtest, ich war die Rebe, die du geschnitten, ich
ward zu diesem Schiff, das du zerstörtest, kikeriki.« Sodann zog es die Alte fest an sich heran und versank mit ihr in den Wogen. Die drei Schwestern konnten nun trotz allem ein sorgenfreies Leben mit dem großen Reichtum führen, der ihnen zuvor zuteil geworden war.
Daus, daus – Die Mär schaut aus eurer Bluse heraus.
Hassan und der Rote König
Es war einmal, es war keinmal, verehrte Hörerschaft im Saal, so bringe ich euch nunmehr dar, was einst in fernen Zeiten war. Es lebte einmal ein König, der hatte drei Söhne. Der älteste hörte auf den Namen Aladin, der mittlere hieß Madschd adDin und der jüngste wurde Hassan gerufen. Eines Tages sank der König krank darnieder, aber obwohl ihm sein Leiden immer ärger zusetzte, konnten alle Ärzte Bagdads kein Heilmittel finden. Nun kam dem König zu Ohren, daß ein indischer Arzt kürzlich nach Bagdad gekommen war, den er zu sich rufen ließ. Nachdem jener den Herrscher untersucht hatte, traten auf das Antlitz des Arztes die Zeichen des Bedauerns und der Trauer. »Du kannst unmöglich von dieser bösartigen Krankheit genesen, o königliche Hoheit«, sprach der Inder dann, »wenn du nicht eine Karaffe mit Lebenswasser herbeischaffen kannst, das nur auf der Koralleninsel zu finden ist. Dorthin kann nur ein kühner Recke gelangen, dem ein langes Leben beschieden ist.« Aladin tat seinem Vater kund, daß er selbst zur Koralleninsel fahren und das Lebenswasser holen werde. Aber der König verweigerte ihm seine Zustimmung und versuchte, ihn von seinem Entschluß abzubringen, indem er seinem Sohn ausmalte, von welchen Gefahren und Verderbnissen sein Weg gesäumt sein würde. Aladin jedoch beharrte auf seinem Vorhaben, zur Koralleninsel zu ziehen. Schon tags darauf
bestieg er sein Pferd und brach auf, nachdem er sich mit einem Beutel voll Gold und einem voll Silber versehen hatte. Nachdem er eine achtbare Wegstrecke zurückgelegt hatte, fühlte er sich müde und zerschlagen. Er stieg von seinem Hengst und ließ sich auf einem Felsbrocken nieder, um ein wenig auszuruhen und sich zu stärken. Aladin breitete seine Wegzehrung vor sich aus, als vor ihm die Erde auseinanderklaffte und ein angsteinflößender weißer Hund hervortrat und sich vor den Prinzen stellte. »Gib mir von deinem Mahl zu fressen!« knurrte der Hund. Aladin, nicht faul, griff beherzt nach seinem Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne, um das Tier zu töten. Der Hund ergriff unter schrecklichem Bellen die Flucht. Der Prinz schwang sich wieder in den Sattel und zog seines Weges, der ihn wenig später an eine Stelle führte, an der sich der Pfad dreifach gabelte. Am ersten Abzweig stand geschrieben ›Zur Goldstadt‹, am zweiten ›Zur Silberstadt‹ und am dritten ›Pfad in den Tod‹. Aladin wählte kurzerhand den Weg in die Goldstadt und ritt weiter. Nach einiger Zeit gewahrte er ein gewaltiges Schimmern, als wenn am Horizont eine riesige Perle leuchtete. Bald tat sich vor Aladin eine große Stadt auf, die so hell und grell wie die Sonne erstrahlte. All ihre Häuser waren aus purem Gold, das noch mit Perlen und Juwelen verziert war. Das Wasser zwischen den Gärten floß in goldenen Rinnen dahin, und die Kiesel am Grund waren Perlen und Edelsteine. Der Ort und das Leben ihrer Bürger beeindruckten den Prinzen dermaßen, daß er die Goldstadt nicht mehr verlassen wollte und sich ganz ihren Annehmlichkeiten hingab. All seine Schätze, die er mitgebracht hatte, begann er in den Schankstuben und an den Spieltischen zu verschleudern, bis er mit leeren Händen dastand. So mußte sich Aladin schließlich als Lohnbursche in einem Kaffeehaus verdingen, um seinen Lebensunterhalt
fristen zu können. Monate waren verstrichen, ohne daß Aladin zurückgekehrt wäre. Der Gesundheitszustand des Königs war noch bedenklicher geworden. Als jener die Hoffnung auf die Rückkehr seines ältesten Sohnes begraben hatte, erklärte Madschd ad-Din, daß nun er ausziehen werde, um das Lebenswasser von der Koralleninsel herbeizuschaffen. Keine Warnung des kranken Vaters fruchtete und auch kein Versuch, dem Prinzen die Reise zu untersagen. Madschd ad-Din schnürte sein Bündel und bestieg sein Pferd, nachdem auch er je einen Beutel Gold und Silber an sich genommen hatte. Dann schlug er den Weg ein, den zuvor schon Aladin gewählt hatte. Als der mittlere Bruder vom langen Reiten ermattet war, stieg er von seinem Hengst und setzte sich auf ebendemselben Felsbrocken zur Ruhe, auf dem sich schon Aladin erholt hatte. Genau wie jener breitete Madschd ad-Din seine Wegzehrung aus und begann zu essen, als sich die Erde auch vor ihm spaltete und der weiße Hund hervorsprang. »Gib mir von deinem Mahl zu fressen!« verlangte das Tier. Madschd ad-Din faßte aber nach Pfeil und Bogen, um den Hund zu erlegen. Der suchte das Weite und ließ ein schreckliches Heulen erschallen. Wenig später gelangte Madschd ad-Din an jene Weggabelung, wo er sein Pferd zur Silberstadt lenkte. Je näher er ihr kam, desto stärker kündigte sie sich ihm mit einem Leuchten an, daß man hätte glauben können, sie sei der Vollmond selbst. Alle Häuser und Bauten waren aus edelsteinverziertem Silber. Die Läufe der Flüsse waren ebenso aus Silber, wie ihre Kiesel Perlen und Korallen. Die Stadt zog den Prinzen so heftig in ihren Bann, daß es ihn darin zu leben verlockte. Er genoß es in vollen Zügen, bis er gleich dem älteren Bruder sein ganzes Geld und Gut in Schenken und beim Glücksspiel vergeudet hatte. Dann verdingte er sich als Lohnbursche in einem Gasthaus, um überhaupt ein Auskommen zu haben. Wieder waren Monate vergangen und
der König hatte alle Hoffnungen auf die Rückkehr von Aladin und Madschd ad-Din begraben. Sein Leiden aber setzte dem Herrscher ärger denn je zu, so daß sich Hasan entschloß, sein Glück zu versuchen. Den Bitten des Vaters, doch zu bleiben, weil er sich Gefahren aussetzen würde, schenkte er kein Gehör. Der Jüngling rüstete sein Reisegepäck und nahm wiederum jenen Weg, den zuvor seine Brüder eingeschlagen hatten. Als Hassan vom Reiten ermüdet war, legte er eine Rast auf dem Stein ein, auf dem schon seine Brüder zum Ausruhen gesessen hatten. Als er seine Mahlzeit ausgebreitet hatte und sich zu essen anschickte, erschien auch ihm der weiße Hund. »Gib mir von deinem Mahl zu fressen!« knurrte das Tier. Hassan fuhr der Schreck in die Glieder, dennoch lud er den Hund ohne Umschweife ein, mit ihm sein Mahl zu teilen. Jener kam heran und schlang hastig die Happen hinunter, während Hassan ihn aus Furcht nicht aus den Augen ließ. Als der Hund seinen Teil verschlungen hatte, blickte er freundlich auf Hassan. »Der Rote König dankt dir«, sprach er. »Er rät dir, den ›Pfad in den Tod‹ einzuschlagen.« Darauf verschwand er so urplötzlich, wie er erschienen war. Nachdem Hassan sein Pferd wieder bestiegen hatte, kam er wenig später auch an die nämliche Weggabelung und sann nach, welchen Weg er wohl nehmen sollte. Dem Rat des Roten Königs folgend wählte er den ›Pfad in den Tod‹. Während der Prinz dieser Richtung folgte, schien es ihm, die Stimmen seiner Brüder und die des Vaters zu hören, konnte aber niemanden erblicken. Als Hassan die Hand zu einer wunderschönen Blüte ausstreckte, um sie zu pflücken, verschwand diese plötzlich, und es erscholl ein lautes Lachen von der Stimme Aladins. Dann schwoll rings ein Schreien an. Als er sich hastig umschaute, sah er eine tanzende Blume, die mit der Stimme von Madschd ad-Din nach ihm rief. Als sich der Prinz der Blume näherte, verschwand sie ebenfalls unter hallendem Gelächter.
Hassan wußte nicht mehr ein noch aus. Sein Blick war an die ihn umgebenden Blüten geheftet, als sich der Boden vor ihm auftat und der weiße Hund hervortrat. Er bot Hassan an, ihn auf seinem Rücken zur Koralleninsel zu bringen. Kaum hatte der Jüngling den Hund voller Furcht und Zögern bestiegen, als der Rote König unverzüglich davonflog und schneller als ein Blitz mit Hassan durch die Wolken schoß. Vor einem stattlichen Palast aus Gold, Silber und Edelsteinen landete der Hund. »Gehe jetzt in den Palast hinein«, verkündete der Rote König nun. »Dort kommst du in einen riesigen Saal, in dem eine wilde Horde Teufel lagert. In ihrer Mitte thront ein Teufel namens Ashtarot. Sobald du eingetreten bist, stelle dich in ihre Mitte und schrei: ›Ashtarot, sei tot!‹ worauf alle Teufel leblos zu Boden sinken werden. Dann ergreifst du eine vor Ashtarot auf der Tafel stehende Karaffe und eilst zu mir zurück. Hüte dich aber, etwas anderes als die Flasche an dich zu nehmen, so sehr dir auch der Sinn danach stehen mag.« Mutig schritt Hassan durch den Palast in den Saal der Teufel. »Ashtarot, sei tot!« schrie er, kaum daß er in ihrer Mitte stand, worauf alle wie tot zu Boden sanken. Hassan griff nach der Karaffe und kehrte um. Bevor er aber den Saal verließ, fiel sein Blick auf eine Perlenkette, zu der er näher herantrat. Er steckte sie in seine Tasche und trat hinaus. Doch noch bevor er den Roten König erreichte, ereilten ihn mehrere Teufel, die ihn packten und zurück vor ihr Oberhaupt Ashtarot schleppten. »Was willst du?« herrschte er Hassan an. »Wer hat dich hierher gebracht?« Und der Prinz erzählte Ashtarot seine Geschichte. Wie er den Namen des Roten Königs erwähnte, warfen sich alle Teufel vor ihm nieder. »Ich lasse in deinem Falle aus Ehrfurcht vor dem Roten König Gnade walten«, entschied Ashtarot. »Jedoch erhältst du nicht eher von dem Lebenswasser, bevor du mir nicht die Tarnkappe bringst.« Hassan verließ den Palast und der Hund schaute ihn finster und voller Zorn an. »Bis zu dieser
Stunde hat noch kein Mensch und kein Teufel dem Roten König den Gehorsam versagt. Ich werde dich zur Strafe für deine Eigenmacht in kleine Fetzen hauen, denn ich hatte dir aufgetragen, nichts außer der Karaffe zu nehmen.« Da weinte Hassan und suchte, den Roten König versöhnlich zu stimmen, und bat ihn, diesmal noch Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Der Hund vergab dem Jüngling und versprach obendrein, daß er ihm helfen werde, die Tarnkappe zu holen. Der Prinz kletterte wieder auf den Rücken des Hundes, der mit ihm hoch hinauf flog und die Lüfte durchschnitt. An einer großen Grotte setzte er Hassan ab. Aus der Höhle sollte der Prinz die Tarnkappe holen. Zuvor warnte er aber den Burschen, daß er sich hüten solle, das liebreizende Mädchen im Innern der Grotte zu berühren. Am Eingang stieß Hassan auf einen Löwen, vor dem ein Maß Gerste stand, und einen Hengst, dem ein Stück Fleisch vorgelegt war. Der Prinz trug die Gerste zum Pferd und das Fleisch zum Löwen, erst dann betrat er die Grotte. Wie er ihre Mitte erreicht hatte, erblickte er ein wunderschönes Mädchen, das auf ihn zukam. Auf ihrem Kopf trug sie die Tarnkappe. Als sie vor ihm stand, neigte sie ihr Haupt herab und Hassan ergriff die Zauberkappe. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging. Da nun aber sein Herz dem Mädchen zugetan war und sie dazu noch zärtlich nach ihm rief, zögerte er ein wenig und wandte sich schließlich doch um. Das Mädchen streckte verlangend seine Arme nach ihm aus, so daß er ihm die seinigen entgegenstreckte und nach der Schönen griff. In diesem Augenblick verwandelte sie sich in eine häßliche Dämonin, die Hassan am Hals packte und zu erwürgen trachtete. Zu seinem Glück retteten ihn Pferd und Löwe, die ihm seine gute Tat vergolten, als er einem jeden sein Futter vorgelegt hatte. Da ließ die Dämonin von Hassan ab, entriß dem Burschen aber die Tarnkappe. »Du wirst die Tarnkappe nicht eher bekommen, bis du mir die Große Perle
bringst«, dröhnte ihre Stimme. Hassan ging zurück zum Roten König, der ihn im wildesten Groll anstarrte, weil der Prinz erneut sein Gebot verletzt und das Mädchen berührt hatte. Hassan indes bat und bettelte den Hund, daß jener ihm noch einmal verzeihen möge. Der Rote König vergab ihm schließlich nochmals und hieß ihn auf seinen Rücken steigen. Der Hund erhob sich in die Lüfte und überflog die Wolken, bevor er an einem Brunnen landete. »Laß dich nun in den Brunnen hinab, wo du an einer Wand eine Tür finden wirst. Tritt ein und durchschreite den langen Korridor, der in einen ausladenden Saal mündet. Dort wirst du viele Frauen erblicken, die in zwei Reihen Platz genommen haben. Eine liebreizende Schöne wird auf dich zutreten und dich zur Großen Perle führen. Nimm sie an dich und komme auf der Stelle zurück. Hüte dich, die Gunst deines Herzens auch nur einer von ihnen zu schenken! Dieses Mal werde ich dir nichts nachsehen«, erklärte der Rote König. Hassan stieg hinab in den Brunnen, fand die Tür und durchquerte den Gang, bis er in den großen Saal mit den Frauen kam. Eine der Schönen trat auf ihn zu und führte ihn in einen Winkel des Riesengewölbes, in dem die Große Perle aufbewahrt war. Hassan nahm das edle Juwel und machte stehenden Fußes kehrt, während die Frauen ihn verlangend beim Namen riefen. »Komm her, o Hassan, komm zu uns zurück!« Und wieder schien es, daß er wankelmütig werden würde, als plötzlich die Stimme des Hundes erscholl, der nach ihm rief. Nun eilte der Prinz und brachte die Perle ans Tageslicht. Der Rote König erzählte Hassan von Aladin und Madschd ad-Din, wie sie versucht hatten, ihn zu töten, und wie es ihnen ergangen war, daß sie Lohnburschen in Wirtshäusern waren. Der Hund lud sich darauf Hassan erneut auf den Rücken und flog mit ihm zur Höhle, wo der Jüngling der Dämonin die Große Perle gegen die Tarnkappe gab. Der Rote König flog danach zum Palast der Teufel, in dem Hassan dem
Großmeister Ashtarot die Tarnkappe übergab und dafür die Karaffe mit dem Lebenswasser erhielt. Dann ging es wie der Wind in die Goldstadt. Hassan holte von dort seinen Bruder Aladin und danach aus der Silberstadt Bruder Madschd adDin. Nach getaner Arbeit verabschiedete sich der Rote König von den drei Brüdern, die ihm für seine guten Taten dankten und ihn um Vergebung baten. Dann eilten Aladin, Madschd ad-Din und Hassan nach Bagdad, wo sie ihr Vater voller Freude empfing, obwohl nur noch ein Fünkchen Leben in ihm flackerte. Als er aber von dem Wasser des Lebens getrunken hatte, war er im Nu wieder gesund. Der Vater dankte Hassan und trat dem jüngsten Sohn die Königswürde ab. Er vermählte ihn mit der Tochter des Königs von Indien, Prinzessin Morgenstern, die in einem langen Hochzeitszug zu ihrem Bräutigam kam.
Ab kam der Fingernagel, der zu spitz fürwahr. Man trug ein Festkleid für eintausend Dinar. Sieben Tag’, sieben Nächt’, jeder trank, jeder praßt nur aus des Sultans großem Palast.
Eisenhart und die Ghula
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Wer gesündigt hat, der spricht: ›Allah vergibt!‹, das ist Pflicht. So soll es denn sein. Es lebten einst drei Brüder. Jeder von ihnen bewohnte einen Palast, der sein eigenes Werk war. Der Palast des ersten bestand aus Siebgeflecht, der des zweiten aus Glas und der des dritten aus Eisen, weswegen sie auch Siebflocht, Glashart und Eisenhart geheißen wurden. Über ihr Land herrschte eine menschenfressende Ghula, die den Bewohnern solange nachstellte, bis nur noch die drei Brüder am Leben waren. Da lief die Ghula zu Siebflocht. »Leih mir dein Sieb!« rief sie. »Zieh deiner Wege, ich habe kein Sieb!« wies jener die Ghula ab. »Leih es mir«, tobte die häßliche Alte, »sonst blase ich dich durch die Lüfte und fresse dich danach!« Siebflocht war nicht zu erschüttern. »Puste nur und bläh dich auf. Nichts da, und wenn du selbst in Fetzen gehst und dich immer neu zusammennähst.« Die Ghula drehte sich zum Haus und blies nur ein wenig, doch das Siebhaus wurde hoch durch die Lüfte gewirbelt. »Von wo soll ich dich fressen?« keifte sie, als sie seiner habhaft geworden war. »Du hast mir das Sieb nicht geliehen.« Die Ghula stürzte sich auf Siebflocht, hieb ihn in zwei Hälften und hob zu fressen und zu schlingen an, bis nur noch seine Knochen übrigblieben. Danach lief die Ghula zu Glashart. »He, Glashart«, schrie sie, »leih mir deine Glasbecher!« Aber auch der mittlere Bruder
wies sie ab. »Zieh deiner Wege! Ich habe keine Becher.« Nun tobte die Ghula wieder. »Leih sie mir, sonst wirble ich dich durch die Lüfte!« Glashart gab nicht nach, sondern rief wie sein Bruder: »Puste nur und bläh dich auf! Nichts da, und wenn du selbst in Fetzen gehst und dich immer neu zusammennähst.« Die Ghula blies noch verhalten gegen Glasharts Palast, dennoch zerbarst das Glas in winzige Splitter. Sie drängte auf Glashart ein, zerhieb ihn in zwei Hälften und verschlang ihn. Hernach lief sie nach Hause. »Ich habe Siebflocht und Glashart gefressen«, sagte sie anderntags zu ihrer Tochter Aisha. »O weh, Mutter, nun hast du das ganze Land entvölkert«, klagte das Mädchen. »Laß ab davon!« Doch die Ghula gab nicht nach. »O nein, ich muß noch gegen Eisenhart an.« Ebenjener Eisenhart ahnte die Absicht der Ghula. So hortete er Holz und schleppte den Blasebalg heran. Danach entzündete er ein Feuer und heizte sein Haus auf, bis es wie eine Rose so rot glühte. Wenig später kam die Ghula von fern angemurmelt. »Eisenhart, leih mir dein Beil!« rief sie von draußen. »Zieh deiner Wege!« antwortete der Bursche. »Leih es mir!« tobte die Ghula wieder. »Das ist besser für dich. Besser, als daß ich dich durch die Lüfte puste.« Aber Eisenhart blieb fest. »Pack dich, Alte. Puste nur und bläh dich auf. Nichts da, und wenn du selbst in Fetzen gehst und dich immer neu zusammennähst.« Die Ghula wandte sich um, und wie sie mit voller Kraft blies, blieb sie mit ihrem Hinterteil am heißen Eisen kleben. Sie verbrannte sich gehörig und flog in Fetzen. Da lief sie geschwind zu ihrer Tochter. »Aisha, sei so gut und flick mich zusammen«, bat die Ghula. »Ich habe mich bei Eisenhart so arg versengt.« Die Tochter wunderte sich, warum ihre Mutter dem Burschen derart unnachgiebig nachstellte. Aber am nächsten Tag lief die Ghula schon wieder zu ihm. »Eisenhart«, rief sie, »ich weiß, wo es hier in unserer Gegend Melonen über
Melonen gibt. Erhebe dich, damit wir uns die Melonen gemeinsam schmecken lassen und auf dem Rückweg noch welche mitnehmen.« Aber Eisenhart wollte nicht. »Pack dich! Ich habe reichlich Melonen.« Mit diesen Worten ließ er sie ziehen und, weil er kein Faulpelz, sondern pfiffig war, lief er der Ghula auf einer Abkürzung voraus, die selbst einen langen, langen Umweg eingeschlagen hatte. Eisenhart höhlte auf dem Feld eine Melone aus und ließ darin sein Wasser ab. Dann huckte er sich einen Vorrat für sich auf und verbarg sich in einem Gebüsch. Wie die Ghula kam, blickte sie sich um und fraß gar viele Melonen. Sie geriet dabei etwas in Hitze und ließ sich am Feldrain nieder, wo ihr der Durst zusetzte. Von dort hielt sie Ausschau und erblickte eine Melone mit Wasser, die sie ansetzte und in einem Zug austrank. Danach machte sie sich auf den Rückweg. Eisenhart nicht faul, eilte ihr erneut auf dem kurzen Pfad voraus. In seinem Palast angekommen, schloß er sich ein und heizte ihn auf, bis er wieder glühte. Die Ghula unterdessen schleppte ihre Melonen nach Hause und zog von neuem gegen Eisenhart. »Das hast du nun davon, Eisenhart, weil du nicht mitgegangen bist. Ich habe von den süßesten Melonen gegessen, derer ich hunderte so süß wie Sahneeis fand.« Der Bursche lachte sie dröhnend aus. »Du hast dabei mein Wasser gesoffen«, höhnte er. »Oh, du Verruchter hast mir einen Streich gespielt.« Die Ghula tobte und lief zu Aisha, der sie das Leid klagte, was ihr Eisenhart angetan hatte. Doch zwei, drei Tage später trieb es die Ghula abermals zu Eisenhart. Sein Palast strahlte wie Feuer so heiß, daß sie kaum ein Wort hervorbringen konnte. »Schmerz über dich!« verfluchte sie der Jüngling. »Was ist nun schon wieder? Reicht es dir nicht, daß du meine Brüder gefressen hast? Bist du noch immer nicht satt?« Die Ghula versuchte eine weitere List. »Eisenhart, ich kam nur her, um dir zu sagen, wo es Feigen über Feigen gibt.« Aber er fiel nicht darauf herein. »Ich esse
gerade Feigen und habe schon genug. Geh allein!« wies er sie ab. Er kam ihr allerdings erneut auf einer Abkürzung zuvor, während sie einem langen Weg folgte. Als er ankam, aß er sich satt an den Feigen und schnürte noch ein stattliches Bündel für daheim. Eisenhart fand einen Krug, in den er hineinschiß. Dann suchte er sich einen großen Feigenbaum mit dichtem Laub und versteckte sich zwischen den Ästen. Als die Ghula angeschnauft kam, war sie sehr ins Schwitzen geraten, so daß sie sich im Schatten dieses Feigenbaums niederließ. Eisenhart tauchte Feigen in seinen Dreck und warf sie auf die Ghula. »He, kleiner Rabe im Baum«, bat sie, »friß du die reifen, wirf mir die grünen herab!« So warf er beschmutzte Feigen herab, bis sie satt war. »Ich koche vor Wut«, schnob sie. »Ich konnte Eisenhart nicht beikommen, mit keiner List.« Rasch füllte sie ihr Bündel mit Feigen und ging. Wieder kam der Bursche ihr zuvor und brachte den Palast zum Glühen. Anderntags erschien die Ghula wieder vor des Jünglings Haus. »Hast du die vielen, vielen Feigen gesehen?« erkundigte sie sich. »Kleiner Rabe auf dem Baum, friß die reifen, wirf mir die grünen herab«, stichelte Eisenhart. »Ha, ha, gut müssen die Feigen von meinem Dreck geschmeckt haben.« Die Ghula war außer sich vor Wut. »Du hast mir also einen neuen Streich gespielt. Ich werde es dir schon noch heimzahlen«, schrie sie, aber Eisenhart lachte die Alte aus. »Sein Tod wird schrecklich sein«, schwor sich die Ghula. Am anderen Morgen versuchte es die Ghula abermals bei Eisenhart. »He Eisenhart, es gibt Brennholz über Brennholz auf der Lichtung.« Der Bursche wies sie wie bisher ab. »Ich habe reichlich Holz. Geh allein!« Flugs griff er sich aber ein Seil, die Axt und einen Bund Sacknadeln und eilte der Ghula auf einem kurzen Weg voraus. Auf der Lichtung schleppte er ein ansehnliches
Brennholzbündel zusammen, in das er sich gut getarnt selbst einschnürte. Dann kam die Ghula, die den ganzen Weg über wilde Verwünschungen gegen Eisenhart ausgestoßen hatte. Als sie nun die recht große Holzlast fertig vorfand, packte sich die Ghula das Brennholz kurzerhand auf den Buckel und trottete heimwärts. Unterwegs stach Eisenhart sie mit einer großen Nadel. Die Alte nahm die Last und ließ sie fallen. »O je, was hast du nur so spitze Dornen!« stöhnte sie, dann wendete sie das Bündel und lud es sich auf die andere Seite. Die Ghula war noch keine zwanzig, dreißig Meter gelaufen, stach er sie wieder kräftig mit der Nadel. Sie warf das Holz noch einmal ab und lud es sich von neuem auf die erste Seite. Kaum war sie losgelaufen, als er die Alte erbarmungslos mit den spitzen Eisen zu piesacken begann. Die Ghula biß die Zähne zusammen, sie wollte nur endlich ihr Haus erreichen, denn ihre Schultern waren völlig zerschunden. Bei ihrer Ankunft warf sie das Bund vor dem Haus ab und trat in die Kammer. »Sei so gut, Aisha«, stöhnte sie, »hole du das Holz mit seinen vielen Dornen herein und binde es auf.« Als Aisha den Strick öffnete, trat ihre Mutter herzu und sie entdeckten Eisenhart inmitten der Knorren. »Möge Allah dein Haus in Trümmer legen«, triumphierte die Ghula. »Ich werde dich auffressen, wie du es dir hast nicht träumen lassen. Jetzt bist du hereingefallen. Wir wollen ihn auf der Stelle verschlingen.« Unterdessen hatte die Ghula Eisenhart gefesselt. »Sei so gütig, Großmutter«, lenkte Eisenhart ein. »Ich könnte dich lausen oder dir das Holz spalten. Warum willst du mich fressen? Ich bin doch nicht einmal ein Happen für dich.« Doch die Ghula wollte nichts hören. »Ach papperlapapp! Aisha, zünd unter dem großen Kessel Feuer an! Ich laufe dieweil und lade die anderen Ghule zum Mahl. Sobald das Wasser kocht, wirf ihn in den Kessel!«
wies sie ihre Tochter an. »Er soll kochen, bis sich das Fleisch von den Knochen löst.« Aisha entfachte und schürte alsdann das Feuer und spaltete Holz. Ein Kloben war dabei, den zu brechen ihr schwerfiel. »Binde mir die Hände los, dann zerhaue ich ihn dir!« bot sich Eisenhart an. »Vielleicht entfliehst du mir«, zögerte Aisha. »Wohin sollte ich denn fliehen, wenn die Tür verschlossen ist?« sprach er, worauf sie ihm eine Hand löste. »Mit einer Hand kann ich aber nicht den Scheit spalten.« Da machte die Ghulstochter ihm auch die andere Hand los, und er zerhieb das Holz und heizte den Kessel, bis das Wasser siedete. Nun erst packte Eisenhart Aisha und fesselte sie. Er schnitt ihr die Scham ab und warf dann das Mädchen in das brodelnde Wasser, worin er sie garen ließ, bis sich ihr das Fleisch vom Knochen löste. In der Zwischenzeit hatte er sich die Kleider von Aisha übergestreift. Kurze Zeit später zogen dunkle Wolken am Himmel auf, es zuckten Blitze und Donner grollte. Die Ghule kamen und murmelten unheilvoll vor sich hin. Eisenhart verhüllte sein Gesicht und versteckte sich. Die Ghule machten sich ohne viel Federlesens über den Kessel her und begannen ihren schauerlichen Fraß. Als sie beim Unterleib ankamen, erkannte die Ghula ihre Tochter. »Eisenhart, du hast mich wieder hinters Licht geführt und mir die eigene Tochter zum Fraße vorgesetzt«, heulte sie auf. »Vergelt’s. Ich bin hier an ihrer Statt«, meldete sich Eisenhart, »laß mich bei dir leben.« Die Ghula lenkte ein. »Ich werde dich noch einmal laufen lassen. Wir werden später sehen«, sprach die Alte. »Jetzt komm her und knack mir Läuse.« Eisenhart hatte sich bereits Öl und Schwefelhölzer auf die Seite gelegt. Als sie den Kopf senkte, tat er so, als ob er Läuse knackte, indem er das Geräusch mit den Fingernägeln nachahmte. »Siehst du, wie viele Läuse du hast, Großmutter Ghula.« Dabei griff er rasch nach dem Öl, goß es ihr über den Kopf und hielt ein
brennendes Streichholz an ihr Haar, das im Nu hell aufloderte. Sie sprang auf und singend bat sie ihn um Hilfe. »Vergelt’s, vergelt’s, o Eisenhart! Vergelt’s, vergelt’s und lösch’ mich aus! Dein sei auch, was im Fensterloch versteckt. Vergelt’s, vergelt’s und lösch’ mich aus! Dein sei auch, was das Stroh verdeckt. Vergelt’s, vergelt’s und lösch’ mich aus! Dein sei auch, was die Schwelle deckt.« So ging es weiter, bis die Ghula zusammenbrach und ein Stück schwarze Kohle geworden war. Sie hatte aber Eisenhart zu all ihrem Geld den Weg gewiesen, und er nahm das viele Gold an sich.
An diesem Punkte in der Mär verließ ich sie und kam hierher. Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Märchenmärchen
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Laßt uns noch beten für den Propheten, sein Glanz erhellt wie der Vollmond die Welt. So soll es denn sein. Es lebte einmal ein sehr armer Fischer, der hatte drei Töchter. Ihre Not war so groß, daß er nicht einmal für einen Tag das Abendbrot im Haus hatte. Eines Morgens lief er wie gewohnt zum Meer hinab, um zu fischen. Der Mann schleuderte sein Netz in die Fluten und wartete den lieben langen Tag, ohne daß sich ein Fisch hätte fangen lassen. Niedergeschlagen kehrte er heim. Wie an jenem Tag erging es ihm auch an den vier folgenden, bis sie alle dem Hungertode nahe waren. »Heute werde ich im Gottvertrauen um unser täglich Brot das Netz auswerfen«, entschloß sich die älteste Tochter. Sie wartete, bis die Familie schlief, nahm dann das Netz und lief in der Nacht zum Meer. Mit dem Gebet ›Im Namen Allahs, des Barmherzigen und Allerbarmers, des Ernährers und Wohltäters‹ warf sie das Netz aus. Das Mädchen wartete zehn Minuten, dann holte sie es wieder ein. Plötzlich wurde das Netz unheimlich schwer und nur unter Anspannung ihrer letzten Kräfte vermochte es die Fischerstochter an Land zu ziehen. In seinen Maschen hatte sich ein großes hölzernes Faß verfangen. Als sie den Boden aus dem Faß herausschlug, war es voller Gold. Rasch holte das Mädchen einen Eselskarren herbei, lud die Tonne auf und brachte sie ins Haus. Als der Morgen graute,
nahm es zehn Goldstücke und eilte auf den Basar. Beim Fleischer kaufte es Fleisch, anderswo erwarb es anderes, und zum Schluß kam es beladen und bepackt nach Hause, noch bevor die hungrige Familie erwacht war. Die Älteste legte die Speisen ab und weckte Vater und Schwestern, um sie zu Tisch zu bitten. Nach dem Frühstück ging sie zum Makler. »Ich möchte einen Palast mit allem Drum und Dran«, verlangte sie. Der Händler beschaute sich das Mädchen von Kopf bis Fuß, das in schäbigen Lumpen vor ihm stand. »Hast du überhaupt das Geld für einen solchen Palast?« wollte er wissen. Und als jenes die Frage bejahte, unterbreitete er ihm ein Angebot, worauf die Fischerstochter sogleich das Bauwerk begutachten ging. Der Palast sagte ihr zu, und sie bezahlte umgehend. Dann stattete das Mädchen das neue Heim mit den schönsten Möbeln, Raritäten und Statuen aus. Nun erst holte es ihre Familie in den Palast, in dem sie glücklich zusammen lebten. Das Gold im Faß füllte sich immer wieder auf, sobald etwas fehlte. Wenig später starben Vater und Mutter. Die mittlere und die jüngste Schwester heirateten, so daß die Älteste letztendlich allein blieb. Was sollte sie mit all dem Geld anfangen? Wieder ging sie zum Makler, aber diesmal sollte er ihr ein großes Stück Boden erwerben, auf dem sie einen ganzen Basar mit sämtlichen Annehmlichkeiten errichten ließ. Die Arbeitslosen fanden durch sie Lohn und Brot. Für Arme und Fremde sollte alles umsonst feil sein. Diese Kunde rief der Herold für die Bedürftigen der Stadt aus. Einfach ein jeder – der eine weiß es, der andere versteht es, wer anwesend ist, weiß wer fehlt – strömte auf den neuen Basar. Es kam der Arme, es kam der Fremde, sie alle aßen, schliefen und wünschten dem Sultan Triumph. »Auf«, sprach der König des Landes eines Tages zu seinem Wesir, »laß uns die Lage der Untertanen ergründen.« Dazu
wandelten sie verkleidet durch die Straßen der Stadt, bis sie auch auf jenen Basar gelangten. König und Wesir waren ob der gar eigenartigen Verhältnisse sprachlos: Auf diesem Suk gab es einfach alles und das noch ohne Geld, und ein jeder ließ den Sultan hochleben. »Ja, was ist denn das?« wandte sich der König verwundert an seinen Wesir. »Du hast es mit eigenen Augen gesehen«, antwortete der Minister, sich ergebend. »Mich verlangt, den überaus großzügigen Besitzer des Basars kennenzulernen«, trug der König dem Wesir auf. Der wandte sich dazu um Auskunft an den Scheich des Viertels. »Wer hat den Basar errichtet?« »Eine Frau ließ ihn bauen.« »Wann war das?« »Vor vier Jahren.« »Weißt du, wo sie wohnt?« fragte der Wesir zuletzt, und der Alte führte den König und ihn zum Haus der wohltätigen Frau, worauf die beiden in den Palast zurückkehrten. Dort legten beide ihre hochherrschaftliche Kleidung an, traten erneut vor das Haus jener Frau, und diesmal klopften sie an das Tor. Die Hausherrin tat ihnen selber auf und bat König und Wesir herein. Sie fanden sich in einen prächtigen Palast mit vielerlei Kostbarkeiten versetzt, die ihre höchste Verwunderung auslösten. Es schien ihnen ein Heim zu sein, in dem das Glück ein Zuhause hatte und in dem die Vögel Gott priesen. »Was ist das nun schon wieder?« sprach der verwunderte König zu seinem Minister, als die Gastgeberin das Gemach verlassen hatte, um Kaffee zuzubereiten. »Ehrenwerte Frau«, wandte sich der König an die Fischerstochter, als sie wieder beieinander saßen, »ist der berühmte Basar wirklich Ihr Werk? Liegt es denn in Ihrem Vermögen, den Markt auf Dauer zu unterhalten?« Als die Hausherrin jede seiner Fragen bejahte, verlangte der Herrscher die Quelle ihres ungewöhnlichen Reichtums zu erfahren. »Ich werde sie nicht offenbaren, bis
Seine Majestät nicht auf dem Soundso-Basar war. Dort ist der Laden des Sattlers Soundso, der nach jedem Nadelstich auf das Minarett steigt. Ihm ist eine gar seltsame Geschichte widerfahren. Kommst du mir mit der seinen, erzähle ich dir die meine.« König und Wesir lenkten ihre Schritte schnurstracks auf den genannten Markt zum Geschäft des Sattlers. Beim Eintreten stießen sie auf Berge von Unrat und Spinnweben, der Meister selbst saß in zerlumpten Kleidern und in Schwermut versunken in einem Winkel seiner kleinen Werkstatt. Die Ankömmlinge entboten ihren Gruß und ließen sich nieder, als jener sie jäh verließ, um auf das Minarett zu eilen. König und Wesir beobachteten den Sattler eine halbe Stunde. »Mann, du hast mich zutiefst in Erstaunen versetzt«, sprach ihn dann der König an. »Doch nun verlangt es mich, deine Geschichte zu hören.« »Meine Geschichte ist gar absonderlich«, begann der Sattler seinen Bericht. »Ich war einst Muezzin in dieser Moschee, verheiratet und hatte Kinder. Meine Stimme besaß einen schönen Klang, ja einen wunderschönen sogar, so daß ich von mir sehr überzeugt war. Eines schönen Tages, an einem Freitag, geschah folgendes: Ein großer Greifvogel ließ sich auf der Brüstung der Moschee nieder. Es war ein sehr anmutiges Tier, so daß es mir plötzlich in den Sinn kam, nach ihm zu greifen, um es dem König zum Geschenk zu machen. Ich unternahm also einen Versuch und streckte beide Hände aus, als sie fast ungewollt die Fänge des schönen Vogels zu fassen bekamen. Der Vogel schwang sich auf einmal in die Lüfte und flog mit mir davon. Er flog und flog, bis er mich in einem wunderbaren Palast absetzte. Ich durchmaß seine Höfe und Gemächer, aber ich konnte keine Menschenseele finden. In einem Saal, von dem aus der Garten zu überschauen war, erblickte ich eine große Tafel, umgeben von vierzig Stühlen,
an deren Stirnseite ein hoher Lehnsessel thronte. Gegen Abend beschlichen mich Furcht und Schrecken, und ich verkroch mich unter jenem großen Sessel. Aus heiterem Himmel flatterte ein Schwarm Tauben heran und ließ sich am Rand des Springbrunnens nieder. Die Tauben sprangen ins Wasser und tauchten als blutjunge Mädchen wieder auf, wie ich nie schönere gesehen noch von derart vollkommenen Gottesgeschöpfen je auch nur gehört hatte. ›Wir haben einen Fremden bei uns‹, hatte die Älteste sofort bemerkt und wandte sich an ihre Schwestern. ›Ist er jünger als wir, soll er uns wie ein Bruder sein, ist er aber älter, mag er uns wie ein Vater sein. Doch nun tritt hervor, Fremder, im Schutz und unter dem Banner Allahs!‹ Ich kroch unter dem Sessel hervor und entbot ihnen meinen Gruß. Dann nahm ich mit ihnen an der Tafelrunde Platz und aß von ihren Speisen. O je, was für liebreizende Mädchen, man hätte den Verstand verlieren können, eine jede wie ein auserlesenes Juwel. Als es ans Schlafen ging, legte ich mich in einer getrennten Kammer nieder. Als es tagte, rüsteten die Täubchen zum Abflug. ›Eine von uns wird hierbleiben, um ihn zu unterhalten‹, entschied die Älteste von ihnen, damit der Gast nicht allein bleiben mußte. Von nun an blieb jeden Tag eines dieser anmutigsten Geschöpfe von der Welt bei mir, bis die Reihe an der letzten von den vierzig Mädchen war. ›O Herrin‹, sprach jene die Älteste an, ›laß mich nur getrost hier mit dem Mann allein. Ich will ganz offen reden: Wir waren allesamt unberührt, aber nun sind wir zu Frauen geworden.‹ Die Älteste war bestürzt und ging auf mich los. ›Wie kamst du überhaupt zu uns?‹ fuhr sie mich an. ›Es flog ein schöner großer Greif heran, der mich zu euch trug.‹ Und ich berichtete ihr, was geschehen war. Sie erkundigte sich eindringlich, ob auch alles der Wahrheit entspräche, was ich ihr reinsten Gewissens versicherte.
Während wir miteinander verhandelten, ließ sich ebendieser Vogel in sicherer Entfernung von uns auf dem Brunnenrand nieder. Ich sagte ihr, daß jener Vogel dem meiner Geschichte völlig gleiche. ›Geh und versuche, ob du den Vogel zu fassen vermagst‹, forderte die Anführerin mich auf. Nun erging es mir wie beim ersten Mal, denn der Vogel flog mit mir von dannen, kaum daß ich seine Fänge gepackt hatte, nur setzte er mich diesmal auf meinem Minarett ab. Seit jener Zeit plagt mich die Reue. Jeden Tag sage ich mir, daß es die Taubenmädchen vielleicht nach mir verlangt und sie kommen könnten, um mich zu sich zu holen.« »Geh an deine Arbeit!« nahm der König die Rede wieder auf. »Was vorbei ist, ist vorbei. Du hast Kinder, die essen wollen. Nimm diese Lirastücke und hilf dir selbst! Ich bin der König. Ich werde deine Arbeit überwachen und künftig nicht mehr gestatten, daß du je wieder das Minarett hinaufsteigst. Sollte ich dich nicht emsig über deine Arbeit gebeugt finden, schlage ich dir den Kopf ab.« Der Sattler fügte sich in sein Los. Der König verließ ihn und kehrte zu der Frau mit dem Basar zurück, die ihm einen angemessenen Empfang bereitete. Der Herrscher erzählte ihr die Geschichte des Sattlers. »Nun verlangt es mich, deine Geschichte zu hören«, schloß er seinen Bericht. »Ich werde dir mein Leben nicht eher offenbaren, bevor du nicht zum Freitagsgebet in der SoundsoMoschee warst«, erwiderte die Frau. »Du wirst dort einen Mann vor dem Tor des Gotteshauses finden, den eine merkwürdige Geschichte umgibt. Bringst du sie mir, erzähle ich dir die meine.« König und Wesir begaben sich am Freitag zu der besagten Moschee und warteten das Ende des Gebets ab. Als es soweit war, kam ein blinder Mann, mit schlohweißem Haar, aber einem freundlichen Gesicht. Er stellte vor sich eine hölzerne Waagschale voller Goldmünzen auf. »Habgier bringt keinen
Nutzen, sondern schadet nur«, begann er mit lauter Stimme auszurufen. »Wer mir eine Ohrfeige gibt, dem vergelt ich’s in Gold.« König und Wesir wunderten sich. Die Bestürzung des Herrschers aber war vollkommen, als er sah, wie die Leute kamen und auf jenen Mann einschlugen. Sie bekamen dafür Goldlira, bis die Waagschale geleert war. Das Gesicht des Mannes war von den vielen Schlägen ganz verschwollen. Als sich jener zum Gehen wandte, folgten ihm König und Wesir. Nachdem der Sonderling sein Haus betreten hatte, warteten die beiden einige Augenblicke und klopften dann an die Tür. Der Mann tat ihnen auf, und sie betraten voller Staunen einen prächtigen Palast voll seltener Kostbarkeiten. »Euer Verhalten hat mich höchst verwundert«, eröffnete der König seinem Gastgeber, nachdem er Platz genommen hatte. »Nie hörte ich, daß ein Mensch Geld dafür zahlt, wenn man ihn schlägt. Du selbst bist ein reicher Mann. Was verbirgt sich hinter deinem Tun? Ich möchte deine Geschichte von Anfang bis Ende hören.« »Meine Eltern starben, als ich noch ein kleines Kind war«, hob der Blinde mit einem Seufzer an zu sprechen. »Ich lernte die Welt als Vagabund in den Gassen kennen, in denen ich mein tägliches Brot erbettelte, um mich zu sättigen. Auf meinem Leib trug ich lediglich einen elenden Fetzen Stoff. Auf diese Weise fristete ich mein Dasein bis zu meinem neunten Lebensjahr. Eines Tages bat ich einen Mann auf der Straße, der mir zufällig entgegenkam, um ein Almosen. ›Wessen Sohn bist du, mein Kind?‹ fragte er mich. ›Ich bin der Sohn des Soundso‹, gab ich Auskunft. ›Du bist der Sohn des Soundso?‹ fuhr der Mann wie vom Donner gerührt in die Höhe, ›und du mußt in diesem Elend leben? Allah möge sich deines Vaters erbarmen. Er war mein Freund und hat mir manche unvergeßliche Gunst erwiesen. Komm mit zu mir nach Hause!‹ Er führte mich in sein Heim, in dem er mit seinem
mitleidvollen und barmherzigen Weib lebte. Sie speisten, wuschen und kleideten mich. ›Ich werde dir einiges Geld geben, damit du eine dir genehme Arbeit betreiben kannst. Sei es, daß du einen Kramladen oder ein Handelshaus eröffnen willst‹, sagte mein Wirt eines Tages. Ich dachte kurz nach und antwortete ihm, daß ich als Wanderhändler über Land ziehen wolle. So gab er mir eine dafür entsprechende Geldsumme, von der ich ein Maultier erwarb. Der Mann versprach mir auf den Weg, daß er, sollte die gewährte Summe nicht reichen, mehr zu geben bereit wäre. Ich schirrte mein Maultier an und packte Gurken und Melonen vom Basar in die Satteltaschen, mit denen ich von Dorf zu Dorf zog. Ich ließ mir und meinem Handel Zeit und folgte meinem Weg, bis ich mich auf mein Gewerbe verstand und es mir reiche Gewinne einbrachte. Nach nur einem Monat erwarb ich bereits ein zweites Lasttier und so ging es weiter. Kaum waren zwei Jahre verstrichen, da besaß ich schon eine Karawane aus sieben Maultieren. Wieder zwei Jahre später konnte ich den Boden kaufen, auf dem sich mein Palast erhebt. Nach einem weiteren Jahr begann ich hier zu bauen. Inzwischen war ich ein junger Bursche und zog mit meinem Handel von Ort zu Ort, bis ich schließlich Bagdad erreichte. Eines Tages befand ich mich in einer kalten, aber klaren Nacht auf Reisen. Wie ich so dahinritt, entschloß ich mich zu singen, denn ich hatte eine angenehme Stimme. Bei Vollmond, der so hell strahlte, daß man hätte auf dem Boden eine kleine Misriya-Münze sehen können, hob ich denn zu singen an, als mir plötzlich ein würdevoller Scheich mit langem Bart erschien. ›Steh auf der Stelle!‹ befahl er mir, und ich hielt inne. ›Binde deine Maultiere an und wirf all ihre Lasten ab!‹ Ich wollte widersprechen. ›Tu, wie ich dir geheißen habe!‹ befahl der Alte, keine Widerrede duldend. Angst beschlich mich und ich band die Waren von den Maultieren ab. Dann folgte ich
dem Alten etwa fünfzig Meter abseits des Weges. ›Hier‹, stieß er hervor, und auf sein Wort spaltete sich die Erde und gab einen unermeßlichen Goldschatz frei. Ich war überrascht. ›Auf denn, nimm dir, soviel du wegschaffen kannst‹, forderte mich der Scheich auf. Ich lud sieben Traglasten Gold auf die Rücken der Tiere, der Scheich selbst nahm nichts. ›Nun habe ich an dich eine Bitte, bevor sich der Schatz wieder schließt. Steige in sein Inneres hinab und du wirst ein Augenschminkfläschchen und eine Handmühle finden. Nimm sie an dich und kehre rasch zurück.‹ Ich stieg also hinab und holte Phiole und Mühle nach oben, die ich dem Scheich überreichte. ›Ehrenwerter Scheich, erkläre mir, was es mit Schminkfläschchen und Mühle auf sich hat‹, bat ich ihn. ›Mein Sohn, du hast dir Gold für sieben Lasten genommen, so nimm auch noch diese Mühle. Wenn dir das Gold ausgehen sollte, drehe diese Mühle, denn sie schrotet Gold.‹ Ich nahm auch noch die Mühle und legte sie oben auf einer der Lasten. ›Aber welche Bewandtnis hat es mit dem Augenschminkfläschchen?‹ wollte ich nun noch wissen. ›Zögest du dir damit den Lidstrich an nur einem Auge, schautest du die Schätze dieser Welt im Himmel und auf Erden‹, erklärte der Scheich. ›Ich hätte gern diesen Lidstrich‹, bedrängte ich ihn, und er schminkte mich. O wie überwältigend war, was ich erblickte, denn ich gewahrte wirklich sämtliche Schätze des Universums, und ein Hochgefühl bemächtigte sich meiner. ›Ich möchte auch noch das zweite Auge bestrichen haben‹, verlangte ich nun. ›Du hast bereits sieben Lasten Gold und die Goldmühle genommen, und ich schminkte dir eines deiner Augen. So sei nicht habgierig. Würdest du ein zweites Mal bestrichen werden, schlüge dich Blindheit‹, warnte der Alte. In meiner unwiderstehlichen Gier glaubte ich allerdings, daß er mich betrüge. ›Ich werde dir die Phiole nicht eher überlassen, bis ich nicht den zweiten Lidstrich habe‹, drängte ich immer kühner, worauf er tat, was
ich verlangte, und ich erblindete, wie ihr mich hier seht. Ich geleitete mein Gold nach Hause und aus lauter Reue habe ich mir angetan, was ich bis heute beibehielt. Weder Gier noch Gold waren mir von Nutzen. Das Licht meiner Augen war der hohe Preis.« »Deine Geschichte ist höchst merkwürdig«, gab der Fürst zu. »Weil ich der König bin, verlange ich nunmehr von dir, daß du von deiner Kasteiung abläßt. Du hast dir schon genug Schaden zugefügt. Sollte ich dich je wieder auf dem Basar erblicken, schlage ich dir den Kopf ab. Nimm dir ein Eheweib und heirate!« Darauf verabschiedeten sich König und Wesir und kehrten zu jener Frau zurück, die sie freundlich empfing. »Willkommen dem König und seinem Wesir«, grüßte sie, und er erzählte die Geschichte des Blinden. »Doch nun zu deiner Geschichte, edle Frau«, wandte er sich an sie, die ihm nun endlich die ihre anvertraute. Anschließend verlangte der König, das Wunderfaß mit dem Gold zu sehen. »Erhebe dich und folge mir!« sprach sie und führte ihn in die Kammer mit der Tonne, die mit grünem Samt bedeckt war, den Koranverse zierten. »Das Gold im Faß geht nie zu Ende«, erklärte sie. »Nehme ich etwas heraus, füllt es sich wieder.« Der König glaubte ihr nicht. »Ein Versuch ist der beste Beweis«, sprach sie kurzentschlossen und leerte die Tonne aus. Das Gold gab sie dem König wie auch den Schlüssel zu der Kammer. »Komme morgen wieder und du wirst das Faß mit Gold angefüllt vorfinden.« Als der König am anderen Tag kam, war es, wie die Fischerstochter verheißen hatte. »So ist es nun einmal. Aber was soll ich mit all dem Gold bloß anfangen?« fragte sie. »Bist du denn nicht verheiratet?« erkundigte sich der König erstaunt. Die Frau verneinte. »Ich würde dich gern zu meinem Weibe nehmen, wärest du nur willig.« Da gab sie ihm ihre Hand und sie heirateten und lebten ein glückliches Leben.
An diesem Punkte in der Mär verließ ich sie und kam hierher. Meine Geschichte ist verteilt, sie ist euch unters Hemd geschnellt.
Die drei Stufen
Es war einmal, es war keinmal, in alter grauer Zeit lebte eine Familie aus Mann und Frau und derer beider Tochter Fatima. Die Mutter starb früh, so daß der Vater und das Mädchen allein blieben. Beide litten bittere Armut und Not. Als der Fastenmonat Ramadan begann, trat Fatima zu ihrem Vater. »O Vater, sieh unsere Nachbarn. Sie kochen fleischgefüllte Zucchini.« Und der Vater versprach: »Morgen, morgen schon bringe ich dir auch davon, meine Tochter, so Allah will.« Anderntags kam der Vater lediglich mit zwei kleinen Brocken Käse und zwei Brotfladen nach Hause, die er mit seiner Tochter verzehrte. Tags darauf sprach das Mädchen wieder zu ihrem Vater: »Schau, o Vater, unsere Nachbarn! Sie haben bereits fleischgefüllte Zucchini gekocht.« Und erneut versprach er für den nächsten Tag ihren stillen Wunsch zu erfüllen. »Allah ist edelmütig«, tröstete er sie. Als es nur noch zwei Tage bis zum großen Fest des Fastenbrechens waren und die Leute überall begannen, für den Feiertag die feinsten Speisen und köstlichsten Süßigkeiten vorzubereiten, trat Fatima wieder vor ihren Vater. »Sieh doch nur, o Vater, unsere Nachbarn haben bereits Walnüsse, Gries, Fett und Zucker bereitgelegt.« Wieder konnte der Vater seine Tochter nur vertrösten. »Du sagst immer, ich werde dir bringen, ich werde dir bringen, aber bis zur Stunde hast du nichts gebracht«, beklagte sich das Mädchen. Der Vater kehrte Fatima den Rücken, zog sich in einen Winkel zurück und weinte bitterlich vor lauter Trauer über die beißende Armut, in der sie ihr Leben fristen mußten. Er grübelte und überlegte den ganzen nächsten Tag, was er wohl tun könnte. Das Fest würde am kommenden
Morgen beginnen, und er hatte schlichtweg gar nichts. Schließlich faßte er den Entschluß, die Stadt zu verlassen und in eine andere auszuwandern in der Hoffnung, dort ein Auskommen oder etwas Wohlfahrt zu finden. Der Vater ging zu dem Mädchen, um sich zu verabschieden. Er küßte sie auf beide Wangen und sprach: »Ich vertraue dich Allah an. Ich reise heute noch ab, meine Tochter.« Angst beschlich Fatimas Herz und sie versuchte, den Vater am Weggehen zu hindern. »Aber wer gibt mir zu essen, Vater, wer zu trinken, wer kümmert sich um mich, wenn du fort bist?« flehte sie. »Die drei Stufen vor dem Haus werden es tun. Fordere von ihnen Speise, wann immer du hungrig bist, sie werden dich ernähren«, war seine Antwort auf all ihre Fragen. Dann verließ der Vater seine Tochter und schlug hinter sich die Tür ins Schloß, damit sie ihm nicht folge. Das Mädchen blieb zu Tode betrübt daheim, es krümmte sich auf dem Boden zusammen und weinte und weinte, bis es in dieser Haltung einschlief. Am anderen Morgen, dem ersten Tag des Festes, konnte Fatima nichts zu essen finden, worauf sie nach langem Weinen auf der Erde in tiefen Schlaf versank. Auch am zweiten Feiertag suchte Fatima vergeblich nach etwas Eßbarem. Das Mädchen öffnete die Tür und schaute die Straße hinab. Es hörte die Trommeln schlagen und die Flöten tönen, es sah die Kinder scherzen, spielen und sich freuen, denn sie waren glücklich. Fatima schlug die Tür hinter sich ins Schloß und zog sich ins Innere des Hauses zurück. Während das Mädchen am Morgen des dritten Tages verzweifelt darüber nachsann, wie es etwas zu essen bekommen könnte, erinnerte es sich an die Worte ihres Vaters, daß es die drei Stufen um Speise bitten solle, wenn es hungrig sei. ›So werde ich also die Stufen fragen. Vielleicht geschieht ein Wunder und sie erfüllen mir meine innigliche Bitte. Das ist besser, als Hungers zu sterben.‹
Fatima ging zu den drei Stufen. »Ihr drei Stufen, ich möchte zu essen. Ich bin so hungrig. Mein Vater riet mir, euch um Nahrung anzuflehen. Nun sind schon drei Tage verstrichen, ohne daß ich etwas gegessen habe. Könnt ihr nicht Mitleid mit mir haben und mich speisen?« Dann vergoß sie erneut heiße Tränen und lief wenig später in ihre Kammer. Dort fand sie eine reichlich gedeckte Tafel mit den köstlichsten Speisen. Fatima rieb sich die Augen und schaute noch einmal hin, denn sie konnte kaum glauben, was sie sah. Verwirrt wußte sie nicht, mit welchem Gericht zu beginnen. Sie kostete von dieser und von jener Speise, bis sie sich sattgegessen hatte, dann betete sie und pries Allah voller Dank. Von diesem Tage an ward es dem Mädchen zur Gewohnheit, von den drei Stufen Essen und Trinken zu erbitten, was ihm im Handumdrehen erfüllt wurde. So verfloß die Zeit, bis Fatima einmal zu sich selbst sprach: ›Jetzt, wo mir die Nahrung sicher ist, bräuchte ich ein Kleid.‹ Ohne Umschweife trat das Mädchen zu den drei Stufen. »Ich danke euch, ihr Stufen, für all eure Gaben. Aber seht ihr denn nicht, daß ich ein paar gute Kleider benötige?« Wieder in der Kammer, fand es einen Koffer mit den verschiedensten Kleidern und einfach allem, was es an schönen und prächtigen Sachen dieser Art bedurfte. Fatima probierte nun ein Kleid nach dem anderen an, die ihr alle wie auf den Leib geschneidert saßen. Dann spannte sie ein Seil, auf das sie ihre Garderobe hängte. Nachdem wieder einige Tage verstrichen waren, bat das Mädchen die drei Stufen um einen Schrank, der ihm ebenfalls gewährt wurde. ›Nun hätte ich gern auch ein neues Haus‹, sann Fatima zwei Monate später nach. Kaum hatte sie die drei Stufen um ein schönes neues Haus gebeten, als ihr ein ehrwürdiger Alter erschien, der sie beim Namen nannte. »Nun geh zu deinem Palast, Fatima! Er steht bereit und liegt dem des Königs
gegenüber«, sprach er. Das Mädchen zog mit Trägern los, die ihre Habe trugen und die drei Stufen herbeischleppten. Wie war sie erstaunt und voller Freude, denn ihr Palast war weit schöner als der des Herrschers. Er war mit allem erdenklichen Mobiliar ausgestattet, Sklaven und Dienerinnen harrten in jedem Winkel der Gemächer und an allen Türen. Auf jedem Bett lag als Willkommensgruß ein wertvoller Edelstein. Neben ihrem Palast wohnte der Kadi. In seinem Haus traf sich seine Frau mit ihren Freundinnen, zu denen die Gemahlin des Königs, des Wesirs, des Mundschenks und des Muftis gehörten. Die Ehefrauen begannen, sich die Mäuler über Fatima zu zerreißen, der Allah ein Auskommen in Fülle und Wohlstand beschert hatte. Sie beschlossen sie, daß eine von ihnen zu Fatima in den Palast gehen solle, um das Geheimnis ihres ungewöhnlichen Reichtums zu ergründen. Die Wahl fiel auf das Weib des Muftis. Sie verließ die Runde und lief geradenwegs auf den Palast des Mädchens zu. Kaum war sie am Tor angelangt, als sie ein schwarzer Sklave aufhielt und sie nach ihrem Begehr fragte. Nachdem Fatima die Kunde von einer Besucherin zugetragen worden war, ließ sie bitten. In diesem Augenblick erschien ihr wieder jener ehrgebietende Scheich. »Meine Tochter«, sprach er sie an, »dich kommt die Frau des Muftis besuchen. Sie will das Geheimnis deines Reichtums erfragen. Sage ihr nichts anderes als ›Von Allah‹. Sollte sie dich mit Fragen bedrängen, so antworte ihr: ›Ich werde es dir nicht verraten, solange du nicht diese Trommel ein wenig geschlagen hast.‹« Schon läutete die Glocke und die Frau des Muftis trat ein. Fatima empfing sie herzlich und hieß sie standesgemäß willkommen. Das Mädchen ließ sie auf den bequemsten Kissen Platz nehmen und bot ihr die köstlichsten Näschereien an. »Bist du verheiratet, Fatima?« begann die Besucherin sie auszufragen. Das Mädchen verneinte. »Dann bist du also
verlobt?« Wieder verneinte es. »So hast du einen Schatz gefunden?« Fatima schüttelte den Kopf. »Woher aber ward dir dieser große Reichtum beschert?« wunderte sich des Muftis Frau immer mehr. »Von Allah«, antwortete nun das Mädchen. »Ich weiß ja, daß er eine Gabe Gottes ist, aber alles hat doch seinen Grund. Und was nun steckt hinter deinem Wohlstand?« beharrte die Fremde. »Mußt du das unbedingt wissen?« erkundigte sich die Hausherrin, und als jene bejahte, lenkte Fatima ein. »Ich werde es dir erst sagen, wenn du diese Trommel ein wenig geschlagen hast.« Die Frau des Muftis lachte verlegen. »Du beschämst mich. Ich kann die DarbakkaTrommel nicht spielen, aber ich werde ein wenig so tun, damit du mir wohlgesonnen bist«, sprach’s und griff nach dem Instrument. Kaum hatte sie begonnen, auf dem Fell herumzuklopfen, als sie sich ohne ein Wort und einen Gruß erhob, den Palast verließ und zu ihren Busenfreundinnen im Haus des Kadis lief. Eifrig die Trommel schlagend, trat des Muftis Weib in die Halle. Vergeblich versuchten ihre Freundinnen, etwas aus ihr herauszubekommen. Sie schien nicht zu hören, was jene sprachen, sondern trommelte wie besessen auf die Darbakka ein. Die drei Frauen waren zutiefst verwundert, so daß sich die Gemahlin des Mundschenks entschloß, in Fatimas Palast zu gehen, um die Wahrheit zu ergründen. Aber schon nach kurzer Zeit kehrte sie mit einer Laute zurück, auf der sie unentwegt klimperte. Ihre Gefährtinnen gaben sich alle Mühe, etwas von ihr zu erfahren, aber sie zupfte unentwegt die Saiten, als ob sie nicht hörte, was jene sprachen. Des Muftis Weib schlug noch immer auf die Trommel ein. Das Erstaunen der Frauen wuchs, und sie meinten nun um so mehr, daß es hier ein wie auch immer geartetes Geheimnis gebe. Also machte sich die Frau des Wesirs auf den Weg zu Fatima. »Ich bin die Frau des Wesirs«, sprach sie stolz. »Mit mir kann dieses Mädchen nicht
so umspringen wie mit den Frauen von Mufti und Mundschenk.« Aber ihr erging es nicht anders als ihren Vorgängerinnen, sie kehrte mit einem Tamburin zurück, auf das sie unentwegt und mit aller Kraft einhieb. Nun raffte sich die Königin auf und lief höchstselbst zur Nachbarin. Fatima fand nicht den Mut, Ihrer Majestät Gleiches wie deren Busenfreundinnen anzutun. Als die Königin wiederkam, stieß sie einen Träller nach dem anderen aus. Die vier hochgestellten Damen waren dazu verdammt, ohne Unterlaß in abscheulicher Weise zu trällern und zu musizieren. Die Leute liefen wegen der seltsamen Musikantinnen zuhauf, die bei ihrer Katzenmusik kein Ende finden konnten. Als die Zeit des Abendmahls heran war, kam die Angelegenheit auch dem König zu Ohren. Ein großer Zorn packte ihn, der ihn fast den Verstand gekostet hätte. Dem Übeltäter, der seinem Weib und ihren Gefährtinnen so arg mitgespielt hatte, sollte auf den Befehl Seiner Majestät der Kopf abgeschlagen werden. Da nun erschien der ehrwürdige Alte dem Mädchen von neuem, um ihr zu sagen, daß der König nach ihr schicke, weil er ihren Kopf fordere. Der Scheich erklärte Fatima, daß seine Wohltaten für sie ihr Ende gefunden hätten, und empfahl, daß sie dem König reinen Wein einschenke, worauf er sie begnadigen werde. Während der Scheich noch sprach, kam bereits der königliche Herold, der Fatima vor Seine Hoheit beorderte. Das Mädchen kleidete und putzte sich und trat vor den König, in dessen Antlitz wilder Groll geschrieben stand. Fatima setzte sich und harrte der Dinge, die da kommen würden. Von dem Scheich hatte sie ein Glas Wasser, von dem sie die vier neugierigen Frauen trinken lassen sollte, falls der König von Fatima verlangte, die vier zu entzaubern. Dies sollte sie aber nicht eher tun, bis der König ihr Leben verschont habe. Dem König, der Fatima nach dem Grund für ihre Schandtat befragte, erzählte sie ihre Geschichte. Sie begann
damit, daß ihr Vater sie ohne Geld und Essen verlassen hatte; sie verriet, wie sie ihren Palast bekam, wie ihr der ehrwürdige Alte erschienen war, der von ihr zu tun verlangte, was sie den Frauen angetan hatte. Sie sei darin nur eine bestellte Sklavin gewesen, sagte Fatima, die am Lauf der Dinge nichts hätte ändern können. Dann brachte sie das Gespräch auf das Glas Wasser, dessen Wirkung sie erklärte. Der Herrscher senkte für einen Augenblick in Gedanken sein Kinn auf die Brust, dann hob er sein Haupt und verkündete: »Es war ursprünglich meine Absicht, dir den Kopf abschlagen zu lassen. Jedoch begnadige ich dich und schenke dir das Leben, wenn du die vier Frauen entzauberst und sie aus ihrer beschämenden Lage befreist.« Fatima lief sogleich zum Haus des Kadis, in dem die vier Frauen noch immer durcheinander lärmten. Einer jeden gab sie von dem Zauberwasser zu trinken, worauf die Frauen des Muftis, des Mundschenks, des Wesirs und des Königs, nachdem sie Darbakka-Trommel, Laute und Tamburin von sich geschleudert hatten, innehalten konnten. Der König wies Fatima die stattliche Summe von zweihundert Lira als monatlichen Unterhalt an. Als nach einer gewissen Zeit die Frau des Mundschenks starb, heiratete jener das Mädchen, und sie lebten in Reichtum, Glück, Wohlstand und Eintracht zusammen.
Schlitzohr Hassan
Es war einmal, es war keinmal, daß in alter Zeit ein König lebte, der nur einen Sohn hatte. Beide wohnten in einem großen Palast. Und weil dem Kind die Mutter früh gestorben war, nahm der König seinen Sohn überall mit dorthin, wo er sich hinwandte. Tage um Tage verstrichen, da wurden die Wesire beim Herrscher vorstellig. »Ein König ohne Eheweib, das geht nicht an«, gaben sie zu bedenken. Nach vielem Reden überzeugten sie den Herrscher, sich wieder eine Gemahlin zu nehmen. Einige Jahre später wurde dem König noch eine Tochter geboren. Ihren großen Bruder nahm er indessen jeden Tag mit in den Thronsaal. »Warum nimmst du den Jungen und läßt das Mädchen?« ereiferte sich sein Weib. »Ein Junge ist nicht wie ein Mädchen«, rechtfertigte der König sein Handeln. »Du mußt auch das Mädchen mitnehmen. In diesem Haus können ohnehin nur dein Sohn oder ich sein«, stellte sie ihn vor die Wahl. Der König bat, sich zwei Tage zu bedenken. Am Morgen des zweiten Tages stand der König in aller Frühe auf, holte einen Esel und belud ihn mit einer Unmenge von honigsüßem Halwa-Gebäck. Als der Sohn erwachte, setzte ihn der Vater auf den Rücken des Esels und ritt mit ihm in den Wald. »Iß, mein Söhnchen, iß!« forderte der Vater den Jungen immer wieder auf, und jener verzehrte soviel Halwa, daß ihn der Durst fast umgebracht hätte. »Halte noch ein Weilchen aus! Bald erreichen wir eine Wasserstelle«, vertröstete ihn der Vater. Als sie nun den Palast weit hinter sich gelassen hatten, gelangten sie an einen Fluß, zu dem der Sohn eilig hinabstieg und solange trank, bis er ohnmächtig niedersank. Da verließ ihn der König und ritt von dannen.
Als der Junge wieder zu sich gekommen war, konnte er seinen Vater nirgends entdecken. Da lief der Knabe aufs Geratewohl, bis er ein großes Dorf erreichte, in dem aber keine Menschenseele anzutreffen war. Der Jüngling fand vielerlei Läden und ein jeder war auf das beste ausgestattet. Von ihren Besitzern war jedoch weit und breit keine Spur. Auch in den vielen Häusern war kein Leben. Der Knabe erstieg das höchste Bauwerk, um sich gründlich umzusehen. Dabei erspähte er eine Rinderherde, die ein großer Ghul hütete. Der Königssohn überlegte hin und her, was wohl zu tun sei, denn er hatte beim Anblick des Ghuls große Angst. ›Wenn er schläft, gehe ich zu ihm, springe ihm auf die Brust und sage: ‘Ich bin dein Sohn’‹, sinnierte er. ›Frißt er mich, dann frißt er mich eben. Heißt er mich willkommen, heißt er mich eben willkommen.‹ Gesagt, getan. »Wer bist du?« schnaufte der Ghul, als ihm der Prinz auf der Brust saß. »Ich bin dein Sohn«, antwortete dieser keck. »Dann sei willkommen, mein Söhnchen. Ich habe dich eine Ewigkeit nicht gesehen. Wie heißt du?« wollte der Dämon nun wissen. »Ich weiß nicht«, redete sich der Knabe heraus. »So gebe ich dir den Namen Schatir Hassan das Schlitzohr«, sprach der Ghul, der keine Augen hatte. »Nimm diese Schlüssel und geh in die Kammern. Offne nur vier, die fünfte nicht!« trug ihm der Ghul am anderen Morgen auf. Doch zuvor mußte der Junge versprechen, das verbotene Zimmer nicht zu betreten. In der ersten Kammer fand Schatir Hassan Berge von Gold. Alles, was sich in der zweiten Kammer befand, war aus Gold gefertigt, so auch in der dritten und vierten. Dann ging er zur Tür des fünften Gemachs. ›Warum erlaubt mir der Ghul nicht, auch diese Tür zu öffnen‹, überlegte der Prinz kurz und schloß auf. Ein riesiger Hengst mit gewaltigem Kopf und einem mächtigen Körper wandte sich gegen den Eindringling, und er stürmte auf den Jungen los. Fast hätte das Pferd den Burschen
zu Tode gebracht, doch Schatir Hassan versetzte ihm einen kräftigen Schlag und führte es an seinen Platz zurück. Anschließend fütterte, tränkte und säuberte er es. »Hast du dir die Kammern angesehen, mein Söhnchen?« erkundigte sich der Ghul, als der Junge zurückkam. »Ja, Vater«, antwortete er. »Hast du das fünfte Gelaß geöffnet, Schatir Hassan?« forschte der Geist, und der Knabe log ein Nein. »Du bist ein guter Junge, mein Söhnchen«, lobte ihn der Dämon. Der blinde Ghul zog tagein tagaus mit den Kühen auf die Weide. Als sich der Prinz anbot, die Tiere künftig zu weiden, wehrte der Ghul heftig ab. Als Schlitzohr Hassan aber nicht abließ, den Alten zu drängen, willigte der unter einer Bedingung ein. »Wer am Morgen zuerst erwacht, treibt die Kühe aus. Solltest du, mein Söhnchen, also doch vor mir munter sein, führe die Kühe auf die Weide, auf der nur wenig Gras sprießt. Zu ihrer Flanke erstreckt sich eine andere Weide mit reichlich Gras und Wasserstellen. Sie darfst du auf keinen Fall betreten.« Damit er nicht fest einschliefe, steckte Schatir Hassan zwei Nadeln rechts und links in sein Kopfkissen. Drehte er sich nach rechts, stach ihn die eine Nadel wach, wandte er sich auf die linke Seite, piekte ihn die andere, so daß er sich bereits in aller Frühe, noch lange vor dem Ghul, von seinem Lager erhob. Der Prinz nahm die Herde und trieb sie auf das Feld, das nur mit Steinen bedeckt war und das kaum Wasserstellen hatte. Zu dessen Flanke erstreckte sich Land mit hohen, saftigen Gräsern und Wasser im Überfluß. ›Warum nur hat mir der Vater verboten, diese Weide zu betreten?‹ überlegte der Junge und führte schließlich die Kühe auf die fette Weide, auf der sich die Tiere ein Gutes taten. Inmitten des Angers erhob sich ein Baum, in dessen höchste Spitze sich Schatir Hassan setzte. Als er seinen Blick in die
Ferne schweifen ließ, erblickte er eine Ghula mit langen, zottigen Haaren, die auf ihn zutrottete. Rasch sammelte der Jüngling das Harz des Baumes. »Sei gegrüßt mein Söhnchen«, rief die Ghula, sobald sie den Baum erreicht hatte. »Steige herab und laß uns miteinander spielen!« Schatir Hassan lehnte ab. »Ich habe es mir hier oben bequem gemacht, ich möchte nicht spielen. Komm du doch herauf!« sagte er. »Ich kann aber nicht«, versetzte sie trotzig. »Staple einige Steine übereinander und steige herauf!« riet der Junge dem Weib. Da trug die Ghula Steine zusammen und türmte sie zuhauf. Als sie hinaufstieg, packte der Prinz sie bei den wilden Haaren, band sie damit an den Baum und versiegelte die Knoten mit dem Harz. »Bist du nicht der Sohn des Ghuls?« wollte sie wissen. Der Prinz bejahte. »Wenn ich dich zu seinen Augen führe, machst du mich dann vom Baum los?« fragte sie weiter, und Schatir Hassan bejahte abermals. »Dann laß mich herab!« forderte sie. »Nein, du könntest lügen«, entschied er. »Dann geh in mein Haus, dort findest du zwei Löcher in der Wand. Das rechte Auge ist im rechten Loch, das linke Auge im linken. Laß mich herab!« forderte sie. »Nein, du könntest lügen.« Der Bursche blieb fest und lief zu ihrer Hütte. Mit beiden Augen kehrte er zur Ghula zurück. »Nun laß mich runter!« zeterte die Alte. »Du mußt mir erst noch sagen, wie ich ihm seine Augen einsetzen kann«, verlangte Schatir Hassan. »Wenn er schläft, legst du den rechten Augapfel in die rechte Augenhöhle und ebenso verfährst du mit dem linken. Setz mich frei!« sprach sie. »Nein, du könntest eine Lügnerin sein.« Der Prinz gab nicht nach. Er sammelte die Herde und trieb sie nach Hause. Die Augen barg er sicher in der Tasche. Als das Schlitzohr mit der Herde auf den häuslichen Hof kam, befühlte der Ghul ein Tier nach dem anderen und fand, daß sie vollgefressen waren. Angst stieg ihn ihm auf. »Was ist
passiert, Söhnchen?« fragte er bang. »Nichts geschah. Ich hütete die Kühe und nun bin ich wieder da.« Als der Ghul schlief, setzte ihm der Knabe die Augen ein. »Mögst du gesund erwachen«, wünschte er dem Alten, und der Ghul war von Stund an wieder sehend. Anderntags liefen beide zu dem Baum, wo die Ghula noch immer gefangen war. Dann holten sie Holz herbei und verbrannten die Alte und kehrten erleichtert heim. »Diese böse Ghula hatte sämtliche Dörfler aufgefressen«, erklärte der Alte. »Sie wollte auch mich fressen, es gelang ihr aber nicht. So nahm sie mir aber meine beiden Augen. Allah hat dich zu mir gesandt, mein liebes Söhnchen.« Schatir Hassan verriet dann seinen Besuch in der fünften Kammer. Der Ghul war verwundert, daß ihm das wilde Tier nichts angetan hatte. »Es preschte zwar zu mir heran, um mir den Garaus zu machen, aber ich züchtigte und fütterte es«, berichtete der Prinz. Der Alte mußte eingestehen, daß er das Tier nur über ein Loch in der Decke füttern konnte. Da bat der Prinz den Ghul, daß er ihm das Pferd überlasse. »Nimm es hin, mein Söhnchen, aber sei auf der Hut!« sprach der Alte zum Abschied. Kaum war der Jüngling aufgebrochen, als ihn der Ghul noch einmal zurückrief. »Ich glaube, du bist von königlichem Geblüt und Gemüt. So nimm noch diese Kappe. Setze sie dir aufs Haupt, wenn du nicht willst, daß die Leute gleich wissen sollen, daß du Königen gleichst und dein Pferd ihrer würdig ist. Die verwandelst dich in einen armen Mann und dein Hengst in einen lahmen Esel.« Schatir Hassan nahm die Kappe und ritt wieder los. Doch schon einen Augenblick später rief ihn der Ghul abermals heran. »Mein Söhnchen, wenn du essen und trinken willst, nimm diese Nadel. Steckst du sie in den Boden, erscheinen dir Gazellen und muntre Quellen, so iß und trinke, wie es dir beliebt.« Als er etwas an Entfernung gewonnen hatte, wollte er erproben, was ihm der Ghul verhießen hatte. Er nahm die Nadel und stach sie in die
Erde. Im selben Augenblick sprudelte Wasser und Gazellen sprangen umher. Bei dieser Gelegenheit aß und trank er sich richtig satt. Dann zog er weiter, bis er sich einem Dorf näherte. Schlitzohr Hassan stülpte sich die Wunderkappe auf sein Haupt und war im Handumdrehen ein armer Teufel, das stolze Roß ein lahmer Esel. Als er die Straße entlangzog, bemerkte er einen Mann, der im Garten der Königstochter mit größtem Eifer arbeitete. »Guten Morgen, guter Mann«, wünschte ihm der Jüngling. »Willkommen! Was willst du?« antwortete jener barsch. »Hättest du etwas Futter für meinen Esel?« fragte er. »Schweig und zieh deiner Wege! Ich habe keine Zeit für dich. Die Königstochter hat mir versprochen: ›Wenn du Wasser aus diesem Stück Boden sprießen läßt, nehme ich dich zum Mann.‹ Seit nunmehr sieben Jahren grabe ich, um das Wasser herauf zubringen. Bis jetzt habe ich es nicht vermocht«, wies jener ihn ab. »Gesetzt den Fall, ich hole das Wasser für dich ans Tageslicht, bringst du mir dann Futter für meinen Esel?« bot sich der Prinz an. Der Mann willigte ein. »Aber wenn ich zurückkomme und kein Wasser vorfinde, schlage ich dich und deinen Esel tot«, drohte er und eilte nach dem Futter. Die Tochter des Königs hatte die beiden von ihrem Fenster aus beobachtet und belauscht. Mit eigenen Augen wurde sie Zeuge, wie sich der Habenichts die Kappe vom Kopf zog und in einen stattlichen Königssohn und sein lahmer Esel zu einem feurigen Pferd verwandelte. Noch größer wurde ihre Verwunderung, als der Prinz eine Nadel hervorzog und sie in die Erde steckte, worauf im Nu Wasser sprudelte und den Boden tränkte sowie flinke Gazellen zum Vorschein kamen. In diesem Augenblick kam der Mann zurück, der beim Anblick all dessen in Verzückung geriet. »Allah hat dich zu mir geschickt«, jubelte er. »Willst du nicht auch weiterhin bei mir arbeiten?« Aber da mischte sich die Prinzessin ein. »Nein,
nein«, rief sie von ihrem Fenster und kam zu Hassan dem Schlitzohr herab. »Ich werde dich heiraten, Königssohn.« Der Jüngling willigte ein und freite sie. Und sie lebten ein glückliches Leben.
Möge Allah das Leben der Zuhörer versüßen.
Der Lebensapfel
Man erzählt, daß jener König einer der großartigsten Könige aller Zeiten war und drei Söhne sein eigen nannte. Der erste hieß Kasim, Wüterich, der zweite Ghanim, Beuteraff, und der dritte Hamid, Gottseilob. Diese drei Brüder waren voller Neid gegen das Land der Ungläubigen an den Grenzen ihres Reiches: Kasim sammelte seine Krieger und zerschmetterte die Schädel seiner Feinde, und Ghanim raubte reiches Beutegut, während Hamid den Glauben Allahs verbreitete und Gott für seine Huld dankte. Eines Tages träumte der König einen gar seltsamen Traum. Er rief die Astrologen und Traumdeuter zu sich und verlangte Aufschluß über diesen seinen Traum. Die Gelehrten entfernten sich in ihren Meinungen weit voneinander und sahen sich schließlich außerstande, eine einleuchtende Auslegung zu geben. Unverhofft gelangte ein großer Gelehrter in den Rat bei Hofe. »Was hast du geträumt, o Herr?« erkundigte sich dieser bei dem Herrscher. »Ich sah einen mächtigen Adler, der sich auf einem Berg über den Wolken niederließ und in einen großen Horst sprang. Aber kaum war das geschehen, stürzte der Adler nieder und auch der Berg barst auseinander. Alsdann ward am Horizont ein großer Apfel und neben ihm wieder ein Berg sichtbar, über dem drei Vögel kreisten. In einiger Ferne lag erneut ein Bergfels zertrümmert darnieder. Weißt du, was dies zu bedeuten hat?« »Der Adler, der bist du, o Herr. Er verkörpert deine Macht und Majestät. Was den Berg anbelangt, er ist dein Reich. Er symbolisiert Festigkeit und Stärke, was – so Allah will – ein gutes Zeichen ist.«
»Aber der Apfel und der geborstene Berg und jene drei Vögel?« gab der König nicht nach. »Von diesen Dingen sehe ich mich außerstande, sie dir auszudeuten, aber ich werde sie deinen drei Söhnen offenbaren.« Daraufhin traten die Prinzen zu dem Gelehrten, denen er als Geheimnis anvertraute, daß ihr Vater wegen einer gefährlichen Krankheit einem baldigen Tod entgegensehe, nach dem auch dessen Volk und Reich untergehen werde. Damit der König aber wieder genese, müsse man ihm den Apfel des Lebens herbeischaffen. »Liegt dieser Apfel etwa in einem fernen Land, mit dem wir Krieg führen müssen, um der Wunderfrucht habhaft zu werden?« wollte Kasim wissen. »Werden wir mit dem Apfel reichlich Beute machen?« horchte Ghanim auf. »Ich flehe zu Allah, daß er uns Erfolg verleihen und beistehen möge, damit wir den Apfel erringen und unserem tapferen Vater darbringen können«, beschied sich der gottesfürchtige Hamid. »Damit ihr überhaupt zu dem Lebensapfel gelangt, müßt ihr das Khuldschan-Meer überqueren und zur Koralleninsel fahren, auf der der Geisterkönig haust. Dort trefft ihr auf den König Shahbanar, der euch den rechten Weg weisen wird. Ich rate euch, folgt seinen Befehlen, wenn nichts Unvorhergesehenes geschehen soll«, gab der Gelehrte den Brüdern mit auf die Reise und riet ihnen noch, diese Angelegenheit vor jedermann geheimzuhalten. Als jedoch Kasim der Wüterich in den Sattel stieg und sein Weib sich nach dem Ziel der Reise erkundigte, enthüllte er ihr den wahren Grund. Sie ihrerseits erzählte das Geheimnis der Zofe weiter, jene einem Diener, der wiederum seinem Vorgesetzten, worauf es der Wesir erfuhr. Schließlich hörte der König selbst die Hiobsbotschaft und sank auf der Stelle ohnmächtig nieder.
Die drei Söhne indessen schifften sich ein und nahmen Kurs auf die Koralleninsel. Der Kapitän warnte die drei eindringlich vor den Widrigkeiten und Gefahren, die sie auf der Insel ereilen könnten, aber das konnte sie nicht von ihrer Entschlossenheit zur Weiterfahrt abbringen. Sie hielten den Kurs, bis sie bei der Insel anlangten und die drei so unterschiedlichen Brüder an Land gingen. Kaum hatten sie einige Schritte auf der Insel getan, als sie drei benachbarte Höhlen gewahrten, die zu betreten sich jeder eine vornahm. Kasim ging in die erste Grotte, in der er eine Stimme vernahm, kaum daß er die Mitte des Gewölbes erreicht hatte. »Ich bin König Shahbanar und ich weiß, warum du gekommen bist. Aber damit du den Lebensapfel erringen kannst, mußt du die Phalanx von Zwergenkriegern überwinden, die dich zum Kampfe fordern werden, obwohl ein jeder von ihnen nicht größer als ein Fingerlang ist. Nur hüte dich, einen von ihnen zu töten, denn dann gehst du des Lebensapfels und deines Lebens selbst verlustig. Du würdest dich in diesem Fall in eine abstoßende Ratte verwandeln.« Kasim trat weiter vor, überschritt die Phalanx der kleinen Krieger, doch die Zwerge empfingen ihn mit einem Hagel winziger Pfeile und Speere. Von seiner wesenseigenen Lust zum Töten angefacht, packte er dennoch einige der Gnome und schmetterte sie zu Boden, daß sie tot liegen blieben. Im selben Augenblick verwandelte sich Kasim in eine häßliche Ratte. Kaum war Ghanim Beuteraff in seine Höhle getreten, als er ebenfalls die Stimme von König Shahbanar vernahm, der ihn zu dem Apfel geleiten wollte. »Dieser Apfel liegt in der Goldkammer«, verhieß er dem Prinzen. Er sollte, um den Apfel zu erlangen und sich selbst zu retten, in der Goldkammer nur die wunderbare Frucht berühren, ansonsten würde er sich ebenso wie sein älterer Bruder in eine Ratte verwandeln.
Ghanim ging voran, bis er zu den Schätzen gelangte. Schon beim Eintreten erblickte er den Apfel in einem kostbaren Gefäß aus purem Gold. Er nahm die Frucht an sich und ging. Doch als er gerade den Raum verlassen wollte, heftete sich sein Blick auf ein wertvolles Juwel, das nahe dem Tor verführerisch glänzte. Schon streckte er seine Hand nach dem Edelstein aus, um ihn an sich zu nehmen, aber da verwandelte auch er sich in eine Ratte. König Shahbanar stellte auch Hamid auf die Probe, als dieser das dritte Höhlengewölbe betrat. »Ich weiß, wonach du suchst«, sprach der Geisterkönig zu Prinz Gottseilob. »Ich werde dich zu dem Lebensapfel geleiten. Du mußt allerdings das Höhlengewölbe durchqueren, ohne Allah um Beistand anzurufen und ohne daß in deinem Herzen auch nur eine Spur von Gottesglauben ist. Dann hast du den Apfel, dich selbst und deine beiden in Ratten verzauberten Brüder gewonnen. Andernfalls wirst auch du zu einer Ratte wie sie.« »Bei Allah, was auch immer eintreten und mich zwingen könnte, aber das werde ich nicht tun«, wies Hamid das Ansinnen zurück. »Der Glaube an Allah wird stets mein Herz erfüllen und ich werde mich dafür mit allem aufopfern. Meines Vaters Leben liegt in Allahs Hand. Der Apfel könnte ihm nicht das Leben verlängern, würde Gott dies nicht für ihn wollen. Auch wird unser Volk solange weiterbestehen, wie es ihm Gott vorherbestimmt hat, keinen Tag länger und keinen kürzer.« »Ich glaube dir, du mutiger und gottesfürchtiger Bursche«, donnerte Shahbanars Stimme. »Du hast meine Prüfung mit Erfolg bestanden und dir den Apfel sowie deine Brüder verdient. Wegen deines guten Wesens werde ich dir meine Tochter, Herrin über Schönheit und Glanz, die Prinzessin Esprit, zur Frau geben.« Darauf überreichte Shahbanar Hamid den Apfel, vermählte ihn mit seiner Tochter und gab seinen Brüdern ihre wahre Gestalt zurück. Gemeinsam kehrten sie zu ihrem Vater heim.
Die drei Brüder verehrten dem König den Lebensapfel, worauf er von seinem schweren Leiden genas. Und sie lebten fortan in Freude und Glück.
Die Stiefmutter
Es war einmal, es war keinmal, daß einmal ein Mädchen mit Vater und Mutter lebte. Als die Mutter starb, bat die Tochter ihren Vater, wieder zu heiraten. »Ich werde mir nicht eher wieder ein Weib nehmen, bevor du nicht an den Brotkorb heranreichst«, entschied der Vater. Das Mädchen lief daraufhin zur Nachbarin und klagte ihr sein Leid. »Vater will nicht eher heiraten, bevor ich nicht zum Brotkorb reiche«, sagte es. Die Nachbarin wußte eine List. »Stelle Stuhl auf Stuhl, so kommst du schon jetzt an den Korb!« riet sie ihm. Und so kam es, daß der Vater eben jene Nachbarin schon bald zur Frau nahm. Doch die Stiefmutter wollte des Vaters Tochter bald loswerden. »Geh zur Großmutter, die Ghula, und bitte sie um das Sieb«, schickte sie das Mädchen in sein vermeintliches Verderben. Auf ihrem Weg kam das Mädchen bei Bauern vorbei, die Rosen pflückten. »Allah möge euch Gesundheit schenken«, grüßte sie freundlich und ging ihnen zur Hand. Aus Dank wählten die Bauern dem Mädchen eine wunderschöne Rose aus. »Möge Allah dein Gesicht so rosig wie diese Blume werden lassen«, sprachen sie und schon war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen. Wenig später traf das Mädchen auf Leute, die Sesam ernteten. »Komm her und rupfe mit uns ein wenig Sesam!« riefen die Leute, und es tat, worum man es gebeten hatte. »Allah möge euch Gesundheit schenken«, verabschiedeten sie sich. Doch zuvor wählten die Leute dem Mädchen noch ein Sesamkorn aus. »Möge Allah deinem Körper die Farbe jenes Sesamkornes geben«, wünschten sie ihm zum Abschied, und Allah ließ ihre Worte in Erfüllung gehen.
Nach einem kurzen Stück Weg fand das Mädchen eine gebärende Stute, der es hilfreich zur Seite sprang. »Allah möge dich mit Glück segnen!« wünschte es dem Tier. »Möge dir Allah für deine Gunst das Haar so braun wie mein Fell färben«, erwiderte das Pferd. Auch dieser Wunsch war im Nu Wirklichkeit geworden, und das Mädchen gewann immer mehr an Schönheit und Liebreiz. Bald gelangte das Mädchen zur Großmutter, der Ghula. »Gib mir das Sieb!« bat sie die Alte. »Geh und kratze dem Kind die Augen aus, brich Joch und Pflugschar entzwei und blende die Kuh!« herrschte sie das Mädchen an, das genau das Gegenteil von dem tat. Es gab dem Kind zu trinken und fütterte die Kühe. Mit Joch und Pflugschar brach es den Acker um. Zu guter Letzt fegte das fleißige Mädchen noch das Zimmer aus. Die Großmutter trat in die Kammer und sah, daß Kind und Kühe versorgt waren. »Steige hinab in den Brunnen, brich die Becher entzwei, schlachte die Kühe sowie das Federvieh!« schnauzte die Ghula erneut. Das Mädchen ließ sich nicht beirren und brachte der Alten das Haus in Ordnung und mistete den Stall der Kühe und Hühner aus. »Großmutter, die Arbeit ist getan«, sprach es dann. »Ruf mich, zieht die blaue Wolke vorbei, ruf mich, zieht die weiße Wolke herbei!« murmelte da die Ghula. »Großmutter, die blaue Wolke kam vorüber«, rief das Mädchen der Alten zu. »Großmutter, die weiße Wolke ist heran.« Bei jedem Ruf hatte die Ghula für das Mädchen ein Stoßgebet zum Himmel gesandt. »O Brunnenmutter, steig herauf, in deinem Kleide aus purem Gold und feiner Seide!« Da kam die Brunnenmutter, die über und über mit Gold und Seide bedeckt war, an die Oberfläche. Immer wenn sie ein Stück abnahm, wuchsen einhundertneunzig Stücke wieder nach. Der Geist schenkte dem Mädchen für seinen Fleiß einen goldenen Ring.
Nun gab die Ghula dem Mädchen das Sieb und es kehrte nach Hause zurück. Doch an einer Quelle verlor sie ihren goldenen Ring. Den fand der König, als er sich zu trinken niederbeugte. Von seiner Mutter verlangte er, von Liebe entbrannt, daß sie ihm das Mädchen zur Braut würbe, an dessen feinen Finger jener Ring passe. Die Fürstin lief von Haus zu Haus, aber der Ring paßte an keines Mädchen Hand. »Der Ring paßt an keines Mädchen Finger. Es ist da nur noch ein Armeleutehaus. Bei diesen Leuten war ich nicht, weil ich dort einzutreten nicht gewillt bin«, sprach die Mutter zu ihrem Sohn. »Geh dennoch hin!« flehte der Jüngling. Da lief die Mutter auch zu dieser schäbigen Hütte und klopfte an die Tür. Und siehe da, der Ring paßte der Tochter des Hauses wie angegossen an den Finger. Der König hielt sein Wort und freite dieses Kind armer Leute. Eifersucht und Neid bemächtigten sich der Stiefmutter. »Ich möchte mit dir in die Badestube gehen«, schlug sie der Stieftochter vor. »Ich kenne da ein Bad, das hat niemand bisher gesehen, noch wurde je von ihm gesprochen.« Im Bad bot sie sich an, das Mädchen zu waschen. Die böse Stiefmutter hatte eine Schachtel Nadeln mitgebracht. Als sie dem Mädchen die wunderschönen Haare kämmte, stach sie ihm eine Nadel nach der anderen in den Kopf. »Was sticht so?« fragte das arme Kind. »Der dumme Kamm«, entschuldigte sich jedesmal die Stiefmutter, bis alle Nadeln im Kopf des Mädchens steckten und es sich in einen Singvogel verwandelte. Der Vogel flatterte zum Wasserbassin, wo der König sich dem schönen Tier näherte, um es zu streicheln. Jedesmal wenn er seine Finger auf den Vogel legte, fand er eine Nadel in seiner Hand. Als alle Nadeln aus dem Kopf des Vogels entfernt waren, erlangte das Mädchen seine ursprüngliche Gestalt zurück und lebte mit dem König in Glück und Frieden. Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Der Königssohn und seine Braut
Jeden Tag, wenn die Kinder vom Koranlehrer kamen, erschien einem Jungen namens Hassan, dessen Vater der König war, ein großer Vogel. »Sag deinem Vater«, krächzte dieser allemal, »er soll das Gelübde für deine Geburt einlösen, bevor ich dein Leben auslöschen muß!« Der Knabe ging davon, vergaß aber, seinem Vater von der Begegnung zu erzählen. Der Greifvogel kam ein weiteres Mal und steckte Prinz Hassan einen Kiesel in die Tasche, damit er sich zu Hause erinnere. Zu Hause fiel dem Jungen, als er sich auszog, der kleine Stein aus seiner Tasche und er besann sich. »Bei Allah, mein Vater, es ist da ein großer Vogel, der mich jeden Tag auffordert, dir zu sagen: ›Laß deinen Vater sein Gelübde für dich einlösen, bevor ich dein Leben auslösche.‹« – »Albernes Geschwätz«, erwiderte der König. »Irgend jemand treibt einen Schabernack mit dir.« Doch am anderen Tag kam der Vogel wieder. »Hast du es deinem Vater ausgerichtet?« fragte er, und Hassan bejahte. »Und was hat er getan?« »Bei Allah, nichts hat er getan«, erwiderte er. Als das Kind abermals vom Koranlehrer zurückkam, ließ der Vogel von seiner grellen Stimme den Himmel erschallen und entführte den Knaben. Hoch durch die Lüfte zog er mit ihm davon. »Wie siehst du die Erde?« fragte der Vogel, als er immer höher aufstieg. »Sie ist wie ein Teppich so groß«, antwortete jener und der Vogel flog und flog. »Wie siehst du die Erde jetzt?« wollte er darauf wissen. »Sie ist wie ein Tablett so groß«, und höher führte der Flug. »Wie ist die Erde nun?«
»Sie ist nur noch wie ein Teller so groß.« Dann erst ließ sich der Vogel in einer merkwürdigen Stadt nieder. »Jetzt möchte ich dich fressen. Aber zuvor will ich, daß du deine Lehre abschließt«, eröffnete ihm der Vogel, der ein Zauberer war. Darauf schickte er Hassan wieder zu einem Koranlehrer in den Unterricht. »Nun, hat Hassan ausgelernt?« fragte der Zauberer seine junge Tochter, die ihn immer wieder zu vertrösten verstand, bis der Knabe zu einem stattlichen Jüngling herangewachsen war, den die Tochter in ihr Herz geschlossen hatte. »O Unglück«, eröffnete sie eines Tages Hassan, »mein Vater will dich heute fressen. Was gibst du mir, wenn ich dich vor ihm rette?« »Ich flehe dich an, ich gebe dir alles, was du verlangst.« »Dann nimm mich mit in dein Land, aber schwöre mir, daß du mich nie im Leben hintergehen wirst!« »Bei Allah, ich werde dich niemals nicht verraten«, schwor Hassan. Daraufhin ergriffen sie die Flucht und liefen bis zum Einbruch der Dunkelheit und weiter bis zum Sonnenaufgang. »Schau dich um, Hassan. Was siehst du?« »Ich sehe die Welt in das Dunkel von Regenwolken getaucht.« »Das ist mein Vater«, rief sie. »Er kommt, dich zu fressen und mich nach Hause zu holen.« Um ihrer Rettung willen mußte Hassan erneut schwören, daß er des Zauberers Tochter nicht hintergehen werde, was er ihr hoch und heilig versicherte. Alsdann verzauberte sie sich in einen Burschen und ihn in einen Backofen, an dem der Jüngling sich zu schaffen machte. »Sei gegrüßt, Junge«, sagte der Zauberer, als er heran war. »Der Fladen für eine halbe Lira«, war die kurze Antwort. »Ich sagte: ›Sei gegrüßt Junge!‹« wiederholte der Vater. »Ein halber Fladen für eine Lira«, ließ sich der Bäcker nicht erschüttern.
Da machte der Zauberer kehrt in sein Land und der Zauber wich von den beiden Ausreißern. »Was hast du gesehen?« fragte das Weib des Vogelmannes. »Ich sah nur einen Bäckerburschen und einen Backofen, in dem Fladen gebacken wurden.« »Zum Donnerwetter! Das waren deine Tochter und Hassan«, schalt sie ihn aus und befahl ihm umzukehren, denn sie hatte die Art des Zaubers erkannt. »Was siehst du?« fragte das Mädchen wenig später Hassan. »Eine dicke dunkle Wolke. Es wird bald Regen fallen.« »Das ist mein Vater. Versprich mir, daß du mich nicht im Stich lassen wirst!« Hassan versprach ihr seine Treue, worauf sie ihn in einen Garten und sie sich selbst in einen Gärtner verwandelte, der die Bäume goß. »Sei gegrüßt, Junge!« sagte der Vater, als er die Stelle erreicht hatte. »Das Kilo für eine halbe Lira«, war die Antwort. »Ich sagte: ›Sei gegrüßt, Junge!‹« wiederholte der Zauberer. »Das Kilo für zwei Lira.« Unverrichteter Dinge kehrte der Zauberer heim und erzählte seinem Weib das Vorgefallene. »Zum Donnerwetter mit dir!« schimpfte diese. »Das waren eben deine Tochter und der Schwiegersohn. Jetzt werde ich selber die Verfolgung aufnehmen.« Am dritten Tag brach die Mutter auf und verfolgte die beiden Flüchtenden. »Blick dich um, Hassan. Was siehst du?« fragte das Mädchen. »Ich sehe eine schwarze Wolke.« »Das ist meine Mutter. Ich soll mit ihr zurückkehren, und du bleibst allein.« Das wollte Hassan nicht, und er versprach abermals, das Mädchen sein Leben lang nicht zu verlassen. Sie verwandelte ihn dieses Mal in einen Teich und sich selbst in einen Fisch, der in dem Tümpel umherschwamm. »Bei Allah, zum Donnerwetter!« tobte die Mutter, als sie heran war. »Was hast du aus dir gemacht? Morgen wird er dich verlassen
und nichts mehr von dir wissen wollen. Komm doch zurück mit mir!« Dann versuchte sie, das Fischlein zu ergreifen. Als es ihr mißlang, machte sie unverrichteter Dinge und mit einem derben Fluch kehrt. Hassan und das Mädchen gelangten nun unbehelligt in sein Land. Am Rand seiner Heimatstadt stand eine kleine Hütte, in der eine alte Frau allein lebte. »Was gibt es denn Neues in diesem Land, Tantchen?« fragte Hassan. »Eigentlich nichts. Aber vor ein paar Jahren verschwand der Sohn des Sultans, Hassan war sein Name, und seine Familie suchte vergebens nach ihm.« »Ist er denn überhaupt nicht wiedergekommen?« »Bei Allah, nein.« »Würdest du ihn denn erkennen, falls du ihn sähest?« »Ich würde. Er hat an der Hand ein Muttermal«, erklärte die Alte. »Ich kannte ihn gut, als er noch klein war, weil ich seiner Mutter zur Hand ging.« Hassan entblößte seinen Unterarm. »Ist es dieses Mal?« fragte er sie. Kaum daß die Alte es erkannt hatte, lief sie, so schnell sie ihre alten Füße tragen konnten, zum Palast des Sultans. »Ich habe eine Freudenbotschaft«, rief sie außer Atem. »Hassan ist zurückgekehrt.« Sofort setzten in der Stadt Tanz und Musik und ein Jubel ein, den man sich nur vorstellen kann. Hassan kehrte zu seiner Familie zurück, während das Mädchen bei der Alten blieb. Sieben Tage und Nächte wurde gefeiert. Dabei vergaß er doch tatsächlich sein Mädchen und man verlobte ihn mit der väterlichen Base, wie es üblich war. »Was hat es mit dem Trubel in der Stadt für eine Bewandtnis, Tantchen?« fragte das Zaubermädchen. »Der Sohn des Königs ist heimgekehrt, nun hat ihn sein Vater mit der Tochter seines Bruders verlobt«, erzählte die Alte. »Großmütterchen, geh in die Stadt und kaufe mir einen Hahn und eine Henne!« Das Mädchen kochte das Geflügel und füllte es mit Reis. Dann
schickte sie die Alte mit dem Mahl in den Palast, wo sie es direkt vor dem Sultanssohn hinstellen sollte. Hassan kam neugierig näher, fand Gefallen an dem Gericht und wollte mit seiner Braut davon kosten. Er griff nach einem Hahnenbein. »Putt, putt, putt«, gackerte da das Huhn. »Hast du die Zeit vergessen, als ich dich liebte? Du wurdest zum Backofen und ich zum Bäckerburschen.« »Allah möge mich vor derart Gerede bewahren«, wehrte Hassan ab. »Putt, putt, putt«, rief die Henne wieder, als der Prinz sich zum zweiten Mal etwas vom Gockel abbrach. »Hast du die Zeit vergessen, als du zum Garten und ich zu einem Gärtner wurde?« »Hast du die Zeit vergessen«, ließ das Huhn auch ein drittes Mal nicht nach, »als du zum Teich und ich zum Fischlein wurde? Und du mir das Versprechen gabst, daß du mich dein ganzes Leben nicht hintergehen wolltest?« Bei diesen Worten erinnerte sich Hassan seiner ersten Braut, die ihn vor dem Tod errettet hatte. »Bei Allah, Onkel, führe diese Braut hinweg. Ich will die Base nicht. Ich hatte mir eine Braut schon mitgebracht.« Hassan erklärte seinem Vater die ganze Geschichte und holte seine eigentliche Braut ins Haus und die begonnene Hochzeit ging weiter. Und sieben Tage und sieben Nächte aßen und tranken die Leute nur auf der Hochzeit des Sultanssohnes.
Der Baum und das kleine Mädchen
In alter Zeit lebte eine Mutter, die hatte drei Töchter. Eines Tages kam zu ihr der, der die Genüsse des Lebens beendet und die Menschen voneinander scheidet, und so trat der Tod zu ihr. Die Mutter tat der ältesten, der mittleren und der jüngsten Tochter ihren letzten Willen kund. Die Mutter fühlte, daß Laila, der Jüngsten, ein Unglück widerfahren werde. Sie teilte ihre Habe zwischen den Töchtern. Laila vererbte sie einen kleinen Teppich. Dann schloß die Mutter für immer die Augen. Bald schon ergriff Eifersucht die Herzen der beiden älteren Schwestern und sie vertrieben Laila aus dem Haus, die nur ihren kleinen Teppich mit sich nahm. Das Mädchen schlief auf der Straße; der Teppich wärmte es und empfand für Laila wie eine Mutter für ihr Kind. Als Laila eines Morgens aus dem Schlaf erwachte und den Staub aus ihrem Teppich klopfte, fand sie zu ihrer Freude darunter eine goldene Lira, und als das Mädchen eines Tages am Wegesrand saß, erbarmte sich seiner eine alte Frau. »Komm und wohne bei mir!« sprach sie zu Laila. »Ich bin allein, und du sollst mir wie eine Tochter sein.« Die Tage vergingen, da erfuhr die Alte das Geheimnis des Teppichs und nahm ihn Laila weg. Der Teppich aber weigerte sich von Stund an, wie sonst eine goldene Lira zu geben, worauf ihn die Alte kurzerhand im Garten vergrub. Der Teppich fühlte mit Laila und trieb unter der Erde einen Sproß, aus dem ein hochaufragender Baum emporwuchs. Er begann zu leuchten und erhellte die Einsamkeit des Mädchens. Es war, als ob er sagen wollte: ›Ich habe etwas von der Liebe der Mutter, o Laila.‹
Die Alte wurde schließlich Lailas überdrüssig und sie behandelte das Mädchen immer garstiger und unbarmherziger. Laila lief dann immer zu ihrem Baum und klagte ihm ihr Leid. Da befiel auch den Baum Traurigkeit und er weinte, aber seine Tränen fielen als Perlen und Korallen herab. Laila hob sie auf und hatte ihre wahre Freude an ihnen. Eines Tages befahl der König, die Lichter der Stadt zu löschen. Die Leute gehorchten und gingen in ihre Häuser. Nur der Baum strahlte unverdrossen und ließ das Haus Lailas erstrahlen, daß man es weithin sehen konnte. Als der König dieses Licht gewahrte, zürnte er sehr. Er entsandte sogleich seinen Wesir, der den herbeischaffen sollte, der es gewagt hatte, seinen Befehlen zuwiderzuhandeln. Die Alte wies jede Schuld für das Leuchten des Baumes zurück, worauf der Wesir Laila ergriff und vor den König führte. »Wie kannst du es wagen, den Befehl des Königs zu verletzen?« herrschte der König Laila an, die ein schönes Mädchen geworden war. »Ich habe den Befehl Eurer königlichen Majestät nicht verletzt, denn der Baum löscht seine Lichter nie«, erwiderte sie. »Er ist von meiner Mutter und kündet von ihrer immerwährenden Liebe.« Da wunderte sich der König sehr. Schwankend zwischen Glaube und Zweifel, begleitete er Laila nach Hause. Als er aber den schönen strahlenden Baum erblickte, ward er dem Mädchen ganz zugetan. Der König spürte, wie sehr das Mädchen seine Mutter verehrte, und gewann Laila so lieb, daß er sie zur Frau nahm. Mit dem Baum aber schmückte er den Garten seines Palastes. Nachdem Laila Königin geworden war, wuchs die Eifersucht der beiden Schwestern ins Unermeßliche. Oft warteten sie ihr auf, um nach der Gelegenheit für eine List zu suchen, mit der sie die Schwester hätten verderben können. Eines Tages wurde Laila krank und verfiel in einen tiefen Schlaf. Ihre Schwestern kamen und durchbohrten ihren Kopf mit Nadeln, worauf sich
Laila in einen schönen Singvogel verwandelte, der in den Palastgarten flatterte. Das verzauberte Mädchen ließ sich auf einem Zweig ihres Baumes nieder und weinte und klagte ihr Leid. Die beiden Schwestern beratschlagten, was sie tun und was sie dem König über Laila sagen sollten, falls er unversehens seinem Weibe im Palast aufwarten käme. Als der König beide Schwestern erblickte, konnte er sie nicht von seiner Frau unterscheiden, denn die drei Mädchen ähnelten einander sehr. Die Schwestern gerieten in Streit und eine jede sprach zum König: »Ich bin deine Frau!« – »Ich bin deine Frau!« Wie Lailas Baum das Gezänk vernahm, senkte er seine Äste mit dem Vögelchen zum Fenster der Kammer herab. »Schafft sofort den Vogel fort!« schrien die Schwestern erschrocken. Der König aber ergriff das schöne Tier und bemerkte verwundert eine Nadel in dessen Kopf. Als er sie herauszog, verwandelte sich der Vogel auf der Stelle in des Königs Frau Laila zurück. »Was tun wir nun mit deinen bösen Schwestern?« fragte der König seine Frau. »Wäre ich eine Fremde«, entschied die Königin, »würde ich befehlen, sie an die Hinterläufe von Pferden zu binden und auf einem steinigen Bergpfad zu Tode zu schleifen. So fand’ ich Ruhe vor diesen Unholden. Aber gleiches Blut erbarmt sich seiner, und Vergeben zeugt von Edelmut.« So vergab der König den beiden Schwestern und sie lebten alle glücklich und zufrieden. Die beiden Schwestern wurden gut und wohltätig. Sie liebten Laila, strebten nach Rechtschaffenheit und Güte und gaben einem jeden Menschen den Rat, den Eltern nur Gutes angedeihen zu lassen.
Das Märchen vom Mädchen aus dem Unterschenkel
Es war einmal, es war keinmal. Es lebte einst eine Frau, die nicht schwanger werden und demzufolge auch keine Kinder bekommen konnte. Eines Tages hörte sie, wie ein fliegender Händler Äpfel feilbot. »Äpfel für die Schwangerschaft, Äpfel mit der Berge Kraft!« rief er aus. »Äpfel für die Schwangerschaft, Äpfel mit der Berge Kraft!« »Schick mir einen nach oben!« bestellte die Frau lauthals. »So von dieser Größe?« »Naja doch, nun bring mir schon einen!« keifte sie. »Aber sag mir noch, wie ich es mit dem Apfel anstellen muß.« »Nimm einfach ein Scheibchen, geh in die Badestube und iß es dort mit einem Brocken von deinem eigenen Käse.« Die Frau teilte also den Apfel, nahm sich ein Stück und lief stracks ins Bad. Bei ihrer Rückkehr konnte sie den Apfelrest nicht finden. »Mann, wo ist der Apfel?« »Bei Allah, den habe ich gegessen.« »Welch Unglück, bald schon wirst du schwanger gehen, Mann.« Nur wenige Tage später begann er über sein Bein zu klagen. Sein Unterschenkel schmerzte und schwoll unaufhörlich an. Als volle neun Monate ins Land gegangen waren, tat der Schenkel so ungeheuer weh, daß er in des Herrgotts freier Natur umherirrte und dabei in einen Wald geriet. Neben einer klaren Quelle ließ er sich nieder und streckte sein geplagtes Bein in das Wasser. Da öffnete sich sein Unterschenkel und eine Tochter entstieg ihm. Der Mann sammelte große Blätter, in die er das Mädchen einhüllte und es an seiner Seite bettete.
Plötzlich stieß ein großer Milan hoch vom Himmel zu dem Mädchen herab, nahm es in den Schnabel und flog mit ihm auf und davon. Der Vogel schwebte lange durch die Lüfte, bis er schließlich das Kind in die Krone einer hohen Palme ablegte, an deren Fuß eine muntere kleine Quelle plätscherte. Der Milan schaffte Tag für Tag Nahrung und anderes für das Mädchen herbei und später erzog er es sogar. Das Mädchen wuchs allmählich zu einer wahren Schönheit heran. Eines Tages führte der Sohn des Sultans sein Pferd herzu, um es an der Wasserstelle zu tränken. Doch das Tier scheute unentwegt, und es trank auch dann nicht, als er auf das Tier einschlug. Als er verwundert in das Wasser sah, erblickte er das Spiegelbild des Mädchens in der Palme. »Mensch oder Geist?« fuhr er erschrocken zurück. »Bei Allah, ich bin ein Menschenkind und von der besten Sorte«, antwortete es. »So komm doch herab!« »Ich komme aber nicht.« So ging es noch eine Weile hin und her, aber nichts in der Welt hätte das Mädchen hinabsteigen lassen. So machte sich der Sohn des Sultans auf den Weg und ritt nach Hause. »O Mutter«, konnte der Jüngling gerade noch ausstoßen, bevor er von Liebe krank darniedersank. Das Gerücht über das Leiden des Prinzen verbreitete sich im ganzen Land. Eine jede Frau trat zu ihm, um ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Dabei erschien vor ihm auch eine listige Alte, die sich seine Geschichte anhören wollte. »Ach«, stöhnte der Prinz, »meine Geschichte ist sehr vertrackt.« »He, he, was dir so schwer, ist mir gar leicht«, munterte sie ihn auf. »Mein Sohn, geh und bring mir Fett, ein paar Eier und ein Kochblech. Dann geleite mich zu der Stelle, an der du das schöne Mädchen im Wald gesehen hast.« Der Sohn des Sultans schaffte das Verlangte herbei, und sie ritten davon. Während sich der Prinz unter einem Palmwedel verbarg, stellte die Alte
ihr Kochblech unter die nämliche Palme und entzündete ein Feuer, um die Eier mit dem Fett zu braten. Aber sie goß alles in die Flammen, so daß fürchterliche Gerüche aufstiegen. »Großmutter, he Großmutter«, rief unversehens das Mädchen von oben, »du bringst mich ja um mit dem Gestank. Du mußt es anders anstellen.« Die Alte drehte nun das Blech mit der Unterseite nach oben und tat so, als wüßte sie in nichts Bescheid. »Gott vergelt’s, mein Töchterchen, steig doch herab und geh mir zur Hand! Brate du mir die Eier! Immer wenn ich etwas tue, rufst du von da oben: ›Mach es so und so!‹ Gott vergelt’s, ich weiß mir nicht zu helfen.« Die Alte bettelte die Schöne solange, bis sie zu guter Letzt von der Palme auf die Erde herabstieg. Dort nahm sie der Sohn des Sultans in Empfang, umhüllte sie mit seinem weiten Umhang und hob sie hinter sich auf sein Pferd. Während des Ritts und im Palast hielt er das Mädchen versteckt, damit niemand es sehen sollte. Sogar vor der eigenen Verwandtschaft verbarg er die Schwiegertochter. »O Mutter, du wolltest mir doch gerade eine gefüllte Gans bringen«, bat der Prinz, »bring eher zwei. Und bringe auch statt einem Fladenbrot gleich deren zwei.« Die Mutter tat, wie ihr geheißen, und war ihm willig zu Diensten, weil sie zu gern erfahren hätte, wer das Mädchen wohl sei, das bei ihm war. Jeden Tag kam sie herauf in die Kammer ihres Sohnes und konnte doch ihre Neugier nicht stillen, bis die Zeit der Pilgerfahrt herankam. »Ich wallfahre nach Mekka«, kündigte der Sohn an. »Aber hüte dich, Mutter, einen Tag nicht heraufzukommen, um Essen zu bringen.« Als er fort war, kam sie in die Kammer des Sohnes und schaute sich gründlich um, konnte aber nichts finden. »O je, da hat er sich nun schon ein Weib ins Haus gebracht«, redete die Mutter, an das Mädchen gerichtet, in den
Raum, »und dann geht er einfach auf Pilgerfahrt. He, Schwiegertochter, ich kenne dich zwar noch nicht einmal, aber ich habe dich schon in mein Herz geschlossen.« Als jene schüchtern hervortrat, segnete die Mutter das Mädchen scheinheilig und setzte sich mit ihr ans Fenster. »Komm laß uns aus dem Fenster schauen, Schwiegertöchterchen, und eine Brise frische Luft schnappen!« Die Alte ließ das ahnungslose Mädchen nahe am Fenster Platz nehmen, machte diese und jene Bewegung und stieß es dabei hinaus, so daß es aus dem Palast auf die Erde stürzte. Das Mädchen jammerte und weinte zum Herzzerreißen. Doch plötzlich schlängelten sich vor ihm eine schwarze und eine weiße Schlange, die miteinander zu kämpfen begannen. »O Allah, laß die schwarze über die weiße siegen!« flehte sie. »Laß die schwarze triumphieren.« Die schwarze Schlange überwand tatsächlich ihre weiße Widersacherin. Das dunkle Reptil kam vor das Mädchen gekrochen und hielt ihm einen Ring hin, den es annahm. »Zu deinen Diensten«, entbot es artig seinen Dank. »Mitnichten, dein Knecht steht vor dir«, entgegnete die Schlange. »Was du dir auch wünschen magst, ich werde es dir erfüllen.« »Ich wollte gern einen Palast gerade gegenüber dem Palast des Sultanssohns.« Im Nu hatte das Tier einen Palast gezaubert. »Nun möchte ich noch Sklaven und einen Weinstock, der Trauben wie sonst nirgends auf der ganzen Welt trägt.« Wiederum dauerte es nur einen Augenblick, bis auch der Wunsch erfüllt war und an der Rebe die schönsten Trauben prangten. Kehren wir zu ihrem Gemahl zurück, der von der Pilgerfahrt heimgekehrt war. Seine eigene Mutter hatte sich indes herausgeputzt und gab sich als sein Weib aus. Als er sie erblickte, mußte er sich vor Schreck niedersetzen. Ungläubig starrte er sie an.
»O weh, was ist dir denn widerfahren?« fragte der Prinz. »Bei Allah, ich hörte, du seist tot.« »Aber deine Nase, wieso ist sie jetzt so?« wollte er wissen. »Weil ich mich so oft aus Sorge um dich schneuzen mußte.« »Und dein Mund, wieso ist er jetzt anders?« »Weil ich wegen dir so oft hab ausgespuckt.« »Und deine Augen, wo ist ihr Braun?« »Es ging dahin, weil ich so oft hab um dich weinen müssen. Ich hörte doch, du seist gestorben.« Nun erst begann der Prinz seinem vermeintlichen Weib Glauben zu schenken. »Wo ist meine Mutter?« erkundigte er sich. »Sie starb, und wir haben sie begraben«, erwiderte sie ihrem Sohn. Er lief dann auf die Straße und beschaute sich staunend den Nachbarpalast. »Wann wurde dieser Palast gebaut?« befragte er die Leute. »Wir bemerkten ihn erst, als er schon fertig war«, sagte man ihm. Der Sohn des Sultans besah ihn sich näher und bestaunte auch den Weinstock mit seinen unvergleichlichen Trauben. Seine Mutter indes tat so, als ob sie von den seltsamen Gelüsten einer Schwangeren gequält würde. »Es zu stillen, braucht es Trauben von dieser herrlichen Rebe da«, forderte sie von ihrem Sohn, der umgehend einen Sklaven zu sich kommen ließ. »Geh und hole uns eine Traube von jenem Wein dort!« trug der Prinz ihm auf. »Sag der Besitzerin: Wem der Palast vor dem unseren gehört, wem die Rebe vor der unseren gehört, möge uns Trauben für ein Weib mit Schwangerschaftsgelüsten geben, wie es sich gehört.« Der Sklave ging und richtete alles getreulich aus, wie es ihm aufgetragen war. »Wem der Palast vor dem unseren gehört, wem die Rebe vor der unseren gehört, möge uns Trauben für ein Weib mit Schwangerschaftsgelüsten geben, wie es sich gehört.«
»O wehe dir«, antwortete das Mädchen. »Ich bin das Mädchen aus dem Unterschenkel. Eingehüllt in Blättern war ich, kam ein Milan schrecklich, sein Schnabel packt’ mich, zu seiner Palme flog ich. Kam des Sultans Sohn und holt’ mich, sein Mantel versteckt’ mich. Kommt seine tollgewordne Mutter, die es nach Weinbeeren gelüstet. He, Schere, schneid ihm seine Zunge ab!« Und ratsch schnitt die Schere dem Sklaven die Zunge ab. »Was haben sie gesagt?« fragte der Prinz. »Warum hast du nichts gebracht?« Weil der Sklave nicht mehr reden konnte, schickte er einen zweiten, einen dritten. Aber jedem, der in den Palast des Nachbarn kam, schnitt das Mädchen die Zunge ab. »O wehe dir«, rief es dabei. »Ich bin das Mädchen aus dem Unterschenkel. Eingehüllt in Blättern war ich, kam ein Milan schrecklich, sein Schnabel packt’ mich, zu seiner Palme flog ich. Kam des Sultans Sohn und holt’ mich, sein Mantel versteckt’ mich. Kommt seine tollgewordne Mutter, die es nach Weinbeeren gelüstet. He, Schere, schneid ihm seine Zunge ab!« So ging es bis zu dem Tage, an dem der Sohn des Sultans sich selbst zu gehen entschloß. Er erkannte das Mädchen auf den ersten Blick. »Wem der Palast vor dem unseren gehört, wem die Rebe vor der unseren gehört, möge uns Trauben für ein Weib mit Schwangerschaftsgelüsten geben, wie sich’s gehört«, sprach er sie an. »O wehe dir!« antwortete sein Weib. »Ich bin das Mädchen aus dem Unterschenkel. Eingehüllt in Blättern war ich, kam ein Milan schrecklich, sein Schnabel packt’ mich, zu seiner Palme flog ich. Kam des Sultans Sohn und holt’ mich, sein Mantel versteckt’ mich. Kommt seine tollgewordne Mutter, die es nach Weinbeeren gelüstet. He, Schere, bei Allah laß ihn reden.«
Der Prinz kehrte zu seiner Gemahlin zurück und sie berichtete ihm, wie es ihr ergangen war. Der Sohn des Sultans lief stracks zu seiner verräterischen Mutter und tötete sie. Aus ihren Gebeinen fertigte er eine Leiter für sein Weib. Jedesmal wenn sie die Sprossen hinaufstieg oder herunterkam, knarrten die Knochen der Alten. »Steig und geh, das tut weh«, ächzten die Gebeine. »Zu Recht haben wir dich angeschlagen«, erwiderte das Mädchen dann. »Du hast gehurt und hast geprahlt, doch wir haben es dir heimgezahlt.«
Sitt Bada und ihre sieben Brüder
Es war einmal, es war keinmal. Einst lebte ein Mädchen namens Bada, die hatte sieben Brüder, die ihr einen Palast errichteten und sie dort einschlossen. Die sieben Brüder lebten von Raubzügen, deren Beute sie ihrer Schwester übergaben. Als Sitt Bada eines Tages am Mahlstein saß und Korn schrotete, stand plötzlich eine fremde Frau vor der Tür. »Ich bin zu dir gekommen, ich, ich, meine Tochter«, verkündete diese feierlich, »weil ich dir wahrsagen will. Meine Tochter, ich werde dir dein Glück verheißen.« Nach diesen salbungsvollen Worten tat Sitt Bada der Alten auf und ließ sie ein. Diese Frau aber war eine Ghula, die sich zu dem Mädchen an die Steinmühle setzte. Das Mädchen begriff, daß jenes Weib eine Hexe war, schrotete aber weiter, als sei nichts geschehen. »Ach, Brüderchen Hassan«, rief sie den Bruder singend herbei, »Augen wie zwei Honigkuchen und scharlachrote Beine mahlen mit mir hier.« Und dabei flossen ihr die Tränen. »Schrote weiter, schrote!« herrschte sie die Alte an. »Die Nacht ist lang, ich heul’ für dich.« »Ach Brüderchen Ali«, flehte das Mädchen weiter, das alle ihre Brüder derart um Hilfe anrief, »frischen Käse habe ich, aber zwei scharlachrote Beine mahlen mit mir hier.« Dabei weinte und schluchzte sie bitterlich, wie sie jeden ihrer Brüder beim Namen nannte. »Schrote weiter, schrote!« trieb die Alte sie immerfort an. »Die Nacht ist lang, ich heul’ für dich.« Mir nichts dir nichts stürmten die sieben alarmierten Brüder herein und hieben der Ghula den Kopf ab, packten den
Leichnam der Alten und verscharrten ihn. »Wie konntest du ihr nur öffnen!« warfen sie der Schwester vor. »Aber wie hätte ich nicht sollen?« Als ihre Brüder bald wieder von einem Beutezug heimkehrten, fanden sie an der Stelle, wo sie die Ghula unter der Erde verscharrt hatten, saftige Malven sprießen. »Schneide die Malven und koche sie uns!« baten sie die Schwester. »Die sind von der Ghula Grab. Sobald ihr sie eßt, seid ihr in höchster Gefahr«, warnte das Mädchen. »Bereite sie uns nur!« höhnten jene. So riß Sitt Bada die Malven aus und kochte sie. Ihre Brüder kamen herbei und aßen einer nach dem anderen von dem Gericht. Kaum hatte sich einer sattgegessen, verwandelte er sich in einen Ifrit und flog aus dem Haus hinaus. Sechs waren schon hinweg, so daß nur noch der Jüngste bei der Schwester saß, der nicht wie sie von den verhexten Malven gegessen hatte. Die sechs Brüder allerdings verwandelten sich vor dem Haus in dreiste Schweine mit Ketten um den Hälsen und liefen ziellos umher. »Deine Brüder werden einst zu uns zurückkehren«, beruhigte sie ihren siebten Bruder. »Aber jetzt würden sie uns töten oder fressen.« Dann nahm sie ihren kleinen Bruder und rannte mit ihm über Stock und Stein. Aber immer wenn sie ein gutes Wegstück zurückgelegt hatten, klagte der Junge über Durst. »Brüderchen, bei Allah, wir haben kein Wasser.« Doch als sie an einer Quelle vorüberkamen, sprach sie sie an. »O Quell, o Quell, wenn mein Brüderchen von dir trinkt, was geschieht?« »Er verwandelt sich zu einem Schwein mit einer Kette um den Hals«, raunte das Wasserloch. »Ach, laß mich trotzdem trinken!« flehte der Junge. »Tu es nicht!« beschwor das Mädchen ihn und zog ihn fort. Doch jeder Quell, an dem sie vorbeikamen, gab dieselbe unheilvolle Antwort, bis sie wieder vor einer Quelle standen. »O Quell, o Quell, tränke mein kleiner Bruder von dir, was geschieht?«
»Er würde zu einer Gazelle mit einem Halsband von Seide.« »Ich will trinken«, hauchte der Jüngling, beugte sich hinab und trank. Kurz darauf durchfuhr ihn ein Schauer, und schon war er eine schöne Gazelle mit seidenem Band. Die Schwester faßte das Band und zog traurig mit ihm weiter, bis sie in eine Stadt kamen. Als Bursche verkleidet und mit einer Magenhaut über dem Haar zog sie ziellos durch die Gassen. »Was kannst du?« redeten sie die Leute an, weil sie sich wunderten, daß sie untätig herumzog. »Ich hüte Gänse, hüte Gärten.« »Wie ist dein Name?« wollte man wissen. »Ich werde Hadsch Glatzkopf genannt«, erwiderte sie. Und wo sie auch hinkam, gab man ihr einen Garten zur Aufsicht und die Gänse zum Hüten. Durch ihre Fürsorge um das anvertraute Gut wurde sie bald zum Viertelpächter. Als sich Sitt Bada eines schönen Tages ein feines Kleid anlegte, sahen die Gänse das Mädchen in voller Schönheit. Vor Staunen hoben sie ein lautes Geschnatter an, und eine jede legte ein Ei. »Ihr Gänse, füllt den ganzen Garten mit Eiern!« rief es übermütig den gefiederten Gesellen zu, die sich sogleich niederließen und Ei für Ei legten. »Im ganzen Leben haben die Gänse noch nie so viele Eier gelegt«, wunderten sich die Leute. Das Mädchen zog von nun an alle zwei, drei Tage schöne Kleider an, und wie die Gänse es so herausgeputzt sahen, begannen sie augenblicklich wieder Ei um Ei zu legen. War es genug, streifte sich Sitt Bada einfach die Maske des Hadsch Glatzkopf über. Eines Tages war es den Leuten dann doch zu seltsam: die vielen Eier, dieses und jenes noch, die Gazelle, und sie konnten nicht länger schweigen. Auch den Sohn des Sultans zog es hinaus und er schlenderte durch die Gärten. Nachdem der Prinz Hadsch Glatzkopf gesehen hatte, erkundigte er sich nach dessen Geschichte. Weil seine
Neugierde unbefriedigt blieb, begann er, Hadsch Glatzkopf zu beobachten. Dabei wurde er Zeuge des Kleiderwechsels und sah das schöne Mädchen, das er auf der Stelle heiraten und mit in den Palast nehmen wollte. »Ich ziehe nicht mit dir«, wehrte Sitt Bada sein Drängen ab. »Ich trenne mich nicht von meiner Gazelle.« So nahm der Sohn des Sultans sie und die Gazelle und führte sie als Gemahlin heim. Als die Pilgerzeit heran war, wollte der Prinz zu den heiligen Stätten des Islams in Mekka und Medina wallfahren. Seiner Mutter trug er auf, seinem Weibe alle erdenkliche Fürsorge angedeihen zu lassen. »Allah wird es mehr als alles behüten«, versicherte diese dem Prinzen, worauf er sich zur Abreise rüstete und davonzog. Seine Mutter hatte viele heiratsfähige Töchter bei ihren eigenen Brüdern und Schwestern, die auf Sitt Bada sehr eifersüchtig waren. Eine Base des Prinzen war besonders eifersüchtig. ›Wie könnte man sie nur loswerden?‹ ging es ihr ständig durch den Kopf. »He, Schwägerin, wir wollen mit dir zu einem Spazierritt hinaus. Komm mit, du wirst doch nicht immer allein herumsitzen wollen!« forderte jene Sitt Bada auf, als sie eine List gefunden zu haben schien. »Das hat der Prinz mir nicht erlaubt.« Doch die Base wußte deren Bedenken zu zerstreuen. Obwohl Sitt Bada im neunten Monat schwanger war, nahmen die Mädchen sie mit und begaben sich zu einem wasserlosen Erdloch voller Geröll und Gestein. Mit einer Matte überdeckten sie den Grubenschlund und ließen sich im Rund auf ihr nieder. Sitt Bada plazierten sie in die Mitte genau über dem Schlund. »Gleich rufst du uns zu ›Süßigkeiten! Süßigkeiten!‹, und wir lassen sie in die Grube stürzen«, wurde einer der Basen aufgetragen. Während einer leichten Unterhaltung erhob sich urplötzlich eines der Mädchen und gab mit dem Ruf ›Süßigkeiten! Süßigkeiten!‹
das Signal, damit alle Basen auf einmal in die Höhe sprangen, so daß Sitt Bada, wie geplant, in das Erdloch fiel. Die Gazelle hatte alles mit angesehen, lief aber vorerst in den Palast an seinen Platz zurück. Als die Basen nach Hause kamen, putzten und schmückten sie die Tochter der Mutterschwester, die jenen teuflischen Einfall hatte, und ließen sie die Stelle der Frau des Prinzen einnehmen. »Wehe dir, Weib«, schalt er sie bei seiner Rückkehr, »als ich dich verließ, warst du von mir schwanger!« »Bei Allah, ich gebar einen Sohn, der jedoch starb«, log die Base, und der Prinz schwieg. Die Gazelle trug indes tagein tagaus Knochen und Brot zusammen und brachte dies zum Grubenrand, wo sie die kärglichen Speisen der Prinzessin hinabließ. Das Mädchen schenkte in der Grube einem Knaben das Leben, der gerade einen Tag, nachdem sein Vater von der Pilgerfahrt heimgekehrt war, das Licht der Welt erblickte. »Bei Allah, Mann«, klagte bald darauf die falsche Ehefrau dem Prinzen, »ich bekomme unstillbaren Appetit auf Gazellenfleisch. Geh, schlachte meine Gazelle!« Die Base hatte inzwischen in Erfahrung gebracht, daß das unschuldige Tier tagtäglich an die Grube zu seiner Schwester lief. »Schafft die Gazelle herbei!« wurde befohlen. »Wir wollen sie schlachten.« Als die Häscher zu dem Tier kamen, flüchtete es, um sich an der Grube in Sicherheit zu bringen. »O Schwesterchen, das Messer ward für mich gewetzt, doch ist mir dieser Preis zu hoch. Was soll nur aus uns werden?« Das Mädchen sang sich und der kleinen Gazelle Mut zu: »Der Königssohn ist fern von mir. Er ging dahin und sagte mir zuvor kein einzig Wort. Wie Allah dich zu mir geführt, bringt er ihn auch an meinen Ort.«
Dies kleine Lied sang es mit ungebrochner Zuversicht. Eines Tages folgte der Königssohn der Gazelle und sah sie an dem Erdloch mit jemandem sprechen, der sich als seine eigene Gemahlin herausstellte. Der Prinz fand sie mit einem Knaben auf dem Arm. Nachdem sie das Unglück geschildert hatte, das sie in dieses Loch verschlagen hatte, ritt der Prinz um Seile und hilfreiches Volk. Gemeinsam retteten sie Sitt Bada mit ihrem Kind aus dem scheußlichen Verließ. Der Königssohn verstieß alsdann sein falsches Weib und ließ sich mit seiner richtigen Gemahlin nieder.
Der Gute und der Bösewicht
Es war einmal, es war keinmal. Erzählen wir uns ein Märchen dieweil oder beten wir alle für des Propheten Heil? Es war, als es weder Flugzeug, Auto noch Eisenbahn, sondern nur Schusters Rappen oder Reittiere gab. Ein Mann faßte eines Tages den Entschluß, sich in eine ferne Stadt zu begeben. Dazu packte er sich Proviant ein und brach auf. Unterwegs traf er auf einen Wanderer, der gleichfalls zu einer Reise aufgebrochen war. Der erste erkundigte sich bei dem anderen, ob sie nicht den Weg gemeinsam fortsetzen wollten. Nachdem sie sich einig geworden waren, fragten sie einander nach den Namen. »Ich heiße Böser Mensch«, antwortete der zweite Mann. »Ich höre auf den Namen Guter Mensch«, sagte darauf der andere. So schritten der Gute und der Böse gemeinsam aus. Bald verspürten sie Hunger. Der gute Mensch öffnete seinen Proviantsack und lud den Bösen ein. Sie aßen gemeinsam, ruhten ein wenig und setzten den Marsch fort. So vergingen Tage. Der Böse griff bei des Guten Wegzehrung solange zu, bis dessen Beutel geleert war. Sein eigener Vorrat blieb unberührt. Wie sie mit knurrendem Magen über Berge stiegen und durch Ebenen streiften, band der Böse seinen Beutel auf und aß allein. Er dachte überhaupt nicht daran, dem Guten etwas anzubieten, der beißenden Hunger litt. Verzweifelt suchte er in seinen Taschen nach einem Happen, doch nur der Böse hatte noch Nahrung.
»Wir sind an einem Ort, wo es weder Speise noch Trank gibt. Nur du hast noch zu essen und du weißt, wir haben gemeinsam meine Vorräte verzehrt«, flehte der Gute. »Ich gebe dir nur mein Fladenbrot für das Licht eines deiner Augen«, verlangte da der Böse. Der Gute mußte schließlich einwilligen und opferte dem bösen Menschen eines seiner Augen für einen trockenen Fladen. Als den Guten wieder der Hunger unbarmherzig plagte, bat er den Bösen erneut um einen Brocken Brot. »Du mußt mir dafür dein anderes Auge geben«, verlangte der und nahm sich das teuerste, was dem Guten Menschen geblieben war. Wenig später schlich sich der Böse von dannen und ließ den erblindeten Guten schlafend unter einem Baum zurück. Als der Gute die hereinbrechende Nacht spürte, erklomm er einen Baum, weil er fürchtete, wilde Tiere könnten ihn zerreißen. Dort blieb er bis zum anderen Morgen, bis ihm die Wärme der Sonne den neuen Tag verkündete. Durch Allahs Gnade kamen zwei Vögel zu ihm in den Baum. Einer der beiden war ebenfalls blind. »Ich bin mit dir zu diesem Baum geflogen, weil seine Blätter die Kraft haben, das Augenlicht wiederzugeben«, sprach der sehende Vogel. »Du mußt dir nur ein Blatt abpflücken und es mit den Worten ›Im Namen Allahs‹ über ein Auge streichen. Dann nimmst du ein zweites Blatt und berührst das andere Auge auf die gleiche Weise und du wirst – so Allah will – wieder sehen können.« Der blinde Vogel folgte dem Rat und gewann sein Augenlicht zurück. Der Gute Mensch hatte alles verstanden. So nahm er selbst ein Blatt und berührte ein Auge, wobei er die Gebetsformel sprach. Ebenso verfuhr er mit dem anderen Auge und erlangte seine Sehkraft zurück, wofür er Allah inbrünstig dankte. Der Gute breitete nun sein Tuch aus, in dem sich zuvor sein Reiseproviant befunden hatte, und pflückte soviel Blätter vom
Baum, wie das Tuch nur fassen konnte. Das Bündel schwang er sich über die Schulter und ging seiner Wege. Als er in ein Dorf gelangte, rief er überall aus, daß er Augen heilen könne. »Ich bin Augendoktor, ich heile alle Augenleiden und Blinde.« Da kam ein Blinder zu ihm, der Gute Mensch berührte dessen Augen mit Blättern des Wunderbaumes, und jener ward wieder sehend. Bevor er einen Kranken heilte, forderte er lediglich ein Fladenbrot als Lohn, das ihm seine Zehr war. Der Gute zog von Ort zu Ort und heilte Kranke nur für ein Brot; Geld und Gold wies er zurück. Seine Kunde drang bis zum König, dessen einzige Tochter erblindet war. »Wer meine Tochter wieder sehend macht, bekommt sie zur Frau. Welcher Arzt dazu nicht imstande ist, dem schlage ich den Kopf ab«, ließ er verkünden. Viele waren dem Ruf in der Hoffnung auf die Hand der lieblichen Prinzessin gefolgt, doch alle kostete der Versuch den Kopf, denn keiner vermochte die Königstochter zu heilen. Als der König nun von dem Guten Menschen hörte, befahl er, ihn herbeizuschaffen. »Ich habe eine blinde Tochter. Kannst du sie heilen, ist sie deine Frau, vermagst du es nicht, enthaupte ich dich«, eröffnete der König dem Guten, als dieser vor dem Herrscher stand. »Ich nehme nichts als ein Fladenbrot für meine Dienste«, nannte der Gute seine Bedingung. »Gut, heile sie und wir werden später darüber reden«, lenkte der König ein. Der Gute trat in das Gemach der Königstochter. Er legte ihr ein Blatt auf jedes Auge, sprach ›Im Namen Allahs‹ und sie erlangte ihr Augenlicht zurück. Als der König davon hörte, geriet er außer sich vor Freude. »Gib mir nun für meine Arbeit mein Fladenbrot! Ich will gehen und noch mehr Menschen heilen«, verlangte der Gute. Doch der König wollte davon nichts wissen. »Ich kann dich nicht einfach ziehen lassen. Ich habe gelobt, daß derjenige, der
meine Tochter heilt, sie auch zur Frau bekommt. Dafür habe ich zu viele Köpfe abschlagen müssen. Wie würde ich vor Allah, vor mir selbst und vor den Leuten dastehen? Ich muß mein Gelübde erfüllen.« So willigte der Gute in die Heirat mit der Prinzessin ein. Wenig später starb der alte König und das Volk erwählte den Guten, damit er die Thronfolge antrete. Als der Gute die Geschicke des Königreiches in seine Hände genommen hatte, erinnerte er sich an sein Erlebnis mit dem Bösen, wie sehr er Hunger gelitten und wie er sein Augenlicht eingebüßt hatte. Deshalb ließ er eine Tekkiye, ein moslemisches Kloster, nahe der Stadt errichten, in dem alle Fremden auf Kosten des Königs bewirtet wurden. Ein Beamter wurde ernannt, der die Namen aller Besucher der Tekkiye aufzuschreiben hatte. Der König studierte die Reihe der Namen, um einst den des Bösen zu lesen. Als der Schreiber eines Tages die Liste vorlegte, stieß der König unter den Eintragungen auf den Namenszug des Bösen. Umgehend befahl der Herrscher, daß man den Frevler herbeischaffe. »Erkennst du mich?« fragte er den Bösen. »Nein, o König«, erwiderte dieser. »Aber ich bin es doch, dem du für zwei Brotfladen die Augen genommen hast«, erinnerte er ihn. Da erkannte der Böse seinen einstigen Weggefährten, von dem er nie geglaubt hätte, daß er je wieder gesund und gar König würde. »Weißt du, welches Urteil ich über dich gefällt habe?« fragte der Herrscher drohend. »Morgen wird dir öffentlich der Kopf abgeschlagen. Solltest du noch einen letzten Wunsch haben, so nenne ihn. Solltest du noch eine Nachricht haben, so teile sie mit, damit ich die Deinen von deinem Tod in Kenntnis setzen kann.« »Ich habe nur eine geringe Bitte«, entgegnete der Böse. »Bevor du mir den Kopf abschlagen läßt, gib mir deinen Namen ›der Gute‹ und nimm du meinen Namen ›der Böse‹ an.«
»Aus einem guten Menschen wird kein böser, ebensowenig wird aus einem bösen Menschen ein guter. Die Geschöpfe sind in ihrem Wesen fest wie Erz. Somit begnadige ich dich. Zieh deiner Wege«, sprach der König und der Böse stahl sich davon.
Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Das Wohlgefallen
Es war einmal, es war keinmal. Es lebte einst in alter Zeit ein Vater, der hatte drei Söhne. Der älteste hieß Ahmed, der mittlere Mohammed und der jüngste hörte auf den Namen Mahmud. Eines Tages erkrankte der Vater und er wußte, daß es ans Sterben ging. So rief er seinen ältesten Sohn zu sich. »Was begehrst du, Ahmed? Geld oder Wohlgefallen?« fragte er ihn. »Das Geld natürlich, denn was habe ich von Wohlgefallen«, antwortete jener. »Geh und rufe Mohammed!« verlangte der Vater, der auch dem mittleren Sohn seine Frage stellte. »Das Geld natürlich, denn was um alles in der Welt habe ich von Wohlgefallen«, antwortete auch er und der Vater schickte ihn nach dem Jüngsten, damit er entscheide. »Wohlgefallen selbstverständlich, denn was soll mir das Geld«, versetzte Mahmud. »Geh, mein Sohn«, sprach der Alte, »jede Faser meines Körpers ist mit dir zufrieden!« Der Vater starb und vierzig Tage nach seinem Tod wandten sich Ahmed und Mohammed an ihren Bruder Mahmud. »Du bist nicht länger unser Bruder«, eröffneten sie ihm. »Verlaß auf der Stelle dieses Haus. Wir haben eben das Geld und du das Wohlgefallen gewählt.« Mahmud verließ das väterliche Haus und lief in den Straßen und Gassen als Bettler umher, der von der Gnade Allahs lebte. Er durchwanderte Einöden und überquerte Berge, bis er in eine kleine Stadt kam, wo er einem alten Mann auffiel. »Wie heißt du, mein Söhnchen?« erkundigte sich jener, und Mahmud erzählte ihm seine Geschichte. Da wies ihm der mitleidige Alte eine Kammer in seinem Haus an und gab ihm etwas Geld zum Leben. Der Alte
überließ ihm einen kleinen Laden, in dem der Bursche den ersten, zweiten und den dritten Tag arbeitete. Mahmud lief zufrieden zum Ufer des Meeres und verzehrte sein Brot. Als er gegessen hatte, setzte er sich in die Sonne und grub für eine Stunde lang aufs Geratewohl im Sand. Er hatte ein tiefes Loch ausgehoben, als er auf dessen Grund eine Schatulle aus rostigem Eisen fand. Er legte den Fund in seine Tasche und nahm ihn mit auf seine Kammer, wo er das Kästchen mit einem Stein aufschlug. Das Behältnis barg Eisenteile und Schrauben, die Mahmud zusammenzufügen versuchte, bis er alles zu einem siebenarmigen Leuchter verbunden hatte. Nun lief er auf den Basar und kaufte sieben Kerzen. Des Nachts entzündete er die Kerzen und aus jedem Licht kam, sobald es brannte, eine schöne Frau zum Vorschein, die in ihrer Hand ein Musikinstrument hielt. Das erste Feenwesen trug eine Geige, das zweite eine Laute, das dritte eine Kamandscha-Fiedel und so weiter. Die Frauen musizierten und tanzten unentwegt bis Mitternacht. »Ich möchte nun schlafen«, bat Mahmud alsdann. »Lösche die Kerzen einfach aus«, riefen sie ihm zu. Als er das erste Licht löschte und die erste Frau verschwand, drückte sie ihm zuvor noch einen Beutel mit einhundert Gold-Dirham in die Hand. So setzte es sich bis zur siebenten fort, wonach er dann 700 Gold-Dirham besaß. Damit lief Mahmud auf den Suk und kaufte Möbel für sein Gemach sowie reichlich Waren für seinen Laden. Er erwarb noch zwei, drei Läden und Häuser sowie einen vornehmen Palast mit Dienerschaft dazu. Auch seine Brüder Ahmed und Mohammed besaßen viele Häuser und Geschäfte, aber bereits am ersten Tag wurde ein Laden und am zweiten Tag ein Haus ein Raub des Feuers. Auf diese Weise verloren sie in nur zehn Tagen ihren ganzen Besitz und waren seither arm wie Bettler. Mahmud unterhielt über zehn Jahre durch Wohltätigkeit die Bedürftigen. Die Armen
kamen zu ihm und empfingen das Lebensnotwendigste. Hatte ein Mann zum Beispiel fünf Kinder, gab ihm Mahmud ganze zehn Dirham. Bald verschlug es auch Ahmed und Mohammed in die Stadt, in der ihr Bruder Mahmud lebte. Sie setzten sich an den Wegesrand und versuchten zu betteln. »Hier in dieser Stadt bettelt niemand. Bei uns wohnt ein gutherziger Mann, der die Armen unterhält. Geht zu ihm!« belehrten sie die Bewohner. So liefen die Brüder zu Mahmud und baten um ein paar Dirham. Mahmud indes erkannte seine beiden Brüder. »Führt sie in die Badestube«, wies Mahmud die Diener an, die die Landstreicher wuschen und in saubere Gewänder kleideten. »Ihr habt aber einen schönen Palast«, schmeichelten die beiden. »Ja erkennt ihr mich denn nicht?« wunderte sich Mahmud. »Ich bin doch euer Bruder.« Die beiden armen Teufel freuten sich. »Unser lieber Bruder. Gepriesen sei Allah, der uns wieder zusammengeführt hat!« jubelten sie. Sie berichteten dem Jüngsten, wie hart ihnen das Schicksal mitgespielt hatte. Mahmud vertraute ihnen im Gegenzug das Geheimnis mit dem Leuchter an. Alsdann ging er mit seinen Brüdern auf den Basar und erwarb für sie einen Laden und noch Waren dazu. Aber schon drei Tage später fiel das Geschäft Dieben zum Opfer. »Ich habe eine Idee«, sprach Ahmed zu Mohammed. »Warum stehlen wir nicht einfach den Wunderleuchter?« Der Bruder war einverstanden. »Wir werden ihn uns ausleihen, und über Nacht bleibt er bei mir«, entwickelte Ahmed seinen Plan. »Nein, der Leuchter bleibt des Nachts bei mir«, stritt der Mittlere. »Wer ist hier der Älteste? Also bleibt er bei mir«, beendete Ahmed den Zwist. Ahmed borgte sich den Leuchter aus und entzündete in der Kammer seine Kerzen. Diesmal traten aber aus den Lichtern sieben Sklaven, die in ihren
Händen Knüppel und Peitschen schwangen und mit denen sie dem Burschen eine gehörige Tracht Prügel verabreichten. Am anderen Morgen brachte Ahmed den Leuchter zu Mohammed. »Nun bist du an der Reihe«, sagte er. »Und wie war die Nachtvorstellung?« wollte jener wissen. »Oh, sehr schön«, log Ahmed. In der Nacht entzündete Mohammed die Kerzen. Abermals traten sieben Sklaven mit Stöcken und Peitschen hervor, die auch ihm eine derbe Lektion erteilten. »Hat es Spaß bereitet?« erkundigte sich Ahmed scheinheilig am dritten Tag bei Mohammed. »Warum hast du mir das angetan?« stöhnte dieser. »Hatten wir nicht beide vor, den Leuchter zu stehlen. Deshalb haben wir die Strafe verdient«, sprach Ahmed und sie brachten den Leuchter ohne ein Wort zu sagen Mahmud zurück. Als dieser allein war, entflammte er die Lichter. Die Frauen kamen zum Vorschein und sangen und tanzten. »So Allah wollte, habt ihr auch meine Brüder entzückt?« fragte er. »Im Gegenteil, wir haben beide schmerzhaft durchgewalkt. Nichts war gehöriger als diese stattliche Tracht.« Mahmud wollte den Grund wissen. Die sieben Frauen verrieten ihm, daß jene beiden den Leuchter zu stehlen vorhatten. Mahmud verlangte unverzüglich nach dem Diener, der Ahmed und Mohammed herbeirufen sollte. »Jeder von euch bekommt noch einen Beutel mit fünfhundert Golddinaren«, verkündete Mahmud. »Doch nun verlaßt diese Stadt, ich möchte euch nie wieder zu Gesicht bekommen.«
Daus, daus – die Geschichte ist aus, sie war süß und schwärmt nun aus.
Das Mädchen und die sieben Jäger
Es war und es war nicht in alter, grauer Zeit. Lauschen wir jetzt der Geschieht’? Für uns ist doch der Schlaf noch weit. Es war einmal ein Mann, dem die Frau gestorben war. Von ihr hatte er eine kleine Tochter. »Vater, geh und heirate wieder!« drängte sie ihn, als sie etwas größer geworden war. Der Vater wies diesen Gedanken zurück. »Soll ich etwa heiraten, um dir eine garstige Stiefmutter ins Haus zu bringen?« sprach er. »Das wäre nicht so schlimm, Vater«, erwiderte sie. »Aber ich bin hier so allein. Ich kann ein so einsames Leben nicht ertragen. Vater, du mußt mir eine Mutter nach Hause führen«, beharrte das Mädchen, und so nahm sich schließlich der Vater eine zweite Frau. Die Stiefmutter mochte allerdings das Kind nicht, und der Vater schalt sie dafür. »Das Mädchen hat mir immer zugeredet, zu heiraten und ihr eine Mutter zu bringen. Warum nur haßt du es?« stellte der Mann sein Weib zur Rede. »Ich will es einfach nicht!« schrie es. »Entweder ich oder deine Tochter!« stellte sie ihn vor die Wahl. Da lenkte der Mann ein. »Ich werde dir einen Weg weisen, wie wir sie loswerden. Wenn sie tief schläft, hebst du das Mädchen auf ein Pferd und reitest mit ihm in die Wüste, wo niemand mehr ist. Dort setzt du es aus und kommst zurück«, riet die hartherzige Stiefmutter gehässig. Der Vater nahm tatsächlich sein Kind und brachte es des Nachts in eine Einöde. »Mir ist kalt, o Vater, decke mich zu«, flehte das Mädchen, als es in der Nacht erwachte. Wie es aber die Augen
aufschlug, fand es sich in einer Wüstenei wieder. Niemand war da, keine Menschenseele, und kein Licht brannte weit und breit. Da begann die Kleine bitterlich zu weinen, weil sie nicht ein noch aus wußte. Doch plötzlich entdeckte sie in der Ferne einen schwachen Lichtschein. Unverzüglich lief sie dem Schimmer entgegen, bis ihn der anbrechende Tag auslosch. Das Mädchen wartete bis zum Abend, daß das Licht wieder angezündet wurde. Alsdann lief es dem Schein weiter entgegen, den es bis zum nächsten Morgen noch immer nicht erreichen konnte. Erst in der darauffolgenden Nacht gelangte das Mädchen an eine Höhle, aus der das Licht, aber auch Lärmen und Reden quollen, so daß es nicht den Mut zum Hinuntersteigen fand. ›Ich warte, bis der Tag anbricht. Bis dahin wird mir schon etwas einfallen‹, sprach es zu sich und verkroch sich in einem stillen Winkel. Als die Sonne aufging, kamen sieben junge Burschen aus der Höhle, die das Mädchen nach deren Weggang betrat und herausfand, daß ihre Bewohner Jäger sein mußten. Überall hingen erlegte Gazellen und getrocknetes Fleisch. Das Mädchen richtete für den Abend ein Mahl her und stellte es inmitten der Höhle auf den Boden. Als bei Anbruch der Dunkelheit die Burschen heimkehrten, bemerkte der Älteste Licht in der Höhle. »Wer hat das Licht in der Höhle angezündet? Sind etwa Räuber da? Ich fürchte mich, in unsere Höhle zu gehen.« Er steckte mit seinen sechs Brüdern die Köpfe zusammen, um zu beraten, was zu tun sei. Sie gingen auf den Eingang der Höhle zu, aber als sie eintreten wollten, packte sie die Angst. »Ich werde hineingehen und nachsehen«, bot sich der Jüngste an. »Wenn ich sterben sollte, dann ist hier etwas, was uns alle zermalmt hätte. Sterbe ich nicht, könnt ihr kommen.« Als der Jüngling eingetreten war, fand er die bereitgestellten Speisen, und das Haus war aufgeräumt und sauber. »Kommt schon, hier ist niemand!« machte er seinen Brüdern Mut.
»Vielleicht will uns jemand mit dem Essen vergiften? Wie könnten wir also davon kosten?« streute der Älteste erneut Zweifel. »Ich werde probieren«, bot sich wieder der Jüngste an. »Sterbe ich, ist es nicht so schlimm um mich, dann seid ihr eben einer weniger.« Und, bei Allah, er aß einen Bissen, einen zweiten. »Brüder, ihr könnt beruhigt zu Abend essen. Freut euch und langt kräftig zu.« Währenddessen saß das Mädchen in einem Versteck, denn es wollte nicht von den Jägern gesehen werden, weil es noch immer Furcht hatte. Der Älteste kündigte seinen Brüdern an, daß er sich in der Höhle verbergen werde, um zu sehen, wer sich darin zu schaffen mache. Aber als es im Innern der Höhle zu rumoren begann, packte ihn doch die Angst, und er fand nicht den Mut nachzuschauen, wer zu Gange war. »Ich werde es versuchen«, entschloß sich daraufhin der Jüngste. »Ich verachte eh mein Leben: Was auch geschehen mag, es mag geschehen.« Nachdem das Mädchen anderntags aus ihrem Versteck gekommen war und das Essen wie gewöhnlich angerichtet hatte, trat der Bursche hervor. »Sei willkommen! Doch mit Verlaub, bist du Geist oder Mensch?« grüßte er es. »Ich bin ein Mensch und in Allahs Gefilden. Ich habe euch sieben Brüder beobachtet. Mir ist dies und das widerfahren. Wenn ihr wollt, bin ich euch eine Schwester.« »Ich werde mit meinen Brüdern zu Abend essen und ihnen deine Geschichte erzählen«, versprach der Jüngste und hieß das Mädchen, sich noch einmal zu verbergen. Als die Brüder am Abend in Ruhe gespeist hatten, erzählte der Bursche sein Erlebnis: »Brüder, bei uns ist ein Mädchen. Es wuchs bei ihrer Stiefmutter auf, die das arme Ding nicht ertragen konnte. So haben sie es bei Nacht in der Wüste ausgesetzt. Dort bemerkte es unseren Feuerschein und kam zu uns. Allah hat uns eine Frau gesandt, die im Haus helfen könnte, in dem bisher kein
weibliches Wesen war. Ich würde sie sogar zur Frau nehmen wollen. Nur ihr sechs müßtet sie an Schwesterstatt annehmen.« Alle waren einverstanden und verlangten, das Mädchen zu sehen. Der Jüngste holte es aus dem Versteck und stellte es als Sitt al-Bdur vor, die ein gutes Herz hatte und wunderschön war. »Du bist jetzt vor Allah unsere Schwester, aber ich begehre dich zur Frau«, eröffnete er ihr und mit einem ›So soll es sein!‹ stimmten alle zu. Sitt al-Bdur wurde des Jüngsten Weib und es zog Regelmäßigkeit in ihr Heim ein, das nun eine Hausfrau hatte. Eines schönen Tages sandte Allah der Sitt alBdur einen Bettler. Sie gab ihm einen Brocken Fleisch und Kleider. Und wie es der Zufall so will, kam dieser Bettler wenig später in das Dorf ihrer Stiefmutter. »O Schwester, gib vom Gut Allahs!« bettelte er vor ihrer Tür. »Was soll ich dir schon geben? Ich habe selber nichts.« Die Stiefmutter reichte ihm ein Stück trockenes Brot. »Oh, nur so ein Stückchen? Brot muß dir aber teuer sein. Das ist keine Gabe nach Art von Sitt al-Bdur«, spottete der Bettler. »Halt, halt«, rief sie da rasch. »Woher kennst du sie?« »Ich kenne sie eben.« »Wo wohnt sie denn?« »Im Dorf Soundso.« »Allah möge dir Erfolg verleihen«, und sie gab ihm sogar etwas Geld. »Sollte dich dein Weg einst wieder zu ihr führen, komm zuvor bei mir vorbei. Ich will ihr ein Geschenk mitgeben.« Die Tage verstrichen, und der Bettler kam wieder zu der Stiefmutter. »Ich ziehe zum Dorf der Sitt al-Bdur. Was wolltest du ihr schicken?« fragte er. Die hinterlistige Stiefmutter wickelte ein Paar Armreifen in Papier und steckte alles in ein Futteral. »Nimm dies als Geschenk für sie, aber wickle sie vor niemandem aus. Sage ihr, daß sie erst nachschauen soll, wenn du aus dem Hause bist.«
Der Bettler tat, wie ihm geheißen, und erzählte Sitt al-Bdur, daß die Gabe aus dem Dorf Soundso käme und daß sie das Geschenk nicht eher auswickeln solle, bis er gegangen sei. Das Mädchen beschenkte und speiste den Bettler. Als er fort war, nahm es die Armreifen und streifte sie über. Kaum war das geschehen, sank das Mädchen wie entseelt zu Boden. Die Stiefmutter hatte Sitt al-Bdur einen Schmuck gesandt, der sie vergiften und zu Tode bringen sollte. Als am Abend die sieben Jäger heimkamen, vermißten sie Sitt al-Bdur, die sie nicht entdecken konnten. »Ich bin ihr Gemahl«, entschied der Jüngste. »Ich steige hinab und sehe nach, was ihr widerfahren ist.« In der Höhle fand er sein Weib leblos hingestreckt. »Eure Schwester ist tot«, verkündete er traurig. »Bringt mir die Kamelstute. Ich werde sie aufladen und über Land ziehen.« Bei seinem Trauerzug kam er auch in das Dorf der Stiefmutter. »Tritt näher, mein Sohn, damit ich dich besser sehen kann! War sie deine Frau oder deine Schwester?« sprach ihn eine alte Frau an, die am Wegesrand an einer Mauer hockte. »Meine Frau, die Sitt al-Bdur«, antwortete er und erzählte ihr alles. Die Alte lief ohne ein Wort der Erklärung zur Stiefmutter des Mädchens. »Ist es nicht eine Schande mit dir«, schimpfte sie. »Du hast das Mädchen schon in der Wüste ausgesetzt und danach tust du ihm auch das noch an? Was hat die Kleine dir eigentlich getan?« Nach ihrem Zornesausbruch erfuhr die Alte, was sie von der Stiefmutter wissen wollte. »Deiner Frau fehlt nichts«, sprach sie nach ihrer Rückkehr zu dem Jüngling. »Hebe sie getrost von deinem Kamel.« Der Bursche folgte ihrem Rat und bettete Sitt al-Bdur zu ebener Erde. Nun zog die Alte dem Mädchen den Reif vom rechten Arm, da bewegte es sich. Sie zog den zweiten Reif vom linken Arm und wieder
rührte es sich. Einen Augenblick später erhob sich Sitt al-Bdur und war wieder gesund. Dankbar hob der Jüngste das Mädchen auf das Kamel und kehrte mit ihm zur Höhle zurück. Dort berichtete er seinen Brüdern, was geschehen war. »Diese Stiefmutter!« stieß er hervor. »Sicher wußte die Alte etwas von ihr, sie muß ihr etwas verraten haben. Ich würde am liebsten mit Sitt al-Bdur noch einmal in das Dorf reiten.« Doch die Brüder warnten ihn. »Vielleicht schneiden sie euch die Kehlen durch.« Der Jüngste war nicht mehr umzustimmen. Er hieß sein Weib erneut auf dem Kamel aufsitzen. »Zeige mir das Haus deines Vaters!« forderte er es auf und ritt los. Angekommen, klopften sie an das Tor des elterlichen Hauses, worauf ihnen die Stiefmutter auftat. Kaum hatte sie das Mädchen erblickt, hatte die Alte es selbst durch den Schleier wiedererkannt. »O Schwester, Allah möge dich beschützen!« sprach der Jüngste. »Wir sind Fremde und unser Dorf ist weit. Wir bitten um ein Nachtlager, nur bis der neue Tag anbricht. Selbst hinter der Tür würden wir schlafen.« »Ich kann euch keinen Schlafplatz anweisen.« »Allah möge dir Erfolg verleihen, bedenke, wir sind Fremde. Wohin sollen wir denn gehen, da es draußen kalt und dunkel ist? Wir können doch nicht im Schnee lagern.« Da ließ die Alte die beiden eintreten. Sie gab ihnen eine Decke und wies ihnen einen Platz im Windfang hinter dem Eingangstor zu. Als es Nacht war und Stiefmutter und Vater schliefen, hob der Bursche behutsam die Tür aus den Angeln und drang zu den beiden in die Kammer. Mit einem Messer schnitt er ihnen die Kehlen durch. Die Köpfe nahmen sie in den Satteltaschen des Kamels mit. Sein Weib beruhigte der Jüngste, daß sie nun keine Feinde mehr auf dieser Welt zu fürchten hätte. Sitt alBdur wusch und kochte für die sieben Brüder wieder wie zuvor. Doch Allah sandte dem Mädchen eines Tages einen
Ghul, der von der Decke zu ihm hereinschaute. »Sitt al-Bdur, reich mir deinen Finger, damit ich Blut saugen kann. Erzählst du den Brüdern, was war, verschlucke ich dich mit Haut und Haar.« So reckte sie sich hoch und hielt dem Ungeheuer die Hand hin, damit es daran sauge. Da das Scheusal immer wieder kam, wurde Sitt al-Bdur krank und schwach. Die Brüder bemerkten ihren Zustand wohl und wollten ihr helfen und sie zu einem Arzt schaffen. »Es ist nichts«, wehrte sie ab. »Ich bin nur etwas nervenkrank und kann nichts fühlen.« Und auch kein Drängen der Brüder half, mehr sagte sie nicht. »Nun sprich schon!« herrschte sie da ihr Mann an, »sonst bringe ich dich wie Stiefmutter und Vater um.« »Bei Allah, Mann, ein Ghul, von dem ich nicht weiß, woher ihn Allah zu mir sandte, kommt jeden Tag, um an meinem Finger Blut zu saugen. Hätte ich es euch erzählt, würde er mich mit Haut und Haaren verschlungen haben.« »Soweit kommt es noch!« rief der Jüngste. Der Älteste der sieben Jäger erklärte sich bereit, dem Ghul aufzulauern. Allein er vermochte dem Geist nicht beizukommen. Wieder nahm der Jüngste die Sache in die Hand. »Sobald er kommt und dich auffordert: ›Sitt al-Bdur, reich mir deinen Finger, damit ich ihn sauge!‹ so antworte ihm: ›Ich bin krank und matt und kann meinen Finger nicht mehr heben. Recke du deinen Hals herab!‹« Als der Ghul auf den Vorschlag von Sitt al-Bdur einging, trat hinter Sitt al-Bdur ihr Gemahl mit seinem Schwert hervor und hieb dem Blutsauger das Haupt ab. »Du bist der Tapferste aller Zeiten«, lobten die Brüder ihren Jüngsten. Sitt al-Bdur konnte sich endlich ihres Lebens erfreuen. Sie wurde so schön wie keine vor ihr. Zu guter Letzt waren all ihre Feinde dahin. Daus, daus – das Märchen ist aus.
Der Fischer und der Fisch
Man erzählt sich, daß einst ein Fischer an einem Fluß sein Netz auswarf. Die Nacht sank hernieder, ohne daß er einen Fang hatte einbringen können. Zu einem allerletzten Mal schleuderte er an diesem Tag sein Netz aus, und nun zappelte ein großer, silbern glänzender Fisch in den Maschen. Der Fischer freute sich sehr und rüstete zur Heimkehr, als der Fisch plötzlich zu sprechen anhob. »Wenn du mich schwimmen läßt«, flehte er, »dann mache ich dich reich und zum Schulzen deines Dorfes.« Der Fischer war höchst verblüfft über die Rede des Tieres, willigte aber ein und setzte den Fisch aus. Jener machte allerdings dem Fischer zur Bedingung, daß er gegenüber jedermann das Geheimnis wahren müsse. Das versprach der Mann eilfertig und gab den Fisch endgültig frei. Als sich der Fischer seinem Haus näherte, sah er zu seiner Überraschung, daß die Verheißung des Fisches bereits in Erfüllung gegangen war: Seine alte Hütte war verschwunden und an ihrer Statt erhob sich ein prächtiges Gebäude, das mit vielerlei Möbel, Gerätschaften und Geld ausgestattet war. Desgleichen war er zum Muchtar seines Dorfes berufen worden. Nun aber begann des Fischers Weib, ihren Mann um das Geheimnis für diesen plötzlichen Reichtum zu bedrängen. Stieß er sie von sich, steigerte sich im gleichen Maße ihr Drängen, so daß er schließlich doch das Erlebnis mit dem Fisch erzählte. Doch der Fischer hatte noch nicht ausgesprochen, als sich das stolze Haus in ihre alte Hütte zurückverwandelte und sie sich in ihren vormaligen Lebensumständen wiederfanden.
Tieftraurig ging der Mann anderntags erneut auf Fischfang. Lange verweilte er an seiner Stelle und warf das Netz in der Hoffnung aus, daß er den Silberfisch noch einmal an die Oberfläche bringen könne. Doch alle Mühen schienen vergeblich, bis es ihm zu guter Letzt am Abend doch gelang. Froh über sein Glück verlangte der Fischer von dem Wunderfisch, daß er ihm das Seinige wiedergebe. »Ich werde dir jetzt noch einmal ein prachtvolles Haus erstehen lassen«, sprach das Tier, »aber hüte dich bei deiner Rückkehr, das Geheimnis zu enthüllen.« Der Fischer ließ den Fisch schwimmen und eilte zu seiner Familie, die er in einem schönen geräumigen Haus vorfand, gerade so wie es der Fisch versprochen hatte. Aber kaum waren einige Tage verstrichen, schon versuchte seine Frau von neuem die Wiederkehr ihres Reichtums zu ergründen. Zu Anfang wehrte sich der Mann tapfer, ihr das Geheimnis zu enthüllen, aber sie begann, ihm immer übler zuzusetzen, bis sie schließlich ihrem Zorn freien Lauf ließ. Schließlich verkündete sie ihm, daß sie ihn verlassen werde, sollte er sie nicht einweihen. Nun sah sich der Fischer gezwungen, seinem keifenden Weib reinen Wein einzuschenken. Aber kaum waren die Worte über seine Lippen, als sie wieder in ihrem alten, armseligen Heim saßen. Reumütig lief der Fischer zum dritten Mal an die Stelle am Fluß und warf sein Netz aus. Als der Tag sich seinem Ende neigte, tauchte der Fisch vor ihm auf und schalt den Fischer, daß er wieder das Geheimnis nicht hatte für sich behalten können. Dann allerdings sprach der Fisch zu dem Mann: »Nimm mich jetzt mit dir und teile mich in sechs Teile. Gib deiner Frau zwei Stücke zu essen, deiner Stute zwei Stücke zu fressen und pflanze zwei in den Boden.« Der Fischer tat, wie ihm der Fisch geheißen hatte, wonach sein Weib Zwillingssöhnen das Leben schenkte, die Stute zwei Füllen warf und aus der Erde zwei Blumen hervorbrachen. Die
Knaben wuchsen heran und die Fohlen entwickelten sich zu zwei starken Hengsten. Ebenso reckten sich die Blumen empor und entfalteten zwei wunderschöne Blüten. Eines Tages beschlossen des Fischers Söhne, in die Welt zu ziehen. »Habe keine Angst«, trösteten sie ihren besorgten Vater, »sollte uns ein Unglück zustoßen, werden jene beiden Blüten welken.« Alsdann schwangen sie sich in die Sättel ihrer Pferde und brachen auf. Kurz nach ihrer Abreise kehrte einer der beiden Brüder wieder heim, da ihm der Weg von zu vielen Gefahren begleitet schien. Sein Bruder indessen setzte seine Reise trotz zahlreicher Anfechtungen unbeirrt fort. Unterwegs brachte er einige Bären zur Strecke und bedeckte mit ihren Fellen sich und sein Pferd. Der wilde Anblick des Jünglings verschreckte sogar eine Bande Wegelagerer, die von dem mutigen Bärentöter aus Furcht abließ. Als die Nacht hereinbrach, schlug der Jüngling unter einem Baum sein Nachtlager auf. Am Morgen kreuzte eine Gazelle seinen Weg, der er solange nachstellte, bis sie ihm aus den Augen entschwunden war. Wie er nun seine Blicke schweifen ließ, entdeckte er eine Stadt. Zu seiner Überraschung fand er in ihr keine Menschenseele außer einem alten Weib, an deren Seite sich ein Hund ausstreckte. Da der Hund ihn anbellte und im Begriff war, ihn anzufallen, sah sich der junge Bursche gezwungen, das Tier mit Schlägen abzuwehren. Darüber geriet die Alte so sehr in Zorn, daß sie den Fischerssohn in einen Felsbrocken verzauberte. Sein Zwillingsbruder schaute gerade auf die Wunderblüten, als eine der beiden welkte. Er wußte sogleich, daß seinem Bruder ein Unglück widerfahren war, und eilte, ihn aus der Gefahr zu retten. Hoch zu Roß gelangte er an einen Ort, wo er einen alten Mann traf. Der Jüngling entbot ihm seinen Gruß, den der Greis erwiderte und sich nach seinem Ergehen erkundigte. Der Reiter stieg von seinem Pferd, um seine Geschichte zu erzählen. Der ehrwürdige Alte empfand Mitleid
und reichte dem Jüngling einen Ring. »Folge diesem Weg«, sprach er, »bis du in eine Stadt gelangst. Wende deine Schritte dort zum Palast des Königs. Dem Torhüter überreichst du diesen Ring, wofür er dir das Pferd des Königs vorführen wird. Steig auf und reite mit ihm an den Rand der Stadt zurück, wo du mein altes Weib und ihren Hund antreffen wirst. Deinen Bruder wirst du bei ihr finden.« Der Bursche bedankte sich und verließ den alten Scheich. Er folgte dem beschriebenen Weg, bis er in jene Stadt gelangte. Am Königspalast reichte er dem Torhüter den Ring. Sogleich entfernte sich der Diener und kam nach kurzer Zeit mit dem stolzen Hengst des Monarchen zurück. Als der Fischerssohn durch die Straßen ritt, verneigten sich die Leute vor dem Reiter auf dem hochherrschaftlichen Roß, als ob er der König selbst sei. Am Stadtrand fand er die Alte mit ihrem Hund. Auch sie erhob sich ehrfürchtig und bat den hohen Herrn in ihre bescheidene Kammer, wo sie ihm vom Besten zu essen und zu trinken vorsetzte. Dabei erfuhr sie sein Begehr. Ohne zu zögern blies sie an den Felsbrocken und sein Zwillingsbruder kam zum Vorschein. Glücklich über die Erlösung fielen sich die beiden in die Arme. Die Alte schenkte dem Jüngling noch ein Zaubergewand, das er sich nur überwerfen brauchte, damit ihm die Alte erscheine und zu Diensten sei. Die Zwillinge verabschiedeten sich und kehrten zu dem ehrwürdigen Scheich zurück, dem sie für seinen guten Rat dankten. Jener schenkte ihnen noch einen Zauberteppich, der sie überallhin tragen konnte. Die Jünglinge nahmen Abschied und setzten sich auf ihren fliegenden Teppich, der sie in Windeseile zu ihren Eltern brachte.
Und sie lebten in Frieden und Glückseligkeit.
Reineke Fuchs und die Pilgerfahrt
Es lebte einst ein Fuchs. Immer wenn er sich in ein Dorf schlich, um sich ein Huhn zu rauben, lauerten ihm die Leute auf, um ihn zu erschlagen oder zu erschießen. In dieser mißlichen Lage sann Reineke darüber nach, was er wohl anstellen müsse, damit ihm die Vögel und Hühner freiwillig folgten. ›Das beste wird sein‹, überlegte er sich, ›wenn ich die Nachricht verbreite, ich zöge auf Pilgerfahrt. Alle Leute lieben die Wallfahrt zu Allahs Haus, und niemand, der Gelegenheit zu dieser heiligen Pflicht erhält, würde nein sagen können.‹ Der Fuchs klemmte sich einen Stock quer über den Rücken und lief bedächtig den Weg zum nächsten Dorf entlang. Bald erreichte er das erste Haus, dessen Bewohner eine Henne besaßen. »Reineke, wohin des Weges unter Allahs Obhut?« gackerte das Huhn neugierig. »Allah möge dich und mich ernähren, meine Tochter. Ich ziehe aus auf Pilgerfahrt«, verkündete der Fuchs ihr bedeutungsvoll. »Willst du mich denn nicht mitnehmen, Oheim?« kam die Glucke heran. »Der Weg ist breit für dich und mich«, sprach der listige Geselle salbungsvoll. »So habe noch Geduld, bis ich für die lange Reise gerüstet bin«, gackerte sie geschäftig. Dann zog der Fuchs los, und die Henne folgte ihm, bis sie am nächsten Haus anlangten. Dort wohnte ein Hahn. »Wohin des Weges?« krähte der Gockel. »Bei Allah, mein Söhnchen, wir sind auf Pilgerfahrt. Der Herrgott möge dich und mich ernähren«, antwortete der Gefragte. »Nehmt ihr mich denn nicht mit?« gackerte jener. »Der Weg ist breit für dich und mich«, sprach der Fuchs, und die Gemeinschaft zog zu dritt weiter, nachdem sich auch der Hahn zur Reise gerüstet hatte. Im Gänsemarsch
kamen sie zum Rebhuhn, das ebenfalls wissen wollte, wohin sie zögen. Und als es vom Fuchs gehört hatte, daß die drei auf Wallfahrt waren, wollte es sich ebenfalls anschließen. Zu viert trafen sie den Raben, der sich auch in den frommen Zug einreihte, so daß sie schon ein ansehnliches Trüppchen geworden waren. »O Reineke, wie gelangen wir nach Mekka? Im Flugzeug oder mit dem Schiff?« fragten die gefiederten Pilgrime den Fuchs. »Ich habe auf dem Dampfer gebucht und der legt bei Sonnenuntergang an«, log jener, worauf die Gesellschaft zum Meeresufer einschwenkte, das sie mit der Dämmerung erreichten. »Aber es ist kein Schiff zu sehen, auch nicht auf hoher See«, gackerte und krächzte alles durcheinander. »Habt Geduld, meine Freunde! Es ist noch nicht da und hat sich sicherlich verspätet. Bestimmt kommt es zur Mitternacht. Seht, dort ist eine kleine Grotte, geht hinein und ruht euch aus. Ich halte vor dem Eingang Ausschau nach dem Dampfer. Wenn es soweit ist, dann rufe ich euch«, beruhigte sie der Fuchs. Inzwischen war die Sonne untergegangen und Dunkelheit breitete sich rings aus. Reineke verspürte solchen Hunger, daß er nicht länger warten konnte. So rief er nach dem Huhn, die anderen hieß er, in der Höhle zu bleiben. »Ich flehe dich an, Oheim, was habe ich denn getan?« gackerte es aufgebracht, als der Fuchs sich ihm näherte. »Dein Vergehen? Das mußt du unter deinem Bürzel eingestehen. Hast du denn schon vergessen, als einmal deine Leute Gäste hatten, der Hausherr zu seinem Weib sprach: ›Frau, brate uns zwei, drei Eier.‹ Worauf sie antwortete: ›Lauf du doch diesem alten Nichtsnutz selber nach, der frißt und frißt, doch haben wir kein Ei im Haus.‹ Die Frau war vor den Gästen blamiert, und das gereicht dir nicht zur Schuld?« warf der Fuchs der Henne vor und fraß sie und ließ sich zufrieden nieder. Zwei, drei Stunden später steckte der Hahn den Kopf ins Freie. »Komm hierher!« befahl
Reineke. »Was willst du von mir, Oheim. Sollte ich etwas angestellt haben?« fragte der Gockel mit aufsteigender Bangigkeit. »Was, du kennst noch gar nicht deine Schuld? Dein Vergehen mußt du unter deinem Bürzel eingestehen. Oder hast du vergessen, als dein Herr einmal kein Mehl im Hause hatte? Sein Weib sprach zu ihm: ›Mann, erhebe dich und mahle uns Mehl.‹ Da stand er zwar auf und füllte mit seiner Alten den Kornsack, wovon er wie zerschlagen war. Sein Weib wollte, daß er mit dem ersten Sonnenstrahl am Morgen zur Mühle ginge. Doch du elender Schweinehahn hast dich schon nachts um zehn in die Brust geworfen und die Leute im Dorf geweckt, daß der Mann wahrhaftig glaubte, der Morgen sei angebrochen, sich den Kornsack auflud und den Weg zur Mühle nahm. Wie er dabei noch vor Mitternacht ins Blaue Tal kam, überfielen ihn Hyänen, die ihn in kleine Stücke fetzten und fraßen. Und das alles nur, weil du mit deinem Weckruf nicht bis zum Morgen warten konntest. Gereicht dir denn das nicht zur Schuld?« zählte ihm Reineke die Sünden auf und verschlang den Hahn. Wieder zwei, drei Stunden später holte er das Rebhuhn nach draußen, das den Fuchs erstaunt fragte, was es denn getan habe und wo die Gefährten seien. »Deine Freunde sind gerade zur Quelle gelaufen. Doch du fragst, worin deine Schuld besteht. Dein Vergehen mußt du unter deinem Bürzel eingestehen. Hast du etwa jenen Kaufmann schon vergessen, der über die Dörfer Ain Dschuriya, Khawarat, Karafish nach Hauwa zog. In jedem Weiler kaufte er die Eier auf. Nach vielen Mühen hatte er es etwa auf fünfhundert oder tausend Eier gebracht, die er seinem Esel auflud. Als sie fast in Dschafna waren, kamst du und schriest urplötzlich dein ›firrr… firrr‹, daß der Esel scheute und sämtliche Eier zu Boden fielen und zerbrachen. Gereicht dir denn das nicht zur Schuld, du Gnomenhuhn?« faßte der Fuchs die Anklage zusammen. »Das habe ich getan«, gestand
das Rebhuhn ein. »Wirst du mich denn dafür bestrafen?« Der listige Räuber würdigte es keiner Antwort mehr, sondern packte und fraß es. Inzwischen wollte es fast tagen und würde die Sonne aufgegangen sein, hätte Reineke den Raben nicht mehr zu täuschen vermocht. Deshalb ging der Fuchs und holte den Schwarzrock aus der Grotte. »Was willst du, Oheim? Was habe ich getan? Meine Haut ist schwarz, und ich tauge nicht, gefressen zu werden«, krächzte er. »Ich fresse dich auf der Stelle, denn deine Schuld ist groß. Dein Vergehen mußt du unter deinem Bürzel eingestehen. Oder erinnerst du dich gar nicht mehr an jene Frau, die ihren kranken Sohn in den Armen hielt? Sie wartete auf eine glückliche Fügung von Allahs Hand, damit ihr Kind genese. Aber Ihre Durchlaucht kamen herangeflogen und pochten just in diesem Augenblick vor der Tür, dieweil man dich als Unglücksraben kennt. Da ließ die Mutter alle Hoffnung fahren, denn nunmehr glaubte sie, ihr Sohn werde sterben. Du kündest den Menschen nur von Unheil und Verderben, Rabe.« Mit diesen Worten fuhr der Räuber auf sein letztes Opfer los. »Oheim Reineke, wenn du mich auch ganz in schwarz gehüllt siehst, so ist dies meine natürliche Farbe nicht. Eigentlich bin ich von weißem Gefieder«, versuchte der Rabe seinen Jäger zu täuschen. »Das Dunkel meines Kleides macht der Schmutz auf meiner Haut. So wirst du mich doch nicht fressen wollen, mich in Dreck und Speck, wo doch das Meer so nah ist. Dort in diesem Häuschen auf dem Hügel gegenüber sind sicher Sieb und Durchschlag. Nimm sie zum Wasserschöpfen und wasche mich. Dann magst du mich fressen.« Der Fuchs überlegte. »Und wenn du fliehst?« fragte er verunsichert. »Wo wir doch auf Wallfahrt sind! Ist es denn denkbar, daß ein Pilgrim Listen spinnt?« antwortete der Vogel scheinheilig.
Reineke stahl Durchschlag und Sieb und lief zum Meer. Vergeblich versuchte er mit dem Sieb, Wasser in den Durchschlag zu schöpfen. »Allah möge dem Raben das Lebenslicht ausblasen. Er hat sich über mich lustig gemacht«, fluchte der Fuchs. Der schlaue Rabe war inzwischen auf und davon und geradewegs ins Dorf geflogen. Dort krächzte er allerorten. »Kräh, kräh, kräh, hergehört ihr Leute da! Die Hühner fraß der Fuchs am Strand, er ist noch immer dort im Sand.« Kaum hatten die Dorfhunde den Schrei vernommen, als sie schon Reinekes Spur aufgenommen hatten. Sie hetzten und bissen, sie fetzten und rissen und hielten nicht eher inne, bis dem Räuber schwanden Leben und Sinne.
Meine Geschichte ist erzählt.
Die drei Fischlein
Drei Fischlein unternahmen einst einen Ausflug. Da begegnete ihnen der Kater. »Wohin des Wegs?« fragte er. »Bei Allah, wir sind auf einem Ausflug«, gaben sie zur Antwort. Ein Fischlein hatte dafür Käse, ein anderes süße Halwa-Kuchen und das dritte ein Stück Braten mitgebracht. »Nehmt mich doch mit euch«, bat der Kater, und so setzten sie die Reise gemeinsam fort. Unterwegs knurrte der Kater ein Nirr-nirr. »Was ist dir?« erkundigten sich die Fischlein. »Ich habe Hunger«, sprach der Kater und die Fischlein gaben ihm das Bratenfleisch. Wieder knurrte der Kater sein Nirr-nirr. »Was ist dir?« fragten die Fischlein teilnahmsvoll. »Ich bin hungrig«, fauchte der Kater und die Fischlein gaben ihm das süße Halwa. Doch erneut tönte das Nirr-nirr. »Was ist dir diesmal?« »Ich habe immer noch Hunger«, war die Antwort. Nun gaben die Fischlein ihrem Reisebegleiter auch noch den Käse, und ihnen selbst blieb nichts mehr übrig. Ein kurzes Stück Weges weiter war das Nirr-nirr des Katers wieder zu hören. »Was fehlt dir jetzt? Wir haben nichts mehr.« »Dann fresse ich eben euch.« »Wenn du uns schon fressen willst, so doch wohl nicht etwa roh? Geh, hole Feuer und Öl. Brate uns wenigstens und verspeise uns dann gesotten und gar!« schlug eines der Fischlein vor. Das leuchtete dem einfältigen Kater ein. Als er gegangen war, suchte sich jedes Fischlein ein Versteck und verbarg sich.
»Fischlein, Fischlein, Fischlein«, rief der Kater, als er zurückkam. Niemand antwortete. Nach einer geraumen Weile tauchte ein Fischlein aus dem Brunnen auf und foppte ihn: »Hier bin ich! Im Brunnen.« »Du im Brunnen, du im Brunnen, komm herauf«, flehte es der Kater an. »Verflucht sei dein dicker Schädel!« schalt ihn das Fischlein. »Hättest du Köpfchen und Verstand, war’ dir das Fischlein nicht in den Brunnen durchgebrannt. Es gibt keine Macht außer bei Allah.« Das Katertier lief weiter und rief unentwegt nach den Fischlein. Eines meldete sich aus der Gosse: »Hier bin ich! In der Gosse.« »Du in der Gosse, du in der Gosse, komm herauf!« flehte der Kater. »Verflucht sei dein Matschauge!« spottete das Fischlein. »Hättest du Verstand und Geisteskraft, hätte das Fischlein nicht die Flucht in die Gosse geschafft. Es gibt keine Macht außer bei Allah.« Wieder rief der Kater die Fischlein. Das Dritte neckte ihn von sicherem Ort: »Hier bin ich! Im Bächlein. Verflucht seist du mit deinem Winselarsch! Hättest du Grips, wie ihn jeder braucht, wär’ das Fischlein nicht ins Bächlein untergetaucht. Es gibt keine Macht außer bei Allah.« Der Kater zog unverrichteter Dinge von dannen und es war ihm, als ob er vor lauter Zorn bald bersten müsse. Da sah ihn der Hund. »Was fehlt dir, Gevatter Kater, was ist dir?« »Oh, oh, du mußt schweigen. Die Geschichte ging so und so.« »Bei Allah!« Der Hund war betroffen. »Wäre ich an deiner Stelle, würde ich zerspringen.« Da blies sich der Kater noch weiter auf und schwoll, bis er mit lautem Knall zerplatzte und tot war.
Die drei Ziegenböckchen
Es waren einmal drei Ziegenböckchen. Eines lahmte, eines hatte nur ein Auge und nur das dritte war gesund und hatte kein Gebrechen. Die drei wollten gemeinsam zur Weide in ein Tal ziehen, das weithin mit saftigem Gras bedeckt war. In diesem Tal plätscherte auch eine kleine Quelle. »Geh und sieh nach dem Wasser. Ist es gut und schmackhaft, werden wir drei davon trinken«, sagte das Hinkebein zu Einäuglein. Das einäugige Zicklein lief stracks zur Quelle und trank, bis es seinen Durst gelöscht hatte und streckte sich ins Gras. Dabei hatte es der Schakal beobachtet. »Was hast du hier zu schaffen?« fuhr das Raubtier das Ziegenböckchen an. »Ich trinke«, meckerte es. »Was hast du da auf dem Kopf?« fragte der Schakal weiter. »Meine zwei Hörnelein«, tönte es. »Und was darunter?« ging das Fragespiel weiter. »Mein Äugelein«, antwortete das Zicklein artig. »Und was baumelt dir zwischen den Läufen?« fragte der Schakal immer drohender. »Meine zwei Eierlein«, quäkte es. »Hast wohl Angst?« bohrte der Steppenhund. »Ich habe Angst vor dir, weil du mich fressen könntest«, wisperte das Ziegenböckchen. Doch da sprang der Schakal herzu und fraß das wehrlose Tier. Weil Einäuglein nicht wiederkam, erhob sich Hinkebein. »Nun werde ich wohl gehen und nachsehen müssen, was Einäuglein zugestoßen ist«, sagte es und humpelte davon. Kaum war es an der Quelle angekommen und hatte sich richtig satt getrunken, als der Schakal wieder hinzukam. »Was hast du hier zu schaffen?« herrschte er Hinkebein an. »Ich trinke, wie du siehst«, meckerte es. »Was hast du auf dem Kopf?« fragte der Räuber. »Meine zwei Hörnelein«, meckerte das
Ziegenböckchen. »Und was darunter?« knurrte der Steppenhund. »Meine zwei Äugelein«, gab es an. »Und was baumelt dir zwischen den Läufen?« dröhnte der Schakal. »Meine zwei Eierlein«, piepste das Zicklein. »Hast wohl Angst?« bohrte der Schakal. »Ich habe Angst vor dir, weil du mich fressen könntest«, wisperte das Ziegenböckchen. Doch da sprang der Schakal schon heran und fraß das wehrlose Tier. Als auch Hinkebein von der Tränke nicht zurückkam, machte sich das dritte Zicklein auf, um die beiden zu suchen. Vergnügt sprang es in die Lüfte und erfreute sich seiner gesunden Glieder. An der Quelle empfing es schon der Schakal. »Jetzt bringe ich dich zur Strecke.« »An mir sollst du verrecken«, bot es dem Wilderer die Stirn. »Was willst du hier?« fauchte das Raubtier. »Saufen.« »Was hast du auf dem Kopf?« »Scharfe Lanzen zum Raufen.« »Und was darunter?« »Blendlampen auf Lauer.« »Was baumelt dir zwischen den Läufen?« »Hoden hart wie Mörserhauer.« »Hast du Angst?« bellte der Schakal mit drohender Gebärde. »Ich und Angst?« meckerte das Ziegenböckchen keck. »Dich werd ich unter Tritten, Hieben, Schlagen bis nach Lathakia jagen.« Da klemmte der Schakal aus angstvoller Pein seinen Schwanz zwischen den Beinen ein. Alsdann ergriff das räuberische Tier auch schon das Hasenpanier. Hinter ihm her kam gnadenlos das Zicklein gewetzt, bis es den Schakal hatte zu Tode gehetzt.
Der Sperling und seine Frau
Es war einmal und war doch nicht vor langer, langer Zeit. Es lebte einst ein Sperling mit seiner Frau. Eines Tages gerieten sie in Streit, und er brach ihr ein Bein, schlug ihr ein Auge aus und schließlich jagte er sie aus dem Haus, daß sie wieder zu ihren Eltern gehen mußte. Doch bald reute ihn seine Tat. Er zerzauste sein Federkleid und setzte sich traurig auf das Dach seines Hauses. Da kam der Rabe. »Was ist dir, Sperling, bist völlig zerzaust und sitzt in der prallen Sonne?« fragte der. »Schweige still! Ich hatte Streit mit meinem Weib, brach ihr ein Bein, schlug ihr ein Auge aus und warf sie zudem noch aus dem Haus«, gestand der kleine Vogel. »Nimm’s nicht so schwer! Ich werde gehen und sie zu dir zurückbringen«, sprach der Rabe. »Sie wird nicht mit dir kommen, sie wird dir die kalte Schulter zeigen«, warnte noch der Spatz, aber der Rabe flog davon und setzte sich auf das Dach der Sperlingsfrau. »Was hat dich auf unser Dach verschlagen?« zeterte der kleine Vogel. »Nun, ich bin der stolze Rabe Krah, Baumeister des Himmelszelts da«, wollte sich der Schwarzrock einschmeicheln. »Scher dich weg«, tschilpte das Sperlingsweibchen. »Wärest du wahrhaft ein stolzer Rabe, pickerten deine Jungen nicht im Gassenkot zur Labe.« Das verärgerte den Schwarzrock. »Habe ich dir nicht gesagt«, sprach dann der Sperling, »gehe nicht, sie wird dich abblitzen lassen, daß du mißlaunig wirst.« Dann schwebte der Geier heran. »Was ist dir, Sperling, bist so zerzaust und sitzt in der prallen Sonne?« fragte er teilnahmsvoll. »Ach, bei Allah, schweige still! Ich hatte Streit
mit meinem Weib, brach ihr ein Bein, schlug ihr ein Auge aus und warf sie zudem aus dem Haus«, piepste der Spatz. »Ich werde gehen und sie zu dir zurückbringen«, sprach der große Vogel und setzte zum Dach über, auf dem des Spatzens Alte hockte. »Was hat dich auf unser Dach verschlagen?« zeterte sie. »Nun, ich bin der edle Geier Groß, Baumeister vom hehren Schloß«, wollte sich der König der Lüfte anbiedern. »Wärest du wahrhaft ein edler Geier, bekämen deine Jungen nicht Aas zu fressen, s’ist ungeheuer«, zeterte das Sperlingsweibchen. Der Geier war beleidigt und verzog sich zum Spatzen. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht zu ihr gehen, sie wird dich abblitzen lassen?« tschilpte dieser. Dann flog der Sperling selbst zum Dach seiner Frau. »Was hat dich auf unser Dach verschlagen«, zeterte sie wieder. »Ich bin es doch, dein Zauselkopf. Ich bin gekommen, um mich mit meinem Weib auszusöhnen«, sagte er. »Oha, da bist du ja, mein Lieber, sei hundertfach willkommen!« piepste sie. »Lieber ein Auge dahin und gebrochen ein Bein, als billige Sklavin der eignen Familie zu sein.« Sprach’s und kehrte zu ihm zurück.
Daus, daus, die Geschichte ist aus.
Das Eselchen
Es wird erzählt, daß einst eine Ente, eine Taube, eine Gans, ein Sperling und ein kleiner Esel in Frieden und Eintracht zusammenlebten. Ein jedes der Tiere säte das ihm genehme Futter, von dem es das ganze Jahr über leben konnte. Einmal wollten die Tiere ins türkische Bad ziehen, waren aber ratlos, wer wohl indessen ihre Saaten bewachen solle. Da meldete sich der Esel freiwillig zum Wachdienst. Aber kaum waren die Tiere in die Badestube getreten, fraß der Graukopf die Saat der anderen. Als seine Gefährten wieder ins Freie traten, stellte sich das Eselchen schlafend und schnarchte markerschütternd. Als die Tiere nach ihrem Futter schauten, konnten sie jedoch nichts finden. Ente, Taube, Gans und Sperling überhäuften den kleinen Esel mit Fragen, aber der störrische Geselle log: »Ich schlief gleich ein, als ihr das Bad nur betratet. So kenne ich den Übeltäter nicht.« Darauf kamen die fünf überein, zum Teich Allahs zu ziehen, damit ein jeder den Eid leiste, daß nicht er das Futter vom Halm gefressen habe. Dieser Schwur verlangte, daß die Tiere auf ein Minarett nahe des Tümpels stiegen und ein jedes für sich die Eidesformel sprach, um sich anschließend vom höchsten Punkt des Turmes in die Tiefe zu stürzen. Fiel der Springer in den Pfuhl, so war er der Frevler, konnte er das andere Ufer erreichen, war er schuldlos. Die Tiere nahmen auf dem Minarett Aufstellung. Die Ente sprach als erste den Schwur und rüstete sich zum Sprung. »Dock, dock, ich bin eine Ente und säte Weizen. Dock, dock, habe ich alles gegessen und gefressen, wirft mich Allah in den Teich.« Der Vogel hob ab und im Nu setzte er heil am anderen Ufer auf.
Nun war die Reihe an der Taube. »Gurr, gurr, ich bin eine Taube und pflanzte Kichererbsen. Gurr, gurr, habe ich alles gegessen und gefressen, wirft mich Allah in den Teich.« Dann stieg die Taube auf und landete mir nichts dir nichts wohlbehalten am anderen Ufer. Alsdann trat die Gans vor. »Nak, nak, ich bin eine Gans und pflanzte Reis. Nak, nak, habe ich alles gegessen und gefressen, wirft mich Allah in den Teich.« Dann schwang sie sich in die Lüfte und im Handumdrehen war auch sie am anderen Ufer. Als vierter schwor der Sperling. »Tschiep, tschiep, ich bin ein Sperling und säte Hirse. Tschiep, tschiep, habe ich alles gegessen und gefressen, wirft mich Allah in den Teich.« Als er seinen Eid gesprochen hatte, überließ er sich dem Wind und flatterte sicher zu seinen Gefährten. Nun rückte das Eselchen an die Brüstung. »Ia, ia, ich bin ein Esel«, schrie er mit rauher Stimme, »und säte Gerste. Ia, ia, habe ich alles gegessen und gefressen, wirft mich Allah in den Teich.« Dann sprang auch er und plumpste in das Wasserloch. Seine gefiederten Gesellen schlossen daraus, daß er der Bösewicht war; sie wandten sich ab von ihm und kehrten nach Hause zurück. Der kleine Esel unterdessen schrie lauthals um Hilfe. »Wer mich herauszieht, kann mich zur Hälfte fressen.« Das kreischte er solange, bis die Hyäne vorbeikam, die es für diesen Preis gelüstete, das Eselchen zu retten. Nachdem die Hyäne den Esel aus dem Tümpel gezogen hatte, begannen sie zu feilschen. »Welchen Teil meines Leibes geruhen Sie, meine Dame, fressen zu wollen?« »Ich will den Kopf.« »Aber nicht doch, meine Dame! Oder möchten Sie mich ohne mein Haupt zurücklassen?« »Gut, dann werde ich eben deinen Wanst fressen.«
»Aber wie denn, und ich soll dann völlig ohne Bauch dastehen?« Und so handelten sie um ein Körperteil nach dem anderen, bis sie schließlich beim Hinterlauf anlangten, zu dem der kleine Esel endlich einwilligte. Er streckte der Hyäne die Hinterkeule hin, aber als das Raubtier seinen Hals vorstreckte, um herzhaft zuzubeißen, schlug der Esel so kräftig mit dem Huf aus, daß die Hyäne in den Tümpel stürzte und jämmerlich ertrank. Das Eselchen kehrte reumütig zu seinen Gefährten zurück. Diese nahmen seine Buße an, nachdem sie sich alle von neuem Redlichkeit und Treue gelobt hatten.
Die wehrhafte Geiß
Es war einmal und war’s auch nicht, o Allah, lang ist’s her. Erzählen wir nun eine Mär oder geben wir dem Schlaf die Ehr’? Doch hören wir nun die Geschicht’: Es lebte einmal eine stattliche alte Geiß, die hatte zwei eisenharte Hörner. Jeden Tag ging sie auf die Weide und kam zu ihren Kindern zurück. »O Sanasil, Samasil und Rabab«, rief sie die Zicklein von draußen, »öffnet eurer Mutter schnell die Tür, die prallen Zitzen säugen euch dafür!« Eines Tages belauschte die Hyäne die alte Geiß. Als die Mutter auf die Weide gegangen war, kam die Hyäne und rief mit der verstellten Stimme der Geiß: »O Sanasil, Samasil und Rabab, öffnet eurer Mutter schnell die Tür, die prallen Zitzen säugen euch dafür!« »Du bist nicht unsere Mutter«, schrien die Zicklein. »Aber ja doch, ich bin eure Mutter«, heuchelte die Hyäne. Da glaubten ihr die Kleinen und öffneten das Tor. Die Hyäne stürzte herein und fraß sie alle mit Haut und Haaren. Als die alte Geiß kam und ihre Kinder rief, antwortete niemand. Sie stieß die Tür mit ihren Hörnern auf, aber niemand war da. Da sprang die Geiß auf die flachen Dächer des Dorfes. »Wer Sanasil, Samasil und Rabab hat gefressen, muß sich mit mir auf freiem Feld im Kampfe messen.« »Wir haben weder gegessen noch getrunken«, sagten ihr alle Leute. Da lief die Geiß bis zum Haus der Hyäne. »Ich bin die
bockstarke Geiß, mein Gehörn ist hart wie von Eis«, ließ sie ihre Stimme erschallen. »Wer Sanasil, Samasil und Rabab hat gefressen, muß sich mit mir auf freiem Feld im Kampfe messen.« »Was kümmert’s dich noch«, erwiderte die Hyäne. »Rüste dich zum Zweikampf. Wir werden ja sehen, wer den anderen niederstreckt.« Weil die Hyäne keine Hörner hatte, formte sie sich welche aus Teig. Dann traten sich Geiß und Hyäne gegenüber. »Stößt du oder wehrst du?« fragte die Geiß. »Ich stoße zuerst«, ließ die Hyäne kampfeslustig vernehmen und stürmte heran. Sie konnte aber der Geiß nichts zuleide tun. »Nun ist die Reihe an mir«, triumphierte die Geiß und rammte die Hyäne so stark, daß diese tot umfiel. Ein Horn der Ziege hatte der Hyäne ein Loch in den Bauch gerissen, aus dem ihre drei Kinder Sanasil, Samasil und Rabab wohlbehalten heraussprangen.
Das war die Mär, die’s zu erzählen gab, die ich euch unter’s Hemd geschoben hab.
Der Kiebitz
Ein Gockel und eine Henne ritten eines schönen Tages auf einem Stab aus. Das sah der Rabe. »Krah, krah, Gockel und Huhn reiten aus auf einem Stab«, krächzte er verwundert und sprang auf. Gemeinsam ritten sie weiter, bis ein Milan ihre Gesellschaft erspähte. »Gockel, Huhn und Rabe reiten aus auf einem Stabe«, spottete er. »Soll dir vor Schmerz die Zunge abfallen«, gackerte das Huhn empört. »Aber wer wird denn gleich so empfindlich sein. Ich bin doch euer Nachbar«, lenkte der Milan ein und stieg mit auf. Auf ihrem seltsamen Ausflug trafen sie unterwegs auf einen winzig kleinen Kiebitz. »Gockel und Huhn, Milan und Rabe reiten aus auf einem Stabe«, zwitscherte er und schwang sich hinten auf. Alle fünf ritten gemeinsam weiter, bis sie für ihren Ausflug ein Ziel erreicht hatten. In einem schönen Garten ließen sie sich nieder und ruhten aus. Den Gockel gelüstete es, seine volle Stimme erschallen zu lassen. Der Kiebitz hatte Angst. »Ich fürchte mich vor dem Fuchs«, warnte er, doch der stolze Hahn stimmte dennoch sein lautes Kikeriki an. »Da bin ich schon, da bin ich schon«, knurrte der Fuchs. »O nein, Fuchs, was habe ich dir denn getan«, schreckte der Gockel zurück. »Du krähst so zeitig in der Früh, wenn ich auf Raubzug geh und weckst die Leute, eh«, sprach er und verschlang den Hahn zur Strafe. »Ich wasch’ mit Seife mich, du stiehlst sie mir«, warf der Fuchs dem Raben vor und verschluckte ihn. »Du, Milan, kommst bei der Beute mir
zuvor«, lautete das Urteil des Fuchs’ über den Raubvogel, bevor auch er in seinem Magen verschwand. »Aber was habe ich getan?« piepste der klitzekleine Kiebitz. »In der größten Hitze halte ich Mittags Ruh’, aber du zwitscherst und singst und störst immerzu«, antwortete der Fuchs. »Dann schließe deine Augen. Ich hüpfe dir geradewegs ins Maul«, gab sich der Kiebitz scheinbar geschlagen. Doch als der Fuchs die Augen geschlossen hatte, erhob sich der kleine Federknäuel in die Lüfte und flog davon. »Fuchs, o Fuchs«, spottete der Kiebitz von hoch oben, »nichts ist schmackhafter als ich.« Den Fuchs packte der Zorn und er sprang über den Zaun, um auch dem kleinen Vogel den Garaus zu machen. Aber da er schwer war, riß er sich den Wanst an der Zaunkrone auf, und herauspurzelten unversehrt Gockel, Rabe und Milan.
Daus, daus, dende – die Geschichte ist zu Ende. War sie gut, war sie reich, bring’ ich dir Pasteten mit Fleisch. Reicht sie gar in Herz und Traum, schüttle ich dir noch den Maulbeerbaum. Ist dein Haus nicht fern, sei dir ein Korb Rosinen ohn’ Kern.
Der kleine Vogel
Es war einmal und war doch nicht vor langer grauer Zeit. Es lebte einmal ein kleiner Vogel. Der flog auf das Feld, wo er ein Weizenkorn fand. Damit flatterte er zum Müller. »Onkelchen Müller, hebe mir das Weizenkorn bis morgen auf«, bat das Vögelchen. Als es aber am anderen Tag zum Müller kam und sein Korn forderte, entschuldigte sich jener: »Es wurde mit den anderen zu Mehl gemahlen.« Da empörte sich der kleine Vogel. »Ach, ich weiß nicht recht. Ich bin zwar nur ein kleiner schwacher Vogel, der flog auf’s Feld und fand ein Weizenkorn, nun das Korn für eine Handvoll Mehl«, sprach’s und flog mit dem Mehl davon. Damit flog er zum Bäcker. »Onkelchen Bäcker, bewahre mir das Mehl bis morgen«, bat der kleine Geselle. Doch als er am anderen Tag sein Mehl verlangte, gestand der Bäcker: »Es ist in den Teig geraten.« Wieder piepste der kleine Vogel ganz aufgeregt. »Ach, ich weiß nicht recht. Ich bin zwar nur ein kleiner Vogel, der flog auf’s Feld und fand ein Weizenkorn. Erst das Korn für eine Handvoll Mehl, nun das Mehl für zwei Fladenbrote.« Und flugs schnappte er sich zwei Fladen und flatterte zum Gemüsehändler. »Onkelchen Gemüsehändler, hebe mir die Brote bis morgen auf.« Doch als das Vögelchen am anderen Tag seine Brote holen wollte, mußte sich der Kaufmann entschuldigen: »Meinen Burschen kniff der Hunger gar zu sehr, so hat er sie gegessen.« Der Vogel schimpfte. »Ach, ich weiß nicht recht. Ich bin zwar nur ein kleiner Vogel, der flog auf’s Feld und fand ein Weizenkorn. Erst das Korn für eine Handvoll Mehl, das Mehl für zwei Fladenbrote und nun die
Brote für zwei Bund Mangoldblätter.« Damit griff er sich zwei Bündel Mangold und erhob sich in die Lüfte. Er kam am offenen Tor von Umm Hassan vorüber und kehrte ein. »Umm Hassan, hebe mir den Mangold bis morgen auf.« Doch wie er anderntags um sein Gut kam, mußte Umm Hassan eingestehen: »Bei Allah, die Hühner haben deinen Mangold aufgepickt.« Der Vogel plusterte sich auf. »Ach, ich weiß nicht recht. Ich bin zwar nur ein kleiner Vogel, der flog auf’s Feld und fand ein Weizenkorn. Erst das Korn für eine Handvoll Mehl, das Mehl für zwei Fladenbrote, die Brote für zwei Bund Mangoldblätter und nun den Mangold für ein Huhn.« Mit diesen Worten packte der Federball die Henne und war auch schon auf und davon. Wieder kam er an einer offenen Tür vorüber und wieder flog er hinein. »Umm Ali, hüte mir das Huhn bis morgen.« Doch wie der Sperling anderntags sein Huhn verlangte, mußte Umm Ali eingestehen: »Bei Allah, die Hammel haben es erdrückt.« Erregt piepste der kleine Vogel. »Ach, ich weiß nicht recht. Ich bin zwar nur ein kleiner Vogel, der flog auf’s Feld und fand ein Weizenkorn. Erst das Korn für eine Handvoll Mehl, das Mehl für zwei Fladenbrote, die Brote für zwei Bund Mangoldblätter, den Mangold für ein Huhn und nun das Huhn für einen Hammel.« Sprach’s und war auch schon mit dem Hammel über alle Berge. An einer offenen Tür machte es halt und kam herein. »Umm Mohammed, hüte mir den Hammel bis morgen.« Als das Vögelchen anderntags seinen Besitz wollte, war Umm Mohammed ganz betreten. »Die Büffelkuh hat ihm den Garaus gemacht.« Empört flatterte der kleine Geselle. »Ach, ich weiß nicht recht. Ich bin zwar nur ein kleiner Vogel, der flog auf’s Feld und fand ein Weizenkorn. Erst das Korn für eine Handvoll Mehl, das Mehl für zwei Fladenbrote, die Brote für zwei Bund Mangoldblätter, den Mangold für ein Huhn, das Huhn für einen Hammel und nun den Hammel für eine
Büffelkuh.« Gesagt, getan. Der kleine gefiederte Geselle erhob sich mit einer Kuh in die Lüfte. Von ferne horte der Vogel die Klänge eines Hochzeitsfestes. Mitten in der Gesellschaft setzte er sich zu Boden. »Hegt mir die Büffelkuh bis morgen«, bat er. Doch wie er anderntags sein Tier einklagte, wies man ihn ab. »Bei Allah, wir hatten Hochzeit, da sind uns die Speisen ausgegangen. So haben wir kurzerhand die Kuh geschlachtet und gebraten.« Der Vogel wurde grimmig. »Ach, ich weiß nicht recht. Ich bin zwar nur ein kleiner Vogel, der flog auf’s Feld und fand ein Weizenkorn. Erst das Korn für eine Handvoll Mehl, das Mehl für zwei Fladenbrote, die Brote für zwei Bund Mangoldblätter, den Mangold für ein Huhn, das Huhn für einen Hammel, den Hammel für eine Büffelkuh und nun die Kuh für die Braut.« Die Leute hoben an, mit ihm zu streiten, doch schließlich sahen sie ein: »Wir müssen dir wohl oder übel die Braut überlassen.« Und so nahm sich der kleine Vogel anstatt der Kuh die schöne Braut dazu und flog zu seinem Nest, wo er sich mit ihr niederläßt.
Daus, daus, die Geschichte ist aus.
Der Mensch und das Leben zwischen Schicksal und Streben
Es war einmal ein schöner Emir, der mit seinem Vater, dem König, in Bagdad lebte. Der Prinz hieß Ahmed. Eines frühen Morgens schlug der junge Fürst die Augen auf, weil ihn ein Traum bewegte. Er hatte sich in diesem Traum singend am Ufer eines Flusses wandeln sehen. Er erfreute sich an der Schönheit der Natur und am Zwitschern der Vögel. Dabei war er unvermittelt auf einen ehrfurchtgebietenden Mann in einem grünen Kleid gestoßen, der am Ufer saß. Immerfort ergriff er zwei Ringe, legte den einen in den anderen und warf sie zusammen in den Fluß. Der Prinz trat näher heran. »Was tust du da, o Mann?« fragte er. Der Mann antwortete: »Ich lege Schicksal und Glück in jeden Ring: der erste ist für den Mann, der zweite im Inneren für das Weib. Ich werfe sie zusammen ins Wasser, damit sie nicht getrennt werden.« Der Emir wollte nun wissen, worin sein Los bestand. Der Mann verhieß ihm: »Deine zukünftige Frau ist jetzt noch ein Säugling in der Wiege. Sie ist die Tochter eines armen Heizers, der in einer Badestube von Damaskus arbeitet.« Mit diesen Worten warf der Fremde des Prinzen Schicksalsringe in den Strom. Der Fürstensohn seufzte nach dieser Prophezeiung so tief, daß er davon erwachte. »Ich bin der Emir, der Sohn des Königs, und soll die Tochter eines Heizers heiraten!« empörte der Jüngling sich. Dann rief er die Gelehrten des Reiches zusammen, damit sie ihm das Traumbild ausdeuteten. Sie taten dem Prinzen kund: »Der Traum ist wahrhaftig, und der Mann am Fluß war al-Khidr. Er wollte dir sagen, daß es für den
Menschen vor seinem Los kein Entrinnen gibt. Zeichen dafür sind die Ringe von Schicksal und Glück, die er in den Fluß warf. Der Strom wiederum verkörpert mit seinem steten Lauf das Streben des Menschen zu Lebzeiten, sein Wirken und Mühen für seinesgleichen.« Da nun entschied sich der Emir voller Trotz, das Traumbild zu prüfen und dessen Deutung auf die Probe zu stellen. Er war sogar entschlossen, sich dem Schicksal entgegenzustellen. Prinz Ahmed ließ sich von seinem Vater reichlich mit Golddinaren versehen, nahm Abschied und machte sich auf gen Damaskus. Dort erkundigte er sich bei jedem, der ihm begegnete, nach den vielen Badestuben der Stadt. Er betrat jedes öffentliche Bad und schaute nach den Heizern, denen er Fragen nach Familie, Frau und Kindern stellte. So ging es fort, bis er in das Midan-Viertel und dort in das Rifai-Bad gelangte. Im Verschlag des Heizers fand er eine Frau, die das Feuer unterhielt. In ihrem Arm hielt sie einen Säugling. Der Emir grüßte sie und war sich sicher, nachdem er sich ein wenig mit ihr unterhalten hatte, daß er endlich sein Ziel erreicht hatte. »Ich bin ein Fremder auf Reisen. Ich habe zwar Geld, weiß aber nicht, wo man am ehesten etwas Gutes zu essen kauft. Wärest du so freundlich und kauftest mir Speisen für einen Reiseproviant? Deine Güte werde ich reichlich belohnen«, bat der Emir die erstaunte Frau. »Wie könnte ich gehen, wo doch meine Tochter weint?« wandte die Mutter ein, aber der Emir wußte Rat. »Ich nehme das Kind auf den Arm und wiege es in den Schlaf«, sprach er. Alsdann gab er der Frau viele Dinare, worüber sie sich freute und rasch nach Essen lief. Der Fürstensohn zückte nun hastig seinen Krummdolch und stieß ihn dem armen Kind in den Hals. Nachdem er seinem Opfer noch eine Börse voll Goldstücke in die Wäsche geschoben hatte, suchte er sein Heil in der Flucht.
Als die Mutter zurückkam, fand sie ihre Tochter im Blute liegen, aber es war noch Leben in ihr. Erschrocken schrie sie auf und nahm ihr Kind hoch. Der Geldbeutel fiel heraus, den sie unter einen Haufen Kehricht schob. Dann eilte sie ins Spital, wo das Mädchen gerettet wurde und bald von ihren Wunden genas. Der Emir hatte überstürzt und mit zitternder Hand gehandelt. Er war indessen glücklich, weil er glaubte, er habe das Kind getötet und damit den Lauf des Schicksals aufgehalten. Nach geraumer Zeit wurde das Mädchen wieder ganz gesund. Nur eine Narbe blieb an ihrem Hals als untilgbares Mal zurück. Vater und Mutter überlegten nunmehr, was sie wohl mit dem Geld anfangen sollten, das der Fremde zurückgelassen hatte. Der Vater war ein kluger und ehrenwerter Mann, der wegen seiner Redlichkeit und seinem Fleiß bekannt war. Er beschloß, mit diesem Geld einen Handel zu betreiben. Wie die Tage so vergingen, besserte sich ihre Lebenslage. Als Händler gelangte er für seine Tüchtigkeit und die Güte seiner Waren bald zu Ansehen, bis man die Seinen sogar Beit al-Tadschir, Familie des Kaufmannkönigs, nannte. Das Mädchen wuchs heran und erblühte in Jugend. Der Zauber der Schönheit trat mit betörendem Reiz in ihr Antlitz. In der ganzen Stadt war sie bekannt. Bald begannen die Leute über sie zu reden, und es mehrten sich Brautwerber und Neider. Der Vater besann sich der Vergangenheit und fürchtete um seine Tochter. So entschloß er sich, mit ihr Damaskus zu verlassen. Er wollte mit ihr fliehen und anderswo seinen Lebensunterhalt verdienen. Ein befreundeter Händler aus Bagdad riet ihm, sich dorthin zu wenden. In Bagdad sei er sicher und der Handel blühe. Der Mann zog also mit seiner Familie nach Bagdad, verheimlichte aber dafür den wahren Grund. Er änderte sogar den Namen seiner Tochter von Thumia in Zuhour. Durch Arbeit und Fleiß machte sich der Mann auch hier bald einen
Namen unter den Kaufleuten der neuen Heimat. Er wurde in allen großen Städten bekannt, so daß auch der König von ihm hörte. Der Herrscher wünschte obendrein, ihn und seine hohe Gesinnung selbst kennenzulernen. So lud er den Scheich, also den Zunftmeister der Kaufleute, wie man ihn inzwischen voller Ehrfurcht titulierte, und seine Familie zu einem festlichen Abendessen. Während des Nachtmahls saßen der Herrscher, sein Sohn Ahmed mit dem Scheich, dessen Frau und ihrer zauberhaft schönen Tochter Zuhour beieinander. Emir Ahmed gefiel Zuhour über alles, daß er während des Festes begann, sich um ihre Gunst zu bemühen, und näherte sich ihr, um sich mit ihr zu unterhalten. Am anderen Morgen schon bat der Prinz den König, daß er ihn mit Zuhour verlobe, die ihn um den Schlaf gebracht hatte. Der Herrscher war sofort einverstanden. Ihm hatte das Geschick des Vaters, seine Gewandtheit im Handel sowie sein hoher Rang unter den Kaufleuten beeindruckt. So hielt der Fürst für seinen Sohn um die Hand von Zuhour an. Der Scheich der Händlerzunft willigte ein. Das Hochzeitsfest wurde anberaumt und Nächte hindurch währte die Feier. In der Hochzeitsnacht triumphierte der Prinz noch einmal: »Nun habe ich doch das Schicksal außer Kraft gesetzt. Meine Braut heißt Zuhour, sie ist die Tochter des Händlerscheichs und kommt aus Bagdad.« Als er aber seiner Braut eine wertvolle Perlenkette umlegen wollte, fiel sein Blick auf ihren Nacken. Überrascht bemerkte er die Narben einer alten Verletzung und fragte nach dem Grund für dieses Wundmal. Das Mädchen erzählte ihm bereitwillig die Geschichte, die sie von ihren Eltern gehört hatte. Der Prinz vergoß Tränen der Freude, daß Allah seine Frau beschützt und gerettet hatte. Ihre Zuneigung hatte bereits sein Herz in Fesseln gelegt, durch sie fühlte er sich überglücklich. Sie hatte nach Überdruß und Mutlosigkeit seinem Herzen wieder Hoffnung eingeflößt. Der Emir fand nun Gefallen an dem, was ihm
vorherbestimmt war. Dabei war ihm auch wichtig, daß der Meister der Kaufleute zu den großen Stützen des Königs und sein Ratgeber geworden war. Der Mensch konnte sich nichts Besseres denken. Der Prinz erzählte die Geschichte seinem Vater. Die Gelehrten am Hofe traten abermals zusammen und taten nach eingänglicher Beratung kund: »Schicksal und Verhängnis und die großen Geschehnisse im Leben eines Menschen sowie die Erscheinungen des Universums verlaufen nach einer urewigen festen Regel. Das ist die Weisheit Allahs in seiner Schöpfung. Darin liegt die Deutung für das erste Zeichen im Traumbild des Prinzen. Die Schicksalsringe, die al-Khidr in den Fluß warf, sind dafür Symbol. Aufgabe jedes Menschen ist es, das Geheimnis seines Glücks zu ergründen, das in ihm selbst und seinem Leben verborgen liegt, damit er zufrieden und froh leben kann. Das zweite Zeichen der Vision, der Fluß, versinnbildlicht Arbeit und Mühe, Regsamkeit und Handlungsfähigkeit des Menschen im Leben bei allem, was er tut. Das ist zu seinen Gunsten.« Die Arbeit hatte den Vater des Mädchens vom armen Tagelöhner zum Scheich der Kaufleute von Bagdad erhoben.
Ein erfülltes Schicksal
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit. Erzählen wir nun eine Mär, oder geben wir dem Schlaf die Ehr’? Oder wollen wir beten zum Heil des Propheten, sein Glanz erhellt wie der Vollmond die Welt. So soll es denn sein. Es lebte einmal ein Mann, der sich nur ein Weib genommen hatte. Und diese Frau seufzte und schluchzte im Schlaf gar viel, so daß der Mann darüber ganz ärgerlich wurde. Ihn verwunderte das schmerzliche Stöhnen, da er doch keinen Grund dafür erkannte. Als er eines Tages einen Freund besuchte, erzählte er ihm von seinem Weib. »Sei nicht traurig«, beruhigte ihn der Freund. »Das ist leicht zu ergründen. Lege dein Ohr auf ihr Herz, wenn sie wieder stöhnt, und frage es nach dem Grund für den Schmerz. Es wird dir antworten.« Der Mann war froh über diesen Rat und des Nachts fragte er das Herz seiner Frau, als jene erneut zu seufzen anhob, nach dem Beweggrund. Wie er aber sein Ohr auf das Herz legte, antwortete es nicht, und er wiederholte seine bange Frage. »O Herz, warum stöhnest, warum seufzest du?« Diesmal antwortete das Herz. »Über die Vorsehung, die mir auf der Stirn geschrieben steht. Ihr müßtet es mit bloßem Auge lesen können.« »Wie lautet der Schicksalsspruch?« »Drei Jahre unter Huren, vier Jahre als Sängerin.«
Grübelnd und bedrückt setzte sich der Mann nieder. ›Mein Weib war doch rein und ehrenhaft‹, sagte er sich. ›Sollte das also eintreten? Undenkbar!‹ Am anderen Morgen fand seine Frau ihn voller Sorgen. »Was drückt dir auf’s Gemüt?« erkundigte sie sich mitfühlend, aber er antwortete nicht. Betrübt ging er an sein Tagewerk und kehrte nicht besser gelaunt am Abend heim. Auch sein Freund bemerkte seinen Kummer. Als er ihn zur Rede stellte, erzählte ihm der Mann, was das Herz gesprochen hatte. In der folgenden Nacht erwachte die Frau und sah ihren Mann tief traurig und bitterlich weinen. »Was ist geschehen? Was geht vor und warum weinst du?« Und sie bedrängte ihn solange, bis er ihr schließlich beichtete, was er von ihrem Herzen vernommen hatte. »Gott bewahre! Was sagst du da?« rief sie erschrocken. Nachdem ihr Mann am anderen Morgen zur Arbeit gegangen war, stand sie auf und schloß alle Türen ab. Dann holte sie ein Seil herbei, fettete es und erhängte sich. »Welch fürchterlicher Anblick!« schrie der Mann bei seiner Rückkehr. Einige Leute kamen und standen ihm bei. Man wusch die Tote und bestattete sie in der Erde. »Ach hätte ich es ihr nur nicht gesagt«, warf sich der Witwer immer wieder vor. »Wie konnte ich den Worten des Herzens nur Glauben schenken?« Der Mann trauerte tief um seine Frau, die ihm einen einzigen Sohn geschenkt hatte, der inzwischen acht Jahre alt war. In diese Frau kehrte – da Allah es wollte – das Leben zurück. Sie fand sich plötzlich in einem Grab wieder und schrie laut auf. Mit all ihrer Kraft stemmte sie sich gegen die Erde über ihr und drückte sie nach oben. Zufällig zogen gerade Überlandhändler an ihrem Grab vorüber, von denen einige das’ Rufen der Frau hörten. Sie hielten inne und lauschten aufmerksam, bis sie wußten, woher die verzweifelte Stimme
kam. Auf der Stelle öffneten sie das Grab, wühlten die Frau heraus und richteten sie auf. Man gab ihr ein paar Kleider. »Wohin willst du gehen?« fragten die ziehenden Händler, die auf dem Weg nach Bagdad waren. »Ich ziehe mit euch«, entschied sie kurzerhand und schloß sich der Karawane an. In Bagdad gab sich die Frau drei volle Jahre der Prostitution hin. Danach arbeitete sie als Sängerin und Hetäre, denn sie hatte eine reizvolle Stimme. Als dieserart vier Jahre verstrichen waren, wurde sie zufällig zu einer Hochzeitsfeier geladen. Wir kehren nun zum Ehemann dieser Frau zurück, der später nicht wieder geheiratet hatte. Als sein Sohn zu einem Jüngling herangewachsen war, wollte er ihn schon zeitig in die Ehe geben. So verlobte er den Burschen und stattete ihm die Hochzeit aus. Eine Gesangsgruppe wurde geladen, von der es hieß, ihre Sängerin Soundso sei die Frau mit der schönsten Stimme weit und breit. Jene Sängerin war natürlich seine Frau. Als sie das Haus betrat, kehrte allmählich ihre Erinnerung zurück. ›Ich kenne dieses Haus. Wo mag ich es nur gesehen haben?‹ sprach sie zu sich. Als der erste Tag der Hochzeit zu Ende gegangen war, schlief sie in dem Haus. Der Ausrichter der Hochzeit, ihr eigentlicher Mann, stellte sich ihr vor. Er musterte sie von Kopf bis Fuß und sah ihr tief in die Augen. ›Hätte sich meine Frau nicht das Leben genommen und wäre tot, ich hielte sie für jene‹, ging es ihm durch den Kopf. Eine starke Zuneigung zu dieser Sängerin bemächtigte sich seiner und zu guter Letzt fand er den Mut, sie zu fragen. »Bist du schon vergeben?« »Nein.« »Würdest du mich zum Manne nehmen, verlobte ich mich mit dir? Allerdings zu der Bedingung, daß du von Gesang und Kunst abläßt.« Sie willigte ein, denn ihr war alles wieder gegenwärtig, was ihr widerfahren war. Als er mit ihr allein war, hob er von
neuem an, sie eindringlich anzuschauen. Er legte ihren Nacken frei, wo er die Spuren des Stranges fand. »Was ist mit deinem Hals geschehen?« »Lieber Mann, ich bin deine eigentliche Frau«, sprach sie daraufhin und erzählte ihre Geschichte. »Nun habe ich mein vorbestimmtes Schicksal erfüllt. Siehe, hier bin ich!« Er freute sich sehr über sie und wunderte sich doch über jene Geschichte.
Und ich verließ sie und kam hierher.
Der Welten Gang ist Geben und Wiedergeben
Ein Kaufmann in Damaskus hatte einen Sohn, den er über längere Zeit im Handelsgewerbe von Kaufen und Verkaufen unterrichtete. Eines Tages wollte der Vater dem Sohn Gelegenheit geben, sein Wissen und Können unter Beweis zu stellen, und beabsichtigte, ihn dazu in Geschäften nach Bagdad zu schicken. »Ich bin bereit und stehe zu Diensten«, verkündete der Jüngling sofort froh. Aber der Vater stellte seinem Sohn eine Bedingung, daß er nämlich einen wahren und treuen Freund finden solle, der ihm sein Geld bewahren helfe und sein Weggefährte sein sollte. Der Bursche aber antwortete, daß er eine Unmenge Freunde kannte, die ihn alle liebten und ihm fest zur Seite stünden. Der Vater lächelte über den Eifer des Jünglings und bat, daß er ihm anderntags den treuesten aller seiner Gefährten vorstelle. Und so geschah es. Der Vater wandte sich an den Freund und stellte ihm prüfende Fragen, ob seine Freundschaft zu dem Sohn wirklich echt war. Anschließend führte er beide Burschen in eine Nachbarkammer, in der ein Sack voller Salz stand. »Wenn du meinen Sohn wirklich und wahrhaftig liebst und bereit bist, ihn in Handelsgeschäften zu begleiten, dann iß dieses Salz«, verlangte der alte Kaufmann. Ohne viel nachzudenken, füllte der Jüngling seine beiden Hände mit den groben Kristallen und begann, sie zu verschlingen. Doch schon einen Augenblick später traten deutliche Zeichen von Übelkeit auf sein Antlitz und er mußte den Raum rasch verlassen. »Dein Freund hat die Prüfung nicht bestanden«, entschied der Vater zum Leidwesen des Sohnes. »Du mußt einen zweiten bringen.« Anderntags führte der Jüngling einen weiteren
Freund in das Haus, der aber wie sein Vorgänger an der Salzprobe scheiterte. So erging es allen Freunden, die der Sohn noch vorstellte, bis schließlich kein Freund mehr übrigblieb. Da stiegen Verzweiflung und Zorn in dem Burschen auf, der mit dem Vater uneins war. Konnte er denn annehmen, daß ein Mensch einen Sack Salz zu essen imstande sei? Hat er den Verstand verloren oder will er mich daran hindern, meinen Kaufmannsberuf auszuüben? Der Jüngling haderte mit der Welt, Ohnmacht erfüllte ihn, daß nicht einer seiner Freunde die Prüfung bestanden hatte. Eines Tages, als er auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser schier aussichtslosen Lage umherstreifte, kreuzte er zufällig den Weg eines Leichenzuges. Er blieb stehen, um seiner Pflicht Genüge zu tun und für das Heil der Seele des Toten die erste Sure des Korans zu beten. Als er noch im Gebet verharrte, stellte sich plötzlich ein Tunichtgut dem Trauerzug in den Weg. »Halt!« gebot er mit einem blanken Krummdolch in der Hand. »Der Zug wird nur dann weiterziehen, wenn ich zehn Goldlira für freies Geleit bekommen habe.« Die Leute versuchten vergeblich, den Kerl von seinem dreisten Vorhaben abzubringen oder zu besänftigen. Aber keiner der Trauernden hatte zehn Goldlira bei sich. In dieser Lage trat der Sohn des Kaufmannes vor und entnahm seinem Beutel die zehn Lira, die der Strolch forderte, und bedeutete den Leuten, daß sie unbehelligt zum Friedhof ziehen könnten. Nach diesem Zwischenfall verstrichen die Tage, ohne daß sich dem jungen Kaufmann eine Lösung eröffnet hätte. Wie er aber im Schatten eines Baumes döste, hörte er einen Holzfäller daherkommen. Das war ein munterer Bursche, so daß der Kaufmann ihm seine Geschichte und natürlich von der Bedingung des Vaters an einen wahren Freund erzählte. Da lächelte der Holzhauer und wollte, daß
jener ihn dem Vater vorstelle, denn er wäre dieser treue Freund. »Wie das? Ich kenne dich nicht und du kennst mich doch ebensowenig«, versetzte lachend der Jüngling. »Vielleicht träfe das zu, wenn ich dir nicht vor Allah schwören würde, daß ich dir ein treuer und stets zuverlässiger Freund sein werde«, beharrte der Holzhauer. Dem jungen Kaufmann keimte im Gespräch mit dem Burschen die Hoffnung, einen Freund gefunden zu haben, und war froh, denn vielleicht konnte er ihn retten. So stellte er den Holzfäller dem Vater vor, der ihn wie alle anderen prüfte. Als ihn der Alte zu dem Salzsack führte und aufforderte, zum Beweis, daß er ein richtiger Freund sei, all das Salz zu essen, lächelte der Bursche. Er benetzte seinen Zeigefinger mit Speichel und tauchte ihn in die Kristalle. Dann leckte er nur kurz an dem Salz. »Ich habe das Salz gegessen«, sagte er zu dem Alten, der nicht verstand. »Onkelchen, wem eine Prise Salz nichts anhaben kann, dem kann auch ein ganzer Zentner nicht schaden«, nannte er ein altes Sprichwort. Der Kaufmann strahlte vor Freude. »Das hier ist ein wahrer und treuer Freund«, verkündete er seinem Sohn, »der hält dein Geld und deinen Handel zusammen.« Von nun an dauerte es nur noch wenige Tage, bis der Kaufmann dem Sohn eine Karawane mit Waren ausgestattet hatte, die teuer im Preis, aber gering an Gewicht waren. Man nahm Abschied und die Karawane schlug den Weg nach Bagdad ein, wobei die beiden Reisenden zuvor noch ausgehandelt hatten, die Gewinne redlich zu gleichen Teilen zu teilen. Doch auf halbem Weg überfiel eine Horde Räuber die Karawane und raubte alles, was sie, der junge Kaufmann und der Holzfäller bei sich führten. Ihnen blieben nicht mehr als die Kamele, auf denen sie ritten. Der Kaufmannssohn war voller Kummer. Es war das erste Mal, daß ihm der Vater eine Handelsreise anvertraut hatte, wie sollte er so jämmerlich gescheitert zurückkehren.
Verzweiflung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und dicke Tränen rannen ihm über die Wangen. »Zurück nach Damaskus«, sagte er fast tonlos zum Holzhauer und wollte sich in sein Schicksal schicken. »O nein, dein Vater hat dich, dein Geld und die Waren mir anvertraut. Nein, bei Allah, wir kehren nicht eher zurück, bis wir reichen Gewinn gemacht haben. Wir setzen unsere Reise nach Bagdad fort und werden mit mehr heimwärts ziehen, als uns gestohlen wurde. Es ist mein Gelübde, daß wir unseren Gewinn redlich teilen«, erwiderte der Holzhauer. Der junge Händler wurde unsicher. ›Wie sollte das gehen, wo ihnen doch alle Waren und alles Geld geraubt worden waren‹, ging es ihm durch den Kopf. »Sei unbesorgt!« beruhigte ihn der Gefährte. »Höre auf mich und lege dein Schicksal in Allahs Hand! Ich werde ein Zeichen an diesem Ort hinterlassen, damit wir hier unsere Einnahmen teilen.« Nach langem Wortwechsel, langem Hin und Her änderte der Kaufmann schließlich seine Meinung und folgte dem Holzhauer nach Bagdad, wo sie sicher ankamen und in einer Karawanserei abstiegen. Der Freund nahm für ihr täglich Brot und Unterkunft Arbeit als Träger, Holzhauer, Diener und Koch an, während er den jungen Kaufmann durch die Straßen und Gassen von Bagdad streifen ließ, damit er sie und ihre Bewohner kennenlerne. Bei seinen Ausflügen in Bagdad kam der Jüngling auch an den Königspalast, wo er am Eingangsportal viele abgeschlagene Köpfe zur Schau gestellt sah. Man sagte ihm, daß die Tochter des Königs einen fürchterlichen Schrecken erlitten habe, wodurch sie die Fähigkeit zu sprechen eingebüßt habe. Der König hatte verkünden lassen, daß derjenige sie zur Frau bekäme, der sie von ihrer Stummheit heilen könne, und wäre es nur ein einziges Wort, daß sie spräche. Doch wer bei seinem Versuch scheitere, dessen Los vollende sich, wie zu
sehen sei. Sein Kopf werde zu den anderen ans Tor gehängt. Der Jüngling eilte mit dieser Nachricht zu seinem Gefährten, dem Holzhauer. Der behauptete, nachdem er alles gehört hatte: »Ich kann sie heilen.« So eindringlich der Jüngling den Holzhauer auch auf die bösen Folgen seiner möglichen Selbstüberschätzung hinwies, der Gefährte bestand darauf, die Prinzessin heilen zu wollen. Am Morgen des folgenden Tages schritten beide gemeinsam in den Palast und verkündeten, daß sie die Tochter des Königs heilen könnten. Sofort versammelte der König seine Edlen, Wesire und hohen Beamten, wie es der Holzhauer verlangte, damit sie des Königs Zeugen seien. Als die Gesellschaft vollzählig war, bat der Holzhauer die Versammelten, bei allem, was passiere, kein Wort zu verlieren und sich nicht in den Lauf der Dinge einzumischen. Er werde jetzt eine Geschichte erzählen und dabei der Prinzessin eine Frage stellen. Nach dieser Vorrede begann er unbekümmert mit seiner Erzählung. Die Anwesenden, einschließlich des Königs, waren sprachlos über die eigenartige Behandlungsmethode. Der Holzhauer erzählte: »Drei Männer unternahmen einst gemeinsam eine Reise. Der erste war Maler, der zweite war Schneider und der dritte ein in Askese lebender moslemischer Mystiker, der seine Seele ausschließlich dem Dienst an Gott, der religiösen Lehre und den theologischen Wissenschaften geweiht hatte. Während die drei ihrer Reiseroute folgten, überraschte sie die Dunkelheit in unmittelbarer Nähe eines Waldes schattiger Bäume von gewaltigem Wuchs. Sie kamen überein, sich des Nachts bei der Wache abzulösen. Der Zeichner begann mit der ersten Wache. Der Zufall wollte es, daß die Nacht vom Vollmond erhellt wurde. Während der Künstler wachte, erblickte er eine trockene Baumwurzel, die in ihrer Form einem nackten Mädchen glich. Von diesem Anblick angeregt, griff er zu Pinsel und Farben, um es zu schmücken
und zu verschönern, bis es im fahlen Mondlicht wie ein wahrhaftiges Menschenkind erschien. Kaum war er fertig, als auch schon seine Nachtwache zu Ende ging, und er den Schneider weckte. Der konnte keinen Blick von dem wenden, was sein Vorgänger an der Wurzel vollbracht hatte, daß sie wie ein Mädchen aussah. Kaum hatte der Schneider seine Wache angetreten, als ihm der Gedanke kam, den wunderlichen Wuchs zu bekleiden. Er griff zu Schere und Faden und begann, dem Wurzelmädchen ein Kleid anzupassen. Und wie der Schneider dem Holz ein Gewand angemessen hatte, sah es zu den Farbenstrichen des Malers noch lebendiger aus. Da weckte er den Asketen, damit er die letzte Nachtwache übernehme. Auch der konnte keinen Blick von dem Wurzelmädchen wenden und hob an, in Demut zu Allah zu beten, damit er diese Gestalt mit Leben erfülle. Dank seiner Macht hauchte der Allmächtige dem Mädchen Leben ein. Es konnte sich bewegen und lief auf den Asketen zu. Erschrocken schrie der Mystiker auf und weckte damit seine Gefährten. Kaum hatten auch der Schneider und der Maler gesehen, was geschehen war, da entzündete sich zwischen ihnen auch schon ein heftiger Streit. Wem soll das Mädchen zufallen?« fragte der Jüngling und machte dabei eine bedeutungsschwere Geste. Noch im selben Atemzug schrie die Prinzessin vom Eifer angespornt die Antwort: »Dem Mystiker.« Nach diesem Gefühlsausbruch versank sie wieder in ihr bisheriges Schweigen. Doch die beiden Worte hatten schon genügt, um den König in größte Freude zu versetzen. Noch vor versammelter Gesellschaft wollte er sein Versprechen halten. »Die Prinzessin hat gesprochen«, sagte er und ging auf den Holzhauer zu. »Es liegt bei dir, das Mädchen zur Frau zu nehmen.« Der Geehrte lächelte entschuldigend. »O Herrscher, ich bin in Damaskus verheiratet und habe Kinder. Ich wünschte, ehrenwerte Majestät, du wärest einverstanden, deine Tochter meinem
Freund und Gefährten anzuvertrauen«, bat dieser. Der Fürst willigte ein, daß die Prinzessin den Kaufmannssohn zum Gemahl nahm, denn er mußte einsehen, daß der eine vergeben, der andere ledig und er selbst an ein Versprechen gebunden war. Das Hochzeitsfest erfüllte Bagdad und das gesamte Königreich für Tage und Nächte. Aber kaum hatten die beiden Freunde einige Tage im Königspalast verbracht, als es den jungen Kaufmann zu seinen Eltern und Verwandten zog. Der Herrscher gestattete ihm und seiner Frau die weite Reise und rüstete den Jungvermählten eine Karawane von siebzig Kamelen aus, die mit Geschenken und Gaben des Königs beladen wurden. Dann wünschte er dem Jüngling und seiner Tochter, daß ihnen Allah Glück und Erfolg verleihe sowie sie beschützen möge. Den Holzhauer bat er, seine Übungen mit der Prinzessin fortzuführen, damit sie die Sprache bald wieder ganz zurückerhalte. Dann brach die Karawane in Richtung Damaskus auf. Als sie die Hälfte des Weges erreicht hatte, ließ der Holzhauer halten. Als der Kaufmannssohn wissen wollte, was dieser Aufenthalt zu bedeuten habe, erinnerte ihn sein Freund an die Zeit, als sie von Räubern überfallen worden waren und er an jenem Orte ein Zeichen hinterlassen hatte. »Diese Stelle ist hier«, sprach der Holzhauer. Da gestand der Kaufmann den großen Dienst ein, den ihm der Freund geleistet hatte, und bat ihn, sich von der Karawane zu nehmen, wonach ihm der Sinn stand. »O nein, niemals«, wehrte der Freund ab, »wir müssen alles gerecht zu gleichen Hälften teilen.« So geschah es mit allem, was sie bei sich führten, bis nur noch die Prinzessin übrigblieb. »Wirst du jetzt auch die Prinzessin teilen?« fragte der Händler. »Sie ist Teil unserer Beute«, beharrte der Holzhauer. »Wie kannst du sie
teilen wollen?« kam der Jüngling nicht aus dem Staunen heraus. »Darüber mache dir keine Sorgen.« »Dann nimm sie ganz, wenn es dir gefällt.« »Es wird zu gleichen Hälften geteilt.« Unglaube und Verwunderung spiegelten sich auf dem schönen Gesicht der Prinzessin, doch sie verharrte in ihrer Wortlosigkeit und keine Silbe kam über ihre Lippen. Der Holzhauer ergriff das Mädchen bei der Hand und band es an die Wurzel eines Baumes. Dann zog er sein Schwert blank und erhob es gegen die Königstochter, so daß alle glaubten, er werde auch den Körper des Mädchens in zwei Hälften hauen. Als die Klinge niedersauste, stoppte er sie um Haaresbreite über dem Kopf der Prinzessin, die mit schriller Stimme voller Angst und Schrecken aufschrie. »Nein, ich will den Jüngling!« Der Holzhauer steckte sein Schwert zurück in die Scheide. »Nun nimm sie, mein Freund, sie ist deine Gemahlin. Wie auch all die schönen Dinge hier soll sie allein dir gehören. Kehre zu deinem Vater zurück und berichte ihm, ich hätte mein Versprechen eingelöst. Die Prinzessin ist nunmehr völlig geheilt, und die Karawane sei dein, mit allem was sie trägt. Ich bin der Sohn eben jenes Toten, für den du einem Halsabschneider zehn Goldlira beglichen und mich damit vor schlimmer Schande und meinen toten Vater vor einer gräßlichen irdischen Pein bewahrt hast. Allah möge entscheiden, ob ich dir deine unschuldige Tat von damals vergolten habe. Denn: Der Welten Gang ist Geben und Wiedergeben!« sprach er, schwang sich auf den Rücken seines Pferdes und ritt davon. Vor Verwunderung konnte keiner aus der Karawane auch nur ein Wort hervorbringen. Aber der Welten Gang ist wahrlich Geben und Wiedergeben, wie der Holzhauer dem Kaufmannssohn vorgelebt hatte.
Die gute Tat
Vor langer Zeit lebte einmal ein alter Mann, der hatte drei Söhne. Als er auf dem Sterbebett lag, wollte er sich seiner Kinder vergewissern und versammelte sie eines Tages um sich. »Das Leben ist ein Wettstreit zwischen euch, um eine gute Tat zu vollbringen. Wer darin seine beiden Brüder übertrifft und das wohlgefälligste Werk verrichtet, der erhält von mir einen Edelstein.« Die drei Söhne blieben eine Zeitlang aus. Als sie nach Hause zurückkehrten, befragte sie ihr Vater, was sie vollbracht hätten. »Als ich am Ufer des Flusses entlanglief, hörte ich eine Frau um Hilfe rufen«, berichtete der älteste Sohn. »Ich eilte zu ihr hin und fragte, was geschehen sei. ›Mein Kind ertrinkt!‹ rief sie. Ich zog meine Kleider aus und rettete ihr Kind vor dem Tod.« »Das war deine Pflicht«, erwiderte der Vater. »Jeder anständige Mensch hätte so gehandelt.« »Als ich auf der Straße ging«, erzählte der mittlere Sohn, »sah ich ein Mädchen weinen. Ich fragte es: ›Was ist mit dir?‹ Sie gab zur Antwort: ›Meine Mutter hat mich einkaufen geschickt, aber ich habe das Geld verloren.‹ Da nahm ich das Kind bei der Hand und ging mit ihm auf den Markt und kaufte ihr, was sie begehrte.« »Du hast nur deiner Almosenpflicht Genüge getan«, hielt ihm der Vater entgegen. »Aber ich habe die Hälfte meines Geldes an die Armen verschenkt«, wandte der mittlere ein. »Du hast zu guter Letzt noch ein Dutzend solcher Beispiele«, beharrte der Vater.
Da berichtete der jüngste Sohn: »Als ich den Weg am Fluß folgte, stieß ich auf meinen Feind, der am Ufer schlief und beinahe in den Fluß gestürzt wäre. Ich weckte ihn aus seinem Schlaf und rettete ihn so vor dem sicheren Ertrinken.« »Die vortrefflichste Tat ist die deine«, entschied der Vater, »weil du deinem Feind vergeben hast. Dir gebührt der edle Stein.« Und er gab seinem jüngsten Sohn den Edelstein.
Der Barbier aus Tradition
Es lebte einst ein junger Bursche, der wie sein Vater und Großvater das Handwerk eines Barbiers ausübte. Seine Arbeit beschied ihm ein einfaches Leben, aber als das Barbieren ihn überhaupt nicht mehr ernähren wollte, hängte er seine Kunst an den Nagel, um als Saftverkäufer weiter seinen Unterhalt zu bestreiten. Er legte sich eine große Kanne zu und füllte sie mit Julepsaft, huckte sie auf den Rücken und zog los. Dabei rief er: »Ich bin beliebt, mein Trunk ist von Rosinen. Wer einem Moslem eine Grube gräbt, fällt in Bälde selbst hinein.« Wie er so durch die Stadt lief, kam er auch unter dem Fenster des Sultans vorbei. Auch dort rief er mit süßer Stimme: »Ich bin beliebt und mein Trunk ist von Rosinen. Wer einem Moslem eine Grube gräbt, fällt in Bälde selbst hinein.« Der König hörte ihn und forderte seinen Wesir auf, aus dem Fenster zu schauen. »Sag mir, wer da ruft!« »O größter König aller Zeiten, es ist ein JulepsaftVerkäufer.« »Ruf ihn zu mir herauf!« Der Saftverkäufer kam und verneigte sich artig. Er entbot seinen Gruß und wünschte dem König Kraft und Wohlergehen. Der König erhob sich. »Was rufst du da?« wollte er wissen. »Bei Allah, ich biete meinen Julep feil.« Und er wiederholte seinen Spruch: »Ich bin beliebt und mein Trunk ist von Rosinen. Wer einem Moslem eine Grube gräbt, fällt in Bälde selbst hinein.« Der König hieß ihn, dem versammelten Rat einzuschenken. Der Saftverkäufer gab der Runde zu trinken und ein jeder zahlte, was er für angemessen hielt. Der Bursche nahm das Geld. Am nächsten Tag kleidete er sich neu ein, denn der König wünschte, daß
ihm der Bursche jeden Tag seine Aufwartung im Palast mache. Dieser kaufte sich eine schönere Kanne und verzierte sie prachtvoll, um damit vor dem König zu erscheinen. Und so kam er tagein tagaus. Den Wesir allerdings zerfraß der Neid auf den Burschen. ›Soll er nur kommen!‹ sprach der Wesir zu sich und paßte ihn vor dem Palast ab. »Höre! Den König stört dein übler Mundgeruch, wenn du ihm das Glas mit Julep reichst. Dreh künftig dein Gesicht zur Seite!« Der Bursche versprach den Rat zu befolgen und ging hinauf, um dem König seinen Trunk zu servieren, wobei der Jüngling sein Gesicht zur Seite wandte. Der König bemerkte, daß er nur bei ihm und nicht bei den anderen Ratsmitgliedern den Kopf beiseite drehte. »Lauf ihm nach«, befahl der König dem Wesir, »und frage den Kerl, warum er sein Gesicht nur bei mir abwandte!« Der Minister sprach mit dem Saftverkäufer natürlich kein Wort, denn alles war ja seine eigene Idee. »O größter König aller Zeiten«, trat er wieder vor den Herrscher, »den Burschen stört der Geruch, der deinem Munde entweicht. Deshalb wendet er sich ab.« »Was? Geh und überbringe ihm«, zürnte der König, »wenn er hier je wieder Julep feilbietet, wird ihm der Kopf abgeschlagen!« Dem König ging der Bursche dennoch nicht aus dem Kopf, als ob er ihn auf irgendeine Weise gern gewonnen hätte. Zwei, drei, vier Tage später verkaufte der Bursche schon keinen Julep mehr und wurde wieder zum Barbier, der er zuvor war. Aber zwei, drei, vier Tage danach bekam der König durch die vielen Kümmernisse des Regierens so schlimm erhöhten Blutdruck, daß der Arzt kommen und der Herrscher sogar das Bett hüten mußte. Während der König krank lag, bot der Bursche in seiner Not Schüssel und Kanne aus seinem Barbierladen feil und verlangte einhundert Dinar dafür. »Laß dir Schüssel und Kanne zeigen! Schau, was sie so teuer macht,
daß er einhundert Dinar verlangt!« wies der König seinen Wesir an. Als der sich bei dem Jüngling erkundigte, verriet ihm dieser: »Nicht Schüssel und Kanne sind so teuer, sondern der darin eingravierte weise Spruch.« Da entschied der König, beide Dinge zu erwerben, und ließ sie durch den Wesir holen. Wie der König unverändert krank darniederlag und sein Blutdruck unaufhaltsam stieg, verordnete der Arzt, daß der König zur Ader gelassen werden müsse. Ein Aderlaß war damals das einzige Mittel gegen zu hohen Blutdruck. »Damit alles gut verläuft, brauchst du aber einen wahrhaft geschickten und erfahrenen Barbier, dessen Vater und Großvater sich bereits auf das Barbierhandwerk verstanden«, legte der Arzt dem König ans Herz. Dessen Leute suchten in der ganzen Stadt, fanden aber nur einen jungen Burschen, der sein Handwerk von Vater und Vatersvater übernommen hatte, und das war jener Julep-Verkäufer, der bei Hofe ein und aus gegangen war. Man berichtete dem König, wie die Sache stand und daß es nur diesen Barbier nach dem eindringlichen Rat des Arztes gab. »Also schafft ihn schon her! Wenn er kommt, wende ich eben mein Gesicht zur Seite«, lenkte der König ein. Der Wesir ging selbst, um den Burschen für den Aderlaß am König zu holen. »Gut«, sprach der Bursche. »Ich packe nur schnell die Instrumente ein.« Er griff nach seinem scharfen Messer, mit dem er dem König die schwierigen Schnitte beibringen wollte. »Ich gebe dir besser mein Messer«, drängte ihm der Wesir voll Hinterlist sein Messer auf. »Mit dieser edlen Klinge hier sollst du dem König die Adern öffnen. Es ist mit Gold und Edelsteinen ausgelegt.« Der Bursche machte sich auf den Weg und eilte mit dem Wesir zum König. Als er bei dem Fürsten eintrat, verlangte der Barbier sofort nach Schüssel und Kanne. Als man die Geräte brachte, blieb sein Blick auf der alten Inschrift in der Schüssel
haften: ›Wer nicht die Folgen seines Tuns abwägt, sich selbst in den Bann des Unglücks schlägt, den ereilt das Schicksal vor der Zeit, und findet keinen wahren Freund ob nah ob weit.‹ Beim Lesen dieser Worte hielt er gerade das Messer des Wesirs in der Hand. Nachdenklich legte er es zur Seite und griff zu seinem eigenen. Dann wandte er sich zum König, der den Barbier beobachtet hatte. »Soweit also treibst du deine Frechheit!« schimpfte der König. »Ist dir das Prunkmesser etwa noch zu gering für mich?« »Nein, o größter König aller Zeiten«, entgegnete der Bursche. »Das Messer da habe ich selbst noch nicht erproben können.« »Wem gehört es denn?« »Der Wesir gab es mir eben.« »Dann verpaß dem Wesir mit seinem eigenen Messer einen Aderlaß!« wies der König an. Da sank der Wesir vor Angst und Furcht tot zusammen und der König nahm den Barbier an seiner Statt zum Wesir.
Habe Langmut
Es lebte einmal vor langer Zeit eine Frau, die hatte einen Sohn. Dieser Junge war faul und ging der Arbeit aus dem Wege. Sooft seine Mutter ihn auch aufforderte: »Sohn, Allah hätte seine Freude an dir, gingest du arbeiten«, dachte er nicht daran, einer Arbeit nachzugehen. Er wurde ein verwöhntes Bürschchen, von dem man sagt, daß es leicht ein Bösewicht werden könne. Dieser Jüngling verließ aber alsbald seine Stadt und durchzog so manches Land, bis er nach Istanbul gelangte. Für die Menschen früher galt Istanbul als die anziehendste Stadt auf Erden. Der Bursche streifte ziellos durch die Straßen der Stadt, bis er an ein Geschäft kam, in dem Bücher und Waren gestapelt waren. Dazwischen saßen ehrbare Leute. Aber bei allem Kommen und Gehen wurde nichts gekauft und nichts verkauft. Der Jüngling blieb am Ladeneingang stehen, wo ihn der Besitzer entdeckte. »Nun, mein Junge, was möchtest du? Warum stehst du hier herum?« sprach der Alte ihn an. »Onkelchen, ich suche Arbeit«, sagte er. »Arbeit kannst du bei mir finden«, erwiderte dieser und der Jüngling willigte ein. Von nun an hieß es tagein tagaus: »Bursche, wische auf!«, »Bursche, kehre!«, »Bursche, hole Wasser!«, »Bursche, decke den Tisch ab!« So arbeitete er sieben, acht, zehn Jahre. Eines Tages aber hockte er sich still in eine Ecke und begann zu grübeln, wobei ihm eine Träne die Wange herunterfloß. Der Meister wollte wissen, warum er weine. »Bei Allah, Meister, ich habe Heimweh und Sehnsucht nach meiner Mutter«, gestand er. »Kannst du mir nicht meinen Lohn
auszahlen?« Der Meister war einverstanden und gab dem Burschen für seine Dienste dreißig osmanische Lira. Nachdem er sich bedankt hatte und sich verabschieden wollte, fragte der Jüngling endlich, womit sein Meister eigentlich handle. »Ich kaufe und verkaufe gute Ratschläge«, erklärte dieser. »Was soll denn ein guter Rat kosten?« fragte der Jüngling verwundert und erfuhr, daß ein gutes Wort zehn Lira teuer sei. »Dann verkaufe mir einen Rat!« bat er den Meister. »Mein Sohn, übernachte nie in einem Wadi, einem Regenstromtal!« »Verkaufe mir noch einen zweiten Rat!« »Überquere eher einen wilden Fluß als einen stillen Strom!« »Meister, noch ein drittes Wort!« »Habe Langmut!« Daraufhin nahm ihm der Meister die dreißig Lira Lohn wieder ab. Der Jüngling blieb plötzlich stehen, denn ihn reute sein Tun. ›Wovon soll ich jetzt leben, von jenen einfältigen Ratschlägen etwa?‹ ging es ihm durch den Kopf und erneut rannen ihm Tränen über das Gesicht. »Mein Sohn, ich habe zwar all dein Geld genommen, aber das Recht von Brot und Salz, das du bei mir verzehrt hast, läßt mich dir die Lira zurückgeben. Gehe besonnen mit ihnen um und halte meine Ratschläge in Ehren!« sprach der Meister zum Abschied. Der Jüngling begab sich auf den Heimweg und lief und lief, bis er an ein Wadi kam. Er sah, wie die Viehhirten mit ihren Schafen, Ziegen, Kamelen und Eseln zu seiner Sohle hinabstiegen. Er blieb seinem Ratschlag folgend oben sitzen. »Komm doch herunter, Mann!« riefen ihm die Leute zu, doch er tat nicht dergleichen. »Ihr Leute, steigt lieber herauf!« rief er ihnen nach, aber niemand hörte auf ihn. »Mitnichten. Möge der Unglücksrabe auf dem Walnußbaum dir das Leben verkürzen. Wir kommen nie und nimmer hinauf«, schallte es herauf. Nur Augenblicke später verdüsterte sich alles ringsum, es blitzte und donnerte, und der Himmel öffnete seine Schleusen.
Ein Sturzregen prasselte hernieder und im Wadi schwoll das Wasser zu einer Flutwelle, an deren Oberfläche bald Mensch und Vieh tot dahintrieben. Der Bursche in der Höhe hingegen blieb unversehrt. ›Bei Allah, damit hat sich der erste Rat erfüllt‹, staunte er und setzte seinen Weg fort. Er durchzog Städte und Dörfer, bis er an zwei Flüsse kam. Einer war sanft und ruhig, der andere toste und schäumte. Gerade wollten zwei Männer durch den stillen Fluß waten. »He ihr, geht hier hindurch«, rief ihnen der Jüngling zu und wies dabei auf den Wildbach. »Allah hat deine Augen mit Blindheit geschlagen. Wie kannst du uns den tobenden Fluß durchqueren heißen. Komm du lieber und folge uns durch das ruhige Wasser!« antworteten sie. So sehr der Bursche auch versuchte, die beiden Männer von ihrem Vorhaben abzubringen, sie hörten nicht auf ihn. Und kaum waren sie in den ruhigen Fluß getreten, bekamen sie seinen felsigen Untergrund zu spüren, in dem ein Strudel kreiste, der sie hinabzog. Der Bursche gelangte im Wildwasser sicher ans andere Ufer. ›Auch der zweite Rat war zu meinem Nutzen‹, sprach er zu sich und pries die Macht Allahs, damit er bald syrische Erde und das Haus seiner Mutter erreiche. Dann setzte er beherzt seinen Weg fort und kam mitten in der Nacht in seinem Heimatort an. Leise öffnete er die Tür zum Haus der Mutter, die er schlafend im Bett vorfand. Aber an ihrer Seite lag ein gertenschlanker Jüngling ausgestreckt. Der Heimkehrer zog sein Schwert blank und wollte schon beiden die Köpfe abschlagen. Doch er zögerte. ›Der Meister verkaufte mir einen dritten Rat, so will ich denn Langmut beweisen‹, sprach er bei sich und ließ die Klinge sinken. Nur Augenblicke später schlug die Mutter ihre Augen auf. Sie begrüßte ihren Sohn überschwenglich. »Wer ist das?« fragte er grob.
»Das ist, bei allem was heilig ist, dein Bruder, vom gleichen Fleisch und Blut wie du. Als du damals das Haus verlassen hast, war ich im vierten Monat schwanger. Doch nun sage mir, wohin hat es dich verschlagen, was hast du all die Zeit gemacht?« fragte die Mutter. Und der Sohn erzählte, wie es ihm in der Fremde ergangen war. Die Moral ist: Der Mensch soll sich hüten, in einem Wadi zu nächtigen, soll ruhiges Wasser durchqueren und sich bemühen, Langmut zu zeigen. Gerade Geduld bringt dem Menschen so manchen Nutzen. Mit Wonne und Glück möge Allah der Hörerschaft Leben versüßen. So soll es sein.
Der kluge Prinz
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. So soll es denn sein. Es lebte einmal ein Emir unter den Prinzen der Wüstenaraber, der ein sehr schönes Eheweib sein eigen nannte. Der Fürst war außerdem mit einem Manne befreundet, den er hoch schätzte und von dem ihn nur trennte, was Allah verbot. Eines schönen Tages begab sich eben jener Emir auf Reisen in ein fernes Land, wobei er vorhatte, einen Monat abwesend zu sein. Er ließ sein Weib zurück, und wie gewöhnlich betrat der Freund auch weiterhin die Wohnung des Fürsten. Allerdings liebte der Freund die Frau seines Freundes, so daß er Nutzen aus der Abwesenheit des Emirs zu ziehen und das junge Weib zu verführen suchte. Sie ging auch darauf ein und verliebte sich in den Freund, der den Emir in dessen eigener Wohnung betrog. Der Emir kehrte eines Tages voller Zuversicht nach Hause zurück. O du Sorgloser von Allahs Gnaden, was wußtest du schon, was in deiner Abwesenheit vor sich gegangen war! Unerwartet betrat der Fürst sein Zelt und überraschte sein Weib in Sünde mit seinem Freund. Kein Wort kam über seine Lippen. Erjagte den Treulosen nur aus der Wohnung, machte ihm aber zuvor zur Bedingung, daß er sein Weib eheliche, nachdem er sie geschieden habe. Dann ließ er zwei Monate verstreichen, ohne daß er auch nur das geringste Aufsehen machte. Nun schützte er ein Zerwürfnis mit seinem Weib vor,
er wollte sie nicht länger dulden und schließlich sprach er ihr die Scheidung aus. Der Freund seinerseits wartete nun ebenfalls einige Monate, bevor seine Familie um die Hand der Frau anhielt und er sie zur Gemahlin nahm. Darauf lebten sie einige Monate, ja sogar ein ganzes Jahr in Frieden zusammen. Doch dann überraschte auch er sein Weib beim Ehebruch. Auf der Stelle tötete er die Treulose und ihren Geliebten. Man stellte ihn bald, brachte ihn hinter Gitter und verurteilte ihn wegen des Totschlags zu vielen Jahren Gefängnis. Der Emir ließ einige Monate ins Land gehen, um dann den früheren Freund im Kerker aufzusuchen. Nach Begrüßung und allgemeinen Redensarten sang der Emir dem Freund: »Der Kluge kommt einer Sache wohlmeinend bei und heil aus ihren Folgen dabei. Dem Toren nur verwirren die Dinge den Leib, daß er am Ende greint wie ein Weib.« Der alte Freund hielt ihm entgegen: »Du hast wahr gesprochen, o Emir. Aber der Säbel eilte dem Tadel voraus.« Und sie kehrten ein in ihr Haus. Ich ließ sie allein und kam zu euch heraus.
Auf sich selbst gestützt
Man erzählt, daß einmal ein Bauer mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn lebte. Der Bauer bestellte den Boden und ernährte sich von den Erträgen. Mit den Jahren entwuchs der Sohn den Kinderschuhen und wurde erwachsen. Da sprach der Vater zu ihm: »Mein Sohn, du bist ein starker Jüngling geworden, der für sich selbst sorgen kann. Unser Acker ist nur klein und ernährt uns alle nicht länger. Geh deshalb in die Stadt arbeiten und komme nicht eher zurück, bevor du nicht eine ehrlich verdiente Goldlira bringst.« Wie der Sohn sich anschickte, das Haus zu verlassen, um in die Stadt zu gehen, folgte ihm die Mutter und steckte ihm heimlich eine Goldlira zu, damit er nicht lange von ihr fort bliebe. Der Sohn ging am frühen Morgen los und schon am Abend kehrte er mit der Goldlira zurück, die er dem Vater gab. Der Vater nahm das Geldstück und besah es sich. »Das ist keine Goldmünze, wie ich sie von dir haben wollte.« Sprach’s und warf die Lira zum Fenster hinaus. Der Sohn schwieg und sagte kein Wort. Als der Sohn am anderen Tag abermals in die Stadt ziehen wollte, steckte ihm die Mutter eine zweite Goldlira zu. Der Jüngling kam am Abend wieder und reichte dem Vater das geforderte Goldstück. Der Vater nahm und besah es sich. »Das ist keine Lira, wie ich sie verlangte.« Sprach’s und warf sie zum Fenster hinaus. Der Sohn schwieg und sagte kein Wort. Am dritten Tag verließ der Bursche erneut das Haus. Der Mutter war nichts geblieben, was sie ihm hätte zustecken können, und so wünschte sie dem Sohn nur ein Lebewohl, als er zur Stadt aufbrach. Diesmal blieb er drei Monate fort. Als er zurückkam, brachte er seinen Eltern eine Goldlira mit. Auf ihr
waren seine Mühen, seine Anstrengungen und sein Schweiß abzulesen. Wie er die Lira seinem Vater reichte, lächelte dieser. Dennoch nahm er das Geldstück, als wollte er es zum Fenster hinauswerfen. Da fiel ihm der Sohn in den Arm, packte seine Hand und hinderte den Vater an seinem Vorhaben. Der Vater lachte und küßte seinen Sohn. »Jetzt, mein Sohn, kannst du für dich selbst sorgen. Diese Goldlira ist die Frucht deiner Mühen und deines Fleißes. Wem aber Geld mühelos in den Schoß fällt, dem fällt es leicht, es wieder zu verlieren.«
Der Prinz und der Barbier
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Wer gesündigt hat, der spricht: »Allah vergib!«, das ist Pflicht. So soll es denn sein. In alter grauer Zeit lebte einmal ein mächtiger Emir namens Mohammed. Eines Tages verlangte es ihn sehr nach einem Reiseabenteuer und so zog er von Bagdad nach Mossul, wo er in einer Karawanserei abstieg. Zwei Tage darauf waren dem Emir die Haare so lang gewachsen, daß er nach einem Barbier Ausschau hielt, den er nahe der Herberge auch fand. Beim Eintreten stieß er auf eine ansehnliche Zahl von Kunden, so daß er sich setzte, um abzuwarten, bis die Reihe an ihm wäre. Sein Blick heftete sich währenddessen an den Barbier, dessen Klugheit, Geistesgegenwart und gewandte Rede ihn anzogen. Der Emir war voller Verwunderung über den Barbier und schloß ihn auf der Stelle in sein Herz. Als schließlich der Fürst an der Reihe war, rasierte dieser jenem Kopf und Kinn und unterhielt den Kunden dabei auf vorzügliche Weise, wobei er sich nach dessen Heimatort erkundigte und danach, woher er käme. Der Emir berichtete ihm bereitwillig über seine Stadt, sein Emirat und seinen Reichtum und noch vieles mehr. Als jener ihn rasiert hatte, verließ der Fürst das Geschäft, aber er wollte nicht allzuweit von dem Barbier wohnen, sondern ihm möglichst nahe sein. So kehrte er oft bei ihm ein und verbrachte bei Saladin, so hieß der Barbier, täglich viele Stunden, bis sie schließlich Freunde wurden. Prinz Mohammed
schlug eines Tages Saladin vor, zwischen ihnen den Bruderbund zu schließen. »Nur wahre Freundschaft ist ein herrlich Ding«, wandte der Barbier anfangs freundlich ein, doch zu guter Letzt war auch er einverstanden und überzeugt, so daß sie den Bruderbund mit einem heiligen Schwur besiegelten. »Wir sind Brüder im Angesicht Allahs«, sprach der Prinz feierlich. »Wer diesen Bund verrät, begeht an Allah selbst Verrat.« Der Emir schlenderte eines schönen Tages durch die Straßen von Mossul, als ihm ein junges Mädchen ins Auge fiel, das auf einer hohen Balustrade stand und des Fürsten Blick durch seine betörende Schönheit magisch anzog. Wie vom Donner gerührt, blieb Mohammed stehen und starrte es an, doch als das Mädchen den Beobachter bemerkte, floh es ins Innere des Hauses. Er unternahm alles nur Mögliche, nur um es noch einmal zu Gesicht zu bekommen, und er lief bis Sonnenuntergang vor dem Haus auf und ab. ›Ich muß Bruder Saladin aufsuchen‹, sprach er schließlich zu sich selbst. ›Ihm werde ich mein Erlebnis schildern. Vielleicht kann er mir helfen.‹ Der Emir lief zu ihm, fand ihn aber nicht in seinem Geschäft, so daß ihm nichts anderes übrigblieb, als auf sein Zimmer zu gehen und sich schlafen zu legen. Aber des Nachts schüttelte ihn ein heftiges Fieber wegen seiner allzu großen Sehnsucht nach diesem Mädchen. So mußte er noch am anderen Tag das Bett hüten und vermochte nicht auszugehen. Der Barbier kam zu seinem Laden und vermißte den Prinzen. Mohammed war nicht zu finden, so daß er sich nach ihm erkundigte, bis man ihm sagte, er liege im Bett und sei noch nicht ausgegangen. So begab sich Saladin zu ihm und fand ihn kränkelnd. Mit dem Kummer und der Empfindsamkeit eines wirklichen Bruders fragte der Barbier Mohammed nach seinem Befinden, der ihm den Grund für seinen Zustand verriet. »Wo hast du sie gesehen?« wollte Saladin wissen. Der Prinz
beschrieb den Ort und zu guter Letzt bat er den Barbier, für ihn bei den Eltern des Mädchens um ihre Hand anzuhalten. »Führe mich denn zu jener Stelle«, verlangte Saladin und der Emir überwand sich selbst und erhob sich. Dem Barbier allerdings war ein wenig unwohl, denn die Beschreibung des Mädchens paßte recht genau auf seine eigene Frau. Er lief mit Prinz Mohammed zu eben jener Stelle, als der Edelmann plötzlich auf das Haus des Barbiers wies. Saladin war verwirrt und bestürzt zugleich und auch etwas verärgert, aber er bezähmte seine Gefühlsaufwallung und gewann seine Verfassung zurück. »Ein Kinderspiel«, sprach er zu seinem Bruder, weil ihm ihr Bund teuer war. Der Barbier sann den ganzen Tag über die Sache nach. Als er nach Hause kam, erfüllte ihn Zorn. Sein Weib, das seine Base war, hieß ihn mit einem liebenswerten freundlichen Lächeln willkommen, denn sie liebte ihn sehr. Er nicht weniger, dennoch war seine Absicht besiegelt. Saladin erfand nichtige Gründe, um mit ihr zu streiten und sie sogar zu schlagen. Dann schwor er einen heiligen Eid und verbannte sie mit ihren zwei Kindern aus dem Haus. Tags darauf ging der Barbier in seinen Laden und Mohammed kam zu ihm und wollte wissen, was sich ereignet habe, aber jener beruhigte ihn. So erzählte Saladin ihm Tag für Tag eine neue Lüge, bis nach der Scheidung 101 Tage verstrichen waren, während der der Emir immer ungeduldiger wurde. Nach dieser Frist suchte der Barbier seinen Onkel, den Vater seiner verstoßenen Frau, auf. »Onkel, ich bin als Brautwerber zu dir gekommen und bitte für meinen Freund, den Emir Mohammed, um die Hand meiner Base«, begann er. »Aber mein Sohn«, wandte jener ein, als er sich von dem Schrecken erholt hatte, »sie ist doch eigentlich dein Weib und die Mutter deiner beiden Kinder.«
»Von meiner Seite ist die Sache ausgestanden. Dieser Mann ist von den edelmütigsten unter den großartigsten Herren. Er hat sie verdient.« »Ich kann dir nicht beipflichten«, entgegnete der Onkel. »Frage die Base, sie soll das letzte Wort haben.« Sogleich rief der Onkel nach seiner Tochter. Als sie hereinkam, zuckte sie beim Anblick des Vetters zusammen, doch dann grüßte sie ihn und nahm Platz. »Ich halte um deine Hand für meinen Freund Mohammed an«, sprach Saladin zu ihr. Wie sie diese Worte vernommen hatte, begann sie zu weinen und schluchzte unentwegt. »Ich bin doch deine Frau und die Mutter deiner Kinder.« »Was zwischen uns war, ist vorbei. Du bist nun nur noch meine Base und nicht länger mein Weib. Mein Freund ist ein gutherziger Mensch, edelmütig, erhaben und ein Emir«, redete er auf sie ein. »Ich möchte lediglich dein Bestes und dein Wohl. Nimm ihn als Ehemann an!« Letztendlich willigte sie unter der Bedingung ein, daß sie ihre Kinder behalten könne. »So soll es sein«, besiegelte Saladin die Absprache, indes in seinem tiefsten Inneren etwas zerriß. Danach verließ er das Haus des Onkels, um seinem Freund die frohe Botschaft zu verkünden. Ihm erzählte er auch, daß jene Kinder habe, die sie in die Ehe einbringen wolle. Der Prinz war einverstanden, bestimmte aber, daß er sie an Kindes Statt annehme. Mohammed gab Saladin die nötigen Vollmachten, der alles bestens zu regeln verstand. Der Emir heiratete und eine Woche darauf rüstete er zur Heimreise. Saladin ließ nach dem Fortgang des Prinzen noch einmal alles an sich vorbeiziehen und eine tiefe Traurigkeit befiel ihn. Sein Körper wurde von einer Krankheit heimgesucht und eines Tages geriet er von Sinnen. Er lief ziellos durch die Straßen und als ihn des Nachts Erschöpfung und Trauer zu übermannen drohten, kroch er in einen Garten und schlief. Ein Wächter fand den Barbier nach
Sonnenaufgang in einem beklagenswerten Zustand und im Fieberkrampf. Umgehend trug er ihn in ein Hospital, wo Saladin behandelt wurde. Zu dieser Zeit reiste der Emir ein weiteres Mal nach Mossul, um seinen Freund zu besuchen. Als er sich nach dem Barbier erkundigte, sagte man Mohammed, daß jener im Hospital läge, in das er schleunigst eilte. Das Leiden seines Freundes erschütterte den Prinzen tief, so daß er ihm so lange nicht von der Seite wich, bis Saladin geheilt das Krankenlager verlassen konnte. Der Emir bot dem Barbier sogar Geld als Ersatz für dessen Verluste an, was jener erst annahm, nachdem ihm sein hoher Freund hart zugesetzt hatte. Dann reiste der Fürst wieder ab. Saladin marterte sich erneut mit mancherlei Grübeleien über sein Unglück, bis er sein Handwerk gänzlich an den Nagel hängte. Wieder kränkelten seine Nerven und sein Geist verwirrte sich abermals. So zog er schließlich bettelnd durch die Straßen. Saladins Onkel war tief betroffen vom Leid des Verwandten und wandte viel Geld auf, aber der Zustand des Mannes zeigte keine Besserung, so daß der Vater von Saladins geschiedener Frau schließlich alle Hoffnungen fahren ließ. Der verwirrte Barbier strich von einem Dorf zum anderen und kam eines schönen Tages auch in die Stadt, in der Emir Mohammed nahe Bagdad lebte. Um leben zu können, bettelte Saladin durch die Gassen. Wie es der Zufall wollte, lief der Prinz durch die Straßen, als er – er wollte seinen Augen nicht trauen – seinen alten Freund in einem befremdlichen Zustand erblickte. Er hielt inne und rief seinen Freund beim Namen, aber Saladin erkannte ihn nicht. »Führe diesen Mann in das Palastbad«, befahl er einem der Sklaven seines Gefolges. »Reinige und kleide ihn dann mit den schönsten Gewändern und bringe ihn im Palast unter!« Der Diener tat, wie ihm geheißen. Als nun der Emir herzutrat und seinen Freund besah, betrübte ihn dessen Lage sehr. Er schickte nach Ärzten und Weisen, entlohnte einen jeden nach
dem Preis, den er verlangte, und fragte nach der Ursache des Übels. »Er wird genesen«, sagten sie übereinstimmend, »aber es wird längere Zeit in Anspruch nehmen.« Erst als bereits ein Jahr verstrichen war, befand sich Saladin auf dem Weg der Besserung und, wenn auch nur langsam, kehrte sein Gedächtnis zurück, worüber Prinz Mohammed in helle Freude geriet. Als er eines Tages in des Barbiers Zimmer trat, erkannte ihn jener und beide grüßten einander aus tiefstem Herzen. Der Barbier stieg eines Tages in den Palastgarten hinab und war entzückt von dessen Schönheit. Er setzte sich neben ein Wasserbecken und rings um ihn blühte es in Hülle und Fülle, daß es eine wahre Augenweide war. Plötzlich näherte sich ihm ein Kind, das, als es Saladin berührt hatte, weglief und immer wieder ›Vater! Vater!‹ rief. Jener eilte ihm nach, nahm es hoch und begann, den Jungen über und über mit Küssen zu bedecken, wobei er heiße Tränen vergoß. Gleichfalls kam seine Tochter heran, die, als sie in ihm ebenfalls ihren Vater erkannt hatte, ihm entgegenflog. Saladin setzte sie unter Tränen auf seine Knie. Das Schluchzen eines Mannes hörte auch die Base des Barbiers, und es erschien ihr wie die Stimme ihres ersten Mannes. Sie lief zur Balustrade und erblickte ihre beiden Kinder in den Armen ihres leiblichen Vaters und brach ebenfalls in Tränen aus, als sie der Emir zufällig in diesem Moment sah. »Warum weinst du?« wollte er wissen. »Schau hinunter!« brachte die Frau erst hervor, als Mohammed seine Frage wiederholt hatte. Dem Prinzen bot sich ein merkwürdiges Schauspiel. Sein Freund Saladin weinte bitterlich, während vor ihm Sohn und Tochter standen, und neben ihm schluchzte sein Weib herzzerreißend. »Was geht hier vor?« bat der Emir sein Weib um Aufschluß, und sie erzählte ihm, daß der Barbier eigentlich ihr Vetter ist, der ihr erster Gatte war und der Vater ihrer Kinder. »Er hat mich
geschieden um eurer beider Bruderbund willen.« Da schlug der Emir die Hände über dem Kopf zusammen. »Ist denn das wirklich wahr?« Und nachdem seine Gemahlin es bejaht hatte, eilte er in den Garten und hob an, seinen treuen Freund mit Küssen zu bedecken. »Du hast wegen mir deine eigene Frau und Kinder verlassen, mein Freund?« brach es aus Mohammed heraus und auch er fiel in Tränen. Dann faßte er seinen Freund bei der Hand und stieg mit ihm in das Zimmer seiner Frau hinauf. Ihr Gruß zerfloß in Tränen, aber auch der Emir und Saladin ließen ihren Gefühlen freien Lauf. »Deine Frau sei dein und auch deine beiden Kinder seien dein«, sprach der Prinz. Aber Saladin wehrte ab. »Nein, nein und nochmals nein. Ich nehme sie um keinen Preis zurück. Sie ist dein.« Und er schwor darauf sogleich einen heiligen Eid. »Schnell, hole meine Schwester Soundso!« wandte sich Mohammed an eine Dienerin. Wie sie die Kammer betrat, weihte ihr Bruder sie kurz ein, was seinem Bruder Saladin widerfahren war und welche Großherzigkeit er bewiesen hatte. »Ich habe dich ihm zur Braut erwählt«, sprach er schließlich. Seine Schwester gab mit Freuden ihren Willen darein, und es wurde Hochzeit gehalten. Was war das für ein strahlender Tag. Zu guter Letzt vermachte Prinz Mohammed seinem Bruder Saladin die Hälfte seiner Güter und alle lebten in Glück und Wohlergehen.
Daus, daus – die Geschichte ist aus. Wäre dein Haus nicht so fern, sei dir ein Teller Rosinen ohn’ Kern. Mit holden Wonnen, Seligkeit und Glück versüße Allah der Hörerschaft Geschick.
Verstand ist des Menschen schönste Zierde
Ein König wurde einst bekannt durch seine gerechte Herrschaft und die Liebe zu seinem Volk, das ihm Zuneigung und Rechtssinn mit Gehorsam vergalt und sich darin aufopferte, ihm zu dienen und ihm durch Pflichterfüllung alle Aufmerksamkeit und Treue entgegenzubringen. Eines Tages kam ein Mann mit einem bescheidenen Geschenk zu jenem Herrscher, das er in einem kleinen Beutel bei sich trug. »Friede sei unserem edlen Gebieter«, begrüßte ihn der Mann. »Mir ist dieses wundersame Vögelchen in die Hände gefallen und es drängte mich, es als Zeichen meiner Verehrung Eurer Majestät und als Unterpfand meiner Treue Euch zu überbringen.« Nach diesen Worten zog er den Vogel hervor und reichte ihn dem König mit der Bitte, ihn als Geschenk anzunehmen. Der Herrscher nahm das Tierchen und besah es sich lange. Der Zauber und die Harmonie der strahlenden Farben im Gefieder des winzigen Lebewesens nahmen den König gefangen. Er nahm das Geschenk an und gewährte dem Überbringer eine Belohnung von einhundert Dinar, die der Mann nahm und sich zum Gehen anschickte. Noch bevor der Mann aber den Audienzsaal verlassen konnte, schalt die Königin des Königs Vorgehensweise, daß er dem Mann so schnell eine so hohe Summe für dieses eher bescheidene Geschenk zuwies. Sie begann sogleich, den Herrscher überzeugen zu wollen, daß jener das ganze oder wenigstens einen Teil des Geldes zurückgeben müsse. Der Königin nachgebend und in ihren Wunsch einlenkend, rief der König den Mann zurück, um ihn um die Rückgabe des Geldes willen mit einer List auf die Probe zu stellen, wodurch er hätte
seine Zustimmung zu dem Geschenk widerrufen können. Anders konnte er es nicht versuchen, denn: Was Könige geben, ist vergeben für’s ganze Leben. Der Mann trat erneut vor den König, der unumwunden fragte: »Du hast uns noch nicht gesagt, welchen Geschlechts dein Vögelchen ist.« Der Mann lächelte weise bei dieser Rede. »Es ist ein Weibchen, o Gebieter«, antwortete der Mann nach einigem Nachdenken. Zum zweiten Mal war der König von der Weisheit und Klugheit des Fremden erstaunt und wies deshalb an, ihm weitere einhundert Dinar auszuhändigen. Verwunderung und Verunsicherung der Königin nahmen zu und Zeichen des Grimms traten in ihr Gesicht, als der Mann vom König ein weiteres Geschenk erhielt und sich mit angenehmen Worten für etwas bedankte, was ihm nach ihrer Ansicht gar nicht zustand. Nachdem der Mann den Saal verlassen hatte, wandte sie sich an den Herrscher, um ihm dringend ans Herz zu legen, Mann und Geld zurückzuholen, koste es, was es wolle. Während König und Königin noch sprachen, erhob sich der Fürst und schaute aus dem Fenster, wobei er den Mann auf Knien im Palastgarten kriechen sah, als ob er nach etwas suchte. Er stutzte bei diesem Anblick und dachte bei sich, daß er damit vielleicht einen Vorwand gefunden haben könnte, den Mann noch einmal zu rufen, um dem Verlangen der Königin nachzugeben. »Was fällt dir ein, Mann, im Garten des Palastes herumzusuchen?« fragte er, kaum daß der Mann vor dem Herrscher erschienen war. »Mir war ein Dinar auf den Boden gefallen, nach dem ich suchte, o Herr«, erklärte er. »Deine Gier ist kaum zu überbieten«, schimpfte der König. »Hat man dir nicht zweihundert Dinar geschenkt? Und du kramst auf Knien nach einer einzigen Münze!« Wieder lächelte der Mann weise. »Meine Suche hat nichts mit dem Wert dieses einen Dinars zu tun, o Gebieter, sondern damit, daß dein Konterfei auf die Münze geprägt ist. Mir graute vielmehr vor dem
Gedanken, Seiner Majestät Antlitz könnte einfach, in den Staub geworfen, liegen bleiben«, wußte er freundlich zu erwidern. Nun war auch die Königin von der Weisheit des Mannes und der Ausgewogenheit seiner Auskünfte überzeugt, daß sie den König sogar bat, ihm ein weiteres Geschenk zu gewähren und ihm eine Arbeit im Palast anzuweisen, damit er nahe genug wäre, wenn er gebraucht würde. Der Fürst willigte ein und so auch der Mann, der sich für die Güte und Großzügigkeit bedankte. Der Mann wurde im Garten des Palastes beschäftigt, wo er die Blumen hegte und pflegte. Die Tage verstrichen, bis dem König ein wunderschönes Fohlen geschenkt wurde. Freudig nahm der Herrscher die Gabe an und gestand dem Überbringer ein stattliches Entgelt zu. Dann übergab er dem Gärtner das Füllen zur Betreuung, das der König von Zeit zu Zeit besuchte, um sich an seinem Anblick zu ergötzen. Der Gärtner hielt ihn eines Tages auf. »Weißt du, o Herr, daß die Mutter dieses Fohlens eine Kuh war?« fragte er. Den König trafen diese Worte mitten ins Herz. Er rief seine Wachen, damit sie den Mann auf der Stelle abführten und in den Kerker warfen. Der Fürst fühlte sich verspottet und in seiner Ehre gekränkt. Doch wie er des Nachts vor lauter Ärger kein Auge zutun konnte, rief er sich die bisherigen Proben von der Weisheit dieses Mannes ins Gedächtnis zurück und ermahnte sich, dessen Worte doch lieber ernst zu nehmen und ihnen auf den Grund zu gehen. Der König ließ am anderen Morgen umgehend den vormaligen Besitzer des Fohlens zu sich rufen. »Du hast uns ein stolzes Füllen verehrt. Aber kannst du uns auch seinen Stammbaum nennen?« erkundigte er sich. »O Herr, seine Eltern waren reinrassige Araberpferde. Aber die Stute, die es geworfen hat, starb bei der Geburt. Ich hatte eine Milchkuh, die das mutterlose Tier gesäugt hat«, berichtete er wahrheitsgemäß.
Der König war froh und rief den Gärtner zu sich. »Wie konntest du des Füllens Geheimnis erfahren?« drängte es den Fürst zu wissen. »Schau, o Gebieter, auf das kleine Pferd«, antwortete der Gärtner ruhig, »wenn es sich leckt, reckt es seine Zunge, bis es sogar an seine Hinterpforte reicht. Aber das tut unter den Tieren nur das Rind.« Der König staunte lange und sprach schließlich dem Gärtner seine Anerkennung für seine Weisheit und scharfe Beobachtungsgabe aus. Nun war im Palastgarten ein kleiner Kanarienvogel, dem der König jedes Mal zuschaute, wenn er durch den Garten spazierte. Einmal kam ihm in den Sinn, den Mann auch über diesen gefiederten Gesellen zu befragen. Der zeigte Scham und Zaudern. »Möge dir Allah das Leben verlängern, aber wisse, daß diesen Kanarienvogel ein Huhn ausgebrütet hat«, eröffnete er ihm. Der König stieß bei diesen Worten eine Drohung aus, besann sich aber schnell wieder und ließ den Besitzer des Vögelchens rufen. »O größter König aller Zeiten, ich hatte zum Zeitvertreib begonnen, die verschiedensten Vögel zusammenzutragen und zu züchten. Doch eines Tages, als gerade die Mutter jenes Kanarienvogels auf den Eiern saß, schlich sich die Katze in den Käfig und fraß sie auf. Ich fand am anderen Morgen nur noch ein heiles Ei, das ich einer Henne unterschob, die gerade brütete. Als die Brutzeit sich ihrem Ende neigte, schlüpften die Küken und gingen mit der Glucke auf Futtersuche. Auch dieser Vogel wühlte mit seinen Beinen in der Erde um ein Körnchen, wie er es von seiner Mutter gelernt hatte«, erzählte der. Auf der Stelle eilte der König in den Garten, an den Käfig des kleinen Vogels, wo er ihn mit den Krallen wühlen sah. Ein weiteres Mal sah sich der König von Weitsicht und Scharfblick des Gärtners überzeugt, daß er ihn holen ließ, um ihm seinen Ring zu schenken. »Du kannst von Stund an ein unbeschwertes Leben führen und dir nehmen und kaufen, wonach dein Herz begehrt, ohne daß du je
Geld brauchst. Du brauchst jedem Einwohner meines Königreiches nur meinen Ring vorzuweisen«, erklärte er dazu. Der Gärtner bedankte sich überschwenglich und wünschte dem Herrscher ein langes Leben in Wohlstand. Wie die Tage so vergingen, in denen der Gärtner nicht mehr bei Hofe war, erinnerte sich der König seiner und forderte seinen Wesir auf, den Mann auf der Stelle herbeizuschaffen. Als er erschienen war, erkundigte sich der Herrscher nach seinem Befinden. »Ich lebe unter Euren Fittichen und in den Gefilden Eures Wohlwollens und Großmutes, o König.« Dann äußerte der Fürst ein seltsames Anliegen, denn er verlangte über sich selbst Auskunft und Offenbarung. Der Mann war bis in sein Innerstes von Angst erfüllt. Was sollte er sagen, was einwenden, mußte des Königs Bitte doch entsprochen werden. Er erbat sich ein Generalpardon sowie eine Frist von zwei Tagen, in denen er den Dingen und Geheimnissen auf den Grund gehen wollte. Nach diesen beiden Tagen trat er vor den König und tat ihm kund: »Euer Vater war kein König, o Gebieter, und er war auch kein Araber.« Kaum hatte der Mann zu Ende gesprochen, als der König auch schon seinen Säbel blank gezogen hatte und Anstalten machte, ihm den Kopf abzuschlagen. »Schweig still, Elender, sonst trenne ich dir den Kopf vom Rumpf!« schrie er aufgebracht. »Ich bin König, Sohn eines Königs, Abkömmling von Königen seit Urväter Gedenken.« Der Mann schwieg für ein Weilchen. »Du räumtest mir ein Generalpardon ein und gabst mir den Ring des Königs und verlangtest von mir, die Wahrheit zu sagen, wie auch immer sie ausfallen möge. Ich habe sie gesagt. Also worüber grollst du mir, o Herrscher?« sprach dann der Mann mutig. Der König ging in sich und befahl dem Weisen zu warten. Er selbst eilte in den Palast und verlangte von seiner Mutter, ihm zu erklären, was er gerade von dem weisen Mann habe hören müssen. Die Mutter
versuchte zunächst, den Weisen Lügen zu strafen, die Zweifel des Königs zu zerstreuen und ihm derartige Gedanken auszureden. Aber er wurde nur noch grimmiger und brauste voll Zorn auf. »Mein Gemahl war ein König, mein Söhnchen«, begann sie dann doch entgegen ihrer eigentlichen Absicht zu sprechen, »aber er vermochte es nicht, ein Kind zu zeugen, das seinen Namen hätte tragen können. Nur er wußte nichts von seinem Unvermögen. Eines Tages begleitete ich ihn auf einem Jagdstreifzug, wo er mich bei den Zelten zurückließ und davonritt, und seine Begleiter sprengten hinter ihm her. Bei mir war nur noch ein Haussklave, der sich von mir einen Schluck Wasser erbat. Ich gab ihm zu trinken und verstrickte ihn in eine freundliche Unterhaltung, hieß ihn sich setzen und bald folgte er mir willig in allem, was ich von ihm wollte. Kurz nach diesem Beisammensein war ich guter Hoffnung, und der König glaubte, das werdende Kind sei von ihm. Ich behielt mein Wissen für mich, das ich nur mit Allah teilte. Nun flehe ich dich bei Gott an, mein Kind, woher nur weißt du davon, wo es doch ein großes Geheimnis war. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, es zu schützen und zu bewahren.« Der König verharrte einen Augenblick wie versteinert, dann kehrte er zu dem Weisen zurück. »Wie konntest du hinter diese Dinge kommen, wo doch meine Mutter geschworen hatte, ihr Geheimnis mit niemandem außer Allah zu teilen?« fragte der Herrscher. »Nur meine Verehrung zu dir und mein Vertrauen in den mir gewährten Generalpardon sowie der mir erwiesene Großmut lassen mich dir die Wahrheit darüber sagen, wie ich aus deiner Handlungsweise dieses Geheimnis erkannt habe. Vergebung, o Herr, aber deine Taten wiesen mich daraufhin, daß du nicht aus einer langen Reihe von Königen entstammen konntest: Was Könige geben, ist vergeben für’s ganze Leben. Und du versuchtest mehr als einmal zurückzuholen, was du mir
gegeben hattest. Dann gabst du mir den Ring des Königs anstelle von Geld in dem Glauben, mich reich beschenkt zu haben, während mich das demütigte und beleidigte. Jedesmal wenn ich den Ring des Königs vorzeige, wissen die Leute sogleich, daß ich unter deiner Obhut stehe und auf deine Gnade angewiesen bin. Das aber ist wiederum kein königliches Geschenk und keine fürstliche Wohltat. Sie ist auch nicht von der Araber Großmut und ihrer Güte. Das einzig Annehmbare wäre gewesen, du hättest mir eine Geldsumme angewiesen, mit der ich hätte tun und lassen können, was ich wollte«, erklärte der Mann. Der König lächelte wieder. »Du bist wahrhaft ein weiser und scharfsinniger Mann, der alle Ehrerweisung und höchstes Zutrauen verdient. Was bleibt mir anderes zu tun, als dir anzutragen, mit mir die Herrschaft zu teilen und mit mir zu regieren. Somit sollst du von Stund an anstelle meines Ersten Wesirs die Angelegenheiten des Königreiches wahrnehmen. Du entscheidest demnach, was dir angemessen erscheint bei jeder Sache, die mit Macht und Regierung zusammenhängt. Du mußt mir allerdings treu ergeben handeln und mir ehrlich Freundschaft und Treue erwidern. Dein ausgewogener Verstand gibt dir, was nur deinesgleichen an Wissen erlangen kann, denn Verstand ist deine schönste Zierde«, entschied der Herrscher. Der Mann blieb als Wesir in der Nähe des Königs und war ihm treu ergeben, erteilte ihm ehrlich Auskunft und Rat, bis an das Ende seiner Herrschaft.
Der Schnurrbart
Es war einmal und war doch nicht. Es lebte vor langer Zeit ein mittelloser Mann, der eines Tages sogar in völlige Armut und Bedürftigkeit geriet. Da ging er zu einem Freund, der ein reicher Kaufmann war, und bat ihn: »O reicher Freund, ich bin zu dir gekommen, um mir einhundert Lira in Gold zu leihen. Mit ihnen will ich meinen Lebensunterhalt bestreiten.« Der Kaufmann willigte ein. »Ich werde dir geben, wonach du verlangst. Aber was hinterlegst du bei mir für diese stolze Summe als Pfand, damit ich sicher sein kann, daß mein Geld auch zu mir zurückkehrt?« fragte er. Der Arme versprach eine angemessene Sicherheit. Der Mann ging nach Hause und überlegte. ›Was soll ich dem Kaufmann nur als Pfand einsetzen? Ich besitze doch nichts von den vergänglichen Gütern dieser Welt.‹ Dann erhob er sich und holte eine Zange, mit der er sich vorsichtig ein einziges Haar aus seinem Schnurrbart herauszog. Er nahm ein sauberes Tuch und legte das Barthaar hinein. Damit lief er zu dem Kaufmann. »In diesem Tuch befindet sich das Pfand«, sagte er, und der Reiche händigte ihm das verlangte Geld aus. Ein Nachbar sah eines Tages, daß der arme Mann zu Wohlstand gelangt war. »Woher hast du all das Geld?« wollte er wissen. »Ich hatte mir vom Kaufmann einhundert Goldlira geliehen«, erzählte er. »Und was hast du dafür hinterlegen müssen?« fragte der Nachbar weiter. »Ich verpfändete ein Haar aus meinem Schnurrbart«, sagte der erste wahrheitsgetreu. Gleich eilte der Nachbar zum Kaufmann. »Ich möchte einhundert Lira in Gold geborgt haben«, eröffnete er diesem. Der Kaufmann wollte wissen, was er als Hinterlegschaft
bekäme. »Meinen ganzen Schnurrbart«, verkündete der Nachbar unbedacht und der Kaufmann schien einzulenken. Der Nachbar nahm die Schere und schnitt den Schnurrbart ab und legte die Haare in ein Tuch. »Dieses Pfand ist für mich wertlos«, entschied der Kaufmann. »Mein armer Nachbar borgte von dir einhundert Lira für ein einziges Barthaar, und du willst meinen ganzen Schnurrbart nicht zum Pfand«, empörte sich der Nachbar. Der Kaufmann blieb hart. »Sein Schnurrbart hatte offensichtlich einen besonderen Wert für ihn. Er gab mir deshalb nur ein einziges Haar, das somit aufwog, was ich ihm an Gold aushändigte. Du aber hast mir nichts dir nichts beide Hälften deines Bartes abgeschnitten, der damit wertlos wurde. Hätte er für dich einen hohen Wert, hättest du dich nicht so rasch von ihm getrennt. Für deinen armen Nachbarn war der Schnurrbart von größter Bedeutung, deshalb überließ er mir nur ein einziges Haar. Nun weißt du, warum ich dir nichts leihen will.«
Brot und Salz
Es lebte einmal ein reicher Kaufmann namens Asad, der einer Familie der wohlhabendsten Händler in Mossul entstammte. Eines Tages begab er sich, um die Welt kennenzulernen und um Handel zu treiben, nach Damaskus, wo er in der Karawanserei Khan Asad Pascha im Bzouriye-Suk abstieg. Ein Diener brachte ihm morgens das Frühstück, mittags das Mittagsmahl und am Abend das Abendbrot auf seine Kammer. Der Diener kam auch, um das Zimmer zu säubern und das leere Geschirr abzuräumen. Dabei wunderte er sich nicht schlecht über den Kaufmann, weil der stets das bei den Mahlzeiten übriggebliebene Brot an sich nahm und verbarg. Einmal erzählte der Diener dem Besitzer der Karawanserei, Said, was er bei dem Händler beobachtet hatte. »Überlasse das nur mir!« versetzte der Besitzer. »Morgen werde ich versuchen, das Geheimnis seines Tuns zu ergründen.« Der Besitzer der Karawanserei stieg am folgenden Tag zur Kammer des Kaufmanns Asad hinauf und bat um Einlaß, um das Zimmer zu richten. Said beobachtete wie zuvor schon der Diener, wie der Gast das nicht verzehrte Brot nahm und verbarg. Er trat auf den Händler zu, stellte sich vor und fragte, warum er das wohl tue. »Ich nehme das Brot an mich, damit niemand nach mir von diesen Fladenstücken essen kann. Zwischen ihm und mir bestünde dann nach altem Brauch ein Bund von Brot und Salz«, erklärte Asad. »Möglicherweise ißt jemand von dem Brot, den ich nicht kenne. Dadurch könnte ich ihm nichts Gutes erweisen. So ginge aber dieser heilige Bund verloren.«
Said gefiel diese Ansicht, und er erkundigte sich sogleich, ob Asad ihm vertraue und ob auch sie beide das Band von Brot und Salz verbinden könne. Er von seiner Seite werde diese hohe Form der Freundschaft wahren und pflegen. Der Kaufmann war einverstanden und reichte Said ein Stück Fladenbrot. Der aß davon die Hälfte, Asad verzehrte den anderen Teil. Beide verband von Stund an Brot und Salz. Einen Tag später, als der Kaufmann nahe dem Wasserbecken im Innenhof der Karawanserei seinen Kaffee trank, fiel ihm ein anmutiges Mädchen auf, das die Herberge betreten hatte und mit einem Diener sprach. Das liebliche Geschöpf hatte es ihm bald angetan, seine Schönheit und schlanke Gestalt machten ihn rasch verliebt. Als es den Gasthof verließ, folgte Asad ihm durch die Viertel und Gassen, bis es in einem vornehmen Haus verschwand. Er brachte ein Zeichen an und kehrte bedrückt in die Herberge zurück. Dort berichtete er Said, was er erlebt und gesehen hatte. Der Kaufmann bat seinen Freund um Hilfe, dieses Mädchen freien zu können. Said willigte ein und leistete sein Versprechen auf ihren Bund von Brot und Salz. Die beiden Männer liefen anschließend zu dem gekennzeichneten Haus des Mädchens. Es war das Haus des Karawansereibesitzers. Als der Kaufmann die Schöne zu beschreiben begann, erkannte Said in ihr seine Schwester. Said war ratlos. Um die Hand seiner Schwester Badour hatte bereits der Provinzstatthalter für seinen Sohn angehalten. Er verheimlichte aber Asad diesen Umstand; er hatte nicht die Kraft, ihm die Wahrheit zu sagen, und verlangte eine Woche Bedenkzeit, in die der Kaufmann schweren Herzens einwilligte. Der Besitzer der Karawanserei kehrte am Abend niedergeschlagen nach Hause zurück und versank ins Grübeln. Seine Schwester erkundigte sich, was geschehen sei. So erzählte Said ihr die Geschichte von Asad. »Was werden wir
tun?« wollte seine Schwester wissen. »Der Statthalter fordert mich für seinen Sohn. Fürchtest du nicht, daß uns Böses widerfährt und uns Geld und Macht verlorengehen könnten? Was geht uns ein fremder Kaufmann an?« Der Bruder wies ihre Bedenken um den Bund von Brot und Salz zurück und erwiderte ihr: »Die einzige Lösung ist, daß du in eine Heirat mit Asad einwilligst.« Badour gab daraufhin ihr Einverständnis, das Said Asad am folgenden Tag überbrachte. »Dieses Mädchen ist meine Schwester. Sie stimmt einer Heirat mit dir zu.« Der Kaufmann freute sich. Weil er aber kein Bargeld, sondern nur die Waren besaß, die er für den Handel erworben hatte, stattete Said sogar seine Schwester aus und gab dabei viel Geld aus. Er überhäufte sie mit allem Erdenklichen, teuren und kostbaren Dingen und Schmuck. Wenige Tage später reisten Asad und seine Braut ab. Said kehrte traurig und betrübt in seine Karawanserei zurück, weil er seine Schwester verloren hatte und sie in die Fremde gezogen war. Er begann, wieder und wieder über sich und seine Probleme nachzugrübeln. Seine Sehnsucht nach Badour, seiner einzigen Schwester wurde stärker. Während er Kummer und Pein ertrug, erfuhr der Statthalter, was Said getan und wem er seine Schwester entgegen ihrer Absprache zur Frau gegeben hatte. Haß erfüllte ihn, und er entließ Said aus der Karawanserei. Er begann an der Welt zu verzweifeln, und seine Lage verschlechterte sich. Er begann, mit üblen Kumpanen Umgang zu pflegen, er brachte die Nächte durch und vergnügte sich, bis er völlig aus den Augen verlor, was mit ihm vorging. Schließlich ging ihm auch das Geld aus. Sein Ruf und Ansehen erlitten schweren Schaden. Letzten Endes blieb ihm rein gar nichts mehr. Da erwog er eine Reise zu seinem Bundesbruder und Freund Asad. Mit wenig Proviant versehen, nahm er die Beschwernisse des langen Weges auf sich. In Mossul lief er schnurstracks zum Haus von Asad, seinem
Freund und Schwager. Er wurde von vier Wachen überrascht, die ihm am Haustor zurückwiesen und am Eintritt hinderten. Da er wollte, daß sie ihn zu seinem Freund Asad vorließen, erzählte er ihnen seine Geschichte. Ein Wächter ging nach drinnen und hinterbrachte Asad die Nachricht. Er beschrieb auch den Mann und seinen bedauernswerten Zustand und nannte dessen Namen. Asad lehnte ab, ihn zu sehen, und befahl dem Wächter sogar, den Bittsteller zu verprügeln und zu verjagen. Der Wächter trat wieder heraus und walkte den armen Kerl kräftig durch und vertrieb ihn. Said reute das Geschehene tief. Er fragte sich immerzu: ›Was ist von dem Bund von Brot und Salz geblieben, der zwischen uns bestand? Wie schlecht kenne ich ihn. Über allem ist er doch mein Schwager und der Mann meiner Schwester.‹ Nachdem Said eine Weile herumgeirrt war, zog er enttäuscht in Erwägung, nach Damaskus zurückzukehren. Dazu mußte er sich jedoch etwas Geld besorgen und verdingte sich zuerst als Diener in einer Kaffeestube, später als Lastenträger. Eines Tages rief ihn ein unbekannter Mann und verlangte, daß er drei Koffer trage. Er nahm das Gepäck auf und lief vor dem Mann her zu der genannten Adresse. Als er vom Laufen ermüdet war, verschnaufte er kurz und blickte dabei zurück. Nirgends konnte er den Besitzer der Koffer erblicken. Er rief nach rechts und links, aber niemand antwortete. So schleppte er die Koffer zur Polizeiwache. Dort berichtete er wahrheitsgemäß, was vorgefallen war. »Komm in drei Tagen wieder auf die Wache! Hat sich der Eigentümer der Koffer bis dahin nicht angefunden, gehören sie und der gesamte Inhalt rechtmäßig dir«, sagte man ihm dort. Nachdem die drei Tage verstrichen waren, kam Said wieder auf die Wache. Der Vorsteher teilte ihm mit, daß die Koffer besitzerlos seien, und händigte sie ihm aus. Als Said die Koffer
öffnete, fand er darin unzählbar viel Geld. Er nahm es an sich und begann nachzudenken, wie er es anstellen müsse, um dem Schwager die erlittene Unbill heimzuzahlen. Immerhin hatte er Asad dem Sohn des Statthalters vorgezogen, ihn mit seiner Schwester vermählt, ihre Aussteuer zusammengestellt und ihr Geld und Gut gegeben. Er baute als erstes einen Palast neben dem von Asad, nur noch schöner und prächtiger. Durch diese Nachbarschaft kam er hinter das Geschäftsgeheimnis von Asad. So kaufte er auf dem Basar die Läden neben denen Asads, um ebenfalls mit Stoffen und Kleidern zu handeln. Eifrig war er bemüht, seinen Ruf über den des Schwagers zu heben. Als er eines Tages in seinem Laden war, kam ein Mädchen, um Kleider zu kaufen. Er verkaufte ihm, was es verlangte, und forderte dafür einen unbedeutenden Preis, weil ihm seine Schönheit und Höflichkeit gefielen. Das Mädchen kam von Zeit zu Zeit wieder. Es zahlte ihm einen großzügigen Preis für seine Waren. Dabei wählte es aus den Stoffen und Gewändern in einer Art, die Geschmack und Klugheit verrieten. So wuchs seine Zuneigung zu ihm, bis er es liebte und zu heiraten begehrte. Das Mädchen war überraschend schnell mit ihm einverstanden. Es gewährte ihm eine Frist, damit er die Aussteuer besorge und den Palast für den Empfang herrichten könne. In der Hochzeitsnacht strömten Saids Freunde und Bekannte zur Feier herbei. Der Palast war prächtig geschmückt. Stolz lief der Bräutigam mit seiner Braut zwischen den Leuchtern und Fackeln umher. Vor ihnen wurden Blumen ausgestreut und der Boden mit duftenden Wassern benetzt. Der Saal des Palastes war übervoll mit Gästen und wertvollen Geschenken. Plötzlich traten Asad und Badour ein. Ihnen folgten Diener, die die Geschenke trugen. Da packte den Bräutigam äußerste Erregung, er ließ seine Braut stehen und stürzte auf Asad zu.
Er schrie ihm ins Gesicht, schlug auf ihn ein und wollte ihn aus dem Palast weisen. Asad versuchte, ihn zu beruhigen und seine Sinne umzustimmen. Verwundert von seinem Auftreten, fragte er: »Was habe ich denn getan, daß du so wütend auf mich bist und versuchst, mir Unrecht zu tun und mich vor den Gästen zu beleidigen?« Said antwortete ihm gefaßt und zählte ihm alles auf, was er für ihn in Damaskus um ihres Bundes von Brot und Salz willen getan habe. Er habe ihn beschenkt und ihm die schönste Gabe anvertraut. Und wie habe Asad seine Gunst vergolten? »Erlaube mir, mein Freund, Dir zu sagen«, erwiderte Asad, »daß ich nicht hätte anders handeln können, besonders nachdem deine Lebensweise sich verschlechtert, dein Verhalten sich gewandelt hatte und du ein Anhänger des Schlechten und der Schande geworden warst. Ich habe dich schlagen lassen, damit du zur Vernunft kommst und das Geld bewahrst, was ich dich in den drei Koffern habe finden lassen. Mit diesem Geld solltest du meiner Schwester, die du geheiratet hast, ein sorgenfreies Leben einrichten können und dich unseres Bundes von Brot und Salz würdig erweisen. Ich habe das verheimlicht, damit ich dich nicht mit einem Geschenk belaste.« Da brach Said in Tränen aus, er umarmte seinen Freund und begann, ihn zu küssen. Er gelobte alles zu vergessen, bis auf eines – ihren Bund von Brot und Salz.
Ein Freund für das ganze Leben
Man erzählt sich, daß sich einst eine Frau und ihr Mann in einer Sache entzweiten und letzten Endes sogar in Streit und Zwietracht gerieten. Ihr, die Mutter von mehreren Kindern war, blieb nichts weiter übrig, als ihre Kleider in ein Bündel zu schnüren und in das Haus der Eltern zurückzugehen. Dort klagte sie dem Vater ihr Leid und tat ihren Wunsch nach Scheidung kund. Der Alte tadelte sie statt dessen und gab ihr den Rat, in ihr eigentliches Heim zurückzukehren. Die Tochter lehnte diesen Gedanken entschieden ab und beharrte darauf, im elterlichen Haus zu verbleiben. Dort verbrachte sie auch einige Tage. Eines schönen Tages trug ihr betagter Großvater einen irdenen Krug herbei. Er schlurfte in eine Ecke des Hofes, um sich der rituellen Waschung vor dem Gebet zu unterziehen. Die Tochter des Hauses fegte zur gleichen Zeit diesen Hof, wodurch der Alte ins Straucheln geriet, der Krug seinen Händen entglitt und auf dem Boden zerbrach. Das Mädchen holte rasch einen neuen Krug. Aber der Großvater war trotz ihrer Hilfsbereitschaft äußerst ungehalten. Er ließ sich auf dem Boden nieder und betrachtete den zerbrochenen Krug, über dessen Verlust er ganz traurig wurde. Das junge Weib wunderte sich über den Alten. »Habe ich dir denn keinen neuen Krug für den zerbrochenen gebracht?« sprach sie verständnislos auf den Großvater ein. Der musterte sie mit einem langen Blick und lächelte schließlich spöttisch. »Du siehst doch, wie schnell ich mich von diesem Plunder trenne und diesen durch einen anderen ersetze, nicht wahr?« sprach er. Danach ließ er seinen Blick in weite Fernen
schweifen und tat einen tiefen Seufzer. »Wenn du es doch nur verstehen könntest, meine Tochter. Der Krug war mir ein Freund fürs Leben. Ich leistete ihm und er mir Gesellschaft. Dabei sah er viele meiner Tage.« Da entschuldigte sich das Mädchen bei ihrem Großvater. Sie lief zu ihrem Kleiderbündel, warf es über die Schulter und kehrte zu ihrem Ehemann zurück.
Des Menschen Auge füllt nur Staub
Ein König hatte einst eine Tochter, der Allah Liebreiz, Anmut und Schönheit hatte zuteil werden lassen, und so liebte sie ihr Vater über alles. Auch alle Palastbewohner und das ganze Volk verehrten das edle Fräulein und brachten ihm große Zuneigung entgegen. Doch eines Tages suchte eine schwere Krankheit die Prinzessin heim, und von Stunde zu Stunde schwanden ihre Kräfte dahin. Matt und fahl lag sie in den Kissen ihres Bettes. Der Vater und alle im Palast litten mit dem Mädchen. Die Nachricht von der Krankheit der Königstochter ging von Mund zu Mund, und tiefe Trauer erfaßte das Reich bis in seine entferntesten Winkel. Der Vater rief die größten Gelehrten und berühmtesten Wundärzte an ihr Krankenbett, damit sie die Prinzessin retteten, bis Allah das Mädchen erhörte und ihr einen Weisen sandte, der es zu behandeln verstand, daß sie bald wieder völlig genas. Jubel erfaßte den Palast und Glück spiegelte sich in allen Gesichtern. Als der Doktor seine Gerätschaften zur Abreise zusammenschnürte, beliebte es den König, den Weisen mit einer Dankesgabe zu beehren. Doch der Fürst haderte mit sich, wie hoch wohl die Summe sein müßte, wenn jemand das Leben einer Prinzessin gerettet hatte. So entschloß er sich, den Arzt selbst unter seinen Reichtümern wählen zu lassen. Der König ließ den Gast rufen. »Verlange, was du willst, o Mann! Ich habe mir selbst gelobt, jeden deiner Wünsche als Dank zu erfüllen«, bot er dem Gelehrten an. Doch der lachte. »Dank sei dir, o Herrscher, für deinen Großmut. Ich begehre nichts, nur daß du mir diese kleine Dose füllst«, antwortete der Weise bescheiden. Bei seinen Worten hatte er aus seiner Tasche ein
Schächtelchen hervorgezogen, das in Form und Größe einem Hühnerei glich, und es dem König gereicht. Bei seinem Anblick mußte der König über die Bescheidenheit des Mannes lachen. Er nahm das Döschen und reichte es seinem Schatzmeister mit dem Befehl, es rasch zu füllen. Nachdem mehr Zeit, als zu erwarten gewesen wäre, verstrichen war, wurde der König über das Ausbleiben seines Schatzmeisters mißmutig und ließ ihn herbeirufen. Der trat mit einem Gesicht an seinen Gebieter heran, in dem Bestürzung und Verwunderung geschrieben standen. »O Majestät«, stammelte er sich herabbeugend, »es muß sich um eine Zauberdose handeln. Ich habe den gesamten königlichen Geldschatz hineingelegt und sie ist noch nicht voll. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Den König packte tiefes Erstaunen, ja Entsetzen, und auch ihm war anzusehen, daß er nicht ein noch aus wußte. »Machst du dich etwa über mich lustig«, ging der König gegen den Weisen los. »Du gibst mir eine Zauberdose, um das gesamte Gold des Königreiches zu nehmen? Wenn das keine Schande ist. Ist das der Dank für meinen Großmut und meine Freizügigkeit?« Der Weise lachte wieder. »Vergebung, o Gebieter. Ich schwöre dir, daß diese Dose keinerlei Zauberkraft besitzt. Ich werde sie auf der Stelle und vor deinen Augen bis zum Rand füllen.« Der Weise eilte in den Garten des Palastes, um dort eine Handvoll Erde aufzunehmen, mit der er wieder in den Thronsaal trat. Er rief den Schatzmeister und verlangte, daß er die Dose herbeischaffe. Kaum war das geschehen, als der Weise das kleine Gefäß nahm und ein paar Staubkörner hineinstreute. Auf diese Schicht legte er ein paar Goldstücke und siehe da, die Dose war im Nu randvoll. Das Erstaunen von König und Wesir wurde immer größer, und der Schatzmeister war im Begriff, den Verstand zu verlieren. Der König verlangte nach einer Erklärung. »O Gebieter, diese Dose
ist ein menschliches Auge, das für seine Gier und Habsucht bekannt ist. Es zu füllen und für immer zu schließen, vermag nur der Staub der Erde. Du hast mich wählen lassen, daß ich mir nähme, wonach mir der Sinn stand. Aber ich bin nur wie jeder andere einfache Mensch aus deinem Volk. Was hätte ich begehren, worauf meine Wahl fallen lassen sollen, wenn ich doch mit einem Auge wie diesem hier sehe. Gier ist durch nichts zu sättigen. Deshalb überlasse ich es dir, o Gebieter, selbst Großherzigkeit gegenüber einem Manne wie mir zu üben. Ich bin guten Mutes, daß die Gabe, die du zu geben beliebst, mich zufriedenstellen wird.« Der König ließ sich die Klugheit dieses Mannes, dessen wohldurchdachte Ansicht und die Treffsicherheit seines Ratschlags gründlich durch den Kopf gehen, wobei seine Ehrfurcht und Bewunderung für diesen Weisen nur noch wuchsen. Dann wies der König ihm ein großes Geldgeschenk und einen hohen Rang unter seinen Ratgebern und Gefolgsleuten zu, wobei dem Weisen Rechtsprechung und Politik des Königs oblagen. Der Mann wurde in einem erfüllten Leben zu den treuesten Anhängern des Königs.
Es Untertanen recht zu tun, kann nur Gott selber tun
Es lebte einmal ein König mit seinem Sohn. Als dieser den Kinderschuhen entwachsen und zu einem stattlichen Jüngling geworden war, trug der König der Königin und den Frauen der Wesire auf, sich für den Thronfolger nach einer schönen, klugen und wohlerzogenen Braut umzusehen. Sie sollte die Tochter eines Königs sein und künftig selbst als Königin an der Seite ihres Gemahls stehen. Im Palast begann man sich inzwischen mit großem Pomp auf das Hochzeitsfest des Fürstensohnes vorzubereiten. Die Schneider nähten von früh bis spät Röcke und Kleider, die Raumausstatter schmückten und putzten die Säle für die Feier. Der König trug seinem Ersten Wesir auf, für das Festmahl die schönsten Gewänder, besten Speisen und süßesten Naschereien aufzutreiben, denn schließlich sei der Bräutigam ein Königssohn. Alle Leute sollten an diesem Tag froh und zufrieden sein und die Vermählung des Prinzen ein Leben lang im Gedächtnis behalten. Dann kam dem König aber noch etwas in den Sinn. »Wesir, hast du schon kandierte Mandeln bringen lassen?« fragte er, und als dieser verneinte, verlangte er eine stattliche Menge von diesem Zuckerwerk. »Ich möchte, daß du die Mandeln in kleine Tüten abpacken und in jede Tüte eine Goldlira legen läßt, damit alle Leute zur Hochzeit meines Sohnes einen glücklichen Tag haben«, forderte der König. Doch da lachte der Wesir. »O größter König aller Zeiten, Freude und Frohsinn, Essen und Trinken sowie aller Schmuck und Putz sind bereits vom feinsten. Eine Goldlira hätte nunmehr kaum noch einen Sinn und wäre allerhöchstens ein
Verlust«, erwiderte der Minister. Die Widerrede machte den König zornig. »Ich will aber, daß die Menschen zufrieden sind«, beharrte er. Doch der Wesir widersprach abermals. »Deine Weisheit über mich, o größter König aller Zeiten, es aber Untertanen recht zu tun, kann nur Gott selber tun«, belehrte der Wesir. Der König, der dieses Sprichwort nicht kannte, war verwundert. »Als König sollte ich nicht die Leute froh und glücklich machen können? Wer denn kann sie zufrieden stimmen? Stecke eine Goldlira zwischen die Mandeln, und wir werden ja sehen, wie sehr das Volk sich freuen wird!« befahl der Herrscher. Der Wesir erhob sich kopfschüttelnd, um auszuführen, was er nicht hatte verhindern können. Einige Tage darauf war die Hochzeit. Die Menschen strömten in den prächtig geschmückten und festlich beleuchteten Palast, aus dem mitreißende Musik erscholl. Die Diener waren ganz damit beschäftigt, Speisen und Getränke den geladenen Gästen zu servieren. Der König stand inmitten des ausgelassenen Treibens, und Freude spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Das Fest war wie ein Zauber, ein Traum, als ob magische Geister Hochzeit hielten. Der König überreichte eigenhändig jedem Gast eine Tüte mit kandierten Mandeln. Er lächelte dabei verschmitzt, weil er ja wußte, was in jeder Tüte versteckt war. Aufmerksam beobachtete der Fürst, was seine Überraschung wohl auslösen möge. Noch bevor die Hochzeit zu Ende war, verließen die ersten Leute bereits wieder den Palast, als der Erste Wesir an der Seite des Königs auftauchte. »Folge mir, o größter König aller Zeiten, sieh und höre selbst von einem kleinen Palastfenster zur Straße, was die Leute sagen«, forderte er ihn auf. Kaum hatten sie sich an dem Mauerloch postiert, als auch schon Besucher vorüberkamen. »Eine Goldlira, Onkelchen König, Sohn eines Königs. Ihn muß der Übermut gepackt haben, daß er das Gold zwischen die
Mandeln gelegt hat«, sagte einer. »Ich verstehe den König, er wollte großzügig sein, aber dann hätte er eine größere Goldmünze statt dieser hineinlegen sollen. Wie ist er doch geizig«, mäkelte ein zweiter. »Ach herrje, seht nur, eine Goldlira ist in der Tüte. Und das will ein Königssohn sein? Dann hätte er aber zwei Münzen hineinlegen müssen«, schrie ein dritter. Da platzte auch dem König der Kragen. »Zum Donnerwetter noch einmal«, rief er da aus seinem Versteck, »ich habe in jede Tüte eine Goldlira legen lassen, damit ihr da draußen zufrieden seid, aber es gefällt euch anscheinend nicht. Dann hat der Wesir also doch recht gehabt: ›Es Untertanen recht zu tun, kann nur Gott selber tun.‹ Des Menschen Verstand ist nur durch dessen Herrgott zufrieden zu stimmen.«
Ein Märchen vom Schicksal
Es war einmal, es war keinmal in alter, grauer Zeit, hätte aber sein können. Es waren einmal zwei Gefährten, die gehörten zu den Ärmsten unter den Leuten. Auf der Suche nach Arbeit und einem Auskommen zogen sie gemeinsam einen Weg entlang, und wie sie so gingen, dachten sie über die ärmlichen Verhältnisse nach, die ihnen eine so schwere Last waren. »Im heiligen Koran steht aber doch: ›Geht auf dem Rücken der Erde umher und eßt von dem, was Allah euch beschert hat‹«, zitierte einer der beiden, als sie zu ermüden begannen. »Wir werden uns also mühen, vielleicht läßt uns Allah unser täglich Brot verdienen.« Der zweite war anderer Meinung. »Ich bin der Suche überdrüssig, o Freund. Ich habe keine Arbeit gefunden. Hat nicht Allah auch verhießen: ›Gott beschert Unterhalt, wem er will, ohne abzurechnen.‹« Sie stritten und disputierten über ihre Ansichten eine Zeitlang, bis ihr Streit so heftig wurde, daß sie sich bald beschimpften und schmähten. Und nicht genug damit, sie verstiegen sich so weit in ihrem Streit, daß sie sogar mit den Fäusten aufeinander losgingen. Die Gendarmen kamen herbei, trennten sie und schleppten beide ins Gefängnis, während ein jeder unbeirrbar auf seiner Meinung beharrte. Jener, der der Ansicht war, daß Allah, wem er wolle, einen Lebensunterhalt beschere, streckte sich in einer Ecke der Zelle aus und gab sich ganz dem Faulsein und der Trägheit hin. Er blieb völlig teilnahmslos sitzen und kümmerte sich nicht darum, was um ihn vor sich ging. Der andere hingegen lief in der Zelle umher und machte sich mit den anderen Insassen bekannt. Er stellte sich vorn an die Gitterstäbe und plauderte
mit jedermann, wobei er versuchte, etwas zum Leben zu erhaschen. Gelang ihm das, teilte er den Lohn mit seinem Gefährten, den er dabei zur Arbeit ermunterte. »Hast du nun gesehen?« sprach er den Faulen an. »Wären nicht Mühen und Arbeit, wären wir schon vor Hunger gestorben.« Der Gefährte blieb stumm. Wie es ein seltsamer Zufall wollte, hatte eine Frau in der Stadt für ihren kranken Sohn ein heiliges Gelübde abgelegt. Für den Fall seiner Genesung wollte sie einem Gefangenen eine mit Reis, Pinienkernen und Fleisch gefüllte Henne bringen, in der sich auch einige Goldlira finden sollten. Ihr Sohn war genesen, und gerade zu der Zeit, als die beiden Streithähne im Gefängnis saßen, erfüllte die Mutter ihr Gelübde und brachte ein Huhn in den Kerker der Zitadelle. Wieder wollte es der Zufall, daß am Gitter gerade jener stand, der auf Mühen und Arbeit schwor, dem die Frau das gefüllte Geflügel überreichte. Der nahm es und gab es seinem Gefährten, der drauf und dran war, vor Hunger zu sterben. Er erhob sich, um zu essen, und zerlegte das Huhn. Doch dann sah er die vielen Goldlira, die aus dessen Inneren quollen, sammelte sie auf und verbarg sie. Als er seinen Teil der Mahlzeit verzehrt hatte, rief er seinen Freund zum Essen. Danach stellte er die Börse mit den gefundenen Lirastücken vor seinen Leidensbruder hin. »Nun, habe ich dir nicht gesagt: Allah beschert Unterhalt, wem er will, ohne Ansehen der Person?« Der andere war verblüfft und überrascht. »Woher hast du das?« wollte er wissen, und der Gefährte erzählte von seinem Fund in dem Huhn, worauf sie sich aussöhnten. Den Gendarmen versicherten sie, daß sie ihren Streit geschlichtet hätten. Sie verließen das Gefängnis, nachdem sie ihren Fund redlich geteilt hatten, und waren überaus froh. An diesem Punkte in der Mär verließ ich sie und kam hierher.
Gutes und Böses kommen von Allah
Es war einmal, es war keinmal in alter, grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Wer gesündigt hat, der spricht: »Allah vergib!«, das ist Pflicht. Erzählen wir uns nun eine Geschicht’ oder schlafen wir besser dieweil oder beten wir für des Propheten Heil, dessen Glanz erhellt wie der Vollmond die Welt? So soll es denn sein. Es lebten einst zwei Männer, die miteinander die Frage disputierten und gar stritten, ob, wie der eine behauptete, das Gute von Allah und das Böse aus den Menschen selbst käme oder ob es nach Meinung des anderen sich so verhielt, daß sowohl das Gute als auch das Böse von Allah seien. Als sie sich nach heftigem Streit in die Haare gerieten und übel beschimpften, kam unvermittelt ein alter Scheich vorüber, den die beiden zum Richter ihrer Sache baten. »Worum handelt es sich?« wollte der Weise wissen, worauf jene Männer ihm ihren Streit darlegten. Als sich der Alte zu entscheiden anschickte, kam urplötzlich ein großer Vogel geflogen, der den Scheich am Gürtel packte und mit ihm von dannen zog. Der Vogel trug den Alten auf das Dach eines wunderbaren und großartigen Palastes, der sich inmitten einer Insel erhob, und ließ ihn dort zurück. Der Weise sah sich vorsichtig um und stieß auf eine Treppe, die er hinabstieg. An ihrem Fuße betrat er die Gemächer des Palastes und fand einen sehr schönen Jüngling auf einem goldenen Bett.
»Was tust du hier, Jüngling?« fragte ihn der Scheich verwundert. »Mir ist gar Seltsames widerfahren«, hob jener seine Erzählung an. »Ich bin Halbwaise, und mein Vater hatte nur mich. So bat er Sterndeuter um ein Horoskop, die ihn wissen ließen: ›Dein Sohn wird am Stich eines Skorpions sterben.‹ Daraufhin flüchtete er mit mir hierher, wo es weder Skorpione noch sonst etwas gibt. Ich selbst kenne Skorpione überhaupt nicht. Ist dir dieses Tier bekannt?« »Ja«, antwortete der Scheich. »Könnt ihr es mir zeichnen?« »Wohin soll ich es zeichnen?« »Auf meinen Unterarm«, schlug der Jüngling vor, und der Scheich malte auf des Jünglings Arm einen Skorpion, dessen Abbild durch göttliche Allmacht zum Leben erweckt wurde. Aber das giftige Spinnentier stach im selben Augenblick den Jüngling, der auf der Stelle tot dahinsank. Dem Scheich schwanden die Sinne. In seiner Not floh er auf das Dach des Palastes, wo im gleichen Moment wieder der Riesenvogel heranschwebte, ihn in die Lüfte hob und zu der Stelle zurückflog, von wo er den Scheich entführt hatte. Dort warteten noch immer die beiden zerstrittenen Männer, die froh über die heile Rückkehr des Alten waren, denn sie brauchten noch immer seinen Richterspruch. »Das Gute kommt von Allah wie auch das Böse Allahs Werk ist«, entschied der Weise und berichtete ihnen, was ihm an höchst Wunderbarem widerfahren war. Die Männer gaben sich mit dieser Antwort zufrieden und söhnten sich aus.
An dieser Stelle in der Mär verließ ich sie und kam hierher.
Nicht grün, nicht dürr
Allahs Prophet Salomo – Heil über ihn – war von seinem Herrn mit der Gabe ausgestattet worden, die Sprache der Vögel und Tiere verstehen zu können, wodurch er sich mit ihnen zu unterhalten vermochte, und er sie wie sie ihn verstehen lernten. Eines Tages versammelte er alle Vögel und verhieß ihnen: »Ich möchte euch einen König bestimmen. Der erste Vogel, der morgen früh zu mir in den Palast kommt, soll der König der Vögel sein.« König Salomo war sich bei seiner Verkündung sicher, daß der Adler die Königsehre der Vögel erringen würde, denn der Adler war der schnellste und stärkste unter den Tieren in der Luft. Doch ein kleiner Sperling verbarg sich im Türstock des Palastes. Als Salomo am Morgen die Augen aufschlug, sprang der kleine gefiederte Geselle vor den König hin. »Ich bin der erste, der gekommen ist. Nun mußt du mich auf den Königsthron der Vögel heben«, tschilpte er keck. Salomo lächelte. »Aber da ist noch eine zweite Bedingung. Wenn du sie erfüllen kannst, dann erst bist du König«, lenkte der Prophet ein. Der Vogel wollte sofort wissen, worin diese zweite Aufgabe bestand. »Bringe mir einen Zweig, nicht grün, aber auch nicht dürr, nicht lang, aber auch nicht kurz, nicht krumm, aber auch nicht gerade. Bringst du ihn mir, setze ich dich als König der Vögel ein.« Nun trat der Adler zu Salomo herein, den dieser auf der Stelle zum König über alle Vögel erhob. Der Sperling sucht seit jenem Tag bis heute einen Zweig von der Art wie ihn König Salomo verlangte: nicht grün, aber auch nicht dürr, nicht lang, aber auch nicht kurz, nicht krumm, aber auch nicht gerade.
Die glückliche Frau
Es lebte einst in alter Zeit ein Beduinenstamm in der Wüste. Der Stammesführer hatte eine sehr schöne Tochter namens Zina. »Möchtest du denn nicht bald heiraten?« fragte sie eines Tages ihr Vater. »Wie glaubst du denn, sollte dein Bräutigam sein, Zina?« wollte er weiter wissen, nachdem sie ihre Einwilligung gegeben hatte. »Ich möchte einen Mann, der arm und reich zugleich ist.« Der Vater war verwundert über dieses Ansinnen. »Wie kannst du einen armen und reichen Mann wollen?« erregte er sich, weil er nichts verstand. »Das ist meine Bedingung«, beharrte sie. »Wird ein Mann gefunden, der sowohl arm wie reich ist, wird Hochzeit gehalten.« Der Vater gab dem Stamm den Wunsch seiner Tochter bekannt, und der wunderte sich ebenfalls nicht schlecht. Alsdann gaben sich die Freier bei Zina ein Stelldichein. Zuerst kam ein reicher Mann mit Dienern, die allerlei Schmuck und Edelsteine herbeitrugen. »Ich bin ein reicher Mann«, sprach er zu Zina. »Aber du bist nicht zugleich auch arm«, hielt sie ihm entgegen. »Ja, aber ich würde arm, wenn ich dir alles Geld gäbe, was ich besitze.« »Dieser Mann ist nicht so, wie ich ihn will«, verkündete sie schließlich ihre Ablehnung. Ein Reicher trat nun heran, der eine ganze Karawane, beladen mit Geld, mit sich führte. »Ich bin reich durch diese Karawane«, sprach er. »Aber auch du bist nicht zur gleichen Zeit arm«, bemerkte Zina. »O doch. Denn wenn mich Räuber überfielen und mir mein Geld raubten, wäre ich mit einem Male bettelarm.«
»Du bist nicht der Mann, nach dem es mich verlangt«, entschied Zina. Wieder kam ein reicher Mann mit seinem Geld. »Ich bin ein reicher und ein armer Mann«, erklärte er Zina. »Wie das?« »Verteilte ich mein ganzes Geld unter die Armen, würde ich arm.« »Auch du bist nicht der, den ich zum Manne will«, wies ihn Zina ab. Ein Mann mit seinen Kriegern war der vierte Bewerber. »Ich bin ein armer und reicher Mann«, verkündete er. »Noch bin ich ohne Besitz, aber mit meinen Soldaten vermag ich, jede Karawane zu überfallen und ihr Geld zu rauben.« »Auch du bist nicht der rechte«, entschied Zina und wies ihn ab. Zu guter Letzt kam ein Mann, dem die Armut schon im Gesicht geschrieben stand. »Ich bin der Mann, den du begehrst«, eröffnete er ihr. »Jetzt bin ich arm. Aber mit Hilfe dieser Nadel vermag ich die schönsten Kleider zu nähen, und mit diesem Hammer zimmere ich einen einladenden Tisch. Und es sind Emire, die von mir Kleider und Tische zu erwerben wünschen.« »Du bist ein Mann, wie er mir gefällt«, entschied Zina. Und der Jüngling wurde mit ihr vermählt, und sie lebten ein glückliches Leben.
Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Gottesfurcht in den Augen
Es war einmal eine Frau mit ihrem Kind. Weil sie nicht wollte, daß ihr Sohn ein Dieb wie sein verstorbener Vater würde, gab sie den Jungen zu einem Geistlichen in die Lehre. Der fromme Mann war bereit, ihren Sohn zu unterrichten, bis er groß und ein stattlicher Bursche geworden sei. »Mein Sohn, möchtest du nicht einen Beruf erlernen?« fragte ihn eines Tages sein Lehrer. »Was sollte ich denn arbeiten?« »Ergreife am besten das Handwerk deines Vaters«, empfahl der Alte. »Welchen Beruf hatte denn mein Vater?« »Das weiß ich auch nicht. Geh und frage deine Mutter.« Der Junge lief zu seiner Mutter und fragte nach dem Beruf seines Vaters. »Ich weiß nicht recht«, wich die Mutter aus; aber weil das Kind keine Ruhe gab, gestand sie schließlich ein: »Er war ein Dieb.« »Welche Werkzeuge benutzte er?« wollte er wissen, worauf ihm die Mutter dessen Schlüsselbund gab. Der Bursche nahm die Schlüssel und ging in der Nacht. An einem fremden Haus brach er die Tür auf und drang in eine Kammer ein. Dort fand er einen feinen Teppich und wie er noch darüber nachsann, was er mit diesem Fund wohl anfänge, ging ihm sein Lehrmeister nicht aus dem Sinn, der ihm stets geraten hatte: ›Lege Gottesfurcht in deine Augen!‹ »Nähme ich diesen Teppich«, sprach er zu sich, »würden mir die Hausbewohner nie vergeben. Denn käme zu ihnen ein Gast, müßten sie vor Scham in den Boden versinken, weil sie nichts
besäßen, worauf der Gast hätte Platz nehmen können.« Da ließ er von dem Teppich ab und betrat einen anderen Raum. Dort schloß er eine Schublade auf, in der er funkelnde Juwelen fand. »Nähme ich diesen Schmuck, vergäbe es der Hausherr seinem Weibe nie, denn sie wäre für ihn die Ursache des Verlusts der wertvollen Kleinodien«, grübelte er erneut. In diesem Augenblick erscholl der Morgenruf des Muezzins, der hoch von der Moschee zum ersten Gebet rief. »Ein Gebet ist mehr wert als alles Geld«, sagte er vernehmlich und schritt in die Diele des Hauses, um seine Bewohner zum Gebet zu rufen. Das hörte die Frau und die stieß ihren Gemahl in die Seite. »Mann, so höre doch! Wer um alles in der Welt ruft in unserem Haus zum Gebet?« Der Mann erhob sich und schaute vorsichtig nach, wobei er den Jüngling beim Gebet fand. Unverzüglich unterzog er sich der rituellen Waschung und schloß sich der Andacht des Burschen an. »Was machst du hier, mein Söhnchen?« erkundigte sich der Hausherr, als sie das Gebet beendet hatten. »Ich bin ein Dieb«, gestand der Junge. »Ich wollte den Teppich stehlen, aber sagte mir: vielleicht besucht euch ein Gast und ihr habt nichts, worauf er sich setzen kann. Dann fand ich in der Kammer die Juwelen. Wieder sagte ich mir: nähme ich sie, verziehe mir deine Gattin nie. Wie ich aber den Muezzin rufen hörte, kam ich hierher, um meiner Glaubenspflicht nachzukommen.« Der Mann schaute mit Wohlwollen auf den gottesfürchtigen Jüngling. »Ich werde dich mit meiner Tochter vermählen und dir mein ganzes Geld vermachen.« Und so gab er dem Jungen die Tochter und sein ganzes Geld.
Wahre Freunde
Es lebte dereinst in fernen Zeiten ein Vater, der hatte einen Sohn namens Hassan. Er liebte sein Kind über die Maßen und strebte nach dessen Nutz und Frommen. Nun aber hatte Hassan viele Freunde, die sich dem Laster ergeben hatten. Bei jeder Gelegenheit beklagte der Vater den schlechten Umgang, den sein Sohn mit seinen Gefährten pflegte. Doch bei Hassan traf jeder Ratschlag und jedes gute Wort des Vaters auf taube Ohren. »Ein Dieb ist diese Nacht in unser Haus eingestiegen. Er erhob seinen Dolch gegen mich, um mich zu morden. Ich konnte ihm zuvorkommen und tötete ihn. Nun weiß ich nicht, was ich tun und was ich den Gendarmen sagen soll. Bis die Wahrheit ans Licht kommt, sind meine Knochen im Kerker bereits zu Staub zerfallen. Was soll ich nur tun?« drang der Vater eines Tages voller Sorge auf seinen Sohn ein. »Wir sollten den Dieb auf den Friedhof bringen«, schlug Hassan vor. »Das schaffen wir nicht allein. Wer nur könnte uns helfen? Bitte deine Freunde um Beistand«, schlug der Vater vor. Bevor Hassan zu seinen Freunden lief, zögerte er einen Augenblick. Doch der Vater redete ihm zu. »Geh und mache dir keine Sorgen! Wenn diese Sache einen Nutzen hat, dann für deine Lebenserfahrung.« Hassan verstand nicht. »Du wirst es verstehen, wenn du wieder zurück bist«, beruhigte ihn der Vater. Hassan mußte erleben, daß, jedesmal wenn er an die Tür eines Freundes klopfte, dieser eine Einladung zu einem Festmahl, einem Spiel oder Scherz vorschob. Sobald sie Hassans Erzählung vernommen hatten, entschuldigten sie sich
mit Krankheit oder ähnlichem. Wütend kehrte der Jüngling heim, wobei er dumpf vor sich hin schimpfte. Bedrückt betrat Hassan das väterliche Haus. Das Blut stockte ihm vor Enttäuschung fast in den Adern. Inzwischen hatte der Vater einen Hammel geschlachtet, ihn mit allerlei Mandeln, Pistazien und Pinienkernen gebraten und ein vorzügliches Festmahl angerichtet. Nur eine kurze Weile nachdem Hassan das Haus betreten hatte, wurde derb angeklopft und das Tor gewaltsam geöffnet. Die Häscher der Stadt drangen in Begleitung der Freunde Hasans ein, die ihn angezeigt hatten. Das große Unglück sollte seinen Lauf nehmen. Hassan unternahm alle Anstrengungen, die Gendarmen davon zu überzeugen, daß sich im Haus nichts befinde. Seine Freunde dagegen bestanden auf ihren Vorwürfen, um sich selbst aus lästigen Verstrickungen zu retten. Der Vater lächelte und enthüllte der versammelten Gesellschaft den wahren Grund für seine erfundene Geschichte. Dann öffnete er die Tür zur Halle und lud die Anwesenden zum Festmahl. »Und die dort sollen deine Freunde sein?« fragte der Vater vorwurfsvoll seinen Sohn. »Was mich anbelangt, so habe ich anderthalb Freunde«, eröffnete der Vater am anderen Morgen seinem Sohn. »Wie ist das möglich?« wollte Hassan wissen, als sein Vater ihn zum Mitkommen aufforderte, damit er mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören könne. Als es Nacht geworden war, klopfte der Vater an die Tür des halben Freundes. Als jener aus dem Fenster schaute, erzählte er ihm die gleiche Geschichte vom Vorabend. »Ich werde dir helfen. Was verlangst du von mir? Ich bin zur Stelle«, antwortete jener ohne ein Zögern. Dann lief der Vater mit Hassan zum Haus des ganzen Freundes, mit dem er sein Leben lang befreundet war. Er klopfte nach Mitternacht an dessen Tor, doch schon einen
Augenblick später kam der Freund auf seinem Pferd herausgesprengt. In der einen Hand hielt er einen Beutel Gold. Hinter ihm war dessen Sohn aufgesessen, der sich ein Schwert umgeschnallt hatte. Der Freund sprach, bevor er noch wußte, was den Vater zu so später Stunde bewogen hatte, zu ihm zu kommen: »Brauchst du Geld, so helfe ich dir, hier ist ein Sack Gold, den geben wir dir. Brauchst du ein edles, schnelles Pferd? Nimm das meine, das ist es mir wert. Brauchst du Männer und eine helfende Hand? Ich und mein Sohn sind zu Diensten, wie bekannt. Brauchst du gar Waffen? Mein Dolch und sein Schwert könnten es schaffen.« Da wandte sich der Vater im Angesicht seines Freundes wieder Hassan zu. »Hast du nun gesehen, mein Söhnchen? Ein Kamerad steht seinem Freunde immer bei. Wähle deine Gefährten besser!« Hassan gab seinem Vater recht und kehrte seinen Kumpanen den Rücken und begann, nach wahren Kameraden zu suchen.
Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Die Glückseligkeit des Armen
Es wird erzählt, daß einst ein Reicher in der Nachbarschaft eines armen Schuhflickers, seiner Frau und deren Kindern lebte. Dieser arme Schlucker schuftete den ganzen Tag, bis er genug für das tägliche Mahl verdient hatte. Wenn er abends heimkehrte, kaufte er unterwegs vom Tageslohn Lebensmittel, die die Seinen ernährten. Hatten sie sich gesättigt, nahm die Familie des Schuhflickers in einer Runde Platz und sang unbeschwert ihre Lieder, in denen sie Allah dafür dankten, daß er ihnen ihr täglich Brot bescherte. Der Reiche hingegen war Tag und Nacht nur mit seinem Geld beschäftigt und mit dessen Erhalt befaßt. Er hätte gar nicht froh sein und singen können, wie es seine armen Nachbarn taten. Am Ende verdroß es den Reichen sehr, daß er jeden Tag von Singen und Frohsinn getragene Stimmen hören mußte, die aus dem Nachbarhaus zu ihm drangen. So war er entschlossen, diesem Ärgernis ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. An einem Morgen trug der Reiche einen Beutel mit einhundert Dinaren zu seinem armen Nachbarn und klopfte an die Tür. »Ich bitte dich, bei dir diese einhundert Dinare zu hinterlegen, damit du sie bewahrst, bester Nachbar.« Der Arme nahm die Summe an sich und dankte dem Reichen für sein großes Vertrauen. Dann trug er den Geldbeutel zu seinem Weib, damit sie ihn verwahre. Zu dem Reichen drang von Stund an kein Laut mehr von seinen armen Nachbarn herüber. Stets war der Arme damit befaßt, das Geld zu zählen und Tag für Tag nach ihm zu sehen, weil er fürchtete, von dem anvertrauten Gut könnte etwas verlustig gehen.
Nachdem ein Monat verstrichen war, fühlte der Flickschuster, daß ihm die Verwahrung des Geldes das Leben vergällte, weil sie sein Glück, seinen Frohsinn und seine Unbeschwertheit bedrückte. So nahm er den Geldsack und trug ihn zu dem Reichen zurück. »Nimm dein Gut und gib mir dafür meine Glückseligkeit zurück! Armut in Frieden ist besser als Reichtum mit all seinen Mühen.« Seit jenem Tag hielten bei dem armen Schuhflicker wieder Fröhlichkeit und Frohmut Einzug und die Familie sang wieder.
Das Ei
Es war einmal, es war keinmal. Es wird erzählt, daß in alter Zeit ein Kind ein Ei stahl und es seiner Mutter brachte. Sie war froh darüber, obwohl sie um die Herkunft des Eis wußte. So lehrte den Sohn ihr Schweigen das Stehlen. Die Mutter verbot dem Knaben zu keiner Zeit weder sein frevlerisches Tun noch brachte sie ihn von dem unrechten Gut ab. Bald wuchs das Kind zum Jüngling heran, vor dem selbst die Schatzkammer des Königs nicht verschont blieb. Aber, wie das Sprichwort schon sagt: ›Der Krug geht nur so lange zu Brunnen, bis er bricht.‹ Der Bursche wurde ergriffen und in den Kerker geworfen. Der Kadi verurteilte ihn, daß ihm der Kopf abgeschlagen werden sollte. Als der Jüngling dann vor dem Henker stand, fragte ihn der Scharfrichter. »Du hast einen letzten Wunsch. Möchtest du, daß er in Erfüllung geht, bevor du stirbst?« »Ich möchte noch einmal meine Mutter sehen und sie küssen«, bat jener und seinem Verlangen wurde stattgegeben. Als der Bursche anhob, seine Mutter ein letztes Mal zu küssen, biß er ihr so fest auf die Zunge, daß er sie fast abgetrennt hätte. Man wollte wissen, warum er das wohl getan habe. »Hätte mir diese Zunge das Stehlen schon beim ersten Mal verboten und mir richtigen Rat erteilt, so wäre ich nimmer unter das Schwert des Henkers geraten.«
Der Arme und der Wesir
Es lebte einmal ein völlig verarmter Mann, der zu allem Elend auch noch viele Kinder zu ernähren hatte. So schuftete er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang als Lastenträger. Mit einem Esel beförderte er die Sachen der Leute um ein paar Dirham, von denen er Brot und eine Zukost für seine Kinder kaufte. Aber an vielen Tagen verdiente er gerade soviel, daß es nur für die Gerste des Esels reichte, und er mit leeren Händen nach Hause kam. Dann mußte die Familie die Nacht mit knurrenden Mägen verbringen. Eines Tages aber ließ Allah dem Mann einen überaus großen Tagesverdienst zukommen. Der Vater kaufte alle möglichen Speisen für seine Familie und füllte auch den Futtersack des Esels reichlich. Auf dem Heimweg überkam ihn die Notdurft. Auf der Suche nach einem stillen Örtchen trat er beiseite und ließ den Esel am Wegesrand stehen. Als er zurückkam, war der Graukopf verschwunden. Er blickte sich suchend um, konnte aber nirgends eine Spur von ihm finden. Nun lief er durch die Gassen und Viertel, bis ihm die Füße geschwollen waren. Überall fragte er die Leute und rief nach seinem Esel, aber alles ohne Erfolg. In dieser Lage richtete er einen argwöhnischen Blick gen Himmel. »O Allah«, schrie er dann im Zorn, »tagtäglich hatte ich bisher nur ein geringes Einkommen, heute jedoch erhielt ich einen guten Verdienst, und ausgerechnet da geht mir der Esel verloren.« Darauf ging er grollend zum König, um sich bei ihm über Allah zu beschweren. Doch am Tor des Palastes verweigerte ihm die Wache den Zutritt, daß er zu rufen und zu schreien anfing, bis
der König aufmerksam wurde und seinen Soldaten befahl, den armen Kerl vorzulassen. Der Zorn war dem Mann ins Gesicht geschrieben, aber als er eine Beschwerde gegen Allah vorbringen wollte, wurde der König doch von einem langen Lachen geschüttelt. Er beschwichtigte den Mann und hörte sich dessen Geschichte an. Im Anschluß befahl er, dem Armen ein reiches Geschenk zu geben. Der verließ froh und versöhnt den Palast. Während dieser Audienz saß neben dem König sein Wesir, der alles mit angehört und angesehen hatte. Bei dem Gedanken an die große Gabe für den Alten schauderte es ihn innerlich. Er neigte sich zum König, um ihn gegen jenen Glückspilz aufzuhetzen, indem er ihm einredete, der Träger sei ein Betrüger, der seine Geschichte nur erfunden habe, um sich Geld zu erschwindeln. Dann forderte er den König auf, nach ihm zu schicken, denn er hätte noch eine Frage, mit der er den Mann zu prüfen gedenke, damit sein Betrug offenbar werde. Der König sandte seine Soldaten dem Armen hinterher, die ihn zurückbrachten. Erschrocken trat der Mann erneut vor dem König. »Der Wesir hat noch eine Frage an dich«, klärte ihn der König auf. »Weißt du die Antwort, erhältst du ein zweites Geschenk, weißt du sie aber nicht, schlägt man dir den Kopf ab.« Der Mann grämte sich zuerst, doch dann fügte er sich in sein Schicksal und war bereit, die Frage zu hören. Der Wesir stellte seine Frage. »Wo ist der Anfang und wo das Ende der Welt?« »Sie beginnt und endet zu Füßen des Königs«, antwortete der Mann im gleichen Atemzug. Der König war mit dieser Antwort zufrieden und schaute zu seinem Wesir. Als jener betreten schwieg, ließ der Herrscher ein zweites Geschenk für den Armen kommen. Der Wesir barst schier vor Wut und ließ keine Minute verstreichen, um dem König zu versichern, daß jener trotz allem ein Betrüger sei. Er solle noch einmal vor
Seiner Majestät erscheinen, denn er habe eine weitere Frage an diesen Kerl. Der König schickte abermals seine Soldaten dem armen Mann hinterher, die ihn auch bald vor den Thron führten. Nun erst begriff der Mann, daß es eigentlich der Wesir war, der gegen ihn eine Intrige spann, und den König gegen ihn aufgehetzt hatte. Als der Herrscher ihm die Bedingung nannte, entweder er wisse die Antwort oder er werde seinen Kopf verlieren, erklärte der Mann sich bereit, denn er hatte keine andere Wahl. »Nach welcher Seite schaut Gottes Gesicht?« fragte der hinterlistige Wesir. Der arme Teufel zauderte einen Moment. Dann bat er den König, eine Kerze bringen zu lassen. Diese entzündete er vor dem König. »Wo hat diese Kerze ihr Gesicht?« fragte der Mann ihn. »Auf allen Seiten«, erwiderte der König. Da wandte sich der Arme an den Wesir: »Und genauso verhält es sich auch mit dem Antlitz Allahs. Es weist in alle Richtungen.« Dem König gefiel auch diese Antwort auf das vorzüglichste und er beschenkte den Armen abermals reichlich. Der Wesir ärgerte sich maßlos und kochte vor Groll. Er war entschlossen, die Sache um jeden Preis zu seinen Gunsten zu entscheiden, und wandte sich erneut dem König mit der Bitte zu, den Armen wieder vorzuführen, denn er habe eine letzte Frage. Der König erfüllte auch diese Forderung seines Ministers. Als man den Armen dieses Mal vor den König brachte, war ihm klar, daß er nunmehr eine Prüfung zu durchstehen hatte, in der er möglicherweise sein Leben lassen mußte. Aber er beherrschte sich und war entschlossen, die Herausforderung des Wesirs anzunehmen. Dann wiederholte der König die Bedingung. Nun sah der Wesir seine Stunde gekommen. »Was ist Allahs Werk?« lautete seine Frage. Der Arme lächelte. Er wandte sich an den König und bat, ihm die Gnade seines Schutzes zu
erweisen. Nachdem der Herrscher dies gewährt hatte, verlangte der Mann vom König, daß er dem Wesir befehle, sämtliche Kleider abzulegen, was der König umgehend befahl. Der Minister war verblüfft und verwirrt. Er versuchte, sich dieser Weisung zu entziehen, aber der König blieb hart, und so mußte er sich schließlich fügen. Als dies geschehen war, entledigte sich auch der Arme seiner Kleider und legte sie vor den Wesir. Der Mann bat den König, nun den Wesir anzuweisen, daß er des Armen Kleider überziehen solle. Der Minister zierte sich zuerst, dann lächelte er gekünstelt und tat, als handele es sich um einen Scherz. Der König blickte ihn warnend an, daß sich der Wesir zu gehorchen genötigt sah, und zog sich widerstrebend die Kleider des Armen über. In diesem Augenblick schlüpfte der Mann in die Kleider des Wesirs und verlangte vom König, der Wesir möge seinen Stuhl verlassen. Als sich der Wesir um diese Anordnung drücken wollte, drängte ihn der Monarch zur Eile, so daß jener zurücktrat. In diesem Augenblick schwang sich der arme Mann an die Seite des Königs hinauf und nahm auf dem Stuhl des Ministers Platz. Von dort oben wandte er sich dann an den Wesir. »Siehe, das war die Antwort auf deine Frage: Das Werk Allahs besteht darin, die einen Menschen zu erheben und andere zu erniedrigen«, erklärte er. Den König begeisterte die Klugheit dieses einfachen Mannes. »Nunmehr laßt uns festschreiben, was sich uns darbietet. Du sollst von heute an mein Wesir sein!« verkündete er. Der alte Wesir war sprachlos und stand wie vom Donner gerührt vor dem Thron. Noch bevor er auch nur ein Wort hervorbringen konnte, befahl der König seinen Soldaten, ihn in den Kerker zu werfen. Anschließend gab er für seinen neuen Wesir ein Essen, beglückwünschte ihn zu seiner Ernennung und wünschte ihm Erfolg.
Der König hatte verstanden, daß es in seinem Volk einen gab, der um vieles klüger als jener listige Wesir und würdig genug war, dem königlichen Kabinett vorzustehen.
Rami
Es lebte einmal ein sehr alter Mann. Er hieß Rami, aber alle Leute riefen ihn Onkel Rami. Er war einhundert Jahre alt, aber sehr arm und ständig auf der Suche nach Geld und dem täglichen Brot. Eigentlich klagte und stöhnte der Alte fortwährend, er war mit nichts zufriedenzustellen und verlor kein Wort über ihm erwiesene Wohltaten. Eines Tages sah ein reicher Mann Onkel Rami und empfand Mitleid mit ihm. »Ehrwürdiger Scheich«, sprach er ihn an, »wie kann man dich nur in diesem Zustand belassen! Die Leute sollten sich um deinesgleichen kümmern. Komm mit mir, ich werde dir zu essen geben.« Onkel Rami folgte dem reichen Mann in dessen Wohnung. Im Haus erblickte er an der Wand das Bild eines Mannes. Ihm gefiel das Bild und er lobte es. Plötzlich vernahm er eine Stimme, die zu ihm sprach. »Es ist das erste Mal, daß ich ein Wort der Bewunderung über mich höre«, sprach es. »Mein Name ist Samir al-Ruman und ich bin vor einhundertfünfzig Jahren gestorben. Niemandem außer dir habe ich gefallen. Es gibt keinen Glücklicheren als mich! Dafür werde ich dich ebenso glücklich machen. Ich gewähre dir jeden Wunsch, den du begehrst.« »Ich wünschte, jünger zu sein, damit sich die Leute wieder um mich kümmern und ich mich von den Lasten des Alters befreie. Ist das möglich?« »Aber ja. Das ist möglich und schon gewährt«, antwortete das Bild. Eilig und froh verließ Rami das Haus des Reichen, ohne nur einmal von den Speisen des Reichen gekostet zu haben. Wenig später spürte er wieder den Hunger. Er griff in seine Tasche und kramte sein Geld hervor. ›Heute ist mein
Glückstag‹, sagte er zu sich. ›Das Geld reicht für ein Glas Saft.‹ Er sah einen Saftverkäufer und betrat dessen Laden. Hier mußte er niesen. »Ich fühle mich gleich um zehn Jahre jünger«, murmelte er in sich hinein. Er rief den Ausschenker und bestellte eine Tasse Kaffee. Kaum war ihm der Kaffee gebracht worden, da nieste Rami zum zweiten Mal. »Was ist denn mit dir geschehen?« fragte der Ausschenker. »Ich bin nur wieder um zehn Jahre jünger geworden. Jetzt bin ich achtzig Jahre alt und brauche auch keinen Kaffee mehr. Bringe mir ein Glas Apfelsinensaft.« Und noch bevor der ‘ Saftverkäufer gehen konnte, nieste Rami abermals. »Sieb zig«, schrie er laut heraus. »Siebzig«, bestätigte auch der Saftverkäufer. Nach dem vierten Niesen packte Rami den Ausschenker. »Siehst du denn nicht, daß ich mich verändert habe?« Der Ausschenker pflichtete ihm bei. »Du hast ja wie der Haare auf dem Kopf und Zähne im Mund.« Rami stürzte aus dem Laden des Saftverkäufers. Den Alten plagte inzwischen so großer Hunger, daß er beinahe die Straße nicht überqueren konnte. Ein Junge bot ihm freundlich seine Hilfe an. Da mußte Rami plötzlich wieder niesen und war auf der Stelle fünfzig Jahre alt. Da nahm er den Jungen, setzte ihn auf die Schulter und trug ihn über die Straße. Dem Jungen war das unheimlich und er rannte weg. Auf der Straße las Onkel Rami einen Anschlag für die Stelle eines Nachtwächters. Er bewarb sich und wurde angenommen. Während seines Wachdienstes mußte er zweimal niesen. »Wer bist du und wieso trägst du die Kleider des Nachtwächters, der hier war?« fragte der Besitzer, als er am anderen Morgen kam. So sehr Rami auch beteuerte, daß er doch dieser Nachtwächter sei, schenkte der ihm keinen Glauben, sondern dachte, dieser Rami sei ein Dieb und warf ihn hinaus. Ramis Herz war dennoch von Freude erfüllt. Er war schließlich nur noch dreißig Jahre alt, und das allein zählte. Nun wandte er sich
wieder dem Handel zu, der ersten Beschäftigung in seiner Jugend. Wie er allerdings abermals nieste, war er unversehens zwanzig Jahre alt und nun nicht mehr in seiner Arbeit so erfahren wie einst, daß ihn der Geschäftsinhaber hinauswarf. Rami vollführte auf dem Weg einen Freudensprung und stieß dabei mit einem Gendarmen zusammen. Dieser nahm an, Rami sei ein Landstreicher, und brachte ihn auf das Revier. Dort nieste Rami abermals und sein Alter sank auf fünfzehn Jahre. Der Reviervorsteher mußte Rami laufen lassen, weil dieser plötzlich minderjährig geworden war. Als Rami die Straße entlangschlenderte, kam ihm ein sieben jähriges Kind entgegen, das er anrempelte. »Wärst du nicht älter als ich, hätte ich dich jetzt ordentlich verhauen«, drohte der Kleine trotzig. Gerade in diesem Augenblick mußte Rami niesen und war ebenfalls nur noch sieben Jahre alt. Da verhaute der Junge Rami und lief davon. Da war Rami das Jüngerwerdens leid. Er lief zurück zum Haus des Reichen, bei dem er das Bild gesehen hatte. Dieser hatte das Bild inzwischen an einen Händler verkauft, zu dessen Laden ihm der Reiche den Weg wies. Rami lief so schnell, wie ihn seine Beine tragen konnten zu dem Geschäft, damit er in der Zwischenzeit nicht schon wieder niesen mußte und noch jünger würde. Dort fand er das Bildnis und flehte es an, daß es ihn nicht noch jünger mache. »Alles ist deine und nicht meine Schuld«, sprach das Bild zu Rami. »Du hast die Wohltat, die dir zuteil wurde, nicht zu würdigen gewußt. Genügsamkeit ist ein unerschöpflicher Schatz. Jede Altersstufe im Leben des Menschen hat ihren Glanz und ihren Reiz.«
Wenn sich die Vorsehung erfüllt, werden die Augen blind
Es wird erzählt, daß König Salomo – Heil über ihn –, den Allah in die Geheimnisse des Vogelfluges und der Sprache der Tiere eingeweiht und zum Herrscher über den Wind erhoben hatte, eines Tages nach dem Adler verlangte, um ihn nach dem Grund zu fragen, warum er tagein tagaus als erster vor allen anderen Vögeln ausflöge und weit später als sie zurückkehre. »O Prophet Allahs, ich habe einen sehr alten und sehr gebrechlichen Vatersvater. Er vermag es nicht mehr, sich in die Lüfte zu schwingen, und hat keine Stütze mehr in diesem Leben als Allah, seinen Schöpfer. Ich steige jeden Tag so zeitig auf, um ihn zu pflegen, zu füttern und zu tränken. Dabei gebe ich, was nur in meinen Kräften steht«, antwortete der stolze Vogel. Salomo bat den Adler, daß er ihn zu dem Altvogel trage. Der Adler war einverstanden und nahm Salomo auf seine Schultern, um sich anschließend mit ihm so hoch in die Lüfte zu erheben, daß sie fast den Himmelszenit berührt hätten. So gelangten sie zu einer Festung, die sich auf einem einsamen hohen Berg erhob. Diese Burg war über die Zeit verfallen und nun letzte Wohnstatt des betagten Adlers. Der junge Adler setzte mit Salomo zur Landung vor dem Altvogel an. Kaum hatte Salomo den Alten erblickt, als ihn tiefe Traurigkeit erfaßte. Der Großvater war so von den Gebrechen des Alters heimgesucht, daß es seine Kräfte nicht mehr zuließen, sich vor Allahs Propheten Salomo ehrerbietig zu erheben. Der König und der Jungvogel traten zu dem Altvogel. »Lieber großväterlicher Adler, könntest du mir nicht das seltsamste Erlebnis berichten, das du je in deinem langen
Leben gesehen hast?« fragte Salomo. »O göttlicher Prophet«, hob er zu erzählen an. »Einst sah ich eine riesige Schlange, deren wahre Länge Allah allein kennt. Ihr langer Körper nahm ein ganzes Wadi von Anfang bis Ende ein.« An dieser Stelle unterbrach ihn Salomo. »Kannst du mich zu ihr führen, damit ich sie mit eigenen Augen sehe?« fragte der König. Da quälte sich der alte Adler mühevoll auf die Beine. »Wie sollte ich, o göttlicher Prophet, wo ich, wie du siehst, nicht einmal die Kraft habe, für meine tägliche Nahrung selbst zu sorgen?« entgegnete dieser. Da wendete Salomo seinen Blick zu seinem Herrgott und flehte ihn an, dem Altadler noch einmal Gesundheit, die Kraft seiner Schwingen und Ausdauer zu verleihen. Allah erhörte sein Stoßgebet und ließ es in Erfüllung gehen. Der alte Adler nahm, mit neuen Kräften versehen, Salomo zwischen die Flügel und stieg mit ihm so hoch in die Lüfte, daß dem König die Erde nur noch so groß wie ein Sieb vorkam, mit dem Weizenkörner von der Spreu getrennt werden. »Was siehst du?« fragte da der Adler. »Nur ein schwarz umrandetes Sieb«, antwortete Salomo. Nun ließ sich der Vogel allmählich herab, bis sie an ein tief eingeschnittenes Wadi kamen, auf dessen Boden Salomo eine riesige Schlange erblickte, die so lang wie das Tal war. Das Reptil bäumte sich auf und warf sich herum, daß es fast an eine nahe Bergkuppe stieß. Es war ein Anblick, der Furcht und Angst einflößte und der Salomo am ganzen Körper zittern und beben ließ. Der Adler war auf dem Heimflug, als Salomo unterwegs einen Bauern erspähte, der sein Feld bestellte. Er fragte den Adler, ob er ihn mit seinem scharfen Blick erkennen könne. »Was sät dieser Landmann?« »Der Bauer bringt Sesamkörner in den Boden.« Der Adler hatte aus der großen Höhe, in der sie flogen, die winzigen Samen erkennen und sie von anderen Getreidesorten mit
größter Leichtigkeit unterscheiden können. Der König bat, bei dem Manne zu landen, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Salomo näherte sich dem Bauern und erkundigte sich höflich, was er säe und welchen Ernteertrag er wohl erwarte. Wie Salomo sich noch unterhielt, gellte plötzlich der Schrei und die Wehklage des Adlers. Der Prophet eilte zu seinem treuen Begleiter und erkundigte sich, was ihm zugestoßen sei. Dabei trat zutage, daß der Adler beim Laufen in eine Höhlung getreten war und sich einen Lauf gebrochen hatte. »Nun hast du aus höchster Höhe ein Sesamkorn in der Hand des Bauern erkennen können, das jener über den Boden streute, aber du siehst eine viel größere Höhlung unmittelbar zu deinen Füßen nicht, in der du dir ein Bein und beinahe den Hals brichst«, sprach Salomo verwundert. »O Prophet Allahs«, sprach der weise Altvogel, »diesmal hat das Schicksal zugeschlagen. Und wenn sich die Vorsehung erfüllt, werden die Augen blind.«
König Salomo und der Wiedehopf
Der Prophet Salomo reiste einst in den Jemen. Unterwegs stieg er ab, um sich auf die Suche nach einer Wasserstelle zu begeben. Auf dieser Reise begleiteten ihn die Vögel. Unter ihnen war der Wiedehopf, zu dessen Vorzügen es gehörte, daß er Wasser unter der Erde zu entdecken wußte. Salomo ließ seinen Blick über die gefiederte Schar schweifen, konnte aber den Wiedehopf nicht dort finden, wo er sich gewöhnlich einreihte, denn er war abwesend. Da schwor sich der Prophet Salomo, den Wiedehopf hart zu strafen, es sei denn, er habe einen offenkundigen Grund. Der Wiedehopf kehrte bald auf seinen Platz zurück und tat seine Entschuldigung kund. »Ich habe etwas in Erfahrung gebracht, was sich selbst deiner Kenntnis entzieht. Ich fand ein Geheimnis, mit dem wir dir helfen können«, sprach er, Salomo wollte sogleich, daß der gefiederte Geselle seine Worte belege. »Ich entdeckte im Land der Sabäer eine Frau, die über das Volk als Königin herrscht. Gott hat sie mit allen erdenklichen Vorzügen ausgestattet, und sie residiert auf einem herrlichen Thron. Sie und ihre Untertanen traf ich an, wie sie sich vor der Sonne und nicht vor Allah in Andacht verneigten«, berichtete der Wiedehopf. Damit Salomo die Worte des Vogels auf ihren wahren Gehalt hin überprüfen könne, sprach er: »Hier ist mein Brief. Nimm ihn und bringe ihn zu den Sabäern. Dort wirf den Brief zwischen sie und begib dich anschließend an einen Ort, wo du ihre Reden deutlich hören kannst. Achte auf ihre Erwiderungen!« Der Wiedehopf nahm den Brief des Salomo auf und trug ihn zu Königin Balqis, wo er ihn so in ihren Palast in Marib fallen ließ, daß das Schreiben vor der Herrscherin zu
liegen kam. Sie griff nach dem Brief und begann ihn zu lesen. Dabei kam sie an die Stelle, an der es hieß: »Er ist von Salomo, und siehe, er ist im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen: Erhebet euch nicht wider mich, sondern kommt zu mir als Muselmanen.« Da beriet sich die Königin Balqis mit ihrem Gefolge, das die Entscheidung in der Sache ihr überließ. Die Fürstin entschloß sich, Salomo ein wertvolles Geschenk zu senden, um zu verhindern, daß er auf das Gebiet ihres Königreiches vorrücke. Doch da sank ihr Reich in Schutt und Asche. Der Wiedehopf begab sich rasch zum Propheten Salomo, um die Nachricht zu überbringen. Dieser Vorfall blieb als Geschichte erhalten und ging in den Koran, in die Ameisen-Sure ein.
Der Wiedehopf bittet Salomo zu Gast
Der Wiedehopf sprach eines Tages zu Salomo: »Ich möchte dir die Freude meiner Gastfreundschaft erweisen.« Der Prophet fragte zurück: »Nur mir allein?« Aber der Vogel wollte ihn und all seine Soldaten an einen bestimmten Tag auf eine bestimmte Insel einladen. Salomo rüstete sich mit seinen Soldaten, während der Wiedehopf vorausflog. Am besagten Tag fing er eine Heuschrecke, erwürgte sie und warf sie ins Meer. »Iß, o Prophet Allahs! Wem aber das Fleisch entgeht, der sollte sich an die Brühe halten«, krächzte der Vogel. Da schüttelten sich Salomo und seine Soldaten ein ganzes Jahr vor Lachen. Über dieses Ereignis wird gedichtet: Vor Salomos Thron trat ein Wiedehopf beim Jüngsten Gericht und schenkte dem Propheten einen Heuschreck, der in seinem Schatten war, und verkündete mit kristallklarer Stimme, aber schlicht, daß dies Geschenk dem Werte des hohen Beschenkten entspricht, denn bekäm’ ein Mensch eine Gabe nach seinem Rang, fürwahr, man brächte dir die Welt mit allem, was sie in sich birgt, dar.
Der Prophet Salomo und der Wind
Es lebte einmal ein armer Mann, der lief über Land und trug vier Pfund Mehl bei sich. Da frischte der Wind heftig auf und ließ das Mehl in alle Himmelsrichtungen stieben, bis im Sack des Mannes kein Mehlstäubchen mehr verblieben war. Der nahm den leeren Beutel und schleuderte ihn voller Zorn in die Lüfte, dann blieb er stehen und Tränen rannen ihm über das Gesicht. Noch weinend trat der Mann vor den Thron des Propheten Salomo, Sohn des David. »Bei Gott, meine Kinder sterben vor Hunger. Ich bettelte bei den Leuten und trug mühsam vier Pfund Mehl zusammen. Dann kam der Wind auf und entriß mir all den feinen Kornstaub. Nun weiß ich nicht, was ich den Meinen zum Abendbrot geben soll«, klagte er. Salomo erhob sich und versammelte alle Könige, die um ihn herum waren. »Gehet nunmehr zum Wind und richtet ihm aus, daß er das Mehl Stäubchen für Stäubchen zusammentragen soll, das er dem Armen genommen hat!« Da meldete sich noch einmal der Kläger zu Wort. »Und fehlt auch nur ein Mehlkrümchen, so werde ich nichts annehmen.« Salomo rief auch nach seinen Soldaten. »Ich will das Mehl auf der Stelle!« befahl er. Die Soldaten des Propheten brachen sofort auf und überbrachten dem Wind den Befehl Salomos. Der Wind machte sich unverzüglich daran, das Mehl von jedem Ort zu holen, bis er restlos alles gesammelt hatte. Man wog das Mehl und es waren genau vier Pfund, kein Krümchen fehlte, kein Stäubchen war zuviel. »Über diese arme Seele gefiel es dir, dich aufzuspielen und deinen Schabernack mit ihr zu treiben«, schimpfte Salomo mit dem Wind.
»Nichts gefiel dir mehr, als dich über diesen Hilflosen zu erheben.« Da bat der Wind Gott um Vergebung und kniete vor König Salomo, zu erflehen auch sein Verzeihen.
Musa bin Umran und der Arme
Es war einmal, es war keinmal, o ehrenwerte Hörerschaft. Es lebte einmal ein armer Mann, der sich mit seiner Frau hart abmühen mußte, damit sie zu essen hatten. Doch trotz aller Schinderei blieben sie ständig hungrig. Da kam Musa bin Umran, der biblische Prophet Moses, eines Tages bei ihnen vorbei und entbot ihnen seinen Gruß. Der Arme faßte sich ein Herz und fragte den Weisen: »Ich flehe dich an, Moses. Bei Allah, meine Frau und ich haben nicht satt zu essen. Wir schuften tagein tagaus, aber erreichen doch nichts. Hat mir denn dein Gebieter kein anderes Schicksal bestimmt?« Moses versprach dem Armen, in seiner Sache den Herrn anzurufen und zu befragen. Der Heilige lief zu jenem Berg, von dem aus er mit seinem Herrgott Zwiesprache zu halten pflegte. »O Herr, es lebt da ein Menschenkind in einer mißlichen Lage. Worin besteht dein ihm zugedachtes täglich Brot?« sprach er zu Gott. Der Weltenschöpfer antwortete ihm: »Jener hat von mir weder Geld noch Gut zu erwarten.« Doch Moses flehte Gott an. »O Herr, er ist ein bettelarmer Mann, der vor Elend sterben wird.« Doch Gott hatte für jenen keinen Lebensunterhalt auf dieser Welt vorherbestimmt. Moses kehrte daraufhin zu dem Armen zurück, um ihm die Antwort zu überbringen. »O armer Mann, dein Unterhalt ist von meinem Herrn abgeschnitten, von ihm hast du dein täglich Brot nicht zu erhoffen.« Der Mann verstand nicht. »Und mein Recht, mein Glaube? Ich werde nicht mehr unter der Herrschaft eines derart tyrannischen Herrgotts wohnen. Ich
werde in die Welt ziehen und nach einem anderen als diesen Gott suchen.« »Wohin du auch immer ziehen magst, mein Herr gebietet über alles, denn es gibt nur einen Gott«, belehrte Moses den Armen, der davon nichts wissen wollte. »Ich werde einen anderen Gott finden, der mir mein Leben erleichtern und mich mit allen Arten von Speise und Trank sättigen wird.« Da mußte Moses lachen und zog seiner Wege. Der Arme lief zu seinem Weib, das gerade guter Hoffnung war. »Auf Alte, wir bleiben nicht länger auf diesem Flecken Erde wohnen. Man sagt: Drei Viertel der Erde seien Wasser, aber ein Viertel festes Land, und man sagt auch: Drei Viertel davon seien zwar öd, aber ein Viertel sei bewohnt«, sprach der Mann, und sie durchstreiften rastlos viele Tage und Nächte hindurch die Welt. Der Frau, die keinen Fetzen mehr auf dem Leibe trug, rückte der neunte Monat und die Niederkunft heran. Da näherten sie sich bewohntem Land, als sie auch schon niederkam und einem Sohn das Leben schenkte. Sie nahm das Kind auf ihren Arm und sah zu ihrem Mann. »Nicht einen Lappen, keinen Lumpen haben wir, um unseren Sohn zu wickeln. Dort hinten fließt ein Bach, wo du bestimmt Leute bei der Wäsche triffst. Die haben vielleicht ein paar alte Sachen für ein kleines Kind, eine Frau und einen Mann, damit wir auch das Kind bedecken und mit ihm weiterziehen können«, bat sie. Der Mann lief zum Bach. Dabei durchquerte er eine dichte Baumgruppe, in der plötzlich vor ihm ein Stück nagelneuer Stoff von etwa vier, fünf Armlängen lag. Als er verwundert das Tuch aufheben wollte, kam darunter ein Krug voller Gold zum Vorschein. »Diesem Gott sei gedankt, er ist klug und liebenswert und ganz und gar nicht wie der Gebieter von Moses, der den Menschen ihre Güter vorenthält«, sprach der Arme und nahm sich einen Teil des Goldes, bevor er den Krug
verbarg. Seiner Frau gab er den Stoff. »Nimm, dieser Herrgott ist um vieles besser als der von Moses«, verkündete er dabei. Sie wickelte ihren Sohn und ging dann mit ihrem Mann bis in das nahe Dorf. Dort erkundigte sich der Mann, wer ein kleines Haus zu vermieten habe, und die Leute wiesen ihm den Weg zu einem Vermieter. Von dem nahm er ein Häuschen, in das er mit Frau und Kind einzog. Mal um Mal holte der Arme etwas Gold aus seinem Versteck, bis der Krug vollends geleert war, doch da besaß er schon Feld, Garten und Gebäude. Von seinem eigen Fleisch und Blut hatte er zehn Söhne und Töchter, nachdem sein Weib alle Jahre ein Kind zur Welt gebracht hatte, und ein jedes Kind konnten sie in eine standesgemäße Ehe geben. Seine Macht gründete sich auf viele Kamele und Rinder sowie auf eine unschätzbare Zahl von Viertelpächtern. Inzwischen wohnte er in einem prächtigen Palast, den zu besichtigen länger als ein Menschenalter gedauert hätte. Eines Tages saß er in seinem Palast und sah von ferne einen Menschen geschritten kommen. »Auf Ehre und Glauben, wenn das nicht Musa bin Umran ist. Bei Gott, ich muß ihn treffen. Dann werde ich ihn fragen: ›Hast du gesehen, was mir dieser Herrgott zugedacht hat, während dein Gebieter mich und mein Weib verstieß?‹« Der Mann wartete, bis der Heilige vor ihm stand und küßte den Boden vor Moses und dessen Hand. Der Gastgeber lud den Propheten in sein Haus, ohne ihm kundzutun, daß er der einstige arme Teufel war. Moses schaute sich um und fand ein geräumiges Haus, in dem es an nichts fehlte, wonach es der Seele verlangen konnte. Der Hausherr schlachtete mehrere Hammel und veranstaltete ein großes Gastmahl, zu dem er auch die Nachbarn lud. Als alle gesellig beisammen saßen, sagte der Hausherr: »O Moses, hatte ich dir nicht angekündigt, daß ich nach einem anderen Gott als dem deinen suchen werde? Ich mußte hart arbeiten und bekam doch nur Zwiebeln
und trocken Brot zu essen. Aber der Gott, den ich gefunden habe, kümmerte sich, wie er mich froh stimmen und mir einen Unterhalt zukommen lassen konnte. Alles, was du hier siehst, verdanke ich meinem neuen himmlischen Herrn, während dein Gebieter verhieß, daß ich von seinen Gütern abgeschnitten sei.« »O Jüngling«, antwortete ihm nun Moses, »auf dieser Welt gibt es nur den einen Gott. Mein Gebieter ist an jedem Ort, wohin du auch immer ziehst. Der dich zu Anfang prüfte, der gab dir zu guter Letzt. Doch ich werde Gott anrufen und befragen.« Dann verließ Moses die Runde und lief durch die Lande, wobei er immer wieder Weg und Richtung zwischen Süd und Nord wechselte. Als er aber auf dem Berg stand, rief er: »Ich flehe zu dir, mein Herr und Gebieter. In was für einen Widerspruch hast du dich begeben? Wie konntest du deinem armen Knecht einst alles vorenthalten, als du sagtest, er habe von dir nichts zu erwarten, aber jetzt gabst du ihm von allem, wonach es der Seele verlangt?« Der Herrgott antwortete Moses: »O Moses, all diese Güter sind nicht für ihn bestimmt. Sie sind Gottes Gabe für seinen Sohn, dem ihm die Frau gebar, als er auf der Suche nach einem neuen Herrgott war und sie nichts finden konnte, womit sie das Kind hätte einhüllen können. Dieser Besitz gilt nicht denen, die ihn jetzt verwalten.« Moses erhob sich und kehrte zu dem Mann zurück. »All diese Güter sind eigentlich deinem Sohn bestimmt, dem dein Weib unterwegs das Leben geschenkt hatte. Anstelle eines Fetzen Wickeltuch sandte ihm Gott einen Krug voller Gold, um damit ihn und euch in Wohlstand zu versetzen.« Da staunte der Mann. »So ist dein Gebieter, o Moses? Wohin ich auch immer gezogen und wo ich auch immer gewandelt bin, er war allerorten gegenwärtig.« Möge Allah das Leben der Zuhörer versüßen.
Moses erfährt Gottes Rechtsspruch
Es lebte einst in alter Zeit ein Mann, der stellte dem Propheten Moses – Friede sei über ihn! –, die Frage: »Moses, Gebieter! Wie läßt unser Herrgott dem Menschen Recht widerfahren?« Moses war zuerst verlegen, was er dem Manne antworten sollte, deshalb ging er davon, um sich seinem himmlischen Herrn anzuvertrauen. »Wie läßt du den Menschen zu seinem Recht kommen?« fragte Moses Gott. »Indem ich ihn nach sittlichen Vorbildern erziehe, o Moses«, erwiderte Allah, der gepriesen sei. »Begib dich zu jener Quelle, verberge dich im Blätterdach des Baumes an ihrer Seite und verfolge, was geschehen wird!« Moses setzte sich in den bezeichneten Baum und harrte der weiteren Dinge. Zuerst kam ein Mann auf einem Pferd herzugeritten. Als er jene Quelle erreicht hatte, stieg er ab, wusch seine Hände und ließ sich für eine kurze Weile nieder. Dann schwang er sich wieder in den Sattel und sprengte davon, vergaß aber seinen Geldbeutel. Nach jenem kam ein zweiter Reiter, der ebenfalls an der Quelle rastete, um seinen Durst zu stillen. Der fand die Börse und nahm sie an sich. Dann saß er wieder auf und ritt davon. Nun kam ein alter Mann heran. Als er die Quelle erreicht und sich die Hände gewaschen hatte, hielt er im Schatten des Baumes ein Schläfchen. Gerade in diesem Augenblick kam jener Reiter zurück, dem der Geldbeutel gehörte, um nach seinem verlorenen Gut zu suchen. Als der den schlafenden Alten sah, weckte er ihn. »Wo ist der Beutel mit meinem Geld?« forschte er. »Ich habe ihn nicht gesehen«, rechtfertigte sich der Alte, nachdem er sich erhoben hatte. Der wütende Reiter konnte nicht an sich halten und erhob sein Schwert
gegen den Alten und schlug ihm den Kopf ab. Der Ritter schwang sich auf sein Pferd und ritt von dannen. Moses aber zürnte. »Was war das?« rebellierte er. »Laß dich belehren, o Moses!« erscholl Allahs Stimme aus den himmlischen Gefilden. »Dieser Alte war jener Mann, nach dem der Reiter gesucht hatte, weil er seines Sohnes Mörder war. Jener Mann aber, der den Geldbeutel an sich genommen hat, tat auch dies zu recht. Dieser Mann hatte dem Vater des Reiters, der dem Alten den Kopf abhieb, viele Jahre treu gedient, aber nie seinen Lohn erhalten. Das Geld in der Börse stand ihm also rechtmäßig zu, es war nicht mehr und nicht weniger.« »Allah läßt niemandes Recht verstreichen«, rief da Moses und erzählte die Geschichte jenem Manne, der ihn zu Anfang gefragt hatte.
Der heilige Habib der Schreiner
Der heilige Habib der Schreiner saß eines Tages und tischlerte einen Pflugbaum. Da kam ein junger Mann bei ihm vorüber und entbot ihm seinen Gruß, den Habib erwiderte. »Ich möchte dich etwas fragen: Gehöre ich zu jenen, die ins Paradies einziehen werden, oder zu jenen, denen die Hölle verheißen ist?« fragte er den Weisen. »Was hast du getan, was ausgerichtet?« erkundigte sich Habib. »Bei Gott, ich bin Wegelagerer und wurde zum Mörder von neunundneunzig Menschen«, gab jener zu. »Nun, es liegt durchaus in Gottes Macht, dir das Paradies zu öffnen«, sprach Habib. Vor dem heiligen Mann stand ein alter Hauklotz aus einer Wurzel, die schon einhundert Jahre keinen Trieb mehr hervorgebracht hatte. »Wenn dieser Stubben wieder sprießt und der Trieb so lang wie ein Pflugbaum wächst, dann gehörst du zu den Anwärtern auf das Paradies«, verkündete Habib dem Räuber. Gegen Sonnenuntergang kam der reuige Räuber nahe an einem Friedhof vorüber, wo er einen Mann auf einem am selben Tag geschaufelten Grabhügel stehen sah. »Bei Gott, solange du lebtest, war es mir nicht vergönnt, zu dir zu gelangen«, hörte er ihn rufen. »Jetzt, wo du tot bist, werde ich dir beikommen, denn wohin willst du jetzt noch vor mir fliehen?« Der Mann hielt in der Hand eine Schaufel, mit der er das Grab öffnete. Als er bis zur Bahre vorgestoßen war, schlug er das Leichentuch auseinander und streckte die Hand nach der Toten aus. Aber mit Gottes Hilfe stieß sie ihn mit eigener Hand von sich. Da hieb der wilde Frevler ihr die Hand ab. Die erbarmungswürdige Tote reckte ihre andere Hand dem Fledderer entgegen, der auch sie abhaute. »Nun kannst du
mich nicht mehr von dir stoßen und unsere Vereinigung verhindern, nur weil ich nicht reich bin«, triumphierte er böse. Als der Wegelagerer dies hörte, konnte er seinen Zorn nicht länger bändigen und schoß dem Übeltäter eine tödliche Kugel in den Kopf. Dann schleifte er den toten Grabschänder beiseite und lief zum Leichnam der Frau, um die er wieder das Leichentuch schlang, sie zurück in ihr Grab bettete und mit Erde bedeckte. Dann setzte er seinen Weg fort. Eine ganze Zeit später – ich weiß nicht genau, wie viele Tage verstrichen – kam der junge Mann wieder bei Habib dem Schreiner vorüber. Er sah ihn beten und entbot seinen Gruß ›Friede sei über dir, o Habib‹. Der Heilige erwiderte auch dann den Gruß nicht, als er seine Worte dreimal wiederholt hatte. Dann sah der reumütige Mörder zu dem alten Wurzelstock und erblickte zwei grüne Triebe, ein jeder so lang wie ein Pflugbaum. Habib der Schreiner vollendete sein Gebet und erhob sich. »Friede sei mit dir und Gottes Barmherzigkeit«, sprach Habib dreimal auf den dreimaligen Gruß des Jünglings. »Bursche, komm her und berichte mir, was du getan hast, daß dieser alte Stubben wieder Zweige trieb!« »Bei Gott, ich habe wieder einen Menschen getötet und damit die Zahl von einhundert Gemordeten erreicht«, begann er, als er Habib haargenau erzählte, was ihm widerfahren war. »Gott ist allmächtig«, verkündete Habib anschließend. »Siehe, mein Söhnchen, wie die Wurzel zu neuem Leben erwacht ist. Deine fromme Tat war sehr groß. Ich habe neunundneunzig Jahre damit zugebracht, die Wurzel zu behauen. An ihr zeigte sich nicht ein Trieb. Aber jetzt hat dir Gott dein Sündenregister für diese gute Tat gestrichen, mit der du eine hilflose Menschentochter in ihrem Grab beschützt hast.« Möge Allah das Leben der Zuhörer versüßen.
Abdul Kadir al-Gailani
Es waren einmal in alter Zeit fünf Männer. Sie trafen sich jeden Donnerstag und kasteiten sich, indem sie sich Nadeln in Haut und Fleisch stießen. Dazu setzten sie sich in einen großen Backofen, den sie, ohne zu verbrennen, wieder verließen. Dort beteten die fünf und rezitierten eifrig den Koran. Die gottlosen Leute der Nachbarschaft hegten gar Zweifel, die Männer könnten gar Zauberer sein, und schickten einen los, der herausfinden sollte, was jene fünf Gestalten wohl seltsames trieben. Der Mann gesellte sich zu den fünf Kasteienden und bat, bei ihnen Platz nehmen zu dürfen. Da hießen sie den Neuling willkommen und fanden nichts dabei, daß er alles niederschrieb, was er sah und erlebte. Nachdem drei Wochen verstrichen waren, sollte nun die Reihe an dem Besucher sein, in den Backofen zu treten. Doch davor suchte er lieber sein Heil in der Flucht. Als er so schnell wegrannte, wie ihn seine Beine tragen wollten, bemerkte er vor dem unheimlichen Haus einen ganz in Weiß gekleideten Reiter, der auf einer Schimmelstute schnell wie der Wind dahinflog. Der stolze Ritter kreuzte den Weg des Flüchtenden, um ihn aufzuhalten. »Geh zurück, sonst schlage ich dir den Kopf ab!« befahl er dem Heiden. Der Mann wollte lieber verbrennen als seinen Kopf verlieren, kehrte um und setzte sich zwischen die fünf Gottesmänner. Als die Reihe an ihm war, in den Ofen zu treten, verharrte er dicht an dessen Schlund, wo er erneut den weißen Reiter erblickte, der ihn zu köpfen gedroht hatte. »Bekehre dich zu mir!« raunte dieser dem Ungläubigen eindringlich zu. Darauf trat der Mann mit den Worten ›Allah beschütze mich vor des Teufels Übel, im Namen Allahs, des
Barmherzigen und Allerbarmers‹ in den glühenden Ofen, ohne zu verbrennen. Als er die Feuertaufe überstanden hatte, drängte es ihn, den fünf Männern reinen Wein über sich einzuschenken. Sogleich gingen sie auf ihn los und hätten ihn fast umgebracht, hätte er nicht das Glaubensbekenntnis eines jeden Moslems geschworen: ›Es gibt keinen Gott außer Allah und ich bezeuge, daß Mohammed sein Knecht und Prophet ist.‹ Mit dieser Eidesformel aber war der Horcher selber zum Islam übergetreten. Nach seinem Zeugnis weihten ihn die fünf Männer ein, daß der weiße Reiter der gesegnete Abdul Kadir al-Gailani sei. Nachdem sich der neubekehrte Moslem von der Wahrhaftigkeit ihrer Worte überzeugt hatte, wollte er zu den Seinen zurückkehren. »In dieser Gegend treiben Wegelagerer ihr Unwesen«, warnte einer seiner fünf Glaubensgenossen. »Ich vertraue auf Allah«, erwiderte jener und zog festen Schrittes von dannen. Als er gerade die halbe Wegstrecke hinter sich hatte, trat ihm aus einem Hinterhalt ein Räuber entgegen und nahm seinem Opfer alles Geld ab. »Wähle dir nun selbst eine Todesart!« herrschte ihn der Räuber sodann an. »Darf ich vor dem Tode noch zwei Rosenkränze beten?« fragte der Moslem. »Bete!« brummte der Unhold barsch und jener betete und flehte am Ende des zweiten Rosenkranzes Allah an, daß er ihn, von der Hand eines Mörders zu sterben, verschone. Als er sich von dem Gebet erhob, kam der weißgekleidete Reiter diesmal auf einem Kamel und ein Schwert schwingend heran. »Nimm dein Geld, dein Hab und Gut!« sprach er zu dem Moslem. »Pack dieses Schwert und haue diesem Nichtsnutz den Kopf ab!« »Aber ich fürchte, als Strafe für diese Tat allerlei Qualen im jenseitigen Leben erleiden zu müssen«, wehrte der Moslem ab. »Allah, gepriesen sei er, verkündete, einen Menschen zu töten, sei unrecht.«
Da entriß der Reiter dem Moslem wieder das Schwert und schlug dem Räuber eigenhändig das Haupt ab. Als der Mann nun zu dem Reiter aufsah, stand an seiner Statt ein vielverzweigter Baum, aus dessen Stamm in halber Höhe Wasser hervorquoll. Der Mann eilte zu seinen fünf Gefährten zurück, um ihnen sein sonderbares Erlebnis zu berichten. »Dieser Ritter ist nicht irgendein Reiter, sondern er ist ein König, der um deinen Schutz gekommen war«, erklärten ihm diese, und der Moslem dankte Allah für seine Wohltat. Am darauffolgenden Donnerstag wollte er erneut mit in den Backofen steigen, wobei er wieder den weißen Reiter erblickte, der ihn gerettet hatte. »Komm, bekehre dich zu mir!« rief der Reiter abermals, worauf der Mann innerlich gestärkt in den Ofen trat. Beim Heraustreten verkündete er: »Dieser Reiter selbst ist es, der im Ofen sitzt.« Und alle riefen: »So ist er also der gesegnete Khidr.«
Ibn Juraih
Es war einmal, es war keinmal, daß in alter Zeit ein Mann namens Ibn Juraih in recht guten Verhältnissen lebte, denn er nannte Gemüsegärten und Landgüter sein eigen. Eines Tages verliebte er sich in ein schönes junges Mädchen und heiratete es. Es liebte ihn aber nicht, denn er stand schon im fortgeschrittenen Alter und paßte nicht zu ihr. So verweigerte sein Weib zwei Monate lang Speise und Trank, bis es zu einem Schatten abgemagert war. »Was fehlt dir?« wollte Ibn Juraih wissen. »Ich werde sterben. Liebst du mich auch?« »Ja, ich liebe dich«, versicherte er ihr. »Wirst du nach mir wieder heiraten?« »Nein.« »Kannst du mir dafür einen Beweis erbringen?« »Verlange von mir, was du willst!« »Schneide dein Geschlechtsteil ab!« verlangte sie, und er tat es. Die Ehefrau freute sich, daß sie sich ihren Gatten vom Hals geschaffen hatte und er sie nie mehr sinnlich begehren konnte. Mit dieser Gewißheit aß und trank sie wieder. Bald war ihr Wohlbefinden erneut zum besten hergestellt. Aber hätte ein Mädchen wie dieses Geduld haben können mit solch einem Mann? Sie zählte ihm nunmehr jede Mahlzeit vor und bändelte mit einem schwarzen Sklaven an, der bei ihrem Manne im Dienste stand. Zum Zeichen ihrer sinnlichen Absichten legte sie so lange weiße Weintrauben oben auf schwarze Feigen, bis der Sklave ihren Anspielungen erlag und sich in sie verliebte. Eines Tages überraschte Ibn Juraih sein Weib mit dem Sklaven in seinem eigenen Bett und tötete beide. Doch dann
reute ihn der Mord an seiner Frau, die er noch immer liebte, und irrte ziellos durch die Welt, bis er in die Wüste Sinai gelangte. In dieser Einöde traf Ibn Juraih auf einen Derwisch. »Was erwartest du vom Leben?« fragte er den Bettelmönch. »Nichts«, erwiderte dieser. »Ich habe das irdische Leben hinter mir gelassen. Auf der nackten Erde schlafe ich und von trockenem Brot lebe ich. Ich ziehe von Ort zu Ort in Gottes weiter Welt und suche die Bekanntschaft mit der Dienerschaft Allahs und seinen Schöpfungen.« »Darf ich dich begleiten?« fragte Ibn Juraih. »Ich wäre einverstanden, wenn du mich begleitest«, sprach der Derwisch, worauf sich beide Männer einander Freundschaft gelobten und gute Weggefährten zu sein versprachen. So zogen sie über das Land, bis sie an eine Linde kamen. Erschöpft ließen sie sich in ihrem Schatten nieder. »Möchtest du schlafen?« erkundigte sich der Derwisch, und Ibn Juraih bejahte. »Dann schlaf auf meinen Knien!« erwiderte der fromme Mann freundlich, und jener nahm dankend an. Während Ibn Juraih fest schlief, erschien – gepriesen sei der herrliche Schöpfer – ein wunderschönes Mädchen. Sie hielt in ihrer Hand eine kupferne Kanne mit Wasser. »Onkelchen, dieses Wasser hat der heilige Khidr mit Koranversen besprochen«, sprach sie. »Du bist durstig, und ich fühle mich schrecklich einsam. Nimmst du an?« Der Derwisch blickte zu dem Mädchen auf und war von ihrer Schönheit, den süßen Worten und der Liebenswürdigkeit verwirrt. »Es gibt keine Macht und keine Kraft außer bei Allah«, stöhnte er ob der großen Versuchung. »Alles, was ich von dir verlange, ist, daß du deinen Freund erschlägst, der auf deinen Knien schläft«, sagte nun die Schöne. »Nein, er ist mein Freund«, wies der Derwisch ihr Ansinnen scharf zurück. Wie sie ihn auch zu verführen versuchte, er widerstand ihr, und sie verschwand schließlich so plötzlich, wie sie erschienen war. Bald darauf
erwachte Ibn Juraih. »Nun bin ich aber recht müde und möchte schlafen«, wandte sich der Derwisch ohne ein weiteres Wort an seinen Gefährten. »Schlaf auch du auf meinen Knien!« bot ihm Ibn Juraih an, und jener entschlummerte. Wenig später erschien auch Ibn Juraih das liebreizende Mädchen. Er war von ihrer Schönheit wie verzaubert. Sie verhieß ihm, womit sie bereits den Derwisch verlocken wollte. Ibn Juraih war sprachlos von ihrem Glanz, und mit ihren Reizen umwob und umnebelte sie ihn, bis er schließlich nachgab. Er zückte seinen Dolch und erstach den frommen Derwisch. Als sich Ibn Juraih nach seiner Bluttat dem Mädchen zuwenden wollte, um sie in die Arme zu schließen, war sie spurlos entschwunden. Er blickte zu seinem Gefährten, doch der war wirklich tot. Nun packte ihn tiefe Reue über seinen Mord. Ibn Juraih lud sich den Derwisch auf die Schultern und lief und lief, bis er das Meer erreichte. »O Allah, ich vertraue dir dieses kostbare Gut an. Bewahre es wohl!« flehte er und übergab den Toten den Fluten. Dann streifte er, getrieben vom Schmerz über den Mord an seinem Weggenossen, erneut ziellos durch die Lande. So verschlug es Ibn Juraih nach Ägypten, wo er den König, die Prinzen, die Wesire und viel Volk versammelt antraf. Er erblickte eine aus dem Meer ragende Hand, deren Finger erkennbar waren. »Wer kann Aufschluß über diesen ertrunkenen Menschen geben?« fragte der König in die Runde, denn es war des Derwischs Hand, die sich aus dem Wasser hob. »Derjenige, der mir davon Kunde gibt, bekommt eine große Belohnung.« Die Gelehrten und Reichsklugen berieten über den Toten, konnten jedoch nicht deuten, was es mit ihm auf sich hatte. Schließlich sollte auch Ibn Juraih seine Meinung sagen. »O größter König der Zeit, ich weiß um der Dinge Kern«, sprach er, als er vor des Ertrunkenen Hand stand. Ibn Juraih hob seine Hand in die Höhe. Alsdann winkelte er den kleinen Finger ein und auch die
Hand legte ihren kleinen Finger um. Nun bog Ibn Juraih Zeigefinger und Daumen ein und ebenso taten es ihm die Finger der Hand im Wasser nach. Den König verlangte es, den Sinn dessen zu erfahren, was der Fremde vorführte, denn Ibn Juraih murmelte geheimnisvolle Worte. »Ich sagte zu der Hand: Ich durchstreifte Land für Land, pflegte trauten Umgang mit Gottes Dienerschaft und fand nicht einen, der sich wie ich in Freundschaft band«, weihte er den Herrscher ein. »Die Hand pflichtete mir mit ihren fünf Fingern bei.« Da befahl der König, daß man Ibn Juraih den Kopf abschlage. »Und warum habe ich nicht diesen Grund des Gleichnisses zum Geheimnis der Hand ziehen können?« entrüstete er sich, dem sich in Worten auch der Wesir anschloß. Nun erzählte Ibn Juraih allen, was ihm widerfahren war. »Dieser Mann da hat also seinen Begleiter gemeuchelt«, rief der König aus. »So bist du ein Mörder!« Er befahl den Henker zu sich, der das Todesurteil an Ibn Juraih zu vollstrecken hatte.
Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Das kluge Mädchen
Man sagt, daß vor langer Zeit drei Freundinnen einträchtig miteinander lebten. Die eine war Prinzessin, die Tochter des Königs, die zweite war die Tochter des Wesirs und das dritte Mädchen war die Tochter eines Kaufmanns. Mit den Tagen erfaßte die Prinzessin ein unwiderstehlicher Neid auf die Umgänglichkeit, die Klugheit und das häusliche Geschick der Kaufmannstochter. Nach einem Gastmahl von Hand der Kaufmannstochter lief die von Neid wild verzehrte Prinzessin zu ihrem Vater. »Du mußt dem Kaufmann, Vater meiner Freundin, den Kopf abschlagen«, verlangte sie starrsinnig. Der König wollte wissen, was es damit auf sich hatte. »Es muß sein, wenn er auch nichts getan hat«, erwiderte das Mädchen trotzig. »Wenn du ihn nicht töten läßt, verbrenne ich mich selbst.« Nach diesen Worten verließ sie voller Zorn ihren Vater. Der König war bestürzt über den Auftritt seiner Tochter. Als der Wesir eintrat, fragte er ihn um Rat. »Verlange von dem Kaufmann, daß er ein schweres Rätsel löse. Und wer kann das schon?« sprach sein Minister. »Dann schlag ihm den Kopf ab.« Der König sandte am folgenden Tag nach dem Kaufmann, der eine Audienz bei seiner Majestät bekam. »Höre, entweder du erfüllst, was ich von dir verlange, oder ich schlage dir den Kopf ab«, sprach der König. »Ich höre und gehorche. Was verlangst du?« erwiderte der Händler verschüchtert. »Du mußt mich wissen lassen, was das Süßeste, das Schönste und das Teuerste ist auf Erden.« Ratlos kehrte der Kaufmann in sein Haus zurück. Die Tochter setzte ihm das Essen vor, aber er aß nicht. Sein Gesicht verriet,
was in seinem Herzen vor sich ging. Das Mädchen fragte, was mit ihm sei, aber er antwortete ihr nicht. Erst als sie ihn mit Fragen bedrängte, berichtete er, was ihm widerfahren war. »Sei nicht traurig und schlafe unbesorgt. Geh morgen zum König und bitte um drei Tage Bedenkzeit!« riet seine Tochter. Der Kaufmann ging am nächsten Tag erneut zum König und erbat sich die Frist, die ihm der Herrscher gewährte. Zur gleichen Zeit forschte das Mädchen in den Bibliotheken und bei ihren Freundinnen nach einer Lösung der Aufgabe. Nach reichlichen Mühen fand es die Antwort noch zur rechten Zeit. Der Kaufmann trat vor den König und teilte ihm mit, daß er die Lösung gefunden habe: »Das auf Erden Schönste ist der Schlaf nach der Abendgesellschaft Segen, das Süßeste ist der Mond nach einem erquickenden Regen und das Teuerste ist ein Blick, so er verwegen.« Als der König diese Antwort hörte, erfaßte ihn innerlich große Freude. Aber was sollte er nur tun, um den Kaufmann töten zu können, damit seine eigene Tochter sich nicht das Leben nahm? Der Wesir riet ihm zu einem weiteren Rätsel. »Kaufmann, du mußt mir nun den Sinn von ›Nein, nein, nein!‹ deuten«, befahl der König dem Kaufmann alsdann. Der Händler wunderte sich und ging, um alles sogleich seiner Tochter zu erzählen. »Habe keine Furcht und schlafe in Frieden!« beschwichtigte sie ihren Vater. »Ich werde schon die Lösung finden. Verlange du vom König nur drei Tage Bedenkzeit!« Nachdem der König die Frist gewährt hatte, suchte das Mädchen in den Büchereien und bei seinen Freundinnen nach der Antwort für die Aufgabe. Nach großen Mühen und Anstrengungen fand es zur rechten Zeit die Lösung. Der Kaufmann begab sich in den Thronsaal und verkündete, die Antwort gefunden zu haben.
»So laß hören!« forderte ihn der König zum Sprechen auf. »Das erste Nein bedeutet: Dein Hab und Gut ist dein, dein eigen Geist aber nicht. Das zweite Nein verheißt: Der Sohn deines Sohnes ist von deinem Fleisch und Blut, der deiner Tochter aber nicht. Das dritte Nein: Das Haar in deinem Bart ist dein, ein Haar auf deiner Handfläche jedoch nicht«, erläuterte der Kaufmann. Der König war über die Deutung hocherfreut. Dennoch zog er seinen Wesir zu Rate, der ihm die Aufgabe eines dritten Rätsels empfahl. »Nun sollst du mir die Zahlen von eins bis zwölf erklären!« wies der Herrscher ihn an. Der arme Kaufmann war sich diesmal sicher, daß diese Aufgabe die Klugheit seiner Tochter übersteigt. Doch sie wollte nur eine Bedenkzeit von zehn Tagen, die der König großzügig gewährte. Diese Frist nutzte das kluge Mädchen, um nach der Lösung zu suchen, die sie nach reichlichen Mühen zur rechten Zeit herausfand. Als sie dem Vater die rechten Antworten mitgeteilt hatte, brach er rasch zum König auf. »Die Eins: Allah ist alleinig. Die Zwei: Tag und Nacht haben nichts Drittes. Die Drei: Sonne, Mond und Sterne. Die Vier: Die vier rechtgeleiteten Kalifen. Die Fünf: Die fünf Gebetszeiten der Moslems. Die Sechs: An sechs Tagen wurde die Welt erschaffen. Die Sieben: Die sieben Himmel. Die Acht: Die Siebenschläfer waren mit ihrem Hund zu acht in ihrer Höhle. Die Neun: Die neun Monate der Schwangerschaft. Die Zehn: Die zehn Glücksboten im Paradies. Die Elf: Joseph hatte elf Söhne. Die Zwölf: Das Jahr hat zwölf Monate.«
Der König hörte dem Kaufmann wie gebannt zu. »Woher hast du all die weisen Worte?« wollte er wissen und ermahnte den Kaufmann zur Wahrheit. Jener bat den Herrscher um Verzeihung und die Sicherheit seines Lebens, wenn er offen sprechen solle. Als ihm dies gewährt war, gestand der Handelsmann, daß er die Antworten von seiner Tochter habe. Der Monarch wollte das Mädchen sehen und fragte, ob es nicht in den Palast kommen könne. »Ich gehe nur unter einer Bedingung in den Palast zum König«, forderte die Kaufmannstochter, als ihr die Einladung überbracht wurde. »Ich kann das Schönste und Beste aus dem Palast mitnehmen, und ein jeder im Palast muß damit einverstanden sein.« Der König war einverstanden. Sodann lief das Mädchen in den Palast und erwies dem König hohen Respekt und tiefe Ehrerbietung. Dem Herrscher gefiel die Kaufmannstochter auf den ersten Blick. Er suchte das Gespräch, und ihn bezauberten ihre wohlgesetzten Worte, ihre hohe Bildung und ihr umfangreiches Wissen. Als der König nach einem Diener rief, um ihnen einen Kaffee zu servieren, wagte sie Widerspruch. »In des Königs und meiner Gegenwart soll ein Diener Kaffee bereiten?« wunderte sie sich. »Ich selbst werden ihn servieren.« Damit erhob sie sich und bereitete den Kaffee mit eigener Hand. Wie er ihn kostete, wußte er, daß er einen so köstlichen Kaffee wie diesen nie zuvor getrunken hatte. »Was aus meinem Palast möchtest du besitzen?« erkundigte sich der König nach ihrer Bedingung, doch sie schützte Schüchternheit vor. Vielmehr bat das Mädchen den König, daß er diesen Besuch im Haus des Vaters erwidere, was der Herrscher auch tat. Bei dieser neuen Gelegenheit bewunderte er Geschick und Können der Kaufmannstochter, ihren häuslichen Ordnungssinn sowie ihren Geschmack bei der Auswahl eleganter und schöner Kleider. Noch größer wurde seine Bewunderung, als sie ihm die von eigener Hand
gefertigten köstlichen Speisen vorsetzte. Zuallerletzt servierte sie ihm abermals eine Tasse Kaffee. Dieser duftete derart betörend und hatte ein so unvergleichliches Aroma, daß der König unweigerlich an ihre erste gemeinsame Tasse im Palast erinnert wurde, und ihm fielen wieder ihre guten Sitten und ihre Schamröte ein. Freude beschlich den Herrscher und er schloß das Mädchen fest in sein Herz. Wieder erkundigte er sich nach ihrer Bedingung. Aber erneut wich sie mit einer Antwort aus und Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Da verstand der König ihren Wunsch und er fragte sie, ob sie einwillige, daß er sie zur Gemahlin nehme. Die Kaufmannstochter reichte ihm ihre Hand und so wurden sie Mann und Frau. Sie war Königin allein durch Klugheit und Geschick geworden und errang höchstes Ansehen im Reich, nachdem sie einem Prinzen und Thronfolger das Leben geschenkt hatte. Die Kaufmannstochter behandelte die Tochter des Königs mit Wohlwollen und zeigte ihr, ein einfaches Leben zu leben und sich die Sinne für alles Nützliche wachzuhalten.
Sperling und Heuschrecke
Es lebte einmal ein Mann, den man Scheich Sperling nannte, und der hatte eine Frau, die Heuschrecke gerufen wurde. Der Mann war sehr arm und nach der Hochzeit hatte er schon zwei Monate keine Arbeit. Die Not lastete schwer auf ihm. »Suche dir eine Arbeit«, forderte die Frau, »die uns endlich von den Almosen der Leute befreit.« So kümmerte er sich und fand eine Anstellung als Schulmeister, um die Kinder des Dorfes zu unterrichten. »Was hältst du davon, wenn wir die Schule in unserem Häuschen eröffnen?« fragte Heuschrecke. »Aber wo setzen wir uns nieder? Wo schlafen wir?« wandte Sperling ein. »Nachts schlafen wir im Haus und am Tage unterrichtest du die Kinder. Ich bereite dir unterdessen das Essen«, schlug Heuschrecke vor. Scheich Sperling stimmte zu. Er entrollte auf dem Boden der einzigen Kammer eine Strohmatte, breitete eine Matratze darüber und legte den Rohrstock bereit. Alsdann tat er den Dorfbewohnern kund, daß hier die Schule von Scheich Sperling sei, und es kamen die Kinder. »Wie lange sollen wir diesen Zustand noch ertragen?« fragte Heuschrecke eines schönen Tages. »Denk mit mir nach, wie wir unser Einkommen aufbessern können.« »Wir müssen uns eben mit dem begnügen, was wir haben. Ich kann keine Arbeit besser tun. Mit der Schule wird es schon aufwärts gehen.« »Höre!« gab Heuschrecke nicht nach, »mir ist da ein Gedanke gekommen, der uns reich machen wird. Ich verkünde den Leuten, du seist ein großer Wahrsager, der das Verborgene kennt und Licht in das Unbekannte bringt.«
»Die Leute wissen aber, daß ich kein Wahrsager bin. Vielleicht wird unser Spiel aufgedeckt und unser Lug und Trug hat schlimme Folgen.« »Tu, wie ich dir geheißen und überlasse den Rest getrost mir«, beharrte sie. Und so wurde Scheich Sperling als Wahrsager bekannt und gelangte zu bescheidenem Wohlstand. Seine Prophezeiungen fanden allemal durch Zufälle ihre Bestätigung. Eines Tages wurde des Königs Schatz von mehreren Pferdelasten Gold gestohlen. Der König ließ lange nach seinem Schatz suchen, doch alles war vergeblich. »Was meinst du, wenn wir Scheich Sperling rufen, damit er die Räuber ausfindig macht?« fragte sein Wesir. Und so wurde der Scheich zum König beordert. »Liefere uns die Schatzdiebe, nenne ihre Namen und schaffe den Schatz herbei, sonst schlage ich dir den Kopf ab!« befahl der König. Sperling packte schreckliche Angst und er bat um Bedenkzeit bis zum anderen Morgen. Er schlich nach Hause und fühlte sein Ende gekommen. Er verwünschte sein Weib ob dieser mißlichen Lage. »Würde es dir etwa gefallen, daß mir der König den Kopf abschlägt? Was soll ich bloß tun?« »Habe keine Angst. Ich finde schon eine Lösung.« »Aber wie?« »Geh zum König«, sprach sie, »und verlange vierzig fette Hammel, um mit ihrem Blut die Namen der Räuber aufzuschreiben, und wir werden den gestohlenen Schatz zutage bringen.« ›Wir essen die vierzig Hammel in vierzig Tagen‹, sagte sie zu sich. ›Jeden Tag einen. Danach ist es gleich, ob wir sterben oder fliehen müssen. Hauptsache, wir konnten uns wenigstens vierzig Tage lang eines sorgenfreien Lebens erfreuen.‹ Die Nachricht über Scheich Sperling erreichte die Diebe, die vierzig an der Zahl und sehr klug waren. Ihr Anführer
beratschlagte mit seinen Kumpanen, was zu tun sei, da Scheich Sperling mit seiner Wunderkraft ihre Tat bald entdecken, den König davon unterrichten und das Versteck des gestohlenen Schatzes preisgeben würde. Einer der Räuber hatte einen einleuchtenden Ratschlag. »Einer von uns sollte in der Nacht zum Haus von Scheich Sperling schleichen und an der Wand lauschen, um herauszufinden, was der Scheich zu tun gedenkt.« Scheich Sperling schlachtete an diesem Abend den ersten Hammel. »Das ist der erste von den vierzig, Frau«, rief er Heuschrecke zu. Das hörte auch der Dieb hinter der Mauer. Angsterfüllt kehrte er zu seinen Gesellen zurück. »Ihr werdet euch wundern!« rief er. »Sperling hat unsere Sache entdeckt.« Wer ihm das gesagt habe, wollten alle wissen. »Ich habe ihn sprechen hören: ›Das ist der erste von den vierzig, Frau.‹« Ein zweiter Räuber sollte lauschen gehen. Er hörte Scheich Sperling anderntags sagen: »Das ist der zweite von den vierzig, Frau.« Und der Dieb glaubte, er sei gemeint. Schnell lief er zu seinen Gefährten zurück und bestätigte die Worte des ersten Lauschers. Sie entsandten einen Tag um den anderen noch einen dritten, vierten und fünften. Alle kamen bestürzt zurück und bekräftigten die Berichte ihrer Komplizen. Schließlich blieb nur noch der Räuberhauptmann. Er lief selbst zum Haus von Scheich Sperling, um sich von den Auskünften seiner Gefolgsleute zu überzeugen. »Jetzt ist die Vierzig voll. Komm und erhebe dich, Weib!« hörte er Sperling sagen. Rasch eilte der Räuberhäuptling zu seinen Kumpanen, um mit ihnen zu beratschlagen. »Was sollen wir tun? Scheich Sperling hat alles herausgefunden«, sprach er. »Morgen geht er zum König und nennt ihm unsere Namen und das Versteck des gestohlenen Schatzes.« Einer der Räuber wußte Rat. »Wir könnten den Schatz nehmen und ihn vor das Haus von Sperling tragen.« Alle waren einverstanden. Zur gleichen Stunde berieten auch Sperling und Heuschrecke, was sie weiter tun sollten. »Wohin
fliehen wir vor dem König? Morgen schlägt er mir den Kopf ab«, klagte Scheich Sperling seiner Frau sein Los. »Hilf mir, unser Hab und Gut zu tragen!« bat Heuschrecke niedergeschlagen. »Wir ziehen in ein fernes Land.« Als die Räuber das Haus von Sperling erreicht hatten, war der gerade mit seiner Frau im Aufbruch begriffen. Die Diebe nahmen an, er gehe zum König. Sperling hingegen glaubte, sie seien Soldaten des Königs. Die Räuber traten jedoch rasch auf den Scheich zu und küßten ihn und baten ihn inständig, daß er dem König nichts von ihrem Diebstahl berichte. Scheich Sperling fiel ein Stein vom Herzen über diesen unverhofft glücklichen Ausgang. »Ich hatte euch gleich erkannt. Seit der ersten Nacht habe ich eure Anzahl laut vorgezählt. Allerdings habe ich meine Sache abgewartet und zu Allah gefleht, daß er euch auf den rechten Weg zurückführe und ihr mit dem Schatz zu mir kommen mögt, ohne daß ich dem König von euch berichten muß«, sagte er geistesgegenwärtig. Die Räuber legten den Schatz vor dem Scheich nieder und gelobten, nie wieder Gleiches zu tun. Nach dieser Schicksalswendung ging Sperling am anderen Morgen zum König. »Der Schatz ist bei uns angekommen«, offenbarte Sperling. »Schicke deine Männer, damit sie ihn holen, und vergib den Schuldigen!« So verbreitete sich die Kunde, der Scheich könne wahrhaftig Wunder vollbringen. Jedes Weib der Stadt kam zu ihm gelaufen, damit er helfe. Zu seinem Glück fanden die alltäglichen Fragen durch Zufälle ihre Antworten. König, Wesir und deren Gefolgschaft gingen eines schönen Tages auf den Basar, um nach dem Rechten zu sehen. Der Ruhm Sperlings war in aller Munde, so daß der Wesir befürchtete, jener könne ihm gefährlich werden und gar seinen Posten einnehmen. So beschloß er kurzerhand, Sperling zu Fall zu bringen.
Der Scheich indessen schalt sein Weib, weil sie ihn derart in Verlegenheit gebracht hatte. »Mich beängstigt, eines Tages keine Antwort mehr zu wissen und Opfer deines falschen Ehrgeizes zu werden«, klagte er Heuschrecke. »Allah, der dich bisher immer gerettet hat, wird dir auch künftig beistehen«, beschwichtigte ihn die Frau. »Glaube mir, der Tod ist leichter zu ertragen als ein Leben in Armut und Entbehrung.« König und Wesir waren auf dem Basar bei einem Kaufmann angelangt, der in Kesseln seine Waren aufbewahrte. »Laß Scheich Sperling rufen, damit er uns wahrsagt, was sich in den Kesseln befindet!« weckte der Wesir des Königs Interesse. »Ich habe ihn nämlich im Verdacht, daß er ein Schwindler ist.« »Wenn dem so ist, schlage ich ihm den Kopf ab«, erwiderte erzürnt der König. Scheich Sperling haderte bei dieser neuerlichen Aufgabe mit seinem Weib, die Ursache seines Unglücks und seiner Pein sei. »Was sage ich denn jetzt?« fragte er verzweifelt. »Zum ersten sage: ›so unschuldig weiß wie Milch. Zum zweiten sprich: So bitter wie Aloe‹«, riet ihm Heuschrecke. Sie verglich dabei eigentlich die Geschichte von den Räubern mit dem Vorfall auf dem Basar. Nachdem Sperling die Sprüche dem König kundgetan hatte, öffnete man den ersten Kessel und fand darin Milch. Im zweiten Kessel war Aloe. Ein drittes Mal ließ der König Scheich Sperling rufen, weil er von ihm wissen wollte, was in zwei Schatullen verborgen war. Der Herrscher war zuvor auf einer Wiese gewesen und hatte eine Heuschrecke beobachtet, die vor einem Sperling davonsprang und sich im Gras verbarg. Der Wesir fing Heuschrecke und Sperling und versteckte sie in Dosen. Der Fürst wollte den Scheich erneut auf die Probe stellen, damit er wahrsage, was sich in den Schatullen befinde. Wieder machte Sperling, als er die neue Aufgabe vernommen hatte, seinem Weib bittere Vorwürfe. Es ging ihm schlecht, Kummer und
Sorge ergriffen ihn. Das Leben hatte für ihn nicht länger seinen süßen Beigeschmack. Er weinte und wünschte sich den Tod, denn was war schon ein Leben in Lug und Trug. »Geh zum König«, sprach Heuschrecke. »Sage ihm: Wenn du willst, erzähle ich dir meine Lebensgeschichte. Aber bedenke: Wäre Heuschrecke nicht gewesen, wäre Sperling nicht in diese Lage geraten.« »Du bist ein geschickter Wahrsager«, gab der König zu und lüftete die Deckel beider Schatullen. Er reichte Scheich Sperling eine Summe Geldes, daß er es sich Wohlergehen lasse. Aber Sperling hob an, vor dem König zu weinen, und bat um Vergebung, weil er das Geld nicht annehmen könne. »Was fehlt dir?« fragte der König. »Gestatte mir, o König«, bat er, »wieder die Schule zu eröffnen. Ich möchte wieder Schulmeister sein. Ich bin des Wahrsagens müde, die ständige Sorge hat mich aufgerieben.« Der König stimmte dem zu. Auch Heuschrecke war über die Rückkehr ihres Mannes in die Schule froh. Sie war sogar entschlossen, aus dem Gesichtskreis des Königs zu fliehen und in ein fernes Land zu gehen, in dem niemand Scheich Sperling kannte.
Hassan und Salma
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit. So soll es denn sein. Es war einmal eine Mutter, die hatte nur einen Sohn. Eines Tages kam der Junge aus der Schule und verkündete, daß er in die Ferne ziehen wolle. »Woher willst du das nötige Geld nehmen? Sind wir nicht arm?« wunderte sich die Mutter. »Ich werde arbeiten und das Geld zusammentragen, um die alAzhar-Moschee in Kairo besuchen zu können«, erwiderte der Bursche. So reiste Hassan nach Ägypten und mietete nahe der berühmten al-Azhar-Moschee einen kleinen Laden, so daß er Geld verdienen und dennoch studieren konnte. Nun zog der König von Ägypten jeden Freitag in die große Moschee. Einmal saß Hassan in seinem Laden und psalmodierte mit so voller, schöner Stimme die Suren des Korans, daß der Fürst und seine Tochter Salma den Jüngling hörten. Der König trat in den Laden, um dem Koranvortrag zu lauschen und dabei ein Glas Saft zu trinken. Der Wesir erfuhr davon und wurde zornig. »Deine Untertanen tuscheln, die Prinzessin liebe einen Hassan, einen Saftverkäufer«, hintertrug er dem Herrscher. »Schlag diesem Saftverkäufer den Kopf ab und bringe mir eine Flasche voll von seinem Blut!« versetzte der König wutschäumend. Die Prinzessin hatte das Gespräch der beiden belauscht und schickte rasch einen Diener zu Hassan. »Schließe auf der Stelle deinen Laden und komme zu mir!« ließ sie ihm ausrichten. Die Königstochter verbarg den Burschen in einer abgelegenen Kammer unter dem Palast. Sie tötete einen kleinen Vogel, ließ sein Blut in ein Fläschchen tropfen und ging damit zum König,
der die Viole nahm und austrank. Das Mädchen brachte Hassan die Bücher des Vaters, damit er weiter studieren konnte. Zu eben dieser Zeit brauchte der König in Istambul Geld. Er sandte kurzerhand nach dem König von Ägypten und verlangte die Lösung eines Rätsels. Den König in Kairo packte ohnmächtiger Zorn. Als sich seine Tochter nach dem Grund erkundigte, erzählte er ihr von dem Rätsel, dessen Lösung der König in Istanbul verlangte. Des Nachts schläferte das Mädchen den Vater durch einen Trank ein und stieg zu Hassan hinab. »Was stimmt dich so traurig?« fragte der die betrübte Prinzessin teilnahmsvoll. Daraufhin berichtete sie ihm alles. »Bringe mir die Botschaft«, verlangte der Bursche und sie brachte das Verlangte rasch herbei. »Sei nicht traurig, der König von Istanbul will die Deutung eines Traumbildes voller rätselhafter Lebensweisheiten. Er verlangt die Deutung dreier Gleichnisse. Das ist recht leicht. Die erste Regel: Kein Baum der Welt gelangt je an das Himmelszelt. Die zweite: Möge Allah nimmer ruh’n, daß du kannst nichts Schlechtes tun. Und die dritte: Ist die Nacht auch noch so lang, der Tag bricht unumgänglich an.« Da freute sich die Prinzessin und trug am anderen Morgen die Antwort zu ihrem Vater. Dem König in Kairo fiel ein Stein vom Herzen, daß er die Antwort übermitteln konnte. Als diese beim König von Istanbul eintraf, wurde eine weiße Flagge zum Zeichen dafür gehißt, daß der König von Ägypten den Sieg davongetragen hatte, denn ihm war den Traum zu deuten gelungen. Doch der König von Istanbul gab sich nicht zufrieden und kurze Zeit später forderte er die Lösung eines neuen Rätsels vom Herrscher am Nil, worüber diesen der Groll packte. Als die Dunkelheit an diesem Tag hereinbrach, stieg die Prinzessin Salma traurig zu Hassan hinab. Sie erzählte ihm, daß der König von Istanbul ihnen zwei Mädchen mit der Forderung
geschickt habe herauszufinden, welches von ihnen die Base mütterlicherseits und welches die väterlicherseits sei. »Das ist ja noch leichter als die erste Aufgabe!« rief Hassan aus. »Wieso?« fragte verwundert Salma. »Beide sprechen doch kein einziges Wort Arabisch.« – »Bereite den beiden ein in Öl gesottenes Gericht und gib zur Weizengrütze reichlich Pfeffer und Salz. Stelle kein Wasser auf die Tafel, sondern eine Karaffe abseits auf einen Beistelltisch. Welche der beiden nach dem scharfen Essen Wasser zu trinken verlangt, ist die Tochter der Mutterschwester«, verkündete er. Salma tat, wie ihr Hassan geheißen hatte. Als sich eines der Mädchen erhob, um nach dem schweren und scharfen Mahl Wasser auszuschenken, versah die Prinzessin es rasch mit einem Zeichen. Am anderen Tag schickte man die beiden zum König von Istanbul zurück, der die weiße Flagge zum Zeichen dafür hißte, daß der König von Ägypten erneut siegreich geblieben war. Geraume Zeit darauf sandte der König von Istanbul eine Botschaft an den Herrscher am Nil, in der er verlangte, das Schwert des Königs vom Schwert des Wesirs zu unterscheiden. Niedergeschlagenheit bemächtigte sich des Königs von Ägypten, weil er nicht wußte, was er anstellen sollte. Am Abend stahl sich Salma erneut zu Hassan. »Schaffe einen Hund herbei und schlage ihm mit einem der Schwerter den Kopf ab. Fällt er mit dem ersten Streich, dann war es das Schwert des Königs, wenn nicht, das des Wesirs.« Das Mädchen folgte dem Rat. Man sandte sodann die beiden edlen Klingen mit der Antwort an den König von Istambul, der wiederum die weiße Fahne hißte. Aber schon wenig später hatte er sich ein neues Rätsel ersonnen, das ihm der König von Ägypten lösen sollte. »Du stehst hinter einem Berg, ich hinter einem zweiten. Von dort gebe ich dir Zeichen. Kannst du sie deuten, bist du gerettet, wenn nicht, schlage ich dir den Kopf ab.« Wieder stieg Salma in der Nacht zu dem klugen Hassan
hinab in die Kammer unter dem Palast und erzählte ihm von dieser schweren Aufgabe. »Schickt einen zum Tode Verurteilten an des Königs Statt«, riet der Jüngling, »denn was diesmal verlangt wird, weiß nur der erhabene Allah allein.« Die Prinzessin schickte am anderen Tag nach einem dem Tode geweihten Beduinen und hieß ihn, sich hinter den Berg stellen. Der König von Istanbul machte ihm Zeichen: Zuerst wies er mit beiden Handflächen ins Rund und dann reckte er die Finger in die Höhe. Der Beduine tat genauso wie der König von Istanbul, so daß jener wahrhaftig annahm, der einfache Mann habe die Bedeutung der Gesten verstanden. Beide Handflächen sollten fragen: Wer schuf die Werte dieser Welt? Und die Antwort lautete: Wer den Himmel erhöht. Die zweite Geste, das Erheben der Finger, hatte den Sinn: Gott ist alleinig. Der König von Istanbul hißte die weiße Flagge und gab sich abermals geschlagen. Der König von Ägypten befahl den Beduinen vor sich. »Was hast du für Zeichen hinter dem Berg gegeben?« wollte der Herrscher wissen. »Der hinter dem anderen Berg bedeutete mir: Bei Allah, ich werde dir den Kopf abschlagen. Ich ließ mir das nicht gefallen und wies ihm: Eher haue ich dir den Kopf ab. Er wiederum ließ nicht locker und gab Zeichen: Ich schlage dir ein Auge aus. Doch ich gab zurück: Dann schlage ich dir beide raus«, gab der Mann bereitwillig Auskunft. Da befahl der König von Ägypten, den Beduinen umgehend freizulassen. Allerdings fand der König aus Kairo es reichlich merkwürdig, daß seine Tochter stets die richtigen Antworten gewußt hatte. »Erteile mir ein Generalpardon und ich werde sprechen«, erbat sich Salma. Als dies geschehen war, erzählte sie ihm ihr lang gehütetes Geheimnis. Der König wies an, Hassan zu holen. Schon fünf Minuten später kam auch der
Heiratsbevollmächtigte des Kadis. Ein rauschendes Fest zur Hochzeit von Hassan und Prinzessin Salma wurde anberaumt. Nach inzwischen vergangenen neun Jahren erinnerte sich der Jüngling seiner Mutter, die er zu holen in die Heimat reiste. Sie wohnte fortan bei ihrem Sohn und freute sich ihres Lebens, wie sich alles gefügt hatte. Zu jener Zeit befahl der König auch den lügnerischen Wesir vor sich. Er erkundigte sich nach dem Blut, was jener ihm einst gebracht hatte. »Es war Vogelblut«, gestand der Minister. Da befahl der König, dem Wesir den Kopf abzuschlagen.
Danach lebten sie alle in Glück. Möge es euren Herzenslieben ebenso ergehen.
Der Gesang des Kaffees
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Wer gesündigt hat, der spricht: »Allah vergib!«, das ist Pflicht. So soll es denn sein. Es lebte einmal ein König, den Allah mit großer Macht ausgestattet hatte. Jener König hatte einen Wesir, den er für seine Tüchtigkeit in der Arbeit, für seine Artigkeit und Geselligkeit schätzte, denn er war ihm ein wahrer Vertrauter. Als sie eines Tages beieinander saßen, befand sich der König in einem Zustand innerer Unrast. »Wesir, mich verlangt es nach einem Täßchen Kaffee von deiner Hand«, wandte sich der Herrscher an seinen Minister. »Wie Ihr befehlt, o Herr«, antwortete dieser und eilte, um das gewünschte Getränk zu bereiten. Wie der Kaffee über der Kocherflamme wallte, wandte sich der König plötzlich an den Wesir. »Ich will, daß du mir kundtust, was der Kaffee erzählt, während er über dem Feuer brodelt. Sprich!« Der Wesir war verwirrt. »Allah möge dir ein langes Leben bescheren, o größter König aller Zeiten. Wasser, auch wenn es kocht, was soll es schon viel erzählen. Kann denn Kaffee überhaupt reden?« erwiderte er. »Du hast einen Monat Zeit«, beharrte der König finster, »sonst schlage ich dir den Kopf ab.« Den Wesir packte die Angst. Er verließ das abendliche Beisammensein und ging nach Hause. Dort erwartete ihn seine Tochter, die sich, als sie seine Traurigkeit bemerkte, nach dem Grund für seine Trübsal erkundigte. Aber er verlor auch dann
kein Wort, als ihm sein Weib um den Bart ging. Er aß nicht mehr und trank nicht mehr. Das Mädchen war – wie eure eignen Töchter – zartfühlend, daß sie ihrem Vater so lange gut zuredete, bis er die Familie aufklärte, was der König von ihm verlangt hatte, der ihm das Haupt abschlagen wolle, falls er keine Deutung brächte. »Sei nicht traurig und faß wieder Mut, der Herr im Himmel hilft und alles wird gut!« sprach die Tochter. »Nun steh schon auf, Vater, und tu etwas für eine Lösung!« Der Wesir sattelte am anderen Morgen sein Pferd, schnallte ihm eine ordentliche Packtasche auf und brach auf. Er zog über die Lande und befragte einen jeden, der ihm begegnete, was brodelnder Kaffee wohl spräche, aber keiner vermochte ihm Aufklärung zu geben. Nachdem zehn Tage verstrichen waren, war er der Fragerei überdrüssig. In seinem Inneren keimte aus Verzweiflung die Lust zur Umkehr, aber schließlich setzte er seine Wanderung fort. Vom Pferderücken Ausschau haltend, erspähte der Wesir einen Bauern auf einem Feld am Wegesrand. Der Minister ritt auf den Acker zu und entbot dem Landmann seinen Gruß. Sie kamen ins Gespräch, wobei der Bauer herausfand, daß jener ein Fremdling war. Artig lud er ihn ein, in seinem Hause die Nacht zu verbringen, womit der Wesir einverstanden war. »Schreitest du für mich aus, schreite ich für dich aus?« fragte der Wesir, als sie sich am Abend zur Heimkehr anschickten. Der Bauer sagte kein Wort, grollte aber ein wenig bei dem Gedanken, jener könnte sich über ihn lustig machen. ›Er reitet ein Pferd und ich einen Esel. Wie könnte ich für ihn oder er für mich ausschreiten?‹ Unterwegs kamen sie an einem Garten vorüber, in dem alle Arten Obst und ein Süßwasserquell zu finden waren. »O Bruder, ißt der Besitzer aus diesem Garten oder nicht?« fragte der Wesir erneut, und wieder gab der Bauer keine Antwort, nur
der Zorn stieg in ihm immer höher. Als sie an einem Friedhof vorbeiritten, fand gerade eine Beerdigung statt, wobei die Leute ganz darin ergeben waren, den Toten unter die Erde zu betten. »O Freund, ist der Tote wirklich tot oder wird er weiterleben?« wollte der Wesir wissen. Nun schäumte der Groll in dem Bauern. »Wie kannst du nur so etwas sagen, während er gerade beigesetzt wird. Hat man je einen Lebenden begraben?« Und schließlich war der Landmann voller Verdruß über den Fremden. »Edelmütiger Bruder«, redete er den Wesir an, als sie in das Dorf kamen, »ich kann dir nicht in meinem Haus aufwarten.« So wies er ihm den Weg zur Karawanserei, nahm einen kurzen Abschied und zog zürnend seiner Wege. Der Bauer setzte sich zu Hause nieder, aber die Zeichen von Groll und Gram standen ihm noch deutlich ins Gesicht geschrieben. Seine Tochter, die so überaus schön wie unfehlbar scharfsinnig war, spürte den Gemütszustand ihres Vaters. »Was hat dich so in Zorn versetzt?« erkundigte sie sich mitfühlend, und er berichtete ihr von dem Fremdling, seinen seltsamen Reden und wie jener ihn zu verspotten getrachtet hatte. »Allah möge dich versöhnlich stimmen, o Vater«, beschwichtigte ihn das Mädchen. »Aber die Deutung von ›Schreitest du für mich aus, schreite ich für dich aus?‹ ist doch: Ein Schritt von dir, ein Schritt von mir, auf daß wir den Weg bald geschafft haben mögen. Der Sinn der Worte ›Ißt er aus dem Garten oder nicht?‹ bezieht sich darauf, ob der Besitzer des Gartens reich ist, dann kann er von seinen Erträgen leben, ist er aber arm, so verzehrt er sich, nur um seine Pacht zu begleichen und bekommt von den Früchten seiner Arbeit selber nichts zu beißen. Was die Frage anbelangt ›Ist der Tote wirklich tot oder wird er weiterleben?‹ so war damit gemeint, daß, wenn der Verstorbene Kinder hinterließ, sein Name weiterlebt, widrigenfalls erlischt bald jede Erinnerung an ihn.«
»Oh, dann habe ich jenem Fremden unrecht getan«, bereute der Vater. Die Tochter erkundigte sich nun, wo der Fremde abgestiegen sei und erfuhr, daß er sich in der Herberge ein Zimmer genommen habe. Der Bauer legte sich schon zeitig schlafen, seine Tochter aber erhob sich wieder und kochte acht Eier, buk dreißig Brotfladen und füllte eine Schale mit Joghurt. »Trage den Korb in die Karawanserei und übergib ihn dem Fremden!« trug das Mädchen ihrem kleineren Bruder auf. »Und sage ihm: ›Mein Vater bittet dich morgen zum Mittagsmahl zu uns.‹« Der Junge bestellte alles auf die gewünschte Weise und wies dem Wesir noch den Weg zu ihrem Haus. Der öffnete den Korb und bemerkte, daß etwas fehlte. »Richte deiner Schwester aus«, wandte er sich an den Jungen, »euer Monat hat nur neunundzwanzig Tage, eure Woche nicht mehr als sieben Tage und der Vollmond nimmt ab.« Der Bursche eilte mit dieser Botschaft zu seiner Schwester, die auf der Stelle verstand. »Also, du hast einen Fladen und ein Ei gegessen und außerdem vom Joghurt genascht. Ist es nicht so?« sagte das Mädchen ihrem Bruder auf den Kopf zu, der alles eingestand und von ihrer Klugheit erstaunt war. Dem Vater sagte der Junge am anderen Morgen, daß die Schwester den Fremden zum Mittagsmahl gebeten hatte. Die Bauerntochter putzte das Haus und schuf allerorten Ordnung, dann ging sie ans Kochen. »Lauf zu dem Fremden!« wies sie den Bruder an. »Vielleicht findet er allein nicht den Weg zu uns.« Der Junge verschwand und kehrte mit dem Wesir zurück, der von der geschmackvollen Schlichtheit und Sauberkeit des Hauses angenehm berührt war. Das Mahl wurde aufgetragen, und er aß und fühlte sich wohl. »Nun möchte ich nur noch ein Täßchen Kaffee von deiner Hand trinken«, bat der Wesir das Mädchen nach der Mahlzeit. Sie holte sogleich das Kaffee-Gerät herzu
und begann, den Kaffee in seiner Gegenwart zu bereiten. Als der belebende Trunk wallte und brodelte, fragte er sie: »Ich möchte aus deinem Munde hören, solltest du so gescheit sein, was der Kaffee spricht, wenn er beim Kochen aufwallt.« »Sagt Ihr es doch!« wandte sie kokett ein. »Ach, ich wollte dich nur auf die Probe stellen«, tat der Wesir scheinheilig, »denn ich weiß es ohnehin.« »Der Kaffee summt und das zu einer schönen Melodie: ›Das erste Wallen – Allah läßt nichts Schlechtes zu; das zweite Wallen – Eines Übels Wurzel steckt in jedem selbst. Als Wasser bin ich durch ein Tal geflossen, und jeder Zweig, der ward begossen, nun sengen mich Flammen von Ästen und Sprossen.‹« Den Wesir erfüllte eine große Freude. Kaum daß das Mahl und der Genuß des Kaffees beendet waren, nahm er seinen Abschied und bestieg sein Pferd, das er zu großer Eile antrieb, daß er schon nach sieben Tagen wieder bei Hofe war. Dem König konnte er mitteilen, was des Kaffees Worte seien. Der Herrscher war verblüfft. »Diese Worte sind nicht deines Geistes Kind. Also wer war es dann, der sie dir offenbarte?« schloß der Herrscher. »Gewähre mir zuerst einen Generalpardon, o König«, bat der Gefragte, was ihm der Monarch zugestand. Nun berichtete der Wesir all seine Erlebnisse, und den König erfaßte tiefe Bewunderung für die Klugheit des Mädchens. »Lieber Wesir, ich begehre jenes Mädchen zum Weib. Reite zu ihr zurück und wirb um ihre Hand. Gib als Brautgeld, was sie verlangt, nur bringe sie hierher.« Der Wesir ließ sich ein Geschenk aushändigen und eilte in das Dorf des Mädchens. »Liebes Mädchen, der König begehrt dich zum Weib«, tat er ihr kund, nachdem er ihm die kostbare Gabe überreicht hatte. Als der Vater heimkam, eröffnete der Wesir auch ihm den königlichen Willen und den Heiratsantrag
für die Tochter, dem sich der Alte unterwarf. Am anderen Morgen stellte sich das Mädchen eine Aussteuer zusammen und brach mit dem Wesir auf. In der Residenz des Königs begab es sich zuerst in das Haus des Wesirs, um sich zu baden und zu parfümieren und um ein wenig auszuruhen. Am darauffolgenden Tag führte der Wesir die Schöne vor den. König. Sie trat graziös einen Schritt vor und einen zurück und grüßte den Herrscher mit süßen Worten, wie sie holder nicht sein konnten. »Hast du wirklich des Kaffees Gesang gedeutet?« fragte der König, nachdem er ihren Gruß erwidert hatte. Und sie bejahte die Frage mit sicherer Stimme. »Ich werde dich nur unter einer Bedingung zur Frau nehmen, wenn du mir folgende Wunder vollbringst: Der Ehevertrag wird für uns aufgesetzt, und im Anschluß daran lasse ich dich sofort allein im Palast zurück. Ich gebe dir eine leere Satteltasche, die ich bei meiner Rückkehr nach einem Jahr mit Gold gefüllt und mit dem königlichen Siegel versehen vorfinden möchte. Ich habe eine junge Stute, die bei meiner Rückkehr in zwölf Monaten von meinem Hengst gedeckt und guter Hoffnung sein soll, den ich mit mir führe. Und auch du selbst sollst von mir schwanger gehen, ohne daß ich dir auch nur zu nahe getreten bin. Bist du dazu bereit?« Das Mädchen bejahte und so wurde der Ehekontrakt geschlossen. Unmittelbar danach brach der Fürst zu einem Kriegszug auf. »Da habe ich mir aber etwas eingebrockt«, stöhnte die junge Königin. »Wie soll ich das alles bloß anstellen!« Nach gut einem Monat hatte sie etliche Freundinnen gewonnen, die sie sehr ins Herz geschlossen hatten. Ihnen schlug die junge Frau eines Tages vor, einen weiten Ausflug zu unternehmen, denn sie hatte herausgefunden, wo sich ihr Gemahl gerade aufhielt. Alle waren einverstanden und mit der Einwilligung ihrer Eltern brachen sie auf. Die Königin hatte für die Reise vorsorglich
das Kaffee-Gerät, die junge Stute und die besagte Satteltasche mitgenommen. Dann führte das Mädchen ihre Gefährtinnen bis nahe an den Ort, an dem sich ihr Gemahl aufhielt. Von einigen Soldaten erfuhr sie, daß sich die Armee gerade im Biwak befand. In der Nähe des Biwaks schlugen die Mädchen ihr Lager auf und zogen Männerkleider an. »Ich möchte von euch, ihr Mädchen, daß ihr mich Schatir Hassan nennt und mich als euren Anführer behandelt«, verlangte sie dann. Als ihre Wohnzelte und das Gästezelt aufgestellt waren, ging die Königin daran, Kaffee zu bereiten: Sie röstete grüne Kaffeebohnen und zerrieb sie in einem wuchtigen hölzernen Mörser. Sie machte dabei viel Aufhebens, um weithin gehört zu werden. Und es dauerte nicht lange, da kamen zu ihr eine Reihe von Prinzen und Offizieren. Ihnen servierte sie einen köstlichen Kaffee, von dem alle meinten, nie einen ähnlichen getrunken zu haben. So gewollt, erzählten sie dem König von dem Nachbarn und seinem einmaligen Kaffee, daß sich der König schon am anderen Tag höchstpersönlich die Ehre gab und von Schatir Hassans Kaffee kostete. Bei dieser Gelegenheit lud jener sogar den Herrscher für den kommenden Tag zum Mittagsmahl, zu dem der König mit seinen Emiren erschien. Sie aßen und tranken, und der König erfreute sich des Wohlgeschmacks von Speis und Trank. Beiläufig erkundigte sich Schatir Hassan bei seinem hohen Gast, ob dieser Schach spiele. »Mit dem größten Vergnügen«, antwortete der Gefragte. »Doch spiele ich nur um einen Einsatz. So wählt, Schatir Hassan, ein Pfand, und ich will einverstanden sein.« »Laßt uns unsere Ringe setzen«, schlug der Gastgeber vor und das Spiel begann, das die verkleidete Königin gewann. Der König gab seinen Siegelring dem Gewinner, der jenen ablenkte und die Gunst der Stunde nutzte, um die Satteltasche mit Gold zu füllen und anschließend mit dem Siegel des
Königs zu verschließen. Dann reichte sie dem König seinen Ring zurück. Am nächsten Tag kam der König schon in aller Frühe und blieb bis in den späten Abend. Und so geschah es auch am dritten Tag. Er konnte einfach die Anwesenheit im Zelt von Schatir Hassan nicht missen. Am vierten Tag spielten sie erneut eine Partie Schach. Diesmal standen als Einsatz die Hengste beider Kontrahenten. Schatir gewann von neuem und bekam so den Hengst des Königs. In, der folgenden Nacht besprang der Hengst die junge Stute und deckte sie. Schon am anderen Tag gab er dem König sein schönes Tier zurück. Wieder kam der Herrscher in das geräumige Gastzelt und bat um eine weitere Partie des königlichen Spiels. Diesmal sollten ihre Bettgefährtinnen Einsatz sein. Schatir Hassan spielte allerdings so schwach, daß der König den Sieg davontrug. »Am Abend werde ich dir meine Beischläferin zuführen«, versprach der Verlierer, und der König frohlockte in freudiger Erwartung. Gegen Abend entledigte sich die Königin ihrer Männerkleider und schminkte und parfümierte sich. Ihren Freundinnen trug sie auf, dem König in zehn Tagen Nachricht zu geben, daß Schatir Hassan seine Beischlafgenossin gern zurück hätte. »Denn ich selbst werde jetzt zum König in der Rolle der Beischläferin gehen«, weihte sie die Gefährtinnen ein. Der König ergötzte sich reichlich an dem Mädchen. Nachdem der siebente Tag verstrichen war, kam am achten eine als Mann verkleidete Freundin der Königin zum Herrscher und bat sich für Schatir Hassan die Gespielin zurück. Der König kam dem Wunsche nach und sandte die vermeintliche Beischlafsklavin zurück. Kaum wieder bei ihren Freundinnen, bestimmte die Königin eiligst die Rückkehr in den Palast. Die Stute war trächtig vom Hengst des Königs, sie selbst war auf dem besten Wege einer Schwangerschaft und außerdem war
die Satteltasche gefüllt, verschlossen und mit dem königlichen Siegel versehen. Im Palast begann sie, für das werdende Kind zu schneidern und zu nähen. Und als der König bereits ein ganzes Jahr abwesend war, schenkte die Königin einem schönen Knaben das Leben und die Stute warf ein gesundes Füllen. Der Tag für die Rückkunft des Herrschers kam näher. Bei seiner Ankunft bereitete man ihm einen feierlichen Empfang. Und als er seinen Palast betrat, kam ihm sein junges Weib entgegen, grüßte ihn und hielt ihm seinen Sohn entgegen. Sogleich lief der Fürst in den Pferdestall, wo neben der Stute ein Füllen stand. Der König war verwirrt. »Zeige mir die Satteltasche!« verlangte er und fand das Behältnis mit seinem Ring versiegelt. »Das gehört zu den wunderbarsten Seltsamkeiten«, sprach er. »Aber wie ist das alles zu erklären?« »O König«, berichtete sie, »erinnerst du dich, als Schatir Hassan dich im Schachspiel besiegte und deinen Ring nahm?« Der König erinnerte sich. »Ist es dir gegenwärtig, als dich Schatir Hassan das zweite Mal besiegte, er deinen Hengst nahm? Und entsinnst du dich auch noch, als du jenen Schatir Hassan matt setztest, du von ihm seine Beischläferin nahmst?« Der König hatte auch dies nicht vergessen. »Nun, ich war Schatir Hassan und auch die Beischläferin«, gestand die Königin aus der Bauernfamilie zum Schluß. Der König war tief beeindruckt von ihrem scharfen Verstand. »Alle Bedingungen sind erfüllt«, entband der Herrscher seine Gemahlin von ihrer Pflicht. »Ich bin nunmehr deine Frau. Allerdings ist mir klar geworden, daß du nicht richtig Schach spielen kannst.« Der König hatte seine Freude an seiner Frau und lebte mit ihr in Wohlbefinden.
Mit holden Wonnen, Seligkeit und Glück versüße Allah der Hörerschaft Geschick. Und ich ließ sie allein und kam zu euch herein.
Der Fischer und der König
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Wer gesündigt hat, der spricht: »Allah vergib!«, das ist Pflicht. So soll es denn sein. Es lebte einst ein großmächtiger König, der hatte eine sehr schöne Tochter und außerdem einen Brudersohn, den er ebenfalls sehr liebte. Jener König nun wünschte sich nichts sehnlicher, als diesen mit seiner Tochter zu vermählen, die den Burschen ebenfalls zum Manne begehrte. »Aber«, verkündete sie ihrem Vater, »ich nehme ihn nicht eher, bevor ich mich nicht davon überzeugen konnte, daß er klüger, weiser und verständiger ist als ich.« Damit begann sie auf den Tag zu warten, an dem er verständiger als sie sein werde. Eines kalten Wintertages mit Schnee, Eis und klirrendem Frost verlangte es den König nach einem Ausritt. Er rief nach seinem Sklaven. »Masrur, führe mir das Pferd vor«, befahl der Herrscher, als gerade sein Neffe eintrat. »Wohin des Wegs, Onkel?« erkundigte er sich. »Ich möchte ausreiten. Willst du nicht mitkommen?« fragte der König, und der Jüngling stimmte zu. Auch die Königstochter, die das Gespräch mit angehört hatte, schloß sich ihnen an. Sie schwangen sich auf die Pferde und ritten einen Weg entlang, bis sie einen hochgelegenen Ort erreicht hatten. Der junge Prinz warf einen verstohlenen Blick auf seine Base und fand sie sehr schön. Zu seinem Onkel gewandt, sagte er: »Die Sonne steigt auf, und nichts bleibt mehr im Dunkeln.« Unverzüglich antwortete das Mädchen:
»Doch die Sterne der Nacht und der Mond beweinen sie.« Sie ritten weiter, bis sie zum Meeresstrand gelangten. Der König erblickte einen Fischer bei der Arbeit. An den wandte er sich. »Drei und drei und drei, doch auch an diesen drei kommst du nicht vorbei?« sprach der König den Fischer an. »Drei und drei und drei und mehr, auch jene drei brauch’ ich gar sehr«, gab jener zurück. »Wie geht es deinem fernen Bruder?« fragte wieder der König. »Er ward nah.« »Wie geht es deinen beiden Stützen?« »Sie wurden drei.« »Wie steht’s um jene Höhle mit den vielen Steinen?« »In der sind keine Kiesel mehr«, ließ der Fischer hören. »Verkaufe nicht billig!« schloß der König »Rate keinem Strebsamen!« sagte der Fischer zum Abschied. Der König und seine Begleiter verließen den Fischer und ritten in den Palast. Der Neffe des Königs hatte von dem Wortwechsel mit dem Fischer aber auch gar nichts verstanden. Noch bevor sie den Palast erreichten, wendete der Jüngling sein Pferd und kehrte zu dem Fischer zurück. »Ich habe nichts von dem verstanden, was ihr und mein Onkel besprochen habt«, gestand er. »So bin’ ich dich um eine Deutung eurer Worte.« »Als der König mich fragte ›drei und drei und drei, doch auch an diesen drei kommst du nicht vorbei‹, meinte er die Sommermonate, die mich nicht vor der Arbeit im Winter bewahrten. Ich antwortete ihm ›drei und drei und drei und mehr, und jene drei brauch’ ich gar sehr‹. Damit meinte ich, daß ich neun Kinder zu ernähren und auch die Arbeit in den kalten Wintermonaten bitter nötig habe. Des Königs Frage ›Wie geht es deinem fernen Bruder?‹ sollte heißen, ob ich noch das Ferne erkennen könne, worauf ich ihm andeutete, daß mein Augenlicht nachgelassen hat. Als der Herrscher wissen wollte,
wie es meinen beiden Stützen ginge, hatte er meine Beine im Sinn. Ich sagte ›sie wurden drei‹, denn ich fügte ihnen einen Gehstock bei, auf den ich mich stütze. Der König erkundigte sich noch nach der Höhle mit den vielen Steinen und meinte damit meine Zähne. Ich ließ mit meiner Antwort durchblicken, daß meine Zähne restlos dahin sind. Mit dem Hinweis des Königs ›Verkaufe nicht billig‹ hat es die Bewandtnis, daß ich Weisheit nicht unter Preis kundtue. Ich beruhigte ihn ›Rate keinem Strebsamen‹, was heißen sollte, ich wüßte Bescheid. Und nun möchte ich einen Lohn für all meine Erklärungen.« Der Jüngling reichte ihm einhundert Goldlira und kehrte rasch in den Palast zurück. Der Prinz trat bei seinem Onkel ein. »Hast du gesehen, wie verständig jener Fischer war, o Onkel?« bemerkte der junge Prinz beiläufig. »So hast du also verstanden, was er und ich miteinander beredeten?« erkundigte sich der König. »Aber ja, jedes Wort, jeden Satz habe ich begriffen.« Da wandte sich der König an seine Tochter. »Ich habe nicht einen Satz von dem Gespräch erfaßt«, gestand sie ihrem Vater. »So gelte es«, sprach der König den Neffen wieder an. »Erzähle uns, worüber ich und der Fischer uns unterhalten haben.« Der Jüngling erklärte seinem Onkel all die seltsamen Sprüche. »Wer von euch beiden ist nun der verständigere?« fragte der König seine Tochter, die ihre Bedingung erfüllt sah und den Prinzen zum Ehemann nahm. Sie hielten eine prächtige Hochzeit, der Bräutigam wurde zum König gekrönt, und sie lebten in Glück und Wohlbefinden.
An diesem Punkte in der Mär verließ ich sie und kam hierher. Meine Geschichte ist verteilt, sie ist euch unters Hemd geschnellt.
Filzchen
Es war einmal, es war keinmal, verehrte Hörerschaft im Saal, so bringe ich euch nunmehr dar, was einst in fernen Zeiten war. Es war einmal ein Mann, dem die Frau gestorben war. Sie hinterließ ihm eine schöne Tochter, so schön wie der Vollmond, zu dem sie hätte sagen können: ›Geh, daß ich an deiner Stelle steh’ als Kadi, Mufti und Stadthauptmann, seh!‹ Als das Mädchen heranwuchs, verliebte sich ihr eigener Vater in sie und begehrte sie. Viele Jünglinge hielten um ihre Hand an, aber der Vater gab keinem seine Tochter. Sie durchschaute des Vaters Absichten, der ihr zu guter Letzt seine Liebe auch gestand. Zornig wies sie ihn in die Schranken und hielt ihm die im Islam geltenden Heiratsgebote und Bräuche entgegen. Sie könne nicht glauben, was er ihr angetragen habe. Da entschloß sich der Vater, ein Rechtsgutachten einzuholen und dabei den Kadi zu betrügen. »O Kadi«, brachte er scheinheilig sein Anliegen einem Richter vor, »der Baum an meinem Haus, gehört er meinem Nachbarn oder mir?« »Natürlich steht er dir zu«, antwortete jener. Der Vater erbat sich noch ein Schriftstück zu diesem Sachverhalt, das ihm der Kadi bereitwillig ausstellte. Mit dieser Urkunde ging der Vater zu seiner Tochter und las ihr den richterlichen Spruch vor. »Ich begehre dich zur Frau«, schloß er seinen Vortrag. Dem Mädchen schwanden die Sinne und des Nachts sann es über eine List nach.
Als sich der Vater am anderen Tag auf Arbeit begeben hatte, lief sie auf den Basar zu einem Filzmacher, dem man goldene Finger nachsagte. »Ich möchte ein Kleid aus dickem Filz, das meinen Körper ganz und gar bedeckt und nur meine Augen freiläßt«, gab sie den Auftrag. »Aber ich will es auf der Stelle. Verlange dafür, was du willst!« Der Filzmacher ließ alle Arbeit stehen und liegen und machte sich an das verlangte Kleid, das er schon nach zwei Stunden vollendet hatte. Das Mädchen nahm das Kleid und lief nach Hause. Der Vater wollte in der Nacht an seiner Tochter die Ehe vollziehen und setzte ihr arg zu. »Wie du wünschst«, schien sie einzulenken. »Doch zuvor möchte ich noch einmal auf den Abtritt.« Der Vater knüpfte an ihre Hand ein langes Band, dessen Ende er sich um den eigenen Arm wand. Das Mädchen trat indessen in den Innenhof, wo es sein Filzkleid versteckt hielt. Es streifte es über, heftete das Band an das Tor und floh. »O Allah, der dein Beiname Verhüller ist, verrate mich nicht!« flehte es zum Himmel. Der Vater hingegen wunderte sich sehr, als er bereits über eine halbe Stunde gewartet hatte. Schließlich wollte er der Sache auf den Grund gehen. Aber wie er auch suchte, konnte er niemanden finden und begriff, daß seine Tochter auf und davon war. Kehren wir zu dem jungen Mädchen zurück, das von Ort zu Ort lief, bis es nach Indien gelangte. Dort trat es unter dem Namen Filzchen in die Dienste des Königs und arbeitete als Dienerin. Für sein seltsames Kleid schützte es eine Krankheit vor. »Filz, mein Herr, ja Filz«, klagte sie jedem, der sie ansprach, und zog ihre Verkleidung niemals aus. Doch eines schönen Tages war es sich selbst zu viel und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich wieder einmal zu waschen. Das Mädchen stahl sich in den Garten des Königs, wartete ein Weilchen und, als es niemanden bemerkte, schlüpfte es aus
ihrem Filzkleid, legte es auf den Rand des Badebeckens und stieg in das Wasser. Unter dem seltsamen Gewand war ein so schönes Mädchen hervorgekommen, das jeden Verstand verwirren konnte. Das Mädchen wusch und schrubbte sich nun nach Herzenslust. Da trat aber der Königssohn plötzlich an ein Fenster im Palast, von dem aus er etwas erspähte, was ihm schier den Atem nahm. ›Woher mag dieses Mädchen nur kommen?‹ grübelte er und erkannte nicht, daß es niemand anderes als Filzchen war, denn er hatte es noch nie ohne ihrem Filz gesehen. Er schlich sich in den Garten und wartete auf den Moment, daß das Mädchen dem Bassin entstieg, um es zu fassen. »Woher bist du, mein Liebchen, und wie kamst du hierher?« überhäufte er es mit Fragen. Filzchen begriff auf Anhieb, daß er ihr Kleid noch nicht entdeckt hatte. »Ich begehre dich zur Frau«, erklärte der Prinz frank und frei. »Ich werde dir nicht zu Willen sein, bevor du nicht bei meiner Familie um meine Hand angehalten hast«, erwiderte es. »Aber wo leben deine Nächsten?« ließ er nicht locker. »Sie leben im Dorf Soundso«, log Filzchen. »Ich besuche hier nur meine Tante.« Damit hatte das Mädchen ihn an einen Ort verwiesen, den es überhaupt nicht gab. Am Ende konnte der Prinz nur mit Mühe von ihm lassen. Zum Abschied gab es ihm einen Ring, wofür er dem Mäd chen den seinen reichte. Nachdem er wieder gegangen war, streifte Filzchen geschwind ihr Filzkleid über und lief in den Palast zurück. »O Mutter, ich möchte heiraten«, schwärmte der Königssohn. »Richte mir die Reiseutensilien, denn ich will mich mit der Tochter des Soundso aus dem Dorf Soundso verloben.« Auf der Stelle rief seine Mutter nach der Dienerschaft. »Euren Herrn verlangt es nach gefüllten Kibbe-Pasteten«, trug sie ihnen auf. Auch Filzchen kam herbei und half den Teig kneten. Dabei zog es den Ring ab, den es am Morgen bekommen hatte,
und steckte ihn in eines der Kibbe-Bällchen. Anderntags brach der Königssohn auf und ritt und ritt, wie es ihm das Mädchen geheißen hatte, bis er matt und müde war. Nirgends konnte er das Dorf des Mädchens finden, und er begriff, daß es ihn zum besten gehalten hatte. »Ist denn überhaupt keine Kibbe mehr übrig?« wandte er sich an einen Diener, der ihm als Rest des Gerichts noch eine einzige Pastete servierte. Der Prinz brach den Leckerbissen durch und biß sich vor Verwunderung auf den Finger, denn er fand seinen eigenen Ring in der Füllung. Er nahm das Schmuckstück an sich und befahl hastig: »Auf die Pferde! Rasch zurück in den Palast!« »Mutter, wer hat dir bei den Kibben geholfen?« rief er schon vom Tor aus. »Niemand hat mir geholfen, mein Sohn«, antwortete diese verwundert. »Aber das kann nicht sein«, drängte er, und da erinnerte sie sich wieder. »Aber ja doch, Filzchen ging mir zur Hand.« Nun wußte der Prinz, was er wissen wollte, und zog sich in sein Gemach zurück. Dort rief er nach der Dienerin und verlangte ein Glas Wasser. »Trage Filzchen diesen Dienst auf«, wies er an. Das Mädchen gehorchte. »Bringe das Glas Wasser zu deinem Herrn«, befahl sie nunmehr Filzchen, das in die Kammer des Prinzen trat und ihm das Glas reichte. Der Königssohn erhob sich, schloß die Tür ab und packte Filzchen, das sofort zu weinen begann. »Also du bist das gewesen«, triumphierte der Prinz. »Aber warum hast du mich derart gequält?« Er griff nach seinem Säbel und schlitzte das Filzkleid in zwei Hälften. Dann rief er nach seiner Mutter und fragte sie: »Was meinst du zu diesem Mädchen? Erkennst du es?« Die Mutter war überrascht. »Aber das ist doch Filzchen.« Darauf heiratete der Prinz das Mädchen und sie lebten in Glück. Dann liefen sie zurück nach Haus, und an dem Punkte in der Mär nahm ich Reißaus und kam hierher.
Bint Bu Dschamila
In alter Zeit lebte einst eine Frau, und die hatte nur einen einzigen Sohn. »Ich möchte dich verheiraten und mich an deiner Frau erfreuen, bevor ich sterbe. Außerdem wünsche ich mir, dich noch mit Kindern zu sehen.« Aber der Sohn war mit ihr nicht einer Meinung. Die Mutter jedoch ließ keinen Tag verstreichen, um ihm wieder und wieder ihre Bitte vorzutragen. Nach etwa einem Jahr lenkte er ein und kam ihrem Wunsch nach. Sie warb für ihren Sohn ein einfaches, armes Mädchen zur Frau. Kaum war aber die junge Frau im Haus, als die Schwiegermutter für sie nur das Fett von Fleisch und Brühe zusammenkratzte und dem Mädchen zu essen vorsetzte. Die junge Frau wurde von diesem Essen ganz krank und dünn und mager. Ihre Haut färbte sich in fahles Gelb und sie fühlte sich wie zerschlagen. Auch ihr jugendliches Antlitz verhärmte und bekam einen traurigen Ausdruck. Nie sah man sie lachen. Den Mann stimmte ihr Zustand bedenklich, aber er konnte ihn sich nicht erklären. Als einmal ein Freund zu Besuch weilte, beklagte er diesem das Geschick seiner Frau. »Ich werde dir einen Weg weisen, um zu erfahren, was es mit deiner Frau auf sich hat. Sie ist entweder verliebt oder einfach nur hungrig«, sprach der Freund. »Aber ich habe eine anständige Frau«, lehnte sich der Hausherr auf. »Sei’s drum«, entgegnete der Freund. »Kauf ihr einen weißen Hahn, putze ihn heraus mit Glöckchen und Perlen!« Gemeinsam schmückten sie das Tier. »Nun bringe ihn deiner Frau«, sprach der Freund, nachdem sie das getan hatten. »Und beobachte sie gut, denn wenn sie lacht, ist sie verliebt, rührt sie
keinerlei Miene, wird sie von Hunger geplagt.« Der junge Ehemann lief mit dem lustig ausstaffierten Vogel zu seiner Frau. »Mir hat dieser Hahn so gut gefallen, da habe ich ihn für dich gekauft.« Aber sie lachte nicht, nicht einmal ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Der Hahn tändelte drollig umher, aber sie würdigte ihn keines Blickes. Der Mann ging erneut zu seinem Freund und berichtete ihm, wie sich seine Frau verhalten hatte. »Deine Frau leidet Hunger. Geh auf den Basar und kaufe ihr Fleisch und Obst. Koche das Fleisch von eigner Hand und serviere ihr Mahl und Obst selbst. Beobachte wieder, was geschieht«, lautete diesmal sein Rat. Der Mann kaufte die vorzüglichsten Dinge, lief nach Hause, kochte selbst und servierte eine köstliche Mahlzeit. Er fütterte sogar sein Weib, die mit wahrem Heißhunger zu essen begann. Verwundert fragte er sie nach dem Grund für ihren großen Appetit. »Seit unserer Heirat bekomme ich von deiner Mutter nur das Fette von Fleisch und Brühe«, brach sie ihr Schweigen. Der Ehemann wunderte sich über seine Mutter und zog seinen Freund abermals ins Vertrauen. »Nimm dir eine Zweitfrau«, riet dieser ihm. »Aber ich liebe mein Weib«, wehrte der Mann ab. »Sei unbesorgt«, beruhigte ihn der Vertraute, »es gibt da ein Mädchen namens Bint Bu Dschamila, die ist für derartige Aufgaben besonders geeignet. Wenn deine Sorgen beseitigt sind, ist nichts leichter, als sich von ihr wieder scheiden zu lassen. Sie wird deinem Weibe nicht zürnen. Bint Bu Dschamila kennt eine Medizin für deine Eltern.« Der Mann erkundigte sich nach dem Haus von Bint Bu Dschamila, zu der ihm jemand den Weg wies. Bevor er die Hütte erreichte, traf er ein junges Ding im Bach, das Wäsche wusch. Bei ihm erkundigte er sich noch einmal, um sich zu vergewissern. »Ich bin Bint Bu Dschamila. Was wünschst du?« fragte sie unumwunden. »Ich möchte dich zur Frau nehmen. Wo finde ich deinen Vater?«
»Ach was, wozu noch Vater und Mutter. Laß uns gleich zum Scheich um einen Ehevertrag gehen.« Sie schaffte die Wäsche weg, zog sich um und ging mit ihm los. Der Scheich setzte ihnen, ohne viel zu fragen, den üblichen Ehekontrakt auf. Anschließend nahm der Mann seine neue Frau mit nach Hause, setzte sich aber zuerst zu seiner ersten Frau, teilte ihr die Zweitheirat mit und verlangte, daß sie zu allem schweige. Er gab ihr auch zu verstehen, daß er sich von der Zweitfrau in Kürze wieder scheiden lassen wolle. Seine Frau schwieg. In der Nacht vollzog der Mann die Ehe mit der Zweitfrau und am anderen Morgen ging er an seine Arbeit. Mit einem Boten schickte der Hausherr zwei Pfund Fleisch und einen Beutel Obst in sein Haus. Sofort griff Bint Bu Dschamila nach den Lebensmitteln, denn auch die Schwiegermutter war herbeigelaufen, um alles an sich zu nehmen. »Aber nein, beim Propheten, du brauchst deine Hände wahrhaftig nicht mehr zu rühren. Was sollen wir beide ins Schwitzen kommen«, wies sie die Alte ab. »Du bist alt und grau und sollst dich schonen.« Daraufhin kochte die Zweitfrau das Fleisch und, nachdem es gar war, goß sie das blanke Fett ab und stellte es der Alten hin. »Kein anderer als du soll die Brühe essen«, sagte die Neue, und die Schwiegermutter schwieg, denn es hatte ihr die Sprache verschlagen. So ging es drei Tage, bis schließlich der Alten der Kragen platzte. »Willst du etwa meinen Tod?« schrie sie und schlug auf Bint Bu Dschamila ein. Die Zweitfrau nahm das nun zum Anlaß, um rabiat auf die Alte einzuschlagen, bis jene das Bewußtsein verlor. Man schickte nach ihrem Sohn. Als der eintraf, war zwar seine Mutter wieder bei Sinnen, hatte aber ihre Sprache verloren. Deshalb machte die Alte vielerlei Zeichen, zeigte auf die Zweitfrau und deutete an, wie sie sie geschlagen und durch das Zimmer geschleift habe. »Was will sie sagen, was?« erkundigte sich der Mann unruhig bei seiner neuen Frau. »Sie sagt, daß wir ihr Minzetee zu trinken gaben
und uns sehr um sie kümmerten«, antwortete diese. Zwei Stunden später war die Alte tot. Der Sohn begrub seine Mutter und trauerte sehr um sie. Allerdings fiel seiner ersten Frau ein Stein vom Herzen. Der Schwiegervater blieb nun allein im Haus. Eines Tages geriet er über Bint Bu Dschamila in Zorn. »Du hast meine Frau umgebracht, Verruchte«, brach es aus ihm heraus, und sie stritten und schlugen sich. »Dem werde ich schon noch eins auswischen«, schwor sie sich, und, an die Erstfrau gewandt, drohte sie: »Wehe, du verrätst ein Wort, dann mußt auch du dran glauben.« Die Zweitfrau stieg eines Tages auf das flache Lehmdach des Hauses und schob eine schwere Steinwalze nahe an die Dachkante. Als der Alte unten vorüberging, ließ sie ihm das Gerät auf den Kopf fallen. Der Alte wurde zu Boden gerissen und war auf der Stelle tot. Bint Bu Dschamila stieg vom Dach herab und begann zu schreien. Die Leute liefen herbei und befragten sie. »Ich weiß nicht, wer die Walze auf meinen Schwiegervater hat fallen lassen, aber so starb er.« Rasch kam auch ihr Ehemann herbei, der begriff, daß Bint Bu Dschamila dahintersteckte. In seinem Zorn lief er zum Gouverneur und klagte das Mädchen wegen Totschlags an seiner Mutter und seinem Vater an. Der Gouverneur schickte den Kadi zu Bint Bu Dschamila, damit sie vor Gericht erschiene. Er erhob Klage gegen sie wegen der Tötung jener beiden Alten und war drauf und dran, sie zu verurteilen, als sie dem Richter plötzlich Zeichen machte, ihm gar zuzwinkerte und ihm beide Handflächen zeigte. Sofort setzte er Bint Bu Dschamila auf freien Fuß und sprach sie von jeder Schuld frei. Zwei Tage später bestellte der Richter Bint Bu Dschamila zu sich. Sie putzte sich heraus, als ob sie eine Braut wäre, und eilte zum Kadi. »Warum hast du mich rufen lassen?« wollte sie
wissen. »Ich will, daß du hältst, was du mir während der Gerichtsverhandlung versprochen hast.« »Ich habe dir nichts zugesagt. Ich habe dir lediglich mitzuteilen versucht, daß du dich von nun an selber schützen und absichern mußt«, machte sie ihm seine Zwickmühle klar. Dem Kadi schwanden die Sinne, und er drohte ihr. Bint Bu Dschamila hob ihre Stimme, als ob sie jeden Moment schreien werde. »Decke mich«, bat der Richter rasch. »Du bekommst, was du verlangst.« Bint Bu Dschamila nahm eintausend Dinare und ging. »Nimm, wonach dir der Sinn steht und weiche von mir«, sprach auch der Mann zu seiner Zweitfrau. Er sprach die Scheidungsformel über Bint Bu Dschamila und lebte weiter mit seiner ersten Frau.
An diesem Punkte in der Mär verließ ich sie und kam hierher.
Die vier Derwische
Es war einmal und war doch nicht, o verehrte Hörerschaft. Es lebte einmal eine Frau und ein Mann. »Erhebe dich, Abu Fulan, und pflüge den unteren Hausanger!« sagte sie eines Tages zu ihm. Der Mann stand auf und begann zu pflügen. Und wie er die Erde so umbrach, blendete ihn ein Glitzern. Als er genauer hinsah, war es ein Edelstein von der Größe eines Granatapfels, der wie die Sonne funkelte. Er trug den kostbaren Stein ins Dorf. »Was soll ich damit anfangen?« fragte er beim Muchtar nach. »Trage ihn zum König«, empfahl dieser, »der wird dir dafür eine Belohnung geben, von der noch deine Kindeskinder leben können.« Der Mann rüstete sich unverzüglich zum Aufbruch und lief ein, zwei, drei Tage. Unterwegs traf er vier fromme Derwische. »Wohin des Wegs?« erkundigten sie sich bei dem Bauern. »Ich gehe in die Stadt Soundso«, antwortete er, und es traf sich, daß sich die Derwische ebenfalls diesen Ort zum Ziel gestellt hatten. »Was treibt dich dorthin? Hoffentlich Gutes?« wollten sie wissen. »Ich gehe zum König«, erzählte der Mann und ließ sich auch noch weiter ausfragen, als die Bettelmönche wissen wollten, was er bei dem Herrscher zu schaffen habe. »Bei Allah, ich habe einen Edelstein gefunden, als ich die Erde pflügte. Den will ich nun dem König bringen. Er wird mir eine Belohnung geben, von der ich meine Kinder ernähren kann.« Und selbst als die Derwische den Stein sehen wollten, zeigte er ihn bereitwillig, dessen Pracht sie wie benommen machte. Dann setzten alle gemeinsam den Weg in die Stadt fort. Die vier Derwische stahlen allerdings eines Tages dem Bauern den Edelstein. Er bemerkte den Raub, tat aber, als sei
nichts gewesen, sondern blieb sogar bei ihnen. Sie wiegten sich in dem Glauben, er habe den Diebstahl nicht bemerkt. Als sie in die Stadt kamen, liefen die Bettelmönche in ehrwürdigen Kaftanen und mit Rosenkränzen in den Händen durch die Straßen und sagten den Leuten die Zukunft voraus. Der Arme indessen lenkte seine Schritte in den Königspalast. Er hatte die Derwische deshalb nichts merken lassen, daß er wußte, der Edelstein ist gestohlen, weil er sonst befürchtete, sie hätten ihren Weg geändert und die Stadt gemieden. Der Bauer hockte sich vor das Palasttor. »Was willst du?« herrschte ihn die Wache an. »Ich möchte den König sprechen«, gab er zur Antwort, worauf man ihn vor den Herrscher führte. »O größter König aller Zeiten«, begann er, als er vor dem König stand, »während ich meinen Boden umbrach, fand ich einen Edelstein, den die Pflugschar freigelegt hatte. Die Leute rieten mir, den Diamanten dem König zu bringen, der mich dafür belohnen würde, daß davon noch meine Kindeskinder leben könnten. Bei Allah, ich habe mich auf den Weg begeben, ihn dir zu bringen. Unterwegs traf ich vier Derwische, die mich nach dem Wohin fragten. Ihnen erzählte ich alles. Aber als wir des Nachts schliefen, stahlen sie mir den Edelstein. Nunmehr sind wir gemeinsam in die Stadt gekommen, ohne daß sie wußten, ich wisse von dem Diebstahl.« Nach dieser Rede ließ der König nach den Derwischen suchen. Als sie vor ihm erschienen, gaben sie sich einen gar tiefgläubigen Anstrich und priesen Allah alle Augenblicke. Jeder, der sie zu Gesicht bekam, sprach: »Oh, wie sind sie fromm und gläubig«, und es schien, als ob nur Allah ihre Herzen beseelte und sie zu nichts Schlechtem imstande wären. »Ihr Derwische, was gibt es Neues in der Ferne?« begrüßte sie der König. Bereitwillig gaben die Bettelmönche Bericht. Der König war bemüht, sich ihnen gefällig zu zeigen, weil er ihnen nicht auf den Kopf zusagen konnte: Ihr habt den Edelstein gestohlen! Und wie es
schien, erwiesen sie Allah göttliche Verehrung und wandelten auf dem Pfad der Gottesfurcht. Aber auch der arme Bauer konnte nicht gelogen haben, denn – so überlegte sich der König – sollte jener ein Lügner sein, warum hätte er sich dann der beschwerlichen Reise in die königliche Residenz unterziehen sollen, wenn er nicht den Edelstein bei sich gehabt hätte. Der König wurde seiner Sache unsicher und begann zu grübeln. Da kam seine Tochter zu ihm. Ihr erzählte er die Geschichte und fügte hinzu, daß er nicht wisse, wie er in dieser Angelegenheit entscheiden solle. Die Tochter bat ihren Vater, noch einmal nach den Derwischen zu senden, denn sie wolle über die Sache richten. »O ihr Derwische, ich habe eine Tochter, die in tiefer Sorge lebt«, eröffnete der König ihnen diesmal. »Geht und unterhaltet sie vierzig Tage und erzählt ihr Märchen.« Die Frömmler waren einverstanden und begaben sich zu des Königs Tochter. Jeden Tag erzählte ihr jeder Derwisch eine Geschichte. Als dieserart neununddreißig Tage verstrichen waren, trat die Königstochter vor sie hin. »Ihr wart jetzt neununddreißig Tage bei mir und immer habt ihr mir Märchen dargeboten. Heute ist es nun an mir, euch ein Märchen zum besten zu geben«, sprach sie und begann: »O ihr Derwische, es lebte einmal ein König, doch wahres Königtum liegt allein bei Allah, der hatte eine wunderschöne Tochter. Eines Tages lief sie mit Gespielinnen ihres Alters in den Garten und in diesem Garten war eine echte Damaszener Rose zu voller Pracht erblüht, gepriesen sei Allah, der sie geschaffen hatte. Die junge Königstochter versuchte vergeblich, die Blume zu pflücken, und auch ihre Gefährtinnen vermochten es nicht, sie zu brechen. Da rief die Prinzessin aus: Wer mir die Rose pflückt, dem gebe ich dafür, was er verlangte Die Worte des Mädchens hörte auch der Gärtner, der sich ihm näherte. ›Was gibst du mir, sollte ich dir die Rose reichen?‹ wollte er, wissen. ›Was
du begehrst‹, versprach die Prinzessin erneut. Da streckte der Gärtner sein Pflückholz aus, trennte die Rose ab und reichte sie dem Mädchen. ›Was möchtest du zum Preis dafür?‹ fragte es. ›Ihren Preis hole ich mir in deiner Hochzeitsnacht‹, sprach der Gärtner. ›Du sollst zu mir kommen, bevor sich dir dein Mann, und sei es auch dein Vetter, genähert hat.‹ Das Mädchen schwieg, und der Gärtner kehrte an seine Arbeit zurück. Für den, der weiterlebt, erscheint das Kommende nah, aber das Verflossene weit. Das Mädchen, das zum Zeitpunkt dieses Vorfalls gerade sieben Jahre alt war, wurde bald eine junge Dame von vierzehn Jahren und bekam den Sohn des Vaterbruders zum Bräutigam bestimmt. Sieben Tage und Nächte aß und trank niemand außer von der Hochzeitstafel des Königssohnes. Nachdem diese Woche verstrichen war, wurde der Ehekontrakt für die Prinzessin aufgesetzt und in der Hochzeitsnacht kam der Vetter zu ihr. Er trat in die Tür, und als er noch das andere Bein vor der Schwelle hatte, rief sie ihm zu: ›O Vetter, ich habe ein Gelübde abgelegt, und ich muß es zuvor einlösen.‹ Ihr Bräutigam wünschte ihr Gottes Segen und ließ sie gewähren. Die Braut brach im Brautgewand eilig zum Haus des Gärtners auf. Nach einer Viertelstunde stieß sie auf einen Räuber, der mit einem großen Stein den Weg versperrt hatte. Er bestaunte sie, denn bei jedem Schritt rasselten an ihrem Gewand der reiche Schmuck von Gold und Silber. ›O Räuber, o Dieb‹, flehte sie ihn an, ›ich bin einem Gelübde verpflichtet. Warte hier auf mich, bis ich es erfüllt habe. Danach magst du dir all mein Gold, mein Silber und meine Kleider nehmen.‹ Da wälzte der Wegelagerer den Stein zur Seite und gab den Weg frei. ›So ziehe mit Gott!‹ wünschte er ihr. Als sie auf halbem Wege angelangt war, versperrte ihr ein Löwe den Weg. ›O König der Tiere, ich bin ein Gelübde eingegangen. Warte auf mich, bis ich es erfüllt habe. Danach
kannst du mich fressen.‹ Der Löwe dehnte seine Glieder und ließ sie gehen. Das Mädchen eilte zum Gärtner und klopfte an dessen Tür. Dieser öffnete und war überrascht. ›O weh, beim Barte meines Vaters und bei meiner Ehre, die Tochter des Königs‹, schreckte er auf. ›Die Leute feiern sieben Tage und Nächte bei Hofe deine Hochzeit und wohin läufst du?‹ Da erinnerte ihn das Mädchen an seine Worte. ›Hast du nicht damals, als du mir die Rose pflücktest, gesagt, ich solle am Tag meiner Hochzeit zu dir kommen, bevor mein Bräutigam – und sei er auch mein Vetter – vertraulich wird zu mir?‹ sprach sie. ›O nein, nein, mein Töchterchen. Ich habe damals nur einen Scherz gewagt. Du warst noch klein, und ich meinte, einen Schabernack treiben zu dürfen. Du bist mir wie eine Tochter nach Gottes Gebot. Doch nun, mein Augenlicht, kehre auf dein Fest zurück. Ich hege keine Forderungen gegen dich‹, erklärte der Gärtner. ›Auf dem Weg hierher begegneten mir ein Räuber und ein Löwe‹, warf sie ein. Da griff der aufrechte Mann nach Stock und Kappe und begleitete sie auf ihrem Weg. Im Palast trat der Gärtner vor den Bräutigam. ›Hier ist deine Braut, sie ist mir wie eine Tochter und Schwester.‹ Darauf verließ er die beiden und kehrte heim. Verehrte Derwische, nun möchte ich eure Meinung hören«, schloß die Prinzessin ihre Geschichte. »Wer hat nun am edelsten gehandelt, der Gärtner, der Wegelagerer, der Löwe oder der Bräutigam?« Ein Bettelmönch legte sogleich los: »Möge Allah das Haus des Bräutigams in Schutt und Asche legen, er benahm sich wie ein Eselsfüllen.« Die Königstochter wollte wissen warum. »Sieben Tage nichts als Musik und Hochzeitsschmaus, aber als er gerade das Brautgemach betreten wollte, da ließ er sie auch schon gehen, wohin es sie verlangte.« Der zweite Derwisch war anderer Meinung. »Bei Allah, nein! Nicht der Bräutigam war der Esel, sondern der Räuber so gut wie ein Schwein, als er den Stein wegrollte, die Braut ziehen ließ und ihr Glauben
schenkte. Möge Allah sein Haus zugrunde richten! Hätte er doch nur ihr Gold genommen.« Der dritte Derwisch sah in dem Löwen den eigentlichen Esel. »Allah möge seine Behausung hinwegraffen! War nicht die Braut die Königstochter, ist sie denn nicht besser als Krebse und Frösche, die er sonst frißt? Eine kokette Prinzessin mit ihrem Fett macht ganze drei Mann satt. Mögest du mit Blindheit geschlagen sein, hündischer Löwe! Hättest du sie nur zu Boden geworfen, zerrissen und gefressen.« Der vierte Derwisch hielt nicht den Löwen für den Esel. »Nein, der Gärtner ist der große Dummkopf. Sie kommt zu ihm und legt ihr Schicksal in seine Hände, und er nimmt nicht einmal ihr Gold, macht ihr keine verliebten Augen und wirbt nicht mit um sie. Ein Mädchen, liebreizend wie eine Rose, und er läßt sie ungeschoren gehen! Bei Allah, der Gärtner ist der Esel.« Die Königstochter ließ sich noch einmal die Worte der vier Bettelmönche durch den Kopf gehen, dann schickte sie ihrem Vater eine Nachricht. »O Vater, die Derwische sind gemeine Diebe und haben den Edelstein.« Der König ließ sie unvermittelt vorführen und ihre Kleider durchsuchen, wobei der Edelstein zum Vorschein kam. Auf Befehl des Königs wurden die vier Bettelmönche zur Strafe gehenkt. Der arme Bauer erhielt vom König eine stattliche Summe Geld als Belohnung und konnte frohen Mutes heimkehren.
Möge Allah das Leben der Zuhörer versüßen.
Der mutige Holzhauer
Es wird erzählt, daß in grauer Zeit eine wilde Hyäne lebte, die die Wege unsicher machte und die Menschen anfiel. Ein Dorf brachte ihretwegen lange in Angst und Schrecken zu. Die Nachricht von dem reißenden Tier gelangte bis zum Gouverneur, der eine Belohnung für denjenigen aussetzte, der die Hyäne zur Strecke brächte. Eines Abends war ein alter Mann auf dem Heimweg. Er hatte auf dem Berg Holz zusammengetragen und brachte nun vom Erlös seiner schweren Arbeit Essen zu den Seinen. Als er den gefährlichen Weg entlanglief, sprang die Hyäne mit all ihrer Kraft auf den Alten, um ihn mit Urin zu bespritzen, damit er ihr willfährig in ihre Höhle folge, wo sie ihn dann fressen würde. Der Mann versetzte dem Raubtier geistesgegenwärtig statt dessen einen kräftigen Schlag mit der Axt, von dem er wollte, daß er tödlich sei. Dann setzte er, ohne sich noch einmal umzuwenden, unangefochten seinen Heimweg fort. Die Dorfbewohner traten am anderen Morgen aus ihren Häusern, um wie immer ihrer Arbeit nachzugehen. Als sie auf die blutüberströmte Hyäne stießen, eilten sie zum Gouverneur. Ein jeder von ihnen behauptete, er habe das wilde Tier erlegt, um die Belohnung zu fordern. Der Gouverneur ließ einen nach dem anderen zu sich ein, denn er wollte herausfinden, wer die Hyäne wirklich überwältigt hatte. Zuerst stellte er jedem die Frage, ob er die Hyäne erschlagen habe, und stets erhielt er zur Antwort ›Ja, o Herr‹. Daraufhin forderte der Gouverneur jeden einzelnen auf, näherzutreten, damit er das Mal an dessen Hals besser erkennen könne. Als jeder einzelne nah genug heran war, schrie der Gouverneur ihn mit ganzer Kraft an. Bekam es
der Bittsteller mit der Angst, wußte der hohe Herr, daß jener ein Lügner war, und warf ihn hinaus. Bei dem Holzhauer trug es sich anders zu. Der Alte widersetzte sich dem Angriff des schreienden Gouverneurs und packte ihn fest am Hals. Fast wäre jenem der Atem ausgegangen, wäre nicht die Wache herzugesprungen, die ihn aus den starken Händen des Alten befreite. Als die Soldaten sich auf den Mann stürzen wollten, hielt sie der Gouverneur zurück. »Der hier hat die wilde Hyäne getötet«, verkündete er. Man händigte ihm die festgesetzte Belohnung aus und ehrte ihn. Nun lachte der Holzhauer. Er entschuldigte sich für seine Grobheit und bat den Gouverneur um Vergebung. Darauf kehrte der Alte angesehen zu den Seinen zurück und lebte nun ein Leben in Glück nach einem Dasein in Elend und Not.
Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Die alte Frau
Es war einmal, es war keinmal. Es lebte einst eine alte Frau in einem Haus für sich allein fernab von andrer Leute Nachbarschaft. Von Zeit zu Zeit setzte sie Teig für Brot an, das sie zum Leben brauchte. Eines schönen Tages hatte sie gerade wieder Teig angerührt und zum Gehen abgesetzt. ›Ich werde mir etwas Ablenkung suchen‹, sprach die Alte zu sich. ›Ist der Teig richtig aufgegangen, komme ich zurück und backe das Brot.‹ So trat sie vor das Haus und begegnete einer Karawane, der sie sich kurzerhand anschloß. Mit dieser kam sie in ein Land, in dem ein König lebte, dessen Sohn vermißt wurde. Der König hatte im Palast eine Dienerin, die fünfundsechzig Jahre alt war. Als die Nacht hereinbrach, schlief die Alte bei jener Dienerin. Als es auf Mitternacht ging, erhob sich die Dienerin von ihrem Lager. Die Alte bemerkte sie wohl und folgte ihr auf den Fersen, bis sie am Haus der Dienerin anlangte. Diese schaffte einen Stapel Feuerholz zur Seite, unter dem eine Kiste zum Vorschein kam. In dieser Kiste war ein Knabe, der vermißte Königssohn. »Nimmst du mich nun zur Frau?« fragte die Dienerin. »Nein«, scholl es aus der Kiste. Bei dieser Antwort schlug die Dienerin die Kiste wieder zu und verbarg sie erneut unter dem Holz. Nachdem die Alte alles mit angesehen hatte, eilte sie in ihre Kammer zurück und legte sich schlafen. Als die Dienerin kam, verstellte sich die Alte und ließ sogar ein Schnarchen hören. »Willst du wissen, wo dein Sohn ist?« fragte die Alte den König am anderen Morgen. »Was denn, du weißt, wo er ist?« wunderte er sich. »Schicke alles Volk aus dem Palast in die Badestube!« verlangte sie und der König
befolgte ihre Forderung. Alsdann ging sie mit ihm zum Haus der Dienerin. »Kommt und helft mir, das Holz zu heben!« sprach die Alte zum König. An der Kiste angelangt, öffneten sie den Deckel und fanden den Prinzen. Dieser erzählte, daß ihn die Dienerin entführt hatte. »Sie sagte: ›Ich hole dich nicht eher wieder heraus, bis du mich zur Frau nehmen willst.‹« Als die Dienerin aus der Badestube zurückkam, ließ der König sie hängen. »Verlange von mir, was du willst!« bot der König der alten Frau an. »Ich will nur Nadel und Faden und zehn läppische Piaster dazu«, plapperte jene. »Was? Fordere mein Leben und ich gebe es dir!« widersprach der Monarch. »Bist du nun gewillt, mir zu geben, wonach ich verlangte, oder ich ziehe ohne deinen Dank!« sprach die Alte sanft. Sodann erfüllte er ihren Wunsch. »Ach, ich mache noch einen kleinen Spaziergang, bis mein Teig aufgegangen ist«, sprach die Alte. Unterwegs begegnete sie Leuten, die aufgeregt miteinander über ihre von Sinnen geratene Tochter redeten. »Wer geht nur zu ihr hinauf? Du kommst zur rechten Zeit«, empfingen sie die Alte. »Wir haben eine Tochter im Dachstübchen sitzen, die war klug und weise. Vor einiger Zeit wurde sie närrisch. Jeden Tag verlangte sie nach einem, der zu ihr kommt, den sie aber tötete, sobald er bei ihr eintrat. Jetzt streiten wir, wer als nächster zu ihr hinaufgeht. Würdest du zu ihr gehen?« Die Alte stimmte zu und stieg zu dem Mädchen. Als sie die Tür der Dachkammer öffnete, erblickte sie ein schönes Mädchen, das völlig verwirrt war. Es stürmte auf die Alte los, um auch sie zu töten. »Nein, nein, meine Liebe. Du bist so sanft und lieblich«, redete die Alte beschwichtigend auf das arme Ding ein und verstrickte es in eine freundliche Unterhaltung, bis das Mädchen eingeschlummert war. Die Alte schaute zum Kammerfenster hinaus und bemerkte einen jungen Burschen, der das Feuer
unter einem gewaltigen Kupferkessel schürte, daß das Wasser darin wie wild aufwallte. »Was läßt du das Feuer so lodern, mein Söhnchen?« erkundigte sie sich. »Dieses Mädchen da oben will, daß es mein Bruder, ein Königssohn, zur Frau nimmt. Aber unsere Familie will das Mädchen nicht. Es paßt nicht zu uns, denn es ist arm. Solange das Feuer hier lodert und das Wasser brodelt, bleibt der Verstand des Mädchens verwirrt. Erlöschen die Flammen, wird sie wieder wie vorher«, erzählte er bereitwillig. »Sag, Junge, bist du denn nicht müde?« wollte die Alte nun wissen, und der Bursche bejahte, worauf sie ihn sich ausruhen schickte. »Aber das Feuer geht aus«, wehrte er sich. »Ach, mein Söhnchen, ich werde das Feuer unterhalten.« Da trollte sich der Jüngling und legte sich zur Ruhe. Die Alte indessen blies so lange ins Feuer, bis es erloschen war. »Was hast du getan?« schrie der Bursche, als er erwachte. »Bei Allah, mein Söhnchen, ich blies und das dumme Feuer ging einfach aus.« Nun ward das arme Mädchen wieder gesund, und die alte Frau kam aus der Dachkammer herunter. Als sie die Leute fragten, was sie als Lohn verlange, sagte sie wieder: »Ich will nur Nadel und Faden und zehn läppische Piaster dazu.« Als sie das Gewünschte erhalten hatte, zog sie ihrer Wege. ›Ach, ich werde noch einen Gang erledigen, bis mein Teig so richtig aufgegangen ist‹, überlegte sich die Alte. Sie lief einen Pfad entlang, an dem sie ein Mädchen traf, das Rosen goß. »Solltest du Kummer haben, meine Tochter, sag es mir«, sprach sie es an. »Nein, Großmutter«, antwortete es und bat sie ins Haus. Kaum hatten sie sich niedergesetzt, als es an der Tür klopfte. Das Mädchen geleitete die alte Frau in ein anderes Zimmer. Ihr Mann war unvermittelt gekommen. In der linken Hand hielt er einen Strauß Rosen und in der rechten einen derben Stock. Er trat in die Stube und prügelte sein Weib, bis
der Knüppel entzweibrach. Wenig später versöhnte er sie wieder mit den Blumen und ging zurück in seinen Laden. »All das, und du willst keine Sorgen haben?« wunderte sich die Alte. »Ach, Großmutter, er ist ein guter Mann. Aber als ich einmal aus seinem Laden auf einem schwarzen Teller weißen Joghurt holte und dazu sprach: ›Wie gut paßt Weiß auf Schwarz‹, mißverstand er mich. Seit jenem Tag schlägt er mich und söhnt sich wieder mit mir aus«, zog es die Alte ins Vertrauen. »Nur dafür? Gib mir diesen Teller und Geld für Joghurt!« verlangte sie und ließ sich den Weg zum Geschäft ihres Mannes erklären. Dort bat sie um einen Teller voll Joghurt. »Oh, mein Söhnchen, gibt es etwas, was besser harmoniert als schwarz und weiß?« fragte sie beiläufig. »Hm, ja, ja. Weiß paßt gut zu schwarz«, stammelte der Mann, worauf die Frau ihrer Wege ging, denn er hatte begriffen. »Was habe ich meiner Frau nur für Unrecht getan«, machte er sich laut Vorwürfe. »Was du gewollt, ist vollbracht«, eröffnete die Alte dem Mädchen und wollte sich entfernen. »Nein, bleib und verlange, was du willst!« entgegnete ihr die Hausherrin. »Ich will nur Nadel und Faden und zehn läppische Piaster dazu.« Wenig später kam der Mann des Mädchens erneut mit Blumen, und sie nahmen gemeinsam ihr Mahl ein. Dabei versöhnten sie sich richtig. Die Alte kam zu ihrem Haus zurück, aber der Teig war bis über den Dachfirst hinaus gequollen, so sehr war er gegangen. Da murmelte sie: »Das ist nun die Strafe für den, der aus dem Hause geht, wenn der Teig in der Stube steht, und das Brot nicht zum Ofen geht.«
Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Die Knotenschnur
Es lebte einst in alter Zeit ein Mann mit seinem einzigen Sohn. Eines schönen Tages siedelte der Vater in einen anderen Ort um und trug auf dem Weg das kleine Kind auf den Schultern. Den lieben langen Marsch stellte der Knabe Fragen. »Was ist das?« fragte er und zeigte auf einen Vogel. »Das ist ein Rabe«, antwortete der Vater geduldig. Als der Junge immer mehr Fragen hatte, zog der Vater einen Faden unter seiner Jacke hervor und schlug bei jeder Frage nach einem Vogel einen Knoten. »Das ist ein Falke… das ein Sperling… eine Taube«, sprach er. Als sie am Ziel waren, hatte sich die Schnur mit Knoten gefüllt. Vater und Sohn lebten viele Jahre in der neuen Stadt, in der der Vater einen Handel trieb, Gewinne einstreichen konnte und zu Geld kam. Darüber wurde er alt und konnte weder gehen noch sich rühren. Der Sohn war in dieser Zeit zu einem stattlichen Burschen herangewachsen. Eines Tages verlangte es den Jüngling, zu seiner Verwandtschaft zurückzukehren. So lud er sich diesmal den alten Vater auf die Schultern und lief los. Unterwegs begann nun der Vater seinerseits, Fragen zu stellen, denn auch mit seiner Sehkraft war es nicht mehr zum besten bestellt. »Was ist das da?« fragte er. »Ein Rabe«, war die Antwort. »Und was ist das?« plapperte er weiter. »Rabe!« gab der Junge schroff zurück, ohne den Blick zu heben. Beim dritten Mal war der Sohn bereits der Fragerei überdrüssig und er setzte den Vater ab. »Habe ich dir nicht schon gesagt, daß das ein Rabe ist«, fuhr er den Alten an. Da nun zog der Vater die alte Knotenschnur unter seiner Jacke hervor. »Diese Schnur hat
sich mit Knoten gefüllt, als du auf dem Herweg Fragen über Fragen hattest und ich dir geduldig antwortete. Du wirst nun gleich ärgerlich, wenn ich jetzt frage. Ja, es ist so wie im Sprichwort: Ein Vater kann zehn Kinder ertragen, aber zehn Kinder nicht einen Vater.«
Eine Handvoll Linsen
Es wird erzählt, daß einst ein Mann sein Weib zu Hause mit ihrem Liebhaber überraschte. Als der Geliebte den finster blickenden Mann sah, stürzte er Hals über Kopf aus dem Haus und rannte, was das Zeug hielt. Der Mann folgte ihm auf den Fersen. Der gestörte Liebhaber floh an einem Krämer vorbei, der an den Eingang seines Ladens Säcke mit Hülsenfrüchten gestellt hatte. Der Flüchtende streckte seine Hand aus und griff sich aus einem der Säcke eine Handvoll Linsen und raste weiter. Der betrogene Ehemann, der den Schänder seiner Ehre noch immer verfolgte, schrie den Leuten zu: »Haltet ihn, packt ihn!« Die Leute blickten sich nach dem Liebhaber um und sahen, daß dieser nur ein paar Linsen in seiner Hand hatte. »Was mühst du dich derart ab«, warfen sie dem Gehörnten vor. »Die ganze Aufregung für eine lumpige Handvoll Linsen? Laß ihn seiner Wege ziehen.« Der Ehemann rief den Umstehenden mit einem verzweifelten Stoßseufzer zu: »Ja, Wissen ist Macht. Nur wer keine Ahnung hat, ruft: Eine Handvoll Linsen.«
Die Sitt, die nie unter Streichen andrer litt
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. So soll es denn sein. Es lebte einmal ein König. Dieser König war – von Allah trefflich gefügt – verheiratet, aber sein Weib gebar ihm keine Kinder. Er flehte Allah an und gelobte, wenn er ihm ein Kind schenke, werde er seinem Sproß keinen Namen geben, sondern ihn namenlos belassen, bis dieser herangewachsen sei und sich selbst einen Namen geben werde. Mit Allahs Beistand wurde sein Weib nun schwanger. Die Monate vergingen wie im Fluge und am Ende des neunten Monats wurde die Königin von einem wunderschönen Töchterlein entbunden. Die königlichen Eltern freuten sich über alle Maßen und, treu ihrem Gelübde, gaben sie dem Kind keinen Namen, ließen ihm aber die größte Fürsorge angedeihen. Und weil ein Kind im Märchen im Handumdrehen heranwächst, gaben es seine Eltern bald in eine Schule, wo es lernte, und unversehens schon erwachsen war. Zur Verwunderung der Königstochter hörten alle Leute außer ihr auf einen Namen. Ihre Mutter rief sie nur ›Meine Tochter‹, ihr Vater nannte sie ›Meine Süße‹ und die Zofe sprach sie mit ›Meine Herrin‹ an. Eines Tages wollte das Mädchen von der Mutter ihren Namen wissen. »Dein Vater hat dir keinen Namen gegeben. Dies gelobte er Allah. Er überließ die Namenswahl dir, sobald du alt genug wärest. So nenne dich nun, wie es dir gefällt!« erklärte die Königin. »So sei mein Name von Stund an: ›Die Sitt, die nie unter Streichen andrer litt, doch allen Leuten Nasen schnitt‹«, sprach die Tochter und
tat sogleich auf Anschlägen mit ihrem Bild ihren Namen kund, derenthalben sie allerorts bekannt wurde. Auch dem Sohn eines Königs kam dieser eigenwillige Name zu Ohren, und er entschloß sich, diese Prinzessin von Angesicht zu Angesicht in Augenschein zu nehmen. ›Ich werde sie zu demütigen versuchen, koste es, was es auch wolle‹, sagte er zu sich und nahm unverzüglich von seinen Eltern Abschied. »Ich werde mit einer schönen Verlobten wiederkommen«, kündigte er seiner Mutter an. Dann sattelte er sein Pferd, schnallte ihm eine pralle Packtasche voller Gold über und brach auf. Die berühmt gewordene Sitt – was nichts anderes als ›Dame von Stand‹ bedeutete – bewohnte mit ihrer Dienerschaft einen vom Haus ihrer Eltern abgetrennten Palast. Der Königssohn strich um den Palast, um einen Weg zu finden, wie er hineingelangen könnte, denn nirgends war ein Fenster zu entdecken. Er stieg in der Karawanserei ab und forschte tagsüber nach einer Lösung. In dieser Zeit freundete er sich mit einem Goldschmied an, bei dem er so manchen Tag saß. »Ich möchte von deiner Hand zwei goldene Fischlein, deren Flossen von Saphir und Smaragd nur so strahlen, in einem goldenen Bassin auf einem goldenen Tablett«, bestellte der Königssohn. Der Juwelier fertigte dem Prinzen dieses kostbare Kleinod. Als Kaufmann verkleidet, trug der Emir das Tablett vor sich her. »Seltene Kostbarkeiten! Seltene Kostbarkeiten!« bot er unter dem Palast seine Ware feil. Einen Augenblick später erschien die Zofe am Tor und war von den blitzenden Kleinodien wie geblendet. Rasch eilte sie zu ihrer Herrin, um ihr von dem Händler und dem wertvollen Tablett zu berichten. Nun kam die Herrin selbst und rief nach dem Verkäufer, den sie in den Palast führte, um sich dort das goldene Kleinod anzuschauen. »Was soll dieses kostbare Stück denn kosten?« fragte sie. »Sein Preis ist wirklich bescheiden und gar nicht unerschwinglich«, lenkte er ein. »Also wieviel?« wollte sie
nun wissen. Der verkleidete Prinz warf einen versonnenen Blick auf ihre Hand. »Einen Biß in deine Hand«, verlangte er dann. »Oh, wenn’s weiter nichts ist! Was ist denn schon dabei«, antwortete die Sitt. »Komm heute nach dem Abendessen an die hintere Pforte.« Dann wies sie ihm den Weg und nahm das Tablett mit den goldenen Fischlein an sich. Die Prinzessin nahm einen kleinen Kürbis, den sie genau nach dem Abbild ihrer Hand beschnitzte und mit feiner Gaze umwickelte. Dem Ganzen gab sie Finger, an die sie sogar Ringe steckte. Diese Hand gab sie der Zofe. »Nach dem Abendessen wird an die Geheimtür geklopft werden. Öffne sie, aber sprich kein Wort. Halte nur diese Hand nach draußen. Wenn der Klopfer hineingebissen hat, ziehe sie wieder zurück und schließe die Tür!« trug sie der Zofe auf. Der Königssohn stellte sich am Abend umhüllt von teuren Düften ein. Er klopfte an die Tür; die Zofe tat ihm auf und streckte, wie abgesprochen, die Kürbishand heraus. Der Verehrer biß in die dargebotene Hand, ja tat sogar noch einen zweiten Liebesbiß. Dann wurde die Tür zugeschlagen, worauf sich der Prinz siegesgewiß in seine Karawanserei begab. ›Heute einen Biß, morgen einen Kuß‹, frohlockte er innerlich. Anderntags lief er schnurstracks zu dem Goldschmied. »Laß alles stehen und liegen! Du mußt mir eine Weinrebe aus Gold treiben, deren Trauben von Juwelen funkeln.« Der Meister fertigte sogleich das Gewünschte, das der Prinz auf einem Tablett vor den Palast der Sitt trug. Mit angenehmer Stimme rief er sein neues Kleinod aus. Die Sitt kam heran und tat einen verstohlenen Blick. Sie wies ihre Zofe an, den Händler wieder hereinzubitten. Der Kaufmann stieg in ihre Kammer und nahm ihr gegenüber Platz und ließ kein Auge von ihr, während sie wie gebannt auf die goldene Weintraube starrte.
»Was soll diese Kostbarkeit denn kosten?« wollte sie wissen. »Ihr Preis ist wirklich nicht der Rede wert. Nur ein Kuß, mit dem ich Eure Wange siegle.« »So sei es«, schloß die Sitt den Handel ab. »Komm heute nach dem Abendessen wieder zu der geheimen Tür. Dort wird dir der Kuß gewährt werden«, sagte sie und nahm die feingearbeitete Traube entgegen. Der Königssohn verließ den Palast, um sich zu salben und zu parfümieren. Die Prinzessin allerdings hatte eine hübsche Konkubine, die sie herausputzte und schminkte, so daß ihr Gesicht bald dem ihren ähnelte. »Heute abend öffnest du die geheime Pforte, sobald angeklopft wird. Stecke deinen Kopf hinaus; irgend jemand wird dein Gesicht küssen und anschließend gehen. Verriegle dann die Tür und komme zu mir!« Wie verabredet, klopfte der Prinz abends an die Tür. Die freiherzige Schöne tat sie auf und bot ihre Wange dar. Der Königssohn gab statt einem gleich zwei Küsse, bevor die Tür wieder ins Schloß fiel. Ihm war ganz berauscht zumute, denn er wiegte sich in dem Glauben, es sei die Herrin gewesen, so daß er fast den Verstand zu verlieren schien. Schon am nächsten Morgen flog der Prinz förmlich in die Juwelierwerkstatt. »Nimm, was du für angemessen hältst, aber lasse alle Arbeit fahren. Mir verlangt es von deiner Hand nach einer Glucke mit ihren Küken ganz und gar aus Gold und Diamant. Es soll eine Rarität werden, so ganz und gar nach deinem Geschmack«, überfiel ihn der Prinz. Der Goldschmied fertigte ihm das Verlangte und arrangierte das Kunstwerk auf einem gefälligen Tablett. Der Königssohn trug das kostbare Stück geradewegs zum Palast, wo er es umgehend feilbot. Die Herrin bat den fliegenden Händler erneut in den Palast, um mit ihm um den Preis zu feilschen. »Zweisames Alleinsein bei einem Beilager«, verlangte er, Scham und Scheu vortäuschend.
»Wenn’s weiter nichts ist«, erwiderte sie und griff nach dem Kleinod. Dabei bestellte sie ihn wie gewöhnlich. Sich für den Abend zu baden, zu salben und zu parfümieren, lief der Prinz davon. Die Sitt indes besann sich einer ältlichen schwarzen Dienerin, die sie ihrerseits mit verführerischen Düften umgab und herausputzte. »Am Abend sperrst du die Geheimtür auf und schläfst mit dem Händler. Aber hüte dich, daß auch nur ein Wort über deine Lippen kommt, und meide das Licht«, befahl ihr die Sitt. Wie verabredet, kam der Königssohn und klopfte an die Tür. Die Dienerin öffnete und führte den Gast ohne ein Wort zu Bett. Er indes wähnte sich in dem Glauben, daß er der Herrin beiwohne und biß sie im Liebesrausch mit aller Kraft, bis er ein Stück Haut zwischen seinen Zähnen hatte, das er rasch in ein Tuch wickelte. Der Dienerin hatte die Herrin einen Brief gegeben, den jene ihm unbemerkt in die Tasche schieben sollte, was ihr vorzüglich gelang. Als er bekommen hatte, wonach es ihn gelüstet hatte, streifte der Prinz seine Kleider über und verließ den Palast. Vor eitler Freude konnte er die ganze Nacht nicht schlafen. Als der Morgen anbrach, fand er in seiner Tasche einen Brief. Er öffnete ihn und las: ›Ich bin die Sitt, die nie unter Streichen andrer litt, doch allen Leuten Nasen schnitt. Der Biß galt einem Kürbis, der Kuß traf die Wange einer Konkubine, der Beischlaf gehörte einem abessinischen Dienstmädchen.‹ Kaum hatte er das gelesen, als er einen Schwindel und heftigen Zorn in sich aufsteigen fühlte. Tiefe Reue erfaßte ihn, und wie er sein Tuch aufrollte, fand er ein Stück schwarze Haut. Darauf legte er seine königlichen Kleider an und begab sich in den Königspalast, wo er unverzüglich vor den Herrscher trat. »Ich bin der Sohn des Königs Soundso und habe vom Ruhm und vom Anstand Eurer Tochter vernommen. Sie allein wünsche ich mir zur Frau«, sprach der Prinz. Der
König ließ nach seiner Tochter schicken. »Der Sohn des Königs Soundso hält um deine Hand an«, eröffnete er ihr. »Ich stehe zu deinen Diensten, o Vater«, antwortete sie und fügte sich. Der König kam zurück und gab dem Bräutigam sein Einverständnis, und der Ehevertrag wurde aufgesetzt. Bereits zwei Tage danach trat der Prinz vor den König. »Ich möchte in meine Heimat abreisen, o König«, bat er den Herrscher um sein Einverständnis. Alsdann nahm er Abschied und seine Gemahlin zog mit ihm in sein Land. Mit geschmückten Straßen und Freudenfesten hieß man ihn willkommen. Unmittelbar bei seinem Eintreffen trug er – noch immer voller Wut und Zorn – seiner Mutter auf: »Wirb mir meine Base Soundso zur Frau. Die jetzige Herrin gebe ich meinem Sklaven Masrur zum Weibe. Ich jedenfalls werde nicht mit der Königstochter die Ehe vollziehen.« Kein Rat und kein Bitten der Mutter konnten ihn von seinem Vorsatz abbringen, bis sie schließlich um die Hand der Base, die gar garstig, liederlich und unreif war, anhielt und der Ehekontrakt niedergeschrieben wurde. Zur gleichen Zeit wurde auch die Ehe der Sitt mit dem schwarzen Sklaven Masrur besiegelt. Am Abend dann vollzog der Prinz die Vermählung mit der Base, die Sitt allerdings beschäftigte den Sklaven, als er zu ihr kommen wollte. »Nimm diese Schatulle mit Perlen«, herrschte sie ihn an. »Reihe immer eine weiße auf eine schwarze Perle.« Da es stockfinstere Nacht war, röteten sich die Augen des Sklaven vom krampfhaften Munterbleiben, während sie friedlich schlief. Nachdem auch Masrur in Schlaf gesunken war, erschien am anderen Morgen der Königssohn und rief Masrur zu sich. Der Fürst wollte zu gern wissen, was jener die Nacht über getrieben hatte. »O Herr, die ganze Nacht über: schwarz auf weiß, schwarz auf weiß«, stöhnte der Sklave. Den Prinzen erfaßte Schadenfreude, denn für ihn schien klar, daß Masrur die Sitt beschlafen hatte. Masrur näherte sich der Sitt
auch die kommende Nacht, um mit ihr die Ehe zu vollziehen. Die Sitt hatte aber eine alte Leiter herbeigeschafft. »Nimm diese wacklige Leiter und arbeite sie erst auf«, verlangte sie. So sehr Masrur auch suchte, nirgends fand er einen Hammer und Nägel, und als er es mit bloßen Händen versuchte, übermannte ihn der Ärger. Er schleuderte die Leiter von sich und legte sich aufs Ohr. Als der Morgen heraufzog, kam wieder der Prinz, um Masrur nach den Geschehnissen der Nacht zu befragen. »Die liebe lange Nacht, o Herr, ins Spundloch hinein, aus dem Spundloch heraus«, wehklagte der Sklave. Der junge Edelmann freute sich erneut, weil er nun fest glaubte, Masrur habe der Sitt beigewohnt. Auch in der dritten Nacht kam Masrur in die Kammer der Sitt, die ihm allerdings schon eine große Tonne bereitgestellt hatte, in die sie ein Loch gebohrt hatte. Dazu gab sie ihm eine Schöpfkelle. »Nimm die Tonne und fülle sie mit der Kelle«, befahl sie und Masrur gehorchte. Er hob zu schöpfen an, aber das Wasser floß davon, solange er sich auch mühte. Zu vorgerückter Stunde warf er die Tonne in eine Ecke und schlummerte vor Erschöpfung ein. Der Königssohn erkundigte sich nach Tagesanbruch wieder, was Masrur des Nachts getrieben habe. »O Herr«, jammerte er, »die ganze Nacht reingefüllt und ausgelaufen, sie war einfach von mir nicht vollzukriegen.« Es gehört zu den Bräuchen Arabiens, daß die Bräute sieben Tage nach der Hochzeit in die Badestube ziehen. Also ging die Sitt mit der Gemahlin des Königssohnes ins Bad, wozu die Sitt das Tablett mit den zwei goldenen Fischlein mitbrachte. Wie das junge Mädchen die Badestube betrat, bekundete eine jede in der Runde ihre Bewunderung über die Schönheit und die Feingliedrigkeit der Sitt. Nachdem sie sich ausgiebig gebadet hatte, setzte sie die beiden Fischlein ins Badebecken. Die Frau des Prinzen erblickte die Kostbarkeit, die ihr sogleich den
Verstand raubte. »Du würdest mir doch die Fischlein überlassen, wenn ich dir dafür gäbe, was du auch immer verlangtest«, bettelte sie. »Ich gebe sie dir unter einer einzigen Bedingung«, lenkte die Sitt ein. »Und die wäre?« drängte die andere. »Nach unserer Rückkehr aus der Badestube gehe ich in dein Gemach, du aber in meine Kammer.« Das Weib des Prinzen war einverstanden und bei ihrer Heimkehr in der Nacht, ging die Sitt ins Zimmer des Königssohnes, und dessen Frau lief in das Gelaß von Masrur. Nachdem die Abendgesellschaft sich aufgelöst hatte, trat der Prinz in sein Gemach. Bei seinem Eintreten begrüßte ihn die Sitt und unterhielt ihn mit wohlgefügten Worten, die den Prinzen in Erstaunen versetzten. ›Aber so redet doch meine Base nicht‹, stutzte er innerlich und schaute ihr ins Antlitz, aber er war von ihrer Schönheit so geblendet, daß er die Sitt nicht erkannte. »Wie bist du nur so schön geworden?« fragte er. »Dies ist mir im Jungmädchenbrunnen widerfahren«, zerstreute sie seine Bedenken. Zu guter Letzt wohnte er ihr bei und fand sie zu seinem größten Vergnügen wieder als Jungfrau. »Aber wie bist du noch einmal zur Jungfrau geworden?« wollte er wissen. »Im Jungmädchenbrunnen erhalten alle Frauen ihre Jungfräulichkeit zurück«, log die Sitt. »Du warst sieben Tage eine Frau, nun bist du wieder Jungfrau und das nur durch ein Bad? Dann geh jeden Tag in dieses Bad!« frohlockte der getäuschte Prinz. So ging es noch eine Weile, bis er schließlich einschlummerte. Die Sitt huschte im Morgengrauen in ihre Kammer zurück und rüttelte die Frau des Königssohnes munter, die mit dem Sklaven die ganze Nacht hindurch die Freuden der Liebe genossen hatte und nun zu ihrem Mann zurückschlich. »Solltest du noch einmal meine Kammer betreten, werde ich dich kurzerhand töten.« Mit diesen Worten warf die Sitt kurzerhand Masrur hinaus.
Als der Prinz am Morgen aufwachte, erblickte er die Base, wie sie bisher ausgesehen hatte. Verwundert weckte er sie. »Hast du mir nicht des Nachts dies und jenes erzählt?« fragte er. »Aber nie im Leben«, kanzelte die Base ihren Gemahl ab. »Warst du nicht wieder Jungfrau geworden?« verhörte er sie weiter. »Wo denkst du hin«, knurrte sie unwillig. »Hatte sich nicht dein Gesicht verändert?« ließ er nicht locker. »Nein und nochmals nein. Du träumst oder hast den Verstand verloren«, brummte die übermüdete Base. »Ich soll verrückt sein? Alles andere, nur nicht das«, wurde er laut und dachte nach, wie ihm jene Geschichte hatte widerfahren können. ›Sollte tatsächlich alles nur ein Traum gewesen sein?‹ grübelte er, doch dann zog er seinen Säbel blank und preßte der Base die Klinge ins Genick, als wollte er sie umbringen. »Wo hast du diese Nacht verbracht und wer lag in meinem Bett. Sprich oder ich töte dich!« Mit seinen Worten verstärkte er den Druck des Säbels, daß die Base in Todesängsten die Wahrheit preisgab. Sie beichtete, daß sie für zwei goldene Fischlein mit Masrur geschlafen habe. Der Prinz befahl unverzüglich den Negersklaven zu sich. »Nimm diese hier, sie sei dein Weib«, wies er an. Dann rief er die Sitt herbei, die ihm alles erzählte, was sie dem Sklaven angetan hatte. »Hast du nun gesehen und verstanden, wer ich bin?« fragte sie den Prinzen. »Ich bin die Sitt, die nie unter Streichen andrer litt, doch allen Leuten Nasen schnitt.« »Davon habe ich mich überzeugt«, gab der Königssohn zu und lebte mit ihr in Glück und Freude. Und sie kehrten ein in ihr Haus. Ich verließ sie und kam zu euch heraus. Sie lebten in Lieben und Laben und zeugten viel Mädchen und Knaben.
Die Tochter des Bohnengarkochs
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit, ihr glückseligen Leut’. Laßt uns noch beten für den Propheten, sein Glanz erhellt wie der Vollmond die Welt. Lauschen wir jetzt dieser Mär? Oder geben wir dem Schlaf die Ehr’. So soll es denn sein. Es wird erzählt, daß einst ein Bohnengarkoch lebte, der nur eine einzige Tochter hatte, die aber sehr schön war. Von ihr hieß es, sie sei so lieblich, daß sie hätte zum Vollmond sagen können: ›Geh, damit ich an deiner Statt steh’ als Kadi, Mufti und Stadthauptmann, seh’!‹ Dieses Mädchen erlernte das Nähen bei einer Schneiderin, die weit entfernt von seinem eigenen Viertel wohnte. Auf ihrem Weg zur Nähstube mußte es am Königshaus vorbei. Voller Spott rief dem Mädchen jedesmal der Königssohn hinterher: »Einen schönen guten Morgen, Tochter des Bohnenverkäufers, sind deine Böhnchen schon feil oder nicht?« Worauf es zu erwidern wußte: »Was willst du nur von mir, Sohn eines Holzschuhriemens. Meine Bohnen, die sind gar feil; nette Leute haben sie schon längst erschnuppert.« Den Prinzen wurmte die Antwort sehr, daß er sich vornahm, dem Mädchen einen bösen Streich zu spielen. Er verkleidete sich und gab sich als Waschsodahändler aus. Mit lauter Stimme rief er in den Gassen seine Ware aus. »Kauft Soda! Kauft Soda!« So kam er auch zum Haus des Bohnenverkäufers, noch bevor dessen Tochter zur Schneiderin gegangen war. Sie hörte den
Ruf und eilte herbei, um zwei Pfund Soda zu kaufen. Der verkleidete Prinz wog ihr die verlangte Menge ab und trug sie ihr bereitwillig ins Haus, in dem sie allein war. Er stellte das Soda auf den Boden und begann, sie mit Küssen zu überhäufen und zärtlich zu beißen. Dann ließ er von ihr ab und floh. Das Mädchen kam zwei Tage später wieder am Königspalast entlang und der Prinz höhnte erneut: »Einen schönen guten Morgen, Bohnengarkochtöchterlein, sind deine Bohnen feil oder nicht?« – »Was willst du nur von mir, Holzpantinenriemchensöhnchen, meine Böhnchen sind gar feil; nette Leute haben sie schon längst erschnuppert«, rief es zurück und versuchte so, ihn loszuwerden. »Das Soda hat dich scharfgemacht«, ließ diesmal der Prinz nicht locker. »Hinter der Tür habe ich dich abgeküßt. Hast du mich oder habe ich dich überrumpelt?« Da schrie es ihm ins Gesicht. »Also du warst das. Na warte, dir werde ich’s noch zeigen!« Das Mädchen ließ zwei Tage verstreichen, dann begab es sich auf den Basar zu einem kunstfertigen Schneider. »Ich brauche ein weites Gewand mit Glöckchen an der Kapuze«, bestellte es und gab noch weitere Anweisungen. Zuallerletzt kaufte es einen großen Rettich. Dann nahm es den Weg zum Palast des Königs, um das Schlafgemach des Prinzen auszukundschaften, dessen Balustrade es eines Tages heimlich erkletterte. Das Mädchen hielt sich verborgen, bis es sicher sein konnte, daß der Königssohn fest schlief. Nun betrat die Tochter des Bohnengarkochs die Kammer und riß den Prinzen derb aus dem Schlaf, wobei er von ihrem seltsamen Anblick aufschreckte. Sie schüttelte ihren Kopf, daß die Glöckchen an ihrer Kapuze nur so klingelten. »Wer bist du?« fragte der Königssohn mit banger Stimme. »Ich bin der Kleine Ezrael, der deine Seele holen kommt«, versetzte die verkleidete Tochter des Bohnenverkäufers unheildrohend. Der Prinz flehte demütig und weinte, aber sie ließ sich nicht erweichen.
»Entweder ereilt dich jetzt der Tod oder ich schlage dir diesen Rettich in deinen Allerwertesten. So wähle!« ›Ein Rettich fällt leichter denn der Tod‹, sagte er sich und entblößte rasch sein Hinterteil, in den der vermeintliche Ezrael den dicken Rettich stieß, daß dem Sohn des Königs Hören und Sehen verging. Das Mädchen ließ ab von ihm und floh. Der Prinz stand am anderen Morgen nicht auf. Als Mittag heran war, stieg seine Mutter in sein Gemach und hörte schon von draußen ein leidvolles Jammern. Sie eilte herbei und fand ihren Sohn in einem traurigen Zustand. Ihr Schrei gellte und auf der Stelle holte man den Arzt. Dieser behandelte den Jüngling, der aber keine Besserung für mehr als drei Monate zeigte. Erst dann konnte er wieder langsam laufen und berichtete seiner Mutter, daß dies alles das Werk des Kleinen Ezrael gewesen sei. »Ich möchte ein wenig vor dem Palast sitzen, um frische Luft zu schnappen«, bat der Prinz eines Tages die Königin. Man führte ihn ins Freie und bettete ihn dort auf einer weichen Liegestatt. Wie es dem Zufall gefiel, kam die Tochter des Bohnenverkäufers vorüber. »Einen schönen guten Morgen, Bohnengarkochtöchterlein, sind deine Böhnchen feil oder nicht?« konnte er das Spotten nicht lassen. »Was willst du nur von mir, Holzpantinenriemchensöhnchen, meine Böhnchen sind gar feil; nette Leute haben sie schon längst erschnuppert«, erwiderte sie wie gewöhnlich. »Soda hat dich angemacht und hinter der Tür habe ich dich abgeküßt. Hast nun du mich oder habe ich dich überrumpelt?« ließ er nicht ab. »Hm, hm, ich bin der Kleine Ezrael, von wo aus soll ich dir die Seele nehmen?« gab sie zurück, worauf der Prinz dem Mädchen Ohrfeige auf Ohrfeige verpaßte. »Ah, das also habe ich dir zu verdanken«, stöhnte er auf. »Ich werd’s dir noch zeigen.«
Als er wieder in sein Gemach gestiegen war, verlangte er nach seiner Mutter. »Ich will heiraten«, eröffnete er ihr. »Und ich will die Tochter des Bohnengarkochs zur Braut.« »Aber, aber, du bist der Sohn des Königs, und da willst du dir eine arme Frau von niederem Stand nehmen?« hielt sie ihm entgegen. »Ach was, ich will sie, sonst keine!« Als der Prinz einen Monat später wieder völlig genesen war, ging seine Mutter zum Haus des Bohnenverkäufers und bat um die Hand seiner Tochter, die er ihr versprach. Sodann rüstete man zur Hochzeit und richtete der Braut die schönsten Dinge und Kleider her. Die Braut lief währenddessen zu einem Zuckerbäcker auf dem Basar. »Ich möchte aus Zucker ein Brautkleid nach meinem Maß und eine Puppe, die mir aufs Haar gleicht«, verlangte sie. »Alles muß schon morgen fertig sein. Verlange, was du willst.« Mit den Worten »Morgen, so Allah will« machte sich der Meister unverzüglich ans Werk. Die Tochter des Bohnenverkäufers heftete anderntags der Zuckerpuppe das weiße Brautkleid an und verstaute sie in einer Truhe und stellte alles in das eheliche Schlafgemach. Am Tag der Hochzeit kam die Braut in einem feierlichen Zug zum Haus des Bräutigams. In einem unbeachteten Moment schlüpfte sie in die Schlafkammer, wo sie die Zuckerpuppe auf das Bett legte. Da stürmte auch schon der Königssohn herein, zückte seinen Säbel und trat vor das Lager. Er begann, die vermeintliche Braut mit der blanken Klinge zu bedrohen, einzuschüchtern und herumzufuchteln. »Jetzt gilt’s«, schrie er wild und hielt der Braut den schmerzhaften Streich vor, den sie ihm gespielt hatte. Der Prinz riß seinen Säbel in die Höhe und hieb auf die Zuckerpuppe ein, daß sie in tausend Stücke zersprang. Ein Splitter verirrte sich in des Prinzen Mund. Wie er die Süße schmeckte, sprach er zu sich: ›So also ist sie
gewesen.‹ Da packte ihn die Reue und er schrie: »Ach, hätte ich es doch nicht getan.« Dann sank er ohnmächtig nieder. Rasch raffte die Braut die Zuckersplitter zusammen und verbarg sie in ihrer Truhe. Nun besprengte sie sein Gesicht mit einigen Tropfen Wasser, worauf er wieder zu sich kam. Bei ihrem Anblick war er froh und glücklich. »Ich bin nicht gestorben, bin nicht tot«, versicherte sie ihm und beide lebten glücklich miteinander.
Mit holden Wonnen, Seligkeit und Glück versüße Allah allen Hörern ihr Geschick. An diesem Punkte in der Mär verließ ich sie und kam hierher. Meine Geschichte ist verteilt, sie ist euch unters Hemd geschnellt. Wäre dein Haus nicht so fern, sei dir ein Teller Rosinen ohn’ Kern. Für jede Beere, die du steckst dir in die Schnute, schlüg’ ich dir tausend mit der Rute.
Des Kadis Nase
Es wird erzählt, daß einst ein winzig kleines Mädchen in einem winzig kleinen Häuschen lebte, in dem ein winzig kleines Bett stand, vor dem eine winzig kleine Matte ausgebreitet lag. Das Häuschen hatte eine winzig kleine Küche mit winzig kleinen Geräten: ein winzig kleiner Topf und winzig kleine Löffel. Einfach alles um das Mädchen herum war wie es selbst winzig klein. Eines Tages ging das winzig kleine Mädchen auf den Basar. Auf dem Weg fand es einen Pfennig, von dem es sich etwas dicken Traubensirup kaufte. Den schaffte das Mädchen nach Hause, stellte ihn auf ein Bord und bedeckte die Schleckerei mit dem Sieb. Dann setzte es sich in die Sonne und wartete, daß es Zeit für das Mittagessen wurde. Wie sich das winzig kleine Mädchen die warme Sonne gefallen ließ, fiel ihm seine Nachbarin, die Fliege, ein. »Gleich wird wie gewöhnlich Nachbarin Fliege kommen und das Sieb borgen wollen«, sprach es zu sich selbst. »Dann frißt sie den Traubensirup und hinterläßt ihren Dreck auf meinem Tellerchen.« Es war noch kein Augenblick verstrichen, da klopfte es auch schon an die Tür. Dort stand Nachbarin Fliege. »Leihe mir doch dein Sieb, Nachbarin«, bat die Fliege. »Es ist auf dem Bord. Komm und hole es dir, aber iß nichts von dem Traubensirup!« sprach das Mädchen. Die Fliege holte das Sieb und ging ihrer Wege. Wenig später verspürte das winzig kleine Mädchen Hunger und lief in die Küche. Da hatte doch die Fliege den Traubensirup aufgeschleckt und ihren Dreck auf dem Tellerchen zurückgelassen. Unverzüglich lief das Mädchen zum schlauen Kadi, der in der Sache entscheiden sollte.
Das Mädchen: »Ich bin ein winzig kleines Mädchen.« Der Kadi: »So wurdest du geschaffen.« Das Mädchen: »Ich wohne in einem winzig kleinen Häuschen.« Der Kadi: »Es ist nach deiner Größe.« Das Mädchen: »Darin ist eine winzig kleine Küche.« Der Kadi: »Sie reicht dir.« Das Mädchen: »Ich lief zum Basar.« Der Kadi: »Wohl getan.« Das Mädchen: »Ich fand einen Pfennig.« Der Kadi: »Allah ließ dir eine Wohltat angedeihen.« Das Mädchen: »Davon kaufte ich mir Traubensirup.« Der Kadi: »Du erwarbst also eine Süßigkeit.« Das Mädchen: »Ich verwahrte ihn auf dem Bord.« Der Kadi: »Vortrefflich aufgehoben.« Das Mädch’en: »Die Fliege besuchte mich.« Der Kadi: »Du empfingst also eine Nachbarin.« Das Mädchen: »Sie verlangte das Sieb.« Der Kadi: »Sie hatte ein Begehr.« Das Mädchen: »Ich sagte ihr: ›Geh in die Küche und hole es dir.‹« Der Kadi: »Du erfülltest ihr Begehr.« Das Mädchen: »Ich warnte sie, nicht den Traubensirup zu essen.« Der Kadi: »Du tatst ihr ein Verlangen kund.« Das Mädchen: »Aber die Fliege aß den Sirup und ließ obendrein ihren Dreck auf dem Teller zurück.« Der Kadi: »Sie schadete dir.« Das Mädchen: »Wie lautet ihre Strafe?« Der Richter zögerte ein wenig und warf einen langen Blick in seine Akte. Er dachte nach und meditierte und zu guter Letzt öffnete er den Mund und tat sein Urteil kund: »Wo Ihr die Fliege auch immer sehen möget, tötet sie, so Ihr dazu in der
Lage seid.« Bei diesen Worten schaute er auf das winzig kleine Mädchen, das vor Verblüffung nicht wußte, was es zu diesem Spruch sagen sollte, und fast wären ihm die Tränen gekommen. Der Kadi blickte es mit unbeweglicher Miene, zusammengekniffenen Augen, festverschlossenem Mund und in Erwartung an, daß es sich nun hinweghebe, als sich eine Fliege unvermittelt auf seine richterliche Nase setzte. Da griff das Mädchen wie der Wind nach seinem Schuh, riß ihn in die Höhe und ließ ihn mit voller Wucht auf Plagegeist und Nase niedersausen. Der Kadi fuhr vor Schmerz von seinem Stuhl hoch. »Was hast du da getan?« schrie er laut auf. »Lautete Ihr Urteil nicht eben: Wo Ihr sie auch immer sehen möget, tötet sie, so Ihr dazu in der Lage seid?«
Das Märchen von den sieben geschiedenen Frauen
Es war einmal und war doch nicht in alter grauer Zeit, es hätte aber sein können. Es lebten einst sieben geschiedene Frauen, die ihren Unterhalt mit Spinnen fristeten. Eines schönen Tages standen die sieben Frauen bereits in aller Herrgottsfrühe auf, weil sie der Schein des Mondes hatte glauben machen können, es sei bereits hellichter Tag. Da brachen sie auf, um ihre gesponnenen Stoffe zu Markte zu tragen. Doch als sich eine große Wolke vor die Mondscheibe schob, sank die Welt wieder in tiefe Finsternis und sie wußten nicht mehr, wie sie den Weg finden sollten. Da hockten sie sich in den Windschatten hinter dem Häuschen eines Feldhüters, um den Tagesanbruch abzuwarten, und damit ihnen die Zeit nicht lang wurde, fragte eine der Frauen eine andere: »Was hast du eigentlich angestellt, daß dich dein Mann verstoßen hat?« Ohne Umschweife hob jene zu erzählen an: »Ich? Ich habe nichts Unrechtes getan. Mein Mann ist ein Mehlhändler, wie es keinen zweiten gibt. Das Mehllager befand sich bei uns im Haus. Immer wenn er etwas brauchte, schickte er danach und ließ es holen. Eines Tages aber befahl er mir: ›Bereite Mehlsuppe, aber nicht zu knapp, denn ich lade Freunde ein.‹ Zuerst war ich ratlos, welches Gefäß ich wohl zum Kochen nehmen sollte. Das Becken oder die Waschschüssel? Das schien noch zu klein. Dann sagte ich mir: ›Bei Allah, da richte ich die Suppe doch gleich im Brunnen an.‹ Also schleppte ich einen Sack Mehl zum Brunnenrand, leerte ihn und rührte ein wenig um. Sack für Sack habe ich hingebuckelt, bis der Lagerraum leer war. Da habe ich ihm Nachricht gegeben: ›Mann, schicke Mehl.‹ Worauf er antwortete: ›Binde einfach
einen Sack auf.‹ Doch als ich ihm sagte: ›Nicht ein Sack ist mehr übrig‹, stürmte er wie von Sinnen ins Haus. ›Wehe, wo ist das ganze Mehl?‹ tobte er, und ich erzählte ihm alles, aber er wollte dergleichen nicht hören. ›Wehe dir, du hast mein Haus ruiniert. Scher dich fort, du bist verstoßen‹, schrie er. Und nun frage ich euch: War es nun seine oder meine Schuld?« So endete die Geschichte der ersten. Die sechs Frauen pflichteten ihr wärmstens bei und gaben dem Mann die alleinige Schuld. Der Wächter in seinem Häuschen indessen hörte schweigend alles mit an. Dann fragten sie die zweite nach dem Grund ihrer Scheidung. Die erzählte: »Mein Mann ist, bei Allah, Seifenhändler. Das Lager mit der Seife gehörte zu unserem Haus. Eines Tages sagte ich mir: ›Der Innenhof des Hauses gefällt mir ganz und gar nicht. Ich werde ihn kurzerhand pflastern‹, worauf ich die Säcke mit der Seife herauszerrte und aufschnitt. Dann legte ich den ganzen Hof mit Seifenstücken aus. ›Wenn gegen Mittag der Alte zum Essen nach Hause kommt‹, sagte ich mir, ›wird er sich mächtig freuen.‹ Aber wie er zur Tür hereintrat, strauchelte er, stürzte und brach sich ein Bein. ›Was hast du getan?‹ brüllte er. ›Ich habe den Hof mit Seifenstücken gepflastert‹, sagte ich. ›Zum Donnerwetter mit dir‹, fauchte er, ›du hast mein Haus ruiniert und mir das Bein gebrochen. Verschwinde, wir sind geschiedene Leute.‹ Nun frage ich euch bei eurem Leben: Ist nun er oder bin ich schuldig?« Alle Frauen waren sich einig, daß nur der Mann Schuld trage. Dann fragten sie die dritte nach ihrem Scheidungsgrund. »Mein Mann lud, bei Allah, zu einem Festmahl ein, zu dessen Zubereitung ich wie gewöhnlich in der Küche alle Kleider abstreifte. Ich bereitete vier, fünf verschiedene Gerichte zu und würzte den Reis, wie er euer Herz erfreut hätte. Als alle bei Tisch saßen, beobachtete ich durchs Schlüsselloch die Gäste, von denen einer blind war. Nun, müßt ihr wissen, lege ich großen Wert auf Sauberkeit und
bin geradezu pingelig in dieser Frage. Also stellt euch vor, der Blinde verkrümelte den schönen Reis. Ich war außer mir: ein Reiskorn auf dem Boden, wo ich doch alles gewischt und geschrubbt hatte. Rasch warf ich mir mein Kleid über den Kopf, damit man mein Haar nicht sehen konnte, und stürzte zu den Gästen hinaus, um das Reiskorn aufzulesen. Nicht einer von ihnen sah auch nur ein Haar von meinem Schopf, bis ich wieder hinausgeeilt war. Mein Alter und die anderen Männer verdrehten die Augen, als ob sie den Verstand verloren hätten. ›Wehe dir‹, schrie mein Gatte, ›was fällt dir ein!‹ Ich war empört. ›Was schon! Ein Reiskorn war zu Boden gefallen. Soll ich es etwa nicht aufheben können?‹ erwiderte ich. ›Du hast wohl vergessen, daß du sonst splitternackt bist? Verschwinde, wir sind geschiedene Leute‹, schrie er vor der versammelten Gesellschaft. Nun frage ich euch bei eurem Leben: Ist nun er oder bin ich schuld?« Alle Frauen waren sich einig, daß nur der Mann schuld habe. Dann fragten sie die vierte nach ihrem Scheidungsgrund. »Ich war zu einer Beschneidung eingeladen, für die ich dem Beschneider einen Hammel versprochen hatte. Mein Alter schickte mir das Tier, kurz bevor ich gehen wollte. Doch ich wollte mich noch schönmachen, so daß ich den Hammel kurzerhand mit ins Haus nahm. Kaum hatte ich mir Schminke aufgetragen, blökte der Pfennigsucher ›nee, nee‹. Na ihr Schwestern, wollte mich der Hammel etwa foppen? Großer Gott, ich hörte auf, mich zu schminken, und legte ihm Farbe auf. Als ich mir den Lidstrich ziehen wollte, blökte der Hammel wieder ›nee, nee‹, und ich schwärzte ihm an meiner Statt die Lidränder und putzte ihn schließlich von Kopf bis Huf. Als ich zur Feier aufbrechen wollte, ließ er wieder sein ›nee, nee‹ erschallen. ›Ah, du willst also für mich gehen. Beim Allah, dann gehe ich eben nicht‹, sagte ich und tat dem Hammel die Tür auf und er zog ab. Am Abend kam mein Alter
heim und wollte wissen, wie es auf der Beschneidungsfeier gewesen war. Ich erzählte ihm, wie der Hammel mich behandelt hatte. Auf der Stelle schwor er einen Eid, daß wir geschiedene Leute seien. Seither bin ich nicht mehr bei ihm. Nun frage ich euch bei eurem Leben: Ist nun er oder bin ich schuld?« Alle Frauen waren sich einig, daß nur der Mann schuld sei. Dann fragten sie die fünfte nach ihrem Scheidungsgrund. »Ich war zu einer Hochzeit geladen. Ich hatte mich festlich herausgeputzt und war fertig zum Gehen. Auch wir hatten einen Hammel, der anhob zu blöken, kaum daß ich das Tor aufgetan hatte. ›Was ist dir?‹ fragte ich. ›Willst du etwa an meiner Statt gehen?‹ Und da er immer weiter blökte und jammerte, holte ich meine Diamantbrosche, die Ohrgehänge und die Perlenkette. Nachdem ich dem Hammel den Schmuck angelegt hatte, sagte ich zu ihm: ›Bitte schön, der Herr, so gehe du hin und amüsiere dich!‹ Am Abend erzählte ich meinem Mann, was vorgefallen war. ›Zum Donnerwetter, du hast mich ruiniert‹, fluchte er. ›Verschwinde, wir sind geschiedene Leute.‹ Nun frage ich euch bei eurem Leben: Ist nun er oder bin ich schuld?« Alle Frauen waren sich einig, daß nur der Mann schuldig sei. Dann fragten sie die sechste nach ihrem Scheidungsgrund. »Mein Mann ist Fleischer. Er schickte mir täglich eine Portion Fleisch, damit ich sie koche. Von diesen Portionen begann ich, jeweils ein kleines Häppchen zurückzuhalten. Jeden Tag kam ein frisches Stück Fleisch dazu. ›Armer Mann, tagein tagaus schindest du dich im Geschäft. Ich werde dich erquicken‹, sagte ich mir und zupfte Baumwollflocken aus seinen Matratzen und Kissen, um sie durch Fleischbrocken zu ersetzen. Als der Alte nach Hause kam, legte er sich schlafen. ›Ah, habe ich gut geschlafen‹, rekelte er sich beim Erwachen. Einige Tage später juckte ihn im Schlaf etwas am Nacken. Als
er sich kratzen wollte, hielt er eine Made in der Hand. ›Woher kommt die Made?‹ fragte er verdutzt, riß das Kissen auf und fand das wurmstichige Fleisch. ›Was hast du da wieder angerichtet?‹ tobte er. ›War dir denn das erst nicht angenehm?‹ rechtfertigte ich mich. ›Zum Donnerwetter verschwinde, wir sind geschiedene Leute.‹ Nun bitte ich euch, mich aufzuklären: Ist nun er oder bin ich schuld?« Alle Frauen waren sich einig, daß nur der Mann Schuld trage. Dann blickten alle zur siebenten und fragten sie nach ihrem Scheidungsgrund. »Mein Mann hat die Angewohnheit, zum Abschluß des Ramadans ein Festmahl zum Fastenbrechen auszurichten, das seinesgleichen nicht kennt. Schon weit vor dem heiligen Monat brachte er aller paar Tage bestimmte Dinge nach Hause. Stets sagte er dazu: ›Hebe sie für den Ramadan auf!‹ Einige Wochen darauf klopfte es an die Tür. ›Wer klopft da?‹ rief ich. Als jener antwortete, daß er ein Bettler sei, fragte ich nach dem Namen. ›Mein Name? Der ist Ramadan‹, sagte der Fremde. Da schleppte ich die Vorräte herbei und überließ dem armen Kerl alles, was mein Alter bisher mit ins Haus gebracht hatte. Am Abend vermißte mein Mann seine Vorräte und konnte nichts finden. Er fragte mich, wo sie denn seien. ›Ich habe sie Ramadan gegeben‹, sagte ich ihm. ›Welchem Ramadan?‹ grunzte er. ›Na, dem Bettler Ramadan‹, erklärte ich ihm. ›Zum Donnerwetter verschwinde, wir sind geschiedene Leute!‹ schrie er. Nun bitte ich euch, mich aufzuklären: Ist nun er oder bin ich schuld?« Alle Frauen gaben auch diesmal dem Mann die alleinige Schuld. Die Dämmerung brach inzwischen an. Der Wächter hatte alles mitangehört. Bei jeder Geschichte hatte ihn neuer Zorn gepackt, daß er schließlich nach seinem Knüppel griff und den sieben Frauen hinterherrannte. »Alles seine Schuld, he?« schrie er dabei. »Ihr Frauen, euch trifft wohl keine Schuld, was?«
Der Namenverkäufer
Es war einmal und war doch nicht, hätte aber sein können. Es lebte einmal eine Frau namens Darriya, der ihr Name ganz und gar nicht gefiel. Eines schönen Tages hörte sie die Stimme eines Ausrufers: »Namen feil, Namen feil«. Da beugte sich Darriya aus dem Fenster. »He, Namenverkäufer, schau bei uns vorbei!« rief sie aus Leibeskräften. Als er eingetreten war, verlangte sie einen schönen Namen für sich. »Stehe zu Diensten«, erbot sich der Händler und forderte die Frau auf, sich einen auszuwählen. Ihr gefiel Fatima. »Das ist ein schöner Name«, schwärmte sie. »Was soll er denn kosten?« »Ich überlasse ihn dir für… diese Kuh.« »Das ist aber teuer.« »Der Name ist das beste Omen, es gibt nichts Teureres«, sagte er und zerrte die Kuh hinter sich her. Als am Abend ihr Mann von der Arbeit nach Hause kam, rief er: »Darriya, o Darriya.« Aber niemand antwortete ihm. Er blickte nach oben, wo er sein Weib auf der Balustrade sitzen sah. »Warum gibst du mir keine Antwort?« fragte er sie verwundert. »Ich heiße Fatima und nicht Darriya«, gab sie spitz zurück. »Was soll das Gefasel?« grollte er, worauf ihm seine Frau berichtete, wie es ihr ergangen war. Er fuhr hoch und geriet außer sich. »Zum Donnerwetter, hat noch jemand ein kleineres Hirn als du? In welche Richtung ist der Namenverkäufer verschwunden?« tobte der Alte. »Hier entlang, geradeaus«, stotterte sie, und er nahm seine Beine in die Hand, um den Namenverkäufer einzuholen. Unterwegs kam der Mann an einem Haus vorüber, an dessen Tor eine Frau lehnte. »Schwester, hast du einen Mann gesehen,
der Namen feilbietet?« keuchte er. Sie bejahte. »Wohin ist er gegangen?« fragte er weiter. »Das sage ich dir erst, wenn du mir sagst, woher du kommst«, plapperte die Frau. »Ich komme geradewegs aus der Hölle«, schrie er sie in seinem Zorn an, aber die einfältige Frau schien das nicht zu stören. »Hast du da meinen Vater getroffen?« wollte sie nun wissen. »Ja, habe ich«, log er. »Und wie geht es ihm?« »Der Ärmste braucht etwas Geld.« »Warte einen Moment«, sagte sie und verschwand für einen Augenblick im Haus. Dann gab sie dem Mann ein Bündel mit Sachen und Geld. »Ich bitte dich inständig, nimm dies meinem Vater mit, wenn du wieder zurückgehst. Grüße ihn schön und sage ihm: ›Deine Tochter vermißt dich sehr‹«, redete sie auf den Fremden ein, der ihr diese Gefälligkeit versprach. »Ach, und sage auch, mein Mann läßt ihn grüßen«, rief sie noch hinterher. »Zu Diensten, möge Allah dem alten Herrn gnädig sein und ihm Gutes tun«, sagte der Mann zum Abschied, huckte die Sachen auf und eilte davon. Als der Ehemann der Einfältigen das Haus betrat, stürzte sie auf ihn los. »Höre dies, Mann. Da kam einer von meinem Vater aus der Hölle. Ich habe mich nach seinem Befinden erkundigt und ihm mitgeschickt, was ihm zustand«, erzählte sie ahnungslos. »Wehe, wie konnte dir in den Sinn kommen, daß ein Lebender einen Toten trifft. Wie konntest du ihm nur Geld und Kleider geben!« schimpfte er. Dann schwang er sich auf sein Pferd und stürmte dem vermeintlichen Betrüger hinterher. Kehren wir nun zu dem Manne zurück, der das Bündel mit Geld und Kleidern wegschleppte. Er hatte bemerkt, daß ihm einer zu Pferde auf den Fersen war, und wollte sich gern verbergen. Da erblickte er einen Maurer, der die Außenwand eines Hauses mit Lehm bewarf. »Friede sei mit dir. Bist du der Maurer?« sprach er ihn an. »Was steht zu Diensten?« erwiderte der freundlich. »Ich habe Leute gehört, die in Kürze hier
auftauchen werden, um dich zu verprügeln«, log der Mann. »Wieso? Ich habe nichts Unrechtes getan«, wunderte sich der Handwerker. »Ach, ich habe dich nur warnen wollen«, sprach der Mann fast beiläufig, worauf der Maurer von seinem Gerüst sprang, um sich hinter einem Baum zu verstecken. Im gleichen Augenblick kam der Reiter heran, der nur einen Maurer erblickte, der gerade die Wand abputzte, ohne zu wissen, daß es sich um jenen handelte, der seiner Frau Geld und Kleider abgeschwatzt hatte. »Hast du einen mit einem Beutel voller Kleider und Geld gesehen?« fragte der Reiter. »Ja, der steckt hinter dem Baum dort«, verriet der falsche den richtigen Maurer. Der Verfolger saß von seinem Pferd ab. Bevor er aber den Kerl hinter dem Baum hervorzerren wollte, sagte er zu dem Handwerker: »Paß auf mein Pferd auf. Sollte es weglaufen, springe hinterher und bringe es zurück.« Kaum hatte der Reiter den vermeintlichen Baum erreicht, war der andere schon aufgesessen, hatte das gesuchte Bündel vor sich auf den Sattel gelegt und war im Nu über alle Berge. Der Verfolger hatte rasch seinen Fehler bemerkt und kehrte zu Fuß nach Hause zurück. »So Allah wollte, hast du ihn gepackt«, empfing ihn seine Frau. »Im Gegenteil«, erwiderte ihr Mann, »als ich ihn erreichte, habe ich ihm noch mein Pferd gelassen, damit er schnell zu deinem Vater gelangt.«
Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Umm Ulailush
Umm und Abu Ulailush hatten eine einzige Tochter. Ein Hirte kam mit seiner Schafherde tagein tagaus auf den grünen Anger vor dem Haus der beiden Alten. »Ach, Abu Ulailush«, stöhnte dessen Weib, »dieser Hirte macht mir das Herz schwer. Würdest du auf mich hören, gäben wir ihm unsere Tochter zur Frau.« Der Alte wollte nichts davon wissen. »Mögen dir sämtliche Zähne ausfallen! Unsere Tochter ist uns Kraft und Licht. Wie könnten wir sie einem dahergelaufenen Hirten geben?« brummte er. »Ach was, Mann, wir müssen ihm das Mädchen geben. Mir widerstrebt, ansehen zu müssen, wie er mutterseelenallein nur mit Allahs Beistand leben muß.« Nicht lange, so war Abu Ulailush mit der Heirat einverstanden. »Aber wie kleiden wir unsere Tochter?« fragte er. »Geh und hole einige Armlang Leinen, das wollen wir ihr umtun«, schlug die Alte vor. So kleidete die Mutter ihre Tochter mit zwei Armlang grobem Leinen und führte sie in den Garten vor dem Haus, wo sie sie allein ließ. »Warum sitzt du hier?« fragte der Hirte neugierig, als er mit seiner Herde kam. »Meine Eltern haben mich hierher gestellt, damit du mich mit dir nimmst«, gestand das Mädchen. Der Bursche war nicht abgeneigt und nahm sie zu sich. Nachdem einige Zeit verstrichen war, kam Umm Ulailush auf den Gedanken, mit ihrem Mann Tochter und Schwiegersohn zu besuchen. Sie griff ein paar Hennen, schlachtete und rupfte sie, nahm sie aus und buk im Brotofen mit dem Fleisch eine Pastete. Als Umm Ulailush die Pastete aus dem Ofen nehmen wollte, hatte der Teig angelegt und klebte fest. »Abu Ulailush, hole mir die Axt, ich will die Pastete von der Ofenwand schlagen«, rief sie. Kaum hatte sie
das Werkzeug, als sie auch schon drauflosschlug, bis der ganze Brotofen in Klumpen fiel. Die Alte fluchte fürchterlich und band sich die verbliebenen Hühnerdärme in den Seidengürtel und brach mit ihrem Mann auf. Die Mutter staunte nicht schlecht, als sie das Haus der Tochter in Ordnung und angefüllt mit allerlei feinen Sachen vorfand. »Bei Allah, Töchterchen, du kannst sehr zufrieden sein«, lobte die Mutter. »Mann, habe ich dir nicht gesagt, gib sie dem Hirten. Sieh nur ihr Haus, ihr Hab und Gut. Allah möge dir noch mehr zukommen lassen, meine Tochter.« Sie ließen sich nieder, bis der Schwiegersohn kam. »Wo sollen wir schlafen, Töchterchen?« fragte gegen Abend die Mutter. »Wo es dir beliebt, Mutter«, bot die Tochter ihr an. »Wir haben da ein warmes Kämmerlein, allerdings nahe bei den Hühnern.« Der Mutter war es gleich. »Wir sind doch gewohnt, bei den Hühnern zu schlafen«, sagte sie, und die Tochter legte für die Eltern im Hühnerstall Schlafmatten aus. Als es am anderen Morgen dämmerte, krähte der Hahn und die Hühner fingen ihr übliches Gackern an. Verärgert schielte Umm Ulailush in die Runde. »Allah möge dir keine Gesundheit schenken, Tochter. Die Hühner sind voller Milben, und ihr belaßt sie in diesem Zustand«, stellte sie fest. Da erhob sich die Frau, machte Feuer und stellte den großen Kessel auf die Flammen, bis das Wasser kochte. Dann nahm sie eine Henne nach der anderen von der Stange und tauchte sie in das kochende Wasser, bis eine jede ihr Leben ausgehaucht hatte. Danach packte sie das Federvieh zurück auf die Leiter. Ihre Prozedur zum Milbentöten trieb sie weiter, bis keines der etwa vierzig Hühner mehr am Leben war. Die Hühner verließen weder am Morgen noch bis Mittag den Stall. Das Mädchen begann zu suchen und fand das arme Federvieh erstickt und tot über der Schlafstange hängen. »Mutter, was hast du den Hühnern getan?« fragte die Tochter erschrocken. »Allah möge
dir keine Gesundheit schenken. Ihr habt das Federvieh sich selbst überlassen, bis es vor Milben strotzte. Jetzt schläft es nach einem Bad und alle Milben in den Federn sind dahin«, hielt ihr die Mutter vor. Die Tochter stutzte. »Gut, aber ihr könnt nicht länger in dieser Kammer schlafen.« Am Abend machte sie den Eltern ein Lager in der Nordkammer, die nahe dem Kuhstall lag. Abu und Umm Ulailush schliefen bis Mitternacht, als die Kühe zu schlagen und zu stampfen begannen. »Allah möge dir keine Gesundheit schenken, Tochter«, schimpfte die Mutter erneut. »Immer laßt ihr die armen Kühe eingesperrt schlafen, da müssen sie ja ersticken.« Sprach’s und ging, um die Stalltür zu öffnen, und ließ die Kühe in die Nacht hinaus. Der Schwiegersohn wollte in aller Herrgottsfrühe die Kühe austreiben. »Wo sind die Kühe, Schwiegermutter«, herrschte er die Alte an. »Oh, ihr herzloses Volk«, wetterte diese los, »wie könnt ihr das arme Vieh sich treten und schlagen lassen. Es war am Ersticken und ihr habt es sogar noch angebunden. Hätte ich es nicht losgemacht und ihm das Tor zum Hausanger geöffnet, wäre es tot.« Der Bursche stöhnte und ging die Kühe suchen. »Was hat dir Gott nur für eine Mutter gegeben«, tadelte er sein Weib. Seine Frau beschwichtigte ihn. »Wir müssen es eben ertragen, sie bleiben doch nicht ewig. Morgen gehen sie wieder, und wir haben unsere Ruhe.« Die Mutter wollte wissen, wo sie die dritte Nacht schlafen sollten. »Im Ostzimmer, dort sind weder Kühe noch Hühner um euch herum«, sagte die Tochter und breitete die Schlafmatten aus. Umm Ulailush erwachte mitten in der Nacht und begann ziellos herumzusuchen, wobei sie einen Krug voller Pech fand. Sie stieß ihre Hand in die Masse. »Bei Allah, das ist schwarz. Nun, damit wir besser schlafen, werde ich meinen Kopf und des Alten Bart einfärben.« Umgehend weckte sie Abu Ulailush, um ihm den Bart zu schwärzen, was er sich auch bereitwillig gefallen ließ. Nachdem sie sich auch
ihren Kopf mit Pech bestrichen hatte, schlug sie sich die Decke über den Kopf und schlief weiter. Doch Bart und Haare klebten an der Decke fest. Wenn die beiden Alten aufstehen wollten und die Augen öffneten, war es noch dunkel, so daß sie annahmen, die Sonne sei noch nicht aufgegangen, und schliefen weiter. So rückte der Mittag heran. »Bei Gott, warum sind meine Eltern noch nicht auf, vielleicht ist ihnen etwas zugestoßen«, wunderte sich die Tochter und betrat ihre Kammer. Als die Tochter ihnen die Decke wegziehen wollte, merkte sie, daß sie angeklebt war. Wohl oder übel mußte sie den beiden Alten die verdorbene Haarpracht von Kopf und Oberlippe abschneiden, damit sie überhaupt von der Schlafmatte loskamen. Dann rückte sie ihnen mit heißem Wasser zu Leibe. »Beim Allmächtigen, keine Minute länger bleibt ihr hier«, schimpfte die Hausfrau. Die Tochter erhob sich und schenkte den Eltern zum Abschied einen Hammel, einen Tonkrug voller bestes Schmalz und vierzig Armlang Leinen. Abu und Umm Ulailush luden sich die Geschenke auf und zogen ihrer Wege. Unterwegs hörten sie einen Schakal heulen. »Hast du den Schakal jaulen hören, Mann?« fragte die einfältige Alte. »Bei Allah, wir geben ihm den Hammel, er wird sicher hungrig sein. Ich laß ihn damit meine Sünden und Vergehen fressen.« Abu Ulailush überließ daraufhin dem Schakal den Hammel, der ihn gierig fraß und zu heulen aufhörte. »Siehst du, nun schweigt er; er war hungrig«, triumphierte die Alte. Beide setzten ihren Weg fort und kamen an eine kleine Quelle. Umm Ulailush neigte sich nieder und trank und besprengte die Erde, in die das Wasser im Nu einsickerte. »Mann, der Boden dürstet«, rief sie verdutzt. »Gieße ihr den Schmalz hin, eine Ewigkeit wird er nicht mehr vom Durst geplagt.« Und Abu Ulailush goß das reine Schmalz in den
Staub, in den es im Handumdrehen eindrang. Die Alte war überzeugt, dem Boden eine Wohltat erwiesen zu haben. Bald gelangten sie an einen Bach, an dessen Ufern schlanke Weißpappeln wuchsen, von denen eine besonders hoch aufragte. Der Wind wiegte den Baum hin und her und sein Grün glitzerte, als sei es von Tau benetzt. »Abu Ulailush, schau dir das an, der Baum friert und zittert vor Kälte«, stellte die Alte fest. »Rasch, klettere hinauf und wickle das Leinen um den Baum, um ihn zu wärmen.« Diesmal weigerte sich Abu Ulailush. »Wie soll ich denn das anfangen? Bist du verrückt geworden.« Aber sein Weib war nicht davon abzubringen. »Klettere schon hoch! Was sollen wir denn sonst mit dem Stoff anfangen, he?« Und der Alte gehorchte abermals und kroch bis in die Spitze der Pappel, um sie von oben bis unten in das Linnen zu hüllen. Der Stoff lastete schwer auf den Ästen des Baumes. Als ihn der Wind zur Seite neigte, brach er und schlug der Länge nach auf die Erde. »Da hast du’s. Jetzt schläft der Baum, nachdem er sich von der klirrenden Kälte erwärmt hat«, plapperte Umm Ulailush, ihr Alter indessen schwieg und sagte den ganzen Weg kein einziges Wort mehr. Als die Sonne untergegangen war, erblickten sie in weiter Ferne einen winzigen Lichtschein. Zuerst wunderten sie sich, was es wohl sei, dann stritten sie, wer vorangehe. Und wie ihr Hader immer ärger wurde, schlich sich an sie die Hyäne heran und fraß die beiden mit Haut und Haaren. Meine Geschichte ist verteilt, sie ist euch unters Hemd geschnellt.
Das Schulmeisterlein
Es war einmal, es war keinmal in alter grauer Zeit. So soll es denn sein. Es lebte einst ein geiziger König, der geradezu im Gelde schwamm. Vor lauter Geiz verschnitt er seinen Kinnbart sogar mit eigener Hand, nur um den Barbier nicht bezahlen zu müssen. Zu guter Letzt kam ihm auch noch die Idee: »Ich werde mein Barthaar absengen, damit ich nicht Geld für Rasiermesser, sein Schleifen und Seife aufwenden muß.« Und wie er einmal sein Kinnhaar brannte, versengten die Flammen auch sein Gesicht und sein Bart war fürchterlich verunstaltet. Da rief er nach seinem Wesir. »Wesir, ich will, daß du mir aus dem Volke einen findest, der noch weniger Verstand als ich besitzt«, befahl der König. »Gelingt es dir nicht, schlage ich dir den Kopf ab.« »Ich höre und gehorche«, antwortete der Wesir und begab sich unverzüglich auf die Suche. So sehr er auch Erkundigungen einzog, er konnte keinen Unvernünftigeren als den König entdecken. Schließlich traf er auf eine Schar spielender Kinder. »Kennt ihr denn keinen, der ein ausgemachter Schwachkopf ist?« fragte er sie. »Der Lehrer in der Koranschule«, riefen sie wie aus einem Munde. Der Wesir lenkte sofort seine Schritte in das Haus des Schulmeisterleins und fand ihn gerade beim Unterricht. »Paß auf, Kind! Schweig, Kind!« belehrte er ununterbrochen die Schüler. »Euer Ehren, ich bin ein reisender Derwisch und komme aus Gottes gelobtem Land«, stellte sich der Wesir vor. »Ich kann
das Glück wahrsagen.« Und weil der Scheich der Schule sogleich wollte, daß jener ihm sein Glück verheiße, richtete der Wesir seinen erstarrten Blick in eine nebulöse Ferne und prophezeite. »Am heutigen Tag wirst du eine Goldlira unter deiner Schlafmatte finden«, denn dort hatte der Wesir bereits ein Geldstück versteckt. Nachdem der Derwisch gegangen war, schickte der Schulmeister die Kinder rasch nach Hause und lüftete seine Matte, unter der er zu seiner großen Freude tatsächlich eine Goldlira fand. Von nun an wahrsagte der Wesir dem Scheich der Medrese, der Koranschule, Tag für Tag. Er legte dem kauzigen Alten dazu jedes Mal eine Goldmünze unter die Matte und überzeugte ihn derart von seinen Fähigkeiten als Wahrsager, daß das Schulmeisterlein dem vermeintlichen Derwisch alles glaubte. Wie er dem trottligen Schulmeisterlein eines Tages gar die Zukunft offenbaren will, spielte er auf einmal den Traurigen und Verzweifelten und hüllte sich in tiefes Schweigen. »Na was ist? Sag schon!« bohrte der Scheich. »O Freund, du wirst in drei Tagen sterben«, eröffnete ihm der Wesir. »O welch schmerzlicher Verlust, o dieses blindwütige Schicksal! Am ersten dieser drei Tage wird dein Kopf zu wackeln beginnen, am zweiten Tag werden deine Schulter zucken und am dritten Tag schließlich wird dein ganzer Körper zittern und beben, und dann stirbst du.« Das Schulmeisterlein, das alles für bare Münze nahm, war wie vom Donner gerührt, greinte und seufzte. Nachdem der Derwisch sich verabschiedet hatte, ging der Scheich zu seinem Weib. »Mir wurde heute gewahrsagt und offenbart, daß ich in drei Tagen sterben werde«, teilte er ihm mit. »Ach, glaube doch solchen Unsinn nicht, Mann!« schimpfte sie. »Wie sollte ich ihm keinen Glauben schenken, he? Jeden Tag fand ich eine von ihm geweissagte Goldlira
unter der Matte. Nun sollte ich ihm auf einmal nicht mehr vertrauen?« Das Schulmeisterlein legte sich auf seine Schlafmatte und hob an, am ersten Tag mit dem Kopf zu wackeln, am zweiten Tag mit den Schultern zu zucken und am dritten Tag ließ er seinen ganzen Leib erzittern und erbeben. Als der Abend hereinbrach, stellte sich der Scheich tot. Der Derwisch kam, um nachzusehen, zur Koranschule und stieß auf eine Menschentraube. Man sagte ihm, der Lehrer der Medrese sei gestorben. Der Wesir machte auf dem Absatz kehrt und eilte zum König, um ihm die ganze Geschichte zu hinterbringen. Gemeinsam liefen sie zum Haus des Narren zurück. Das Schulmeisterlein lag bereits auf der Totenbahre und der Trauerzug hatte sich formiert, in den sich König und Wesir unerkannt einreihten. »Der Schulmeister ist tot, weil er ein Tyrann war«, schrie plötzlich ein Kind. Und zum allergrößten Erstaunen des Königs hob der Scheich auf der Bahre unvermittelt sein Haupt. »Wäre ich nicht auf dem Wege ins Jenseits, hätte ich jetzt dies und jenes mit dir angestellt, verflixter Bengel«, rief er. Die Leute ließen mir nichts dir nichts die Bahre fahren und stoben, selbst zu Tode erschrocken, auseinander. »Nun, was ist eure Meinung, o größter König aller Zeiten?« wandte sich der Wesir an seinen geizigen Herrscher. »Wahrlich, Wesir, der Schulmeister hat noch weniger Verstand als ich.«
Daus, daus – die Geschichte ist aus. Und ich ließ sie allein und kam zu euch herein.
Schnupfen ist schlimmer
Es wird erzählt, daß in einer fernen Zeit ein Wesir an einem heftigen Schnupfen erkrankt war. Er konnte das Haus nicht verlassen und mußte sogar das Bett hüten. Aber der König begann, ihn zu vermissen, und man sagte dem Herrscher, sein Minister sei erkrankt. Da machte sich der Herrscher auf den Weg, um seinen Vertrauten zu besuchen. Als der Wesir hörte, daß der König zu ihm komme, geriet er in Verwirrung und Aufregung, und Scham überkam ihn, denn wie konnte ein Schnupfen Vorwand sein, um Bett und Haus zu hüten. Ihm schien es angebracht, sich mit dem Finger das Licht eines Auges zu nehmen. Ein derartiges Unglück, so deuchte es ihn, rechtfertige den Verbleib am häuslichen Herd. Bei seinem Eintreten erkundigte sich der König beim Wesir sogleich nach seinem Befinden. Der entschuldigte sich und berichtete, er habe, wie zu sehen sei, ein Auge eingebüßt. Da lachte der König lange und sprach: »Das ist eine Bagatelle, die dir nicht das Recht gibt, dem Palast fernzubleiben. Ja hättest du, sagen wir, Schnupfen, dann verhielte sich die Sache ganz anders. In einem solchen Falle stünde es dir zu, zu Hause zu bleiben und im Bett zu liegen.«
Der Fettopf
Es lebte einmal ein Mann, der hatte sich eine Frau genommen, die ebenso arm war wie er. Er saß mit ihr in ihrer ärmlichen Hütte, in der es ständig am Essen mangelte. »Mann, bei meinen Leuten steht ein Topf randvoll mit Fett«, erinnerte sich die Frau. »Blindheit soll dich schlagen«, fuhr der Mann hoch, »was soll das Gerede! Sag lieber, wie du es anstellen willst, damit wir davon etwas ergattern!« Dazu mußte sie nicht lange überlegen. »Wir nehmen einfach unseren Lederbeutel und tun so, als ob wir uns streiten würden. Du schützt vor, mich schlagen zu wollen, und ich renne, von dir verfolgt, zu meinen Verwandten, so daß sie uns vor ihrer Tür in den Haaren raufend finden. Sie werden uns zu trennen versuchen und dich packen. Unterdessen husche ich ins Haus hinein und fülle den Beutel mit Fett. Sobald du siehst, daß der Sack prallvoll ist, zerrst du mich an der Hand hinter dir her, und rufst dabei: ›Das ist mein Weib, ohne sie tue ich keinen Schritt von hier. Wir streiten uns, aber wir versöhnen uns auch wieder‹«, entwarf die Frau ihre List. Der Mann willigte ein und sie gingen daran, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Sie stürzte los und er ihr hinterdrein, wobei er einen Knüppel packte, mit dem er neben ihr auf den Boden drosch, daß es aussah, als habe er sie verfehlt. »Mutter, hilf, sonst schlägt er mich noch tot!« kreischte das junge Weib zugleich aus Leibeskräften. Ihre Familie eilte vor das Haus. »Was ist denn mit euch los«, riefen alle durcheinander. Dann packten sie rasch die Frau und brachten sie im Haus in Sicherheit. Ihr Mann und die Verwandten blieben draußen.
Nun war es gerade Winter und das Fett im Topf zu einem Klumpen wie Eis erstarrt. Der Mann tobte an der Tür, beschimpfte sein Weib und versuchte, in das Haus zu dringen. »Ruhig Blut«, redeten die Verwandten auf ihn ein, aber er wollte nichts hören. »Laßt mich zu ihr«, brüllte er, worauf sie von drinnen zurückschrie: »Allah mag sich dieses Eisklumpens nicht erbarmen«, womit sie dem Mann ein Zeichen gab. »Allah möge auch kein Mitleid mit diesem Rührholz haben«, schrie der Ehemann zurück. Sein Weib verstand, nahm ein Holz und rührte das Fett so lange, bis der Lederbeutel voll war, konnte ihn aber nicht verschnüren. Da kam sie zur Tür und stellte sich hinter ihre Mutter. »Ach Leute, unser Streit läßt sich nicht klären. Dieses Schandmaul läßt sich einfach nicht schließen«, jammerte sie vieldeutig. »Könnte ich zu meinem Weib, würde ich ihm das Maul verdrehen und mit einem Zopfband binden.« Dabei fielen der jungen Frau ihre Zöpfe ein, denn außer ihren Bändern hatte sie nichts bei sich, womit sie den Fettbeutel hätte verschließen können. Gesagt, getan. Wie er nun merkte, daß sie ihr Werk vollbracht hatte, gab er scheinbar nach. Er lärmte noch ein bißchen, doch dann nahm er sein Weib bei der Hand. »Bei Allah, du schläfst nur in meinem Haus«, entschied er und zog sie vom Ort des Geschehens. Froh über den gelungenen Streich rannten sie nach Hause. »Haben wir das nicht gut gemacht, Mann? Wir haben einen Ledersack mit vier Pfund Fett ergattert«, sagte die Frau. »Aber wem gehört nun das Fett?« entgegnete der Mann.
Von sieben Hunden gehetzt
Es lebte einmal ein junges durchtriebenes Weib, dem man nachsagte, es sei von sieben Hunden gehetzt. Das hockte in seiner Hütte, war bösartig und ihm war nichts lieber, als den Nachbarn Böses zu tun. Nun wohnte neben ihm eine Nachbarin, die zwölf Kinder hatte. Als diese Wäsche wusch, rief die Hinterlistige: »Was machst du da?« Und die Nachbarin klärte sie auf. »Na, da helfe ich dir doch«, bot sie sich verständnisvoll an und nahm sogar dreiviertel des Wäscheberges, um ihn in ihrem eigenen Haus zu schrubben. Als alles wieder trocken war, nahm sie allerdings die Kleider und versteckte sie in einem unterirdischen Gemach. Bald kam die Nachbarin und wollte ihre Wäsche zurück. »Was denn für Kleider?« stellte sich die Durchtriebene ahnungslos. »Ach herrje, was für Kleider!« fragte die. »Na, das hat gerade noch gefehlt«, erregte sich die Nachbarin und lief zu den Gendarmen, um Klage zu führen. Diese rückten unverzüglich zu dem durchtriebenen Weib und forderten die Sachen zurück. Sie suchten in allen Winkeln, konnten aber nichts finden. »Du bist eine Lügnerin«, beschuldigten die Polizisten schließlich die arme Nachbarin, als sie unverrichteter Dinge abziehen mußten. Die von sieben Hunden Gehetzte schlich sich an einem anderen Tag sogar in das Haus der Nachbarin und stahl das restliche Viertel der Kleider und verbarg sie ebenfalls. Die arme Nachbarin lief wieder zu den Gendarmen. Die suchten, aber wieder konnten sie bei der Beschuldigten nichts finden. Dafür beschimpften sie die Nachbarin und schleppten sie aus Verdruß ins Gefängnis.
Das böse Weib streifte eines anderen Tages umher und begegnete einem Trauerzug, der auf der Suche nach einem Friedhof war, weil ein kleines Kind zu beerdigen war. »Kommt mit mir«, sprach es die Leute an, »ich betreibe einen Kinderfriedhof.« Da nahm es ihnen den winzigen Leichnam ab und versprach hoch und heilig, das arme Wesen in Ehren beizusetzen, doch das von sieben Hunden gehetzte Weib trug den Körper nach Hause. Seine Hütte lag am Weg, auf dem gerade ein Zug beladener Kamele entlangkam, der dazu noch kostbare Waren beförderte und einen großen Batzen Geld bei sich trug. »Nur herein, nur herein«, bot es auf der Stelle den Männern ein Nachtlager, »es ist Abend und ihr könnt ohnehin nicht mehr weiterziehen. So kommt doch herein, ich habe ein großes Haus, in dem ihr nächtigen und euch bis zum Tagesanbruch ausruhen könnt.« Die Durchtriebene wies den ahnungslosen Männern die Kammer zum Schlafen an, in dem das tote Kind lag. Sie warnte sie eindringlich, daß um Himmelswillen keiner von ihnen niese, denn daran müsse das Kind sterben. »Das ist mein kleiner Sohn, mein einziges Kind«, heuchelte sie zu diesen Worten. Als die Gäste am anderen Morgen aufgestanden waren und ihrer Wege ziehen wollten, trat die falsche Wirtin an das Kind heran und kreischte auf. »Ihr habt den Jungen umgebracht«, schrie sie und rannte zur Polizei. Die Gendarmen rückten sofort an und nahmen den Kameltreibern reinweg alles ab: die Kamele und den Geldschatz. Das beschlagnahmte Gut gaben sie Dalila. »Das Geld möge dir Entschädigung für deinen toten Sohn sein«, sagten die Gendarmen. Doch damit nicht genug. Das von sieben Hunden gehetzte Weib wickelte nunmehr den Leichnam in dünnes Tuch und lief zu einem Stoffhändler. »Ich bin Dienerin im Palast des Königs«, stellte es sich dem Kaufmann vor. »Ich möchte eine ganze Auswahl von Stoffen.« Der Kaufmann wollte wissen,
wieviel Meter der König begehrte. »Oh, das weiß ich nicht. Besser, ich laufe rasch und frage den Fürsten. Das Kind laß ich dieweil bei euch«, sprach das Schlitzohr und legte den kleinen Leichnam auf einen Tisch und verschwand. Eine Weile später kam das durchtriebene Weib geschäftig zurück. »Also, ich nehme sieben Meter von diesem Ballen, sieben Meter von diesem und sieben Meter von diesem da«, verkündete es und – wie es die Ware vor sich hatte – warf es wie zufällig einen Blick auf den Knaben. »Bei Allah, du hast das Kind, den Sohn des Königs, auf dem Gewissen. Du wirst schon sehen, was der Herrscher mit dir machen wird«, tobte es wie außer sich. Dann kam abermals die Polizei, packte den unschuldigen Stoffhändler und schleppte ihn ins Gefängnis. Das nimmermüde böse Weib raffte indessen die gesamten Waren des Ladens zusammen und verschwand. Einige Tage später, nachdem sich die Aufregung um den Streich wieder gelegt hatte, vernahm die von sieben Hunden Gehetzte die Nachricht, daß der Sohn des alten Königs sich vermählen wolle. Auf der Stelle schmückte sie sich mit prächtigen Gewändern und feinem Goldgeschmeide, worauf sie um vieles schöner erstrahlte als die Auserwählte des Prinzen. In diesem Aufputz ließ sich das junge Weib vor dem Palast des Königs nieder. »Huch, bist du etwa die Braut«, plapperte eine Dienerin, die gerade vorbeikam. »Nein, ich bin nicht die Braut«, erwiderte es traurig. Da eilte die Dienerin in den Palast zu dem jungen Königssohn. »O größter König aller Zeiten, draußen sitzt ein Mädchen vor dem Palast, das ist tausendmal schöner als die Braut«, rief sie außer Atem. »Was erzählst du da?« fuhr der Fürst hoch und lief an das Fenster, um sich von dem Gesagten zu überzeugen. Tatsächlich, es war wunderschön anzusehen, daß er Hals über Kopf lief, um es zu freien. »Was hieltest du davon, meine Braut zu werden?« fragte der Prinz unumwunden. Als die Vermaledeite einverstanden war,
wollten sie sofort die Ehe vollziehen und eine Nacht gemeinsam verbringen. »Wie heißt du überhaupt?« erkundigte sich der junge Prinz. »Trällerlein«, log die. Nachdem der Fürst ihr den ganzen Palast, die Gemächer, alles Geld und den Thronschatz gezeigt hatte, gingen sie zu Bett. Tief in der Nacht aber stahl die vermeintliche Braut alles, was nicht niet- und nagelfest war, und sämtliches Geld, und verbarg des Diebesgut in ihrem Haus und nahm selbst Reißaus. Als der Prinz am anderen Morgen erwachte, fand sich im Palast nichts weiter als das Bett. »Trällerlein, Trällerlein«, schrie er aus Leibeskräften. Mutter und Schwestern verstanden »Trällert fein, trällert fein« und hoben sogleich an, die nach vollzogener Ehe üblichen Freudenträller auszustoßen, daß sie im ganzen Land zu hören waren, bis ihnen die Stimme ausging. »Vergebung, o Prinz«, baten da die Frauen heiser und außer Atem, »wir sind völlig erschöpft.« Er aber winkte aufgeregt ab. »Nicht doch trällern. Mein Weib heißt Trällerlein, zum Donnerwetter. Was habt ihr bloß wieder angerichtet.« Dann holten sie die Polizei und zeigten die Diebin an. Die suchte und fand sie und steckte sie in eine Höhle. Als das verdorbene Weibsstück in der Höhle schmachtete, kam eine Bettlerin vorbei. »Bei meiner Seele, bettle nicht. Ich habe hier in der Höhle mein ganzes Geld und ich werde dir davon etwas abgeben. Wenn du hier auf dem Basar betteln würdest, hätte man dich auf der Stelle ins Gefängnis gesteckt«, wickelte es die Bettlerin ein und lockte sie schließlich zu sich in die Höhle. Als kurz darauf die Polizei kam, um die Übeltäterin zu holen, nahmen sie die Bettlerin mit. Das von sieben Hunden gehetzte Weib entkam. Als die Gendarmen die Arme verhörten, kam der Irrtum bald ans Tageslicht. Man ließ sie laufen und nahm von neuem die Verfolgung auf, bis es ihnen erneut gelang, der Listigen habhaft zu werden. »Wir haben über dich das Urteil gefällt«, wurde ihr eröffnet. »Du
mußt auf den höchsten Baum des Königs klettern und dort oben hocken bleiben, bis dich der Tod ereilt.« Wie sie da oben zwischen den Zweigen saß, kam die Mutter des Prinzen vorbei, die zu ihr in die Höhe schaute. »Auch schon im vorgerückten Alter«, rief Dalila von oben herab, weil sie sich über die Alte lustig machen wollte. »Auch ich war so alt und gebrechlich wie du, doch dann setzte ich mich hier oben in luftiger Höhe hin und wurde zu einem wunderhübschen Mädchen.« Die Königin wollte wissen, ob das auch stimme, worauf die Verurteilte all ihre Bedenken zu zerstreuen verstand. Schließlich kroch die Alte den Baum hinauf und nahm ihren Platz ein. Das Weibsstück glitt herab und ergriff abermals die Flucht. Dann kam der junge Königssohn und suchte nach seiner Mutter. »Mutter, Mutter«, rief er in einem fort. »Ich bin hier oben, mein Söhnchen«, antwortete sie auf einmal. »Ich sitze in den Zweigen, damit ich wieder zu einem blutjungen Mädchen werde, denn der Baum ist dem himmlischen Herrn doch so nah.« Der Prinz fluchte laut. »Himmel und Hölle, die von sieben Hunden Gehetzte hat dich hinters Licht geführt«, tobte er. Doch auf der Stelle nahmen seine Begleiter und die Gendarmen die Verfolgung auf. Sie wurden ihrer erneut habhaft und hängten sie dieses Mal ohne viel Federlesens auf. Endlich hatte die Welt Ruhe vor ihr.
Schwerhörige
Eine Familie hatte ihr Leben bisher damit zugebracht, von einem Miethaus in ein anderes zu ziehen, bis es ihr nach vielen Plagen vergönnt war, sich ein eigenes Haus kaufen zu können. Am Morgen nach der ersten Nacht, die die Familie in den eigenen vier Wänden geschlafen hatte, verließ der Herr des Hauses stolz die Wohnung und begab sich schon zeitig auf Arbeit. Vor dem Haus traf er auf den Nachbarn. »Möge euer Haus gesegnet sein«, wünschte er dem Gegenüber. Nun war der aber schwerhörig. Ohne ein Wort des Dankes machte er auf dem Absatz kehrt und lief zurück ins Haus zu seiner Frau. »Hast du gehört? Da kam doch ein Hausbesitzer und fragt: ›Wann zahlt ihr denn die Miete ein‹«, polterte er. Aber auch die Frau hatte ein hartes Gehör. Mit dem, was sie verstanden hatte, stürmte sie zur Tochter. »Da hast du es. Dein Vater behandelt mich stets ungerecht. Um diese Zeit verlangt er doch: ›Trag sogleich das Mittagsmahl herein.‹ Dabei habe ich noch gar nicht kochen können«, beschwerte sie sich. Die Tochter allerdings hatte die gleichen Hörprobleme wie ihre Eltern. Verletzt von dem, was sie aus den Worten der Mutter vernommen zu haben glaubte, lief sie zum Bruder. »Deine Mutter hat es doch immer mit mir. Jetzt sagt sie: ›Du sollst bald einen Ehegatten frein‹«, empörte sie sich, denn sie wollte nicht heiraten. Aber auch er hatte ein schwaches Gehör. Gleich lief er zur Großmutter. »Großmutter, nun hacken sie schon wieder auf mir herum. Jetzt sagen sie: ›Wir schicken dich zur Schule rein‹,« beschwerte er sich, denn er wollte nicht. Die Großmutter mit ihren halbtauben Ohren hörte lediglich heraus, daß die Familie
sie satt habe. Beleidigt schnürte sie ihr Bündel und verließ das Haus im Selbstgespräch. »Zu eng in großen Karawanserein kann es nur Eseln und Kamelen sein.«
Das Wörtchen ›war‹
Es war einmal und war doch nicht in alter grauer Zeit und dunklen Epochen weit, daß drei Brüder Handel trieben. Eines Tages, als sie in Geschäften wieder einmal aus der Stadt zogen, kamen sie überein, daß sie diesmal getrennte Wege einschlagen. Kehrten sie zu unterschiedlichen Zeiten zurück, würde ein jeder in der Badestube der Stadt auf seine Brüder warten. Nachdem ein Monat vergangen war, hatte der Älteste seine Geschäfte erledigt. Er stieg in der Badestube ab und wartete auf seine Brüder. Da machte sich der Badestubenbesitzer an den Jüngling heran, weil er ihm eine Wette vorschlagen wollte. »Kannst du ein Märchen erzählen, in dem weder zu Beginn noch am Ende noch überhaupt das Wörtchen ›war‹ vorkommt?« fragte er, und der Bursche brüstete sich schnell, daß dies ein Kinderspiel wäre. »Gut, so sind wir uns also einig«, nahm der Wirt das Gespräch wieder auf, »solltest du mir fehlerfrei eine solche Geschichte erzählen können, dann schenke ich dir das Bad mitsamt dem Grundstück. Kannst du es nicht, mußt du bei mir ein Jahr als Heizer am Feuerloch schuften.« Der Älteste nickte noch einmal zustimmend und begann: »Es war einmal, es war keinmal…«, wollte der junge Kaufmann beginnen, als ihm der Bader schon ins Wort fiel. »Du hast verloren. Hinaus mit dir ans Feuerloch!« rief er laut, und dem Ältesten blieb nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen. Nach einem weiteren Monat kehrte der mittlere Bruder heim und lenkte seine Schritte in die Badestube, um auf die
Geschwister zu warten. Der Wirt schloß auch mit ihm bald dieselbe Wette ab, wie bereits mit seinem Bruder. Der Mittlere begann sein Märchen so: »Es geschah einmal, daß ein Fischersmann lebte, der war…« Weiter kam er nicht, denn der Bader fiel ihm ins Wort. »Du hast verloren. Hinaus mit dir ans Feuerloch!« triumphierte er, und dem Mittleren blieb nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen. Als wieder ein Monat ins Land gegangen war, kam der Jüngste von seiner Handelsreise zurück und betrat das Badehaus. Beim Bader erkundigte er sich nach seinen beiden Brüdern. »Ich werde dich zu ihnen führen, allerdings habe ich eine Bedingung. Du mußt mir ein Märchen darbieten, in dem das Wörtchen ›war‹ weder am Anfang noch am Ende noch überhaupt vorkommt. Vermagst du es, gehört dir das Bad und das Stück Boden, auf dem es steht, und ich gebe dir deine Brüder zurück. Vermagst du es nicht, mußt du mir als Heizer dienen«, sprach der listige Wirt, aber der Bruder willigte ein. Seine Geschichte ging so: »Als meine Großmutter meinen Großvater geboren hatte, schickten mich meine Eltern los, damit ich ein Ei und etwas Kreuzkümmel kaufte. Aber unterwegs zerbrach mir das Ei und aus den Schalen kroch ein niedliches, aber gutentwickeltes Küchlein. Ich schwang mich auf seinen Rücken und zog über vierzig Jahre gegen sämtliche Feinde zu Felde. Leider rieb sich das arme Küken auf, weil ich ununterbrochen auf ihm ritt. Da holte ich eine Walnuß, brach sie auf und nahm ihren Kern heraus. Ich kaute die Nuß gründlich durch und drückte den Brei dem Küchlein auf den Rücken. Doch da sproß plötzlich ein großer Walnußbaum auf seinem Rücken empor, der viele reife Nüsse trug. Sie fielen herab und neue Nußbäume schossen in den Himmel, so daß schon nach kurzer Zeit ein wahrer Walnußwald auf dem Küken wuchs, der so weit wie das Auge reichte. Da sagte ich zu mir: ›Ich werde in diesem Hain Sesam säen.‹ Gesagt, getan. Kaum hatte ich die Aussaat
beendet, da kam mir in den Sinn, lieber Melonen zu pflanzen, und ich begann, den Sesam Korn für Korn wieder einzulesen. Wie ich sie zählte, stellte ich fest, daß ein Sesamkorn fehlte. Ich suchte und suchte, bis ich das Korn bei einer Ameise im Maul entdeckte, die mit ihrem Fund fliehen wollte. Ich zerrte an dem einen Ende des Korns und die Ameise zog, ohne nachzugeben, von der anderen Seite. Das Korn brach schließlich entzwei und ein jeder nahm sich eine Hälfte. Doch nun zum Ende, denn ich will dich nicht länger auf die Folter spannen. Ich säte also Melonen, die im Nu wuchsen und reiften. Wie der Appetit mich übermannte, wollte ich mir eine Melone mit dem Säbel zerteilen, nur leider haute ich mir den eigenen Kopf statt der Melone ab. Da strömten die Leute zuhauf und wunderten sich: ›Wem mag nur der Kopf gehören? Und wem der Säbel?‹ Da schrie ich dazwischen. ›Dieser Kopf ist mein Kopf, dieser Säbel ist mein Säbel.‹ Dann nahm ich mein Haupt und setzte es wieder an seinen rechten Platz, gürtete meinen Säbel um und lief weiter zum Basar, um ein neues Ei für das zerbrochene sowie etwas Kreuzkümmel zu kaufen. So habe ich mich doch etwas verspätet, denn meine Eltern harrten sehnsüchtig meiner, weil doch die Großmutter gerade den Großvater geboren hatte.« Der Badestubenbesitzer lachte herzhaft. »Bei Allah, dir gebührt wahrlich die Badestube und der dazugehörige Grund und Boden. Geh und erlöse deine beiden Brüder am Feuerloch.«
Ein Bach von Honig, ein Bach von Fett
Aus dem Tor des königlichen Palastes ergossen sich zwei Bäche: einer führte Honig, der andere troff von Fett. Sie waren ein Zeichen der Freude, daß der Sohn des Königs von einer bösartigen Krankheit und jahrelangen Schmerzen genesen war. Die beiden Rinnsale ergossen sich in die Straßen und Wege des Ortes, wo die Bewohner das Fett und den Honig in Krügen auffingen. Keiner versäumte es, sich von diesem Fett und Honig einen Vorrat anzulegen. Nur eine alte Frau, die am Rande der Stadt wohnte, erreichte die Nachricht zu spät. Als sie mit zwei Krügen das Haus verließ, waren beide Rinnsale schon wieder versiegt. Von Fett und Honig war nichts mehr verblieben, doch sie begann, mühsam ihre Krüge mit dem zu füllen, was an Rändern und in Ecken noch zu finden war. Dabei gelangte sie schließlich bis an die Quellen beider Rinnsale am königlichen Palasttor. Dort lud sie sich einen Krug auf den Kopf, den anderen preßte sie an die Brust, um so vorsichtig nach Hause zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt war der Sohn des Königs auf der Balustrade des Palastes und schaute der Alten zu, deren Tun ihm gar nicht gefiel, denn er glaubte, sie habe aus Unersättlichkeit und Raffgier gehandelt. Fett und Honig waren immerhin vom Morgen bis zum Abend geflossen. So griff er kurzerhand nach einem Stein und warf ihn nach dem Krug auf ihrem Kopf, der auf dem Boden zerbrach, daß aller Honig auf den Boden floß. Diesen Frevel begleitete er mit einem schallenden Gelächter. Die alte Frau drehte sich zu dem Prinzen um und brubbelte einen Moment etwas. Dann schleuderte sie mit einer Verwünschung auch den anderen
Krug von sich. »Ich werde zu Allah flehen, daß er dich ebenso niederschmetternd in Liebe zu Salma stürzt, wie dieser Krug niedergeschmettert wurde«, schrie sie dem jungen Fürsten ins Gesicht. Da wurde der Prinz hellhörig und eilte voller Sorge zu der Alten. »Wer um alles in der Welt ist diese Salma?« erkundigte er sich betroffen. »Sie ist ein junges Mädchen, deren Augen den deinen gleichen, sie hat einen Mund wie der deine, eine Nase wie die deine und überhaupt ähnelt sie dir in Schönheit und Anmut, daß ein jeder, der dich kennt, dich für sie und sie für dich halten könnte«, gab die Alte Auskunft. Der Jüngling wollte sie unbedingt kennenlernen. »Weise mir den Weg zu ihr, Tantchen«, bat er einlenkend. »Zuerst fülle mir zwei neue Krüge«, forderte sie. Der Prinz ließ seine Diener ihr sieben Krüge mit Honig und sieben Krüge mit Fett abfüllen, dann gab sie ihm preis, wo er sie finden konnte. »Sie lebt in einer sehr fernen Stadt hinter Bagdad mit dem Namen Schiraz.« Mit diesen Worten schickte sich die Alte zum Heimweg an, doch der junge Fürst folgte ihr auf den Fersen und drang bittend auf sie ein, damit sie ihm auch verrate, wie er zu Salma gelangen könne. »Sie ist verheiratet, mein Sohn, und ihr Mann ist der reichste Juwelier von Schiraz. Er ist fürchterlich eifersüchtig auf seine Frau und hat sie deshalb hinter sieben Schlössern eingeschlossen. Zu ihr führt kein Weg«, sprach sie endlich. Der Prinz war verwirrt und spürte, wie sein Herz heftig zu schlagen begann. Gleichzeitig fühlte er den großen Wunsch, um jeden Preis zu Salma zu gelangen. Er hatte sich bereits in sie verliebt, als ob Allah bereits das Stoßgebet der Alten erhört hätte. Der Jüngling ließ nur wenige Tage verstreichen, in denen er sich mit Dienern und Geld ausstattete, um anschließend nach Schiraz aufzubrechen. Als er die Stadt erreichte, stieg er in ihr, als Kaufmann verkleidet, ab. Dann begann er, durch ihre
Basare und Straßen zu schlendern, wobei er die Bekanntschaft ihrer Kaufleute und Emire suchte und letzten Endes den Weg zu ihrem reichsten Goldschmied fand, dem er noch am selben Abend aufwartete. Der Juwelier war bei seinem Anblick auf das äußerste verwundert, ja sogar verwirrt, denn wären nicht die Männerkleider des Burschen sowie seine eigene Sicherheit, daß er sein Weib hinter sieben Schlössern eingesperrt hatte, hätte er den Besucher für seine Frau gehalten. In allem ähnelte er ihr: die Augen, die Nase, das Gesicht und der Mund, ja sogar seine Reden und Wortwahl. Der Jüngling legte dem Goldschmied einen seltenen Edelstein vor und verlangte, ihn zu einem Ring zu verarbeiten, der genau an den Ringfinger passe. Zuzüglich zu seinem Lohn schenkte er dem Juwelier noch drei Edelsteine, damit jener den Ring bis zum anderen Morgen anfertige. Der Meister, der gerade seine Werkstatt schließen und nach Hause gehen wollte, konnte der Großzügigkeit des Jünglings nicht widerstehen und den Auftrag zurückweisen, so daß er den Ring, wie verlangt, anzufertigen versprach. Der Goldschmied schloß rasch seinen Laden und lief nach Hause, um eine Kleinigkeit zum Abendbrot zu essen. Dabei erzählte er seiner Frau von dem jungen Burschen, der ihr so überaus ähnlich war, daß er fast für sie gehalten werden konnte. Er berichtete ihr auch von den Juwelen und dem Ring, den zu fertigen er sich anschickte, was bis zum anderen Morgen dauerte. Die Frau des Juweliers blieb die Nacht über auf und schaute ihrem Gemahl bei der Arbeit an dem Ring zu. Dabei stellte sie sich den fremden Jüngling vor und wünschte sich, ihn einmal zu sehen. Zu guter Letzt ging ihr der schöne Jüngling nicht mehr aus dem Sinn. Als der Morgen anbrach, lief der Prinz zum Goldschmied, der ihn bereits erwartete und den Ring vorlegte. Der Jüngling
streifte ihn über und fand, daß er zu klein war, weswegen er ihn mit der Aufforderung zurückgab, der Goldschmied solle ihn für sich selbst behalten. Dann zog der verkleidete Fürstensohn einen neuen Edelstein hervor, der noch schöner und wertvoller als der erste war, und bat, davon einen neuen Ring anzufertigen, den er für den Abend verlangte. Wieder schenkte er dem Juwelier drei wertvolle Steine zum Lohn hinzu. Der Goldschmied schloß auf der Stelle seinen Laden, damit ihn niemand störe und machte sich mit Fleiß und Hingabe an die Herstellung des neuen Ringes. Als am Abend der Jüngling wieder in den Laden kam, wartete der Goldschmied bereits mit dem fertigen Ring. Der Prinz steckte sich den Ring an den Ringfinger und fand, daß der Schmuck diesmal zu groß war. Er gab ihn dem Meister zurück, damit jener ihn für sich behalte. Nun holte er einen dritten Edelstein hervor, der die beiden ersten Juwele an Wert und Pracht bei weitem übertraf, und bat erneut um einen Ring, den er am anderen Morgen wollte. Wie zuvor schenkte er ihm über den Lohn drei Edelsteine. Der Goldschmied schloß sein Geschäft und lief verärgert und beschämt nach Hause. Dort berichtete er seiner Frau von dem Jüngling, der ihm zwei Ringe zurückgewiesen, ihm aber trotzdem wertvolle Edelsteine zum Geschenk gemacht hatte. Salma war überrascht von der Großzügigkeit, Freigebigkeit und Güte des Kunden. Deshalb bat sie ihren Gemahl, daß er ihr gestatte, den Ring zu probieren, der jenem für den Ringfinger zu klein war. Mit seiner Erlaubnis streifte sie sich den Schmuck über und, siehe da, er paßte wie angegossen. Da umschmeichelte sie ihren Mann, ob sie den Ring behalten könne. »Er sei dein«, sagte er. Die junge Frau nahm das Kleinod und tat die ganze Nacht kein Auge zu, führte Selbstgespräche, und stellte sich den Jüngling immer und immer wieder vor und wünschte nichts sehnlicher, als daß sie
ihn einmal treffen könne. Der Goldschmied machte sich indessen an den dritten Ring, für den er all seine Fürsorge und Hingabe aufwandte. Am anderen Morgen ging er in sein Geschäft, vor dem schon der Jüngling wartend saß. Nach der Begrüßung überreichte der Goldschmied in größter Sorge den Ring. Der Prinz streifte ihn über seinen Ringfinger und war vollauf zufrieden. Er dankte dem Meister, lobte ihn und schenkte ihm zwölf große Edelsteine. Der Goldschmied war sprachlos vor Überraschung und lud den Burschen zum Abendbrot ein, was dieser nur allzu gern annahm. Zum Abendessen setzte der Juwelier seinem Gast nur von den feinsten Speisen vor, deren Zubereitung seine Frau eigens beaufsichtigt hatte. Den Dienern hatte sie aufgetragen, dem Gast die vorzüglichste Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen. Als die beiden Männer gegessen hatten und sich nun zu unterhalten begannen, schickte sie ihnen durch einen Diener zwei Gläser eines berauschenden Getränks. In eines der Gläser hatte sie ein Schlafmittel getan. Der Diener hatte sie so serviert, daß er gerade jenes Glas ihrem Mann kredenzte. Kaum hatte der Mann auch nur an seinem Trunk genippt, als er auch schon in einen tiefen Schlaf versank. In diesem Augenblick trat Salma selbst vor den Gast. Beide waren über und über verblüfft, wie ähnlich sie einander waren. Ein jeder nahm des anderen Hand und sog geradezu des anderen Züge in sich auf, ohne sich satt sehen zu können. Beide gefielen einander und sie waren wie verzaubert. Wie aus einem Munde gestanden sie sich ihre Liebe, noch bevor sie sich gesehen hatten. Dann verbrachten sie eine Nacht in tiefer Zärtlichkeit und Hingabe, bis der Morgen anbrach. Als der Mann munter zu werden begann, mußten sie sich trennen, und der Jüngling litt die größten Qualen, daß er sie nie wieder zu sehen bekommen sollte. In seiner Not fragte er Salma, was zu tun sei.
Sie riet ihm, am anderen Tag auf den Basar zu gehen, denn dort finde die Versteigerung des Nachbarhauses statt. Er müsse nur so lange bieten, bis er den Zuschlag erhalte. Dann könnten sie über ein Loch in der die beiden Häuser trennenden Wand, wie sie sich ausmalten, jederzeit zueinander gelangen. Die Liebenden wußten es so einzurichten, wie sie es besprochen hatten. Er kaufte das Haus und brach in die Verbindungsmauer ein Loch, das in eine Kammer führte, in der sie nach Herzenslust die innigsten Zärtlichkeiten austauschen konnten. Der Goldschmied faßte indes keinen Verdacht. Wie hätte er auch, da er doch seine Frau hinter sieben Schlössern verbarg. Der Prinz besuchte nach wie vor den Juwelier in seinem Geschäft, um mit ihm zu plaudern. Von Zeit zu Zeit lud ihn dieser in sein Haus ein, welcher Aufforderung der Jüngling gern nachkam. Bald verband sie eine innige Bekanntschaft. Dabei bemerkte der Goldschmied nicht, was sich hinter seinem Rücken abspielte, und hätte er auch nur gewußt, daß der Jüngling eigentlich ein Königssohn war, hätte er über den Aufenthalt des Edelmannes in dieser fremden Stadt Verdacht geschöpft. Doch dann rückte der Tag heran, an dem der Prinz wieder in sein Land zurückkehren mußte, denn sein Vater schickte ihm eine Botschaft, in der er seinen Entschluß mitteilte, abdanken zu wollen. Der Prinz erzählte dies Salma, die auf der Stelle mit ihm ziehen wollte. Sie sei doch verheiratet, wandte der Prinz ein, doch sie wollte ihren Gemahl auf jeden Fall verlassen. Dann streckte sie ihre Hand nach dem Säbel ihres Mannes aus, für den jener eigenhändig den Knauf ziseliert und mit den wertvollsten Juwelen verziert hatte, und reichte ihn ihrem Geliebten. »Geh zu meinem Gemahl und laß dich von ihm zum Kauf dieser Waffe beraten!« sprach sie. Der Prinz nahm den Säbel und legte ihn dem Goldschmied vor, weil er seine
Meinung wissen wolle, ob er ihn kaufen solle. Ein Händler habe ihm die Waffe angeboten. Als der Juwelier den Säbel erblickte, stutzte er, aber er zweifelte nicht an der Treue seiner Frau. Er nahm die Klinge behutsam in die Hände, wandte sie hin und her und untersuchte sie auf das sorgfältigste. Schließlich schwankte er zwischen Glaube und Unglaube. Je aufmerksamer er den Säbel besah, desto größer wurde seine Gewißheit, aber er hielt die Sache für ausgeschlossen. So riet er dem Prinzen, die Waffe zu kaufen. Kaum hatte der Jüngling den Laden verlassen, verschloß der Goldschmied hastig seine Werkstatt und eilte nach Hause. Schon an der Tür rief er lautstark nach seiner Frau, daß sie ihm seinen Säbel bringe. Sie indessen schützte eine Unpäßlichkeit vor und überhörte einfach sein Geschrei. »Dein Säbel ist an seinem Platz«, sprach sie matt. Er stürzte in die Kammer, wo die Waffe sein mußte… und fand sie an ihrem Platze vor. Scham stieg in ihm auf, und er war mit sich uneins. Doch dann verschwieg er den wahren Grund seiner Aufregung und verdrängte seine vagen Zweifel und dunklen Gefühle. Der Prinz kam am anderen Morgen wiederum in das Geschäft des Juweliers und legte ihm dieses Mal einen feinen Wollmantel vor, der ihm zum Kauf angeboten worden sei. Der Goldschmied sperrte die Augen auf, denn vor ihm lag sein eigener Mantel. Er riß ihn dem Jüngling aus den Händen und untersuchte und betrachtete ihn genau. Doch nach außen hin tat er so, als ob er all das nicht gemerkt hätte, und unterdrückte seine innere Erregung. Dem Jüngling riet er zum Kauf. Als dieser ihm aber den Rücken gekehrt hatte, schloß er sein Geschäft und hastete abermals nach Hause. Wieder mußte er sich vom Gegenteil überzeugen lassen, denn auch der Mantel befand sich an seinem Platz. Seine Frau Salma hatte all das bewerkstelligt. Einige Tage gingen ins Land, in denen Salma Unwohlsein und Krankheit vorschützte. Als ihr Gemahl vorschlug, einen
Arzt zu rufen, wollte sie nichts davon wissen, daß ein anderer Mann sie sehen sollte. Des Goldschmieds Glaube an ihre Zuverlässigkeit und Treue war dadurch wieder hergestellt, aber dennoch fühlte er etwas, das ihm die ganze Sache höchst seltsam erscheinen ließ, ohne daß er hätte sagen können, was es war. Der verkleidete Prinz trat eines Tages wieder einmal in das Geschäft des Juweliers, doch diesmal war der Jüngling in Begleitung einer Dienerin. Er wollte des Meisters Meinung hören, ob er sie wohl kaufen solle oder nicht. Doch als der Goldschmied dem Mädchen ins Gesicht schaute, wußte er sofort, daß es sich um seine eigene Frau handelte. Sie hatte sich nur stark geschminkt und Kleider einer Dienerin übergestreift. Er trat an sie heran und beschaute sich das Mädchen aufmerksam. In ihm gärte es, Zorn und Erregung stiegen in ihm auf, doch er verstand zu verbergen, welch Kampf in ihm tobte. Dann holte er wie beiläufig ein Gerät herbei, mit dem er sonst nur Perlen durchbohrte. Mit diesem Gerät fügte er ihr zwei winzige Wunden auf den Wangen bei. »Man macht halt bei uns so ein Zeichen, wenn sich jemand eine Dienerin anschafft«, sprach er dabei, an den Prinzen gewandt, und riet ihm, sich diesen segensreichen Kauf nicht entgehen zu lassen. Der Mann hatte ihr die beiden kleinen Schnitte nur beigebracht, um sie überführen zu können. Als der Jüngling mit seiner Dienerin den Laden verlassen hatte, schloß der Goldschmied flugs seine Werkstatt und stürzte nach Hause. Doch seine Frau war vor ihm zurück. Sie wusch sich die dicke Schicht Schminke ab und streckte sich kränkelnd auf dem Bett aus. Als er ins Haus stürmte und nach ihr schrie, begann sie sich wie vor Schreck ins Gesicht zu schlagen, wobei sie sich mit den Fingernägeln die Wangen zerkratzte. So sehr, wollte sie ihm weismachen, hatte er sie mit seinem Hereinplatzen entsetzt. Da sie sich nun die Wangen blutig geschunden hatte,
konnte er ihr nichts vorwerfen. Er schwieg betroffen und mußte unverrichteter Dinge wieder weggehen, doch glaubte er, ihr auf die Schliche gekommen zu sein. Schließlich kam der Tag heran, an dem der Prinz in sein Land zurückkehren wollte. Zuvor hatte er seine wahre Herkunft preisgegeben und dem König des Gastlandes einen Besuch abgestattet und sich den Honoratioren vorgestellt. Schiraz entbot ihm zum Abschied seinen Gruß, die Menschen hatten die Straßen geschmückt und Fahnen aufgezogen. Aber der Prinz vergaß auch seinen Freund, den Goldschmied, nicht. Zum Abschied ging er noch einmal in dessen Werkstatt, um ihm vor seiner Abreise mit gar unschätzbaren Geschenken zu beehren. Den Juwelier befiel Trauer, und es reute ihn, an dem Jüngling gezweifelt und Schlechtes von seiner Frau gedacht zu haben. Nun war seine Überzeugung wiederhergestellt, daß Salma ihm treu ergeben sei. Als der Goldschmied am Abend nach Hause kam, erzählte er seiner Frau, daß der Prinz abzureisen entschlossen sei. Reinen Gewissens weihte er sie in seine Gefühle ein, daß ihn die Trennung sehr schmerze. Sie schien nur wenig beeindruckt, aber tadelte ihn, daß er ihr versagt habe, den Jüngling auch nur ein einziges Mal während seines Aufenthaltes in der Stadt sehen zu dürfen. So bat sie ihren Gemahl, ihr doch zu erlauben, an seiner Verabschiedung teilnehmen zu dürfen. Als er ablehnte, schlug sie vor, er möge sie nur aus dem Fenster schauen lassen, damit sie ihn wenigstens einmal von weitem sehe, bevor er für immer ginge, wo er ihr doch so ähnlich gewesen sei. Der Goldschmied willigte ein. Salma bereitete unterdessen alles bestens vor, und als der Zug des Emirs auszog, schloß sich sogar der Juwelier dem Menschenstrom an. Plötzlich erblickte er aber seine Frau an der Seite des Prinzen. Er wollte seinen Augen nicht trauen, denn er hatte beim Verlassen des Hauses wie jeden Tag die
sieben Schlösser vorgelegt. Er schaute zum Fenster seines Hauses auf, aber dort stand Salma, von der allerdings unter dem Schleier lediglich die Augen zu erkennen waren. Doch das genügte, um ihn zu beruhigen. Als er sich erneut dem Prinzen zuwandte, glaubte er erneut, seine Frau zu erkennen. Sein Blick wanderte zum Fenster, doch dort stand sie auch, und er war sich seiner Sache ungewiß. Aber er konnte den Ehrengeleitzug nicht eher verlassen, bis der Emir die Grenze des Reiches erreicht hatte. Nach den allerletzten Abschiedsworten eilte der Goldschmied flugs nach Hause, außer Atem stürzte er die Stufen zum Frauengemach hinauf und näherte sich dem Fenster. Doch dort stand eine hölzerne Puppe von der Größe und den Zügen Salmas, die wie sie gekleidet war. Diese Puppe hatte Salma an das Fenster gestellt, um ihn zu übertölpeln. Der Goldschmied irrte rastlos durch das Haus und rief in einem fort: »Salma, Salma«, aber niemand antwortete ihm.
Die eilende Schlange
Die Gläubigen hatten sich hinter dem Imam in einer Reihe aufgestellt, der sich anschickte, einige Verse aus dem Heiligen Koran zu rezitieren. Dabei kam der Vorbeter an die Stelle, wo Allah den Hirten Moses aufforderte, seinen Stab zu werfen. Als der Imam wiederholte: »Er warf ihn, und da war er auf einmal eine Schlange, die auf dem Boden davoneilte«, schlängelte sich zu seiner Bestürzung vor ihm eine Schlange durch die Moschee. Er hielt augenblicklich in seinem Vortrag inne und starrte angstvoll auf das Reptil. Die Betenden indessen glaubten, dem Imam sei der nachfolgende Text entfallen, da Gott den Propheten nach der Schlange greifen läßt, die sich in den Hirtenstab zurückverwandelte. Einer der Betenden raunte deshalb dem Gebetsführer jenen Koran-Abschnitt zu: »Nimm sie und habe keine Angst!« Der Imam allerdings blieb weiterhin stumm. Der Mann flüsterte noch einmal: »Nimm sie und habe keine Angst!« Da drehte sich der Imam zu ihm um und sprach: »Ach, bitte, dann nimm du sie doch.«
Abu Katrina
Es lebte einst ein bettelarmer Mann, von dem man sagt, er hieß Abu Katrina. Er zog tagein tagaus in den Wald, um eine Last Brennholz zu schlagen, von derem Erlös er seine Familie ernährte. Eines schönen Tages lief er wieder um Holz in den Wald. Abu Katrina stieg auf einen Baum und setzte sich fern vom Stamm auf einen Ast. Dann holte er seine Säge hervor und begann, so neben sich zu sägen, daß er samt Holz hätte herunterfallen müssen. Da kam ein Wanderer vorbei. »Was machst du da bloß, Abu Katrina?« rief der Mann. »Bei deinem Leben, gleich wird der Ast brechen und du wirst zu Boden fallen.« Der Wanderer hatte noch nicht zu Ende gesprochen, schon splitterte der Ast und der Einfaltspinsel plumpste zu Boden. »Oho, da hat er mir also vorausgesagt, daß der Knorren bricht und ich zu Boden falle. Dann wird er auch wissen, wann ich sterben muß«, redete Abu Katrina vor sich hin, sprang auf und rannte dem Mann hinterher. »Halt, steh, wo du bist!« rief er ihm nach. »Du mußt mir sagen, wann der Tod zu mir kommt.« »Mein Bruder, ich soll wissen, wann du sterben wirst?« »Doch, du mußt mir sagen, wann der Tod zu mir kommt«, beschwor ihn Abu Katrina. »Du hast mir doch auch verkündet, daß ich fallen werde, und ich fiel. Nun sollst du mir vorhersagen, wann ich sterben muß.« »Ach, geh und nimm deine kleine Eselin und zieh nach Hause! Wenn sie furzt, mußt du sterben«, versuchte der Mann Abu Katrina loszuwerden. Abu Katrina gab sich zufrieden. Er lud dem Esel alles Holz auf und kehrte heim. Sogleich legte er
die Holzlast nieder, band das Tier an und setzte sich daneben. »Warum starrst du auf die kleine Eselin, Abu Katrina?« kam sein Weib heran. »Psst! Wenn sie furzt, muß ich sterben.« »Wer hat dir denn das eingeredet? Bist du nicht bei Trost?« »Wenn sie furzt, muß ich sterben«, sprach er und blieb neben dem Grautier sitzen und wendete kein Auge von ihm. Als er sich zum Schlafen niederlegte, entfuhr dem Esel ein lauter Furz. »He, Frau«, schrie er, »der Esel hat gefurzt. Ruf aus, ich sei gestorben.« »Wehe dir, du schmähst deiner selbst, wehe, wehe, du mußt den Verstand verloren haben!« jammerte sie. »Nun schrei es schon heraus, daß ich tot bin.« Damit streckte er sich flach neben dem Esel aus und stellte sich tot. Sein Weib mühte sich die ganze Nacht über, Abu Katrina zu heilen. Aber ohne Erfolg, denn sie vermochte ihn nicht umzustimmen. »Ich bin tot«, beharrte er. »Ruf es aus! Ruf es aus!« Nun wurden die Priester geholt, damit sie für ihn beteten. Man brachte auch einen Sarg, in den Abu Katrina gebettet werden sollte. »Ruf aus, daß ich gestorben bin!« zischelte er drängend. Da hob man schon ein Grab aus, in dem er bestattet werden sollte. »Ruf aus, daß ich gestorben bin!« Alsdann legten sie ihn in den Totenschrein. Die Priester traten heran und lasen Suren für Abu Katrina, wonach man den Deckel schließen wollte. »Ich habe euch noch etwas zu sagen«, sprach die vermeintliche Witwe zu den Trägern und ihrem Mann flüsterte sie zu: »O Abu Katrina, sie werden jetzt den Sarg über dir schließen und dich zum Friedhof führen.« »Ruf aus, daß ich gestorben bin!« zischte jener zurück. So lud man sich nun den Toten auf und trug ihn in die Gruft. »Ach, ihr Leute vergebt’s, aber schließt den Sargdeckel nicht!« bat dessen Weib. »Ihn könnte der Jähzorn packen.« Also ließ
man die Lade offen und schleppte sie zur Gruft. Unterwegs beobachtete Abu Katrinas Frau ihren Mann unablässig. Nach vollendeter Zeremonie lief sie ins Haus und weinte bitterlich. »Ach Gevatterin«, wurde sie getröstet, »alle Welt ist vergänglich.« »Nur, liebe Nachbarin, er ist nicht tot«, vertraute sie ihr die Geschichte an. »Was, nicht tot? Bringt sich selbst unter die Erde und ist noch am Leben und das alles nach dem Furz einer kleinen Eselin?« wunderte sich die Nachbarin. »Doch hab Geduld bis zum Morgen. Wenn der Abend hereinbricht, wird es ihn schon reuen, und zu Sonnenaufgang gehen wir beide zu ihm.« Die beiden Frauen warteten, bis der Morgen graute, und machten sich auf den Weg zur Gruft von Abu Katrina. Sie taten deren Tor weit auf und hoben zu singen an. »Ihr lieben Leute vom Gräberfeld, hört dies: ›In Gottes Namen türmt einen Wall um das Paradies. Erhebt euch schon und baut fürwahr, bei allem, was euch heilig war‹«, skandierte dessen eigene Frau. Dann schrien es die beiden Frauen mit kräftiger Stimme noch einmal. Abu Katrina hörte zwar die Worte, aber stellte sich weiterhin tot. »Der stellt sich taub«, meinte die eine und rief noch lauter: »Ihr lieben Leute vom Gräberfeld, schickt nur Abu Katrina, wenn’s euch gefällt, den jüngst Verstorbenen fürwahr, bei allem, was euch heilig war.« Das hatte er natürlich vernommen. »Aber was denn, ich soll allein einen Wall um das Paradies bauen? Bei Allah, das tue ich nicht allein«, brach der Protest aus ihm heraus. Die beiden Frauen waren noch auf dem Heimweg, als Abu Katrina entschlossen den Sarg und das Tor der Gruft aufschlug, nach Hause lief und in die Stube polterte.
»Ach herrje«, erschrak sein Weib, »was bringt denn dich hierher zurück, wo du doch tot bist?« »Denkst du etwa, ich errichte allein eine Mauer um das ganze Paradies?«
Die Stadt des gemachten Glücks
Es war einmal und es war keinmal in alter, grauer Zeit, daß ein armer Mann mit seinem Weib in einem Häuschen wohnte. Jedesmal wenn der Mann es betrat, rief ihm seine Frau entgegen: »Wo hast du das Mittagsbrot, wo hast du das feine Mahl?« Als ihm diese Redensarten zuviel wurden, warf er seine Frau eines Tages aus dem Haus und machte sich selbst auf den Weg zur Stadt des gemachten Glücks. Doch unterwegs fiel ihn eine Hyäne an. »Ich flehe dich an, laß ab von mir! Ich will in die Stadt des gemachten Glücks«, bat der Mann. »Dann mußt du dich aber auch nach meinem Glück erkundigen, das ich mit dir nicht zu haben scheine, und ich werde dich nicht fressen«, lenkte das Raubtier ein. Der Mann lief weiter, als sich vor ihm plötzlich eine riesige Schlange aufbäumte und sich anschickte, ihn zu verschlingen. »Verschone mich! Ich ziehe in die Stadt des gemachten Glücks«, bat der Mann abermals. »So laufe und frage auch nach meinem Schicksal, denn in den Winterregen friere ich und im Sommer sehne ich mich nach der Frische des Frühlings«, gab das Reptil nach, und der Mann setzte seinen Weg fort. Bald verstellte dem Wanderer ein Bauer den Weg, der ihn umbringen wollte. »Laß ab von mir! Ich will doch in die Stadt des gemachten Glücks«, bettelte der Mann. »So frage denn auch nach meinem Glück, denn in meinem Garten wächst weder Obst noch Gemüse.« Der Mann zog weiter, bis viele Soldaten über ihn herfielen und ihm gar ans Leben wollten. Das beobachtete der König, der seinen Knechten befahl, daß man den Mann zu ihm bringe.
»Wohin soll denn die Reise gehen?« wollte der König wissen. »In die Stadt des gemachten Glücks«, war die Antwort. »Hole auch Auskunft über mein Geschick ein!« befahl der König, was der Mann versprach und worauf man ihn ziehen ließ. Als nun der Mann endlich die Stadt des gemachten Glücks erreichte, erblickte er viele gewaltige Vorrichtungen und erkundigte sich, welche wohl ihm bestimmt sei. »Die hier«, sagte man ihm, und er fand ein von Rost und Schmutz bedecktes Rad. Der Mann ließ sich nieder und putzte sein Rad solange, bis es wieder sauber war und blitzte. Dann drehte er sein Glücksrad viermal herum, aber bei jedem Mal fragte er nur nach dem Geschick von König, Bauer, Schlange und Hyäne, wie er es versprochen hatte. Auf dem Rückweg in seine Heimat kam er bei dem König vorbei. »Der König ist eigentlich eine Königin, deshalb werdet ihr den Sieg davontragen«, verkündete der Mann. »Dann bitte ich dich, nimm mich zur Frau«, trug ihm die Königin an. »Mein Glücksrad hat sich viermal gedreht«, wehrte der Mann ab, und auch nachdem die Königin ihn noch einmal inständig gebeten hatte, antwortete er: »Nein, nein, das kann mein Glück nicht sein.« Dann lief der Mann weiter zu dem Bauer. »In jeder Ecke deines Gartens liegt ein Schatz vergraben, deshalb gedeihen weder Obst noch Gemüse«, tat er jenem kund. »So laß uns die Schätze gemeinsam heben, die Hälfte sei dein!« schlug der Bauer vor. »Nein, nein, das kann mein Glück nicht sein«, wehrte der Mann ab. »Mein Glücksrad hat sich viermal gedreht.« Dann lief er schnurstracks zur Schlange. »Unter deiner Zunge liegt der Ring eines Dämonen. Wenn du ihn hervorziehst, kannst du werden, wozu du willst«, überbrachte er ihr die Botschaft des Glücksrades. »So ziehe bitte du den Ring aus meinem Maul heraus! Er gehöre dir«, zischelte die Schlange.
»Nein, nein, das kann mein Glück nicht sein. Mein Glücksrad hat sich viermal gedreht.« Auch das Drängen der Schlange hatte keinen Erfolg. »Nein, nein, das kann mein Glück nicht sein«, blieb der Mann stur und lief zur Hyäne und erzählte ihr, wie es ihm ergangen war. Dann überbrachte er ihr den Schicksalsspruch. »Wenn du einen Esel triffst, mußt du ihn auffressen. Dadurch kommst du in die Lage, tun und lassen zu können, wonach dir gerade der Sinn steht«, verhieß der Mann dem Raubtier. »Ich habe meinen Lebtag noch keinen größeren Esel als dich gesehen«, erwiderte die Hyäne. »Deshalb werde ich dich fressen.« Sie ging auf ihn los und verschlang ihn mit Haut und Haaren.
Die Dummköpfe
Es war einmal, es war keinmal in alter, grauer Zeit. Es lebte einst ein Müller, der mit seiner Frau und seiner Tochter nahe der Mühle wohnte. Die Tochter des Müllers war sehr schön, aber einfältig, denn sie konnte ihre rechte Hand nicht von ihrer linken unterscheiden. Eines frühen Morgens erwachte sie und glaubte, als sie ihren eigenen Schatten sah, es sei ein Mensch, dem sie artig einen ›Guten Morgen‹ zu wünschen hätte. Die Eltern machten sich nicht wenige Sorgen um das Mädchen und seine Zukunft, denn sie befürchteten, es sei wegen seiner allzu großen Dummheit nicht unter die Haube zu bringen. »Geh und fülle den Eimer im Brunnen!« trug ihr eines Tages die Mutter auf, als gerade ein junger Bursche vorbeikam und dem Mädchen einen kecken Gruß zuwarf. Ihre Eltern, die es vom Fenster aus beobachteten, waren froh, daß ihre Tochter einen Verehrer gefunden zu haben schien. So traten sie eilig vor das Haus und hießen ihn willkommen. »Laß dich hereinbitten, Bursche, und iß mit uns zu Mittag!« forderte ihn der Müller auf. Der Jüngling nahm mit Freude an. »Lauf in den Keller und bringe uns einen Krug voll Bier!« sagte die Mutter der Tochter bei Tisch. Die stieg hinab in den Keller und öffnete den Hahn am Bierfaß, um ihren Krug zu füllen, als sich ihr Blick gedankenverloren an die Axt über der Kellertür heftete. Sie malte sich dabei aus, sie sei mit dem Burschen bereits vermählt und habe ihm einen Sohn geschenkt. Als der Junge in ihrer Einbildung herangewachsen war, stieg sie mit ihm in den Keller und die Axt über der Tür fiel ihm auf den Kopf. »O mein Gott«, schrie das Mädchen bei diesem Gedanken auf, »was für ein Unglück!« Da das Mädchen nicht
aus dem Keller zurückkam, stieg die Mutter hinab, um nachzusehen, wo die Tochter denn bliebe. Sie fand das Mädchen in Tränen aufgelöst. Und als das dumme Ding der Mutter erzählte, was ihrem noch ungeborenen Sohn widerfahren werde, weinten Mutter und Tochter gemeinsam. Bald kam der Vater in das Gewölbe, um nach dem Verbleib der beiden zu sehen. Die Mutter berichtete ihm das Hirngespinst der Tochter, und nun flossen auch ihm die Tränen. Der Jüngling war verwundert, wo seine Gastleute wohl blieben und stieg auch in den Keller, wo er sie alle weinend vorfand. Als er nach dem Grund für ihre Traurigkeit fragte, malte ihm die Mutter aus, was dessen Sohn erwarte, wenn ihm die Axt auf den Kopf falle. Da nahm der Jüngling das derbe Werkzeug und schleuderte es weit von sich. »Steht auf, sonst werdet ihr noch im Bier ertrinken!« scherzte er und schloß endlich den Bierhahn. »Ich bin meinen Lebtag niemand Einfältigerem als euch begegnet. Wie könnte ich da eure dumme Tochter heiraten?« Da packten sie ihn gemeinsam und hielten ihn fest. »Bitte bleibe bei uns«, flehten sie. »Ich komme nur zurück, um eure Tochter zu freien, wenn mir ein noch größerer Tropf, als ihr es schon seid, über den Weg läuft«, sprach er zum Abschied zu den Müllersleuten. Der Bursche lief durch die Felder, wo er einen Hirten traf, der eine Herde Hammel auf eine Eiche hinaufzutreiben versuchte. »Was machst du denn da?« rief der Jüngling dem Manne zu. »Ach, ich bringe den Hammeln bloß bei, wie sie allein eine Eiche ersteigen können, um von den Früchten zu fressen.« »Warum schüttelst du nicht einfach die Eicheln herunter?« wunderte sich der Bursche. »So fielen sie herab und die Hammel hätten zu fressen. Wahrlich, du bist mir ein schöner Dummkopf.« Damit ließ der Bursche von ihm ab und ging seiner Wege.
Bald darauf traf er einen Mann, der auf dem Kopf stand. »Was tust du da?« fragte er diesen. »Wenn mir die Kappe vom Kopf fällt, wüßte ich keine bessere Art, um sie mir von neuem aufzusetzen.« »Wahrlich, du bist ein Dummkopf«, entschied der Jüngling. »Warum langst du nicht einfach mit der Hand nach der Kappe und stülpst sie dir auf den Kopf?« Doch da lief der Bursche schon wieder weiter, bis er nach Sonnenuntergang in ein Dorf gelangte. Die Einwohner waren voller Aufregung am Dorfteich zusammengeströmt und hoben ein großes Geschrei an, wobei sie Netze und Körbe in den Weiher warfen und wieder herauszogen. »Was tut ihr da?« fragte der Junge verwundert. »O mein Herr, es ist ein Unglück geschehen. Der Mond ist in unseren Weiher gefallen und nun am Ertrinken. Wir wollen ihn aus dem Wasser retten«, jammerte ein Mann. »O du Dummkopf«, rief der Jüngling aus. »Aber das ist doch nur das Spiegelbild auf dem Pfuhl, der richtige Mond steht am Himmel.« Der Mann hob ungläubig seinen Blick und erblickte die Mondscheibe. »Seht doch, ihr Leute, der Mond ist noch immer am Himmel!« schrie er dem Volk zu. Der Bursche lachte über die Einfalt der Dorfbewohner und kehrte zum Haus des Müllers zurück, wo man ihn freudig empfing. »Ich habe ihrer viele getroffen, die noch einfältiger waren als ihr«, gestand der Jüngling. »Ich löse mein Wort ein und halte um die Hand eurer schönen Tochter an.« »Was sagst du da?« frohlockte die Braut. »Was hältst du davon, mit mir in den Keller zu gehen, das ausgelaufene Bier aufzuschlecken?« Da lachte der Bursche hell auf und alle stimmten in sein Gelächter ein, ohne recht zu wissen, worüber sie eigentlich lachten. Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Das Ziegenböckchen
Es wird erzählt, daß einst ein Wüstenaraber lebte, der nichts außer einem Ziegenböckchen besaß. Nun hatte er aber eine Frau und eine Schar kleiner Kinder, und das Große Opferfest kam heran, ohne daß er seinen Sprößlingen Geschenke hätte kaufen können. So forderte sein Weib ihn auf, das Ziegenböckchen im nächsten Ort zu verkaufen, damit er vom Erlös neue Kleider für die Kleinen zum Fest kaufe. Der Beduine nahm denn das Ziegenböckchen und zog nach Lathakia. Am Stadtrand kam er bei einem Süßspeisenverkäufer vorüber und blieb dort einen Augenblick vor dessen zuckersüßen Auslagen stehen. Der Händler bemerkte ihn und auch das Ziegenböckchen, das jener bei sich hatte. Er wandte sich an den Fremden, ob er es verkaufen wolle und wenn ja, für wieviel. »Ach«, wehrte der Beduine ab, »nur für einmal richtig Sattessen an deinem Backwerk.« Der Meister überlegte kurz und sprach zu sich: ›Wieviel der Beduine auch essen oder fortschleppen mag, das Ziegenböckchen ist doch mehr wert.‹ Und so willigte er ein. Der Beduine trat in den Laden, dessen Besitzer ihm ein großes Blech mit köstlichem Backwerk vorsetzte. Der Gast hatte im Nu abgegessen und sich den Rest in die Taschen und unter das Hemd gestopft. »Nachschlag!« rief da der Beduine, »Nachschlag, du Sohn des Verfluchten!« Der Bäcker war bestürzt. »Weiche von mir, du und dein Ziegenbock. Ich habe nicht, was dir den Bauch füllen und dich sättigen könnte.« Der Beduine setzte seinen Weg fort, bis er bei einem KnafaKoch vorbeikam. »Willst du nicht das Ziegenböckchen verkaufen?« sprach dieser den Beduinen an, und als jener
bejahte, wollte auch er den Preis erfahren. »Ach«, druckste der Beduine, »nur für einmal richtig Sattessen an deiner süßen Käsespeise.« Der Koch schlug ein und setzte dem Beduinen zwei Sorten Knafa vor, die er im Handumdrehen verzehrt und den Rest sich in den Ärmel gestopft hatte, so daß alles bis auf die letzten Krümel abgeräumt war. »Nachschlag!« rief da der Beduine, »Nachschlag, du Sohn des Verfluchten!« Da warf ihn der Koch samt seinem Ziegenböckchen hinaus, nachdem er hatte einsehen müssen, daß er nicht genug Knafa hatte, um die Gefräßigkeit des Beduinen zu stillen. Der Wüstenmann streifte durch die Straßen und Gassen, wobei er einem Bohnenverkäufer über den Weg lief, der sich gleichfalls nach dem Preis des Ziegenböckchen erkundigte. »Ach, nur für einmal richtig Sattessen an deiner Speise.« So türmte der Garkoch vor dem Beduinen Berge seiner Gerichte auf. Jener aß und aß, füllte seinen Kaftan und stopfte sich die Hosen aus, bis er alles, was vor ihm stand, vertilgt hatte. »Nachschlag!« rief da der Beduine, »Nachschlag, du Sohn des Verfluchten!« Dem Koch wurde angst und bange. »Troll dich mit deinem Ziegenbock, ich habe nicht genug, um dich zu sättigen!« Der Beduine schlenderte wenig später an einem Haus vorüber, bei dem ein Dienstmädchen am Fenster stand. Als sie das Ziegenböckchen erblickte, sprach sie zu ihrer Herrin: »Dieser Beduine da hat ein Ziegenböckchen bei sich. Wie wäre es, wir kauften es zum Fest?« Sie sollte den Beduinen rufen, was sie auch geflissentlich tat, um ihn nach dem Preis zu fragen. »Um ein Nachtlager«, war seine Antwort. »Sein Geist ist mit Blindheit geschlagen. Wo soll ich ihn denn schlafen lassen?« schimpfte die Hausherrin. Das Dienstmädchen wußte Rat. »Soll er sich doch in die Küche legen.« Die Herrin des Hauses war einverstanden, und sie ließen den Beduinen samt Ziegenböckchen eintreten. Das Dienstmädchen rollte ihm in der Küche eine Matte aus, auf die er sein Ziegenböckchen
niederlegte und schlief, indem er seinen Kopf auf das wärmende Tier legte. Als die Nacht hereinbrach, kam der Liebhaber der Gebieterin mit einem großen Blech voll duftendem Baklawa-Gebäck. Beide ließen sich nieder, schwatzten und trieben schließlich ihr frevelhaftes Spiel, als es unvermittelt an die Tür klopfte. »Oh, das ist mein Mann«, schreckte das falsche Weib hoch. »Wo soll ich dich nur verbergen?« Doch dann fiel ihr die Küche ein. »Versteck dich hinter jener Tür!« forderte sie den Liebhaber auf, der in großer Hast ihrem Winke Folge leistete. Die Dame des Hauses öffnete inzwischen die Tür, vor der indes ein zweiter Lustgefährte um Einlaß bat. Er trug für sie ein stattliches Becken voll gesalzener Nüsse und Kerne bei sich. Nachdem auch sie eine Weile beieinander gesessen und sich amüsiert hatten, klopfte es abermals. »Ohne jeden Zweifel, das ist mein Mann«, stieß das Weib hervor. »Geh und versteck dich hinter der Küchentür!« Dieser hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihrer Weisung zu folgen, und verbarg sich, wo bereits der erste Liebhaber versteckt war. Als nun die muntere Dame die Tür erneut auftat, bat ein dritter Nachtschwärmer um Asyl, der ihr mit einer Kollektion feiner Stoffe aufwartete. Aber auch sie hatten sich kaum niedergesetzt und zu schwatzen begonnen, als es wieder an das Tor schlug. Die Frau schickte auch diesen Liebhaber in die Küche, bevor sie öffnete. Diesmal war tatsächlich ihr Mann gekommen. Der Beduine hatte von Anbeginn verstanden, was um ihn herum vor sich ging. Die drei Liebhaber allerdings waren zutiefst ratlos, wie sie aus der Wohnung fliehen könnten, nachdem der Hausherr eingetroffen war. Der Beduine stand auf und besah sich, was jene drei an Baklawa, Nüssen und Stoffen herbeigeschafft hatten. Dann öffnete er seinen großen Schultersack und füllte ihn mit all den Geschenken und wandte
sich an die drei Männer. »Ich bringe euch hier mit heiler Haut heraus«, versprach er ihnen leise. »Aber wie?« stammelten sie. »Gebt mir eure Kleider«, verlangte der Beduine, was sie sich aber zu tun weigerten. Erst als er ihnen drohte, er werde sie dem Ehemann ausliefern, gaben sie zögerlich nach und ließen dann doch ihre Kleider fallen, bis sie nicht mehr auf dem Körper trugen als einen kleinen Stoffetzen, der verdecken sollte, was sich zu verhüllen geziemt. Der Beduine stopfte ihre Kleider ebenfalls in den Schultersack, den er sich schließlich auf den Kopf lud. »Folgt mir nun. Ich rufe aus: ›Mit Pauken und Trompeten‹ und ihr stimmt ein und singt: ›Er trägt die Kleider des Propheten‹.« Dann traten sie aus der Küche und zogen an der Frau und ihrem verdutzten Mann vorüber, wobei der Beduine ausstieß »Mit Pauken und Trompeten« und die drei nackten Gestalten im Chor einfielen »Er trägt die Kleider des Propheten«. Als der Herr des Hauses diesen Aufzug erblickte, fuhr ihm der Schreck in die Glieder. »Weib, steh sofort auf und entzünde Weihrauch. Die Propheten und Heiligen geben uns die Ehre.« Die Männer kamen auf diese Weise unbeschadet ins Freie. Der Beduine eilte mit seiner großen Last zu seiner Familie. Vor seiner Frau und den Kindern breitete er aus, was er an Speisen und Kleidern und anderen angenehmen Dingen herbeigeschafft hatte und worüber alle froh und glücklich waren. Die Schwägerin des Mannes erfuhr von der Geschichte und Eifersucht ergriff sie, die unaufhörlich an ihr fraß. Schließlich stachelte sie ihren Mann an, ein Ziegenböckchen zu holen und es gleichfalls verkaufen zu gehen, wobei er doch mit Gaben wie sein Blutsbruder heimkehren könnte. Der Beduine lud sich also ein Ziegenböckchen auf die Schultern und brach mit ihm zur Stadt auf. Am Ortseingang kam er an einem Militärlager vorüber, wo ihn einige Soldaten nach dem Preis für das Tier
ansprachen. »Für einmal richtig Sattessen von dem, was ihr habt«, antwortete er. Sogleich luden sie den Beduinen zum Essen ein und setzten ihm einen großen Kessel geschroteter Linsen vor. Jener aß und aß, bis es ihm den Wanst derart aufblähte, daß er auch nicht einen Bissen mehr hätte zu sich nehmen können. So überließ er das Ziegenböckchen den Soldaten und lief mit aufgedunsenem Bauch heimwärts, wobei er sich wie eine Schwangere im neunten Monat fühlte. Ein Mann kam ihm entgegen und erkundigte sich: »Der Herr gehen schwanger?« »Oh, er geht schwanger«, jammerte der Beduine, »und ihn verwünscht der Erzeuger seines Vaters noch dazu.« Beim Weitergehen war er fast schon davon überzeugt, daß er tatsächlich schwanger sei. Er fühlte eine Enge in seinem Leib, als ob er zerspringen würde, worauf er sich schleunigst nach einer Stelle umsah, um seine Leibesfrucht an den Tag zu lassen, und hockte sich hinter einen Baum. Genau in diesem Augenblick entwich ihm mit lautem Donnergetöse alles, was er an Linsen in sich hineingestopft hatte. Hinter dem Baum aber hatte sich ein Feldhase versteckt gehalten, dem die Winde des Beduinen einen derben Schrecken einjagten. Er sprang auf und nahm Reißaus. Der Beduine erblickte das flüchtende Tier und glaubte, es wäre aus seinem Bauch, und er wäre tatsächlich schwanger gegangen. »Lauf schon zu deinesgleichen!« schrie der Beduine erbost dem Hasen hinterher. »Allah möge weder dich noch deinesgleichen segnen!« Zu seinem Weib kehrte er mit leeren Händen zurück. »Ich habe zwar das Ziegenböckchen verkauft und habe gegessen, aber dann wurde ich schwanger, gebar und kehrte heim. Und das alles nur in einer einzigen Nacht. Und Allah sei Dank, daß ich zurück bin.« Daus, daus, dende – die Geschichte ist zu Ende.
Der Bauer am Tümpel
Es war einmal ein Bauer, der bestellte sein Feld nahe einem Tümpel. Zu diesem Pfuhl kamen alle wilden und harmlosen Tiere, um zu trinken. Einmal schlich die Hyäne heran und stillte ihren Durst, wobei sie einen lauten Furz fahren ließ. Sie schämte sich dafür. »Was habe ich getan, Bauer?« fragte sie den Landmann. »Nichts hast du getan«, erwiderte dieser. »Nun sag schon, was ich tat, oder ich fresse dich!« »Ich habe gehört, wie du einen ganz leisen Wind hast streichen lassen.« »Wenn du es niemandem verrätst, schicke ich dir jeden Tag einen fetten Hammel«, versprach die Hyäne. »Hältst du dein Versprechen nicht, fresse ich dich.« Der Bauer ging nach getaner Arbeit nach Hause, und als er des Abends mit seiner Frau und seinen Kindern zusammensitzt, springt plötzlich die Tür auf und ein Hammel kommt herein. »Was machen wir mit ihm?« fragten alle. »Wir behalten ihn erst einmal bei uns«, meinte der Bauer. »Vielleicht kommt der, dem er gehört. Erfahren wir, wem er gehört, geben wir ihn zurück. Wir können ihn aber auch verkaufen und das Geld für die Kinder verwenden.« Seine Frau war einverstanden. Aber am nächsten Abend ereignete sich alles wie am Vortag und ein zweiter Hammel kam in das Haus. »Was hat das zu bedeuten?« fragte die Frau. »Woher nur kommen jeden Tag die Hammel? Hast du etwa eine Geliebte? Sag die Wahrheit oder ich bleibe nicht länger in diesem Haus!«
»Es ist nichts«, beruhigte der Bauer noch einmal sein Weib. Doch am dritten Abend wiederholte sich die Geschichte abermals. »Entweder ich verlasse auf der Stelle dieses Haus oder du sagst mir endlich, was hier vor sich geht«, ging die Bäuerin auf ihren Mann los. Dieser lenkte nun ein und erzählte alles seiner Frau. Gerade in diesem Moment stand die Hyäne unter dem Fenster und belauschte das Gespräch. Als der Bauer am anderen Morgen auf sein Feld ging, kam die Hyäne zu ihm. »Bauer, ich will dich fressen«, eröffnete sie ihm. »Warum hast du auch unser Geheimnis herumgetratscht.« »Ich habe doch nichts gesagt.« »Und ob, du hast es deiner Frau verraten, und ich habe dich dabei belauscht. Nach unserer Vereinbarung will ich dich jetzt fressen.« »Nun ja denn«, gab der Bauer schließlich klein bei. »Laß mich nur noch das Stückchen Acker pflügen. Danach kannst du mich getrost fressen.« Die Hyäne war einverstanden und wollte bald wiederkommen. In der Zwischenzeit kam der Fuchs. »Bauer, was ist dir?« erkundigte er sich, und der Bauer erklärte dem Rotpelz, worin seine Schwierigkeiten bestanden. »Ich werde dich davon erlösen«, versprach der Fuchs. »Du mußt mir nur drei fette Hennen bringen. Ansonsten überlaß die Sache nur mir.« Der Bauer war einverstanden. »Wenn jetzt die Hyäne zurückkommt, trete ich in Erscheinung«, erklärte der Fuchs seinen Plan. Als die Hyäne wieder zu dem Bauern kam, trat der Fuchs hervor, blieb aber auf Distanz. »Was hast du da?« rief der Fuchs mit gespielter Neugier. »Das ist mein Pelz«, antwortete der Bauer. »Steck ihn in den Sack«, befahl der Fuchs. »Ist schon gut, ist schon gut«, flüsterte die Hyäne. »Mal sehen, was er will.« »Bind den Sack fest zu«, rief der Fuchs nun und der Bauer tat, wie ihm geheißen.
»Schlag ihr auf den Kopf«, befahl nun der Fuchs. Der Bauer schlug so lange auf den Kopf der Hyäne ein, bis sie tot war. Am anderen Morgen steckte der Bauer drei Hühner in einen Sack, um sie dem Fuchs zu bringen. »Was ist denn das?« zeterte sein Weib, als sie das sah. »Drei Hühner.« »Zum Donnerwetter, auch noch meine drei besten Legehennen hast du genommen.« Da setzte der Bauer drei Hundswelpen zwischen die Hühner, mit denen er den Fuchs überlisten wollte. Der Fuchs roch aber den Braten. »Was hast du mir da gebracht?« »Drei Hühner.« Der Bauer öffnete den Sack und die Hunde hefteten sich dem Fuchs an die Fersen. »‘S ist gut, wir werden noch sehen«, rief der flüchtende Fuchs. »Du hast mir einen Streich gespielt, nun ist die Reihe an mir, dir eins auszuwischen.« Der Bauer wollte ein paar Tage darauf zur Mühle gehen. Er belud dazu eine Eselin mit dem Korn und brach noch in der Nacht auf, als der Mond alles erleuchtete. Da sah er einen toten Fuchs mitten auf dem Weg liegen. Er stach ihn mit einem Stock in die Seite, aber jener stellte sich tot. Kurze Zeit später fand der Bauer einen zweiten und sogar einen dritten toten Fuchs auf dem Wege liegen. »Warum bin ich nicht gleich daraufgekommen?« schalt er sich. »Ich hätte ihnen das Fell abziehen sollen, um daraus Pelze für Frau und Kinder zu fertigen.« Stracks lief er zum ersten toten Fuchs zurück, fand aber nichts mehr. Er eilte zum zweiten, aber auch der war nicht mehr zu finden. »Na, macht nichts, dann nehme ich eben den dritten.« Als er aber zu seiner Eselin zurückkam, war sie totgebissen, und das ganze Korn lag auf dem Boden verstreut. Da begriff der Bauer, daß ihn der Fuchs zum Narren gehalten hatte. »Fuchs, nun hast du mir eins ausgewischt«, rief der Bauer und huckte sich das Korn selbst
auf die Schultern, lief es zu mahlen und schleppte das Mehl nach Hause. Dort erzählte er seinem Weib die Geschichte mit dem Fuchs, dem er die drei Hühner nicht hatte lassen wollen.
Geld lehrt selbst ein Kamel lesen
Es wird erzählt, daß einst in ferner Zeit, vor Epochen und Jahren weit ein Grüppchen von Leuten beieinander saß und plauderte. Einer von ihnen kam bald auf Armut und Reichtum zu sprechen, und das Gespräch wogte hin und her, bis einer sich zu der Behauptung verstieg: ›Geld lehrt selbst ein Kamel lesen.‹ Wie diese Worte von seinen Lippen kamen, wollte es der Zufall, daß gerade der König mit seinem Wesir vorüberging. Der Herrscher befahl auf der Stelle den Mann zu sich und wollte es genauer wissen. »Du also hast diesen Ausspruch getan?« erkundigte er sich, was der arme Teufel bejahte. »Auf denn, ich gebe dir Geld und ein Kamel, damit du dem Tier das Lesen beibringst. Gelingt es dir nicht, wirst du dem Henker anheimfallen, der dir den Hals zur Strafe für deinen vorlauten Spruch abhauen wird«, bestimmte der König. Der Mann schauderte. »Aber das wird ein gerüttelt Maß Zeit in Anspruch nehmen, o Hoheit«, wand er sich. »Was verstehst du unter ›ein gerüttelt Maß‹?« trieb der Herrscher den Kerl weiter in die Enge, daß ihm der Schrecken bis ins tiefste Mark seiner Glieder fuhr und er keinen Einwand mehr hervorbringen konnte. »Punktum. Ich gebe dir vierzig Tage. Du beginnst morgen früh mit der Unterrichtung des Kamels«, gebot der Fürst. »Mein Leben liegt in deiner Hand, o Hoheit«, erwiderte der Mann tonlos. Darauf ließ der König dem armen Teufel Geld und Kamel geben. Kaum daß beides den Besitzer gewechselt hatte, begann der Mann über eine List nachzusinnen, um seinen Kopf vor dem Henkersschwert zu retten. Reue und
Verzweiflung bemächtigten sich seiner und verdüsterten sein Antlitz. Nach langem Grübeln und Grämen faßte er sich ein Herz: Er holte das Kamel und gab ihm nichts mehr zu fressen. Dann verfertigte er ein übergroßes Buch. Zwischen dessen Seiten verteilte er Haselnußkerne, die das Kamel für sein Leben gern fraß. Gegen Abend schleppte der Mann das Buch vor das Kamel und begann, die Seiten langsam umzulegen. Wie der so blätterte, erkannte das Kamel die Haselnußkerne und fraß sie auf. Der Mann setzte diese Übung noch an die dreißig oder gar fünfunddreißig Tage fort. Danach hatte das Kamel gelernt, die Seiten des Buches auf der Suche nach Nüssen mit Vorderhand und Lippen selbst umzulegen. Immer wenn es einen Kern gefunden hatte, fraß es ihn und stöberte so lange nach weiteren Leckerbissen, bis es das Buch ›durchgelesen‹ hatte. So lernte es zumindest innerhalb der Frist von vierzig Tagen die Seiten eines Buches umzublättern, weil es darin verborgene Haselnüsse begehrte. Am einundvierzigsten Tag zog der Mann mit dem Kamel vor den König. Dort legte er das Buch auf den Boden und überließ das Kamel sich selbst. Das Tier schlug die erste Seite um, fand aber keine Nuß. Es stutzte und stieß einen gellenden Schrei aus. Dann blätterte es die nächste Seite um und verstärkte seinen Stimmausbruch, als seine Hoffnung auf einen Gaumenkitzel wieder enttäuscht wurde. So ging es fort: Ein jedes Mal, wenn es eine Seite umgelegt hatte, protestierte und krakeelte das Kamel, weil es keinen Haselkern hatte finden können, was zumindest für den Betrachter den Anschein erwecken mußte, als ob das Kamel tatsächlich lese. Als das Kamel sämtliche Seiten des Buches umgeschlagen hatte, spendeten der König und der anwesende Hofstaat verdutzt
Beifall. Der Fürst rief den Mann zu sich und fragte: »Was hat denn das Kamel überhaupt gelesen?« »Das Kamel, o Herr, hat selbstverständlich in der Sprache der Kamele und nicht in unserer Sprache gelesen«, erwiderte der Mann. Über diese Erklärung konnte sich der König ein Lachen nicht verhalten. »Bei Allah«, wurde er wieder ernst, »wenn du mir nicht verrätst, wie du dem Kamel das Kunststück beigebracht hast, werde ich dich dennoch der strengsten Bestrafung unterwerfen.« Da weihte der Mann den König in das Geheimnis der Kameldressur ein. »O mein Fürst, hätte ich nicht jenes Geld besessen, woher hätte ich ein Kamel und selbst Haselkerne nehmen sollen? Ich tat, was ich seinerzeit in jenem Sinnspruch nach bestem Wissen und Gewissen zusammenfaßte: Geld ist noch immer Garant für die Lösung selbst der schwierigsten Bürden; doch das erfordert überdies, daß es sich mit einem kühlen Kopf und der Weisheit paart, es richtig einzusetzen.« Dem König gefielen die Worte des Mannes, er belohnte ihn reichlich für sein überlegtes Handeln und seine klugen Gedanken.
Der König und der kleine Pfiffikus
Ein König und sein Wesir wandelten einst verkleidet durch die Straßen, als gerade Kinder aus der Schule traten. Unter ihnen war ein Bursche, der sich als wahrer Schlauberger entpuppen sollte. »Willkommen, o größter König aller Zeiten!« grüßte dieser den flanierenden Fürsten, der sich unerkannt wähnte. »Woran hast du mich erkannt?« stutzte der Herrscher. »An deinem Gesichtsausdruck«, gab der Junge zur Antwort. Der König, dem Wohlwollen das Herz zu erwärmen begann, weil der Knirps so klug und aufgeweckt, ordentlich und geschickt war, zog eine Lira hervor und reichte sie dem Burschen. »Nein danke, o größter König aller Zeiten«, wehrte dieser völlig überrascht ab. »Ich kann sie unmöglich annehmen.« »Warum?« wollte der König wissen, der aus dem Staunen nicht herauskam. »Weil meine Mutter von mir denken würde, ich hätte die Münze gestohlen«, entgegnete der Junge. »Dann sag ihr, du hättest sie vom König«, versuchte der Fürst, die Bedenken zu zerstreuen. »Das wird sie erst recht nicht glauben, weil eine Lira nicht gerade ein königliches Geschenk ist.« Der König staunte immer mehr. Er zog einen Beutel mit fünfhundert Lira hervor und reichte sie diesem Pfiffikus. Dieses großzügige Geschenk fachte wiederum des Wesirs Neid an, daß er sogar dem Jungen hinterherlief und ihn mit »Bursche, he Bursche, da warte doch!« zum Stehenbleiben bewegte. Der Knabe hielt inne.
»Gib den Geldbeutel wieder her!« polterte der Wesir ohne Umschweife. »Der König hat sich mit dir nur einen Scherz erlaubt.« Der Schlauberger dachte kurz nach. »Gut, ich werde ihn dir geben«, lenkte er scheinbar ein. »Doch zuerst mußt du auf den Hügel dort steigen und dreimal laut und vernehmlich wie ein Esel rufen. Dann komme getrost herunter und hole dir die Börse.« Ohne viel Federlesens erklomm der Wesir die Kuppe, wieherte dreimal wie ein ausgewachsener Esel und kam atemlos zurückgehastet. »So, nun gib endlich den Beutel her!« fauchte er gehetzt. Der Junge machte keine Anstalten. »Als du noch ein Mensch warst, habe ich dir schon die Börse nicht gegeben, o Wesir. Glaubst du etwa, daß ich sie dir nun, wo du dich – mit Verlaub – zum Esel gemacht hast, so mir nichts dir nichts überlasse?« Sprach’s, ließ den verdatterten Wesir stehen und zog seiner Wege.
Abu Mohammed
Es war einmal eine Frau, die hatte einen Mann namens Abu Mohammed. Das hieß soviel wie ›Mohammeds Vater‹, denn der älteste Sohn trug diesen Namen, und es war Sitte, daß sich die Eltern mit dem Rufnamen des Stammhalters schmückten. »Umm Mohammed«, sprach der Mann eines schönen Tages zu seiner Frau, denn Umm bedeutet nun einmal ›Mutter‹, »ich gehe aus und hole Fleisch für Kibbe-Klößchen.« Die Frau, die etwas einfältig war, trommelte die Nachbarn zusammen. »Ihr Nachbarn herbei und mir zur Hand!« schrie sie aufgeregt. »Abu Mohammed ist Fleisch für Kibbe holen gegangen.« Als der Ruf zum Mittagsgebet erscholl, war Abu Mohammed noch immer nicht zurück. Selbst das Nachmittagsgebet verhallte, ohne daß Abu Mohammed heimgekehrt wäre. Da verloren die Nachbarn die Geduld und verstreuten sich in ihre Häuser. Auch der Ruf des Muezzins von der Moschee zum Sonnenuntergang und zur Nachteinkehr verstrichen, erst dann fand sich der Herr des Hauses ein. »O Umm Mohammed«, sprach er zu seinem Weib, »ich habe es mir hin und her überlegt, mir den Kopf zermartert und schließlich zu mir gesagt: ›Bring ihr lieber Ohrringe von Gold. Das ist weit besser als Fleisch für Kibbe.‹« Die Frau schenkte ihrem Mann Glauben. Am anderen Morgen griff sie sich die Decke, riß sie in Streifen und wickelte sich daraus einen Turban. Dann holte sie das Brunnenseil und eilte zum Schmied. »Schlag mir Löcher in die Ohren!« verlangte sie, und er tat, wie ihm geheißen. Zu guter Letzt fädelte er ihr das grobe Seil durch die Lauscher und packte ihr den seltsamen Turban wieder auf das Haupt. Umm
Mohammed lief nach Hause, wo ihr unter der Last der Decke abwechselnd heiß und kalt wurde. Der Abend brach herein, und ihr Mann kam ohne die Ohrringe heim. »Wo sind meine Ohrringe?« fuhr sie gleich hoch. »Du schweigst besser, Weib«, würgte Abu Mohammed ihren Protest im Keime ab. »Ich habe nochmals gegrübelt und gegrübelt und zu mir gesagt: ›Ich werde meiner Frau gleich ein Haus kaufen.‹ Eigene vier Wände sind schließlich besser als ein Haus auf Miete.« Und Abu Mohammed ging noch in dieser Nacht los, um angeblich das Haus zu kaufen. Da verriegelte und verrammelte Umm Mohammed das alte Domizil, nachdem sie sämtliche Möbel herausgeschleppt hatte. »Abu Mohammed will mir ein Haus kaufen«, prahlte sie vor den Nachbarn. »Wir brauchen euer schäbiges Mietshaus nicht länger.« Mit diesen Worten gab sie ihnen die Schlüssel, lief ins Freie und hockte sich auf einen Kehrichthaufen. Erst am Abend des nächsten Tages kam Abu Mohammed wieder. Er klopfte an die Tür seines vermeintlichen Heims, aber niemand tat ihm auf. Er lief die Nachbarn ab und erkundigte sich nach Umm Mohammed. »Die ist ausgezogen«, bekam er überall zu hören. »So gebt mir wenigstens den Schlüssel zu unserem alten Haus, damit ich mich aufs Ohr legen kann«, bat er kleinlaut. An Umm Mohammed indessen schlich eine Katze vorüber. »Miau, miau«, schnurrte das Tier. »Ah, Abu Mohammed hat mir ein Kätzchen gesandt, um mich auszusöhnen«, redete sie sich ein. »Aber ich gehe nicht mit«, schmollte sie. Dann trottete ein Hundewelpe vorbei. »Wau, wau«, bellte er mit dünner Stimme. »Abu Mohammed hat dich also geschickt«, sagte sie trotzig. »Wau, wau, du Tolpatsch, sollst mich wohl versöhnen. Aber ich gehe nicht mit.« Wenig später begannen die Hähne zu krähen. »Kikeriki«, schallte es zu Umm Mohammed herüber. »Papperlapapp, euch
hat doch nur Abu Mohammed gerufen, um mich umzustimmen. Gegacker hin, Gegacker her, ihr Hühnerpaschas, aber ich komme nicht mit«, behielt das einfältige Weib ihren Dickkopf. Dann allerdings entdeckte Umm Mohammed ein mit Gold beladenes Kamel. »Für dich, Kamel, für dich, du alter Langhals, gehe ich auf der Stelle mit«, plapperte sie. »Ich komme.« Und mit einem kräftigen ›Vorwärts‹ spornte sie das Wüstenschiff an und zog und zerrte es. Sie wollte zu Abu Mohammed gehen, fand ihn aber nicht. »Abu Mohammed wach auf, Abu Mohammed, wach doch endlich auf!« schrie sie, bis er sie endlich einließ. Sie scharrte eine Grube im Boden der Kammer, legte das Gold hinein und verschloß das Versteck mit Lehm. Dann legte sie sich nieder und versank in tiefen Schlaf. Es dauerte nicht lange, und ein Herold zog über Land. »Wer ein herrenloses Kamel gesehen hat, soll es dem Königspalast wieder zuführen. Vierzig Golddinar Belohnung gebühren ihm«, rief er alle Steinwurf Weg aus voller Kehle. Da bekam es Abu Mohammed mit der Angst. Er packte sein schlafendes Weib und setzte es in den Backofen aus Lehm. Alsdann hob er zu lärmen an und riß sie aus dem Schlummer. »Frau erheb dich!« schrie er, um ihr seine Worte einzuschärfen. »Iß und trink dich satt, vom Himmel hat es Kibbe mit Joghurt geregnet. Komm, lang kräftig zu!« Wenige Augenblicke später verschreckte er sie abermals, daß sich die verstörte Umm Mohammed nur noch tiefer in ihren Brotofen verkroch. »Rasch, zieh den Kopf vor den Krähen ein!« kreischte er mit schriller Stimme. »Die Raben hacken den Leuten die Augen aus.« Seiner Sache sicher, trollte sich Abu Mohammed sodann. Kaum hatte er sich aus dem Staub gemacht, als das Gefolge des Königs vorüberzog. »Wo ist das Kamel?« bohrten sie bei Umm Mohammed nach einer Antwort. »Erst wenn mein Mann
kommt«, stammelte die Frau. Als dieser, als wäre nichts geschehen, herzutrat, versicherte er den Hofschranzen, daß sein Weib die heilige Einfalt selbst sei. Doch jene ließen das nicht gelten, sondern schleppten sie vor einen Kadi, der nur noch ein Auge hatte. »Wir haben das Kamel gefunden«, berichtete Umm Mohammed treuherzig. »Das war, ich weiß es noch genau, an jenem Tag, als es vom Himmel Kibbe-Klöße mit Joghurt geregnet hatte und überall Krähen durch die Lüfte geschwirrt kamen, um den Leuten die Augen auszuhacken. He«, wandte sie sich da plötzlich dem Richter zu, »und dir, Kadi, haben sie wohl auch ein Auge entführt?« »Scher dich weg, verrücktes Weib, verflucht seist du!« polterte der Hüter des Gesetzes, der sich in seiner Amtswürde zutiefst gekränkt sah. Umm Mohammed kehrte unbehelligt zu ihrem bescheidenen Heim zurück.
Daus, daus – die Geschichte ist aus.
Die Laus und der Floh
Es waren einmal in alter Zeit ein Floh und eine Laus. Sie saßen am Brotbackofen und webten Seide. Da glitt dem Floh die Spindel aus der Hand und fiel in den Ofen. Der Floh stieg hinab, um die Spindel heraufzuholen, aber plötzlich fing er Feuer und ging in Flammen auf. Als die Laus das sah, schlug sie sich, bis sie nur noch ein blutiger Knäuel von Fleisch war. »Ei, was liegt die Laus in Stücken?« krächzte die Krähe, als sie über die Laus hinwegflog. »In Stücken liegt die arme Laus, vor Schmerz über des Flohs Garaus. Mit dem Gevatter war es aus, als ihm die Spindel in den Ofen glitt, und wie er sie zu holen schritt, ward er der Flammen grausiger Schmaus.« Da ließ sich die Krähe geknickt auf einem Nußbaum nieder. »Ei, was rupft die Krähe sich die Federn aus?« raunte der Walnußbaum. »Die Kräh’ rupft sich die Federn aus, in Stücken liegt die arme Laus, vor Schmerz über des Flohs Garaus. Mit dem Gevatter war es aus, als ihm die Spindel in den Ofen glitt, und wie er sie zu holen schritt, ward er der Flammen graus’ger Schmaus.« Den Walnußbaum schüttelte die Traurigkeit und seine Blätter wurden gelb. Da kam ein kleiner Quell am Nußbaum vorbei. »Ei, was läßt der Nußbaum die Blätter fallen?« sprudelte der Quell.
»Dem Nußbaum fall’n die Blätter aus, die Kräh’ rupft sich die Federn aus, in Stücken liegt die arme Laus, vor Schmerz über des Flohs Garaus. Mit dem Gevatter war es aus, als ihm die Spindel in den Ofen glitt, und wie er sie zu holen schritt, ward er der Flammen graus’ger Schmaus.« Da versiegte die Quelle vor Trauer über den armen Floh. Nun kam ein kleiner Schafhirte. »Ei, was ist das Börnlein trocken?« erkundigte sich der Hirte. »Vertrocknet ist der kleine Born, dem Nußbaum fall’n die Blätter aus, die Kräh’ rupft sich die Federn aus, in Stücken liegt die arme Laus, vor Schmerz über des Flohs Garaus. Mit dem Gevatter war es aus, als ihm die Spindel in den Ofen glitt, und wie er sie zu holen schritt, ward er der Flammen graus’ger Schmaus.« Da versank der Schafhirte in Trauer und schnitt darüber den Hammelböcken die Hörner ab. Die hing er sich an seine Hüften und lief nach Hause. »Ei, mein Sohn«, rief da die Mutter, »warum hast du am Gurt das Horn?« »An deines Sohnes Gurt das Horn, vertrocknet ist der kleine Born, dem Nußbaum fall’n die Blätter aus, die Kräh’ rupft sich die Federn aus, in Stücken liegt die arme Laus, vor Schmerz über des Flohs Garaus. Mit dem Gevatter war es aus, als ihm die Spindel in den Ofen glitt,
und wie er sie zu holen schritt, ward er der Flammen graus’ger Schmaus.« Als die Mutter das vernahm, wurde auch sie untröstlich. Sie nahm den Hirtenstab ihres Sohnes und schlug sich damit ein Auge aus. Einige Tage später kam die Schwester des Hirten heim. »Ei, warum hat Mutter nur ein Auge im Kopf?« fragte sie. »Die Mutter sich ein Aug’ ausschlug, der Bruder trägt am Gurt das Horn, vertrocknet ist der kleine Born, dem Nußbaum fall’n die Blätter aus, die Kräh’ rupft sich die Federn aus, in Stücken liegt die arme Laus, vor Schmerz über des Flohs Garaus. Mit dem Gevatter war es aus, als ihm die Spindel in den Ofen glitt, und wie er sie zu holen schritt, ward er der Flammen graus’ger Schmaus.« Alsdann trauerte auch die Schwester und verkroch sich im großen tönernen Vorratskrug. Einige Tage darauf kehrte der älteste Bruder aus Amerika zurück. Beim Betreten des Hauses fand er seine Schwester im Krug. »Ei, was sitzt die Schwester im Krug?« kam es über seine Lippen. »Die Schwester sitzt im Vorratskrug, die Mutter sich ein Aug’ ausschlug, der Bruder trägt am Gurt das Horn, vertrocknet ist der kleine Born, dem Nußbaum fall’n die Blätter aus, die Kräh’ rupft sich die Federn aus, in Stücken liegt die arme Laus, vor Schmerz über des Flohs Garaus. Mit dem Gevatter war es aus,
als ihm die Spindel in den Ofen glitt, und wie er sie zu holen schritt, ward er der Flammen graus’ger Schmaus.« Nun übermannte noch den ältesten Bruder die Trauer über den Tod des Flohs. Er warf all seine Geschenke vor die Tür und schloß sich und die ganze Familie ein für allemal ein.
Der Schwanz des Kätzchens
Zwei kleine Jungen hatten einmal eine Katze. Einst gerieten sie in Streit, weil dieser sie haben und jener nicht lassen wollte. Und wie sie so zogen und wie sie so zerrten, rissen sie dem Kätzchen das Schwänzchen aus. Da nahmen sie Kätzchen und Schwänzchen und liefen zur Mutter. »Mutter, Mutter, das Schwänzchen vom Kätzchen ist ab«, riefen sie aufgeregt. »O je, lauft zum Tantchen, sie soll dem Kätzchen das Schwänzchen kleben.« »Tantchen, Tantchen, kleb dem Kätzchen das Schwänzchen wieder an!« bat einer der beiden. »O je, ich brauche aber Milch dazu, ohne sie kann ich nichts tun. Die Milch, die bring mir von der Kuh.« »Kuh, Kuh, gib mir Milch! Ich lief zum Tantchen, damit sie das Schwänzchen vom Kätzchen wieder klebt. Zuvor aber will sie Milch.« »Ich kann dir keine Milch abgeben, erst muß ich selber einmal fressen.« »Was willst du fressen?« »Ich will Stauden fressen, Stauden hat der Bauer.« Der Junge lief zum Bauer. »Bauer, Bauer, gib mir Stauden, die frißt die Kuh, die von der Milch abgibt, die das Tantchen so liebt, damit sie des Kätzchens Schwänzchen klebt.« »Ich brauche aber Wasser«, antwortete der Bauer. »Das Wasser ist im Fluß.« »Fluß, Fluß, gib mir Wasser, das ist für den Bauer, der pflanzt Stauden im Nu, die frißt die Kuh, die mir von der
Milch abgibt, die das Tantchen so liebt, damit sie dem Kätzchen das Schwänzchen klebt.« »Lauf zur Quelle, damit der Bach anschwillt, mein Bett sich füllt, mein Naß hilft dem Bauer immerzu, der pflanzt Stauden im Nu, die frißt die Kuh, die von der Milch abgibt, die das Tantchen so liebt, damit sie dem Kätzchen das Schwänzchen klebt.« Der Junge trug der Quelle seine Bitte vor. »Lauf zum Regen, damit er niederfällt und die Quelle quillt, der Bach anschwillt, der Fluß sich füllt, sein Naß hilft dem Bauer immerzu, der pflanzt Stauden im Nu, die frißt dann die Kuh, die von der Milch abgibt, die das Tantchen so liebt, damit sie dem Kätzchen das Schwänzchen klebt.« Der Regen hörte den Knaben an. »Lauf zur Wolke, damit sie bei uns hält, der Regen hier zur Erde fällt, die Quelle quillt, der Bach anschwillt, der Fluß sich füllt, sein Naß hilft dem Bauer immerzu, der pflanzt Stauden im Nu, die frißt dann die Kuh, die von der Milch abgibt, die das Tantchen so liebt, damit sie dem Kätzchen das Schwänzchen klebt.« »Lauf zu den Tänzern, daß sie tanzen, und zu den Sängern, daß sie singen«, erwiderte jene, »ihr Tanz und Gesang zieht Wolken heran, in Strömen rinnt der Regen sodann, nun erst die Quelle quillt, der Bach anschwillt, der Fluß sich füllt, sein Naß hilft dem Bauer immerzu, der pflanzt Stauden im Nu, die frißt dann die Kuh, die von der Milch abgibt, die das Tantchen so liebt, damit sie dem Kätzchen das Schwänzchen klebt.« Der Junge lief zu Tänzern und Sängern. »Wir brauchen zum Tanzen und Singen aber hölzerne Schuh«, sagten sie ihm. Also lief er weiter zum Holzschuhmacher. »Lauf zu den Weiden«, schickte der Schuhmacher den Knaben weiter, »damit sie dir Holz geben, aus dem mach ich Holzschuh nach Muster, die zieh’n die Tänzer und Sänger an, ihr Tanz und Gesang zieht Wolken heran, in Strömen rinnt der Regen sodann, nun erst die
Quelle quillt, der Bach anschwillt, der Fluß sich füllt, sein Naß hilft dem Bauer immerzu, der pflanzt Stauden im Nu, die frißt dann die Kuh, die von der Milch abgibt, die das Tantchen so liebt, damit sie dem Kätzchen das Schwänzchen klebt.« Nun lief der Junge weiter, bis er bei den Weiden anlangte. »Weiden, ihr Weiden, seid mir lieb Kind und gebt mir von eurem Holze geschwind, ich schaff’s zum Schuster, der macht Holzschuh nach Muster, die zieh’n die Tänzer und Sänger an, ihr Tanz und Gesang zieht Wolken heran, in Strömen rinnt der Regen sodann, nun erst die Quelle quillt, der Bach anschwillt, der Fluß sich füllt, sein Naß hilft dem Bauer immerzu, der pflanzt Stauden im Nu, die frißt dann die Kuh, die von der Milch abgibt, die das Tantchen so liebt, damit sie dem Kätzchen das Schwänzchen klebt.« Nun endlich raunten die Weiden bescheiden: »Nun gebt doch dem Kind von eurem Holze geschwind, es schafft’s zum Schuster, der macht Holzschuh nach Muster, die zieh’n die Tänzer und Sänger an, ihr Tanz und Gesang zieht Wolken heran, in Strömen rinnt der Regen sodann, nun erst die Quelle quillt, der Bach anschwillt, der Fluß sich füllt, sein Naß hilft dem Bauer immerzu, der pflanzt Stauden im Nu, die frißt dann die Kuh, die von der Milch abgibt, die das Tantchen so liebt, damit sie dem Kätzchen das Schwänzchen klebt.«
Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein
Es waren einmal zwei Ziegen, eine lahmte und die andere nicht. Alle Tage liefen sie auf die Weide, um zu fressen, und kehrten stets des Abends heim. Als sie wieder einmal ausgiebig geweidet hatten, sprach die eine zu Lahmesbein: »Komm, steh auf, nach Hause lauf!« »Nein, bei Allah, ich gehe nicht, bleiben steht mir zu Gesicht.« »Wehe, ich jage den Wolf dir hinterher, der frißt dich auf, das fällt ihm nicht schwer.« »Wie du willst, da geh nur hin.« Da lief die gesunde Ziege zum Wolf. »He, Wolf, lauf und friß Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, seit gestern nachmittag kam sie nicht heim.« »Was sollt ich von ihr wollen, sie ist doch so ein armes Ding«, wehrte der Wolf ab. »Dann, bei Allah, hetz ich dir Berdschas Hund auf den Hals, der bringt dich um, so hoff’ ich jedenfalls«, zeterte die Ziege und lief zu dem Hund. »He, Berdschas Hund, geh und töte den Wolf, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Was habe ich damit zu schaffen«, wehrte der Hund ab. »Sag es erst der Herrin, sonst schlägt sie dich tot.« Nun lief die Ziege zu dessen Herrin. »Frau Berdscha, erschlage deinen Hund, sonst kann es nichts geben, denn der will dem Wolf nicht ans Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.«
»Ach, was habe ich damit zu schaffen«, wehrte sie ab, »ich rufe meinen Mann herbei, der schlägt dich tot.« So lief die Ziege zu deren Mann. »He, Berdscha, schlag deine Alte tot«, rief sie. »Sie sollt’ dem Hunde Schläge geben, der dem Wolf nehmen das Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Bei Allah, ich werde sie nicht schlagen«, weigerte er sich. »Dann schick’ ich dir die Schere«, drohte die Ziege wieder, »die schneidet dir den Kinnbart ab zur Lehre.« Sie lief schnurstracks zur Schere. »He, Schere, lauf zu Berdscha hin im Trab, schneide ihm den Kinnbart ab, der lehnt sein Weib zu prügeln ab, sie sollt’ dem Hunde Schläge geben, der dem Wolf nehmen das Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Was habe ich damit zu schaffen«, weigerte sich die Schere. »So schicke ich zu dir den Schmied, der gibt mit dem Hammer dir einen Hieb.« Die Ziege lief gleich zum Schmied. »He, Schmied, hämmre platt die Schere, die schnitt Berdschas Bart nicht ab, der lehnt sein Weib zu prügeln ab, sie sollt’ dem Hunde Schläge geben, der dem Wolf nehmen das Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Bei Allah, nein«, wies der die Ziege ab. »Was habe ich damit zu schaffen?« »Da treibe ich die Kamele her«, drohte sie, »die bepissen dich samt deiner Schmiede.« Und umgehend lief die Ziege zu den Kamelen. »He, Kamele, pißt in die Schmiede der kreuz und der quere, der Schmied sollt’ zerhämmern die Schere, die schnitt Berdschas Bart nicht ab, der lehnt sein Weib zu prügeln ab, sie sollt’ dem Hunde Schläge geben, der dem Wolf nehmen
das Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Was haben wir damit zu schaffen?« empörten sich die Kamele. »Dann schick ich euch die Mäuse, die bauen ein Nest in eure Bäuche«, drohte von neuem die Ziege und eilte zu den Mäusen. »He, Mäuse, nistet euch in der Kamele Bäuch’, die sollten bepissen die Schmiede der kreuz und der quere, der Schmied sollt’ zerhämmern die Schere, die schnitt Berdschas Bart nicht ab, der lehnt sein Weib zu prügeln ab, sie sollt’ dem Hunde Schläge geben, der dem Wolf nehmen das Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Bei Allah, nein«, weigerten sich die Mäuse. »Dann lauf ich jetzt zur Katze, auf daß sie euch tatze«, drohte wieder die Ziege und lief geradewegs zur Katze. »He, Katze, friß die Mäuse auf sogleich, die sollten nisten in der Kamele Bäuch’, die sollten bepissen die Schmiede der kreuz und der quere, der Schmied sollt’ zerhämmern die Schere, die schnitt Berdschas Bart nicht ab, der lehnt sein Weib zu prügeln ab, sie sollt’ dem Hunde Schläge geben, der dem Wolf nehmen das Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Bei Allah, nein«, wies die Katze die Ziege ab. »Was hab denn ich damit zu schaffen?« »Dann geh ich jetzt zum Knüppel und schick ihn gegen dich«, drohte jene und galoppierte zum Knüppel. »He, Knüppel, drisch die Katze grün und blau, die sollt’ fressen die Mäuse sogleich, die sollten nisten in der Kamele Bäuch’, die sollten bepissen die Schmiede der kreuz und der quere, der Schmied sollt’ zerhämmern die Schere, die schnitt Berdschas Bart nicht ab, der lehnt sein Weib zu prügeln ab, sie sollt’ dem
Hunde Schläge geben, der dem Wolf nehmen das Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Was habe ich damit zu schaffen?« verwahrte sich der Knüppel. »Dann laß ich das Feuer dich verbrennen«, drohte ihm die Ziege und lief zum Feuer. »He, Feuer, brenn den Knüppel zu Asche grau, der sollt’ dreschen die Katze grün und blau, die sollt’ fressen die Mäuse sogleich, die sollten nisten in der Kamele Bäuch’, die sollten bepissen die Schmiede der kreuz und der quere, der Schmied sollt’ zerhämmern die Schere, die schnitt Berdschas Bart nicht ab, der lehnt sein Weib zu prügeln ab, sie sollt’ dem Hunde Schläge geben, der dem Wolf nehmen das Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Was habe ich damit zu schaffen?« lehnte auch das Feuer ab. »Dann lauf ich eben zum Wasser, das löscht dich aus«, drohte die Ziege und wandte sich ans Wasser. »He, Wasser, mach dem Feuer den Garaus, das sollt’ brennen den Knüppel zu Asche grau, der sollt’ dreschen die Katze grün und blau, die sollt’ fressen die Mäuse sogleich, die sollten nisten in der Kamele Bäuch’, die sollten bepissen die Schmiede der kreuz und der quere, der Schmied sollt’ zerhämmern die Schere, die schnitt Berdschas Bart nicht ab, der lehnt sein Weib zu prügeln ab, sie sollt’ dem Hunde Schläge geben, der dem Wolf nehmen das Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Was habe ich damit zu schaffen?« sagte das Wasser. »Dann führe ich jetzt die Büffel her, die saufen dich leer«, drohte schon wieder die Ziege und rannte zu den Büffeln. »He, Büffel, sauft das ganze Wasser aus, das sollt’ machen dem Feuer den Garaus, das sollt’ brennen den Knüppel zu Asche grau, der sollt’ dreschen die Katze grün und blau, die sollt’
fressen die Mäuse sogleich, die sollten nisten in der Kamele Bäuch’, die sollten bepissen die Schmiede der kreuz und der quere, der Schmied sollt’ zerhämmern die Schere, die schnitt Berdschas Bart nicht ab, der lehnt sein Weib zu prügeln ab, sie sollt’ dem Hunde Schläge geben, der dem Wolf nehmen das Leben, der Wolf sollt’ fressen Ziege Lahmesbein auf der Weide ganz allein, kam seit gestern nachmittag nicht heim.« »Was haben wir damit zu schaffen?« brummten die Büffel. »Dann geh ich jetzt zum Todesengel Ezrael«, sprach die Ziege ihre schlimmste Drohung aus. »O bitte nein, das ist zuviel«, brüllten die Büffel. »Laß Ezrael doch aus dem Spiel.«
Die Fliege, die in den Schnee fiel
Es war einmal eine Fliege, die fiel in den Schnee. »Huch«, schauerte sie. »O Schnee, gibt es denn noch Kälteres, noch Kälteres als dich?« »Ich bin doch aber nicht so kalt, nicht so kalt. Die Sonne strahlt mit ganzer Kraft und schmelzt mich bald.« »O Sonne«, wisperte da die Fliege, »alles schmilzt vor dir, schmilzt vor dir.« »Wie könnt’ ich alles schmelzen, alles schmelzen? Die Wolken zieh’n am Himmelszelt und könn’ sich vor mich wälzen.« »O Wolken«, wunderte sich die Fliege, »über alles legt ihr Schatten, legt ihr Schatten.« »Wieso, geht der Schatten nicht vom Fleck, nicht vom Fleck? Da kommt der Wind herangebraust und bläst mich weg.« »O Wind«, hob die Fliege an, »alles bläst du weg, bläst du weg.« »Ich blas doch gar nicht alles weg, alles weg. Erhebt sich vor mir eine Wand, so geht sie nicht vom Fleck.« »O Wand«, staunte da die kleine Fliege, »du bist wie nichts so fest, nichts so fest.« »Wieso sei ich so fest, ich so fest? Kommen nur die Mäuselein, bau’n in mir ihr Nest.« »O Mäuselein«, raunte die Fliege, »nichts hält euren Nagern stand, Nagern stand.« »Wieso, hält unsere Zähne gar nichts auf, gar nichts auf? Kommt die Katze und frißt uns mit Haut und Haaren auf.« »O Katze«, piepste die Fliege, »alles frißt du auf, frißt du auf.«
»Wieso, freß ich denn alles auf, alles auf? Kommt der derbe Knüppel, drischt mir eine obendrauf.« »O Knüppel«, stutzte die Fliege, »allen teilst du Schläge aus, Schläge aus.« »Wieso, tanz’ ich allen auf dem Rücken, auf dem Rücken? Kommt die scharfe Sichel, spaltet mich zu Stücken.« »O Sichel«, stieß die Fliege aus, »du haust alles kurz und klein, kurz und klein.« »Wieso, hau ich alles kurz, alles klein? Kommt der kräft’ge Schmied, legt mich auf den Dengelstein.« »O Schmied«, triumphierte nun die Fliege, »also beugt sich alles deinem Schlag, deinem Schlag.« »Wie soll ich stärker als das Schicksal sein, Schicksal sein? Kommt Todesengel Ezrael und holt mich heim.«
Worterklärungen
Abu: Vater (arab.); nach der Geburt des ersten Kindes, vor allem wenn es ein Sohn ist, wird der Vater Abu unter Anfügung des Kindesnamen gerufen*. Analog wird die Mutter mit dem Kindesnamen unter Vorsatz von Umm (Mutter) gerufen. Aga: türkischer Titel, Herr. Ain Dschuriya, Khawarat, Karafisb, Hauwa: Dörfer im Norden Syriens. Ashtarot: hier ein Dämonenfürst; eigentl.: Plural der hebräischen Bezeichnung der syro-phönikischen Fruchtbarkeits- und Venussterngöttin Astarte, der als Kollektivbezeichnung für ›heidnische‹ Götter stand. al-Azhar-Moschee: berühmteste Moschee in Kairo; sie ist Kernstück der maßgebendsten islamischen Universität, die gleichzeitig Sitz der einflußreichsten und namhaftesten Theologen des Islam ist. Balqis: altarabischer Name der in Bibel und Koran erwähnten sagenhaften Königin von Saba im heutigen Jemen. Basar: Markt (pers.); das arabische Pendant heißt ›suk‹. Beduine: arabischer Wüstenbewohner; obwohl eigentlich Vorfahre der modernen Araber, wird er heute von der Bevölkerung in Stadt und Dorf verspottet und im Märchen als dumm, gefräßig und gefühlsderb dargestellt, aber auch eine gewisse Schläue ist zu beobachten. Beschneidung: religiöser Ritus der Juden und Moslems, bei dem zumeist im Kleinkindalter den Jungen die Vorhaut und den Mädchen die Klitoris beschnitten wird; die B. ist auch
heute noch Anlaß zu großen Festen. Die ursprüngliche Bedeutung des Rituals ist nicht eindeutig geklärt. Brunnenmutter: eine für Syrien wenig typische Märchengestalt, die nur im Euphrat-Tal der sogenannten Dschasira (Nordostsyrien) nachzuweisen war; der Glaube an Brunnengeister ist nach wie vor stark sowie für den gesamten arabischen Raum typisch. Bund von Brot und Salz: Mit einem Bund von Brot und Salz wurden außerordentlich feste Freundschaften, die an Wahlbruderschaften heranreichten, geschlossen. Darbakka: eine Trommelart, deren Korpus zumeist aus Ton gebrannt oder aus Metall getrieben und am breiten Ende mit einer Ledermembran bezogen wird, am anderen Ende offen ist. Derwisch: Mitglied eines islamischen Bettelordens; Derwische waren nicht selten Anhänger sufitisch-mystischer Lehren. In Nordafrika verbindet sich ihr Name mit ekstatischen Riten und rhythmischen Tänzen, in Ostarabien dagegen galten sie mehr als Geschichtenerzähler und Nachrichtenbeförderer. Dienstmädchen, abessinisches: ähnlich den schwarzen Sklaven, die als Symbol des Schlechten und Unheilvollen ins Märchen eingegangen sind, sind schwarze Dienerinnen Ausdruck der Verschlagenheit, Skrupellosigkeit und Häßlichkeit. Dinar: ursprünglich eine Goldmünze; ein Dinar bestand aus 20 Dirham. Er ist noch heute in manchen arabischen Ländern offizielles Zahlungsmittel, so in Jordanien und im Irak. Dirham: ursprünglich eine Silbermünze, Drachme; 20 Dirham entsprechen einem Dinar. Noch heute ist er Währungseinheit vor allem in arabischen Golfstaaten. Emir: arabisch Fürst, Prinz (als Nachkomme eines Königs oder Sultans), Stammeshäuptling; Befehlshaber.
Ezrael: (auch Izra’il) ist einer der vier großen Engel der Moslems; er trägt den Beinahmen ›Engel des Todes‹. al-Gailani, Abdul Kadir: berühmter mystischer Religionslehrer des Islam aus Bagdad sowie Begründer eines bedeutenden Sufiordens (1077-1166); ihm wird großer Mut, Charakterfestigkeit und moralische Integrität nachgerühmt. In Syrien wird mit al-Gailani auch ein lokaler Religionsscheich in Verbindung gebracht, der dem Volksglauben nach etwa 25 Kilometer südlich von Damaskus begraben liegen soll. al-G. wird noch heute in ›Stoßseufzern‹ angerufen, wenn oft körperlich schwere Arbeiten, Leistungen und Strapazen bevorstehen. Mit seinem Namen sind von der offiziellen Meinung im Islam abgelehnte Kasteiungen verbunden, bei denen sich Gläubige als Zeichen der besonderen Ergebenheit in Allah sogar Metallspieße durch Haut und Fleisch stachen. Ghul, Ghula: oftmals grobschlächtiger, menschenfressender Dämon, der dem Menschen im allgemeinen an einsamen und abgelegenen Orten, in Wüsten, auf Weiden und an Wegesrändern auflauert. Unter Ghulen stellt sich der Araber zumeist alte Weiber (Ghula) und Männer, aber auch Kleinstkinder vor. Sie sind oft recht widersprüchliche Gestalten, die mit bestimmten Spruchformeln besänftigt werden können. Durch Saugen an den Brüsten einer Ghula, aus denen schwarze Milch fließen soll, kann der Mensch in eine Art Adoptivverhältnis treten und sich damit Schutz und Hilfe der Ghula sichern. Die einst recht scharf voneinander abgetrennten Geister und Dämonen verwischen sich in ihren Eigenschaften in den derzeit tradierten Märchen zunehmend. Ein Ghul wird in diesem Sinne zunehmend zur Personifizierung für Geister schlechthin. Granatapfel: zählt zu den Früchten des Paradieses; im Aberglauben knüpfen sich an ihn eine ganze Reihe von
Wunderwirkungen, die unbewußt mit seinem außerordentlich hohen Gehalt an Vitaminen und Mineralstoffen zusammenhängen können. So wird berichtet, daß es mancherorts Brauch sei, kleinen Kindern Granatapfelsaft zu trinken zu geben, weil er »die Herzen mit dem Glauben an Allah erfüllt«. Der Granatapfelbaum war in der Mythologie Babyloniens und Assyriens dem Fruchtbarkeitsgott Tammuz geheiligt. Haar: hat eine ausgesprochene magische Wirkung im arabischen Märchen; vor allem Ghule unter den Geistern sind oft wegen wuchernden Haarwuchses sowie überlanger Augenbrauen und Fingernägel in einem derart bedauernswert verwahrlosten und sogar hilflosen Zustand, daß der Mensch sie mit Haar- und Nagelpflege nicht nur beschwichtigen, sondern zu Helfern machen kann. In anderen Märchen steckt in bestimmten Haarsträhnen die Kraft des Helden. Diese Bilder lassen Parallelen zum alten Mythos von Samson und Dalila zu, was in Märchen von verräterischen Müttern, Frauen und Schwestern erhärtet wird. Hadsch: Pilger, Ehrenanrede nach der Pilgerfahrt der Moslems zum Heiligen Haus, der Kaaba, in Mekka, dessen Geschichte auf den Propheten Abraham zurückgeführt wird; die Pilgerfahrt ist neben dem Glaubensbekenntnis von der Alleinigkeit Allahs, dem fünfmaligen täglichen Gebet, dem Fasten im Monat Ramadan sowie der Almosenspende eine der fünf Grundpflichten des Islam; s. a. Mekka. Holzhauer: symbolisiert in vielen Märchen den Typus des arbeitenden und armen, aber ehrlichen Menschen. Ifrit: Dämon, Erdgeist; sie galten ursprünglich als die ›teuflischsten‹ unter den Geistern. Man stellt sie sich sehr häßlich und widerwärtig vor, die – im Gegensatz zu den meisten anderen Geistern – nur selten dem Menschen zu
Diensten sind. Im Märchen haben sich jedoch die Unterschiede der einzelnen Geister inzwischen weitgehend nivelliert. Imam: Gebetsführer, Vorbeter in der Moschee. Kadi: Richter. Kaffee: Zubereitung und Genuß von Kaffee haben im Märchen oftmals symbolische Bedeutung. Bei den Beduinen ist Kaffeegenuß seit jeher mit einer dem Ansehen und dem Stand des Gastes angemessenen Zeremonie verbunden. Dazu gehört ein feinsinniges Regelwerk, das Kaffee-Statut, nach dem ein großes Spektrum an Stimmungen und Absichten durch Kaffeetrinken ausgedrückt werden kann. Der Genuß von Kaffee war wegen seiner belebenden Wirkung im frühen Mittelalter umstritten und wurde zeitweise mit dem von Wein gleichgesetzt. Kalifen, die vier rechtgeleiteten: Nachfolger (arab.); die Nachfolger des Religionsstifter Mohammed trugen diesen Titel als geistliche und weltliche Herrscher Arabiens. Den Beinamen ›rechtgeleitete Kalifen‹ erhielten die vier ersten Nachfolger Mohammeds: Abu Bakr, Omar, Othman und Ali. Khidr: Die Person des oft in schicksalsentscheidenden Situationen auftretenden Khidr ist nicht eindeutig erklärt. Er, den sich der Volksglaube vorwiegend grün gekleidet vorstellt, wird zu den Propheten gezählt, obwohl er im Koran nicht ausdrücklich erwähnt ist. Die Religionsgeschichte bringt Khidr mit dem babylonischen Fruchtbarkeitsgott Tammuz, mit dem griechischen Adonis sowie dem Koch Alexanders des Großen in Verbindung. Er wird in Syrien noch heute angerufen. Knafa: Süßspeise aus Käse.
König Shahbanar: einer der Herrscher der Unterwelt; als Gestalt war er sonst nicht weiter in gegenwärtig tradierten syrischen Märchen zu finden. Koran: das heilige Buch der Moslems; es wurde der islamischen Überlieferung nach dem Propheten Mohammed als letzter und abschließender Teil der göttlichen Offenbarung für die Menschen kundgetan. Lathakia: größte syrische Hafenstadt. Lira: Währungseinheit, abgeleitet von lat. libra, Pfund; noch heute Währungseinheit in einigen arabischen Ländern, so in Syrien und im Libanon. Eine Lira unterteilt sich gewöhnlich in 100 Piaster (arab. Qirsch, sprachlich verwandt mit Groschen, Kuruzen). Medina: wichtige Stadt der Moslems; in ihr steht die Grabmoschee mit der letzten Ruhestätte des Propheten Mohammed. Ursprünglich hieß der Ort Yatrib, wurde aber nach dem nicht unfreiwilligen Auszug des Propheten aus seiner Heimatstadt Mekka und der Übersiedlung mit großen Teilen seiner Gefolgschaft nach Y. in Medina, arabisch die Stadt (des Islam) umbenannt. Mekka: seit alters ein wichtiger Kult- und Handelsplatz semitischer Stämme und Völker des Raums an der berühmten Weihrauchstraße zwischen dem Jemen und den Hafenstädten am Mittelmeer. M. ist Standort der schon in vorislamischer Zeit verehrten Kaaba mit dem ›Schwarzen Stein‹, einem Meteor. M. ist der Geburtsort des Religionsstifters Mohammed (etwa 570). Von hier nahm der Islam endgültig seinen Siegeszug. M. ist der wichtigste Ort der Moslems, zu dem der Koran eine Pilgerfahrt für den vorschreibt, der sich finanziell und körperlich die strapaziöse Reise leisten kann; s. a. Hadsch. Midan-Viertel: bekanntes Stadtviertel am Südrand von Damaskus; in seiner unmittelbaren Nähe sammelte sich
noch Anfang des 20. Jahrhunderts die Pilgerkarawane, die von Syrien aus nach Mekka aufbrach. Das Quartier ist bis in die Gegenwart als eines der Wohlhabenden ein Begriff. Mossul: Stadt in Nordirak. Muezzin: Gebetsrufer; seine Stimme ruft noch heute vom Minarett der Moschee fünfmal am Tag die Moslems zum Gebet. Mufti: Erteiler von Rechtsgutachten im Islam und damit offizieller Ausleger des islamischen Rechts; ist ein hoher Titel unter den sunnitischen Moslems. In Ländern wie Libanon und Syrien ist der Titel Obermufti mit einem hohen Staatsamt verbunden. Piaster: siehe Lira. Pilgerfahrt: siehe Hadsch. Ramadan: 9. Monat des islamischen Mondkalenders und Name des Fastenmonats der Moslems; am 27. Tag dieses Monats begehen sie die ›Schicksalsnacht‹, in der der Überlieferung nach Mohammed die erste göttliche Offenbarung zuteil geworden ist. Samir al-Ruman: nicht weiter bekannt. Scheich: Alter, angesehener Mann; Oberhaupt eines Stammes, Titel für bedeutende Persönlichkeiten, Lehrer an islamischen Kollegien und Universitäten. Scheich war auch Titel und Anrede für Meister in Zünften und Gilden. Ein Scheich wurde als Vorsteher von Wohnvierteln gewählt, der bestimmte Beurkundungs- und Ordnungsrechte inne hatte sowie Steuern eintrieb. Schlange: können nach noch heute vorherrschenden arabischen Vorstellungen sowohl gut- als auch bösartig sein. In Syrien wird zwischen weißen und schwarzen Reptilien sowie zwischen Weibchen und Männchen unterschieden, die bezeichnenderweise die Gegensätze gut und böse/giftig verkörpern. Gute Schlangen sind oft Wächter von
Behausungen und Schätzen. Vornehmlich gutartige weibliche Dämonen erscheinen in Schlangengestalt. Schwangerschaftsgelüste: den Schwangerschaftsgelüsten wurde im städtischen wie ländlichen Aberglauben große Bedeutung beigemessen. So absonderlich auch der Appetit war, er mußte um der Gesundheit des werdenden Kindes erfüllt werden. War dies dennoch nicht möglich, befürchtete man, daß der Embryo Schaden nehmen würde. So glaubt man, daß ein ungestillter Appetit auf Weinbeeren weinblattartige Leberflecken am Körper des Kindes verursache. Bei anderen Früchten käme es zu formanalogen Mißbildungen. Siebenschläfer: die christliche Legende von den Siebenschläfern wird im Koran (18. Sure) erwähnt. Der Historie zufolge sollen sieben Männer der Christenverfolgung unter Kaiser Decius (249-251) dadurch entgangen sein, indem sie sich in einer Höhle versteckten. Dort versanken sie in Tiefschlaf. Ihnen wird als Begleiter in der Höhle ein Hund namens Kitmir zugeschrieben. Nach dem Koran sollen sie 309 Jahre geschlafen haben. Sitt: vulgärarab. für Dame, Madame; Großmutter. Sklave, schwarzer: im Gegensatz von Weiß und Schwarz wird zumeist der Gegensatz von Gut und Böse ausgedrückt. Schwarz nimmt ebenfalls die Bedeutung von unfrei, aber auch dämonenhaft (Schwarze Kunst) an. Schwarze Sklaven gelten im Märchen als dumm und gefräßig, oft entpuppen sie sich als abstoßende Geister. Suk: Markt (arab.). Träller: typische Form für arabische Frauen, überschwengliche Freude auszudrücken. Dabei schlagen sie in schneller Folge mit der Zunge gegen die Mundwinkel, während sie einen sehr hohen Ton ausstoßen.
Ulailush: doppelte Diminution des männlichen Vornamens Ali. Umm: Mutter (arab.); s. a. Abu. Vollmond: Weibliches Schönheitsideal und Metapher für äußerliche Vollkommenheit bei den Arabern. Wadi: Regenstromtal; bekannt für ihre reißenden und für Mensch wie Tier verhängnisvollen Sturzbäche während der oft überraschend und heftig hereinbrechenden Regengüsse in den Steppen und Wüsten. Wesir: Minister (arab.); im Mittelalter war der Wesir eine Art Premierminister. Wüstenaraber: s. Beduine.