SOMTOW SUCHARITKUL
SYMPHONIE DES SCHRECKENS
V – Die Außerirdischen VII
GOLDMANN VERLAG
Deutsche Erstausgabe Origin...
235 downloads
1329 Views
754KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
SOMTOW SUCHARITKUL
SYMPHONIE DES SCHRECKENS
V – Die Außerirdischen VII
GOLDMANN VERLAG
Deutsche Erstausgabe Originaltitel: Symphony of Terror A Tom Doherty Associates Book, New York Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany • 6/89 • 1. Auflage
© 1988 by Warner Bros. Inc. © der deutschsprachigen Ausgabe 1989 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 23718 Lektorat: Christoph Göhler Redaktion: Gundel Ruschill Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23718-1
Die Visitors haben eine neue Technologie entwickelt, mit deren Hilfe sie sich die Erde endgültig Untertan machen können. Niemand weiß von diesem Durchbruch – nur Matt Jones. Er muß dem Widerstand um jeden Preis seine Informationen zukommen lassen. Die Visitors versuchen ihn mit allen Mitteln daran zu hindern und Matt kann niemandem vertrauen, denn viele, die ihm auf seiner Reise quer durch die USA begegnen, verfolgen ihre eigenen Ziele. Doch die Visitors wissen nicht, daß sie es bei Matt Jones mit einem ganz besonderen Menschen zu tun haben: einem kampferprobten Ninja, der seine Feinde auf hundert verschiedene Weisen ausschalten kann.
Ich widme dieses Buch Maestro Fleary und den Kindern, die in Star Maker mitgewirkt haben. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Ihre Bereitschaft, sich auf unheimliche Dinge einzulassen. Mein Dank gilt auch den Cappettas, die alle meine Bücher fotokopierten, und Walter Miles, dem »spitting image«.
PROLOG: Der Schwertmeister
Osaka, Japan: wenige Monate bevor die Visitors Teile der Erde zurückeroberten. In der Ferne brannte der Himmel. Starke Lichtstrahlen bohrten sich durch die Nacht. Geblendet von der Helligkeit, fuhr Professor Karl Schwabauer mit dem Toyota fast gegen eine Mauer. Setsuko, seine Begleiterin, schrie auf. »Wir müssen sie retten!« stöhnte Schwabauer, während sie mit dem orangefarbenen und zur Tarnung mit den Insignien der Visitors versehenen Wagen durch die engen Straßen einer ländlich anmutenden japanischen Stadt fuhren, zehn Kilometer entfernt von Schloß Osaka, bekannt als Kontrollzentrum Lady Murasakis, des Visitors, der widerrechtlich das Kommando über den fernöstlichen Sektor des Reptilienimperiums an sich gerissen hatte. Vor 24 Stunden erst hatten Schwabauer und Setsuko, eine ehemalige Geisha und heutige Biochemikerin, beobachtet, wie sich ihre Freunde aus Amerika, Matt und Tomoko Jones, zusammen mit ihrem Adoptivsohn CB und dem mysteriösen Schwertmeister Kenzo Sugihara startklar gemacht hatten für eine kaum zu bewältigende, aussichtslos erscheinende Mission – die endgültige Vernichtung der schrecklichen, menschenfressenden Lizards. Seit er sie hatte aufsteigen sehen, war der Professor in innerem Aufruhr. Er sah sie noch vor sich in ihren dermoplastischen Lizardmasken, die Setsuko in ihrem Labor entwickelt hatte und mit denen sie sich unerkannt unter den Außerirdischen bewegen konnten. Setsuko, die in ihrem Labor mit dem Roten Staub experimentiert hatte, war einem Geheimnis auf die Spur
gekommen, das vielleicht die Rückkehr aller saurischen Eroberer von der dunklen Seite des Mondes ermöglichen würde… und damit würde auch die gerade neugewonnene Freiheit der Menschheit für immer verloren sein. Wie hoffnungslos erschien auf einmal das Überleben der menschlichen Rasse! Aber er durfte nicht aufgeben. Dort waren seine Freunde. Er schuldete ihnen viel. »Wahrscheinlich kommen wir viel zu spät. Und ein Held bin ich nun auch nicht gerade. Aber ich muß es einfach versuchen, ich muß!« »Ja, ja… gib auf die Bauern dort acht.« Der Wagen fuhr an einer Böschung entlang. Ein heißer Wind fegte durch die geöffneten Fenster, versengend, erstickend. Ein Kind wich schreiend dem Wagen aus. »Da ist das Schloß«, sagte Schwabauer und fuhr langsamer. Sie hielten und stiegen aus. »Da, dort vorn!« schrie Setsuko und rannte los, ihr eilig übergeworfener Kimono flatterte im Wind, und ihre Holzschuhe klapperten auf dem Pflaster der holprigen Straße. Er schaute auf. Tränen stiegen ihm in die Augen. »Es ist gelungen… Schloß Osaka brennt.« Ein Erfolg! Meinte er. Professor Schwabauer war alt genug, sich an den Zweiten Weltkrieg zu erinnern; mit Schrecken dachte er an die Bombardierung Dresdens, als die herrlichsten Gebäude einer großen Kultur dem grausamen Diktat des Krieges zum Opfer gefallen waren. Warum bauen die Menschen solch herrliche Dinge, wenn sie sie dann doch nur wieder zerstören, überlegte er. »Sie sind tot«, flüsterte er. »Alle unsere Freunde. Sie müssen tot sein.« Vor den fernen Bergen zeichnete sich eine Feuerpagode ab; zum sternenklaren Nachthimmel stieg eine tödliche Atompilzwolke auf. »Ihr Reaktor muß hochgegangen sein«, meinte Setsuko, als er sie eingeholt hatte. Sie standen
nebeneinander, der alternde Anthropologieprofessor, der aufgebrochen war, die Kultur der Außerirdischen zu studieren, und die schöne, undurchdringlich wirkende Frau, die eine vielversprechende Karriere als Wissenschaftlerin in Amerika aufgegeben hatte, um die Geliebte eines Schwertmeisters zu werden. »Ich kann nicht glauben, daß sie tot sind.« »Ein bitterer Sieg«, sagte Schwabauer sanft, den Kopf in den Händen wiegend. »Werden sie denn nie dazulernen? Sie sind uns achthundert Jahre voraus, diese Reptilien, in Technologie und Wissenschaft… aber was Mitgefühl betrifft, befinden sie sich noch in der Steinzeit. Oh, Setsuko, ich bin so wütend, ich könnte mich umbringen!« »Nein, Professor Schwabauer«, zärtlich streichelte Setsuko seine Hand. Er war dankbar für diese kleine menschliche Geste. Aber plötzlich zog sie ihre Hand weg und deutete aufgeregt in eine Richtung. »Was ist los?« rief er. »Am Himmel – über uns – schauen Sie!« Er legte den Kopf zurück. Seine Augen brannten von der Hitze und Helligkeit der Explosion, und am liebsten hätte er sie fest zugekniffen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen, aber er zwang sich, durch den Tränenschleier zu schauen – was war das für ein winziges schwarzes Objekt, dessen Silhouette sich von den Flammen abhob und das sich wie ein Pfeil auf die Sterne zubewegte? »Sie sind entkommen!« schrie er zornig. »Wir haben uns geirrt. Es ist eine Kampffähre. Murasaki muß es gelungen sein, sie startklar zu kriegen, bevor der Reaktor hochging.« »Nein. Es muß etwas anderes sein! Schauen Sie da, aus dem Schloß, auf den Treppen, am Berghang – Menschen wie Ameisenströme… sie sind befreit worden!« Schwabauer sah es jetzt auch. Aber er konnte es nicht glauben. Sein Herz war in Aufruhr. »Ich habe soviel Leid
gesehen. Ich erlebte als Kind die Nazischrecken; und als Erwachsener bei meinen Stammesforschungen in Südostasien sah ich noch mehr Kriege und noch mehr Schrecken. Und nun kommt das Grauen vom Himmel, aus dem Weltall, auf das alle Hoffnungen und Erwartungen der Menschen gerichtet waren! Ich kann nicht mehr an Freiheit glauben.« »Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben«, sagte Setsuko. Aber er konnte die Besorgnis erkennen, die sich hinter ihrem immerwährenden Lächeln verbarg. Die Japaner lächeln, wenn sie schlechte Nachrichten erhalten, für sie gehört es sich einfach nicht, die eigene Angst auf den anderen zu übertragen. Was für sonderbare Menschen. Da stand sie, diese Frau, die aller Wahrscheinlichkeit nach ihren Liebsten verloren hatte. Dennoch versuchte sie Haltung zu wahren und schien trotz allem nicht verwirrt zu sein. Plötzlich sah Schwabauer eine weitere Kampffähre aus den Flammen emporsteigen… und dann noch eine! »Sie haben noch mehr. Wir haben überhaupt nichts erreicht – « »Nein!« rief Setsuko, »sehen Sie doch, sie kämpfen!« Es stimmte. Blaue Laserstrahlen durchzuckten den Nachthimmel. In hohen Lichtbögen schossen die Kampffähren in den Himmel hinauf, wilde Loopings drehend, während sie versuchten, den Geschossen des Gegners auszuweichen. »Ich kann nicht ausmachen, welche auf wessen Seite kämpft«, brüllte Schwabauer. Plötzlich erscholl ein ohrenbetäubendes Geschrei. Es kam von der Menschenmenge, die jetzt die engen Straßen hinunter und durch die Reisfelder lief. Viele trugen martialisch wirkende Kampfuniformen in ungewöhnlicher und schrecklicher Vielfalt, orangefarbene, leuchtende Stirnbänder und Tuniken mit dem unheilvollen Emblem der Visitors. Aber sie hatten nicht diesen leeren Blick der Konvertierten. Alle schrien durcheinander. Gleich würden sie den Platz erreicht haben, wo er und Setsuko standen. Was für Shuttles waren es
nun dort oben? Eine gewaltige Explosion erfüllte den Himmel. Er sah, wie die Menge verhielt und zum Himmel hochschaute. »Einer von ihnen hat zwei andere abgeschossen!« sagte Setsuko. »Das können nur unsere Leute sein! Es muß ihnen gelungen sein, eine der feindlichen Kampffähren zu erbeuten!« Konnte das möglich sein? Schwabauer wagte kaum daran zu glauben, daß es seinen Freunden doch noch gelungen war, davonzukommen. Aber was konnte es sonst sein? Sie waren zu viert gewesen, gegen eine ganze Schloßbesatzung. Plötzlich zerbarst einer der Angreifer. Leuchtende Metallstücke schossen in den Himmel, wie ein Meteoritenschwarm. Die Menge schrie auf und begann zu jubeln. »Ich hatte Recht!« rief Setsuko. »Eins zu null für die Menschen!« In seiner Aufregung umarmte der Professor die Frau, und ihr angenehmer Duft stieg ihm in die Nase und vertrieb für einen Moment den grauenhaften Gestank von brennendem Holz und Fleisch, der über dem Schloß lag. Die beiden Kampfshuttles umkreisten einander wie kämpfende Vögel. Lange verharrten sie abwartend, schwebend, sich der Schwerkraft widersetzend, unbeweglich vor dem Sternenhimmel. Dann – Eines der Kampfschiffe – welches nur…? Lieber Gott, hoffte er, laß es ihres sein – wurde plötzlich von einem blauen Energiestrahl getroffen. Nach einer erneuten Attacke verharrte es regungslos… und dann stürzte es hinab in das Inferno unter ihm. Ein ohrenbetäubender Knallerfüllte die Luft, als es auseinanderplatzte. Feuer floß über die Treppenstufen und züngelte an den hölzernen Balustraden hoch, die das ganze Schloß umgaben. Die Hitze war unerträglich, und sein Schweiß vermischte sich mit seinen Tränen. Die übriggebliebene Fähre wechselte die Richtung. Sie nahm an Geschwindigkeit zu, ein schwaches Geräusch wie ein fernes Trommeln war zu hören, und man sah sie über den
hellerleuchteten Mond davonschweben, einen Kometenschweif hinter sich bildend. Trotz des Terrors und Blutvergießens war Schwabauer von der überwältigenden, so geheimnisvollen Schönheit dieses Anblicks gefesselt. Impulsiv ergriff er Setsukos Hand. Sie war warm und weich. »Es war unser Kampfschiff«, flüsterte er. »Ich… ich weiß es nicht genau. Aber ich wage… wage, es zu hoffen. Ich muß einfach!« sagte sie hastig. »Wenn wir die Hoffnung aufgeben, werden sie auch uns angreifen, und wir werden sterben müssen.« »Sie sind entkommen«, wiederholte er fast grimmig. Früher einmal hatte er einen Glauben gehabt. Aber das lag lange zurück. Damals war er noch ein Kind gewesen, vor dem ersten der drei langen und schrecklichen Kriege, die er miterlebt hatte. Seinen Glauben verlor er, als die Kathedrale seiner Heimatstadt im Namen der Gerechtigkeit durch Bomben zerstört wurde. Darum war er auch Anthropologe geworden; er entwickelte ein schier unersättliches Verlangen, alles über das Wesen des Menschen in Erfahrung zu bringen, vor allem, was es war, daß sie dazu veranlaßte, einander solche grauenhaften Dinge anzutun. »Sie sind entkommen!« Er wiederholte diesen Satz immer wieder, wie eine Litanei; auch damals, als Junge, hatte ihn diese Litanei glücklich gemacht. »Ja. Sie waren es. Man kann es an der Reaktion der Menge merken«, sagte Setsuko. »Damals… in der Kathedrale von Dresden… Ich war Chorknabe. Wußtest du das? Ich glaubte so inbrünstig – « »Hören Sie mir zu, Karl! Sie waren es, sie sind entkommen!« Der Ton ihrer Stimme holte ihn aus seinem tranceähnlichen Zustand. Die Menge war jetzt näher gekommen. Er hörte das Getrampel ihrer Füße. Sie sangen. Es war ein gewaltiges, elementares Getöse, wie ein Taifun oder ein Vulkanausbruch.
»Sehen Sie doch!« schrie plötzlich Setsuko. Er sah ihre Mundbewegung, konnte sie aber durch den Gesang nicht verstehen. »Wir müssen gehen«, sagte er. Nach der Anspannung fühlte er sich jetzt in guter Stimmung. Nun war er ruhig. »Wir müssen zum Schloß fahren. Vielleicht hat es einer unserer Freunde nicht geschafft, wegzukommen, oder jemand braucht unsere Hilfe. Komm, Setsuko.« Sie gingen zum Wagen zurück. Auch bei dicht geschlossenen Fenstern konnten sie einander kaum verstehen. Setsuko begann vom Rücksitz die Ausrüstungsgegenstände zusammenzusuchen: ein Erste-Hilfe-Kasten, zwei Gewehre, eine Oxygenmaske, die in einem kleinen Behälter das Überlebensgas enthielt, und eine gummiartige, zerknitterte Decke aus einem durchsichtigen Material, die sorgfältig gefaltet war. »Was ist das?« fragte Schwabauer, als sie auf die Straße zurückfuhren. »Das ist eine der Thermaldruckhüllen, die die Lizards benutzen, um sich vor dem Roten Staub zu schützen. Verstehen Sie? Es heißt, Fieh Chan, der brillante und grausame Kommandeur, soll sie entwickelt haben. Ich habe damit experimentiert.« »Warum hast du sie mitgenommen?« »Ach, nur so. Vielleicht eine Vorahnung, Professor«, antwortete sie ruhig.
»Halten Sie an!« rief Setsuko, als sie sich dem brennenden Schloß auf dem Berg immer mehr näherten. »Irgend etwas stimmt da nicht. Schauen Sie, dort oben bei dem Tempel.« Sie hielten mit quietschenden Bremsen.
Im Licht des Mondes und der Feuer des zerstörten Schlosses Osaka sah Schwabauer eine niedrige Tempelmauer und dahinter die Spitzen einen Shinto-Schreins. Die Menge wälzte sich gegen das Eingangstor, um hineinzugelangen. Ein einzelner Mönch stellte sich ihr entgegen. »Was haben sie vor?« überlegte Schwabauer. »Sie wollen Blut sehen.« Sie stiegen aus dem Wagen und versuchten, durch die Menschenmenge hindurchzukommen. »Was ist denn los?« schrie er. Aber niemand beachtete ihn, so wild entschlossen waren sie, in den Tempel einzudringen. Plötzlich deuteten alle auf das Dach des Tempels, ein Schrei stieg auf: »Bijitaa da! Bijitaa da!« Jetzt wußte er, was sie meinten. Bijitaa war das japanische Wort für Visitor, das schrecklichste Wort, das er kannte. Setsukos Hand fassend, versuchte Schwabauer, sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge zu bahnen. Irgendwo weinte ein Kind. Eine Frau stieß schrille Flüche aus, die Fäuste in Richtung Dach erhoben. »Um Gottes willen, lassen Sie uns durch!« schrie Schwabauer. Noch nie in seinem Leben hatte er einen solchen Mob erlebt… Außer einmal, damals, als er noch ein Kind war, und seine Eltern in einer Nacht sich einer Meute anschlossen, die den jüdischen Teil seiner Heimatstadt dem Erdboden gleichmachen wollte. Er versuchte, diese schrecklichen Bilder aus seinen Gedanken zu verdrängen. Ich bin jetzt Amerikaner. »Was kann da oben sein?« Setsuko schrie auf: »Es ist Sugihara! Der Schwertmeister!« Er schaute zum Dach hinauf. Da war er… er lief über das Dach, sein Samurai-Gewand aus dem 16. Jahrhundert glitzerte, das Licht spiegelte sich im Schwert – sein Gesicht, das Gesicht eines Reptils! »Sie denken, er ist ein Lizard, wegen unserer Tarnmasken. Wir müssen ihn erreichen, bevor sie ihn lynchen«, sagte sie. »Wie willst du das schaffen?«
»Der Wagen. Wir durchbrechen die Mauer. Kommen Sie, es ist nur Holz.« Sie drängten sich zurück durch die Menge, gegen die Flut von Armen und Beinen ankämpfend, bis sie schließlich ihren getarnten Wagen erreicht hatten. Jemand hatte die Frontscheibe mit einem Stein zertrümmert. »Sie halten uns auch für Lizards, wegen des Wagens«, vermutete er. »Wir müssen uns beeilen!« Sie sprangen hinein, Glassplitter zerschnitten sein Gesicht, und seine Hose wurde aufgeschlitzt. Wie konnte Setsuko noch in einem solchen Moment so elegant aussehen? dachte er kurz, als ihr Gesicht im Mondlicht aufleuchtete. Winzige Blutstropfen rannen ihre schneeweißen Wangen herab wie Weintropfen an einem Porzellankelch. Er startete das Auto, wendete und hielt direkt auf die Tempelmauer zu – er gab noch mal kräftig Gas! Die Menschen rannten schreiend auseinander. Sie durchbrachen die Mauer. Holz- und Putzteile flogen durch die Luft. Sie wurden mit Splittern übersät. »Da!« rief Setsuko. »Dort drüben!« Sie konnten Sugihara jetzt über ein Sims kriechen sehen. Ein Stein flog, prallte am Katana des Schwertmeisters ab und fiel polternd die Dachschräge hinunter. »Dort. Ein Abflußrohr«, sie zeigte in die Richtung. Auch er sah es. Es hob sich schimmernd gegen das dunkle Holz ab. »Er ist sehr schwach… er sieht aus, als ob er nicht mehr lange durchhält!« sagte sie besorgt. Auf der anderen Seite der Mauer tobte die Menschenmenge. »Wir müssen uns beeilen«, meinte Schwabauer. Sie fuhren in Richtung Abflußrohr. »Sie haben gerade einen der berühmtesten japanischen Steingärten zerstört«, flüsterte Setsuko, als der Wagen über Splitter schlidderte und Steine über den Hof des Tempels flogen. Also bin auch ich wie jene, die Feuer in die jüdischen Nachbarhäusern legten, die die Kathedrale zerbombten – wie
alle Menschen – ein Zerstörer! dachte er, und er haßte sich selbst. Dann sah er Kenzo Sugihara, der versuchte zu ihnen hinunter zu klettern. Auf halbem Wege rutschte er aus und verlor den Halt. »Er ist sehr schwach«, sagte Schwabauer. »Er wird sterben.« Sie rannten dorthin, wo er lag. Mondlicht fiel auf sein Gesicht. – Was war mit seinem Gesicht – »Das ist nicht eine unserer Masken«, flüsterte Setsuko. »Er ist ein echter Alien!« »Ja… helft mir… ich bin nicht euer Feind…«, sagte der Alien. Er schien am Roten Staub zu sterben, langsam und qualvoll. »Die Explosion hat mich in ein Feld neben dem Tempel geschleudert… Ich versichere euch, daß ich Kenzo Sugihara bin… meine Thermaldruckmaske hat sich noch nicht ganz gelöst, weil ich früh genug weggeschleudert wurde, bevor das Enzym auf sie einwirken konnte… Aber ich bin so geschwächt… ich… sterbe.« »Es ist Kenzo«, sagte Setsuko. »Ich war seine Geliebte. Ich erkenne ihn, auch in der Gestalt eines Reptils.« »Wie meinst du das?« fragte Schwabauer erstaunt. »Ich meine«, antwortete sie, die Druckhülle aus dem Auto ziehend und über den verletzten Saurier legend, so daß sie mit seinem Körper verschmolz, »daß ich schon immer wußte, wer der Alien, der mysteriöse Schwertmeister, der euch Amerikanern half, wirklich ist. Ich weiß auch, daß er Fieh Chan war – « »Der Kommandeur der Lizards!« rief der Professor ungläubig. »… ein Eingeweihter des pre-ta-na-ma, ein Wesen, hin- und hergerissen zwischen zwei Welten und zwei Identitäten. Wir müssen ihn retten.« »Willst du damit sagen, daß Kenzo Sugihara, der Schwertmeister, der das Leben der Amerikaner immer wieder
rettete, auch der Kommandeur der Ostsektion der Lizard-Flotte ist?« Schwabauer schüttelte traurig den Kopf. »Das ist schwer zu glauben.« »Hilf mir, ihn zu retten.« Gemeinsam hoben sie den Körper hoch und legten ihn auf den Rücksitz des Wagens. Sugihara bewegte sich. »Tomoko… Matt… leben sie?« flüsterte er. »Ich glaube, sie konnten mit der Fähre entkommen«, versuchte Schwabauer ihn zu beruhigen. Konnte er wirklich eines dieser grausamen Wesen sein, wenn er doch offensichtlich so besorgt war um das Leben der Widerstandskämpfer. »Schnell«, sagte Setsuko. »Wir müssen fliehen. Oder sie merken, daß er bei uns ist!« »Sollten wir ihn nicht besser töten?« fragte Schwabauer. Doch noch während er das sagte, wurde ihm bewußt, wie sinnlos es war, zu töten. Wäre er dann nicht ein genauso gnadenloser Schlächter wie alle jenen in den vielen Kriegen, die er erlebt hatte. Er startete den Wagen. »Bist du sicher, daß er auf unserer Seite ist?« »So sicher, wie ein Mensch nur sein kann«, antwortete sie ernst. »Du liebst ihn!« »Ja«, sagte sie herausfordernd. »Ist das falsch? Nein. Ich werde sein Geheimnis bewahren. Ich mußte ihm damit beweisen, daß ich ihm vertraue. Bitte, Professor, lassen Sie uns jetzt aufbrechen!« Die Menge versuchte jetzt, sich durch die geborstene Tempelmauer hindurchzudrängen. Wenn sie es jetzt nicht schafften, würden sie alle sterben. Er gab Gas, und sie rasten in wilden Kurven durch das Tempelgelände, um einen anderen Torausgang zu finden. Endlich fanden sie sich auf einer Straße
wieder. Einige aus der Menge versuchten sich am Wagen festzuklammern und ihn dadurch aufzuhalten. »Tod dem Visitor!« schrien sie mit heiseren, furchterregenden Stimmen. Schneller, schneller, dachte Schwabauer, als sie davonrasten. Der Tachometerzeiger stieg von 120 auf 160. Die Straße war schmal, aber das Mondlicht und das brennende Schloß hinter ihnen beleuchteten sie so, daß sie sich wie ein silberner Faden in die dunkle Nacht wob. »Die sind wir los«, ließ sich Schwabauer schließlich vernehmen, als sie die Autobahn erreicht hatten, die sie zurück ins sichere Tokio führen würde. »Und jetzt erzähl mir bitte, was hier eigentlich vor sich geht.«
»Er kommt zu sich«, rief Setsuko, als sie schon ungefähr eine Stunde gefahren waren. »Ich möchte eine Erklärung«, sagte er. Der Mond stand hoch. Sie fuhren durch alte malerische Städtchen, und in den Bergen konnte man Reisfelderterrassen erkennen. Er schaute in den Rückspiegel und sah, daß sich der Lizard aufgerichtet hatte. Seine Augen glühten wie Topase. Das war das eigentliche Alienhafte an diesen Wesen: Man konnte nichts in ihren Augen lesen. »Ich werde es euch erzählen«, sagte der Lizard, der beides war, sowohl Kenzo Sugihara als auch Fieh Chan, der gefürchtete Saurier-Kommandeur. »Aber zuerst sollt ihr wissen, daß die Mission ein Erfolg war. Alle Führer der Ostsektion braten in den Trümmern dort, Opfer ihrer eigenen Gier nach Macht. Aber was die Widerstandskämpfer betrifft, so weiß auch ich nicht, was aus ihnen geworden ist.« »Wie ich euch schon sagte«, meinte Schwabauer, »ich denke, sie sind in Sicherheit.« Sie schwiegen eine Zeitlang, fuhren über eine Brücke und sahen einen schlafenden Fischer in
seinem Boot. Ein spitzer Strohhut bedeckte sein Gesicht. Unten im Tal waren Dächer zu erkennen, deren Ziegel wie die Schuppen eines Drachen schimmerten. Setsuko sagte: »Ich wußte immer, daß er ein Alien ist: der Edelste aller aus der Fünften Kolonne, einer der wenigen, die die Spitze der Alien-Hierarchie erreichten.« »Meine beiden früheren Identitäten sind jetzt verloren«, sagte der Alien traurig. »Und ich habe für uns alle schlechte Nachrichten«, meinte Setsuko. »Ich habe einige Analysen am Roten Staub durchgeführt und dabei entdeckt, daß er nicht so wirkungsvoll ist, wie wir annahmen. Wenn es kalt wird, fallen die Mikroorganismen, die ihm seine toxischen Kräfte geben, in Winterschlaf; sie regenerieren sich und werden sehr kräftig, was im wärmeren Klima nicht passiert. Und dann – werden sie zurückkehren!« »Wird es denn nie aufhören«, seufzte Schwabauer. »Es muß etwas geschehen«, meinte der AlienSchwertmeister. »Ich bin überzeugt davon, daß sie Amerika wählen werden, zum einen wegen der hochentwickelten Technologie, und zum anderen gibt es dort riesige Gebiete, in denen es nie Winter wird, und dort werden sie ihre Basisstationen errichten. Sobald ich mich von dieser Krankheit, die der Rote Staub in mir hervorgerufen hat, erholt habe, werde ich dorthin zurückkehren. Ich möchte meine Freunde wiedersehen, die sie erst zu Konvertierten gemacht haben – und, wie fürchterlich, dann zu ihren Nahrungsmitteln! Obwohl ich selbst ein Reptil bin, schäme ich mich der scheußlichen Verbrechen der Führer meines Planeten. Das ist gegen die Lehre des pre-ta-na-ma, des Heiligsten unseres Glaubens. Ja, sie versuchen diese alte, starke Religion zu verbieten. Aber sie lebt weiter. Ich bin tief betrübt, meine Freunde. Wollt ihr mit mir nach Amerika kommen? Wollt ihr
helfen, die Erde von diesen furchtbaren Eroberern zu befreien?« »Du weißt«, sagte Setsuko, »daß ich immer mit dir gehen werde. Außerdem werde ich so meine Forschungsergebnisse über die Biochemie der Außerirdischen mit denen anderer Wissenschaftler vergleichen können. Vielleicht finden wir etwas Neues.« »Wie kann ich dir vertrauen?« fragte Schwabauer. »Ich vertraue so schnell keinem… und du bist noch nicht einmal ein menschliches Wesen.« »Aber Sie haben mir in der Vergangenheit vertraut«, antwortete der Alien-Schwertmeister, »bevor Sie mein wahres Gesicht sahen. Sagt der Unterscheid zwischen Schuppen oder Fell etwas aus über den Zustand unserer Herzen? Glauben Sie mir, Professor, so wie es Setsuko schon immer getan hat. Ich kämpfe nicht gegen die Menschen: Ich bekämpfe nur das Böse, auf Ihrem Planeten wie auf meinem.« Schwabauer war bewegt von den Worten des Schwertmeisters. Schon so lange sehnte er sich nach einer wahren Bruderschaft zwischen Außerirdischen und Menschen; aber die grausame Realität, die er überall vorfand, sah anders aus. »Du bist gut«, sagte er weich. »In allen Wesen des Universums«, sagte der Schwertmeister, »existiert etwas Gutes.« »Nach allem, was passiert ist – nach dieser schrecklichen Invasion, der skrupellosen Ausrottung einer empfindenden Rasse nach der anderen – kannst du immer noch daran glauben?« fragte Schwabauer erstaunt. »Ja, das tue ich.« »Dann werde ich mit dir kommen… ich muß es tun.« Er dachte an die Widerstandskämpfer, die gegen die Außerirdischen hier in Japan gekämpft hatten: Tomoko Jones, die halbjapanische Anthropologin, die er selbst unterrichtet
hatte und die sich ihrer Identität so unsicher war; Matt, ihr Mann, der stolze Ninjitsu-Experte, bei dem dieser Konflikt ein nie gekanntes Zärtlichkeitsgefühl ausgelöst hatte; Christopher Baer, der Junge, der alles verloren hatte – und neue Eltern und neue Hoffnung gewann; und Sugihara selbst, eine mitfühlende Seele in einem Nest seelenloser Killer. Wie hatten sie sich alle verändert durch diese schrecklichen Erfahrungen – Amerikaner der Mittelklasse, verwandelt in Helden. Mußten Menschen so viel Leiden ertragen, um zu lernen, über sich hinauszuwachsen? »Ja«, sagte er sanft. »Wir werden nach Amerika zurückkehren. Sollten sie zurückkommen, dann werden wir bereit sein.« Und er dachte an die Besatzung der Kampffähre, die sich aus der Hölle des Osaka-Schlosses hatte befreien können… und Hoffnung erfüllte nun sein Herz. Er wußte auch, daß es, bedingt durch den Zusammenbruch aller Kommunikationsstellen, lange dauern würde, bis sie Amerika erreichen und er seine geliebten Freunde wiedersehen würde. Aber er würde sie wiedersehen, das schwor er sich. Und sie alle würden vereint gegen die dunklen Kräfte des Universums kämpfen.
Teil 1 Diana die Jägerin
Kapitel 1 Orange County, Kalifornien: ein Jahr später.
»Gib mir noch Nägel«, schrie Matt Jones Tomoko zu. Sie kletterte die Leiter hinauf und sah ihm zu, wie er ein neues Brett über dem Haupttor befestigte, dem Eingang zu dem, was einst das Matt-Jones-Institut für Kampfsport gewesen war, die Hauptattraktion des zerfallenden Haataja-Shoppingcenters. Sie legte ihm eine Handvoll Nägel in die ausgestreckte Hand. »Ich kann nicht glauben, daß wir wirklich fortgehen«, meinte sie. Bang, bang, bang. »Was?« schrie er. »Ich sagte, ich kann es kaum glauben, daß wir weggehen werden!« »Wir müssen weg. Schon CB zuliebe.« Er unterbrach einen Moment das Hämmern. Die warme kalifornische Sonne schien auf beide herab. Auf der halben Leiter stehend, beobachtete sie den dreizehnjährigen Chris Baer (mit Spitznamen CB), ihren Adoptivsohn, der einen Umzugskarton voller Kleidung auf die Ladefläche des Chevy-Lieferwagens schob. Matt meinte weiterhämmernd: »Seit Nathan Bales Tod sind die Überfälle unerträglich geworden. Ich möchte nicht, daß unser Kind in einer solchen Welt aufwächst, Tomoko, und ich bin es leid, gegen diese gottverdammten Lizards zu kämpfen. Letztes Jahr haben wir sie bis in ihr Basislager nach Japan verfolgt, wir haben sie ausgeräuchert und vertrieben… und heute sind sie wieder da, mächtiger als je zuvor. Ich halte es nicht mehr aus. Wir müssen versuchen, in einen der freien Staaten hineinzukommen – und selbst wenn allein der Versuch schon
unseren Tod bedeuten sollte. Und auch, wenn wir nur für ein paar Tage frei sein werden.« Tomoko schauderte, sie wußte, wie gefährlich diese Reise werden würde. Irgendwo im Osten, sagten die Leute, gäbe es einen losen Zusammenschluß mehrerer Staaten, die frei sein sollten von den verfluchten Außerirdischen. Ihre harten Winter ließen den Roten Staub jedes Jahr stärker werden, und für einen Visitor bedeutete es den Tod, dorthin zu gehen. Zunächst hatten sie geplant, in die Staaten Washington oder Idaho zu gehen; aber die Nordgrenze war zu stark bewacht. Sie würden zunächst nach Osten und dann in den Norden fliehen müssen und versuchen, den Visitors in den endlosen Wüsten zu entkommen, um dann die Appalachen zu erreichen. Den Lieferwagen hatten sie als Visitorwagen getarnt. Mitglieder der örtlichen Widerstandsbewegung hatten ihnen drei Visitoruniformen beschafft, aus dem Kampfshuttle, das sie und Matt gekapert hatten und mit dem sie nach Los Angeles zurückgekehrt waren. Die Fähre war nicht mehr einsatzfähig, verschiedene Teile waren zerstört, und die Techniker der Widerstandsbewegung konnten keine Ersatzteile auftreiben. Aber wenigstens hatten sie die drei Uniformen, und sie hatten Dermoplastmasken, jene imitierten Sauriergesichter, die sie getragen hatten, als sie ins Schloß Osaka eingedrungen waren, damals, vor einem Jahr. Gerade in diesem Augenblick legte CB sie in den Lieferwagen. Matt war fertig damit, das Institut mit Brettern zu vernageln, und beide kletterten die Leiter hinunter. »Ist alles verpackt?« rief er CB zu. »Nur noch ein paar Kartons«, sagte dieser und kam zu ihnen herüber. »In 15 Minuten kann’s losgehen. Ich bin ganz schön geschafft.« Er ist gewachsen in diesem letzten Jahr, dachte Tomoko. Schon fängt er an, nur noch Mädchen im Kopf zu haben. Matt
hat ganz recht. Wir können ihn nicht in dieser Hölle aufwachsen lassen. »Bist du traurig, hier wegzumüssen?« fragte sie ihn. »Überhaupt nicht«, antwortete er, während er lässig mit einer Hand sein gepflegtes blondes Haar zurückstrich und mit der anderen sorgfältig seine Neonpink-Krawatte zurechtrückte. Zuerst war sie etwas beunruhigt gewesen über CBs NewWave-Begeisterung, doch sie erkannte schnell, daß es eine harmlose Masche war. »Fahren wir wirklich bis nach Washington, D.C.?« »Wenn wir es schaffen«, meinte Matt etwas besorgt. Er ging hinüber zum Lieferwagen, und mit einem kleinen Gefäß voll schwarzer Emaillefarbe begann er vorsichtig das VisitorZeichen, das an der Tür aufgemalt war, zu erneuern. Die Visitors hatten nie altaussehende Dinge. Sie hatten keine alten Karren oder Benzinschlucker, bei ihnen war alles so verdammt sauber. »Bist du nicht etwas zu vorsichtig?« fragte ihn Tomoko, während sie ihm zusah. »Ich bin mir sicher, daß sie sofort merken würden, daß das Zeichen etwas verblaßt ist.« »Genau«, meinte CB. »Diese Lizards sind richtige Pedanten.« Aus dem Chinarestaurant gegenüber am Platz kam ein alter, kahlköpfiger Mann herübergeschlendert, einige braune Tüten schwenkend. »Sam«, fragte Tomoko. »Was willst du mit dem ganzen Zeug?« »Ihr braucht was zu essen«, meinte er. »Geht ihr für immer weg? Ich hab’ großartiges Essen für euch: … in dieser Tüte sind zwei Peking-Enten. Ich hab’ aus Versehen zu viele gemacht. Für euch, Tomoko, Matt, CB. Theresa meint, sie ist zu traurig, um auf Wiedersehen zu sagen.«
Tomoko sah das Gesicht von Sams Frau im Fenster von Po Sams Restaurant. Plötzlich wollte sie nicht mehr weg. »Hier sind unsere Freunde«, sagte sie schluchzend. »Eines Tages werden wir uns wiedersehen«, meinte Sam. Er verstaute die Tüten hinten im Lieferwagen. Tomoko konnte das Aroma von Sams exotischen Gerichten riechen. Sie wußte, daß er nicht aus Versehen zwei Peking-Enten zuviel gemacht hatte. »Ja, wir werden uns wiedersehen«, sagte sie schließlich, unfähig ihm in die Augen zu schauen. »He Matt, Tomoko!« schrie CB plötzlich. »Da kommt jemand.« Ein Wagen fuhr auf den Platz; ein seltenes Ereignis, da kaum noch jemand das Shoppingcenter besuchte; und Matt hatte vor einigen Wochen das Schließen des Instituts bekanntgegeben. »Mein Gott«, sagte Matt. »Es ist Julie Parrish. Was sie nur will?«
Matt beobachtete Julie, wie sie näher kam. Sam ging zurück in das schmutzige Restaurant, in dem damals Matt und die anderen begonnen hatten, ihren Überfall auf die Lizards zu planen. Julie schien offensichtlich beunruhigt. Ihre blonden Haare fielen ihr wirr ins Gesicht, und ihre schönen Augen schauten traurig. Bevor sie etwas sagen konnte, sagte Matt: »Du hättest nicht herkommen sollen, Julie. Du weißt, daß wir uns entschieden haben.« »Ich will euch nicht verärgern«, meinte Julie Parrish. »Ich wüßte keinen Grund, warum irgend jemand noch hierbleiben sollte, jetzt nach Nathans Tod, jetzt wo Los Angeles verwüstet ist, und die Reptilientruppen wüten, rauben, töten, alles zerstören… Ach, es ist so schrecklich, Matt. Der Highway war ein Meer von Körpern. Ich mußte einen Lizard-Checkpoint
durchbrechen… ich fuhr im Zickzack durch die oberen Straßen, und ich glaube, ich habe sie abgehängt, aber ich weiß nicht, für wie lange.« »Das ist verflucht genau das Richtige für unsere Flucht. Vielen Dank!« sagte Matt wütend. »Wartet, es ist wichtig – « begann Julie. »Im Moment ist für mich nur noch eines wichtig, und das ist, meine Familie zu schützen und mit heiler Haut hier rauszukommen. Ich hab’ genug für die Widerstandsbewegung getan.« »Ja, das hast du«, bestätigte Julie. Ihre Augen wurden feucht, und Matt bedauerte sofort seinen Gefühlsausbruch. Aber dennoch mußten sie so schnell wie möglich hier wegkommen. »Okay, sag, was los ist. Wir müssen uns beeilen.« »Unsere Leute haben in Erfahrung gebracht, daß die Lizards eine neue Erfindung gemacht haben – ein neues, synthetisches Superschwermetall, genannt Papinium.« »Was ist damit?« fragte CB plötzlich interessiert. »Das ist die schlechte Nachricht«, meinte Julie. »Eine dünne Schicht dieses Metalls, um einen gepanzerten Wagen oder etwas Größeres gehüllt, macht es den Lizards möglich, in Gebiete einzudringen, in denen der Rote Staub noch wirksam ist.« »Verdammter Mist«, stieß CB hervor. »Dann werden also auch die freien Staaten – « »Werden nicht mehr lange frei sein«, ergänzte Matt bitter. »Und unsere ganze Odyssee wird sinnlos.« »Seit wann gibt es diese Technologie?« fragte Tomoko. »Wir wissen es nicht! Wir glauben nur, daß sie das Metall im Niemandsland zwischen den freien Staaten und den von den Visitors besetzten Gebieten produzieren… möglicherweise in Carolina oder Südvirginia. Deshalb ist eure Flucht Richtung
Osten so ungeheuer wichtig für das Überleben der menschlichen Rasse geworden.« »Oh, nein«, klagte Matt. »Nein, das könnt ihr nicht mit uns machen. Schluß mit dem Heldentum!« »So meinen wir es nicht. Wir haben keinen Plan, keine Untergrundorganisation. Wir denken nur, daß ihr mit dieser Information in der Lage sein werdet, Wissenschaftler im Osten zu finden, die uns helfen können. Hier«, sagte sie, griff in ihre Tasche und zog ein Klümpchen glänzenden Metalls von blausilberner Farbe hervor. »Das ist das einzige Beweisstück, das wir erbeuten konnten. Bitte, nehmt es und – « »Nicht mit einem 20 Meter langen Stab würde ich es berühren!« schrie Matt. »Bitte!« sagte Julie Parrish. Er sah die Verzweiflung in ihren Augen. Wild drehte er sich um zu seiner Frau und dem Jungen. »Ich glaube, ich muß ja sagen.« Tomoko nickte zustimmend. »Gottverdammte Helden.« Er nahm den Klumpen und warf ihn CB zu. Julie wollte schon protestieren, aber als sie sah, wie CB es auffing und in die Tasche steckte, war sie einverstanden. »He«, rief CB. »Das gäbe einen Wahnsinnsohrring!« »Wage es nicht«, meinte Matt. Julie sah aus, als ob sie noch mehr zu erzählen hätte, und er fragte: »Hast du noch mehr Schreckensmeldungen?« »Ich habe auch gute Neuigkeiten. Kennt ihr drei nicht diesen deutsch-amerikanischen Anthropologieprofessor, der beim USC lehrte und auch mal in Japan war?« »Natürlich kennen wir den!« rief Matt. »Er hat uns sehr bei unserem Kampf gegen die Armee von Lady Murasaki geholfen. Ich glaube aber, daß er tot ist; als wir mit dem gekaperten Shuttle nach Tokio zurückkehrten, konnten wir ihn nirgends finden, und das Laboratorium war total zerstört.«
Die Erinnerung war so schmerzlich, daß er fast wütend auf Julie war, die sie wieder in ihm geweckt hatte. »Es gibt eine vage Hoffnung, daß der Professor lebt. Wir haben einige Geheimnachrichten der Lizards aufgefangen: Es gibt einen Befehl, ihn zu töten. Sie haben mit diesem Auftrag ein paar konvertierte Geheimdiensttypen auf ihn angesetzt.« »Wo?« fragte Tomoko ängstlich. »Wenn es derselbe Professor Schwabauer ist – und das ist ja kein so gewöhnlicher Name –, befindet er sich irgendwo in der Gegend um Washington herum, und zwar genau zu diesem Zeitpunkt, hält Vorlesungen über Kultur und Sitten der Außerirdischen und versucht Kontakt mit früheren Angehörigen des Widerstands aufzunehmen.« »Washington!« rief Matt. »Aber dahin fahren wir ja!« »Wenn es derselbe Mann ist und wenn er bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihr dort eintreffen werdet, noch lebt, wird er uns höchstwahrscheinlich helfen können, jemanden zu finden, der mehr über das Papinium weiß«, meinte Julie. »Um Gottes willen, CB, paß bloß gut auf das verdammte Zeug auf.« »Na klar«, meinte CB, und jonglierte mit dem Metallklumpen und mit einem kleinen Zinnsoldaten, den er aus der Hosentasche zog. Julie blickte ihn nervös an, sagte aber nichts. Sie ist wirklich verzweifelt, dachte Matt. »Viel Glück«, sagte Julie und umarmte impulsiv ihn, Tomoko und CB; dann war sie schon weg, man hörte nur noch ihren grünen Mazda mit den eingebeulten Vorderkotflügeln durch die Straßen röhren, als sie in Richtung Spruce Street fuhr. »Warum hab’ ich bloß zugesagt? Ich wollte nichts mehr mit dem Widerstand zu tun haben.« Matt war wütend. »Beruhige dich, Matt«, sagte Tomoko freundlich. Dann stiegen sie schweigend in den verhaßten Alien-Uniformen in den Lieferwagen und fuhren in Richtung Freeway.
»Oh, Jesus«, fluchte Matt und trat auf die Bremsen, nach nur wenigen Kilometern auf dem Freeway. Der Verkehr stand still. »Noch eine Lizard-Sperre. Wir haben keine andere Chance, als sie durchzustehen.« »Schau!« rief CB. »Sie winken uns durch.« Matt drückte auf die Hupe und setzte eine seiner Meinung nach arrogante Miene auf. Eingeschüchtert machten die anderen Wagen Platz, so daß er weiterfahren konnte. Neben der Straße parkte ein Visitorwagen, zwei Visitors inspizierten verdrießlich die vorbeifahrenden Autos. Er kurbelte das Fenster herunter. »Wir stecken mitten in einer eiligen Aktion. Müssen so schnell wie möglich… zum Hauptquartier.« »Tut mir leid, Sie aufgehalten zu haben, Sir«, sagte ein junger Mann in Uniform. Er war kein Alien, er schien einer dieser Konvertierten zu sein. Er hatte tote Augen und stierte vor sich hin. Matt schaute ihn kühl an und sprach durch den Synthesizer, der im Kragen seiner Uniform versteckt war. »Wie können Sie es wagen!« kläffte er. Seine Stimme klang hart, metallisch, so daß er vor sich selbst erschrak. »Wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben?« »Tut mir leid«, sagte der konvertierte Rekrut ausweichend. »Wir sind auf der Suche nach einem grünen Mazda. Haben Sie ihn gesehen, Sir?« »Sie besitzen die Unverschämtheit, mich anzuhalten und mit solchen Banalitäten zu belästigen?« »Aber Sir, das ist keine Banalität! Wir haben Grund zur Annahme, daß der Fahrer des Mazdas die ehemalige Anführerin der Widerstandsbewegung Julie Parrish ist und daß sie eine Probe P-p-Papinium dabeihat.« Matt erwiderte reaktionsschnell: »Sie Idiot, Sie! Wir verfolgen selbst diesen Wagen… und Sie hindern uns daran, unsere Pflicht zu tun! Lassen Sie uns sofort durch – oder
wollen Sie mich heute abend zum Essen begleiten«, fügte er drohend hinzu. Panisch begann der Konvertierte, wie wild den Verkehr zu regeln, um Durchlaß für Matts Lieferwagen zu schaffen. Als es genug Bewegungsraum gab, gab Matt Gas und fuhr schnell durch den stillstehenden Verkehr. »Das war knapp!« bemerkte CB. »Wie weit ist es noch bis Washington?« »Machst du Witze? Es wird Tage dauern, bis wir dort sind«, meinte Tomoko. »Ich muß daran denken, was Julie gesagt hat«, überlegte Matt, »über Professor Schwabauer. Meinst du, es ist wahr?« »Wenn er lebt«, sagte Tomoko, »dann ist alles möglich. Vielleicht lebt sogar noch der Alien-Schwertmeister – « »Der gehört der Vergangenheit an«, sagte CB traurig. »Erinnert euch, wie wir ihn sterben sahen. Der Rote Staub hatte ihn erwischt. Er ist tot, Tomoko.« »Wir sahen ihn sterben«, meinte Tomoko, »aber seine Leiche haben wir nicht gesehen. Vielleicht hat die Explosion ihn rausgeschleudert und – « »Unwahrscheinlich«, kommentierte Matt. »Auf jeden Fall hat er den Roten Staub abgekriegt. Und seine Thermaldruckhaut hatte sich gelöst… armer Kerl. Er liebte dich, Tomoko. Er setzte sein Leben für uns alle aufs Spiel, aber besonders für dich, glaube ich.« Matt ließ sich seine Eifersucht auf diesen Alien, erst bekannt als Fieh Chan, später als Kenzo Sugihara, nicht anmerken. Aber er hatte sich bedroht gefühlt durch diesen Schwertmeister mit seinen brillanten Fähigkeiten, der nicht nur Tomokos Zuneigung gewonnen hatte, sondern auch für den jungen CB ein Held geworden war, den er vergötterte. Was für furchtbare Gedanken! Ich sollte nicht so schlecht denken über diesen Toten. Ernst und schweigend fuhr er weiter. Die beiden anderen, eingeschüchtert durch seine
Stimmung, starrten gebannt auf die Straße und die vorbeiziehende Landschaft… verlassene Vorstädte, ausgebrannte Läden, die Schuttberge zerbombter Wolkenkratzer… all die Trümmer der Eroberung durch die Außerirdischen… die schrecklichen Aufstände, die gerade jetzt in Los Angeles tobten. »Oh, wie schrecklich«, flüsterte Tomoko. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, aber er wußte, daß sie weinte. Dann legte sie ihren Kopf an seine Schulter, und auch die Hand des Jungen spürte er, die sich leicht von hinten auf seinen Nacken legte; und er fühlte sich getröstet durch die Nähe seiner eigenartigen Familie. »Es wird schon werden«, sagte er. »Wir lassen ganz einfach all den Mist hier hinter uns, es kann nur besser werden.« Im Rückspiegel sah er wie CB wie hypnotisiert auf den Klumpen Papinium starrte, den Julie ihnen gegeben hatte. Eine Vorahnung überfiel ihn, aber er schob sie beiseite. »Drei, vier Tage noch, dann sind wir frei«, sagte er sanft. »Freiheit!« sagte Tomoko wehmütig. Und dann begann sie zu schluchzen, und er spürte ihre warmen Tränen auf seinem Gesicht, und auch er wollte weinen, aber er war zu wütend über das, was die Echsenwesen angerichtet hatten. »Erstmal Arizona«, meinte er. »In einigen Stunden.« CB schlief.
Der junge konvertierte Rekrut zitterte vor dem Visitor, seinem vorgesetzten Offizier. »Aber sie sagten zu mir – « »Unsinn!« schrie der Visitor wütend, als der Rekrut neben ihn auf den Vordersitz des Autos schlüpfte. »Die Berichte belegen klar und deutlich, daß kein solcher Wagen beauftragt worden ist, die Verfolgung aufzunehmen… außer, es sind Widerstandskämpfer. Beschreib sie!«
»Die Frau sah orientalisch aus. Dann war da ein blonder Junge mit einer Punkfrisur. Aber sie trugen Visitoruniformen!« »Ich vermute… aber ich bin mir nicht sicher. In welche Richtung fuhren sie?« »Die R 10 ostwärts.« »Ha! Nach Arizona!« rief der Visitor. »Ich denke – « »Soll ich einen Bericht schreiben, Sir?« »Nein, du Idiot! Hast du immer noch nicht begriffen, wie wir Visitors arbeiten? Wenn wir einen Bericht einreichen, bedeutet das, daß wir uns die Angelegenheit aus der Hand nehmen lassen. Auf diese Weise werden wir nie befördert. Ich denke, ich werde einen Offizier in Arizona benachrichtigen. Wir treffen uns auf halber Strecke, nehmen sie gefangen und teilen die Belohnung untereinander auf. Es gibt keinen Grund, eine höhere Führungsperson davon in Kenntnis zu setzen. Vielleicht haben wir uns auch getäuscht.« »Zu Befehl, Sir. Soll ich das Kontrollzentrum in Phoenix benachrichtigen?« »Sofort!« »An wen soll ich mich wenden?« »Laß mich nachdenken… oh, ja, Phoenix, das dürfte Medea sein. Sie haben sie zum einfachen Stadtkommandeur degradiert nach ihrem katastrophalen Mißerfolg mit dem Florida-Projekt. Sie wird sich freuen, endlich eine neue Chance zu bekommen, um wieder gut dazustehn vor Diana. Wir alle könnten von dieser Sache profitieren… wenn es nicht falscher Alarm ist. Falls es aber so ist… brauchen wir uns auch nicht weiter aufzuregen. Unsere Köpfe würden rollen, wenn Diana hinzugezogen würde und sich das ganze als große Dummheit herausstellte.« »Ja, Sir, Medea, Sir. Sofort, Sir«, pflichtete der junge Rekrut bei, in der festen Überzeugung, noch einmal davongekommen
zu sein, den Eßtisch des Offiziers zu schmücken. Er griff zum Kommunikationsgerät, das am Armaturenbrett angebracht war. Es brauchte einige Zeit, dann erschien auf dem Bildschirm das Gesicht einer schönen Frau. »Medea«, sagte die Frau. Zum Schrecken des Rekruten schien sie äußerst mißgestimmt zu sein. Aber als er ihr die ganze Geschichte erzählt hatte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck zu einem dämonischen Grinsen.
Kapitel 2
Phoenix, Arizona, war eine so unbedeutende Stadt, daß sie noch nie ein Mutterschiff über ihren Dächern zu sehen bekommen hatte. Dennoch hatten die Visitors das berühmte Phoenix Hilton Hotel beschlagnahmt und in ein großes Kontrollzentrum verwandelt. Auf der riesigen Sonnenterrasse, auf der einst Touristen in der Sonne faulenzten und sich im weiträumigen Swimmingpool entspannten, befand sich jetzt das Takeoff-Deck für die einzige Kampffähre des Zentrums – ein veraltetes Modell, das nur noch mit einem Lasergeschütz arbeitete. Eigentlich ist es so heiß und trocken wie auf meinem Heimatplaneten, dachte Medea, die Kommandeurin des Zentrums, während sie das Kommunikationsgerät ausschaltete, in ihrer rundum verglasten Kommandozentrale, von der aus sie das ganze Flugdeck überblicken konnte. Alles sieht kahl und verdorrt aus… genau so, wie ich es mag! Aber sie versuchte nur, sich selbst davon zu überzeugen. So richtig glaubte sie nicht daran. In Wirklichkeit sehnte sie sich zurück nach dem alten Luxus, eine von Dianas Favoritinnen zu sein. Wenn nur das Florida-Projekt nicht so ein völliger Flop gewesen wäre. Fast hätte es sie das Leben gekostet. Aber ihre jetzige Position war schlimmer als der Tod: Kommandeurin einer behelfsmäßigen, schlecht ausgestatteten Garnison, für die sich niemand interessierte. Es war nur wenig besser, als ein einfacher Rekrut zu sein! Darum war es auch so wunderbar, daß dieser dämliche Offizier und sein Rekrut sie benachrichtigt hatten. Diese Idioten! Hatten nicht erkannt, wer ihre drei Flüchtigen waren.
Die Jones-Familie! Jene berühmt-berüchtigte Familie von Kampfsportexperten, die die endgültige Verwüstung Tokios bewirkt hatten, so daß ein anderer guter Plan hatte aufgegeben werden müssen: der Plan, eine Armee seelenloser Konvertierter aufzustellen, die in der Lage waren, mit ihren bloßen Händen zu töten. Und Murasaki war tot und Wu Piao, und der doppelgesichtige Fieh Chan war verschwunden, keiner wußte wohin. Es mußten Matt und Tomoko Jones und ihr Bastard von einem Sohn sein. Jetzt sah Medea ihre Chance. Vergessen konnte man diesen Offizier, der auf ein oder zwei höhere Ränge der Hierarchie hoffte… Medea hatte Chancen auf einen dieser schwindelerregenden Hochsitze unter den Auserwählten des Obersten Kommandos. Jetzt wird mir Diana wieder zuhören müssen, dachte sie. Und ich werde wieder mit dem Kommando über ein bedeutendes Mutterschiff betraut, anstatt über dieses verdammte Höllenloch zu regieren. Sie schaute hinunter auf die Sonnenterrasse unter ihrem Fenster. Gegenüber befand sich ein Wolkenkratzer aus Glas, wie ein gigantischer Spiegel: Wolkenformationen spiegelten sich darin und zogen langsam vorbei, und das Sonnenlicht schien ihr in ihre künstlichen menschlichen Augen. Ach, wenn sie sich doch endlich von dieser affenähnlichen Verkleidung befreien und in ihrer vollen Schuppen-Schönheit zeigen könnte! Ein Teller roher menschlicher Hände lag vor ihr. Sie lehnte sich vor und griff nach einer Hand, nagte genüßlich daran herum und lehnte sich wieder zurück. Auf dem Tisch häuften sich die blanken Knochen. Köstlich! Sie trank einen großen Schluck gekühlten Blutes aus einem beschlagenen Kelch und füllte sofort aus einem großen Krug nach, der neben ihr stand.
Es ist nur die Langeweile, die mich soviel essen läßt, dachte sie. Ich bin diesem fantastischen Saurier ja so dankbar, daß endlich etwas Aufregendes passiert! Das wird mir helfen, mein Gewicht wieder in den Griff zu bekommen. Aber diese Welt ist auch einfach zu voll mit den köstlichsten Speisen. Sie warf die Hand weg, und suchte sich eine neue aus, gierig daran nagend. Kein Grund, es noch länger aufzuschieben! sagte sie sich schließlich und langte nach der Konsole auf ihrem Kaffeetisch. An einer großen Wand leuchtete ein Monitor auf. »Verbindet mich mit dem Los Angeles-Mutterschiff! Ich will eine direkte Verbindung zu Diana persönlich!« Nach einer Weile blickte sie in das Gesicht der großen Kommandochefin. Wunderschön und absolut tödlich, dachte Medea. »So«, meinte Diana, verächtliche Blicke auf das Zimmer werfend. »Immer am Essen! Ich wünsche nicht gestört zu werden. Wir sind vollauf beschäftigt mit den Aufständen, die nach Nathan Bates Tod aufflammten. Ich habe keine Zeit, mit dir zu sprechen.« »Du scheinst aber sehr viel Zeit für diese Lydia zu haben«, erwiderte Medea, eine Spur eifersüchtig. »Sag schon, was du willst. Ich will nicht den ganzen Tag warten.« »Ich habe Neuigkeiten… Neuigkeiten, die auch dich interessieren werden, Diana. Die Jones-Familie ist auf der Flucht – hierher, in meinen Zuständigkeitsbereich.« »Und das soll ich glauben – « »Es ist so!« Und Medea schilderte ihr, was der Rekrut ihr berichtet hatte. »Klingt plausibel«, meinte Diana. »Warum machen sie das nur?« rätselte Medea. »Es ist der sichere Tod, alles in allem. Oder?«
»Medea, Liebling«, sagte Diana, und ihre Stimme klang eine Spur drohender. »Wirst du denn nie begreifen, wie diese Menschen sind? Sie lieben den Tod. Ganz besonders, wenn es um die Verteidigung ihrer ethischen Werte geht. Wahrheit, Gerechtigkeit oder wie sie es auch immer nennen. Ziemlich amüsant, nicht wahr.« Medea war es gewohnt, die Zielscheibe von Dianas Spott zu sein. Nach außen hin ließ sie sich nichts anmerken, aber im Innern litt sie, weil Diana der Schlüssel zu neuer Macht war. Und wer weiß, eines Tages würde vielleicht sie Herrin über den Heimatplaneten sein… und das wäre Dianas Ende! Aber immer mit der Ruhe, bis zu dem Tag, an dem es soweit war. Und das würde bald sein, dachte Medea, still frohlockend. »Warum sagst du nichts?« fragte Diana. »Ich vermute, du wartest auf eine Flotte von Kampffähren von mir. Du hast Angst, es mit drei menschlichen Wesen aufnehmen zu müssen. Du bist eine totale Pleite, Medea, Liebling. Du hättest lieber zu Hause bleiben und dich der pre-ta-na-ma-Sekte anschließen sollen.« »Hör auf! Humor schön und gut, aber du brauchst nicht vulgär zu werden. Ich werde diese Kreaturen persönlich gefangennehmen. Du kriegst ihre Köpfe. Mein Wort drauf!« Diana kicherte in sich hinein. »Das ist die alte Medea! Wenn es klappt, können wir ja doch noch mal deine Position überprüfen«, fügte sie betont gleichgültig hinzu. »Willst du damit sagen, daß du mir eine Kampffähre schicken wirst«, fragte Medea, ihre Freude kaum verhehlend. »Nein! Wir brauchen sie alle hier. Du kannst nur über die verfügen, die du hast. Und jetzt Schluß, meine Geduld ist am Ende. Ich sagte dir doch, daß ich beschäftigt bin.« Dianas Gesicht verschwand vom Bildschirm. Medea glotzte auf den Teller. Sie fraß alles in sich hinein, ohne es richtig zu merken. Sie haßte Diana von ganzem
Herzen; nicht zuletzt deshalb, weil Diana ihre Position als Oberkommandierende ausnutzte, um ihre widerlichen Zärtlichkeiten ihren unmittelbaren Untergebenen aufzudrängen. Nicht, daß Medea etwas dagegen hatte, mit Sex die politische Karriere zu beschleunigen. Aber sie bevorzugte mehr die klassischen, sauberen Methoden – zum Beispiel politischen Mord oder den offenen Kampf. Sex war zu verschlagen. Es war genauso schlimm wie Denken. Ihr fiel ein, was mit Fieh Chan, ihrem Kameraden auf der Militärakademie ihres Heimatplaneten, passiert war, als er angefangen hatte, zuviel nachzudenken. Er war verrückt geworden und von diesem pre-ta-na-ma-Dreck reingelegt worden… und heute war er tot. Ein Schicksal, dem Medea nach Kräften entgehen wollte. Sie überlegte, ob sie nicht den Steward rufen solle, damit er aus der Küche unten noch mehr Essen hochholte. Nein, es war an der Zeit zu handeln. Sie riß sich aus ihrer Lethargie, läutete einen Techniker herauf und befahl ihm, den Kampfshuttle startklar zu machen. Ich selber werde ihn nicht fliegen, dachte sie. Es ist zu riskant. Nach allem wäre es äußerst unklug, das Leben von jemandem aufs Spiel zu setzen, der vielleicht bald der höchste Kommandeur dieses Planeten sein wird.
Kapitel 3
Endlose Wüste, öde, unbewohnt. Aber, dachte Tomoko, sie hat eine gewisse Schönheit. Die Sonne ging über den fernen Bergen unter und färbte den Himmel dunkelrot. »Kann ich anhalten?« fragte sie. Sie hatten sich mit dem Fahren abgelöst, und jetzt, nach fünfstündiger Fahrt, war sie erschöpft. »Kann ich fahren?« quietschte CB von hinten. »Du spinnst wohl!« meinte Tomoko. »Laß ihn«, sagte Matt. »Niemand ist zu sehen. Wen sollte es also stören? Oder glaubst du, die Straßenpolizei stoppt einen offiziellen Lizardwagen?« »Das nicht«, sagte Tomoko. »Aber – « »Ach, komm, Mama«, bat CB. Immer wenn er sie so nannte, was selten geschah, wußte sie nichts zu erwidern, es verwirrte sie. Abrupt brachte sie den Wagen neben einer Böschung voll riesiger Kakteenpflanzen zum Stehen, die sich dunkel gegen den Sonnenuntergang abzeichneten. Sie wirkten wie prähistorische Gestalten, wie Geistwesen. CB sagte: »Ich kann gut fahren, Tomoko.« Warum nicht? dachte sie. Schließlich hatte Matt ihm alles beigebracht, was er über Ninjitsu und andere Kampfsportarten wußte; ein Auto zu fahren, konnte nicht schwieriger sein als diese komplizierten Bewegungen! Sie schaute zu Matt hinüber; er zuckte die Achseln und meinte: »Du bist der Boss.« »Nein, du bist es«, entgegnete sie. »Nein, du.« »Nein, du.« Sie küßten sich lange. War das die einzige Art von Freiheit, die es noch gab, überlegte sie. Verzweifelt schmiegte sie sich
an Matt. »Ach, es ist so öde hier«, seufzte sie, »nur wir drei, ganz allein und noch so viele, viele Kilometer, die vor uns liegen.« Und sie küßte ihn wieder und wieder. Nach einer Weile knuffte sie jemand von hinten. »He, ihr zwei, hört auf damit. Wenn wir nicht weiterfahren, werden hier bald nur noch unsere Knochen rumliegen.« Sie ließen einander los. »Gut«, meinte Tomoko, »der Junge soll fahren, und wir setzen uns nach hinten.« »Tausend Dank«, sagte CB sarkastisch, »ich kann fahren, und ihr könnt hinten schön weitermachen. Nennt mich doch gleich Chauffeur.« Er öffnete die Tür des Lieferwagens und kletterte hinaus. »Ich hoffe nur, du hast noch das Papinium«, sagte Tomoko etwas besorgt. »Oh, das blaue Zeug? Ich hatte eine Menge Spaß damit. Es ist total formbar. Schaut mal!« Er zog eine flache Platte aus seiner Tasche. »Erst war es ein Klumpen und jetzt ist es ein Viereck. Ich habe es mit meinen bloßen Händen geformt. Aber gleichzeitig ist es so hart wie Shit.« Tomoko hielt es in der Hand und meinte, sein seltsames, schlüpfriges Gewebe spürend: »Sonderbar. Ich erinnere mich, daß in der Physikvorlesung darüber gesprochen wurde, daß sie eines Tages in der Lage sein werden, Superschwere Elemente mit hoher Atomzahl zu synthetisieren, und daß diese Elemente stabiler sein werden als die radioaktiven wie 100, 101… und bizarre Eigenschaften wie Superformbarkeit haben würden.« »Worüber sprecht ihr?« fragte Matt, der immer Probleme mit ihrem Uniwissen hatte. »Ich glaube«, sagte CB, »sie meint, daß dieses Zeug so gedehnt werden kann, daß es eine Hülle von nur 1 oder 2 Molekülen Dicke ergibt, und es wird undurchdringlich sein für den Roten Staub, weil eine Bakterie sehr viel größer ist als ein
oder zwei Moleküle, und somit nicht eindringen kann. Wie bei einem Moskitonetz.« »Vielen Dank«, sagte Matt, »daß du es so formuliert hast, daß es selbst ein Dummkopf wie ich verstehen kann.« »Was für ein Selbstbewußtsein!« kicherte Tomoko. Sie umarmten sich wieder. Schon lange hatte Tomoko nicht mehr so eine Liebe für ihn empfunden. Ob es die Einsamkeit der Wüste war? Oder war es die Ahnung, daß dieses Glück nicht mehr lange währen würde? Sie wollte den Gedanken nicht weiterführen. Ich muß diese Liebe annehmen wie ein Geschenk des Himmels, dachte sie. Und keine Fragen stellen. Auch ihre Mutter hätte es so gesagt, obwohl sie so viel hatte aushalten müssen mit diesem Macho, der wie jeder andere amerikanische Ehemann war. Aber sie hatte Matt auch geheiratet, weil er sie entfernt an ihren Vater erinnerte. »Hhm«, räusperte sich CB. Er starrte auf Tomoko. Dann streckte er die Hand aus und nahm das Papinium-Stück wieder an sich, wartete bis Tomoko und Matt hinten eingestiegen waren und setzte sich stolz auf den Fahrersitz. »Scheiße!« rief er plötzlich. »Was ist?« fragte Matt. »Ich reiche nicht an die Pedale.« »Bist du sicher, daß er überhaupt – « fing Tomoko an. »Oh, ja«, meinte Matt. »Hier«, er griff nach hinten, wo ihre Sachen untergebracht waren, »nimm diese Bücher.« Er reichte sie ihm nach vorn. »Leg sie zwischen Pedale und Füße.« »Wartet bitte, das sind meine Bücher«, rief Tomoko bestürzt. CB schaute sie sich an, bevor er sie unter seine Füße legte. »Schreck laß nach! Asimovs Foundation-Trilogie, Gene Wolfes Buch der neuen Sonne… Sci-fi-Stoff.« »Das sind sehr wichtige Bücher«, meinte Tomoko. »Wir brauchen keine Science-fictions mehr«, war Matts Kommentar, »wir sind mitten drin.«
Mit dieser bitteren Erkenntnis fuhren sie los. Tomoko ruhte sich in Matts Armen aus, eingelullt vom Motorengeräusch des Lieferwagens, der auf der leeren Straße vor sich hintuckerte. Einige Zeit später sah sie plötzlich nach draußen und bemerkte, daß alles viel schneller an ihnen vorbeisauste als sonst. War es Einbildung, oder wirkten die Kakteen – welche Kakteen? »Ist der Tacho eigentlich in Ordnung, Matt?« fragte sie. Matt gähnte schläfrig. »Welcher Tacho?« Tomoko richtete sich auf. Es war jetzt völlig dunkel draußen. Sie sah aufs Armaturenbrett. »Du fährst sofort langsamer, CB!« sagte sie barsch. »Was?« er drehte sich um. »Schau nach vorn, auf die Straße!« Sie beugte sich zu ihm vor und wollte ins Lenkrad greifen. »Beruhige dich, Tomoko, es ist alles in Ordnung«, meinte CB. Voller Schrecken sah sie, daß sie über 100 Meilen draufhatten und daß das Gaspedal ganz durchgedrückt wurde von einem Stapel Science-fiction-Bücher – und daß CB im Lotssitz hinterm Steuer saß. »Halt sofort an!« schrie sie. »He, mach dir keine Sorgen«, meinte CB. »Matt hat es mir so beigebracht.« Sie rüttelte Matt wach. »Hast du unserem Sohn diesen Schwachsinn beigebracht?« fragte sie. »Ja, er hat von mir Autofahren gelernt«, lachte Matt, »und es ist ganz normal, daß die jungen Burschen alle schnell fahren wollen; wie John Wayne schon sagte, ›Ein Mann muß tun, was ein Mann zu tun hat‹, richtig? He, du willst doch nach Washington, oder?« »In einem Stück!« »Wie sich’s gehört«, sagte CB. Er machte keinerlei Anstalten, die Geschwindigkeit zu drosseln.
Wenig später sah Tomoko am Nachthimmel etwas Seltsames aufblitzen. Die Landschaft wurde plötzlich beleuchtet, so daß sie glitzerte… wie auf einem fremden Planeten. »Das ist schön«, sagte sie. »Was ist?« fragte Matt, aus seinem Schlummer erwachend. »Die Blitze, oder was immer das ist. Es sieht schön aus, oder?« »Aber das sind keine Blitze!« rief CB schrill. »Es ist zu regelmäßig«, sagte Matt und war plötzlich hellwach. »Was kann das sein – whoa! Schaut dort!« In der Dunkelheit wurde ein Teil des Himmels von kaltem Blau erleuchtet… dann sah man eine dunkle Silhouette, wie die eines riesigen schwarzen Raubvogels… das Licht bewegte sich langsam bogenförmig hin und her. »Eine Radarpeilung!« rief Matt. »Mist, CB, gib Gas! Tomoko, hilf mir, die Laserwaffen der Lizards hinten rauszuholen!« Jetzt konnte Tomoko deutlich die Kampffähre erkennen. Sie hatte kaum Zeit aufzuschreien, als schon das erste blaue Lasergeschoß durch die Dunkelheit heranzuckte und den Lieferwagen nur um wenige Meter verfehlte. »Wir sitzen in der Falle!« rief sie. »Wer weiß, wie viele es sind – und ein Teenager, der nicht an das Gaspedal reicht, fährt den Wagen!« »Sei ruhig und schieß«, ermahnte Matt sie und drückte ihr ein schweres Gerät in die Arme. Es war eine der Miniaturlaserkanonen, die die Widerstandskämpfer bei einem ihrer vielen Gefechte von den Außerirdischen erbeutet hatten.
Kapitel 4
Aus relativ sicherer Entfernung, in einem Spähwagen sitzend, beobachtete Medea das ganze Spektakel auf einem riesigen Monitor. Der Pilot, einer dieser jungen, schlecht ausgebildeten Dummköpfe, die ihr das Oberkommando immer schickte, hatte Probleme mit dem Shuttle. »Nun schieß doch endlich!« kreischte Medea. »Dafür braucht man doch nun wirklich nichts im Hirn zu haben!« Ärgerlich stürzte sie ihren dritten Blutcocktail hinunter. Mit solchen inkompetenten Typen zusammenarbeiten zu müssen… Kein Wunder, daß Diana nur noch über sie lachte. Aber sie würde es ihnen schon zeigen… ich werde es ihnen schon zeigen! »Nun, was gibt’s für Probleme?« fragte sie. Das Gesicht des Piloten verschwand vom Bildschirm; statt dessen sah sie die Wüste von oben. Die Radarstrahlen der Kampffähre tasteten die Straße ab, die sich wie ein silbernes Band durch den glitzernden Sand schlängelte. Da war das verdammte Auto! Jetzt konnte sie es genau erkennen: ein winziges Ding, das im Schneckentempo dahinkroch. Sie hatten ihn also als Visitorwagen getarnt, und das Emblem der VisitorRaumarmee war kühn auf die Türen aufgemalt. Was für eine Frechheit dieser affenähnlichen Wesen! Medea kochte vor Wut und trank noch mehr. Das Blut rann ihre ausgedörrte Kehle hinunter, kühlte sie, delikat und süß im Geschmack. »Attacke!« brüllte sie. »Ich versuche mein Bestes!« schrie der Pilot zurück. »Los, dichter ran!« befahl sie ihrem Fahrer. Der Fahrer, ein Konvertierter, steuerte den Spähwagen in Richtung Lieferwagen. »Sie kommen näher, Kommandeur!« sagte er, als
auf dem Radarschirm die genaue Entfernung angegeben wurde. »Laserkanonen in Stellung bringen«, schnarrte Medea. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück, den Bildschirm, der die ganze hintere Wand des Spähwagens ausfüllte, nicht aus den Augen lassend. »Ich habe vor, mich an diesem Spektakel zu erfreuen«, raunte sie, ihr Menschengesicht aus Dermoplast zu einem lüsternen Lächeln zwingend, zur verzerrenden Parodie eines menschlichen Gefühls. Die Lasergeschütze wurden zu beiden Seiten des Spähwagens in die richtige Position gebracht. »Abstand?« schrie sie. »Sie sind etwa fünf Minuten von uns entfernt, Medea.« »Gut.« Wieder beobachtete sie den Bildschirm. Die Kampffähre manövrierte umständlich. Sie konnte sehen, wie viele Lasergeschosse den Sand hochstauben ließen. Verdammt: Warum schickten sie ihr Piloten, die nicht zielen konnten? Der Chevy-Lieferwagen entfernte sich querfeldein in die Wüste und entschwand hin und wieder aus dem Blickfeld. Das Bild, das vom Shuttle übertragen wurde, schwankte, flackerte und zuckte wie toll. Was war los? »Schieß, du verdammter Idiot!« brüllte sie. Plötzlich sah sie den Lieferwagen wieder, ein Pünktchen am Horizont – »Feuer!« brüllte sie den Laserkanonieren zu. »Feuer!« Der Spähwagen schleuderte, als die Explosion blauer Laserstrahlen aus den Geschützen knallte. In einiger Entfernung zerbarst ein Kaktus wie bei einem Feuerwerk in Tausende von Lichtpunkten. »Doch nicht den Kaktus, du Blödmann!« Noch ein Lichtgeschoß. »Ein Treffer!« schrie der Fahrer.
»Aber nur gestreift«, sagte der Offizier am Lasergeschütz. Aber Medea konnte erkennen, wie der feindliche Lieferwagen wild hin- und herschleuderte und offenbar außer Kontrolle geraten war. »Medea«, hörte sie die Stimme des Piloten, »ich glaube, meine Laser sind zu schwach, seit Monaten sind sie nicht mehr aufgeladen worden, und – « »Geh tiefer runter«, befahl Medea. »Häng dich direkt über sie – wie ein Geier. Das wird sie erschrecken, und ich komme dazu und gebe ihnen den Rest!« Sie sah wie die Kampffähre runterging und der Lieferwagen auf dem Bildschirm immer größer wurde. Jetzt konnte sie sogar die Gesichter erkennen… aber der Fahrer war ja fast noch ein Kind! Trainierten sie jetzt schon ihre Babies für den Kampf? Diese Barbaren! Jede andere sensible Rasse hätte schon längst die Annektion akzeptiert und die herausragende Genialität der Visitors gewürdigt, aber diese Erdlinge, diese obszönen Menschenaffen… Nicht auszudenken, was noch alles ihren Hirnen entspringen würde. Wenn sie überhaupt welche hatten. Da waren Matt Jones und seine halbjapanische Frau. Was hielt sie nur in den Händen? Beim obersten Saurier, es war… es war eine der Miniaturlaserkanonen, die auf dem L.A.Mutterschiff vermißt wurden. Welche Unverfrorenheit! Die Frau öffnete gerade die Schiebetür des Lieferwagens, und Medea konnte deutlich sehen, wem der Angriff galt… Der Spähwagen begann zu vibrieren! Der linke Kotflügel war abgefallen, und der Laserkanonenschütze war tot! Eine grünliche Flüssigkeit rann seinen Nacken hinunter. »Ich werde selbst schießen«, sagte Medea, ihre schweren Körpermassen nach vorn hievend, und heftig auf die Knöpfe einschlagend, donnerte sie die Lasergeschosse über die Sanddünen – immer daneben! Sie war schon immer ein schlechter Schütze
gewesen, außerdem hatte sie es immer bevorzugt, durch geschickte Manipulationen aufzusteigen, denn durch soldatische Tugenden. Sie begann auf die Knöpfe einzuhämmern, immer schneller und immer wütender, in der Hoffnung, doch noch einen Treffer zu landen. »Medea«, hörte sie die Stimme des Piloten, »ich denke, du solltest dir das hier lieber mal ansehen.« Sie schaute zum Monitor. Was war geschehen? Der Feind war deutlich zu erkennen, getaucht in ein unheimliches blaues Licht. Die Seitentür stand offen; sie konnte Tomokos Laserwaffe erkennen. Der Junge fuhr wie der Teufel. Aber was war mit Matt Jones? Er kletterte aus der anderen Seitentür, um seine Brust hing ein seltsames Ding, das aussah wie eine Armbrust, und an dem Bolzen war ein langes Seil befestigt. Was würden diese Menschen als nächstes tun? Matt war jetzt auf dem Dach, sein Gerät zielte auf den Flieger. Er suchte nach der richtigen Position. Schuß. Mit einem Bolzen? Wollte er etwa mit einer Armbrust gegen eine Kampffähre antreten? Wieder die Feuerknöpfe bearbeitend – jedes Mal schoß sie daneben –, befahl sie dem Piloten: »Halte diese Höhe! Ich glaube, jetzt passiert irgend etwas Faules.« »Medea, mein Kontrollsystem ist blockiert. Ich bin direkt über ihnen, und der automatische Pilot ist mit Zielsteuerung direkt auf den feindlichen Wagen eingestellt.« »Gib mir Diana«, kläffte Medea. »Jetzt sofort, hörst du? Stell sofort die Verbindung her. Es interessiert mich nicht, was sie gerade macht. Egal welche Prioritäten, Notfälle, setz dich darüber hinweg!« Erschrocken beeilte sich der Fahrer zu gehorchen. In diesem Augenblick feuerte Matt mit der Armbrust auf den Kampfflieger, der nur 20 Meter über seinem Kopf schwebte – Dianas wütendes Gesicht erschien auf einem zweiten Monitor. Eine halb aufgefressene Ratte hing ihr noch aus dem
Maul. »Medea! Du bist die letzte, von der ich hören wollte!« fauchte sie. »Wie kannst du es wagen, mich beim Essen zu stören?«
Kapitel 5
Matt hörte Tomoko im stürmischen Wind schreien. »Was zum Teufel machst du da eigentlich?« Er mußte sich konzentrieren. Wenn er es jetzt versuchen würde… »Ein alter Ninja-Trick!« schrie er. »Nur daß er noch nie an einer sich bewegenden Kampffähre ausprobiert wurde!« Die Fähre schwebte noch immer über ihnen und machte keinen Versuch aufzusteigen. Irgend etwas stimmte nicht. War es eine Falle? Aber er hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Er legte die Armbrust an und setzte seine ganze Hoffnung darauf, daß es ihm gelingen würde, den Saugnapf mit den Stahlfingern, der sich am Ende des Bolzens befand, mit soviel Kraft gegen den Rumpf des Fliegers zu schießen, daß er dort haften blieb. Er schoß! Er spürte, daß der Bolzen getroffen hatte und sich der daran befestigte Strick straffte. Er warf die Armbrust beiseite und begann sich am Seil hochzuhangeln. Heftig wurde er vom Sturm hin und her geschleudert. Fast konnte er sich nicht mehr halten… würde er es durchstehen? Wie ein Pendel schlug er vor und zurück. Aber die Kampffähre bewegte sich immer noch nicht. Am Austriebssystem muß etwas kaputt sein, dachte Matt. Es gelang ihm, zu einer Seite des Fliegers hochzuklettern, als dieser sich plötzlich in Bewegung setzte. Sein Körper prallte gegen hartes Metall. Er griff nach seinem Kampfgürtel und zog ein paar Saugnäpfe heraus, die er sich über die Finger stülpte, während er sich mit den Beinen irgendwo am Flugkörper festklammerte. Dann, die Hände zu Fäusten geballt, setzte er die Saugnäpfe auf das Metall und ließ das Seil los. Nichts
konnte ihn jetzt noch vor einem Absturz bewahren… nur noch seine Fingerspitzen. Es gebt besser, als ich dachte, sprach er zu sich, und begann, sich auf den Einstieg zuzubewegen, Zentimeter um Zentimeter. Überraschend stieg die Kampffähre hoch. Durch ein Fenster in der Lukentür konnte er den Piloten sehen, der wütend versuchte, die Fähre wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie stießen vor, schwebten hoch und sanken wieder tiefer, wirbelten in wirren Drehungen herum. »Du wirfst mich nicht ab!« flüsterte Matt heiser, während er versuchte, den Manövern des Shuttles standzuhalten. Jetzt hielt er sich nur noch mit einer Hand fest und mit der anderen versuchte er wieder und wieder, den Griff der Luke herunterzudrücken. Sie war zugefroren! Dann, auf einmal… sie gab etwas nach… sprang auf! Er hielt sich an der Tür fest, sein Körper flatterte im Wind wie ein Drachenschwanz. Er nahm seine ganze innere Kraft zusammen, konzentrierte sie auf einen Punkt und sprang sich überschlagend durch die offene Tür in das Innere der Kampffähre – für den Bruchteil einer Sekunde befand er sich im freien Fall, für den Bruchteil einer Sekunde in Todesangst. Seine Füße knallten hart auf Metall! Er jaulte auf vor Schmerz. Der Pilot stand nur wenige Meter von ihm entfernt, bereit, ihn sofort wieder hinauszuschmeißen! Matt warf sich mit voller Körperkraft nach vorn und brachte den Pilot zu Fall, der noch nach seinem Laser greifen konnte. Matt riß ihn ihm aus der Hand und warf ihn aus der offenen Luke. Er sah, wie er sich im Wind drehte. Der Pilot stürzte sich auf ihn, und Matt sprang zur Seite. Der Pilot flog durch die Luke. Matt wandte den Blick ab, setzte sich an die Steuerkonsole und versuchte, die Kampffähre wieder flottzukriegen. Alles schien blockiert. Jetzt hätte er Tomoko gut gebrauchen können. Sie hatte von Fieh Chan persönlich gelernt, wie man diese
Fähren flog, und sie war es gewesen, die damals von Tokio nach Amerika zurückgeflogen war… Verdammt! Sämtliche Armaturen waren mit LizardHieroglyphen beschriftet. Hilflos hantierte er herum. Endlich begann die Fähre zu sinken, steil nach unten, wie ein Helikopter. Und das hatte er eigentlich nicht beabsichtigt! Matt schaute hinaus auf die Wüste unter ihm. Der Spähwagen kam immer näher. Wenn er nicht sofort handelte, hätte er sie gleich neben sich. Obwohl ihre Laserschützen offenbar nicht gerade zu den besten gehörten, konnte er sich nicht vorstellen, daß sie auch aus dieser Entfernung nicht treffen würden. Die Kampffähre berührte jetzt fast den Boden, flog parallel zum Chevy-Lieferwagen. Offensichtlich war es ihre Absicht, so nahe beim Flieger zu bleiben. Durch die Luke schrie er CB zu: »Halt an!« CB kurbelte das Fenster hinunter und schrie: »Wir sitzen in der Falle!« »Ich will, daß du und Tomoko sofort an Bord kommt!« Der Lieferwagen hielt quietschend. Der Flieger verharrte ruckartig, nur ein paar Meter über dem Boden. Matt taumelte vorwärts und stieß gegen Metall. Er spürte, wie warmes Blut seine Stirn hinunterlief, aber er hatte jetzt nicht die Zeit, es abzuwischen. Der Junge und Tomoko kletterten aus dem Lieferwagen. Er streckte ihnen seine Hand entgegen. Tomoko hatte an der einen Hand den Jungen, mit der anderen griff sie nach seiner. Sie konnte sie gerade erreichen. Matt zog mit aller Kraft. Der Flieger schwankte. »Es geht nicht!« hörte er Tomokos Stimme im stürmischen Wind. »Wir werden sterben!« Er mußte sie hinaufziehen… seine Frau, seinen Jungen, seine ganze Welt… O Gott, wie sehr er sie liebte. Er mußte es
schaffen. Mit letzter Kraft zog er Tomoko in die Fähre. Der Junge folgte. Dann brach Matt auf dem Boden des Shuttles zusammen. Aber er sah noch, wie Tomoko zur Steuerkonsole lief, und durch die offene Luke sah er – Der Chevy explodierte. Weißglühende Metallsplitter knallten gegen die Unterseite des Fliegers. Und gleich daneben sah er den Spähwagen der Visitors… und er blickte genau in eines der Gesichter, in das einer plumpen, schwarzhaarigen Frau mit todbringenden Augen! »Bloß weg hier, Tomoko!« keuchte er. »Dieser Armleuchter von Pilot!« ließ sich Tomoko hören. »An der Antriebsautomatik hat sich ein Verbindungsstück gelöst. CB, hast du noch das Metall?« »Hier ist das Papinium«, rief CB, nach vorn flitzend und es zu einem langen, dünnen Faden formend. »Ich hoffe, es funktioniert«, meinte sie und setzte es irgendwo an der Konsole ein. Als sie abhoben, sah Matt den brennenden Chevy. »Da gehen sie dahin, deine Sci-fi-Bücher«, bemerkte er noch. »Ruh dich aus«, sagte Tomoko. »Ich versuche nordöstlich, in Richtung auf den Grand Canyon, durchzubrechen.« Der Wind blies heftig durch die offene Luke. »Jesus, schließt die Luke!« stöhnte er. CB tat es. Plötzlich wurde es still. Durch das Fenster sah er die Lasergeschosse, die vom Spähwagen in den Himmel jagten, er sah die Energiestrahlen, die stoßweise heraufzuckten… Gottverdammt, dachte er, das war’s, wir werden sterben, wir werden sterben… Dann verlor er das Bewußtsein.
Kapitel 6
Als der Chevy nur wenige Meter entfernt explodierte, fragte Dianas Gesicht vom Bildschirm. »Und, was gibt’s? Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, deinen Unsinn anzuhören.« Medea antwortete, »wir haben gerade ihren Wagen zerstört, Diana.« »Ausgezeichnet!« Der Mund der Obersten Kommandantin verzog sich zu einem Grinsen. »Offengestanden, Medea, Liebling, bin ich überrascht, daß es dir gelungen ist, sie zu liquidieren. Aber ehrlich gesagt, war das hier ja auch eine Nummer kleiner als das fehlgeschlagene Florida-Projekt, nicht wahr? Okay, wann krieg’ ich ihre Köpfe? Ich bin schon so scharf drauf.« Sie mußte Medeas Unruhe bemerkt haben, denn sie schwieg und sagte dann: »Du scheinst nicht sehr glücklich zu sein, Medea, wenn man bedenkt, daß du gerade befördert worden bist.« »Ja…« Medea überlegte kurz, daß es wohl besser war, es lieber gleich zu sagen. »Sie haben die Kampffähre gekapert. Sie sind schon weg damit, in Richtung Norden!« Dianas Augen verengten sich zu Schlitzen. Selbst durch ihre menschliche Maske sah man ihre Reptiliennatur. Medea schauderte. »Du zwingst mich, selbst einzugreifen, Medea. Und du weißt, wie beschäftigt ich bin.« »Bitte! Du brauchst nur ein paar funktionsfähige Kampffähren zu schicken, und ich werde sie verfolgen können und – « »Funktionsfähig, tatsächlich! Deine eigenen Piloten können sie nicht fliegen, aber sie scheinen keine Probleme damit zu
haben. Soll das heißen, daß diese Menschen unsere Fluggeräte besser handhaben können als unsere eigenen Untergebenen?« »Diana – « bettelte Medea unterwürfig. Ihr war klar, daß sie ihre Beförderung durch diesen einen Fehler wahrscheinlich für immer verwirkt hatte. »Okay, mir bleibt nichts anderes übrig, als selbst mit zwei oder drei Kampfschiffen zu kommen«, meinte Diana. »Ich werde dir zeigen, wie man es richtig macht.« »Aber – « Medea fiel nichts mehr ein. Sie trank noch einen Schluck von ihrem Blutcocktail und zerbrach sich verzweifelt darüber den Kopf, wie sie aus der ganzen Sache am besten herauskommen konnte. »Du kannst mich in weniger als einer Stunde erwarten. Ich werde sie schnell aufspüren. Das ist etwas für Experten und nichts für schwachsinnige Bürokraten, die sich durch Intrigen und Sex hochgearbeitet haben! Mir scheint, mit deinem legendären boshaften Charme ist es vorbei, du klägliche Kreatur.« Wütend unterbrach Medea mit einem Zungenschlag den Kontakt und wandte sich um, um ihre übriggebliebenen Untergebenen mit wütenden Kommandos anzublaffen.
»Sind wir in Sicherheit?« fragte CB flüsternd, als er sich neben Tomoko setzte, die vollauf mit der Alien-Kampffähre beschäftigt war. »Ja. Aber ich weiß nicht, für wie lange.« Tief unter ihnen erstreckte sich der Grand Canyon. Die kalten Sterne am Nachthimmel tauchten die zerklüfteten Zacken des Plateaus in silbriges Licht. Die Farben waren durch die Dunkelheit gedämpft. Eine unermeßliche Weite, so wunderschön. »So sah es hier schon immer aus«, sagte CB voller Staunen, »und wenn es uns nicht mehr gibt und wenn es die Lizards
nicht mehr gibt wird es höchstwahrscheinlich hier immer noch so aussehen. Es wirkt so – so erhaben.« »Ja.« Tomoko hatte Teile der Konsolenverkleidung abgeschraubt und die unterbrochene Verbindung wiederhergestellt; das Papinium-Stück ruhte schon wieder sicher in CBs Hosentasche. Matt döste noch. Sie wollte ihn jetzt nicht wecken. Wahrscheinlich würden sie ihn bald wieder brauchen. Sie schwebten hoch über dem Canyon dahin. Der Morgenstern war am Himmel erschienen; nur noch wenige Stunden bis zum Sonnenaufgang. CB kann manchmal richtig weise sein, dachte sie, und legte ihren Arm um seine Schulter. Es stimmte, der Kampf zwischen Mensch und Reptil konnte diesem atemberaubenden Panorama hier nichts anhaben. Der Canyon erstreckte sich über den ganzen Horizont, wie eine sich windende, schattenwerfende Schlange, in die noch tieferen Schatten der Nacht gehüllt; hier und da ein Glitzern, wenn das Sternenlicht auf Wasser fiel. Die Entwicklung des Menschen zu denkenden Wesen, zu einer hohen Stufe der Zivilisation – dies alles, bis zur Vernichtung der menschlichen Rasse durch die grauenhafte Herrschaft der Visitors, hatte dieses Gebirge gesehen. »CB«, sagte sie weich. Aber der Junge war an ihrer Schulter eingeschlafen. Nun war sie allein mit ihren Gedanken. Sanft glitt die Kampffähre durch die Luft, kaum eine Bewegung war zu merken. Sie dachte an die Menschen, die sie geliebt und durch diesen schrecklichen Krieg verloren hatte. Anne Williams, Matts mutige Sekretärin, die im Kampf gegen die Lizards getötet worden war. Professor Schwabauer – ob er wirklich noch lebte? Und Fieh Chan, den sie zunächst für böse gehalten hatte, der in Wirklichkeit Kenzo Sugihara, der Alien-Schwertmeister war, und der gestorben war, damit sie ihre Liebe für Matt wiederfinden konnte. Sie
vermißte ihn, wünschte, ihn jetzt neben sich zu haben. Sie waren sich so ähnlich, sie und der Alien, der für die Menschen kämpfte. Sie beide vereinten zwei Welten in sich: sie die von Ost und West, er die von den Sternen und der Erde. Sie waren verschieden… geprägt von ihren jeweiligen Kulturen, auf der Suche nach der eigenen Identität im Labyrinth ihrer Existenzen. Er war der einzige, der mich verstanden hat, dachte sie. Obwohl ich Matt liebe, und wir schon so viel gemeinsam erlebt und durchgestanden haben… aber das einzige Wesen, das es verstanden hat, tief in meinem Herzen zu lesen, war ein Reptil von einem anderen Planeten gewesen. Aber der Alien war tot. Dennoch hoffte Tomoko, sie hoffte… Sie wurde abrupt aus ihren Träumen gerissen, als sie drei Sterne am Himmel vorbeisausen sah. Sterne können sich nicht so schnell bewegen, dachte sie. Das sind – »Wach auf!« Sie stieß CB an und bat ihn, Matt zu wecken. »Wir haben Gesellschaft bekommen.« »Was können wir tun?« fragte CB. Auch er sah sie jetzt am Horizont. »Das ist ja der Wahnsinn! Das muß die halbe LizardFlotte sein!« »Oh, Matt, Matt, wach auf!« rief sie panisch. »Wach auf, Matt… bitte wach auf…«, bat CB und schüttelte ihn. »Waas – «, fragte Matt und schnellte hoch. »Lizard-Kampffähren!« rief CB. »Und mir scheint, sie verfolgen uns.« »Oh«, meinte Matt. »Ich hoffe, du hattest ein lockeres Handgelenk an den Spielautomaten – « »Es war nie besser, Matt«, strahlte der Junge. »Fünfzehn Mal am Tag habe ich es geschafft, ›Galage‹ zu erledigen. Mein Rekord, bevor wir aufbrachen.«
»Dann schnell. Setz dich an eine Laserkanone und halt die Augen offen. Ich nehme die andere – « »Oh, nein! Nur eine von ihnen funktioniert!« rief CB. »Wenn ich daran denke, wie wir herummanipulieren mußten«, meinte Tomoko, »wundert mich das nicht.« »Egal, wir müssen sofort handeln«, sagte Matt. »Willst du schießen, CB? Oder soll ich es machen?« »Machst du Witze, Matt? Hast du vergessen, wie du dich beim Videospielen angestellt hast?« Matt seufzte und setzte sich neben Tomoko in den Copilotensessel.
»Medea, Liebling, hör auf herumzuzappeln, steuere lieber die Fähre«, sagte Diana irritiert. »Ich will das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen, so daß ich zurück kann, um die Aufstände zu kontrollieren.« Nervös fummelte Medea an den Kontrollen von Dianas schnittigem, neuestem Kampffähren-Modell herum. Es war gerade zehn Minuten her, daß die Oberste Kommandeurin mürrisch und verdrossen angekommen war, um Medea aufzulesen. »Jetzt hab’ ich ein Signal«, sagte sie, den Bildschirm nach der gekaperten Kampffähre absuchend. »Gut, nichts wie hinterher!« rief Diana. »Drei gegen eins. Was um alles in der Welt beunruhigt dich nur?« »Aber ich bin wirklich nicht beunruhigt, Diana«, gab sie zurück. In Wirklichkeit machte sie sich viel mehr Gedanken über das Erscheinen der kapriziösen Kommandeurin als über ihre Unfähigkeit, die Widerstandskämpfer abzuschießen. Sie konnte sich vorstellen, daß der einzige Grund für Dianas Kommen war, persönlich ein Auge auf sie zu haben, um sicher zu gehen, daß sie nicht noch einen weiteren Fehler machte. Im
allgemeinen würde irgendein Speichellecker mit einem solchen unbedeutenden Auftrag betraut. Medea konnte sich nicht auf die Steuerung des Shuttles konzentrieren, und die Fähre kippte zur Seite. Diana fiel aus ihrem Sitz. Als die Fähre sich wieder aufgerichtet hatte und Diana wieder saß, konnte Medea erkennen, wie wütend ihre Kommandeurin war. Nicht von ungefähr hatte Diana als Menschen-Namen den einer Göttin der Erde gewählt – der Göttin der Jagd! Ja, Diana war eine Jägerin. Aber wen jagte sie? Einige unbedeutende Angehörige der Widerstandsbewegung oder vielleicht sie, Medea, ihre einstige Favoritin? Medea war überzeugt davon, daß Diana irgendeinen heimtückischen Plan gegen sie ausgeheckt hatte. War die Jagd vorbei, so hatte Diana selten noch Interesse an ihren Opfern, sie warf sie weg wie Müll. Obwohl Medea auf ihre eigene kriegerische Natur stolz war, mußte sie zugeben, daß Dianas Rücksichtslosigkeit noch um eine Klasse besser war. Jetzt sahen sie den Feind. »Da sind sie«, sagte Diana kalt, »über dem Canyon. Was für ein ideales natürliches Versteck! Nach dem Sieg werden wir es dem Erdboden gleichmachen und dort eine riesige Nahrungsmittelfabrik errichten.« In stetiger V-Formation nahmen die drei Flieger Kurs auf ihre Beute und schwebten hinunter, dem Canyon entgegen. Ein leichtes Lächeln umspielte Dianas Lippen. »Du scheinst erfreut«, stellte Medea fest, »daß wir sie noch nicht liquidiert haben.« »Der größte Spaß ist die Jagd«, antwortete Diana, die Augen schließend. Wie lebendig diese Masken wirken, dachte Medea. Sie können jede Gefühlsnuance wiedergeben. Und Diana strahlte richtig in tödlicher Schönheit trotz dieser behaarten Haut und dieser affenähnlichen Gesichtszüge.
Kapitel 7
»Sie haben sich aufgeteilt!« rief CB. »Alle drei kriege ich nicht rein. Ich kann nur eins anpeilen.« Zwei der Alien-Fähren schossen auf sie zu. Die dritte verharrte hoch über ihnen. »Die da oben greift nicht an. Da muß einer ihrer Anführer drin sein. Die anderen beiden sind nur Kanonenfutter«, meinte Matt. »Tomoko weich aus – mein Gott, weich aus!« Er klammerte sich fest, als das Shuttle aufstieg und auf den Morgenstern zuschoß. Laserblitze zuckten durch die Dunkelheit. »Ich kann nichts mehr erkennen, ich kann nichts mehr sehen!« schrie Tomoko. Matt hangelte sich zurück zur Steuerkonsole. »Ich steuere, du fliegst«, sagte er. »Ich werde schießen… ich schieße… verfehlt!« schrie CB. Ein blauer Lichtstrahl schoß aus ihrem Kampfflieger auf den Feind zu… und verpuffte. »Die Laser müßten aufgeladen werden. Sie funktionieren nur noch, wenn wir nahe dran sind.« »Sie kommen zurück«, rief Matt. »Ausweichmanöver!« Wild hantierte er die Kontrollen. Der Kampfflieger reagierte schwerfällig. »Da gibt’s nur eins«, meinte Tomoko. »Sturzflug.« »In den Canyon?« fragte Matt. »Genau das meine ich.« »Sie werden uns einseifen«, sagte CB. »Kann sein. Aber, Matt, bedenke… diese Leute verfügen über erstklassige Kampf Shuttles. Ich habe die Marke erkannt. Ich wette, daß in dem da oben, der den Kampf beobachtet, Diana persönlich sitzt! Und du weißt, was das bedeutet. Mit
ihren aufgemotzten Systemen können diese Flieger in Sekunden beschleunigen – schneller als die Reaktionszeit jedes Menschen oder Lizards! Sie haben sie extra für Höchstgeschwindigkeitsjagden in höheren Atmosphären konstruiert und nicht für vorsichtige Manöver in einem Canyon. Sie sind unfähig, zum richtigen Zeitpunkt abzubremsen und – « Matt schluckte ungläubig. Aber sie fielen schon in solchem Tempo ab, daß er meinte, sich erbrechen zu müssen. Es war nur noch wenige Minuten vor Tagesanbruch. Die Felshänge des Canyons waren von roten, rosa und grauen Rissen durchzogen. Aus dem Tal stieg Dunst auf. Sie fielen immer noch. »Ich hab’ ein gutes Gefühl, jetzt hier im Canyon«, meinte Tomoko. »Steuere jetzt dicht an den Felsen entlang, und wechsle von einer Felsseite zur anderen.« Matt folgte ihren Anweisungen und brachte die Kampffähre in eine unregelmäßige, spiralförmige Flugbahn, meterdicht an den Felsen vorbei. Plötzlich war eine der feindlichen Kampffähren hinter ihnen. »Schieß, CB!« »Darauf kannst du wetten!« Geschoß um Geschoß schlug in den dunklen Felsspalten ein. »Sie kommen näher!« schrie CB. »Schieß erst, wenn du dir sicher bist, daß sie nahe genug sind«, sagte Matt. Er beobachtete den Jungen, sein ernstes Gesicht, die Augen auf den Feind gerichtet; diesen Jungen, der eigentlich eine Schulbank drücken sollte, anstatt gegen die Lizard-Unterdrücker um sein Leben kämpfen zu müssen. Wie hätte Matt ahnen können, als er diesen Jungen aufnahm, dessen Eltern brutal ermordet und von den Visitors bei lebendigem Leib aufgefressen worden waren, daß er ihn in solche Gefahr bringen würde. Sie mußten die freien Staaten erreichen,
lebend… Das war er ihm schuldig! Er hatte ein Recht auf normales Leben. Die Visitor-Fähre war fast heran. »Hier geht nichts mehr!« rief CB und bearbeitete die Kontrollen. Der Feind kam immer näher, und für einen Moment sah es so aus, als ob der Kampf verloren wäre. Dann erfolgte die Explosion, das Zerbersten von Metallteilen, das Geprassel der Metallstücke gegen die Flanken ihres Shuttles. »Du hast den Bastard erwischt«, stieß Matt hervor. »Keine Zeit. Da ist schon der nächste«, sagte CB. »Er drückt wirklich auf die Tube«, sagte Matt. »Tomoko kannst du noch eine Zahn zulegen?« »Nein… nein, ich glaube, wir verlieren an Geschwindigkeit. Diese alte Kiste ist dafür einfach nicht geeignet.« »Gut. Geh noch mehr runter, so weit du kannst. Ich habe eine Idee. Erinnerst du dich, was du über die Supershuttles gesagt hast, daß sie für diese Art von Kampf nicht geeignet sind?« »Ja.« »Wir müssen sie runterlocken.« »Genau.« »CB, wenn wir sie weit genug unten am Boden haben, sie uns verfolgen – « »Da sind sie schon!« kreischte er aufgeregt. »Sie halten auf uns zu!« »Schnell! Schieß einfach auf die Felsen ringsherum – versuch, einen Steinschlag auszulösen!« CB feuerte wild drauflos. Felsbrocken flogen. Ein riesiger Brocken bewegte sich und stürzte dann hinunter. Die Wucht des Aufpralls hallte durch den Canyon. Sich umblickend, sah Matt, daß die Lizards hochschnellten, um dem umherfliegenden Gestein auszuweichen. Es sah fast aus wie Bocksprünge. »Ich glaube, wir haben es geschafft. Sie sind in Panik«, freute sich Matt.
»Paß auf! Eine Flußbiegung. Matt, weich aus!« schrie Tomoko auf. »Volles Rohr!« rief Matt. »Ich habe alles unter Kontrolle.« Vor ihnen tauchte eine riesige schwarze Wand auf. Das feindliche Shuttle war jetzt nur noch etwa 100 Meter entfernt und kam näher und näher – Mit aller Kraft betätigte Matt die Kontrollen und riß die Fähre herum. Dicht neben ihnen prallte die andere Kampffähre mit voller Wucht gegen die Felswand des Canyons. Es sah aus, als ob der Feuerball den ganzen Berg erfassen wollte. Ein endloses Aufprall-Echo folgte. Aufsteigen, aufsteigen, dachte Matt, die Kontrollen betätigend. »Jetzt ist nur noch eine übrig«, sagte CB. »Die, welche die ganze Zeit über uns schwebte, ohne anzugreifen.« Matt konnte sie jetzt auch sehen, im Sonnenaufgang schimmernd. Im Gleitflug abwartend. Wartend. »Was machen wir jetzt?« fragte er. »Die Laser sind hin«, berichtete CB. »Beschleunigungskraft nur noch gering«, sagte Tomoko. CB kam zu ihnen nach vorn und setzte sich zwischen sie. »Versuchen wir es trotzdem?« »Ich weiß nicht«, sagte Matt. »Mit dem Fallschirm abspringen?« überlegte Tomoko, und erinnerte sie damit an ihr letztes Abenteuer, als sie gezwungen waren, über Tokio abzuspringen. »Ja. Vielleicht. Laßt mich überlegen.« Matt wollte nicht zeigen, wie verzweifelt er war. Wie naiv, zu glauben, sie könnten die freien Staaten erreichen. Wie viele Meilen hatten sie geschafft. Zwei- oder dreitausend? Kein Lieferwagen mehr. Die Tanks der Visitor-Fähre waren so gut wie leer. Ein weiteres feindliches Shuttle lauerte darauf, sie zu vernichten;
und selbst, wenn sie entkommen könnten, dann würde ein neues auftauchen… und wieder eins… und wieder eins… »Ich weiß es einfach nicht!« sagte er schließlich. »Es scheint, daß die Zahl der menschlichen Wesen auf dieser Erde immer mehr dezimiert wird – und dafür ein endloser Nachschub von Lizards aus dem All kommt, wie Wellen im Meer, auf eine Welle folgt die nächste. Jetzt verstehe ich, wie sich die Indianer gefühlt haben müssen, als die Kavallerie die Hügel heruntergeritten kam.« »Matt«, sagte Tomoko, und der Junge und sie streichelten sanft seine Hand. Wenn er nur den Mut hätte zu weinen. Aber er verbarg seine Gefühle vor ihnen, während er die Kampffähre in Richtung auf das Alien-Shuttle lenkte.
»Soll ich die Verfolgung aufnehmen?« fragte Medea, auf die zerschmetterte Kampffähre runterschauend, die am Rand des Canyons noch zu erkennen war. Sie war nicht besonders scharf drauf. Nicht, nachdem sie gesehen hatte, wie die beiden Kampffähren an den Felsen zerschmettert waren. Diana beobachtete das sich nähernde Shuttle. »Sie sind verrückt – verrückt, diese Menschen; sie sind bereit zu sterben, nur damit wir draufgehen. Dieser Mischling, Tomoko Jones; ich wage zu behaupten, sie fürchtet sich nicht, uns im Kamikazeflug anzugreifen.« Dann schwieg sie, aber ihr Gesicht verfinsterte sich. Sie wartete darauf, daß von Medea der nächste Vorschlag kam. Es ist immer dasselbe, dachte Medea. Schlage ich einen Angriff vor, wird sie mir Größenwahn vorwerfen, mahne ich zur Vorsicht, wäre es Feigheit. So machte es Diana mit allen. Nie, niemals traf sie eine falsche Entscheidung – oder sie bekam
einen Wutanfall, und der, der ihn verursacht hatte, rutschte unweigerlich die Karriereleiter nach unten. Was für eine verzwickte Situation, überlegte Medea. Aber sie hatte noch einen Trick parat, der ihr schon einmal sehr nützlich gewesen war. »Diana, Liebling«, flötete sie, die passable Parodie einer verführerischen Stimme, »wir könnten sie zu jeder Zeit kriegen, nicht wahr? Ich meine, schließlich sind es nur Menschen. Ich schwöre dir, ich krieg’ sie für dich. Und dann werden wir einen Festschmaus veranstalten, nur wir zwei, und ihre kleinen Herzen fressen! Aber inzwischen… ach, ich habe dich ja so lange nicht gesehen…« »Nenn mich nicht, Diana-Liebling«, schnappte Diana. »Aber du hast recht, ich hab’ wirklich nicht die Zeit, ein paar Winzlinge zu jagen. Ich muß dringend zurück nach Los Angeles. Die Jagd macht zwar Spaß, aber ich bin schließlich Kommandeurin eines Planeten und habe ernste Pflichten.« »Komm, laß uns ein oder zwei Minuten entspannen?« hauchte Medea und zeigte, die menschliche Maske herunterziehend, ihre schleimig glitzernden Schuppen, ihre roten Schlitzaugen, ihre delikaten Nackenlappen. »Oh, Diana. Ich hungere so nach… Zuwendung, jetzt, hier.« Sie beugte sich vor, um die gummiartige Kunsthaut von Dianas Gesicht zu streicheln. Unter der sie die Schuppen fühlen konnte, die Konturen von Reptilienmuskeln… und darunter… die geschmeidige Bewegung der Zunge. »Du fette, inkompetente Wachtel«, zischte Diana, und ihre Stimme klang mehr und mehr metallisch. Dennoch war sie erregt. Wie gut, dachte Medea, daß Diana nie besonders wählerisch war, was die Objekte ihrer Lust betraf. »Ich schwöre dir, daß ich sie kriege«, flüsterte Medea in einem quakenden, krächzenden Tonfall, bei ihresgleichen ein ausgesprochen erotisches Geräusch. »Ich werde sie jagen, den
ganzen Weg über die östlichen Berge und darüber hinaus. Ich jage sie im Niemandsland… und ich jage sie noch in den freien Staaten, ja, das werde ich tun!« »Der Rote Staub wird dich erwischen«, meinte Diana. »Kein großer Verlust!« »Ich werde die Papiniumtanks einsetzen, mit denen unser Freund Dingwall an der Ostküste experimentiert.« »Wieso weißt du davon? Das hat höchste Geheimstufe, wie kommen Handlanger wie du an diese Informationen?« »Ich befand mich nicht immer auf diesem Abstellposten, Diana. Hast du es vergessen? Du hast mich schließlich degradiert!« Ihre Lappen bebten nun, färbten sich dunkler vor unverhülltem Verlangen. Sie konnte den berauschenden Gestank riechen, den ihre Drüsen in dem engen, geschlossenen Kontrollraum des Shuttles ausschieden. »Sollten wir nicht unsere Feindschaft begraben, Diana? Einst waren wir… Partner… Liebende.« Ein durchdringender Lustschrei entwich Dianas hübscher rosafarbener Pseudokehle. Gut, dachte Medea, ich lasse mir also noch etwas Zeit für meine Rache. »Ich glaube, ich muß mich etwas entspannen«, stöhnte Diana. Ihre Zunge schwang im Maul hin und her, wie die einer Schlange zur Flöte des Schlangenbeschwörers. »Aber ich warne dich… wenn du noch mal versagst…« »Ich bin mir der Konsequenzen bewußt… oh, Diana… Diana… wie deine Schuppen glitzern… wie deine Augen schimmern im Alien-Sonnenlicht!«
»Wie merkwürdig«, meinte Tomoko, »sie greifen nicht an.« »Vielleicht verstecken sich hinter den Bergen noch ein paar Dutzend von diesen gottverdammten Kampffähren«, sagte Matt bitter.
»Das glaube ich nicht. Schau, sie wenden. Sie steuern Richtung Westen, weg von uns.« »Sie fürchten sich vor uns!« rief CB triumphierend. »Wir haben sie verjagt!« »Ich denke, es gibt keinen Grund zum Jubel«, meinte Matt, die Fähre beobachtend, wie sie vogelgleich und schimmernd über den Bergen entschwand. »Sie holen bestimmt Verstärkung. Besser wir verschwinden hier.« »Aber wohin?« fragte CB. »In die Freiheit!« sagte Matt sanft. »Meinst du, wir schaffen es?« fragte Tomoko. »Wir müssen!« antwortete Matt drängend. »Aber nicht mit dieser abgewrackten alten Kiste! Noch so eine Schlacht, und alles fällt aus: Steuerung, Triebwerk, die Laser, alles.« »Diese Laser sind schon kaputt«, sagte CB. »Wie lange brauchen wir noch?« fragte Matt, Tomoko nervös beobachtend, die die Anzeiger las. »Könnten wir so weit östlich kommen, bis Carolina, vielleicht bis zum Niemandsland, wo wir vielleicht eine Chance haben?« »Ich kann es nicht sagen!« antwortete Tomoko ängstlich. Sie drehten in Richtung Sonnenaufgang ab. Rötliches Sonnenlicht durchflutete den engen Kontrollraum, so daß es warm wurde. Sonnenaufgang, Neubeginn: ein sentimentales Symbol, aber letztendlich hatten sie die ersten 24 Stunden ihrer Flucht überlebt. »Jesus, ich will aus dieser Alien-Uniform raus«, platzte CB raus, das Papinium-Stück zu einem Korkenzieher drehend. »Das wird bald sein, Junge«, versprach Matt. »Bald. Ich verspreche es dir.« Er wußte nicht einmal, ob es überhaupt jemals passieren würde. Aber er durfte die Hoffnung nicht aufgeben, schon wegen des Jungen nicht.
Die Wolken sahen aus wie böse Geister, Omen des Grauens, in Rot getaucht. »Bloß weg hier«, sagte Matt. Er steuerte himmelwärts. Sie stießen durch eine grau-rote Wolkenschicht und kaltes, goldenes Sonnenlicht brach hervor, hoch oben über der einsamen Schönheit der Wüste.
Kapitel 8
Nach ihrem geschmacklosen tête-à-tête mit der Obersten Kommandeurin war Medea nicht gerade wohlgelaunt. Zurück in ihrer Kommandozentrale im Phoenix Hilton fiel sie in ihren Diwan am Fenster, mit Blick auf die Sonnenterrasse, und begann gierig zu fressen. Nicht eine verdammte Kampffähre, dachte sie, das ganze noch mal überdenkend. Sie hätte mir wenigstens die geben können, die ich zurückgeflogen habe. Aber nein. Sie läßt mich wieder mal einfach abblitzen. Wie kann ich so jemanden gefangennehmen. Beim höchsten Saurier, diese Menschen können jetzt schon tausend Meilen weg sein. Sie warf einen Blick auf das, was der Chefkoch ihr zum Frühstück zubereitet hatte. Ah, wie aufregend. Diese HamsterPastetchen. Ihr Lieblingsessen. Die Leckerbissen waren noch am Zappeln, bei ihrem verzweifelten Versuch, aus ihrem teigigen Gefängnis zu entkommen… Wie raffiniert! Wie schaffte er es nur, die Teighülle zu backen, ohne die Hamster zu töten? Das zeigt, dachte sie, wie kreativ ein gut konvertierter Mensch sein konnte im Dienste seiner Meister. Sie hielt es nicht mehr aus, sie mußte einen von diesen wilden, pochenden, warmblütigen, kleinen Nagern probieren; einen beim Schwanz greifend, schluckte sie ihn mit einem Mal hinunter. In der ganzen Galaxie gab es nichts Kräftigenderes als ein lebendes Säugetier. Trotz des dämlichen Eigensinns seiner Bewohner erfüllte dieser Planet diesbezüglich noch am besten von allen seinen Zweck. Oh, so warm, so blutig wie diese kleinen Kreaturen waren… und wie komfortabel für sie, umhüllt zu sein von einer heißen
Masse… und nicht erst die Sonne suchen zu müssen, die sie aus träge machender Kälte herausholte… Sie prickelte vor Wohlgefühl, das ihr der heftige Tod der Hamster verursacht hatte. Noch einen! dachte sie, automatisch nach den Köstlichkeiten greifend. Aber sie verzichtete schweren Herzens. Sie mußte überlegen, was zu tun sei, wenn sie je wieder in Dianas Gunst aufsteigen wollte. Natürlich, ihre etwas abartigen Wünsche zu befriedigen, reichte nicht aus, und Medea mußte selbst zugeben, daß ihr Körper auch nicht mehr ganz das Wahre war. Ihre Schuppen waren matt und glanzlos, und ihre Freßgier machte es ihr jeden Morgen schwerer, ihre menschliche Haut anzulegen. Sie mußte der Wahrheit ins Auge sehen. Beim FloridaProjekt hatte sie versagt; und ebenso hatte sie bei diesem kindisch einfachen Versuch versagt, drei dieser Widerständler gefangenzunehmen – einer von ihnen war sogar noch ein Kind gewesen. Einige Augenblicke lang zerfloß Medea vor Selbstmitleid. Aber Selbstmitleid war ein armseliger Ersatz für Macht, und so griff sie nach den Kontrollen ihrer Telekommunikationskonsole und begann Befehle auszuteilen. »Ich will, daß mein gesamter Zuständigkeitsbereich mobilisiert wird, hörst du?« befahl sie dem überarbeiteten Offizier, dessen gequältes Gesicht auf dem Bildschirm erschien. »Also los, du Langweiler!« »Ja, Medea. Natürlich, Medea.« Warum hatte sie den Eindruck, daß er so gar nicht ergeben mit ihr sprach? Welche Gerüchte hatte Dianas Erscheinen beim Personal ausgelöst? Planten sie vielleicht ein Attentat, diese verfluchten Untergebenen? Manchmal wünschte sie sich, einer von diesen feigen Menschen zu sein, anstatt zu dieser fanatischen, kriegsbesessenen grimmigen Spezies aus der Galaxie zu gehören.
Den Kopf voll skrupelloser Intrigen, gab sie einen Geheimcode in den Computer ein. Elektronische Impulse flitzten von einem Satelliten zum anderen und wurden über die Schalttafeln Dutzender von Mutterschiffen weitergeleitet, bis endlich ihr Ruf durchgestellt war. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines jungen schwarzen Mannes, der einen Smoking trug. Am Hals trug er eine rote Fliege und um die Hüften einen schärpenartigen Gürtel, und in einer Hand hielt er einen Taktstock, mit dem er offensichtlich dirigierte. Irgendwo aus dem Hintergrund erscholl mächtig diese der Vergangenheit angehörende Musik, die diese niederen Wesen so liebten. Medea zuckte zusammen. »Wie kannst du nur diesen grauenhaften Lärm aushalten, Dingwall«, fragte sie. »Nun, das gehört eben zu einer Persönlichkeit«, erwiderte Dingwall schroff. »Hast du noch nie von der Methode des Ausagierens gehört? Es ist eine Technik, die diese Menschen in einer ihrer Kunstformen verwenden, genannt Theater, bei der sie andere Personen darstellen. Ich habe eine Seite aus einem ihrer Bücher gefunden… Aber es ist lange her, daß jemand mich hier in meiner Verkleidung aufgespürt hat. Wieso rufst du hier an… und auch noch meinen Geheimcode, nicht zu fassen! Ich habe Probe. Es ist Mozarts G-Moll-Symphonie. Sehr interessant, auf eine sehr ursprüngliche Art und Weise – « »Mußt du mir jedes Mal einen Vortrag über diese Affenkunst halten, wenn ich dich anrufe?« fragte Medea irritiert. »Bitte versteh mich richtig. Hier gibt es nur diese Menschen. Du weißt, daß Washington, D. C. nie unter unserer Besatzung war. Und man rechnet auch jetzt nicht damit, daß wir hier sind. Es war sehr schwer für mich, mich hier einzugewöhnen, und als Spion mache ich auch nicht allzu große Fortschritte.«
»Du bist selbst schuld, weil du immer versuchst, zu einer Persönlichkeit ihres Kunstbetriebs zu werden«, höhnte Medea. Dingwall seufzte. »Ich dachte, dann würde alles einfacher. Ihre Künstler sind so exzentrisch. Ich vermute sogar, wenn ich mich aus Versehen wie ein Reptil verhalten würde, wäre es für sie nichts weiter als ein etwas ausgefallenes Kunststück. Und irgendwo gefällt es mir, der Leiter des McLean-YouthOrchesters zu sein.« Er schaute sich nach allen Seiten um und flüsterte verschwörerisch, »Die Jüngsten sind die schmackhaftesten – « »Untersteh dich – « »Ich war vorsichtig, ich schwöre es dir! Aber manchmal ist es so hart, zu widerstehen. Wie dem auch sei, ist das ein privater Anruf, oder gehe ich recht in der Annahme, daß Medea mal wieder Probleme mit den Vorgesetzten hat?« Medea zuckte erstaunt zusammen, wie gut er sie kannte. Aber eigentlich sollte sie das nicht überraschen; damals, auf ihrem Heimatplaneten, waren sie einander sehr verbunden gewesen. Sie hatten sogar vorgehabt, zu heiraten und ihre Brut aufzuziehen. Aber dann kam die Gelegenheit, diese barbarische Welt zu kolonialisieren, und keiner von beiden konnte dieser Herausforderung widerstehen. »Alles klar?« meinte Dingwall und wollte schon den Kommunikator ausschalten. »Warte! Es gibt Probleme. Und sie werden bald auch dich betreffen. Wie steht’s mit dem Papinium-Projekt?« »Der Prototyp eines mit Papinium verkleideten Fahrzeugs, mit dem wir in von Rotem Staub verseuchte Gebiete eindringen können, ohne uns zu infizieren, wird gerade in North Carolina getestet«, berichtete Dingwall. »Warum ist das plötzlich von Interesse? Habe ich dir überhaupt schon von der neuen Loukas-Stourmwitch-Symphonie erzählt?«
»Und wer ist Loukas Stourmwitch?« fragte Medea. Ihr war klar, daß sie sich noch mehr von diesem Kunstgeschwätz anhören mußte, bevor er bereit war, auf ihre Probleme einzugehen. »Einer dieser edlen, ursprünglichen menschlichen Künstler?« »Um Gottes willen, nein. Wie spießig du sein kannst, Medea! Stourmwitch« – er wechselte jetzt in eine saubere Reptiliendiktion, die mit einem wilden Zischen begann und mit einem schnellen Zungenschlag und einem heftigen Einatmen endete – »ist einer der größten Musiker unseres Heimatplaneten. Und ich bin gerade dabei, sein neuestes Werk, die ›Galaktische Symphonie‹, in einem besonderen Arrangement mit meinem McLean-Youth-Orchester zu proben, mit diesen kakophonischen Musikinstrumenten, die sie benutzen. Bei einer Spezialgala zur Förderung intergalaktischer Zusammenarbeit und Bruderschaft wird sie uraufgeführt.« »So, jetzt will ich nichts mehr von deinen lächerlichen Hobbies hören! Die ganze Zeit will ich dir schon erzählen, daß drei führende Mitglieder der Widerstandsbewegung mit einer gekaperten Kampffähre in Richtung Washington geflüchtet sind… und wahrscheinlich haben sie das Papinium dabei, das Donovan und Parrish letzte Woche aus dem Kommandozentrum von Los Angeles gestohlen haben.« »Ja, warum sagst du denn das nicht gleich! Das fällt doch genau mit dem Loukas-Stourmwitch-Konzert zusammen – « »Ich warne dich, Dingwall. Ich stehe immer noch über dir, wenn auch nicht viel. Ich möchte, daß die Papinium-Tanks startklar gemacht werden! Heute noch! Ich will sie durchs Niemandsland jagen… bis zu den freien Staaten, wenn es nötig sein sollte.« »Die drei müssen ja ganz schön wichtig für dich sein«, meinte Dingwall. »Und erzähl mir bloß nicht, daß du mit
Diana gemeinsame Sache machst. Okay, aber ich helfe dir erst, wenn du wirklich hier bist, Medea. Schließlich will ich nicht für immer hier bleiben. Es ist so einsam, Spion auf fremdem Territorium zu sein. Ich möchte lieber einen bequemeren Job… so einen wie deinen vielleicht.« »Ja, ja, das wird sich schon machen lassen.« »Aber ich möchte auch nicht meine Pläne aufgeben, Medea. Mein Stourmwitch-Konzert. Das ist mein eigenes kleines Projekt, das aber vielleicht dazu beitragen kann, große Gebiete dieses Planeten für uns zu erobern.« »Durch ein bißchen Musik? Das ist absurd.« »Nein, wie schon einer ihrer Stückeschreiber sagte, ›Musik hat den Charme, die wilde Bestie zu besänftigen‹.« »Noch mehr von diesem primitiven Quatsch? Ich sehe darin keinen Sinn. Ich höre der menschlichen Poesie genausowenig zu, wie ich dem Quietschen des Hamsters zuhöre«, sagte sie, einen in ihr Maul stopfend. »Alles ist nur Fressen, nichts weiter als Fressen.« »Aber du siehst die Schönheit dessen nicht. Dieser Planet hat Nahrung, die singen und tanzen kann; selbst Sex kannst du damit machen! Das menschliche Wesen ist das perfekteste biologische Produkt: Es unterhält, es dient uns, und es ist eines der nahrhaftesten Geschöpfe in der ganzen Galaxie.« »Das ist es, mein Lieber«, sagte Medea nachdenklich, »warum wir uns immer noch so gut verstehen.«
TEIL 2 Flucht durchs Niemandsland
Kapitel 9
Raymond Paul Smith pfiff vor sich hin, während er sein Gewehr reinigte. Am Bratspieß drehte sich schon der erlegte Hase, ein Geruch, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, und dazu der kalte Atem eines Appalachen-Morgens. Sein Begleiter, der die Maske eines menschlichen jungen Mannes trug, lächelte ihn an. »Möchtest du auch etwas von diesem Hasen, Junge?« fragte Ray, sich mit dem Messer ein Stück runterschneidend. »Nein, danke. Ich bin Veterinär.« »Na ja, nur weil du bei ihnen nach dem Rechten siehst, ist das noch lange kein Grund, sie nicht zu essen«, sagte Ray, kräftig hineinbeißend. »Nein, ich meine… ich glaub’, ich hab’ es falsch ausgedrückt?« wieder lächelte der junge Mann, nach dem richtigen Wort suchend. »Ich meine, ich wollte sagen, daß ich Vegetarier bin… nicht Veterinär…« »Oh, ein Vegetarier? Dann bist du aber ein wirklich wunderlicher Lizard. Falls du ein Lizard bist. Als wir durch die Staubzone gingen, hast du nicht einmal gehustet.« »Doktor Brunk, jetzt zurück in England, gab mir ein Gegenmittel. Er hat gesagt, es würde so lange wirken, bis ich in Kalifornien bin. Ich will den Bus nach Hollywood nehmen. Niemand hat mir erzählt, daß es zwei gibt, eines in Florida und eines in Kalifornien. Ich hab’ es erst in Raleigh herausgefunden.« »Na ja, ein bißchen will ich dir glauben«, sagte Ray. »Wie heißt du?« »Man nennt mich Willie.«
»Ein wirklich komischer Name für einen Lizard. Gut, Willie, hier in North Carolina haben wir keinen Krieg. Wir sind hier im Niemandsland. Die Lizards sind im Süden und die Menschen im Norden. Hier leben wir, wie wir wollen.« »Das ist nicht wahr«, sagte Willie plötzlich heftig. »Ich habe schreckliche Dinge hier gesehen. Indizien für geheime Anlagen. Ich weiß nicht genau, was hier vor sich geht, aber ich bin fest davon überzeugt, daß sie irgend etwas planen. Bitte… du mußt mir helfen. Oder du wirst deine Freiheit verlieren.« Ray dachte darüber eine Weile lang nach, während er aß. Hier in der Wildnis North Carolinas gab es keinen offensichtlichen Beweis für eine bevorstehende LizardInvasion. Natürlich hatte er alles im Fernsehen gesehen. Aber noch nie war er mit einem Lizard in Berührung gekommen, bis der völlig verwirrte Willie zu ihm gestoßen war. Ray dachte, daß der Junge einen wirklich guten Charakter hatte, und obwohl er kein ordentliches Englisch sprechen konnte, ging etwas Überzeugendes von ihm aus. »Was kann ich tun?« fragte er endlich. »Hilf mir, jemanden aus der Widerstandsbewegung ausfindig zu machen«, bat Willie. »Du bist gut!« sagte Ray. »Hier ringsherum gibt es außer uns keine Menschenseele. Aber ich hab’ ne Idee. Geh für ein paar Tage in die kleine Stadt. Wer weiß, vielleicht ergibt sich etwas.« »Schon passiert!« rief Willie und deutete zum Himmel. »So ein Mist!« fluchte Ray hochblickend. Was war das für ein leuchtendes Metallobjekt, das wie ein Komet durch die Luft schoß? Was waren das für rote Pünktchen, die vom Himmel fielen? »Fallschirmspringer«, schrie er. »Lizard-Fallschirmspringer!« Weiter oben knallte ein Ball aus Feuer und Metall in die Berge.
»Laß uns raufgehen und nachsehen, was los ist«, meinte Ray. »Ich befürchte das Schlimmste«, sagte Willie ängstlich. Die beiden kletterten hügelan durch den üppigen Wald. »Da, Rauch… vielleicht ein Waldbrand.« Ray zeigte nach oben. Ein heißer Windstoß blies ihm ins Gesicht. Er legte das Gewehr an. »Lizard-Abschaum! Oh, entschuldige.« »Macht nichts«, keuchte Willie. »Ich bin sowieso eher deiner Meinung.« Weiter oben versuchten drei Gestalten sich aus dem Dickicht zu befreien. Sie trugen Visitor-Uniformen. »Ich will verdammt sein«, fluchte Ray. »Wahrscheinlich hattest du doch recht. Die Lizards wollen die Berge erobern. Aber nur über meine Leiche.« Er feuerte einen Warnschuß ab. Das Echo hallte in den Bergen wider. »Warte eine Minute«, meinte Willie, »einer von denen ist ja noch ein Kind.« »Und einer Chinese«, sagte Ray. »Aber es sind eindeutig Lizards. Es wird ihnen nicht gelingen, meine Stadt einzunehmen.« Wieder legte er das Gewehr an – »Nein!« hörte man die Stimme des Jungen durch den Wind. »Nicht schießen… wir sind Menschen, wir sind Menschen!« Ray riß den Mund vor Staunen auf, als die drei auf sie zugewankt kamen. Sie sahen ganz schön mitgenommen aus; das Gesicht des Mannes war blutverschmiert von einem Riß über dem Auge, die Frau humpelte. Die Haare des Jungen standen zu Berge, und er trug einen glänzenden, blauen Ohrschmuck. Sie waren die kurioseste Gesellschaft, die er je gesehen hatte. Jetzt kamen sie näher. »Gott sei’s gedankt«, sagte der Mann. »Ich bin Matt. Das ist Tomoko. Und CB. Wir kommen aus Los Angeles. Wo sind wir hier?«
»Das ist ja wohl die unglaublichste Geschichte, die ich je gehört habe«, meinte Ray langsam. »Zuerst knallt diese Lizard-Kampffähre in die Berge« – man sah es in der Ferne immer noch brennen, und ein beißender Brandgeruch stieg ihm in die Nase – »und dann kommt ihr hier an und behauptet, ihr seid aus Los Angeles, und ihr tragt Lizard-Uniformen und wollt uns weismachen, ihr seid keine Lizards. Und der hier, Willie, sagt mir, er ist ein Lizard, aber er ist auf unserer Seite, und er trägt keine Uniform – « »Willie!« schrie Tomoko auf. Dem Alien fiel fast das künstliche Gesicht herunter. Jetzt erkannten sie sich. Es war ein so zufälliges Zusammentreffen, daß man es kaum glauben konnte. »Tomoko! Matt!« rief Willie aufgeregt. »Es ist kaum zu glauben. Eben noch bat ich diesen Mann, mich zu begleiten auf der Suche nach Widerstandskämpfern, als – « »Wir sind nicht mehr im Widerstand«, antwortete Matt. »Wir versuchen nur noch, in Freiheit irgendwo zu leben.« »Es war so schrecklich«, erzählte Tomoko. »Die Aufstände in L. A. der Tod von Nathan Bates – « »Er ist tot?« rief Willie erschrocken. »Irgendwo muß ein Blackout gewesen sein, ich habe nichts von allem erfahren.« »Will mir vielleicht jemand erklären, was überhaupt los ist?« fragte Ray gereizt. Die drei drehten sich zu ihm um. »Bitte, Sir«, sagte die Frau, »Sie müssen uns helfen, wir müssen den Weg in die freien Staaten finden, und wir wissen nicht, wo wir eigentlich sind.« »In Freiheit sind Sie noch nicht, Gnädigste«, sagte Ray. »Die gibt’s erst weiter nördlich. Hier sind wir in North Carolina. Im Niemandsland. Aber diese Seite der Berge ist gut mit Rotem Staub versorgt. Seit Monaten haben wir hier keinen Alien gesehen. Bis auf diesen Jungen.«
»Er gehört zur Fünften Kolonne«, erklärte Matt. »Er hat bestimmt ein Antitoxin genommen.« »Aber ich will nach Süden. Ich muß dorthin gehen, wo der Rote Staub nicht mehr aktiv ist.« »Und wir müssen nach Norden«, sagte Tomoko. »Bitte«, bat Willie. »Ich muß mit euch sprechen. Etwas wirklich Schreckliches geht hier vor sich. Geheime Anlagen…« »Wir haben keine Zeit dafür«, entgegnete Matt. »Wir haben genug getan. Ich möchte, daß der Junge eine normale Jugend erleben kann. Jedenfalls, was ihm noch davon bleibt.« Ray schaute den Jungen an, der alles andere als normal schien. »Was hast du da am Ohr?« fragte er schließlich. »Oh, einen Ohrring«, meinte CB. Er zog ihn ab. Es war eine Art blaugraues Metall. Als Willies Blick darauf fiel, fing er an zu stöhnen. »Papinium«, flüsterte er. »Ich hätte es wissen müssen, daß sie es bereits herstellen. Oh, es ist schrecklich, schrecklich. Das erklärt alles!« »Was meinst du eigentlich?« fragte Matt. »Daß es keine freien Staaten mehr geben wird, wenn ihr mir nicht helft«, sagte Willie verzweifelt. Jetzt reichte es Ray. »Kommt lieber mit ans Lagerfeuer«, forderte er sie auf. »Bevor ich nur noch mehr von diesem Scifi-Stoff anhöre, muß ich erstmal einen ordentlichen Drink zu mir nehmen.« »Ich denke, ich könnte auch einen vertragen«, sagte Matt. »Und ich auch«, meinte Tomoko. Ray zog eine Augenbraue hoch. »Und ich auch«, sagte der Junge.
»Du bist zu jung«, gab Matt zu bedenken. »Wenn man bedenkt, was ihr alles hinter euch habt«, meinte Ray, »bin ich der Meinung, daß wir uns alle besaufen sollten, einschließlich des Jungen.«
Kapitel 10
Dingwall legte seinen Kommunikator in der Größe einer Armbanduhr zur Seite und ging zurück in den Saal, um die Probe fortzusetzen, aber er war kaum in der Lage, sich auf die barbarische irdische Musik zu konzentrieren, die er dirigierte. Normalerweise gefielen ihm diese heftigen, sprunghaften Stimmungsschwankungen und unverständlichen Rhythmen ausgesprochen gut, obwohl er manchmal ein spöttisches Grinsen nicht unterdrücken konnte über diese seltsamen Harmonien. Aber im Moment hatte er keine Geduld dafür. Er mußte diese Probe so schnell wie möglich beenden und nach Hause fahren, um eine neue Dosis des gestohlenen Antitoxins zu nehmen; seine Immunität ließ deutlich nach, und der überall präsente Rote Staub verursache ihm Übelkeit. Er würde es höchstens noch ein oder zwei Stunden aushalten. Er klopfte mit dem Taktstock aufs Pult. »Sehr schön, Kinder«, lobte er. »Doch jetzt genug vom Mozart. Die Stourmwitch-Partituren, bitte.« »O nein!« sagte einer der Geiger. »Nicht schon wieder diesen komischen Avantgarde-Mist.« »Nur weil es ein Alien geschrieben hat«, sagte Dingwall gekränkt, »muß es ja nicht unbedingt schlecht sein. Wir alle müssen uns langsam mit der Kultur der Außerirdischen vertraut machen. Ich denke, daß auch ihr eine gewisse Schönheit darin entdecken werdet.« Noch so eine Bemerkung von dir, dachte er, und ich röste dich auf dem Grill und verspeise dich zum Mittagessen! Oh, wenn ich mich nur nicht so zurückhalten müßte! »Also los. Bar 102«, forderte er sie auf, hart mit dem Taktstock aufklopfend.
Das war mehr als Musik! Die Saiten wimmerten, und mit lockerer eingestellten Violinbögen und den mit Vaseline bestrichenen Saiten hatte er mit höchster Präzision das Timbre eines Gallindor erreicht. Ein Klang, ähnlich dem Paarungsschrei eines Säugetiers… wie wurde es noch genannt? Ach ja, Katze. Die Musik rief nostalgische Erinnerungen an seinen Heimatplaneten wach. Wenn er das geahnt hätte, wie einsam er sein würde unter diesen Fremden und daß er deren albernes Geschwätz ewig anhören mußte, ohne seinen Appetit auf menschliches Fleisch befriedigen zu dürfen, bis auf einige seltene und heimliche Ausflüge in die Slums der Stadt… Es ärgerte ihn unendlich, daß die Visitors diesen Planeten noch nicht vollständig erobert hatten und daß es immer noch Gebiete gab, wie diese freien Staaten, wo Menschen auf Reptilien herabblickten und sich weigerten, sich ehrfurchtsvoll vor ihnen zu verneigen. Gott sei’s gedankt, daß diese Menschen so naiv waren, dachte Dingwall. Trotz seines Frusts, unter diesen affenähnlichen Fremden leben zu müssen, hatte er doch einige sehr interessante Kontakte in dieser »freien« Welt herstellen können. Er nannte sie Noch-nicht-eroberte Staaten, denn diese Menschen waren solche Narren – solch disziplinlose Träumer –, daß es erstaunlich war, wie sie es überhaupt geschafft hatten, einen so hohen Zivilisationsgrad zu erreichen. Aber so großartig war das ja alles eigentlich gar nicht. Allein in diesem Jahrhundert war es ihnen fast gelungen, sich völlig selbst auszurotten. Ja, es war sehr interessant, ihre Geschichte zu studieren: Es war eine der blutigsten, über die er je gelesen hatte, höchstens mit der der Visitors vergleichbar; auf jeden Fall war sie unterhaltsamer als ihre reizlose Wischi-WaschiKunst. Ungestüm bewegte er die Arme, gefesselt von der Wildheit der Stourmwitch-Vision, die durch diese bizarren
Musikinstrumente noch gesteigert wurde. Auch die außerordentliche Inkompetenz dieser jungen Leute hatte ihre, von Stourmwitch gewiß nicht beabsichtigte Wirkung auf die »Galaktische Symphonie«. Dieses unbeschreibliche kreative Chaos, die versengende Perfektion des Laserstrahls, die Leere der Schwarzen Löcher, die unermeßliche Weite des Alls an sich – das Dingwall voll Ehrfurcht und Schrecken durchreist hatte, um dann auf einem Planeten voll widerlicher Affen leben zu müssen. Das war die wahre Hölle, dachte Dingwall. Er glaubte an den alten Mythos vom Paradiesgarten voll edler Reptilien, die ihre Würde verloren hatten durch die Schmeicheleien eines sie versuchenden Menschenaffen. Er verspürte keinerlei Sympathie für diese Kreaturen! Nur dann und wann Hunger. Sie waren so warmblütig! Ruhig bleiben, sagte er zu sich selbst. Das Wasser lief im Mund zusammen beim Anblick von 45 potentiellen Portionen saftigen jungen Fleisches. Jedes normale Reptil hätte das zum Wahnsinn getrieben. Er fuhr fort zu dirigieren. Er mußte diese Probe durchstehen… gerade jetzt, nach Medeas überraschenden Enthüllungen, und weil er genau wußte, welche politischen Manöver heute nacht noch auf ihn warteten, dort im Haus des rumänischen Botschafters, wo er die ersten Vorbereitungen für den geheimen Plan treffen mußte. Verdammte Medea! Hat sie bei Diana gequatscht? fragte er sich. Sicherlich nicht – sie war zu dumm dafür. Oder doch nicht? Endlich war die Probe zu Ende. Eltern drängten sich im Foyer des Alden Theaters, wo sie ihre Schützlinge erwarteten. Dingwall machte, daß er hinauskam.
Er kletterte in seinen Porsche, die unverhoffte Hinterlassenschaft eines reichen Bankiers, den er konvertiert und dann verspeist hatte, und fuhr zu seinem Stadthaus im Zentrum Alexandrias, eines malerischen kleinen Vororts von Washington. Das Haus war das unfreiwillige Geschenk eines anderen Konvertierten. Er parkte in einer Seitenallee. Es war Nacht. Zwei Breakdancer vergnügten sich vor seinem Haus. Er verscheuchte sie und ging hinein. Er zog seinen Smoking aus, den er immer trug, um sein Image als Exzentriker zu unterstreichen, das er aber insgeheim haßte, und schmiß den roten schärpenähnlichen Gürtel auf die Ablage. Und endlich, nach einem flüchtigen Nachschauen, ob auch kein Spion eingedrungen war, zog er sich die menschliche Maske herunter und warf sie aufs Sofa. Er verspürte große Erleichterung, nicht länger diese Kreaturen, die er so verachtete, imitieren zu müssen. Das Antitoxin, dachte er, und eilte zum Kühlschrank, wo er seinen Vorrat gelagert hatte. Nur noch ein paar Ampullen… ausreichend für höchstens noch einen Monat. Ich muß meine Aufgabe erledigt haben bis dahin… Dingwall ging in den Keller des Stadthauses hinunter, sorgfältig die Tür hinter sich zweimal verschließend. Nur hier, an diesem Geheimraum, konnte man erkennen, daß das hier kein normales Haus war. Dingwall hatte es in einen Kerker verwandelt. Es war der Raum, in dem er Konvertierungen durchführte. Wenn er auch jetzt nicht belegt war, so würde er doch bald ein paar Opfer beherbergen. Hier standen seine Kommunikationsgeräte und Monitore, mit denen Dingwall seinen Heimatplaneten erreichen konnte – die wahre Welt der Echsenwesen und nicht diese primitive Gesellschaft von Menschenaffen. Dingwall setzte sich an eine der Konsolen. Ein
Bildschirm leuchtete auf. »Ich muß mit Diana sprechen«, flüsterte Dingwall mit seiner metallisch schnarrenden Stimme. »Sie ist total beschäftigt«, antwortete der Offizier auf dem Mutterschiff. »Ach du bist’s. Ich versuche, dich durchzustellen, nicht so einfach bei diesen Aufständen – « »Ich warte.« Er griff nach einer vorbeilaufenden Küchenschabe und verschlang sie. »Ach du, Dingwall«, schnurrte Diana. »Bezaubernd wie immer«, sagte er, »trotz der Verkleidung.« »Spar dir deine Schmeicheleien. Ich weiß, daß du nie aus persönlichen Gründen anrufst. Was ist los?« »Jemand hat… ein gemeinsamer Freund«, antwortete Dingwall, »hat mir erzählt, daß ein paar andere von unseren gemeinsamen Freunden auf dem Weg hierher sind… und das sie zumindest einen Teil unseres gemeinsamen Geheimnisses kennen.« »Was meinst du damit?« »Entzückend diese Intrige. Ist dir meine Diskretion nicht wichtiger als Medeas großes, vorlautes Maul?« fragte Dingwall sanft. »Ich möchte, daß du weißt, daß ich ganz zu dir stehe. Medea hat keine Ahnung von der Größe meines geheimen Auftrags, und sie weiß auch nicht, daß ich fast täglich mit dir kommuniziere; das arme Ding hat völlig die Übersicht verloren, befürchte ich, seitdem du bedauerlicherweise gezwungen warst, sie zu degradieren. Sie weiß etwas von der Papinium-Anlage. Warum sonst gab sie mir den Befehl, die Papinium-Tanks startklar zu machen, um ein paar renitente Widerstandskämpfer zu jagen!« »Warum nicht?« meinte Diana. »Alles andere ist fehlgeschlagen. Und ich bin die letzte, die eine Nuklearwaffe auf eine Mücke richtet, aber… es ist vielleicht ganz nützlich, um zu erfahren, ob sie wirklich funktionieren.«
»Aber wenn nicht – müssen viele von uns sterben«, meinte Dingwall. »Seit wann schreckt dich das ab?« »Respekt. Deine Skrupellosigkeit beschämt ja sogar meine eigene«, sagte Dingwall lächelnd. Fürs erste hatte Diana ihm stillschweigend erlaubt, das zu tun, was er wollte – auch, alles auf Medea schieben zu können, wenn es ein Fiasko geben sollte. Medea wollte Macht, ganz offensichtlich. Aber sie war nie ein scharfsinniger Drahtzieher gewesen. Wenn die Stunde der Wahrheit kommen sollte, dann würde er es sein, dachte er mit zufriedenem Grinsen, der in der Hierarchie der Visitors aufsteigen würde, und nicht Medea. Sie würde niemals dazulernen, oder doch? Behutsam öffnete Dingwall eine Falltür im Boden seines Konvertierungsraums. Dieser Teil des Haus war der geheimste. Ein langer Schacht führte hinab in das Innere Alexandrias. Dingwall kletterte die modrigen eisernen Stufen hinunter. Dann stieß er auf einen Tunnel, gerade so breit, daß ein Mensch oder ein Visitor hindurch konnte. Rechts war der Eingang zu seinen Schlachtzimmern, wo er seine Opfer, wenn möglich lebend, aufhing. Später wurde der Tunnel breiter, und noch weiter befanden sich Flugscheiben. Dingwall kletterte auf eine hinauf und gab das Kommando ein, ihn zur Kommandozentrale des Papinium-Projekts zu bringen. Die Scheibe hob ab und begann sich einen Weg hinunter in das Labyrinth zu suchen… Das Labyrinth, dessen Wände mit einem Molekularfilm aus blauem Metall bespannt waren, dieses Labyrinth, von dem aus, zu einem Zeitpunkt, den ganz allein er bestimmte, eine neue Invasion kommen und diese anmaßenden »freien Staaten« ein für allemal vernichten würde.
Kapitel 11
»So, nun erzähl mal, wo sich diese geheimen Anlagen, von denen du weißt, befinden?« bat Matt Willie, als sie die kleine Hütte, in der Ray lebte, erreichten. CB, der niemals vor ihrer Flucht außerhalb einer Großstadt gelebt hatte, schaute sich neugierig alles an. Und Ray, der noch nie eine Halbjapanerin gesehen hatte, machte es ebenso mit Tomoko. Wie idyllisch hier alles war, fast wie bei den Waltons∗. Hier konnte man sich nur schwer vorstellen, was sie alles erlebt hatten: den Schrecken Tokios, die Panik in Los Angeles, ihren haarsträubenden Kampf und die knappe Flucht in Arizona, gerade erst einen Tag vorher. Die Begegnung mit Willie, den Matt vage kannte und von dem er wußte, daß er Mitglied des inneren Donovan-Zirkels war; auch das ganz außergewöhnlich, obwohl Matt bekannt gewesen war, daß Willie sich irgendwo in Neu England bei einem supergeheimen Projekt engagiert hatte und die örtliche Widerstandsbewegung unterstützen sollte. »Ich werde euch hinführen«, antwortete Willie. »Bitte. Dann wirst du es selbst sehen.« »Ich kann es nicht glauben«, sagte Tomoko, »daß wir dies alles überstanden haben… und immer noch keinen Frieden finden sollen! Ich beneide Kenzo Sugihara, obwohl er sterben mußte… aber er starb im Frieden mit sich selbst. Vielleicht ist das der einzige Weg, diesen schrecklichen Verhältnissen zu
∗
Familie in einer gleichnamigen amerikanischen Fernsehserie (Anm. d. Red.)
entkommen, vielleicht bleibt uns gar nichts anderes übrig… Was meinst du, Willie?« »Ich möchte euch etwas anbieten«, antwortete Willie sanft. Matt erkannte, daß er die gleiche heitere Gelassenheit ausstrahlte wie der Alien-Schwertmeister, und er spürte eine große Sehnsucht in sich, auch zu einer solchen Ruhe zu finden. »Wir von der pre-ta-na-ma-Bruderschaft haben eine Zeremonie, die wir das Ritual des Zon nennen. Soll ich es euch zeigen?« »Wow! Geheime Lizard-Voodoo-Riten!« rief CB. »Was genau wird da gemacht?« wollte Matt wissen. »Wir müssen uns schweigend an den Händen halten«, erklärte Willie. »Du machst Witze«, meinte Ray, »aber warum soll ich das nicht auch mal versuchen.« Sie setzten sich alle auf den Boden und hielten sich an den Händen. Es mußte ein seltsames Bild sein, diese fünf aus so völlig unterschiedlichen Schichten und Kulturen, ganz zu schweigen Planeten, stammenden Leute auf dem nackten Holzboden in einer Hütte in den Appalachen sitzen zu sehen. Nach einer langen, meditativen Stille, begann Willie mit hoher Stimme einen Singsang anzustimmen. Obwohl Matt sich lange Zeit mit asiatischer Kampfkunst beschäftigt hatte, wobei seine Meister auch des öfteren in ähnliche Trancezustände gefallen waren, hatte er noch nie so eine tiefe Erfahrung gemacht: die völlige Verschmelzung von innerem und äußerem Sein. Ein nie gekanntes tiefes Glücksgefühl durchflutete ihn. Er konnte Tomokos Ruhe spüren und ihre tiefe Liebe für ihn und auch ihre geheime Sehnsucht nach dem Schwertmeister… und ihre verborgene Hoffnung auf seine Rückkehr. Aber er war nicht mehr eifersüchtig. Ihr reines, tiefes Gefühl ließ jede Eifersucht sterben. Und er spürte, wie wichtig es für sie war. Er wurde ganz in ihren Traum hineingezogen, so daß er genau
wie sie fühlen konnte. Ist es das, was eine Frau ausmacht? dachte er. Zu seiner Rechten saß der Junge. Welche Gedanken hatte er, während die Stimme des Alien weitersummte. Zunächst konnte er die Gedanken des Jungen nicht deuten, es waren so viele Fragmente nur, durcheinandergewirbelt wie ein Fischschwarm. Er suchte, tiefer hineinzudringen. Er fand eine Schicht, dann eine nächste, voller Mißtrauen, voller Angst; er sah kristallklar, was er nur aus der Beschreibung kannte, den Angriff der Echsenwesen auf CBs früheres Zuhause, den Zusammenbruch seiner kindlichen Welt. Der Junge lebte in einem zerbrochenen Ganzen, das war gewiß. Aber unter dieser Angst, unter seiner coolen Art zu reden, da verbarg sich ein zärtlicher, nach Liebe suchender kleiner Junge. Matt hätte ihm am liebsten gesagt, daß er verstand, daß es okay war so verletzbar zu sein, nach allem, was passiert war. Aber es war eine so neue Erfahrung für ihn, daß er sich scheute, sie irgend jemandem mitzuteilen. Aber je länger das Ritual des Zon sich fortsetzte, um so klarer sah Matt, wie sehr sie alle drei einander brauchten. Dann tauchte er in die Gedanken und Gefühle von Ray und Willie ein. In Rays Gedanken überwog die Nostalgie, die Erinnerung an das, was nie mehr sein würde, und eine große Liebe zur Natur. Bei Willie fand er eine tiefe Einsamkeit. Denn Willie war nicht nur ein Alien unter Menschen; er war auch ein Fremder unter den Alien, ein Ausgestoßener, ein Verräter. Er hatte sich aufgelehnt gegen das kollektive Bewußtsein seiner Rasse, die seit Jahrhunderten gezwungen worden war, sich zu einer Kraft des Bösen zu entwickeln; aber in seinem Herzen gab es die Gewißheit, daß es dort, wo das Böse mächtig war, genausoviel Gutes gab. Als die Zeremonie dem Ende zuging, schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Matt wunderte sich: Warum hatten die Außerirdischen, wenn sie über solche bewundernswerten
psychischen Fähigkeiten verfügten, jeder Spiritualität entsagt? Wenn die menschliche Rasse nur ein Zehntel dieser Kraft gehabt hätte, hätte es nie Kriege gegeben und alle hätten in Frieden und Kooperation miteinander gelebt… war es nicht so? Plötzlich hörte er in seinem Kopf Willies sanfte Stimme. »Nein, Matt, so ist es nicht. Es wird immer Gut und Böse geben. Außer, außer, Matt Jones…« »Ich werde kämpfen«, sagte Matt leidenschaftlich. »Ja, du wirst immer kämpfen. Etwas in dir kann diese schrecklichen Dinge, die die Kreaturen im Namen von Macht und Eroberung einander antun, nicht tolerieren«, sagte Willies Stimme. »Aber es wird die Zeit kommen, wo auch du dein Schicksal erkennen wirst und dich vor ihm verneigst und es annimmst.« »Nein!« schrie Matt auf. Plötzlich war der Kreis unterbrochen. »Was ist denn jetzt los?« fragte CB schläfrig. »Viele Menschen erleben während des Zon-Rituals Lektionen«, sagte Willie. Tomoko lachte. »Du meinst Visionen!« »Ich glaube, ja.« »Aber Willie… jetzt, nachdem du deine Lizard-Tricks in unseren Köpfen ausprobiert hast, wirst du uns doch erzählen, was es mit diesen Anlagen auf sich hat«, meinte Ray. »Ich bin auch dafür«, sagte CB. »Wie es aussieht, bleibt uns nur noch übrig, zu Fuß nach Washington zu laufen. Und Kalifornier gehen nicht zu Fuß. Wenn wir in eine VisitorAnlage einbrechen, wird es uns vielleicht gelingen, einen Wagen zu stehlen oder etwas ähnliches. Das haben wir immer so gemacht. Tricksen. Anscheinend eine Gewohnheit unserer Gang.«
»Ich leihe euch meinen Pickup«, versprach Ray, »aber ich sehe keine Chance für euch, über die Grenze zu kommen. Sie haben überall zwischen hier und Richmond Checkpoints und Straßensperren errichtet, beide, sowohl die Menschen als auch die Lizards. Und bei den Menschen könnt ihr auch nicht sicher sein, manche sind Kollaborateure, und andere wollen die Nummer Eins werden. So oder so bist du totes Fleisch.« »Ich werde euch alles zeigen, was ich entdeckt habe«, versprach Willie. »Aber ich kann euch nicht nach Washington begleiten, ich bin mit meinem Antitoxin fast am Ende und muß schnell die staubfreien Gebieten erreichen, oder ich muß sterben… Aber zunächst werde ich euch dorthin führen.« »Dann laßt uns aufbrechen!« rief CB, das Papinium-Stück hin- und herbewegend, das er so geformt hatte, daß es aussah wie ein original amerikanischer Adler.
Kapitel 12
Rays Pickup-Trucker schwankte bedenklich von einer Seite auf die andere, während sie durch die abschüssigen Bergstraßen kurvten. Tomoko hielt den Atem an, während CB enormen Spaß an der Fahrerei zu haben schien, und es ihn auch nicht störte, mit Matt hinten zu sitzen. Noch nicht mal die Taxis in Tokio waren so schlecht gefahren! dachte sie, während sie durch Kurven röhrten und zornig die ein oder zwei vorbeifahrenden Wagen anhupten. Sie kniff die Augen zusammen, als sie fast gegen einen grauen bemoosten Felsen gefahren wären. »Links«, sagte Willie. »Was?« rief Tomoko ängstlich, hinter dem Armaturenbrett hervorlugend. »Da gibt es ja nicht mal mehr eine Straße, nur ein Pfad führt in die Wälder!« »Warum bist du auf einmal so ängstlich?« fragte Willie. »Du hast ein Kampfshuttle durch den Grand Canyon geflogen, hast du das schon vergessen? Und ich habe von der Geschichte erfahren, wie du mit Fieh Chan mit dem Fallschirm aus einem brennenden Alien-Raumschiff über einem Vorort von Tokio abgesprungen bist. Und auf einmal hast du Angst, die Appalachen mit einem Pickup zu durchqueren?« »Scheiß Berge«, meinte Ray. »Das hier ist etwas ganz anderes«, behauptete Tomoko, als der Wagen über ein paar Felsbrocken rutschte und knapp eine Pinie verfehlte. Sie drehte sich um und sah Matt und CB hinten rumalbern. Sie riefen ihr irgend etwas zu, aber sie konnte sie durch das Rückfenster nicht verstehen.
»Eine Pause!« bettelte Tomoko, als sie zwischen Bäumen hindurchsausten. »Halte hier!« rief Willie plötzlich. Quietschend hielten sie, und Tomoko wäre fast durch die Windschutzscheibe geflogen. Dann kletterten sie alle fünf aus dem Wagen und warteten darauf, daß Willie ihnen den Weg zeigte. Willie war stehengeblieben… er wirkte plötzlich sehr erschöpft. Ob die Antitoxinwirkung nachgelassen hatte? überlegte Tomoko. Sie wunderte sich darüber, wieviel Zeit Willie der Widerstandsbewegung opferte. Sie wunderte sich auch über sich selbst; auch sie war bereit, für die Menschheit zu sterben… genauso wie Fieh Chan es getan hatte. Und Fieh Chan war noch nicht einmal ein Mensch gewesen… und auch Willie war es nicht. War die militaristische Kultur der Lizards so grausam, daß selbst einige der ihren sie nicht ertragen konnten; daß diejenigen, die es nicht aushielten, so zu leben, sich selbst opferten, als Zeichen dafür, daß das Gute in der Alien-Rasse noch lebendig war? Wie tragisch, dachte Tomoko. Sie folgte den anderen. Willie führte sie einen Pfad hinunter, der nach Erde duftete. Ihre Füße sanken tief in den schlammigen Boden. Trockene Blätter fielen ihr ins Gesicht. Es muß Herbst sein, sagte sie zu sich selbst. Dieses Land hier hat verschiedene Jahreszeiten. Wie anders ist es hier als in Kalifornien… die Jahreszeit, die es den Lizards unmöglich machte, auch nur einen Fuß in die nördlichen Regionen zu setzen. Die Jahreszeiten sind der Schlüssel. Wechsel, Neubeginn, das Leben selbst. Sie lächelte über diese Ironie, plötzlich lief ein Eichhörnchen über den Weg. Und dort hinten, in einiger Entfernung – war das nicht ein Hirsch? Ja. Voller Würde schaute er zu ihnen herüber. Sie mußte an das Kinderbuch denken, Alice im Wunderland, als der Hirsch Alice erzählte, daß sie keine Angst zu haben brauche; »hier, im Wald
haben wir keine Namen«. Tomoko hatte sich nie vorstellen können, daß es so viele Töne von Grün und Braun geben könnte: Umbra, Sienna, Ocker, Sepia, alle miteinander harmonierend. »Auch ich liebe den Wald sehr, Ma’am«, erzählte ihr Ray, der instinktiv ihre Ehrfurcht verstand. »Aber es wird ihn nicht mehr lange geben, wenn Willie mit seiner Behauptung über die Lizard-Anlagen recht haben sollte.« Er summte einen alten Song der Alabamas, die so berühmt gewesen waren, bevor die Außerirdischen gekommen waren und alles verändert hatten. Tiefer und tiefer drangen sie in den Wald ein. Es wird immer dunkler, dachte Tomoko, und die Luft roch so erdig kräftig. Dann, auf einmal war die Luft von einem eigenartigen, süßlichen Geruch erfüllt… irgendwie verbrannt, vielleicht… Fleisch? »Was ist das nur für ein Geruch?« fragte sie. Willie antwortete nicht, und plötzlich wußte sie es – »Oh, mein Gott!« schrie sie auf. »Ja«, meinte Willie. »Ich fürchte, daß du es erraten hast. Es ist der Geruch… von gekochten Menschen!« »Ein Lizard-Barbecue«, sagte Matt grimmig. »Schaut, da sind sie.« »Das hier ist eine von den Zonen, wo es keinen Roten Staub gibt«, erklärte Willie. Tomoko bemerkte, daß er wesentlich ruhiger war, und er sah auch nicht mehr so angegriffen aus wie zuvor. »Ich möchte sie töten, diese Bastarde«, sagte CB wütend, den Blick in die Ferne gerichtet. »Ich möchte sie töten.« Tomoko legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn dorthin, wo die anderen standen. »Wenn ich einen zu fassen kriege, werde ich – « »Still, Junge. Die Zeit wird noch kommen.« Dann, hinter den Büschen, sah sie –
»Du brauchst mir nicht die Augen zuzuhalten, Tomoko, ich kann es schon ertragen.« Da waren sie, auf einer Lichtung, schwach vom Licht des Feuers erleuchtet; drei Visitors rösteten etwas an einem Bratspieß… ein Stück Fleisch, an dem noch ein Stück alter Jeans klebte… Sie trugen ihre verhaßten Uniformen. Aber nicht ihre Masken. Sie hatten ihre menschlichen Gesichter abgenommen, und die hingen an den Büschen wie Karnevalsmasken in den Schaufenstern. Sie sah ihre Augen glitzern wie glühende Kohlenstücke in der Dunkelheit. »Um den Eingang zu den Anlagen zu erreichen«, erklärte Willie, »müßt ihr an den Visitors vorbei. Schaut, dort, da hinten… die Höhle!« Sie sah den Eingang. Die Lizards unterhielten sich mit ihren schnarrenden Stimmen. »Was sagen sie?« fragte Matt. Willie lauschte. »Ich glaube zu verstehen, daß… daß es bald einen Angriff geben wird. Sie diskutieren über das Papinium… ein geheimes Tunnelnetz, das bald ganz Washington durchdringen wird!« Wieder hörte er konzentriert zu. »Wartet. Sie haben neue Befehle erhalten. Der Angriff wurde vorverlegt… sie haben nur noch eine Woche Zeit für die Vorbereitung.« »Für was?« fragte Matt. »Ich weiß es nicht«, sagte Willie. »Außer, es hat etwas zu tun mit…« Er kroch hinter einen Busch und spitzte die Ohren in einer peinlich wirkenden Alien-Geste. »Wartet. Das Netz von Tunneln… das Papinium-Labyrinth.« »Meinen sie damit ihre Invasion im Norden?« fragte Matt. »Ich denke ja«, meinte Willie, »irgend etwas über… Dingwalls Plan.« »Was ist denn das für ein Name?« sagte Ray lachend. »Ein Lizard-Name?«
»Ich weiß nichts über ihn… soweit ich es mitkriege, hat er eine Art Geheimauftrag und arbeitet irgendwo in den freien Gebieten«, sagte Willie seufzend. Tomoko starrte auf die Lizards, die gierig an ihrem gräßlichen Mahl fraßen. Sie waren so nah, daß man sie fast berühren konnte. Plötzlich sagte der eine von ihnen etwas zu den zwei anderen. Schuppige Klauen grapschten nach den Lasern. »Verdammt, sie müssen uns gewittert haben!« rief Matt. »Wir müssen sofort handeln.« »Yeah, batmanmäßig, ganz locker«, schlug CB vor. Bevor Tomoko noch etwas sagen konnte, hatte Matt sie schon runtergedrückt. Sie kniete hinter einem Eichenbaum, als der erste Laserstrahl einen Busch völlig verbrannte. Matt und CB tauschten einen Blick, dann stürzten sie, sich überschlagend, vor und entrissen zwei der Reptilien die Laserwaffen. Die dritte Echse bellte vor Überraschung und begann ziellos herumzuballern. Matt warf einen der beiden Laser Tomoko zu. »Gib uns Deckung!« Sie hielt die schwere Waffe in ihren Händen und zielte instinktiv… aber sie konnte nicht schießen. Sie stand da und sah dem Kampf zu. Ray rannte zu seinem Lastwagen und zog ein Gewehr hervor, aber bevor er sich umdrehen konnte, um damit zu schießen, traf ihn ein blauer Laserstrahl am Arm, und er schrie vor Schmerz auf. Tomoko biß die Zähne zusammen und hob den Laser an – aber sie hatte Angst, Matt oder CB aus Versehen zu treffen – Matt schlug jetzt mit seinen Fäusten zu, sprang vor und zurück – zu schnell für die trägen Kaltblüter. Der eine Alien, der immer noch den Laser hatte, knurrte wütend. CB griff ihn an, indem er zwischen seine Beine hechtete. Der Visitor strauchelte und fiel kopfüber in den Schlamm. Wenn ich nur besser sehen könnte, wenn es nur nicht so dunkel wäre, dachte Tomoko, immer noch die Waffe hochhaltend und in plötzlicher
Panik. Wo war der Auslöser? Sie hatte schon mal so ein Ding in den Händen gehabt, aber sie hatte es nie benutzen müssen. Die beiden entwaffneten Lizards waren hochgekommen und krochen auf sie zu, Schlamm und Schleim bedeckte ihre schuppigen Fratzen, Speichel floß aus ihren Mäulern, und aus ihren Kehlen drang ein metallisches Stöhnen. Sie kamen immer näher, auf sie zu, auf Willie! Und er stand da und tat nichts, obwohl auch er jetzt einen Laser in der Hand hielt. »Tu was!« kreischte sie. »Ach«, stöhnte er, »ich kann nicht… das pre-ta-na-ma verbietet mir, zu töten… bitte, zwing mich nicht!« Plötzlich wurde Tomoko klar, daß sie jetzt schießen mußte. Ray war verletzt, und Matt kämpfte um sein Leben. Sie sah den Jungen gegen einen Lizard kämpfen, der zweimal so groß war wie er selbst, der sich auf ihn stürzte und sich anschickte, ihm mit seinen Zähnen die Schulter zu zerfetzen, und sie wußte, sie mußte ihn retten, sie mußte… sie schloß die Augen, betätigte den Auslöser, und… Ein blauer Energiestrahl durchzuckte die Dunkelheit! Der Lizard, der sich auf CB gestürzt hatte, fiel tot zu Boden… dann der zweite… der dritte. Aber es kam nicht von Tomokos Schüssen. Matt und CB hielten inne und sahen einander erstaunt an. Die Echsenwesen schrien vor Angst, ihre Mäuler waren verzerrt, und ihre Gliedmaßen zuckten wie die von tollwütigen Hunden. Diese gräßlichen Todesschreie… Tomoko zitterte und rannte in Matts Arme. »O Gott, ich dachte schon, ich hätte dich für immer verloren – « weinte sie. Er antwortete nicht, langsam rollte er mit dem Fuß den Körper eines Alien beiseite. Während er in den letzten Zuckungen lag, hatte der Visitor das Geschoß, das ihn getötet hatte, noch entfernen können. »Heb das auf, CB«, sagte Matt.
Der Junge gehorchte. »Total verrückt!« erklärte er. »Es ist ein Wurfgeschoß… und es ist bedeckt mit einer Art rotem Puder. Daher kommt es also, daß diese Bastarde hier jetzt der Vergangenheit angehören. Obwohl das hier keine Roter-StaubZone ist. Das war knapp, Matt, wirklich knapp. Ich wußte gar nicht, daß du über einen Vorrat Shuriken verfügst.« »Warte mal«, rief Matt. »Das siehst du falsch. Ich bin zwar ein guter Ninjitsu-Kämpfer, aber ich kann nicht drei Echsen auf einmal töten, die aus verschiedenen Richtungen kommen, und dann noch mit drei Wurfgeschossen. Ganz abgesehen davon, daß einer dieser Sauger ja an mir dranhing – « »Aber wer war es dann?« fragte Tomoko. Er zuckte die Schultern. Tomoko schaute über die Lichtung, hinauf zum Höhleneingang, von dem aus sich gewaltige überhängende Felsen hochzogen, bis weit über die Baumwipfel, und ihr schien, als hätte sich dort etwas bewegt. Sie zeigte in die Richtung. »Da«, rief sie, »schaut, da, da – « »Was ist da?« Alle drehten sich um und schauten in die Richtung, selbst der verletzte Ray, der sich gegen den vorderen Kotflügel des Pickups gelehnt hatte. »Seht ihr es nicht?« fragte sie. Aber es war schon weg. Aber für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie dort etwas gesehen. Sie war sich ganz sicher. Es war dunkel gewesen, und es raschelte, und da war etwas Schimmerndes gewesen, metallisch, wie ein Sonnenstrahl, der auf Metall fällt. Es konnte ein Mann gewesen sein oder vielleicht ein Tier. Es hatte fast ausgesehen wie ein schwarzer Panther, aber sie wußte auch, daß so ein Tier hier in der Wildnis North Carolinas kaum existieren konnte. Oder doch? »Ich schwöre bei Gott, daß da etwas war«, sagte sie sanft. Da war es wieder! Etwas huschte dort zwischen den Bäumen, die
die Felsen verdeckten… plötzlich das Geräusch von Händen und Füßen, als würde jemand nach Erde und Steinen greifen. Jetzt konnten sie es alle hören. »Ich glaube, wir hatten einen heimlichen Helfer«, meinte Ray. »So etwas wie den Lone Ranger.« CB lachte. »Schon eher mehr wie Ronin Ranger, wenn du mich fragst«, sagte er grinsend und hob die drei Wurfgeschosse hoch, vor denen Willie erschrocken zurückwich. »Verzeiht mir«, sagte Willie. »Ich möchte euch so gern weiter auf eurer Suche begleiten, aber von jetzt an müßt ihr euren Weg allein weitergehen. Ich bin fest davon überzeugt, daß dieser Höhleneingang dort ins Papinium-Labyrinth führt – ein Netz von miteinander verbundenen Tunneln, das sie vor langer Zeit von konvertierten Sklavenarbeitern haben bauen lassen – und es geht bis nach Washington! Aber was eigentlich in Washington passieren soll –, das habe ich nicht herausfinden können. Höchste Geheimstufe, denke ich. Und wie Dingwall aussieht, oder hinter welcher Maske er sich versteckt… wer weiß? Vielleicht hat er viele Identitäten – « »Wie Fieh Chan, als er vorgab, Kenzo Sugihara zu sein«, sagte CB aufgeregt. »Fieh Chan…«, grübelte Matt. »Glaubst du vielleicht… nein. Unmöglich.« »Was auch immer ich gesehen habe«, meinte Tomoko, »letztendlich ist es auf unserer Seite.« Dann wandte sie sich zu Ray und Willie. »Ihr zwei wart so lieb. Aber Ray, du bist verletzt, und du, Willie, es wird immer gefährlicher für dich, noch länger hier zu bleiben. Und wenn unser mysteriöser Freund herausfindet, daß du ein Visitor bist – « »Nein! Nenn mich nicht so, mit dieser verhaßten Euphorie… äh, diesem Euphemismus«, sagte Willie traurig. »Ich stehe auf
eurer Seite. Erinnerst du dich nicht, daß ich einst ein Mädchen eures Planeten liebte, das starb, um mich zu retten.« Tomoko nahm seine Hand. »Du mußt gehen«, sagte sie. Und sie küßte ihn sanft auf die Wange. Sie umarmte Ray, so daß ihre Kleider Blutflecken bekamen; er stöhnte ein bißchen, aber dann grinste er sie an. »Weißt du was, Lizard aus dem All? Du bist in Ordnung«, sagte Ray zu Willie, »ich werde jetzt nach Hause fahren, meine Wunden verbinden. Und dann werde ich zu dem nächsten Alien-Außenposten 50 Meilen südlich von hier fahren. Ich glaube, ich bin dir noch was schuldig.« »Warum? Ich hab’ dir nichts als Schwierigkeiten gemacht«, sagte Willie. »Du hast mich gelehrt – daß auch Lizards eine Seele haben!« sagte Ray ernst. »Na komm, mein Junge.« Willie half ihm, hinten in den Pickup-Lastwagen zu steigen. Wenige Augenblicke später hörte man sie davonfahren. Matt sah ihnen noch eine Weile nach. Dann bemerkte er, »So, ihr Lieben, nun sind wir wieder auf uns gestellt.« Auf Zehenspitzen, sie bemühten sich, nicht auf Äste oder ähnliches zu treten, schlichen sie davon in Richtung Höhleneingang. Etwas schimmerte aus ihrer Deckung… etwas Blaues, Metallisches. Das Supermetall. Nervös schaute Tomoko auf CB. Er trug es wieder am Ohr. Wer hatte sie vor diesen drei Reptilien gerettet, die den Eingang der Höhle bewachten? Wer zum Teufel hatte so eine Geschicklichkeit, mit einem Shuriken umzugehen, daß er drei auf einmal traf? Ich wage es kaum zu hoffen, dachte sie bei sich selbst. Aber die Erinnerung an Fieh Chan holte sie ein mit all ihrem Schmerz und ihrer Leidenschaft, als sie durch das Tor zur Papinium-Unterwelt traten.
Jetzt standen sie in der Höhle. Tomoko holte tief Luft. Ein menschliches Skelett war an die Wand gekettet. Aber es war nicht so eins, wie sie es aus Hollywood-Filmen über verborgene Schätze oder verlorene Königreiche kannte. Dieses hier hing noch nicht lange dort, das bewiesen die Fleischfetzen an den Knochen. »Nicht schreien«, flüsterte Matt sofort. Sie hielt sich selbst den Mund zu und folgte wie erstarrt den beiden anderen.
Kapitel 13
»Müssen wir wirklich auf diesen Empfang beim rumänischen Botschafter gehen?« meinte Schwabauer. »Es kostet mich soviel Energie. Und du weißt, wie ich diese Dinge hasse. Ich bin Wissenschaftler und kein Politiker. Seit unserer Ankunft hier in Washington, Setsuko, scheinst du sehr mit diesen Dingen beschäftigt zu sein.« Er strich wieder und wieder über seinen dünnen altmodischen schwarzen Schlips. Er konnte sich einfach nicht an diesen neumodischen Kleidungsstil gewöhnen, der eine Kopie der Alien-Mode war. Setsuko kam aus ihrem Schlafzimmer, in einem herrlichen Geishakostüm, das Gesicht weiß-rot geschminkt, der Kimono aus goldener und purpurroter Seide, gehalten von einem glänzenden blauen und feurig orangefarbenen Obi. Wie gut sie wieder riecht, dachte Schwabauer. Obwohl sie hier hatten Schutz suchen müssen, im Hause von Setsukos Cousin Doktor Yogami, der Mitarbeiter des japanischen Konsulats in den Vereinigten Staaten war (als das noch von Bedeutung war), obwohl sie an einem völlig fremden Ort waren und kein Geld hatten (auf ihrem Weg durch Amerika hatten sie alles, was sie besaßen, verkaufen müssen, um die Leute zu bestechen), trotz alledem hatte Setsuko nicht aufgehört, auf diese aufwendigen Dinge Wert zu legen, die sie so schön aussehen ließen: sich die Haare zu frisieren, das Gesicht zu schminken und sich schön anzuziehen aus dem riesigen Kleiderbestand, den Yogamis Frau hinterlassen hatte. Sie war von Lizards getötet worden, bei einem Kampf in den Zeiten vor dem Roten Staub. Schwabauer bewunderte Setsuko.
»Es ist sehr wichtig, Kontakt mit den richtigen Leuten zu haben, wenn wir das Alien-Spionagenetz aufdecken wollen. Seit einiger Zeit erscheint mir der rumänische Botschafter verdächtig, weil er dauernd diese ausschweifenden Parties gibt und weil wir keinerlei diplomatische Beziehungen mehr zu Rumänien haben, seit es ein Satellitenstaat des von den Visitors kontrollierten italienisch-griechischen Sektors geworden ist. Wie kann er sich das alles leisten?« Setsuko machte eine unbestimmte Handbewegung. Es stimmte, das mußte verdächtig erscheinen. Seit der Annexion so vieler Gebiete des Planeten durch die Saurier waren viele Diplomaten in fremden Ländern hängengeblieben, ohne jede Unterstützung ihrer entmachteten Regierungen. Doktor Yogami, der früher die wirklich bedeutende Position eines Kulturattaches innegehabt hatte, mußte jetzt Hamburger verkaufen… ein Schicksal, dem er durch ehrenvollen Selbstmord zu entkommen suchte. Das erste, was die drei getan hatten, als sie in Washington ankamen, war, Yogami auszureden, daraus eine Performance auf den Stufen der japanischen Botschaft werden zu lassen. Fieh Chan/Kenzo Sugihara hatte ihn mit vielen Zen-Argumenten schließlich überzeugen können. Das Gespräch war von solcher Intensität gewesen, daß es Schwabauer mit seinem schwerfälligen Japanisch nicht leicht gefallen war, überhaupt folgen zu können, geschweige denn zu verstehen. Er wünschte sich, daß Fieh Chan jetzt hier wäre und Setsuko ausreden würde, zur rumänischen Botschaft zu gehen. Dann müßte er auch nicht diese lächerliche Kleidung tragen. »Ach, übrigens, hast du irgend etwas von ihm gehört?« fragte er sie. »Schon seit einigen Tagen nichts mehr… nicht seit seiner Entscheidung, das Tunnelnetz zu erforschen, das sich unter Alexandria befindet.«
»Glaubst du wirklich, daß da unten im Abwassersystem Reptilien sind?« »Irgend etwas geht da vor sich«, antwortete Setsuko, »aber ich weiß nicht, was es ist.« Sie lächelte ihm zu; aber es war ein japanisches Lächeln, und er konnte nicht deuten, ob es traurig oder fröhlich war. »Gut«, sagte er schließlich, »ich denke, wir müssen auf diesen Empfang gehen. Warum nur bestehen diese verkalkten Diplomaten darauf, so zu tun, als habe sich nichts in der Welt geändert – « »Persönliches Erscheinen ist für sie äußerst wichtig«, sagte sie. »Mein Cousin, Doktor Yogami« – obwohl sie verwandt waren, sprach sie von ihm immer sehr ehrerbietig –, »hat immer noch sein Diplomatenschild an seinem Auto, obwohl er jetzt nur noch Hamburgerverkäufer ist. Armer Mann, das ist das letzte bißchen Würde, was ihm geblieben ist, eine kleine Erinnerung an seine frühere Position auf dieser Welt. Er sagte oft, daß es ihm dadurch möglich war, in verbotenen Zonen zu parken; aber jetzt, wo es praktisch keine Polizei mehr gibt und keiner mehr weiß, wem er eigentlich gehorchen muß, kann jeder parken, wo er will. Es ist zwar nur eine Kleinigkeit, aber es betrübt ihn tief.« »Ja, so scheint es zu sein«, meinte Schwabauer nachdenklich. »Okay, bist du bereit?« »Wie ich es immer bin!« lächelte Setsuko. Ferenc Andrescu, Botschafter Rumäniens, lief im Foyer seiner Villa auf und ab, einem efeubewachsenen Ziegelbau in McLean, einem der reichsten Vororte Washingtons. Viele Male hatte er an diesem Tag versucht, seine jetzige Regierung zu erreichen, aber ohne Erfolg; der Lizard-Vizekönig hatte sich geweigert, seine Existenz überhaupt anzuerkennen, und mit ihm zu sprechen, war völlig ausgeschlossen gewesen. Er fragte
sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte, noch einmal ins Büro zu gehen. Sein Butler Tedescu trat ein. »Wenn Euer Exzellenz sich jetzt nicht beeilen, werden die Gäste Euer Exzellenz in unpassender Garderobe antreffen.« »Dumnezeu!« rief der Botschafter. »Ist es schon so spät?« »Ich fürchte ja, Exzellenz.« Seufzend folgte Andrescu dem Butler hinauf ins Ankleidezimmer. Wie ein Mannequin stand er da, während Tedescu ihm aus einem endlosen Vorrat Kragen und Manschetten zureichte, die hart wie Pappe gestärkt waren, und schließlich das Dinnerjackett, das er seit dem Zweiten Weltkrieg trug. »Ich hasse dieses Leben«, sagte er, obwohl er in Wirklichkeit lieber hier gestrandet lebte als in Rumänien. Es war nicht umsonst gewesen, damals die Juwelen seiner verstorbenen Frau aus dem Land geschmuggelt zu haben. Juwelen, die seine Frau von ihrer Mutter geerbt hatte und die in einer kleinen Kiste versteckt gewesen waren während der langen Zeit des kommunistischen Regimes. Diese Juwelen hatten ihm schon sehr geholfen, in all den Jahren. Auch in Bukarest hatte er gut gelebt, obwohl er gezwungen war, vorsichtig zu sein. Als er nach Amerika kam, war es ihm möglich gewesen, weit über dem von der Regierung festgesetzten Spesenrahmen zu leben… Aber jetzt gab es keine Regierung mehr, die an ihm herumnörgeln konnte, seit diese Reptilien ihren Einfluß auf Rumänien ausgedehnt hatten. Zunächst hatten sie Italien und den mediterranen Raum erobert, die warmen Länder, in denen der Rote Staub seine Kraft verloren hatte. Das ermöglichte ihnen, ihren Einflußbereich langsam immer mehr auszuweiten. Er konnte die Kurzsichtigkeit seiner Regierung trotzdem nicht verstehen. Man stelle sich vor, eine Allianz mit den Lizards einzugehen, nur um einen Bruch mit der Sowjetunion zu
erreichen. Wußten sie denn nicht, daß ein Haufen von Machtgierigen genauso gut war wie der andere, völlig austauschbar… und hatten nicht letztendlich die Russen wenigstens keinen Tribut in Form von Menschenleben gefordert? »Herr Botschafter machen sich Gedanken?« fragte Tedescu, der jetzt begann, das Dinnerjackett mit einer Bürste peinlichst genau zu entstauben, einem Gebilde aus Kamelhaaren und Silber, das Andrescu schon so lange besaß wie das Jackett. »Ich denke über die Lizards nach«, sagte er. »Ach, diese Lizards… Nosferatu.« »Nosferatu, Exzellenz?« »Ja. Ich mußte gerade daran denken, wie sehr das alles doch unseren alten Legenden ähnelt. Glaubst du, daß die Außerirdischen übernatürliche Wesen sind, wie Vampire – und daß sie, wie Nosferatu, vor Kreuz und Knoblauch zurückweichen?« Er betrachtete sich in dem lebensgroßen Spiegel und griff nach seinen drei Orden, die er sorgfältig an sein Jackett heftete. »Glaubst du, es gibt eine Magie, mit der man sie loswird?« »Euer Exzellenz sollte nicht so über diese Dinge sprechen«, sagte Tedescu, das Kreuz schlagend. »Es ist nicht… ich meine, Exzellenz, in meinem alten Dorf verdüstert sich der Blick angesichts solcher Reden.« Andrescu lächelte leicht. »Ich habe immer geglaubt, Tedescu, daß es auf dieser Welt keine Monster gibt… slava domnului! Aber jetzt weiß ich, daß das nicht wahr ist. So, mein Lieber, erzähl mir, wer alles zu diesem kleinen Empfang kommen wird. Notgedrungen bist du mein Sekretär, Mädchen für alles und sowohl mein Koch als auch mein Butler geworden, jetzt in diesen düsteren Zeiten, die über uns gekommen sind. Ich weiß nicht, wie lange ich noch in
der Lage sein werde, die Illusion aufrechtzuerhalten, eine ordentliche diplomatische Vertretung zu leiten.« »Euer Exzellenz alter Freund Jankowski, der Erste Sekretär der polnischen Botschaft, ist degradiert worden und verkauft jetzt Damenwäsche bei Lord Taylor, habe ich gehört«, erzählte Tedescu, während er niederkniete, um die Schuhe des Botschafters zu wienern. »Was Eure Frage betrifft, Exzellenz, zunächst haben wir aus Euer Exzellenz eine wirklich stattliche Erscheinung für die nächtliche Party gemacht. Es werden kommen: Doktor Yogami, früher japanischer Botschafter – er arbeitet jetzt als Angestellter oder Chef eines Hamburgerstands, und er war sehr stolz darauf, eine Einladung zu bekommen. Er bringt ein paar Freunde mit. Ich glaube, sie sind Wissenschaftler. Die meisten Gäste sind Freunde von Euer Exzellenz, nur ein paar haben Euer Exzellenz noch nicht getroffen. Einer von ihnen ist ein gewisser Mister Dingwall.« »Was für ein außergewöhnlicher Name!« rief Andrescu. »Welchen ethnischen Ursprungs ist er? Welche Botschaft repräsentiert er?« »Er ist kein Botschafter, Exzellenz. Er ist Dirigent.« »Oh, wir werden etwas Kultur haben! Meinst du, er ist in der Lage, wieder etwas Leben in meinen alten, abgenutzten Steinway zu bringen?« »Nun, ich bin mir nicht sicher, ob er ein wirklich herausragender Dirigent ist. Er leitet nur das örtliche Jugendorchester. Aber ich glaube… er weiß eine Menge über die…« »Diese teuflischen Lizards! Du kennst meine Begeisterung für sie, und lädst einen Experten zu meinem Empfang ein!?« »Nicht direkt, Exzellenz. Aber er probt derzeit eine AlienSymphonie.« »Was für eine außergewöhnliche Idee!« sagte Andrescu stirnrunzelnd.
»Ja… erinnern sich Euer Exzellenz an die Eröffnung des neuen Shoppingcenters, des Spring Oaks-Zentrums, zu der Euer Exzellenz eine offizielle Einladung erhalten haben?« »Ja«, sagte Andrescu gequält, während er sorgfältig die Spitzen seines Schnurrbarts vor dem Spiegel zurechtzwirbelte. »Warum ich eingeladen wurde, wundert mich! Sie müssen gewußt haben, daß Rumänien die Beziehungen zu den freien Staaten von Amerika abgebrochen hat und nur noch zu der Visitor-Regierung in Los Angeles diplomatische Beziehungen hat; und daß meine Position hier der reinste Schwindel ist. Ihr Computer muß sich einer Datenbank bedient haben, die nicht mehr auf dem neuesten Stand war. Oh, die ganze Welt wird kaputtgehen, weil wir nichts mehr zu sagen haben!« »Nun, dieser Dingwall läßt dort die Kinder diese AlienSymphonie spielen, um damit interplanetarische Bruderschaft auszudrücken!« »Ich werde vielleicht hingehen«, sagte Andrescu, »was bleibt mir nach all dem übrig?« Irgendwo, weit entfernt, hörte man ein Läuten. Die Türglocke womöglich? Warum kamen nur alle immer so früh? »Sag ihnen, daß ich gleich runterkommen werde.« Er betrachtete sich weiter im Spiegel und sah auch Tedescu, der hinter ihm stand. Der Botschafter studierte das Gesicht seines alten Butlers. Da war etwas, das ihn beunruhigte. Etwas in den Augen, dachte er. Die Augen. In den letzten Tagen hatte es der Butler immer vermieden, seinem Herrn in die Augen zu sehen… irgend etwas stimmte nicht. Vielleicht ist er krank, dachte Andrescu, und zu rücksichtsvoll, um ihn um Geld für den Arzt zu bitten. Er konnte es sich nicht erklären. Er wußte nur, daß sich Tedescu verändert hatte. Pflichtbewußt erledigte er alles, aber er tat es wie eine Maschine. Und er lief mit diesem glasigen Blick herum, so als ob –
Als ob er hypnotisiert worden wäre! Aber war das möglich? fragte sich Andrescu, als er seinen Butler beobachtete, wie er den Raum verließ. Hypnose… über diese Kraft hatte auch der alte Nosferatu verfügt… eine Kraft, die die Vampire bei ihren Opfern einsetzten – bevor sie sie töteten und ihnen das Blut aussaugten. Oder war Tedescu von den Lizards konvertiert worden? Unmöglich! dachte Andrescu, als er losging, um seine Gäste zu empfangen.
Kapitel 14
»Gut«, sagte Matt, »da sind wir nun. Was wollen wir machen?« Sie standen im Höhleneingang; Tomoko vermied nervös, das Skelett an der Wand anzuschauen. Etwas entfernt begann ein Gang, der tief in die Erde zu führen schien. Dann sahen sie eine Treppe; lange Zeit stiegen sie hinab, ihre Fußtritte klangen hart auf dem Metall, und sie hofften, daß man sie nicht entdeckte. Immer noch trugen sie ihre Visitor-Uniformen, aber Matt hatte die Gelegenheit wahrgenommen, seine gegen die einer der toten Echsen auszutauschen, weil ihm dessen Hosen besser paßten. Die Dunkelheit wurde stärker, als die Treppe in einem langen Korridor endete. Die bläulich schimmernden Metallwände des Tunnels glänzten im schummrigen Licht. »Papinium«, flüsterte CB. Matt strich mit den Fingern über die Wand. Es fühlte sich kalt an. Und nicht wie sonst Metall, sondern eher glitschig wie die Haut eines Visitors. »Jetzt verstehe ich«, meinte CB. »Wenn es wirklich ein geheimes Tunnel-Labyrinth ist, alles mit diesem neuen Metall beschichtet, dann können die Lizards von einem Ort zum anderen gelangen, egal, ob es dort den Roten Staub gibt oder nicht? Und das heißt, daß sie sich bis unter die freien Staaten graben können, auftauchen… vereinnahmen. Wie bei Bugs Bunny, nur mit Monstern anstatt Comicfiguren. Furchtbar!«
»Gut, wenn sie es benutzen können, dann können auch wir das tun«, schlug Matt vor. »Das ist er – unser Geheimweg nach Washington.« »Aber wenn wir laufen, wird es zu lange dauern«, meinte Tomoko. »Gut, wir würden vielleicht… whoa! Schaut mal dort!« Matt sah sie jetzt, versteckt in einer Nische in der Wand… Metallscheiben, jede so groß, daß ein Mann darauf stehen konnte, wie die Schilde der Wikinger. »Na, könnt ihr euch auch vorstellen, wozu die sind?« »Ich denke, du liegst richtig!« strahlte CB. »Aber seht mal, dort unten im Tunnel – « »Runter!« flüsterte Tomoko. Sie drückten sich flach auf den Boden, als etwas angesaust kam – Echsenwesen ohne ihre menschlichen Masken standen breitbeinig auf den Scheiben und glitten durch den Tunnel! Es war so eine Art Flugscheibe… sie schienen genauso wie das Mutterschiff mit Antischwerkraft zu arbeiten. Plötzlich stoppten die Außerirdischen. Es war nicht zu vermeiden, daß sie die drei Widerstandskämpfer sahen. Sie mußten sich sofort irgend etwas einfallen lassen… Lüstern zischte ein Lizard Matt an, die Zunge hin- und herschlagend. »Wie kannst du es wagen, mich in unserer Sprache anzusprechen!« blaffte Matt, so barsch wie es ihm möglich war. »Du weißt genau, daß es der Wunsch der Obersten Kommandeurin ist, in der Sprache der Menschen zu sprechen, immer, auch wenn wir unter uns sind.« Der Lizard wich etwas zurück und antwortete dann in Englisch, nachdem er einen flüchtigen Blick auf ihre Uniformen geworfen hatte. »Entschuldigung, Boss. Ich hab’ die Insignien auf Ihrer Hose nicht gleich gesehen. Und nicht
erkannt, daß Sie Leutnant-Kommandeur sind. Nebenbei gesagt, mir fehlt auch etwas die Praxis.« »Das kann man wohl sagen!« schnarrte Tomoko ihn an, ebenfalls in das Spiel einsteigend. Matt dachte: Gott sei Dank! Keiner von uns versteht so richtig die Kompliziertheit der Alien-Hierarchie… aber ich bin ja so froh, daß ich mich entschlossen habe, die Hosen von dem Alien da draußen zu nehmen. »Ich hoffe, daß du künftig gleich weißt, wen du vor dir hast, und dir keine weiteren Unverschämtheiten mehr leistest!« kanzelte er den Alien ab. Hinter diesem standen noch zwei oder drei und glotzten sie verwundert an. »Tut mir wirklich leid, aber mit diesen schrecklichen Monstermasken, die wir tragen müssen, kann man niemanden mehr so gut erkennen. Ich meine, Sir, ich hätte schwören können, Sie seien verkleidete Männer, nicht ein Mann, eine Frau und ein Kind. Aber diese Menschen sehen ja alle gleich aus.« »Ja, das tun sie, oder etwa nicht?« fragte Tomoko sarkastisch. »Vielleicht«, sagte Matt, »kannst du uns führen, zu, äh…« Er verhaspelte sich, und einen Moment lang geriet er in Panik, sich zu verraten. »Aber Sir, Sie selbst gaben doch den Befehl!« sagte der Lizard, und seine Lappen verfärbten sich vor Scham. »Wollen Sie mich testen? Die Hauptgruppe wird nächste Woche hier ankommen für den Auftrag Shoppingcenter, und der Hauptweg nach Washington ist… Moment… vierzehnte Abzweigung rechts unten und dann siebzehn. In Ordnung?« Matt brummte unverbindlich. Die Lizards kletterten zurück auf ihre Scheiben und glitten davon. »Unsere Richtung«, sagte Matt. »Aber wie funktionieren sie?« fragte Tomoko.
»Ich weiß es nicht. Versuch und Irrtum?« Er ging hinüber zu den Flugscheiben, hob eine an – sie waren durch die Antischwerkraft gewichtslos –, setzte sie auf den festen Boden des Tunnels und kletterte rauf. »Dann wollen wir mal sehen. Er… SHAZAM! MXYZPTLK! ABRACADABRAIXYZZY: Oh, ich geb’s auf.« »Laß es mich versuchen«, rief Tomoko und tauschte mit ihm. Die Scheibe rührte sich nicht von der Stelle. Beide drehten sich zu CB um. »Ihr habt mich nicht gefragt«, sagte er lachend. Er sprang auf eine auf, vollführte einige kreisende Bewegungen mit seinen Füßen – und stieg in die Luft auf! Er beugte die Knie, sein ganzer Körper bog sich in Flugrichtung… dann war er schon weg! »Warte!« schrie Matt der winzigen Figur nach, die in der Dunkelheit kaum noch zu kennen war und dann tief im Tunnel verschwand. CB kam zurück, immer noch lachend, und schlug ein schnelles Rad mit dieser immer noch schwebenden Erfindung. »Wie hast du das geschafft?« fragte Matt verdutzt. »Ich habe sie beobachtet. Nebenbei gesagt, es ist ganz einfach. Fast so leicht wie Breakdance.« »Und wer behauptet, daß Breakdance leicht ist«, meinte Tomoko. »Es ist niemals zu spät, etwas zu lernen, ihr alten Knochen!« grinste CB und hüpfte mit seiner Scheibe hin und zurück, machte allerlei verrückte Bewegungen: ließ sie springen und tanzen und sich in der Luft überschlagen. »Okay, Zeit für uns«, sagte Matt. Er und Tomoko kletterten hinauf, kopierten CBs anmutige Bewegungen, und weg waren sie! Wenig später glitten sie sanft durch den Tunnel, und Tomoko zählte sorgfältig die Abzweigungen, an denen sie
vorbeisausten. Sie hatten ungefähr eine Geschwindigkeit von 100 Meilen drauf. Ein Tunnel folgte auf den anderen. Wie lange mochte es gedauert haben, dieses Ding zu bauen? Und wie hatten sie es gemacht? Matt würde es bald herausfinden.
»Halt!« hörte er Tomoko gegen den Fahrtwind flüstern. Sie wurden langsamer. Dann sah er Leute an einem Schacht des PapiniumLabyrinths arbeiten… es waren menschliche Wesen. Er war sicher, daß es Menschen waren, weil sie an Händen und Füßen angekettet waren. Ein uniformierter Lizard stand über ihnen, bewaffnet mit einem Laser und einem Ochsenziemer. Ein anderer peitschte eine Frau aus, die vor Erschöpfung zusammengebrochen war und verzweifelt versuchte, sich von den Ketten zu befreien. Wenig Sauerstoff mußte dort unten in dem Schacht sein, aber die Saurier zeigten kein Erbarmen. »Sie ist krank! Sie wird sterben! Bindet sie los!« schrie CB dem Lizard zu. »Nichts sagen!« rief Tomoko. Aber es war zu spät. Sie hatten sie entdeckt. Matt hörte, wie der Lizard zu einem anderen hinüberkläffte. »Da sind sie – das müssen sie sein, die den LeutnantKommandeur getötet haben und sich dann verkleideten – sie müssen ganz schön blöd sein, diese Leute, zu glauben, wie wir sein zu können! Greift sie euch!« »Schnell! Laß uns mit den Scheiben fliehen!« rief Tomoko, und schon waren sie weg! »Wenn noch mehr davon Wind kriegen, werden sie uns jagen!« Sie schwebten um eine Ecke – Sackgasse! Und sie blickten in das Gesicht eines Wesens, das Matt schon mal gesehen hatte.
Ein aufgedunsener Lizard in einer menschlichen Haut, so fett, daß die Maske fast platzte, stand an der Spitze einer Gruppe bewaffneter, heulender Reptilien! Jetzt wußte er, woher er ihn… sie kannte… aus der Wüste, sie hatte in dem Spähwagen gesessen. Er hatte ihr Gesicht gesehen, vor Wut verzerrt, als sie die Kampffähre verfehlte und sie entkommen sah – »So trifft man sich wieder, Matthew Jones, notorischer Ninjitsu-Experte!« kreischte das Wesen, und Schleim tropfte ihm aus dem Maul. »Nun wollen wir doch mal sehen, was deine Kampfkunst gegen Laser ausrichten kann!« Matt wendete. Fünf oder sechs Echsenwesen standen hinter ihnen und hatten ihre Laser auf sie gerichtet. Tomoko schrie auf. CB war bleich vor Schreck. »Darf ich mich vorstellen?« fragte das Reptil. »Ich bin Medea.«
Kapitel 15
Sie wurden gefesselt, durch geheime Gänge und viele Treppen hinuntergeführt. Schließlich stieß man sie in einen unterirdischen einschienigen Zug, wo man sie in einem stinkenden Waggon mit ungefähr zwanzig anderen Leuten ankettete. Zerlumpte, dreckige Wesen, mit offenen Wunden übersät, mit stumpfen Haaren und Gesichtern voller Schlamm und Blut. Ein Lizard-Aufseher bewachte sie, während noch mehr Gefangene in den Waggon gestoßen wurden. Tomoko schnappte nach Luft, obwohl der Waggon zwei Schlitze hatte, die die dumpfe, stickige Luft des Tunnels hereinließen. Ein alter Mann spuckte Blut. Die anderen reagierten nicht. Sie hatten alle diesen glasigen Blick in ihren Augen, den sie schon so oft gesehen hatten. »Konvertierte«, sagte Tomoko. »Bist du sicher?« flüsterte Matt. »Na klar«, meinte CB, »kannst du dich nicht mehr erinnern?« Matt nickte. Sicherlich erinnerte er sich, dachte Tomoko, und auch sie mußte daran zurückdenken, als sie in das Osaka Schloß eingedrungen waren und diese Horden von Konvertierten gesehen hatten, seelen- und geistlose Wesen. – » Eine Armee ohne Seelen«, so hatte sie der kaltherzige Murasaki genannt, von den Lizards kreiert. Tomoko hoffte, daß ihr das nie passieren würde. Lieber sterbe ich vorher, schwor sie sich. Der einschienige Zug summte. Sie fuhren jetzt sehr schnell, aber man spürte die Bewegung des Zuges kaum, dank der hochentwickelten Technik der Außerirdischen. »Er arbeitet
wahrscheinlich auch nach dem Antischwerkraft-Prinzip«, grübelte CB. »Nur so ist es möglich, daß wir so sanft dahingleiten.« »Wie kannst du über Technik nachdenken, wenn wir gleich getötet oder – noch schlimmer – zu Sklaven konvertiert werden, die ihre teuflischen Pläne ausführen müssen?« fragte Tomoko. »Ich denke darüber nach, wie man diesen Sauger sabotieren kann«, grübelte CB weiter. Sie war erstaunt über seine Stimmung. Sie selbst wußte, daß das hier das Ende war; niemand würde jetzt aus einem Busch rausspringen und sie retten, wie es der Alien-Schwertmeister einmal getan hatte, und dann wieder und wieder – Sie hatte dort etwas gesehen, vor dem Höhleneingang… Die anderen Passagiere schwiegen; sie klagten nicht, sie stöhnten noch nicht einmal, obwohl ihre Wunden doch offensichtlich schmerzten. Sie waren wie Zombies. Zombies! Sie fuhren auf eine Art Untergrundkreuzung zu. Reihen aneinandergeketteter menschlicher Sklaven wurden wie Vieh in verschiedene Richtungen getrieben, von stumpfsinnig blickenden Echsen, die manchmal ohne erkennbaren Grund auf ihre Opfer einschlugen. Ab und zu brach eines von ihnen zusammen, man entfernte seine Kette mit dem Laser, und es blieb liegen. Als sie aus dem Tunnel kamen, sah Tomoko einen gräßlichen Metallkarren, der die Gänge rauf- und runterfuhr; mit mechanischen Armen griff er nach diesen zusammengebrochenen Menschen und stapelte sie auf seine Ladefläche. Es sah aus, als ob er sie zermalmen… sie verwandeln würde. »Teufel auch!« rief CB. »Sie machen Menschen-Nuggets aus ihnen. Oh, Jesus. Jetzt habe ich wirklich Angst. Ich halte das nicht mehr aus.«
Sie wurden in eine riesige Halle gefahren, in der einige Dutzend Reptilien auf Sofas herumlungerten. Ein Metallkäfig stand auf dem Boden; Tomoko, Matt und CB wurden gezwungen, hineinzusteigen. Der Käfig wurde mit einem Flaschenzug hochgezogen und an der Decke befestigt. Die Halle war aus dem festen Fels herausgehauen worden und völlig mit Papinium beschichtet, das sie in einen purpurblauen Schimmer tauchte. Es sieht wirklich schön aus, dachte Tomoko… wenn man den Zweck nicht kannte. Medea saß zurückgelehnt auf einem Diwan und sprach zu einigen ranghohen Lizards. Auf einem riesigen Bildschirm, der an einer Wand angebracht war, sah man ein fünfzehn Fuß hohes Gesicht… das Gesicht von Diana, Herrscherin über die Alien-Streitkräfte – die meistgehaßte Frau der Welt! Und dieses Gesicht strahlte, es war voller Vorfreude; die Augen glitzerten vor Blutlust. Die anderen Lizard-Kommandanten betrachteten Medea mit Verwirrung, den Käfig mit Hunger und Lust und Diana mit Ehrfurcht. »Freßt sie! Jetzt sofort! Bevor sie womöglich wieder eine Chance kriegen, unsere Pläne zu durchkreuzen«, rief Diana. Medea lächelte. »Schau dir all das gute Fressen an, das dort im Korb über uns hängt. Verlockend, nicht wahr?« Die anderen knurrten vor Entzücken. Tomoko schauderte. »Jetzt weiß ich, wie sich ein Hamburger fühlen muß«, meinte CB. Matt stand im Käfig auf. »Wenn wir sowieso sterben müssen, dann möchte ich diesen gottverdammten Lizards vorher noch etwas sagen!« Tomoko zuckte zusammen, als sie sah, daß er seine Zehen durch die Gitterstäbe quetschte und nach unten schrie: »He, ihr da unten! Ihr könnt uns töten, uns zerstampfen und dann
fressen. Wir sind nur drei, aber wir haben schon ein paar Dutzend von euch erledigt! Ihr kommt hierher mit euren Raumschiffen und euren Lasern und mit Maschinen, die uns unsere Seelen wegnehmen, aber… alles was ihr tun könnt, ist uns töten. Andere werden unseren Platz einnehmen. Das ist unsere Welt, verdammt noch mal. Geht nach Hause! Geht zurück in eure stinkige, freudlose, verwüstete Welt, wo selbst das Wasser knapp ist!« Medea erstarrte unter diesen Beschimpfungen. Sie erhob sich und befahl, den Käfig herabzulassen, so daß sie jetzt Aug in Aug standen. Sie stand da und schaute sich die Menschen ganz genau an. Matt spuckte ihr ins Gesicht. Sie leckte es ab, ihre Zunge schnellte auf der Dermoplastmaske hin und her. »Köstlich«, sagte sie. »Danke für den kleinen Vorgeschmack auf das Essen.« Dann schoß ihre Zunge auf CB zu. Aber Matt war schneller. Mit Bewunderung beobachtete Tomoko, wie er rauslangte und mit einer raschen Drehung des Handgelenks die Zunge griff und anfing zu ziehen. Er begann die Wände des Käfigs hochzuklettern und zog das schleimige Ding mit sich. »Paß auf«, schrie sie, »das Gift!« Mit Sicherheit war Medea drauf und dran, das Gift auszuspeien. Sie konnte sehen, wie die Giftdrüsen pochten, als die Giftzähne die grüne Flüssigkeit freisetzten. Die Säfte liefen jetzt die Zunge hinunter, Tröpfchen fielen auf den Boden und zischten, sobald sie die papiniumüberzogene Oberfläche berührten – »Laß los, Matt! Sie wird dich töten!« schrie Tomoko. Wenn Matt nicht losließ, würde sie selbst nach dieser Zunge greifen. Die Lizards hatten sich um Medea versammelt, höhnisch lachend, als –
Plötzlich schoß ein dünner Lichtstrahl durch die Halle und schnitt ein Stück von Medeas Zunge ab. Tomoko hörte, wie Medea kreischte und vor Schmerz auf jaulte. Wild schaute sie um sich. Matt schmiß den noch zuckenden Teil der Zunge von sich weg, und mit schrecklicher Faszination beobachtete sie, wie sich das Ding, noch nicht ganz tot, um die eisernen Gitterstäbe des Käfigs rollte, brodelnd, zappelnd – Dann begannen die »Fallenden Sterne« durch die Luft zu fliegen. Die Reptilien flohen! Medea, den herausgestreckten Teil ihrer Zunge umklammernd, aus dem immer noch Gift auf den Boden tropfte, wankte gellend schreiend aus dem Raum. Wer hatte sie gerettet? Plötzlich sah Tomoko – Er stand in der Eingangstür der Halle, ganz in ein NinjaGewand gekleidet, das mit Papinium imprägniert zu sein schien, denn es hatte den gleichen bläulich schimmernden Glanz wie die Wände des unterirdischen Labyrinths. Kein Wunder, daß sie ihn nicht hatte erkennen können. Er schien gänzlich mit dem Papinium der Wände zu verschmelzen. Der blaue Ninja zog sein Schwert. Er sprang. Nie würde Tomoko diesen Sprung vergessen, nie den gewaltigen Energielichtbogen, mit dem der blaue Ninja das Seil, das ihren Käfig hielt, durchschlug, so daß er auf den Boden krachte. Er rannte mit ausgestrecktem Schwert auf sie zu, schwang es in rhythmischen Schlägen nach rechts und links, als uniformierte Echsen ihn von allen Seiten mit ihren Peitschen und Lasern bedrängten. Rundherum brachen Lizards zusammen, und über allem sah man immer noch Dianas Gesicht, die mit wachsender Bestürzung auf das Spektakel starrte. Tomoko konnte ihre Stimme schnarren hören durch das Pfeifen des Schwertes und die Schreie der fallenden Reptilien.
»Was ist hier überhaupt los? Will mir vielleicht jemand mal erklären, was passiert ist? Irgend jemand muß mir sofort Bericht erstatten – oder ich lasse euch alle vor ein Kriegsgericht stellen und exekutieren!« Der blaue Ninja hatte jetzt die Tür zu ihrem Käfig erreicht. Weiße Funken sprühten, als er immer wieder mit dem Schwert auf den Riegel einschlug, der rostig war von der Feuchtigkeit des Labyrinths. Alle drei sprangen sie hinaus. Da waren immer noch Echsenwesen, obwohl die meisten verletzt waren oder im Sterben lagen. Einer bedrängte Matt, der ihm mit einem Sprung in den Nacken hechtete. CB rollte über einen weiteren Alien und stieß seine Finger wie Dolche in den Brustkorb des Reptils. Grünlich schäumendes Blut spritzte umher. Wie der Ton eines Dudelsacks pfiff es aus seinem Maul. Wieder und wieder schlug der Ninja zu… die Schwertklinge tanzte durch die Luft… »Kommt«, rief er. »Folgt mir.« Tomoko rannte blindlings hinter dem blauen Ninja-Führer her. CB und Matt folgten, die ganze Zeit um sich schlagend. »Hier lang!« krächzte der Ninja, sie in einen Tunnel scheuchend, der sich zu einem Kriechgang verengte. »Ich glaube, ich bin der einzige, der hier durchkommt«, meinte CB. Am Tunnelende sah man einen schummrigen Lichtkreis. »Ich fürchte, das wirst du auch müssen«, sagte der Ninja. »Auf der anderen Seite gibt es eine Kontrolltafel für die drei Hauptweichen, über die man die Züge unbrauchbar machen kann. Dieser Gang endet oben über dem Hauptcomputerkomplex, von wo aus sie alles, was im Papinium-Labyrinth geschieht, kontrollieren können… kannst du etwas erkennen?«
CB war schon am anderen Ende des Schachts. Sie hörten seine Stimme, gedämpft und fern. »Okay. Hier ist es.« »Drück den dritten Knopf… der mit den Hieroglyphen, die aussehen wie eine giftsprühende Schlange.« Tomoko hörte ein furchtbares Getöse, donnernd, zerstörend. Nach zwei Sekunden merkte sie, daß es kein Getöse mehr gab – überall herrschte Stille. Das Summen des einschienigen Zuges hatte nie aufgehört, bis zu diesem Augenblick, und sie hatte sich so daran gewöhnt, daß die Stille wie ein Schock auf sie wirkte. »Jetzt«, sagte der blaue Ninja, »müssen wir klettern.« Er zog einen Wurfpfeil aus einer Falte seines Gewandes, zielte nach oben und schleuderte ihn. Er schlug irgendwo oben gegen, und ein Lichtstrahl fiel herunter und bildete einen weiten Kreis auf dem Boden des Tunnels. »Sie werden uns bald eingeholt haben. Wir haben nur wenig Zeit.« »Wer bist du überhaupt?« fragte Matt. »Bist du derjenige, der uns schon da draußen gerettet hat? Bist du derjenige, der – « »Ich kann euch meinen Namen nicht nennen; ich habe keinen Namen.« »Ich weiß, wer du bist«, mischte sich Tomoko ein, »…niemals könnte ich deine Stimme vergessen… du bist wirklich…« »Nein!« donnerte er. »Der Mann, den du meinst, ist tot, getötet durch eine Explosion, die ein großes Schloß zerstörte und den Plan der Visitors, ein fernes Land vollständig zu unterjochen – « »Kenzo Sugihara!« kreischte CB, »der Wahnsinnstyp!« »Fieh Chan!« rief Matt gleichzeitig. »Wir haben keine Zeit für Ratespiele. Diese Leute sind tot. Ich habe jetzt keinen Namen. Nur das Ritual des Zon trägt mich. Kommt. Tretet in diesen Lichtschacht. Es ist ein Kraftstrahl, hochentwickelte Alien-Technik. Er wird uns in ein
oberes Geschoß transportieren – « Sich an den Händen fassend, warteten sie einen Moment und wurden dann hochgeschossen in einen anderen Tunnel. Bestialischer Gestank. Überall war grüner Schlamm, und Tomoko wurde übel vom Geruch menschlicher Exkremente. »Wohin hast du uns gebracht?« fragte Tomoko, völlig benebelt. Alles, was sie sehen konnte, waren seine ausdruckslosen Augen. Sie hätte ihn soviel fragen wollen – was er hier so fern von Japan, überhaupt machte, wie er es geschafft hatte, die Explosion zu überleben –, aber sie konnte nichts sagen. Die alten Gefühle kamen wieder hoch: die Furcht, die Verwirrung, zuletzt die Liebe. Der blaue Ninja, der sich einst selbst zum Alien-Schwertmeister gemacht hatte, dem es immer Vergnügen bereitet hatte, in wechselnden Identitäten und unter mysteriösen Umständen zu erscheinen und wieder zu verschwinden, war zu ihnen zurückgekehrt. Sie wollte vor Freude losschreien, aber sie hielt sich zurück, aus Angst, feindliche Wächter zu alarmieren. Alles, was sie herausbrachte, war: »Wo sind wir, wo sind wir?« »Wo?« sagte der Alien-Schwertmeister. »Du bist deinem Ziel näher, als du denkst, denn das hier sind die Abwässerkanäle unter den Vororten Washingtons… unter der kleinen Stadt Alexandria.« »Die Abwässerkanäle? Abwässerkanäle wie in ›Alligatoren in den Abwässerkanälen‹?« fragte CB. »Geil!« In einiger Entfernung hörten sie schlürfende Geräusche. Und sie rannten los.
Kapitel 16
Medea kroch zurück in die Halle, mit Mißfallen sah sie auf das Blutbad. Die fünfzehn Fuß große Visage Dianas starrte sie immer noch vom Wandmonitor an. »Wieder«, herrschte Diana sie an, »hast du versagt, du klägliche Kreatur. Kannst du denn nichts richtig machen?« »Ich werde sie verfolgen«, kreischte Medea, »Sie werden nie die Freiheit erlangen. Selbst wenn sie schon die freien Zonen erreicht haben. Ich brauche die Papinium-Tanks!« »Und vereitelst Dingwalls sorgfältigst ausgearbeiteten Plan.« sagte Diana voller Verachtung. »Bitte, Diana!« bat Medea. »Ich schwöre, daß ich sie dir herbeischaffe… schon bald.« »Tatsächlich.« Medea konnte durch das Fenster, vor dem die Kommandeurin saß, auf Los Angeles sehen. War das Feuer, das da aus den Fenstern eines Wolkenkratzers loderte? Sie beneidete Diana nicht um ihre Aufgabe, den ärgerlichen, aufrührerischen Mob der »freien Stadt« in den Griff zu kriegen. Mein Auftrag ist wirklich einfacher, dachte sie. Die Gefangennahme dreier miserabler Flüchtlinge. Sie wunderte sich, wieso diese drei solchen Widerstand leisten konnten trotz ihrer verzweifelten Lage. Etwas in der Psychologie dieser drei Menschen beunruhigte sie aufs äußerste. »Gib mir noch eine Chance, Diana. Ich verspreche dir, diesmal wird es klappen.« »Du ermüdest mich… Ich habe einfach nicht die Zeit, darüber überhaupt nur nachzudenken. Mach, was du willst. Ich werde später auf dich zurückkommen. Wenn ich Zeit habe.«
Erleichtert über diesen Freibrief, verließ Medea die Halle und befahl ihre Offiziere zu sich. Als sie das Kontrollzentrum des Papinium-Labyrinths betrat, empfing man sie mit der Nachricht, daß jemand das gesamte Zugsystem außer Funktion gesetzt hatte. Zorn stieg in ihr hoch, und einen Moment lang kochte sie vor Wut, dann ließ sie sich über das Kommunikationsnetz zu Dingwall durchschalten. Ein leerer Bildschirm begrüßte sie, obwohl sie seinen Geheimcode eingegeben hatte. Endlich kam eine Antwort: »Ich bin auf einem Empfang beim rumänischen Botschafter und werde höchstwahrscheinlich in drei Stunden zurück sein. Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht.« Welche Impertinenz! dachte Medea. Immerhin war er bis jetzt noch ihr Untergebener, und sie war der ranghöchste Visitor in diesem Sektor. Sie drehte sich um und begann ihre Leutnants anzuschnarren, die herbeieilten, um ihre Befehle entgegenzunehmen. Außer einem alten Reptil. Dieses krächzte: »Aber Medea, wenn wir die Papinium-Tanks einsetzen, durchkreuzen wir dann nicht die Plane für die Invasion von Washington?« Sie kanzelte ihn scharf für seine Frechheit ab und ließ ihn wütend stehen.
»Schaut… da scheint ein Einstiegsloch zu sein oder etwas ähnliches«, sagte Matt. »Und eine Leiter.« Es war schmierig glatt, aber irgendwie schafften sie es, hinauszukommen. Matts Kopf tauchte inmitten einer Gasse auf, zu seiner linken eine Ziegelmauer und rechts von ihm ein vergittertes Computergeschäft. »Kommt«, sagte er und half Tomoko und
dem Jungen auf die Straße. Sie schauten sich um. Der blaue Ninja folgte auch, unauffällig im Abendlicht schimmernd. »Ich hoffte, daß du auch hochkommst«, sagte Tomoko. Und Matt verspürte wieder die Verwirrung, die er immer gespürt hatte, seit der Alien-Schwertmeister in sein Leben getreten war und ihm die Liebe seiner Frau und seines Sohnes gestohlen zu haben schien… er fühlte beides, Freude und Verstimmung. »Warum mußt du nur immer so verdammt mysteriös sein?« »Ich wage nicht, mich zu erkennen zu geben.« »Welchen Namen benutzt du denn dieser Tage?« fragte CB. »Und was ist mit Setsuko? Und mit Professor Schwabauer?« fügte Matt hinzu. »Sind sie irgendwo in Tokio? Geht es ihnen schlecht?« »Nein«, erzählte der blaue Ninja. »Sie sind hier und in Sicherheit. Ich denke, daß sie gerade in diesem Moment in der rumänischen Botschaft sind und sich an köstlichen Speisen und Getränken erfreuen. Die Eroberung durch die Lizards wird sie im Moment kaum interessieren, meine Freunde. Also, warum gehen wir nicht auch dorthin und überraschen sie?« »Und wo ist die rumänische Botschaft?« fragte Matt neugierig. »In McLean, ungefähr zehn Meilen von hier entfernt.« »Wie sollen wir dahinkommen?« wollte Matt weiter wissen. Er fand seine Frage nicht so unmöglich, aber der blaue Ninja hatte ein Lächeln im Auge; verspottete er ihn? Andererseits war es unmöglich, viel zu sprechen unter all der Kleidung, die er trug. Selbst der schmale Schlitz für die Augen im NinjaGewand war bedeckt von etwas, was an Cellophan erinnerte und einen leicht bläulichen Farbton hatte… Wahrscheinlich ein Stück Papinium, monomolekular dünn gespannt, um ihn vor einer eventuellen Kontaminierung durch die Roter-Staub-
Mikroorganismen zu schützen, die auch in dieser Atmosphäre lauern konnten. Auch die anderen fingen an, über Matt zu lachen. »Alles was ich wissen wollte, war, wie wir zehn Meilen schaffen sollen in unserem Zustand«, sagte Matt. »Wieso verhaltet ihr euch so, als wäre ich verblödet? Was sollen wir denn tun, ein Taxi winken, oder so was?« »Warum nicht?« meinte der Ninja. Ein Taxi kam um die Ecke der Straße mit dem Schild »King Street«. »Matt… wir sind jetzt in Washington«, lachte Tomoko. »Wir haben die freie Zone erreicht. Hier gibt es keine LizardKontrolle mehr – « Plötzlich verstand Matt. Als der blaue Ninja einem gerade anfahrenden Taxi winkte, sagte er: »Wir sind frei.« Er wollte es herausbrüllen. Aber er hatte immer noch Angst davor. Er traute den aufwallenden neuen Gefühlen noch nicht ganz. Sie kletterten ins Taxi.
Einige Meilen weiter südlich hörten Leute, die gerade beim Essen in ihren Wohnungen saßen, rumpelnde Geräusche. Sie zuckten zusammen, zogen die Achseln hoch und versuchten weiterzuessen. Dingwall zwang sich zu einem schmierigen Lächeln, als er noch einen Wodkacocktail nahm. Ein widerlicher Erddrink, dachte er, einfach ekelerregend. Aber er mußte Haltung bewahren. Jetzt war der Botschafter an der Reihe, das Lächeln zurückzugeben, obwohl er sich in Dingwalls Gegenwart ausgesprochen unwohl fühlte. »Ich kann nicht verstehen«, sagte er, »warum Sie Musik dirigieren, geschrieben von unsren schlimmsten Feinden, diesen Sauriern… und die Tochter
Tedescus, meines Butlers, die Ihrem kleinen Ensemble angehört, erzählte mir, daß es ein schrecklich klingendes Stück sei, voll mißtönender Akkorde und unmöglicher, schriller Effekte. Obwohl, Sie verstehen, mein persönlicher Geschmack ist ziemlich anspruchslos. Ich habe noch nie etwas Mysteriöseres als diese Popsongs gehört.« »Es braucht immer seine Zeit, sich neuen Dingen zu öffnen«, verkündete Dingwall feierlich, »und Kunst kennt keine Grenzen durch Kriege oder Gattungszugehörigkeit… sie ist universell.« Was für eine grauenvolle Platitüde, dachte er. Aber es war genau das, was diese Leute hier hören wollten. Die Halle war jetzt leidlich bevölkert von Smoking tragenden Leuten. Natürlich, denn die Party-Szene hatte sich ganz schön verkleinert seit der Dezimierung des diplomatischen Corps in Washington; obwohl jeder, der etwas darstellte, hier war. Es waren sogar ein paar Leute aus New York da. Dingwall sah hinter den gewaltigen Brüsten einer Kunstmäzenin den Löwenkopf Isaac Asimovs hervorlugen, der, wie es hieß, gerade an einem Buch schrieb über eine saurische Invasion der freien Staaten… »Es ist mein vierhundertstes Buch«, erklärte Asimov einer Frau, die die obligaten Ohs und Ahs von sich gab. »Aber durch den Papiermangel und die Zensur in den von den Außerirdischen kontrollierten Gebieten kann es mein Verleger nur als Minidiskette herausbringen.« Entfernt hörte man vages Rumoren. Konnte es möglich sein? Sicherlich nicht! Dingwall unterdrückte den aufkeimenden Verdacht. Es war überflüssig, jetzt an so was zu denken, wo alles so gut lief. »Ob es regnen wird, was meinen Sie?« überlegte der Botschafter. Ja, Regen, natürlich, Regen! Das Geräusch war nur Donner, dachte Dingwall voller Erleichterung. Er hatte vergessen, daß
auf diesem obszön üppigen Planeten des öfteren Wasser in Unmengen vom Himmel fiel. Er mußte über sich selbst lachen. Wie hatte er nur denken können, daß dieser weit entfernte Donner etwa… lächerlich! »Ich denke auch, daß es schön regnen wird, Euer Exzellenz.« »Wie auch immer, ich habe mich entschlossen, zu Ihrer kleinen Veranstaltung zu kommen. Es ist so wenig los in diesen Tagen… und jede Abwechslung ist mir willkommen, auch ein Nachmittag voller Mißklänge. Nebenbei, die Eröffnung eines neuen Shoppingcenters… vielleicht kann ich dort gleich etwas einkaufen.« Gut, dachte Dingwall. Noch ein Opfer. Wen könnte er heute Nacht wohl noch erfolgreich seiner Sammlung unfreiwilliger Opfer hinzufügen? Er hatte bereits die Hälfte der »hohen Tiere« der freien Staaten an der Ostküste überzeugt. Heute Nacht würde er noch mehr auflesen, einschließlich Asimov selbst, dann Doktor Charles Sheffield, den Kopf einer Gesellschaft, die die Kontrolle über die Standorte der wenigen Satelliten hatte, über die die Erdlinge noch verfügten; Sir John Augustine, den britischen Botschafter (Großbritannien war einer der wenigen Staaten, die nur mit den freien Staaten kooperierten und die Autorität der Visitors völlig ignorierten), einige Mitglieder der U.S.-amerikanischen Regierung, die immer noch darauf bestanden, sich als freie Nation zu bezeichnen trotz der unübersehbaren Tatsachen… wie lästig! Und da waren noch dieser penetrante Schwabauer und seine Assistentin und Geisha Setsuko. Da standen sie und schwatzten mit Asimov. Zweifellos diskutierten sie einige ewige Mysterien ihrer primitiven Pseudo-Wissenschaft! Bald würden sie in der Hölle weiterdiskutieren können – oder zumindest in einem ungemütlichen Mikrowellenherd. Dingwall lief das Wasser im Mund zusammen bei dieser Vorstellung. McLean war der ideale Ort, um einen Angriff auf
diese ahnungslosen Idioten zu starten, denn hier lebte ein großer Teil der Elite der Stadt, und es gehörte zu ihren Pflichten, dem Konzert beizuwohnen – Und sie ahnten nicht, daß sie die ersten Opfer sein würden in dem alles vernichtenden Angriff auf die frühere Hauptstadt der Vereinigten Staaten! Sanft lächelte er den rumänischen Botschafter an. »Ich wage zu behaupten, daß Euer Exzellenz die Musik nach einiger Zeit gefallen wird. Es wird in Euer Exzellenz wachsen.« Das Donnern draußen hielt an. Das Taxi bog vom George Washington Parkway ab und fuhr die Kirby Road hinunter, eine hügelige Straße, die sich an den Häusern der Reichen entlangwand. »Ich glaube, wir sind gleich da«, meinte der blaue Ninja. Ein Donnern – zunächst noch entfernt – schwoll an zu einem unvorstellbaren, ohrenbetäubenden Lärm. Als sie in die Auffahrt zur Botschaft einbogen, schrie CB auf. »Nein, das darf doch nicht wahr sein! Jemand folgt uns!« Zehn Minuten hatten sie in Freiheit gelebt, dachte Matt, während er sich umdrehte und riesige Tanks sah, überzogen mit blauem Metall und immer schneller auf sie zukommend. Wagen, uneinnehmbar bewaffnet und gepanzert oben drauf eine Laser-Kanone, die jetzt auf sie gerichtet wurde! Zehn Minuten Freiheit! Was es das wert gewesen?
Kapitel 17
Und jetzt hörten sie es alle. Sie liefen zu den großen französischen Fenstern der Andrescu-Villa, und das, was sie dort sahen, ließ sie nach Luft schnappen: Vier verzweifelte Gestalten flohen über den Rasen, knieten sich Schutz suchend hinter die elegant gestutzten Hecken, und ein riesiger tankähnlicher Wagen schwebte räderlos über das Gras, ein furchterregendes kaltes Blau im Mondlicht. Auf seinem Dach schwirrte greinend ein Lasergeschütz, zielte immer wieder und feuerte gewaltige blaue Lichtgeschosse in die Nacht. Alarmiert beobachtete Dingwall das Geschehen, Sir John und Isaac Asimov mit den Ellenbogen zur Seite drückend in seiner Eile, das Fenster zu erreichen. Eines von ihnen wurde getroffen und zerschmetterte. Ein Kronleuchter krachte auf eine üppige Schinkenplatte. Ich habe nicht den Befehl zum Angriff gegeben, dachte Dingwall, als er verzweifelt überlegte, wie er eingreifen könnte, ohne selbst in Gefahr zu geraten. Wer waren diese Gestalten, die über den Rasen flohen? Einer von ihnen war wie ein Ninja gekleidet, die anderen waren ein Mann, eine Frau und ein Junge in kläglichen Resten von Visitor-Uniformen. Das muß die berüchtigte Jones-Familie sein, über deren Flucht jeder diskutiert hatte. Was konnte er nur tun? Der rumänische Botschafter bahnte sich mit erhobenen Fäusten einen Weg durch die Menschenmenge und schrie: »Dies hier ist eine diplomatische Gesandtschaft, können Sie mich hören? Dieses Grundstück ist souveränes Hoheitsgebiet von Rumänien und darf nicht verletzt werden! Ich werde mich bei den Vereinten Nationen beschweren! Ich werde mich beim
Visitor-Hauptquartier beschweren, mit dem meine Regierung einen Vertrag abgeschlossen hat! Dumnezeu, Köpfe werden rollen für diese eklatante Verletzung von Hoheitsrechten.« »Hort, hört«, sagte Sir John Augustine. »Eine miese Show, wenn Sie mich fragen. Nicht zu glauben!« Dingwall drängte sich an die Seite des Botschafters. »Es sind offensichtlich keine Außerirdischen«, erklärte Asimov. »Nicht nur daß ihre Kleider zerrissen, zu groß und wahrscheinlich gestohlen sind, wären sie Saurier, könnten sie gar nicht überleben in dieser vom Roten Staub verseuchten Umgebung.« »Dann müssen wir sie retten! Tedescu, ruf die Wachen!« Innerlich mußte Dingwall lachen. Die dürftigen Sicherheitskräfte der Botschaft würden wohl kaum etwas gegen einen Papinium-Tank ausrichten können! Aber er mußte sie dazu veranlassen, umzukehren, bevor sie den geheimen, für nächste Woche vorbereiteten Invasionsplan vereitelten. Das wichtigste war Zeit. Zwei oder drei bewaffnete Wachen erschienen und begannen die Gäste in weiter innenliegende Räume der Residenz zu treiben. Der Tisch mit dem kalten Buffet war umgekippt. Überall lagen Speisen verstreut. Glassplitter übersäten den Boden, dort wo die französischen Fenster zersprungen waren, wimmerte eine junge Frau, als sie versuchte, die Splitter in ihren Armen herauszuziehen. Die Wachposten begannen mit ihren Maschinenpistolen auf den Tank zu feuern. Das Echo der Schüsse hallte durch die sorgfältig angelegten Wälder, die die Kirk Road begrenzten. Irgendwo weiter vorn eine Explosion: Eine Limousine der Gäste hatte offensichtlich Feuer gefangen. Die Menge schrie jetzt. »Tedescu!« brüllte der Botschafter. Dingwall lächelte.
Er war überzeugt davon, daß Botschafter Andrescu nicht einmal ahnte, daß sein treuer Kammerdiener bereits konvertiert worden war in Dingwalls eigenem kleinen privaten Folterkeller. Der alte Mann schlürfte auf sie zu. »Mehr Wachen!« befahl der Botschafter. Der alte Mann zog einen Walkie-Talkie aus seiner Livree und begann schnell in rumänischer Sprache hineinzusprechen. Dann sagte er etwas zum Botschafter. »Nu vii nimeni… le e greu sa vind la noi.« Was hatte er gesagt? Dingwall bedauerte, daß er es versäumt hatte, mehr von ihren Sprachen zu lernen, aber der Schmerz, den ihre Diktion seiner Zunge bereitete, hatte ihn daran gehindert. Als Andrescu die Stirn runzelte, verstand er jedoch, daß Tedescu ihm mitteilte, daß es nicht mehr Wachen gab, daß er Schwierigkeiten hatte, welche aufzutreiben – Natürlich hatte er das! Denn Tedescu war gehorsam und hatte den meisten von ihnen für diesen Tag freigegeben, genauso wie Dingwall es ihm befohlen hatte. Wie schlau ich bin, dachte Dingwall, solche Eventualität mit eingeplant zu haben! Verstand, wie meiner, und nicht das leidenschaftliche Temperament Medeas waren entscheidend, wenn man die schwindelerregenden Höhen höchster Kommandoränge erreichen wollte. Und nun – was für ein Glückstreffer! Eine der Wachen war tödlich verwundet worden und lag stöhnend schändlich begraben unter einem Berg Salat. Dingwall konnte ein höhnisches Glucksen nicht unterdrücken, als er zu dem nun toten Mann ging und ihm das Maschinengewehr aus der Hand nahm. Er schritt auf den Botschafter zu, und in der Hoffnung, so überzeugend zu klingen wie John Wayne oder einer dieser
Helden der Erde, rief er laut: »Keine Sorge, Exzellenz! Ich helfe Euer Exzellenz, die Festung zu halten!« Dann, über den Tisch springend und wild die Waffe schwenkend, rannte er raus, feuerte dabei blindlings, und die Menge keuchte vor Schrecken und Bewunderung. Er lief die Treppenstufen hinunter, auf den Tank zu, griff nach dem Kommunikator, den er in seiner Tasche versteckt hatte, und hoffte, daß er außer Hörweite der Gäste war… »Ducken!« hörte Matt CBs Schrei und rollte sich aufs Gras. Nur noch wenige Meter, und sie hatten die Villa erreicht. Nur noch ein paar… Er schloß die Augen. Stechender Schmerz durchfuhr seinen Arm, ein Laserstrahl hatte ihn gestreift und ein riesiges Loch in den Rasen gebrannt. Diese Schmerzen! War es das wert? Ich könnte genausogut jetzt sterben, dachte er. Es war alles so sinnlos, so sinnlos. Der Tank verfolgte jetzt Tomoko und CB. Noch eine Sekunde, und er würde sie zerquetschen. Der blaue Ninja blickte dem Tank herausfordernd entgegen, mit erhobenem Schwert, aber was konnte er tun? Er hatte keine Chance, es war so sinnlos… Plötzlich hörte der Tank für ein paar Sekunden auf zu feuern und hielt surrend über einem Blumenbeet. Ein schwarzer Mann in einem Smoking ging selbstbewußt auf den Tank zu und sprach etwas in ein Gerät in seiner Hand… vielleicht jetzt, jetzt in dieser Feuerpause konnten sie versuchen, die Villa zu erreichen. »Lauft!« schrie Matt. Sie sprinteten wie wild über die letzten Meter des Rasens und in die Menge hinein, die nicht wußte, wie sie reagieren sollte. Einige schreckten schreiend zurück. Sie meinten, es seien Lizards, weil sie immer noch diese verdammten Uniformen trugen. In diesem Augenblick brüllte eine vertraute Stimme aus dem Tumult herüber: »Matthew Jones… Tomoko Jones… lieber
Gott, ich habe euch vermißt… Herr Botschafter, das sind meine Freunde, meine sehr, sehr guten Freunde, sie sind keine Außerirdischen, sie sind diejenigen, die Japan gerettet haben – « Matt war viel zu fertig, um noch etwas denken zu können. Erschöpft sackte er auf ein blutbeflecktes Louis-Quinze-Sofa und starrte stumpfsinnig auf die Leute, die umherschwirrten und sich aufgeregt unterhielten. Der schwarze Mann war jetzt ganz allein auf dem Rasen. Er schwenkte das Maschinengewehr. Zu jedermanns Erstaunen öffnete sich eine schmale Luke in dem Tank, und zwei gewaltige Roboterarme schossen heraus und griffen ihn. Er schien zu strampeln und um Hilfe zu schreien, als er in den Tank gezogen wurde.
Als er in Sicherheit war, begann Dingwall die Visitors zu beschimpfen, die dichtgedrängt vorn vor der Kontrollkonsole des Papinium-Tanks saßen. »Wie könnt ihr es wagen, vor dem festgesetzten Tag anzugreifen. Könnt ihr euch vorstellen, was das hätte bedeuten können, ihr Narren? Wenn ich herauskriege, wer von euch dafür verantwortlich ist – « »Aber Dingwall«, platzte einer von ihnen heraus, »die Anweisungen kamen von deinem vorgesetzten Offizier.« »Diana hätte niemals so einen Befehl erteilt! Du lügst! Sie weiß ganz genau, wie wichtig dieses Papinium-Projekt ist, und ganz gewiß würde sie nichts tun, was es gefährden würde.« Was für eine Erleichterung es war, diese Lakaien runterzuputzen, dachte Dingwall, und sich nicht ständig Gedanken um seine Verkleidung machen zu müssen! Erfreut über seine Wut und wissend, daß es das letzte Mal sein konnte, daß es Grund zur Freude gab, ließ er seine Stimme
anschwellen zu einem wahrhaft grauenhaften metallischen Timbre. »Ich werde dafür sorgen, daß ihr mit dem nächstmöglichen Transport zurückgeschickt werdet auf den Heimatplaneten! Ich habe genug von solchen Inkompetenten wie euch! Ja, ja, Dianas Befehle. Ihr benutzt ihren Namen wie eine Art magisches Wort, aber – « »Verzeihung, Kommandeur«, begann ein Untergebener verängstigt, »es war nicht Diana, die den Befehl gab.« »Wer war es dann?« Aber er wußte es bereits. Diese vorwitzige Medea, lediglich sein technischer Vorgesetzter, kam schon wieder mit ihren abgetakelten Brachial-Methoden daher! Er war es absolut leid… warum stellte Diana dieses Biest nicht einfach vor ein Kriegsgericht? Aber nein. Dieser vollgefressene Ballon hatte irgendeine Macht über die Oberste Kommandeurin… »Sehr gut«, sagte er dann. »Ich verstehe. Du bist nicht allein dafür verantwortlich. Und jetzt will ich, daß ihr mich schlagt, macht mir blaue Flecken, und schlagt mir auf den Kopf.« »Aber Kommandeur – « »Ich befehle es Euch! Ich beabsichtige, in den Augen dieser Leute wie ein Held dazustehen und diesen scheinbaren Rückschlag in eine kolossale Sympathiekundgebung umzuwandeln.« Er taumelte, als der Untergebene gehorchte. Es macht ihm etwas zuviel Spaß, dachte er. Er nahm sich vor, dafür zu sorgen, daß diese Kreatur sofort degradiert wurde, sobald er wieder seinen alten Status hatte – wozu, da war er sich sicher, dieser letzte Schlag sehr wahrscheinlich beitragen würde. Schläge auf sein Gesicht und seine Brust! Es schmerzte, brannte… saurische Körperflüssigkeit dürfte da nicht herauskommen, sagte er zu sich selbst. Das Blut, das an seinem Gesicht herunterlief, dunkel und rot, floß aus einem kleinen Sack, den er in das Dermoplast seines Gesichts
implantiert hatte. Es war kein Ausdruck seiner Schmerzen, aber es rann ihm in die Augen und beeinträchtigte seine Sehfähigkeit. »In Ordnung! Genug!« schnarrte er. Sie hörten auf und warfen ihn raus. Er erhob sich zerschlagen vom Rasen und stolperte vorwärts. Der Papinium-Tank begann sich röhrend fortzubewegen, Steinchen flogen hoch und trockenes Laub wirbelte im Wind. Große Erschöpfung heuchelnd, keuchte Dingwall: »Ich habe ihnen gesagt… diplomatischer Status… habe ihnen gedroht… internationale Asylrechte… sie haben es eingesehen…« Dann brach er in den Armen Tedescus zusammen, des Botschafters Butler und sein geheimer Sklave. Während seiner Vorstellung hatte er die Augen des Konvertierten mit hypnotischem Blick fixiert und diese Kreatur in seine Verfügungsgewalt gebracht. Tedescu stierte mit leerem Blick vor sich hin, wie ein Zombie. Was er ja auch wirklich war, dachte Dingwall befriedigt. Als der Botschafter herbeieilte, um zu sehen, was passiert war, sagte der Diener: »Este erou!« »Dieser Mann ist ein Held!« verkündete Andrescu. »Er hat es fertiggebracht, daß diese grauenhaften Visitors diplomatische Konsequenzen gezogen haben und in das Niemandsland, aus dem sie kamen, freiwillig zurückgekehrt sind. Ein diplomatischer Triumph, natürlich auf unterer Ebene!« Die Gäste klatschten Beifall. Tedescu trug Dingwall in die Empfangshalle, wo man eiligst Tische und Stühle wieder in Ordnung brachte. Dingwall sah auf dem Diwan den verletzten Matt Jones; er sah Tomoko und einen Fremden in einem blauen NinjaGewand; er sah den Jungen. Wenn er sie nur töten könnte, jetzt sofort! Aber das würde nur den Spaß verderben.
Und das Spiel wäre aus. Er würde sie bald kriegen… schon sehr bald!
Durch einen Schleier von Schweiß und Tränen sah Matt Lichter: glitzernd, kristallfarben, von der gewölbten Decke schwach schaukelnd. Die Gesichter seiner Freunde… von CB, von Tomoko, von Professor Schwabauer und Setsuko… trug sie nicht ein Geisha-Gewand? Hier in McLean, Virginia; Stimmengeplapper; Gläser klangen; Gelächter. Ich muß träumen. Dann hörte er den blauen Ninja. »Wir sind jetzt in Sicherheit, Matt Jones, mein Freund. Wie es scheint, sind wir von dem Dirigenten eines örtlichen Jugendorchesters gerettet worden.« »Orchester – « Jetzt hörte er auch Musik, irgendwo weit entfernt. Jemand, der aussah wie Bela Lugosi, stand vor den Leuten. Und wenn er den Mund aufmachte, hörte er sich auch so an wie Bela Lugosi. »Willkommen«, sagte er. »Ich bin Ferenc Andrescu, Ihr Gastgeber. Ich bin hier der rumänische Botschafter gewesen, aber man hat mich abgesetzt, und ich werde hier nur noch geduldet und lebe von meinen schwindenden Ersparnissen. Ich habe viel von Ihnen gehört, Matt Jones, und davon, was Sie durchgemacht haben. Schwabauer und seine Freundin haben davon erzählt. Sie sind mein Gast und haben mein Vertrauen.« »Danke«, flüsterte Matt. Jemand drückte ihm ein Champagnerglas in die Hand. Er dachte: Was wird hier eigentlich gefeiert? Laut sagte er: »Wir sollten kämpfen! Jetzt!« »Jetzt nicht, Matt Jones«, besänftigte ihn Andrescu. »Vergessen Sie Ihren Haß. Unser Freund, der Dirigent, hat einen Waffenstillstand erreicht, und wir sollten nicht
vergessen, daß wir in den freien Staaten mit den Visitors in Frieden leben. Ganz bewußt verzichtet man hier auf Kriegshandlungen, und unsere Freiheit scheint auch von den Lizards respektiert zu werden.« »Kein Krieg mit den Lizards!« stöhnte Matt. »Kein Krieg? Aber wir – unsere Feinde, unser Geburtsrecht, unser Planet – « Er kam ins Stottern, suchte nach den richtigen Worten, um seinen Schrecken auszudrücken. »Alles zu seiner Zeit, Matt«, flüsterte Setsuko. Er fühlte ihre Hand auf seiner Stirn. Sie wusch ihm mit einem feuchten, kalten Lappen das Blut aus dem Gesicht. »Jetzt im Moment sind wir wirklich frei.« »Wirklich… frei…« Er konnte nicht mehr denken. Seliges Vergessen umhüllte seinen Geist. Die Lichter des klirrenden Kronleuchters gingen aus, die Stimmen verstummten.
Nach einiger Zeit sagte Tomoko zu CB, daß es jetzt Zeit sei, zu Bett zu gehen. Ein erstes Zeichen dafür, daß sie in eine Art von Zivilisation zurückgekehrt waren. Es war sehr lange her, daß man ihn ins Bett geschickt hatte. Obwohl er wie gewohnt protestierte, war er insgeheim doch erleichtert, daß man ihn wieder wie ein Kind umsorgte, und er zog sich in das Schlafzimmer der ihnen vom Botschafter zugewiesenen Suite zurück. Von unten hörte er noch ganz schwach die Geräusche der Party. Ich bin viel zu aufgeregt, um jetzt schlafen zu können, dachte er. Im Wohnzimmer gab es einen Fernseher. Er setzte sich auf den Fußboden und betätigte die Fernbedienung, schaltete von einem Programm zum anderen.
Aber es gab nicht mehr so viele Programme wie früher in den alten Zeiten des Kabelfernsehens mit 87 Programmen, ihren Filmen und Shows. Die Lizards hatten das Satellitennetz, das einst die Erde umringt und ihre Bewohner mit einer unaufhörlichen Informationsflut versorgt hatte, übernommen. Damit war es jetzt vorbei. Eine Weile sah er sich einen Bugs-Bunny-Comic an. Es war der, wo Bugs Bunny in eine Rakete klettert und in einer monströsen Alien-Landschaft landet und von Marvin Martian gejagt wird, der die Erde mit einem »Allmodulator« zerstören will… Nun gut, er hatte diesen Comic früher schon viele Male gesehen. Aber jetzt war das gar nicht mehr lustig, nicht jetzt, mit den realen Außerirdischen in realen Raumschiffen, die die Erde zerstören wollten… Jetzt sah man einen Sprecher, der etwas vorlas, Nachrichten, vielleicht. »Alle Mitbürger sind aufgeregt und warten gespannt auf die Eröffnung des Spring-Oaks-Shoppingcenters in der nächsten Woche. In einem Interview erklärte der Bürgermeister, daß hiermit ein neues Zeitalter eingeleitet würde, besonders in bezug auf unseren wirtschaftlichen Aufschwung, was gleichzeitig ein Beweis dafür wäre, daß wir Seite an Seite mit den Visitors in friedlicher Koexistenz leben könnten…« Bilder eines noch nicht fertiggestellten Shoppingcenters. Fahnen. Schilder. »Bei der Eröffnungszeremonie wird das McLeanJugendorchester ein Werk eines Alien-Komponisten in Weltpremiere aufführen, die Galaktische Symphony von Loukas Stourmwitch. Mit dieser Aufführung soll die intergalaktische Bruderschaft demonstriert werden. Der Komponist kann zur Premiere wegen der Verseuchung durch Roten Staub leider nicht persönlich erscheinen, aber er hat ein
Glückwunschtelegramm vom Visitor-Heimatplaneten gesandt.« CB erinnerte sich daran, wie die Aliens seine Eltern zerstückelt und vor seinen Augen gefressen hatten. Er konnte sich diese Nachrichten nicht länger anschauen. Was nützte es, frei zu sein, wenn niemand sehen wollte, was die Außerirdischen wirklich waren: Ausbeuter, mitleidslos, sadistisch? Wütend schaltete er den Apparat aus. Plötzlich hörte er eine Melodie, die irgendwo weiter hinten im Haus erklang. Es mußte irgendeine Art von Musikinstrument sein; manchmal klang es gequält, dann wieder kreischte es scheußlich. Jemand übte. Was zum Teufel ist da los, dachte er. Er stand auf, warf sich einen Kimono über und ging hinunter in die Halle. Es war ein einsames, riesiges Haus. Die Geräusche der Party waren nur noch entfernt wahrzunehmen, die Musik war hier stärker zu hören. Es mußte eine Klarinette sein, dachte er, oder ein Saxophon. Er ging eine Treppe hinauf. Jetzt fing ein neues Treppenhaus an. Es machte einen Bogen und führte zu einer Art Klosettür, dem Dienstbotenaufgang wahrscheinlich. CB erinnerte sich, so etwas schon mal in BBC-Shows gesehen zu haben. Er betrat einen kleinen Raum. Dort saß ein junges Mädchen und spielte auf einer Klarinette. Eine Reihe extrem bizarrer Klänge tönte aus dem Instrument. »Klingt ja schrecklich, wenn du mich fragst.« »Aber, wer bist du denn? Was machst du denn hier in meinem Zimmer?« antwortete die Kleine. »Nun, ich hörte diese sonderbare Musik und folgte ihr. Ich heiße Chris, aber die Leute nennen mich CB. Ich bin von…« »Californien, und du wunderst dich, woher ich das weiß.« Sie kicherte und strich sich die gelockten blonden Haare aus dem
Gesicht und zog eine lose Faser aus ihrem neonpinkfarbenen Sweater. »Du bist ganz schön schlau«, grinste CB. »Wie heißt du?« »Ich bin Nadia Tedescu.« »Wow! Du bist eine Rumänin?« »Was hast du denn gedacht?« lachte sie. »Mein Vater arbeitet für den Botschafter. Wir gehören zur Dienerschaft. Ich gehe auf das McLean-Gymnasium. Dort wirst du auch bald sein. Du bist einer von den neuangekommenen Jones, nicht wahr? Mein Daddy sagte mir, daß ich mal nach dir schauen sollte. Er meint, daß Kalifornier sehr frühreif sind.« »Tatsächlich?« »Ich denke, wir werden uns dann in der Schule sehen.« »Schule?« Er wäre nie auf die Idee gekommen, daß er nach allem, was er erlebt hatte, wieder eine Schule besuchen müßte. Ziemlich ernüchternd, diese Vorstellung, wo er gerade mal ein paar Stunden überhaupt in Freiheit war. »Ich war ein ganzes Jahr nicht mehr in der Schule. Wir haben alles hinter uns gelassen und nur noch gegen Lizards gekämpft. Wir waren auch mit einer Kampffähre in Japan. Es war schrecklich.« »Du machst wohl Witze?« fragte Nadia lachend. Er konnte erkennen, daß sie dennoch beeindruckt war. »Und was machst du da für einen sonderbaren Lärm?« »Das hier?« Sie griff nach ihrer Klarinette. »Das ist… wie soll man es nennen. Ich meine die Galaktische Symphony von Loukas Stourmwitch. Wir spielen sie mit dem Jugendorchester. Hast du noch nichts vom neuen Shoppingcenter gehört? Galaktische Brüderschaft und so. Ich weiß, es ist Mist, aber was soll’s. Mein ganzes Leben habe ich in einem Diplomatenhaus verbracht. Botschafter Andrescu ist wie ein Vater zu mir. Weißt du, er hat seine eigenen Kinder alle verloren.« »Lizards?«
»Nein, Russen, denke ich. Er spricht nicht darüber, aber mein Daddy weiß alles darüber.« »Aber das Zeug, das du da spielst, klingt ja grauenhaft.« »Das ist nur modern, das ist alles. Warum kommst du morgen nicht mal auf unsere Probe? Es ist wirklich toll da, und du triffst ein paar andere Jugendliche, und vielleicht gehen wir mal zum Shoppingcenter.« »Sicher«, meinte CB. »Aber nur, weil du so hübsch bist.« Das Mädchen kicherte wieder. CB hatten Freunde seines Alters lange gefehlt. Sie quatschten eine Weile. Erst nachdem er im Bett lag, fielen CB die sonderbaren Augen des Mädchens ein. Es hatte ein wunderschönes Gesicht, aber seine Augen starrten über einen hinweg und schauten einen nicht an. Vielleicht nur ein normaler gelangweilter Blick wie beim Friseur, beruhigte er sich, als er vor dem Fernseher auf dem Sofa lag. Matt und Tomoko waren schon fest eingeschlafen, und der blaue Ninja war mit Professor Schwabauer und Setsuko nach Hause gegangen. Freiheit war gar nicht so schlecht, auch wenn sie bedeutete, daß er wieder zur Schule gehen mußte. Da gab es dieses Mädchen, und vielleicht würde er neue Freunde kennenlernen. Schon lange hatte er sich nicht mehr so sicher gefühlt.
Teil 3 Symphonie des Schreckens
Kapitel 18
Kaum war Dingwall in seinem Haus in Alexandria angekommen, raste er hinunter in seinen Keller und begann wie wild die Kommandozentralen durchzurufen. Sie schienen aber alle so beschäftigt zu sein mit der Situation in Los Angeles, daß es bis zum Morgen dauerte, bevor er überhaupt jemanden erreichen konnte. Diana war die erste. Frustriert warf er die Arme hoch, als das Gesicht der LizardAnführerin auf dem Monitor erschien. »Ich habe mein Bestes getan«, rief er. »Sie haben mir geglaubt… sie denken, ich bin ein Held, was ich ja eigentlich auch bin. Durch meine Tapferkeit und mein diplomatisches Geschick werden wir bestimmt noch mehr Leute auf der Premiere haben, als ich ursprünglich eingeplant hatte. Nichtsdestotrotz bedeutet die Anwesenheit deiner Flüchtlinge nichts als Ärger. Glücklicherweise weiß ich, wo sie sind. Sie wohnen im Haus des rumänischen Botschafters, und wie es aussieht, habe ich dort für ausreichenden Konvertierten-Nachwuchs gesorgt!« Ein blasiertes Lächeln umspielte seine künstlichen Mundwinkel, und obwohl Diana ihn nach wie vor unversöhnlich anschaute, wußte er, daß sie insgeheim erfreut war. »Ich habe sogar ein kleines Mädchen für den Jungen konvertiert«, fuhr er fort. »Diese Menschen sind sehr sentimentale Wesen; und ich habe keine Zweifel daran, daß eine kleine Liebesaffäre, selbst bei diesen Kindern, genau das richtige ist, um sie in unsere Falle zu locken.« »Gut, aber ich will von diesem ganzen Unsinn nichts mehr hören. Du wirst deine kleine Invasion haben, und du wirst
meine Widerstandskämpfer für mich gefangennehmen, und du wirst deine Beförderung erhalten – während Medea schmachtend darniederliegt und auf das Nachwachsen ihrer Zunge wartet.« »Ihrer Zunge?« Dingwall bebte vor Gelächter. »Ja, ein Teil wurde ihr abgeschnitten, kürzlich, bei dem Spektakel mit den Widerstandskämpfern. Ich weiß, ich sollte darüber nicht lachen, aber sie hat es irgendwie verdient, wenn man bedenkt, wieviel aus der Küche dieses Planeten ihr in den Kopf gestiegen ist… oder sollte ich lieber sagen, Magen. Du hättest das Blut und das Gift sehen sollen, das ihr von der Zunge tropfte! Es war sehr vergnüglich.« »Leider erlaubt mir mein Inkognito nicht, mich an derartigen Spektakeln zu erfreuen«, seufzte Dingwall, griff zu einem Einmachtopf und zog eine kleine Wasserratte an ihrem Schwanz heraus, die er dann gedankenverloren verspeiste. »Ihr seid eben viel glücklicher in euren Positionen als ich.« »Ja – «, antwortete Diana träge und richtete ihr Haar. Er grapschte erneut in den Topf und versuchte, eine andere Kreatur zu erwischen. Seine Hände umfaßten einen Nerz und zogen ihn heraus. Er zwickte ihn in die Hand, aber Dingwall merkte es gar nicht. »Ich liebe Nerze. Ich mag es, wenn der Pelz die Kehle kitzelt.« Er stopfte ihn in sein Maul und fraß ihn schmatzend. »Ah… aber das ist nichts gegen einen jungen Menschen. Wenn man bedenkt, daß die Menschen eine gewisse Intelligenz haben, daß sie denken und fühlen können und daß es sie fix und fertig macht, verspeist zu werden… das alles ergibt erst den richtigen Geschmack, nicht wahr? Und dieser feine Nachgeschmack. Wie ihre Kultur – rauh, undiszipliniert und primitiv – ah, ihre Kultur – « »Hör schon auf, Dingwall, Ich denke, du gehst zu weit, mit deiner perversen Liebe für diese naive Kultur.«
»Das mag sein«, erwiderte Dingwall. »Aber wie du weißt, habe ich schon immer mit meinem Essen gespielt.« Medea gefielen die Anweisungen der Dienerin ganz und gar nicht, die ihre ramponierte Zunge mit einer stringierenden Flüssigkeit einpinselte. »Und für mindestens zwei Tage kein Essen«, sagte die Krankenschwester, als sie die brennende Mixtur mit einem Wattestäbchen auftupfte, das sie vorher mit ihrer eigenen, Gott sei Dank langen Zunge abgeleckt hatte. »Es wird alles wieder nachwachsen, da bin ich sicher.« Medea schaute verärgert hinaus auf die Sonnenterrasse des Phoenix Hilton Hotels und jaulte auf, als ein Teil der Flüssigkeit in den Rachen rann. Wenn doch nur etwas mehr Zeit wäre! Sie wollte dabeisein und dieses Wochenende wieder mitmischen, um doch noch etwas Ruhm einzuheimsen, sonst würde Diana sie sicherlich endgültig verstoßen. »Aber trinken darf ich doch wohl etwas«, jammerte sie, und die Krankenschwester brachte ihr einen kleinen Becher, gefüllt mit menschlichem Blut, den sie gierig herunterstürzte. Rache! dachte sie verbittert, und ihr fielen die alten Zeiten ein, als sie mächtig gewesen war und gnadenlos gehandelt hatte, wie es sich für ein gutes Reptil gehörte.
Der blaue Ninja war schon wieder verschwunden. Tomoko wußte, daß er zurück in die Papinium-Tunnel gegangen war, um dort noch mehr herauszubekommen über das, was die Lizards planten. Wenn sie nur wüßte, wo sie ihn finden konnte in dieser fremden Stadt… Sie saß beim Frühstück im geräumigen Speisesaal der Andrescu-Villa und unterhielt sich mit dem Botschafter, der Bela Lugosi so ähnlich war, und mit Matt und ihren alten Freunden Schwabauer und Setsuko. Ihr schien, daß der Krieg
weit entfernt war. Wie konnten sie sich überhaupt im Krieg befinden, wenn sie an so einem eleganten Tisch saßen und von dem aufmerksamen Tedescu mit einer Vielzahl erlesener Speisen verwöhnt wurden. Der Botschafter erzählte gerade die Legende von Nosferatu. »Es ist etwas anders, als Sie es aus diesen Filmen kennen«, meinte er. »Wußten Sie zum Beispiel, daß sich Vampire in feine Nebel auflösen und durch Schlüssellöcher gehen können? Ich vermute, Doktor Freud hätte dazu eine Menge zu sagen gehabt. Aber im Ernst, ich spüre, daß die Saurier im populären Bewußtsein den Platz einnehmen, den früher unser Nosferatu innehatte.« »Gruselig«, sagte CB. »Vielleicht sollte ich jetzt besser auf dein Papinium-Stück aufpassen, Christopher«, meinte Setsuko. Der Junge nahm es vom Ohr und warf es über eine Platte mit Bratkartoffeln, die mitten auf dem Tisch stand. Setsuko untersuchte es gedankenvoll. »Jetzt weiß ich, warum sie so besorgt waren, dich davon abzuhalten, dieses Muster den Wissenschaftlern zu präsentieren.« »Warum?« fragte Tomoko. »Es ist nicht das normale Papinium… es scheint ein anderes Isotop zu sein.« Sie zog ein kleines Instrument aus dem Obi ihres Geisha-Gewandes. Sie hielt es über das PapiniumMuster; Tomoko hörte ein Klicken und sah auf einem kleinen LCD-Panel den Digitalzeiger ausschlagen. »Radikal!« rief CB. »Sie hat einen Geigerzähler in ihrem Obi!« »Da ich beides bin, Geisha und Wissenschaftlerin, bin ich gezwungen, Kompromisse zu machen«, erläuterte Setsuko, sich verbeugend. »Und was sagt ihr amerikanischen Pfadfinder doch immer? Vorbereitet sein ist alles!« Sie fuhr fort mit ihren Messungen, während die anderen schweigend aßen. »Genau,
wie ich gedacht hatte; das ist Papinium 2010. Es hat zwei Neutronen mehr als – « »Aber was bedeutet das?« »Das kann ich jetzt noch nicht genau sagen. Aber ich glaube, wir werden einen Weg finden, es für uns nutzbar zu machen. Habt vielen Dank, Matt Jones, Tomoko-san und CB-chan, das überhaupt ermöglicht zu haben.« »Kann ich jetzt gehen und mich mit Nadia unterhalten?« fragte CB. »Sicherlich«, meinte Tomoko. Als er aufsprang, flüsterte sie ihm noch zu: »Tu nichts, was Matt nicht auch tun würde.« Er lachte und sprang die Treppen hinauf. Sie setzten das Frühstück fort, und Andrescu erzählte weiter von seinen Vampiren. Dann sprachen sie über die Eröffnung des neuen Shoppingcenters, die für den nächsten Samstag geplant war. »Das ist eine wirklich große Sache«, begann Setsuko. »Es heißt, daß damit eine neue Ära wirtschaftlicher Möglichkeiten eingeleitet würde und es zeige, daß die freien Staaten zum Wiederaufbau bereit seien… und daß wir mit den Lizards leben könnten.« »Ich glaube nicht daran«, meinte Matt, eine halbe Tasse Kaffee schlürfend. »Wir sind von so weit her gekommen und haben so hart gekämpft, um jetzt auf euch zu treffen, die ihr bereit seid, Kompromisse mit den Außerirdischen einzugehen!« »So ist es nun auch nicht«, erklärte Andrescu. »Wahr ist, daß sie eine spezielle saurische Technologie beim Bau des neuen Shoppingcenters angewandt haben sollen… okay, ich glaube jedoch nicht, daß irgendwelche Lizards versuchen werden, dadurch Kontrolle über uns zu erlangen. Ich zum Beispiel freue mich jetzt schon auf die Eröffnung und auf die AlienMusik, die unser junger Held dirigieren wird.«
»Mir gefällt das alles nicht«, meinte Matt. Tomoko sagte: »Nicht doch, Matt. Wir müssen unsere Kräfte schonen. Sie werden sich nicht immer abhalten lassen… auch nicht durch Verträge. Erinnere dich, was die Amerikaner mit den Indianern gemacht haben… oder die Nazis mit den Polen. Wir sollten einen kühlen Kopf bewahren, und wir sollten planen. Kämpfen hilft nicht immer.« »Zum Teufel, ich vermute, du hast Recht«, seufzte Matt. Gerade in diesem Moment hüpften CB und die Tochter des Butlers mit ihrer Klarinette unterm Arm in den Raum. Wie reizend sie zusammen aussehen, dachte Tomoko. Ja, jetzt war er in dem Alter. Was ist die Jugend für einen Jungen, der viel zu schnell erwachsen werden mußte? »Mister Tedescu sagt, daß er uns zum Alten Theater bringt. Ich hätte Lust mitzufahren und Nadia auf der Probe zu sehen«, erklärte CB. »Warum nicht«, meinte Tomoko. »Aber ärgert Mister Tedescu nicht, okay?« »Natürlich nicht, ist doch selbstverständlich«, motzte CB. »Ich kann es kaum erwarten, diesen Dingwall zu treffen. Der Name klingt wirklich merkwürdig!« Und schon war er weg. Tomoko hörte draußen nur noch den Wagen starten. »Warte einen Moment. Komm zurück!« schrie Matt plötzlich. »Was ist los mit dir?« fragte Tomoko. »Dieser Name… Dingwall… wo haben wir den bloß schon mal gehört?« Der Botschafter erklärte: »Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Das ist der Name von dem tapferen jungen Dirigenten, dem Mann, der mit den Lizards verhandelte.« »Es kann unmöglich zwei Dingwalls geben«, meinte Matt. »Irgend jemand muß sofort den Wagen stoppen!«
Plötzlich erinnerte sich Tomoko – Natürlich! Als sie draußen vor dem Höhleneingang standen, der in das Papinium-Labyrinth führte, hatten sie gehört, wie der Name Dingwall erwähnt wurde… Sie hatten über Dingwalls Plan diskutiert! CB war gerade dabei, einen der gefährlichsten Angehörigen der geheimen Alien-Hierarchie zu treffen! »Wir müssen ihn zurückhalten!« »Aber er ist ganz gewiß ein guter Mann… auf unserer Seite«, meinte der Botschafter. Aber dann sah er in Tomokos Augen, und irgend etwas überzeugte ihn. »In meinem Haus«, flüsterte er ärgerlich. »Verrat… Verrat! Das ist teuflisch, ich sage es Ihnen – « »Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Matt und sprang auf. »Haben Sie noch einen anderen Wagen?« »Nein. Aber das Theater liegt nur fünf Meilen von hier entfernt.« »Ich hol’ meine Sprintschuhe«, rief Matt und rannte nach oben. Tomoko, Schwabauer und Setsuko sahen sich voller Bestürzung an.
Kapitel 19
Als CB mit Nadia das Theater betrat, sah er den Dirigenten – komischerweise immer im Smoking, nur die rote Schleife war durch eine türkisfarbene ersetzt worden. Er fuchtelte wild mit dem Taktstock. Fremdartige Klänge überschütteten CBs Ohren: wimmernd, krächzend, stöhnend. »Es hört sich an wie in einem Science-Fiction-Film«, sagte Nadia zu ihm. »Hört sich für mich mehr nach Horror an«, meinte CB. »Vielleicht wie der Soundtrack zum Film ›Freitag der Dreizehnte‹ oder so ähnlich.« »Wie kommt ihr im Land der Lizards an Filme?« »He, glaubst du, wir sind Barbaren, oder was?« Dann fügte er erklärend hinzu: »Matt hatte ein Videogerät. Und einmal fanden wir ein verlassenes Videoverleihgeschäft. Die Filmindustrie in L.A. ist völlig erledigt… außer zum Beispiel für diese überdimensionalen Lizard-Propagandafilme. Und natürlich absolut keine Godzilla-Filme! Wenn sie dich mit einem erwischen, bedeutet das totales augenblickliches Karma.« »Wow«, meinte Nadia, packte ihre Klarinette aus und fing an, sich einen Weg durch das Orchester zu bahnen, zu ihrem Platz. CB saß eine Zeitlang im Auditorium, doch das Ganze langweilte ihn ziemlich schnell. Diese Musik schien keinen Sinn zu haben. Einmal kratzten die Geiger mit dem Holz ihrer Bögen über die Saiten, und die Holzbläser bliesen auf dem falschen Ende ihrer Instrumente oder schlugen auf sie mit Xylophonhämmern ein. Es klang okay, aber es war halt kein New Wave.
Er entschloß sich, das Auditorium zu verlassen und auf Entdeckungsreise zu gehen. Er sprang die Stufen zur Bühne hinauf und schlüpfte dahinter. Hinter der Bühne gab es Kontrollgeräte und Gegenstände, die in den Vorhängen hingen, Wolken und Krimskrams. Sie mußten an irgendeinem Stück arbeiten. Ein Thron lehnte gegen eine Wand. Er setzte sich drauf. Er hatte so eine Art Druckknopf in seinen Lehnen, so etwas, was man im Flugzeug hatte, um den Sitz zurückzustellen. Er überlegte, was passieren würde, wenn er einen davon drücken würde, und – Zu spät! Der Thron kippte, drehte sich – Er fand sich in einem Raum wieder – eine Art Gefängniszelle ohne Tür oder Fenster! Wie war er hier nur hereingekommen? Und wo war der Thron geblieben? Er begann gegen die Wände zu schlagen. Ganz deutlich konnte er die Musik hören – so deutlich, daß er wußte, daß es ganz nah sein mußte. Es kam von oben. Er mußte sich unter dem Bühnenboden befinden, hinter dem Orchestergraben. »Laßt mich hier raus!« schrie er. Er klopfte viele Male. Er versuchte einige seiner kraftvollsten Karateschläge, aber sie nutzten nichts. Aber es mußte doch eine Art Hebel geben oder eine Art Kontrollschalter, irgendwo… aber wo? Die Wände schienen völlig leer, grau, metallisch. Nach einiger Zeit hörte die Musik auf, und nur noch ab und zu konnte man einen Ton wahrnehmen. Sie müssen eine Pause machen, überlegte CB. Er begann lauter zu klopfen. Eine Stimme, kalt, eisig, schneidend wie die eines Roboters: »Versuch nicht abzuhauen, mein kleiner Widerstandskämpfer! Das hier ist das Ende deines Weges.«
Ein Gesicht erschien auf der Wand vor ihm. Es war dieser Dirigent! Finster schaute er auf ihn herab. Seine Augen waren rot und schienen zu brennen. »Laß mich hier raus, du Knülch!« »Du hast uns schon immer und viel zu lange Ärger gemacht. Aber damit ist jetzt Schluß. Ab heute Nacht. Übrigens, hast du Lust, mit mir heute Nacht zu speisen? Das Essen geht auf mich. Nur zum Saufen mußt du dir selbst was mitbringen. Ha, ha, ha!« Das Gesicht verschwand. Jesus… das war Mom und Dad passiert, und jetzt sollte es auch ihm passieren… alles, was noch in seine Sinne drang, war die schreckliche Erinnerung an seine Mutter, die zerrissen und dann gefressen wurde. Und was war mit Matt und Tomoko? Wie konnte er sie warnen. Er würde auf dem Eßtisch eines Lizards sterben müssen, und sie würden noch nicht einmal wissen, wo er war.
Dingwall kehrte rechtzeitig zur Probe zurück. Einer unten, dachte er, und zwei werden kommen! Oder vier… genausogut konnte er diesen vorwitzigen Schwabauer und seine Freundin Setsuko dazurechnen, die, wenn man ihr gestatten würde, weiterzuleben, garantiert einen Weg finden würde, ihm zu schaden. Und was war mit dem Mann in dem blauen Gewand, den er zusammen mit ihnen gesehen hatte? Das Material des NinjaOutfits hatte verdächtig nach Papinium ausgesehen. Unmöglich. Nur ein Visitor brauchte hier einen Papinium-Schutz. Und auch nur einer, der kein Antitoxin hatte. Ein Visitor ohne Antidroge konnte nur ein Abtrünniger sein.
Aber es gab keine Visitor-Renegaten. Angehörige der Fünften Kolonne ja, aber sie waren alle bekannt und in vielen Fällen zu nichtsahnenden Doppelagenten geworden, weil man sie durch die immer wachsamen Spionageteams mit winzigen elektronischen Wanzen ausgestattet hatte. Es hatte nie einen Visitor-Abtrünnigen gegeben, außer einem, und dieser war sehr, sehr tot. Sollte Fieh Chan oder Kenzo Sugihara, oder wie immer er sich nannte, jedoch noch leben, so gab es noch eine Person mehr, die er jagen und töten mußte. Seine Hochstimmung schlug plötzlich um in Depression. Womit er sich alles herumplacken mußte, grübelte er, jetzt, wo der große Plan Früchte zu tragen schien. In diesem Moment stürzte Matt Jones in das Theater und rannte in Richtung auf das Podium, wo Dingwall stand. Der Bursche fluchte und schrie. Zweifellos wußte er etwas. »Ich will meinen Jungen, hörst du?« brüllte Matt. Er kam herauf zu Dingwall, packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn. »Was hast du mit meinem Jungen gemacht, du LizardAbschaum?« »Warten Sie einen Moment. Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen«, sagte Dingwall im friedlichsten Tonfall, den er beherrschte. »Ihr Junge? Welcher Junge… whoa, Sie sind der berühmte Matt Jones, nicht wahr?« »Ja«, sagte Matt, für einen Moment verwirrt. »Ich bin glücklich, daß wir uns doch noch kennenlernen nach dem Chaos von gestern. Wir Freiheitskämpfer sollten einander doch kennen, nicht wahr?« Matt schaute ihn zweifelnd an und suchte die Reihen der Kinder ab, die alle erstaunt den wildblickenden Mann anstarrten, der durch ihren Reihen gestürmt war. Endlich entdeckte er Nadia und zog sie hervor. »Wo ist er?« rief er. »Wo ist CB?«
Dingwall schaute kalt in das Gesicht des jungen Mädchens. Er durchbohrte sie mit seinem Blick und begann, die Verhaltensmuster, die ihre Konditionierung wecken würden, auf sie zu übertragen. »Matt«, sagte das Mädchen, »CB ist nicht mit mir mitgekommen. Wir gingen zwar zusammen zum Wagen, aber er entschied sich nach allem, doch nicht mitzukommen. Irgendwie, daß die Musik nicht genug New Wave-mäßig sei oder so.« Dingwall wandte sich zu Matt um mit einem Ich-habe-es-jagesagt-Achselzucken. Die Kinder drängten sich jetzt alle heran, baten um sein Autogramm. Dingwall war hocherfreut, wie gut doch die Konvertierungen verlaufen waren. Jede Woche hatte er mit ihnen in Gruppen von zwei oder dreien gearbeitet, unter dem Vorwand, sie individuell in seinem Haus zu unterrichten. Wie leicht sich die Eltern damit abgefunden hatten! »Sie sind ja eine richtige Berühmtheit«, sagte Dingwall sanft. »Jeder scheint von Ihrer Tokio-Geschichte vom letzten Jahr gehört zu haben.« Er konnte Matts Verwirrung sehen. Wie leichtgläubig diese Menschen doch waren! Eine kleine Schmeichelei, eine sanfte Irreführung, und – »Irgend etwas .stimmt hier trotzdem nicht«, sagte Matt. »Ich werde lieber mit dem Haus des Botschafters telefonieren.« »Ah, tut mir leid, aber der Telefondienst hier ist ein einziges Chaos seit diesen Unruhen«, meinte Dingwall. »Ich glaube auch, daß kein Telefon hier mehr richtig funktioniert… das nächste, das geht, liegt meines Wissens ein Stück die Straße hinunter.« Matt schaute sich um. Die Kinder quetschten sich alle um ihn herum, kreischten und baten um eine Ninjitsu-Demonstration. Wie wunderbar, dachte Dingwall, sich hinter der
vermeintlichen Unschuld der Kinder verstecken zu können… noch dazu, wo sie alle Konvertierte waren und in seiner Macht standen. Telepathisch befahl er ihnen, sich so unbändig und so reizend wie möglich zu verhalten, wohl wissend, daß das den armen Mann außerstande setzen würde, richtig zu denken. »Ich glaube dennoch, daß er hier irgendwo ist«, sagte Matt mißtrauisch. »Vielleicht ist er wirklich hierhergekommen«, sagte Dingwall, innerlich glucksend über seinen Versuch, ernsthafte Besorgnis zu zeigen. »Kinder, helft Mister Jones, seinen Jungen zu sehen, wollt ihr?« Die Kinder verteilten sich und rannten fröhlich durch das Theater. Das Chaos war erstaunlich. In dem Durcheinander schlüpfte Dingwall hinter einen der Bühnenvorhänge, glitt durch eine Geheimtür und verschwand. Vor CBs Gefängnis murmelte er einige Codeworte, mit denen er die Eingangstür öffnete. Sofort griff er von hinten nach dem Jungen – der Duft von frischem Fleisch war so überwältigend, daß er Lust bekam, sofort in das zarte Muskelgewebe des Jungen zu beißen. CB wehrte sich und schlug um sich. Wieder murmelte Dingwall einige Codeworte und schubste den Jungen in einen tiefen Tunnel, hinunter in einen Lagerraum, der sich in das Papinium-Labyrinth hinein öffnete. Dann begann er ihn zu knebeln und zu fesseln, während er die ganze Zeit eine Melodie aus der Galaktischen Symphonie summte. Dann eilte er auf einem anderen Geheimweg zurück ins Auditorium. »Da sind Sie ja, Matt«, sagte er freundlich. »Ich war auf der Toilette, tut mir leid. Ach, schauen Sie, da ist Tedescu. Vielleicht weiß er, wo der Junge ist. Was für eine Plage diese jungen Leute sein können, nicht? Ich habe mich gegenüber 40 von ihnen zu behaupten, und schließlich bleibt nur noch eine Woche.« Tedescu kam auf sie zugerannt, prustend.
»Ah, Domnu! Jones, Ihr Junge, Ihr Junge – « »Wo ist er?« schrie Matt. »Gerade habe ich ihn gesehen – « Tedescu suchte in Dingwalls Augen nach Zustimmung. Dingwall verschaffte sie ihm mit Hilfe der Konditionierung. »Ich sah ihn draußen herumrennen… bei dem Wald… machte mir Sorgen um ihn, ob er vielleicht gejagt wird… ich weiß nicht, vielleicht Visitors.« Matt eilte hinter ihm her. Als er gegangen war, brach Dingwall in bellendes Gelächter aus.
Kapitel 20
Dunkelheit. Völlige Stille. Er konnte sein eigenes Herz schlagen hören: bum, bum, bum… wie der Soundtrack eines Actionfilms. Er konnte sich nicht bewegen. Wo war er? Es war nicht derselbe Raum, der in dem ihn dieser »Dirigent« hineingestoßen und geknebelt hatte. Nein. Jemand war vorhin hereingekommen und hatte ihm eine Injektion verpaßt. Er hatte sich widersetzt, aber es war zu schmerzhaft. Die Droge brannte in seinem Arm. Er überlegte, was es war… er konnte nicht mehr richtig denken. Warum war er hier? Das letzte, woran er sich erinnerte, war das Auditorium, aber – Die Musik: Sie hatte aufgehört. Er versuchte zu sprechen, aber es ging nicht. Er war immer noch geknebelt. Er versuchte seinen Körper zu bewegen. Seine Hände und Füße waren nicht ganz gefesselt, aber etwas war um seine Arme und Beine. Er schien an die Wand gekettet zu sein. Kalt, metallisch. Er mußte irgendwo im Papinium-Labyrinth sein… was bedeutete, daß er überall sein konnte, irgendwo zwischen Alexandria und Raleigh. Er versuchte, etwas zu erkennen – Es strengte ihn an. Dunkel. Dunkel. Er versuchte, die Augen aufzureißen, aber es schmerzte zu sehr. Wahrscheinlich die Droge. Oder was immer es war. Er versuchte zu schreien. Der Knebel würgte ihn. Er konnte kaum atmen. Er brauchte Hilfe. Die freie Zone! Was für ein Witz, dachte er. Er dachte an all das, was sie erlebt hatten, was sie aufgegeben hatten… und jetzt war er hier in einem Lizard-Gefängnis. Wie
es aussah, würde er jetzt gefressen werden. Alles war so sinnlos. Er wünschte, schreien zu können, aber das war etwas für Babies. Er wartete. Die Zeit verging quälend langsam. Ein Geräusch. CB schaute auf; er konnte immer noch nichts erkennen. Dann fummelte eine kleine Hand am Knebel. Licht. Die sanfte Haut eines jungen Mädchens an seinem Gesicht – »Nadia!« stotterte er. »Ich bringe dir Milch und Kekse.« »Sag, wo bin ich? Du bist eine von ihnen, nicht wahr, das bist du? Eine Konvertierte. Hau ab, laß mich allein.« »Du kannst sie nicht besiegen, das weißt du«, sagte Nadia sanft. Sie schien unendlich traurig zu sein. »Ich bring uns hier raus«, sagte CB, »wenn du mir nur hilfst. Jesus, ich bin ein menschliches Wesen, und du bist von ihm hypnotisiert worden…« Ein schmaler Lichtspalt. Da war eine Öffnung. Draußen schimmerte es blau. Es war sehr kalt. Als er sich umsah, erkannte er noch mehr Kinder – alle gefesselt oder an die Wand gekettet »Fütterungszeit, nehme ich an«, sagte CB bitter. »Du fütterst uns fett für den Topf, was? Ich komme mir vor wie bei Hänsel und Gretel oder so.« Nadia brach in Tränen aus. »Nun komm schon, du hast keine Gefühle. Mann, ich habe Konvertierte gesehen. Sie sind Zombies. Wenn du mit ihnen kämpfst, kommen sie immer wieder an. Sie fühlen keinen Schmerz, und sie haben auch keinen Spaß daran, dich zu verletzen, sie sind total gehirnlos, verstehst du? Wenn du jetzt rumjammerst, dann nur, weil sie es dir befohlen haben. Ich weiß alles über euch konvertierte Idioten.« Sie antwortete ihm nicht, sondern stopfte ihm etwas in den Mund: einen Schokoladenkeks. Dann schüttete sie ihm ein
Glas Milch in die Kehle. »Ich kann allein essen«, sagte CB, »wenn du mich losbindest!« Wenn er nur eine Hand frei hätte, dachte er, könnte er den Rest aufbrechen. Nadia ging hinüber zu den anderen Gefangenen. »Du bist eine Verräterin, weißt du das?« rief er ihr nach. »Weißt du überhaupt, was sie mit dir machen werden, wenn sie dich nicht mehr gebrauchen können? Sie fressen dich, so ist es! Und dann kannst du nichts mehr dagegen tun… du bist völlig hilflos. Mist verdammter, während sie dir erzählen, daß du dich freuen sollst, schneiden sie dich in Stücke wie Sushifisch, aber freu dich nur, du Hirnlose.« Er schaute hinüber zu den anderen, seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Sie waren alle aneinandergefesselt; CB konnte das nächste Opfer erreichen, wenn er sich nur etwas mehr strecken könnte. Nadia wimmerte immer noch still vor sich hin. Was, wenn die Konditionierung nicht ganz funktioniert hatte? Gab es eine Möglichkeit, sie aus ihr herauszureden? CB zermarterte sein Gehirn. Der Vater – auch er mußte einer von ihnen sein, jetzt erinnerte er sich an den leeren, gläsernen Blick des Butlers. Ob Nadia eine Mutter hatte? »Nadia… Nadia, wo ist deine Mutter?« »Meine Mutter … meine …« Irgend etwas passierte jetzt mit ihr. Er wußte, daß er ein lebendiges Bild aufgerissen hatte, einen Fehler in der Programmierung der Visitors. Hatten sie ihre Mutter auch gefressen? Seine Gedanken gingen zurück in die Zeit, als er gesehen hatte… nein! dachte er und unterdrückte den Schmerz der Erinnerung an sein altes Familienleben. »Denk an deine Mutter«, sagte CB eindringlich. »Mutter… ja… ich kann nicht an sie denken, das Bild ist leer, es ist leer, und da steht ein Monster, es steht da und öffnet sein Maul, und da tropft Blut – «
Die Konditionierung! Langsam, ruhig. CB wiederholte es immer wieder. »Das ist Konvertierung… Konvertierung ist wie ein Computerprogramm. Siehst du, sie haben dich dazu gebracht, auf bestimmte Wörter und Bilder zu reagieren, aber du bist kein Computer, du bist eine Persönlichkeit; dein Gehirn ist viel komplizierter, als diese Lizards meinen; und sie denken, daß wir schön doof sind, und es käme ihnen nie in den Sinn, daß wir uns wehren könnten und kämpfen. Unter all dem liegt dein eigenes Bewußtsein. Genauso, wie du ein neues Programm herausnimmst und es einschiebst, genauso haben sie es mit dir gemacht. Und du glaubst, du kannst nur noch wie ein Terminal reagieren und daß du alles tun mußt, was sie in dich eingeben; aber du bist nicht nur ein Terminal, du kannst deine eigenen Gedanken kontrollieren, du hast die Kontrolle über dich, du hast sie – « »Nein, nein, nein«, schrie Nadia. »Denk an deine Mutter!« flüsterte CB streng. Plötzlich brach es aus Nadia heraus, eine Mischung aus Rumänisch und Englisch und Silben ohne Sinn: »Mommy, bitte renn weg, sie sind hinter dir her, Mommy, Mommy, wo sind sie? Sie wollen dich töten – « Das war es – der zentrale Punkt ihrer Konditionierung – CB wußte, daß das Hauptelement eines jeden Konvertierungsprozesses auf einem grauenhaften Bild beruhte, mit dem das Opfer fast zu Tode erschreckt würde, wenn es versuchte, nicht zu gehorchen. Er wußte, daß Nadias Mutter grauenhaft gestorben sein mußte und daß Nadia wahrscheinlich die einzige Zeugin ihres Todes gewesen war; und das hatte das Schuldgefühl so groß werden lassen, daß Dingwall sie in der Hand hatte. Aber vielleicht konnte man sie noch retten. Immer wieder ließ er sie sich an die Mutter erinnern, während sie schluchzte und jammerte.
Hatte sie es geschafft? »Laß mich gehen«, flüsterte er. Sie nahm ihn jetzt wahr, ihre Augen glänzten. »Ich kann nicht.« »Sei stark. Laß mich gehen. Hab keine Angst vor dem, was mit deiner Mutter passiert ist. Es wird dir nie passieren. Weil wir gegen sie kämpfen werden. Wir schießen sie zurück in die Sterne.« Sie war jetzt völlig erschöpft. »Schau in meine Augen«, sagte CB wieder. »Ich bin ein Mensch. Ich bin kein Lizard. Ich bin ein Mensch wie deine Mutter. Und du wirst mich töten, wenn du mich nicht gehen läßt.« Starr kam sie auf ihn zu. »Ich weiß nicht, wie ich diese Ketten aufkriegen soll… sie sind auch aus diesem Supermetall gemacht…« »Denk nach! Du mußt gesehen haben, wie er es gemacht hat!« »Irgendein Codewort, das der Zentralcomputer gespeichert hat und versteht.« »Er muß es hundertmal in deiner Gegenwart gesagt haben. Sie glauben wirklich, wir sind dumm. Vor allem konvertierte Idioten. Darum geben sie ihre Geheimnisse immer preis – « »Sesam öffne dich!« schrie Nadia. »Gib mir eine Chance!« rief CB. Plötzlich lösten sich seine Ketten. Und auch die all der anderen. »Heiliger Mist!« staunte CB. »Das ist das blödeste geheime Codewort, was ich je gehört habe.« Nadia hatte die Augen immer noch voller Tränen. »Er meint, es ist… richtig exotisch… weißt du… die alten Mythen der Erde und so… er liebt diese primitiven Kulturen, ich hörte mal mit, wie er darüber mit Diana am Monitor sprach.« »Okay, aber jetzt laß uns hier rausgehen.« Die anderen Kinder versammelten sich um sie. Sie schienen alle eingeschüchtert, ausdruckslos. Viele von ihnen sahen so
aus, als ob sie nicht flüchten wollten. Plötzlich bemerkte CB, daß sie gar nicht laufen konnten… sie hatten nur noch Armund Beinstümpfe. »Jesus Christ«, flüsterte er, »lebendiges Essen.« Diese Menschen würden nirgends mehr herauskommen. Es war eine Anstrengung für viele von ihnen zu kriechen. Ihre Gesichter waren aschfahl, leblos. »Wir kommen zurück und holen euch hier raus.« Aber CB bezweifelte, wie er das überhaupt schaffen, wie er jemals diesen grauenhaften Platz wiederfinden sollte. Nadia an der Hand haltend, drängte er aus dem Raum. Er hielt ihr die Augen zu, obwohl er wußte, daß das für sie ein gewohnter Anblick war. Aber er wollte nicht, daß sie es weiterhin sah. Nicht jetzt, wo sie langsam in die reale Welt zurückkehrte, zurück aus dem Schreckenstraum der Konvertierung. »Zeig mir den Weg«, rief er. »Schnell!« Tunnel, Verbindungsgänge. Sie liefen von einem in den nächsten. CB versuchte, sich trotzdem den Weg zu merken; vielleicht würden sie wirklich zurückkehren, um die anderen zu retten. Links, links, links, rechts… er bemühte sich, den Weg in seinem Kopf zu behalten. Er wußte, daß er ohne Nadia verloren wäre. Er hätte sich rettungslos verlaufen. Weiter rannten sie die schimmernden Tunnel hinunter. In dem kärglichen Licht, das von den blauen Wänden reflektiert wurde, sah er, daß Nadias Augen wieder glasig wurden, daß sie wieder zurückfiel in die Falle der Konvertierung. »Wo führst du mich hin, Nadia?« fragte er. Ein paar Treppen. Eine hölzerne Tür. Sie drückte sie auf, und sie waren in einer Art Keller, von einem Stadthaus vielleicht. Er schaute sich um. »Wo sind wir, Nadia?«
Sie fing an zu stottern. »Es tut mir leid, CB. Ich kann mir nicht helfen… die Konditionierung… sie ist wieder da, voller Kraft, vielleicht stärker als vorher…« Sie hörten Schritte. Und CB sah in die Mündung eines Lasers. »Bewegt euch nicht, oder ihr seid tot.« Er schaute hoch. Ein Lächeln zog sich langsam über Dingwalls Mund, Dirigent und Visitor-Saboteur. »CB, ich schwöre, ich konnte mich nicht mehr kontrollieren. Ich versuchte, wieder an Mom zu denken, wie du es gesagt hast, aber es war zu stark für mich – « Plötzlich hörte sie auf zu sprechen und fiel auf den Boden. Dingwall hatte den Laser auf sie gerichtet und abgedrückt. Sie war tot. »Nutzlose Göre!« murmelte er. »Und mich willst du nicht töten?« »Nein. Du bist ein viel zu gutes Tauschgeschäft für mich. Dich brauche ich noch, Junge… wenn auch nur für kurze Zeit… um Diana zu besänftigen! Oh, wir werden ein köstliches Mahl zusammen haben, mit deinem jungen Fleisch, die Oberste Kommandeurin und ich, und dann steht meinem Aufstieg nichts mehr im Wege.« CB war zu betäubt, um zu antworten. Er stand da wie eine Statue. Er dachte an die Kampfbewegungen, die Matt ihm beigebracht hatte, aber gegen einen Laser gab es nichts. Da war er sich absolut sicher. Dingwall zog sich langsam das Gesicht runter und schmiß es über einen Stuhl, leise in sich hineinkichernd.
Kapitel 21
Matt rannte zur Villa zurück. Es ist meine Schuld, dachte er, ich hätte ihn nicht aus den Augen lassen sollen. Jetzt weiß ich nicht, wo er ist… Tomoko und die anderen warteten schon auf ihn. Sie saßen immer noch am Frühstückstisch, alle sehr besorgt. Keiner hatte die von Tedescu appetitlich dekorierten Aufschnittplatten angerührt. Als sie sahen, daß er ohne CB zurückkam, schrien sie alle auf einmal los. »Vielleicht macht er sich einen Spaß mit uns und will uns necken, wie es die jungen Leute so gerne tun«, meinte der Botschafter. Aber Matt sah, daß Andrescu das in Wirklichkeit nicht glaubte. Lange Zeit saßen sie teilnahmslos um den Tisch. Endlich sagte Setsuko zu Professor Schwabauer: »Ich denke, ich mache ein paar Tests mit dem Papinium 2010-Muster.« »Tests?« fragte Matt. »Ja. Mein Cousin Yogami-san hat mir gestattet, mir im Keller seines Hauses ein kleines Laboratorium einzurichten, und ich denke, daß ich dort mehr herausfinden kann als mit den wenigen Instrumenten, die ich hier in meinem Obi dabeihabe«, meinte Setsuko. Sie und Schwabauer standen auf, um zu gehen. Matt schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich wünschte, ich wäre nie hierhergekommen«, schrie er. »Ich weiß nicht, wo der Junge ist, vielleicht ist er schon tot – « Tedescu ließ sich vernehmen: »Wir werden ihn finden, vertrauen Sie mir.«
Warum konnte er diesem Mann nicht trauen? Etwas war mit seinen Augen…
Zurück im Laboratorium beobachtete Schwabauer gespannt, wie Setsuko mit Reagenzgläsern hantierte, filterte, abkühlte und alles in einer Zentrifuge herum wirbeln ließ. Er hatte keine Ahnung, was sie eigentlich machte, aber es faszinierte ihn, diese schön gekleidete und geschminkte japanische Geisha mit hochentwickelten techischen Apparaturen arbeiten zu sehen. Es lag so viel Schönheit in dieser Widersprüchlichkeit. »Was machst du gerade?« fragte er. Sie hob einen Ehrlenmeyer-Kolben hoch und hielt ihn gegen das Licht. »Dies sind Bakterienkulturen«, erklärte sie. »Ich habe da so eine Idee. Ich habe mal eine Seite aus einem Buch der höchsten Alien-Wissenschaft gestohlen, und ich habe schon mit der phantastischsten Biotechnik gearbeitet.« »Ja? Du denkst an rekombinierte DNA, so in der Art?« »Ja, ungefähr.« Sie schüttete zwei Mixturen zusammen, eine klare blaue und eine trübe rote. Die Flüssigkeiten brodelten, als sie aufeinandertrafen, und dann wurde die Lösung klar. »Ich glaube, ich bin auf der richtigen Spur.« »Aber wonach suchst du eigentlich?« »Nun… die Bakterie, auf der der Rote Staub basiert, ist wirklich ein faszinierender Organismus. Schau, die rote Farbe stammt aus einem Eisen-Ion, das das Zentralatom dieses riesigen Farbstoffmoleküls ist. Was ich nun mache, indem ich den Wachstumsbeschleunigungsprozeß einsetze, den die Visitors erfunden haben, ist, die Kopierung und gleichzeitige Mutierung der Bakterie auf eine Rate von mehr als 10000 Generationen pro Minute in einer papiniumreichen Umgebung. Ich produziere eine papiniumfixierende Bakterie, die – «
»Ah, ich verstehe! Die sich ultraschnell multiplizierende Bakterie wird Papinium absorbieren und inaktivieren und das Molekularnetz zerstören, das den Roten Staub fernhält?« »Sie sind gar nicht so dumm, Professor Schwabauer… für einen liberalen Künstler!« meinte Setsuko freundlich lachend. »Schauen Sie! Ich glaube, jetzt habe ich es!« Voller Ehrfurcht beobachtete Schwabauer, wie die verschiedenen Lösungen weiter brodelten und gefroren. Er konnte noch nichts in den Flaschen entdecken, aber auf einmal leuchteten LCDs an den Kontrollen des Laboratoriums auf, Computer begannen zu surren, und eine roboterähnliche Stimme begann zu wiederholen. »Wir haben Kongruenz mit dem Projektmodell er zielt. Wir beginnen mit dem Verfahren, das zu erzielende Bakterium zu isolieren.« »Ist Technologie nicht etwas Grandioses?« rief Setsuko strahlend. Nur etwas verdüsterte Schwabauers Hochstimmung: Sie hatten immer noch nichts von dem verschwundenen Jungen gehört, und er konnte auch nicht an einen kindlichen Streich glauben. Und sie waren immer noch nicht soweit, den Alien-Plan aufzudecken. Warum war der Papinium-Faktor so wichtig?
Ein Kraftfeld hielt CB fest. Dingwall ging auf und ab und hielt ihm Vorträge. Er konnte es kaum noch erwarten, den Jungen zu verspeisen; als Kampfsportler hatte er phantastisches Muskelfleisch, das roh mit einer Prise Gewürz ausgezeichnet schmeckte. Aber er hatte Diana versprochen, ihn für die gemeinsame Freßorgie aufzuheben; er durfte sich jetzt nicht gehenlassen.
Außerdem würde es Spaß machen, ihn erstmal zu konvertieren. Ihn dazu zu bringen, sich zu wünschen, von Visitors gefressen zu werden! »Bevor ich aus dir eine Masse wabernder geistloser Sülze mache, werde ich dir von meinen Plänen erzählen«, fuhr er fort. »Das ist doch so üblich bei euch Erdmenschen, oder nicht? Bevor der Held das Zeitliche segnet, wird ihm üblicherweise erzählt, was weiter passieren wird, oder nicht?« »Ihr habt zu viele schlechte Filme gesehen«, stieß CB unter Schmerzen hervor. Der Körper des getöteten Mädchens lag ausgestreckt auf dem Kaffeetisch des Kellers. Ab und zu unterbrach Dingwall seine Rede und leckte mit der Zunge Blutflecken auf. Wie angenehm, nicht diese Affenmaske tragen zu müssen, sich wieder voll als Saurier fühlen zu können. »Schlechte Filme, eh?« fragte er. »Ja, ich bin stolz darauf, sagen zu können, daß ich eine lange, detaillierte Studie über eure frivole und primitive Kultur erstellt habe. Weißt du, daß die Papiniumtunnel in einem riesigen Knotenpunkt nicht weit von hier entfernt zusammentreffen und daß sie in einem kleinen Vorort, genannte Spring Oaks, aus der Erde herauskommen; dort, wo in wenigen Stunden ein brandneues Shoppingcenter eröffnet wird? Und daß in diesem Center ein riesiger Kontrollcomputer für die Papinium-Tanks installiert worden ist, getarnt als ein – ha, ha, ha – Kinderkarussell? Stell dir nur mal den Spaß vor, wenn die Tanks aus ihrer unterirdischen Installation hochkommen – Tanks, absolut immun gegen den Roten Staub – bereit, Rache zu nehmen und diese unglückselige Stadt total zu vernichten! Stell dir die Überraschung der vornehmen Gäste vor, wenn sie erfahren, daß es nicht nur ein Shoppingcenter ist! Nein – es ist das zukünftige Hauptquartier des nordöstlichen
Kommandopostens – von dem ich der Kommandeur sein werde!« »In der Hölle wirst du kommandieren können, wenn Matt dich erwischt, du häßliche Schlange«, rief CB. »Wie geistreich ihr Kreaturen doch sein könnt! Ich stelle mir vor, du hast schon mal gesehen, wie es einem Hummer ergeht, der in kochendes Wasser geschmissen wird. Du zeigst eine ähnliche Art von Geist. Komm schon, beweg deine Antennen, wackle mit deinen Greifzangen. Ha, ha, ha.« CB versuchte, ihn anzuspucken, aber er war durch das Kraftfeld blockiert, und die Spucke klatschte zurück in sein Gesicht. Dingwall brach in schallendes Gelächter aus. In diesem Augenblick ertönte ein Piepsignal, und er mußte seine Aufmerksamkeit der Kommunikationskonsole zuwenden. Der erste Ruf war Diana. »Alles bestens, Kommandeurin«, sagte er. Sie lächelte. »Ich wußte, daß du die Sache schaukeln wirst.« »Schau mal, hinter mir!« rief Dingwall. »Ein Teil unseres gemeinsamen Dinners steht schon bereit und wartet.« Als nächstes sprach er mit seinen Offizieren und gab ihnen Anweisungen bezüglich Aufstellung der Streitkräfte und Tanks. Ein letzter Ruf ertönte, den er beantworten mußte. Er war völlig verblüfft, als er sah, daß es Medea war. »Du schon wieder!« rief er. »Ich dachte, du bist für eine Zeit außer Dienst wegen einer weggerissenen Zunge.« »Mach dich nur lustig über mich«, sagte Medea schmollend. »Ich komme noch heute abend. Ich beabsichtige, bei deinem Angriff dabeizusein. Ich komme mit einer Kampffähre, und ich werde in etwa einer halben Stunde am üblichen Treffpunkt sein. Du wirst mich dort erwarten und hineinbringen.« Wie ärgerlich, dachte Dingwall. Jetzt mußte er Folter und Konvertierung des Jungen verschieben. Immer wieder war es
Medea, die einem dazwischenkam. Jetzt mußte er zu dem geheimen Treffpunkt fahren, der in Lorton lag und früher ein Gefängnis war. »Ich hoffe, du hast noch einen Vorrat Antitoxin?« sagte er in der Hoffnung, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Er war nicht bereit, auch nur eine Prise von seinem Vorrat abzugeben. Er wurde ständig weniger, und er hatte noch soviel vor. »Ja, ich habe noch einige Ampullen Antitoxin – genug, um meine Sache durchzuführen.« »Sehr gut«, seufzte er. Er schaute auf die Uhr, die an der Wand hing und die Zeit in den vertrauten Alien-Hieroglyphen anzeigte; er rechnete sie im Kopf um auf die Erdzeit und stellte mit Mißfallen fest, daß er erst nach dem großen Ereignis dazu kommen würde, den Burschen zu konvertieren. Diese verdammte Medea! Aber sie war immer noch seine Kommandeurin, und er mußte sich der Visitor-Hierarchie fügen… wenigstens jetzt. »Dich krieg’ ich später!« zischte er dem Jungen zu, griff nach seiner menschlichen Maske und stülpte sie über seinen Kopf. Er schauderte, als sie seine Haut berührte. Dann stolzierte er hinaus. Eine schattenartige Gestalt schlüpfte in den Kellerraum. Eine Hand strich über die Kommandokonsole. Überrascht fiel CB aus dem Kraftfeld. Er klopfte sich ab. Er hatte blaue Flecken, aber er war nicht schlimm verletzt. Er schaute um sich. »Moment mal! Wer hat mich befreit?« fragte er. Jetzt stand er vor dem Jungen: ein Ninja, in dunkles, metallisches Blau gekleidet. »Kenzo!« rief CB.
Der Ninja legte einen Finger auf die Lippen, und mit einer typischen japanischen Bewegung deutete er an, ihm zu folgen: die Handfläche nach unten, mit den Fingern wedelnd. »Wir haben nur noch ein paar Stunden«, sagte der Junge, »aber ich hörte, wie er sagte, daß er erstmal nicht wieder hierherkommt. Er ist gegangen, um Medea zu holen.« »Sprich nicht!« bat der blaue Ninja. Katzenartig bewegte er sich durch den Raum. CB folgte. Ein Kellergelaß folgte auf das andere; sie mußten sehr tief unten in der Erde sein. Endlich erreichten sie etwas, was aussah wie ein normales Mittelklasse-Wohnzimmer. »Was machen wir, einfach zur Eingangstür raus?« »Nein«, sagte der blaue Ninja, »zur Hintertür.« Sie schlüpften in den frühen Abend hinaus, und sorgfältig brachte der Ninja das Schloß wieder in Ordnung, das er vorher aufgebrochen hatte.
Kapitel 22
Früher Abend in der Andrescu-Villa. Die Sonne ging gerade unter; der Botschafter war oben und zog sich um für die Eröffnungszeremonie des Spring Oaks-Shoppingcenters. Matt ging unruhig in der Halle auf und ab, als er plötzlich von draußen eine Stimme hörte… die Stimme des Jungen! Er mußte es sein! »Matt… Dad, ich bin wieder da!« Er stürzte zur Eingangstür und sah den Jungen und den blauen Ninja, die die Kiesauffahrt heraufkamen. CB stürzte auf seinen Adoptivvater zu. Matt fing ihn auf und wirbelte ihn durch die Luft – dann sah er die blauen Flecken auf Gesicht und Körper des Jungen. »Mein Gott, du siehst ja schlimm aus, Christopher.« »Du hast keine Ahnung, was ich erlebt habe, Matt. Aber jetzt ist alles vorbei.« Er strahlte. Matt rief hinauf: »Tomoko, er ist wieder zu Hause!« Ein Wagen kam die Auffahrt heraufgefahren, und Professor Schwabauer und Setsuko stiegen aus. Setsuko rannte auf den Ninja zu, umarmte ihn freudig und schrie etwas. »Anata ga watashi o na-kasemashita no… ai shite imasu no de…« »Was sagt sie?« fragte CB. »Sie sagt mir«, übersetzte der Ninja, »daß sie vor Freude, mich zu sehen, weinen muß und daß sie mich liebt. Aber das kann nicht sein. Derjenige, den sie geliebt hat, ist bei einer Explosion im Osaka Schloß vor mehr als einem Jahr getötet worden.«
»Alle Dinge sind vergänglich, Setchan«, er nannte sie bei ihrem Kosenamen. »Beide, sowohl die Philosophie des Zen als auch das Ritual des Zon, sagen uns das.« »Wie kann ich deinen Tod akzeptieren«, rief Setsuko, »wenn du vor mir stehst?« »Es wird eine grauenhafte Schlacht geben.« CB sprach es aus. »Es sieht sehr schlecht aus, Leute, verdammt schlecht. Sie haben eine Invasion vor und kommen durch das neue Shoppingcenter – es ist in Wirklichkeit eine Lizard-Installation –, und sie wollen alle prominenten Gäste gefangennehmen.« »Das wär’s dann wohl mit der Freundschaft zwischen Menschen und Außerirdischen!« meinte Matt. »Wir sollten besser den Botschafter warnen.« »Nicht nötig«, rief Andrescu, der die Treppen vor der Eingangstür seiner Villa herunterkam, mit Tedescu und Tomoko im Schlepptau. Tomoko war überglücklich, daß der Junge wieder da war und daß sie alle wieder vereint zusammenstanden. »Ich habe nicht die Absicht, wie ein dummes Schaf hier herumzusitzen, während meine Freunde eine Schlacht gegen den Teufel auszufechten haben«, fuhr der Botschafter fort. Sie gingen ins Haus und setzten sich um den Tisch in der Halle: eine kleine, starke Gruppe. Wir sind alle Widerstandskämpfer, dachte Matt. Botschafter und Geisha, Butler und Kind. Dies alles brachte sie einander näher, zum Wohle der Menschheit. Noch von seiner Gefangenschaft geschwächt, begann CB alles, was er über Dingwalls Plan wußte, zu erzählen. Ab und an unterbrach ihn der blaue Ninja und berichtete, was er bei seinen Ausflügen im Papinium-Labyrinth entdeckt hatte. »Sie haben ein ganzes Sklavenheer dort unten. Sie müssen wie Vieh in unterirdischen Käfigen leben und Schwerstarbeit
im Labyrinth verrichten. Zuerst schuften sie sich zu Tode, und dann werden sie durch den Wolf gedreht und zu Hamburgern verarbeitet… ein teuflisches Verfahren!« Setsuko stand auf und schwenkte eine gläserne, geschlossene Petrischale, gefüllt mit etwas, das aussah wie eine bebende Masse metallisch-blauen Gallerts. »Was für ein Glück«, sagte sie, »daß es mir rechtzeitig gelungen ist, dieses Bakterium zu synthetisieren.« Sie bedeutete dem Ninja, vorsichtig zu sein. »Ich werde diese gläserne Schale jetzt nicht öffnen, denn ich befürchte, daß mein Ninja-Freund dann grauenhaft sterben könnte. Dies ist eine Kultur papiniumfixierender Bakterien, die ich erzeugt habe mit Hilfe eines technologischen Verfahrens der Außerirdischen, mit einer Maschine, die jemand gerettet hat aus diesem furchtbaren Florida-Projekt.« »Was passiert damit?« wollte Matt wissen. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine kleine Schüssel mit Gallert eine ganze Lizard-Invasion vereiteln kann.« »Bitte vertraut mir«, bat Setsuko. »Ich bin Wissenschaftlerin und ab und zu imstande, in kleinen Dingen riesige Möglichkeiten zu sehen. Wer hätte denn gedacht, daß die Atombombe, die einst Hiroshima zerstörte, ihre vernichtende Kraft durch die Freisetzung der Energie eines Uranstücks erhielt, nicht größer als eine Zehn-Cent-Münze?« »Ja, das ist wahr«, stimmte Schwabauer zu. »Sehr scharfsichtig von dir.« »Nun, wir brauchen keine Bomben auf die mit Papinium überzogenen Tanks zu werfen. Wir müssen nur diese blaue Gallertmasse auf sie schmeißen. Eine kleine Menge reicht schon. Das Papinium selbst wird die Bakterie in einen wahren Multiplikationsrausch versetzen, Generationen um Generationen werden in Sekunden entstehen. Die dichte Struktur der Papiniumschicht wird zerstört werden… und der
omnipräsente Rote Staub wird eindringen können und jeden Visitor endgültig vernichten, der sich darunter befindet.« »Der totale Wahnsinn!« staunte CB. »Ich habe meine eigene Methode, mit Nosferatu umzugehen«, sagte Botschafter Andrescu rätselhaft. »So, wie es die Traditionen meines Landes mit sich bringen. Aber zunächst werde ich alle meine Freunde benachrichtigen, alle jene, die sich bereit erklärt haben, an der Eröffnungsfeier des Shoppingcenters teilzunehmen… wir müssen doch alle kämpfen, oder etwa nicht? Es wird phantastisch werden. Endlich spüre ich, daß meine Anwesenheit hier doch nicht umsonst ist.« »Wir haben noch ein paar Stunden«, bemerkte Matt. Andrescu ging hinaus, um zu telefonieren; Setsuko holte noch mehr gläserne Schalen voller blauer Bakterien. In der allgemeinen Aufregung hatte keiner bemerkt, daß der Butler Tedescu sich davongeschlichen hatte und mit dem Wagen irgendwohin verschwunden war.
Wie ein Wahnsinniger fuhr Tedescu den verlassenen George Washington Highway hinunter. Er nahm den Potomac nicht wahr, der mit rötlichen Blättern bedeckt war; er sah weder das Washington-Monument noch das Lincoln-Denkmal, die sich auf der anderen Flußseite befanden, ihren rosafarbenen Marmor im Sonnenuntergang. Er konnte an nichts anderes denken als an Dingwall… Dingwalls Augen… rot, hypnotisch, und an den Schmerz der Konvertierung. Er mußte ihn warnen! Er mußte den Meister warnen! Der Highway wurde jetzt zur Washington Street, der Hauptverkehrsstraße der alten Stadt. Er wußte, wo sich
Dingwalls Stadthaus befand, weil er dort konvertiert worden war, vor einem Jahr. Er parkte in einer Allee und klopfte laut an die Hintertür. Er pochte, bis seine Fäuste bluteten. Keine Antwort. Aber er mußte ihn doch warnen. Aus seinem Unterbewußtsein echoten die Befehle der Konditionierung wieder und wieder: Du wirst die Meister immer warnen, wenn Gefahr besteht und wenn es dein eigenes Leben kosten sollte. Du bist nichts. Die Meister sind alles. Du bist ihr Diener. Gehorche, gehorche, gehorche. Wo war der Meister? Er mußte gehorchen, er mußte hier an der Tür stehenbleiben… und wenn er vor Hunger sterben müßte. Es war in Ordnung, zu sterben, natürlich. Es war freudig und ehrenhaft, für den Meister sterben zu können. Das war so selbstverständlich, daß man es nicht auszusprechen brauchte. Er fuhr fort, gegen die Tür zu schlagen. Plötzlich bemerkte er, daß etwas mit dem Schloß nicht stimmte. Es war verbogen. Es hatte Kratzspuren. Jemand war eingebrochen! War der Meister in Gefahr? Es war seine Pflicht, ihn zu retten, egal was passierte. Er begann, mit seinen Fingernägeln das Schloß aufzubrechen. Plötzlich gab es nach, und er stand im Haus. Da gab es einen geheimen Raum im Keller. Dort war der Meister fast immer zu finden. Er ging die Treppen hinunter. Er drehte das Licht an – Und schrie! Der Körper eines jungen Mädchens lag auf dem Kaffeetisch. Blut tropfte aus einer Wunde in ihrer Seite, eine Wunde, die so glatt aussah, daß sie nur von einem Laser stammen konnte – Der Körper seiner Tochter! Er beugte sich zu dem Körper hinunter und umarmte ihn. Er weinte. Hatte der Meister das getan? Aber sie hatten doch
versprochen… sie hatten geschworen, daß er und seine Tochter, wenn sie ihnen zu Willen wären, in Sicherheit wären vor ihrem Appetit… sie hatten es doch geschworen! Er hatte es doch nur für seine kleine Nadia getan, sein ein und alles… Er vergrub sein Gesicht in dem erkaltenden Körper. Heiße Tränen brannten in seinen Augen. Den Meistern zu dienen – das war seine Pflicht – immer noch, immer noch – Was war mit seiner Konditionierung passiert?
Kapitel 23
Bald darauf entstiegen die Freunde des Botschafters ihren imposanten Autos: Sir John Augustine, in seinem Rolls, war einer der ersten, die ankamen. Als ihm die Situation erklärt worden war, rieb er sich nachdenklich das Kinn. »Guter Gott! Ganz schon hinterhältig, diese Lizards, nicht wahr! Als ich ein junger Offizier in Indien war, gab es einen Maharadscha, der folgendes – « »Es ist nicht die Zeit, sich an deinen wunderbaren Anekdoten zu ergötzen, tut mir leid, John«, unterbrach ihn Andrescu eindringlich. »Wie gut bist du im Werfen?« Er zeigte ihm eine der gläsernen Schalen. »Oh, was glaubst Du! Wir werden diesen Papinium-Tanks eine Taufe verpassen, die sie nie vergessen werden«, sagte Sir John grimmig. »Es wird noch mal so sein wie die Belagerung von Bhaktipore!« »Tedescu!« schrie der Botschafter. »De unde esti dumneata! Dieser verdammte Diener, er ist nirgends zu finden…« »Wußten Sie, daß Nadia eine Konvertierte war?« rief CB. »Aber natürlich nicht«, antwortete der Botschafter alarmiert, »doch nicht in meinem eigenen Haus!« Aber dann erinnerte er sich an Tedescus seltsames Verhalten. War es möglich, daß er weggegangen war, um die Außerirdischen zu warnen? Gab es überall nur noch Verrat? »Wir haben keine Zeit, Mutmaßungen über den vermeintlichen Verrat eines Mannes anzustellen«, äußerte Schwabauer. »Wir haben für nichts mehr Zeit. Wir müssen handeln.«
Immer mehr trafen jetzt ein, auch Setsukos Cousin Doktor Yogami. Da war der reiche, leutselige Bill Middendorf, ein Amateurdirigent mit Format; da gab es ein paar pensionierte Kabinettsmitglieder, einen Botschafter aus Zentralafrika, prachtvoll in seinem traditionellen Gewand. »Okay!« sagte Sir John jovial, »glaubt ihr wirklich, ein Haufen alter, müder Käuze wie wir könnte gegen die grauenhafteste militärische Macht ankämpfen, mit der es die Menschen je zu tun hatten?« »Sie werden einen anderen Ton anschlagen, wenn es Nacht wird«, sagte Middendorf grimmig. »Wir werden einen Sieg für die freie Welt erringen.« Andrescu sah, daß viele seiner Freunde in die Jahre gekommen waren und daß sie nicht mehr die Kondition hatten, gegen Lizards anzutreten. Er wußte, daß viele von ihnen, besonders die Diplomaten, nach der Aufteilung Amerikas nicht mehr aus Washington rausgekommen waren; daß sie nur in ihren prächtigen Villen herumgesessen hatten und von ihren Chauffeuren von einem Empfang und einer Party zur nächsten kutschiert worden waren und hilflos mit ansehen mußten, wie ihr Planet von den Mächten der Finsternis verwüstet wurde. Es bewegte ihn, daß sie jetzt kämpfen wollten, und ihre Tapferkeit machte auch ihm Mut. »Wir werden niemals aufgeben«, sagte er feurig. Und er schaute hinüber zu denen, die noch letzte Nacht Zuflucht gesucht hatten, die verzweifelt über den Rasen der Residenz geflohen waren. Wenn dieser verfluchte Dingwall nicht gewesen wäre, sie würden nicht mehr am Leben sein. Aber Dingwall war ein Alien, und seine Gründe, den Angriff zu stoppen, hatten sich als scheinheilig erwiesen… es war klar, daß er auf jeden Fall alles verhindern wollte, was seinen Angriff auf das Shoppingcenter noch vereiteln konnte! Sollte es denn nie ein Ende haben mit dieser Perfidie der Lizaris?
Aber auch der blaue Ninja war ein Reptil… Ich bin zu alt, um an das absolut Gute und das absolut Böse zu glauben. Ich weiß es besser. Ja, das tue ich, oder? Die Außerirdischen sind von der Wahrheit abgekommen durch einige wenige Machthungrige; und so ist es bei allen Greueltaten. Andrescu erinnerte sich an die kambodschanischen… die deutschen… die russischen Gefangenenlager, in denen auch er einmal beinahe gelandet wäre. Ihre Gruppe: ein Alien-Ninja, ein Kampfsportlehrer, zwei Frauen und ein Junge… die die Spitze bildeten von einer buntgewürfelten Menge alter Herren, die das verzweifelte Bedürfnis hatten, eine Rolle zu spielen in dieser Schlacht um die Kontrolle über die Erde… den grünen, saftigen Planeten voller Wasser, den die Außerirdischen so lüstern begehrten. »Seid ihr bereit?« fragte er. Ein wildes Ja war die Antwort. »Gut, dann laßt uns jetzt aufbrechen.« Andrescu wartete auf Setsuko, die die gläsernen Schalen verteilte, und dann strömten sie hinaus zu ihren schon wartenden Limousinen. Sie standen noch in der Auffahrt. Reifen quietschten. Ein Wagen war gegen einen Baum gerast. Die Chauffeure liefen hin, um zu schauen, was passiert war. »Das ist mein Auto!« Andrescu lief zu der Stelle, wo sein Wagen brannte. Sie zogen jemanden heraus. Die Person bewegte sich noch, obwohl Gesicht und Lippen verkohlt waren. »Tedescu«, sagte der Botschafter sanft, »warst du noch loyal mir gegenüber nach alldem?« Der sterbende Mann hielt in seiner Hand die Hand eines jungen Mädchens – Tot. Der Körper durchbohrt von einem Laserstrahl. »Nadia – «, CB rannte herbei.
Sie standen im Kreis um das brennende Auto. »Tretet zurück!« rief Andrescu. »Oder wollt ihr euch umbringen.« Tedescu murmelte, »Ich vergaß… meine wahre Natur… aber ich fand zu ihr zurück… sie haben meine Tochter… getötet.« Andrescu blickte sich um. Er sah das Gesicht des Jungen, vor Wut verzerrt. Der Junge brüllte los: »O Nadia, wir haben den ganzen Weg aus dem Verließ heraus geschafft… du hast es fast bis nach Hause geschafft.« Tedescu starb. Andrescu wandte sich um. »Ich muß noch etwas holen.« Er schritt zum Haus zurück und die Treppen hinauf. Er öffnete eine antike Truhe, in der er die Juwelen seiner Frau aufbewahrte. Er warf alles auf den Boden: Juwelen, Satinschärpen, staubige Spitzengewänder. Auf dem Boden der Truhe fand er, wonach er suchte. Einen hölzernen Pflock und einen Holzhammer. Er holte beides heraus und starrte lange darauf, außer sich vor Kummer. »Ich habe meine eigene Methode, mit diesem Nosferatu fertig zu werden«, sagte er zu sich selbst, und wiederholte, was er halb im Spaß zu den anderen noch vor weniger als einer Stunde gesagt hatte. Er hatte aus sentimentalen Gründen den Pflock und den Holzhammer aufgehoben. Einmal, auf seine Ähnlichkeit mit Bela Lugosi anspielend, hatte ein Hollywood-Produzent, der Washington besuchte, ihm diese beiden Dinge als Souvenirs geschenkt. Sie waren einmal Requisiten in einem Vampirfilm gewesen. Natürlich hatte Andrescu damals darüber gelacht und den Hollywood-Produzenten darüber informiert, daß er nicht nur ein Nachfolger von Vlad Dracul, dem »Durchbohrten«, war, sondern, daß dieser gute Mann so etwas wie ein Nationalheld in seinem Land gewesen war.
Diese Gegenstände einzusetzen, hatte für ihn eine besondere Symbolik, so kindisch es auch aussehen mochte. Er nahm beides zur Hand, klemmte sich den Pflock sorgfältig unter den Arm und ging hinaus zu den anderen.
Kapitel 24
Tomoko saß auf dem Rücksitz von Doktor Yogamis schäbigem Kombi, neben dem Alien, den sie für tot gehalten hatte. Es war eng; sie folgten dem Konvoi von Limousinen, der sich einen Weg bahnte durch den gewundenen, engen Old Dominion Drive. Sie sprachen wenig. All das hatten sie schon einmal erlebt, als sie zum Osaka Schloß gefahren waren, um gegen Lady Murasaki und ihre Armee Seelenloser zu kämpfen. Sie schaute in die Augen des Außerirdischen, der einst zu ihr gesagt hatte, daß er sie liebe. Sie blickten sie distanziert und unergründlich an. Er war völlig eingehüllt von mit Papinium imprägniertem Stoff. Dann beugte sie sich zu ihm und versuchte, ihn zu berühren. Sie fragte sich, ob er sie noch liebte. Matt warf ihnen einen versteckten Blick zu. Er meinte, die alte Eifersucht zu empfinden, als er sah, wie selig seine Frau den Alien betrachtete, aber es war vorbei. Sie und Matt hatten gemeinsam das Ritual des Zon erlebt, und jetzt war er sich ihrer Liebe sicher, die sie in ihrem Herzen empfand… obwohl sie selbst es vielleicht nicht wußte. Vielleicht würden sie alle bald sterben. Er war nicht mehr zornig. Er fühlte statt dessen Vergebung und einen großen Frieden in sich. Auf einmal flüsterte Setsuko ihm etwas ins Ohr. »Was?« fragte er. Sie nahm seine Hand. »Ich mache mir Gedanken um dich, Matt. Deine Augen haben den Ausdruck von jemandem, der sein eigenes Schicksal vorausgesehen hat.« »Ich weiß nicht, was du meinst?«
»Ich verstehe dich, Matt. Die beiden lieben sich, nicht wahr?« »Ich denke, ja.« »Auch ich war einst seine Geliebte. Aber eines Tages in dem kleinen Haus in Tokio, nach seiner wundersamen Auferstehung, als wir uns liebten, hörte ich ihn Tomokos Namen murmeln.« Sie hatten so leise gesprochen, daß Matt sicher war, daß Tomoko und der blaue Ninja sie nicht verstanden hatten. Doktor Yogami fuhr jetzt den Beltway hinunter. Die Straße war unbewohnt. Es war nicht wahr, daß freier Handel und Wohlstand wieder in die freien Staaten Einkehr gehalten hatten. Das waren nur die Erklärungen der Politiker und Optimisten. Die Mauern entlang des Beltway, die man errichtet hatte, um die Anwohner vor dem Verkehrslärm zu schützen, waren an vielen Stellen beschädigt; einige zeigten Spuren von Straßenschlachten. Am Straßenrand standen Autowracks… dort sogar ein ganzer Haufen übereinander gestapelter Autowracks, den niemand weggeräumt hatte. »Sie sind so glücklich«, sprach Setsuko weiter, »sich wiedergefunden zu haben. Wir sollten ihr Glück nicht zerstören, nicht wahr?« CB, der ganz hinten im Kombiwagen hockte, deutete nach vorn, auf die Einfahrt zum neuen Center. »Wir sind da«, rief er. Sie fuhren hinein und parkten neben den anderen Wagen. Es sah anachronistisch aus, neben so vielen offiziellen Diplomatenwagen zu stehen, aber hatte der Krieg nicht auch so viele gegensätzliche Menschen zusammengeführt? Botschafter Andrescu schritt voraus, die festverschlossene Petri-schale hielt er unter seinem Abendanzug verborgen. Pflock und Holzhammer waren sicher in seinem gefalteten Mantel versteckt, den er über dem Arm trug.
Das vielgerühmte Spring Oaks-Shoppingcenter ragte hoch vor ihnen auf, ein mehrstöckiges Gebäude aus Ziegeln und Beton. Es sah häßlich aus. Er hatte es sich sensationeller vorgestellt, aber zweifellos war es noch die beste Art, die schnellschwindenden Gelder der freien Staaten anzulegen. Das also war das großartige Symbol für die Rückkehr der Menschen zum Wohlstand, errichtet von Menschen mit LizardTechnologie! Plötzlich hatte er Angst. Professor Schwabauer schloß zu ihm auf. »Ah, Botschafter, fürchten Sie sich auch so wie ich?« »Sehr sogar.« Andrescu lächelte matt, aber er hörte, wie die gläserne Schale in seiner Tasche beim Gehen sanft klirrte. »Aber Sie und ich, wir sind alt genug, um uns an vieles zu erinnern, an harte Zeiten.« »Ja.« Andrescu dachte an die Vergangenheit. Seine Familie hatte er nicht retten können, aber jetzt, auf seine alten Tage, konnte er etwas tun. Was für eine Ironie lag darin, daß er, aus seinem alten Land kommend, hier leben mußte, gestrandet zwischen Fremden und Außerirdischen, und daß sich ihm erst jetzt die Möglichkeit bot, sich von seiner schmerzlichen Vergangenheit zu befreien. Sie erreichten die große Eingangstür, über der Transparente verkündeten: WILLKOMMEN IM SPRING OAKS-SHOPPINGCENTER Die Flaggen der freien Staaten von Amerika hingen über der Eingangstür und viele von anderen Ländern der Welt, zu Andrescus großem Verdruß auch die rote Flagge mit dem Emblem der Visitors. »Was macht dieses Ding denn hier?« fragte er. »Heben Sie Ihre Wut für die Lizards auf«, entgegnete Schwabauer.
Dann folgte CB. »Ich kann es kaum glauben«, flüsterte er Tomoko zu, »das erste Mädchen, das ich in dieser sogenannten ›freien Zone‹ kennenlerne, wird von einem Lizard getötet!« »Wir werden es ihnen heimzahlen«, antwortete Tomoko, ihre Angst verbergend.
»Oh, es wird so sein wie damals die Belagerung von Bhaktipore«, sagte Sir John Augustine, als die Gruppe in die Vorhalle trat. Irgendwo vorn hörten sie, wie Musiker die Instrumente stimmten. Auf dem Orchesterpodium hatte das Jugendorchester Platz genommen. An die tausend Gäste hatten sich eingefunden. Man saß auf Segeltuchstühlen oder auf den Stufen, die rund um das Orchesterpodium aufstiegen. »Selbst der alte Präsi ist da«, bemerkte Sir John zu Andrescu und zeigte auf das lächelnde Gesicht eines früheren Präsidenten der Vereinigten Staaten. »Wir sollten uns jetzt besser trennen«, meinte Andrescu, »und getrennte Plätze suchen. Wir wissen nicht, von wo und wann angegriffen wird.« »Interessantes Dekor«, bemerkte jemand von hinten. Sir John schaute sich um. »Metallisch blaue Wände. Hübsch.« »Sie meinen wohl, tödlich!« sagte Matt. »Das ist höchstwahrscheinlich der monomolekulare Papinium-Schild, der die Lizards schützen soll, wenn sie das Center angreifen. Es wird uneinnehmbar sein – eine Festung. Und sie können unbegrenzt neue Leute heraufholen aus den Tiefen des Papinium-Labyrinths, wann immer sie sie brauchen.«
Dingwall und Medea beobachteten die versammelte Menge aus einem der oberen Stockwerke. »Schau sie dir an!« frohlockte Dingwall. »Bald werden sie uns gehören.« »Schau! Eine Tierhandlung!« rief Medea. »Vielleicht könnten wir – « »Bah! Deine Freßgier wird dich noch mal umbringen, dumme Pute. Kannst du dir vorstellen, welche Panik entstehen würde, wenn du runtergehst und dir dann der Schwanz eines Schoßhündchens aus dem Maul hängt?« »Keine Gefahr. Ich kann noch ein bis zwei Tage keine feste Nahrung zu mir nehmen«, sagte sie, »obwohl meine Zunge wieder schön nachgewachsen ist. Aber jetzt so ein schöner Aperitif von gekühltem, ein wenig fermentiertem Blut – « »Sei still! Du bist zwar meine Vorgesetzte, aber ich bin für diese Operation verantwortlich – und ich habe die Absicht, die entsprechende Belohnung von Diana und Lydia einzustreichen, wenn meine Zeit gekommen ist. Wenn du dich vernünftig verhältst, werde ich auch dir etwas von meinem Ruhm zukommen lassen – ein hübsches Garnisonskommando. New York vielleicht, oder Boston.« »Wird das Papinium-Labyrinth so groß werden?« fragte Medea, halb spöttisch, halb den Eifer ihres Kollegen bewundernd. »Jetzt noch nicht. Aber mit dieser Festung, die unsere Ausgangsbasis in den freien Staaten ist, können wir anfangen, in alle Richtungen zu graben. Im Keller dieses Centers habe ich eine Papinium-Fabrik errichtet mit über hundert Umwandlungsapparaten, mit denen das Metall hergestellt werden kann über die einfache Fusion von Schwermetallionen und einem Plasmafeld.« »O Wunder der Wissenschaft!« sagte Medea respektvoll. »Ja, Zeit wird es«, meinte Dingwall, »denn schließlich sind wir ihnen achthundert Jahre voraus. Wir sollten uns nicht
immer nur auf ihr technologisches Niveau herablassen – obwohl ich da mit unserer Führerin übereinstimme, daß die Jagd mehr Spaß macht, wenn wir uns auf nur wenige Vorteile beschränken – die Laser, die Kampffähren, so in der Art.« »Und was ist mit Matt Jones und seinesgleichen?« »Was können sie uns jetzt noch anhaben? Übrigens habe ich den Jungen in meinem Haus, in einem Kraftfeld gefangen und bereit für die Konvertierung. Ich werde ihn Diana auf einem silbernen Tablett servieren. Andererseits wäre es gut, ihn zurückzuschicken, äußerlich unverletzt, aber mit einem total umprogrammierten Gehirn, und ihn dann diese verdammten Jones unterminieren lassen, so daß sie in die eigene Falle laufen.« »Wie meinst du das?« »Ah, natürlich, ich vergaß, daß du ihre Kunst und Kultur nicht studiert hast.« »Und der mysteriöse Ninja, der mir einen Teil meiner Zunge abtrennte?« »Alles zu seiner Zeit, meine Liebe! Du bist immer so ungeduldig. Du mußt lernen, Ehrgeiz mit Vorsicht zu handhaben.« »Schau sie dir an dort unten! Wie Tiere, die darauf warten, geopfert zu werden«, triumphierte Medea. »Wann soll es losgehen?« »Nun, ich habe noch eine kleine Überraschung geplant… etwas, daß Loukas Stourmwitch nicht in seine Partitur der Galaktischen Symphonie geschrieben hat.« »Wird dieser Typ auf der anderen Seite des Planeten nicht erstaunt sein, wenn er erfährt, wofür du seine Musik gebrauchst?« meinte Medea. »Du hast keinen blassen Schimmer von unserer eigenen Kultur, geschweige denn von der dieser Affen, oder?« sagte Dingwall ärgerlich. »Der Komponist ist letztes Jahr bei einem
Duell getötet worden… jemand forderte ihn heraus, weil er glaubte, daß Stourmwitch ein geheimer Schüler der pre-ta-nama-Ketzer sei. Daher habe ich keine Bedenken, seine Musik für kriegerische Zwecke zu gebrauchen, obwohl sie natürlich komponiert wurde für die geistige interplanetarische Brüderschaft. Abgesehen davon, wird nach zehn Minuten, etwa im ersten Satz, von jedem Musiker aufs Geratewohl ein derartig kakophonischer Lärm erzeugt werden, ungefähr fünf Minuten lang, daß keiner das Donnern der Papinium-Tanks hören wird, die aus ihren geheimen Garagen rausfahren. Und für den Notfall habe ich auf dem Dach einen KampffährenLandeplatz anlegen lassen. Ein Shuttle wartet dort bereits. Denn unsere Streitkräfte können wir opfern, aber wir als wichtige Offiziere sind unentbehrlich. So dachte ich, daß ein VIP-Fluchtweg eine ausgezeichnete Idee sei.« »Du denkst aber auch wirklich an alles«, sagte Medea, und etwas Neid lag in ihrer Stimme. »Ja, wenn auch du nur an alles gedacht hättest bei diesem irrsinnigen Florida-Debakel«, sagte Dingwall, »würdest du jetzt nicht auf einem Kommandoposten mitten in der Wüste hocken. Das wäre die Chance für dich gewesen. Was für eine großartige Idee war es doch, eine mutierte Armee die ganze Dreckarbeit machen zu lassen und uns die schöne Kunst des Regierens zu überlassen und – « »Und das Fressen«, seufzte Medea.
CB saß unauffällig in einer der hinteren Reihen. Er wollte nicht, daß Dingwall oder eines der konvertierten Kinder ihn sah. Tomoko saß drei oder vier Reihen tiefer. Sie drehte sich nicht nach ihm um. Das machte ihn etwas traurig, aber er wußte, warum sie weggucken mußte. Nichts Verdächtiges tun!
Niemand durfte merken, daß das Publikum mit Widerstandskämpfern bestückt war. Ganz vorn im VIP-Teil des Zuschauerraums nahmen gerade die Botschafter ihre Plätze ein. Der Bürgermeister war da, nervös noch mal seine Rede überlesend. CB wußte, daß es wieder eine dieser langweiligen Ansprachen werden würde, wie er sie aus der Schule kannte, blah-blah-mäßig. Er bereitete sich auf ein langes Warten vor. Andrescu plauderte mit dem Ex-Präsidenten. Armer Mann! Früher Regierungschef der größten Nation der Erde und heute Teilnehmer an der Eröffnung eines Shoppingcenters. Welch ein Drama. CB wartete. Matt und der blaue Ninja stahlen sich unbemerkt davon, um zu sehen, was sie herausfinden konnten. Das Shoppingcenter war kreuzförmig gebaut, vier Passagen trafen dort zusammen, wo sich der Konzertsaal befand. In dreien von ihnen gab es die üblichen Boutiquen und Supermärkte, von denen die meisten jedoch jetzt geschlossen waren, nur an zwei Ständen florierte das Geschäft. Ein vorübergehendes Mädchen mokierte sich über die Kleidung des Ninjas. »Das ist der letzte New-Wave-Schrei«, erwiderte der Ninja ernsthaft, und das Mädchen lachte. Matt hörte, wie es aufgeregt seinen Freundinnen erzählte, daß metallene NinjaKlamotten jetzt »in« seien und daß es gerade jemanden gesehen habe, der sie schon trage. Der vierte Korridor war durch eine Kette versperrt: Auf einem Schild stand »Noch im Bau«. »Okay, worauf warten wir noch?« meinte Matt. Der Ninja zerschlug die Kette mit einem geschickten Hieb seines Katanas, und sie betraten die geheime Zone.
Kapitel 25
Dingwall hob den Taktstock. Die ersten Stücke, die das Orchester spielte, waren harmlos: ein kleines HaydnDivertimento, dann folgte ein reizendes Potpourri populärer Songs aus den 80ern. Die Musik ist bezaubernd, dachte Tomoko. Sie mußte aufpassen, sich nicht von diesen Klängen einlullen zu lassen und den eigentlichen Grund ihres Hierseins zu vergessen. Zweifellos war das auch so geplant worden, die Musik sollte die Anwesenden einlullen. Die Stimmung war festlich. Nach der Eröffnungsansprache durch den Bürgermeister war jetzt jeder in Hochstimmung. Das war kein Abend der Belanglosigkeiten und steifer Formalitäten. Wenn Tomoko sich umschaute, blickte sie in freudige Gesichter. Keiner wollte an diesem Abend an Lizards denken. Niemand wollte überhaupt jemals wieder an Lizards denken. Nun ja, sie hatten den Südteil des Landes aufgeben müssen, und sie mußten mit den dürftigen Mitteln des Nordens leben… sie taten alles, um nur nicht mehr an die Lizards denken zu müssen. Eine fatalistische Apathie hatte sich breitgemacht. Hat es einen Sinn, dagegen anzukämpfen? fragte sie sich. Jetzt war es Zeit für das neue Stück: Die Galaktische Symphonie. Sie blätterte das Programmheft durch und entnahm ihm ein paar Fakten über den Alien, der diese Musik komponiert hatte. Die Anmerkungen schienen anspruchsvoller zu sein als ihre akademischen Schriften, die sie für ihr Anthropologie-Examen damals durchgearbeitet hatte. Sie sprachen gelehrt von »retrograder Inversion« und »Schallpalindromen«, von
»Chrono-Rücklauf« und »semialeatorischer pseudotexturaler Polyphonie«. Als die Musik dann einsetzte, wurde ihr klar, daß diese ganzen Wortungetüme kaum die Tatsache bemänteln konnten, daß diese Alien-Musik wie der Soundtrack eines zweitklassigen Science-fiction-Filmes klang. Die jugendlichen Musiker spielten, wie es aussah, mit viel Vergnügen und Spaß an der Musik, egal ob sie mit ihren Bögen auf die Violinen einschlugen oder in das falsche Ende ihrer Holzblasinstrumente bliesen. Tomoko entnahm dem Programm, daß die Musik extra für irdische Instrumente konzipiert worden war und die besonderen Möglichkeiten eines Jugendorchesters fördern sollte. Der letzte Abschnitt erläuterte ziemlich ausführlich die ideologisch abweichende Haltung des Komponisten, der ein Adept der pre-ta-ma-naPhilosophie sei, und daß seine Musik auf dem Heimatplaneten nicht gespielt werden dürfe. Welche Ironie, dachte sie, daß die Lizards diese verbotene Musik als Auftakt für eine Invasion benutzen – etwas, womit der friedliebende Stourmwitch bestimmt nie einverstanden gewesen wäre! Die Musik schwoll an. Einige Zuhörer schienen regelrecht berauscht von den bizarren Klängen, andere wirkten verwirrt. Und einige hielten sich die Ohren zu. Es folgten zehn Minuten einer ganz besonders seltsamen, sich wiederholenden Passage, in der jeder so spielte wie er wollte… Sie überlegte schon, ob sie sich auch die Ohren zuhalten sollte, als sie plötzlich etwas anderes wahrnahm. Ein entferntes Brummen. Ein Beben des Erdbodens. Oder bildete sie sich das nur ein?
Matt und der Ninja schlüpften in einen dunklen Türeingang. Dahinter führte ein Gang zu einer Treppe, die offensichtlich auf dem Dach des Shoppingcenters endete.
»Was glaubst du, was dort ist?« fragte Matt. »Ich vermute eine geheime Landebahn. Wahrscheinlich werden wir dort auch eine Kampffähre finden. Vielleicht kommt hoher Besuch.« Sie stiegen hinauf. Sie erreichten einen schmalen Laufsteg, einer von vielen, die unter dem Dach des Shoppingcenters wie ein Netz verliefen. Über ihren Köpfen hingen Kabel. Die Alien-Musik war deutlich zu hören. Von hier oben konnte Matt Dingwall klar erkennen, der auf dem Orchesterpodium dirigierte. »Dort ist ein Landeplatz, da bin ich mir ziemlich sicher«, sagte der Ninja und deutete auf einen der Laufstege, der zu einer Luke in der Decke hinaufführte. »Sollen wir nachschauen?« fragte Matt. »Nein, wir sollten lieber das Konzert dort unten im Auge behalten. Ich habe so das Gefühl, als ob es gleich losgeht – « Plötzlich – Das schon bekannte Getöse tief unter dem Center. Zuerst reagierten die Zuhörer nicht, im Glauben, es handle sich nur um einen neuen Satz der Alien-Symphonie. Aber das Donnern wurde lauter und lauter. Die Menschen sprangen von ihren Plätzen auf. Von ihrem hohen Versteck konnten Matt und der Ninja sehen, wie sie über die Stühle kletterten und hysterisch hin- und herrannten. »Sie kommen nicht mehr raus!« rief Matt. »Sie haben die Ausgänge blockiert…« Er dachte an Tomoko und CB. O Gott, sie durften nicht sterben. Er starrte hinunter, verzweifelt versuchte er, sie in der Menge zu entdecken. Aber es war unmöglich. Dort unten war das totale Chaos ausgebrochen! Dann brachen die Papinium-Tanks durch den noch nicht ganz fertiggestellten Boden des Shoppingcenters. Steine flogen! Zementblöcke barsten auseinander, als sich die Tanks ihren Weg durch den Boden bahnten. Die Leute schrien
jetzt; die Tanks hatten sie eingeschlossen, in jedem Korridor des Centers stand jetzt einer. Dann hörte man eine Stimme durch das Gebäude dröhnen, etwas verzerrt, aber deutlich erkennbar als die Stimme dieser Kreatur, die letzte Nacht erst vorgegeben hatte, Matts Leben gerettet zu haben. »Keine Panik. Mister Präsident – oder sollte ich besser sagen, Mister Ex-Präsident? – ihr vornehmen Diplomaten und prominenten Bürger Washingtons, die ihr euch entschlossen habt zu dieser kleinen Soiree zu erscheinen… keine Panik! Ihr werdet nicht getötet, wenigstens jetzt noch nicht!« Bestürzung… dann schwärmten die Visitors aus und drängten die Menschen in der Mitte des Centers zusammen, und die Panik wich einem kleinmütigen Gehorchen. Dingwall, umringt von mit Lasern bewaffneten Wachen, fuhr fort, lächelnd in das Mikrophon zu sprechen, und seine Stimme, die immer metallischer und harscher klang, ließ seine wahre saurische Natur erkennen. »Ihr seid ab jetzt Geiseln in dieser papiniumimprägnierten Festung. Und was, mögt ihr euch fragen, ist Papinium? Es ist unsere neueste technische Entwicklung, meine lieben Freunde, die es uns ermöglichen wird, wieder die Kontrolle über diese rebellierenden Teile des Landes zu erlangen, die sich witzigerweise als ›freie Staaten‹ bezeichnen.« Matt sah jetzt noch einen ranghohen Visitor neben Dingwall stehen. Und er erkannte das Gesicht. »Medea!« rief er. »Ich dachte – « »Nun ja«, erklärte der blaue Ninja, »wir verfügen über eine enorme Regenerationsfähigkeit. Zweifellos ist ihre Zunge nachgewachsen und wieder völlig funktionsfähig.« Wie eine Königin stolzierte Medea auf und ab, hochmütig die Menschen beobachtend, die vor Schrecken zurückwichen, als sie die Wut in ihren rotfunkelnden Augen sahen. Ab und an
befahl sie den Wachen, blindlings in die Menschenmenge zu feuern. Die Menschen waren wie gelähmt. Keiner reagierte. »Wir können unmöglich hier oben bleiben! Laß uns hinuntergehen und es ihnen zeigen!« meine Matt. »Wir müssen hier warten«, entgegnete der Ninja sanft, »wie ich Medea und Dingwall kenne, werden sie sich absetzen, sobald das Gemetzel beginnt. Ihre Haut zu retten, ist für sie das Wichtigste… wichtiger als ihre Pläne.« Matt hielt den Atem an.
»Na, was hab’ ich dir gesagt!« Dingwall drehte sich um und strahlte Medea an, die, obwohl leicht verstimmt über den Erfolg ihres Kollegen, es nicht wagte, Verachtung zu zeigen. Und ganz nebenbei machte es ja auch irgendwie Spaß, diese Menschen zu töten. Ich will ihm diesen Augenblick gönnen, dachte sie, immerhin war er monatelang nicht mit angesehenen Sauriern zusammen durch diese Untergrundarbeit hier. Soll er die kurzen Augenblicke der Macht ruhig noch genießen. Sie dachte natürlich immer noch darüber nach, wie sie ihn ausschalten und die ganze Sache an sich reißen könnte. Vielleicht ein Duell, fantasierte sie, um die Kontrolle über diese reiche neue Provinz. Es war ein alter Brauch der Reptilien, jahrhundertelang sanktioniert durch das Gesetz, der aber kaum noch ausgeübt wurde. Aber Dingwall war zu selbstgerecht, und das machte es leichter, ihn für immer zu vernichten. Diese Operation hier war genau der richtige Auftakt für ihren Aufstieg. Erheblich erfrischt durch diese kleinen Träumereien, wandte sich Medea wieder ihrer Aufgabe zu, Befehle zu erteilen. Ihre Augen wanderten durch die Menschenmenge, die sich vor Angst und Schrecken duckte und wimmerte. Alte
Menschen, die meisten dieser VIPs sind alt, dachte sie. Zu zäh zum Verspeisen. Aber diese Kinder aus dem Jugendorchester, die Dingwall alle mit viel Mühe konvertiert hatte, sahen nicht unappetitlich aus. Außer daß sie alle etwas hager und unterernährt waren. Ja, leider war es so, daß die Konvertierung den Lebenswillen der Menschen so brach, daß sie kaum noch aßen… mit dem Erfolg, daß ihr Fleisch bitter schmeckte, verdorben, wie das kranker Körper. Essen… Dort, in der Menge,… der da, der sah gut aus. Ein Junge, dem die Haare zu Berge standen und der so herausfordernd guckte… Ah, anscheinend hatte er auch noch Grips. »An was denkst du, Medea?« fragte Dingwall. »An meine Lieblingsbeschäftigung«, antwortete sie. Sie deutete auf den Jungen, den sie gerade entdeckt hatte. »Fressen!« Dingwall schaute in die Richtung, in die ihr Arm deutete und sah… nein. Blitzschnell war er in der Menge untergetaucht. »Er scheint uns zu kennen«, meinte sie. Und sie stolzierte in die Menschenmenge, gefolgt von zwei Wachen. Die Menschen wichen vor Schreck auseinander, und schutzlos stand der Junge da – Sie erkannte ihn sofort wieder, und genauso ging es Dingwall. »Ergreift ihn!« kreischte sie. Sie wandte sich Dingwall zu: »Aber du sagtest doch, er sei im Kraftfeld gefangen – im Keller deines Hauses, du Versager!« Die Wachen stürzten sich auf den Jungen, der loshechtete, hinter Medea landete und sofort wieder in der Menge verschwand. »Ich will ihn lebend«, lechzte Medea. »Ich will ihm persönlich Arme und Beine ausreißen!« Da tauchte der Junge weiter weg wieder auf, seitlich des Dirigentenpults. Jemand aus der Menge rief: »Wenn ein Kind
diesen Bastarden Widerstand leisten kann, so kann ich das auch!« und mit erhobenen Fäusten stürzte er aus der Menge hervor, um Dingwall anzugreifen. Ein Laserstrahl zerlegte ihn in zwei Teile. Die Menschenmenge geriet jetzt völlig außer Kontrolle. Sie rückte näher, auf Medea und Dingwall zu. »Tanks!« schrie Dingwall in ein Mikrophon, damit ihn die Fahrer hören konnten. »Vernichtet sie. Vernichtet alle!« Es dröhnte aus allen Richtungen, als die Papinium-Tanks anfingen, die Menschen zusammenzuquetschen – sie würden zermalmt werden wie in einem gewaltigen Fleischwolf! dachte Medea frohlockend. Genau in diesem Moment löste sich ein alter Mann aus der Menge und warf irgend etwas gegen den nächststehenden Tank, und – Die Papiniumschicht – was war das? Die Tankkarosserie zerschmolz vor ihren Augen… und die beiden Lizards, die ihn gefahren hatten, saßen im Freien! Bevor sie davonlaufen konnten, war die Menge schon über ihnen, ein Dutzend wütender Menschen schlug auf sie ein, entriß ihnen die Laser und – »Nein!« flüsterte Dingwall heiser. »Das einzige, was ich mir nie hätte träumen lassen, ist eingetroffen – sie haben eine Substanz entwickelt, die die Molekularstruktur der Papiniumschicht zerstört!« Auch andere warfen jetzt kleine Geschosse. Medea keuchte. Konnte das möglich sein, daß diese kleinen gläsernen Schalen mit dieser blauen Substanz, daß diese harmlos aussehenden kleinen Dinger einen Tank zerstören konnten, der aus dem neuesten Superschwermetall gebaut war? »Wenn sie die Wände damit zerstören«, keuchte sie, »dann wird die Außenatmosphäre eindringen können, und die Luft hier drin, die wir so sorgfältig von noch so winzigen Resten Roten Staubs gesäubert haben – wird verseucht!« Nervös griff
sie in ihre Uniform, um sich zu vergewissern, daß die beiden Ampullen mit dem Antitoxin noch da waren. Sie hatte es kaum ausgesprochen, als ein gewaltiger Schrei aus Hunderten von Kehlen erscholl… dort, im nächstgelegenen Korridor, war ein Loch in der blauen Wand entstanden, einige Lizards griffen sich bereits an den Hals und fielen mit Schaum vor den Mäulern zu Boden! »Nein!« schrie sie. »Wir müssen abhauen, Dingwall!« Sie faßte nach seiner Hand, riß mit der anderen einen Laser aus den Händen einer Wache, die sterbend zu ihren Füßen keuchte, und begann, wild um sich zu feuern, um sich einen Weg zurück zum Landeplatz auf dem Dach zu bahnen. Zuerst bewegte sich Dingwall nicht und starrte wie benommen auf das Spektakel rings um sich herum. »Das Ende meines Planes!« sagte er, »meine große, herrliche Vision einer neuen Invasion des Nordens – « »Hör auf, Reden zu halten, und komm jetzt!« kreischte Medea. Sie zerrte so stark an seinem Arm, daß sie ein Stück seiner Pseudohaut in der Hand hielt. Wütend schmiß sie es in die Menge und zog ihn weiter hinter sich her. Sie rannten auf den noch nicht fertiggestellten Teil des Centers zu. »Die Absperrkette – aufgebrochen!« stöhnte Dingwall. »Wir haben keine Zeit, jetzt darüber nachzudenken… wir müssen weg!« Der alte Mann, der das erste kleine Ding geschmissen hatte, watschelte ihnen hinterher. Aber sie hatte keine Zeit zum Schießen. Außerdem waren sie schneller als er. Medea schubste Dingwall schnell in den geheimen Gang und stieß ihn die Treppen hinauf, während hinter ihnen der Lärm des Chaos anschwoll.
Ängstlich suchte CB nach Tomoko. Sie hatten vereinbart, sich nicht aus den Augen zu verlieren, aber als der Lizard ihn entdeckte, mußte er so schnell wie möglich handeln. Er konnte sie nirgends finden… wenn sie sie nur nicht niedergeschossen hatten! Überall explodierten die Papinium-Tanks; es brodelte heiß, riesige Löcher taten sich in Wänden und Boden auf… Plötzlich stieß er mit Tomoko zusammen. Er umarmte sie. »Gott sei Dank, ich dachte schon, du wärst bereits Geschichte«, atmete er auf. »Wo ist Matt? Er ist doch auch da, oder?« »Ich weiß nicht, wo er ist!« schrie sie hysterisch. Ein Lizard stürzte zwischen sie, taumelte und schlug wild um sich, bevor er starb. »Nimm dir seinen Laser!« rief er. Sie gehorchte. »Ein paar von ihnen müssen Antitoxin haben«, erklärte er. Etwa einem Dutzend Lizards schien das Eindringen der äußeren Atmosphäre nichts anzuhaben. Sie marschierten herum und schossen auf alles, was sich ihnen in den Weg stellte. »Paß auf!« schrie CB. Einer von ihnen zielte direkt auf sie – Tomoko feuerte. Blaues Licht sprühte. Der Alien kippte nach hinten. Die Menge stürmte über seinen Körper hinweg. Sie schrien nach Vergeltung. »Wo sind Medea und Dingwall?« fragte CB. Ein Laserstrahl zuckte durch die Luft. Sie duckten sich. CB fiel hintenüber und sah plötzlich… weit oben… »Oh, Jesus… sie sind dort oben… und Medea und Dingwall haben sie gleich erreicht!« schrie er. Sie sprangen auf die Füße. Tomoko schoß um sich, um ihnen Deckung zu geben. »Wie kommt man da hoch?« fragte sie. »Wie soll ich das wissen? Aber sieh, dort, Botschafter Andrescu – Es sieht aus, als plane er etwas, findest du nicht? Ich wette, daß er etwas weiß. Also laß uns gehen!«
Sie rannten weg von der chaotischen Menge. CB hatte schlimme Befürchtungen. Obwohl es ihnen mit Setsukos neuer Entdeckung gelungen war, die Echsen zurückzuschlagen, wußte er nicht, wie sie Matt erreichen konnten, und zwar rechtzeitig. Er blickte hinauf. Das Gewirr der Laufstege hing wie ein riesiges Spinnennetz über allem. Wir werden es nicht schaffen, dachte er. Wir werden sie nicht einfangen können. Tränen stiegen in seine Augen. Er wollte sie noch wegblinzeln, während er lief, aber sie rannen ihm schon die Wangen hinunter, und er konnte fast nicht mehr sehen. »Du darfst nicht aufgeben«, rief ihm Tomoko zu, »denk an deine Liebe für sie…« Sie rannten, so schnell sie konnten. Andrescu war durch eine Tür verschwunden. Sie rannten wie besessen und achteten nicht mehr auf die Wutschreie der Menge, auf ihre Verwirrung und auch nicht mehr auf die Todesschreie von Menschen und Außerirdischen.
Kapitel 26
Sir John Augustine war es gelungen, zu dem Podium vorzudringen, das die beiden kommandierenden Lizards gerade fluchtartig verlassen hatten. Er kroch suchend herum und griff nach dem hinuntergefallenen Mikrophon, Gott sei Dank funktionierte es noch! Seufzend besann er sich auf sein diplomatisches Geschick und wandte sich an die rasende Menge. »Jetzt hört mal alle gut her«, begann er, »wir sollten uns wieder wie zivilisierte Menschen benehmen, hört ihr? Es sieht so aus, als ob es uns gerade gelungen ist, die Invasion zu verhindern. Es gibt keinen Grund mehr für ein rachsüchtiges Gemetzel. Laßt uns anfangen, uns zusammenzureißen und wieder normal zu werden…« Er schaute sich um. Überraschenderweise hatten seine Worte kaum Erfolg. Nichtsdestotrotz standen hier und da einige still und hörten ihm zu, und bald waren seine Worte bis in die hintersten Reihen durchgedrungen. Die Menschen strahlten und umarmten einander. Jemand schmiß das Schaufenster eines Getränkeladens ein. Sir John wollte gerade etwas dazu sagen, als jemand rief: »Das ist völlig in Ordnung, ich bin der Besitzer! Heute nacht gebe ich einen aus!« Laut brüllend folgte ihm die Menge. Sir John seufzte und dachte an die wunderbaren Zeiten der Prohibition. Aber durch die Zersplitterung Amerikas waren diese Annehmlichkeiten weggefallen. Ich habe genug getan, dachte er befriedigt. Er hielt nach seinem alten Freund Andrescu Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken. Was war los? Was hatte der Freund vor?
Wahrscheinlich betrinkt er sich irgendwo, dachte er. Und er verließ das Podium und schloß sich der gerade entstehenden Feier an.
»Warten Sie auf uns!« rief Tomoko zu dem alten Mann hinauf, der hartnäckig die steilen Stufen des Treppenaufgangs erklomm. Andrescu sah sie, aber er wartete nicht. Sie rannten hinter ihm her. Er stieg mit einer solchen Geschwindigkeit hinauf, wie man es einem Mann in seinem Alter nicht zugetraut hätte. In einer Hand hielt er einen spitzen Holzpflock und in der anderen einen Holzhammer. »Sie werden Sie töten«, warnte ihn Tomoko. »Was ist daran schlimm?« grunzte er. »Meine ganze Familie wurde damals getötet…« Sie erreichten den obersten Treppenabsatz und begannen behutsam über den Laufsteg zu gehen. Vorn konnte Tomoko erkennen, daß Medea und Dingwall Matt und den blauen Ninja bereits erreicht hatten; der Ninja hatte sein Schwert gezogen, das in der Dunkelheit aufblitzte. »Nein!« schrie Tomoko. Medea, dadurch gewarnt, wirbelte mit hocherhobenem Laser herum, feuerte und verfehlte Tomoko nur um ein Haar. »Bleib hier«, flüsterte CB. »Matt kann schon mal einen Moment auf sich selbst aufpassen. Und dann können sie etwas erleben!« Tomoko zitterte. Ihr war schwindlig. Sie schaute hinunter: Eine herumwirbelnde Menschenmenge; puppengroße Leute rannten in alle Richtungen, eingehüllt vom Rauch der brodelnden Papinium-Tanks… Gleich falle ich! dachte sie und taumelte. Sie klammerte sich am Geländer fest. Die Metallverstrebungen des Laufstegs klirrten, als sie vorwärts
stolperte. »Alles okay«, meinte CB. »Beweg dich ganz langsam vorwärts, bis du dich daran gewöhnt hast.« Botschafter Andrescu schritt unerbittlich auf die beiden Lizards zu, die kampfbereit Matt und dem blauen Ninja gegenüberstanden. Plötzlich sackte der blaue Ninja in sich zusammen und stieß einen spitzen Schrei aus. »Mein Gott!« rief Matt. »Bist du verletzt?« »Nein, das nicht… der Rote Staub… geh ohne mich weiter…« Medea und Dingwall kamen jetzt immer näher, ohne Unterbrechung zuckten die blauen Energiestrahlen aus ihren Lasern. Das Gewand des Ninjas – es schimmerte. Der metallene Überzug löste sich langsam auf; die Bakterien hatten bereits die Obergeschosse des Shoppingcenters erreicht. »Kein… Antitoxin…« keuchte der Ninja. »Nimm… mein Schwert…« Er fiel gegen das Geländer. »Du mußt höher kriechen!« flüsterte Matt rauh. Er deutete auf die Öffnung in der Decke, die mit Sicherheit zu dem geheimen Flugplatz führte. Dann nahm er das Schwert aus der ausgestreckten Hand seines alten Freundes und schwang es hin und her, gerade rechtzeitig, um einen Laserstrahl abzuwehren. Er sah CB, Tomoko und Andrescu näherkommen. Der blaue Ninja, sehr geschwächt, hatte angefangen, auf die Treppe zuzukriechen, die zum Flugplatz führte, brach dann aber zusammen und fiel gegen die Metallstangen. Medea lachte. »Endlich hab’ ich dich, Matt Jones!« kreischte sie. »Was hast du uns für Ärger gemacht. Aber damit ist es jetzt vorbei.« Sie schoß. Er sprang hoch. Der Schuß fetzte ein Stück Haut von seinem Bein. Er kämpfte gegen den aufsteigenden Schmerz. Im selben Moment war CB heran und stürzte sich auf Medea, die sich
nicht mehr halten konnte. Dann war Matt über ihr. Ihre Gesichtsmaske war im Kampf aufgeplatzt, und er konnte die grünen Schuppen darunter sehen, schleimig glänzend. Sie brüllte und versuchte hochzukommen. Matt wirbelte herum, rechtzeitig, und schlug auf Dingwall ein, der ihn aber beiseite drücken konnte und versuchte, den Eingang zum Landeplatz zu erreichen. Jetzt warf ihn Medea, dämonisch lachend, gegen das Geländer. Matt kämpfte. Tomoko stand mit erhobenem Laser daneben. Sie konnte nicht schießen. Er sah, daß sie fürchtete, ihn zu treffen. »Schieß!« rief er. »Besser, wir sind beide tot, als daß sie davonkommt!« Aber sie stand nur da. CB riß ihr die Waffe aus der Hand und schlug Medea damit heftig auf den Kopf. Überrascht knurrte sie wütend auf und gab Matt frei. Alle drängten sich jetzt vor der Eingangstür zum Flughafen. Der blaue Ninja keuchte, würgte, griff sich an die Kehle – CB hielt Dingwall mit dem Laser in Schach und drängte ihn gegen das Geländer! »Laß mich das machen!« rief der Botschafter. Er sprang auf Dingwall zu und trieb ihm mit einem einzigen Schlag mit dem Holzhammer den Pflock mitten ins Lizard-Herz. Dingwall schrie und schlug wild um sich, sein Arm traf Andrescus Gesicht und schleuderte ihn gegen das Geländer. Dunkles, übelriechendes Lizard-Blut spritzte. Medea hatte sich umgedreht und rannte die Treppe hinauf, von Matt verfolgt. Der Landeplatz… Fast hatte sie die Luke der Kampffähre erreicht… »Laß sie abhauen, Matt!« schrie CB ihm vom Eingang aus zu. »Dingwall ist tot, die Invasion vereitelt, laß uns nach Hause gehen…«
Etwas fiel aus Medeas Uniform und rollte auf den Boden. Eine Ampulle. Das Antitoxin! Und der blaue Ninja lag im Sterben, der Alien, der Matt so oft das Leben gerettet hatte. Er mußte es kriegen, dieses Antitoxin. Er mußte ihn retten. Matt taumelte vorwärts und warf sich über die Ampulle. Ein blendender Laserstrahl… auf einmal Schmerz, er verstand nichts, so groß war der Schmerz… so viel Schmerz… Die Kampffähre hob dröhnend vom Boden ab. CB rannte zu Matt. »Bitte stirb nicht, Matt… bitte stirb nicht… du bist mein bester Freund… ich liebe dich, Matt.« Matt spürte jetzt kaum noch etwas. Unendlich mühsam rollte er sich zur Seite und hielt CB das Antitoxin hin. »Gib ihm das«, flüsterte er. Er konnte kaum mehr atmen. Jetzt war auch Tomoko da und kniete neben ihm nieder. »Weißt du noch? Als der Alien-Schwertmeister für uns starb? Aber er ist niemals gestorben. An dem Tag, als wir gemeinsam das Ritual des Zon praktizierten, sah ich ihn in deinem Herzen. Werde glücklich, Tomoko… das ist mein Geschenk für dich… eine neue Liebe.« Tomoko konnte nichts sagen. Sie nahm ihm die Ampulle ab, Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. »Nicht weinen… wir haben doch gesiegt… nicht wahr?« »Ja. Ja.« Sie schluchzte heftig. »Du darfst mich nicht verlassen… du darfst mich nicht verlassen, Dad.« CB war verzweifelt. »Gib acht… auf deine… Mutter, Junge…« »Ich habe schon eine Mutter und einen Vater verloren. Damals. Und gerade jetzt erst habe ich es überwunden gehabt. Und jetzt, es darf nicht sein, niemals, niemals!«
Tomoko küßte Matt voller Zärtlichkeit auf die Lippen. Tränen näßten seine Mundwinkel. Sie flüsterte zärtlich seinen Namen. »Ich weiß, daß du ihn liebst, Tomoko. Ich habe es in deinen Gedanken lesen können und gesehen. Es ist gut so. Es soll so sein. Ich bin glücklich.« Sie drehte sich nach CB um, in seinem Gesicht stand eine seltsame Mischung aus Schmerz und Wut. Wie soll der Junge das jemals begreifen? Er glaubt, er sei das zweite Mal vom Schicksal bestraft worden… jedesmal wenn er jemanden liebt, wird dieser Mensch von den Lizards getötet. Sie beugte sich vor, um den Jungen zu streicheln. Er wich zurück, und sie sah in seinem Gesicht, wie schwer es ihm fiel, seine rasende Wut zu unterdrücken. »Vergiß deinen Zorn, Junge«, flüsterte Matt. Er war tot. Andrescu betrat jetzt die Landebahn. Vorsichtig hob er die Ampulle auf. »Sonst wird auch er sterben müssen«, flüsterte er. Und er nahm sie mit hinunter zu dem Alien, den Tomoko einst geliebt hatte, der einst Fieh Chan gewesen war, der mitleidlose Kommandeur der fernöstlichen Sektion des AlienEmpires; der dann Kenzo Sugihara wurde, der sanfte Schwertmeister, unermüdlich in seinem Kampf für Gerechtigkeit… und der jetzt keinen Namen mehr hatte und im Sterben lag. Sie hatte sich nicht für einen von ihnen entscheiden können. Sie hatte Matt geliebt, aber der Alien hatte in ihr nie gekannte Gefühle geweckt. Sie drückte den Körper fest an sich. Er war immer noch warm, aber bald würde er kalt und starr sein. CB sagte monoton und leise: »Er starb für eine gute Sache.« Sie gingen die Treppe hinunter.
Sie schaute über das Geländer hinunter auf die Szenerie: Die Tanks waren zu blauen Pfützen geschmolzen, und die Menge jubelte. Andrescu winkte und gestikulierte. Plötzlich brach an der Stelle, wo das Orchester gespielt hatte, der Boden auf, und Menschen über Menschen strömten heraus. Sie trugen Ketten. Sie kletterten aus dem Labyrinth, Hunderte und Aberhunderte, staunend über die ungewohnte Helligkeit. Ausgemergelte Wesen mit zerpeitschten Rücken. Kinder, die man versklavt und in Käfige gesperrt hatte, um sie später zu fressen. Die Freudenschreie wurden immer lauter. Hier und da wurde jemand wiedererkannt, und die Wiedersehensfreude war unbeschreiblich. Unten trafen sie auf Setsuko und Professor Schwabauer. »Ist das nicht alles einfach wunderbar!« rief Schwabauer strahlend. »Neues Leben – die Befreiung der Sklaven – so gesehen war die Eröffnung des Shoppingcenters ein Riesenerfolg.« »Die Bakterie hat sich zu einer Höchstzahl multipliziert!« jubelte Setsuko. »Sie hat das gesamte Papinium in den Tunneln fixiert und wird nun aus Mangel an Nahrung absterben. Die Welt ist von einem schrecklichen Fluch befreit.« »Matt wird überglücklich sein«, meinte Schwabauer. Plötzlich herrschte tiefe Stille. Schwabauer schaute von einem zum anderen. Als er CBs Gesicht sah, wußte er, was passiert war. »Matt wollte, daß wir wegen des Jungen aus der Lizard-Welt fliehen«, sagte Tomoko traurig. »Ich meine, er wollte, daß der Junge ein normales Leben führen sollte; er sollte wieder wie andere Kinder zur Schule gehen und ohne Angst leben können. Mein größter Wunsch war und ist es jedoch… gegen sie zu kämpfen. Ich werde Ninjitsu lernen. Ich werde nicht mehr abseits stehen.« Das war immer ihr großer Plan gewesen, irgendwohin zu gehen, zusammen mit Fieh Chan-Sugihara, und das Böse für
immer zu besiegen. Aber Matt wollte den Jungen da heraushalten. Es war Andrescu, der eine Lösung vorschlug. »Vielleicht kann er erst einmal bei mir bleiben? Ich bin ein etwas wunderlicher alter Kauz, aber wenn ich mit einem jungen Menschen zusammenlebe, werde auch ich vielleicht wieder jung.« CB schwieg. »Die Zeit wird deine Wunden heilen, mein Junge«, tröstete ihn der Botschafter. Lange standen sie so. Matts Tod hatte sie alle schwer getroffen. Dann sprach CB. »Die Kinder, die da gerade aus dem Labyrinth klettern… sie hatte Dingwall in seinem Kerker eingesperrt. Schaut, da kommen sie.« Tomoko schaute hinunter. Da waren sie: Kinder, viele ohne Gliedmaßen, sich gegenseitig stützend. Selbst aus dieser Entfernung konnte Tomoko erkennen, welche Freude auf ihren Gesichtern lag. Einige sangen. »Sie sind frei!« rief CB. »Sie sind frei… wie ich es ihnen versprochen habe! Ich versprach ihnen, daß sie da rauskommen werden, und sie sind es… und wir haben es getan!« Du wirst wieder gesund, dachte Tomoko. Und weit öffnete sie die Arme, um den Jungen zu umarmen. Wir alle werden wieder gesund. Und sie hatte keine Angst mehr vor der Zukunft.
Kapitel 27
Die Kampffähre sauste durch die Nacht, ihre Richtstrahler erleuchteten die unten dahingleitende Landschaft Virginias: saftig grün, unbewohnt. Über die Blue-Ridge-Berge, südwärts über das Niemandsland, nahm sie Kurs auf das Empire der saurischen Welteroberer. Grimmig bediente Medea die Kontrollen. Ab und zu schaute sie auf die unten brodelnde Erde, die sich in Wellen aufschüttete, als ob riesige Maulwürfe die Erde durchwühlten. Unglaublich! Alle Papiniumtunnel schienen zerstört worden zu sein. Das gesamte Netzwerk, das so mühselig errichtet worden war durch die Arbeit Tausender menschlicher Sklaven; für immer vernichtet in einem einzigen Kampf. Der Gedanke an Maulwürfe ließ sie hungrig werden. Aber sie konnte jetzt nicht anhalten, um zu fressen. Nicht bevor sie die vom Roten Staub befallenen Gebiete hinter sich gelassen hatte. Die Antitoxinwirkung ließ langsam nach, und die sorgfältig aufbewahrte Ampulle hatte sie während des Kampfes im Shoppingcenter verloren. Diana erschien auf dem Bildschirm. Sie blickte Medea furchterregend an. »Diana, ich…« »Keine Entschuldigungen mehr, Medea! Du hast es nicht einmal für nötig gehalten, mir Bericht zu erstatten über dein Versagen. Ich war jedoch schon in Alarmbereitschaft, durch das Ausfallen des Labyrinth-Computersystems, das unser Hauptcomputer hier auf dem Mutterschiff registrierte. Du kleiner Nager! Du Ratte!« Diana tobte und belegte sie mit den Namen ihrer Lieblingsspeisen. Medea erbebte bei der
Vorstellung, daß sich Dianas Giftzähne in ihren Nacken bohrten. Vom Kannibalismus war diese Frau nicht weit entfernt! Diana wütete noch eine Weile herum. Medea fühlte sich schwerkrank, wenn sie an ihr Versagen dachte. Sicher mußte sie vor ein Kriegsgericht. Vielleicht würde man sie auf den Heimatplaneten zurückschicken. Vielleicht sogar… exekutieren! Dingwall konnte sich glücklich schätzen. Er hatte einen leichten, schnellen Tod gehabt. Das Herz durchbohrt! Wie primitiv! Medea haßte diese Erdlinge mit ihren seltsamen Bräuchen und ihrem absurden, selbstzerstörerischen Widerstand. Abgesehen von der Tatsache, daß es ihnen manchmal gelang, die Eroberer vom Sirius zurückzuschlagen – wie schändlich! Sie beobachtete die fluchende Diana eine Zeitlang. »Ich bin das ganze leid und müde«, beendete sie schließlich den Dialog. Und schaltete den Monitor ab. Es war eine Geste sinnlosen Trotzes. Zweifellos würde man sie bei ihrer Rückkehr vor ein Gericht stellen… und auf jeden Fall hatte sie ihre Chancen auf einen höheren Rang endgültig verwirkt. Seufzend beobachtete Medea wieder die unten vorbeifliegende Landschaft; wieder dachte sie an Rache an diesen Widerstandskämpfern, die ihre Pläne so unerwartet vereitelt hatten… und daran, wie sie ihren aufgedunsenen Bauch füttern könnte.
EPILOG: Die Rückkehr des Schwertmeisters In den Bergen: viele Monate später
Schneefall: die Baumspitzen bedeckt, der Boden weich und weiß. Es war Weihnachten. Zwei Wesen saßen um ein Feuer: ein Alien und ein Mensch, ein Mann und eine Frau. Sie trugen Tierfelle. Sie wärmten ihre Hände. »Wir müssen mit dem Training weitermachen, Tomoko«, sagte der Alien. Tomoko lächelte protestierend. »Was? Im Schnee? Am Weihnachtstag?« »Die Zeit ist knapp.« Tomoko protestierte noch eine Weile. Es gehörte zu ihrem Spiel, das sie oft spielten. Sie waren meistens allein, kampierten im Freien, lebten mitten im Land. Aber es war ihr gemeinsamer Entschluß gewesen, eine Zeitlang unterzutauchen. Zumindest so lange, bis sie ihr Training beendet hatte. Heute reichte er ihr nicht den Bambusstab, mit dem sie gewöhnlich trainierte. Statt dessen gab er ihr ein Schwert. »Dieses Schwert habe ich ja noch nie gesehen«, sagte sie verwundert und fuhr mit den Fingerspitzen über das Metall und war fasziniert, wie es im Schnee funkelte. »In der Stadt habe ich es benutzt«, erklärte er, »heimlich. Es ist mein Geschenk für dich. Und jetzt…«
Er zog sein eigenes Schwert heraus. Sie warfen die Felle weg und standen beide da, gekleidet in Ninja-Gewänder: weiß, damit man sie im Schnee nicht so leicht erkennen konnte. »Greif mich an!« forderte der Ninja sie auf. Sie spürte die Kraft, die durch ihren Körper floß… das Schwert war ein Teil von ihr, die Erweiterung ihres inneren Wesens. Sie straffte sich etwas, und das Schwert flog hoch und pfiff durch die feuchte, kalte Luft. Sie rannte. Er wich ihr aus. Stahl traf auf Stahl; das Echo hallte von den Bergspitzen zurück. Sie straffte ihren Körper, sie rollte sich zusammen, sie schoß hoch, sie sprang… sie war eine Katze, ein Drachen… sie war der Wind. Sie lachten. Sie küßten sich, knietief im Schnee. »Bald kommt der Frühling«, sagte der Alien-Ninja, und obwohl Tomoko innerlich schauderte, wußte sie, daß es wahr war. Sowie es Frühling werden würde, hatten sie vor, in das Land der Lizards zu gehen. Sie würden immer versteckt leben, immer bereit sein, gegen die Unterdrücker zu kämpfen, um dann wieder in der Wildnis zu verschwinden. Matt wäre stolz auf mich, dachte Tomoko. Sie dachte oft an ihn, aber mit immer weniger Schmerz. Er war nicht umsonst gestorben. Sie war fanatischer geworden, willensstärker, bereit, für die Freiheit zu kämpfen, die die Menschen verloren hatten. »Wollen wir weitertrainieren?« fragte der Alien. »Ja.« Sie hob das Schwert. Noch einmal spürte sie, wie die Kraft sie durchdrang. Im tobenden Wind war plötzlich eine kleine Stimme zu hören. »He, Tomoko!« Sie drehte sich abrupt herum. Er stand am Feuer, ein kleiner, magerer Teenager. Zuerst konnte sie ihn durch den heftigen Schneefall nicht erkennen.
Dann – »CB!« rief der Alien-Ninja. Sie rannten zu ihm. »Was machst du denn hier?« fragte Tomoko. »Solltest du nicht in der Schule sein?« »Nun ja… ich hab mich sozusagen aus dem Staub gemacht.« »Aber das Leben im Haus des Botschafters war doch sicherlich…« wollte der Alien sagen. »Vergiß es«, meinte CB. »Nun ja, es gefiel mir schon, aber mit der Zeit wurde es langweilig. Ich glaube auch nicht, daß Matt es wirklich so meinte, daß ich den ganzen Tag auf meinem Hintern sitzen und Algebra studieren soll. Ich glaube, er dachte, daß es seine Pflicht sei, mich dazu anzuhalten, aber…« Mit ernsten Augen schaute er sie an. Tomoko sah, daß er seinen Kummer überwunden hatte. Es war ihm gelungen, zu einem tiefen, starken Einklang mit sich selbst zu finden. »Ich bin ganz schön erwachsen geworden«, sagte der Junge, ihre Gedanken lesend. »Aber wie hast du hierhergefunden?« »Ich folgte der Spur des Papinium-Labyrinths. In den Niemandsländern gibt es nicht mehr so viele LizardGarnisonen wie früher. Ich konnte ihnen leicht ausweichen. Dann fand ich in der Stadt Ray Smith, und er erzählte mir, wo ihr seid. Mann, ich habe Wochen gebraucht bis hierher. Wochen durch Schnee. Okay, ich vermute, heute ist Weihnachten.« Und er zog ein Truthahnsandwich aus der Tasche und bot es den beiden an. »Deine Stimme hat sich verändert, Christopher«, meinte Tomoko. »Das ist nicht das einzige, was sich verändert hat!« rief CB. »Frag die Mädchen von der McLean-Junior Highschool! Sie werden dir bestätigen, daß ich zum Fürchten bin.« »Und trotzdem bist du zu uns gekommen«, witzelte der Alien-Ninja.
»Nun ja… hm. Ich habe alles mit dem alten Andrescu besprochen. Er meinte, ich soll es machen. Ich meine, nun, schließlich ist es mein Leben, und ich möchte etwas wirklich Wichtiges in diesem Krieg tun. Matt zuliebe. Ach, übrigens, der Alte hat mir ein Geschenk für euch mitgegeben.« Er fingerte es aus seiner Tasche und überreichte es ihnen. Es war ein russisch-orthodoxes Kruzifix. »Um Nosferatu fernzuhalten«, sagte CB feierlich, und mit immer noch kindlicher Stimme imitierte er den Bela Lugosi ähnlichen Tonfall des Botschafters Andrescu. »Nun«, meinte der Alien, »dann kann es ja losgehen!« »Was sind eure Pläne?« fragte der Junge. »Darf ich hierbleiben, darf ich?« »Es wird hart sein«, gab Tomoko zu bedenken. »Hart! Du weißt, wie gut ich mit Härte zurechtkomme.« »Wir werden es schon schaffen.« Da standen sie, die drei, und blickten hinunter in das wunderschöne Tal. »Wenn der Schnee schmilzt«, erzählte der Ninja, »machen wir uns auf den Weg nach Arizona. Vielleicht arbeiten wir mit der Widerstandsbewegung zusammen. Vielleicht bilden auch nur wir drei eine Widerstandsgruppe, die sich, wann immer möglich, auf jeden Visitor stürzen wird, um ihn zu vernichten…« »Wir werden es ihnen zeigen!« schrie CB. »Aber da gibt es noch etwas, was ich dir erzählen muß«, sagte Tomoko. »Du wirst… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll… nun, wir werden ab und zu einen Babysitter brauchen, und…« »Ihr wollt mich wohl auf den Arm nehmen!« entgegnete CB. »Nun, wir wollen uns nicht zu früh freuen«, sagte der AlienNinja. »Die Chancen, daß aus unserer Mensch-AlienVerbindung ein lebensfähiges Kind entstehen kann, sind doch
sehr gering, und ich denke, daß eine ausgebliebene Periode noch nicht dazu angetan ist…« »Aber ich habe mir schon immer einen kleinen Bruder gewünscht!« rief CB erfreut. »Vielleicht wird es ein Lizard«, meinte Tomoko und dachte an die seltsamen Zwillinge, die Robin Maxwell geboren hatte. »Es ist mir egal, ob er ein Lizard wird!« begeisterte sich CB. Schnee fiel auf ihre Gesichter, aber sie merkten es nicht; Freude wärmte sie. Tomoko sah in die Ferne und dachte: Wie schön die Erde ist… diese Welt… unsere Erde. Und CB brüllte in den tobenden Wind: »Ich werde einen Bruder haben – und er wird der größte und stärkste Schwertmeister der ganzen Welt werden!«