Naomi Campbell
SWAN
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Naomi Campbell
SWAN
scanned by ab corrected by haeschen
SWAN ist anmutig, schön, sexy ... sie ist Topmodel. Doch obwohl erst 26, weiß sie, daß sie dieses Leben im Scheinwerferlicht nicht für immer ertragen kann - und will! Damit beginnt das Rennen um das neue ›Gesicht des Jahres‹. Fünf sehr unterschiedliche Mädchen kämpfen darum, das nächste SWANGirl zu werden: eine adlige Britin, eine kalifornische Blondine, eine rothaarige Londonerin, eine kubanische Immigrantin und eine langbeinige afro-karibische Schönheit - Celestina, Cassie, Tess, Gigi und Amy. Der Kampf um den begehrten Job wird mit allen nur erdenklichen Mitteln geführt... und gerät unversehens zu einem Spiel auf Leben und Tod, als SWAN von einem anonymen Anrufer bedroht wird. Wer ist der skrupellose Unbekannte, den SWAN den ›Kurier‹ nennt, und was wird er ihr antun, wenn nicht ein ganz bestimmtes Model zum neuen SWAN-Girl wird? ISBN 3-453-09991-5 Originalausgabe SWAN Aus dem Englischen von Cornelia Ziegler und Barbara Zoschke 1996 by vgs Verlagsgesellschaft Umschlagillustration: Hüggy Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Mit SWAN, ihrem ersten Roman, legt der Superstar der Model-Szene einen weiteren Beweis ihrer Vielseitigkeit ab. SWAN ist eines der wenigen Top-Fotomodelle der Welt. Ein anonymer Anrufer versucht, sie mit einem Foto zu erpressen, auf welchem sie einem jungen Mann ein Bündel Geldscheine anbietet. Die Forderung lautet: Seine Freundin soll Swans Nachfolgerin als Model für einen großen Kosmetikkonzern werden. SWAN steht vor einem großen Problem. Der Mann, den das Foto zeigt, ist ihr Bruder, der nach dem ungeklärten Mord an seiner Geliebten untergetaucht ist. Inmitten der Model-Welt spitzt sich eine menschliche Tragödie zu, welche SWAN jedoch mit Hilfe ihres zukünftigen Mannes lösen wird.
Die Autorin Die 23jährige Naomi Campbell repräsentiert wie kaum eine zweite Glanz und Glamour der internationalen Modeszene. Bei einem Einkaufsbummel zufällig entdeckt, arbeitete sie schon im Alter von 15 Jahren als Model für Elle. Nur wenige Jahre später ziert sie - als erste Schwarze überhaupt - die Titelseiten der französischen und britischen Vogue. Inzwischen ist Naomi Campbell neben Cindy Crawford, Claudia Schiffer oder Linda Evangelista eines der höchstbezahlten Topmodels der Neunziger.
Inhalt TEIL 1 SWAN, 1994............................................................. 8 Oktober 1994 ................................................................................................. 9 TEIL 2 IN DER ENGEREN WAHL, 1992-1994 ............. 42 London, 1992 .............................................................................................. 43 London, 1993 .............................................................................................. 57 Miami, 1993 ................................................................................................. 61 London, 1993 .............................................................................................. 73 Los Angeles/New York, 1992/1993 ................................................ 80 London, 1993 .............................................................................................. 97 London, 1993 ............................................................................................106 Wiltshire, 1993 .........................................................................................115 London, 1993 ............................................................................................126 London, 1993 ............................................................................................136 New York/Miami, 1993/94 ................................................................151 London, 1994 ............................................................................................170 New York, 1994 .......................................................................................192 Mailand, 1994 ...........................................................................................213 New York, 1994 .......................................................................................238 London, 1994 ............................................................................................250 New York, 1994 .......................................................................................262 New York/Corner See, 1994 .............................................................276 Mailand, 1994 ...........................................................................................305 London, 1994 ............................................................................................309 London/Wiltshire, 1994 .......................................................................316 New York, 1994 .......................................................................................336 Paris, 1994 ..................................................................................................349
London, 1994 ............................................................................................359 Paris, 1994 ..................................................................................................366 London/Devon/New York, 1994 .....................................................386 TEIL 3 DER ANRUFER, 1994/1995............................... 399 New York, 1994 .......................................................................................400 London, 1994 ............................................................................................405 London, 1994 ............................................................................................412 Paris, 1994 ..................................................................................................421 London, 1994 ............................................................................................425 London, 1994 ............................................................................................427 London Wiltshire, 1994 .......................................................................435 New York, 1994 .......................................................................................445 London, 1995 ............................................................................................451
Unser besonderer Dank gilt folgenden Personen: Carole White, Chris Owen, Sophie Wood, Stephanie Pierre, Sandra Sperka, Julie Graff, Tracey Gascoyne, Valerie Ambrosio, Lisa Smith, Gavin Boardman, Cheryl Gordon, Paula Whiteman, Niki Carter und Ashley bei Elite Premier in London. Anni Veltri bei Elite, New York. Eileen und Jerry Ford und Joseph Hunter bei Ford, New York. Eric bei Ford, Paris. Bethann Hardison und Christine bei Bethann Management, New York. Christie Denham und Christopher, Mak, Lisa Snowden, Lois Samuels, Claire Ferris, Helen Millet, Sarah Birch. Carlton, Roger Eaton, Robert Holmes, Kari Allen, Rupert Everett. Sally Brampton, Polly Mellen, Alexandra Shulman, Jenny Asiama. Jenny Nichols, Tish Clyde, Geoffrey Mulligan, Tom Weldon, Beth Humphries.
In diesem Buch werden viele Schlüsselfiguren aus der Welt der Mode und der Models sowie reale Ereignisse namentlich benannt. Handlung und Hauptcharaktere jedoch sind frei erfunden. Mit Ausnahme der Personen, denen zu Beginn dieses Buches ausdrücklich für ihre Unterstützung gedankt wird, sind Ähnlichkeiten mit Orten, Organisationen, lebenden oder verstorbenen Personen rein zufällig.
TEIL 1 SWAN, 1994
-8-
Oktober 1994 Ich denke, ich sollte mit meiner Geschichte - oder meinem Alptraum, denn so kommt es mir mittlerweile vor - bei der Pariser prêt-à-porter-Kollektion des letzten Jahres beginnen. Zwar begann alles viel, viel früher, doch in Paris spitzten sich die Dinge zu. Ich erreichte meinen Arbeitsplatz bei der letzten Modenschau an einem verregneten Oktobermorgen. Man hatte einen Mercedes mit Chauffeur ge schickt, um mich abzuholen; nur die letzten Meter mußte ich durch den Regen laufen - und trug unter meinem Regenumhang nichts anderes auf der Haut als einen Bademantel. Schon vor Jahren hatte ich entschieden, daß es unnütz ist, sich in Schale zu werfen, wenn man den ganzen Tag lang ohnehin nur von einer Designershow zur nächsten rennt und dort von Dressern in Kleider hinein- und wieder aus ihnen hinaus gezerrt wird. »Ich könnte genausogut nackt kommen«, hatte ich der Presse damals erzählt, der ich damit natürlich einen neuen Aufhänger geliefert hatte, öffentlich zu verbreiten, wie verrucht ich sei. Aber das stört mich nicht. Je weniger ihre Geschichten mit meinem wahren Ich zu tun haben, desto lieber sind sie mir. Als ich hinter der Bühne einschwebte, um auf den Anfang der Show zu warten, konnte ich bereits das wohlwollende rhythmische Klatschen des ungeduldigen Publikums hören, das immer wieder von vereinzelten gellenden Pfiffen übertönt wurde. Dort draußen befanden sich annähernd zweieinhalbtausend Leute: um die fünfhundert Einkäufer, gut anderthalbtausend Journalisten und mehr als dreihundert Fotografen, und sie alle waren schon seit vierzig Minuten in dem stickigen Zelt zusammengepfercht - eine Zumutung, die den Modedesigner mindestens eine Viertelmillion Dollar kosten -9-
dürfte. Ich warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Besonders unglücklich schaute er dennoch nicht drein. Warum auch? Schließlich war ich ja endlich da. Die Leute draußen waren zwar gekommen, um seine Kollektion zu sehen, aber sie waren auch hier, um mich zu sehen. Ich war diejenige, die alles erst möglich machte. Früher wurden die Kleider von anonymen hauseigenen Mannequins vorgeführt, von Mädchen aus gutbürgerlichen Verhältnissen, die gelernt hatten, sich anmutig auf dem Laufsteg zu bewegen, elegant auszusehen und an der richtigen Stelle kehrtzumachen. Und für ihre Mühen zahlte man ihnen gerade einmal einen Hungerlohn aus. Heute hingegen führen wir die Kleider nicht nur vor - wir verkaufen sie. Die Modebranche ist, wie jede andere auch, zu einem derart hart umkämpften Markt geworden, daß die Modeschöpfer nicht mehr imstande sind, allein die nötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Heutzutage brauchen sie Models dafür. Und so wurden die anmutigen Laufstegpüppchen von geschmeidigen, raffinierten Mädchen verdrängt, die allesamt ein und dieselbe Botschaft verkörpern: ›Seht, wie sexy ich in diesen Kleidern aussehe, also kauft sie, und ihr werdet genauso aussehen!‹ ›Sexy‹ ist zum neuen Zauberwort im Marketing geworden. Wenn ein Produkt als ›sexy‹ bezeichnet wird, heißt das nichts anderes, als daß es sich gut verkauft. Auch wenn ich ein gutbürgerliches englisches Mädchen sein mag, darüber hinaus bin ich ein Topmodel. Ein Topmodel kann einfach alles sexy aussehen lassen, und man sagt, ich könne das von allen am besten. Das Licht wurde gedämpft, und durch einen Spalt konnte ich sehen, wie das Zellophanpapier vom Laufsteg entfernt und hinter der Bühne verstaut wurde, damit die Fotografen am Bühnenrand ihre Kameras aufbauen konnten. Das rhythmische Klatschen wurde lauter. »Schickt eine raus!« rief ein Spaßvogel. »Irgendeine!« schrie ein anderer. -10-
Die Musik schwoll plötzlich mächtig an, der rote Vorhang teilte sich, und der Modedesigner gab mir einen kleinen Schubs in den Hintern. »Mach dich bereit hinauszufliege n, SWAN«, flüsterte er, und dann war ich auch schon draußen, stieg die Stufen zum Laufsteg empor und tauchte in das Blitzlichtgewitter ein, mit dem die Presse meinen ›Schwanenflug‹ untermalte. Ich hakte meine Daumen in die Taschen der engen Seidenhose und schlenderte den Laufsteg entlang, setzte einen Fuß genau vor den anderen und wippte dabei leicht in den Hüften, bis ich das Ende erreicht hatte. Eine kurze Pause. Rechtsdrehung, Linksdrehung und dann wieder zurück. Ich kann mich noch erinnern, daß ich kurz vor Anna Wintour, der Herausgeberin der amerikanischen Vogue, stehenblieb, die mit ihrer unvermeidlichen dunklen Brille in der ersten Reihe saß. Ich erkannte im Publikum noch andere bekannte Gesichter und weiß, daß ich mich instinktiv allen wichtigen Fotografen präsentierte. Mir wird es immer ein Rätsel bleiben, warum jeder unbedingt in der ersten Reihe sitzen will. Bei all den Fotografen, die einem direkt vor der Nase herumtanzen und wie wild auf den Auslöser drücken, kann man garantiert nichts erkennen. Eine gute halbe Stunde später hatte ich es fast geschafft und ging noch einmal hinaus, um das vorletzte Modell vorzuführen. Danach würde die Show traditionell mit der Präsentation eines Hochzeitskleids zu Ende gehen. Auf dem Laufsteg kam mir Patsy entgegen. Sie sollte diesmal die Braut spielen. Während ich meinen letzten Auftritt hatte, würde sie hinter der Bühne schnell in das Hochzeitskleid schlüpfen und für das Finale herauskommen, wenn ich die Bühne wieder verließ. Nur noch ein paar Sekunden, und wir würden einander passieren. Arme kleine Patsy! Ich machte mir schon seit geraumer Zeit Sorgen um sie. Sie war recht unerfahren und noch sehr jung gerade einmal sechzehn -, und ihre Agentur hatte sie dazu -11-
gedrängt, diese Kollektion vorzuführen. Es war leicht festzustellen, warum. Patsys Gammel-Look brachte den derzeitigen Modegeschmack auf den Punkt. Sie vereinigte den Charme der Kindfrau Kate Moss und den Claudia Schiffers in einer Person. Als sie auf ihren wackeligen AchtzehnZentimeter-Absätzen auf mich zukam, sah sie einfach unwiderstehlich aus. Aber ihr perfekter Körper beherbergte ein Wrack. Sie war nervös, reizbar und eine Kettenraucherin, deren Magen ständig verrückt spielte. Wenige Minuten vor der Show hatte ich beobachtet, wie sie sich übergeben hatte. Arme Patsy! Noch vor einem Jahr war sie ein unbescholtener kleiner Teenager aus einem hinterwäldlerischen Dorf in Oklahoma gewesen, in etwa so verführerisch wie ein Bauerntrampel. Nun war sie völlig unvorbereitet ganz dem Wohl und Wehe der Großstadthaie ausgeliefert, und bei weitem nicht nur denen in der Modebranche. Ich hatte Kenntnis von Patsys endlosen zwielichtigen Verabredungen, und ich wußte ziemlich gut, daß sich dieses süße undisziplinierte Landmädchen ohne die schützende Hand ihrer Mutter auf einer Einbahnstraße in Richtung Untergang befand. Wir gingen gerade aneinander vorbei, so wie wir es schon so viele Male gemacht hatten. Unsere langen Arme baumelten lässig herab, unser langes Haar fiel locker über die Schultern, unsere langen Beine gingen im Gleichschritt… und dann plötzlich… PENG! Ein Schuß? Patsy stolperte wie in Zeitlupe und brach zusammen. Ich hörte das Raunen der Zuschauerschar, aber niemand bewegte sich. Hastig blickte ich in die Runde. Was ging hier vor? Hatte niemand den Schuß gehört? Hatte denn niemand bemerkt, was geschehen war? Ich konnte hören, wie hinter mir Leute auf den Laufsteg kamen. Ich ging weiter bis zum Ende, machte meine Drehung, sah, daß sie Patsy weggetragen hatten, und schlenderte den Laufsteg zurück, als ob -12-
nichts geschehen wäre. Patsy würde nicht mehr in der Lage sein, das Hochzeitskleid vorzuführen. Es gab nur eines, das jetzt zu tun war: Patsy und ich hatten dieselbe Größe, und als ich backstage kam, hatte ich mich meiner Kleidung schon halb entledigt und war bereit, in das Hochzeitskleid zu schlüpfen, um Patsys Platz im Finale einzunehmen. Irgendwo im Publikum saß ein Mörder, aber ich wußte: ›The show must go on‹. Mein Name ist SWAN, und ich bin ein Topmodel. Das hört sich zwar einfach an, ist es aber nicht. Beileibe nicht. Abgesehen von meinem Aussehen und meinem Einkommen entspreche ich kaum dem Bild, das sich die Öffentlichkeit von einem Topmodel macht. Alle nehmen nur mein Äußeres wahr, meine professionelle Hülle. Könnten sie doch nur sehen, wie es in mir aussieht! Doch das wird man nie erfahren. Ich lebe sehr zurückgezogen. Ich weiß, heutzutage behaupten das alle Berühmtheiten von sich, aber in meinem Fall ist es wirklich wahr. Die Worte meiner Mutter - oder waren es die meines Kindermädchens Nanny? klingen mir immer noch im Ohr, als würde ich sie aus meinem Walkman hören: ›Zurückhaltung ist der bessere Teil des Heldentums.‹ Exhibitionismus betrachtete sie als Todsünde, und meine Großmutter war der festen Überzeugung, daß über jemanden nur zweimal im Leben etwas in der Zeitung stehen sollte: einmal, um seine Geburt bekanntzugeben, und das zweite Mal bei seinem Tod. Nun, ich habe das gründlich über den Haufen geworfen, aber mir ist auch keineswegs entgangen, daß ausgerechnet meine gute alte Omi das größte Samme lalbum mit sämtlichen Zeitungsausschnitten über mich besitzt und es stolz jedem zeigt, der sie darauf anspricht. Natürlich ist SWAN nicht mein richtiger Name. Ich wurde als -13-
Lavinia Charlotte Christopher Frederick Crichton- Lake getauft. Die Auswahl dieser Namen mag für ein kleines Töchterchen etwas merkwürdig anmuten, ist aber leicht erklärt. Mein Vater wollte mich gerne nach seiner Mutter Lavinia nennen. Meine Mutter hingegen favorisierte Charlotte, den Namen ihrer Mutter. Am Ende gaben sie mir dann beide, und um niemanden zu vergessen, fügten sie noch die Vornamen meiner beiden Großväter hinzu. Während meiner ganzen Kindheit rief mich mein Vater dann Lavinia und meine Mutter Charlotte. Meine ältere Schwester Venetia (das erste Kind meiner Eltern, das seinen Namen einer idyllischen Hochzeitsreise nach Venedig verdankte - ›Gott sei Dank sind sie nicht nach Pisa gefahren‹ hatte meine Großmutter dazu angemerkt) und mein Bruder Harry nannten mich allerdings in Anspielung auf meine Magerkeit immer nur Skinny-Lavinny. Es ist vermutlich die Untertreibung des Jahres, wenn ich sage, daß ich als Jüngste von meiner Familie nicht besonders ernstgenommen wurde, aber ich glaube, ich wußte schon damals, daß ich es eines Tages zu etwas bringen würde, daß ich es ihnen allen zeigen würde! Dabei war ich wirklich sehr mager. Niemand wußte so recht, nach wem ich geraten war. Mein Vater war blond, meine Mutter beschrieb sich selbst gerne als tizianisch-rot, Venetia war aschblond, und Harrys Haarfarbe erinnerte an die eines Karamelbonbons. Mein Haar hingegen war schwarz. Pechschwarz. Ob Sie es nun mit einem Stück Kohle, schwarzer Tinte oder einem Rabengefieder vergleichen Sie liegen in jedem Fall richtig. Und dann war da noch meine Hautfarbe: totenbleich. Nicht etwa leicht cremefarben oder milchigweiß, nein, sie war so hell wie elfenbeinfarbener Alabaster - mit Ausnahme zweier roter Wangen. Meine Haare habe ich fast immer mit einem Pony getragen - eine Zottelfrisur, wie meine amerikanische Großmutter Charlotte dazu immer sagte -, nur die ersten sieben Jahre meines Lebens trug ich zwei lange Zöpfe. Bis mich meine Mutter irgendwann zu einem -14-
Vidal-Sassoon-Friseur schleppte, den ich mit einem sehr kurzen, geometrisch perfekt geschnittenen Bob verließ. Anschließend sagte jedermann, daß ich wie eine kleine japanische Puppe aussähe. Ich habe mich oft gefragt, ob es dieser Aspekt meiner Erscheinung war, der später einen japanischen Konzern dazu bewog, mir einen fünf Jahre währenden Multimillionen-DollarVertrag anzubieten. Nachdem der Konzern ein amerikanisches Schönheitsimperium übernommen hatte, sollte ich nun dessen neue Produktpalette präsentieren. Ich nahm das Angebot an, hielt mir aber die Option offen, schon nach drei Jahren wieder auszusteigen, falls ich das wollte. Sie akzeptierten die Bedingung und benannten ihre Produkte fortan nach mir: SWAN. Da mein richtiger Name ja Lavinia Crichton- Lake lautet, stellt sich die Frage, wie ich zu dem Spitznamen SWAN gekommen bin. Das ergab sich kurz nach meinem Friseurbesuch. Durch den neuen Schnitt wurde mein Hals betont wie nie zuvor. Und als ich am nächsten Tag zur Schule kam und einen Korridor entlangging, zupfte einer meiner Lehrer seine Kollegin am Ärmel und zeigte auf mich: »Sieh dir Lavinia Lake an! So einen langen Hals habe ich noch nie gesehen.« Seine Kollegin unterrichtete Englisch und drückte sich immer in einer sehr gewählten und blumigen Sprache aus, von der sie vermutlich annahm, daß sie poetisch klang. »Welche Anmut!« stimmte sie zu. »Welche Eleganz. Sie wird nie das häßliche Entlein aus dem Märchen sein müssen. Mit diesem Hals ist sie schon heute ein schöner Schwan.« Natürlich ließen es sich meine Mitschüler nicht entgehen, dieses Stichwort bereitwillig aufzugreifen. »Schwanensee!« schallte es mir von nun an jeden Morgen entgegen. »Seht, da kommt sie. Schwanensee. Seht euch diesen Hals an! Schwanensee. Schwanensee!« -15-
Von diesem Tag an war ich SWAN. Und da dieser Name mittlerweile zu einiger Berühmtheit gelangt ist, lese ich nicht selten, daß sich meine ehemaligen Klassenkameraden gegenseitig darin übertrumpfen, der Presse zu erzählen: »Ich habe ihr den Namen gegeben. Ich war es. Es war meine Idee.« Ich nehme es ihnen nicht übel. Immerhin hatten Venetia und Harry seitdem endlich damit aufgehört, mich Skinny-Lavinny zu nennen. Meine Eltern allerdings blieben weiterhin bei Lavinia und Charlotte. Geboren wurde ich am 6. Juni 1968 im Londoner QueenCharlotte-Krankenhaus (meine Mutter war ganz begeistert von dieser Namensgleichheit) und wog 3200 Gramm. Mein Vater sprach deshalb immer von seinem persönlichen D-Day, nach dem Datum der Alliierten-Invasion in der Normandie; aber für meine Mutter war es viel bedeutender, daß sie ihr jüngstes Kind ausgerechnet an dem Tag zur Welt gebracht hatte, an dem auf der anderen Seite des Erdballs, in Los Angeles, Robert Kennedy im Hotel Ambassador erschossen wurde. In meiner Kindheit sprach sie so oft von ihm, daß ich mir immer vorgestellt habe, ›Bobby‹ Kennedy sei ein Freund der Familie, und ich sprach von ihm nur als ›Onkel Bobby‹, zum Beispiel, wenn ich wieder einmal erzählte: ›Ich bin am selben Tag geboren, an dem der arme Onkel Bobby in Kalifornien getötet worden ist.‹ Und wenn in einer Unterhaltung von ›Onkel Jack‹ die Rede war, ergriff ich diese Gelegenheit, daß dieser Onkel Jack uns zu Weihnachten besuchen werde und was er mir als Geburtstagsgeschenk versprochen habe, bis mich irgendwann jemand zur Seite nahm und mir erklärte, daß › Onkel Jack‹ leider schon etliche Jahre früher verstorben sei als ›Onkel Bobby‹, also weit vor meiner Geburt. Jahre später, als ich mein Geld in New York verdiente, brachte meine Cousine Felicity einmal John F. Kennedy Junior mit zu mir, mit dem sie zusammenarbeitete. Zu meiner Überraschung erzählte sie ihm die ganze Geschichte. Er hielt -16-
das alles zunächst für einen guten Witz, begrüßt mich aber auch heute noch regelmäßig mit einem »Hallo, Cousine SWAN, wie geht's?«, wo immer wir uns über den Weg laufen. Aus irgendeinem Grund fühle ich eine Art Wesensverwandtschaft mit den Kennedys, und wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum ich mir als New Yorker Wohnsitz ein Apartment ganz oben im Carlyle Building ausgesucht habe, wohl wissend, daß sich hier auch eines ihrer Hauptquartiere befindet. Ich weiß zwar, daß es unter Prominenten eher ›in‹ ist, in downtown New York zu leben, aber ic h bin nun einmal kein downtown-Typ, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Aufgewachsen bin ich in einem fünfstöckigen Haus in den Boltons, einem der exklusivsten Straßenzüge im ohnehin vornehmen Londoner Stadtteil South Kensington. Um zur Haustür zu ge langen, mußte man fünfundzwanzig Stufen erklimmen, die zu beiden Seiten von vier riesigen Steinlöwen bewacht wurden. Mein Kindermädchen mußte damals große Geduld mit mir haben, wenn wir nach unserem Nachmittagsspaziergang zum Teetrinken nach Hause zurückkehrten, denn ich konnte die Stufen nicht hinaufsteigen, ohne bei jedem Löwen stehenzubleiben, ihn zu streicheln und zu versuchen, ihm das Brot zu verfüttern, das ich eigentlich den Enten im Hyde Park geben sollte. Es waren sehr literarische Löwen, denn ihre Namen hatten sie von meinem (diesmal wirklich existierenden) Onkel Walter erhalten, einem Möchtegerndichter, der es geschafft hatte, einen Job als Literaturredakteur bei einem Sonntagsblättchen zu ergattern. Er hatte die Löwen Conrad, Swift, Proust und Amis getauft. Amis saß ganz oben auf den Stufen auf der rechten Seite und hatte ein Stück seiner Nase verloren. Mein armes Kindermädchen! Immer wenn sie glaubte, sie hätte mich endlich ins Haus bekommen, mußte ich noch mal umkehren und Amis' Nase küssen. Außerdem besaßen wir noch ein Wochenendhäuschen. Meine Eltern nannten es immer Bauernhütte. Laut Lexikon handelt es -17-
sich bei einer solchen Behausung um eine ›kleine Arbeiter- oder Bauernunterkunft auf dem Lande‹, doch unsere Residenz in Wiltshire besaß sieben Zimmer. Das Grundstück war sehr verwildert, weshalb wir Kinder es so sehr mochten. Dort konnten wir machen, was wir wollten, während in London unser Kindermädchen immer strengstens darauf achtete, daß wir ordentlich angezogen waren und feine Manieren an den Tag legten. Außerdem gab es jede Menge Tiere. Wir hatten nicht nur Katzen und Hunde, sondern auch kleine Lämmer, die sich immer wieder in die Küche verirrten, und einige Kühe, die auf der Rückseite des Hauses grasten. Als unsere Familie von ähnlichen Tragödien heimgesucht wurde wie die Kennedys, verbrachten meine Eltern mehr und mehr Zeit dort draußen, und nachdem ich zu Hause ausgezogen war, siedelten sie schließlich ganz nach Wiltshire um. Als sie unser Haus in den Boltons verkauft hatten und das ganze Mobiliar in unser Landhaus schaffen lassen wollten, bat ich sie, die alten Möbel aus dem Landhaus so lange zu behalten, bis ich eine eigene Wohnung hatte. Jetzt stehen die Sachen alle in meinem Apartment im Carlyle Building: das Chintzsofa mit den dazugehörigen Stühlen, die Sheratontische und die Kommode, die samtbezogenen Stühle, der ovale Eßtisch mit den passenden Stühlen aus Mahagoni sowie das alte Bett meiner Eltern mit den vier Matratzen. Einige meiner New Yorker Freunde können das nicht verstehen. Ich weiß, daß sie die Sachen ziemlich schäbig finden, und sie wundern sich, warum ich mir nicht einfach einen Designer hole, der die Wohnung ein bißchen mehr im Stil von Ralph Lauren einrichtet. Aber das kümmert mich nicht. Ich brauche meine Erinnerungsstücke um mich herum. Ich liebe zwar New York, aber ich bin trotzdem noch immer Engländerin, und so ist es mir möglich, mir hoch oben über der Madison Avenue an der Ecke zur 76th Street mein kleines Stückchen England zu bewahren. Ich glaube, gleichgültig wie erfolgreich ein Model ist, es sollte immer den Kontakt zu seiner Familie -18-
pflegen. Wenn ich das, was ich hier predige, nur in die Tat umsetzen könnte! Ich liebe meine Eltern über alles, aber seit dem großen Skandal ist meine Familie auseinandergefallen, und bevor nicht alles wieder zurechtgerückt ist, muß ich mich mit meinen Erinnerungen als armseligem Ersatz für die aufrichtige Liebe und Wärme meiner Mutter und meines Vaters begnügen. Zum Glück habe ich jemanden, der mich ein wenig darüber hinwegtröstet. Nur gut, daß ich es der Presse bislang verheimlichen konnte, daß ich seit sechs Monaten verheiratet bin. Wenn das doch nur mein einziges Geheimnis wäre! Ich flog mit der Concorde zurück nach New York. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich das erste Mal in einer Concorde saß. Voller Ehrfurcht hatte ich all die international bekannten Gesichter bestaunt, die ich in der Maschine sah, bis ich wenig später feststellte, daß ich von ihnen auf genau dieselbe Art gemustert wurde. Langsam war mir aufgegangen, daß ich ja das bekannteste Gesicht von allen besaß. Meine Mitreisenden waren für das bekannt, was sie taten, meine Prominenz dagegen resultierte einzig und allein aus meinem Aussehen. Es waren allein mein Gesicht, mein Körper und die besondere Art, wie sie fotografiert wurden. Nach der Landung auf dem New Yorker John F. Kennedy Airport eilte ich durch den Zoll, stieg in die wartende Limousine und war wenig später zu Hause. Nach dem Horror in Paris empfand ich meine ruhige Wohnung als einen sicheren Hafen, in den ich mich retten konnte. Bis ich mein Schlafzimmer betrat. Das rote Licht meines Anrufbeantworters blinkte in der Dunkelheit und signalisierte mir, daß er wieder da war, daß es -19-
kein Entrinnen vor ihm gab und nie geben würde, es sei denn, ich würde härtere Maßnahmen ergreifen. Ich setzte mich aufs Bett und starrte wie hypnotisiert auf das blinkende Lämpchen. Als das Telefon plötzlich läutete, sprang ich auf. War er es? Nein, natürlich nicht. Er rief mich nie an, wenn ich zu Hause war. Irgendwie wußte er immer, wann ich das Apartment verließ. Ich bezeichnete ihn als »den Anrufer«. Alles hatte vor sechs Monaten begonnen. Ich war gerade von einem Job in der Karibik zurückgekommen, als ich beim Abhören des Anrufbeantworters seine erste Nachricht vorfand. Sie kam vollkommen überraschend, ich hörte seine Stimme durch den Raum klingen, als ich meine Koffer auspackte und immer wieder zum Wandschrank hinüberlief, um die Sachen einzuräumen. Gerade als ich meine Taschen in den oberen Schubladen verstaute, sprach mich mit einem Male die gedämpfte Stimme eines Mannes an. »SWAN? Bist du da? Hattest du eine gute Reise? Ich hoffe es sehr, denn das, was ich dir zu erzählen habe, wird dich ein wenig aus der Fassung bringen. Es ist wirklich zu dumm, daß das New York Magazine neulich dieses malerische Porträt von dir veröffentlicht hat. Und weißt du auch, warum? Da gab es einmal dieses Bild von dir, als du noch viel jünger warst, so ungefähr siebzehn oder achtzehn, glaube ich, kurz nachdem deine Karriere begonnen hat. Wie auch immer, wenn ich dieses Bild nicht gesehen hätte, hätte ich dich heute nicht angerufen. Aber nun mußt du erst einmal etwas für mich tun. Schalte den Anrufbeantworter aus und sieh deine Post durch, bis du einen blauen Briefumschlag findest, der am Londoner Flughafen Heathrow abgestempelt wurde. Öffne ihn, und höre dann weiter den Anrufbeantworter ab. Ich warte auf dich.« Merkwürdigerweise folgte ich seinen Instruktionen ohne jedes -20-
Nachdenken. Er hatte eine schöne Stimme, sanft und melodisch, aber schwer einzuordnen - sein Akzent klang weder britisch noch amerikanisch, er lag irgendwie dazwischen. Ich fand den Umschlag sofort. Mein Name und meine Adresse waren darauf getippt, abgestempelt war er in Heathrow. Ein Flughafen - das bedeutete, daß er auf der Durchreise gewesen war, und gab keinerlei Aufschluß, wo er wirklich lebte. In dem Brief war ein Foto, und als ich es sah, begann ich zu zittern. Ich eilte ins Schlafzimmer zurück und schaltete erneut den Anrufbeantworter ein. Ich drückte die Vorlauftaste, bis das Ende seiner ersten Nachricht erreicht war. Ich hörte das Klicken des Hörers, ein kurzes Spulen des Geräts, und dann begann seine zweite Nachricht. »Du hast es gefunden, nicht wahr? Was für ein süßes kleines Ding du damals warst, habe ich nicht recht? Ich war derjenige, der dir das Foto in den Umschlag gesteckt hat. Ich habe es schon lange. Das Bild hat mich immer begleitet. Ich habe es einfach nicht aus meinem Kopf bekommen können. Und ich habe mich oft gefragt, wer wohl das Mädchen auf diesem Foto ist. Irgendwie schienst du mir so vertraut zu sein, und als ich dann dein Bild in dieser Zeitschrift gesehen habe, war mir plötzlich alles klar. Ich habe dich sofort erkannt. Das gleiche junge Mädchen, das ich vor Jahren fotografiert hatte. Aber was hast du da nur getan, SWAN? Wer ist dieser Typ, der mit dir auf dem Bild zu sehen ist? Er ist älter als du, und warum gibt er dir dieses große Bündel Geldscheine? Was hat ein kleines hübsches Mädchen wie du tun müssen, um sich das zu verdienen? Das sieht schlecht aus, SWAN. Übrigens, es ist völlig überflüssig, die Negative zu verlangen. Man kann beliebig viele Abzüge davon machen lassen, und ich habe eine Menge davon. Und wenn man es mit dem Bild von dir in New York vergleicht, kann man leicht erkennen, daß es sich um ein und dieselbe Person handelt. Um dich! Nein, ich habe es an keine Zeitung geschickt und niemandem davon erzählt. Ich denke, du solltest -21-
warten und sehen, was ich als erstes von dir verlange. Du wirst von mir hören. Mach's gut für diesmal.« Seitdem erreichten mich seine Nachrichten mit ziemlicher Regelmäßigkeit. Nie forderte er irgend etwas Bestimmtes, aber seine Anrufe wurden von Mal zu Mal drohender und endete immer mit der gleichen Warnung. »Wenn du niemandem von diesen Anrufen erzählst, SWAN, dann werde ich das auch nicht tun, und ich werde nichts mit dem Foto anstellen. Aber wenn du daran denkst, die Polizei einzuschalten oder jemand anderen um Hilfe zu bitten, dann gibt es da eine Sache, die du wissen solltest: bevor ich dir etwas antue, werde ich mir deine Mutter, deine ganze Familie vornehmen. O ja, das werde ich! Denk daran. Wie würdest du dich fühlen, wenn deine Mutter plötzlich einen kleinen netten Sturz die Treppe hinunter erleiden würde? Du in New York bist so weit weg von ihr! Und wenn dieses Bild von dir und dem Unbekannten jemals an die Öffentlichkeit gelangen sollte, wird dein guter Ruf zerstört werden, und du kannst alles vergessen, was du für deine Zukunft geplant hast. Ich fordere kein Geld von dir, SWAN. Das wäre Erpressung. Aber früher oder später werde ich dich um einen großen Gefallen bitten, und den solltest du mir oder einem anderen dann besser rasch erfüllen. So, und nun kannst du den Knopf zum Löschen drücken. Spiel das ja nur niemandem vor…« Er nahm Risiken in Kauf, wenn er auf meinen Anrufbeantworter sprach. Jemand konnte ja zufällig anwesend sein, während ich die Nachrichten abhörte. Ich fragte mich, ob er von meinem Ehemann wußte. Ich hatte mein Apartment im Carlyle behalten, weil wir nach Bekanntgabe unserer Heirat zusammen hier leben wollten, aber bis dahin wohnte er weiterhin in seinem Apartment im Gainsborough am südlichen Central Park. Mir fiel auf, daß die Nachrichten immer nur dann für mich hinterlassen wurden, wenn ich alleine nach Hause kam, niemals, wenn irgend jemand bei mir war. Lebte er etwa in diesem Haus? -22-
Beobachtete er mich? Wer war er nur? Rückte er langsam dichter an mich heran? Ich fühlte mich wie Whitney Houston in ›Bodyguard‹. Brauchte ich etwa selbst einen Leibwächter? Vielleicht sollte ich Kevin Costner anrufen… Die erste Tragödie geschah an Venetias achtzehntem Geburtstag. Als Kind war ich sehr ungesellig. Seitdem ich Lesen gelernt hatte, verkroch ich mich in meine Bücher, und das einzige, das mich aus meinem Kinderzimmer zu den anderen bringen konnte, waren alle Arten von Anzieh- und Verkleidungsspielen. Wenn mir erlaubt wurde, im Kleiderschrank zu stöbern und mich in eine schöne Prinzessin oder in Charlie Chaplin zu verwandeln, war das für mich der Himmel auf Erden. Auch wenn ich damals noch sehr jung war, so war ich doch schlau genug zu wissen, daß dies der einzig mögliche Weg war, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Der Grund, warum mich alle ignorierten, war Venetias beeindruckende Schönheit. Ihre Augen waren so blau wie ein Lapislázuli, ihre Nase war fein geschnitten und ihr Mund verführerisch sinnlich; aber die Krönung ihrer Schönheit war ihr aschblondes, seidiges Haar, das ihr in einer Pagenfrisur bis zu den Schultern reichte. Sie hatte wirklich Klasse, selbst ich konnte das sehen, und bei jedem Wettbewerb war sie wie eine liebreizende Prinzessin zurechtgemacht. Sie gewann sie alle, und ich glaube, es lag daran, daß sie auch in Wirklichkeit eine Prinzessin war. Zu Venetias achtzehntem Geburtstag veranstalteten meine Eltern einen Sommerball für sie. Im Garten, der zum BoltonsStraßenzug gehörte, wurde ein großes Zelt errichtet, und die Gästeliste umfaßte mehr als vierhundert Personen. Ich war erst acht, und der Gedanke, mich für den Ball schön machen zu dürfen, begeisterte mich so sehr, daß ich darum bettelte, -23-
wenigstens bis zum Beginn des Festes aufbleiben zu dürfen. Mein Kindermädchen und ich hatten an einem Kostüm für mich gearbeitet - ich sollte als Schwan kostümiert am Eingang die Gäste begrüßen. Venetia war den ganzen Sommer über schrecklich aufgedreht. Wie mir meine Mutter erklärte, lag das daran, daß sie in Oliver Fairfax verliebt war, und wenn man sich verliebt hatte, benahm man sich manchmal närrisch. An ihrem Geburtstag hatte sie ein Sektfrühstück ans Bett gebracht bekommen, und nachdem sie alle Geschenke geöffnet hatte, kam Oliver vorbei, um sie zu einem Mittagessen im Waterside Inn abzuholen. Er hatte ein BMW-Cabrio, und als sie mit offenem Verdeck losfuhren, dröhnte Bryan Ferrys ›Let's stick together‹ aus dem Autoradio. Um sechs abends waren sie immer noch nicht zurück, und meine Eltern wurden langsam hysterisch. Das war einfach unmöglich von Oliver - niemals hätten sie Venetia die Schuld für irgend etwas gegeben -, schließlich wußte er doch, daß es vor dem Ball ein großes Abendessen gab. Die Gäste sollten zwischen 20.00 und 20.30 Uhr kommen. Wenn Venetia nicht bald wieder zurück war, würde sie keine Zeit mehr haben, sich zu baden und rechtzeitig umzuziehen, um ihre Gäste zu begrüßen. Um 19.30 Uhr saßen wir alle zusammen im Flur und kauten voller Sorge an den Fingernägeln. Ich werde den Polizisten, der uns alles beibrachte, nie vergessen. Sie hätten keinen solchen jungen Mann schicken sollen. Das war nicht fair. Er stotterte bei allem, was er uns sagte. Und in seinem purpurroten Gesicht stand Ohnmacht geschrieben. Als ich ihm die Tür öffnete, hüpfte ich aufgeregt in meinem Schwanenkostüm auf und ab, in der Erwartung, Venetia sei zurückgekommen. Er mußte geglaubt haben, in einem Irrenhaus gelandet zu sein. »Sie hatten nicht die geringste Überlebenschance. Sie fuhren mindestens neunzig. Auf der Autobahn. Von vorne kam ihnen ein Umzugswagen entgegen. Er gehörte einer Familie, die -24-
gerade umzog. Von London nach …« Endlich merkte er, daß es uns nicht im geringsten interessierte, welche Familie von wo wohin zog, aber er wußte nicht, wie er es uns beibringen sollte. »Ihr Sohn scherte aus, um den Wagen vor ihm zu überholen. Auf der Gegenseite scherte ein anderes Auto aus, das den Umzugswagen überholen wollte. Beide stießen frontal zusammen. Keine Chance«, fügte er leise hinzu. Alle Blickte wandten sich Harry zu, der noch sehr lebendig neben uns stand. Meine Mutter ging auf den Polizisten zu. »Hören Sie, dies hier ist unser einziger Sohn.« Dem Beamten traten Schweißperlen auf die Stirn. Er blätterte in seinen Notizen. »Ein Mr. Oliver Fairfax?« Alle schüttelten den Kopf, das Unheil ahnend. »Eine Miß Venetia Crichton-Lake?« fragte er. Wir standen wie angewurzelt da und starrten ihn an, während die Frage schwer in der Luft hing. Er nickte traurig. Dann läutete es erneut an der Haustür, die ersten Gäste trafen zum Dinner ein. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn wir Harry nicht gehabt hätten. Ich beobachtete ihn, wie er möglichst viele der vierhundert Geladenen anrief, die er bis 22.00 Uhr erreichen konnte, und später stand er auf der oberen Treppenstufe zwischen Proust und Amis und verabschiedete die Gäste, die bereits gekommen waren. Damals begann meine Bewunderung für ihn, die mein ganzes Leben lang erhalten bleiben sollte. Er war gerade einmal sechzehn Jahre alt, als er in dieser Nacht versuchte, wenigstens einen kleinen Teil der Last des Unglücks von den Schultern meiner Eltern zu nehmen, und dasselbe tat er, als am nächsten Tag die Presse eintraf. Nach Venetias Tod waren wir nie wieder dieselbe Familie wie früher. Meine Eltern flüchteten sich so oft, wie sie nur konnten, hinaus aufs Land, um dem Mitleid auf den Angesichtern ihrer -25-
Freunde aus dem Weg zu gehen. Das einzig Gute, das sich aus all dem ergab, war, daß Harry und ich uns sehr nahe kamen. Er nannte mich wieder Skinny- Lavinny oder auch Titch - was so viel wie Knirps bedeutet - und erfand noch eine Menge anderer Spitznamen für mich, die ich zwar nicht schön fand, aber ich war froh, in dieser Zeit, in der ich langsam erwachsen wurde, einen Verbündeten zu haben. Es war ein einziger Kampf für mich. Ich war schlaksig, launisch und besessen von der Idee, daß ich in den Augen meiner Eltern nur ein ungenügender Ersatz für Venetia war. Wenn Harry mir damals nicht klargemacht hätte, daß er mich für ein ›gutes Mädchen‹ hielt, weiß ich nicht, was ich getan hätte. Dann ging meine Nanny in Pension. Sie war vierund siebzig, hatte früher bereits meinen Vater als Kindermädchen betreut und war zu einem regelrechten Familienfossil geworden, dessen Zeit, von der Bühne abzutreten, nun langsam gekommen war. Innerlich war ich bei dem Gedanken, daß sie jetzt endlich gehen würde, richtig ein bißchen erleichtert. Ich stellte mir vor, daß ich von nun an ungestört tun und lassen könnte, was ich wollte doch da lag ich falsch. Da meine Eltern oft außer Haus waren und wir keine Bediensteten hatten, die bei uns wohnten, entschieden sie, daß ich nicht allein in Harrys Obhut verbleiben konnte, und engagierten eine neue Nanny. Ich fand das ziemlich lächerlich, war ich doch der Meinung, daß ein zwölfjähriges Mädchen durchaus auf sich selbst aufpassen könnte. Molly Bainbridge stammte aus Liverpool. Sie war zwanzig Jahre alt und eröffnete mir bereits fünf Minuten nach ihrem Eintreffen, daß sie kein Kindermädchen sei, sondern Model. Mit Babysitten gebe sie sich nur ab, um sich ein Dach über dem Kopf leisten zu können. Ich glaube, ich erwiderte so etwas wie: »Ist schon in Ordnung.« Alles, woran ich mich erinnere, ist, daß ich ganz damit beschäftigt war, sie eingehend von oben bis unten zu betrachten. Ich hatte noch nie jemanden wie sie gesehen. Molly war wahnsinnig groß, mit langen Beinen, die in -26-
schwarzen Leggings steckten, und riesigen Brüsten. Ich konnte ihre Brustwarzen unter dem T-Shirt erkennen. Rückblickend muß ich feststellen, daß sie ziemlich vulgär war. Sie trug immer zuviel Make-up auf und begründete dies damit, daß sie vorbereitet sein müsse, falls ihre Agentur sie kurzfristig anrufe und zu einem Vorstellungstermin bestelle. Aber sie wurde nie angerufen, und selbst wenn es so gewesen wäre, hätte sie nie soviel Make-up tragen dürfen, weil der Kunde immer sehen will, welchen Haupttyp man hat. Wahrscheinlich hätte ich mit Molly Bainbridge ganz zufrieden sein können, wenn sie nicht diesen verheerenden Einfluß auf Harry gehabt hätte. An ihrem ersten Abend, an dem meine Eltern in die Stadt gehen wollten, luden sie Molly ein, mit uns zu essen, und bestanden darauf, daß auch Harry dabei war. Ich weiß, ich sollte solchen Dingen keine Bedeutung zumessen, aber sie wußte nicht, welche Gabel oder welches Weinglas sie benutzen sollte. Sie hatte absolut keine Manieren, und ich bemitleidete sie. Aber nicht lange. Harry war, wie ich feststellte, außergewöhnlich still. Er war ganz einfach weggetreten. Während des gesamten Abendbrots starrte er sie nur an, und als es danach im Salon Kaffee gab (für mich Tee), saß er neben ihr auf dem Sofa und fragte sie mindestens siebenmal, ob sie noch eine Tasse wolle. Molly war nicht dumm. Und sie ermunterte ihn. Stets ließ sie ihre Schlafzimmertür offen, damit er einen Blick auf sie erhaschen konnte, wenn sie gerade ausgezogen war. Und immer, wenn sie wußte, daß er zu uns ins Kinderzimmer kommen wollte, um mich zu sehen, ließ sie die Badezimmertür offen, damit er sie in der Badewanne liegen sehen konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch niemand mit mir über dieses eine Thema, Sex, gesprochen, trotz meiner zwölf Jahre. Alles, was ich darüber wußte, hatte ich entweder aus dem Fernsehen oder aus den Büchern, die ich las. Alles, was ich -27-
verstand, war nur, daß Harry, der bis dahin mein Freund gewesen war, sich mir gegenüber plötzlich ziemlich abweisend verhielt. Nicht etwa, daß er mich nicht mehr sehen wollte. Sobald er von der Arbeit heimkam - er arbeitete damals für eine Firma, die Werbespots produzierte -, eilte er zu uns in den ersten Stock hinauf. Aber wenn er sie erst einmal gesehen hatte, zollte er mir kaum mehr Aufmerksamkeit. Molly und ich hatten im oberen Stock ein kleines Apartment für uns, was noch auf die Zeiten zurückging, als meine alte Nanny hier oben das Zepter geschwunge n hatte. Die Küche und das Bad waren ihr Reich gewesen, das sie gegen jeden verteidigt hatte, der es ohne ihre Erlaubnis betrat. Mein Schlafzimmer wurde nach ihrer Pensionierung ein Stockwerk tiefer verlegt, aber ich teilte das Badezimmer mit Molly und nahm meine Mahlzeiten weiterhin oben ein. So konnte ich öfter einige Wortfetzen der Unterhaltungen aufschnappen, die sich zwischen Harry und Molly in der Küche oder auf dem Treppenabsatz abspielten. »Laß uns den Abend zusammen verbringen«, hörte ich ihn. »Ich würde dich gerne zum Essen ausführen.« »Wie kann ich mit dir ausgehen, wenn ich hier den dämlichen Babysitter spielen muß?« »Dann essen wir daheim, und ich besorge ein Video, das wir uns dabei ansehen können…« Ich glaube, es war unvermeidlich, daß ich eines Abends aufwachte und den starken Drang verspürte, auf die Toilette zu gehen; und es war natürlich ebenso unvermeidlich, daß Molly wieder ihre Schlafzimmertür offengelassen hatte. Ich hatte Harry seit vielen Jahren nicht mehr nackt gesehen, nicht mehr seit unserer frühesten Kindheit. Als ich die Treppe hinaufging, hörte ich bereits die eigenartigen Laute, die er von sich gab. Es hörte sich an, als hätte er Schmerzen, und daher beeilte ich mich, um zu sehen, was los war. Sie lagen nicht im Bett, sondern auf dem Boden, die Füße -28-
halb unter dem Bett. Keiner von ihnen hatte noch irgendwelche Kleidung an, und sie lag auf ihm und biß ihn. Ich glaubte, sie wollte ihn verletzen, stürmte zu ihr und trat sie. »Geh runter!« schrie ich. »Geh runter da! Laß Harry in Ruhe, du tust ihm weh!« »Oh, du dummes kleines Kind.« Sie löste sich von ihm und stand auf. »Komm, jetzt aber raus hier! Beeil dich!« Sie gab mir einen Schubs, und ich stolperte auf die Tür zu. Noch einmal drehte ich mich um und wartete darauf, daß Harry aufstand und sich bei mir dafür bedankte, daß ich ihn gerettet hatte. Aber er lachte nur und sagte: »Ist schon in Ordnung. Geh wieder ins Bett, Titch!« Ich weiß, ich hätte meiner Mutter nichts davon erzählen sollen, aber als sie anrief, war ich so verletzt von Harrys Verhalten, daß ich es ihm heimzahlen wollte. Das nächste, an das ich mich erinnere, war, daß ich nach Wiltshire verfrachtet wurde und Molly Bainbridge ein Wochenende Zeit gegeben wurde, ihre Sachen zu packen und zu verschwinden. Aber mein Kindermädchen zog nicht aus. Sie hatte nicht mehr die Gelegenheit dazu. Als mich meine Eltern am darauffolgenden Sonntagabend von Wiltshire nach London zurückbrachten, fanden wir sie splitternackt auf dem Treppenabsatz liegen, und das Kissen, mit dem sie allem Anschein nach erstickt worden war, bedeckte noch immer ihr Gesicht. Und von Harry gab es weit und breit keine Spur. Mein Vater tat sein Bestes, um die Sache nicht an die große Glocke zu hängen, aber die Presse belagerte erneut unseren Hauseingang, und diesmal gab es keinen Harry, der sie abwimmelte. Zum Glück fiel das niemandem auf. Molly Bainbridge war tot und konnte ihnen nicht erzählen, daß sie es mit dem Sohn des Hauses getrieben hatte, und was Harry betraf - er blieb verschwunden. -29-
In der Regenbogenpresse wurde meine Familie so dargestellt, als läge sie nach Venetias Tod und der Ermordung meines Kindermädchens völlig am Boden. Man sagte uns eine düstere Zukunft voraus und spekulierte, wer das nächste Opfer sein würde. Meine Mutter dachte, sie hätte es geschafft, all die Schmierblätter von mir fernzuhalten, aber ich strich umher und fischte sie aus den Mülleimern. Es war der Anblick all dieser schmutzigen verlogenen Geschichten, der mich schwören ließ, mich - wenn es irgendwie möglich war - durch nichts verle tzen zu lassen, was jemals in der Presse über mich geschrieben werden würde. Der Mord an Molly wurde nie aufgeklärt, schlimmer noch, Harry blieb weiterhin verschollen. Mein Vater weigerte sich, zur Polizei zu gehen, um eine Vermißtenanzeige aufzugeben, weil er befürchtete, daß man Harrys Verschwinden dann mit dem Mord in Verbindung bringen würde. Aber natürlich wußten die Ermittler, daß Harry bei uns lebte, und wollten auch ihm einige Fragen stellen. Es war schlimm. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr begannen wir uns zu fragen, ob Harry überhaupt noch lebte. Verständlicherweise bemühte sich die Polizei bei weitem nicht so sehr, sein Verschwinden aufzuklären, wie sie das bei der Fahndung nach einem vermeintlichen Mörder getan hätte. Ich war völlig verstört, weil ich Harry verloren hatte, und vermißte ihn so sehr, daß ich mir keine Gedanken machte, ob er Molly ermordet hatte oder nicht, bis die Polizei einen Fahndungsbefehl nach ihm ausschrieb. Erst jetzt kam ich endlich zu mir und erschrak darüber, wie unloyal ich mich ihm gegenüber verhalten hatte. Natürlich war Harry kein Mörder. Aber wo steckte er? Wenn man sieben Jahre lang als vermißt galt, wird man offiziell für tot erklärt. Ich war mittlerweile neunzehn Jahre alt, sah aber noch immer wie fünfzehn aus, und begann mich langsam zu -30-
fragen, ob ich zu einem Einzelkind geworden war. Meine Eltern hatten festgestellt, daß Harry den ersten Teil seines treuhänderischen Vermögens von der Bank abgehoben hatte. Weil er ein Junge war, stand ihm mehr zu als Venetia und mir (in Sachen Treuhandvermögen hatte der Feminismus noch nichts erreicht). Wir sollten unseren gesamten Anteil mit achtzehn erhalten, Harry hingegen bekam an seinem achtzehnten Geburtstag nur einen kleinen Teil seines Vermögens, während der Rest erst bei Vollendung des dreißigsten Lebensjahres ausgezahlt werden sollte. Dies waren Bestimmungen, die noch von meinem Großvater festgelegt worden waren, und es gab nichts, was wir daran hätten ändern können. Der armen Venetia war es leider nie vergönnt gewesen, in den Genuß ihres Geldes zu kommen. Ich rätselte, was meine Eltern wohl statt dessen damit getan hatten. An meinem achtzehnten Geburtstag war ich, wie man so sagt, in der glücklichen Lage, frei über 150000 englische Pfund verfügen zu können. Ich verließ die Schule mit dem festen Vorsatz, beruflich irgend etwas mit Büchern zu tun zu haben. Meine einzige Vorstellung, wie ich so etwas erreichen konnte, bestand darin, meine Dienste dem kleinen Buchladen im benachbarten Stadtviertel Chelsea anzubieten, wo wir immer anschreiben lassen konnten, weil wir so gute Kunden waren. Zu meiner Überraschung stellten sie mich tatsächlich als Verkäuferin ein, und für mich war das wie der Himmel auf Erden. Jeden Tag von 9.30 bis 17.30 Uhr war ich nun von Büchern umgeben; alles, was ich sagte, drehte sich um Bücher, und wenn ich nach Hause zurückkehrte, schlief ich über einem Stapel Bücher ein. Ich war der Meinung, daß es für eine gute Verkäuferin wichtig war, den Kunden jedes Buch persönlich empfehlen zu können. Und daher glaubte ich, alle Bücher lesen zu müssen, die neu geliefert wurden. Eines Tages stand ich gerade auf der Leiter, um die oberen Regale mit modernen Klassikern des Penguin- Verlages -31-
aufzufüllen, als ich plötzlich das Gleichgewicht verlor, stürzte und schwer auf meinen rechten Fußknöchel prallte. Das nächste, woran ich mich erinnere, war, daß mir von einem starken, haarigen Arm aufgeholfen wurde. »Tut mir aufrichtig leid, Mädchen. Daran war mein Blitzgerät schuld. Ich habe dich durchs Fenster von der Straße aus gesehen. Zuerst nur deine Beine und dann den Rest von dir. Da konnte ich einfach nicht widerstehen. Ich mußte reinkommen und ein Foto machen. Ich wußte aber nicht, daß ich dich damit so erschrecken würde. Alles in Ordnung?« Es war alles in Ordnung, aber ich war ziemlich verärgert. »Wer hat Ihnen erlaubt, mich zu fotografieren? Was haben Sie damit vor? Soll das irgendeine Werbung für diesen Laden werden? Ich weiß nichts von so etwas.« »Hör zu, bis eben habe ich selbst noch nichts davon gewußt. Tatsache ist, daß du einfach wunderschön bist. Erzähl mir nicht, daß du das nicht weißt. Ich habe nur sehen wollen, ob du auch fotogen bist. Und wie ich schätze, bist du sogar sensationell. Hat dir noch niemand vorgeschlagen, Model zu werden?« Bei dem Wort zuckte ich unwillkürlich zusammen. Es erinnerte mich sofort an Molly Bainbridge. Natürlich war mir mittlerweile klargeworden, daß es genug andere Models gab, die nicht wie sie aussahen, zum Beispiel einige meiner Freundinnen, die alle nicht schlecht für diesen Job bezahlt wurden. Aber mein Leben waren die Bücher. »Haben Sie eine Visitenkarte oder so etwas?« Mir war klar, daß ich ziemlich abweisend und unfreundlich klang, aber ich wollte ihn möglichst schnell loswerden. Er kramte in seiner Kameratasche herum und reichte mir seine Karte. Ich nahm sie entgegen und schaute auf seinen Namen. »Willy O'Brien?« »Richtig. Ich habe ein eigenes Studio. Ruf mich doch mal an.« -32-
»Sicher«, sagte ich und schenkte ihm mein schönstes Lächeln, während ich ihn behutsam in Richtung Tür drängte. »Wirklich. Ich meine es ernst. Du hast wirklich das Zeug dazu. Wann wirst du anrufen? Morgen? Ich bin den ganzen Tag im Studio.« »Okay. Schön. Ich ruf morgen an.« Ich hätte alles getan, um ihn endlich aus dem Laden zu bekommen. Als er endlich verschwunden war, zerriß ich seine Visitenkarte und nahm drei Exemplare von ›Der Fänger im Roggen‹ zur Hand. Nur zwei Monate später fiel ich wieder von der Leiter diesmal, als eine Stimme hinter mir plötzlich sagte: »Hätten Sie vielleicht ein Exemplar von ›Skinny- Lavinny wird erwachsen‹ « Er fing meinen Sturz auf, und das erste, das ich bemerkte, war, daß sein karamelfarbenes Haar weit über seinen Kragen herabhing und strähnig war. »Wer ist der Autor?« fragte ich ihn, als er mich auf den Boden setzte. »Ich glaube nämlich, sie ist längst erwachsen, und das Buch wurde nicht neu aufgelegt, seitdem du sie verlassen hast.« Dann fiel ich ihm in die Arme und brach in Tränen aus. Wir waren die einzigen im Geschäft, und ich glaube, daß er das so abgepaßt hatte. »O Titch, weine nicht. Ich weiß doch, ich weiß.« Er klopfte mir sanft auf den Rücken wie einem kleinen Baby, das man beruhigen muß. »Tut mir leid«, schluchzte ich, »aber du mußt zugeben, Harry, daß es für mich wie ein kleiner Schock ist. Wen hast du denn noch besucht?« »Niemanden. Ich bin gerade seit eineinhalb Stunden hier in London. Ich bin direkt vom Flughafen gekommen, und wenn ich dich verlassen habe, werde ich sofort wieder untertauchen.« »Wo hast du gesteckt?« -33-
»Das kann ich dir nicht sagen, Titch.« »Oh, verflucht, hör auf, mich Titch zu nennen.« »Lavinia?« »SWAN.« »Okay, SWAN. Hör zu. Ich möchte, daß wir uns in einem Hotel im Norden Londons treffen. Ich werde dort bleiben, bis ich mich wieder etwas besser fühle.« »Warum im Norden von London? Kennst du jemanden dort im Hotel?« »Ich kenne absolut niemanden, du Idiot. Darum geht es doch. Ich möchte nicht, daß irgend jemand erfährt, daß ich zurückgekommen bin. Du bist die einzige Person, der ich vertrauen kann, und nicht einmal dir werde ich erzählen, wo ich gewesen bin.« »Du meinst, ich darf unseren Eltern nichts davon erzählen?« »Gerade ihnen nicht.« »Harry! Kannst du dir vorstellen, was sie durchgemacht haben? Dieses Mädchen wurde tot in ihrem Haus aufgefunden. Und du bist einfach verschwunden! Sie glauben schon, daß du tot sein könntest…« »Das ist das Beste, was sie tun können. Ich gebe dir die Wahl, SWAN. Du kannst kommen und mich im Hotel treffen übrigens, frag dort nach Charles Gordon, das ist der Name, unter dem ich mich eingetragen habe -, aber ich werde dir nichts erzählen. Ich werde dich vielmehr um einen riesigen Gefallen bitten. Oder aber du bleibst auf deinem hohen Roß sitzen und glaubst, daß du Mutter und Vater und allen anderen unbedingt von mir erzählen mußt. Aber dann wirst du mich nicht in diesem Hotel finden, und wahrscheinlich wirst du mich auch nie wiedersehen. Es liegt bei dir…« Natürlich traf ich mich mit ihm, aber als er mir dann eröffnete, -34-
was er von mir erwartete, wünschte ich mir, ich wäre nicht gekommen. Er wollte, daß ich ihm mein treuhänderisches Vermögen gab, weil er Geld für einen neuen Anfang brauchte. Er gab zu, in den letzten sieben Jahren weit, weit weg gewesen zu sein - aus irgendeinem Grund tippte ich auf Australien -, und sein weniges Geld war ihm ausgegangen. Harry sagte, er wisse keine andere Möglichkeit, an Bargeld zu kommen, ohne daß man ihn gleich schnappe. Er wolle ein neues Leben beginnen und seinen Namen reinwaschen. Er habe Pläne, aber natürlich könne er mir nicht sagen, was für welche das seien. Es war mir nicht möglich, mir etwas von meinem Treuhandvermögen auszahlen zu lassen, ohne daß meine Eltern davon erfahren hätten, und sie bestanden darauf, stets ganz genau zu erfahren, wofür ich es ausgeben wollte. Ich überlegte, daß es das einfachste war, ihnen zu erzählen, ich wolle aus den Boltons ausziehen und mir eine eigene Wohnung kaufen. Meine Mutter bestand jedoch darauf, höchstpersönlich mit dem Immobilienmakler loszuziehen und mit ihm stundenlang über alle Objekte zu diskutieren, die wir uns ansahen. Es muß ihr ziemlich seltsam vorgekommen sein, wie wenig enthusiastisch ich mich darum bemühte, mein Traum-Apartment zu finden. Schließlich zog ich in eine kleine Wohnung auf der Rückseite eines Herrschaftshauses in der Old Brompton Road, die gerade einmal eine Straßenecke von meiner elterlichen Wohnung entfernt lag. Sie hatte noch vier Meter hohe Decken, und es gab eine ungewöhnliche Galerie als Schlafbereich, die mir sehr gefiel. Der nächste Schritt war wirklich trickreich eingefädelt. In den folgenden Wochen, in denen ich umzog und meine Wohnung einrichtete, hob ich systematisch große Summen von meinem Konto ab und übergab sie Harry. Das war das Verrückte an der Drohung des Anrufers: er lag vollkommen falsch! Er hatte keine Aufnahmen von einem Mann gemacht, der mir Geld gab, sondern ich gab dem Mann Geld - und dieser Mann war mein -35-
eigener Bruder. Noch heute schütze ich Harry. Ich muß es. Natürlich hat er mir schon vor langer Zeit erzählt, was an dem Wochenende passiert ist, als Molly Bainbridge starb, aber es war ihm noch immer nicht möglich, seine Unschuld zu beweisen. Also mußte er mit den Lügen weitermachen. An seinem dreißigsten Geburtstag hätte er ja schlecht auftauchen und den Restbetrag seines Vermögens in Empfang nehmen können, und infolgedessen hat er mir mein Geld bislang auch noch nicht zurückzahlen können. Aber das ist nicht wichtig. Noch immer versuchen wir, das Geheimnis von Molly Bainbridges Tod zu lösen. Und solange wir das nicht geschafft haben, werde ich ihn unterstützen. Deshalb kann ich es auch nicht zulassen, daß das Bild, das uns beide sieben Jahre nach seinem Verschwinden zeigt, in irgendeiner Weise veröffentlicht wird. Das ist der Grund, warum ich den Anrufer sehr ernst nehmen muß. Da saß ich nun, hatte mein gesamtes Bargeld Harry gegeben, und der Termin, an dem ich die Anzahlung für das Apartment leisten mußte, rückte bedrohlich näher. Ich ging zur Bank, und Mr. Harris hörte mir wirklich sehr aufgeschlossen zu, obwohl ich ihm nichts erzählte, was der Wahrheit irgendwie nahegekommen wäre. Ich sponn eine ziemlich lächerliche Geschichte zusammen: daß ich einem Mann, in den ich hoffnungslos verliebt wäre, eine Menge Geld geliehen hätte, daß er meinem Vater bitte nichts davon erzählen solle und ob es möglich sei, daß ich einen Kredit bekäme, bis ich das Geld zurückhätte. Mr. Harris war mit meinem Vater bekannt und sogar schon mit dessen Vater bekannt gewesen. Er wußte, daß meine Familie ihre Konten schon seit Jahren bei ihm führte. Und er wußte, was meinem Vater am verhaßtesten war. Also stellte er sich taub, und wenn ich nicht einen Kopf größer als er gewesen wäre, hätte er mir wahrscheinlich gehörig den Kopf gewaschen. Zum erstenmal in meinem Leben mußte ich mein eigenes Geld -36-
verdienen. Wirkliches Geld. Ich hatte die Visitenkarte zwar weggeworfen, aber der Name war so einfach zu merken gewesen, daß ich mich leicht an ihn erinnerte. Ich fand Willy O'Briens Nummer im Telefonbuch, und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Das Telefon läutete immer noch. Jeden Moment konnte sich der Anrufbeantworter einschalten. Ich riß den Hörer von der Gabel. »Hallo?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »SWAN? Bist du's? Was ist los? Ich kann dich ja kaum verstehen. Ich bin's. Patsy.« »O Patsy…« Meine Erleichterung war fast grenzenlos. »Wo bist du?« »In London. Ich wollte schon früher anrufen, aber ich dachte nicht, daß du schon zurück wärst. War der ganze Rummel in Paris nicht aufregend?« »Patsy, bist du verrückt? Ich kann überhaupt nicht finden, daß es aufregend war. Ich dachte, man hätte auf uns geschossen. Ich dachte, du wärst umgebracht worden!« »O SWAN, immer machst du so einen Wirbel um mich. Ich bin nur ohnmächtig geworden. Ich meine, klar, ich habe den Schuß gehört, und einen Sekundenbruchteil lang habe ich geglaubt, daß da irgend etwas vor sich gehen würde, aber der Grund, warum ich ohnmächtig geworden bin, ist der, daß mir so schlecht war. Ich bin vor jeder Show nervös, und außerdem hatte ich Lampenfieber, weil ich die Braut sein sollte und wegen allem anderen. Ich habe gespürt, daß ich mich wieder übergeben würde, und wollte doch das schöne Hochzeitskleid nicht beschmutzen. Wie auch immer, ich wollte mich nur bedanken, daß du meinen Part übernommen hast. Ich habe gewußt, daß du in dem Kleid ganz besonders hübsch aussehen würdest. Ich wollte dich zwar noch sehen, aber die haben mich sofort zum Ausruhen nach Hause geschickt. Wie du dir vorstellen kannst, -37-
ist meine Agentur im Moment nicht sonderlich zufrieden mit mir. Hier in London passen sie wirklich gut auf mich auf. Sie haben mich in eine Modelschule gesteckt und lassen einfach nicht zu, daß ich das Haus verlasse oder in ein Hotel umziehe.« Ich mußte lächeln. Arme Patsy. Es hörte sich ganz so an, als wäre sie endlich in den richtigen Händen: keine Männer, keine durchzechten Nächte. Das würde Patsys Gewohnheiten natürlich fürchterlich durcheinanderbringen, aber letzten Endes war es das beste für sie. »Vielen Dank für deinen Anruf, Patsy. Paß gut auf dich auf. Tust du mir den Gefallen?« »SWAN, das ist das einzige, was ich dir nicht versprechen muß. Ich habe hier jede Menge Kindermädchen um mich herum. Nächsten Monat arbeiten wir in Rom zusammen. Dann sehen wir uns, okay? Ciao.« Ich legte auf und drückte gedankenverloren auf die Rücklauftaste des Anrufbeantworters. Es war, als hätte er meiner Unterhaltung mit Patsy beigewohnt. »Das hat dich wirklich umgehauen, nicht wahr? Wie sehr ich diesen Ausdruck in deinem Gesicht genossen haben. Auch wenn du weitergelaufen bist, du hast sehr erschrocken ausgesehen.« Die Stimme des Anrufers traf mich, als ob ich den Deckel einer Schachtel geöffnet hätte und mir ein Springteufel entgegengeschnellt wäre. »Du hast wirklich geglaubt, daß jemand versucht hat, dich zu erschießen. Tja, das könnte durchaus passieren. Du siehst, SWAN, wie einfach so was ist. Denk dran, wenn du das nächste Mal den Laufsteg entlanggehst und alle Kameras auf dich gerichtet sind. Eine von ihnen könnte ein Gewehr sein. Ja, ich war in Paris dabei. Ich war in der Show, und ich saß direkt in der ersten Reihe. Ich war dir nahe genug, daß du den abgefeuerten Schuß hören konntest. Du hast wirklich einen Schuß gehört, aber er kam aus keiner Waffe. Es war eine -38-
Tonbandaufnahme. Ich hatte vor mir auf der Bühne einen kleinen Recorder inmitten der ganzen Fotografen plaziert. Und in dem Moment, in dem du an mir vorbeigegangen bist, habe ich mich vorgelehnt und auf PLAY gedrückt. Das Klicken der Kameras war so laut, daß niemand sonst den Schuß gehört hat nur du und Patsy. Siehst du, ich weiß auch ihren Namen. Sie hat wahrscheinlich nicht einmal begriffen, was passiert ist. Statt dir fiel sie in Ohnmacht. Du bist stärker, als ich dachte. Aber beim nächsten Mal - falls es ein nächstes Mal gibt - werde ich keine Aufnahme mehr abspielen. Dann wird es bitterer Ernst.« Ich hockte mich ängstlich neben meinem Bett auf den Boden, hörte mit geschlossenen Augen zu und war nicht in der Lage, mich zu bewegen. »Laß uns ein wenig in Erinnerungen schwelgen«, fuhr die Stimme fort. »Erinnerst du dich noch daran, als ich dich das erste Mal anrief? Erinnerst du dich daran, worum ich dich damals gebeten habe? Nun, jetzt bitte ich dich wieder, dir deine Post anzusehen, bis du einen weiteren blauen Briefumschlag findest, der in London, Heathrow, abgestempelt ist. Ich habe ihn aufgegeben, bevor wir - du und auch ich - nach Paris aufgebrochen sind. Du wirst wieder ein Bild darin finden, genau wie das letzte Mal. Keine Angst, diesmal ist es keines von dir. In meiner nächsten Nachricht werde ich dir erzählen, warum ich es dir geschickt habe. Und nun schalte die Maschine aus und geh nachsehen.« Der Brief war schnell gefunden, aber das Foto darin machte mich ratlos. Ich wußte natürlich, wer darauf abgebildet war. Das Gesicht, das mich anlächelte, war beinahe genauso berühmt wie meines. Ein wunderschönes Mädchen, das sich erst vor kurzem zu einem Supermodel hinaufkatapultiert hatte. Aber was hatte sie mit dem Anrufer zu tun? Eine Woche später kannte ich die Antwort. »Eine wahre Schönheit, nicht wahr? SWAN, verzeih mir, wenn ich dir sage, daß sie sogar noch prächtiger ist als du, aber was das angeht, bin -39-
ich vielleicht ein wenig voreingenommen, weißt du? Ich liebe sie nämlich. Die ganze Wahrheit ist, daß du gerade auf meine Verlobte siehst. In ein paar Monaten werden wir heiraten. Ich habe sie gebeten, das im Moment noch geheimzuhalten. Ich hoffe, daß du dich für mich freust, SWAN, daß du dich für uns freust aber das ist nicht der Grund, warum ich dich anrufe. Ich weiß jetzt endlich, was du für mich tun kannst, um mich davon abzuhalten, dieses Bild von dir und dem Mann an die Presse zu schicken. Weißt du, meine Verlobte und ich, wir haben eine voreheliche Vereinbarung getroffen. Ihr Geld wird mein Geld sein, und sie wird tonnenweise Geld verdienen, wenn sie erst einmal den SWAN-Vertrag hat. Das ist es, SWAN, was du für mich tun mußt. Ich weiß, daß du das derzeitige SWAN-Girl bist. Und ich weiß auch, wen sie für deine Nachfolge in die engere Wahl gezogen haben. Meine Verlobte ist eine davon, und alles, was du zu tun hast, ist, dafür zu sorgen, daß sie deine Nachfolgerin wird. Nicht mehr. Ich werde dich bald wieder anrufen. Und eines noch: ruf sie nicht an und frag nicht nach mir, wer ich bin oder irgend so etwas. Falls du das tust, wird das Foto von dir und dem Mann nämlich die Titelseiten der New York Post und der Sun füllen, noch ehe du bis fünf zählen kannst! « Von nun an wußte ich, daß ich es mit einem Geistesgestörten zu tun hatte und noch dazu - was vielleicht noch viel gefährlicher war - mit einem sehr naiven. In einem hatte er recht. Ich wollte nicht länger SWAN-Girl sein und hatte das den Japanern bereits mitge teilt. Mein Mann und ich hatten darüber gesprochen, ein Kind zu haben, und auch beruflich wollte ich etwas Neues versuchen. Mein Hang zu Büchern war nach wie vor sehr stark, und vielleicht gab es noch immer einen Weg, auf dem ich in die Welt der Literatur eintreten könnte. Mein Dreijahresvertrag lief aus, und man hielt bereits nach einem neuen Mädchen Ausschau. In der Tat standen einige schon seit geraumer Zeit in der engeren Wahl. Im Geiste ging ich sie alle -40-
durch: Tess Tucker, Cassie Dylan, Celestia Fairfax, Gigi Garcia und Amy La Mär, jede auf ihre ganz besondere Art ein fabelhaftes Mädchen. Aber die Vermutung, ich hätte bei den Japanern irgendeinen Einfluß auf die Entscheidung über meine Nachfolgerin, bewies, daß der Anrufer niemand war, der sich wirklich auskannte. Der japanische Aufsichtsrat würde mich vielleicht höflichkeitshalber fragen, wen ich für die Beste hielt, aber das wäre dann auch schon alles, was man mir an höflicher Aufmerksamkeit entgegenbringen würde. Zu sagen hatte ich in dieser Angelegenheit nichts. Wer also war dieser Anrufer? 1987, als er das Foto mit mir und Harry geschossen hatte, mußte er sich in London aufgehalten haben. Bei der Pariser Kollektion hatte er einen Platz in der ersten Reihe ergattern können, demnach mußte er also selbst in dieser Branche arbeiten? War er ein Modejournalist? Ein Einkäufer? Ein Fotograf? Oder vielleicht sogar irgendein Prominenter? Obwohl er glaubte, der Verlobte eines künftigen Topmodels zu sein, wußte er dennoch nicht genug, um zu bemerken, daß das, was er von mir forderte, unmöglich war. In vier Monaten, also Anfang 1995, werde ich nicht mehr das SWAN-Girl sein. Der Aufsichtsrat hat sich in der Tat schon entschieden, wer an meine Stelle treten wird. Allerdings gibt es da ein kleines Problem: sie ist nicht die Verlobte des Anrufers.
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TEIL 2 IN DER ENGEREN WAHL, 19921994
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London, 1992 Telefon!« rief jemand von oben. »Angie, es ist für dich.« »Wahrscheinlich will die Vogue, daß du ihr nächstes Cover schmückst«, tönte die sarkastische Stimme von Patrick, Angies Bruder, aus seinem Zimmer. »Halt die Klappe!« rief Angie, als sie die Treppen zum einzigen Telefon im Haus der Doyles hinunterlief, das stolz seinen Platz auf dem Tisch in der Diele einnahm. Das Unangenehme daran war, daß jedermann mithören konnte. Ein kurzer Seitenblick genügte, um festzustellen, daß sich alle Geschwister Angies mit gespitzten Ohren an der Treppe eingefunden hatten, noch bevor sie überhaupt ›Hallo‹ gesagt hatte. »Hallo?« fragte sie zögernd. Sie hatte alle führenden ModelAgenturen Lo ndons angeschrieben. Vielleicht rief eine zurück, um sie zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. »Hallo, Angie, hier ist Kevin. Ich wollte dich fragen, ob du morgen abend zusammen mit uns zu Chris Isaak ins Hammersmith Apollo gehst. Man sagt, daß er wirklich großartig sein soll.« Die Enttäuschung, daß es nur Kevin war, nahm ihr fast den Atem. Kevin O'Connor. Ein netter Junge. Ein Ire aus Liverpool. Ein Elektrikerlehrling, der im Norden keine Arbeit gefunden hatte und deshalb nach London runtergekommen war. Er hatte sie vor zwei Wochen in einem Pub angesprochen, als sie mit ihren Freundinnen unterwegs gewesen war. Und er hatte sie alle ziemlich beeindruckt. Aber Chris Isaak? Viel zu eingebildet und schon gar nicht ihr Musikgeschmack. Kevin wurde langsam zie mlich zudringlich. Außerdem hatte sie momentan ganz andere Dinge im Kopf. -43-
»Sorry, Kev. Chris Isaak ist nichts für mich. Er ist mir einfach zu schmalzig. Frag doch jemand anders, ob er mitkommen will.« »Schmalzig? Was soll denn das heißen?« »Siehst du, wir sprechen einfach nicht dieselbe Sprache.« Armer Kevin. Sie brachte ihn immer ganz durcheinander, aber was sollte sie tun? »Also nicht die Vogue«, spottete Patrick. »Vielleicht Cosmo?« Die elfjährige Kathleen lag auf dem Bauch und starrte Angie durch das Treppengeländer an. »Wer ist Cosmo?« fragte der siebenjährige Michael. »Das verstehst du sowieso nicht«, gab ihm Jeannie zur Antwort. Mit ihren neun Jahren war sie ein ganzes Stück größer als der kleine Michael. »Warum suchst du dir nicht einen eigenen Agenten?« Patrick lehnte an der Tür seines Zimmers und versuchte, noch cooler als cool auszusehen. Mit seinen fast sechzehn Jahren schien er die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben und versuchte, ihr bei jeder Gelegenheit zu widersprechen, aber Angie wußte, daß das hauptsächlich daran lag, daß er jünger war als sie. Er dachte, es wäre seine Pflicht, sich um die Familie zu kümmern, und nicht die ihre. Schließlich war er ja ein Mann. Nun ja, beinahe jedenfalls. Als ihre Mutter vor vier Jahren zu Hause ausgezogen war, hatte Angie automatisch ihre Rolle übernommen und kümmerte sich seitdem um ihre Geschwister. Ihr Vater war damals über Nacht glatt zehn Jahre gealtert. »Was ist denn ein Agent?« Michael kickte seinen Fußball die Treppe hinunter und klatschte vor Freude in die Hände, als der Ball das Bild der Heiligen Jungfrau Maria von der Wand holte. »Michael!« riefen alle empört. Der Kleine sorgte tagein, tagaus für Verwüstungen im ganzen Haus. Angie konnte gut nachvollziehen, warum. Er war ein recht kräftiger Junge, und es -44-
mußte fürchterlich für ihn sein, in diesem engen Haus mit den zwei kleinen Zimmerchen oben und unten zu leben, in dem die Mädchen in dem einen und die Jungen in dem anderen schliefen, während der Vater versuchte, zwischen seinen Arbeitsschichten unten auf dem Wohnzimmersofa so viel Schlaf wie möglich zu bekommen. Es gab Augenblicke, in denen Angie verstehen konnte, warum ihre Mutter die Nase voll gehabt hatte und gegangen war. Angie haßte es, ihr Zimmer mit Jeannie und Kathleen teilen zu müssen, und sie haßte es, wie die beiden sie jedesmal, wenn sie sich vor einer ihrer seltenen Verabredungen zurechtmachte, ganz genau beobachteten und ihre dummen Kommentare abgaben: »So etwas kannst du doch nicht anziehen. Das hast du ja schon seit einer Million Jahre. Das kennt er doch schon längst. Er wird dich nie heiraten, wenn er dich darin sieht.« Die beiden wollten sie schnellstmöglich verheiraten. »Er wird denken, daß du nichts anderes zum Anziehen hast.« Sie hatte wirklich nichts anderes. »Wenn Mutter dic h so sieht, wird sie dich nie ausgehen lassen. Das wirst du doch begreifen. Wart's ab!« Die Erkenntnis, daß ihre Mutter nicht mehr da war, folgte dann ebenso zwangsläufig wie die Tränen, die Angie sich jedesmal wieder wegwischen mußte. Kein Wunder, daß ihr nie mehr als eine halbe Minute Zeit zum Schminken blieb. »Was ist ein Agent?« fragte Michael abermals. »Und warum hast du keinen, Angie?« Michael liebte es, seinen großen Bruder bei jeder Gelegenheit nachzuahmen. Patrick hatte recht, dachte Angie, als sie in die Küche ging, um Tee zu kochen. Sie aßen jeden Tag pünktlich um halb sieben, und wenn sie Glück hatten, kam der Vater gerade noch rechtzeitig nach Hause, um mit dabeizusein. Angie spürte, daß die Kinder glücklicher waren, wenn er daheim war, obwohl sie versuchten, sie das nicht merken zu lassen. -45-
Zwei Monate war es her, daß sie an alle Agenturen zwei Schnappschüsse von sich geschickt hatte. Ein Bild war eine Porträtaufnahme, das andere zeigte sie in voller Größe. Aber noch immer war keine Antwort gekommen. Mit diesen beiden Schnappschüssen hatte alles angefangen. Ihr Vater hatte sie aufgenommen, als die ganze Familie einen Tag lang an die Küste gefahren war. Vielleicht hatte es nur am Licht gelegen, vielleicht sah sie aber auch tatsächlich viel besser aus, als sie es sich je erträumt hätte. Als sie die Abzüge betrachtete, konnte sie jedenfalls kaum glauben, daß wirklich sie das Mädchen auf dem Foto war. Auch ihre Geschwister waren überrascht und hänselten sie. »Du glaubst wohl, du könntest Model oder so was werden!« Schließlich begann sie sich beim Betrachten der Bilder zu fragen, ob sie nicht tatsächlich… Ihre Geschwister wußten natürlich nichts davon, daß es ihr Wunsch, ihr heimlicher Traum war, einmal Model zu werden. Außerdem hatte sie irgendwo gelesen, daß es gar nicht so wichtig war, wie man in Wirklichkeit aussah, sondern daß alles, was zählte, war, wie man fotografiert wurde. Eines Abends, nachdem sie es endlich geschafft hatte, die Kinder ins Bett zu bringen, hatte ihr Vater ihr mit seiner leisen, resignierten Stimme ein kleines Geheimnis verraten. »Deine Mutter hat auch einmal Model werden wollen. Als wir uns kennenlernten, war sie gerade von einer Agentur unter Vertrag genommen worden.« »Vater, du nimmst mich auf den Arm! Ich weiß zwar, daß sie schön gewesen ist, aber… Was ist dann geschehen?« »Sie hat mich geheiratet.« »Ja, und?« »Sie wurde schwanger.« Plötzlich wurde Angie klar, worüber er sprach. »Mit mir?« »Und nach dir mit Patrick. Danach hatte sie ihre Figur verloren. Aber auf diesen Fotos, mein Mädchen, siehst du -46-
wirklich sehr gut aus. Damit kann man sehr viel Geld verdienen. Ihr seid so viele Kinder. Verstehst du, was ich meine?« Nach diesem Gespräch wußte Angie, was sie zu tun hatte. Nur - was, wenn die Agenturen sich nicht meldeten? Dann würde sie eben persönlich hingehen müssen. Wenn man sie erst einmal sah, war die Sache gewiß gelaufen. Sie hatte von dieser Agentur namens Etoile mit Sitz am Convent Garden gehört, bei der sich angeblich jeder bewerben konnte. Jeden Vormittag zwischen zehn und zwölf Uhr konnte man vorbeischauen. Wenn man ihnen gefiel, wurden Probeaufnahmen gemacht, und wenn sie damit zufrieden waren, nahmen sie einen unter Vertrag. Jeannie und Kathleen schöpften sofort Verdacht, als Angie beim morgendlichen Klingeln des Weckers nicht sofort aus dem Bett sprang. Sie hatte eigentlich warten wollen, bis die beiden aus dem Zimmer waren, um sich in aller Rune anzuziehen und zurechtzumachen. Aber diesen Gefallen taten sie ihr nicht. »Warum bist du nicht unten und machst Frühstück? Du wirst noch zu spät zur Schule kommen.« Um die beiden loszuwerden, erzählte sie ihnen schließlich, wohin sie heute gehen wollte. »Unsere Angie wird heute ein Model«, hörte sie Jeannie allen Nachbarn erzählen, als Patrick das Haus verließ, um zur Schule zu gehen. »Patrick, tu mir einen Gefallen!« rief Angie ihm hinterher. »Sag in der Schule, daß ich Grippe habe. Sommer-Grippe. Eine ganz schlimme!« »Steck ja nicht Kate Moss an, wenn du heute mit ihr zusammenarbeitest«, rief er zurück. »Werd' ich schon nicht«, antwortete sie. Alle redeten momentan vom Grunge-Look, und Angie hatte bereits versucht, ihn an sich selbst auszuprobieren, wann immer -47-
sie im Badezimmer für einige Momente allein war. Ihr persönlicher Grunge-Look bestand aus einem langen Baumwollkleid, das mit marineblauen und weißen Blumenmustern bedruckt war, einem Paar Baseballstiefel, einer umgekehrt getragenen Baseballmütze und einer altmodischen runden Sonnenbrille mit blauen Gläsern und Metallrahmen. Schließlich hängte sie sich ein großes silbernes Kruzifix um den Hals, das einmal ihrer Großmutter gehört hatte. Einen Moment lang hatte sie ein schlechtes Gewissen, da sie es nicht trug, weil sie katholisch war, sondern es nur als ein Modeaccessoire benutzte. Die Stiefel gehörten Patrick, aber sie würde wieder daheim sein, ehe er ihr Fehlen bemerken konnte. Das sanft herabfließende Blumenkleid hatte die Knöpfe auf der Vorderseite. In ihrer Eile bemerkte Angie nicht, daß sie alle Knöpfe falsch geschlossen hatte, so daß eine Seite ihres Kleides tiefer hing als die andere und ihr linkes Bein unbedeckt war. Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die sich ständig im Spiegel betrachteten. Normalerweise hatte sie dafür keine Zeit. Daß ihr Kleid die derzeit richtige modische Länge hatte, lag vor allem daran, daß es früher ihrer Mutter gehört hatte, die recht groß gewesen war. Angie hingegen hatte eher das Aussehen und die Größe ihres Vaters geerbt. Sie war nur 1,58 Meter groß, und ihre Beine waren so stämmig, daß Patrick sie immer DonnerSchenkel nannte, bis ihr Vater es ihm nachdrücklich verboten hatte. (Überflüssig zu erwähnen, daß Michael die Stichelei aufgeschnappt hatte und wenn er von der Schule zurückkam oft lauthals rief: »Donner-Schenkel, Donner-Schenkel, was gibt's heute zum Tee?«) Sie hatte flache Brüste, dafür war ihr süßes rundes Gesicht mit den großen mitternachtsblauen Augen und den gleichen langen, schwarzen Wimpern, wie sie auch ihr Vater hatte, um so schöner. Die Baseballmütze saß schräg über ihren dunklen Locken, die Stiefel waren zu groß, das Kleid hing schief, und die Sonnenbrille verbarg den schönsten Teil ihres Gesichtes - dieses -48-
Bild gab Angie ab, als sie die Etoile-Agentur betrat, fest entschlossen, ihrer Familie künftig ein wenig mehr Glück zu bescheren. Niemand sah auf. Angie gegenüber standen ein paar Mädchen, die versuchten, betont lässig zu wirken. »Bist du auch zum Open Casting hier?« fragte sie eine von ihnen. »Ja.« »Wie läuft das ab?« »Du gehst zur Empfangsdame, die stellt dich der Frau dort drüben vor. Sie ist verantwortlich für die New Faces. Wir gehören zusammen. Drei von uns kommen aus Croydon.« »Oh«, sagte Angie. »Ich bin ganz allein hier. Ich schätze, ich werde wohl noch etwas warten müssen.« Sie sah sich um. An einem großen runden Tisch telefonierten mehrere Leute hektisch und krit zelten Notizen in Schnellhefter, die sie aus einem Drehständer fischten. Bei genauerem Hinsehen stellte Angie fest, daß die Schnellhefter außen mit Mädchennamen beschriftet waren. Suzy Q. Amanda. Meghan. Claudia Schiffer… Claudia Schiffer! Angie gab einen überraschten Laut von sich. Einige der Leute sahen sich zu ihr um, schauten aber gleich wieder weg. Während sie ihnen weiter zusah und zuhörte, dämmerte ihr allmählich, was hier geschah. Die Frauen an dem runden Tisch handelten Aufträge aus, denn ihre Gespräche endeten meist damit, daß sie Termine und Preise festlegten: 350 Pfund plus zwanzig Prozent, 750 Pfund plus zwanzig Prozent, 2500 Pfund plus ein Erste-Klasse-Ticket - das waren einige der Zahlen, die sie heraushörte. Hinter ihr stand eine Tafel, die mit ›Castings‹ überschrieben war. Erstaunt las Angie, was darunter notiert war:
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11-12 Uhr Women's Journal Gary Marlow's Studio, King's Road Klassisches Aussehen. Können Sie ein Pferd reiten? 15-16 Uhr Casting in der Agentur für ein Reisemagazin. Zwei Wochen Aufnahmen in Botswana. Mädchen, das gut mit Tieren umgehen kann, besonders mit Schlangen und Affen. 16-17 Uhr Vogue Promotions. Anspruchsvoll und klassisch. Angie stand einfach nur da und sog das Tohuwabohu, das rings um sie herrschte, regelrecht in sich auf. »Hör mal, Herzchen, er prüft immer noch deine Mappe. Kein Ende abzusehen. Besser, du gehst einfach hin und triffst dich mit ihm. Vielleicht macht er ja ein paar hübsche Fotos von dir. Ja, ich bin mir ganz sicher, du bist nämlich genau sein Typ. Du brauchst ihn, um deine Mappe aufzubessern. Er hat Tia Maria und Imán gemacht. Er ist mindestens so gut wie Bailey.« »Sie wollen, daß sie für ein Fünf- Tage-Casting nach Mailand kommt, aber ich weiß genau, daß sie das nicht tun wird.« »Es ist nur für einen Tag. Du fliegst erster Klasse, bekommst fünfzehntausend Dollar und führst Ivana Trump ein paar Kleider vor.« »Das hier ist genau richtig für dich. Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch. Es dauert von elf bis zwölf, und sie brauchen jemand, der reiten kann. Machst du eigentlich auch noch irgend etwas anderes außer Reiten, Amanda? Hier hast du die Adresse.« Angie blickte sich um. Amanda, wer immer sie auch war, wurde aufgefordert, sich um einen Fototermin zu bewerben. Jetzt begriff Angie endlich. Dort an der Tafel standen die Termine für die Bewerbungen. Ob jedermann dorthin gehen -50-
konnte? Wahrscheinlich war es besser, wenn sie erst einmal abwartete, bis die Agentur sie unter Vertrag nahm. Außerdem konnte sie überhaupt nicht reiten. Ob alle Models reiten können mußten? Je länger Angie wartete, desto faszinierter war sie. Eine schier unglaubliche Energie lag in der Luft, nicht zu vergessen der allgegenwärtige Glamour. Eine gesamte Wandfläche wurde von den Stapeln mit Schnellheftern verhüllt, in denen sich die Setkarten der Mädchen befanden: endlos viele Schwarzweißfotos und Fotokopien von unglaublich aufregenden Schönheiten. Jedes Mädchen, das hereinkam, war entweder groß und langbeinig und sah aus, als wäre es soeben einer Modezeitschrift entstiegen; oder es kamen unwahrscheinlich cool aussehende Typen, die Angie für Fotografen oder männliche Models hielt. Sogar die Motorradboten, die Pakete hereinbrachten, trugen Lederkleidung, die zum derzeit angesagten Look paßten. Sobald jemand die Musik lauter stellte, drehte ein anderer sie wieder leiser; wenn jemand die Fenster öffnete, schloß sie gleich darauf ein anderer; und wenn jemand eine große Kanne Tee machte, blieb sie unangetastet auf einem Stuhl stehen. Und pausenlos riefen sich die Leute gegenseitig Nachrichten zu, ohne sich zu vergewissern, ob sie überhaupt jemand hörte. Für Angie stand sofort fest, daß sie Teil dieser verrückten Welt werden wollte. Die anderen Mädchen, die zum Open Casting gekommen waren, verließen das Büro, kicherten und stupsten sich verschmitzt an. Angie fragte die Empfangsdame, wer für die Neulinge zuständig sei, und wurde an Sarah verwiesen. Bei genauerem Hinsehen war Sarah alles andere als eine Schönheit. Obwohl sie saß, konnte Angie sehen, wie klein und mollig sie war. Sie schaute kurz zu Angie hoch und lächelte unbestimmt, bevor sie mit ihren Telefonaten weitermachte. Ihr Gesicht war offen und freundlich, aber nicht besonders hübsch. »Entschuldigen Sie«, sagte Angie, »man sagte mir, Sie sind -51-
hier für New Faces zuständig?« »Ja«, antwortete Sarah, ohne aufzuschauen. »Hier sind ein paar Fotos von mir. Vor einigen Monaten habe ich sie an die Agentur geschickt, vielleicht könnten Sie…?« Sarah sah kurz darauf und fixierte Angie dann einige Sekunden lang. Anschließend seufzte sie und reichte ihr ein Blatt Papier. »Hier, das ist eine Liste aller Model-Agenturen in London.« »Nein, Sie verstehen mich falsch«, beharrte Angie. »Ich habe mich bereits schriftlich bei Ihnen beworben, aber ich dachte, es wäre besser, wenn ich einmal persönlich vorbeischaue. Gefalle ich Ihnen denn nicht?« »Ich fürchte, nein«, konstatierte Sarah. »Sie sind nicht gerade unser Typ.« »Nun gut, dann versuche ich es eben noch mal woanders«, sagte Angie freundlich. »Welche würden Sie mir empfehlen?« »Wollen Sie die Wahrheit hören?« fragte Sarah. Angie nickte. »Keine. Ich glaube, es ist am besten, wenn ich es Ihnen offen heraus sage. Sie werden nie Model werden. Für die Arbeit auf dem Laufsteg müssen Sie mindestens 1,73 Meter groß sein. Und für die Modemagazine haben Sie die falsche Figur. Sie sind zwei Nummern zu dick, und ihre Beine sehen zu kurz und kräftig aus. Diese Fotos sind wirklich sehr süß, aber sie zeigen kein Model. Es ist besser, wenn Sie gleich die Wahrheit hören, ehe Sie sich ewig vergeblich weiter bewerben. Sie haben ein wirklich hübsches Gesicht, aber für diesen Job sind Sie einfach ungeeignet. So sieht es aus.« Sarah sprach sehr sanft und mit einem gütigen Lächeln. Angie spürte, wie ihr Tränen der Enttäuschung in die Augen stiegen. Wie hatte sie nur so naiv sein können? Sie fragte, wo die Damentoilette sei, weil sie sich ein wenig zurückziehen wollte, -52-
aber als sie sich im Spiegel betrachtete, wurde alles nur noch schlimmer. Da war ihr falschgeknöpftes, hochgerutschtes Kleid, das ihre kurzen Stummelbeinchen zeigte, und ihre blöde Mütze, die alle Locken plattdrückte. Was mußten die wohl von ihr gedacht haben? Sie stöhnte auf, als sie begriff, wie unmöglich sie unter all diesen schönen Menschen ausgesehen hatte. Als sie jedoch nochmals darüber nachdachte, erinnerte sie sich, daß ja auch Sarah nicht im eigentlichen Sinn schön war. Sie war ganz normal und recht nett anzusehen, fast so wie auch Angie, einmal abgesehen von dieser lächerlichen Kostümierung. Du hast einen Clown aus dir gemacht, Angie Doyle, dachte sie, aber du gibst dich noch nicht geschlagen. Sie wusch sich das Gesicht und kehrte zu Sarah zurück. »Okay, Sarah, ich bin vielleicht kein Model, aber dafür koche ich einen fantastischen Tee. Und ich kann den Boden wischen. Ich gehe ans Telefon und kann Nachrichten weitergeben. Ich kann Sandwiches kaufen gehen. Ich kann alles machen, was Sie wollen. Ich bin zwar nicht fotogen, aber ich bin klug und guten Willens. Bitte geben Sie mir einen Job.« Leise fügte sie hinzu: »Ich habe vier Geschwister, und ich muß meinem Vater helfen, sie großzuziehen. Er braucht mich.« »Wie alt bist du, Angie?« »Sechzehn. Nächsten Monat werde ich siebzehn.« »In Ordnung, dann melde dich wieder, wenn du mit der Schule fertig bist.« Aber Sarah hatte nicht mit der Entschlossenheit einer Doyle gerechnet. Angie ging ohne Abschluß von der Schule ab und tauchte in den darauffolgenden Wochen täglich bei Etoile auf. »Ich werde Ihnen schon beweisen, wer ich bin und was ich kann«, sagte sie zu Sarah. »Ich weiß, es gibt zur Zeit keinen freien Job hier, aber ich habe meinen dicken, fetten NichtModel-Fuß in der Tür, und dort wird er so lange bleiben, bis es einen Job gibt. Ich werde unbezahlt für Sie arbeiten und jeden -53-
Morgen hier sein, ob Sie es wollen oder nicht.« Und genau das tat sie fünf Wochen lang. Sie kochte Unmengen von Tee und Kaffee und sorgte dafür, daß die Leute auch die Zeit hatten, ihn zu trinken. Wo immer es ging, machte sie Erledigungen für die Leute, heftete sich an jedermanns Fersen, beobachtete alles, was um sie herum geschah, und lernte die ganze Zeit über. An einem Mittag war es dann soweit. Das Büro war verlassen. Das war zwar so gut wie nie der Fall, aber die Hälfte der Booker an dem runden Tisch war gerade in der Pause, und die anderen vier waren entweder Zigaretten holen, Tee trinken, auf dem Klo oder sonstwo. Als das Telefon klingelte, war Angie jedenfalls allein. Am anderen Ende der Leitung war ein Londoner Topfotograf, der jammerte, Marianne würde ihn schier zur Weißglut treiben. Marianne brachte der Agentur mit am meisten Geld, sie war ein beeindruckendes, 1,82 Meter großes Mädchen mit peroxidblondem Haar und eisblauen Augen. Sie hatte immer Arbeit, aber ihre psychische Belastbarkeit entsprach der einer Neunjährigen. Und ihr Liebesleben war ein einziges Drunter und Drüber. Je nachdem, was sie in der Nacht zuvor mit Roger, Mark, Gavin, Simon oder sonstwem erlebt hatte, war die Arbeit mit ihr entweder ein Traum oder aber ein Alptraum. Offenbar hatte sie an diesem Morgen wie ein nasser Lappen vor der Kamera gestanden und die ganze Zeit geklagt, daß sie nicht arbeiten könne, bevor Roger sie nicht anrufen und ihr versichern würde, daß er sie liebt. »Hör mal, Darling, entweder bringst du sie zur Vernunft«, sagte der Fotograf zu Angie, »oder ich engagiere ein anderes Model. Bei Tempest gab es ein Mädchen, das wir beinahe gebucht hätten, und wenn Marianne heute ihre Arbeit nicht schafft, dann war's das. Dann werde ich nie wieder mit ihr zusammenarbeiten.« »Gib sie mir«, sagte Angie und versuchte, ihre zitternden -54-
Hände zur Ruhe zu bringen. Tempest war Etoiles größter Konkurrent. Angie überflog Mariannes Auftrag und sah, daß ein Tausender den Bach runtergehen würde, wenn sie den Job verlor. »Hallo, Marianne, hier ist Angie, was ist los?« Angie versuchte, so zu klingen, als würde sie schon seit Jahren bei Etoile arbeiten. »Roger hat sich nicht bei mir gemeldet. Wir sind in diesem Club gewesen, und er hat dort mit diesem anderen Mädchen getanzt. Und ich dachte: ›Was ist denn das für ein Spielchen?‹ Ich meine, ich weiß, daß da nichts zwischen ihnen gelaufen ist, schließlich war sie mit ihrem Typen da. Aber als ich gefragt habe, warum er mit ihr tanzt, hat er geantwortet: ›Wir sind ja nicht verheiratet, lass' mich in Ruhe. Ich tanze, mit wem ich will!‹ Ich also raus aus dem Laden, völlig sauer, und seitdem hab' ich nichts von ihm gehört.« »Hast du denn mal versucht, bei ihm anzurufen?« »Nee, ich hab' mich nicht getraut.« »Gib mir mal seine Nummer, Marianne. Ich werde bei ihm durchklingeln und so tun, als wollte ich dich erreichen. Mal sehen, wie er reagiert. Ich rufe dich dann zurück und geb' dir Bescheid.« Roger benahm sich ziemlich dämlich. Angie kannte diese Art von Streitereien nur zu gut - ob zwischen ihren Brüdern und Schwestern oder ihren Freunden, schuld daran war immer ein Mißverständnis, das sich irgendwie verselbständigt hatte. Im Grunde wollten sich beide wieder in den Armen halten und küssen, aber keiner traute sich, den ersten Schritt zu tun. »Sobald ich sie gefunden habe, Roger, werde ich dafür sorgen, daß sie dich anruft«, erzählte Angie ihm. Danach rief sie wieder Marianne in dem Studio an. Die Fotos von Marianne in Elle wurden einfach fantastisch. Als der Fotograf das nächste Mal mit den Bookern telefonierte, -55-
bemerkte er: »Euer neues Girl ist wirklich spitze. Bei Marianne hat sie wahre Wunder bewirkt. Ihr solltet zusehen, daß ihr sie behaltet.« Welches neue Girl? fragten sich alle. Angie hatte es geschafft. Als Sarah zwei Monate später zu Tempest wechselte, waren sich alle einig, daß Angie genau die Richtige war, um die Neulinge zu betreue n. Angie wurde Bookerin.
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London, 1993 Tess Tucker hatte rote Haare wie ihr Vater. Sie hatte auch seine grünen Augen, aber keiner von beiden hatte das aufbrausende Temperament, das man normalerweise mit Rothaarigen in Verbindung bringt. Terry Tucker und seine Tochter waren hilfsbereite, einfache Leute, die Tess' Mutter Annie manchmal fast zur Verzweiflung trieben, weil sie immer soviel für andere taten und nicht genug an sich selbst dachten. Terry Tucker hatte einen Kiosk an der Ecke Earls Court Road und Old Brompton Road. Genau gegenüber hatte vor ihrer Heirat auch Prinzessin Diana gewohnt und bei den Tuckers öfter Zeitungen und Magazine gekauft. Terry war sehr stolz auf seinen Kiosk. Er hatte siebentausend Pfund gekostet und war von der Herald Tribune erbaut worden, deren Schriftzug rund ums Dach zu lesen war. Das bedeutete 365 Tage im Jahr kostenlose Werbung für die Zeitung. Der Kiosk war zwar erst ein Jahr alt, aber dieser Standort war seit fast hundert Jahren von der Familie Tucker besetzt und wurde immer vom Vater auf den Sohn vererbt. Allerdings hatte Terry keinen Sohn, dem er den Stand hätte übergeben können, er hatte lediglich eine Tochter: Tess. Und er hatte Probleme. Ihm gehörte zwar der Stand, aber ihm gehörte nicht der Grund und Boden, auf dem dieser sich befand. Keiner wußte, wem das Gelände gehörte. Hinter dem Kiosk befand sich ein Pub, dessen Besitzer kürzlich gewechselt hatte. Die neuen Wirtsleute wollten keinen Zeitungsstand vor ihrem Eingangsbereich, aber ihnen gehörte der Bürgersteig genausowenig wie Terry. Er verließ sich darauf, daß sie keinerlei Recht hätten, ihn von dort zu vertreiben, und bis die Sache nicht vor Gericht geklärt war, würde er das Feld nie und nimmer freiwillig räumen. Tess half ihrem Vater nach der -57-
Schule und an den Woche nenden. Sie liebte den Kiosk. Mit Süßigkeiten und wahren Massen an Magazinen machte sie ihren Hauptumsatz. Terry hatte seine Stammkunden, die bei ihm auf dem Weg zur U-Bahn-Station Earls Court ihre Morgenzeitung kauften, und er hatte seine Mittags- und Nachmittagskunden, die ebenfalls immer ihren Standard kauften. Annie machte es wütend, daß Terry morgens eine zusätzliche Auslieferungsrunde machte, ohne dafür extra bezahlt zu werden. »Es sind noch nicht mal alte Leute, denen du die Zeitungen bringst«, schimpfte Annie. »Die könnten doch leicht selbst kommen und sie holen. Es ist einfach nicht in Ordnung, so jungen Strolchen die Zeitungen zu bringen, und dann auch noch solche Revolverblätter und Schundmagazine. Die Alten kommen selbst zu dir, um sich ihre Sun oder ihren Mirror zu holen…« »Aber natürlich, die sind ja auch einsam und schätzen einen kleinen Plausch mit Vater«, stellte Tess klar. »Es ist wahrscheinlich das einzige Vergnügen, das sie am Tag haben, diese armen alten Leutchen.« »Und dich sehen sie auc h gerne.« Ihr Vater lächelte. Er konnte einfach nicht aufhören, sich darüber zu freuen, was für eine liebliche Tochter er hatte. Dickes rotes Haar und die blasseste weiße Haut, die er je gesehen hatte. Und diese grünen Katzenaugen waren unglaublich durchdringend, sie funkelten jedermann an. Oft dachte er, daß Tess härter aussah, als sie in Wirklichkeit war. Terry wußte, daß sie so schüchtern und sensibel war wie er selbst. O ja, er scherzte und plauderte schon gerne mit seinen Stammkunden, aber das war nur eine Fassade, die er sich zum Wohl des Geschäftes zugelegt hatte. »Du solltest auf den Titelblättern dieser Magazine sein«, sagten die Leute zu Tess und zeigten auf Cindy Crawford auf der American Vogue oder auf Claudia Schiffer auf der Vanity -58-
Fair hinter ihr. »Genau das erzähle ich ihr auch immer«, bestätigte ihr Vater, aber er wußte, daß Tess viel zu schüchtern und still war, um Model zu werden. Vielleicht war es ein heimlicher Traum von ihr, aber sie würde niemals ernsthaft versuchen, ihn in die Wirklichkeit umzusetzen. Wie sich herausstellte, kannte er seine Tochter doch nicht so gut, wie er geglaubt hatte. Schon solange Tess zurückdenken konnte, hatte ihre Mutter immer im Rollstuhl gesessen. Tess war gerade erst vier gewesen, als Annie einen Schlaganfa ll erlitt und fortan von der Hüfte abwärts gelähmt war. Als Folge davon konnte sie keine Kinder mehr bekommen. Tess wuchs also als Einzelkind auf und mußte schon in frühen Jahren einen großen Teil der Hausarbeit übernehmen. Als sie alt genug war, half sie ihrem Vater nach der Schule auch am Kiosk. Sie hatte wenige Freunde, und Annie hatte stets das Gefühl, daß diese wenigen ihre Tochter ausnutzten. Sie machte sich Sorgen um sie und fragte sich ängstlich, ob Tess wohl in der Welt bestehen könne. Trotz ihrer manchmal atemberaubenden Blicke war das Mädchen unsicher und leicht zu verletzen. Sie empfand es als merkwürdig, daß sich Tess ihrer Schönheit überhaupt nicht bewußt war. Aber damit lag Annie falsch. Seit einiger Zeit betrachtete sich Tess immer häufiger im Spiegel. Dabei verglich sie ihr Gesicht mit denen der Cover-Girls. Auch die Bemerkungen der Stammkunden waren nicht ungehört geblieben. Und dann sah sie in Smash Hits eine Anzeige für die ›Girl-of-the-Year‹-Wahl. Man sollte Bilder von sich einschicken, aber sie besaß keines. So notierte sie sich die Anschrift der Agentur, die den Wettbewerb sponserte. Sie wollte dorthin gehen und alles andere einfach auf sich zukommen lassen, denn sie wußte, daß es möglich war, mit Modelling schnell viel Geld zu verdienen. Die Zeit, die sie im Kiosk verbrachte, nutzte sie, um alle Zeitschriften und Magazine durchzulesen. In den Schulferien, -59-
als sie ihrem Vater jeden Tag half, las sie einen Artikel über einen neuen elektrischen Rollstuhl, der auf den Markt gekommen war und der das Leben ihrer Mutter total verändern und erleichtern würde. Aber Terry Tucker würde niemals das nötige Geld haben, um ihn zu kaufen. Als Tess am ersten Tag ihrer Sommerferien zur Agentur ging, ahnte sie nicht, daß einer der Booker, der gerade telefonierte und dabei aus dem Fenster schaute, sein Gespräch sofort unterbrach und lauthals rief: »Angie, da kommt gerade eine Einsachtzigerin die Straße runter. Ein Rotschopf, das schönste Mädchen, das ich seit Monaten gesehen habe. Geh raus und schnapp sie dir, bevor sie verschwunden ist! Wenn die vor der Kamera nicht ein wahrer Traum ist, schmeiß' ich meinen Job noch vor dem Mittagessen hin.« Tess kam herein und wollte sich gerade umständlich dafür entschuldigen, daß sie keine Bilder von sich dabeihatte, als sie sich vollkommen überrumpelt in den Fängen einer schönen, etwas übergewichtigen Frau mit Unmengen schwarzer Locken wiederfand, die sie mit der einen Hand festhielt, während sie mit der anderen bereits eine Nummer wählte. »Harry? Könntest du ein paar Fotos machen? Am besten sofort. Kann ich sie dir gleich rüberschicken? Du wirst es bestimmt nicht bereuen. Okay, prima. In 'ner halben Stunde ist sie bei dir. Ihr Name ist… eh, warte mal, ich muß gerade mal nachfragen… Harry, bist du noch dran? Sie heißt Tess, Tess Tucker.«
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Miami, 1993 Gigi Garcia kam schon kaugummikauend auf die Welt. Zumindest behauptete das ihre Mutter Elena, obwohl sie bei Gigis Geburt gar nicht dabeigewesen war. Aber was wußte Elena schon groß? Sie war nur eine ›vieja chocha ‹, eine einfältige alte Dame, die kein Wort Englisch sprach. Nur zu gerne hätte Gigi allen entgegengeschrien, daß Elena nicht ihre leibliche Mutter war, aber jedesmal, wenn sie ihr damit drohte, biß sich Elena auf ihre eingeschrumpelten Lippen und warnte sie: »Mach nur! Mach, was du willst. Spuck doch auf den Menschen, der dir ein Zuhause gab. Sag allen die Wahrheit, und sie werden dich abschieben, wie sie es auch schon mit deiner Mutter getan haben.« Das Problem daran war - die alte Hexe hatte recht. Gigi war eine illegale Einwanderin. Ihre Eltern waren sogenannte ›Marielitos‹ gewesen, Bootsflüchtlinge, die 1980 von dem winzigen Hafen Mariel auf Kuba in Richtung Amerika flüchteten. Diese Emigranten hatten nicht mehr zu Kubas Mittelschicht gehört wie diejenigen, die schon bei Castros Machtergreifung geflüchtet waren und sich seitdem durch harte Arbeit zu angesehenen Bürgern Miamis emporgearbeitet hatten, sondern die Marielitos kamen aus Kubas Unterschicht, waren arm und ungebildet, und viele von ihnen, darunter auch Gigis Vater, waren darüber hinaus noch gerade aus dem Gefängnis entlassene Kriminelle. Ihr Vater hatte es nie bis Miami geschafft, besser gesagt: er hatte seinen Fuß nie auf amerikanischen Boden gesetzt. Kurz vor der Küste Floridas war er über Bord gefallen und von einer Portugiesischen Galeere angegriffen worden. Er wurde unter Wasser gedrückt und ertrank, weil er nicht schwimmen konnte. -61-
»Willst du mir etwa erzählen, mein Vater ist von einer Scheißqualle gestochen worden?« Gigi wollte es einfach nicht wahrhaben, als Elena ihr auf die Frage »Was geschah eigentlich wirklich mit Vater?« zum erstenmal alle Einzelheiten erzählte. »Ich hätte mir vorstellen können, daß er mit einer Kugel im Kopf oder mit einem Messer im Rücken gestorben ist, irgend etwas, auf das er, verdammt noch mal, hätte stolz sein können. Irgend etwas, auf das ich stolz sein könnte.« Elena war sauer. Sie konnte zwar kein Wort Englisch, dafür aber in ihrer eigenen Sprache so wortreich fluchen, daß sogar ein Tornado stehenblieb, wenn sie loslegte. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum Gigi über den unrühmlichen Tod ihres Vaters so enttäuscht war und warum das Mädchen vor Freunden immer behauptete, ihr Vater sei ein Held gewesen. Davon wurde er doch auch nicht wieder lebendig. »Ich hab' dir nichts gesagt, weil du zu jung warst. Ich dachte, du wirst verrückt, wenn ich dir davon erzähl'«, erklärte Elena in ihrem spanischen Akzent, den Gigi so haßte. »Und meine Scheißmutter hat mich allein gelassen.« Gigi blieb bei dieser Version, obwohl Elena ihr schon mehrmals erklärt hatte, daß die Behörden sie entdeckt und ausgewiesen hatten. Nur dem festen Willen ihrer Mutter hatte es Gigi überhaupt zu verdanken, daß sie in Miami lebte - und außerdem der Tatsache, daß die Behörden nichts von der Existenz des elf Monate alten Töchterchens erfahren hatten. Die Mutter hatte das Baby an Elena Garcia weitergegeben, die mit einem Flüchtling verheiratet und deren eigenes Baby noch in Havanna bei der Geburt gestorben war. Ganz anders als die Flüchtlinge aus den fünfziger Jahren, die inzwischen wohlhabende Geschäftsleute geworden waren, blieben die Marielitos in den ärmlichen Stadtvierteln im Süden Miamis, wo sie schnell ihre alteingesessenen Landsleute terrorisierten. Ironischerweise kam Elenas Mann bei genau einer der Auseinandersetzungen ums Leben, die Gigi sich immer für -62-
den Tod ihres Vaters gewünscht hatte. Damals war sie elf Jahre alt gewesen, und seitdem hatte die Witwe Elena jegliches Interesse an ihrem eigenen Leben verloren. Das Ergebnis war, daß Gigi auf die schiefe Bahn geriet. In ihrem tiefsten Inneren war auch Gigi stolz, eine Kubanerin zu sein. Dennoch ging ihr Elena von Gigis siebtem Lebensjahr an mit ihren ›Nationalheiligen‹ Desi Arnaz und Gloria Estefan furchtbar auf die Nerven. Sie hatte die Nase voll, ausschließlich WLTV, den spanischsprachigen Fernsehsender, zu sehen, und sie hatte es satt, sich das Gequatsche über die fehlgeschlagene amerikanische Invasion in der Schweinebucht anhören zu müssen, das jedesmal so klang, als wäre es erst gestern und nicht schon fast zwanzig Jahre vor Gigis Geburt passiert. Dabei hatte das Mädchen das gleiche Temperament wie ihre Landsleute und wollte schon mit jungen Jahren für die kubanische Unabhängigkeit kämpfen. Sie war durch und durch Lateinamerikanerin und jederzeit bereit, laut und aggressiv für ihre Ansichten einzutreten, anstatt eine sachliche Diskussion darüber zu führen. Elenas resignierte Lebenseinstellung erschien ihr verdammenswert, und je älter sie wurde, desto weniger konnte sie sich im Zaum halte. Gigi fragte sic h immer wieder dasselbe: »Wie komm' ich hier nur raus? Was soll ich denn schon den ganzen lieben Tag lang tun? Rumhängen und Palmen schütteln und darauf warten, daß es Fünfzig- Dollar-Scheine regnet? Nicht mit mir, ich will Spaß!« Sie war gerade einmal sechs Jahre alt, als Bruce Weber auf den Hoteldächern von Miami die Nacktfotos für Calvin Kleins Obsession-Werbefeldzug schoß. Obwohl sie noch so jung war, merkte sie sich dieses Ereignis und speicherte es in ihrem kindlichen Gedächtnis als etwas ab, das in Zukunft noch bedeutsam werden würde. Von jenem Tag an hatte sie es nicht erwarten können, die wenigen Blocks bis hin zum Ocean Drive zu laufen, weit fort von dem heruntergekommenen Armenviertel in South Beach, wo sie sich mit Elena zwei Räume über einer -63-
Wäscherei teilen mußte. Dort, in dieser kleinen Seitenstraße, war ein Haus ans andere geklatscht, und vom Fenster aus konnte man den Drogenhandel beobachten, der sich unten im Schatten abspielte. Alles drehte sich um Geld. Gigi hatte keine Ahnung, wie sie jemals genug verdienen könnte, um ein besseres Leben zu führen. Elena hatte einen Job als Zimmermädchen im Park Central Hotel am Ocean Drive. Jedesmal, wenn Gigi ihr eine Nachricht ins Hotel brachte, kam es ihr vor, als würde sie eine Art Vorzeigepalast einer anderen Welt betreten. Elena war stets damit beschäftigt, die Zimmer zu reinigen. Und Gigi starrte immer auf die stilvolle Dekoration, die niedrigen Betten, die Mosquitonetze und das hypnotisierende Kreisen der Deckenventilatoren. Sie liebte es, in den Schränken herumzustöbern, wenn Elena gerade einmal woanders war, und bewunderte die Designerkleider der Hotelgäste. Manchmal, wenn Elena es nicht sehen konnte, probierte sie die fremden Kleider sogar und betrachtete sich von allen Seiten in den Spiegeln. Mit zwölf Jahren waren Gigi schon Brüste gewachsen, kleine, feste Melonen, die sich deutlich unter ihrem T-Shirt abzeichneten. Sie hatte cremigweiche kubanische Haut, so dunkel wie schwarzer Kaffee. Ihr Haar war ein kurzgeschorener schwarzer Lockenhelm, nur einige ihrer Locken kringelten sich vorwitzig ins Gesicht hinein. Ihr Gesichtsausdruck mutete ständig leicht schmollend an, was an der sinnlichen Fülle ihrer Unterlippe lag. Wenn sie lächelte, verwandelte sich ihr Mund blitzschnell in zwei Reihen perlweißer Zähne, und damit sah sie aus wie eine lateinamerikanische Carly Simon. Mit dreizehn war Gigi bereits eine tadellos geformte Frau. Sie hatte richtig große Brüste, eine Taille von einundfünfzig Zentimetern, lange samtene Beine und einen Hintern, der ordentlich hin und her wackelte, wenn sie sich zeigte. Jedes Wochenende ging sie runter zum Ocean Drive und -64-
demonstrierte auf dem Stück zwischen der 5th und der 1401 Street, was sie zu bieten hatte. Hier ging es wirklich ab. Die Halbstarken kurvten mit ihren Autos Stoßstange an Stoßstange im Schneckentempo umher, mit voll aufgedrehten Ghettoblastern und unter lang anhaltendem Hupen. Jungs sprangen von einem Auto zum anderen und wieder zurück. Gigi mischte sich unters Volk und versuchte, im News Café so cool wie möglich auszusehen. Aber sie konnte nicht mit den Horden von Schönheiten mithalten, die, wie es schien, aus allen Ecken der Welt eingeflogen waren. Und der unausgesprochene Satz, der allen Mackern in ihren Sportwagen ins Gesicht geschrieben stand, lautete: Warum sollten wir uns nach einer stinknormalen kleinen Kubanerin umdrehen, wenn wir hier Blondinen aus Skandinavien oder New York haben können? Anschließend zog sie sich immer auf eine Düne am Strand zurück und starrte auf den Horizont. Irgendwo dort draußen lag ihr Geburtsland Kuba, wo ihre wirkliche Mutter lebte. Gigi liebte es, wenn es regnete und stürmte und die Wellen vom Atlantik heranbrandeten und sich am Ufer brachen. Die rauhe, stürmische Schönheit des Strandes erinnerte sie an ihre eigene, lateiname rikanische Rastlosigkeit. Während einer ihrer Strand-Spaziergänge entdeckte sie einen alten Penner, der plötzlich stehenblieb, sich bückte und etwas aufhob, das wie eine Zehn-Dollar-Note aussah. Das hätte auch mir passieren können, dachte sie, aber er hatte einfach das Glück, vor mir dazusein. Es fiel ihr zunächst gar nicht auf, daß sie ihm unwillkürlich folgte, bis sie das Ende des Strandes erreicht hatten. Sie befanden sich dicht beim Century Hotel, das zwei Meilen südlich von South Beach lag und unter deutscher Leitung stand. Mit seiner postmodernen und einladenden Bauweise war das Century der letzte Schrei im Architekturdesign. Dorthin wollte der Penner garantiert nicht gehen. Er tat es auch nicht. Statt dessen verschwand er in einem alten -65-
verlassenen Gebäude, das sich gegenüber dem Century befand und früher ebenfalls einmal ein Hotel gewesen war. Nun stand es leer und sah unheimlich aus. Gigi hatte noch die Bemerkung im Ohr, daß dies der ideale Ort sei, um jemanden loszuwerden, den man ermordet hatte. Hatte der Penner hier etwa jemanden verschwinden lassen, dem er erst Drogen verkauft und dann abgeknallt hatte? Gigi wartete fünfzehn Minuten, bis ihre Neugier sie ins Innere des Gebäudes trieb. Sie entdeckte den Penner sofort. Er war eingeschlafen und lag neben einer leeren Flasche auf dem Boden. Die Zehn-Dollar-Note hielt er noch immer in der Hand. Gigi ging mit ihren zehn Zentimeter hohen Plateauschuhen neben ihm in die Hocke und versuchte, ihm den Geldschein aus der Hand zu ziehen. Sein Mund stand offen, sein Atem roch faulig, und seine Kleidung stank ekelhaft. Er war Kubaner, ein Landsmann. Sie schüttelte sich vor Ekel. Scheißfauler Bastard, dachte sie. Immer mußten die Frauen ackern, während die Männer in ihrer Nachbarschaft nie etwas zu tun zu haben schienen. In ihrer aufsteigenden Wut zog sie ihm das Geld so schnell aus der Hand, daß er aufwachte. Bevor sie wußte, wie ihr geschah, schnappte er sie am Hosenbund. »Willst du das haben?« Er hielt das Geld hoch über ihren Kopf. »Nutte!« Sein Griff war hart. Wenn sie versucht hätte zu fliehen, wäre ihre Hose zerrissen worden. »Du kannst es haben, aber du mußt etwas dafür tun.« »Gib mir erst die Kohle.« Gigis Instinkte funktionierten nach wie vor, dabei hatte sie noch nicht einmal gefragt, was sie tun sollte. Sein Griff ließ etwas nach, und sie nahm das Geld. Als sie wegzurennen versuchte, spürte sie, wie ihre Jeans rissen. Der Penner fummelte an seinem Hosenstall herum… Was sie zu tun hatte, war ekelhaft, aber es war auch sehr einfach. Er kam sofort… Und für Gigi war der Reiz, ihr erstes Geld verdient zu haben, größer als die Erniedrigung, die sie hatte hinnehmen müssen. -66-
Doch das war erst der Anfang. Von nun an hielt sie regelmäßig von ihrem Fenster aus Ausschau nach möglichen Kunden, rannte dann die Treppe hinab und bediente sie gleich unten auf der Straße. Das Geld, das sie dafür bekam, versteckte sie unter ihrem Bett. Sie nannte es ihr Streunerversteck. Nach einem Monat erhöhte sie ihren Preis auf fünfzehn Dollar, und kurz darauf machte sie die erste Erfahrung mit Gewalt, als ein Zuhälter brutal auf ihren Kopf einschlug. Sie schrie so laut, daß ein Polizist kam und ihr half. »Wie alt bist du?« war seine erste Frage. »Dreizehn«, sagte sie, ohne nachzudenken. »Wenn ich dich noch einmal erwische, stecke ich dich ins DadeCounty-Gefängnis. Verstanden? Und jetzt ab nach Hause!« Es war halb sechs Uhr morgens, und plötzlich bekam Gigi Angst vor ihrer einsamen Wohnung. Elena hatte Nachtschicht. Ohne genau zu wissen, warum, ging sie hinunter zum Ocean Drive. Neben dem Park Central Hotel stand eine endlose Reihe von Campingmobilen. Gigi schaute in eines hinein und sah zu ihrem Erstaunen, daß die Wagen mit Toilette, Videorecorder und sogar einem Sofa ausgestattet waren. In einigen war bereits ein leckeres Frühstück aufgetischt. Und drinnen im Hotel herrschte reges Treiben, auch dort wurde ein Frühstücksbüfett angeboten, das ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Leute mit Kameras auf den Schultern und einem Haufen modischer Kleidung über den Armbeugen liefen hektisch umher. Als sie nach oben ging, um Elena zu suchen, bot sich ihr ein seltsamer Anblick. Auf der Balustrade oberhalb der Lobby befanden sich Ankleideräume voller Kleiderständer und Makeup-Räume mit großen Spiegeln. Halbnackte Mädchen liefen immer wieder zu den Kleiderständern, andere hingegen starrten desinteressiert in die Spiegel, während sie zurechtgemacht wurden und man ihr Haar zu Locken drehte. Einige hatten noch -67-
verschlafene Augen, und ihr leidvolles Stöhnen war Ausdruck der immer gleichen Geschichte. »Ich war noch bis zwei Uhr im Warsaw. Ich laß mir nur noch die Locken drehen, dann sterbe ich und ruf dich aus der Hölle an.« »Ich denke, ins Warsaw kommt man nur samstags.« »Ich war mit Fred und Ginger zusammen, mit ihnen kommst du überall rein. Furchtbare Musik! Gilberto Gil oder so was. Ich brauch' jetzt erst mal 'ne Pause.« »Gib mir eine Tasse Kaffee! Wo machen wir denn heute die Aufnahmen? Irgend jemand sagte mir was von Key Biscane. Hi, süße Kleine. Wer bist du denn? Was willst du hier?« Eines der Models hatte Gigi im Spiegel gesehen. »Ich suche meine Mutter.« »Hat sie heute Aufnahmen? Ist sie Model, macht sie Make- up, ist sie Näherin oder was?« »Sie ist Zimmermädchen«, sagte Gigi. Es war ihr peinlich. »Nun, dann wird sie wohl gerade unsere Räume saubermachen, nicht wahr?« Das Model hatte ihr Interesse an Gigi verloren und drehte sich zu dem Mädchen neben ihr um: »Also… ich auf diesem riesigen Tanzparkett, verstehst du, und dieser Schlächtertyp kommt rüber, starrt mich an und fragt: ›Wer hat denn deine Oberweite ge macht?‹ Und ich frage: ›Was?‹ Und dann hab' ich's begriffen. Er dachte, ich sei ein Transi!« Gigi schlich sich durch einen der langen Korridore davon. Sie konnte Elena nirgends finden. Die Mädchen liefen in einer Art Massenexodus die Treppen hinunter, gingen durch die Lobby und stiegen in die Campingmobile. Mit einem Mal war das Hotel wie verlassen. Hoteldienerwagen mit sauberer Bettwäsche standen allein gelassen in den Gängen herum. Gigi schlüpfte durch eine offene Tür, und binnen Sekunden kehrte eine lange -68-
vergessene Versuchung in sie zurück: sie nahm schicke Klamotten aus einem Schrank und probierte sie an. »Ist das Ihr Zimmer?« Gigi stand mit dem Rücken zur Tür. Die Stimme war tief, männlich und sexy. Vielleicht verschwand er ja wieder, wenn sie sich nicht umdrehte. »Ich fragte: Ist das Ihr Zimmer? Übrigens, Sie haben die fotogenste Rückenansicht, die ich seit Jahren gesehen habe. Sie sollten einen Plastikabdruck von ihrem Hintern machen lassen und die Form zur Inspiration an plastische Chirurgen verkaufen.« Gigi drehte sich langsam um. Sie trug einen hautengen LycraMini mit ausgeschnittenem Nacken und dreiviertellangen Ärmeln. Ohne sich dessen bewußt zu werden, hatte sie sich in Pose gestellt: die Beine weit auseinander, so daß der Mini gedehnt wurde, bis es nicht weiterging, die Hände in den Hüften, den Kopf in den Nacken gelegt - so trat sie ihm arrogant entgegen. Dann erschrak sie. Sie hatte überhaupt kein Recht, hier zu sein. Vielleicht gehörte dieses Zimmer ihm, und was sie anhatte, waren die Sachen seiner Frau. Wahrscheinlich würde er jeden Augenblick den Manager rufen, und Elena würde gefeuert werden. Gigi mußte unwillkürlich an das Dade-CountyGefängnis denken. Sie fiel vor ihm auf die Knie. »Ich mache Ihnen einen besonders günstigen Preis. Zehn Dollar… Sieben fünf zig.« Er sah sie verwirrt an. Dann streckte er die Hand aus und half ihr wieder auf die Beine. »Mein Name ist Charley Lobianco. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« Heilige Scheiße, dachte Gigi. Der Kerl scheint der erste wirkliche Gentleman zu sein, den ich je getroffen habe, und ich biete ihm an, ihm einen zu blasen. Der Mann war alt, nicht zu -69-
alt, aber reif, vielleicht fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte sonnengebleichtes, schulterlanges braunes Haar und trug ein leichtes Jackett über einem schwarzen Hemd. Gigi hatte noch nie teures Aftershave aus der Nähe gerochen, aber sie wußte genau, daß es ein sehr teures sein mußte. Er hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich und musterte sie eingehend. »Du bist sehr sehr schöööön.« Er dehnte das Wort einige Sekunden lang. In seiner Stimme lag ein leichter Akzent, aber es war kein spanischer. »Sag mir deinen Namen.« »Gigi.« »Hab' keine Angst, ich kann dir helfen. Ich habe eine ModelAgentur in New York. Aber sag, was denkst du nur von mir? Glaubst du, du müßtest erst mit mir schlafen, damit ich aus dir ein Model mache! Das ist längst nicht mehr so. So etwas brauche ich heute nicht mehr. Das war einmal, früher… Jetzt ist das vorbei. Ich mach' dich sehr erfolgreich. Ich habe die besten Models. Du kommst nach New York, und ich bringe dich ganz groß raus.« »Sind Sie aus Miami?« Gigi betrachtete ihn skeptisch. »Ich bin Italiener«, stellte er mit Stolz in der Stimme richtig. »Weißt du, was ich gerade mache? Ich beginne einen neuen Modelkrieg gegen John Casablanca. Ihm gehört die Agentur Elite. Meine Agentur heißt Etoile. Das ist das französische Wort für ›Star‹. Und aus dich mache ich auch einen Star. Na, wie gefällt dir das?« Er strich mit seinen langen Fingern über ihr Gesicht, ihren Hals, streichelte über ihre Arme, drückte sie sanft und befahl ihr dann, sich umzudrehen und hin und her zu laufen wie ein Rennpferd in einer Koppel. Er griff in seine Tasche. »Hier hast du meine Karte, ruf mich an, wenn du mal nach New York kommst. Jetzt bist du noch zu jung, aber ich sage dir schon heute, was du tun wirst. Mach beim Etoile-Wettbewerb mit. Sag ihnen, Charley schickt dich - und du wirst gewinnen. -70-
Ciao, Cara, ich muß zu den Aufnahmen.« Dann war er auch schon verschwunden und ging in seinen Mokassins über den nackten Füßen den langen Flur hinunter. Am Ende des Flurs blieb er noch einmal stehen, drehte sich um und rief: »Zieh das Kleid aus und pack es zurück, bevor sie dich erwischen! Eines Tages wirst du den ganzen Tag so schöööne Kleider tragen, und ich werde mit dir viel schööönes Geld verdienen. Wir sehen uns.« Später suchte Gigi den ganzen Strand und den Ocean Drive nach ihm ab, konnte ihn aber bei keinem Aufnahmetermin finden. Bestimmt war er hinaus nach Key Biscane gefahren, wie es eines der Mädchen erwähnt hatte, doch Gigi hatte keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen. Gigi hatte von nun an zwei Ziele in ihrem Leben, die beide nicht gerade außergewöhnlich waren: das eine war, Model zu werden, das andere, Charley Lobianco wiederzutreffen. Und sie wollte, daß er sie wie eine Frau behandelte, nicht wie ein kleines Mädchen. Sie nahm an dem Etoile-Wettbewerb teil und wurde Zweite. Die Siegerin war eine hochgewachsene, sonnengebräunte Blondine mit blauen Augen. Das gleiche passierte ihr sechs Monate später beim nächsten Wettbewerb wieder, und Gigi entwickelte langsam einen Haß auf langbeinige amerikanische Blondinen mit blauen Augen. Würde sie gegen solche Konkurrentinnen immer wieder verlieren? Würde sie als Lateinamerikanerin immer nur den zweiten Platz belegen? Gab es kein Interesse an ihrem karibischen Aussehen? Doch Charley hatte das geglaubt, und daran klammerte sie sich. Eines Tages gewann sie schließlich doch. Und als sie ihr mit dem obligatorischen Blumenstrauß gratulierten und ihr die Siegerschärpe umlegen wollten, mußten sie jemanden losschicken, um eine größere zu holen, eine, die über ihre Brüste paßte. -71-
Der erste Preis des Wettbewerbs war ein Direktflug nach New York. Dort sollte sie für Etoile fotografiert werden. Und dort würde sie auch Charley wiedersehen. Sie eilte in ihre ZweiZimmer-Wohnung, und innerhalb von wenigen Minuten hatte sie ihr gesamtes Leben in Florida weggeworfen und eine Tasche für ihr neues gepackt. Sie hatte vielleicht keinen Reisepaß, noch nicht einmal eine Aufenthaltsgenehmigung, aber sie hatte endlich ihren Weg gefunden und nicht die Absicht, jemals wieder hierher zurückzukommen. Einen Moment lang spürte sie ein Schuldgefühl Elena gegenüber, weil sie sich nicht persönlich von ihr verabschiedete. Sie hinterließ ihr lediglich eine kurze Nachricht auf dem Küchentisch, daß sie von New York aus anrufen würde. Sie ist nicht meine richtige Mutter, redete sie sich im Flieger nach New York ein, während sie unablässig Kaugummi kaute, um ihre Nerven zu beruhigen. Sie ist nicht meine richtige Mutter. Sie bedeutet mir nichts. Trotzdem - kaum war sie auf dem JFK gelandet, rief sie Elena an. Gigi war plötzlich über das Ausmaß dessen erschrocken, was sie getan hatte. Es war spätnachts, und außer ihrem Streunerersparten und der Adresse von Etoile in New York hatte sie nichts bei sich. Elenas Nachbar ging ans Telefon. Wo zum Teufel steckte sie nur? Sie hatten ganz South Beach nach ihr abgesucht. Warum? Elena ist zusammengebrochen. Vielleicht das Herz oder ein Hirnschlag, wer wußte das schon. Jedenfalls war sie bei ihrer Einlieferung ins Krankenhaus gestorben. Und so verbrachte Gigi ihre erste Nacht in New York, die erste Nacht ihres neuen Lebens, zu ihrem eigenen Erstaunen damit, sich die Augen einer Frau wegen auszuheulen, von der sie immer ge glaubt hatte, daß sie ihr nichts bedeute.
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London, 1993 Meine Teuerste, es ist so aufregend. Ich habe nie zu hoffen gewagt, daß sie jemals die Familientradition weiterführen würde. Natürlich hat sie nicht dieses Aussehen, mit dem ihre Großmutter und ich gesegnet waren - sie ist ganz der Vater, das arme Mädchen -, aber ich bin trotzdem fest entschlossen, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um…« Die ehrenwerte Celestia Fairfax hielt sich die Ohren zu, während ihre Mutter mit ihrer Schwester ›Pwimwose‹ den täglichen Telefonschwatz hielt. Celestia, mit ihren sechzehn Jahren das jüngste Kind von Lord Fairfax, dem anerkannten Historiker, war in den Sommerferien vom exklusiven WiltshireInternat in St. Mary's Calne zurückgekehrt. Und wenn es nach ihrer Mutter ging, sollte sie im Herbst nicht mehr dorthin zurückkehren. Lady Prudence Fairfax - oder ›Pwudence‹, wie sie sich selbst nannte, weil sie das ›R‹ nicht richtig aussprechen konnte - war das Musterexemplar einer alten Jungfer. »Pwimwose, Darling, ich erinnere mich noch genau daran, als Bailey mich zum erstenmal fotografiert hat. Es war so wahnsinnig aufregend…« Lady Prudence behauptete immer, in den sechziger Jahren Model gewesen zu sein, und wenn man ihr zuhörte, hätte man fast glauben können, sie wäre eine ernste Konkurrentin von Jean Shrimpton gewesen. In Wirklichkeit aber war sie höchstens so etwas wie eine Laufsteg-Debütantin bei der Berkeley Dress Show gewesen, und auf dem Foto von David Bailey, das für eine Kosmetikwerbeseite verwendet worden war, war sie nur eines unter zwanzig Mädchen gewesen. Soweit Celestia herausgefunden hatte, war ihre Mutter eher eine verwöhnte -73-
Luxus-Biene gewesen, ehe sie sich den begehrtesten Junggesellen der Gegend geangelt hatte - Celestias Vater, Hugo Fairfax, ein unverschämt gutaussehender Cambridge-Student und Erbe von Trevane, einem romantischen Landsitz im gotischen Stil mitsamt ausgedehnten Ländereien im tiefsten Südwesten Englands. Niemand hatte je verstehen können, warum ein Mann mit Hugos Intelligenz eine Frau hatte heiraten können, die so plump und angeberisch war wie Prudence Pickering, wenngleich man nicht leugnen konnte, daß die beiden ›Himmlischen Zwillinge‹ Primrose und Prudence Pickering aus dem kleinen Dorf Henleyon-Thames zu ihrer Zeit wirklich steile Zähne gewesen waren. Bei der Hochzeit sagten manche, daß Gegensätze sich eben anziehen, doch die spitzzüngigeren behaupteten, Prudence sei nur hinter dem Adelstitel hergewesen. Für Celestia war ihre Kindheit auf Trevane eine paradiesische Zeit. Ihr Vater verbrachte die meiste Zeit zurückgezogen in der Bibliothek und war zum ewigen Ärgernis von Prudence damit vollkommen zufrieden, einen solchen Wildfang von Tochter zu haben, die es liebte, durch die Wälder zu stromern oder in den mottenzerfressensten Klamotten, die sich finden ließen, auf dem ungesattelten Rücken eines Pferdes durch die Gegend zu galoppieren. Noch schlimmer, je älter Celestia wurde, desto mehr ähnelte ihr Gesicht dem des Vaters. Sie wurde größer und bekam die gleichen hervortretenden Jochbeine, die gleiche lange Nase und auch Hugos außergewöhnlich großen, leicht schiefen Mund. Ihr langes braunes Haar hing stets wie eine strähnige Matte auf den Rücken herab. Eines Tages, als Prudence die Nachmittagsblumen in der Großen Halle arrangierte und dabei für Tatlers fotografiert wurde, marschierte Celestia in einer solch ungepflegten Aufmachung vorbei, daß selbst ihre Mutter sie im ersten Augenblick nicht erkannte und vor lauter Schreck die Vase fallen ließ. Prudence war später reichlich pikiert darüber, daß die Bilder nicht in Tatlers erschienen, aber sie wäre vor Wut vom -74-
Schlag getroffen worden, wenn sie geahnt hätte, wie sehr man sich bei Tatlers über Celestia begeistert zeigte, die zufällig auf zwei Fotos zu sehen war. Die erfahrenen Augen dort erkannten sehr wohl den erhabenen Knochenwuchs im Gesicht des bereits 1,73 Meter großen Mädchens in der Vagabundenverkleidung. Man machte eine Notiz, sich in ein bis zwei Jahren wieder um die ehrenwerte Celestia zu kümmern. Im Gegensatz zu Prudence, die nur vorgab, Model gewesen zu sein, hatte Celestias Großmutter diesen Job tatsächlich ausgeübt. Die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens verbrachte sie in geistiger Umnachtung auf Trevane. Wann immer Celestia vor der erstickenden Atmosphäre flüchten wollte, die ihre Mutter verbreitete, schwelgte sie zusammen mit ihrer Großmutter nachmittagelang in den Erinnerungen alter Fotos. Fiona, Hugos Mutter, war das Hausmodel für Dior gewesen, der in den traurigen Nachkriegsjahren mit seinem berühmten New Look der Mode neue, hoffnungsvolle Impulse gegeben hatte. Fiona war eine Art Königin der Laufstege gewesen, eine Vorgängerin der Neunziger-Jahre-Supermodels, und mehr als einmal hatte sie das Cover der Vogue geziert. Sowohl ihr Gesicht als auch ihr Körper waren von makelloser Schönheit gewesen. Stets strahlte sie Klasse und Stil aus. Celestia hatte sich leicht in all den signierten Schwarzweißfotos verlieren können, die von solch illustren Fotografen wie Horst, Beaton, Avedon oder Penn gemacht worden waren, und Celestia wurde immer klarer, daß genau das es war, was auch sie werden wollte: Model. Die alte Dame hatte das genau gespürt, und unter der Bedingung, daß es ihrer beider Geheimnis blieb, begann sie, ihre schlaksige, großgewachsene Enkelin heimlich zu trainieren. Trotz ihrer weit über siebzig Lebensjahre hatte die 1,75 Meter große Fiona Fairfax noch bis zuletzt die Körperhaltung eines königlichen Wachmannes. Fiona, die ihre Schwiegertochter nie hatte ausstehen können, ließ sich von Celestia nun häufig die Auffahrt nach Trevane hochführen und in die Große Halle -75-
geleiten. Dort wies sie ihre Enkelin an, die zwölf Meter lange Halle wie einen Laufsteg zu begehen. Sie zeigte ihr, welche Pausen man einlegt, wie man sich auf der Stelle dreht, zurückgeht oder den Raum verläßt, wie man sich aus dem Becken heraus bewegt, mit geradem Oberkörper und gerecktem Kinn jeweils mit kleinen Schritten einen Fuß vor den anderen setzt und mit dem anderen Arm gegen diese Bewegung des Schrittes schwingt - und zu ihrer großen Freude schien das alles Celestia geradezu im Blut zu liegen. Als Fiona Fairfax starb, brachte man sie nach Trevane. Dort wurde sie mit ihrem Saphirschmuck und in ihrem Lieblingskleid auf dem Mahagoni- Eßtisch aufgebahrt, und an den vier Ecken des Tisches brannten jeweils lange weiße Kerzen. Mitten in dieser Nacht schlich Celestia nach unten, mit dem perfekt passenden Dior-Kostüm von 1947 bekleidet, das ihre Großmutter ihr geschenkt hatte. Dann ging sie im Eßzimmer auf und ab, pausierte, drehte sich und zog schließlich die Jacke aus, um sich von der alten Dame in einer Art und Weise zu verabschieden, wie Lady Fairfax es sich immer gewünscht hatte. Es gab kein Klicken von Kameras, kein Blitzlichtgewitter, keine laute Musik und kein aufgeheiztes Publikum - nur Totenstille und Kerzenlicht -, aber es war Celestias erster wirklicher Auftritt, und noch Jahre später dachte sie jedesmal, bevor sie ins Scheinwerferlicht trat, an diesen Augenblick zurück. »Wer ist hier der Chef?« bellte Prudence, als sie in die Agentur stürmte, während Celestia verlege n auf der Türschwelle stehenblieb. Sie hatte ihre Mutter mehrmals gebeten, allein zur Agentur gehen zu dürfen, aber Prudence war entschlossen, keine Gelegenheit auszulassen, wieder einmal den Duft der Modewelt zu schnuppern. Aus Protest hatte Celestia sich am Tag zuvor einen bubihaften Kurzhaarschnitt zugelegt, der ihr Gesicht stark betonte. »Also, wer ist hier der Chef?« wiederholte Prudence noch -76-
lauter, als niemand von ihr Notiz nahm. Mehrere Augenpaare richteten sich automatisch auf das andere Ende des Tisches, wo Grace Brown saß. Die Agentur gehörte Grace, die noch immer am liebsten zwischen den Bookern saß und dort mitarbeitete - als einzige Insel der Ruhe inmitten eines tosenden Ozeans. Selten sprach sie laut, selbst bei Verhandlungen über Riesensummen hob sie nie die Stimme. Grace war cool. Die besten Models der Stadt standen bei ihr unter Vertrag, aber sie wirkte so ruhig und unaufdringlich, als wäre sie für ihre Angestellten fast gar nicht vorhanden. Doch in Wirklichkeit beobachtete sie aufmerksam alles, was geschah. Ihr entging nichts, obwohl es ihr sicherlich lieber gewesen wäre, wenn sie Prudence hätte übersehen können, die direkt auf sie zusteuerte. »Also, sind Sie die Chefin hier? Wie ist Ihr Name?« fragte Prudence, ohne sich davon beeinflussen zu lassen, daß Grace gerade ein Telefongespräch führte. »Grace Brown«, erwiderte die Angesprochene und bedeutete Prudence, auf dem Sofa Platz zu nehmen und zu warten. »Hübscher Name, Grace«, kommentierte Prudence in einem seltenen Anflug von Schmeichelei. »Bei Vogue gab es auch einmal eine Herausgeberin, die Grace hieß. Waren Sie das?« Celestia zuckte zusammen. »Nein, das war Grace Jones«, antwortete einer der Booker. Prudence bemerkte nicht einmal, daß sich alle am Tisch vor Lachen kaum noch halten konnten. »Ach ja, genau. Was für eine tolle Frau. Wir hatten uns auch für meine Tochter Celestia den Namen Grace überlegt, aber schauen Sie sie doch einmal an, und Sie sehen, wie unpassend er gewesen wäre.« Grace hatte Celestia bereits angesehen, und ihr war mit einem einzigen Blick klargeworden, daß dieses Mädchen einen steilen Höhenflug vor sich haben könnte. Diese Knochen! Diese großen -77-
grauen Augen. Diese perfekte keltische Haut. Diese glänzenden, geraden Zähne. Diese lange aristokratische Nase. Diese Schultern, einfach die perfekten Kleiderbügel. Diese langen Arme und die noch längeren Beine. Und dazu dieser böse Blick und die vornehme Haltung. Als Celestia merkte, daß sie gemustert wurde, nahm sie eine Pose ein, die Grace noch nie gesehen hatte. Das Mädchen hatte Klasse und Selbstvertrauen, und vor allem besaß sie eine innere Stärke und Selbstbewußtsein sogar eine Unmenge davon. Corinne Day beispielsweise hätte sonst etwas dafür gegeben. Selbst Angie, die normalerweise die Neulinge unter ihre Fittiche nahm, überließ Celestia instinktiv ihrer Chefin. Grace gab Angie jedesmal ein Zeichen, sobald jemand mit auch nur dem geringsten Potential durch die Tür trat. Ebenso schüttelte sie kaum wahrnehmbar den Kopf, wenn ein hoffnungsloser Fall auftauchte, und das waren die meisten. Mit der Zeit war Angies Urteilsvermögen besser und besser geworden. Nur bei Tess Tucker hatte sie sich Graces Meinung nach geirrt. Grace hatte schon leicht den Daumen gesenkt gehabt, aber Angie war einfach zu schnell am Telefon gewesen. Nicht daß das Mädchen nicht schön gewesen wäre - das war sie zweifelsohne. Aber die erfahrenen Augen von Grace hatten sofort gesehen, daß Tess kein Durchhaltevermögen besaß. Im Gegensatz zu Angie hatte Grace sofort die Verletzlichkeit dieses Mädchens erkannt. Tess wird leiden, hatte Grace gedacht, sie sieht nicht hart genug aus, um ihren Weg zu machen. Ich muß dazwischengehen und sie davon abhalten, sich ins Unglück zu stürzen. Aber Grace hatte Angie lediglich eine milde Ermahnung erteilt, weil sie Tess zum Fototermin weitergeleitet hatte, ohne sich zu erkundigen, ob sie überhaupt die Erlaubnis ihrer Eltern hatte. Dabei waren Tess Tuckers Testbilder ein großer Erfolg geworden. Trotzdem fühlte sich Grace noch immer nicht sonderlich wohl bei dem Gedanken, mit Tess zu arbeiten. Aber auf dieses Mädchen, das jetzt vor ihr stand, traf das alles -78-
überhaupt nicht zu. »Also, ich bin Lady Fairfax. Lady Prudence Fairfax, aber Sie werden mich sicherlich noch als Prudence Pickering kennen…« Alle am Tisch schauten sich fragend an. Wie führte sich Prudence Pickering wohl erst in ihren eigenen vier Wänden auf? »… und das hier ist meine Tochter, die ehrenwerte Celestia Fairfax. Sie ist zwar ein grober Klotz, tut mir leid, mein Liebling, aber wenn Sie irgend etwas für sie tun könnten…« Grace streckte Celestia lächelnd die Hand entgegen und fragte: ›‹Sie sind nicht zufällig mit Fiona Fairfax verwandt?« Celestia grinste und sagte: »Ich bin ihre Enkelin.« »Nun dann«, sagte Grace, »ich denke, es wäre uns eine Ehre, wenn wir etwas für Sie tun könnten.«
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Los Angeles/New York, 1992/1993 Cassie Zimmerman begegnete dem Mann ihrer Träume, er wurde ihr beim Surfen in Kalifornien direkt vor die Füße gespült. Sie hatte ihn schon einige Zeit beobachtet und sich gewundert, daß so ein unglaublicher Trottel es wagte, es mit den einheimischen Surfern von Alice Beach aufzunehmen. Ganz sicher hatte der Typ noch nie in seinem Leben auf einem Surfbrett gestanden, und um es zu lernen, mußte er sich natürlich ausgerechnet diese gefährliche Stelle aussuchen. Cassie suchte Zerstreuung. In den ersten sechzehn Jahren ihres Lebens war ihr nie etwas Schlechtes widerfahren, doch dann war ihr Leben plötzlich wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Sie war ein typisches California Girl mit fast weißblondem Haar, veilchenblauen Augen und einer kleinen süßen Nase. Dank der skandinavischen Vorfahren ihrer Mutter wirkte sie wie eine nordische Schönheit. Wie es schien, hatte sie nichts von dem jüdischen Blut ihres Vaters Al Zimmerman geerbt. Al arbeitete als Rechtsanwalt in der Unterhaltungsbranche Hollywoods und zählte zahlreiche TV-Sternchen zu seinen Klienten. Cassie wuchs als Einzelkind in der Gegend von Beverly Hills auf, fast ganz oben auf Benedict Canyon. Ein philippinisches Hausmädchen kümmerte sich um sie, und ihre Klassenkameraden in der Beverly Hills High-School rissen sich förmlich darum, von ihr eingeladen zu werden - nicht nur, weil die Zimmermans den größten Swimmingpool des Viertels hatten, sondern weil es im Haus einen eigenen Filmvorführraum gab, der Cassie zur freien Verfügung stand. Ihr Leben schien geradezu perfekt zu sein. Und das war es auch gewesen, bis auf eine häßliche Ausnahme. -80-
Es war im letzten Jahr geschehen, Cassie war damals noch keine sechzehn Jahre alt gewesen. Ein Junge aus England hatte den Sommer zusammen mit seinen Eltern in Los Angeles verbracht. Sie hatten ein Haus in der Nachbarschaft der Zimmermans gemietet. Cassie hatte zuvor zwar schon eine Menge Verabredungen mit Jungs aus ihrer Klasse gehabt, aber es war nie etwas Ernstes gewesen. Sie war einfach hübsch, beliebt und gehörte zu einer Clique. Außerdem war sie romantisch veranlagt und hatte sich immer vorgestellt, daß ihre Zukunft aus nichts anderem bestehen würde als einem Ehemann und Kindern, die dann ebenfalls an den Strand, ins Kino und in die Schule gehen und am Swimmingpool rumhängen würden so wie es in ihrem Leben stets gewesen war. Sie liebte Kinder und wünschte nichts mehr, als selbst welche zu haben. Cassie verlor ihre Unschuld an diesen Jungen aus England. In ihrer mädchenhaften, romantischen Vorstellungswelt machte ihn die Tatsache, daß er englischer Herkunft war, zu etwas ganz Besonderem; deshalb sollte er der Mann ihres Lebens werden. Ihre Eltern sahen das jedoch ganz anders und hielten überhaupt nichts davon, daß er der Vater ihres ersten Kindes wurde. Die Abtreibung war relativ schmerzlos verlaufen. Al und Kari hatten Cassie mit viel Liebe und Aufmerksamkeit beigestanden und ihr nie das Gefühl gegeben, daß sie sich schämen müßte. Sie war ihr Allerliebstes. So etwas konnte halt geschehen. Aber eben nur einmal und nie wieder. Der Junge war bald wieder nach England heimgereist, doch insgeheim und im stillen hatte Cassie seitdem jede Nacht um ihr verlorenes Baby getrauert. An der Oberfläche war ihr Leben danach wieder perfekt weitergelaufen. Bis dann vier weiße Polizisten einen Mann zusammenschlugen, der Rodney King hieß, und der Besitzer einer Klempnerei namens George Holliday das Ganze mit seiner Sony Handycam aufnahm. Als die Cops freigesprochen wurden, brachen die schlimmsten Rassenunruhen in Los Angeles aus, bei denen Dutzende von Menschen starben und die Straßen -81-
verwüstet wurden. Cassies Vater hatte es daraufhin mit der Angst bekommen. »Ruf die Umzugsfirma an«, hatte Al Zimmerman seiner Frau Kari gesagt. »Ruf den Makler an, wir verkaufen das Haus und ziehen fort. Diese Stadt ist nicht mehr sicher.« Was er dabei verschwieg, war, daß seine Kanzlei schlecht lief. Er hatte zwar einige der Showgrößen als Klienten gehabt, aber sobald sie erfolgreich geworden waren, nahmen sie sich knallharte junge Anwälte, die eine andere Art von Geschäftsgebaren an den Tag legten als Al Zimmerman. Mit seinen achtunddreißig Jahren gehörte er für viele schon zum alten Eisen. Er war direkt von der Universität in New York nach Kalifornien gekommen, um hier sein Glück zu machen. Eine Zeitlang hatte es den Anschein gehabt, als würde sein Traum Wirklichkeit werden. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Die Unruhen nach dem Fall Rodney King hatten ihm so den ersehnten Vorwand geliefert, nach New York zurückzukehren, wo er hergekommen war und, noch viel wichtiger, wo seine Mutter lebte. Cassie graute davor. Der Gedanke, ihr angenehmes Leben in Kalifornien aufgeben zu müssen, kam ihr wie der Weltuntergang vor. Zum Glück fühlte ihre Mutter sich genauso, und Al hatte es nicht geschafft, ihren Widerstand zu überwinden. Doch dann hatte ihn sein Partner ausgezahlt, und Al stand auf der Straße. Ende dieses Sommers würde er Cassie und Kari nach New York zu seiner Mutter vorausschicken, während er in Kalifornien noch den Verkauf der beiden Häuser abwickeln wollte. Cassie versuchte mit allen Mitteln, das Beste aus diesem Sommer zu machen, der vermutlich ihr letzter in einem eigenen Haus am exklusiven Strand von Malibu sein würde, obwohl noch nicht sicher war, was mit dem Malibu-Strandhaus geschehen sollte. Vielleicht würde Al es auch als Ferienhaus behalten. Tag für Tag streifte Cassie durch die Gegend, an der Küste entlang bis über die Grenzen der Siedlung hinaus, vorbei an Alice's Restaurant bis zum Pier. Manchmal ging sie zum -82-
Rollschuhlaufen nach Venice. Sie bemerkte, daß sich, wenn sie dort langsam ihre Bahnen zog, nach ihr mehr Köpfe umdrehten als nach den meisten anderen Mädchen. Über den Minishorts, die sich geschmeidig über ihren Hüften spannten, wuchs ihr braungebrannter Körper bis unter ihr winziges Bikinitop empor. Der Teint ihrer fast einen Meter langen Beine war ebenfalls makellos. Manchmal fuhr sie in Richtung Pacific Coast Highway nach Zumo, ihrem Lieblingsstrand. Es konnte kommen, was wollte, jeden Abend bei Sonnenuntergang saß sie entspannt im Sand, die langen Beine ausgestreckt, und genoß den Blick über den Pazifik bis nach Catalina. In nur drei Wochen würde sie auf ein städtisches Betonchaos starren. Wenn doch nur ein Prinz auf dem Wellenkamm daherge ritten käme und sie entführen würde. Wer war nur dieser Trottel, der überhaupt nicht surfen konnte? Es war unglaublich. Er konnte sich nicht einmal zwei Sekunden lang auf dem Brett halten. Weil sie nichts Besseres zu tun hatte, entschied sich Cassie, etwas näher heranzugehen. Und als sie gerade durch eine kleine Bucht watete, um zum öffentlichen Strand zu gelangen, verlor der Surfer das Gleichgewicht und platschte in die hohen Wellen. Cassie beobachtete alles mit großer Aufmerksamkeit. Die Strömungen hier waren sehr gefährlich. Der Junge konnte leicht mitgerissen werden. Sie schaute sich nach dem Rettungsschwimmer um und registrierte, daß er sich nicht an seinem Platz befand. Dann sah sie, wie der Körper des Surfers von den Wellen Richtung Strand gespült wurde, und wenige Sekunden später lag er ihr zu Füßen. Als Cassie neben ihm niederkniete, waren alle Gedanken, was für ein Trottel er war, wie weggespült. Er hatte das romantischste Gesicht, das sie jemals gesehen hatte. Dichte Strähnen sandigen schwarzen Haars lagen über seiner Stirn. Seine Augen waren geschlossen, und seine Wimpern waren so lang, daß sie einen Schatten über seine Backenknochen warfen. -83-
Seine Nase war lang und gerade. Um seinen vollen sinnlichen Mund und um sein Kinn lag der dunkle Schatten eines Dreitagebartes. Noch dazu maß er gute 1,85 Meter, hatte einen dunklen Teint und kräftige Muskeln. Er öffnete die Augen und sah zu ihr auf. Zum erstenmal in ihrem Leben verstand Cassie diese lächerlichen Ohnmachten, die sie aus historischen Romanen kannte. Sie wollte ihn in ihre Arme schließen wie Deborah Kerr Burt Lancaster in ›Verdammt in alle Ewigkeit‹. Statt dessen fragte sie nur: »Bist du in Ordnung?« Zu ihrer Überraschung streckte er ihr seine Hand entgegen, und als sie sie ergriff, sprang er auf die Füße und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Er grinste sie an. Sie sah zur Seite, damit er nicht die kindische Bewunderung in ihrem Blick bemerkte. Er sah einfach himmlisch aus. Dann sagte er: »Für einen Moment habe ich wirklich gedacht, ich wäre in Gefahr.« »Du bist Engländer!« »Und du Amerikanerin. Bist du Model?« »Was soll ich sein?« »Ein Model. Du weißt schon. Man steht die ganze Zeit vor Fotografen herum und läßt sich fotografieren.« »Quatsch, ich geh' noch zur Schule.« »Das machen doch viele Models.« »Was hast du nur mit deinen Models?« Cassie wurde nervös. Würde er sie abweisen, nur weil sie kein Model war? »Sei doch nicht so schüchtern! Du siehst unglaublich gut aus. Du bist groß, deine Haut ist wunderbar, deine Zähne, dein Haar, deine Beine… Du bist wirklich wunderschön. Warum bist du kein Model?« »Tja, bin ich halt keins, so ist das eben. Warum fragst du mich das alles? Ich meine, das ist so, als ob ich dich fragen würde, ob du bei der königlichen Garde bist oder wie die bei euch in -84-
England heißen.« »Auch in England gibt es Models, wie du weißt. Abgesehen davon, vielleicht bin ich wirklich einer.« »Ein königlicher Wachsoldat?« »Vielleicht arbeite ich aber auch bei Lloyds in London oder besitze ein großes Landgut und gehe jagen und fischen.« »Wirklich?« Cassie war beeindruckt. »Hast du auch einen richtigen englischen Namen wie Lord Whittington-DouglasFairbanks oder so was?« »Nenn mich einfach Tommy Lawrence.« »Klar. Ich bin Cassie. Cassie Zimmerman. Was machst du hier in Kalifornien?« »Ich bin mit meinen Eltern hier. Wir wohnen im Beverly Wilshire.« Das war alles. Keine weiteren Erklärungen, weshalb sie im Beverly Wilshire wohnten oder was seine Eltern in Los Angeles taten. »Studierst du in England, ich meine, oder bist du noch…?« »Du meinst, ob ich noch zur Schule gehe? Nein. Und du? Wenn du kein Model bist, gehst du doch bestimmt aufs College oder wie das hier heißt.« »Ich fürchte«, seufzte Cassie, »zur Zeit weiß ich das nicht so genau. Wir werden bald nach New York ziehen. « »Du Glückliche!« »Das sehe ich anders. Hör zu, äh, Tommy, ich werde heute abend Brad Pitt's letzten Film bei uns zu Hause zeigen. Ich dachte, falls du nichts anderes zu tun hast, willst du nicht vielleicht vorbeikommen…?« Cassie hatte eigentlich nichts dergleichen vorgehabt, aber sie würde ihren Vater anrufen und ihm bezüglich des Umzugs engelsgleich Honig um den Bart schmieren, wenn er nur seine -85-
Kontakte spielen ließ und so schnell wie möglich eine Kopie des Films besorgte. »Wenn du deine Eltern im Hotel anrufen willst, komm doch gleich mit zu uns«, sagte sie. »Ich meine, in unser Strandhaus, dort drüben. Der Vorführraum ist allerdings in unserem BeverlyHills-Haus. Im Strandhaus haben wir leider keinen.« Sie bemerkte, daß sie ihn beeindruckte, er war angenehm überrascht. Doch wenn es stimmte, was er erzählt hatte, lebte er in England bestimmt auch in einem großen Haus, einem stattlichen Anwesen oder vielleicht sogar einem kleinen Palast. »Eine Party? Das wäre fantastisch. Gib mir die Adresse, ich werde kommen.« Sie hatte eigentlich weniger an eine Party gedacht als vielmehr an eine kleine intime Vorführung, nur für sie beide. Ihr Vater wurde wachsweich. »Vati, es ist so furchtbar. Ich kann den Gedanken gar nicht ertragen, daß es die letzte Vorstellung ist, die ich hier sehen kann. Deshalb muß es auch ein ganz toller Film sein. Bitte, besorg mir den neuen Brad Pitt. Verlang, was du willst, aber bitte bring mir heute den Film um sieben mit nach Hause. Ich verspreche dir, ich werde New York lieben lernen. Enttäusch’ mich bitte nicht.« AI mußte angesichts des Gedankens, daß er vor einiger Zeit noch in der Lage gewesen wäre, ihr Brad Pitt persönlich vorbeizuschicken, bitter lächeln. Cassie hörte Tommy nicht kommen, obwohl sie direkt am Fenster wartete, um auf das Geräusch seines Wagens zu achten. Was für ein Auto er wohl besaß? Dann klopfte das Hausmädchen an ihre Zimmertür und sagte, er sei unten und zu Fuß gekommen. Zu Fuß? Niemand in Los Angeles war zu Fuß unterwegs. Ob alle Engländer so exzentrisch waren? Nun, -86-
vielleicht war er ja mit einem Ta xi gekommen. So würde es wohl sein. Aber warum ging er dann die Auffahrt zum Haus zu Fuß hinauf? Cassie glaubte, daß sie den Augenblick, in dem ihre Clique in den Vorführraum kam und Tommy ihnen vorgestellt wurde, nie wieder vergessen würde. Sie bemerkte schnell, wie beeindruckt sie von ihm waren, von seinem Äußeren und erst recht von dem Umstand, daß er Engländer war. Zur Begrüßung reichte er jedem die Hand. Händeschütteln - das war wirklich was aus einer anderen Welt. Und anstatt zu sagen: »Hi, was läuft denn so?«, fragte er höflichreserviert: »Wie geht es dir?« Es war putzig. Sie fand einfach kein anderes Wort dafür. Aber sie liebte es. Als der Abend zu Ende ging, liebte sie auch ihn. Während des gesamten Films hatte Tommy ihre Hand gehalten. Gleich zu Beginn hatte er danach gegriffen und sie nicht mehr losgelassen. Und als dann das Licht anging, hörte sie sich selbst sagen: »Danke, daß ihr alle gekommen seid. Wir sehen uns bald wieder. Angelina wird euch hinausbegleiten.« Keine Einladung zu einem Drink, kein Mitternachtsbad im Pool und kein gemeinsames Ausgehen. Sie wollte, daß sie gingen, und ließ es sie wissen. Tommy und sie saßen zusammen und unterhielten sich bis zwei Uhr morgens. Niemals hatte sie sich jemand anderem gegenüber so offen gezeigt. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie ihm Dinge anvertrauen, die sie nicht einmal sich selbst eingestand. Das einzige, was sie mit keinem Wort erwähnte, war der andere Engländer in ihrem Leben. Tommy saß ruhig da, hörte zu und hielt immer noch ihre Hand. Und Cassie schien plötzlich eine Million Meilen von all den strohblonden kalifornischen Beachboys entfernt zu sein, mit denen sie aufgewachsen war. Es gab nur ein Wort, das Tommys Aussehen und Persönlichkeit beschrieb: sensibel. Mochte er auch den Körper eines Beachboys haben, sein Gesicht war das eines -87-
romantischen Zigeuners. Er hatte sein langes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, so daß seine goldenen Ohrringe zu sehen waren. »Ich weiß nicht, wie ich New York überstehen soll«, gestand sie ihm. »Ich habe Angst. Ich habe Angst vor so vielen Dingen. Ich gehöre einfach ins Freie, an die frische Luft. In einem stickigen Apartment werde ich verrückt.« »Dir würde es in England auf dem Land bestimmt gefallen. Reitest du?« »So oft ich kann. Ich habe ein Pferd in einem Stall am Topanga Canyon und reite mit ihm oft den Strand entlang. Aber auch davon muß ich Abschied nehmen. Besitzt du viel Land in England?« »Hektar um Hektar. Du wirst schon sehen.« Du wirst schon sehen. Diese Worte sollte Cassie monatelang nicht vergessen können. Für sie bedeuteten sie, daß er ihr irgendwann seinen Besitz zeigen würde. Doch hieß das auch, daß er sie eines Tages zu seiner Frau machen wollte? Sie redeten die ganze Nacht hindurch, und er erzählte ihr von dem fremden englischen Lebensstil. Als er aufbrach, sah Cassie sich schon über hartgefrorenen Boden laufen und auf einem merkwürdigen Teil sitzen, das Hochsitz hieß. (Und sie würde heiraten und endlich das englische Baby bekommen, daß sie verloren hatte.) Es war wie ein innerer Aufschrei der Befreiung. Ehe das Taxi kam, küßte er sie. Cassie hatte vielen Jungs erlaubt, ihr die Zunge in den Mund zu stecken, aber dieses Mal war es anders, und sie war verblüfft, wie sehr es ihr gefiel. Außerdem war sie erstaunt darüber, wie ihre eigene Zunge zum Leben erwachte, ihre Lippen sich auf die seinen preßten und wie sie plötzlich nicht nur das Verlangen spürte, sich an seinen harten Leib zu drücken, sondern sogar ihre langen Beine um seine Jeans zu schlingen. Sie machte sich gerade an seiner Gürtelschnalle zu schaffen, als draußen der Taxifahrer hupte. -88-
»Bist du sicher, daß du fahren willst?« »Ich fürchte, ich muß. Hör zu, Cassie: ich fahre mit meinen Eltern auf einen Kurztrip in die Wüste. Ich rufe dich an, wenn ich zurück bin.« »Aber wir ziehen doch um… wir werden in New York sein… du wirst nicht wissen, wo du mich erreichen kannst!« rief sie ihm nach. Er drehte das Fenster herunter und lehnte sich aus dem Taxi. »Keine Sorge! Ich werde dich finden. Du wirst sehen.« Damit mußte sie sich zufriedengeben - mit drei knappen Worten: Du wirst sehen. In den folgenden Wochen glaubte sie, ihn überall zu erblicken. Beim Besuch ihrer Tante, die in Sherman Oaks lebte, war sie fest davon überzeugt, daß sie ihn in einem Bus in der Nähe des Einkaufszentrums gesehen hatte. Aber was in aller Welt sollte Tommy in Sherman Oaks tun? Ein anderes Mal lag sie am Pool im Haus einer Klassenkameradin, als das Mädchen plötzlich aufsprang und schrie: »Cassie, schnell, zieh dir dein Oberteil an! Ich habe ganz vergessen, daß wir einen neuen Swimmingpoolreiniger haben, der jeden Moment ankommen muß.« Als Cassie ins Haus rannte, hätte sie schwören können, daß der Mann am Pool Tommy war. Es passierte ihr noch zwei weitere Male, daß sie dachte, ihn gesehen zu haben - und immer an sehr ungewöhnlichen Orten. Schließlich rief sie einen Tag, bevor sie nach New York umzogen, voller Verzweiflung in Beverly Wilshire an. »Wann erwarten Sie die Familie Lawrence zurück?« fragte sie. »Wir haben keine Gäste dieses Namens.« »Nein, ich weiß, aber sie haben vor kurzem noch bei Ihnen gewohnt, und Sie wollten wiederkommen.« Doch der Mann an der Rezeption blieb hart. -89-
»Tut mir leid, Miß, wir hatten in letzter Zeit niemanden mit diesem Namen.« Cassie war mit ihrer Großmutter nicht gerade oft zusammen gewesen. Sie hatte nur die vage Erinnerung an eine ältere Frau, die zu unmöglichen Zeiten in Kalifornien auftauchte und an allem etwas auszusetzen hatte - die Sonne war zu heiß, die Klimaanlage zu kalt eingestellt, auf den Straßen waren zu wenige Leute, außerdem war der Smog unerträglich. Aber niemand hatte Cassie auf die geballte Kraft vorbereitet, die von Doris Zimmerman auf deren eigenen Terrain ausging. Doris lebte seit fünfzig Jahren in der Upper West Side von New York, an der Ecke West End Avenue / 97th Street. Cassies Vater war in diesem Apartment geboren und aufgewachsen. Er hatte immer behauptet, daß der Blick zum Hudson River ihn auf die Idee gebracht hätte, nach Kalifornien zu gehen. Ein einziger Blick überzeugte Cassie, daß man von Doris Zimmermans Apartment aus tatsächlich den Hudson sehen konnte, allerdings nur, wenn man sich so weit aus dem Fenster lehnte, daß man unten auf dem Straßenpflaster aufschlagen würde, noch ehe man die Aussicht großartig hätte genießen können. Augenscheinlich mochte Großmutter Cassies Mutter nicht besonders, und schon bald hatte Cassie das Gefühl, daß sich diese Antipathie auch auf sie bezog. »Schönes Schicksal«, murmelte die Alte die ganze Zeit über, ohne jemals zu erklären, ob sie damit die Mutter oder die Tochter meinte. »Schäm dich, du bist nicht saftig genug. Du wirst nie 'nen Mann finden.« Das galt wahrscheinlich Cassie, deren abweisende, nichtssagende Blicke in den Augen ihrer Großmutter eine pure Provokation darstellen mußten. Doris Zimmerman würzte ihre Sätze immer mit einer gehörigen Portion Jiddisch, wovon Cassie nicht ein Wort verstand: »Er hat -90-
das Hirn von einem Schle mihl; es ist Zeit, daß sich die ganze Familie wieder mal trifft, die ganze Mischpoke, alle werden morgen zum Abendessen da sein; sag deiner Mutter, sie hat Glück, mich als Schwiegermutter zu haben.« Und zur Krönung feierte sie am Freitagabend den Sabbat und bestand darauf, daß Cassie und ihre Mutter genau wie sie eine Kopfbedeckung aus einem Taschentuch trugen, Kerzen anzündeten und die Kerzen dreimal zum Segnen herumreichten. Und das Essen erst! ›Gefilte Fische ‹, ›Herring‹, ›Knisches‹ gefüllt mit Käse, Hühnersuppe mit Matzebällchen - nicht ein Blatt Radiccio oder sonnengereifte Tomaten in Sicht. Kari Zimmerman wollte immer gemocht werden, und sie nahm sich vor, die gemeinsame Zeit mit ihrer Schwiegermutter als Chance zu sehen, um Doris am Ende für sich zu gewinnen; sie war in dem Glauben, nicht allzu lange dafür zu brauchen. Aus diesem Grund machte sie alles, was Doris von ihr verlangte. Ganz anders Cassie, die unter zunehmender Klaustrophobie litt. Das einzige, was sie aufrechthielt, war der Gedanke, daß sie Tommy irgendwann wiedersehen würde. Tag für Tag rief sie bei ihrem Vater in Kalifornien an und fragte, ob Tommy angerufen hatte. Und jeden Tag erklärte Al ihr sehr geduldig, daß er Tommy in diesem Fall sofort die Telefonnummer seiner Tochter in New York gegeben hätte. »Aber was, falls er anruft, wenn du gerade nicht da bist?« »Herr im Himmel! Cassie, mein Schätzchen, es gibt da doch diese fabelhafte Erfindung namens Anrufbeantworter. Und bei mir sagt diese Maschine folgendes: ›Sie haben die Nummer der Zimmermans gewählt. Kari und Cassie Zimmerman sind nach New York umgezogen. Sie erreichen sie unter der Nummer 2122226543. Falls Sie eine Nachr icht für Al Zimmerman hinterlassen wollen, sprechen Sie bitte nach dem Signalton. Danke.‹ Ich höre die verdammte Kiste jeden Tag ab. Bis jetzt hat sich dein Bursche hier nicht gemeldet. Wenn du meine Meinung hören willst: er wird es auch nicht tun. Vergiß ihn, -91-
Cassie. Aber erzähl mir mal was anderes. Mam hat gesagt, ihr wärt bei Macy's gewesen. Was hast du dir gekauft?« Cassie hörte gar nicht weiter zu. Sie stürmte aus dem Apartment hinunter zum Riverside Park. Wie sie diesen furchtbar grauen Hudson River haßte, und wie sehr sie sich nach dem Pazifik sehnte! Und wie sie es haßte, hier demnächst zur Schule gehen zu müssen. Und wie es ihr auf die Nerven ging, Oma Doris und ihr ewiges Gerede ertragen zu müssen. Wie sehr sie das alles haßte! »Mach das noch einmal!« sprach eine Stimme sie an. Er war groß und athletisch. Sein Gesicht sah man kaum, weil er eine Kamera davorhielt. »Mach weiter, tu das noch mal. Stampf fest auf und bleib so. Sieh mich dabei an, als würdest du mich treten.« »Ich will Sie aber nicht treten. Ich bin nur sauer, weil…«Cassie hatte sich noch nie gut verstellen können. »Vergiß das alles. Schau einfach hierher.« Er seufzte, stellte sich vor sie und drückte wieder und wieder auf den Auslöser. »Wo wohnst du?« Cassie war schockiert. »Ich gebe doch nicht fremden Männern meine Adresse.« »Klar. Aber ich bin kein Fremder. Ich bin Fotograf, und wenn deine Bilder gut werden, schicke ich sie einer Modelagentur. Hier, das ist ihre Karte. Versuch doch mal, die Agentur dazu zu bewegen, daß sie mir den Auftrag für ein richtiges Probeshooting gibt. Also, zum letztenmal, gibst du mir jetzt endlich deine Adresse, oder soll ich dir etwa hinterherlaufen, bis du zu Hause bist? Wie heißt du eigentlich?« »Cassie Zimmerman.« »Zimmerman. Kein guter Name für ein Model. Bist du vielleicht mit Bob Dylan verwandt? Der heißt nämlich in -92-
Wirklichkeit Robert Zimmerman. War nur 'n kleiner Scherz. Hey, warum nennst du dich eigentlich nicht Dylan? Das ist ein guter Name und ziemlich am Anfang des Alphabets, wenn sie durch die Bookinglisten gehen.« Cassie sah ihn an, als wäre er gerade unter irgendeinem dreckigen Stein in Manhattan hervorgekrochen, aber irgend etwas in seinen Worten ließ sie aufhorchen. Er sprach davon, daß sie Model werden könnte. Das war doch auch das erste gewesen, wonach Tommy sich erkundigt hatte: »Bist du Model?« Vielleicht war es ein Wink des Himmels, daß sie diesen Typ getroffen hatte. Vielleicht war das etwas, das sie Tommy näherbrachte. Und so gab sie dem Fotografen ihre Adresse und Telefonnummer, anstatt ihn hocherhobenen Hauptes stehenzulassen. Zwei Wochen später rief man sie tatsächlich an. »Hier spricht Paul. Paul van Ash. Ich bin derjenige, der die Bilder von dir gemacht hat, weißt du noch? Sie sind einfach großartig geworden. Die Agentur möchte dich gerne mal persönlich sehen, am besten morgen. Du hast ja die Adresse, also geh hin!« Cassie ging hin, aber nur, um aus dem Haus und von Doris' Gejammere fortzukommen. Das einzige Licht am Ende des Tunnels war, daß es ihrem Vater offenbar schwerfiel, das Geschäft in Los Angeles aufzugeben. Er hatte sogar schon davon gesprochen, ob sie zu Weihnachten nicht zu ihm kommen wollten. »Ich heiße Cassie Zimm… äh… Cassie Dylan«, sagte sie dem Empfangssekretär der Agentur. »Sie wollten mich sehen.« »Darf ich bitte Ihr Buch sehen.« Cassie schaute überrascht drein und gab ihm das Exemplar von ›Die Brücken von Madison County‹, das sie gerade las. Nun war es an dem Empfangssekretär, sie erstaunt anzusehen. »Was soll ich damit? Dafür habe ich keine Verwendung. Das -93-
kenne ich schon. Ich meinte nicht Ihr Buch, verstehen Sie, sondern Ihre Mappe.« »Ich habe keine.« »Sind Sie nun hier, um Model zu werden oder was?« fragte der Mann, bemüht, seine Verärgerung zu unterdrücken, was ihm allerdings nur schwer gelang. »Ich weiß nicht«, sagte Cassie, »will ich das überhaupt?« Plötzlich vernahm sie aus einer anderen Ecke des Empfangbereichs ein lautes Lachen. Cassie drehte sich um und sah ein wild aussehendes Mädchen, das sich auf einem Stuhl räkelte und ein Bein lässig auf den Tisch gelegt hatte. Sie rauchte eine Zigarette und kaute dabei gleichzeitig Kaugummi. Ihr Gesicht war auffallend schön, ihr Kopf fast kahlgeschoren. Cassie hatte die unangenehme Vermutung, daß sie unter ihrem knallengen Lederkostüm nackt war. »Wenn du nicht Model werden willst, was willste dann hier?« fragte das Mädchen. Cassie hatte den Eindruck, daß es sich wohl um die vulgärste Person handelte, die ihr je begegnet war. Aber sie entschloß sich, höflich zu bleiben so hatte man sie schließlich erzogen -, lächelte und erwiderte: »Ein Fotograf hat mich geschickt.« »Paul van Ash?« fragte die andere. Der erstaunte Gesichtsausdruck verriet Cassie. »O mach dir keine Gedanken wegen Paul. Das macht der immer so, und alle mögen ihn dafür. Er hat 'nen guten Riecher. Er hat 'ne Menge Mädchen entdeckt. Hey, hast du nicht Lust, mit mir shoppen zu gehen? Mal gucken, wie der neue Laden von Barneys aussieht?« »Wer sind Sie denn überhaupt? Normalerweise schließe ich mit wildfremden Leuten nicht gleich Freundschaft.« »Oh, Mann, wie redest du denn daher? Kein Mensch redet so. Ich meine, was hast du da gerade gesagt? Freundschaft schließen? Ich wollte nur mit dir shoppen gehen und nichts -94-
anderes. Also, was ist nun, Miß Cassie Sonstwas? Paul hat dir doch garantiert geraten, deinen Namen zu ändern, nicht wahr? Also, ich heiße Gigi. Wir gehen jetzt«, sagte sie zum Empfangssekretär, »wir sind bald zurück.« »Aber Gigi, du hast deinen Termin in zwanzig Minuten«, jaulte der Sekretär, »Gigi…« »Also, wo kommst du her?« fragte Gigi auf dem Weg. »Kalifornien.« »Disneyland?« »Beverly Hills.« »Los Angeles. Fährst du auf Cypress Hill ab?« »Kenn' die Gegend nicht.« »Das ist 'ne Band, du Blödkopf. Noch nie was von Cypress Hill gehört?« Cassie schüttelte den Kopf. »Woher kommst du denn?« fragte sie, um das Thema zu wechseln. »Wer weiß«, wich Gigi aus. »Irgendwo mußt du doch herkommen.« »Muß ich wohl.« Als sie bei Barneys ankamen, stürmte Gigi voraus, und Cassie verlor sie in der Menge aus den Augen. Schließlich erspähte sie sie wieder, und ihr Herz begann heftig zu schlagen. Denn Gigi stopfte sich seelenruhig Modeschmuck in ihre große Tasche. Dabei schaute sie sich immer wieder um, und als sie Cassies Blick bemerkte, grinste sie nur und hob ihren Kopf, als wollte sie einladend sagen: Komm! Worauf wartest du noch? Doch Cassie drehte sich um und rannte davon. Die Santa-Ana-Winde entfachten in den Bergen von Los Angeles Waldbrände, die in einigen Wohnvierteln nichts als Asche hinterließen. So auch in Malibu Beach. Sechs Wochen -95-
vor dem geplanten Weihnachtstrip nach Kalifornien wurden Kari, Doris und Cassie nachts von einem Anruf des völlig panischen Al geweckt. Ihr Strandhaus war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Er erzählte, daß die Polizei zwei bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichen gefunden hatte, bei denen es sich wahrscheinlich um ihre neuen Nachbarn handelte. Al berichtete von Bekannten, die sich in den Swimmingpool geflüchtet und im Becken stehend darauf gewartet hatten, von einem Hubschrauber gerettet zu werden. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, machte er seiner Familie klar, daß er unter keinen Umständen länger in Los Angeles bleiben wolle. Er hatte endgültig genug. Sobald er das Geld von der Versicherung bekäme und den Erlös aus dem Verkauf ihres Hauses in Beverly Hills zusammen hätte, würde er ihnen ein luxuriöses Apartment in Manhattan kaufen. Er könnte es gar nicht abwarten, nach Hause zu kommen, und es war klar, daß er mit ›nach Hause‹ Doris Zimmermans Apartment meinte. Am nächsten Morgen flüchtete Cassie regelrecht aus dem Haus - zu dem einzigen Zufluchtsort, den sie kannte: zur EtoileModelagentur. Für die Testfotos von Paul van Ash mußte sie fünfzig Dollar bezahlen. Danach sprach sie mit ihrer Mutter darüber, daß sie die Möglichkeit habe, aus der beengenden Atmosphäre von Doris' Heim zu entkommen und in eines der agentureigenen Apartments in der Stadt zu ziehen. Schließlich handelte sie mit ihrer Mutter folgende Vereinbarung aus: sollte sie bei Als Ankunft zu Weihnachten noch keinen Job als Model haben, würde sie freiwillig zurückkehren. Cassie hätte sich fast noch anders entschieden, als sie ihre Mitbewohnerin traf. Es schien ihr, als wäre sie vom Regen in die Traufe gekommen: zwei einfach Betten, eins für sie und das andere für dieses halbnackte, kaugummikauende Mädchen namens Gigi Garcia, die sie auf ihre ganz persönliche Art grüßte: »Hi, Blondie, weißt du noch, wer ich bin?« -96-
London, 1993 Ich heiße Amy, und ich habe Träume. Ich meine, ich weiß, wir haben alle Träume - aber meine werden wahr. Ich spreche nicht von diesen Kleinmädchenträumen, Prinzessin zu werden oder Filmstar. Das sind wirklich nur Träumereien - abgesehen natürlich von meinem Wunschziel, ein Topmodel zu werden. Nein, ich spreche von Alpträumen, und meine haben die merkwürdige Angewohnheit, sich zu erfüllen. Meine Lehrerin hat mir gesagt, daß es ein Wort dafür gäbe. Das wären keine Träume, sondern so was würde man Vorahnungen nennen. Sie meint, ich hätte eine besondere Gabe. Zum Beispiel letzte Woche, da hatte ich diesen komischen Traum, in dem ich im 23er Bus vom Bummeln in der Oxford Street nach Notting Hill Gate, wo ich wohne, zurückfuhr. Der gutgelaunte Schaffner scherzte mit allen herum, bis ich in den Bus stieg. Dann erlosch sein Lächeln. Er griff nach meinem Arm und sagte: »Mädchen, du mußt den Bus verlassen.« Ich blickte aus dem Fenster. Es war dunkel. Plötzlich waren wir nicht mehr in London, sondern mitten auf dem Land. »Nein«, rief ich, »ich will den Bus nicht verlassen. Ich will nach Notting Hill.« »Dahin fahren wir nicht«, sagte er mir. Alle im Bus drehten sich zu mir und und schrien mich an: »DAHIN FAHREN WIR NICHT!« Der Schaffner brachte mich zum Ausstieg. Wir rauften miteinander, bis ich ihn schließlich aus dem Bus stieß, und als ich sah, wie er auf die Straße stürzte und in der Dunkelheit verschwand, während mich seine Augen unentwegt anstarrten, wachte ich auf und begriff, daß es wieder ein Alptraum gewesen war. -97-
Am nächsten Tag sah ich in den Nachrichten, daß eine Frau eine Auseinandersetzung mit einem Schaffner gehabt hatte, der bei voller Fahrt sein Gleichgewicht verloren hatte und aus dem Bus gestürzt war. Es hieß, sein Zustand sei kritisch. Sie zeigten ein Bild von der Frau, die den Streit begonnen hatte. Sie war weiß - genau wie der Schaffner in meinem Traum. Und dann zeigten sie ein Bild des Schaffners, der auf der Intensivstation lag. Seine Haut war schwarz. Wie meine. Es macht mich fast verrückt, wenn mich die Leute immer fragen, woher ich komme, nur weil ich schwarz bin. Dabei bin ich doch Engländerin wie alle anderen auch. Ich bin in England geboren und habe mein ganzes Leben lang hier gelebt. Ich spreche dieselbe Sprache wie alle meine Freunde. Wenn man mich fragen würde, was ich tun will, wenn ich mit der Schule fertig bin, würde ich nicht antworten: ›Ich weiß, daß Geld nicht alles ist, aber wenn man keins hat, ist es auch Mist, und deshalb will ich Model werden.‹ Statt dessen würde ich sagen: ›Weiß auch nicht genau, ich glaub', mir liegt das irgendwie, Model zu sein, mal sehen, ob ich damit sogar ein bißchen Kohle machen kann.‹ Meine Mutter stammt aus Jamaika. Das allein ist schon hart genug. Sie wurde in Kingston geboren. Meine Großeltern sind hierhergekommen, nachdem mein Großvater 1955 von der London-Transport-Gesellschaft angeworben worden war. Meine Mutter war damals gerade vier Jahre alt. Als sie meinen Vater heiratete, kehrten meine Großeltern nach Jamaika zurück. Ihnen hat es hier einfach nicht gefallen. Sie haßten die Kälte und die ewige Feuchtigkeit. Nach ein paar Jahren ließ unser Vater uns sitzen, und meine Mutter mußte zusehen, wie sie meinen Bruder Leroy, meine kleine Schwester Tootie und mich durchbrachte. Wir waren so arm, daß man uns oft den Strom abgestellt hat, weil wir die Rechnungen nicht bezahlen konnten. Wenn ich im Winter von der Schule heimkam, war es in der Wohnung -98-
manchmal überall dunkel. Ich mußte mich dann immer um meine kleine Schwester Tootie kümmern, denn sie hatte jedesmal große Angst. Wir spielten ›Der Spion aus der Dunkelheit‹ und wenn dann auch Leroy nach Hause kam, kuschelten wir uns eng aneinander und sangen, was das Zeug hielt, um uns Mut zu machen. Leroys Stimme war unglaublich gut. Mutter hätte es gerne gesehen, wenn er in einem Chor gesungen hätte, aber dazu hätten ihn keine zehn Pferde bringen können. Mein älterer Bruder Leroy Winston La Mar war ein wildes Bürschc hen. Immer steckte er in Schwierigkeiten, flog von der Schule und so weiter. Schließlich schickte ihn meine Mutter nach Jamaika zu unseren Großeltern, weil sie allein mit ihm nicht mehr klarkam. Wir hörten nur noch zu Weihnachten von ihm, sofern meine Großmutter es fertigbrachte, ihn dazu zu bewegen, uns eine Karte zu schreiben. Niemals werde ich die Weihnachtsfeiern meiner Kindheit vergessen. Wir hatten fast nie Geld für Geschenke. Also schenkten wir uns etwas, das nichts kostete. Meistens habe ich etwas gemalt. Einmal habe ich für Tootie ein schwarzes Aschenputtel gezeichnet. Als Gegenleistung ist sie für mich auf einen Stuhl gestiegen und hat Michael Jacksons ›Billie Jean‹ nachgemacht. Sie ist eine großartige Schauspielerin und hat ihren Hintern fantastisch herausgereckt und damit hin und her gewackelt. Sie hat sogar seinen ›Moonwalk‹ versucht, ist dabei aber vom Stuhl gefallen. Sie war einfach verrückt nach Michael Jackson, und als bekannt geworden ist, was er in Neverland mit kleinen Jungs gemacht haben soll, hat sie das völlig durcheinandergebracht. Als ich ihr dann das Aschenputtelbild geschenkt habe, hat sie sie mir dafür ihr Bild von Michael Jackson gegeben. Am besten, man spricht dieses Thema erst gar nicht an. Ihr Märchenprinz ist er jetzt jedenfalls nicht mehr. Ich habe meinen eigenen Märchenprinz. Er heißt Marcus, nach Marcus Garvey, einem Jamaikaner, der ein Führer der -99-
Schwarzenbewegung in Amerika war und so viele Schwarze wie möglich zurück in ihre wahre Heimat Afrika bringen wollte. Garvey ist 1940 gestorben. Mein Marcus trägt sein Haar in Dreadlocken, aber er ist kein Rasta. Sein älterer Bruder ist mit Jazzy B in Nordlondon zur Schule gegangen und hat Marcus eine ganze Menge Sachen beigebracht. Marcus redet oft von der Würde und dem Stolz der Schwarzen. Uns nennt er AfroKariben. Ich finde das schon in Ordnung so - ich meine, ich bin zwar Engländerin, aber darüber hinaus kann ich durchaus auch noch eine Afro-Karibin sein. Marcus ist ein starker und ruhiger Typ, sein Gesicht ist für mich der Inbegriff eines schönen Schwarzen; ein bißchen sieht er auch wie der Kricketspieler Viv Richards aus. Ich habe mich in der fünften Klasse in Marcus verliebt, und inzwischen sind wir inoffiziell so was wie Verlobte. Sein Sternzeichen ist Skorpion, er ist also ein ziemlich verschlossener Typ. Meiner Mutter ist er sympathisch, wahrscheinlich weil er es mag, wie sie kocht. Wenn er sonntags zum Essen kommt, zieht Mom vorher jedesmal los und kauft alles mögliche ein: Kochbananen, Huhn und Reis, Kichererbsen mit Rindfleisch und KidneyBohnen, Suppen mit großen Kartoffel- und Jamstücken darin und und und… Ich bin sechzehn und noch Jungfrau. Und das will ich bleiben, bis ich einmal heirate. Marcus und ich haben das so besprochen, und er findet es ebenfalls in Ordnung. Er versteht das. Und ich weiß, daß es meine Mutter glücklich macht. Tootie hingegen ist da anders. Obwohl sie noch so jung ist, läßt sie keine Gelegenheit zum Flirten aus. Wenn ich sie in der Kirche beobachte, ist es mir manchmal richtig peinlich, wie sie beim Singen mit den Augen rollt, ihren Hintern rausstreckt und alle angrinst. Keine Ahnung, was Reverend Westbrook darüber denkt, aber andererseits ist sie gleichzeitig so süß, daß es sich niemand mit ihr verderben will. Ehrlich, ich glaube, Tootie ist viel besser für den Job eines Models geeignet als ich. Sie macht einfach mehr Schau und ist sehr extrovertiert, aber -100-
meine Mutter schätzt, daß sie eher einmal Schauspielerin oder Sängerin oder etwas in dieser Richtung werden wird. Ich verstehe nicht, daß die ganzen Mädchen, die ich kenne, immer Ärger mit ihren Müttern haben. Für mich und Tootie ist unsere Mutter die beste Freundin der Welt. Sie ist immer für uns da. Egal, wie wenig Geld wir haben, unsere Kleidung ist immer sauber, und selbst wenn wir an manchen Tagen nur einmal etwas zu essen bekommen haben, hat es immer eine warme Mahlzeit gegeben. Mom ist Evangelistin. Sie geht in die Pfingstgemeinde. Aber sie hat nie versucht, mich zu beeinflussen. Sie sagt, daß das, woran sie glaubt, nicht unbedingt das sein muß, woran auch ich glaube, und sie hat recht damit. Ich gehe nur ab und zu in die Kirche, obwohl ich glaube, daß Beten wirklich hilft. Aber ich bin der Überzeugung, daß Gott in mir selbst wohnt und ich nicht erst in irgendein Gebäude gehen muß, um ihn zu finden. So ist das, es ist nur ein Gebäude, und die Hälfte der Leute, die drin sind, glauben noch nicht einmal an Gott. Viele sind dort, weil sie gerne singen oder weil sie denken, sie müßten einfach dort sein. Wenn ich für mich allein bete, überkommt mich manchmal das Gefühl, daß Gott tatsächlich bei mir ist, mir zuhört und für mich sorgt. Dafür muß ich also nicht in die Kirche gehen. Aber Mutter muß es. Sie ist sehr dankbar dafür, daß sie jetzt die Peniel Chapel in der Kensington Park Road restaurieren. Die befindet sich dann für sie gleich um die Ecke. Wir wohnen in einer Sozialwohnung am Portobello Court Estate. Das ist inzwischen eine sehr schicke Gegend, in der eine Menge Leute wohnen, die Mom immer weiße, liberale Mittelkläßler nennt. Ich glaube zwar nicht, daß sie genau weiß, was das ist, aber es ist etwas, was man hier seit Jahren hört. Außerdem will sie damit ausdrücken, daß sie sich nicht sicher ist, ob man diesen Leuten wirklich trauen kann. Diese Weißen gehören zu denen, die Schwarze prinzipiell mögen, bloß weil sie schwarz oder cool oder funky oder was auch immer sind, nicht -101-
aber, weil sie Schwarze persönlich kennen oder mögen. Eine Attraktion - auch für die Touristen - ist der PortobelloMarkt, auf dem es unter der Woche Obst und Gemüse gibt und am Samstag Antiquitäten. Außerdem findet dort jedes Jahr im August ein Karneval statt. Das ist die einzige Zeit des Jahres, in der ich wirklich stolz darauf bin, Afro-Karibin zu sein. Und es gibt hier dieses schicke Restaurant, das ›192‹, in dem die ganzen Medienleute verkehren. Tootie macht es riesigen Spaß, die Leute zu beobachten und nachzumachen, wie sie nach ihren stundenlangen Mittagessen auf die Straße kommen. Ich bevorzuge das Rococo. Es ist eine Art Nachrichtenbörse, dort gibt es Zeitungen aus der gesamten Welt. Jeden Tag nach der Schule gehe ich dorthin und lese die Vogue, Elle und Clothes Show, alles Modemagazine. Die stelle ich dann in den Ständer zurück und kaufe mir die Mizz, Jackie und Shout, weil ich die bezahlen kann. Marcus liest das amerik anische Magazin Vibe, das von Quincy Jones gegründet wurde und auch gute Modeseiten hat. In Smush Hits habe ich die Anzeige für die ›Girl-of-the-Year‹Wahl gesehen. Man muß mindestens 1,76 Meter groß sein und ein paar Fotos von sich hinschicken. Ich bin 1,80 Meter, das ist also kein Problem. Ich habe mit Marcus darüber gesprochen. Er ist nicht der Typ Mann, der mal so eben sagt: ›Klar, geh nur hin und mach dich lächerliche Er nimmt alles immer sehr ernst, und deswegen liebe ich ihn. Er hat die Angelegenheit richtig ausführlich mit mir besprochen. »Was interessiert dich daran so sehr?« fragte er mich. »Nun, weißt du, die Kleider und so.« »Du meinst, die Mode?« »Ja.« »Du zeichnest doch so gern, und das kannst du richtig gut. Also, warum denkst du nicht an Modedesign? Deine Mutter hat dir doch das Nähen beigebracht. Ständig kaufst du auf dem -102-
Markt alte Klamotten, nimmst sie auseinander und machst dir in deinem eigenen Stil was Neues daraus. Warum machst du das nicht zu deinem Beruf?« »Was hat denn das mit der ›Girl-of-the-Year‹-Wahl zu tun? Ich versteh' dich nicht.« »Vielleicht sehe ich das tatsächlich etwas einseitig. Du hast recht, du bist einfach ein fantastisch aussehendes Mädchen, das Model steht dir förmlich ins Gesicht geschrieben. Möglicherweise kannst du ja damit in den nächsten Jahren ein bißchen Geld machen und es für deine weitere Ausbildung sparen. Und danach vielleicht eine eigene Designfirma gründen. Dann hättest du gleich ein kleines Startkapital dafür.« Das hört sich doch nicht schlecht an. Es ist so toll, mit Marcus zusammenzusein. Ich hatte mir bis jetzt in der Tat noch nicht ernsthaft überlegt, was ich nach der Schule anfangen will. Marcus hat ein paar Schnappschüsse von mir gemacht, aber was dabei herausgekommen ist, war nicht so toll. Zu guter Letzt hat er seinen Freund Joe gebeten, die Fotos zu machen. Joe will später einmal Fotograf werden. Er hat jahrelang für eine gute Kamera gespart und ist dann kreuz und quer durch London marschiert, um Bilder von Leuten auf der Straße, in Schulen oder sonstwo zu machen, sobald er auf interessante Gesichter traf. Manchmal hat Marcus ihn auf seinen Exkursionen begleitet. Marcus kann zwar auch Fotos machen, aber er hat nicht Joes Talent. Ich habe die Bilder bei der Agentur Etoile eingeschickt, und als sie sich bei mir meldeten, war ich mir sicher, daß sie es in erster Linie aufgrund der Qualität von Joes Bildern getan haben und nicht wegen meines Aussehens. Ich bin nicht die mandeläugige, leicht farbige Mischlingsfrau, die jedermann für wunderschön hält. Ich habe ein recht dunkles Gesicht, und mein Haar ist vergleichsweise kurz. Joe hat mich mit Gegenlicht aus einem Strahler im Hintergrund aufgenommen, und ich sehe auf den Bildern wirklich abgefahren aus. Wenn sie mich aber erst -103-
einmal in natura sehen, werden sie mich sicherlich nicht mehr haben wollen, dachte ich. Aber ich lag falsch. Es war ein sehr anheimelnder Ort. Ich traf Angie, ein Mädchen mit einem süßen Gesicht. Sie bot mir Platz an und sprach offen und ehrlich mit mir. »Ich mach' dir nichts vor, Amy. Es gibt für Schwarze nicht gerade viel Arbeit in unserem Geschäft, aber wir würden es gerne sehen, wenn du beim Wettbewerb mitmachst. Der wahre Grund ist, daß wir einfach irgendeine Schwarze in der Wahl haben müssen. Es ist erschreckend, wie wenig schwarze Mädchen sich überhaupt dafür beworben haben.« Mir gefiel ganz und gar nicht, was ich hörte. Ich hatte mich doch nicht allein deshalb beworben, weil ich schwarz war. Vielleicht hört es sich unglaubwürdig an, aber ich hatte niemals richtig mit Rassismus zu tun. Mom hat uns so erzogen, daß wir immer zuerst den Menschen sehen, die Hautfarbe spielt so gut wie keine Rolle für uns. Aber ich wollte mich nicht mit Angie streiten. Sie sagte, daß ich am Wettbewerb teilnehmen könne, und allein deshalb war ich ja gekommen. Dann erklärte sie mir, was ich als nächstes zu tun hätte, wann die nächsten Ausscheidungen stattfänden, und was sie sich für mich überlegt hätten. Außerdem war Angie sehr erfreut über die Bilder von Joe, die sie als Probeaufnahmen gut gebrauchen konnte! Mom freute sich, als sie diese Neuigkeiten hörte, und kochte etwas ganz Besonderes für mich. Auch sie hatte Neuigkeiten. Wir mußten Tootie regelrecht dazu zwingen, auf ihren Händen zu sitzen und ihre Klappe zu halten, sie war unglaublich hibbelig. Sie dachte nur noch an den Karaoke-Wettbewerb während des Kirchenfestes, bei dem sie singen sollte. Die ganze Woche hatte sie mit einer Haarbürste als Mikrofonersatz vor dem Spiegel gestanden und geübt, was das Zeug hielt. Aber Mom bestand auf ungeteilte Aufmerksamkeit. Nur ein einziges -104-
Mal sollte Tootie, bitte schön, stillsitzen, sie hätte uns etwas Wichtiges zu sagen. »Euer Bruder Leroy kommt bald aus Jamaika zurück. Er kommt wieder nach Hause und wird bei uns wohnen.« Ich ging früh zu Bett und hatte erneut einen seltsamen Traum: nicht etwa, daß ich mit der ›Girl-of-the-Year‹-Krone geschmückt wäre, sondern daß wir alle zum Flughafen fahren würden, um Leroy abzuholen. Doch an seiner Stelle verließ der Teufel das Flugzeug.
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London, 1993 Meine erste Begegnung mit Amy La Mar wird mir für immer unvergeßlich bleiben. Es war bei der ›Girl-of-the-Year‹-Wahl, die von meiner Agentur ausgerichtet wurde. Die Leute von Etoile hatten mich gebeten, als Jury-Mitglied zu fungieren. Das Ganze fand im Tanzsaal des Hilton Hotel in London statt, und von dort aus konnte man den gesamten Hyde Park überblicken. Als ich ankam, strömte wie üblich ein Haufen Paparazzis auf mich zu, und mein Bodyguard benötigte mindestens zehn Minuten, um uns durch die Menge einen Weg zum Hoteleingang zu bahnen, wo die Fernsehkameras bereits auf uns warteten. »Hey, SWAN, wie geht's?« rief ein Reporter. »Danke, gut, Joey, und selbst?« Ich kannte ein paar der Reporter namentlich und empfand es manchmal als recht tröstlich, einige bekannte Gesichter unter ihne n zu erkennen. »Gut, daß du wieder in England bist, SWAN«, rief ein anderer. »Warum bleibst du nicht ganz hier?« Diese Frage war mir sehr unangenehm. Denn schließlich war es kein Geheimnis, daß man als Model in Amerika viel mehr Geld verdienen konnte als in Europa, aber ich wollte mich meiner Heimat gegenüber nicht illoyal zeigen. »Eines Tages werde ich das vielleicht tun«, antwortete ich daher und versuchte, möglichst verbindlich zu klingen. »Na, bist du nicht auch gekommen, um Mama und Papa zu besuchen?« Wieder eine Fangfrage. Aber sie brachte mich nicht halb so sehr in Verlegenheit, wie die Schlaumeier dachten. Wenn ich wahrheitsgemäß antworten würde, daß ich leider keine Zeit hätte, meine Eltern zu besuchen, würde es gleich heißen, ich -106-
kümmere mich nicht um sie. Seitdem Harry wiederaufgetaucht war, fiel es mir zunehmend schwerer, Zeit mit meinen Eltern zu verbringen, ohne dabei das Gefühl zu haben, eine Verräterin zu sein. Ständig stocherten sie in der Vergangenheit herum. Sie hatten sich nie von Venetias Tod erholt, und in der letzten Zeit hatten sie dann auch was Harry betraf jegliche Hoffnung aufgegeben. Immer wenn ich mit ihnen zusammen war, sehnte ich mich danach, ihnen sagen zu können, daß er noch lebte, aber ich wußte, daß ich das nicht tun durfte. Darauf hatte ich Harry mein Wort gegeben. Unerbittlich hatte er darauf bestanden, unseren Eltern erst wieder unter die Augen zu treten, wenn sein Name reingewaschen war. Wie auch immer - ich hatte ohnehin keine Ahnung, wo er gerade steckte. Als ich ihm damals das Geld gegeben hatte, wobei wir von dem Anrufer fotografiert worden waren, hatte er versprochen, mich wieder zu kontaktieren. Aber das lag schon so lange zurück, daß ich allmählich an seinem Versprechen zweifelte. Mittlerweile hatte ich eine regelrechte Angst davor, meine Eltern zu besuchen. Nicht daß ich sie nicht hätten sehen wollen, aber sie dachten, ich wäre das einzige auf der Welt, was ihnen noch geblieben war. Die Verzweiflung, mit der sie sich nach meiner Nähe sehnten, nahm mir förmlich die Luft zum Atmen. Das war einer der Gründe gewesen, warum ich meine Zelte in New York aufgeschlagen hatte. Es war einfach gesünder für mich. Trotzdem - ich haßte es, meine Eltern zu belügen; anfangs hatte ich es nur gehaßt, ihnen nicht erzählen zu dürfen, daß Harry noch lebte, doch jetzt zweifelte ich langsam selbst daran, daß er nicht tot war. Und diese Zweifel bohrten wie kleine schmerzhafte Pfeile in meinem Gewissen. Es war unerträglich niederdrückend, sie beide stets über Harry reden zu hören, als ob er tot sei. Dieses Dilemma nagte bei jedem Aufenthalt in London an mir und brach mir fast das Herz - ganz besonders, wenn ich für die Presse in die Kameras lächeln und so tun mußte, als ginge es mir blendend. -107-
Als ich den Tanzsaal betrat, war die Party bereits in vollem Gange. Die Agentur Etoile nutzte solche Events immer dazu, ihren Kunden einen wundervollen Abend zu bescheren. Haarstylisten und Maskenbildner tummelten sich mit PRLeuten, Künstlern, Fotografen, Herausgebern von Modezeitschriften und Kunden. Es muß wohl nicht extra betont werden, daß die Models für diesen Abend wundersamerweise in ganz großem Stil gebucht worden waren. Ein gigantischer Laufsteg ragte in den Tanzsaal hinein, und das Dumm-dummDumm des Diskosounds übertönte sämtliche Unterhaltungen. Die Show hatte zwar noch nicht begonnen, aber die Stimmung war schon gut angeheizt. Ein Spotlight fing mich ein und folgte mir bis zum Tisch der Jury. Sofort rannten alle Fotografen, die um den Laufsteg herumgestanden hatten, wie wild auf mich zu. Ich warf ihnen Kußhände zu und holte meine kleine Sofortbildkamera heraus, mit der ich sie fotografierte. Darüber flippten sie jedesmal förmlich aus. Ich war Ehrenmitglied der Jury und saß so ziemlich in der Mitte eines ewig langen Tisches entlang des Laufstegs. Neben mir saß auf der einen Seite ein international berühmter Coiffeur mit Salons in London, Los Angeles und Sydney, mit dem ich schon viele Male gearbeitet hatte, und auf der anderen Charley Lobianco, der Präsident von Etoile. Ich verehrte Charley geradezu. Ganz besonders reizend fand ich sein unverhohlenes Vergnügen, mit Frauen umzugehen. Unter Frauen war er wie ein kleiner Junge in der Süßigkeitenabteilung. Er schwebte von einer zu anderen, streichelte hier, flüsterte da und küßte jede von ihnen. Man konnte ihn vor Behagen förmlich schnurren hören. Er hatte nicht diese schmierigfalsche Playboytour drauf, sondern liebte es aufrichtig, von Frauen umgeben zu sein. Außerdem schätzte ich sehr, daß er in seiner Art so völlig anders war als die reservierten englischen Jungs, mit denen ich aufgewachsen war. Charley war ein Gefühlsmensch. Ich hatte ihn schon bei verschiedenen -108-
Gelegenheiten schamlos rumbrüllen hören, und auch dafür bewunderte ich ihn. Bei ihm war das kein Verlust seiner Selbstkontrolle, nein, er hatte sich jedesmal aufrichtig über irgend etwas geärgert. Außerdem fand ich seine Herkunft ziemlich spannend. Seine Mutter stammte aus einer alten italienischen Familie mit einer wunderschönen Villa am Comer See. Diese Tatsache erklärte Charleys einwandfreie Manieren und seinen guten Geschmack. Sein Vater dagegen war ein zwielichtiger italoamerikanischen Gangster aus New Jersey, von dem man nicht allzuviel wußte - außer, daß er Charleys Mutter vor mehr als dreißig Jahren verführt und dazu überredet hatte, mit ihm durchzubrennen. Jedesmal, wenn Charley die Story erzählte, schmückte er sie üppiger aus, so daß niemand seine Hand für die Richtigkeit der Details ins Feuer gelegt hätte. Das machte Charley irgendwie zwielichtig, steigerte andererseits aber auch seine Attraktivität. Ich hatte Geschichten darüber gehört, daß er mit jungen Models aus seinem Stall anbandelte, ignorierte diese Gerüchte aber einfach. An diesem Abend spielte er die Rolle des kleinen Jungen. »SWAN, mein Engel. Ich kann dich nicht küssen, denn ich habe mich erkältet. Ich sehne mich nach meiner Mama. Als ich ein Junge war, machte sie mir immer, wenn ich krank war, ein fantastisches Getränk.« »Armer Charley-Liebling. Was hat deine Mama denn hineingetan? Vielleicht kann dir das Hilton ja den Drink mixen.« »Das haben sie schon«, grinste Charley und nahm einen Schluck Whiskey. »Sie haben nur die heiße Zitrone und den Honig vergessen. Na, egal, du kennst mich ja, sobald erst einmal die Mädchen rauskommen, geht's mir besser.« Ich konnte mir gut vorstellen, was jetzt hinter der Bühne los war. Die letzten Minuten vergehen immer in Windeseile: das Make-up muß aufgetragen und die Wickler müssen aus dem -109-
Haar genommen werden. Und ständig geht irgend jemand nervös auf und ab. Die armen kleinen Mädchen. Selbst für ein showerfahrenes Model sind die letzten Minuten vor dem Auftritt die reinste Hölle, aber diese Mädchen hier hatten noch nie in ihrem Leben einen Laufsteg aus der Nähe gesehen. Nicht zum erstenmal ging mir durch den Kopf, wie leicht das alles für mich gewesen war, denn mir war vieles erspart geblieben. Willy O'Brien hatte mich vom Fleck weg engagiert und als erstes in Paris mit mir gearbeitet. Nach vier Monaten war ich bereits das Titelgirl der französischen Vogue gewesen, und Charley Lobianco hatte New York auf meine Ankunft vorbereitet. Die jungen Dinger, die wir gleich sehen würden, hatten dagegen eine Anzeige in der Just Seventeen entdeckt und sich daraufhin bei Etoile beworben. Von Hunderten waren schließlich zwölf in die engere Wahl gekommen. Die ›Girl-of-the-Year‹-Wahl wurde vom Fernsehen aufgezeichnet und von der britischen Presse aufmerksam beobachtet, so daß die Veranstaltung für die Mädchen tatsächlich eine große Chance darstellte. Die Gewinnerin von heute würde am Finale in New York teilnehmen. Aber was war mit all den anderen? »Wir haben ein paar tolle Mädchen dieses Jahr.« Mit diesen Worten - als hätte sie meine unausgesprochene Frage gehört beugte sich Grace Brown über meine Schulter. Sie leitete das Etoile-Büro in London. Grace wirkte immer cool und gelassen, und ich mochte sie wirklich. Sie und Charley hatten die Hälfte aller Topmodels entdeckt und internationale Stars aus ihnen gemacht, mich eingeschlossen. Es schien aber, als würde sie sich weder darauf noch auf irgend etwas sonst etwas einbilden. Dabei war sie früher selbst Model gewesen und sah noch heute umwerfend gut aus. »Glaub mir, wir haben schon mit fünf Mädchen gesprochen und werden sie wahrscheinlich engagieren. Aber sag Charley noch nichts davon.« Aus den Lautsprechern dröhnte Madonnas ›Cherish‹, und die Mädchen tänzelten dazu paarweise hinaus auf den Laufsteg. Ich -110-
liebe den Song, er turnt mich an. Aber in Anbetracht der Tatsache, daß die Mädchen heute nacht die Erfüllung all ihrer Träume erwarteten, fand ich die Anfangszeilen sehr zynisch. Madonna sang von gebrochenen Herzen und davon, daß alles zu Ende ist, bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Trotzdem, der Groove war packend und mitreißend, und die Mädchen mußten den Laufsteg in rasantem Tempo entlangwandeln. Das Publikum wiegte sich im Rhythmus der Musik und sang mit. Man amüsierte sich offenbar prächtig. Charley legte liebevoll den Arm um mich und drückte mich an sich. Ich mußte lachen, denn er schwebte wieder einmal über den Wolken. Kein Platz der Welt war ihm lieber als einer, von dem aus er lange Beine und geschmeidige Körper an sich vorbeimarschieren sehen konnte. Vor uns lagen Ganzkörperfotos und Detailaufnahmen der Mädchen, aber ich widerstand der Versuchung, sie anzuschauen. Ich wollte versuchen, die fünf Mädchen, von denen Grace so begeistert war, selbst zu entdecken. Ich glaube, in dem Moment, als sie den Laufsteg betrat, wußten wir alle, daß sie gewinnen würde. Wer auch immer nach ihr käme, sie würden wir wählen. Selbst wenn sie nicht die einzige Schwarze gewesen wäre, hätte sie aus der Masse herausgeragt. Obwohl die Mädchen eigentlich paarweise auf die Bühne kommen sollten, trat sie allein auf den Laufsteg hinaus. Nicht daß sie keine Partnerin gehabt hätte, nein, Amy La Mar schoß mit solcher Explosivität hinter dem Vorhang hervor, daß das Mädchen neben ihr automatisch in ihren Schatten katapultiert wurde. Ich wußte, sie würde gewinnen. Aber gleichzeitig war uns allen vom ersten Moment an klar, daß sie es niemals leicht haben würde. Der Ausdruck ihres Gesichts war zu markant, als daß die konventionelle Modewelt es ohne weiteres akzeptieren könnte. Zudem war ihre Hautfarbe nicht schön milchkaffebraun, sondern richtig schwarz. Sie protzte nicht mit einer langen seidigen Mähne, sondern trug vielmehr einen weißgefärbten Bürstenhaarschnitt. Die perfekte Symmetrie ihres -111-
Gesichtes darunter verschlug uns den Atem. Mit ihren riesigen, weit geöffneten und sehr aparten haselnußbraunen Augen strahlte sie die Jury an, und ihr Lächeln ließ ihre sagenhaft weißen Zähne aufblitzen. Sie trug ein schmales schwarzes Röhrenkleid aus Seide. Hauteng, schulterfrei und mit Ärmeln, die bis zu den Handgelenken reichten, bedeckte es den größten Teil ihres supergeformten Körpers und überließ dabei trotzdem nichts der Fantasie. Da war eine Aura der Unschuld und Frische, die dieses Mädchen umgab und sie von allen anderen abhob. Anstatt sich am Ende des Laufstegs wie alle anderen nur herumzudrehen, vollführte sie ein paar Hip-Hop-Tanzschritte, mit denen sie uns sagen zu wollen schien: Leute, das hier macht mir Spaß! Die Zuschauer verliebten sich sofort in sie, und immer wenn sie herauskam, erhob sich das Gemurmel zu einem Crescendo. Es passierte, als die Mädchen gerade ihre Finalrunde auf dem Laufsteg drehten; eigentlich hätte nur noch die Bekanntgabe der Siegerin gefehlt. Doch plötzlich löste sich eine kleine schwarze Frau aus der Menge und sprang auf die Bühne. Sie entriß dem Conferencier das Mikrofon und legte los. »Bitte schenken Sie mir einen Moment lang Ihre Aufmerksamkeit!« Alle Köpfe drehten sich zu Charley Lobianco um. Mit einer Handbewegung gab er zu verstehen: laßt sie reden! Und was das für eine Rede war! Sie hatte so wenig mit der Oberflächlichkeit der Modewelt zu tun wie nur irgend möglich. »Wie Sie sicherlich bemerkt haben, hat nur ein einziges schwarzes Mädchen an diesem Wettbewerb teilgenommen, und ich möchte wissen, warum. Warum gibt es immer nur eine Schwarze oder einen Schwarzen, wenn überhaupt? Warum nicht mehrere? Naomi Campbell war das erste schwarze Covergirl der Time und der französischen Vogue. Und das erst 1990. Veronica Webb ist das erste schwarze Model, das Kosmetikprodukte von -112-
Revlon präsentiert, aber bekommt sie dafür genauso viel Geld wie weiße Models? Ich vermute, daß sich niemand stark genug für schwarze Models einsetzt. Heute abend sollten doppelt so viele Schwarze hier sein. Die Nachfrage nach Topmodels ist doch da. Warum kümmert sich keiner um die schwarzen unter ihnen? Heute war ein wirklich wunderbares schwarzes Mädchen hier, und sie ist einzigartig. Sie ist nicht wie Imán, sie ist nicht wie Naomi, sie ist nicht wie Tyra Banks. Sie alle sind schön, aber diese hier ist es auf eine ganz besondere Art. Schaut sie euch doch nur an…« Ich konnte der armen Amy La Mar ansehen, wie sehr sie dieser plötzliche Auftritt bewegte. Sie zitterte leicht und war wohl nicht ganz sicher, ob sie stehenbleiben sollte, wo sie war, oder ob es besser war, hinter die Kulissen zu verschwinden. Ich fragte mich, ob sie die Frau kannte. War es eine Journalistin? Oder eine schwarze Aktivistin? Aber wer immer sie war, sie hatte recht, und ich fand es großartig, daß Charley sie einfach sprechen ließ. »Es gibt jede Menge Jobs für diese wunderschönen Frauen und für Hunderte anderer schwarzer und asiatischer Mädchen. Vergessen wir nicht die Asiatinnen. Nennen Sie mir doch ein asiatisches Topmodel. Gut, es gibt Yasmeen Ghauri, aber sie ist ein Mischling, ihre Mutter ist Kanadierin. Je häufiger die Welt schwarze und Mädchen anderer ethnischer Gruppen sieht, desto normaler wird dies für sie werden. Die Hauptfarbe ist doch nur die äußere Hülle. Jeder Mensch ist ein Individuum, und es zählt einzig und allein, was hinter der Fassade steckt.« Dann verschwand sie so schnell, wie sie gekommen war. Nach kurzer Sprachlosigkeit brach die Menge in tosenden Beifall aus. Alle erhoben sich, um der Rednerin zu applaudieren, der Lärm schien regelrecht die Wände sprengen zu wollen. Die anderen Mädchen kamen auf die Bühne geeilt, um zu sehen, wer oder was der Anlaß für all die Aufregung war. -113-
»Laß uns gleich jetzt nach oben gehe n und Amy La Mar die Siegertrophäe überreichen. Dann kann die Presse eine schöne Geschichte daraus machen«, flüsterte mir Charley zu. Wir erhoben uns gemeinsam von unseren Plätzen, Charley klopfte auf das Mikrofon und bat um Ruhe. »Meine Damen und Herren, wie Sie sehen können, haben wir eine Gewinnerin. Ihr Name lautet Amy La Mar. Außerdem sind wir glücklich, heute abend Englands berühmtestes Topmodel bei uns zu haben. Mehr noch: sie ist nicht nur derzeit Englands größtes Topmodel, sie ist das größte Supermodel der Welt: SWAN! SWAN, darf ich dich bitten, Amy diese Blumen zu überreichen.« »Laß dir von Grace meine Telefonnummer geben und sag mir, wie ich dir helfen kann«, flüsterte ich ihr zu, als ich ihre Wange küßte und den Blumenstrauß in ihre Arme legte. Sie lächelte schüchtern, und da erkannte ich, wie jung und verletzlich sie war. Bitte, lieber Gott, betete ich, mach sie schnell zäh und unempfindlich. Für jedes junge Mädchen ist es hart, Model zu werden, aber für ein schwarzes Kind wie Amy würde es doppelt schwer werden.
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Wiltshire, 1993 Am nächsten Tag sah ich während der Fahrt hinaus aufs Land die Presseberichte durch. Amys Gesicht war auf allen Titelseiten zu finden. Die Headlines lauteten ›DAS GESICHT DES JAHRES‹ und ›AMY TRIUMPHIERTE‹ und waren alle ziemlich vorhersehbar gewesen. Insgesamt bekam sie durchweg gute Kritiken. Ich fragte mich, was bei den Agenturen geschah und ob sie wohl Schlange standen, um sie zu buchen. Es gab zwei Gründe für meinen Aufenthalt in England: zum einen war ich wegen der ›Girl-of-the-Year‹-Wahl gekommen, und zum anderen hatte man mich für Aufnahmen zu einer amerikanischen Modestory gebucht. Die Idee war, daß auf jedem Foto ein Model mit einem berühmten Bild abgelichtet werden sollte. Ich war schon für Gainsboroughs ›Blue Boy‹ gebucht und trug für die Aufnahme einen blauen Abendanzug aus Samt. Christy Turlington war für Bottcellis ›Geburt der Venus‹ im Rahmen einer Schwimmergeschichte engagiert, Claudia Schiffer hatte Dessousaufnahmen mit einem von Degas' Ballettbildern gemacht, und Naomi hatte Sarongs von Mizrahi und Chiffons von Ozbek für verschiedene Bilder von Gauguin getragen. Die arme Kate Moss war für die Mona Lisa gebucht, und die Geschichtsschreibung wird überliefern, welche Kleider sie dafür tragen mußte. Da saß ich nun und war auf dem Weg in irgendein idyllisches Gärtchen, um mit Fragonards ›Die Schaukel‹ im Hintergrund ein Schäferinnendreß aus seichtem Tüll von Vivienne Westwood zu tragen. Na ja, ganz entsprach das wohl nicht der Zeit von Ludwig XIV. In dieser Nacht schlief ich so gut wie seit Jahren nicht mehr. Nach der ›Girl-of-the-Year‹-Wahl hatte ich kurz bei der Party im San Lorenzo vorbeigeschaut, für einige Fotos mit Amy posiert und war dann diskret um die Ecke herum zu Halkin -115-
entwischt. Ich gab eine Mixtur aus ätherischen Ölen - pures Rosenöl und Geranium - ins Badewasser und spülte damit den Streß weg. Auch wenn ich mit der Concorde geflogen war, kam ich doch direkt aus New York und war vom Flughafen sofort zum Hilton geeilt. Ich fiel ins Bett und schlief tief und lange. Ich wußte, daß ich ausnahmsweise einmal nicht schon um 5.30 Uhr morgens aufstehen mußte, um zu einem Fototermin zu hetzen. Grace verwöhnte mich wirklich sehr. Alles, was ich am nächsten Tag zu tun hatte, war, mich für die Anprobe aufs Land fahren zu lassen und mich wieder auf ein frühes Zubettgehen zu freuen. Am darauffolgenden Tag kam dann ›Die Schaukel‹ an die Reihe, und ganz zum Schluß durfte ich etwas ganz anderes machen. Das Projekt nannte sich ›Salisbury Plain‹, weil auch der Aufnahmeort so hieß, und es stand in starkem Kontrast zu meinem ersten Termin auf dem Land. Das Budget war minimal, und ich hatte mich bereit erklärt, auf ein Honorar zu verzichten. Ich wollte damit zwei junge Modeschöpfer unterstützen, deren Kreationen ich verehrte. Sie mißachteten alle Regeln der Kunst und arbeiteten nach dem Motto: ›Zurück zu den Anfängen‹. Die Kostüme waren mit Schneiderkreide versehen und nachlässig gesäumt - kurzum, sie wirkten so recycelt wie nur irgend möglich. Die Jungs hatten mir völlig verzweifelt nach New York geschrieben, weil die Herausgeber der Modezeitschriften so wählerisch waren und ihre Nasen rümpften. Ich würde die beiden deshalb zusammen mit Willy O'Brien in Stonehenge treffen. Jeder Maskenbildner der Welt hätte seinen Augapfel dafür gegeben, mit mir arbeiten zu können, aber Willy und ich hatten ein liebenswürdiges Mädchen namens Amber gefragt, ob sie uns begleiten wolle. Willy würde ein paar Schwarzweißfilme von mir in den abgewrackten Salisbury-Plain-Klamotten verschießen, und dann wollten wir doch mal sehen, ob die Herren Herausgeber für die zwei Designer nicht doch etwas übrig hatten! Gelegentlich unterstützte ich mit meinem Namen -116-
gerne Newcomer, vor allem, da es immer hieß, die Modebranche ignoriere jedes wahres Talent. Wir waren noch nicht weit von London entfernt, als ich plötzlich eine Idee hatte. Über das Autotelefon rief ich Etoile an. »Grace?« »SWAN, vielen Dank für gestern abend. Schade, daß du nicht länger auf der Party geblieben bist, aber du bist ja noch nie ein begeisterter Partygänger gewesen. Was hältst du von unserer neuen Entdeckung?« »Sie ist ganz fantastisch! Hast du davon gewußt, daß diese Frau ein solches Prachtstück von Rede aufführen würde?« »Ich hatte keine Ahnung. Aber es war das beste, was sie für uns tun konnte.« »Danach sind bei euch die Drähte heißgelaufen, stimmt's?« »Na, darauf kannst du Gift nehmen.« »Grace, sag mal, ich weiß, es ist ein bißchen unverschämt, aber würde Amy vielleicht auch eine Sache umsonst machen? Übermorgen? Zusammen mit mir?« »Tja, wenn sie kein Geld dafür bekommt, solltest du sie lieber selbst fragen. Warte, ich gebe dir ihre Nummer. Sie wohnt mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester irgendwo in Notting Hill Gate. Viel Glück, und, SWAN, laß sie nicht zu hart arbeiten. Nächste Woche nimmt Charley sie mit nach New York zum Finale der ›Girl-of-the-Year‹-Wahl. Er macht sich schon mächtig Sorgen um sie und fragt sich, was sie dort alles mit ihr anstellen werden. Sie ist so ganz anders als die anderen. Aber andererseits hat er bestimmt nichts dagegen, wenn sie sich vorher ein paar Sporen verdient. Bilder mit dir können ihr ja schwerlich schaden.« Ich rief Amy an. »Hier spricht Tootie La Mar«, klang mir die Stimme eines kleinen Mädchens entgegen. »Leider sind wir im Moment nicht -117-
zu Hause, aber falls Sie eine Nachricht hinterlassen möchten…« »Tooti, laß das!« war eine andere Stimme zu hören. »Entschuldigen Sie bitte, wer spricht dort?« »Amy? Hier ist SWAN.« »Oh, hallo. Entschuldige bitte. Mein Freund hat mir gerade einen Anrufbeantworter geschenkt, und meine kleine Schwester wollte ihn unbedingt ausprobieren.« »Ich hätte eigentlich gedacht, daß du einen kräftigen Kater hast, Amy.« »Oh, ich trinke nicht. Würdest du mal eben Tootie begrüßen, sie gibt sonst keine Ruhe.« »Hallo, SWAN«, meldete sich die Piepsstimme wieder. »Hallo, Tootie, bist du auch Model?« »Nein, ich bin Sängerin.« »Wirklich? Sing doch mal was vor.« Als Tootie tatsächlich zu singen begann, mußte ich den Hörer aus dem Wagenfenster halten. Sie gab eine heisere Parodie von ›What's Love got to do with it?‹ zum besten. Als schließlich Amy den Hörer wieder zurückhatte, erzählte ich ihr kurz, was ich plante. »Die Jungs fangen gerade an, Fuß zu fassen, und ich würde ihnen gern helfen. Du würdest sensationell in den Kleidern aussehen. Sie haben zwar kein Geld, so daß du nicht bezahlt würdest, aber dafür hast du dann gute Bilder für deine Arbeitsmappe.« Ich erzählte ihr von O'Brien und schlug vor, daß sie ihn anrief, damit er sie mit nach Stonehenge nahm. »Wir haben ein großartiges Mädchen namens Amber für das Make-up engagiert, aber du willst sicher deine eigenen Leute mitbringen. Ich habe schon mit anderen schwarzen Models gearbeitet, und sie mußten immer alles selbst organisieren. Die Maskenbilder hatten einfach keinen Schimmer, was sie mit -118-
ihnen anfangen sollten. Aber Amber ist wirklich super. Ihr würde bestimmt jede Menge einfallen, aber es ist besser, auf Nummer Sicher zu gehen.« Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück, um den Ausflug aufs Land zu genießen. Wir alle sollten nicht weit von Salisbury Plain privat unterkommen, so daß ich für die Aufnahmen am nächsten Tag dort bleiben konnte. Willy fuhr nur für den einen Tag hin. Als das Auto von der Schnellstraße abbog und einer kurvenreichen Landstraße folgte, erkannte ich mit einem Mal, wo ich mich befand. Die Hügel, durch die wir gerade fuhren, waren mir so furchtbar vertraut. Wir näherten uns dem Dorf, in dem meine Eltern das Landhaus mit den sieben Zimmern bewohnten und in dem ich die glücklichsten Tage meiner Kindheit verlebt hatte. Als man mir sagte, daß wir privat unterkommen würden, hatte ich natürlich keinen Augenblick daran gedacht, daß ich die Wirtsleute kennen würde. Aber als das Auto dann in die Einfahrt zur Woodbridge-Mühle einbog, sank mir das Herz in die Hose. Die Frasers gehörten zu den ältesten Freunden meiner Eltern! Es stellte sich jedoch heraus, daß ich mir diesbezüglich keine Sorgen zu machen brauchte. »Lavinia, süßes Mädchen, wie schön, dich zu sehen. Ich bin ja so froh, daß du mal hereinschaust. Du bleibst doch zum Abendessen? Daß du einmal hier vorbeikommen würdest, nach langer Zeit… Und dann diese furchteinflößenden Leute von einem amerikanischen Magazin, die über uns hergefallen sind. Sie haben wohl von der Mühle gehört und wie schön sie ist. Jedenfalls hat uns diese herrische Frau aus New York angerufen und gefragt, ob sie kommen könnten, um ein paar Aufnahmen zu machen. Natürlich hat sie mich ganz durcheinandergebracht, und dann hatte ich Bedenken wegen ihrer Telefonrechnung, die ja immer höher wurde, je länger wir miteinander sprachen. Schließlich habe ich zugestimmt und gesagt, daß wir uns sehr freuen würden. Geoffrey ist deswegen schrecklich wütend auf -119-
mich und hat seit Tagen nicht mehr mit mir gesprochen. Nur du kannst mich retten, wenn du heute abend vielleicht mal mit ihm…« Ich hätte wissen müssen: Lucy hatte nicht die leiseste Ahnung davon, daß ich mittlerweile ein weltberühmtes Topmodel war. Sie lebte hoffnungslos hinter dem Mond. Ich unterbrach ihren Redefluß und drängte sie ins Haus. »Hör mal, Lucy, ich gehöre ebenfalls zu diesen Leuten. Sie werden hier Fotos von mir machen. Dafür werden wir wohl eure Schaukel im Obstgarten brauchen. Befinden sich all die kleinen Steinengel noch immer am Ende des Gartens? Ich denke, die sollten unbedingt mit auf die Fotos kommen.« »Gütiger Himmel!« Lucy schaute mich an, als wäre sie einem Hausierer auf den Leim gegangen. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, nutzte ich ihre Sprachlosigkeit und beeilte mich zu fragen: »Wie geht es Mama und Papa? Wann habt ihr sie das letzte Mal gesehen?« Ich hielt den Atem an und wartete auf ihre Antwort. »Es geht ihnen gut. Was für eine Schande, daß du sie nie besuchen kannst. Sie vermissen dich doch so sehr. Wir haben heute erst eine Postkarte von ihnen bekommen.« »Eine Postkarte?« »Sie sind in Schottland, genauer gesagt, irgendwo zwischen Schottland und England. Ich weiß auch nicht genau, was sie dort treiben.« Eigentlich hätte ich erleichtert sein sollen, daß dieser Kelch an mir vorübergegangen war, aber ich war es nicht. Ich liebte meine Eltern, und früher oder später mußte ich mich mit ihnen versöhnen und einen Weg finden, um mehr Zeit mit ihnen verbringen zu können. Da kam Mary-Ann de la Salle, die Herausgeberin aus New York, in die Halle gerannt und begrüßte mich mit ihrem breiten -120-
Südstaatenakzent. »SWAN, Liebes, der Ort hier ist zum Sterben schön…«, flötete sie, zog mich mit sich und ließ die arme Lucy einfach stehen. Die Aufnahmen zu ›Die Schaukel‹ waren sehr anstrengend. Auf dem Gemälde verliert die abgebildete Frau beim Schaukeln einen Schuh, der durch die Luft fliegt, und Mary-Arm bestand darauf, die Szene haargenau nachzustellen. Es dauerte ein paar Aufnahmen, bevor es mir gelang, den Schuh so zu verlieren, daß die Fotografin ihn mitten im Flug im Bild einfing. Die betreffende Fotografin war übrigens eine reizbare alte Französin, mit der ich hoffentlich nie wieder zusammenarbeiten muß. Jedesmal, wenn ich den Schuh weggeschleudert hatte, landete er natürlich kilometerweit entfernt in den dichtesten Brombeersträuchern, und die dünne, blasse Assistentin mit ihren nackten Beinen mußte ihn suchen. Sie kam jedesmal zerkratzt und blutend zurück. »Also, meiner Meinung nach ist diese Claudia Fischer die bestaussehendste von allen, findest du nicht auch, La vinia? Kennst du sie persönlich?« fragte Lucy mich, während sie herumlief, ihre Steinengel abstaubte und andauernd ins Bild rannte. Daraufhin nannte die Fotografin sie ›espece de salope‹ (Schlampe). Lucy drehte sich zu ihr um und beschimpfte sie als Vollidiotin. Ich konnte mir das Kichern nicht verkneifen. Um 19.30 Uhr machten wir Feierabend, und mir tat es keineswegs leid, daß die anderen wegfuhren. »Deine Eltern werden sehr traurig sein, daß sie dich nicht gesehen haben«, sagte Lucy am nächsten Morgen zum Abschied. »Warum nur sagst du ihnen nie vorher Bescheid, wenn du kommst?« Auf dem Weg nach Salisbury Plain kauerte ich mich auf dem Rücksitz zusammen und fühlte mich ganz elend vor lauter Schuldgefühlen. Willy und Amy warteten bereits auf mich, und -121-
Amy war sogar schon geschminkt. »Mann, dieses Mädchen ist eine Wucht. Die hat echt Klasse. Ich werde sie heiraten, SWAN, ja, das werde ich tun.« »Hör zu, Willy, sie ist erst sechzehn, gerade einmal halb so alt wie du«, stellte ich fest. Mit seinen vierunddreißig Jahren war Willy, der Sohn eines Straßenhändlers und von erschreckender Ähnlichkeit mit Terence Stamp in ›Billy Budd‹, bereits zweimal verheiratet gewesen. Seine erste Frau war ein Mädchen aus seinem Dorf gewesen, die er mit siebzehn geheiratet hatte. Und danach hatte er eine Teilzeitschauspiele rin geehelicht, die mit einem Stuntman durchgebrannt war. Ich mochte Willy sehr, denn er war einer der wenigen Fotografen ohne PrimadonnaAllüren, und er war nie launisch. »Ich hatte immer schon eine Schwäche für Kokosnüsse«, sagte er und nickte dabei mit dem Kopf in Amys Richtung. »Sie sind schön lecker.« »Willy, um Himmels willen!« Aber Amy lachte nur. »Mach dir keine Sorgen. Wir haben uns auf dem Weg hierher prächtig unterhalten, stimmt's, Willy?« »Ganz genau. Weißt du was, SWAN, es gibt nicht genug schwarze Models. Das sollte irgend jemand mal öffentlich machen.« »Wer könnte das besser als du, Willy? Schrei es in die Welt hinaus, fang an, nach schwarzen Models zu fragen. Erzähl es den Kunden, aber erspar uns diese Leier, wir wissen das nämlich schon.« »Du hast recht, stimmt genau, du hast vollkommen recht«, wiederholte Willy mehrere Male. »Also, was machen wir heute?« Vom ersten Augenblick unserer Arbeit an wußte ich, daß die Bilder bezaubernd werden würden. Amber benutzte ein spezielles Kabuki-Makeup, das meinen totenbleichen Teint in -122-
wunderbaren Kontrast zu Amys schwarzer Hautfarbe setzte, und mit meinen schwarzen Haaren und Amys weißem Bürstenhaarschnitt wirkten wir wie Elfenbein und Ebenholz. Stonehenge war undeutlich am Horizont sichtbar, und anscheinend fühlte sich sogar der Himmel verpflichtet, das Seinige hinzuzutun. Er wurde ganz grau, und der Wind jagte die Wolken mit rasendem Tempo hinter und über uns hinweg. Mittendrin wurde mir klar, daß dies Amys erste richtige Fotosession war. Willy redete auf sie ein. »Das ist's, Darling, super, bleib so, nicht lachen, heute wird überhaupt nicht gelacht, ganz ernst, guck durch mich durch, das ist's, jetzt reiß die Arme hoch, höher, höher! Greif nach diesen Wolken, bevor sie weg sind. Du auch, SWAN, guck mich nicht an, als wäre ich völlig verblödet, eure Hände berühren die Wolken, springt ein bißchen - JETZT! Es wird so aussehen, als ob ihr von den Wolken davongetragen würdet. Alles klar, jetzt dreht euch rum, Rücken an Rücken, seht her zu mir, guckt wieder weg, zeigt mir euer schönes Profil…« Ich wollte Amy mit nach London zurücknehmen, um sie besser kennenzulernen, aber ich hatte leider noch etwas Wichtiges zu erledigen. Deshalb bedankte ich mich im Namen der Designer bei ihr und versprach, sie anzurufen, sobald sie für die ›Girl-of-the-Year‹-Wahl in New York ankäme. Dann amüsierte ich mich über Willy, der sich hinter unseren Rücken herumtrieb und auf seine Chance wartete, allein mit Amy zu sprechen. »Schon was vor, heute abend?« hörte ich ihn fragen, als er ihr ins Auto half. »Nichts Besonderes. Nur ein Familientreffen mit meinem Verlobten. Willst du kommen?« Ich hörte nicht, was Willy antwortete. Ich mußte es einfach tun. Dem Fahrer erzählte ich nicht, wohin -123-
wir fuhren. Ich bat ihn nur, mich in Höhe der Einfahrt auf der Straße abzusetzen, und sagte, ich wolle ein bißchen Spazierengehen. Er wußte nicht, daß ich dem Anwesen meiner Eltern einen Besuch abstatten wollte. Es war September, und die Bäume hatten ihre Blätter noch nicht verloren. Ich schlenderte die Auffahrt hinauf, fing an zu laufen und sprang mit einem Satz über das Viehgatter, wie ich das als Kind immer getan hatte. Das Haus stammte aus dem 17. Jahrhundert und war aus rotem Ziegel und Fachwerk erbaut. Gleich nach einer Wegbiegung stand es plötzlich da, unten im Tal, gleich neben dem Fluß. Der Weg mündete in einen staubigen Pfad, der zu den Ställen führte. Um zum Haus zu gelangen, mußte man querfeldein gehen. Alles sah viel verwilderter aus, als ich es in Erinnerung hatte. Ich ging nicht hinein, denn ich wollte kein Eindringling sein. Außerdem mußte ich auch nicht ins Innere, um die Atmosphäre des Hauses zu atmen. Früher waren wir immer draußen auf den Feldern gewesen. Ich ging hinter das Haus und folgte dem schmalen Weg den Fluß entlang. Ich kannte meinen Lieblingspfad genau und wußte, wie tückisch er war. Hier hatten wir als Kinder immer zusammen gespielt. Ein alter verlassener Kalkofen war unser Geheimversteck. Es war so gut wie unmöglich, ihn zu finden, wenn man nicht wußte, daß es ihn gab. Man mußte über das Stauwehr klettern - etwas, das man uns ausdrücklich verboten hatte - und dann am Flußufer entlanggehen, bis man zu ein paar Bäumen kam, die auf einem Hügel steil in den Himmel ragten. Dort befand sich der Kalkofen. Er war in den Abhang gebaut und vollkommen unsichtbar, wenn man nicht gerade zufällig genau an ihm vorbeilief. Ich sah Rauch aufsteigen, noch bevor ich den Ofen selbst sehen konnte. Als ich den Platz endlich erreicht hatte, bemerkte ich, daß jemand eine nagelneue Holztür eingebaut hatte, die offenstand. Wie ich so dastand, bemerkte ich, daß rundherum -124-
aufgeräumt worden war. Ich klopfte an, erhielt aber keine Antwort. Also trat ich ein und wußte sofort, daß hier jemand wohnte. Innen war der Ofen kegelförmig, und sein Dach lief in der Mitte spitz zusammen. Die runde Form machte es schwierig, den Raum einzurichten, aber trotzdem hatte es jemand versucht. Der Ofen wurde ganz offensichtlich als Feuer- und Kochstelle benutzt. Ein Futonbett ragte in den Raum hinein. Auf dem Boden waren neben eine m riesigen Ghettoblaster Bücher und Kassetten aufgestapelt. Mir gefiel dieser Platz auf Anhieb. Er sah so aus, wie wir uns als Kinder unser kahles Versteck immer vorgestellt hatten. Dann erblickte ich etwas, das mit einem Klebestreifen an der Wand befestigt war: mein erstes Vogue-Cover. Mitten in diesem seltsamen kleinen Wohnraum starrte mir mein eigenes Gesicht entgegen, und ich starrte bestürzt zurück. Plötzlich hörte ich Stimmen hinter mir. Jemand kam den Hügel hinauf. Ich saß fest. Ich hatte nicht mehr die Zeit, den Kalkofen zu verlassen, bevor sie ihn erreichen würden. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu bleiben und mich des unbefugten Betretens beschuldigen zu lassen. Seine Silhouette vor dem abendlichen Septemberhimmel hinter ihm füllte den Türrahmen. »Mensch, SWAN, du hast dir aber viel Zeit gelassen«, begrüßte mich mein Bruder Harry. »Ich hatte schon vor Jahrzehnten mit dir gerechnet.« Dann trat er beiseite, und ich konnte die junge Frau erkennen, die bei ihm war. Und irgendwie kam sie mir schrecklich bekannt vor. O mein Gott, dachte ich, das ist ja Molly Bainbridge!
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London, 1993 Angie, hier ist was für dich«, sagte Grace eines Morgens. »Ein Werbespot für eine neue Hotdog-Kette. DAX. Hast du's? Sie suchen nach jungen Darstellern, also neuen Gesichtern. Der Film wird mit geteiltem Bildschirm gedreht, sechs verschiedene Jungs und Mädchen laufen die Straße entlang und essen Hot dogs. Ich habe gesagt, sie könnten nächsten Donnerstag nach der Schule vorbeikommen. Auf diese Art können wir auch unsere Mädchen in das Casting einbeziehen. Sag ihnen, sie sollen sich einfach und leger kleiden - weißes T-Shirt, Jeans, alles ganz natürlich. Wir brauchen niemanden, der älter als sechzehn ist. Also, mach dich an die Arbeit, ruf deine Mädchen an!« Angie lächelte. Sie konnte noch immer nicht glauben, daß sie ihre eigenen Models betreute. Und wie sie sie betreute. Die Mädchen waren gehalten, ihre Agenten täglich zwischen siebzehn und achtzehn Uhr anzurufen, um zu hören, was gerade anstand, und Details zu einzelnen Castings zu erhalten. Aber Angie merkte bald, daß die Neuen zwischendurch auch gerne mal nur mit ihr plauschen wollten. Darüber hinaus kamen sie oft persönlich rein, hingen herum, plauderten miteinander, tranken Tee und versuchten, cool zu sein. Angie war gleich am ersten Tag ihrer Tätigkeit ins kalte Wasser geworfen worden. Sie bekam massenweise Anrufe von Kunden - Herausgeber von Jugend-Magazinen, Organisatoren von Modeschauen der wichtigsten Geschäfte oder Werbe- und PR-Agenturen -, die nach Models suchten. Sie hatte viele Mädchen zu Castings geschickt und gelernt, daß die Kunden, wenn ihnen die Kandidatin gefiel, anriefen und eine Option anmelden wollten. Erst wenn sich erwiesen hatte, daß sie es wirklich ernst damit meinten, redete man über Geld. Die Agentur bekam sowohl vom Kunden als auch von dem -126-
jeweiligen Mädchen eine Provision von zwanzig Prozent. In ihrer ersten Woche hatte Angie ein Model auf den falschen Tag gebucht, und es war schieres Glück, daß das Girl zehn Minuten vor dem richtigen Termin anrief, um sich unschuldig zu erkundigen: »Gibt es heute irgend etwas für mich zu tun?« Nach einem Monat hatte Angie sich jedoch richtig eingearbeitet und legte sich nach und nach einen Grundstamm neuer Gesichter zu. Sie beobachtete ihre Schützlinge während der Bewerbungs-Castings genau, plauderte ein wenig mit ihnen und fragte, wie es in der Schule lief. Kurz - sie fahndete nach einer richtigen Persönlichkeit. Wenn sie die richtige Größe (182 Zentimeter und größer) hatten, hübsche Gesichtszüge besaßen und auf ihren Bewerbungsfotos ausreichend fotogen wirkten, sandte Angie sie zu Probeaufnahmen. Die Mädchen mußten die fünfzig Pfund für die Aufnahmen selbst bezahlen. Angie schickte sie zu einem früheren Model, das Fotografin geworden war und die Aufnahmen in ihrer Wohnung machte. Sie wußte genau, wie sie die Mädchen behandeln mußte, damit sie sich wohl fühlten. Wenn die Proben gut gelaufen waren, hatten sie die Möglichkeit, über die Agentur Laserkopien der Bilder für jeweils fünf Pfund zu beziehen anstatt sich Fotoabzüge für zehn bis fünfzehn Pfund machen lassen zu müssen. Eine Mappe mit Bildern war immer für die jeweilige Mutti bestimmt. Außerdem gab es auch noch die Assistenten der bekanntesten Fotografen, die sich selbst einen Namen machen wollten und oftmals froh waren, die Aufnahmen unentgeltlich machen zu dürfen, nur damit sie Bilder wirklich großartiger, wenngleich auch oft sehr junger Models hatten. Damit konnten sie dann ihre eigenen Mappen aufwerten. Der zweite Schritt bestand darin, den Mädchen zu guten Mappen zu verhelfen. Dazu brauchten sie Jobs bei Zeitschriften und Magazinen. Die Belege kamen dann jeweils mit zu den Unterlagen. Angie hatte schnell herausgefunden, daß eines der größten Probleme von Mädchen diesen Alters ihr Gewicht war. -127-
Oft schon hatte sie eines von ihnen mit tollen Probeaufnahmen zu einem Casting geschickt und hinterher gehört, daß es inzwischen wohl erheblich zugenommen hätte. Die Gewichtsschwankungen hingen mit den für dieses Alter typischen Gefühlsbädern zusammen. In den meisten Fälle n gab es dafür immer ein und dieselbe Ursache: Liebeskummer. Angie war jedenfalls schnell klargeworden, daß sie auch abends erreichbar sein mußte, nämlich immer dann, wenn die Mädchen anriefen, um von ihr getröstet zu werden. Am häufigsten rief Tess Tucker an. Angie war anfangs völlig überrascht gewesen zu hören, daß Tess keine Jobs bekam. Als sie nach den Gründen dafür forschte, erzählte man ihr immer die gleiche Geschichte: »Das Mädchen ist eine wahre Schönheit«, berichtete ein Fotograf, der Tess während eines Castings von Kookai gesehen hatte. »Sie ist wirklich toll! Wenn es nach mir ginge, könnte ich es kaum erwarten, sie zu fotografieren. Aber sie kann sich nicht verkaufen. Sie ist so furchtbar schüchtern und zögerlich. Sie bewegt sich nicht gut, sie macht sich nicht groß beim Gehen. Außerdem hat man ihr die Mappe förmlich entreißen müssen, weil sie sie so fest an ihre Brust gedrückt hat.« »Sie hat entsetzlich ausgesehen!« sagte ihr jemand von einem Modemagazin. »Ich habe gedacht, die bricht jeden Augenb lick in Tränen aus. Sie sollte eine Tamponreklame machen, und du weißt, wie die Mädchen auf den Bildern aussehen sollen - sie sollen hüpfen, springen, im Sonnenlicht tanzen und die pure Lebensfreude ausdrücken! Sie aber hat dreingeschaut, als hätte sie die schlimmsten Krämpfe der Welt. Sie sieht irre gut aus, aber sie hat kein Selbstvertrauen. « »Angie, es war einfach schrecklich. Ich mußte mich bis auf BH und Slip ausziehen, und alle starrten auf meine Oberschenkel und sprachen in einem Tonfall über mich, als ob ich gar nicht vorhanden wäre.« Tess war am Abend nach dem Tampon-Casting regelrecht hysterisch am Telefon. »Sie haben -128-
mich von dem Augenblick an gehaßt, in dem ich zur Tür hereinkam, sage ich dir.« Es war, als hörte Angie ihre kleine Schwester Jeannie reden, wenn sie von der Schule kam und sich darüber aufregte, daß eines der älteren Kinder sie gehänselt hatte. Angie wußte, daß sie sehr geduldig sein mußte. Keinesfalls durfte sie Tess oder irgendeinem anderen Mädchen gegenüber schnippisch werden, sie mußte vielmehr ihr Selbstvertrauen stärken und erreichen, daß sie ihr vertrauten. »Tess, das passiert doch ständig, aber das ist nicht dein Problem, sondern ihres. Du bist wunderschön, und wer das nicht erkennt, ist verrückt. Wir werden jemanden finden, der das zu schätzen weiß. Morgen schon ist ein Casting, zu dem ich dich gern schicken würde. Du wärst die perfekte Besetzung. Es handelt sich wieder um Dessous, aber dein Körper ist ja auch ein Traum und deine Hautfarbe großartig. Wenn du die Sache selbstbewußt angehst, wirst du absolut keine Probleme haben. Also, schreib dir mal die Adresse auf…« Als Tess zum Casting kam, war sie schweißgebadet. Der Termin fand in einem umgebauten viktorianischen Arbeiterhaus in einem entlegenen Stadtteil statt. Die Hitzewelle Anfang Juni 1993 hatte ganz London lahmgelegt. New Yorker waren es ja gewohnt, in kühlen, klimatisierten Räumen zu arbeiten, während es draußen fünfunddreißig Grad Celsius warm war. Die Bewohner Londons hingegen wurden schon von dreißig Grad umgehauen. Bei dem Casting sollten sechs bis acht Schwarzweißfotos für die britische Presse gemacht werden - und zu allem Überfluß stellte sich heraus, daß es dabei um Thermowäsche ging. Tess war zu früh dran. Sie hatte derart große Angst, zu spät zu ihren Terminen zu kommen, daß sie grundsätzlich zu früh erschien. Das Büro war leer, aber aus dem oberen Stockwerk -129-
waren Stimmen zu hören. Das Gebäude hätte aus einem Dickens-Roman stammen können, so schmal war es. Es bestand aus gerade einmal einem Raum pro Stockwerk. Tess ging nervös die Wendeltreppe hinauf, aber im nächsten Stockwerk war ebenfalls niemand zu sehen. Sie entdeckte die Damentoilette und schlüpfte schnell hinein, um sich den Schweiß vom Gesicht zu waschen. Irgendwo in der alten Zwischendecke befand sich ein kleines Loch, durch das die Stimmen zu Tess herabdrangen. Jetzt konnte sie sie ganz deutlich verstehen. »So, was brauchen wir heute denn? BHs und Schlüpfer? Also einen schönen Hautton und feste Titten.« Das müssen der Fotograf und sein Assistent sein, die auf die Mädchen warten, überlegte Tess. Sie wollte gerade wieder hinausgehen, als sie Schritte auf der Treppe hörte. Jemand war ihr zuvorgekommen. »Hallo, komm ruhig rein, Mädchen, hier bist du ganz richtig. Wie heißt du? Hast du eine Einladung bekommen?« Jetzt war eine weibliche Stimme zu hören: das mußte ein anderes Model sein. »Hier oben sind sie also«, sagte eine helle zuversichtliche Stimme. »Ich bin Zara. Wie geht es Ihnen?« »Uns beiden geht es gut, Darling. Du siehst sehr schön aus. Hast du schon mal Dessous gemacht?« »Oh, ich mache hauptsächlich Dessous, eigentlich fast ausschließlich.« »Na, da haben wir aber Glück gehabt. Würdest du dann bitte hinuntergehen, diesen Bodystocking anziehen und dann wieder raufkommen?« Tess hörte das Mädchen die Treppe herabkommen. Sie wollte gerade hinausgehen, als sie von oben wieder die beiden Männerstimmen hörte. »Ich mache hauptsächlich Dessous, eigentlich fast -130-
ausschließlich - die macht wohl Scherze. Ihre Titten sind kaum der Rede wert. Oh, da kommt die nächste. Hallo, Darling, hast du eine Einladung bekommen? Danke. Nicht zu schüchtern, um Dessous zu zeigen? Maggie war dein Name, nicht wahr? Okay, nimm dir einen Bodystocking, Maggie, und komm wieder rauf, wenn du ihn angezogen hast. Und du, Herzblatt, mit dir habe ich doch schon mal zusammengearbeitet, oder? Schön, dich wiederzusehen. Ah, du bist schon wieder da? Steht dir hervorragend. Würdest du für uns bitte ein bißchen auf und ab gehen, so als würdest du durch die Straßen bummeln? Dann können wir mal sehen, wie du dich bewegst. Ja, schön so…« Als der Fotograf und sein Assistent wieder allein waren, hörte Tess mit Entsetzen ihre Kommentare. Gleichgültig, wie herzlich die Mädchen auch begrüßt wurden, sobald sie nach unten gingen, wurde unbarmherzig über sie hergezogen: »Schlaffe Titten, großporige Haut, keine Chance.« »Sie war oben herum nicht schön genug, und hast du die Zellulitis auf ihren Oberschenkeln gesehen?« »Wer hat denn die Probeaufnahmen von der gemacht? Die sieht ja wie ein häßliches altes Weib aus, armes Ding. Na ja, in natura sieht sie auch nicht viel besser aus.« »Auf dieser Karte steht, sie wäre 1,82 Meter groß, und in Wirklichkeit ist sie ein regelrechter Zwerg.« »Oben herum war sie ja in Ordnung, aber diese Beine! Vergiß es. Die hatte Oberschenkel wie ein trächtiger Wal.« Als die Mädchen die Treppe herunterkamen, lugte Tess aus der Tür. Sie fand sie alle wunderschön. Hier habe ich nicht die geringste Chance, sagte sie zu sich selbst und rannte weg, ohne sich überhaupt vorgestellt zu haben. Was soll ich nur mit ihr anfangen? fragte sich Angie gut fünfzigmal am Tag. Es war ein Kreuz mit Tess. Für Laura -131-
Ashley wäre sie beispielsweise bestens geeignet gewesen, aber ihre Mappe war nicht aussagekräftig genug. Und solange das so blieb, würde man sie einfach nicht engagieren. Umgekehrt konnte die Mappe aber auch nicht besser werden, wenn sie nie engagiert wurde. Ich muß jemanden finden, der ihr Selbstvertrauen gibt, dachte Angie. Der letzte, der Angies Meinung nach dafür in Frage kam, war wohl ihr Bruder Patrick. Angie lag im Dauerclinch mit ihm. Die Tatsache, daß er immer noch zur Schule ging, während sie jetzt Geld verdiente, war mehr, als er zu ertragen vermochte. Wenn sie abends nach Hause kam, gerade rechtzeitig, um den Tee für alle zuzubereiten, begann Patrick mit seinen Aufsässigkeiten. »Na, wie geht's der Königin der Modewelt heute? Wie geht's Fräulein Angie Doyle, die gedacht hat, daß sie das Zeug zum Model hätte, dann aber leider nur Sekretärin geworden ist?« »Ich bin keine…«, holte Angie zum Gegenschlag aus, hielt sich dann aber im Zaum. Sie durfte sich nicht provozieren lassen. Patrick wollte der Ernährer der Familie sein, und seine Frustration wurde täglich größer. Sie konnte seine Aggressivität förmlich fühlten, gespannt wie ein Flitzebogen wartete er nur darauf, seine bitteren Haßattacken zu fahren, und die meisten davon galten ihr. Aber was konnte sie schon dagegen tun? Er war noch so jung, hatte noch nicht einmal seinen Schulabschluß; und außerdem kannte sie ja den eigentlichen Grund für sein Verhalten. Patrick verehrte ihre Mutter, und umgekehrt hatte sie nie einen Hehl daraus gemacht, daß er ihr Liebling war. Nachdem sie die Familie verlassen hatte, war er völlig verstört gewesen, obwohl er der einzige war, dem sie zum Abschied etwas geschenkt hatte. Sie hatte ihm eine Kiste mit allerhand Krimskrams dagelassen: einen alten Füllfederhalter, die Uhr ihres Vaters, ihre erste Kamera, ein Kartenspiel, eine Wasserpistole und einen Zauberstab - alles verrückte und sehr persönliche Dinge, die für Patrick wie geschaffen waren, denn er war ein Clown und unverbesserlicher Spieler. Er hatte sich von -132-
da an allem total verweigert und wollte nicht glauben, daß seine Mutter nicht mehr zurückkommen würde. Morgens war er immer der erste, der rausrannte und nach der Post sah, und er gab die Hoffnung nicht auf, daß sie ihm eines Tages schreiben würde. Aber das tat sie nie. Als Angie an diesem Abend von der U-Bahn nach Hause kam und durch die Haustür trat, war sie innerlich schon auf Patricks alltäglichen Angriff vorbereitet. »Ich bin da!« rief sie wie immer. »Was gibt's zum Tee?« kam es von Jeannie, Kathleen und Michael zurück, bevor Angie auch nur ihren Mantel ausziehen konnte. Patrick gab keinen Mucks von sich. Als sie in die Küche kam, wußte sie, warum. Tess saß, mit einer großen Tasse Tee vor sich, am Tisch. Und ihr gegenüber saß Patrick und himmelte sie unverhohlen an. »O Angie, bitte verzeih mir, daß ich dich zu Hause störe, aber ich mußte einfach mit jemandem reden, und ich wußte, daß du um diese Zeit das Büro verläßt. Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist. Es war so ekelhaft. Ich bin zu diesem Casting gegangen, du weißt schon, für diese Geschichte über das Küssen in der Öffentlichkeit. Darf man oder darf man nicht? Sollten Sie oder sollten Sie nicht? O Angie, ich mußte das männliche Model richtig auf den Mund küssen, und weißt du, was er getan hat? Er befummelte mich während des Küssens und drückte sich richtig an mich…« »Und, hast du etwas gesagt?« »Nein, ich habe mich nicht getraut. Und dann ist er mir nach dem Casting gefolgt und hat lauter so schmutziges Zeug zu mir gesagt.« »Was denn genau?« erkundigte sich Patrick gierig. »Sei still, Patrick. Wie hieß das Model?« »Das habe ich nicht gefragt, ich bin einfach nur weggerannt, -133-
direkt hierher. Ich war vo llkommen außer mir, und Patrick war so nett, mir einen Tee zu kochen.« »Das war doch selbstverständlich«, murmelte Angie. »Tess, sollte so etwas noch einmal vorkommen, dann rufst du mich auf der Stelle an, egal, wo du bist. Ich kläre die Sache dann umgehend mit dem Kunden. Morgen werde ich als erstes den Namen des Models in Erfahrung bringen. Er ist ja ganz offensichtlich eine Bedrohung. Und, hat dich Patrick in der Zwischenzeit zu Tode gelangweilt?« »O nein, ganz und gar nicht. Er hat gesagt, ich sähe eurer Mutter sehr ähnlich. Ich hätte nie gedacht, daß deine Mutter so rote Haare wie ich hatte, Angie.« »Doch, doch, das hatte sie«, entgegnete Angie kurz. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, daß Tess irgendeine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter haben könnte. »Und dann hat Patrick mir gesagt, daß sich an meiner Situation nie etwas ändern wird, wenn ich nicht rund um die Uhr arbeite. Aller Anfang sei schwer, meinte er, aber eines Tages wird mich jemand ins Herz schließen und mein besonderes Aussehen zu schätzen wissen, ich sollte nur Geduld haben und mein Bestes geben, um selbstsicher zu wirken, wenn ich zu den Castings gehe. Ich soll mir so lange vorsagen, daß ich wundervoll bin, bis ich es selbst glaube. Er hat mich richtig aufgebaut. Ich kann es jetzt wirklich kaum abwarten, den nächsten Termin zu haben, obwohl heute alles so schrecklich war…« Das alles predige ich ihr doch schon seit Wochen, dachte Angie, und nur, weil diese Weisheiten aus Patricks süßem Mund gekommen waren, hatte Tess sie auf einmal verstanden. Angie wandte sich schnell ab, damit keiner sehen konnte, wie belustigt sie war. Patrick mußte jedem Wort, das sie über Tess hatte fallenlassen, sehr aufmerksam gelauscht haben. Er hatte lediglich ihre Reden wiederholt und getan, als wäre alles auf -134-
seinem Mist gewachsen. Nun ja, was machte es schon, wer es ihr sagte? Die Hauptsache war doch, daß es etwas bewirkte. Nie zuvor hatte sie ihren Bruder in Gesellschaft eines Mädchens gesehen. Patrick war schon ein komischer Kauz mit seiner großen Nase und seinem langen, traurigen Gesicht. Nicht daß er häßlich gewesen wäre, nein, besonders seine Augen waren wunderschön, dunkelblau mit langen Wimpern. Angie wußte, daß sich ihr Vater Sorgen um Patrick machte. Seine Lehrer baten Joseph Doyle oft zu einem Gespräch in die Schule. Man hatte ihm sogar schon einmal vorgeschlagen, die Hilfe eines Psychologen für Patrick in Anspruch zu nehmen. Der Weggang der Mutter hätte den Jungen vielleicht doch stärker verunsichert, als die eigene Familie glaubte. »Mein Junge soll zu einem Seelenklempner? Nie!« Angies Vater war über diesen Vorschlag entsetzt. Aber Angie war sich nicht sicher, ob dieser Vorschlag nicht doch vernünftig gewesen wäre. Sie fühlte, daß ihr Bruder tiefunglücklich war. Aber weil er sie so sehr ablehnte, würde sie ihm als allerletzte helfen können. Als Tess aufbrechen wollte, erhob sich auch Patrick. »Tess, es ist besser, wenn ich dich bis zur U-Bahn begleite. Nicht daß noch jemand auf der Straße dich überfällt.« Angie wollte Tess gerade warnen, daß Patrick ihr den Gentleman nur vorgaukelte und sie ihn nicht ernst nehmen sollte, aber Tess stand schon an seiner Seite und lächelte ihn an. »Ich ruf dich morgen an, Angie«, sagte sie, als sie mit ihm hinausging. Na schön, na schön, na schön, dachte Angie.
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London, 1993 Schon als Teenager träumte Linda Johnson davon, Model zu werden. Die Wände ihres Zimmers in der VorortDoppelhaushälfte in Ashton- under-Lyne außerhalb von Manchester waren regelrecht tapeziert mit Postern von Models, die sie aus Zeitschriften herausgerissen hatte. Fotos von außergewöhnlich schönen Models hingen neben denen eher gewöhnlichen Mädchen. Als sie vierzehn wurde, geschah dann zweierlei: ihr Vater, ein Journalist, bekam einen Job bei der Boulevardpresse, und die Familie zog hinunter nach London. Gleichzeitig - obwohl diese beiden Dinge nicht zwangsläufig miteinander in Beziehung standen - nahm Linda beträchtlich zu. Sie wurde so dick und unförmig, daß sie sämtliche Poster von den Wänden riß und sich alle Gedanken an eine Zukunft als Model aus dem Kopf schlug. Ihr Vater verschaffte ihr einen Job in der Nachrichtenredaktion seiner Zeitung, und sie setzte von nun an all ihre Erwartungen in einen anderen Traum: sie wollte eine hochgeschätzte Journalistin werden. Nur ihre Schwester Alice war ihr dabei ein ständiger Dorn im Auge. Ihr war es nämlich gelungen, eine Kombination aus Lindas altem und neuem Traum zu verwirklichen. Sie war groß und schlank und hatte ein angeborenes Stilempfinden. Nach dem Studium an der Universität von Durham hatte sie an einem Talentwettbewerb von Vogue teilgenommen - und gewonnen. Obwohl jeder behauptete, sie hätte Model werden können, war sie jetzt, mit sechsundzwanzig Jahren, Moderedakteurin bei Carter's. Zwar war Carter's in Lindas neiderfüllten Augen nur ein Abklatsch der zwei großen Modezeitschriften, nämlich Vogue und Harper's, aber sie konnte leider nicht leugnen, daß Carter's an Renommee gewann. Alice war also beides: eine Klasse-Journalistin und mitten in der Modewelt, genau dort, -136-
wohin Linda auch gerne wollte. Alices Leben waren die Kleider, sie lebte vierundzwanzig Stunden am Tag dafür. Jede Nacht hing sie mit anderen Modejournalisten, Fotografen, Models und Modeschöpfern herum. Sie unterhielt sich ständig darüber, ob es ihr gelingen würde, eine super T-Shirt-Story, eine außergewöhnliche Jeansstory, eine wirklich geniale SchwarzesPolohemd-Story oder eine neue Cordstory zu bringen, bevor ihre Erzrivalen von der Konkurrenz ihr die Idee stahlen und die Geschichte als ihre eigene verkauften. In einem verzweifelten Versuch, sich gegenüber der Schwester zu behaupten, änderte Linda ihren Namen in das stilvollere Lindy und fügte ihren Zweitnamen hinzu. Fortan hieß sie also Lindy-Jane Johnson. Ihr neues Lebensziel war nun, Enthüllungsreporterin zu werden und Prominente zu entlarven. Mit Hilfe ihres Vaters gelang es ihr, einen Job bei einem billigen Sonntagsblatt zu bekommen, das recht gute Gehälter zahlte. Das war immerhin ein kleiner Triumph, denn obwohl Alice bei Carter's einen weitaus besseren Job hatte, verdiente sie dort viel weniger als Linda. Gerade als Linda im Begriff war, Alice die beeindruckende Summe ihres Gehalts unter die Nase zu halten, kündigte diese an, demnächst als Stylistin bei der Werbekampagne eines bekannten Modeschöpfers gutes Geld verdienen zu können. Danach wüns chte Lindy-Jane sich nichts sehnlicher, als dem Prinzen von Wales in einer Schwulenbar zu begegnen, die Beweise dafür zu erbringen, daß Hillary Clinton als Mann geboren war, oder zu erfahren, daß der nette Junge von nebenan aus in Ashton-under-Lyne mittlerweile ein größerer Serienmörder war als Dennis Nilsen. Am besten, er hätte bereits halb Kentucky umgebracht, damit sie die Story auch in New York verkaufen könnte und die Amerikaner sie bitten würden, Mitherausgeberin von Vanity Fair zu werden. Während Linda mit wachsendem Neid die Karriere ihrer Schwester beobachtete, keimte allmählich eine Idee in ihr, die -137-
sich immer stärker in ihrem schlauen Köpfchen festsetzte. Alices ewigem Gerede über ihre abgedrehte Welt hatte Linda entnommen, daß die schlechten Geschichten ihrer Schwester maßgeblich von den Models oder den Topmodels - sofern diese überhaupt die Reporter an sich heranließen - verursacht wurden. In den achtziger Jahren hatten die Fotografen das Image einer Zeitschrift bestimmt: Steven Meisel, Bruce Weber, Patrick Demarchelier. Sie verliehen den Magazinen ihr besonderes Erscheinungsbild, und die Herausgeber waren von ihnen abhängig. In den Neunzigern hatten die Models diese Funktion übernommen. Nun hatten sie die Macht. Zwar wurde alles lediglich von einer kleinen Elite beherrscht, aber wer wußte schon, ob es nicht sehr schnell mehr werden würden. Lindy-Jane wußte, was zu tun war: sie würde ein Topmodel auffliegen lassen. Das einzige Problem war nur, daß sie absolut nichts über Models wußte. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren ganzen Neid, ihre Eifersucht und die geschwisterliche Rivalität zu unterdrücken und die ›geliebte‹ Alice zum Essen einzuladen. »Mein Scheiß-Chef sitzt mir im Nacken«, stöhnte Alice, als Lindy-Jane um 12.45 Uhr in ihr Büro kam. »Irgend so ein pockennarbiger französischer Modeschöpfer - der Name tut nichts zur Sache - wird seinen Werbeetat von 250000 Pfund stornieren, wenn ich seine scheußlichen Kleider nicht in einer Story unterbringe. Also, wohin gehen wir? Zum Libanesen?« Lindy-Jane drehte sich der Magen um. Das war noch so ein Punkt, der ihr zuwider war. Immer mußte Alice exotisch essen gehen. Einfach nur italienisch oder französisch war ihr zu langweilig. Wenn sie Alice allerdings etwas über die Welt der Topmodels entlocken wollte, würde sie wohl oder übel mitgehen müssen. Pflichtschuldig trottete sie also ihrer Schwester durch Mayfair zum Shepard's Market hinterher. Zur Krönung von alledem war Alice gerade auf einem ihrer ›Ich-habe-keine- Zeitzur-Gymnastik-also- muß- ich-ein-wenig- laufen‹ -Trips. -138-
»Was schenkst du Mama denn zu Weihnachten?« fragte Lindy-Jane, die es Alice übelnahm, daß diese sich dazu alljährlich bei den Werbegeschenken bediente, mit denen die Moderedaktionen von allen Seiten eingedeckt wurden. »Keine Ahnung. Für Papi habe ich schon etwas. Er bekommt das Eau de Toilette von Givenchy, das hier schon sechs Monate im Schrank verstaubt. Aber weiß der Himmel, was ich Mami schenken soll. Und was schenkst du ihr?« Bei den Worten ›Mami‹ und ›Papi‹ zuckte Lindy-Jane zusammen. Vor ihrem Studium hatte Alice die Eltern noch Mama und Papa genannt. »Och, ein Buch, denke ich.« Sie gingen gerade an der Haywood-Hill-Buchhandlung in der Curzon Street vorbei. »Ein Buch für eine Frau, die noch nicht einmal eine Zeitschrift liest, es sei denn, es befindet sich darin eine Anleitung, wie man sich seine eigene königliche Familie zusammenstellt?« Alice hob die Augenbrauen und blieb stehen, um sich die im Schaufenster von Haywood Hill ausliegenden Bücher anzusehen. »O mein Gott, ich hab's, sieh mal!« »Was?« Lindy-Jane konnte lediglich ein Schaufenster mit Büchern sehen. ›»Mrs. De Winter‹.« »Wer?« »Das ist ein Buch, Dummerchen. Da, genau vor deiner Nase. Es führt gerade die Bestsellerlisten an. Die Fortsetzung von ›Rebecca‹!« »Und, was soll damit sein?« »Das wird meine Story werden. Hüte und Schleier! Und sie beginnt mit einer Beerdigung. Beatrices Beerdigung. Sie war Maxim de Winters Schwester, und sie müssen zur Beerdigung zurückkommen.« »Und dann?« -139-
»O Darling, ich lese keine Bücher, nur die Kritiken. Und dieses Buch hat bei uns eine ziemlich gute Besprechung erhalten. Ich muß sie unbedingt noch mal ausgraben, um mich schlau zu machen. Also, kehrt marsch! Zurück ins Büro! Wir gehen nächste Woche essen. Ich mach' daraus eine Hut- undSchleier-Story. Sehr düster und sexy. Rund ums Grab. Maxim De Winter und diese unscheinbare Maus, die er nach Rebecca geheiratet hat. Wir werden sie in irgendeinen dunklen Anzug oder Mantel von diesem verdammten französischen Modeschöpfer stecken und uns auf die Hüte konzentrieren. Ich rufe gleich Philip Tracy an.« Alice zückte ihr Handy und brüllte in den Hörer, während sie die Curzon Street zurück zum Berkeley Square rannte. »Wir machen wieder alles in Schwarz - Hüte, Schleier und lange schwarze Handschuhe und große Silberkreuze und Tonnen weißer Lilien. Es wird eine düstere Schwarzweiß-Retrospektive, und wir versuchen, Peter Lindbergh als Fotografen zu bekommen. Nein, Schätzchen, natürlich nicht im Studio. Entweder in Manderley oder etwas möglichst Ähnliches. Guck mal, was mit dem English Heritage ist und wie es da so aussieht. Sag Geraldine, sie soll in meinen Notizen zu den Kollektionen nachsehen, und geh ins Studio dieses unsäglichen französischen Modeschöpfers und such ein paar seiner Kohlenanzüge raus. Sag diesem arbeitswütigen Geschöpf - wie heißt sie doch gleich, doch wohl kaum ebenfalls Geraldine? -, also sag ihr, sie soll alles durchsuchen und mir ein paar ausgeflippte Hüte besorgen. Und jemand soll mal anfangen, sich Gedanken über die Location zu machen. Wir brauchen eine mit guter Kapelle und Friedhof. Ich bin um siebzehn Uhr da.« Sie drehte sich zu Lindy-Jane um. »Hast du in der amerikanischen Ausgabe von Carter's die Fotos nach Motiven berühmter Bilder gesehen? Nein, natürlich nicht, du bist ja noch schlimmer als Mami, wenn's darum geht. Also, auf dem einen Foto, auf dem SWAN Vivienne Westwood -140-
trägt und nach Fragonards ›Die Schaukel‹ fotografiert wurde, befindet sich ein total göttliches Haus. Wenn die noch eine Kapelle hätten…?« »Wo war das denn?« Lindy-Jane heuchelte Interesse. Sie staunte nicht schlecht darüber, wie Alice es immer wieder fertigbrachte, allen Ruhm für sich einzuheimsen, während ihre Assistenten die ganze Arbeit für sie erledigten. Je niedriger man in der Hackordnung rangierte, desto mehr hatte man offenbar zu tun. »Irgendwo in Wiltshire. Es gehört Lucy Fraser. Die Frasers sind offensichtlich Freunde von Swans Eltern.« Lindy-Jane spitzte ihre Ohren wie ein Eichhörnchen. Das Topmodel SWAN war für jedermann ein Buch mit sieben Siegeln. Niemand wußte etwas über sie, außer der Tatsache, daß sie offensichtlich die höchstdotierten Verträge hatte. Lindy-Jane stellte fest, daß sie noch nicht einmal ihren richtigen Namen kannte. Zurück im Büro, setzte sich Alice gleich hin, um das Zentralproblem anzugehen: das Model. Wer könnte die Kleider tragen? Wen könnte sie bekommen? »Das ist echt zum Verrücktwerden. Sie muß unscheinbar und schüchtern sein, ohne jegliche Attitüden, aber gleichzeitig muß sie atemberaubend schön sein. Hat jemand eine Idee, bevor wir anfangen, die Agenturen abzuklappern?« Das arbeitswütige Mädchen trat hervor. Alice betrachtete sie mißtrauisch. Sie stellte die Leute schließlich nicht ein, damit sie überall ihren Senf dazugaben. »Ja?« »Ich habe gestern zufällig mit einer Freundin zu Mittag gegessen, die bei Just Seventeen arbeitet…‹ Alice sah aus, als ob ihr schlecht würde, »… und sie machen gerade das Casting für die ›Würdest-du-deinen-Freund-in-der-Öffentlichkeit-küssen?‹Story. Da war ein Mädchen, die wäre genau die Richtige. Sie hat verstört gewirkt, hat vor Angst gezittert und ist -141-
zusammengezuckt, als sie geküßt wurde. Sie hat sich wie ein ängstliches kleines Mäuschen benommen, aber sie war die schönste Maus, die ich jemals gesehen habe. Also, die Sache ist die, ich habe ein Polaroidfoto mit ihr mitgehen lassen und…« Alice riß es ihr aus der Hand. »Geraldine, Darling«, sagte sie nach einer Weile. »Warum rufst du deine kleine Freundin bei Just Seventeen nicht an und findest heraus, wer der Agent des Mädchens ist? O danke…« Jemand hatte ihr gerade die amerikanische Ausgabe von Carter's mit den Bildern von Lucy Frasers Haus gegeben. Sie suchte schnell die Nummer von Lucy Fraser aus ihrem Telefonverzeichnis raus. »Lucy, wie geht es dir? Sag mal, ist in der Nähe eures Hauses eine Kapelle? Nein, ich will nicht heiraten, sie soll für ein… nein, es gibt keine? Na ja, macht nichts. Ciao, Lucy.« Lindy-Jane, die hinter ihrer Schwester stand, notierte sich schnell Lucy Frasers Telefonnummer. Noch am selben Abend rief sie dort an. »… schreibe ein Buch über Fragonard. Es ist doch richtig, daß Ihr Haus für Modeaufnahmen zu ›Die Schaukel‹ benutzt wurde? Warum wurde denn ihr Haus ausgesucht? Besitzen Sie einen Fragonard? Ach so, Sie haben nur eine Schaukel, ich verstehe, wie dumm von mir. Sind die Fotos was geworden? Wirklich? Lavinia? Lavinia wer? Lavinia Crichton-Lake? Lavinia Crichton-Lake ist SWAN? Besteht da irgendeine Verbindung zu den Crichton-Lakes, deren Kindermädchen ermordet wurde…? Ja, war das nicht fürchterlich? Ach, sie ist die Tochter der Familie? Danke, Mrs. Fraser, Sie haben mir sehr geholfen.« Nun gut, dachte Lindy-Jane, als sie auflegte. SWAN war niemand anderes als die Schwester von Harry Crichton-Lake, der auf so geheimnisvolle Weise kurz nach einem bis heute nicht aufgeklärten Mord verschwunden war. Gut, gut!
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»Sieh mal, mein Liebling, ich bin hier, um meinen Job zu erledigen. Du bist hier, um deinen Job zu erledigen. Du bekommst sicher einen Haufen Geld. Ich jedenfalls kriege einen schönen Batzen. Deine Gefühle interessieren mich deshalb im Moment überhaupt nicht. Können wir jetzt bitte endlich weitermachen?« Tess stand zitternd auf einem Friedhof im Regen. Sie zog die Schultern hoch und schlang die Arme um den Leib, um sich warm zu halten. »Um Himmels willen, steh gerade! Ich kann ja noch nicht einmal die verdammten Kleider sehen. O nein, nicht schon wieder…« Tess brach zum vierten Mal an diesem Morgen in Tränen aus. Dabei war das hier doch ihre große Chance, und nun lief wieder alles schief. Amber, die für das Make-up zuständig war, lief zu ihr hinüber. »Komm schon, nimm's nicht so schwer. Wir wollen in diesem schönen Gesicht keine Tränen sehen. Es wird schon alles gutgehen. Er ist ein Bastard. Laß ihn einfach nicht an dich ran. Denk einfach daran, wie schön du bist. Schließlich braucht er dich genauso wie du ihn.« Tess lächelte dankbar. »Warum sagst du nichts?« fragte Lindy-Jane ihre Schwester. »Du trägst hier doch die Verantwortung, oder?« »Nicht für die Fotos. Die sind allein Sache des Fotografen.« Das traf zwar nicht auf alle Aufnahmen zu, aber es war typisch für Alice, jemand anderem den Schwarzen Peter zuzuschieben. Was Lindy-Jane nicht wußte, war, daß eine wirklich professionelle Redakteurin die Fotos auf jeden Fall selbst ausgesucht hätte. Aber Alice war nun mal Alice. »Ich wußte ja vorher, daß er ein altes Schwein ist, aber daß er so übelgelaunt ist… Wir hätten Peter nehmen sollen.« »Peter?« fragte Lindy-Jane. -143-
»Peter Lindbergh. Unter diesen Umständen werden wahrscheinlich überhaupt keine guten Fotos herauskommen, und die Kleine selbst trägt ja auch nicht gerade zum Gelingen des Ganzen bei.« »Sie ist so dünn, Alice. Ich habe gesehen, wie sie im Hotel angekleidet wurde. Sie besteht ja nur aus Haut und Knochen, die Rippen stehen regelrecht hervor. Es ist schrecklich.« »Na und? Auf den Fotos wird sie wie ein Traum aussehen. Wovon handelt eure Geschichte eigentlich? Von magersüchtigen Models?« Lindy-Jane hatte Alice das Märchen erzählt, sie sei beauftragt worden, eine Geschichte über Models zu schreiben. Anderenfalls, das wußte sie genau, hätte ihre Schwester ihr nie erlaubt, hinter ihr herzulaufen und bei allem zuzusehen. Jetzt, da sie darüber nachdachte, kam sie zum dem Schluß, daß eine Geschichte über Magersüchtige unter den jungen Models für den Anfang gar keine so schlechte Idee wäre. »Sieh sie dir an, Alice. Sie klappert mit den Zähnen. Wenn nicht bald jemand etwas unternimmt, wird sie ohnmächtig.« Es erbarmte sich tatsächlich jemand. Bobby Fox lief mit einem riesigen Schirm auf Tess zu. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie zu einer Gruft mit einer Steinbank davor. Bobby war der Assistent des Fotografen. Seine Aufgabe war es gewesen, Tess um 5.30 Uhr morgens, eine halbe Stunde vor allen anderen, zu wecken, damit sie Zeit hatte, ihre verschlafenen Augen loszuwerden. Sie hatte den Hörer nicht abgenommen, so daß er zu ihr hinaufgegangen war. Der Anblick ihres cremigweißen, sommersprossigen Rückens und ihres langen roten Haars, das über dem Kopfkissen ausgebreitet war, hatte ihn sofort gefesselt. Er brauchte eine Zeitlang, um all seinen Mut zusammenzunehmen, sie sanft an der Schulter zu berühren und aufzuwecken. Sie saß sofort kerzengerade im Bett, tauchte aber offensichtlich nur langsam -144-
aus ihrem Tiefschlaf empor und benötigte ein, zwei Minuten, bis sie wußte, wo sie war. Sie hatte hastig nach der Bettdecke gegriffen, um sich zuzudecken, aber er hatte genug Zeit gehabt, ihre kleinen, aufgerichteten Brustwarzen auf ihrer recht flachen Brust zu sehen. Wie betäubt stellte er fest, daß ihn dieser Anblick sehr erregte. Nic ht daß er noch nie bloße Brüste gesehen hatte, aber der Körper dieses Mädchens war ein einziger Traum. »Was ist los, Liebes?« fragte er, als sie dastand und vor Kälte zitterte. »Krach mit deinem Freund gehabt?« »Ich habe keinen Freund.« »Was ist es denn?« »Dieser Ort…« »Ja, ein bißchen gespenstisch, nicht wahr? Trotzdem, wir machen hier lediglich Aufnahmen. Alle Toten liegen sichere zwei Meter unter der Erde. Keiner wird auferstehen und dich begrapschen. Und außerdem bin ich ja auch noch da.« »Ich bin doch nur Model geworden, um das Geld für einen neuen Rollstuhl für meine Mutter zusammenzubekommen. Sie ist nämlich von der Hüfte abwärts gelähmt und was mache ich? Ich bringe überhaupt nichts zustande. Ich habe noch nicht einen Cent verdient und bin dabei, auch diesen Job zu vermasseln. Außerdem habe ich auch noch Schulden bei der Agentur für meine Probeaufnahmen…« »Ich hätte diese hier kostenlos für dich gemacht. Hör mir gut zu, Kleines, du mußt es jetzt packen. Der Fotograf ist ein totaler Choleriker, und es dauert nicht mehr lange, bis er explodiert und den ganzen Kram hinschmeißt. Es hängt jetzt nur von dir ab. Nun komm schon, laß uns zurückgehen und ihnen zeigen, was du kannst. Okay. Sieh mich an, und jetzt ein kleines Lächeln. Alles wieder gut?« Tess läche lte ihn unsicher an. Er sah wirklich fabelhaft aus mit seinem feinen seidigen Haar, und sein Gesicht war hübsch, -145-
fast wie das eines Mädchens. Er beugte sich vor und küßte sie sanft auf den Nacken. »Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe«, flüsterte er. Diese Worte halfen Tess, den Job zu erledigen. Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Sie wiederholte diesen Satz im stillen wieder und wieder, wie eine Beschwörungsformel, während Bobby herumsprang, neue Filme einlegte, ihr mehrmals zublinzelte und zur Ermutigung seinen Daumen hochhielt. Mit Bobbys Hilfe gelang es ihr irgendwie, den Tag zu überstehen. Als die Fotosession vorüber war, trat das männliche Model, das für die Rolle von Maxim De Winter engagiert worden war, auf Tess zu und tat so, als wollte er sie in ein offenes Grab stoßen. Sie schrie auf. Amber kam ihr abermals zu Hilfe und begleitete sie zum Hotel zurück, damit sie sich umziehen konnte. Tess war so durcheinander, daß sie Amber bat, in ihrem Zimmer auf sie zu warten, während sie schnell den Flur hinunter zum Baden ging. Das Hotel war eines der altmodischen englischen Häuser, in denen es noch keine Bäder auf den Zimmern gab. »ich glaube, ich werde langsam verrückt«, sagte sie zu Bobby, der, nachdem er seine Kameraausrüstung eingepackt hatte, nachgekommen war. »Ich könnte schwören, daß ich das Klicken einer Kamera gehört habe, als ich mich im Badezimmer umzog. Wahrscheinlich leide ich unter Verfolgungswahn.« »Das tust du ganz bestimmt«, sagte Bobby. »Und ich werde etwas dagegen tun.« Anstatt sie nach Hause zu bringen, nahm er sie mit in seine Wohnung und kochte eine große Schüssel Spaghetti Carbonara. »Das kann ich nicht essen.« Tess sah entsetzt auf ihren Teller. »Wenn ich zunehme, bekomme ich keinen Job mehr.« »Du könntest vier Portionen essen und wärst immer noch -146-
fotogen. Iß jetzt, das ist ein Befehl, und nimm deine Medizin.« Er reichte ihr die Flasche Corvo. »Das wird dein Blut dicker machen.« »Woher nimmst du nur all dein Selbstvertrauen? Wenn du mir davon nur eine Schüssel kochst, werde ich dir die Haare vom Kopf fressen.« »Man muß nur wissen, was man will, und das konsequent verfolgen. Ich habe schon immer gewußt, daß ich Fotograf werden wollte. Für meinen Abschluß als Diplomfotograf habe ich zwei Jahre lang gebüffelt… Und wenn du fertig bist, stecken sie dich in irgendein Studio und nun bin ich bereits Assistent und arbeite mit großen Namen zusammen und lerne dabei soviel wie möglich für meinen Job. Sobald ich eine ausreichend gute Mappe zusammen habe - vielleicht in ein bis zwei Jahren -, werde ich mich selbständig machen. Und genau das ist dein Problem. Ich habe nämlich den Eindruck, daß du es gar nicht wirklich willst. Du mußt erfolgreich sein wollen. Du mußt an dich glauben. Den ersten Schritt hast du doch schon getan, als du die Agentur aufgesucht hast. Was hält dich zurück? Du könntest super sein. Der Fotograf heute hat es dir wirklich nicht leichtgemacht, aber das macht er mit allen Mädchen so. Ich habe gehört, welche Meinung er von dir hat. Er glaubt, die Bilder würden fantastisch werden.« Er redete ohne Punkt und Komma; er schmeichelte ihr, stärkte ihr Selbstvertrauen, und wenn sie versuchte, ihre Unsicherheit zu erklären, weigerte er sich, ihr zuzuhören. Schließlich brachte er sie zu Bett. Nach weiteren zwei Stunden hatte er sie entjungfert. Er hatte große brennende Kerzen rings um das Bett aufgestellt und eine Aromatherapiemassage gemacht, indem er das Öl sanft in ihre cremefarbene Haut einrieb, bis sie völlig entspannt war. Dann hatte er eine Hand zwischen ihre Be ine gelegt und ihren mit feinen roten Haaren bewachsenen Venushügel gestreichelt, bis sie naß geworden war. Kurz vor der Morgendämmerung drang er in sie ein, und so -147-
wie er ihr mit seinen Worten aus ihrer Krise geholfen hatte, redete er jetzt durch den Sex mit ihr. Zwischen den einzelnen Sätzen leckte er die winzigen Brustwarzen ihres kleinen Busens, bis sie als kleine steife Spitzen emporstanden. Natürlich verliebte sie sich in ihn, und natürlich wurde sie total abhängig von ihm. Sie war während ihrer Jobs weiterhin unsicher, und schließlich gab Angie es auf und schickte sie nur noch zu Castings, bei denen eine Chance bestand, daß Bobby die Fotos machen würde. Wenn sie wußten, wer der Fotograf war und dieser Bobby zum Assistenten nahm, war Tess mit von der Partie. Nur die Gewißheit, mit Bobby arbeiten zu können, schien ihr die nötige Selbstsicherheit zu verleihen. Trotz Angies wiederholten Beteuerungen, daß Tess es letztendlich packen würde, machte sich Annie Tucker Sorgen um ihre Tochter. Da ging etwas vor sich, das ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen schien. Eines Morgens fiel Annie auf, daß die Stammkundschaft ihres Zeitungskiosks seltsam reagierte. Kaum jemand schien ihr in die Augen sehen zu wollen. Schließlich tätschelte einer ihren Arm und sagte: »Machen Sie sich nichts daraus, meine Liebe, sie ist ja noch jung. Sie wird schon damit fertig werden.« »Wer? Womit denn fertig werden?« fragte Annie verwirrt. Der Kunde drückte ihr eine Ausgabe des Mirror in die Hand, bevor er wieder ging. Die riesige Überschrift auf der Titelseite lautete: ›WÜRDEN SIE IHRE TOCHTER SO HERUMLAUFEN LASSEN?‹ Und darunter stand: ›Die traurige Geschichte eines jungen Mädchens und ihr Kampf mit der Magersucht. In dem ständigen Bemühen, ihr Gewicht für die Kamera niedrigzuhalten, ist der Teenager Tess Tucker magersüchtig geworden…‹ Das gerasterte Foto der nackten Tess, deren Rippen und Wirbelsäule an ein Skelett erinnerten, gab Annie den Rest. Sie schloß den Kiosk und ließ sich zu Etoile fahren. -148-
Natürlich stimmte das alles gar nicht. Tess war nicht magersüchtiger als jeder andere Mensch auch, und Annie wußte das. Der Name der Verfasserin dieser skandalösen Story lautete Lindy-Jane Johnson. Das alles ging also nicht auf das Konto des Fotografen der Fotosession. Bobby konnte sich trotzdem denken, wie es zu den Fotos gekommen war: Lindy-Jane mußte jemanden aus London angerufen und ihn angewiesen haben, sich im Badezimmer zu verstecken und Fotos zu machen, während Tess sich umzog. Das würde Tess um Monate zurückwerfen, vom Fortgang ihrer Karriere einmal ganz zu schweigen. Und er selbst hatte gerade die Koffer gepackt, um die nächsten drei Wochen in Mailand zu arbeiten. Tess würde mit allem allein fertig werden müssen. Grace Brown hatte allerdings andere Pläne: »Nimm sie mit nach Italien, Bobby. Tu uns allen den Gefallen. In dieser Situation wird es am besten sein, sie außer Landes zu bringen und vielleicht wird man sie in Mailand mögen. Sie stehen dort auf tizianrotes Haar und blasse Haut. Italiener lechzen geradezu danach, weil ihnen ihre eigenen Frauen das nicht geben können. Außerdem ist Mailand der am besten geeignete Ort, um die Mappe eines Mädchens aufzumöbeln. Es gibt so viele Zeitschriften dort, die alle oft erscheinen. Wenn sie da ein paar Aufträge bekommt, wird sie mit einer Menge Belege zurück nach Hause kommen. Nimm sie mit, Bobby.« »Okay«, willigte Bobby ein. Insgeheim jedoch fragte er sich allmählich, was er sich da mit Tess Tucker eingehandelt hatte. »… deshalb schicken wir sie also mit Bobby Fox nach Mailand. Hoffen wir nur, daß die Italiener sie mögen und sie viel zu tun bekommt«, erzählte Angie ihrer Familie, als sie das Abendessen zubereitete. Wenn Kathleen, Michael und Jeannie von den Höhen und Tiefen von Angies Entdeckung Tess Tucker hörten, kam es ihnen vor, als verfolgten sie eine der Seifenopfern im Fernsehen, auf deren neueste Folge sie sich -149-
allabendlich freuen konnten. Auf Patricks Ausbruch war Angie allerdings absolut nicht vorbereitet. »Sie hat mich verdammt noch mal im Stich gelassen. Erst meine Mutter und jetzt Tess. Wie konnte sie nur fortgehen, ohne mir Bescheid zu sagen? Und wer ist dieser Bobby Fox?« »Patrick, um Himmels willen, jetzt reagierst du aber ein kleines bißchen über. Bobby Fox ist ihr Freund. Dich kennt sie doch kaum. Sie hat dich nur das eine Mal gesehen…« »O nein!« riefen die drei anderen im Chor. »Wie meint ihr das?« »Er hat sie ziemlich oft gesehen, stimmt's, Patrick?« lachte Jeannie. »Sie haben zusammen Kaffee in Espressobars in Soho oder Covent Garden getrunken. Kaffee! Aufregend, nicht?« Angie schrak zusammen, als Patrick mit der Faust auf den Tisch schlug und das Zimmer verließ. »Patrick ist verlie- iebt. Patrick ist verlie- iebt«, sangen die Schwestern, bis Angie ihnen den Mund verbot. Am nächsten Tag rief ihr Vater bei Etoile an. »Was hast du Patrick gestern abend nur erzählt? Er ist von zu Hause verschwunden. Einfach verschwunden. Er hat gesagt, daß er seine Mutter suchen will. Angie, du mußt diesen Job in der Modelagentur unbedingt wieder aufgeben, nach Hause zurückkommen und dich um die Kleinen kümmern. Sie sind ganz außer sich. Du mußt hier bleiben. Schluß mit dieser Arbeit - dein Platz ist bei ihnen.«
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New York/Miami, 1993/94 Stacey Stein, die bei Etoile in New York als Bookerin arbeitete, war wegen ihrer zwei neuen Mädchen reichlich verzweifelt. Sie waren die beiden einzigen, um die sich weder die Mutter noch ein älterer Bruder kümmerten, aber das war nicht das eigentliche Problem. Cassie Dylan hätte eigentlich gar keine Schwierigkeiten bereiten dürfen. Sie war geradezu das perfekte New Face. Bei Staceys Briefing hatte Cassie konzentriert zugehört. Sie wußte jetzt, wie sie sich in New York zurechtfinden konnte; sie wußte, daß sie immer Kontakt zur Agentur halten mußte, niemals ihre Telefonnummer an andere weitergeben durfte, wie sie sich bei Test-Shootings und Go and sees zu kleiden hatte, wie sie fit und gepflegt blieb, daß sie aufpassen mußte, um nicht zu braun zu werden, und wo sie weitere nützliche Tips bekommen konnte. Cassie bezahlte ihre Miete für das Modelapartment nie zu spät. Zu ihren Vorstellungsgesprächen kam sie stets pünktlich. Niemand konnte irgend etwas Schlechtes über sie sagen. Sie war hübsch, sie lächelte, sie war höflich aber nach mehr als einem Monat hatte sich immer noch niemand eine Option auf sie gesichert, geschweige denn sie auch nur ein einziges Mal gebucht. Zu guter Letzt mußte Stacey sich eingestehen: das Mädchen war einfach langweilig. Selbst wenn sie von einigen Modejournalisten und Fotografen hin und wieder erwähnt wurde, es reichte nicht. Zugegeben, die Dylan war ein hübsches Ding, ihr Haar, ihre Haut und ihre Zähne waren in tadellosem Zustand, sie hatte die richtige Größe, ihre Figur war in Ordnung, und sie hatte großartige Beine. Woran also lag es? Sie war einfach zu honigsüß, zu sehr die perfekte Amerikanerin, ihr Aussehen war nicht aufregend - sie war insgesamt einfach nicht -151-
aufregend. Das Interessanteste an ihr war noch die Tatsache, daß sie mit Rollschuhen zu den Castings fuhr, den ganzen Verkehr links und rechts liegen ließ und die Avenues mit großen Schwüngen rauf und runter rauschte. Aber das sah keiner der Kunden, denen sie dann frisch gekämmt ihre Mappe mit den Paul- van-Ash-Fotos unter die Nase hielt. Dann entschied Stacey, wie dieses Problem zu lösen war: es lag an Cassies langem Haar. Mit einer Kurzhaarfrisur wäre sie ein neuer Mensch. Manchmal brauchte man eben eine Schocktherapie. Aber das Mädchen weigerte sich. Sie stampfte mit den Füßen auf und zeigte sich derart hartnäckig, daß Stacy wieder Hoffnung schöpfte, Cassie Dylan könnte es eines Tages doch noch schaffen. Stacey konnte so lange von der erfolgreichen neuen Frisur von Linda Evangelista reden, bis sie grün wurde - Cassie hörte einfach nicht hin. Ihre stets gleichlautende Antwort war, daß ihr Freund sie mit langen Haaren mochte. Gut, sagte Stacey, dann laden wir ihn eben mal auf einen Plausch ein. Nein, das war offenbar ebenfalls nicht möglich, denn der junge Mann lebte in England. Es war recht seltsam, aber Stacey konnte Cassie nicht dazu bewegen, ihre Meinung zu ändern. Da es die reinste Zeitverschwendung war, Cassie so zu Vogue, Harpers Bazar oder Elle zu schicken, schickte sie sie also zu Mademoiselle, Just Seventeen, McCall's, Ladies Home Journal und was Stacey sonst noch an harmlosen Zeitschriften einfiel. Mit Gigi Garcia war das eine andere Geschichte. Sie verursachte einen Riesenärger, und es wurde täglich schlimmer. Nicht daß sie niemand hätte haben wollen. Sie wurde fast täglich gebucht, aber innerhalb von gerade einmal einem Monat hatte sie ihren Ruf völlig ruiniert. Kaum war sie mit dem Flugzeug von einem Besuch in Miami zurückgekommen, stürzten sich die Klatschreporter auf sie. Die Story, daß sie mit Marion Walter im selben Flugzeug gesessen hatte, stammte noch aus Gigis Manhattan- Zeit. Walter war Fotograf, und sein sehr -152-
individueller Stil lag irgendwo zwischen Bruce Weber und Robert Mapplethorpe. Ende der achtziger Jahre hatte er großen Erfolg auf dem Gebiet der sinnlichen Werbung gehabt, besonders in der Herrenmode. Die Sache mit Marion war die, daß die weiblichen Models völlig verrückt danach waren, mit ihm zusammenzuarbeiten. Sie dachten, wenn er schon mit Kerlen einen solchen Erfolg hatte, was würde er dann wohl erst mit ihnen zustande bringen? Weiter hieß es, daß Marion Gigi heulend in einer Telefonzelle am Flughafen entdeckt und sofort damit angefangen hätte, unzählige Bilder von ihr zu machen. Erst vier Tage später hätte er sie bei Etoile abgeliefert, und was sich in der Zwischenzeit abgespielt hatte, war Anlaß für vielerlei Vermutungen, Behauptungen und reichlich Spekulatio nen. Das einzig Positive an dieser Liaison war eine Fotoserie über Bademode gewesen, die Marion im GQ-Magazin herausgebracht hatte. Sie enthielt Aufnahmen von Gigi, die er in jenen vier Tagen in Atlantic City aufgenommen hatte. Nachdem die Bilder an Conde Nast geschickt worden waren, wollten viele Leute wissen, wer diese heiße, schmollende Latina war, deren Körper nur vom Sand bedeckt war. Diese Fotos und einige andere, die Marion in seinem Studio geschossen hatte, machten die Runde, und Gigi wurde zum gefragtesten New Face der Stadt. Und damit sollte Stacey ihre liebe Not und Mühe haben. »Stacey, es ist schon 10.30 Uhr, und Gigi Garcia ist immer noch nicht hier. Dabei waren wir um acht mit ihr verabredet.« »Stacey, das Mädchen kam geschlagene vier Stunden zu spät! Und als wir endlich anfangen wollten und sie gebeten haben, das Kaugummi aus dem Mund zu nehmen, ist sie nach nebenan gegangen, hat es ins Klo gespuckt und ist über die Feuertreppe verschwunden. Könnt ihr mir jemand anders schicken?« »Stacey, wir hatten vor, sie eine Perücke tragen zu lassen. -153-
Kaum hatten wir sie zurechtgemacht, da füllte sie einen leeren Eimer mit Wasser, und bevor wir sie davon abhalten konnten, steckte sie ihren Kopf mitsamt der Perücke hinein, während sie mit dem Hintern in der Luft wackelte. Die ist natürlich ruiniert…« Zu allem Überfluß war Gigi keine U-Bahn zuzumuten. Also nahm sie ständig Taxis. Und seitdem sie in New York war, hatte sie gerade einmal die Miete für eine Woche gezahlt. Bei der Agentur war sie ständig verschuldet, und bald sprach sich ihre Unzuverlässigkeit auch unter den Kunden herum. Dennoch war sie gefragt wie kaum eine zweite. Sie hatte alles, was Cassie Dylan nicht hatte: eine Persönlichkeit, wenn auch mit Ecken und Kanten. Was die Hausordnung im Apartmentha us der Models betraf, so verstieß Gigi in demselben Maße dagegen, wie Cassie sich daran hielt. MÄNNERBESUCH IM APARTMENT VERBOTEN! RAUCHEN UND ALKOHOL STRENGSTENS UNTERSAGT! Doch Gigi war Kettenraucherin und trank nahezu täglich ihren Jack Daniels mit Limonade. Und wenn sie jemanden mit auf ihr Zimmer brachte, dann war es garantiert ein Mann. NEHMEN SIE RÜCKSICHT AUF IHRE ZIMMERGENOSSIN! HALTEN SIE IHR APARTMENT SAUBER! LEBEN SIE NICHT AUS DEM KOFFER! Gigi aber lebte nur deshalb nicht aus dem Koffer, weil sie keinen besaß. Sie lebte aus fünf oder sechs großen Plastiktüten, die sie aus Miami mitgebracht hatte und die jetzt überall verstreut in dem Zimmer herumlagen, das sie mit Cassie teilte. BITTE ESSEN SIE NICHT DIE LEBENSMITTEL IHRER NACHBARIN! SIE WÜRDEN ES AUCH NICHT MÖGEN, WENN SIE IHRE ESSEN WÜRDE! Cassie mußte allerdings ihre Einkäufe stets innerhalb von einer Stunde verbrauchen. -154-
Wenn nicht, würde Gigi sich daran gütlich tun. BITTE LEGEN SIE IHRE SCHMUTZWÄSCHE IN DEN DAFÜR VORGESEHENEN WÄSCHEKORB, WENN SIE GEWASCHEN WERDEN SOLL! Gigi warf ihre wie selbstverständlich auf Cassies Bett. Bevor sie Gigi kennengelernt hatte, hatte Cassie in ihrem Leben niemanden wirklich gehaßt. Aber sie hatte auch noch niemals jemanden getroffen, der soviel Freude daran emp fand, andere fertigzumachen. Die Tatsache, daß Gigi ständig neue Aufträge bekam, während sie selbst noch keinen einzigen Job gehabt hatte, machte alles nur noch schlimmer. Sie bemerkte natürlich, daß Gigi immer öfter zum Casting zu Conde Nast geschickt wurde, wohingegen man sie nur ein einziges Mal, ganz am Anfang, dazu aufgefordert hatte. Trotzdem wußte sie, daß sie sich auf Stacey verlassen konnte. Pflichtgemäß, wie es das Briefing verlangte, rief Cassie jeden Nachmittag gegen 16.00 Uhr im Büro an und wurde von Stacey ein ums andere Mal ermutigt und beschworen, nur nicht die Hoffnung aufzugeben. »Na, besuchst du heute abend wieder Mami und Papi?« stichelte Gigi jedesmal, wenn sie sah, wie sich Cassie zum Abendessen umzog. »Paß auf, daß du um halb zehn im Bett bist! Du brauchst deinen Schlaf, damit du fit für all die Arbeit bist, die auf dich wartet.« Gigi selbst kam nie vor dem Morgengrauen nach Hause. Sie konnte ihr Entzücken darüber, daß sich das Blatt gewendet hatte und sie, eine Latina aus dem Nirgendwo, gefragter war als eine blauäugige nordamerikanische Blondine, nicht verhehlen. Außerdem ärgerte sie Cassie noch mit etwas anderem. »Hast du mal wieder was von deinem Freund gehört?« Cassies Liebe zu einem geradezu mystischen jungen Engländer, von dem sie nie wieder etwas gehört oder gesehen hatte, bot Gigi Stoff genug für endlose Spötteleien. Während die meisten Mädchen Fotos ihrer Lieblingsstars wie Hugh Grant, Keanu Reeves oder Pearl Jam -155-
über ihrem Bett aufgehängt hatten, war Cassies Wand mit Bildern vo n englischen Häusern und Landschaften und deren Besitzern geschmückt: dem Buckingham Palace, der Prinzessin von Wales, Kate Moss, Seal, Emma Thompson - egal, was, Hauptsache, es war englisch. Abgesehen von Staceys Glauben an ihre Karriere gab es noch eine andere Sache, die Cassie half, nicht zu resignieren. Und das war ihr Traum, Tommy Lawrence wiederzusehen. Sobald sie genug Geld zusammen haben würde, wollte sie nach England reisen, um ihn zu suchen, das stand fest! Leider verdiente sie zur Zeit aber überhaupt kein Geld und mußte, bis es endlich soweit sein würde, irgendwie mit Gigi klarkommen. Doch alles hatte seine Grenzen: als sie eines Tages nach Hause kam und entdeckte, daß Gigi ihre sämtlichen englischen Spezialitäten - Marmite, Jaffa Kekse, Coopers Oxford Marmelade - verschlungen hatte, platzte ihr der Kragen. »Ich bedaure dich, du tust mir leid«, schrie sie. »Weißt du auch, warum? Weil du keinen Traum hast, wie ich ihn habe. Du hast niemanden, von dem du träumen kannst!« Aber Cassie hatte unrecht. Denn Gigi lebte nur für den Tag, an dem sie Charley Lobianco wiederbegegnen würde. Aber sie war eben ganz anders. Sie lebte in den Tag hinein. Sie rief Stacey niemals an, wie sie es eigentlich tun sollte. Sie ging dann und wann in die Agentur, und bei einer solchen Gelegenheit hatte sie Charley zufällig am anderen Ende des Korridors gesehen. Na klar, er hatte dort ein Büro. Warum war sie nicht schon eher darauf gekommen? Doch gerade, als sie anfing, seinetwegen regelmäßig in der Agentur vorbeizuschauen, reiste Charley geschäftlich ins Ausland. Ob sie je von ihm persönlich betreut werden würde? »Träum weiter!« sagte Stacey. »Die Leute sind nur an dir interessiert, weil Marion diese Fotos von dir gemacht hat. Du mußt noch verdammt viel lernen, Kindchen. Du bist immer noch -156-
ein Neuling. Du arbeitest erst seit sechs Wochen. Charley Lobianco kümmert sich nur um Topmodels.« »Na ja, das bin ich ja schon fast«, behauptete Gigi. »Nein, das bist du nicht, meine Kleine«, seufzte Stacey, und wenn du so weitermachst, wirst du es auch nie werden. Die Leute werden bald müde sein, immer die gleichen Bilder zu sehen, die Marion von dir gemacht hat. Es ist doch irgendwie auffällig, daß du keine neuen Fotos in der Mappe hast. Ich sage dir das auch, weil du andauernd Aufnahmen in den Sand setzt und jemand anders deine Arbeit beenden muß. Das wird sich herumsprechen. Ich warne dich, Gigi. Die Zeit rennt dir davon.« In den nächsten Tagen war Gigi etwas nachdenklich. Sie machte sich Gedanken über ihre dunkle Hautfarbe. Vielleicht hatte Stacey ihr durch die Blume sagen wollen, daß man sie wegen ihres kubanischen Aussehens nicht mehr buchen würde. Sie rief Marion an und bat ihn, neue Fotos von ihr zu machen oder sie für irgendwelche Aufnahmen zu engagieren, diesmal würde sie es bestimmt besser machen. Aber sogar Marion war eingedenk ihres Rufes - sehr zurückhaltend. Seine Frau hatte wohl irgendwelche Gerüchte über sie beide gehört, und nachdem sie die Atlantic-City-Fotos gesehen hatte, stellte sie immer öfter unangenehme Fragen. Was Gigi nicht wußte: Marion hatte sogar darum gebeten, Gigi auf keinen Fall für weitere Aufnahmen mit ihm zu engagieren. Endlich erhielt Gigi den Anruf, auf den sie schon so lange gewartet hatte. »Gigi, könntest du morgen nachmittag gegen siebzehn Uhr in die Agentur kommen? Charley würde dich gerne sehen.« Was sie jedoch dann bei Charley erlebte, hätte sie nie erwartet. Stacey und Gigi gingen zusammen in Charleys Büro. Gigi stöberte in allem herum, obwohl Stacey sie mehrfach aufforderte, sich hinzusetzen. Natürlich waren die Wände tapeziert mit Fotos, auf denen Charley mit allen Topmodels der -157-
Welt zu sehen war, gleichgültig, ob sie bei ihm unter Vertrag standen oder nicht. Zu Gigis Überraschung entdeckte sie in einer Ecke des Büros eine Reihe von Sportgeräten wie Te nnis- und Squashschläger, Angeln und Gewichte. Dann nahm sie ein gerahmtes Foto von seinem Schreibtisch, auf dem eine wunderschöne ältere Dame zu sehen war. Sie war sehr elegant gekleidet, trug das Haar schlicht nach hinten gekämmt und hatte eine riesige Sonnenbrille in die Stirn geschoben. Das muß seine Frau sein, dachte Gigi. »Wer ist das?« fragte sie Stacey beiläufig. »Seine Mutter. Seine über alles geliebte italienische Mamma. Stell es wieder hin, Gigi. Er geht in die Luft, wenn jemand seine Sachen anfaßt.« Plötzlich kam Charley herein, und Gigi sprang schnell vom Tisch weg und setzte sich neben Stacey. Ihr Herz raste, und zu ihrem eigenen Erstaunen senkte sie den Blick, unfähig, ihren Kopf zu heben und Charley in die Augen zu sehen. Zum erstenmal in ihr em Leben war Gigi wirklich schüchtern. »Charley, das ist Gigi Garcia, und hier ist ihre Mappe. Ich habe dir von ihr erzählt.« Warum tut sie das? wunderte sich Gigi. Er weiß sicherlich längst alles über mich. Langsam schaute sie zu ihm auf und wartete darauf, daß er Stacey erzählte, daß er alles über sie wüßte, daß er sie persönlich in Miami aufgelesen hätte und sich von nun an persönlich um sie kümmern würde. »Danke, Stacey. Ich erinnere mich. Den Rest entnehme ich den Unterlagen.« Stacey verließ das Büro. Jetzt werden wir reden, dachte Gigi. Er will mich, aber er ist geschäftstüchtig. Er will nicht, daß Stacey weiß, daß er mich für etwas Besonderes hält. Er ist traumhaft. Er ist einfach süß. Und in ihrem tiefsten Unterbewußtsein fügte eine Stimme, die sie deutlich zu hören vermeinte, hinzu: Er ist der Vater, den ich niemals hatte; er wird -158-
für mich sorgen. Sie wartete darauf, daß er um den Tisch herumkommen und sie umarmen würde. Statt dessen erlebte sie eine unangenehme Überraschung. »Nun, junge Frau, hör mir einmal genau zu. Wir haben deinetwegen gestern ein längeres Agenturmeeting gehabt, und ich sage dir, du steckst in verdammten Schwierigkeiten. Stacey schickt ihre Mädchen nur zu mir, wenn es ihr absolut notwendig erscheint, und bei dir ist das ganz offensichtlich der Fall. Wenn du weiterhin bei uns bleiben willst, wirst du mir jetzt zuhören, und zwar gut. Du bist anscheinend total von der Rolle. Hier habe ich deinen Abrechnungsbogen. Ich sehe eine Rechnung für Aufnahmen von Marion Warner. Oh, das überrascht dich? Hast du etwa geglaubt, er würde das nicht in Rechnung stellen? Wach endlich auf, Schätzchen! Außerdem wären da noch etliche Rechnungen über Taxifahrten, deine Setkarte, Foto- und Laserkopien, Faxe, Polaroids, Briefmarken, Telefongespräche, und - um nichts zu vergessen: seitdem du hier bei uns bist, hast du noch keine Miete gezahlt! Du schuldest uns insgesamt elftausend Dollar. Und soweit ich das Staceys Äußerungen entnehmen kann, vermasselst du jeden Job, den du bekommst, und du bekommst eine ganze Menge davon. Damit ist jetzt Schluß. Wir haben alles getan, um dich zu halten, aber dein Ruf ist in dieser Stadt bei Null angelangt. Also, was hast du zu deiner Rechtfertigung zu sagen?« Sie hatte kaum verstanden, was er gesagt hatte. Das alles ergab doch gar keinen Sinn. Sie war wie benommen von seiner Stimme. Seine Worte mochten schroff gewesen sein, aber sie konnten seinen seidenen, leicht italienischen Akzent nicht verdecken. Noch immer hatte sie sein »Du bist so wunderschööön, sag mir deinen Namen!« im Ohr. Sie starrte ihn an, versuchte mit aller Kraft, ihre Tränen zu unterdrücken, und erkannte langsam die bittere Wahrheit: er erinnerte sich nicht mehr an sie. -159-
»Hey, Kindchen, hast du mir überhaupt zugehört? Antworte mir gefälligst! Sieh es mal so - glaubst du, ich würde hier meine Zeit mit dir verschwenden, wenn ich nicht der Meinung wäre, daß du es wert bist? Die Fotos, die Marion von dir gemacht hat, sind sensationell. Du bist sensationell. Du hast eine große Zukunft vor dir, das ist keine Frage. Ich verstehe dich auch irgendwie. Wie alt bist du? Fünfzehn? Sechzehn? Wahrscheinlich bist du zum erstenmal fort von deinen Eltern und dann gleich in New York. Woher kommst du?« Das war's. Die Tatsache, daß er danach fragte, bewies unwiderruflich, daß er sich nicht mehr an sie erinnerte. Er war um seinen Schreibtisch herumgekommen, kniete neben ihr nieder und bot ihr ein großes weißes Taschentuch an. »Bitte weine nicht. Wir sind doch für dich da, aber du mußt uns auch ein bißchen helfen. Wir werden einen Weg finden, wie du uns das Geld zurückzahlen und darüber hinaus noch viel, viel mehr verdienen kannst. Hast du mich verstanden?« Gigi nickte, und als er über ihren Kopf streichelte, widerstand sie nur knapp dem starken Bedürfnis, sich in seine Arme zu werfen. »Du mußt raus aus dieser Stadt. Ich sag' dir jetzt was: wir schicken dich nach Italien, in mein Heimatland. Wir schicken dich nach Mailand. Und dort wirst du hart arbeiten. Modemagazine gibt es da reichlich. Du wirst jede Menge Arbeitsproben und Geld mit nach Hause bringen. Deine Mappe wird super werden, und dann fangen wir in New York noch einmal von vorne an. In Ordnung?« Natürlich sagte sie ja. Sie hatte gar keine andere Wahl! Was sie aber wirklich dachte, war: wenn ich nach Mailand gehe und tue, was du sagst, hast du mich dann wieder lieb, wenn ich zurückkommen, Daddy? Es gab allerdings noch ein kleines Problem bezüglich der Mailandreise: Gigi besaß keinen Paß. Die Agentur fragte sie schon danach, seitdem sie hier war. Nun -160-
mußte sie reinen Tisch machen und für klare Verhältnisse sorgen. Bei Etoile war man bereit, ihr zu helfen, aber dazu brauchte sie eine Geburtsurkunde. Und dann war da ein noch viel größeres Problem: wenn man ihre Geburtsurkunde sah, würden alle wissen, daß sie gelogen hatte, was ihr Alter betraf, so wie ihre Setkarte auch nicht ihre richtige Größe angab. Als der Booker, der sie bei ihrer Ankunft bei Etoile gemessen hatte, eine Sekunde abgelenkt gewesen war, hatte Gigi ihre eigentliche Größe von 1,70 Meter in 1,74 Meter verwandelt. Bei den Castings trug sie immer hohe Absätze. Es gab nur eines, was sie tun konnte: sie mußte einen Weg finden, nach Miami zurückzukehren und ihre Geburtsurkunde in Elenas Hinterlassenschaft suchen. Zu Staceys großem Erstaunen wurde Gigi über Nacht zu einem anderen Menschen. Sie versprach, sich selbst um ihren Paß zu kümmern, und meldete sich von nun an jeden Tag in der Agentur, um sich nach Castings zu erkundigen. Aber es war zu spät. Niemand wollte sie mehr buchen. Eines Tages stellte Gigi eine scheinbar unschuldige Frage: »Was ist mit Miami? Gibt es da nicht vielleicht Arbeit für mich?« »Nach Weihnachten, im Januar und Februar, gibt es dort Arbeit ohne Ende. Du willst wohl die heimkehrende Königin spielen?« bemerkte Stacey lachend. »So was Ähnliches«, antwortete Gigi kleinlaut. Es waren nur noch zwei Wochen bis Weihnachten, und Cassie wurde langsam hysterisch. Ihre Mutter erinnerte sie an ihr Versprechen, zurückzukommen und bei Oma Doris zu wohnen, wenn sie bis dahin keinen Job gefunden hätte. Cassie wusch sich das Haar, lackierte ihre Fingernägel, trug eine Creme auf, die ihr Gesicht erstrahlen ließ, schluckte ihre Vitamine und ging - wie gewöhnlich - mit einer Stunde Spielraum zu ihrem Vorstellungstermin. Go and see. Sie durfte -161-
nicht zu spät kommen! Sie durfte nicht zu spät kommen, was immer auch geschah! Es war ein Termin für Exklusivaufnahmen. Sie hatten ihre Mappe gesehen, und sie hatte ihnen gefallen. Aber bei ihrem Glück würde sie ihnen wahrscheinlich überhaupt nicht mehr gefallen, wenn sie leibhaftig vor ihnen stand. Stacey wußte nicht viel über den Auftrag, nur soviel: es war Arbeit für einen Katalog, sie würden 1200 Dollar pro Tag zahlen, und es war völlig unwichtig, was Cassie zum Casting anzog. Hauptsache, sie sähe gesund und strahlend aus. Cassie war niemals krank. Sie gehörte zu jenen glücklichen Menschen, denen es auch dann noch gutging, wenn fast alle anderen mit einem Grippevirus darniederlagen. Aber als sie jetzt die Madison Avenue entlangging und die angegebene Adresse suchte, spürte sie einen nervösen Druck im Magen. Sie war bereits an ihrem Ziel angelangt und hatte sich an der Rezeption angemeldet, als sie spürte, daß sie sich gleich übergeben mußte. Es mußte an diesem seltsamen kubanischen Essen liegen, das Gigi ihr gestern abend aufgezwungen hatte. Aus unerklärlichen Gründen war Gigi plötzlich unheimlich freundlich zu ihr gewesen. Sie hatte sogar angefangen, einzukaufen und zu kochen - nur konnte sie leider überhaupt nicht kochen. Außerdem befürchtete Cassie, daß Gigi Fleisch kaufte, das nicht mehr ganz frisch war. Eigentlich aß Cassie niemals rohes Fleisch, aber sie hatte ihre Mitbewohnerin nicht beleidigen wollen. Jetzt sah es so aus, als hätte sie sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen. Cassie schaffte es gerade noch, einer Dame ihre Mappe in die Hand zu drücken, dann stürzte sie aus dem Zimmer und rannte die Halle hinab zur Toilette. Dabei mußte sie sich immer wieder übergeben und verfluchte Gigi, wie es eigentlich überhaupt nicht ihre Art war. Nun hatte sie jede Chance verloren, diesen Job zu bekommen. Und alles war allein Gigis Schuld! Als sie aschfahl, aber tapfer lächelnd zurückkam, waren alle sehr besorgt um sie. -162-
»Alles klar, Liebes? Wir hoffen, du nimmst dir diese Arbeit nicht allzu sehr zu Herzen.« Sie konnte es überhaupt nicht fassen, als Stacey sie dann anrief und ihr mitteilte: »Du hast den Job! Du bist auf dem richtigen Weg. Morgen früh um sieben Uhr dreißig in den Sunshine Studios an der Ecke Broadway und Prince Street.« »Was ist mit der Anprobe?« »Tja, das ist bei diesem Job sozusagen nicht nötig. Ich muß los. Ciao«, lachte Stacey und legte auf. Cassie war etwas ängstlich zumute. Es hatte sich zweideutig angehört. Aber Stacey würde sie doch niemals etwas Anrüchiges tun lassen. Am Abend konnte Cassie es sich nicht verkneifen, Gigi zu erzählen, daß sie am nächsten Tag einen Job hätte. Sie versuchte, den Job größer darzustellen, als er war, aber als sie das Wort Katalog erwähnte, verlor Gigi sofort jegliches Interesse. »Reiner Kohlejob. Die Bezahlung ist zwar in Ordnung, aber es ist nichts fürs Prestige.« Aber keine von Gigis Schmähungen konnte Cassies Freude schmälern, als sie am nächsten Morgen in das tolle Tageslichtstudio trat. Die Wintersonne schien kräftig durch die riesigen Fenster. Glücklich saß sie in der Garderobe beim Makeup, vielleicht ein bißchen enttäuscht, weil sie sich vorgestellt hatte, auf glamourös und mondän und nicht auf gesund und ländlich geschminkt zu werden. Dann zeigte man ihr einen Kleiderständer, an dem verschiedene Kleidungsstücke hingen. Cassie suchte sich eines aus, aber es war ihr einige Nummern zu groß. Offenbar hatte man ihr einen falschen Ständer gegeben, vielleicht mit Kleider für Außenaufnahmen. »Entschuldigen Sie bitte«, fragte sie ein wenig nervös, »wo sind denn meine Kleider?« »Na, das hier«, erwiderte die Stylistin. »Also, laßt uns anfangen!« -163-
So begann endlich der erste Tag in der Karriere der Cassie Dylan als Model in der New Yorker Modeszene. Cassie verbrachte den ganzen Tag mit einem vor den Bauch gebundenen Kissen. Sie mußte sich sechzehnmal umziehen für insgesamt vierundzwanzig Seiten in einem Umstandskatalog. Dabei lächelte sie tapfer in die Kamera, und in ihren Augen schimmerten die Freudentränen über das bevorstehende Mutterglück. Kaum einen Monat später stand Gigi inmitten eines großen Steinbruchs außerhalb des sonnenverwöhnten Miami und posierte für eine Skibekleidungsserie. Sie trug einen Parka, Skistiefel und eine riesige Sonnenbrille. Ein Assistent sollte einen Sack voller Schnee über ihr ausschütten, während von hinten eine Windmaschine blies. Es fiel ihr schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, denn sie mußte daran denken, was sie letzte Nacht gesehen oder, genauer gesagt, gehört hatte. In der Hoffnung, allein mit Charley Lobianco sprechen zu können, hatte sie seit dem späten Nachmittag bei Etoile in Miami herumgesessen und gewartet, bis alle anderen nach Hause gegangen waren. Sie wollte ihm von ihrem Job in Miami erzählen und davon, daß alles besser werden würde, wenn sie erst einmal in Mailand war, und wie stolz er auf sie sein könnte. Sie sah, daß in seinem Büro noch Licht brannte, und ging ein wenig nervös den Flur entlang in Richtung Tür. Als sie gerade anklopfen wollte, hielt sie inne. Charley war nicht allein. Sie hörte die Stimme einer Frau, die offensichtlich sehr wütend war. »Mr. Lobianco, es gibt zwei Dinge, die Sie wissen sollten. Erstens: der Bruder meines Mannes ist Arthur Kraft. Und das Mädchen, das Sie geschwängert haben, ist Mr. Krafts Nichte. Wenn er das zu hören bekommt, zweifle ich nicht daran, daß er die Mitarbeiter der Magazine seines Medienkonzerns anweisen wird, mit ihnen keine Geschäfte mehr zu machen. Und zweitens, Mr. Lobianco: meine Tochter ist erst vierzehn Jahre alt. Sie ist -164-
minderjährig!« »Ich schwöre Ihnen, Mrs. Parrish, ich habe Ihre Tochter noch nie gesehen.« »Tja, es war mir klar, daß Sie das in Anbetracht der Vorwürfe, die Sie soeben gehört haben, sagen würden. Schauen Sie, hier ist ein Foto von ihr.« »Mrs. Parrish, ich treffe Hunderte von Mädchen, das ist mein Job. Ihre Tochter ist sehr hübsch, aber ich kann mich nicht erinnern, sie je getroffen zu haben.« »Und Sie glauben ernsthaft, daß ich es dabei bewenden lasse?« »Nun, was sollte ich Ihrer Meinung nach tun?« hörte Gigi Charley fragen. »Auf die Knie fallen und ihr einen Antrag machen?« »Werden Sie bloß nicht frech. Die Situation ist traurig genug. Sie werden ohne Zweifel erleichtert sein zu hören, daß ich keine Geldforderungen stelle, jedenfalls jetzt noch nicht. Aber das hat nur einen Grund: der Name unserer Familie darf auf keinen Fall mit einem solchen Skandal in Verbindung gebracht werden. Sie werden von meinen Anwälten hören. Sollte meine Tochter gezwungen sein, das Kind zur Welt zu bringen, werden Sie für sein finanzielles Wohlergehen zur Verantwortung gezogen werden. In jedem Fall sollten wir eine Vereinbarung treffen, die verhindert, daß mein Schwager davon erfährt.« Mrs. Parrish ging kurz darauf, und Charley begleitete sie hinaus. Gigi trat aus dem Schatten. Wie es schien, war sie nicht das einzige Mädchen, an das sich Charley nicht mehr erinnern konnte, aber zumindest hatte er nicht versucht, mit ihr zu schlafen. Vielleicht sagte er ja auch die Wahrheit. Von Neugierde getrieben, schlüpfte Gigi in sein Büro und nahm das Foto von Victoria Parrish in die Hand. Sie betrachtete es einige Sekunden lang - es war am Strand aufgenommen worden, an einem ihr sehr vertrauten Strand, vor einem ihr ebenso -165-
vertrauten postmodernen Gebäude -, bevor sie es in ihrem Dekollete verschwinden ließ und aus dem Büro rannte. Am Ende des Arbeitstages nahm Spike, der Fahrer des Wohnmobils, der vom Produktionsagenten Randy Phillips engagiert worden war, Gigi mit zum Hotel zurück. Spike war ein Kolumbianer mit Schweinenacken und Goldkronen, der in Expeditionsausrüstung gekleidet war und sich besonders bei Filmteams großer Beliebtheit erfreute. »Woher kommst du?« fragte er Gigi. »Du siehst nicht wie ein typisches Girl aus New York aus.« »Huh, danke vielmals«, lächelte Gigi. »Ich bin aus dieser Gegend hier.« Es war schon irgendwie verrückt, nach South Beach zurückzukommen und in diesem ganzen Tohuwabohu hier eine Hauptrolle zu spielen. Den ersten Abend verbrachte sie in einem neuen angesagten Restaurant, dessen Besitzer Jonathan Eisman sie aus New York kannte und den sie begrüßen wollte. Bei der Arbeit fühlte sie sich irgendwie komisch. Plötzlich war sie wieder die kleine Gigi Garcia, die illegale Einwanderin, die immer einen Blick über die Schulter werfen mußte, weil die Behörden hinter ihr her sein konnten. Elena war nicht mehr da, um auf sie aufzupassen. Das wurde ihr erst richtig bewußt, als sie zu ihrer kleinen schäbigen Wohnung ins Collinsviertel ging. Als ihr neuer Mieter öffnete, ein alter schmutziger Mann in Shorts, erinnerte sich Gigi lebhaft an den Penner am Strand, der sie im Grunde genommen erst auf jene Bahn gebracht hatte, die sie schließlich aus Miami weggeführt hatte. Wie hatte sie nur hoffen können, daß die Wohnung immer noch leerstand? Schließlich fragte sie eine Nachbarin, was mit Elenas Sachen geschehen sei. Die Frau schrie Gigi minutenlang an, warum sie nicht einmal zur Beerdigung ihrer Mutter gekommen wäre, und Gigi mußte sich schwer beherrschen, um nicht zurückzubrüllen, daß diese verrückte alte Frau nicht ihre wirkliche Mutter -166-
gewesen sei. Schließlich händigte die Frau ihr dann doch ein klägliches kleines Bündel aus, das unter anderem aus einem Schuhkarton mit einigen wenigen Papieren bestand. Gigi fand darin, wonach sie gesucht hatte, und entdeckte, daß sie tatsächlich als Gina Garcia, Tochter von Maria und Ernesto Garcia, am 9. November 1978 in Havanna geboren worden war. Hieß in Kuba eigentlich jeder Garcia? Das war doch auch der Familienname ihrer Pflegemutter Elena gewesen. Und der einzige kubanische Filmstar, von dem man je gehört hatte, hieß Andy Garcia. Jetzt, wo sie endlich ihre Geburtsurkunde in den Händen hielt, hatte Gigi zum erstenmal ein Gefühl von Identität. Sie nahm den Karton mit ins Hotel und setzte sich damit aufs Bett. Ganz unten fand sie einige Bündel mit offiziell aussehenden Papieren und einen Umschlag mit ihrem Namen darauf. Der Brief, der sich darin befand, konnte nicht von Elena geschrieben worden sein, denn Elena hatte nie richtig schreiben gelernt. Sie mußte ihn jemandem diktiert haben, der kein Englisch konnte, denn der Brief war in zittriger Blockschrift auf spanisch abgefaßt: Liebe Gina, Deine Mutter wollte, daß ich Dich so nenne. Ich weiß nicht, warum Dich alle hier Gigi rufen. Dieser Karton ist für Dich bestimmt, wenn ich tot bin. Du wirst daraus ersehen, wer Deine richtigen Eltern waren. Aber Du wirst ebenfalls sehen, daß auch ich Deine Mutter war. Du brauchst diese Papiere, wenn Du heiraten willst oder Probleme mit der Polizei bekommst. Ich hoffe, Du heiratest und bekommst viele Kinder. Ich hoffe, Du bist jetzt glücklich. Ich liebe Dich, Gina! Deine Mutter Elena Die anderen Dokumente waren Adoptionsunterlagen. Elena -167-
hatte Gigi adoptiert, damit sie die amerikanische Staatsangehörigkeit bekam. Als Gigi so auf ihrem Futon unter dem Moskitonetz lag, wurde ihr klar, wieviel Elena für sie getan hatte. Und wie selbstsüchtig sie die Freundlichkeit der müden alten Frau mit Verachtung und Grobheiten entlohnt hatte. Elena hatte sie geliebt, wenngleich nicht mit der Art von Liebe, nach der sich Gigi immer gesehnt hatte. Aber, dachte sie jetzt voller Kummer, das ist die einzige Art Liebe, die ich je bekommen habe. Am nächsten Morgen kam das Zimmermädchen mit dem Frühstück und fand Gigi am Boden liegend vor, inmitten des um sie herum verstreuten Kartoninhalts. Der Anblick dieser Frau, die die gleiche Uniform trug, die Elena immer getragen hatte, und die ihr so ähnlich sah, stürzte Gigi in einen weiteren Weinkrampf. »Dios mió! Qué pasa? Mal?« Das Zimmermädchen stellte das Tablett am Bett ab, eilte zu Gigi und nahm sie in die Arme. »Schon in Ordnung«, versuchte Gigi abzuwiegeln, brach aber wieder in Tränen aus. Irgendwann gab sie auf und erzählte dem Zimmermädchen die ganze Geschichte. Schließlich würde sie die Frau nie wiedersehen, und diese Fremde war vermutlich die einzige auf der Welt, die sie je verstehen würde. Wie sie Gigi erzählte, war auch sie eine Einwanderin. Es sei gut, daß Gigi fortgegangen war, es sei gut, daß sie sich in New York einen Namen machen wolle, sie solle stolz auf sich sein und daran denken, daß sie das auch für die armen Kubaner mache, die unten bleiben müßten. Sie werde deren Idol sein. Elena sei zwar tot, aber vielleicht würde eines Tages ihre richtige Mutter ein Modemagazin aufschlagen und das Gesicht ihrer Tochter darin sehen. »Aber sie würde mich doch gar nicht erkennen«, protestierte Gigi. »Wenn du eines Tages berühmt bist, erzählst du deine -168-
Geschichte einer Zeitung, und dann wird sie wissen, wer du bist.« »Du siehst zuviel Fernsehen«, grummelte Gigi und begann, die Papiere zu ordnen. Das Zimmermädchen half ihr und griff unter das hölzerne Futonbettgestell, um ein Stück hervorzuholen, das sich dorthin verirrt hatte. Es war eine Fotografie. »Kennst du das Mädchen? Ist das eine Freundin von dir?« »Nein. Warum, kennst du sie?« »Klar, sie war zwei, drei Monate lang mit ihrem Onkel hier. Ein netter Mensch. Ein sehr, sehr netter Mann. Sehr umgänglich. Ließ ein dickes Trinkgeld da. Er kommt oft hierher. Er macht dieselbe Arbeit wie du. Mr. Lobianco. Ein sehr netter Mann.« »Ach, wirklich?« Gigi drehte sich zu dem Zimmermädchen um und entzog ihren nikotingelben Fingern sanft das Foto.
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London, 1994 Der Modeschrank bei Carter's war ein geradezu heiliger Ort, lediglich Alice Johnson als Moderedakteurin und ihre Assistentin Geraldine durften Schlüssel dazu haben. Trotzdem sobald sich einmal jemand eine Laufmasche in die Strümpfe riß, waren auf wundersame Weise plötzlich eine ganze Reihe von Leuten in der Lage, Schlüssel vorzuzeigen; die Tür wurde geöffnet, und Berge von Strümpfen von Charnos, Elbeo, Marks & Spencer und Gott-weiß-wem-Sonst - alles Mustersendungen eifriger PR-Damen - ergossen sich über dem Fußboden und boten Sofortersatz für die Angestellten des Modestudios. Genau das war auch der Grund, weshalb Geraldine den Schrank leer vorfand, als sie sich von seinem Inhalt für den Herstellernachweis einer Story inspizieren lassen wollte. ›Schwarzer Netzrock aus den Fünfzigern von Cornucopia, 12 Upper Tachbrook Street, London SW I; Gummi-Hemd von Joseph, 77 Fulham Road, London SW 3; Schuhe von…‹ Geraldine hielt inne und kaute am Ende ihres Pilot Fineliners. Es waren keine Schuhe auf dem Bild, weil das Foto bereits am Knie aufhörte, doch Alice hatte darauf bestanden, daß erwähnt werden sollte, die Schuhe seien von Marky - im Gegenzug für deren lukratives Inserat in der letzten Ausgabe. ›Schuhe von Marky‹, schrieb Geraldine also, wie ihr geheißen worden war, und fügte hinzu: ›Parfüm von Amber‹ Das kam auf dasselbe hinaus. Amber war ein neues Parfüm, für das geworben wurde, und das konnte man auch nicht sehen. ›Ohrringe von Van Peterson, Walton Street, London SW 3; Diamantfußkettchen von Kensington Market, 49 - 53 Kensington High Street, London W 8; Strümpfe von…‹ Sie zögerte erneut. Im Modeschrank befanden sich keine -170-
Strümpfe mehr. Normalerweise führte sie das erste Paar auf, das auf den Boden fiel. Also - welcher PR-Firma waren sie noch einen Gefallen schuldig? Sie suchte sich eine aus, überlegte, in welchen Geschäften es sie wohl zu kaufen gab, und schrieb den Namen auf. Und was sollte sie zum Make- up schreiben? Schuldeten sie Clarins oder Chanel einen Gefallen? »O Gott«, stöhnte Geraldine und schrieb: ›Make-up von Boots No. 7‹ Damit war sie endlich fertig. Nein, war sie nicht. Das dumme Ding trug einen Haufen Armreifen an ihrem linken Arm. »Ach, scheiß drauf«, fluchte Geraldine leise und schrieb: ›Armreifen: Besitz des Models.‹ Geraldine war ziemlich untalentiert, was das Merchandising anging, wie die namentliche Erwähnung von Produkten in der Zeitschriftenbranche genannt wurde. Alice konnte ihr nie klarmachen, daß alles, was namentlich erwähnt wurde, auch im ganzen Land erhältlich sein mußte. Geraldine vergaß immer wieder, daß sie sich mit den einzelnen Händlern absprechen mußte, wenn die Einkäufer von den Kollektionen zurückkehrten. Sie schrieb immer wieder leichtfertige Dinge auf wie ›Anzug von Romeo Gigli, erhältlich bei Browns, South Molton Street‹, ohne nachzuprüfen, ob Browns diesen Anzug auch tatsächlich führte. Alice mußte ständig Sachen streichen und durch ›Anzug: Maßanfertigung‹ oder etwas ähnlich Vages ersetzen. Deshalb überwachte Alice nebenbei mit einem Auge Geraldines Produktaufzählungen, während sie sich selbst über einen Stapel Modelmappen hermachte, die sie für einen Artikel über Unterwäsche angefordert hatte. Was ihr vorschwebte, ließ sich allerdings kaum als ein normaler Artikel über Dessous bezeichnen. An diesem Morge n war sie in einem Zustand höchster Erregung ins Büro gekommen. »Gerry, mein Engel, ich hatte heute morgen in der Badewanne diese brillante Idee. Überschrift: ›Mein wunderbarer -171-
Waschsalon. ‹ Wir stecken ein zum Umfallen toll aussehendes Mädchen in einen he runtergekommenen Waschsalon, wo sie ihre Wäsche macht. Dann machen wir's folgendermaßen: im Hintergrund ist eine offene Tür, und man sieht, daß sie gerade auf ihrer Harley oder so angekommen ist…« Motorrad: Harley Davidson - Geraldine machte sich eine geistige Notiz für später. »… und in den Waschsalon stürzt, um ihre Wäsche zu waschen. Sie ist gerade dabei, sich bis auf T-Shirt und Slip auszuziehen - natürlich hat sie in jeder Aufnahme was anderes an, dazu ist der Bericht ja schließlich da - und ihr Zeug in die Maschine zu schmeißen. Und dann steht sie halbnackt da, in der letzten Aufnahme vielleicht auch ganz nackt.« »Das kommt mir irgendwie bekannt vor«, meinte Geraldine. »Gerry, das sagst du über alle meine Einfälle«, nörgelte Alice. Sie hielt Geraldine ein Foto hin. »Ich muß schon sagen, dieses Mädchen hat wirklich einen sehr eindrucksvollen Körper, was meinst du, Gerry?« »Göttlich, auf jeden Fall. Wer ist sie?« »Sie heißt Celestia. Kommt von Etoile. Sei so lieb und ruf die doch mal eben an. Wir sollten sie mal herbitten, um sie uns anzugucken. Damit wir sicher sein können, daß sie es auch wirklich ist. Ich kann mich da an ein Ding erinnern, das passiert ist, als ich vor Jahren noch bei Woman's Journal war und wir diesen Dessousartikel bringen wollten. Da hat uns eine Agentur die Mappe von einem Mädchen geschickt, das gerade im Ausland war. Wir dachten, die ist total fantastisch gebaut und haben sie blind gebucht - sollte man nie tun, weiß ich ja… Wir hatten fast einen Anfall, als sie dann beim Fototermin auftauchte. Es stellte sich heraus, daß sie eine Schwester hatte, die ebenfalls Model war und ihr sehr ähnlich sah bloß, daß diese Schwester diejenige mit den tollen Kurven war. Die Frau - frag mich nicht, wie - hatte jemanden aufgetrieben, der die Fotos so -172-
zurechtgedoktert hatte, daß ihr eigener Kopf auf dem Körper ihrer Schwester saß. Sie hatte ihrer Schwester buchstäblich den Körper gestohlen.« Grace Brown boxte vor Freude in die Luft und schrie ein stummes »Ja!«, als Alice Johnson ihr mit ihrer affektierten Stimme mitteilte, sie sei für eine Fotosession an Celestia interessiert. Man benötigte jemanden, der sensationell gebaut wäre. »Sie ist ein Star, Alice, ich schick' sie dir gleich mal vorbei und dann…« Grace brach mitten im Satz ab, weil sie sich daran erinnerte, daß die Ehrenwerte Celestia die Tatsache, bei Etoile unter Vertrag zu sein, damit gefeiert hatte, sich sofort einer Orgie des Body Piercings hinzugeben, die mit dem Durchstechen ihrer Nase begonnen hatte. Der Nabel war als nächstes dran gewesen, bis sie sich schließlich, wie sie jedem verkündete, der es hören wollte, auch ihre Muschi hatte durchstechen lassen; es hätte nicht einmal weh getan, hatte sie verkündet. »Alice, ich glaube, es gibt da etwas, das ich erwähnen sollte. Sie trägt Körperschmuck, ihr Nabel, du weißt schon, Körperschmuck eben…« »Was für Körperschmuck?« Grace war sich sicher, daß sie Alice schwerer atmen hören konnte. »Ja, also, noch an einem anderen Teil ihres Körpers, weißt du, etwas weiter unten…« »In diesem Fall machen wir unbedingt ein paar Nacktaufnahmen. Diese Celestia, macht die überhaupt Nacktaufnahmen?« Grace hörte mit einem Male die Stimme von Lady Prudence Fairfax in ihrem geistigen Ohr, wie sie ihr jeden Tag am Telefon ein Loch in den Bauch fragte: »Wann sehe ich meine Tochter -173-
endlich in Vogue? Wann kommt meine Tochter endlich auf die Titelseite von Carter's! Wann fliegt meine Tochter endlich nach Paris? Wann wird meine Tochter endlich…?« Sie stellte sich Lady Prudences Gesicht vor, wenn diese den Modeartikel mit der Ehrenwerten Celestia und deren durchstochenen Schamlippen sah, und versicherte Alice Johnson, nicht ohne eine gewisse Portion Schadenfreude: »Sie macht Nacktaufnahmen. Das kann ich dir garantieren.« In den Wochen vor ihrer Abreise nach Mailand quälte sich Tess in London von einem Bewerbungstermin zum anderen. Jetzt saß sie in einer Ecke des Agenturbüros herum und versuchte, sich zu entspannen, während sie darauf wartete, daß irgendeiner von denen, die sie am Vortag getroffen hatte, sich für sie entschied. Sie beobachtete die steigende Aufregung am Tisch der Booker, als sich die Neuigkeit von Celestias erstem großen Auftrag verbreitete. »Ich weiß genau, was du denkst«, flüsterte ihr Angie zu, die sich neben sie setzte. »Ausgerechnet die Ehrenwerte Celestia Fairfax! Wer denkt die eigentlich, wer sie ist? Die Nase immer hoch im Wind, nur weil sie von vornehmer Herkunft ist, und dann kommt sie hier reingeschneit und bekommt gleich einfach mal so sechs Seiten im Carter's. Den Seinen gibt's der Herr halt im Schlaf.« Tess wurde verlegen, wobei sich ihr heller Teint dunkelrot färbte: das war ganz genau das, was auch sie gedacht hatte. »Wie macht sie das bloß, Angie? Ich meine, nicht du betreust sie, sondern sie ist gleich bei Grace gelandet. Das ist doch einfach nicht…« »Nicht fair? Wolltest du das gerade sagen? Tess, dies ist eines der unfairsten Geschäfte, mit denen man überhaupt zu tun haben kann. Anderen Leuten erscheint es auch nicht fair, daß einige Mädchen einen Haufen Geld machen, nur weil sie hübscher -174-
aussehen als andere. Und dann fragst du dich, ob es fair ist, daß das Kameraobjektiv die einen Mädchen eben liebt und andere, die einem ebenso schön erscheinen, dagegen nicht. Sieh dir Celestia doch mal an, wenn sie das nächste Mal reinkommt. Hör ihr zu. Sprich mit ihr. Lerne sie ein wenig besser kennen. Sie ist ein wirklich netter Kerl, Tess. Na gut, sie kommt nun mal aus einem vornehmen Elternhaus, aber sie betont das nicht absichtlich. Und außerdem hast du auf deine Art und Weise mindestens genauso viel Klasse wie sie. Sollte sie dir was voraus haben, was das Posieren angeht, dann ist das ihr anerzogenes Selbstvertrauen, das sie ihrer Herkunft verdankt. Denk positiv, Tess. Beneide sie nicht, beobachte sie.« »Du meinst, ich sollte mir ihre Ausstrahlung abschaue n? Grace redet ständig davon: Ausstrahlung, Ausstrahlung, nichts anderes als Ausstrahlung… Was meint sie damit überhaupt?« Angie überlegte einen Moment, bevor sie antwortete. Das Problem bei einer besonderen Ausstrahlung war, daß jemand, der fragen mußte, warum es sich dabei handelte, sie wahrscheinlich ohnehin nicht besaß. Bei normalen Menschen war so etwas ohne Belang, aber Models waren keine normalen Menschen. Wenn sie ganz groß rauskommen wollten, mußten sie einfach etwas haben, das sie vor der Kamera hervorhob und zu etwas Besonderem machte. Schon bei dem Wort Ausstrahlung mußte Angie unwillkürlich an einen jungen schwarzen Rap-Musiker denken, der, gerade aus dem Gefängnis entlassen, die härtesten Sprüche klopfte. Hatte Celestia womöglich etwas von eine m schwarzen Rap-Musiker? Nein, natürlich nicht, aber ihr Aussehen und ihre Haltung jedem gegenüber, der sie ansah, hatte genau denselben unwiderstehlichen Effekt: sie war einfach nicht zu übersehen. Tess würde man niemals so beschreiben können. Doch noch während Angie darüber nachdachte, fielen ihr die vielen Ausnahmen unter den Topmodels ein. Tess' Äußeres glich der zarten Schönheit einer rothaarigen Christy Turlington, und was -175-
in Gottes Namen sollte daran falsch sein? »Tess, vergiß die Ausstrahlung! Denk einfach daran, wie sich Celestia gibt. Wenn sie jetzt hier wäre, säße sie ganz sicher nicht so niedergeschlagen in einer Ecke wie du. Sie würde sich drüben mit allen Bookern unterhalten. Ich sage es dir noch mal, Tess, sie ist ein nettes Mädchen, richtig freundlich und offenherzig. SWAN ist auch so ein Mädchen aus den oberen Zehntausend, und jeder sagt, daß sie ebenfalls keine Allüren hat. Sie bemüht sich, anderen Mädchen zu helfen, und arbeitet selbst unglaublich hart. Also, werd endlich diesen blöden Minderwertigkeitskomplex los. Laß uns lieber darüber reden, was noch ansteht, bevor du nach Mailand fährst. Da fällt mir übrigens ein, daß ich eine Postkarte von Patrick erhalten habe. Er hat sich nach dir erkundigt. Ich glaube, du hast einen ziemlichen Eindruck auf meinen eigensinnigen Bruder gemacht.« Nach dem verzweifelten Anruf ihres Vaters, in dem er ihr von Patricks Verschwinden erzählt hatte, war Angie nichts anderes übriggeblieben, als nach Hause zu gehen und dort das Leben ihrer Familie zu ordnen. Grace und alle anderen in der Agentur waren unbeschreiblich verständnisvoll gewesen. »Tu, was du tun mußt, Angie, aber komm bitte wieder zurück. Du bist uns sehr wichtig«, hatte Grace damals zu Angies großer Freude gesagt. »Du bist dabei, einen guten Blick fü r die Art von Mädchen zu entwickeln, auf die wir Wert legen, und die Mädchen, die du betreust, beten dich an. Sie zählen auf dich. Du bist ihre beste Freundin, und das ist ein großer Teil dessen, was einen guten Booker ausmacht - abgesehen davon, den Mädchen den bestmöglichen Vertrag zu verschaffen. Also, geh zu deiner Familie, aber komm bald zurück.« Angie war erfreut zu hören, daß man sie schätzte, dennoch war sie nicht vollkommen zufrieden. Sie wußte, daß ihr Glaube an Tess Tucker nicht von Grace geteilt wurde, denn Grace dachte, daß das Mädchen noch immer zu einem Problem werden könne. Und Grace irrte sich eigentlich selten. -176-
Was ihre Familie betraf, so gefiel Angie der Gedanke keineswegs, daß sie ihren Schwestern und ihrem kleinen Bruder nicht die nötige Zeit widmen konnte, aber sie hatte keine andere Wahl. Außerdem hatte Mrs. O'Connor, die lustige Witwe von nebenan, ein Auge auf Joseph Doyle geworfen, seitdem Angies Mutter weggelaufen war, und sie hatte sich bereit erklärt, täglich vorbeizuschauen und den Kindern etwas zu essen zu machen, wenn sie aus der Schule kamen. Angie nahm das eine Last vom Herzen. Und dann hatte Kathleen darauf bestanden, daß sie nun alt genug wäre, sich um die anderen Geschwister zu kümmern, und am Ende hatte Angie sich völlig rausgehalten und es den beiden selbst überlassen. Sechs Wochen später erreichte sie endlich ein Lebenszeichen von Patrick. Er war in Dublin und versuchte, ihre Mutter zu finden. Er war aus irgendeinem Grund vollkommen überzeugt davon, daß sie nach Irland zurückgekehrt war. Angie wußte nicht, was sie empfinden würde, wenn er ihr plötzlich schriebe, er hätte sie tatsächlich aufgespürt. Sie haßte den verletzten Blick ihres Vaters, als sie ihm von Patricks Nachricht erzählte, und sie begriff, daß Patrick sich bei ihm nicht gemeldet hatte. »Es geht ihm gut, Paps, er hat Arbeit. Er wäscht Teller in einem Hotel namens Clarence.« Doch ihr Vater sah sie nur stumm an. Als Geraldine die Bildunterschriften für ›Mein wunderbarer Waschsalon‹ verfassen sollte, stand sie erneut vor einem Problem. Celestia hatte auf der Fotosession fast auf Knien darum gefleht, ihre eigenen Sachen tragen zu dürfen - oder besser gesagt, ihre eigenen Sachen ausziehen zu dürfen, da es bei den Fotos ja in erster Linie darum ging, die Unterwäsche ins Bild zu bringen. Ihre eigene Kleidung kam aus keinen geringeren Häusern als Demeulemeester, Margiela sowie der neuesten Variante britischer Zerstörungswut: Salisbury Plain. -177-
Geraldine wußte genau, daß dann, wenn sie ›Rock von Margiela‹ schrieb und anschließend bei den Büstenhaltern die jeweiligen Dessousdesigner aufführte, sich keiner einen Teufel darum scheren würde, wer den BH entworfen hatte. Wenn sie allerdings ›Kleidung: Besitz des Models ‹ schrieb, würde jeder die Marken sofort erkennen und sich fragen, warum diese nicht namentlich erwähnt worden. Darüber hinaus stellte sich noch die Frage, ob Kleidung von Margiela und Demeulemeester überhaupt dafür geeignet war, in eine Waschmaschine gestopft zu werden. Vielleicht war es also doch besser, die Markennamen nicht zu erwähnen. Und dann waren da natürlich auch noch der Mantel von Lawrence Corner und die ganzen Taschen und Rucksäcke - es kam wirklich alles zusammen. Der Mann, von dem der Körperschmuck stammte, wollte vermutlich auch noch erwähnt werden. Sie schob diese Probleme erst einmal beiseite und widmete sich der Fotografin, einer eigensinnigen jungen Frau, die aufgrund ihrer Arbeit von den Medien einerseits als die neue Ellen von Unwerth, andererseits als die neue Corinne Day gefeiert wurde. Als Grace Brown die verführerischen, grobkörnigen Schwarzweißfotos betrachtete, entdeckte sie etwas, das ihr bis jetzt noch nicht aufgefallen war: Celestia hatte nicht nur mehr Haltung als ein Profiboxer, sondern sie war auch unglaublich sexy. Sie saß mit ausgestreckten Beinen vor einer Wäscheschleuder, nur mit einem weißen Baumwollslip und Turnschuhen bekleidet. Ihren Kopf hatte sie weit in den Nacken gelegt, während sie gierig aus einer Dose Coca-Cola Light trank. Dadurch kam ihr hageres, klassisches Profil voll zur Geltung (wie auch ihre durchstochene Nase mit dem Kettchen, das bis zu ihrer Oberlippe reichte), und ihr langer schlanker Körper glich in seinem Muskelaufbau dem eines perfekt trainierten Athleten. Der Hintergrund war bewußt anrüchig gehalten, doch Celestia selbst kam auf der Seite edelscharf rüber. Alice Johnson hatte bereits angerufen, um ihr mitzuteilen, daß das Bild auf der -178-
Titelseite erscheinen würde. Und wenn Grace daran dachte, wieviel Furore erst das Bild machen würde, auf dem die nackte Celestia sich - anscheinend erschöpft und umgeben von achtlos herumliegenden Wäschestücken - auf der Sitzbank räkelte, hatte sie keinen Zweifel daran, daß ihr Mädchen unmittelbar vor dem Durchbruch stand. Doch auf Celestia kam ein Problem zu, von dem Grace nicht die geringste Ahnung hatte. Lady Prudence war von Natur aus eifersüchtig, und die Aufmerksamkeit, die ihrer Tochter entgegengebracht wurde, begann sie zu ärgern. Sie mochte Grace Brown zwar täglich mit Anrufen im Tonfall einer manischen Bühnen-Nachwuchsstar-Mutter plagen, aber sie hatte nie wirklich erwartet, daß Celestia es einmal zu etwas bringen würde. In Wahrheit hatte sie ihre Tochter für etwas ganz anderes benutzen wollen: sie hatte gehofft, daß ihr, begünstigt durch den Eintritt ihrer in ihren Augen ungelenken und reizlosen Tochter in die Modewelt, ein Comeback gelingen würde. Dabei war ihr entgangen, daß ein Comeback als Model zunächst einmal eine Karriere als Model voraussetzte. Prudence aber war nie mehr als eine mittelmäßig hübsche Frau mit einem gewissen seichtblonden Charme gewesen, die nichts von dem Stil und Körperbau besaß, der ihre Schwiegermutter ausgezeichnet hatte und der auch ihrer Tochter eigen war. Doch das würde sie begreifen. Es gab ihr den Rest, als Celestia dann nicht einmal auftauchte, als Prudence ein Team der Zeitschrift Hello erwartete. Im Kopf hatte sie schon seit Wochen an der richtigen Überschrift für den Artikel gebastelt: ›Lady Prudence lädt auf ihren Landsitz Trevane ein und stellt ihre Tochter, die Ehrenwerte Celestia, vor, die in die Fußstapfen ihrer berühmten Mutter getreten ist und eine Karriere als Model anstrebt.« Nun saß sie, von oben bis unten in Lacroix gekleidet, in der langen Galerie und überlegte, was zum Teufel sie dem Hello-Team sagen sollte, das jeden Augenblick eintreffen würde. Es war schon schlimm genug, daß -179-
Hugo sich geweigert hatte, die Leute hier im Haus unterzubringen. Aber dann hatte Celestia angerufen, um ihr mitzuteilen, daß sie unmöglich den ganzen langen Weg bis nach Devon herausfahren könne, weil sie eine Anprobe habe. Eine Anprobe! Es klang, als ob sie einen Besuch bei ihrem Schneider einem Artikel in Hello vorzog. Doch nichts dergleichen war der Fall. Anproben waren ein wichtiger Teil des Modelberufs, gerade auch aus dem Grund, daß oft auch sie bezahlt wurden, wenn man den Job anschließend bekam. Und an dieser speziellen Anprobe teilzunehmen, bei der es um japanische Kleider ging, die für ihre zu kurzen Ärmel berüchtigt waren, war für Celestia ganz besonders wichtig. Die meist westlichen Models versuchten übrigens, ihre vergleichsweise langen Arme durch Hochziehen der Schultern zu verkürzen, um halbwegs in die Kleider aus Japan zu passen. Celestia konnte sich mit einem Mal vor Aufträgen nicht mehr retten. Alle wollten sie. Der Waschsalon-Artikel in Carter's hatte für mehr Aufsehen gesorgt, als Alice und Grace je erwartet hatten. Die Reaktion der Klatschpresse schwankten zwischen kriecherischer Begeisterung - ›WER BRAUCHT NOCH CLAUDIA, CINDY ODER CHRISTY, WO WIR JETZT CELESTIA HABEN?« - bis hin zu entrüsteter Anklage: ›PORNOGRAPHIE MIT EINER MINDERJÄHRIGEN GETARNT ALS MODEAUFNAHMEN‹. Grace Brown war das gleichgültig. Celestia wurde drei- oder viermal die Woche gebucht, und ein nachfolgender Foto-Artikel, aufgenommen in dem Boxtrainingsstudio über dem berühmtberüchtigten Thomasa-Beckett-Pub in der Old Kent Road sorgte für nicht minder kontroverse Reaktionen wie die Waschsalonstory. Auf diesem Foto erschien Celestia oben ohne in Boxershorts mit einem blauen Auge (dank Make-up) und aggressivem Blick. Da es sich um eine Schmuckstory handelte, hingen lange Reihen von Perlen und schwere silberne Ketten zwischen Celestias -180-
nackten Brüsten. Eines Tages rief Grace ihre Entdeckung so aufgeregt an, daß ihre Worte sich förmlich überschlugen. »Die wollen dich in New York! Man hat die Bilder in Carter's gesehen und will dich bei Conde Nast haben. Dein Flug ist bereits für morgen früh gebucht. Komm vorbei, damit ich dich instruiere, und dann kannst du anfangen, deine Koffer zu packen.« Celestia legte auf und fragte sic h, warum sie diese Nachricht nicht im siebten Himmel schweben ließ. Es dauerte nicht lange, bis sie begriff, warum: sie konnte sich nicht darauf freuen, nach New York zu fliegen, weil sie nur eine Sache im Kopf hatte. Oder besser - einen Mann. Der Kontroverse über Celestias Waschsalonfotos kam allenfalls noch der Streit darüber gleich, wie sich jemand anmaßen konnte, das Andenken an James Dean zu besudeln, indem er ›Denn sie wissen nicht, was sie tun‹ neu verfilmen wollte. Amerikanische n Gerüchten zufolge gab es dort einen neuen jungen Schauspieler - und wenn es je einen neuen James Dean geben sollte, dann war er es. Water - eine Kurzform von Waterfall - Detroits Eltern waren Kinder der Sechziger. Damals waren sie von Michigan nach Kalifornien gegangen und hatten in der notorisch halluzinatorischen Gegend von Haight Ashbury in San Francisco fünf Kinder großgezogen. Waters Brüder hießen Gulf und Storm, seine Schwestern Stream und Flow. Flow hatte später das ›w‹ in ihrem Vornamen weggelassen und so getan, als handele es sich um eine Kurzform von Florence. Den Kindern war gelehrt worden, daß man, wenn man jemanden kennenlernte, zuerst dessen Sternzeichen in Erfahrung bringen sollte, bevor man ihn nach seinem Namen fragte. Ihre Mutter hatte jeden Freitag bergeweise Haschkekse für das Wochenende -181-
gebacken, und Water war den Großteil seiner Kindheit immer halb stoned gewesen. Mit sechzehn war er plötzlich zu sich gekommen, von zu Hause ausgerissen und nach Los Angeles gegangen. Seinen Eltern war das kaum aufgefallen. Er hatte seinen Namen in Walter geändert und sich bei einer Talentagentur am Sunset Boulevard einen Job als Mädchen für alles besorgt. Die nächsten Jahre härteten sowohl sein Herz als auch seinen Körper ab. Er hatte nur ein Ziel: endlich einen Anzug zu tragen, ein toller Hollywood-Talententdecker zu werden und möglichst anders als seine Eltern zu sein. Doch sein Versuch, sich noch vor seinem zwanzigsten Lebensjahr als Kinderagent zu etablieren, scheiterte daran, daß ein Regisseur ihn als perfekten Hauptdarsteller für ›Seelenqual‹ entdeckte, die Neuverfilmung von ›Denn sie wissen nicht, was sie tun.‹ Er nahm wieder seinen richtigen Namen an - genauer gesagt, seinen richtigen Vornamen, denn genaugenommen hieß er Waterfall Krantz. Den Familiennamen Detroit hatten sich seine Eltern erst zugelegt, als sie nach Kalifornien ausgewandert waren. Etoile bestellte Tickets für die Premiere von ›Seelenqual‹ und schickte einige ihrer Models hin, unter anderem auch Celestia. Die Agentur arrangierte es außerdem, daß die Namen der Models auf der Gästeliste der Premierefeier bei Browns in der Great Queen Street standen. Celestia kam dort ohne Nasenring und Kettchen an, in einem halterlosen, scharlachroten FünfzigerJahre-Netzkleid von American Classics. Sie war vollkommen aufgeregt. Sie hatte ›Seelenqual‹ wie in Trance gesehen, völlig gefangen von Water Detroits Anblick. Er war der wunderschönste Junge, den sie je gesehen hatte. Besonders faszinierte sie diese unterschwellig ätherische Aura, die ihn umgab. Sein Gesicht war feinknochig und sein Blick beinahe sehnsüchtig, sein Körper schlank und elegant, keine Spur von einem Muskelprotz. Er erschien ihr gleichermaßen jung wie -182-
weise, und es lagen Welten zwischen ihm und den kinnlosen Knaben von Eton und Harrow, mit denen sie zu tun gehabt hatte, bevor sie nach London gekommen war. Deren ungeschickte Fummeleien, die Art, wie es ihnen immer gleich kam, sobald man sie nur berührte, und ihre pickelige Haut hatten Celestia nicht gerade zu weiteren sexuellen Aktivitäten ermutigt. Sie war selbst überrascht, wie keusch sie seit Beginn ihrer Karriere als Model geblieben war - trotz ihres wilden Äußeren. Alle Gedanken an Keuschheit waren jedoch in dem Moment vergessen, in dem sie auf die Premierenfeier kam und Water Detroit leibhaftig vor sich sah. Zum erstenmal in ihrem Leben wurde Celestia von Schüchternheit geplagt. Es war geplant, Water sämtliche Etoile-Mädchen vorzustellen und sie dann mit ihm für Pressefotos posieren zu lassen. Der Rest ihrer Gruppe hatte sich bereits bei ihm eingefunden, aber Celestia schlich sich zur Bar im oberen Stockwerk davon und verkroch sich den gesamten restlichen Abend in einer Ecke. In Devon schmiedete Prudence Fairfax derweil Rachepläne für das Hello-Fiasko. Die Karriere ihrer Tochter schien ihr keineswegs die richtigen Türen zu öffnen, und je eher sie verhindern konnte, daß Celestia ganz allein im Rampenlicht stand, desto besser. Schlagzeilen wie › Pornographie mit einer Minderjährigen - getarnt als Modeaufnahmen‹ hatten sie auf eine Idee gebracht. Prudence hatte sich den Namen der Verfasserin eines dieser Bericht gemerkt: Lindy-Jane Johnson. Sie machte einen Abstecher ins Dorf und erstand dort einen billigen Block linierten Briefpapiers, aus dem sie einige Seiten herausriß. Der Brief, den sie verfaßte, war absichtlich mit Fehlern gespickt und in einer linkslastigen, kindlichen Handschrift geschrieben. Der Inhalt wies - anonym - darauf hin, daß Lindy-Jane Johnson sich doch vielleicht einmal den einen oder anderen Gedanken darüber machen sollte, daß die pornographischen Fotos in ›Carter's‹ ausgerechnet von einer -183-
Frau aufgenommen worden waren und die Ehrenwerte Celestia Fairfax bereits im Internat mehrmals in andere Mädchen verliebt gewesen wäre. Die arme Prudence Fairfax war dumm genug zu glauben, daß man einem potentiellen Topmodel durch einen kleinen Skandal wie etwa, daß sie lesbisch wäre - ernsthaft Schaden zufügen könne. Models sind doch keine Politiker, dachte Lindy-Jane, während sie sich fragte, wer ihr wohl diesen idiotischen Brief geschrieben hatte. Überhaupt, was wäre so schlimm daran, wenn das Mädchen tatsächlich lesbisch wäre? Nein, viel interessanter war da schon die Tatsache, daß dieses Nachwuchsmodel Fairfax hieß. Dieser Name war ihr erst vor kurzem im Zuge einer Recherche begegnet. Wenn sie sich doch nur daran erinnern könnte, in welchem Zusammenhang… Der British-Airways-Flug Nummer BA 177 hob planmäßig ab. Water Detroit lümmelte sich schlechtgelaunt in seinem Sitz in der ersten Klasse. Als man ihn fragte, ob er gerne ein Gläschen Champagner hätte, lehnte er ab und bestellte einen Sol, änderte dann aber seine Meinung und trank erst einen Rolling Rock, danach ein St. Pauli Girl, einen Meteor, ein Budweiser, einen Michelob, ein Guinness, und schließlich - um den Kreis zu schließen - verlangte er doch noch nach einem Glas Champagner. Natürlich, der Herr. Eigentlich hatte er mit einer Concorde nach London fliegen wollen, aber sein Agent hatte das nicht bewerkstelligen können. Water war darüber ziemlich sauer. Er war sich nicht sicher, vermutete aber, daß Typen wie Keanu Reeves, Brad Pitt, Luky Perry oder Christian Slater sicherlich besser behandelt würden als er. Na schön, im Gegensatz zu denen hatte er erst einen Film gedreht, aber der war in Amerika ein solcher Erfolg, daß ihm seiner Meinung nach der gleiche Status eines coolen Superstars zustand wie den anderen. -184-
London war auch nicht der Renner gewesen, den er sich vorgestellt hatte. Naß und kalt, und die Engländer selbst schienen ihm ein Haufen lahmer Leute ohne Ambitionen zu sein. Ganz groß in Sachen Höflichkeit, aber kein Pep. Die Party war ziemlich langweilig gewesen. Keine Stars, keine ernstzunehmenden Schauspieler, nur ein paar alternde Rockstars und Diskjockeys in ihren Klamotten aus den Fünfzigern, die sie dafür eigens aus ihren Mottenkisten hervorgekramt zu haben schienen. Es sah aus, als hätten die Briten die Premiere nur dazu genutzt, um die Fünfziger-Jahre-Nostalgie auferstehen zu lassen. In New York war die Premiere ganz im Stil der Neunziger abgehalten worden, und ihr hatte eine Party gefolgt, die von Harvey Weinstein, dem Besitzer des Miramax, gegeben wurde. Water war zu einem Star geworden und hatte eine ganze Woche lang durchgefeiert. In London hatten alle nur herumgestanden, sich betrunken, sich gegenseitig auf die Schultern geklopft und von der guten, alten Zeit gefaselt. Es war ein gewaltiger Unterschied: in New York hatte sich alles um ›Seelenqual‹ und das Hier und Heute gedreht, in London hingegen alles um ›Denn sie wissen nicht, was sie tun‹ und das Damals und wer den Film gesehen hatte, als er damals in die Kinos kam, war heute mindestens um die Fünfzig. Water schüttelte sich. In wenigen Stunden würde er zurück in New York sein. Er hatte sich entschieden, sein Leben neu zu gestalten. Er wollte von nun an abwechselnd an der Ost- und an der Westküste leben. Er würde einfach hin und her fliegen. In Los Angeles wollte er weiterhin in seinem kleinen, einfachen Haus im Laurel Canyon leben und das Image des coolen Herumtreibers wahren; in New York dagegen würde er sich unter die klügeren und gebildeteren Leute mischen. Natürlich könnte er auch in Zukunft weiter als Schauspieler arbeiten, aber er hatte mehr Interesse daran, die Filme, in denen er spielte, auch selbst zu produzieren, denn dann hatte er mehr Macht. Zudem wollte er seinen unwiderstehlichen Charme bei den -185-
jungen Damen in den Verlagshäusern und Literatur-Agenturen einsetzen, um noch vor der Konkurrenz zu erfahren, welche Manuskripte erfolgsversprechend waren. Da er keine Lust verspürte, sich zu unterhalten, wandte er sich dem Stapel von Zeitungen und Magazinen zu, die neben seinem Sitz lagen. Die Zeitungen ließ er unbeachtet. Das Mädchen auf dem Cover von Carter's aber nahm seine gesamte Aufmerksamkeit gefangen. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, obwohl er in den letzten, sehr harten Jahren manchmal gedacht hatte, er besäße überhaupt keines. Er starrte auf das Titelbild, das auf seinem Schoß lag und von dem ihm dieses Gesicht mit den weit auseinanderliegenden grauen Augen und den langen Wimpern entgegen sah. Er betrachtete die gerade Nase und die außerordentlich hohen Wangenknochen, die zu einem unglaublich vollen Mund hin abfielen. Besonders angetan war er von dem kleinen Kettchen, das von ihrer Nase zu ihrem Mund reichte und die Oberlippe etwas hochzog. Water hielt das Magazin vor sein Gesicht und küßte das Titelfoto, als wollte er das Kettchen zwischen seine Zähne nehmen und durchbeißen. Als er das Magazin durchblätterte, fand er die anderen Fotos der halb- und schließlich ganz nackten Celestia, wie sie sich inmitten all der Wäsche im Waschsalon räkelte, und bekam eine derart heftige Erektion, daß er sich erst einmal auf der Bordtoilette ›entspannen‹ mußte. Anschließend malte sich Water in seiner Fantasie aus, was er mit diesem Mädchen noch alles tun würde, und darüber schlief er ein. Als er aufwachte, lief bereits seit einiger Zeit der Bordfilm, und er fühlte sich beengt und verkrampft. Auch das Essen mußte zwischenzeitlich schon serviert worden sein, ohne daß man ihn geweckt hätte. Er stand auf, streckte sich und beschloß, etwas im Flugzeug umherzulaufen. Er sah sie sofort. Sie saß ganz hinten, rauchte wie ein Schlot und hatte ihren Walkman aufgesetzt. Er erkannte das Kettchen zwischen Nase und Mund, und er stellte sich den geschmückten -186-
Nabel unter ihrer engen Lederhose vor und etwas tiefer den Schmuck ihrer durchstochenen Muschi. Der Platz neben ihr war frei. »Was bist du für ein Sternzeichen?« fragte er, als er sich in den Sitz fallen ließ. Keine Reaktion. Water war sauer. Was glaubte diese Tussi, wer sie war? Er war daran gewöhnt, daß ihm die Mädchen zu Dutzenden hinterherliefen. Dann wurde ihm klar, daß sie wahrscheinlich gar nichts verstanden hatte, denn die Musik ihres Walkmans war sehr laut. Er lehnte sich hinüber und machte eine Bewegung vor ihrem Gesicht, als ob er anklopfen wollte. Sie drehte sich zu ihm um und schrie so laut auf, daß alle Leute zu ihnen herübersahen. Das war das Problem bei einem Walkman. Wenn man die Kopfhörer aufhatte, merkte man nicht mehr, wie laut man sprach. Die Stewardeß kam herbei. »Würden Sie bitte auf Ihren Sitzplatz zurückkehren, mein Herr.« Water schenkte ihr ein Lächeln, und es irritierte ihn, daß sie ihn nicht gleich erkannte. »Wissen Sie, das ist so - ich reise vorne in der ersten Klasse und möchte nur einen Augenblick bei meiner Freundin hier sitzen. Außerdem habe ich Hunger. Könnten Sie mir vielleicht etwas zu essen bringen? Was haben Sie hier hinten zu bieten?« Der Stewardeß war anzusehen, daß sie nicht so recht wußte, wie sie reagieren sollte. »Ich hätte ein Salisbury Steak mit Pommes Dauphines für Sie - auf einem Salatbett«, sagte sie, als wollte sie ihm dieses Angebot besonders schmackhaft machen. »Mit sauberen Laken?« Sie verstand nicht. »Ich meine, auf dem Salatbett. Na ja, vergessen Sie's. Ich nehme meine Freundin mit in die erste Klasse, und wir schauen -187-
mal, was es dort gibt.« »Ich glaube nicht, daß das den Vorschriften entspricht, mein Herr.« »Hör zu, Schätzchen, ich bin Water Detroit.« Er wandte sich an Celestia. »Was ist dein Sternzeichen, wann bist du geboren?« »25. Juni.« »Krebs also. Wunderbar. Ich bin Steinbock. Wir stehen in direkter Opposition. Gehen wir.« Der Steward der ersten Klasse hatte ein Schauspiel wie dieses schon zu oft erlebt, als daß er irgendwelche Einwände erhoben hätte. Auch junge Rockstars oder Millionäre holten Mädchen aus der zweiten Klasse zu sich nach vorne - was machte es also für einen Unterschied? »Welche Sitznummer hatten Sie hinten?« fragte er Celestia, als sie sich setzte. »Ist das denn wichtig?« wollte Water wissen. »Jawohl, mein Herr. Ich muß eine Notiz machen, für den Fall, daß das Flugzeug abstürzt…« »Damit man immer weiß, zu wem die einzelnen Fleischfetzen gehören. Sehr zuvorkommend!« Er sah Celestia an. »Wie heißt du?« Sie sagte es ihm und wäre fast ohnmächtig geworden, als er sich zu ihr herüberbeugte und sie wie wild küßte. Mit seinen Zähnen knabberte er an ihrem Nasenkettchen. »Tut dir das weh? Schau doch nicht so ängstlich drein. Ich habe dich doch vorher sogar noch gefragt, wie du heißt. Das mache ich nicht immer. Reg dich also ab. Ich glaube, du bist gar nicht so wild, wie du aussiehst, richtig?« »Ich finde dich so wundervoll in ›Seelenqual‹. Ich bin dein größter Fan. Nie hätte ich geglaubt, dich jemals wiederzusehen. Ich war so blöde, letzte Woche, als…« »Letzte Woche?« -188-
»Auf der Premierenparty in London. Ich war zu schüchtern, um zu dir zu kommen und mich dir vorstellen zu lassen.« »Tja, schade, daß du es nicht gemacht hast. Ich war nämlich tierisch gelangweilt. Also, du bist Model, nicht wahr? Wie alt bist du? Und lüg mich ja nicht an.« »Siebzehn.« »Schon ganz schön erwachsen. Warst du schon mal in New York? Nee? Oh, ich freue mich schon darauf, dir die Stadt zu zeigen.« »Wohnst du bei deinen Eltern?« »Tickst du noch richtig? Ich habe meine Eltern seit Jahren nicht gesehen. Würdest du etwa mit deiner Mutter zusammenleben wollen?« Celestia dachte an Lady Prudence und schüttelte sich. »Aber mit meinem Vater.« Water sah sie erstaunt an. »Das würdest du wirklich wollen? Warum?« »Weil er der netteste Mann ist, den ich kenne. Er ist ein wahrer Gent leman, intelligent, clever und zurückhaltend. Zu allen ist er immer charmant, egal, wer es ist. Ich mag das.« »Das gefällt dir also an Männern. Muß ich mir merken. Was macht er denn, dein alter Herr?« »Er ist einer der bekanntesten Historiker Englands.« »Echt? Hört sich imposant an. Und was hält er von engen Lederhosen und Piercing?« »Ich glaube nicht, daß er es bemerkt hat.« »Herr im Himmel! Warum hast du es dann getan? Warum versteckst du dein wahres Ich?« »Weil es meine Mutter zur Weißglut treibt. Ich schwöre dir, daß sie meinen Vater nur geheiratet hat, weil er einen Titel hat. Zuallererst ist sie Lady Fairfax, dann ist sie die wichtigste Lady, -189-
die in London zum Lunch ausgeht, und erst an letzter Stelle ist sie Ehefrau und Mutter.« »Jetzt fange ich langsam an, dich zu verstehen. Das, was meine Mutter immer von mir wollte, war, in einem Zelt an einem schönen Fluß zu leben, in Einklang mit der Natur und zusammen mit vierzig anderen Hippies in abgerissenen Klamotten.« »Und was wolltest du früher am liebsten werden? Ein toller Schauspieler?« »Laß es mich so sagen: vor allem wollte ich mit fünfundzwanzig Millionär sein, und es ist mir gelungen, das schon mit einundzwanzig zu erreichen. Und soll ich dir auch sagen, was du dir am meisten wünschen solltest?« »Daß du mir noch einen Kuß gibst«, sagte Celestia, und obwohl sie wußte, daß er an etwas anderes gedacht hatte, merkte sie, daß ihm ihre Antwort sehr gefiel. In der Ankunfthalle des John F. Kennedy-Airport wartete Water geduldig, bis Celestia die Einreisekontrollen durchlaufen hatte. Gerne nahm sie seine Einladung an, sie mit der Limousine, die draußen auf ihn wartete, in die Stadt mitzunehmen. »Ich wohne hier… Moment, ich muß erst nachsehen. Es ist ein Modelapartment in der Nelson Street, nein, Horatio Street.« »Leg den Zettel weg«, sagte er und zog sie im dunklen Wagenfond zu sich heran. »Ich nehm dich mit zu mir nach Hause.« Unterwegs schlief sie an seiner Schulter ein. Als sie über die Tiborough Bridge fuhren, weckte er sie, um ihr einen ersten Blick auf die Skyline von Manhattan zu zeigen. Die Limousine glitt geräuschlos den East River Drive entlang, bog nach Westen ab und erreichte die Fifth Avenue, die sie einmal ganz hinunterfuhren, bevor sie am Ende in die Madison Avenue einbogen und diese in entgegengesetzter Richtung wieder -190-
hinauffuhren. »Sieh mal«, sagte Water, »diesen Anblick dort solltest du dir merken. Das ist das Carlyle Hotel. Als wir vorhin darüber gesprochen haben, was dein Lebensziel sein sollte, meinte ich damit, daß du die Nachfolgerin von SWAN werden solltest. Hier lebt sie, genau dort oben im Carlyle Penthouse, und ich wohne nur eine Straßenecke entfernt von ihr.«
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New York, 1994 Natürlich war es nicht Molly Bainbridge, die dort am Kalkofen stand. Aber die Ähnlichkeit war so unheimlich, daß ich dachte, mein Kindermädchen sei von den Toten auferstanden. Es war ihre jüngere Schwester Sally. Ich saß auf dem Futonbett und sah ihnen dabei zu, wie sie sich an dem alten Kalkofen zu schaffen machten. Sie servierten mir einen erstaunlich leckeren Schmorbraten, und ich dachte über die Ironie des Schicksals nach. Zum zweitenmal in meinem Leben sah ich, daß mein geliebter Bruder in eine andere Frau verliebt war, aber diesmal war ich reifer und konnte mit der Situation umgehen, ohne eifersüchtig zu werden. Ich sah, daß Harry Sally Brainbridge aufrichtig liebte und sie seine Liebe erwiderte. Mir wurde klar, daß Harry, wenn er Molly nicht gekannt und einen Teil seines Lebens mit ihr verbracht hätte, niemals auf diese Person getroffen wäre, mit der er jetzt so glücklich war. Harry hatte sich entschieden, mir von Beginn an zu erzählen, was seine Nachforschungen zu Molly Bainbridges Tod ans Licht gebracht hatten. Als erstes war er hinauf nach Liverpool gefahren, um ihre Eltern zu suchen. Mollys Vater war schon vor Jahren gestorben, die Mutter lebte damals in einem Pflegeheim; aber dafür hatte er Sally getroffen. Als er sie sah, hatte er seinen Plan, sich für einen anderen auszugeben, sofort aufgegeben, und Sally hatte ihm alles erzählt, was sie über ihre Schwester wußte. Molly war mit sechzehn Jahren von zu Hause abgehauen, um Model zu werden. Niemand hatte verstanden, warum sie das nicht in Liverpool versuchte, aber Molly wollte unbedingt nach London. Als ihr Vater ihr das verwehrte, war sie ausgerissen. »Sie ist nie zurückgekommen«, erzählte mir Sally leise, als -192-
wir gemeinsam bei Kerzenlicht vor dem Kamin saßen und unseren Schmorbraten aßen. »Sie schickte uns Postkarten und ab und zu auch längere Briefe, in denen immer stand, wie gut es ihr ginge und wieviel Arbeit sie hätte. Wir hatten ihre Adresse, und eines Tages fuhr ich nach London. Das war ungefähr ein Jahr, nachdem sie Liverpool verlassen hatte. Ich war gerade mit der Schule fertig und dachte, ich fahr' einfach zu ihr und frag' sie, ob sie nicht ein paar Tips für mich hätte, wo es ihr doch so gutging. Sie hatte uns geschrieben, daß sie in einer großen Wohnung lebt, und ich dachte, da könnte ich sie doch gut für ein paar Tage besuchen. Nun, es stellte sich heraus, daß sie in einer kleinen Bude irgendwo in Paddington wohnte, wo sie sich das Badezimmer mit fünf anderen Leuten teilen mußte. Sie war nicht gerade begeistert, mich zu sehen, und ging keinen einzigen Abend mit mir aus. Keine Ahnung, wohin sie abends immer verschwand, aber sie hatte sich total aufgedonnert. Ihr Make-up war zentimeterdick. Nach drei Tagen hielt ich es nicht mehr aus. Den ganzen Tag lungerte sie nur herum, ohne sich anzuziehen, qualmte eine Zigarette nach der anderen, und abends zog sie wieder los. Sie redete kaum mit mir, und die Bude roch nach lauter Müll. Ich fuhr vollkommen durcheinander nach Liverpool zurück. Meinen Eltern habe ich nie erzählt, wie es in London gewesen war. Ich log sie an und erzählte, daß wir eine tolle Zeit gehabt hätten. Aber Molly hat uns nie wieder geschrieben. Meine Mutter glaubte mir die Geschichte nicht und fragte mich immer wieder, was denn nun los sei. Außer einigen lustigen Weihnachtskarten haben wir kein Lebenszeichen mehr von ihr bekommen, und vier Jahre später war sie dann tot, ermordet in eurer Wohnung.« Damals hatte Sally beschlossen, ganz anders zu werden als ihre Schwester. Sie war in Liverpool geblieben und hatte an der Kunsthochschule studiert. Jetzt arbeitete sie als Grafikdesignerin in einer Londoner Werbeagentur. Ihre Wohnung hatte sie in Covent Garden, und an den Wochenenden besuchte sie Harry -193-
hier in Wiltshire. Eine Weile lang hatten sie versucht in Erfahrung zu bringen, was Molly getan hatte, bevor sie in die Boltons gezogen war. Sie waren zu ihrer alten Wohnung in Paddington gefahren, aber dort hatte sich niemand an Molly erinnert. Noch immer war es eine Bruchbude für Einzelgänger gewesen, auch Harry hatte die Anonymität dieses Ortes genutzt, um eine Zeitlang dort zu wohnen, immer in der Hoffnung, er könnte doch noch etwas Wichtiges herausfinden. Einmal hatte er Sally nach Wiltshire mitgenommen und sie meinen Eltern vorstellen wollen, doch sie hatte es ihm in letzter Sekunde ausgeredet. Sie war sensibler als er und hatte sich lebhaft vorstellen können, welchen Schock seine Eltern erleiden würden, wenn sie plötzlich ihren totgeglaubten Sohn zusammen mit Molly Bainbridges Schwester wiedergesehen hätten. Harry hatte ihr jedoch unbedingt den Kalkofen zeigen wollen, und dabei war ihm die Idee gekommen, ihn zu seinem Versteck zu machen. Direkt vor der Nase seiner Eltern würde garantiert niemand nach ihm suchen. »Anfangs ist es sehr hart für ihn gewesen«, sagte Sally, während Harry draußen nach Holz suchte. »Jedesmal, wenn er euren Vater gesehen hat, wollte er unbedingt nach ihm rufen. Aber er konnte zumind est sehen, daß es seinen Eltern gutging, und das hat auch ihm gutgetan.« Ich beobachtete, wie Sally ihre Tasche auspackte und daraus Wollpullis, Jeans, dicke Socken und ein Laura-AshleyNachthemd hervorkramte, das hoch bis zum Hals geschlossen war. Sie war ein anständiges Mädchen mit einer angenehmen Art von Sinnlichkeit, jedoch völlig ohne die Schlampigkeit ihrer Schwester. Sie hatte Stil, war anmutig und hätte wirklich Model sein können. Ich wandte mich Harry zu, der durch den Raum stolperte und allerlei umstieß, wobei ihm sein karamelfarbenes Haar ins Gesicht fiel. Irgendwie freute ich mich für ihn, und ich hörte schweigend zu, wie ihm Sally die Neuigkeiten aus London berichtete. -194-
Die beiden waren in einer merkwürdigen Lage. Für Sally mußte es wie eine Affäre mit einem verheirateten Mann sein, eine heimliche Beziehung, über die sie mit niemandem reden konnte. In London lebte sie ein ganz anderes Leben, mit Kollegen und Freunden, die nichts von Harry wußten. Ich merkte, wie Harry jedes ihrer Worte aufsog, und war beeindruckt, wie sie mit ihm redete und ihn sogar über alles informierte, was in der letzten Woche in ihrem Büro geschehen war. Er lebte wirklich in ihrer Welt, denn er redete mit ihr über alle Leute, als würde er sie persönlich kennen. Vielleicht ha tte er deshalb eine so große Vorstellungskraft, weil er, bevor er hatte untertauchen müssen, als Produzent von Werbespots gearbeitet hatte. Als die beiden sich so unterhielten, fühlte ich mich wie ein Eindringling. »Warum habt ihr keine Verbindung zu mir aufgenommen?« fragte ich. »Ihr hättet euch doch denken können, wie verzweifelt ich war.« Sally sprach für sie beide. »Es ist nicht gerade einfach, Verbindung mit dir aufzunehmen, SWAN. Du bist ständig unterwegs und immer sehr gut beschützt. Du hast immer einen Fahrer und einen Leibwächter bei dir. Glaub mir, wir haben oft daran gedacht. Ich hätte ja auch allein zu dir kommen können, aber, um ehrlich zu sein, ich hatte Angst davor. Du bist zwar Harrys Schwester, aber du bist eben auch eine weltbekannte Berühmtheit. Ich hätte dir etwas von Harry mitbringen können, um dir zu beweisen, daß ich seine Freundin bin, aber vorher hätte ich erst einmal die Mauer all der Leute um dich herum durchbrechen müssen. Und wir hätten dir nichts Neues sagen können. Wir wollten einfach warten, bis wir mehr herausgefunden hätten. Bitte versteh das.« Ihre Worte trafen mich, weil ich wußte, daß eine Menge Wahrheit in ihnen lag. Hatte ich mich von den Menschen, die ich liebte, wirklich schon so weit entfernt, daß sie sich davor fürchteten, sich mit mir zu treffen? Je länger ich darüber nachdachte, desto bewußter wurde mir, wie sehr ich mich von -195-
den anderen abgeschottet hatte. Ich führte ein wildes öffentliches, aber ein immer einsameres Privatleben. Ich sah Harry an und spürte, daß ich ihn beneidete. Ich wollte auch jemanden in meinem Leben haben. Vielleicht war es langsam an der Zeit, vom Thron des Topmodels wieder in die wirkliche Welt hinabzusteigen. Ich wollte Harry etwas Geld zu geben, damit er sich eine Wohnung suchen und neue Kle idung kaufen konnte, aber als ich es versuchte, merkte ich, daß ich als barmherzige Samariterin nicht erwünscht war. Sie wollten nicht meinen Reichtum und meine Berühmtheit, sie wollten mich, die Frau unter den Designer-Klamotten. Als ich mich wieder in die Limousine setzte und zurück nach London fahren ließ, fragte ich mich, ob es diese Frau überhaupt noch gab. Ich hatte ein wenig Angst, zum Finale des ›Girl-of-the-Year‹Wettbewerbs im New Yorker Plaza Hotel zu gehen, wo ich zusammen mit Charley Lobianco die Eröffnungsrede halten sollte. Es war allerdings nicht der Gedanke daran, hinter diesem Podium zu stehen und irgendein idiotisches Skript zu lesen, der mich so beunruhigte, sondern vielmehr die Tatsache, daß einer der Juroren Tatsuo Takamoto war, der Aufsichtsratsvorsitzende des japanischen Konzerns, dem SWAN gehörte. In letzter Zeit war ich nicht mehr sehr zufrieden mit meinen Verpflichtungen als SWAN-Girl, und ich war sogar so weit gegangen, Charley zu fragen, zu welchem Zeitpunkt die Klausel im Vertrag eine Kündigung zuließ. Er war mit der Nachricht zurückgekommen, daß ich noch mindestens ein Jahr für sie arbeiten müßte, um dann nach insgesamt drei Jahren aus dem Fünf-Jahres-Vertrag herauszukommen. Der SWAN-Vorstand wollte gerne sechs Monate vorher wissen, ob ich nun verlängerte oder nicht. Mit anderen Worten: ich mußte Mr. Takamoto - ich nannte ihn niemals Tatsuo meine Entscheidung in spätestens drei Monaten mitteilen. -196-
Takamoto hatte sich zwar sehr gut gehalten, aber er war trotzdem alt genug, daß er mein Großvater hätte sein können. Er erzählte, er könne sich noch an das große Erdbeben erinnern, das Tokio 1923 heimgesucht hatte. Einige Leute meinten, Takamoto hätte schon längst in den Ruhestand treten sollen, aber soweit ich es beurteilen konnte, hatte er alles unter Kontrolle und wußte immer sehr genau, was um ihn herum vorging. Ich fand seine altmodischen Manieren sehr charmant, sie erinnerten mich in der Tat sehr an meinen Großvater. Wenn er mir zuhörte, hatte er einen gütigen Ausdruck im Gesicht, und ich fühlte mich dann gleichzeitig wie ein kleines Kind und eine weise Frau. Ich merkte, daß sein Lächeln eher etwas unsicher als amüsiert war. Er fühlte sich in dieser fleischlichen Welt der Models einfach nicht wohl. Ich habe keine Ahnung von japanischer Kultur, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß die älteren Herrschaften es nicht gerade gerne sehen, daß ihre Frauen halbnackt den Laufsteg hinuntertippeln. Als ich zum SWAN-Girl gewählt worden war und mich zum erstenmal mit Mr. Takamoto hatte treffen sollen, hatte Charley mir eine kurze Unterweisung gegeben, wie ich mich zu verhalten hätte. Er hatte mir erklärt, daß die Japaner keinerlei Eindringen in ihre Welt schätzen, daß sie sich als einzigartig betrachten und daß ihnen jeder, der versuche, die Nuancen japanischer Kultur zu verstehen, unangenehm ist. Ich hatte das so verstanden, daß Mr. Takamoto, selbst wenn er mich freundlich behandelte, aus der Haut fahren würde, wenn ich anstrebte, zu ihm eine Beziehung aufzubauen, wie ich sie beispielsweise zu Charley hatte. Außerdem hatte er mir mit auf den Weg gegeben, daß Selbstzurschaustellung, in Amerika eine unabdingbare Voraussetzung für berufliches Vorankommen, in Japan eine Todsünde ist. Und daß ich, selbst wenn Mr. Takamoto als bescheidener und zurückhaltender Freund auftrat, immer im Hinterkopf haben sollte, wie sehr meine Karriere von ihm abhing. Ich wußte, daß Mr. Takamoto vor einigen Jahren -197-
aufgrund familiärer Probleme aus dem Ruhestand zurück an die Firmenspitze gerufen worden war. Sein Sohn, der ihm als Firmenchef gefolgt war, war beim Absturz eines Privatflugzeugs ums Leben gekommen. Der nächste in der Erbfolge war Jiro Takamoto, sein Enkel, der in England und Amerika studiert hatte. Nach dem Tod seines Vaters war Jiro nach Osaka gerufen worden, um dort die Geschäfte zu übernehmen. Er hatte schon lange auf solch eine Gelegenheit gewartet, aber seine Zeit in Amerika hatte ihn verweichlicht, und er mißbrauchte die Macht, die er besaß. Jiro war ein sehr gut aussehender junger Mann, bemerkenswert groß für einen Japaner, aber er hatte alle schlechten Angewohnheiten eines westlichen Playboys angenommen. Er trank, nahm Drogen, hurte herum und war sogar hinter mir hergewesen, kurz nachdem ich SWAN-Girl geworden war. Jiro repräsentierte die lärmende, materialistische neue ›Kristall- Generation‹, Sklaven des Konsums und ein rotes Tuch für Gentlemen wie Tatsuo Takamoto. Obwohl Jiro ein sehr kämpferisches Naturell hatte, war er kein Geschäftsmann, und es war für jeden vorhersehbar gewesen, daß er die Firma ins Verderben führen würde. Der alte Takamoto sah also keine andere Möglichkeit, als selbst wieder das Zepter in die Hand zu nehmen. Jiro wurde nach Amerika abgeschoben und erhielt eine hohe, aber ungefährliche Position im New Yorker Büro von SWAN. Dort tobte er sich weiterhin aus. Ich interessierte mich so sehr für Mr. Takamoto, weil ich ihn mochte. Ich hatte großen Respekt vor ihm, doch jetzt mußte ich ihm sagen, daß ich aus dem Vertrag herauswollte. Und ich verdankte ihm doch soviel. Er war mir gegenüber immer höflich gewesen und hatte gesagt, daß ich mit meinem schwarzen Haar und der Elfenbeinhaut wie eine Japanerin aussähe - obwohl die Haut von Japanern eher weizenfarben als weiß ist - und er mich als die Tochter betrachte, die er niemals gehabt habe. Ich wußte, ich konnte nicht umhin, ihn bezüglich dessen, was ich vorhatte, zumindest vorzuwarnen. Den Rest würde Charley erledigen. -198-
Eigentlich war es lächerlich, sich all diese Gedanken zu machen, schließlich war es ein knallhartes Geschäft, aber ich konnte nicht anders. Tatsuo Takamoto war etwas ganz Besonderes in dieser Welt, in der sich die meisten einen Dreck darum scheren, was für ein Mensch man ist. Ich wußte nicht einmal genau, warum ich nicht länger das SWAN-Girl sein wollte. Ich glaube, es hatte damit zu tun, daß ich ganz aus diesem Beruf aussteigen wollte. Ich konnte es mir leisten. Ich hatte genügend Geld verdient und so gut angelegt, daß ich den Rest meines Lebens davon leben konnte - und Harry ebenfalls, wenn es darauf ankam. Welche Entscheidung auch immer ich für mein Leben traf, ich machte die Rechnung nie ohne Harry. Das Finale der ›Girl-of-the-Year‹-Wahl war viel schicker als die Vorauswahl im Londoner Hilton. In New York mußte man mit Frack und Abendkleid erscheinen, und es gab nicht diese Horden von Gaffern. Es war fast wie eine reguläre Modenschau, bei der alle auf vergoldeten Stühlen rund um den Laufsteg saßen - mit dem einzigen Unterschied, daß hier alles im Plaza Hotel stattfand und nicht in den Zelten am Bryant Square. Weltweit hatten über dreihunderttausend Mädchen an diesem Wettbewerb teilgenommen, und die Kandidatinnen dieser Nacht hatten die nationalen Ausscheidungskämpfe in über fünfunddreißig Ländern gewonnen. Ich wußte, daß die Mädchen schon mehrere erschöpfende Kleiderproben und eine lange Nacht in den Clubs hinter sich hatten und früh am Morgen mit den Paparazzi eine Runde durch den Central Park gerannt waren. Außerdem hatten sie ihre Frisuren aufgemöbelt und ihre Kosmetikkoffer in den großen Kaufhäusern aufgefüllt. Für die meisten war es ihr erster Trip nach New York, und viele Mädchen waren sogar zum erstenmal überhaupt in den Vereinigten Staaten. -199-
Ich stellte mir vor, wie sie vor lauter Aufregung Sternchen sehen, gab es für die Siegerin doch einen 200000-DollarWerbevertrag mit Etoile, und selbst der zweite und dritte Platz waren noch mit 150000 und 100000 Dollar dotiert. Aber ich dachte auch daran, wie schnell sie diese Welt, an deren Spitze ich stand, ernüchtern würde. Anfangs konnte ich mich nicht überwinden, Mr. Takamoto überhaupt irge nd etwas zu sagen. Es war ihm richtiggehend peinlich, als Jury-Mitglied an diesem Wettbewerb teilnehmen zu müssen. Dies war nicht seine Welt, aber mein begrenztes Verständnis japanischen Verhaltens sagte mir, daß er das auf jeden Fall durchstehen würde, damit Charley Lobianco nicht durch seine Absage das Gesicht verlöre. Wir veranstalteten unseren üblichen, kleinen Plausch und versicherten uns gegenseitig, bei bester Gesundheit zu sein. Ich fragte nach Mrs. Takamoto, die ich noch nie gesehen hatte, und erfuhr, daß auch sie sich bester Gesundheit erfreue. Das leitete dazu über, daß Takamoto mir sagte, es wäre auch für mich höchste Zeit, endlich zu heiraten, und abschließend fragte er danach, was ich derzeit lesen würde. Ich war ihm sehr dankbar, daß er mir die japanische Literatur nahegebracht hatte. Zu Weihnachten hatte er mir ›Die Schwestern Makioka‹ von Junichiro Tanizaki geschenkt, und ich hatte mich mit ›Was vom Tage übrigblieb‹ von Kazuo Ishiguro revanchiert. Wir sprachen über die Bücher, und er wollte meine Meinung über die Verfilmung von ›Was vom Tage übrigblieb‹ und über den neuen japanischen Designer Koji Tasumo wissen, der wie Ishiguro in London lebte und arbeitete. »Ihr Engländer«, sagte er - und in diesen zwei Worten schwang für mich der Unterton mit, wie merkwürdig er es fand, daß zwei erfolgreiche Japaner unter Fremden leben wollten. Ich sah, daß Jiro bereits reichlich betrunken durch die Halle zog, und dachte daran, wieviel Schmerz es seinem Großvater bereiten mußte, ihn so zu sehen. Gerne hätte ich meine Arme um seinen -200-
kleinen Schädel geschlungen und ihn wie meinen Großvater, meinen Vater oder einen meiner Onkel umarmt. Aber derlei Intimitäten kamen natürlich nicht in Frage. Donald Trump unterbrach uns. Das Plaza, in dem der Wettbewerb stattfand, gehörte ihm, und es war deshalb fast eine Selbstverständlichkeit, daß er mit zur Jury gehörte. Vor kurzem hatte ich Ivana Trump getroffen, und sie hatte mir erzählt, wie der Trump-Sicherheitsdienst nach ihrer Scheidung verhindert hatte, daß sie beim Auszug aus dem Trump Tower ihre persönlichen Dinge mitnahm. Ich war nicht gerade mit ihr befreundet, aber mir hatte immer die Wärme gefallen, die ich in ihren braunen Augen sah. Ansonsten war ihre Rolle als Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens für mich vermutlich ein ebenso großer Horror, wie es Donald Trumps Rolle für Mr. Takamoto sein mußte. Wann immer ich Donald sah, mußte ich lachen. Nicht über ihn, sondern über seinen Namen. Das Wort ›Trump‹ bezeichnet im Englischen nicht nur eine Trumpfkarte, sondern steht auch für ›Schwindel‹. Wenn ich Donald sah, hatte ich immer das verrückte Verlangen, ihm so etwas Albernes zuzurufen wie: »Wart's ab, Donald, eines Tages fliegt der ganze Schwindel auf!« Ich wurde zum Podium am Kopfende des Laufstegs gerufen, die Show sollte beginnen. Der Bürgermeister von New York sprach die Begrüßungsworte, dann waren Charley und ich dran, unseren Text von kleinen, pinkfarbenen Karten abzulesen. »Hallo, Charley, hallo zusammen«, las ich. »Glaubst du, sie sind soweit?« las Charley ab. »Ich glaube ja, Charley, sie können es gar nicht abwarten«, stand auf meiner nächsten Karte. »Also dann, meine Damen und Herren, lassen sie uns gemeinsam die achtundfünfzig besten Bewerberinnen zum Finale von ›Girl-of-the-Year‹ begrüßen…« Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die achtundfünfzig -201-
Kandidatinnen in Zweierreihen den Laufsteg hinuntergelaufen waren. Ich sah kaum zu, denn ich mußte an andere Dinge denken. An Harry. An Sally Bainbridge. Und daran, ob ich das Modelleben aufgeben sollte. Als Amy La Mar kam, war ich noch immer in Gedanken und nahm zuerst gar keine Notiz von ihr, bis sie dann auf dem Rückweg auf mich zukam. Arme Amy! Sie sah zwar fabelhaft aus, aber ich wußte schon, daß sie hier nicht gewinnen würde. Später, als ich sie hinter der Bühne etwas trösten wollte, schien sie ganz gelöst zu sein, als hätte sie den Ausgang des Wettbewerbs nicht anders erwartet. Siegerin war eine Blondine aus Texas geworden. »Diese Salisburybilder sind wirklich klasse, und die Moderedakteure und Käufer werden langsam schon auf dich aufmerksam. Es gibt sogar schon einige Buchungen. Ich werde Willy bitten, dir einige Abzüge für deine Mappe zu schicken. Wo wohnst du? Arbeitest du hier in New York auch mit Etoile zusammen?« Sie erzählte mir, daß sie auf den Rat von Grace hin mit Barbara Harper Kontakt aufnehmen wolle. Ich sah mich um, vergewisserte mich, daß Charley uns nicht hörte, und sagte ihr, daß sie gar nicht in bessere Hände geraten könnte. »Barbara ist ein wunderbarer Mensch und eine großartige Agentin. Wenn sie dich erst mal genommen hat, tut sie alles für dich. Wahrscheinlich wird es am Anfang schwierig für dich werden, Amy, darauf mußt du gefaßt sein. New York ist härter als London, und du wirst schon früh genug merken, warum. Aber du schaffst es, das weiß ich.« Ich klang optimistischer, als ich mich fühlte. Ich hatte schon so oft gesehen, daß schwarze Mädchen abgelehnt wurden. Barbara Harper würde Amy zwar einige Türen öffnen, aber es gab immer noch genügend andere, die man ihr vor der Nase zuschlagen würde. Ich nahm mir fest vor, Amy La Mar zu -202-
helfen, wenn ich eines Tages meinen Platz frei machen würde. Gleich am nächsten Tag wollte ich Barbara anrufen und mich erkundigen, ob sie Amy genommen hatte. Ich würde sie bitten, mich über ihren Werdegang auf dem laufenden zu halten, und ihr sagen, daß sie sich jederzeit bei mir melden solle, wenn ich Amy in irgendeiner Weise helfen könnte. Ich war auch nach New York zurückgekommen, um mich eine Woche lang auszuruhen, bevor im Februar und März die Aufnahmen für die Frühjahrskollektionen des folgenden Jahres begannen. Vor mir lagen einige Jobs in der Karibik, die sich nicht sonderlich anstrengend anhörten, schon gar nicht um diese Jahreszeit. Jetzt wollte ich mich erst mal etwas erholen und in meinem Apartment das neueste Buch von Michael Crichton lesen: ›Enthüllung‹. Ich war noch nicht einmal mit dem ersten Kapitel fertig, da klingelte das Telefon. Eine alte Freundin meiner Mutter, Norah Nicholson, lud mich zu einer Dinnerparty ein. »Lavinia, mein Schatz, du mußt unbedingt kommen. Ich gebe die Party für einen jungen Autoren, er heißt Rory Stirling. Wahrscheinlich hast du noch nichts von ihm gehört, sein erstes Buch ist noch nicht raus. Außerdem kommt noch dieser himmlische Bursche, der in der Neuverfilmung von ›Denn sie wissen nicht, was sie tun‹ mitspielt, wie heißt er gleich noch, er hat einen solch komischen Namen…« »Water Detroit«, sagte ich sofort. Harvey Weinstein hatte mich zu einer Vorpremieren-Vorführung des Films eingeladen, doch ich war nicht gerade begeistert von Detroits Fähigkeiten gewesen. Er sah zwar süß aus, und das war vermutlich auch der Grund, warum ihn alle so toll fanden, aber wenn man mich fragte, war seine Schauspielerei keinen Pfifferling wert. »Genau, Water! Er bringt übrigens ein junges englisches Model mit. Alle sind ganz verrückt nach ihr. Ich dachte, du -203-
würdest sie vielleicht gerne kennenlernen.« Meine Güte, Norah! Warum dachten eigentlich alle Leute, daß ich in meiner ohnehin äußerst knapp bemessenen Freizeit nichts lieber machen würde, als mich mit anderen Models zu treffen? Und außerdem, wenn sie wirklich aus England war, kannte ich sie sowieso. »Wie heißt sie, Norah?« »Himmel, ich kann mich nicht erinnern. Weißt du, es ist so: dieser junge Autor ist gerade von seinem Mädchen verlassen worden, und…« »Vergiß es, Norah«, sagte ich sofort. »Nein, Darling, ich dachte da nicht an dich. Ich dachte an das junge Model…« »Aber sie kommt doch mit Water Detroit?« »Und?« »Norah, du bist unverbesserlich.« »Bin ich das? Es wird auf jeden Fall ein Riesenspaß werden. Bitte komm, Lavinia. Es ist eine Party für junge Leute. Keine alten Säcke, versprochen. Ich setze dich neben Gene Pressman von Barneys. Er himmelt dich an.« »Norah, für die Karriere des jungen Models würde es mehr bringen, wenn du sie neben ihn setzt. Er plant demnächst eine neue Anzeigenkampagne.« »Du hast ja so recht, mein Liebes. In diesem Fall setze ich dich einfach neben Rory Stirling.« Norah war Dekorateurin und wohnte in einem unglaublichen Zehn-Zimmer-Apartment an der Park Avenue. Der Fahrstuhl fuhr direkt in ihre Wohnung, und ich kämpfte mich durch zahlreiche Blumenarrangements, um allen hallo zu sagen. Es war meine erste Party seit dem zehnjährigen Jubiläum von Vanity Fair. Wenn ich viel zu tun hatte, ging ich sowieso nicht -204-
aus, und in meiner Freizeit beschäftigte ich mich lieber mit anderen Dingen. Von einer ›Party für junge Leute‹ war nicht viel zu merken. Es schien, als hätte Norah dieselben Leute eingeladen, die schon beim Wettbewerb gewesen waren. Ivana, Tina Brown und Harry, Barry Diller und Diane von Fürstenberg, S. I. Newhouse, Helmut Newton, Anna Wintur und natürlich Chessy Rayner, eine befreundete Konkurrentin von Norah. Falls das junge englische Model schon gekommen war, mußte ich sie übersehen haben. Aber ich sah Water Detroit, der sich mit einem attraktiven Mittdreißiger unterhielt. Der Mann war braungebrannt, wodurch sein früh ergrautes Haar besonders hervorstach. Junge Männer mit grauem Harr haben mich schon immer angezogen. Ich lauschte ihrer Unterhaltung, die sich anhörte, als würde ich Nick Dünnes Beschreibung von Erik Menendez zuhören, wo dieser und jener gewesen war, als das Erdbeben losging und so weiter. »Also, wann kann ich mir das Manuskript ansehen?« fragte Water Detroit. »Ich wüßte nicht, daß ich dir überhaupt versprochen hätte, daß du es zu lesen bekommst«, antwortete der Grauhaarige. »Komm, Mann. Ich bin in der Stadt, um etwas auf die Beine zu stellen. Ich will das Manuskript als erster sehen. Da kannst du mir doch helfen.« »Red mit meinen Agenten. Das sind Lynn Nesbi und CAA an der Küste.« »Du verstehst mich einfach nicht, ich möchte das Manuskript direkt von dir bekommen. Oh, da ist ja SWAN. Hallo, SWAN, komm nur her…« Ich hatte den Burschen zwar noch nie persönlich kennengelernt, aber aus einem Gefühl heraus beschloß ich, das nachzuholen, und ging hinüber, um ihn zu begrüßen, was der -205-
andere dazu nutzte, um Detroit zu entkommen. Als Water mich gerade mit seinem Charme vereinnahmen wollte, kam Norah und lotste alle ins Eßzimmer. Der Raum war sehr schön mit Pflanzen dekoriert, so daß man sich wie in einem Freigarten vorkam. Es gab vierzehn runde Tische mit einem kleinen steinernen Engel in der Mitte. Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich der Engel als Brunnen, der, sobald man ihn antippte, klares Quellwasser in ein Glas spendete. »Wasser für Water Detroit«, sagte Norah, die ihn zu meiner Erleichterung genau am anderen Ende der Tischreihen plaziert hatte. Ich fand meinen Platz und setzte mich. Der Grauhaarige saß schon und erhob sich leicht, als ich ankam. »Rory Stirling?« fragte ich. Er nickte. »Lavinia Crichton-Lake.« Ich reichte ihm die Hand und wunderte mich, daß ich ihm meinen richtigen Namen genannt hatte. »Sie haben eine schöne Hautfarbe«, sagte ich. »Ja.« »Karibik?« »Nein.« »Florida?« Er sah mich nur mit entsetztem Blick an. »Okay, dann also Kalifornien?« »Um diese Jahreszeit? Was soll das werden? Ein heiteres Frage- und-Antwort-Spiel?« »Sieht ganz so aus.« »Entschuldigung. Ich war in Afrika.« »Einfach mal fort von allem?« »Von was allem?« -206-
Langsam verlor ich die Geduld. »Na gut, benehmen Sie sich doch wie ein alter Bettler. Ich habe gehört, Ihre Freundin hat Sie verlassen?« »Und Sie müssen das natürlich gleich in unserem allerersten Gespräch auf den Tisch bringen. Ihr Taktgefühl ließe wirklich etwas zu wünschen übrig, wenn mir das tatsächlich passiert wäre. Aber das war nur ein Trick von mir, damit mich alle in Ruhe ließen und ich mein Buch fertigschreiben konnte. Man hat Ihnen bestimmt erzählt, daß ich mich in die Einsamkeit zurückgezogen hätte, um über meinen Schmerz hinwegzukommen. Schwachsinn! Ich habe vor einem Zelt am Nil gesessen und um die siebzigtausend Wörter geschrieben.« »Wissen Sie, daß man Sie heute abend mit einem Model verkuppeln wollte?« fragte ich, während ich mich ziemlich an der Nase herumgeführt fühlte. »Was sollte ich mit einem Model anfangen?« »Das weiß ich auch nicht so genau«, sagte ich. Es war erfrischend, mal jemanden zu treffen, der mein Gesicht offenbar noch nirgendwo gesehen hatte. Oder spielte er nur mit mir? »Was arbeiten Sie?« fragte er. »Ich bin Raketen-Konstrukteurin«, erzählte ich ihm. »Natürlich. Haben Sie in letzter Zeit irgend etwas Gutes gelesen?« »›Enthüllung‹. Ich bin gerade fertig damit.« »Und?« »Nun, ich hatte eher das Gefühl, einen Film zu sehen als ein Buch zu lesen. Und die Protagonistin, Meredith Johnson, ist einfach furchtbar.« Er sah mich amüsiert an. »Wissen Sie, Lavinia, vor gerade mal zwei oder drei Jahren hätte man dieses Buch als einen Computerroman oder einen Roman über Virtuelle Realitäten bezeichnet. Damals wäre niemand auf die Idee gekommen, es -207-
als Buch über sexuelle Belästigung zu bezeichnen.« »Und Michael Crichton hätte es wahrscheinlich nie geschrieben. Ich habe es bis jetzt noch gar nicht bemerkt, aber Sie sind gar kein Amerikaner, nicht wahr?« »Sie haben ein gutes Gehör. Ich lebe zwar schon seit zwanzig Jahren hier, aber geboren wurde ich in Schottland. Aber wechseln Sie nicht das Thema. Was halten Sie von all diesem Theater um sexuelle Belästigung?« »Ich wollte das Thema gar nicht wechseln. Ich habe nur sage n wollen, daß ich bei der ganzen Sache sehr britisch empfinde. Ich bin mir nicht sicher, was die ganze Aufregung soll. Natürlich setze ich mich für Gleichberechtigung ein, und ich hasse Typen, die Frauen am Arbeitsplatz belästigen…« »Davon haben Sie wohl schon eine Menge kennengelernt?« Wußte er etwa doch, daß ich Model war? Bei uns gab es kaum Fälle, in denen gerichtlich gegen Grapscher vorgegangen wurde, und das lag vermutlich daran, daß in diesem Geschäft niemand von jemandem belästigt wurde, bei dem er direkt angestellt war. Wenn ein Model von einem Fotografen belästigt wurde, konnte sie ihn nicht wegen Belästigung am Arbeitsplatz verklagen, weil er nicht ihr direkter Arbeitgeber war. Der Kunde hatte jeweils eine Werbeagentur gebucht, die dann wiederum das Model und den Fotografen einzeln anheuerte. »Nein, nicht persönlich. Aber Sie haben sicher von dem Fall gelesen, in dem der weibliche Marinelieutenant Paula Coughlin zu sexuellen Handlungen erpreßt wurde. Oder von Teres Harris, der Gabelstaplerfahrerin, die…« »Mein Gott, das war wirklich furchtbar. Mußte sie nicht Kleingeld aus den Hosentaschen ihres Arbeitgebers fischen, um ihren Job zu behalten, und sich nach Dingen bücken, die er zuvor auf den Boden geworfen hatte? Und dann sagen Sie, die Amerikaner gingen zu weit mit ihrer Kampagne gegen sexuelle Belästigung?« -208-
»Ich kann es Ihnen nicht genau erklären. Das ist momentan wie eine Art von Hysterie. Haben Sie jemals die Büroregeln für amerikanische Männer gelesen, die dieser Typ namens Sidney Siller von der Nationalen Männerorganisation verfaßt hat? Wenn er damit durchkommt, dürften Sie mich nicht einmal mehr zum Mittagessen einladen, wenn Sie mein Boß wären.« »Oder wenn Sie mein Boß wären. Tja, wir Männer müssen jetzt wirklich aufpassen, nicht wahr?« Ich hörte ihm nicht länger zu. In Wahrheit rege ich mich nämlich mehr über rassistische Ungerechtigkeit auf als über sexuelle Belästigung. Ich merkte, daß ich mir Sorgen um Amy La Mar machte, wegen all der Schwierigkeiten, die sie hier in New York bestimmt haben würde. Genau wie bei sexueller Belästigung war alles immer eine Frage der Macht. Und ich hatte eine gewisse Macht in diesem Geschäft. Macht hatte nichts mit männlich oder weiblich zu tun und auch nichts mit schwarzer oder weißer Hautfarbe. Was mich bei der Endausscheidung wirklich überrascht hatte, war, daß Mr. Takamoto in unsere Nähe gekommen war, um sich von allen zu verabschieden. Dabei hatte ich ihn mit solch leiser Stimme, daß ich es kaum verstehen konnte, zu irgend jemand sagen hören: »Schade wegen des Mädchens. Ich mag sie, sie ist sehr ehrenwert.« Rory Stirling sah mich plötzlich verwundert an. »Entschuldigen Sie, ich war gerade meilenweit weg. Sagen Sie, ich weiß nicht einmal, was Sie überhaupt schreiben.« »Nun, die Wahrheit ist, daß ich noch nicht s veröffentlicht habe. Ich war vor Bret Easton Ellis und Donna Tartt bei Bennington unter Vertrag, aber ich brauchte etwas länger, bis ich fertig war. Vor einem Jahr habe ich meinen ersten Roman abgeschlossen, und er müßte jede Woche erscheinen. Um ehrlich zu sein, ich habe totale Angst davor. Deshalb bin ich auch nach Afrika geflüchtet, wo mich niemand ausfindig -209-
machen konnte, und habe dort mit meinem zweiten Buch angefangen, ehe ich hier die Nerven verlieren würde. Ah, da passiert was. Ich glaube, das Model, das ich kennenlernen soll, kommt gerade. Es geht doch nichts über geschicktes Zuspätkommen. Schon hat man die ungeteilte Aufmerksamkeit.« Wieder war ich froh, ihm nicht gesagt zu haben, daß ich Model war. Er redete so abwertend über sie. Und außerdem würde ich vermutlich ja auch gar nicht mehr lange eines sein. Draußen in der Halle wurde es unruhig, und Norah kam mit einem atemberaubend gut aussehenden Mädchen herein. Sie hatte das Wiederaufleben des Punk in England dazu genutzt, jedes nur mögliche Körperteil mit Schmuck zu durchstechen. Sie trug ein enges Leder-T-Shirt mit kleinen Löchern, aus denen ihre Brustwarzen hervorstanden, und hautenge Hosen aus Plastik. Ich erkannte sie sofort. Sie war in der Waschsalon-Story von Carter's gewesen. Jeder kannte sie, und man sprach über nichts anderes mehr. Norah kam herübergerauscht und zog mich hoch, um uns einander vorzustellen, als das Mädchen mir den Schock meines Lebens versetzte, indem sie ihre Arme um meinen Hals schlang und mich umarmte. In unserem Geschä ft wurden eine Menge Küßchen getauscht, aber das ging doch etwas zu weit. »Lavinia, erkennst du mich etwa nicht mehr? Himmel, ich bin Celestia, Celestia Fairfax. Mein Gott, es war so furchtbar, als mein Cousin Oliver und deine Schwester Venetia umkamen, bei diesem Autounfall damals…« Celestia Fairfax! Das durfte doch nicht wahr sein! Das Mädchen wäre Oliver Fairfax' Cousine, wenn er noch leben würde. Ich erinnerte mich, daß Olivers Onkel und seine Tante bei der Beerdigung gewesen waren - sie hochschwanger. Celestia war kurz darauf zur Welt gekommen, und wir waren alle zu ihrer Taufe eingeladen gewesen, aber ich war nicht -210-
hingegangen. Meine und Olivers Eltern waren Freunde und trafen sich seit dem Tod von Oliver und Venetia regelmäßig. Olivers Familie hatte ein Gut in Devon, das Celestias Vater gehörte, und jedes Jahr ließ Lord Fairfax dort einen Gedenkgottesdienst abhalten. Wir gingen meistens ebenfalls hin, denn damit gedachten wir auch Venetia. Neben der wilden Schönheit von Trevane, einer der schönsten und romantischsten Ecken Englands überhaupt, war mir von den Gottesdiensten von allem Celestia im Gedächtnis geblieben. Sie war eine richtige Göre gewesen, die sich immer geweigert hatte, sich dem Anlaß entsprechend zu kleiden, und meistens erst in letzte Minute auf ihrem Pony angeritten gekommen war, das sie dann draußen vor der Kapelle angebunden hatte. Sie war immer in ihren Reithosen und -stiefeln gekommen, das Haar kurz geschnitten wie ein Junge. Aber sie hatte schon immer einen außergewöhnlichen Körperbau und durchdringende Augen gehabt, die man einfach ansehen mußte. Kein Wunder, daß sie Model geworden war. »Ich hatte immer das Gefühl, Venetia zu kennen. Onkel Luke und Tante Maria sprechen noch heute oft von ihr. Sie waren am Boden zerstört, als das Unglück passiert ist. Sie hatten immer so sehr gehofft, daß die beiden ein Paar werden. Ich glaube, sie waren so froh, daß Oliver mit ihr zusammen war und seine vorherige Freundin verlassen hat. Sie war übrigens auch Model, wußtest du das?« »Nicht zu fassen«, sagte ich, lachte und vergewisserte mich, ob Rory Stirling immer noch neben mir saß. Aber er war verschwunden, und ich merkte, daß mich das ein wenig ärgerte. »Wer war es denn? Irgend jemand, den wir kennen?« »Ja, du mußt sie gekannt haben. Sie hatte einen ziemlich miesen Ruf. Olivers Eltern war es mehr als unrecht, daß er mit ihr ausging.« »Das glaube ich gerne. Aber woher sollte ich sie kennen? Wie -211-
hieß sie denn?« »O SWAN, es war das Mädchen, das sie tot in eurem Haus gefunden haben. Ich dachte immer, du wüßtest, daß sie mit Oliver zusammen war, obwohl die Familie das verschwieg. Sie war wohl ein voller Reinfall als Model und jobbte deshalb als Kindermädchen. Sie hieß Molly sowieso… ja, genau, Molly Bainbridge.«
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Mailand, 1994 Als die Alitalia-Maschine nach Mailand über die Rollbahn von Heathrow donnerte und sich zitternd in die Luft emporhob, schrie Tess laut auf. Sie hatte Angst. Sie flog zum erstenmal, und niemand hatte sie vor dem Lärm der Maschinen gewarnt. Sie drückte ihren nagelneuen Reisepaß an sich und wünschte, Bobby wäre bei ihr. Er hatte aber leider vor ihr abreisen müssen, weil er dem Fotografen bei einem Job außerhalb von Mailand assistierte, und er würde sie noch nicht einmal vom Flughafen abholen können. Immer wieder rief sie sich die Argumente von Angie, Grace und Bobby ins Gedächtnis zurück, mit denen diese die Notwendigkeit dieser Reise nach Mailand begründet hatten. Es gab dort jede Menge Zeitschriften, die sehr häufig erschienen, so daß man massenweise brillante Belege für die Mappe samme ln konnte. An die Stelle der Zauberformel, die ihr durch ihr Elend bei den Mrs. De Winter-Aufnahmen hindurchgeholfen hatte - also das, was Bobby ihr ins Ohr geflüstert hatte: »Du bist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe« -, waren längst die Worte »gut für deine Mappe« getreten. Als sich das Flugzeug in die Lüfte schwang und es kein Zurück mehr gab, wiederholte Tess unaufhörlich für sich selbst: gut für deine Mappe, gut für deine Mappe, gut für deine Mappe - und danach ging es ihr ein bißchen besser. In einer 747 auf dem Flug von New York nach Mailand brachte Gigi Garcia sich mit Unmengen von Bloody Marys um den Verstand. Die Stewardeß wunderte sich schon darüber, warum die Passagierin auf Platz 44A so betrunken war, wo sie ihr doch nur alkoholfreie Drinks serviert hatte. Aber sie hatte ja auch keine Ahnung davon, daß Gigi hinter ihrem Jackett eine Flasche Smirnoff versteckt hatte. Der freundlich dreinblickende -213-
Geschäftsmann, der sich neben Gigi ans Fenster gequetscht hatte, machte sich langsam Sorgen, aber das Flugzeug war so voll, daß er sich kaum woanders hätte hinsetzen können. »Mein Freund schickt mich nach Italien«, teilte Gigi dem Mann vertrauensselig mit und lehnte sich dabei mit halbgeöffneter Bluse an ihn. »Sein Name ist Charley. Er könnte mein Vater sein, so alt ist er. Sie müssen verstehen, mein Papi ist gestorben, als ich noch ganz klein war, und meine Mama hat mich verlassen. Haben Sie Kinder? Würden Sie mich je verlassen? Natürlich würden Sie das nicht.« Schließlich wurde sie ohnmächtig und schlief bis zur Landung auf dem Malpensa-Flughafen. Dort ging sie benommen durch den Einreiseschalter und trat ins Freie hinaus. Ein Taxifahrer wartete schon auf sie und beglückwünschte sich hinterher, daß er ihr für die Fahrt ins Zentrum einen doppelt so hohen Fahrpreis wie normal abgeknöpft hatte. Während Tess im Fond eines Taxis von dem zweiten Mailänder Flughafen Linate in Richtung Innenstadt fuhr, fühlte sie sich auf einmal ausgesprochen unwohl. Sie war sich nämlich ziemlich sicher, daß der Fahrer sie die ganze Zeit über im Rückspiegel fixierte. Plötzlich fuhr er an die Seite, hielt an, drehte sich zu ihr herum und legte seine Hand auf ihr Knie: »Bella! Carina! Attrice! Modella?« »Si, si, modella«, schnauzte Tess ihn an und rückte in die andere Ecke des Fonds. »Fahren Sie weiter, los!« Sie gestikulierte so lange herum, bis er mit den Schultern zuckte und den Motor wieder anließ. Trotzdem beobachtete er sie weiterhin im Spiegel, blinzelte ihr zu und leckte sich die Lippen. Als sie in der Via S. Vittore ankamen, war Tess erleichtert zu sehen, daß die hiesige Agentur der Londoner recht ähnlich war. Es gab hier den gleichen runden Tisch, an dem die Booker saßen, Kopfhörer aufhatten und unentwegt schnatterten. Die -214-
einzigen Unterschiede waren, daß hier alles über Computer lief, es sehr viel mehr Männer gab und diese alle in einer Art und Weise gekleidet waren, die Tess ausgesprochen elegant vorkam. Auch die Frauen schienen viel eleganter zu sein als die in London. Tess dachte einen Moment lang gerührt an Angie und deren zahllose Versuche, mit der Mode Schritt zu halten - und daran, daß das immer unweigerlich schiefging. Dann sah sie an sich selbst hinab. Ihr Vater war wirklich großzügig gewesen und hatte 250 Pfund von seinem Baugenossenschaftskonto abgehoben, so daß sie sich für ihren Mailandtrip hatte neu einkleiden können. Sie war auf direktem Weg zu Jigsaw, Miß Selfridge und sogar Nicole Farhi gegangen, aber die Mädchen hier sahen alle so aus, als trügen sie Dolce e Gabbana. Man hatte ihr eingetrichtert, sich vorzustellen. »Hallo, ich bin Tess Tucker.« »Scusi?« fragte eine Agentin, ohne ihren Kopfhörer abzunehmen. Tess wurde nervös. Gut für deine Mappe, gut für deine Mappe, gut für deine Mappe! Na klar, sie mußte ihre Mappe vorzeigen. Sie stöberte in ihrem Reisegepäck und zog sie hervor. »Ah, si, Tessa. Wir warten schon auf dich.« Das Mädchen, eine schicke Brünette, lächelte warmherzig. »Ich bin Carla, und das da sind Francesca und Giancarlo und Simonetta und…« Sie ging weiter um den ganzen Tisch herum. Tess nickte, lächelte und wußte, daß sie sich nicht einmal die Hälfte der Namen würde merken können. »Komm«, sagte Carla, »Ich bringe dich zum Besitzer der Agentur, Signor Molino, Marcello.« Sie klopfte an die Tür und kündigte Tess an. »Tessa. Di Londra«, sagte sie. Molino war dick, trug einen Bart, war so um die vierzig Jahre -215-
alt und hatte einen wahnsinnig teuren Anzug an. Tess fühlte sich bei seinem Anblick an den Paten erinnert, wobei sie eher den aus dem Kinofilm als ihren Onkel Martin im Sinn hatte. Der Mann stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. »Buongiorno, Tessa.« Jeder hier schien sie unverzüglich in Tessa umzubenennen. »Caria, du weißt - sie ist wer.« Er musterte sie von oben bis unten und berührte ihr Kinn, um es leicht anzuheben. Aber er tat das nicht auf diese schmierige Art, wie sie der Taxifahrer an den Tag gelegt hatte, und zu ihrem eigenen Erstaunen fühlte sich Tess recht wohl dabei. Er fuhr fort: »Sie hat wirklich eine Chance. Ihr Aussehen ist für unsere Zwecke perfekt - rein, katholisch und jungfräulich schön. Sie muß behutsam behandelt werden, damit sie beste Ergebnisse erzielt und wir die Leute davon überzeugen, sie zu buchen. In London hat man gut daran getan, sie zu uns zu schicken.« All das sagte er mit starkem italienischen Akzent auf englisch, damit Tess es verstehen konnte. Es war wunderbar. Sie war noch nicht einmal eine Stunde in Mailand, und schon bekam sie gesagt, daß sie ein ganz besonderer Mensch sei. Und daß sie, wie es schien, auch jemand ganz Bedeutendes war. »Carla, ich möchte, daß du dich persönlich um sie kümmerst, d'accordo?« »Sicher, okay. Komm, Tessa.« »Wo werde ich denn wohnen?« wollte Tess wissen, als sie zurück zum Booking Table gingen. »Das hat Zeit bis später. Erst einmal müssen wir dafür sorgen, daß du etwas zu tun bekommst. Heute nachmittag hast du Termine bei Donna, Moda…« »Wirklich?« Tess war begeistert. »Was ist mit Glamour, Lei und Amica?« Carla war überrascht. »Es gibt kaum Engländerinnen, die bei ihrem ersten Aufenthalt hier gleich so viele italienische Zeitschriften kennen.« »Mein Vater hat einen Kiosk in London, und zwar in einem -216-
recht weltstädtischen Teil der Stadt. Er verkauft jede Menge fremdsprachige Zeitschriften, und ich liebe es, sie durchzublättern. Nur verstehe ich natürlich kein Wort davon.« »Das ist eine schöne Geschichte. Erzähl das den Leuten bei deinen Bewerbungsgesprächen. Damit kannst du das Eis brechen, man wird sich dann vielleicht besser an dich erinnern. Jetzt erkläre ich dir das Metro- und Straßenbahn-System und gebe dir die Adressen. Dein letzter Termin ist um siebzehn Uhr, so daß du gegen achtzehn Uhr wieder hier sein wirst. Dann kannst du dir ansehen, wo du wohnst. Also, zuerst gehst du zu Donna…« »Die Mailänder Taxifahrer sind Blutsauger!« rief Gigi, als sie in die Agentur gestürmt kam. »Ihr müßt mir echt einen Vorschuß geben. Der Typ hat mir alles abgenommen. Ich glaube, ich bin völlig pleite.« »Und wer sind Sie?« Carla mochte sie schon allein aufgrund ihres Aussehens nicht, ganz zu schweigen von ihrem Benehmen. Wie sagt man doch? Der erste Eindruck ist immer der nachhaltigste. »Ich bin Gigi Garcia. Man erwartet mich. Charley Lobianco persönlich hat mich geschickt.« Die ist ja die Hölle! dachte Carla, und ohne Gigi den anderen vorzustellen, führte sie sie in Marcellos Büro. Gleich würde sie erfahren, wie groß Charley Lobiancos Interesse an diesem Monster war. Gigi ging direkt hinein, ohne vorher anzuklopfen. »Hallo, ich bin Gigi, Charley hat mich geschickt, wissen Sie? Sind Sie hier so was wie der Mailänder Charley?« Marcello stand nicht auf. Er nickte Gigi nur zu und sagte zu Carla: »Bitte sie, draußen zu warten!« Und schon fand sich Gigi draußen auf dem Korridor wieder. »Carla, dieses Mädchen macht nur Ärger. Charley hat mich -217-
ihretwegen angerufen. Er hat sie tatsächlich geschickt, aber nur, weil er sie loswerden wollte. Du kennst diesen Typ ja jede Nacht Partys, und dann sind sie für die Fotosessions nicht fit. Offenbar wurde sie am Anfang unheimlich oft gebucht, aber sie hat sich alle Chancen verspielt. Ich habe mir schon ihre Karte angesehen, und jetzt sehe ich sie leibhaftig. Sie ist ein vielversprechendes Mädchen, aber wir müssen für Charley ein Auge auf sie werfen. Ich möchte allerdings nicht, daß du deine Zeit mit ihr verschwendest. Gib sie Francesca, nein, warte, gib sie diesem neuen, selbstzufriedenen Mädchen, das von Ricardo Gay zu uns gekommen ist. Wie heißt sie doch gleich? Simonetta? Paolo hat mir gestern am Booking Table für Männer erzählt, daß eins seiner männlichen Models bei ihr wohnt, ohne dafür zu zahlen. Sie ist so dumm. Geben wir diese Signorina Garcia in ihre Hände, und schauen wir mal, ob sie gut genug ist, mit ihr klarzukommen. Wenn nicht, dann fliegt sie wieder raus und Gigi gleich mit ihr. Hoffen wir, daß wir irgendwelche Arbeit für sie finden. Ihre Haut ist wirklich recht dunkel.« »D'accordo!« Carla lachte. Das würde lustig werden. Simonetta machte sie mit ihrem Getue und Gehabe schon alle verrückt. Mal sehen, wie sie sich mit Gigi Garcia verstand. Gigi wich schnell von der Tür zurück, als Carla herauskam. Marcellos Bemerkung über ihre Latinohaut hatte sie nicht gerade toll gefunden. Es hatte sich ziemlich rassistisch angehört. Als Tess die Agentur verließ, fühlte sie sich so gut wie seit Monaten nicht mehr. Sie erinnerte sich an Angies Worte vor ihrer Abreise: »Tess, denk vor allem daran, daß die Agentur deine Familie ist, sowohl hier als auch im Ausland. Du wirst dich manchmal einsam fühlen, aber das ist normal. Allen Mädchen geht es so. Die Agentur und deine Booker sind dazu da, dich wie eine Familie zu unterstützen.« Es stimmte. Sie fühlte schon die Anfänge einer engen -218-
Verbindung zu Carla, und es war fantastisch, sich Marcellos Unterstützung gewiß zu sein. Trotzdem waren Tess' erste Erlebnisse in Mailand ein Alptraum. Es begann gleich, als sie den ersten Schritt aus der Agentur hinaus tat. Wie sie so die Straße entlangschlenderte, bemerkte sie sofort die vielen Augen. Überall waren Männeraugen, und sie bohrten sich in sie hinein und durch ihre Kleider hindurch, als könnten sie bis auf ihre nackte Haut darunter sehen. Immer wenn einer von ihnen an ihr vorbeiging, drehte er sich um, stierte ihr unverhohlen nach und pfiff durch die Zähne. Ständig hatte sie dieses gräßliche Pfeifen im Ohr, und immer wieder wurde sie im Vorübergehen mit der Hand berührt. In der Metro war es noch zehnmal schlimmer. Genau wie in England war man hier wie in einer Sardinenbüchse eingepfercht, aber dort behielt wenigstens die britische Zurückhaltung die Oberhand. Man bewegte sich so wenig wie möglich und vermied auch nur den geringsten Körperkontakt. Die Italiener hingegen, fand Tess, dachten offensichtlich, das Metrofahren gäbe ihnen eine Freikarte, sie bei jeder Gelegenheit anzugrapschen, und sie fühlte sich nach jeder Fahrt wie vergewaltigt. Sie mußte sich jedesmal erst wieder sammeln, um ruhig und gefaßt zu ihren Terminen gehen zu können. Die meisten Modejournalisten, die sie traf, waren solide, elegant gekleidete Frauen mittleren Alters, die einen schnellen Blick in ihre Mappe warfen und sie wohlwollend anlächelten, wenn sie die Story von ihrem Vater erzählen wollte, der ihre Zeitschriften an einem Kiosk in London verkaufte. Bisweilen wurde sie gebeten, auf und ab zu gehen, und immer murmelte man hinter ihrem Rücken irgend etwas auf italienisch, das sie nicht verstehen konnte. Die alten, ausgebesserten Straßen waren für eine Fußgängerin unbequem, und das Wetter war regnerisch und neblig. Tess verirrte sich, und als sie endlich wieder in der Agentur ankam, war sie den Tränen nahe. Carla hatte zwischenzeitlich schon mit -219-
Angie in London telefoniert und wußte, was sie erwartete. Angie hatte ihr erklärt, Tess sei ein fantastisch aussehendes Mädchen, aber leider ohne jedes Selbstvertrauen. Deshalb brauchte sie alle nur erdenkliche emotionale Unterstützung. Carla teilte Marcellos Meinung, daß es Tess hier in Mailand schaffen könnte. Nun war es an ihr, der Kleinen zu helfen, ihre Krise zu überstehen, und sie zum Erfolg zu führen. Als Tess hereinkam und völlig niedergeschlagen wirkte, verließ Carla für eine halbe Stunde den Booking Table und nahm den Streß auf sich, Tess im Taxi zu ihrer Wohnung zu begleiten. Das war allemal besser, als sie wieder allein rauszuschicken. Sie ging allerdings nicht mit in die Wohnung hinein, das wäre des Guten dann doch ein bißchen zuviel gewesen, aber während der Taxifahrt redete sie aufmunternd auf Tess ein. »Ich habe schon mit den Leuten von Donna gesprochen. Sie waren begeistert von dir.« »Aber sie haben mich doch kaum angesehen…« »Das sind doch Profis, die können alles Wesentliche auf den ersten Blick erkennen, mehr braucht es nicht. Du hast deine Sache gut gemacht, Tess.« Bei diesen Worten erholte sich Tess schnell von ihrem Absturz in die Depression und stieg mit schon sehr viel besserer Laune vor dem Dársena aus dem Taxi. Das Dársena, in der Nähe von Porto Genova und Canale Dársena gelegen, war in der Mailänder Modewelt berühmt dafür, daß die Agenturen hier ihre Models unterbrachten. Es handelte sich um einen supermodernen Apartmentblock, dessen Räume von der Vorder- bis zur Hinterfront des Hauses reichten und mit Balkons zum Innenhof hinaus ausgestattet waren. Fast jedes Apartment hatte zwei Zimmer und dazu eine Küchenecke. Sämtliche Räume waren mit einfachen Möbeln ausgestattet, die zuvor in der Modebranche eine Zeitlang benutzt worden waren. -220-
Bequemerweise lag das Gebäude gleich neben den zwei großen Modestudios, dem Superstudio, einem umgebauten ehemaligen Bahnausbesserungswerk, sowie Fabrizio Ferris berühmten Industriekomplex. Tess ging um die Stoßstange an Stoßstange geparkten Ferraris vor dem Gebäude herum und fragte sich, wem die wohl gehörten. Als sie eintrat, hatte sie für einen Augenblick das Gefühl, in ein Beerdigungsinstitut gekommen zu sein. Die Eingangshalle des Dársena brach unter Bergen von Blumenbuketts fast zusammen. Tess schaute sich die beiliegenden Karten an und bemerkte, daß noch nicht einmal Absendernamen darauf standen. Nur Zimmernummern, die Worte »Ruf mich an!« und eine Telefonnummer. Eine Gruppe kichernder Mädchen kam hinter ihr ins Haus. Sie nahmen ihre Schlüssel und verschwanden in Richtung Fahrstuhl. Ein Mann folgte ihnen. Er fragte das Mädchen am Empfang: »La bionda? La camera, da che parte?« »Numero trentacinque.« Tess beobachtete, wie der Mann erst die Zimmernummer fünfunddreißig und dann eine Telefonnummer auf eine Karte schrieb, die Worte ›Per la bionda‹ hinzufügte und seinen Blumenstrauß auf den Haufen zu den anderen warf. Als Tess ihren eigenen Schlüssel holen wollte, musterte der Typ sie von oben bis unten. »O nein, das werden Sie nicht!« Sie drehte sich um und starrte ihm nach, bis er hinausgegangen war. Sie würde doch nicht zulassen, daß man einem völlig Fremden ihre Zimmernummer verriet. »Geben Sie sie ihm nicht, wenn er zurückkommt«, warnte sie die Empfangsdame, die sie anschaute, als wäre sie verrückt. Wußte das Mädchen denn nicht, daß es zu ihren Aufgaben gehörte, allen Gigolos die Zimmernummern der Models mitzuteilen? Als Tess in ihr Zimmer kam, fand sie noch mehr in -221-
Zellophanpapier eingewickelte Blumenbuketts vor, dazu riesengroße Teddybären und so viele aufeinandergestapelte und in Geschenkpapier gehüllte Pralinenschachteln mit kitschigen rosa Schleifen, daß sie fast eine halbe Wand verdeckten. Im Spülstein stand schmutziges Geschirr, und das ganze Zimmer durchzog ein modriger Geruch. Tess öffnete erst die Fensterläden im Schlafzimmer und dann die Fenster. Unverzüglich wünschte sie sich, sie hätte das gelassen. Denn vom gegenüberliegenden Gebäude aus wurde sie von zwei Männern beobachtete, weitere waren an anderen Fenstern versammelt, und wieder erklang das bewundernde Pfeifen. Sie schlug die Fenster zu und flüchtete sich auf die andere Seite des Apartments. Dort öffnete sie die Tür und trat auf den Balkon hinaus. Aus allen Richtungen erreichte sie ein wahrlich ohrenbetäubendes Stimmengewirr. Über alle Balkons lehnten sich die Bewohner und riefen sich gegenseitig etwas zu: »Hey! Was machst du heute abend?« »Vielleicht sollten wir uns alle später treffen?« »In dem Club, in dem wir gestern waren, ist ein englischer Diskjockey.« »Gehst du heute abend ins Lizard?« »Ja, und danach ins Shocking und dann ins Hollywood.« »Ich gehe ins Plastic.« »Ich habe gehört, daß heute nachmittag bei Etoile eine wirklich heiße Latinobraut eingelaufen ist.« »Ich weiß, sie kommt aus New York und wurde Simonetta zugeteilt.« »Habe ich dich nicht letzte Nacht mit Simonettas Freund zusammen gesehen? Mit diesem englischen Model?« »Das ist ihr egal. Du weißt doch, diese Italienerinnen sind alle gleich. Immer nach dem Motto: ›Ist mir doch egal, was du tust, -222-
Hauptsache, du kommst jetzt nach Hause.‹ In Wahrheit schläft er mit keiner außer mit Simonetta.« »Das ist nur eine Frage der Zeit. Also, was machen wir heute abend?« »P-A-R-T-Y!« Tess ging hinunter, um nach einem anderen Zimmer zu fragen, doch an der Rezeption ignorierte man sie. Plötzlich wurde sie von Scharen schlechtgekleideter junger Männer angesprochen, die alle versuchten, ihr Karten und Tickets aufzudrängen. »Komm in meinen Club heute abend. Du bekommst alles umsonst.« »Nein, komm in meinen Club. Mickey Rourke wird da sein, und Mel Gibson schaut auch immer mal rein, wenn er gerade in der Stadt ist. Taxi frei. Eintritt frei. Getränke frei. Ich gebe dir für alles Freitickets.« Im Fahrstuhl fragte Tess ein Mädchen, was das alles um Himmels willen zu bedeuten hätte. »Oh, das sind nur die PR-Jungs von den Clubs. Die Besitzer schicken sie hierher, um die Mädchen zu becircen. Sie wetteifern darum, die schönsten Models in ihre Clubs zu locken, weil das die Mailänder Playboys anzieht. Wir sind nur die Köder.« Tess erinnerte sich an die Reihen von Ferraris draußen vor der Tür. »Denk immer dran«, rief das Mädchen ihr nach, »es gibt nichts Besseres als ein kostenloses Mittagessen.« Kaum hatte Tess die Koffer ausgepackt, kam eine 1,80 Meter große Blondine herein, zog sich aus und hinterließ auf dem Weg zum Badezimmer eine Spur von Kleidungsstücken hinter sich. Sie schien Tess überhaupt nicht bemerkt zu haben. Dann ging die Tür wieder auf, und eine Stimme verkündete: -223-
»Dieses Haus ist ein Scheißloch.« »Ganz meine Meinung«, bestätigte Tess. »Ich hatte auch nach einem Einzelzimmer gefragt.« »Und ich wollte im Männertrakt wohnen. Wer bist du?« »Tess Tucker aus London.« »Gigi Garcia. Ist das deine erste Saison in Mailand?« Tess nickte. »Ich bin mit meinem Freund hier.« »Machst du Witze? Ich kann ihn nirgendwo sehen.« »Er ist bei Aufnahmen.« »Ja? Wie ist er denn? Bestimmt fickt er gut, stimmt's?« »Er ist ein Engel«, sagte Tess mit verklärtem Blick. »Mag sein, daß sie es da oben auch tun, aber das nützt dir hier unten wenig.« Tess hatte gar nicht zugehört. »Er sieht aus wie ein Engel. Er hat langes blondes Haar, ganz fein und seidig, und sein Gesicht ist so schön und weich.« »Hört sich an, als wäre er schwul, Liebling. Sind wir hier allein oder was?« »Nein, da ist noch…« Tess zeigte hinter Gigi. Die große Blondine stand splitternackt da und trocknete sich ihr weißes Schamhaar mit einem Handtuch ab. Sie trug einen superkurzen Federhaarschnitt, hatte eisblaue Augen, eine Stupsnase, einen so kleinen Busen, daß er nicht der Rede wert war, und mindestens einen Meter lange Beine. »Hallo, ich bin Greta aus Schweden.« »O Gott, dieser skandinavische Akzent macht mich noch wahnsinnig«, flüsterte Gigi Tess zu. »Ich bin Gigi aus Miami.« Völlig unbeeindruckt von Gretas Nacktheit streckte sie ihr die Hand entgegen. »Wie lange bist du schon hie r, Greta? Kann ich mal deine Mappe sehen?« »Klar«, meinte Greta und reichte ihr eine zum Bersten volle -224-
Aktentasche. »Ungefähr acht Monate. Ich hasse es.« Ihr skandinavischer Akzent bekam plötzlich einen mediterranen Touch. »Ich habe schon für Donna und Grazia und jede Menge Kataloge gearbeitet. Außerdem habe ich Schuhe für Rinascente gezeigt, und heute hatte ich elf Termine. Mondadori und Rizzoli sitzen außerhalb, in der Nähe des Flughafens, und da mußt du dann hin für einen Termin. Der nächste Treff ist bei Vogue, deren Sitz ist im Zentrum. Für Rizzoli mußt du dann wieder raus zum Flughafen, für Amica wieder zurück in die Stadt. Ich könnte meine Bookerin umbringen. Ich dachte schon, Simonetta, meine alte Bookerin, wäre schlecht gewesen. Als sie die Agentur verließ, war ich heilfroh und glaubte, jetzt würde es mir gutgehen. Aber nein, die neue ist genauso schrecklich.« »Ich glaube, ich habe Simonetta jetzt«, sagte Gigi. »Tja, sie ist die schlimmste, sie ist…« »Die Bookerin der Hölle?« fragte Gigi. »Genau!« antwortete Greta, und beide lachten. Tess ignorierten sie vollständig und taten so, als wäre sie gar nicht anwesend. Das Telefon klingelte. Tess hob schnell ab. Vielleicht war es ja Bobby. »Ciao, kann ich Susan sprechen?« fragte eine heisere italienische Männerstimme. »Susan?« »Susan ist gestern abgereist«, sagte Greta und richtete damit zum erstenmal das Wort an Tess. »Susan ist weg«, erklärte Tess. »Na gut, was machst denn du heute abend?« wollte die Stimme sofort wissen. Tess warf den Hörer auf die Gabel. Männer, Männer, Männer. Überall. Männeraugen. Männerstimmen. Warum konnten die einen nicht in Ruhe lassen? -225-
Sofort klingelte das Telefon wieder. Gigi nahm ab. »Wer? Maria? Wie bitte, Greta? Oh, ich höre, Maria ist letzte Woche abgereist. Wie meinst du das? Klar, würde mir auch gefallen. Wo? Oh, mach dir keine Sorgen, das finde ich schon, oder kommst du mich in der Eingangshalle abholen? Ich brauchte ein kleines Nickerchen, weil ich gerade erst aus dem Flugzeug von New York gestiegen bin. Okay. Bis später dann.« Sie legte auf. »Greta, kennst du einen Club namens Lizard?« »Klar, vielleicht treffen wir uns später dort.« »Was machst du denn heute abend, Tess?« »Oh, ich bleibe hier, warte darauf, daß Bobby anruft, und gehe früh zu Bett. Ich möchte für meine Termine morgen frisch und ausgeruht sein.« Gigi und Greta verdrehten die Augen. »Na gut, wenn mein Freund aus Oslo anruft, sagst du ihm dann bitte, daß ich ihn liebe?« bat Greta. »Während du dich gleichzeitig mit einem anderen amüsierst«, ergänzte Gigi, und Greta lachte. Tess fühlte sich ausgegrenzt. Sie spürte, wie sie wieder in ein tiefes Gefühlsloch fiel, und ihre Zauberformel ›gut für deine Mappe‹ schien gegen diese beiden Mädchen nicht viel ausrichten zu können. Nichts deutete darauf hin, daß der Lärm draußen nachlassen würde, ihre Aussichten auf frühen Schlaf standen ziemlich schlecht - falls sie überhaupt welchen bekommen sollte. Nachdem Gigi und Greta ausgegangen waren, fing sie an, einen Brief nach Hause zu schreiben, aber sie merkte schon nach kurzer Ze it, daß er zu unglücklich klang und ihre Eltern nur beunruhigen würde. Sie hob einen der riesengroßen Teddybären auf, die ein Playboy Greta zugedacht hatte, und drückte ihn trostsuchend an sich. -226-
Das Telefon klingelte. Tess schielte nervös zu dem Apparat hinüber. Da war schon der nächste Mann auf Raubzug. Nach dem siebten Klingeln hob sie den Hörer ab. »Tess, bist du's?« »Bobby! Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, deine Stimme zu hören.« »Baby, was ist los? Du hörst dich ja völlig fertig an.« Tess ließ all ihre Ängste auf einmal heraus: der Flug, die Männer in den Straßen, die Bewerbungsgespräche, ihre Unterkunft, Gigi Garcia - alles. Daß sie darüber vergaß, auch das Positive zu erwähnen - Marcello und die freundliche Reaktion der Dame von Donna -, war typisch für Tess. Wenn Tess down war, konnte sie nichts und niemandem etwas Gutes abgewinnen. »Hey, nimm das alles nicht so schwer. Das ist Mailand. Alle Mädchen müssen da durch. Das ist ein Teil der Modelkarriere. Du mußte Mailand hinter dich bringen. Du hast bis jetzt ja noch nicht einen einzigen Gigolo getroffen. Da gab es doch vor ein paar Jahren mal dieses Mädchen deren Gigolo hat es ihr wirklich schwergemacht. Als sie eines Tages nach Hause kam, fand sie ihn mit einer anderen im Bett. Sie hat ihn erschossen und ging dafür ins Gefängnis. Und jetzt hör zu, ich habe gute Nachrichten. Der Fotograf, für den ich arbeite, ist früher fertig geworden, als er dachte, und er muß jetzt nach London zurück…« »O Bobby, laß mich hier bitte nicht allein! Nic ht jetzt, nachdem ich gerade erst angekommen bin und…« »Jetzt beruhige dich doch und hör erst einmal zu! Ein Artdirector namens Roberto Fabiani, den ich kennengelernt habe, hat mir einen anderen Job angeboten, und jetzt kommt das Beste: er will mich als Fotografen haben, nicht nur als Assistenten. Das ist mein Durchbruch. Aber das Allerbeste ist, daß ich ihm deine Karte gezeigt habe, die ich zufälligerweise bei -227-
mir hatte, und du gefällst ihm. Bei dem Job handelt es sich um Aufnahmen für Kaschmir im Superstudio, und zwar übermorgen. Er wird die Agentur anrufen, um dich zu buchen und ein Casting anzuberaumen. Der Job ist dir so gut wie sicher. Der perfekte Start. Du wirst hier einen Riesenerfolg haben, und wir werden zusammenarbeiten. Heute mit Bobby Fox, morgen mit Aldo Fallai.« »Wer ist Aldo Fallai?« »Was weißt du eigentlich überhaupt? Er ist hier megabekannt. Einer der größten Fotografen Italiens. Sie haben ihm die Schlüssel zur Stadt überreicht oder etwas ähnlich Ehrenhaftes, und er hat sich erst auf den Feierlichkeiten blicken lassen, als alles schon vorbei war. Also, schlaf schön, laß dich nicht von den Wanzen im Dársena beißen, und vergiß nicht, als allererstes die Agentur anzurufen und sie auf Robertos Anfrage vorzubereiten. Wir sehen uns sehr bald.« Nachdem Bobby aufgelegt hatte, ging er nackt durch das teure Mailänder Apartment voller Chrom und schwarzer Möbel in Roberto Fabianis Schlafzimmer. Er mußte sich nicht schon wieder fragen, ob er das richtige tat, denn er wußte, daß er sich verachtungswürdig verhielt. Sein Vater hatte ihm immer schon prophezeit, daß er ein Schwächling sei, und das traf zu. Aber er würde ihm den Durchbruch bringen, wenn er diesen Job schon jetzt bekam. Und auf andere Weise würde er ihn nicht bekommen, denn er wußte, daß er nicht begabt genug war. Aber Tess war es. Sie hatte das gewisse Etwas, das man brauchte, um es weit zu bringen. Er tat es für Tess. Das würde er sich immer wieder sagen, denn es half ihm, sich dabei besser zu fühlen. Roberto lag mit nackter Brust im Bett auf einem Fell, das er als Tagesdecke benutzte. »Du hast dir reichlich viel Zeit gelassen«, brummte er. »Komm wieder ins Bett und versuch, es diesmal etwas mehr zu genießen. Andernfalls könnte ich es glatt vergessen, in der Agentur wegen deiner kleinen Freundin anzurufen…« -228-
Am nächsten Morgen klingelte bereits um sechs Uhr früh das Telefon. »Laß es klingeln«, rief Greta aus ihrem Zimmer. »Das ist mein Vater. Er ruft jeden Morgen von Oslo aus an, um mich zu wecken, damit ich rechtzeitig zur Arbeit komme. Er ist me in Wecker.« »Und was ist mit uns?« stöhnte Gigi, die erst um zwei Uhr nachts nach Hause gekommen war. »Er weckt uns ja alle mit auf.« »Genau. Ihr wollt doch auch arbeiten. Dann ist es ja für uns alle gut.« Was Tess betraf, hatte sie damit sogar recht, bei Gigi jedoch nicht. Gigi regte sich zwar ständig darüber auf, daß die Mailänder Clubs so viel schlechter als die in New York waren - überall diese Scheiß-Housemusik aus den Achtzigern -, aber sie kam dennoch jeden Morgen frühestens um zwei oder drei Uhr nach Hause. Ebenso wild wurde sie, wenn es um italienisches Essen ging, und trotzdem stopfte sie sich mit Pasta und Eis voll. An einem Tag, an dem Tess in der Agentur war, gab Simonetta wieder, was die Herausgeberin einer Modezeitschrift während eines Castings auf italienisch über Gigi gesagt hatte. »Sie sah sie nur einmal an und sagte dann: Simonetta, das Mädchen ist fett wie ein Schwein.« »Nach allem, was ich so höre, bemüht sie sich, ihre Pfunde auf Tanzflächen und in Betten zu verlieren«, murmelte jemand anderes. Für Tess hingegen lief alles wie am Schnürchen - mit Ausnahme dieses Gelegenheitsjobs, bei dem ihr Teint zu schlecht gewesen war, eine Folge der schrecklichen Mailänder Luftverschmutzung und des Smogs. Sie hatte sich ein Fahrrad geliehen, damit sie nicht das Gegrapsche in der Metro ertragen mußte. Und für die kurzen Wegstrecken, die sie zu Fuß -229-
zurücklegen mußte, hatte sie sich eine Sonnenbrille mit Spiegelglas zugelegt, damit sie erst gar keinen Blickkontakt mit den geilen Italienern aufnehmen mußte. Die Aufnahmen mit Bobby waren gut verlaufen. Während er sie fotografierte, hatte sie sich vorgestellt, mit ihm zu schlafen. Sie hatte statt dessen sozusagen mit den weichen Kaschmirkleidern geschlafen und sich sanft in sie eingewickelt, als wären sie Bobby. Inzwischen hatte sie schon sehr oft im Superstudio gearbeitet. Es lag auf der anderen Seite des Porto Genova, und sie mußte vom Dársena aus nur zehn Minuten zu Fuß und über eine kleine Brücke gehen. Das einzige, was sie am Superstudio nicht mochte, war die Tatsache, daß während der Aufnahmen ständig Männer hereinkamen. In Mailand, so schien es, fühlte sich jeder, der jemanden kannte, der im Superstudio arbeitete, dazu berechtigt, einfach hereinzuspazieren, um einen Blick auf eines der Models zu erhaschen, wenn es sich gerade umzog und dabei für einen Moment ihr Busen oder ihre Scham zu sehen war. Doch zu wissen, daß Bobby bei ihr war, entschädigte Tess für alles, obwohl er keineswegs jeden Tag für sie Zeit hatte. Plötzlich war er in Mailand anscheinend schwer gefragt, und fünf Nächte in der Woche behauptete er, arbeiten und Zeitungsfotos machen zu müssen. Trotzdem, Tess war glücklich, in ihrem Zimmer im Dársena zu sitzen und Briefe an ihre Freunde und Eltern in London zu schreiben. Sie genoß die Ruhe, wenn die anderen beiden Mädchen nicht da waren. Nur an den Lärm draußen hatte sie sich immer noch nicht gewöhnt. Anscheinend feierte die Hälfte aller männlichen und weiblichen Models jede Nacht durch und hielt die anderen, die schlafen und professionell sein wollten, wach. Wie auch immer, manchmal dauerten die Aufnahmen bis tief in die Nacht, so daß auch Tess nicht vor ein oder zwei Uhr morgens ins Bett kam. Nach solchen Tagen setzte sie sich auf ihr Bett und fühlte sich vollkommen einsam. Das, so lernte sie, war der Preis dafür, Model im -230-
Ausland zu sein. Die Bilder waren vielleicht wundervoll, aber immer, wenn man in einem fremden Land strandete, war man nur von Menschen umgeben, die eine fremde Sprache sprachen. Es gab niemanden, an den man sich wenden konnte. Tess versuchte ernsthaft, professionell zu sein. Zu ihren Fototerminen oder ins Studio kam sie stets pünktlich, bis Greta einmal bemerkte, daß das in Mailand völlig unerheblich sei. Italien - und vielleicht noch Spanien - seien die einzigen Länder, in denen man sich wirklich nicht allzu sehr um Pünktlichkeit bemühen müsse. Die Italiener fingen mit allem zu spät an. Bei ihrem ersten Fototermin hatte Tess sich schon darüber amüsiert, daß den halben Vormittag lang das Hauptgesprächsthema der Mannschaft nicht etwa die Aufnahmen waren, sondern es vielmehr darum ging, wo man zu Mittag essen wollte. Eines Tages sprach Marcello sie in der Agentur an. »So, meine hübsche, kleine Jungfrau, du machst deine Sache wirklich gut bei uns. Du arbeitest fast jeden Tag, wie mir Carla erzählt hat. Siehst du, die Fotos, die dein Freund von dir gemacht hat, sind schon in einer Zeitschrift erschienen. Bald wird deine Mappe so dick wie deine Freundin Gigi sein. Wir müssen wirklich mal ernsthaft mit ihr sprechen. Was machst du eigentlich mit all dem Geld, das du verdienst? Gibst du es für schöne italienische Kleider aus?« »O nein. Ich spare es und lasse es hier in der Agentur. Wenn ich nach London zurückkehre, will ich es mitnehmen.« »Gut, wie du meinst. Ich finde aber, du hast eine kleine Belohnung verdient. Heute abend gibt es ein Geschäftsessen. Der Kunde ist ein wichtiger Mann aus Bergamo und wird alles bezahlen. Deshalb muß ich eine nette Tischrunde zusammenstellen. Du und Gigi werdet kommen, vorausgesetzt, Gigi ißt nicht zuviel. Und Roberto Fabiani. Von der Agentur kommt natürlich Caria mit und vielleicht Simonetta, so daß der Kunde sieht, daß wir sie von ihrer alten Agentur abgeworben -231-
haben. Und Aldo Fallai. Er ist für meinen Kunden sehr wichtig. Ich muß Paolo vom Booking Table für Männer darum bitten, einige seiner Jungs mitzubringen. Dann werde ich noch einen Herausgeber einer Modezeitschrift einladen und ein paar Söhne von einigen meiner Freunde, alles junge, sehr reiche Männer, die dir gefallen werden.« »Kann mein Freund auch kommen? Bobby Fox?« »Ah, Bobby«, sagte Marcello wissend. »Warum fragst du ihn nicht selbst. Ich glaube aber kaum, daß er kommen wird.« Tess war da anderer Meinung, aber Marcello sollte recht behalten. Als sie Bobby davon erzählte, sagte er nur: »Ich muß im Labor arbeiten. Vielleicht ein anderes Mal.« »Aber Bobby! Aldo Fallai wird dort sein. Wäre das denn nicht eine tolle Gelegenheit für dich, ihn kennenzulernen? Marcello sagte, ich könne dich mitbringen.« »Es ist ein großer Auftrag«, erwiderte Bobby. Tess konnte das einfach nicht verstehen. Er war so mürrisch. Konnte es sein, daß er eifersüchtig war, weil sie ihn einlud und nicht umgekehrt? Da war auch etwas dran. So ganz paßte Bobby diese Einladung wirklich nicht. Aber der wahre Grund war, daß er es nicht ertragen hätte, mit Roberto Fabiani und Tess an einem Tisch zu sitzen. Tess durfte nie etwas von seiner Affäre mit Roberto erfahren. Affäre! Es war nichts anderes als schäbige Prostitution, die es ihm ermöglicht hatte, die erste Sprosse der Karriereleiter zu nehmen. Und jetzt wurde er Roberto nicht mehr los. Auf dem Weg zum Essen saßen Gigi und Tess gemeinsam im Taxi, und die ganze Fahrt über hänselte Gigi ihre Freundin. »Ist das kleine Aschenputtel doch mal außer Haus? Was hast du denn mit deinem schönen Prinzen gemacht? Läufst du zu ihm, sobald es Mitternacht geschlagen hat? Ärgere dich nicht, Liebes, schließlich ist Bobbys schöner Prinz heute abend ja unter uns.« -232-
»Wie meinst du das?« wollte Tess wissen. »Oh, das wirst du bald selbst herausfinden. Aber jetzt, Tess, halt erst mal nach den Playboys Ausschau. Sie werden sich heute abend mächtig an uns ranschmeißen. Das magst du zwar nicht, aber du mußte das Spielchen mitspielen, weil der Kunde da ist und für alles zahlt. Also fang nicht an, in deine Windeln zu heulen.« »Es gibt nichts Besseres als ein kostenloses Abendessen«, sagte Tess in Erinnerung an das, was das Mädchen im Fahrstuhl vom Dársena zu ihr gesagt hatte. »Na sieh mal einer an! Solltest du langsam erwachsen werden, kleines Mädchen?« »Gigi, meiner Meinung nach müßtest du erst einmal erwachsen werden. Du wirst zu dick, um weiterhin als Model zu arbeiten. Früher oder später wirst du dafür ganz hübsch bezahlen müssen. Ich mache mir Sorgen um dich.« »Dann laß das doch einfach!« fauchte Gigi. »Ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst aufzupassen.« Aber insgeheim machte sie sich schon darüber Sorgen, daß sie keine Jobs mehr bekam. Beim Essen saß Gigi neben einem jungen männlichen Model aus England. Tess saß am anderen Tischende, umgeben von all den Playboys, und Gigi hätte es ihr bestimmt gerne gleichgetan. Sie sah sich den Kunden genau an. Er war ein zwielichtiger Typ, den alle anschleimten. Beziehungen, dachte Gigi. Der Typ wusch Geld in der Modebranche und war steinreich. Ob er sein Geld in der Bekleidungsindustrie gemacht hatte? Oder in Las Vegas? Was bedeutete es schon, wo er es gemacht hatte, die Hauptsache war, es floß in ihre Richtung weiter. Gigi schenkte ihre Aufmerksamkeit der großen Risottoplatte vor ihr. Das war der längste Tisch, den sie je gesehen hatte, und es dauerte nicht lange, bis die Unterhaltung ihren üblichen schmutzigen Dreh bekam. -233-
»Simonetta, wie hat dieses Mädchen eigentlich die Seiten in Glamour bekommen? Sie ist so pockennarbig, daß ihr Gesicht wie von Kratern zerfurcht ersche int.« »Was ist mit dem neuen Mädchen aus England in Carter's. Hat man solche Bilder schon gesehen? Waren die nicht toll? Ich habe gehört, sie soll eine Lesbe sein. Stimmt das?« »Siehst du das hübsche Mädchen da oben am anderen Ende des Tisches, die mit den roten Haaren. Marcellos letzte Entdeckung? Und siehst du auch Roberto Fabiani neben ihr, süß wie Honig? Na ja, du weißt ja sicher, daß er ihren Freund besteigt, diesen hübschen kleinen Fotografen, Foxy Bobby. Also, wer sagt es ihr als erster?« »Er ist auf jeden Fall ein Scheißfotograf, der sich hochgeschlafen hat. Sie kann froh sein, wenn sie ihn los wird.« »Sie ist ziemlich süß. Weißt du, was sie heute in der Agentur gesagt hat? ›Ich gehe zu einem von Marcellos Essen, ganz wie ein Topmodel.‹ Was sie nicht weiß, daß man nie ein Topmodel im Umfeld solcher Essen antreffen würde! Ich glaube, die hat nicht den blassesten Schimmer davon, was diese Playboys am späteren Abend von ihr wollen.« »Oh, da wäre ich nicht so sicher. Stille Wasser sind tief, und Carla hat immer ein Auge auf sie.« Gigi wandte sich an das männliche Model neben ihr. »Ist das deine erste Saison in Mailand?« »Ja, deine auch? Hast du schon viele männliche Models getroffen? Übrigens sind wir nicht alle schwul. In Wirklichkeit sind es nur einige von uns. Männer sind heute sehr viel häufiger in der Mode vertreten als früher, und man verlangt nach heterosexuell aussehenden Jungs in den Magazinen.« »Ist das jetzt im Kommen?« »Könnte sein.« »Naja, du siehst jedenfalls nicht wie die meisten Models aus, -234-
die ich rund ums Dársena treffe. Die meisten sind Amerikaner mit kantigen Unterkiefern und diesem ›Sehe- ich-nicht-wie-einGeschäftsmann-aus?‹-Look. Das macht mich krank, ehrlich. Du bist richtig hübsch und dunkel. Wie ein Zigeuner. Bist du wirklich Engländer?« »So steht es in meinem Paß. Was macht die Arbeit?« Gigi war weniger vorsichtig als sonst. Normalerweise hätte sie eine ganze Liste von Lügen über ihren atemberaubenden Erfolg seit ihrem Eintreffen in der Stadt aufgetischt, aber die Art, wie er sie mit seinen großen braunen Augen anschaute, entwaffnete sie. »Die Wahrheit ist, daß ich es noch nicht besonders weit gebracht habe. Ich habe ein bißchen Probleme mit meinem Gewicht.« »Zu langes Feiern und Aufbleiben und dann kein frisches Gesicht am Morgen danach, wenn's zu den Bewerbungsterminen geht, wo all diese Herausgeber-Drachen in den Wechseljahren sitzen? Erzähl mir mehr.« »Soll das heißen, du hast auch Probleme?« »Hör zu, ich bin bei Etoile in London. Paolo von der hiesigen Etoile-Filiale - siehst du ihn dort am Ende des Tisches? - narrte die für die männlichen Models zuständigen Agenten und erzählte ihnen, man würde sich hier die Finger nach mir lecken. Es gab zwar noch keine konkreten Buchungen, aber ich flog mit all meinen unglaublich großen Hoffnungen hierher und… Na ja, bisher hatte ich noch nicht einen einzigen Job. Ich bin sozusagen pleite, und an jedem Morgen wird es schwerer, den vor mir liegenden Tag zu überstehen.« »Willkommen im Club«, sagte Gigi. »Was sollen wir dagegen tun?« »Club. Das ist das magische Wort. Ich habe die perfekte Lösung«, meinte er. »Laß uns in einen Club gehen und feiern.« -235-
Carla brachte Tess ins Dársena zurück und bot an, Roberto Fabiani auf dem Weg dorthin bei sich zu Hause abzusetzen. Ziemlich betrunken stand er auf dem Bürgersteig und verneigte sich stilvoll, bevor er wankend zur Tür ging. Als Carla wegfuhr, öffnete sich die Tür, und Tess erkannte Bobby, der Roberto hineinhalf. »Oh, sieh mal, da ist Bobby. Armer Bobby. Er konnte heute abend nicht kommen, er mußte im Labor arbeiten. Ich wußte ja gar nicht, daß sich sein Labor im gleichen Gebäude wie Robertos Wohnung befindet.« Tut es auch nicht, wollte Carla sagen, hielt sich aber zurück. Dieses Mädchen war unglaublich ahnungslos, aber sie machte ihre Arbeit so gut, daß es zu diesem Zeitpunkt das schlimmste gewesen wäre, sie in privaten Dingen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mit ein bißchen Glück würde sie vielleicht nach England zurückkehren können, ohne etwas von Bobby Fox und Roberto Fabiani erfahren zu haben. Greta war für einige Tage fort. Endlich herrschte im Apartment fast einmal so etwas wie Ruhe. Tess fiel in einen tiefen Schlaf. Einige Stunden später wurde sie von einem Geräusch geweckt, das sie nicht identifizieren konnte. Völlig verängstigt lag sie im Bett, als ihr langsam dämmerte, was sie da hörte. Sie errötete im Dunkeln. Die Geräusche kamen vom Balkon. Tess schlich sich auf Zehenspitzen durch das Wohnzimmer und lugte durch die Vorhänge. Gigi hockte auf einem nackten Mann, ihr Hintern schimmerte im Mondlicht. Tess war gleichermaßen fasziniert wie erschrocken. Auf einmal schob Gigi den Mann von sich. »Hey, ich habe eine gute Idee«, sagte sie, »laß uns Bobby und Roberto spielen.« Dann drehte sie sich um und reckte ihm ihren Hintern entgegen. Voller Ekel erkannte Tess plötzlich die ganze Wahrheit und -236-
stolperte in ihr Zimmer zurück. Am nächsten Morgen konnte sie Gigi nicht in die Augen sehen und schenkte dem männlichen Model, das zum Frühstück geblieben war, nur aus reiner Höflichkeit ein Lächeln, als er zu ihr sagte: »Du kommst aus England, stimmt's? Ich auch. Ich heiße Tommy Lawrence.«
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New York, 1994 Barbara, ich habe Carl Sassoon auf Leitung eins. « »Ich übernehme ihn sofort.« Barbara Harper hatte es nach einer einstündigen Fahrt Stoßstange an Stoßstange durch den städtischen New Yorker Verkehr soeben geschafft, ins Büro zu gelangen. Vor fast zwanzig Jahren, als Vogue Beverly Johnson zum ersten schwarzen Titelmädchen gemacht hatte, war Barbara ebenfalls Model gewesen. Zu dieser Zeit war sie jung und voller Idealismus gewesen und hatte große Hoffnungen gehegt, was die Zukunft eines schwarzen Models betraf. Doch mit den Jahren war sie eines Besseren belehrt worden. Werbeagenturen schätzten sich zwar glücklich, wenn sie schwarze Models einsetzen konnten es jedoch nur, wenn es galt, Produkte an eine ausschließlich schwarze Kundschaft zu verkaufen. Und das kam nicht oft vor. Und nach Meinung vieler weißer Booker funktionierte ein weißes Model in der Werbung normalerweise gut genug, um auch Schwarze anzusprechen. Die Welt der Macht war eine weiße Welt, für die keine Notwendigkeit bestand, umzudenken. Das, so hatte Barbara damals gedacht, müsse man irgendwie ändern. Doch als Model hatte sie dazu nicht allzu viele Möglichkeiten gesehen. Also war sie auf die andere Seite ge wechselt und Agentin geworden, die einzige am Booking Table mit schwarzer Hautfarbe. Wenn sich ein Klient meldete und sagte: »Hey, wir haben da dieses Casting für einen Shampoo-Werbespot, schick uns fünf Mädchen!« rief Barbara in der Regel drei weiße und zwei schwarze Mädchen an, während der Booker, der gerade neben ihr saß, für gewöhnlich aus allen Wolken fiel. »Barbara, du kannst doch nicht Mary und Jo schicken! Sie -238-
haben nicht gesagt, daß sie schwarze Mädchen wollen.« »Aber sie haben auch nicht gesagt, daß sie keine wollen. Alles, was sie verlangten, waren fünf Mädchen zwischen achtzehn und zwanzig, nicht unter 1,73 Meter. Es war weder von schwarz noch rothaarig oder blauäugig die Rede. Wenn sie ausdrücklich ›keine Schwarze n‹ gesagt hätten, wäre das in Ordnung und fair gewesen. Sicher - auch wenn sie's nicht immer extra betonen, weiß ich natürlich, daß sie wahrscheinlich keine haben wollen. Aber verlangst du etwa, daß ich diese Einstellung unserer Kunden ohne zu fragen übernehme? Gib mir eine Chance! Solange der Kunde es nicht klipp und klar sagt, mußt du einfach immer wieder schwarze Kids rausschicken.« Barbara war der Meinung gewesen, daß die Kunden sich mit der Zeit schon daran gewöhnen würden. Aber die waren zumeist weiß, und natürlich wollten weiße Age nten sie nicht verärgern, indem sie ihnen schwarze Models schickten. Wie sollte ein schwarzes Model unter diesen Umständen je zu einem Termin kommen? Und so war es Barbara schier unmöglich gemacht worden, einem schwarzen Mädchen eine Halbtagsbuchung, geschweige denn einen Tagestermin zu verschaffen oder es gar auf Reisen zu schicken. Das hatte von vornherein keinen Sinn. Gar keinen! Am Ende war ihr nur eine Chance geblieben - nämlich eine eigene Agentur ins Leben zu rufen. ›Barbara Harper Management‹ wurde mit weißem Geld und einem weißen Booking Table auf einem alten Dachboden südlich der Canal Street im TriBeCa gegründet. Von dort aus startete Barbara ihren Kreuzzug gegen ihre ganz persönliche ›Schwarze Gefahr‹, das heißt, gegen jene weißen Liberalen in den USA, die sich, soweit sie mit ihnen zu tun hatte, stets an der Grenze zum Rassismus bewegten. Und obwohl diese Leute das in der Regel gar nicht wollten, gaben sie ihre Einstellung doch Tag für Tag offen zu erkennen. Sie waren nicht freundlicher und auch nicht unfreundlicher als andere, aber sie hatten Macht inne, und -239-
deshalb beabsichtigte Barbara Harper, ihnen ein bißchen auf die Sprünge zu helfen. Barbara ließ den Mantel von ihren Schultern gleiten, trank einen kleinen Schluck Kaffee und nahm den Anruf entgegen. »Barbara, ich habe einen Job für dich. Ich möchte, daß du für mich ein großes, dunkles Mädchen findest«, sagte Carl Sassoon, der wie Calvin Klein einer der New Yorker Topdesigner war. Barbara knirschte mit den Zähnen und bemühte sich, nett und höflich zu klingen. »Freut mich, zu hören, Carl. Ich bin froh, daß du mich angerufen hast. Ich kümmere mich darum.« »Ja, Gott weiß, Barbara, du bist diejenige, die das kann… schließlich bist du die schwarze Agentin.« Sie haßte es, wenn jemand so etwas sagte. Sie war nicht mehr als eine Agentin mit einer eigenen Firma. In ihrem Katalog fanden sich jede Menge schwarze und weiße Mädchen. Aber weil sie selbst eine Farbige war, wurde sie als Agentin für schwarze Models abgestempelt. »Nun, Carl, ich bin sicher, ich finde, was du haben willst…« Sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach. »Aber ist dir klar, was du da gerade gesagt hast?« »Was?« »Du hast gesagt: ›Finde für mich ein schwarzes Mädchen.‹« »Ja.« »Wie viele weiße Mädchen setzt du für deine Show ein?« »Weiß nicht. Vierunddreißig, vielleicht fünfunddreißig.« »Gut. Warum willst du dann ein schwarzes Mädchen? Warum sagst du mir nicht, daß ich ein paar schwarze Mädchen für dich finden soll? Warum darf es immer nur eins sein? Ich sage dir, was ich tun werde. Ich schicke dir meine allerbesten schwarzen Mädchen rüber und vielleicht auch ein paar von meinen weißen. Was sagst du dazu?« »Sicher, klar, Barbara, glaub mir, ich liebe schwarze -240-
Mädchen, das weißt du doch. Ich habe nichts gegen sie. Früher bin ich sogar regelmäßig mit einem schwarzen Mädchen ausgegangen. Ich habe sie zum Essen eingeladen, ein wirklich nettes Ding. Und meine Tochter hat schwarze Mitschüler in ihrer Klasse, die sie mit nach Hause bringt…« »Bis dann, Carl, wir telefonieren wieder.« Barbara legte auf. Früher bin ich sogar regelmäßig mit einem schwarzen Mädchen ausgegangen. Ich habe sie zum Essen eingeladen, ein wirklich nettes Ding. Also bitte! Immer wollte man nur ein einziges schwarzes Mädchen buchen, wo sie doch so viele anzubieten hatte. Noch vor vier oder fünf Jahren hatte eine durchschnittliche New Yorker Agentur überhaupt kein einziges schwarzes Model in ihrer Kartei vorzuweisen, und die etwas größeren hatten unter Hunderten von weißen Mädchen gerade einmal eine Handvoll schwarzer unter Vertrag. Trotzdem, die Dinge besserten sich - zumindest in Amerika. In London allerdings galt bis heute die Richtlinie: ›Schwarze Mädchen arbeiten hier nicht. Wenn du arbeiten willst, geh nach New York.‹ Europäische Agenturen tendieren immer noch dazu, nur ein einziges schwarzes Model zu führen, und das Problem dabei war, daß sie keinerlei Druck verspürten, mehr zu nehmen. Das andere Problem mit Europa waren die Kollektionen. Barbara hatte Schwierigkeiten, ihre farbigen Mädchen in beiden Saisons zu beschäftigen. Dort drüben war man anscheinend der Meinung, daß schwarze Models ausschließlich für die Sommerkollektion geeignet waren. Als ob sie im Winter keine Kleidung benötigten! »Barbara, Lizzie Mayhew ist auf der zwei…« Barbara hob ab. Lizzie Mayhew war bei einer Werbeagentur für das Casting verantwortlich. »Hey, Lizzie!« »Barbara, wie geht es dir? Hör zu, ich hätte gern Trina für die Softdrinkkampagne, über die wir gesprochen haben.« -241-
»Lizzie, du hast einen grandiosen Geschmack.« Trina war ein sensationelles Mädchen, das vor sechs Monaten zu Barbara gekommen war. »1200 Dollar.« »Nein, nein, nein, nein, nein!« Barbara traute ihren Ohren nicht. »Du weißt, der Satz liegt bei 2500 Dollar.« »Nicht für dieses spezielle Mädchen.« »Warum?« »Nun…« Lizzie zögerte. »Das ist ein vollkommen anderer Markt.« »Tja, tut mir leid, Lizzie, aber mein Mädchen arbeitet nur für 2500 Dollar. Wenn du damit nicht einverstanden bist, glaube ich nicht, daß wir diesmal zusammenkommen.« »Okay, Barbara. Aber wenn ich für Trina 2500 Dollar bezahle, sage bitte niemandem, daß sie mehr bekommt als die anderen schwarzen Mädchen.« »Das ist kein Problem für mich«, sagte Barbara. »Sie ist ohnehin die einzige, die ich für diesen Job habe.« Warum mußte das nur immer so sein? überlegte Barbara, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Lizzy will, daß mein Model für eine Kampagne arbeitet, die alle Schichten der schwarzen US-Bevölkerung ansprechen soll. Sie will die Bilder, dem Mädchen aber nicht das Geld dafür zugestehen. Welch ein Teufelskreis! Aber Barbara war entschlossen, für ihre Mädchen zu kämpfen. Nicht selten jedoch wechselte ein schwarzes Model irgendwann zu einer ›weißen‹ Agentur, in der Annahme, daß dies zu seinem Vorteil sei und es dort größere Chancen habe. Tatsache war aber, daß der profitsüchtige weiße Agent sich zuerst um seine weißen Mädchen kümmerte. »Barbara, vergiß nicht, daß du dich mit den neuen Mädchen um elf Uhr triffst.« Sie hatte es nicht vergessen. Eine von ihnen war sogar extra aus England herübergekommen. Grace Brown von Etoile in -242-
London, vor der Barbara großen Respekt hatte, hatte angerufen und ihr alles über Amy La Mar erzählt, die dort die ›Girl-of-theYear‹-Wahl gewonnen hatte und zum Finale nach New York ins Plaza Hotel kommen würde. Barbara ging in ihr Büro und setzte sich an ihren Schreibtisch, um einen Moment lang Ruhe zu finden. Ihre Bürotür hatte ein Fenster, durch das sie sehen konnte, wie die beiden jungen Frauen ankamen und aufgefordert wurden, sich zu setzen und zu warten. Sie waren beide sehr hübsch. Die eine trug eine n recht dramatischen, platinblonden Bürstenhaarschnitt, die andere einen langen Zopf mit goldenen Strähnchen. Barbara erinnerte sich an die Tage, als sie selbst noch geflochtene Zöpfe getragen hatte, die von einer Haarbrosche zusammengehalten wurden. Sie konnte die Mädchen nicht hören und wußte daher nicht, welche der beiden aus England kam. Barbara tippte auf die Zopfträgerin, doch sie täuschte sich. Wenn Barbara richtig sah, waren beide farbig. Die eine schien ein Mädchen mit Kampfgeist und Biß zu sein - der Typ, der sagt: »Mach mich nicht an, die Nummer kenn' ich längst!« Sie sah aus, als hätte sie vor nichts Angst, weil ihre Familie sie in dem Glauben erzogen hatte, daß sie hübsch sei, stolz auf sich sein könne und sich von niemandem etwas weismachen lassen solle. Doch hinter ihrer coolen Fassade war dieses Mädchen oft unsicher und benötigte sanfte Ermutigungen auf seinem Weg zum Erfolg. Die andere schien das genaue Gegenteil zu sein. Sie hatte beide Seiten der Medaille kennengelernt und erfahren, daß es einen subtileren Weg gab, nach oben zu kommen, man mußte nicht immer die Muskeln spielen lassen. Barbara wußte nur zu gut, daß schwarze Mädchen doppelt so bescheiden auftreten mußten wie andere. Dieses zweite Mädchen war in dem Bewußtsein aufgewachsen, zu einer Minderheit zu gehören, und sie war sich völlig darüber im klaren, daß sie als Model immer in der Situation sein würde, jemand anderem gefallen zu müssen -243-
und dabei trotzdem nicht unbedingt erste Wahl zu sein. Doch diesem Dilemma waren nicht nur die schwarzen Mädchen ausgesetzt. Alle Models hatten das Problem, daß jemand anderes über ihr Schicksal entschied. Sie alle gingen zu einem Bewerbungstermin in der Hoffnung, daß der Klient genau sie als geeignet für den Job befinden würde. Ein schwarzes Mädchen mußte allerdings zudem noch ständig bangen, daß der Kunde es womöglich aufgrund seiner Hautfarbe ablehnte. Für eine Schwarze war es also nur zu natürlich, sich innerlich ständig zu ducken. Ganz egal, wie ausgeprägt ihr Selbstbewußtsein war, sie mußte am eigenen Leibe erfahren, was draußen in der Welt vor sich ging. Sie würde sich die Worte ›Schwarze Mädchen, nein, danke! ‹ anhören müssen, und so sehr sie sich auch bemühen würde, das zu vermeiden, irgendwann würde sie es unweigerlich persönlich nehmen. Manchmal konnte es sich wie ›Nein, nein, Hunden ist der Zutritt hier untersagt! ‹ anhören. Barbara wußte aus eigener Erfahrung, daß Bescheidenheit sich am Ende auszahlte - sowohl für schwarze als auch für weiße Models. Gleichgültig, wie oft man seinem Spiegelbild gegenüberstand, die Starke spielte und sich selbst einredete: ›Ich werde jetzt da rausgehen und diesen Job bekommen, ich bin genau die, die sie haben wollen‹ -, es half rein gar nichts; wenn man in diesem Spiel erfolgreich sein wollte, war es das Klügste, niemanden zu beleidigen, sich gut zu benehmen, stets freundlich zu sein und nichts übers Knie brechen zu wollen. Das Model sollte bescheiden bleiben und seinem Agenten die harte Arbeit überlassen. Wie es schien, warteten da draußen zwei Musterbeispiele für die beiden Kategorien von Mädchen. Irma Washington stand vor ihr, kaum daß Barbara ihre Bürotür geöffnet hatte. »Hallo! Hier ist meine Mappe, die ich eigenhändig zusammengestellt habe. Ich hab' mich von jemandem fotografieren lassen, und ich weiß genau, was von -244-
mir erwartet wird. Kann ich schon heute nachmittag zu einem Magazin gehen? Ich kenne einen guten Visagisten, der eine Menge von mir hält.« Barbara sah sich die Mappe an. Die Bilder waren schrecklich und wurden dem Mädchen überhaupt nicht gerecht. Sie war geschmeidig und sexy und sich dessen auch bewußt, denn sie machte keinen Hehl daraus. Irma hatte eine gute Haltung, das war schon richtig. Vielleicht hat sie sogar zuviel Haltung, dachte Barbara. Das konnte zu einem Problem werden. Das andere Mädchen, das englische mit dem kurzen Haarschnitt, war das genaue Gegenteil. Sie kam herein, begrüßte sie und gähnte. Eilig hielt sie sich die Hand vor den Mund, und ihre Augen weiteten sich erschrocken. »Tut mir wirklich sehr leid… Ich wußte nicht, daß…« Das Mädchen war sehr charmant und ganz natürlich. Sie hatte eine wunderschöne, ebenmäßige dunkle Haut und ein unwiderstehlich sympathisches, irgendwie erschrockenes Lächeln. »Die Zeitverschiebung«, lächelte Barbara zurück. »Das passiert uns allen mal. Kann ich bitte deine Bilder sehen?« Amy reichte ihr die Mappe und saß still dabei, während Barbara sich die Bilder ansah. »Sie sind gut. Wer hat sie aufgenommen?« »Oh, ein Freund meines Freundes. Er wird sich sehr freuen, daß Sie die Fotos mögen.« »O ja, das tue ich wirklich. Dreh bitte mal für mich den Kopf zur linken Seite. Und jetzt, Amy, zur rechten. Gut. Zeig mir deine Hände. Wunderschön. Jetzt geh mal auf und ab.« Sie war entzückend und ging wunderbar natürlich. Lange Beine, lange Arme und anmutige Bewegungen. »Warst du bei der ›Girl-of-the-Year‹-Wahl nervös?« Sie nickte, und ihre grünen Augen weiteten sich erneut, -245-
diesmal erwartungsvoll. »Du hast dort bestimmt alles richtig gemacht«, versicherte ihr Barbara. »Was immer passieren mag, sag dir einfach, daß es dazugehört, Erfahrungen zu sammeln, und denk daran, daß es dadurch einer Menge von Leuten möglich war, dich in Augenschein zu nehmen. Das ist wie bei einem Bewerbungsgespräch. Gut, hast du bereits dein Apartment gesehen?« »Grace Brown hat mir das Apartment in der Spring Street gegeben. Ein englisches Model ist gerade dort ausgezogen und zurück nach Hause geflogen, und so konnte ich ihr Zimmer beziehen. Auf dem gleichen Stock wohnt auch ein Pärchen, mit dem sie sich angefreundet hatte. Ich würde mich ihnen ge rne vorstellen, damit sie ein wenig auf mich aufpassen. Ich bin etwas ängstlich, denn ich habe vorher noch nie allein gelebt. Außerdem war ich noch nie von zu Hause weg.« Barbara kritzelte etwas auf ein Stück Papier. »Hier hast du meine Privatnummer. Du kannst mich jederzeit anrufen. Ich werde dich unter meine Fittiche nehmen. Du wirst zwar die meiste Zeit in der Agentur sein, aber nimm die Nummer für den Fall mit, daß du mich abends erreichen möchtest. Ich kenne das Apartment, in dem du wohnst. Ich selbst habe es Grace vorgeschlagen. Ich habe schon vorher Mädchen dort untergebracht und weiß, daß du dort sicher bist. Ich kenne auch das Paar auf der anderen Seite des Flurs. Die Frau arbeitet bei einer Zeitschrift. Ich werde die beiden anrufen und ihnen sagen, daß sie mal nach dir sehen sollen. Geh jetzt nach Hause und schlaf dich erst einmal aus. Morgen schauen wir dann mal, wo wir dich zuerst hinschicken.« Draußen machte Barbara Amy mit Irma bekannt. »Hallo«, sagte Amy mit einem warmen Lächeln. Irma ergriff Amys Hand, erwiderte das Lächeln jedoch nicht. Oha! dachte Barbara. Diese Paranoia unter schwarzen Models -246-
derselben Agentur hatte sie schon oft beobachten müssen. Die Geisteshaltung der Außenwelt ließ die Mädchen nicht unberührt: es gab halt nur für eine Platz, und da wollte jede der einzige Fisch im Teich sein. Irma war schon jetzt eifersüchtig auf Amy, obwohl die beiden noch bei keinem einzigen Bewerbungstermin gewesen waren. Daran waren auch die Medien schuld. Warum mußten sie Naomi unbedingt mit Tyra vergleichen? Konnten sie nicht Linda oder Tatjana mit Tyra vergleichen? Oder Claudia mit Brandy? Oder Imán mit Christy? War das nicht die altbekannte Sklavenmentalität? Der Neger im Haus gegen den Neger auf dem Feld? Dem einen war der Besitzer wohlgesonnen, den anderen behandelte er schlecht. Das Problem daran war, daß jedes schwarze New Yorker Mädchen die niederen Beweggründe der mächtigen Weißen kannte und sich bedroht fühlte, sobald ein zweites in Erscheinung trat. »Ich bin stolz, euch beide in meiner Agentur zu haben«, sagte Barbara daher zu Amy und Irma. »Ihr seid so grundverschieden, daß ihr sicher beide Erfolg haben werdet. « Irma sah trotzdem nicht sonderlich überzeugt aus und ging hinaus, ohne sich von Amy zu verabschieden. Amy schaute ihr traurig nach und sagte ihr so leise etwas hinterher, daß Barbara es nur erahnen konnte. »Ich werde für sie beten. Sie braucht unsere Gebete.« Aber du bist die, die sie verdient, dachte Barbara, du verdienst sie wirklich. Edward P. Ross war als schwarzer Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika ständig darauf bedacht, seine Position zu sichern. Als Abteilungsleiter bei der Computerfirma ManCom rechnete er sich aus, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis sein jetziger Job der Vergangenheit angehören und er eine Hauptrolle in der Welt der Weißen spielen würde. Aber er war noch immer ein schwarzer Bruder, noch immer der Eddie Cool, der er schon -247-
zu Schulzeiten gewesen war. Und so handelte er, wie jeder es tat, getreu dem Motto: teile dein Leben auf, und es wird wunderbar. Er arbeitete Uptown, trug Achthundert-DollarAnzüge er besaß nur zwei davon und wechselte sie regelmäßig und hatte das Ghetto seiner Kindheit in der südlichen Bronx längst hinter sich gelassen. Jetzt lebte er in SoHo in einem kleinen Apartment in der Spring Street und genoß es, am Wochenende Teil der Modewelt zu sein. Das war so, seit er einmal zufällig in eine Ausstellungseröffnung hineingeplatzt war und sich bei dieser Gelegenheit mit einem Designer angefreundet hatte. Nun hatte ihn dieser Designer zum Essen eingeladen und ihn gebeten, seine Freundin mitzubringen. Aber Eddy hatte keine. Zumindest keine, die er in ein solch schickes Restaurant hätte mitnehmen können. Und wenn er die Erfolgsleiter wirklich weiter hinaufklettern wollte, mußte er sich bald mal Gedanken darüber machen, wie er eine Frau fand, die seinem künftigen Status angemessen war. Doch zunächst stand dieses Dinner an. Er dachte gerade über dieses Problem nach, während er das Haus betrat, in dem er wohnte. »Haben Sie einen Augenblick Zeit…?« Sie ging hinter ihm die Treppe hinauf und war umwerfend groß, langbeinig und einfach zum Anbeißen. »Selbstverständlich doch! Komm doch herein. Wohnst du hier?« »Ich bin gerade eingezogen. Zweiter Stock. Nein, hier bezeichnet man das Erdgeschoß ja als erster Stock, nicht wahr? Demnach wohne ich also im dritten Stock.« Ein englischer Akzent! Und sie ist ins Modelapartment gezogen. Ein englisches Model. Konnte es eine stilvollere Begleitung für seine Verabredung zum Essen geben? »Hast du heute abend schon was vor, Schwester? Wie heißt du eigentlich?« -248-
»Amy. Amy La Mar. Nett, Sie kennenzulernen.« »Noch netter, dich kennenzulernen. Ich bin Eddie Ross. Willst du heute abend mit mir essen gehen und ein paar meiner Freunde kennenlernen?« »Ein paar Freunde von Ihnen kennenlernen? Ich habe ja gerade mal Sie kennengelernt. Nein, tut mir leid. Also dann…« Sein Arm versperrte ihr den Weg zur Tür. Er war ein wahrer Riese. Sein Kopf war enorm, sein Gesicht vierkantig, und seine dicken wulstigen Lippen wurden von einem fe inen Schnurrbart gekrönt. Die Goldkronen auf seinen Zähnen waren fast so groß wie der Ring an dem kleinen Finger der Hand, die ihr den Weg versperrte. »Willst du mich beleidigen, Schwester?« »Hören Sie auf, mich Schwester zu nennen.« Amy war nervös, und das schon seit ihrer Ankunft in New York, genauer gesagt, schon seit Beginn des Fluges, denn sie hatte zum erstenmal in einem Flugzeug gesessen. Amy wußte, daß ihre Fantasie mit ihr durchging und sie zuviel über die Gewalt auf den Straßen von Manhattan nachgedacht hatte. Doch dieser Schrank von einem Mann flößte ihr mehr Angst ein als jeder, dem sie bislang begegnet war. »Lassen Sie mich durch! Ich brauche ein wenig Schlaf. Ich bin erst gestern aus London gekommen.« »Diesmal laß ich dich gehen. Aber nur dieses eine Mal. Du solltest mich bald in deinen Terminkalender einplanen…« Und als sie die Treppe hinaufstieg, hörte sie hinter sich ein leises Zischen… »Sch-sch-schwester!«
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London, 1994 Ich weiß, es klingt verrückt, aber könntest du mir sagen, ob ein Typ namens Tommy Lawrence hier öfter aufkreuzt?« fragte Cassie den Barkeeper in Joe's Cafe in der Draycott Avenue. »Hey, kommt ein Tommy Lawrence manchmal hier vorbei?« rief der Mann hinter der Theke laut. »Tausende, und das ständig. Wer fragt nach ihm?« »Die junge Dame hier. Nimm keine Notiz von ihm, Liebes«, fügte er hastig hinzu, als er sah, wie Cassie ihr Gesicht verzog. »Er will dich nur aufziehen. Kann ich was für dich tun?« »Oh, nur 'ne Diät-Cola. Du würdest es doch wissen, wenn er hier Stammkunde wäre, oder?« »Ja, ich würde sein Gesicht kennen, aber ich wüßte nicht unbedingt seinen Namen. Hast du ein Foto?« Das war das Problem. Sie besaß kein Bild von ihm - außer jenem in ihrem Kopf, aber das war so klar wie der Tag, an dem sie am Strand von Alice Beach über ihn gestolpert war. »Du willst den Typen wirklich finden, was?« sagte der Barkeeper, nachdem Cassie ihren Kopf geschüttelt hatte. Nein, sie hatte kein Bild. »Wie kommst du denn auf die Idee, ihn hier zu suchen?« Es war noch früh am Abend, und die Bar war noch so gut wie leer. Er hatte Zeit, ihr zuzuhören, zumal er sich selbst seit jeher für einen Romantiker hielt. Cassie erzählte ihm, wie sie den weiten Weg von New York hierher auf sich genommen hatte, um einen Mann zu finden, den sie nur zweimal in ihrem Leben gesehen und der sich seitdem nie wieder bei ihr gemeldet hatte. Ein Mann, der überall auf der Welt leben könnte und der Kleinen weisgemacht hatte, daß er dem Landadel angehöre und -250-
in der Stadt arbeite - ein Typ, den man, so hatte man ihr erzählt, an Orten wie dem Joe's oder dem Daphne's am Ende der Straße, dem Foxtrot Oscar, dem Tramp, dem San Lorenzo oder irgendeiner anderen angesagten Kneipe treffen würde. Nachdem er die Geschichte gehört hatte, war der Barkeeper der Meinung, daß dies die beschissenste Story sei, die ihm je zu Ohren gekommen war. »Flieg nach Hause, Schätzchen«, schlug er ihr daher vor. »Es ist viel einfacher für dich, eine Nadel im Heuhaufen von Manhattan zu finden.« Wenn sie nur dahin zurück gekonnt hätte! Cassie wußte, daß sie es sich mit den Ihren verscherzt hatte. Von nun an war sie nur noch Cassie Dylan, Cassie Zimmerman existierte nicht mehr. Sie konnte noch die Stimme ihrer Mutter hören, die immer wieder die beschwörenden Worte wiederholt hatte: »Verärgere deinen Vater nicht. Ich warne dich, Cassie, verärgere deinen Vater nicht.« Es war lächerlich. Ihren Vater zu verletzen war das letzte, was sie gewollt hätte. Als sie im Radio die Nachrichten über das Erdbeben in Los Angeles gehört hatte, war sie schnurstracks nach Hause geeilt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß sie zuvor die Agentur darüber hätte informieren müssen. Sie fand ihre Mutter am Rande eines Nervenzusammenbruchs vor. Kari packte gerade ihre Koffer und wollte das nächste Flugzeug nehmen, das sie nach Kalifornien bringen würde. Während des Erdbebens hatte AI Zimmerman einen Herzinfarkt erlitten. »Mit seinem Vater ging es genauso zu Ende«, hatte ihre Großmutter Doris Zimmerman den Vorfall lakonisch kommentiert. Cassies Vater kam durch, aber dieses Ereignis hatte ihn in seiner Meinung bestätigt, Kalifornien zu verlassen und nach New York zurückzukehren. Er war nicht bereit, auch nur eine -251-
Minute länger zu bleiben. Die Anweisungen des Arztes waren jedoch unmißverständlich: Al sollte strikte Ruhe wahren. Er war zwar glücklicherweise noch einmal davongekommen, aber er durfte sich unter keinen Umständen aufregen und sollte jeden Streß und jede Auseinandersetzung vermeiden. Als Cassie ihren Vater dann bat, ihr Geld vorzustrecken, weil sie nach London wollte, um ihre Modelkarriere auszubauen, war er in Wut geraten und angesichts dieser idiotischen Idee völlig auf der Haut gefahren. Natürlich hatte sie ihm nicht erzählt, daß Tommy Lawrence der wahre Grund für ihren Reisewunsch war. Kari Zimmerman hatte ihre Tochter beiseite genommen und in ungewohnt scharfem Ton auf sie eingeredet. »Wie kannst du deinem Vater so etwas nur antun? Du hast gehört, was der Arzt gesagt hat, du warst doch dabei. Hat sich denn die fixe Idee deiner Modelkarriere so in deinem Kopf festgesetzt, daß du nicht mehr in der Lage bist, klar zu denken? Ich werde morgen in der Agentur anrufen und ihnen mitteilen, daß sie dich aus ihren Büchern streichen sollen. Du wirst hierbleiben und mir mit deinem Vater helfen. Und du wirst ihn nicht aufregen, auf keine n Fall.« Cassie war zwar nicht stolz auf das, was sie danach getan hatte, fühlte sich gleichzeitig aber auch nicht hundertprozentig schuldig. Schließlich war auch sie, wie viele andere Kinder in Beverly Hills, zu einem verwöhnten Balg herangewachsen, und ihre Eltern selbst hatten sie so erzogen. Obwohl man ihr die Lebensphilosophie ›Mache deinen Weg, komme, was wolle‹ vermittelt hatte, hatte sie doch stets die schützende Hand ihres Vaters über sich gehabt. Sie wußte, daß sie Al Zimmerman jederzeit um den kleinen Finger wickeln konnte und ihn nur ein bißchen länger bearbeiten mußte, um an das Geld für die Europareise zu kommen. Sie mußte ihm einfach klarmachen, was dies für seine kleine Tochter bedeutete, wie dankbar sie dafür wäre und so weiter. Schon vor lä ngerer Zeit war Cassie klargeworden, daß Kari keinen annähernd so großen Einfluß auf -252-
ihren Ehemann hatte. Aus diesem Grund hatte sie auch versucht, Cassie von ihm fernzuhalten. Cassie war überrascht, daß sie sich plötzlich mit einer neueren, stärkeren Kari Zimmerman konfrontiert sah. Also mußten schnell neue Strategien her. »Hat Großmutter dir eigentlich jemals gesagt, wie gerne sie es noch erleben würde, Urenkel zu sehen?« hatte Cassie ihre Mutter beiläufig gefragt, als sie eines Abends in Doris' Küche das Abendessen vorbereiteten. »Natürlich, du weißt doch, daß sie ganz versessen darauf ist.« »Ich frage mich, was sie wohl denken würde, wenn sie wüßte, was mit ihrem ersten Urenkel geschehen ist.« »Cassie… Nein, das glaube ich einfach nicht… Das würdest du doch nicht tun. Du machst bestimmt Scherze. Du hast ihr doch nichts von der Abtreibung erzählt?« »Noch nicht.« Cassie legte die Karotten zur Seite und begann, die Zwiebeln zu schneiden. »Meine Augen beginnen schon zu tränen. Würdest du dir nicht auch wünschen, wir wären noch in Kalifornien und hätten Angelina für derartige Arbeiten?« »Cassie, lenk nicht vom Thema ab. Warum hast du davon gesprochen? Doris würde entsetzt sein. Du darfst ihr nichts davon erzählen. Dein Vater würde sterben, wenn er wüßte, daß sie es erfahren hat.« »Das war doch nur so eine Bemerkung, Mutter. Ich werde nichts verraten, aber laß mich mit Vater über meine Reise nach Europa reden.« Kari hatte sich stärker verändert, als Cassie geglaubt hatte. Sie war wegen ihres Mannes zwar sehr beunruhigt, sorgte sich aber im gleichen Maße auch um ihre Tochter und zog es deshalb vor, selbst mit Al zu sprechen und einige Bedingungen zu stellen. »Du hörst es von mir, Al, damit du dich nicht so sehr darüber aufregst. Versprich mir, daß du dich nicht ärgern wirst. Ich hasse es, noch mal davon anfangen zu müssen, aber du weißt, daß -253-
unsere Tochter vor ein paar Jahren ein kleines Problem hatte. Wir werden das jetzt nicht näher erörtern, aber es ist in diesem Zusammenhang wichtig. Ich wollte dir nur sagen, daß sie jetzt kindische Methoden einsetzt, um ihre Europareise durchzusetzen. Sie hat damit gedroht, deiner Mutter von dieser… Sache zu erzählen. Ich weiß, was das für dich bedeuten würde, aber sie wird es ihr nicht erzählen - keine Sorge, schließlich kennen wir Cassie. Sie ist auf ihre Art ein süßes Mädchen, aber diese Sache damals hat sie irgendwie fertiggemacht. Das ist normal. Also, lassen wir sie nach Europa gehen. Bezahl ihr das Ticket, Al. Du mußt es tun. Ich habe mit der Agentur gesprochen, und sie stimmen mir zu. Sie schätzen ihre Chancen nicht allzu hoch ein und wollen daher das Ticket nicht bezahlen, aber sie benachrichtigen ihr Londoner Büro, und dann kann sie dort ihr Glück versuchen. Aber gib ihr nur Geld für einen Monat. Wenn sie das Zeug dazu hat, es dort zu schaffen, wird sie ihr eigenes Geld verdienen. Ansonsten wird sie wieder nach Hause kommen.« Cassie hatte nie erfahren, warum ihr Vater ihr plötzlich ein Open-Return-Ticket nach London geschenkt hatte, aber sie hatte sich über seine Beweggründe auch gar keine großartigen Gedanken gemacht. Statt dessen war sie sofort mit der ersten Maschine nach England geflogen. Während des ersten Monats in London fühlte sie sich noch schrecklicher als nach ihrer Abtreibung. Das kleine Schlafklo, das sie ange mietet hatte, ließ sie wehmütig an den häuslichen Luxus in Doris Zimmermans Wohnung denken, ganz zu schweigen von den Beverly-Hills- und Malibu-Palästen ihrer Kindheit. Das Zimmer befand sich in der Earls Court Road und war mit einer Kochplatte neben dem Waschbecken ausgestattet. Es gab keinen Kühlschrank, und das Bad am Treppenabsatz mußte sie sich mit anderen teilen. Bald sah sie in ihrer Fantasie Ratten und entwickelte noch schlimmere Horrorvisionen, so daß sie es morgens manchmal nicht schaffte, aus dem Bett zu -254-
kommen. Ihr einziger Lichtblick war ein Besuch am Kiosk am Ende der Earls Cour Road, wo sie ihre Zeitung kaufte. Der Besitzer, ein Mr. Tucker, hatte immer für ein kleines Schwätzchen Zeit. Er erzählte ihr, daß er eine Tochter in ihrem Alter habe und sehr stolz auf sie sei. Sie sei Model, und er freue sich schon auf den Tag, an dem ihr Bild auf der Titelseite einer seiner Zeitschriften erscheinen würde. Zur Zeit sei sie gerade in Mailand, und ihren Briefen zufolge würde es ihr dort sehr gut gehen. Zu schade, daß sie nicht in London sei, er würde sie ihr gerne vorstellen. Cassie war zu verlegen, um ihm zu erzählen, daß sie ebenfalls Model werden wollte. Und sie war zu stolz, um zur LondonerEtoile-Agentur zu gehen. Sie wußte, daß sie dort nicht allzu große Chancen haben würde, denn anderenfalls hätte man ihr das Ticket bezahlt oder sie irgendwie anders unterstützt. Daher wollte sie es woanders versuchen. Als sie eines Tages über die Oxford Street spazierte, hing in einem Schaufenster ein Zettel mit folgendem Wortlaut: VorführModel gesucht. Keine Berufserfahrung nötig. Sie ging hinein. »Welche Kleidergröße haben Sie?« »Die amerikanische Größe zwölf.« »In England ist das zehn. Das ist zu klein für uns. Versuchen Sie's mal auf der anderen Straßenseite. Die suchen auch jemanden.« Man engagierte sie für sechs Wochen, und ihr Job bestand darin, vor potentiellen Käufern in einem Raum auf und ab zu gehen und die Designermode der Saison vorzuführen. Es war langweilig, auf der anderen Seite aber auch nützlich. Cassie erhielt auf diese Weise Informationen, an die sie nirgendwo anders hätte gelangen können. Sie lernte, welche Modelle den Harrods, den Fenwicks und den Narvey Nichols' gefielen und warum. Sie erlebte, wie die Kollektion für die kommende Saison bestellt wurde. Sie lernte auch, sich schnell an- und auszuziehen, -255-
und zwar binnen weniger Sekunden. Und indem sie die anderen Mädchen beobachtete, schaffte auch sie es bald, sich bereits aus den Kleidern zu pellen, nachdem sie gerade erst den Vorführraum verlassen hatte. Schnelligkeit war Kapital in diesem Job. Insgesamt gab es nur vier Models, also mußte sie immer schon bereit sein, wenn eines der Mädchen von der Bühne kam. Anschließend mußte sie die Kleider, die kreuz und quer auf verschiedenen Haufen lagen, ordnen und wieder auf die Bügel hängen. Für jemanden, der früher ein Hausmädchen gehabt hatte, war dies eine völlig neue Erfahrung. Cassie haßte es. Sie haßte es, jeden Tag in dem engen Vorführraum darauf zu warten, bis ein Kunde kam, der die Kollektion sehen wollte; und sie haßte es, jedesmal fragen zu müssen, ob sie einmal kurz zur Bank oder auf die Toilette gehen dürfe. Sie begann morgens um neun Uhr und blieb manchmal bis abends um acht, um dann hundemüde in ihr Schlafklo zurückzukehren. Außerdem haßte sie den wenig fachmännischen Blick der Kunden, der sich schon dadurch verriet, daß sie es nicht honorierten, wenn sie einmal ein wirklich extravagantes Outfit vorführte. Sie hielten es regelmäßig für ein einfaches Designerstück. Die anderen Models drängten sie, doch zur Agentur zu gehen. Viele der Mädchen waren bei Etoile und bestätigten ihr, daß dies die beste Agentur der Stadt sei. »Du solltest nicht hier in einem Vorführraum versauern und jeden Tag die gleichen Kollektionen zeigen«, bekam sie immer wieder zu hören. »Das macht dich noch verrückt.« Sie mußte ihren Stolz endlich überwinden. Wenn sie allerdings gewußt hätte, daß Etoile sie direkt nach Hamburg schicken würde, wäre sie wahrscheinlich in ihrem Vorführraum geblieben. »Du weißt, was die Mädchen erzählen«, sagte Angie, die Bookerin für neue Gesichter. »Lernt die D-Mark lieben! Die -256-
Deutschen werden dich mögen, und sie bezahlen gut. Sehr viele Deutsche Mark. Sie zahlen zwar keinen fantastischen Tagessatz, aber sie buchen dich dafür direkt für zwei bis drei Wochen. Du siehst aus wie das ›Mädchen von nebenan‹, und das schätzen sie.« So teilte sie sich in Hamburg ein weiteres Schlafklo mit einer Holländerin, die nicht sehr gut Englisch sprach. Dort war es fast genauso schlimm wie in London, doch die Leute vo n Otto, diesem großen deutschen Versandhaus, waren so zufrieden mit ihr, daß sie Cassie nach Teneriffa in ihr Open-air-Studio schickten. Dieses Studio war massiv gebaut, groß, konkav und mit fliehenden Wänden, so daß es keinerlei Ecken gab. Wenn die Sonne den Himmel entlangwanderte, drehte Cassie sich mit. Auf diese Weise hatten sie den ganzen Tag über Sonnenlicht. Das war das Nonplusultra in der deutschen Modebranche - aber wie hart mußte sie dafür arbeiten! Danach kehrte sie nach London zurück und hatte genug Geld in der Tasche, um sich eine nette Wohnung in Chelsea, in der Old Church Street nahe der King's Road, mieten zu können. Das Haus lag nahe am Fluß, und Cassie mochte das Läuten der Kirchenglocken am Ende der Straße. Sie freundete sich mit einem anderen Model an, das sie auf die Portobello Road begleitete, wo sie mehrere antike Schnäppchen erstand, mit denen sie ihr neues Zuhause einrichtete. Jeden Tag kaufte sie sich frische Blumen und zündete abends Duftkerzen an. Ihr einziger Antrieb für all das war, daß sie eines Tages Tommy mit nach Hause bringen würde. Und dessen erster Eindruck von ihrer Wohnung mußte perfekt sein. In der Agentur plagte sie die anderen mit ihren Fragen, wo man in London einen Mann finden könne, der Ländereien besaß und in der Stadt arbeitete. »Wo in der Stadt? Weißt du nicht wenigstens den Namen der Bank, in der er arbeitet? Und was heißt - auf dem Land? England ist zwar nicht so groß wie Amerika, aber wir haben hier -257-
wirklich riesige Ländereien«, erzählte man ihr nicht ohne Belustigung darüber, daß sie einen Freund finden wollte, der fast überall sein konnte. Besonders Mills und Boon hatten ihren Spaß daran, ihr die Namen aller möglichen Bars und Restaurants zu geben, und sie mußten sich schwer beherrschen, um bei der Vorstellung, wie sie die halbe Stadt nach ihm abklapperte, nicht lauthals loszulachen. »Irgendein Zeichen von Tommy?« wurde bald zur Standardfrage, mit der Cassie in der Agentur regelmäßig begrüßt wurde. »Tja, in Joe's Café kannte ihn keiner, im Daphne's auch nicht, aber heute abend versuch ich's mal im San Lorenzo«, berichtete sie, bevor sie die Kurzbeschreibung der Jobs auf der Castingtafel studierte. Mädchen mit langen Beinen, blauen Augen, blond, und sie mußt gute Zähne haben, las sie. Junge: Groß, romantischklassisches Aussehen, dunkles Haar, sehr englisch. »Hey, das könnte doch was für dich sein«, sagte Angie. »Das ist Werbung für Zahnseide, wußtest du das schon? Sie haben nach amerikanischen Mädchen gefragt, denn sie glauben, daß alle amerikanischen Mädchen gute Zähne haben. Willst du es versuchen?« »Kann ich machen«, antwortete Cassie. Mit der Adresse in der Hand machte sie sich auf den Weg. Wenn sie fünf Minuten später losgegangen wäre, hätte sie noch hören können, wie Ashley vom Booking Table für Männer rief: »Hey, Angie, gib uns mal die Adresse von der Zahnseidenwerbung. Die suchen ja auch einen Mann, und Tommy Lawrence kommt nach dem Wochenende bestimmt mit eingezogenem Schwanz aus Mailand zurück. Er hat dort wahrscheinlich keinen einzigen Job bekommen. Wir könnten ihn doch dahin schicken.« »Gut, dann haben wir ja endlich einen Tommy für Cassie -258-
gefunden. Was hat sie noch mal gesagt, wie sein Nachname war? Ich glaube, den hat sie noch gar nicht erwähnt…« Lindy-Jane Lohnson lag in einem Badedas-Schaumbad und hörte sich das Band mit dem Interview an, das sie noch schnell mit Celestia Fairfax hatte führen können, bevor diese aufgebrochen war, um nach New York zurückzukehren. Sie schnitt ihre Telefonate stets mit. In England war es vorgeschrieben, daß der Gesprächspartner in diesem Fall alle fünfzehn Sekunden einen Warnton hören mußte, ein seltsames, undefinierbares ›Piep‹, das die meisten Leute mit einer Türglocke verwechselten, die in der Ferne läutete. Das Mädchen hatte während der ganzen Unterhaltung von Water Detroit geschwärmt. Lindy-Jane hatte große Mühe gehabt, sie von diesem Thema abzubringen und das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Celestia hatte über sich selbst sprechen sollen und, noch wichtiger, über ihre Familie. Das Mädchen hatte rigoros bestritten, daß es irgendeine sexuelle Beziehung zwischen ihr und der Fotografin gegeben hätte, die die Bilder für Carter's gemacht hatte. Nun, sie hätten durchaus eine haben können, hatte Lindy-Jane gedacht, ihr aber trotzdem geglaubt. Lucy Frasers' Bemerkung, daß SWAN ein Familienmitglied der Crichton-Lakes war, die in einem Beinahe-Skandal verwickelt gewesen waren, als ihr Sohn nach der Ermordung eines Kindermädchens im Haus der Familie verschwunden war, hatte Lindy-Jane veranlaßt, in die Bücherei zu eilen und nach den Zeitungsmeldungen aus dieser Zeit zu suchen. Die CrichtonLake-Akte hatte mehr hergegeben, als Lindy-Jane sich erhofft hatte. Demnach hatte es bereits früher eine Tragödie gegeben, als die älteste Tochter Venetia an ihrem achtzehnten Geburtstag zusammen mit ihrem Freund Oliver Fairfax bei einem Autounfall ums Leben kam. -259-
Oliver Fairfax! Lindy-Jane hatte nicht besonders lange nachforschen müssen, um herauszufinden, daß Celestia und Oliver miteinander verwandt waren, und das mußte sie in dem Telefoninterview unbedingt ansprechen. »O ja, mein Gott, das war furchtbar!« antwortete Celestia, die für einen kurzen Moment ausnahmsweise einmal nicht an Water Detroit dachte. »Natürlich war ich damals noch nicht auf der Welt, aber man hat oft darüber gesprochen. Meine Tante und mein Onkel hatten sich so sehr gewünscht, daß die beiden heiraten. Vorher war mein Cousin Oliver mit einer richtigen Schlampe zusammen gewesen.« »Einer Schlampe?« fragte Lindy-Jane nach. »Sicher nicht eine…?« »O doch. Er hat sie bei einer Begleitagentur kennengelernt. Das war einer seiner Streiche während seines letzten Schuljahres.« »Ach, das kann ich gar nicht glauben. So etwas würde er doch nie tun - zu einer Begleitagentur gehen.« »Doch, würde er und hat er auch. Ich habe das nicht vergessen, denn diese Agentur nannte sich Model-Agentur. Sie müssen wissen, meine Großmutter war auch einmal ein Model…« »Und Ihre Mutter natürlich auch…« »Man könnte es so nennen. Meine Oma hat mir alles darüber erzählt. Sie war außer sich, daß dieser Verein sich Modelagentur nannte. Sie hat gesagt, so etwas würde die Branche in ein schiefes Licht rücken.« »Damit hat sie recht. Sie erinnern sich nicht zufällig an den Namen der Agentur?« »Volltreffer! Ich kann mich deshalb daran erinnern, weil es der Name meiner besten Freundin im Internat war: Cécile. Wir -260-
haben uns ständig darüber gestritten, welcher unserer Namen exotischer klingen würde - Celestia oder Cécile. Genau das ist der Name gewesen: Agentur Cécile.« Als sie aus der Badewanne kam, wickelte Lindy-Jane sich ihr Badetuch um und blätterte im Telefonbuch. Da war sie auch schon, die Modelagentur Cécile, mit einer Adresse in Paddington. Sie notierte sich, dort morgen früh als erstes anzurufen und rief auf ihrem Computer das Dokument auf, an dem sie gerade arbeitete: ihre erste Story über SWAN.
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New York, 1994 In den ersten paar Monaten bin ich jeden Morgen aufgewacht und habe mich gefragt, was ich um Himmels willen in New York verloren hatte. Ich hatte so viel Gewalt in amerikanischen Fernsehshows und Filmen gesehen, daß jede Nacht meine Fantasie mit mir durchging. Ich stellte mir vor, ich würde jede Sekunde ermordet oder zumindest vergewaltigt werden. Der Flug hierher war schon schlimm genug. Nie zuvor hatte ich in einem Flugzeug gesessen, schon das Geräusch der Maschinen ängstigte mich. Jeden Morgen mußte ich mich daran erinnern, daß ich die ›Girl-of-the-Year‹-Wahl gewonnen hatte und es mir daher möglich war, New York umsonst zu besuchen. Das passiert normalerweise keinem Mädchen, das in der Siedlung von Portobello Court großgeworden ist. Nachdem Barbara Harper mich unter Vertrag genommen hatte, sah es so aus, als würde es das vernünftigste sein, hier nach Arbeit zu suchen. Aber ich vermißte Marcus die gesamt Zeit über. Natürlich vermißte ich auch meine Mutter und die kleine Tootie. Mutti hatte mir geschrieben, daß sie nachts aufwachte und meinen Namen rief, weil ich ihr so fehlen würde - aber ich muß zugeben, daß ich Marcus doch von allen am meisten vermißte. Bevor ich abgereist war, hatte er zu mir gesagt, ich solle mich hinsetzen, er wolle alles mit mir durchsprechen. Marcus war früher schon einmal in Amerika gewesen und wollte, daß ich die Unterschiede zwischen den Rassenvorurteilen hier und dort begriff. In Amerika hätte der Rassismus andere Ursprünge, die Schuldgefühle resultierten aus dem, was man sich in der Vergangenheit gegenseitig angetan hatte. In unserer Heimat dagegen würden sie sich weniger darauf beziehen, was in England passiert war, als vielmehr auf die Frage, mit welchen Methoden die Engländer ihren Reichtum in ihren Kolonien -262-
erbeutet hätten. Im afroamerikanischen Unterbewußtsein geht es irgendwie immer um das Problem der Sklaverei. In England ist der Rassismus überwiegend in den Innenstädten anzutreffen. Aber wie oft passierte es schon, daß Schwarze vor einer Reihe Polizisten mit Maschinengewehren standen und riefen: »Wir tun nur, was wir wollen!«, während sie erschossen wurden? Es gibt zwar Ausnahmen, aber meistens sind die Leute in England nett zueinander und lächeln, selbst wenn sie hinter deinem Rücken vermutlich sagen: ›Diese schwarzen Bastarde, ich wünschte, sie würden dorthin zurückgehen, wo sie hergekommen sind!‹ In Amerika, da hatte Marcus mich vorgewarnt, wären die Vorurteile und die Art, wie sie sich äußern, viel unverblümter - man sagt sich direkt ins Gesicht, was man vom anderen hält. In unseren Geschichtsbüchern wird immer von längst vergangenen Zeiten gesprochen, wenn es heißt, daß man als Schwarzer früher bestimmte Plätze nicht betreten durfte, doch in Amerika ist so etwas vielen noch ganz frisch in Erinnerung. Ich persönlich ziehe die amerikanische Form des Rassismus vor. Sie ist weniger scheinheilig. Dennoch war es ein Schock für mich zu erfahren, welch große Rolle deine Hautfarbe hier spielt, ganz besonders für ein Model. Barbara hat mich täglich zu mindestens zehn Castings geschickt. Zuerst habe ich mich in der Stadt zurechtfinden und das System der Kreuzungen, Busse und U-Bahn-Linien begreifen müssen. Manchmal mußte ich dreißig Häuserblocks weit zu Fuß durch den Regen gehen, um das Geld für ein Taxi zu sparen. Dann bin ich irgendwo hingekommen und habe irgendwem meine Mappe gezeigt, der mich noch nicht einmal richtig angeschaut hat. Ständig mußte ich mir den Satz anhören: »Sie sind uns zu extrem.« Was soviel hieß wie: ›Sie sind zu dunkel und sehen zu afrikanisch aus.‹ Von Natur aus bin ich höflich und reiße nicht unbedingt meine Klappe auf, aber immer öfter hätte ich die Typen schütteln und dabei rufen können: ›Warum haben Sie das denn nicht meiner Mappe -263-
entnommen? Konnten Sie sich das nicht denken? Warum haben sie keine Fantasie? Warum sind Sie alle blind, wenn es um schwarze Gesichter geht?‹ Ein anderes schwarzes Model hat mir mal einen Leserbrief gezeigt, der 1968 in der Zeitschrift Glamour abgedruckt wurde als Reaktion auf das erste schwarze Model auf dem Cover. ›Schwarz ist häßlich - wenn ich mir schwarze Gesichter ansehen will, kaufe ich Ebenholz.‹ Es gab Zeiten, in denen es mir so vorkam, als hätte sich tatsächlich nicht viel geändert. Bei einem Casting hat ein Typ doch wahrhaftig zu mir gesagt: »Du siehst wie ein Affe aus, deine Lippen sind so dick.« Ich habe daraufhin Barbara angerufen, die mich gebeten hatte, sie über jede Unannehmlichkeit zu informieren; als sie dann mit ihm fertig war, habe ich mich gefragt, ob er wohl jemals wieder arbeiten würde. Als ich dann endlich gebucht wurde, ging immer noch alles schief. Nicht daß ich es nicht mochte, Modell zu stehen, ich liebe es, wenn ich arbeiten kann. Es war wie damals, als Tootie und ich noch Kinder waren, Mutters Kleider anzogen, damit in der Wohnung herumhüpften und jeden zum Lachen brachten. Aber es erstaunte mich, daß Leute, die schon jahrelang in der Modebranche arbeiteten, nicht einmal die grundsätzlichsten Dinge wußten, auf die es ankommt, wenn man mit schwarzen Models zu tun hat. Es gibt wahrscheinlich vierzig verschiedene schwarze Hauttöne, doch das scheinen die Visagisten nicht zu begreifen. Von diesem Zeitpunkt an habe ich stets meine eigene Naomi-Simms-Grundierung mitgenommen. Darüber hinaus bin ich sehr oft ohne Honorar gebucht worden, um im Gegenzug dafür in den Zeitschriften abgedruckt zu werden. Das hätte viele Belegexemplare für meine Mappe bringen sollen, und Barbara hatte mich überredet, es zu tun. Doch leider sind die Fotos nie in den Zeitschriften erschienen. Ein anderes Mal wollte ein Fotograf während der Aufnahmen meinen Drink mit Drogen aufputschen, und ich flippte völlig aus. Ich hatte leider bei den -264-
gesamten Aufnahmen eine solche Angst, daß ich auf den Bildern, die hinterher erscheinen sollten, ganz furchtbar aussehen würde. Wirklich unmöglich. Dann hatte ich zum erstenmal Aussichten, auf eine Titelseite zu kommen. Aber dieses Foto wurde nicht veröffentlicht, weil in derselben Ausgabe ein Feature über schwarze Sportgrößen enthalten war. Sie dachten, wenn dann auch noch ein schwarzes Mädchen auf der Titelseite dazukäme, würde die Zeitschrift zu schwarz. Können Sie sich das vorstellen? Haben Sie schon mal gehört, daß eine Zeitschrift zu weiß sei? Es ist unglaublich, aber bevor ich nach Amerika gekommen bin, war das Thema Hautfarbe nie ein großes Problem für mich. Doch in New York wurde ich tagtäglich damit konfrontiert. Ich konnte zum Beispiel nie verstehen, warum alle vermuteten, daß Marcus ein Schwarzer wäre, ohne überhaupt danach zu fragen. Alles, was ich tun konnte, war, abends nach Hause zu gehen und zu Gott zu beten, er möge mir bei meinem Durchbruch helfen. Ich hing vor dem Fernseher herum oder schrieb Briefe an Marcus. Oder ich holte meinen Skizzenblock heraus und arbeitete an meinen Entwürfen. Von den Szenen auf den New Yorker Straßen wurde ich wahnsinnig inspiriert. Am Sonntagabend traf ich mich mit anderen Mädchen zum Essen bei Barbara zu Hause, und am Montagmorgen kroch ich aus dem Bett und begann wieder mit meiner Runde von Bewerbungsterminen. Mir machte noch etwas anderes Sorge, aber das hatte nichts mit meinem Beruf zu tun. Mom hatte es in ihren Briefen nie erwähnt, die waren nie länger als vier Zeilen und ganz sorgfältig in einer kindlichen Schrift geschrieben: LIEBE AMY, WIE GEHT ES DIR? WIR VERMISSEN DICH. TOOTIE HAT GESTERN EINEN KUCHEN GEBACKEN. ICH MACHE JETZT BESSER SCHLUSS.
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IN LIEBE MOM
Das waren die ersten Briefe, die ich jemals von Mom erhalten hatte. Mir war vorher nie klargewesen, daß sie gar nicht schreiben konnte. Marcus Briefe dagegen waren seitenlang. Er hatte einen Managementkurs auf dem College belegt und wollte eine Fotoagentur aufmachen - Joe sollte einer seiner ersten Kunden sein -, aber anstatt direkt in eine Bildagentur als Praktikant zu arbeiten, um Berufserfahrunge n zu sammeln, wollte er zuerst die geschäftliche Seite des Ganzen genau kennenlernen. Seine letzten Briefe handelten überwiegend von Leroy. Es war zu dumm, daß ich Leroys Ankunft gerade um einen Tag verpaßt hatte. Ich hatte meinen großen Bruder schon so viele Jahre nicht mehr gesehen. Er war jetzt schon fast neunzehn. Marcus schrieb, daß Leroy als richtiger Jamaikaner mit Rastalocken zurückgekehrt wäre. Jeden Abend würde er ausgehen, er bleibe nie bei Mutter und wäre schnell ein Teil der Grove-Gang geworden. Marcus hatte das durch Zufall entdeckt, als er bei der Ladbroke Grove Station Zeuge eines Kampfes zwischen den Grove- und den Hackney-Jungs geworden war. Ein Junge wäre dabei erstochen worden. Doch damit nicht genug. Marcus vermutete, daß Leroy jetzt mit noch schlimmeren Typen rumhing, mit sogenannten Jardies, die er aus Jamaika kannte und die jetzt in London mit Crack dealten. Er wäre Mitglied in einem Club geworden, der aufgrund seiner vielen Jardie-Mitglieder berüchtigt war. Ich erinnerte mich an meine n Traum, in dem Leroy als Teufel aus dem Flugzeug gestiegen war. ›Erzähl es bitte nicht Mom‹, schrieb ich Marcus, obwohl ich mir ziemlich sicher war, daß sie es ahnte. ›Soll ich nach Hause kommen? ‹ fragte ich ihn am Ende jedes Briefes, aber Marcus antwortete immer mit nein. Gleichgültig, wie sehr wir uns auch vermißten, ich solle bleiben, bis ich meinen Durchbruch geschafft hätte. -266-
Ich fühlte mich mies, weil Marcus in bezug auf Leroy so offen zu mir war, ich mich hingegen nicht überwinden konnte, ihm zu erzählen, daß auch ich hier in New York eine harte Zeit hatte. Einige Male war ich so pleite gewesen, daß ich nicht zu den Castings erschien, die Barbara für mich arrangiert hatte, weil ich mir das Bus- oder U-Bahn-Ticket nicht leisten konnte. Als Barbara mich dann deswegen angerufen und zusammengestaucht hatte, mußte ich ihr die Wahrheit sagen. Ich haßte so etwas, denn ich habe meinen Stolz. Seitdem bestand sie darauf, mir regelmäßig einen Vorschuß zu geben, um meine Reisekosten abzudecken. Wie für viele andere Models, ist die Agentur nun also auch für mich zu einer Art Bank geworden, die Geld verleiht. Ich sollte es zurückzahlen, wenn ich regelmäßig verdienen würde. Aber wann würde das soweit sein? Die Agentur hatte mir sogar schon Geld vorgestreckt, damit ich meine Miete bezahlen konnte. Mein einzig regelmäßiges Einkommen bezog ich in dieser Zeit durch Babysitten bei dem Pärchen, das ganz oben wohnte. Elaine und Jordan Franklin waren - zumindest Barbaras Beschreibung zufolge - noch aus den Achtzigern übriggebliebene Yuppies. Er war Anwalt oder Broker oder irgend etwas anderes in der Wall Street, und sie war Kosmetikredakteurin bei einer Zeitschrift. Jordan bemühte sich um Political Correctness, während Elaine das völlig schnuppe war. Katy, ihr Kind, war fünf und ein verwöhntes Gör. Aber ich mochte sie, weil sie so süße kleine Zöpfe hatte, die mich an Tootie erinnerten. Sie hatte ein Kindermädchen, das sie vom Kindergarten abholte, sie nach Hause brachte, fütterte, badete und dann ins Bett steckte. Und wenn Jordan und Elaine abends ausgehen wollten, übernahm ich sie. Ich war noch nie in einer solch ausgefallenen Wohnung gewesen. So etwas nennt man Maisonette, wie man mir erzählte. Das Schlafzimmer war wie für eine Prinzessin eingerichtet. Das Bett hatte einen Himmel, zu beiden Seiten fielen drapierte -267-
Gardinen herab, und auf ihm lagen viele hübsche kleine Kissen. Das Badezimmer war mit Spiegelwänden verkleidet und einem zweiten Klosett ausgestattet. Katy mußte mir erklären: »Nee, das ist kein Klo, da wäschst du deine Muschi, nachdem du Babys gemacht hast.« Beim erstenmal mußte ich sehr lange bei Katy bleiben. Jordan und Elaine waren nicht vor zwei Uhr nachts nach Hause gekommen, und ich hatte bereits um 8.30 Uhr einen Bewerbungstermin. »Der verdammte schwarze Taxifahrer wußte nicht, wie er fahren sollte, und brachte uns erst in Richtung New Jersey.« Das war Elaines Art der Entschuldigung. »Es war ein afroamerikanischer Taxifahrer«, korrigierte Jordan sie. »Er war schwarz, verdammt noch mal, Jordan, und er war kein Afro. Er war Haitianer. Er war kein Koreaner, kein Chinese oder Asiate. Er war schwarz wie Amy.« Jordan zuckte zusammen. »Tut mir leid, Amy.« »Das ist schon in Ordnung«, erwiderte ich. Und es war auch wirklich in Ordnung. Die Haltung von Elaine fand ich völlig vernünftig. Sie mochte einige Schwarze sehr, andere hingegen weniger, und verhielt sich bei den Weißen, die sie kannte, ganz genauso. Aber Jordan wollte ihr das nicht durchgehen lassen. »Wenn der Taxifahrer weiß gewesen wäre, hättest du zu ihm wahrscheinlich nur ›verdammter irischer Taxifahrer‹ oder ›verdammter jüdischer Taxifahrer‹ gesagt. Ich drücke mich gerne genau aus, Jordan. Warum hast du Probleme damit?« So zog sie den armen Jordan immer auf, und ich mußte darüber lächeln. So auch, als ich das erste Mal zu ihnen kam und Elaine mir Kaffee anbot. Sie fragte mich, wie ich den Kaffee haben wollte, und ich antwortete: »schwarz«. Daraufhin bat sie Jordan: »Würdest du Amy bitte einen farbigen Kaffee machen, Liebling?« -268-
Sie sprach mit mir sehr offen darüber, weshalb sie mir nicht zu einer Veröffentlichung in ihrer Zeitschrift verhelfen konnte. »Bei uns lautet die Firmenpolitik: Schätzchen, keine schwarzen Stories. Es kommt zwar keiner an und sagt das so unumwunden, aber man kann es irgendwie zwischen den Worten heraushören. Verstehst du, ich bin nur eine Kosmetikredakteurin und nicht die Herausgeberin. Wenn ich diesen Topjob bekommen sollte, dann werden sich die Dinge ändern - allerdings natürlich nur, wenn ich ein schwarzes Mädchen sehe, das ich mag.« Das mochte ich an Elaine Franklin. Sie hatte keine scheinheilige politische Einstellung und stellte deshalb auch keine Schwarzen ein, wenn diese nicht ihren Vorstellungen entsprachen oder ihr unsympathisch waren. Es war angenehm zu wissen, daß die Franklins so gute Nachbarn waren. Ich hatte fürchterliche Alpträume, die immer mit Feuer zu tun hatten. Elaine gab mir eines ihrer Bücher über Traumdeutung, und ich schlug unter dem Stichwort ›Feuer‹ nach. Ein Brand, der außer Kontrolle gerät, bedeutet, daß Sie unbedingt lernen sollten, ihr feuriges Temperament zu zügeln. Und im Traum ein Feuer zu legen, bedeutet, daß Sie entweder jemanden verführen oder selbst verführt werden… Nun, ich besaß kein feuriges Temperament - außer, daß ich vielleicht meinen Ärger über das Verhalten der New Yorker Modebranche gegenüber den schwarzen Models unterdrückte -, und Marcus war so weit weg, daß es keine Aussicht auf Verführung gab. Dennoch wußte ich ganz genau, wie oft meine Träume wahr wurden. Ich vermute, der Grund dafür, daß ich meine guten Vorsätze eines Abends über den Haufen warf und Eddie Ross' Drängen nachgab, lag darin, daß ich mich so einsam fühlte und Heimweh -269-
hatte. Außerdem war ich so pleite, daß ich mir täglich nur eine Mahlzeit leisten konnte, und da war die Einladung zu einem Abendessen im Restaurant wirklich sehr verlockend. Seitdem wir uns das erste Mal in unserem Treppenhaus begegnet waren, hatte er mich jede Woche eingeladen. Aber ich hatte jedesmal »Nein, danke« gesagt. Ich war zu jung für ihn, gerade einmal siebzehn Jahre alt. Was wollte er von einem Mädchen wie mir? Ich glaube, mir war damals nicht klar,, daß ich mich immer, wenn ich ihn traf, für meine Bewerbungstermine zurechtgemacht hatte und deshalb vielleicht älter aussah. Wie sich herausstellen sollte, gingen wir in kein Restaurant. Eddie hatte etwas vom Bringdienst kommen lassen und das Ganze mit einer Flasche Wein und Kerzen auf seinem Kaffeetisch arrangiert. »Es gibt Hähnchenflügel und Rippchen und allen möglichen anderen Kram. Setz dich einfach hin und genieße es. Ein Glas Wein?« »Ich hätte gerne eine Diät-Cola.« Er schien enttäuscht zu sein. »Baby, wenn wir hier 'ne Fete steigen lassen wollen, mußt du locker werden.« »Diät-Cola ist in Ordnung. Die trinke ich immer.« »Okay, okay. Kommt gleich. Erzähl! Wie kommt's daß ich dich bis jetzt noch nicht auf einem Vogue-Cover gesehen habe?« »Wenn überhaupt, dann wirst du höchstens Naomi Campbell auf einem Vogue-Cover zu sehen bekommen, und selbst das nur alle Jubeljahre.« »Okay, verstanden. Und warum habe ich dich dann noch nicht auf dem Titel von Essence oder Vibe gesehen?« Ich hatte tatsächlich einen Job für Vibe in Aussicht. Andrey Dushunmu, ein Stylist aus Peckham in Südlondon, der in New York und Paris arbeitete, und Geoffrey de Boismenu, seines Zeichens Fotograf, mochten mein Aussehen und wollten mich -270-
für die Xuly-Bet-Kollektion des in Afrika geborenen Lamine Kouaté haben. Barbara redete immer davon, daß es nicht genug Schwarze gäbe, die als Stylisten, Fotografen, Visagisten, Frisöre, Location Scouts an der Basis arbeiteten - Fußvolk eben, das aber die Meinungen beeinflussen konnte. Die Tatsache, daß Andrew mich gesehen hatte und mich mochte, wäre ein großes Plus für mich, sagte sie. Ich erzählte Eddie von meinem Job und erklärte ihm, wie hart das alles für ein schwarzes Mädchen sei. »Na klar! Was hast du denn erwartet? Aber darf ich dich was fragen? Warum trägst du keinen Zopf? Nette lange seidene Zöpfchen statt des kurzen Haars? Das ist es, was die weißen Leutchen sehen wollen. Du mußt so aussehen, wie sie es wollen, wie sie es gewohnt sind.« »Aber ich trage mein Haar nun mal so. Wenn sie wollen, daß ich auf den Bildern anders aussehe, können sie mir für die Fotos ja einen Zopf oder andere Haarteile anstecken. Als nächstes fragst du mich wahrscheinlich, warum ich me ine Haut nicht bleiche, damit ich ihnen gefalle.« Er lachte. »Verdammt, Mädchen, du bist witzig. Komm rüber, und setz dich zu mir.« Ich bewegte mich keinen Zentimeter, also kam er zu mir. Plötzlich saß er neben mir auf der Couch, hatte seinen Arm um meine Schulter gelegt und die Hand in meiner Bluse. Er befummelte meinen Busen und drückte mir seine Zunge ins Ohr. »Verdammt, Baby, du schmeckst gut. Seitdem du hier bist, muß ich immer an dich denken. Dreh dich ein wenig zu mir herum, damit ich mich an dich drücken kann.« Ich kämpfte, um mich zu befreien, doch sein Griff war fest. Er drückte seine wulstigen Lippen auf meine, und ich hörte ihn schwer atmen. Er grapschte nach meiner Hand und legte sie zwischen seine Beine. Unter seinen Jeans konnte ich etwas Hartes und Pochendes spüren. -271-
»Fühl mich, Baby, mach den Reißverschluß auf und hol ihn raus.« Ich wußte, was er damit meinte, aber weil ich bis zu meiner Hochzeit Jungfrau bleiben wollte, waren Marcus und ich nie so weit gegangen. Immer wenn Marcus zu stark erregt war, ließ ich ihn in Ruhe, bis er sich wieder abgekühlt hatte. Ich befreite mich aus Eddies Griff. »Es ist nicht an mir, dir vorzuschreiben, was du zu tun und zu lassen hast, aber ich halte außerehelichen Geschlechtsverkehr für falsch«, sagte ich. »Redest du von dieser Aidskiste?« »Nicht nur davon. Ich mache es einfach nicht, das ist alles.« »Heißt das, du bist noch Jungfrau?« Ich nickte. »Schwester, du weißt nicht, was dir da entgeht!« »Oh, ich weiß, daß es schön ist, aber ich kann warten. Das ist alles.« »Bis wann denn warten? Bis zum Jüngsten Gericht?« »Bis ich verheiratet bin.« »Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Was ist, wenn ich dich erst in die richtige Stimmung bringe?« Seine Hand wanderte an der Innenseite meines Beins nach oben. »Ich schreie das ganze Haus zusammen.« Er hörte sofort auf. »Gibt es bei euch drüben in England auch dieses Scheißgerede von Vergewaltigungen bei Dates?« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« »Erzähl bloß keinem, daß ich versucht hätte, dich zu irgendwas zu zwingen. Ich habe aufgehört, okay? Du hast nein gesagt, und ich habe aufgehört.« Ich wußte partout nicht, was er meinte. Immerhin hatte ich etwas Gutes zu essen bekommen, doch nun wollte ich hier raus. -272-
Ich wußte jetzt, was meine Alpträume vom Feuer zu bedeuten hatten - es war die Angst, verführt zu werden. Doch ich sollte mich täuschen. Katy wollte einfach nicht einschlafen. Sie hörte sich auf dem Kassettenrecorder neben ihrem Bett vier ihrer Gute-NachtGeschichten an und war danach noch immer ganz aufgedreht. »Erzähl mir von Tootie, erzähl mir von Tootie!« bettelte sie. Sie liebte es, wenn ich ihr Geschichten über meine kleine Schwester erzählte. Als ich in ein Bild von ihr zeigte, überraschte sie mich mit ihrer Reaktion: »Sie sieht ja aus wie ich.« Ehrlich gesagt, sie hatte recht, ich hatte das nur nie bemerkt, weil Katy ein weißes Kind war und mir es nie in den Sinn gekommen wäre, daß ein weißes Kind wie ein schwarzes aussehen könnte. Das sage ich nur, um aufzuzeigen, daß Vorurteile auf beiden Seiten vorhanden sind. Schließlich schlief sie ein, und ich ging in die Küche, um mir mein Abendbrot zu machen. Das war ein weiterer Vorteil des Babysittens: Ich wußte, ich würde immer etwas zu essen haben. Barbara hatte mich ermahnt, den doppelten Lohn zu fordern, wenn die Eltern erst nach Mitternacht nach Hause kommen würden. »Du brauchst es, und sie können es sich erlauben. Also verlang es ruhig«, hatte sie bestimmend gesagt. Seitdem Elaine bis in die Nacht feiern konnte - vorausgesetzt, Jordan ließ das zu -, hatte ich bei den Franklins wirklich eine gute Zeit, zumindest solange ich am nächsten Morgen keinen Fototermin hatte. Ich wußte, heute abend würden sie wirklich spät kommen, also machte ich es mir auf dem Sofa bequem und döste ein. Später erzählte man mir, daß das Feuer gegen ein Uhr morgens ausgebrochen sein mußte. In meinem Apartment war es losgegangen - keiner weiß wie -, und wenn ich dort gewesen -273-
wäre, wäre ich wahrscheinlich an einer Rauchvergiftung gestorben. Alles, was man wußte, war, daß es sich rasend schnell ausgebreitet hatte, durch das Treppenhaus hinauf bis zu den Franklins. Durch den Gestank von geschmolzenem Plastik und den Qualm aus der Küche wachte ich auf. Mein erster Gedanke war, daß ich bei der Zubereitung meines Abendessens etwas auf dem Herd vergessen hatte. Doch dann sah ich, daß der Rauch unter der Tür vom Treppenhaus hereinquoll. Katy! Ihr Zimmer lag direkt neben der Treppe. Ich rannte ins Badezimmer, machte ein Handtuch naß, hielt es mir vor das Gesicht und eilte in ihr Zimmer. Zuerst glaubte ich, sie wäre tot, trotzdem holte ich sie aus dem Bett und trug ihren schlaffen Körper in das Zimmer ihrer Eltern. Ich legte sie auf den Boden und versuchte, das Fenster zu öffnen. Es klemmte. Mit einem Stuhl schlug ich die Scheiben ein. Als ich mit Katy in meinen Armen über die Feuerleiter hinabstieg, zerschnitt ich mir an den Scherben die Arme. Unten hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt, und irgend jemand hatte die Feuerwehr angerufen. Als ich mich dem Erdboden näherte, hörte ich Beifall und einige Pfiffe. Die Pfiffe galten bestimmt Eddie Ross, der unter uns zusammen mit einer drallen Blondine - beide splitternackt - die Feuerleiter herunterkletterte. Es war eine dieser überraschenden Launen des Schicksals oder wie immer man das sonst nennen wollte: Gott hatte endlich meine Gebete erhört und mit einem Feuer geantwortet. Die Presse wartete bereits auf uns. Katy war nicht tot, ich hatte ihr das Leben gerettet. Bevor wir in eine Ambulanz verfrachtet wurde, fragte man mich nach meinem Namen und meinem Beruf. »Amy La Mar. Ich bin Model.« Ich weiß nicht, was mich veranlaßte, noch hinzuzufügen: »Bei Barbara Harper Management.« Aber ich sagte es, und am nächsten Morgen hieß -274-
in allen Zeitungen: ENGLISCHES MODEL RETTET KIND AUS BRENNENDEM HAUS - und daneben war ein unglaublich beeindruckendes Bild von mir abgedruckt. Der Fotograf hatte meinen triumphierenden Blick festgehalten, als ich auf der letzten Stufe der Feuerleiter stand und ein Fuß bereits den Boden berührte. Was am besten rüberkam, war der unschuldige Ausdruck in meinem reinen, ungeschminkten Gesicht. Das war meine natürliche schwarze Schönheit, und ich sah wirklich einfach überwältigend aus. Außerdem trug ich schwarzweiße Kleidung, die ebenfalls gut zur Geltung kam. Plötzlich war ich eine Heldin. Barbara wurde meinetwegen mit Anrufen nur so überhäuft. Da mein eigenes Apartment zerstört war, zog ich bei ihr ein. Nach wenigen Tagen schon kam jemand mit einer neuen Idee, einer Feuerleiter-ModeGeschichte, und ich wurde als einziges Model gebucht. Meine Vibe-Fotos brachten mich auf ein Cover, und innerhalb von zwei Monaten war ich auch auf dem Titel einer der größeren Modezeitschriften. Ich wurde nach Paris eingeladen, um für Xuly-Bet zu arbeiten, und zwischendurch hatte ich Castings für New Yorker Shows. Endlich war mir der Durchbruch gelungen.
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New York/Corner See, 1994 Ich machte gerne Aufnahmen bei Fabrizio Ferris Industria, einem Fotostudiokomplex in der Washington Street, weil mir das Gelände dort immer wie ein kleines Stück Italien vorkam, das nur ein paar Blocks vom West Side Highway entfernt lag. Im Sommer war es ein wirklicher Anziehungspunkt für Models, Stylisten, Fotografen und Herausgeber von Modezeitschriften, die alle essend und trinkend herumstanden. Jetzt arbeitete ich dort zum erstenmal im Winter. Der Schnee lag fast sechzig Zentimeter hoch, und alle Straßen in New York waren dicht. Autos wurden stehengelassen, weil sie von einer Schneedecke begraben waren, und jeder befürchtete, daß es frieren würde und man dann keine Möglichkeit mehr bekäme, die Autos zu holen, ehe wieder Tauwetter einsetzte. Der städtische Reinigungsdienst war dabei, die Straßen mit Schneepflügen freizuräumen, und mein Taxi benötigte fast eine Stunde, um von der East 70th Street bis zum Fotostudiokomplex zwischen der Jane Street und der West I2th Street zu gelangen. Ich würde zu spät kommen. Als wir angekommen waren, mußte ich fast einen halben Block weit laufen, um einen Platz zu finden, an dem der Bürgersteig vom Schnee geräumt worden war. Es war ein schöner, klarer und kalter Morgen mit herrlichem Sonnenschein und einem strahlendblauen Himmel. Hier auf der Washington Street kam es mir so vor, als wäre ich Millionen Kilometer von den New Yorker Wohnvierteln entfernt. Ich befand mich auf einem Schlachthof und schlitterte über den eisigen Boden, während rings um mich herum Männer geradezu gigantische Rinderhälften herumtrugen und sich auf dem eisigen Grund einen Weg durch all die langbeinigen Models bahnten, die zur Industria unterwegs waren. So etwas bekam man auf der -276-
Madison Avenue nie zu sehen. Ich ging über die Betonrampe zum Studio fünf hinauf (alles in allem gab es acht Studios), entschuldigte mich überschwenglich für mein Zuspätkommen, und begab mich dann zum Make-up. Ich sollte für Vogue eine Story über seidene Abendgarderobe im Kimono-Stil machen, und mein leicht japanisches Aussehen war dafür sehr geeignet. Wir arbeiteten den ganzen Morgen über sehr hart und gingen dann zum Mittagessen hinüber ins Braque. Im Braque ist es wirklich fantastisch. Es ist das Café auf der rechten Seite des Eingangs zur Industria und sorgte während der Aufnahmen immer für die Verpflegung. Für einen Außenseiter sah es nicht unbedingt wie etwas Besonderes aus. Aber genau deshalb mochte ich es - weil es so unscheinbar war. Es mutete wie ein Haus aus Lehmsteinen an, hatte Mauern aus gelben Ziegelsteinen, an denen Schwarzweißfotos von Flugzeugen, Gitarren, Bäumen und Grasebenen hingen, und darüber befand sich eine orangefarbene Decke. Es gab eine Bar, und auf der anderen Seite des Raumes wurden auf nur zwei großen Tischen die Festessen aufgetischt. Einer davon war aus Holz, der andere aus Marmor und mit einem metallgegossenen Fuß. Ein Taitinger-Champagnerkühler stand in der Ecke, vermutlich das Überbleibsel einer wilden Nacht. Industria wurde für Partys von Leuten wie dem ehrenwerten Eddie Murphy, Ralph Lauren, Madonna, Leo Castelli und anderen benutzt. Models kamen von den Aufnahmen herüber und spazierten hier in Lockenwicklern ein und aus, und jeden Augenblick konnte jemand angelaufen kommen, um der Chefin mitzuteilen, daß gleich die Leute von Studio zwei herüberkämen, woraufhin der hölzerne Tisch jedesmal in Windeseile gedeckt und in der Küche am Ende des Cafés auf Hochtouren zu arbeiten begonnen wurde. Kurz darauf saß jeder, der an den Aufnahmen beteiligt gewesen war, vor Suppe, Salat, selbstgemachter Pizza, Pasta und weißen Trüffeln, die Karen, die Managerin des Studios, am vorhergehenden Abend zubereitet hatte, weil ihr gerade nach Kochen zumute -277-
gewesen war. Hinter der Bar stand ein neuer Bediensteter. Ich saß auf einem Barhocker und bestellte einen Espresso. Er lächelte mich an, als ich ihm die Tasse abnahm. »Du bist neu hier, nicht wahr?« Er nickte. »Ich heiße Mayo.« Ich bemerkte seinen englischen Akzent. »Bist du Engländer? Hast du einen Vornamen?« »Das ist mein Spitzname. Genau wie SWAN.« »Und warum Mayo?« »Weil er so gute Mayonnaise macht. Bessere als die von Hellmann«, rief jemand. Wir unterhielten uns eine Weile. Ich mochte ihn. Er war noch jung und wollte in die Modebranche. Er schien ein paar Sachen über Modelling zu wissen, eben das, was er in Unterhaltungen mit den Mädchen nach den Aufnahmen hier aufgeschnappt hatte, aber ansonsten hatte er kaum Erfahrungen gesammelt. Außer vielleicht im Kochen. Wenn er eine solch sensationell gute Mayonnaise machte, war er vielleicht auch ein guter Koch. Ich überlegte schon seit einiger Zeit, ob ich mir nicht den Luxus gönnen sollte, jemanden einzustellen, der in meinem Apartment im Carlyle für mich kochte. Klar, ich konnte mir jederzeit etwas über den Zimmerservice bestellen, und manchmal machte es mir sogar Spaß, selbst in der Küche herumzuhantieren, aber ich war in einem Haushalt mit Köchin großgeworden. Ich war ziemlich verwöhnt. Mir gefiel der Gedanke, daß jemand leckere hausgemachte Gerichte für mich zubereitete, die fertig waren, wenn ich erschöpft von der Arbeit nach Hause kam. Ich mochte ja auch das Industria wegen des leckeren Essens, das man unten im Braque bekam. Ich wußte, wenn ich ihn nicht hier und jetzt fragen würde, würde ich es nie tun. Ich wandte mich von der Bar ab und fragte -278-
die Chefin, ob er schon mal für sie gekocht hätte. »Er ist unglaublich. Er kocht alles zu Hause und bringt es dann mit hierher. Er wohnt bei seinen Eltern, direkt auf der anderen Straßenseite, in dem Westbeth-Apartmenthaus. Hier, probier ein paar der Quitten, die er für heute gemacht hat.« Sie waren nicht von dieser Welt. Ich entschied, daß dieser Mann mein Leben verändern würde, und ging zurück an die Bar. Als ich ihm den Vorschlag unterbreitete, sah er mich überrascht an und meinte, er müsse erst darüber nachdenken und ob er mich zurückrufen könne. Ich sagte: »Sicher, aber laß dir nicht zuviel Zeit damit.« Dann ging ich zurück an die Arbeit. Am nächsten Tag wurde mir klar, daß ihn mein Vorschlag sehr verunsichert haben mußte. Das Telefon klingelte, und eine sanfte irischamerikanische Frauenstimme meldete sich. »Ich heiße Bridie Reilly. Mein Sohn Mayo hat mich gebeten, Sie anzurufen. Wir müssen ein paar Sachen klarstellen, aber ich möchte Sie bitten, niemandem etwas davo n zu erzählen, was ich Ihnen jetzt sage. Mayo kann nicht kochen. Er kann nicht einmal Eier kochen, soviel ich weiß. Ich bin die Köchin. Er nimmt das Essen, das ich vorher zubereitet habe, nur über die Straße mit ins Braque. Sie glauben, er hätte es gemacht. Das war eine Möglichkeit, ihm einen Job zu verschaffen. Ist das unrecht? Wenn Sie wollen, könnte ich statt dessen kommen, um für Sie zu kochen.« Ich wollte. Bridie war ein wahrer Schatz. Natürlich schloß auch der irische Türsteher unten im Carlyle sie sofort ins Herz. Es verging deshalb immer eine Weile zwischen ihrem Anruf, daß sie jetzt aufbrechen würde, bis zu ihrem Eintreffen in meinem Apartment. Ich stellte mir das New Yorker Getratsche vor, das in der Lobby - oder am Hintereingang oder wo immer sonst man sie einließ - losbrach. Bridie machte Sodabrot, wie ich es schon seit Jahren nicht mehr gegessen hatte. Sie bereitete wunderbar -279-
nahrhafte Gemüsesuppen und außerordentlich schmackhafte vegetarische Gerichte zu. Ihre Küche war sehr gesundheitsbewußt, und sie verstand gut, daß ich bei all meiner Liebe zum Essen streng auf mein Gewicht achten mußte. Wir verbrachten viele angenehme Stunden damit, über all die leckeren Sachen zu sprechen, die sie während meiner Abwesenheit für mich machen und für meine Rückkehr einfrieren wollte. Ich mußte mich schon wieder für die Abreise fertigmachen Italien, London, wieder Italien, Paris, Karibik und dann Ende März wieder zurück nach New York, um bei einer Show aufzutreten. Ein erfolgreiches Model ist ständig unterwegs. Bridie schimpfte unentwegt darüber. »Ich weiß nicht, wie du jemals einen Mann finden willst, der sich um dich kümmert, wenn du die ganze Zeit über in der Weltgeschichte herum tingelst.« Ein berechtigter Einwand. Einen Freund zu haben, war für Models immer ein Problem. Entweder war man dem Jungen von nebenan, mit dem man schon zusammengewesen war, bevor man Model wurde, bald über den Kopf gewachsen, weil er nicht Teil dieser Glamourwelt war oder man fand jemanden in dieser neuen Welt, doch dann konnte man ziemlich sicher sein, daß er neidisch war, wenn man mehr Geld verdiente als er. Darüber hinaus war man so oft unterwegs, daß die Beziehungen zumeist durch die häufigen Trennungen in die Brüche gingen. Wenn wir nur schon damals, als Bridie in der Küche herumwerkelte, gewußt hätten, daß ich bei meiner diesmaligen Rückkehr ihre Mahlzeiten mit einem neuen Mann in meinem Leben teilen würde… Charley hatte mich schon seit Monaten davon zu überzeugen versucht, irgend etwas für das Fernsehen zu machen. Schließlich hatte er mich überredet, in die Today-Sendung zu gehen. Ich -280-
wollte am Ende der Woche einen Kurzurlaub in der italienischen Ferienvilla seiner Mutter am Corner See antreten, bevor anschließend die Shows begannen. Charley erwischte mich in einem schwachen Moment, als ich mich gerade über die Aussicht freute, ein paar Tage abschalten zu können. Daher sagte ich so etwas wie: »Gut, gut, mach es für diese Woche fest, bevor ich losfliege.« Ich haßte Publicity wie die Pest und Fernsehauftritte ganz besonders, aber Charley kümmerte sich so aufopfernd um mich, daß ich mich verpflichtet fühlte, ihm die Möglichkeit einzuräumen, mich in irgendeiner Sendung unterzubringen. Ich mußte für das Studiointerview in aller Herrgottsfrühe aufstehen, aber das mußte ich schließlich ziemlich oft. Frühe Anrufe standen im Leben eines Models auf der Tagesordnung. Der Typ, der mich interviewte, war mir instinktiv unsympathisch. Sein Gesicht war wahrscheinlich in jedem amerikanischen Haushalt bekannt, aber da ich nie Frühstücksfernsehen sah, hatte ich ihn noch nie zuvor gesehen. Er hatte zwar ein freundliches Gesicht, aber mein sechster Sinn ermahnte mich, vorsichtig zu sein. Ich weiß nicht, was mich veranlaßte, das zu tun, was ich dann tat. Vielleicht lag es daran, daß ich in einer leichtsinningen Stimmung war und mich auf meinen Urlaub freute. Der Moderator hielt eine Liste mit Fragen in der Hand. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er regelrecht am Boden zerstört aus, aber er faßte sich rechtzeitig, um mich den Zuschauern vorzustellen: »Das ist SWAN, das berühmteste Topmodel der Welt. Aber wie lange wird sie diese Position noch halten können?« Das war also das Spielchen, das er spielen wollte. Charley hätte mich warnen sollen. Ich bin ziemlich gut damit umgegangen und argumentierte auf der Schiene: »Es gibt so viele wunderschöne neue Mädchen und so viele talentierte junge Modedesigner und Kunden auf der ganzen Welt - da ist genug Platz für uns alle da.« Hatte der Mann etwa Wind davon bekommen, daß ich vorhatte, meinen -281-
SWAN-Vertrag zu kündigen? Er wollte jedenfalls auf irgend etwas hinaus, ohne daß ich wußte, auf was. Charley hatte ihm mit Sicherheit nichts erzählt, und er war der einzige, der wußte, wie es in mir aussah. Das Interview setzte sich mit voraussehbaren Fragen fort, zum Beispiel, ob ich mich darauf freue, weitere Kollektionen zu präsentieren. Ich merkte, daß er ohne seine wertvolle Liste ziemlich aufgeschmissen war. Kein Wort über SWAN. Dann war es fast neun, und die Sendung würde gleich zu Ende sein. Ich lehnte mich zurück in das Sofa und wähnte mich schon in Sicherheit. Seine nächste Frage traf mich vollkommen unvorbereitet. »Es muß wahnsinnig hart sein, solch eine Karriere nach all den Tragödien in Ihrem Leben durchzustehen.« Ich starrte ihn an, und in meinem Kopf läuteten sämtliche Alarmglocken. »Was für Tragödien?« »Die Tragödien, die Ihre Familie getroffen haben. Der Tod Ihrer Schwester bei einem Autounfall. Das Verschwinden Ihres Bruders nach dem mysteriösen Tod einer Frau im Haus Ihrer Familie. Glauben Sie, SWAN, daß Sie Ihren Bruder jemals wiedersehen werden?« Zum erstenmal in meinem Leben mußte meine alabasterfarbene Haut ganz bleich geworden sein. Ich war wie betäubt, fühlte mich überführt, die Tränen stiegen mir in die Augen. Ich rutschte auf meinem Platz hin und her und wußte, daß die Kameras auf Nahaufnahme gingen. Er spürte wohl, daß ich kurz davor war, aufzustehen und das Studio zu verlassen. »SWAN, ich bin sicher, Sie werden ihn finden. Ich weiß, daß Sie das werden. Vielen Dank, daß Sie heute morgen bei uns gewesen sind. Das war die Sendung Today. Jetzt folgen pünktlich zur vollen Stunde die Nachrichten mit dem Wetter…« Er wartete, bis wir nicht mehr auf Sendung waren, und sagte dann: »Ich vermute, Sie wissen nicht, was geschehen ist. Letzte -282-
Nacht stand diese Geschichte in einer Londoner Abendzeitung, und die New Yorker Presse hat sie begierig aufgegriffen, um heute morgen damit aufzumachen. Wir waren vorgewarnt, die Gelegenheit war zu gut, um sie nicht wahrzunehmen. Hier, schauen Sie sich das an. Das ist die britische Zeitung, in der die Story letzte Nacht erschienen ist.« Ich blickte auf die Titelseite der Standard. SWANS FAMILIE IN SUPERSKANDAL VERWICKELT lautete die Überschrift. Ich suchte die Verfasserangabe. Wer um Himmels Willen ist Lindy-Jane Johnson, fragte ich mich. Als ich zurück im Carlyle war, kroch ich ins Bett und brachte den Morgen damit zu, auf die Zeitungen zu starren, die ich vor mir ausgebreitet hatte. Die Geschichte war Schnee von gestern, die nichts Neues hergab. Lindy-Jane Johnson, wer immer das auch war, hatte ihre Nase wohl in ein Zeitungsarchiv gesteckt und kaute nun Stories wieder, die die englische Presse bereits vor Urzeiten veröffentlicht hatte. Aber warum tat sie das? Wußte sie mehr, als sie durchblicken ließ? Sobald in London eine für ein Te lefonat vertretbare Uhrzeit angebrochen war, rief ich meine Mutter an. Sie hörte sich sehr gefaßt an, was man von meinem Vater weniger sagen konnte. »Er hat sich eingeschlossen. Gestern abend wollte er nicht zum Essen herunterkommen, und heute hat er sich auch noch nicht blicken lassen. Er fühlt sich gedemütigt. So benimmt er sich schon seit geraumer Zeit. Ich will dich nicht beunruhigen, Schätzchen, aber ich fürchte, daß dieser gräßliche Zeitungsartikel ihm gänzlich den Rest gegeben hat. Wenn wir nur ein Lebenszeichen von Harry hätten. Aber was viel wichtiger ist, wie schrecklich muß das alles nur für dich sein! Ist man in New York hinter dir her? Willst du nicht herüberkommen und dich in Wiltshire verstecken?« Nichts hätte ich lieber getan, aber es wäre idiotisch gewesen. Das letzte, was ich wollte, war, die Presse in die Nähe meiner -283-
Eltern zu locken. Es war so tragisch. Harry wohnte nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt, und sie ahnten es nicht einmal. Sobald ich aus Mailand zurückkäme, würde ich nach London fahren und sehen, ob ich mit Harry nicht weiterkäme. Wir mußten etwas unternehmen, um meine Eltern aus ihrem Unglück herauszuhelfen. »Mutti, das ist ganz lieb von dir, aber ich muß morgen zu Laura Lobianco fahren, der Mutter meines New Yorker Agenturchefs. Sie hat eine göttliche Villa am Corner See. Dort werden wir ganz ungestört und unter uns sein. Hat Großmutter die Zeitungen gesehen?» »Nein. Das ist kein Problem, es sei denn, sie spricht mit jemandem aus London. Gestern abend hat es nur im Standard gestanden, und heute war es in den Boulevardblättern, die sie natürlich nicht kauft. Wir übrigens auch nicht, muß ich dir sagen, aber heute morgen bin ich nach Salisbury gefahren und habe einen Blick in einige der Ausgaben geworfen. Ziemlich abstoßend, aber Gott weiß, daß wir so etwas schon einmal durchgemacht und es auch überlebt haben. Kommst du bald nach London?« Eine Sekunde lang hielt ich den Atem an. Seit Jahren fühlte ich mich von dem starken Verlangen meiner Eltern, mich zu sehen, förmlich erstickt, aber nun wollte ich gerne wieder mit ihnen Zusammensein. Gleichzeitig wußte ich nicht, ob ich stark genug sein würde, das Geheimnis von Harrys Aufenthaltsort in ihrer unmittelbaren Nähe zu wahren. »Ja, Mom, ich vermute, daß ich nach meinem Italienaufe nthalt komme. Ich rufe dich dann an. Sag Vati, daß ich ihn liebhabe. Dich auch. Bis bald.« Ich mußte auflegen, denn ich spürte, wie mir wieder die Tränen in die Augen stiegen. Ich trat in meinen begehbaren Kleiderschrank und holte mir die Kleidungsstücke heraus, hinter denen ich mich verstecken wollte. Es handelte sich lediglich um -284-
ein seidenes Kopftuch und eine dunkle Sonnenbrille, aber ich fühlte mich irgendwie sicherer, wenn ich damit hinausging und so anonym wie möglich aussah. Anfangs war es ein ziemlicher Schock für mich gewesen, als man mich plötzlich auf offener Straße anhielt und ansprach. Ich selbst hatte mich nie als Berühmtheit gesehen, doch das war ich nun einmal. Jetzt mußte ich erst einmal raus. Trotz des atemberaubenden Blickes über die Stadt bekam ich in meinem Apartment Platzangst. Unten im Foyer wurde ich von Michael, meinem absoluten Liebling unter den irischen Portiers im Carlyle, aufgehalten. »Glauben Sie nicht, daß Sie vorne hinausgehen können, Miß SWAN«, sagte er, während er mich am Ellbogen nahm und in die entgegengesetzte Richtung führte. »Dort wartet man bereits auf Sie. Ich bringe Sie zum Hintereingang.« Mutter hatte recht gehabt. Die verfluchten Hunde von der Presse hatten Blut geleckt. Ich sah sie, als ich in der Höhe der Madison Avenue über die 76th Street eilte. Ich ließ mich durch sie nicht von meinen Gewohnheiten abhalten, überquerte die Madison Avenue, wie ich es immer tat, und warf einen Blick ins Givenchy-Schaufenster. Ich wurde immer mit der in Givenchy gekleideten Audrey Hepburn als Holly Golightly in › Frühstück bei Tiffany ‹ verglichen, und ich glaube, ich habe tatsächlich etwas von ihrem dunkelhaarigen Elfen-Äußeren. Hinter Givenchy ging ich zurück auf die Südseite der Madison Avenue, schlüpfte hinter das Whitney und flüchtetet in die heiligen Hallen von Books & Co., meinem Lieblingsbuchladen, um dort Urlaubslektüre zu suchen. Ich eilte in die Kinderbuchabteilung mit dem kleinen angemalten Schaukelstuhl aus Holz. Jedesmal, wenn ich ihn sah, fragte ich mich, ob ich selbst einmal Kinder haben würde. Ich mochte diesen Winkel des Ladens mit den Fotografien all der Schriftsteller an einer Wand, die hier bereits Lesungen gehalten hatten. Ich erkannte kaum einen von ihnen, es sei denn, sie hielten ein Buch, das sie geschrieben ha tten, in der Hand, um -285-
sich so zu erkennen zu geben. Natürlich kannte ich Norman Mailer, und der eine mit der gesprungenen Brille war Fran Liebowitz, doch bei den anderen war ich ratlos. Lautlos schob ich eine Leiter an den Regalen entlang, ohne mir dessen überhaupt bewußt zu sein. Irgendwie herrschte hier heute eine andere Atmosphäre als gewöhnlich, aber ich konnte sie nicht richtig fassen. Dann dämmerte es mir: der Laden war leer. Nein nicht ganz. Hier unten mochte niemand sein, aber von oben vernahm ich Geräusche. Natürlich! Dort fand gerade eine Lesung statt. Eine willkommene Abwechslung. Ehrlich gesagt, mochte ich eigentlich keine Lesungen. Ich empfand sie als langweilig und überflüssig. Ich las ein Buch lieber selbst, als daß es mir wie einem kleinen Kind vorgelesen wurde. Gedichte vielleicht schon, aber sonst nichts. Dennoch reizte es mich, hinaufzugehen und nachzusehen, wer heute las. Als ich oben auf der Treppe angelangt war und mich umsah, kam mir die Stimme des Schriftstellers gleich bekannt vor. Der Raum war überfüllt mit Leuten, doch hinter dem Lesepult, das die Menge überragte, konnte ich immerhin den Kopf und die Schultern des Lesenden erkennen. Dieses graue Haar! Es war Rory Stirling. Vor Überraschung ließ ich meine Tasche fallen, und als ich sie aufheben wollte, rutschte mir das seidene Kopftuch herunter. Alle drehten sich um, um zu sehen, wer den schrecklichen Lärm verursachte. Rory machte eine Atempause, schaute hoch und mir direkt ins Gesicht. Ich drehte mich um und rannte die Treppen nach unten. Am Nachmittag, als ich gerade damit beschäftigt war, meine Sachen für Italien zu packen, rief Michael vom Foyer aus an, um mir mitzuteilen, daß ein Päckchen von Books & Co. für mich abgegeben worden war. Darin befand sich ein kleines Buch, ich glaube, man nennt das Buchformat Large Crown. Es war eine wunderschöne Ausgabe mit dickem Papier, fast wie Büttenpapier, und abgerundeten Ecken. Ein Roman. Der Titel lautete ›Kämpferisches Bekenntnis‹ und der Untertitel ›Die -286-
Memoiren eines Triebtäters‹. Von Rory Stirling. Innen lag eine Karte bei. Er hatte eine energische, flüssige Handschrift und benutzte einen Füllfederhalter mit schwarzer Tinte. Es sah fast aus wie ein Schriftstück aus dem letzten Jahrhundert. Ich bat Books & Co., Ihnen das zu liefern, da ich Ihre Adresse nicht hatte. Warum sind Sie weggelaufen? Lese ich so schrecklich? Kann ich Sie zum Abendessen einladen? Bitte rufen Sie mich an. Rory. Ich lief durch das Zimmer und starrte dabei so lange auf seine Telefonnummer, daß ich sie beinahe auswendig kannte, als ich sie endlich wählte. »Ich bin's SWAN«, sagte ich, als er abgehoben hatte. Dann fiel mir ein, daß ich mich, als wir uns kennenlernten, nur als Lavinia vorgestellt hatte. »Ich bin so froh, daß Sie anrufen. Warum sind Sie vorhin weggelaufen?« »Ich könnte Sie dasselbe fragen. Als wir neulich bei Norah Nicholson waren, habe ich mich nur kurz umgedreht, und schon waren Sie verschwunden.« Er atmete am anderen Ende der Leitung tief durch. »Ich bin in diesen Dingen nicht besonders gut. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt hingegangen bin. Und ich bin nur deshalb so lange geblieben, weil ich Sie getroffen habe. Als ich gemerkt habe, daß Ihre Aufmerksamkeit sich auf etwas anderes richtete, habe ich mich davongemacht. Das war ungehobelt von mir, ich weiß. Am nächsten Tag habe ich Norah eine paar entschuldigende Zeilen geschrieben, und ich fühlte mich so unwohl in meiner Haut, daß ich mich noch nicht einmal getraut habe, sie nach Ihrer Telefonnummer zu fragen. Aber hören Sie mal, ich habe die Zeitungen von heute morgen gelesen. Sie müssen sich ja schrecklich fühlen.« »Es ist ziemlich fürchterlich. Meine größte Sorge gilt im Moment allerdings den Journalisten, die unten im Foyer auf -287-
mich lauern, und ich bezweifle, daß sie verschwinden werden. Ich muß morgen nach Italien, und jetzt ist die Frage, wie ich an ihnen vorbei und zum Flughafen kommen kann, ohne daß sie bemerken, daß ich das Land verlasse.« »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« »Wie denn?« »Ich kann Sie zum Flughafen fahren. Ich habe einen Cherokee Jeep. Er ist ziemlich runtergekommen, also nicht unbedingt die große lange Limousine, in der sie Sie vermuten würden. Um wieviel Uhr geht denn Ihre Maschine, und wo wohnen Sie?« Er machte mir alles so leicht. Ich warnte Michael vor, daß Rory kommen würde, und er wurde zu mir gelassen, kaum daß er angekommen war. Als ich ihm die Tür öffnete, war es plötzlich das natürlichste auf der Welt, daß wir uns umarmten und küßten. Als ich ihm mein Apartment zeigte, legte er den Arm um mich und ließ mich nur los, um mein Teleskop mit beiden Händen in eine andere Richtung zu drehen. »Gibt es eine Möglichkeit, es so festzustellen, daß es immer exakt in dieser Position verbleibt?« »Warum sollte ich das machen?« »Weil du, wenn du jetzt hier durchschaust, genau mein Fenster im Gainsborough Building am südlichen Central Park siehst. Wenn ich zu Hause wäre, könntest du mich sehen. Du könntest mich anrufen, und ich würde ans Fenster gehen. Dann könntest du durch das Teleskop sehen, wie ich dir einen Kuß zuwerfe.« Er war wie ein kleiner Junge, aber er war lustig; und als ich in Not war, hatte er sich um mich gekümmert. »Ruf jetzt den Türsteher an und sag ihm, daß er dein Gepäck abholen soll. Michael hat den Cherokee in die Tiefgarage gefahren.« Es war eine richtig filmreife Flucht. Als Rory den Motor auf -288-
Touren brachte und die Rampe hochfuhr, lag ich auf dem Vordersitz des Jeeps und hatte meinen Kopf in seinen Schoß gelegt. Bevor es jemand bemerkte, war er schon auf der Straße. Ich setzte mich erst wieder aufrecht hin, als wir die Triborough Bridge schon halb überquert hatten. Und ich tat es nur, weil ich den atemberaubend weiten Blick, den man vorn dort aus über die Manhattan Sykline genießen kann, so sehr mochte. Mich verband eine Haßliebe mit New York. Ich war durch und durch Engländerin, aber ich lebte gerne in New York. Mein Job führte mich oft genug weg von hier, so daß ich New York nie überdrüssig werden konnte. Jedesmal, wenn ich die Triborough Bridge überquerte, fragte ich mich, ob ich wirklich zurückkommen wollte. Manhattan sah immer so surreal aus, und wenn ich dieses Panorama betrachtete, fragte ich mich im stillen jedesmal: »Lebe ich tatsächlich hier?« »Schriftsteller sind normalerweise sehr neugierig«, sagte Rory zu mir, als wir die Brücke überquert hatten. »Zieh dein Kopftuch über, sonst könnte dich jemand aus einem vorbeifahrenden Auto erkennen. Und nun erzähl mir mal, warum du mir nicht gesagt hast, wer du bist, als wir uns das erstemal gesehen haben.« »Ich habe geglaubt, es würde dich nicht interessieren.« »Hör zu. Ich war so sehr daran interessiert, daß ich allein deswegen auf die Party gekommen bin. Ich wollte dich mal aus der Nähe sehen.« »Heißt da, daß du die ganze Zeit über gewußt hast, wer ich bin?« »Natürlich. Norah hat mich gebeten, mich mit dir zu treffen. Sie ist in meinem Apartment gewesen und hat all die Seiten aus den Zeitschriften gesehen, die ich herausgerissen habe und die jetzt in meinem Arbeitszimmer an den Wänden hängen. Sie ist nicht dumm. Sie hat gewußt, daß du in der Stadt bist und…« »Oh, dann war das alles ein abgekartetes Spiel. Diese alte -289-
Verräterin. Mir hat sie erzählt, daß sie dich mit Celestia bekannt machen wollte.« »Natürlich hat sie dir das erzählt, sonst wärst du ja erst gar nicht gekommen. Sie hat mir erzählt, wie einsiedlerisch du lebst. Doch dadurch bist du nur noch attraktiver für mich geworden.« Das war ein Witz. Ich saß in dem engen Jeep. Es gab keine Möglichkeit, die Sache jetzt fortzuführen. Ich mußte meine Maschine bekommen und ihn weit hinter mir zurücklassen. »Du sagtest, Schriftsteller seien neugierig«, bemerkte ich, um das Thema zu wechseln. »Ich frage mich, was deiner Familie wirklich passiert ist, falls du mir davon erzählen möchtest.« Für mich war es eine Wohltat, darüber sprechen zu können. Seit Jahren konnte ich das Thema nur ab und an mit jemandem aus meiner Familie bereden. Jahrelang hielt ich alles in mir unter Verschluß, und mir wurde plötzlich bewußt, daß ich ihm Dinge anvertraute, die niemand sonst über mich wußte. Ich hatte mir die Leute unbewußt immer vom Leib gehalten, damit ich nicht aus Versehen etwas ausplauderte, wenn mir jemand zu nahe kam. Das ging nun schon seit vielen Jahren so. Ich war völlig vereinsamt, ohne das überhaupt bemerkt zu haben. Rory konnte gut zuhören. Gelegentlich streichelte er über meine Hand, die neben ihm auf dem Sitz lag, um seine Sympathie zu bekunden. Ich erzählte ihm alles, sogar, wo Harry sich versteckt hielt und daß ich ihn in England treffen wollte. »Du fliegst von Italien aus nach England? Übernächste Woche habe ich dort zu tun. Mein Buch erscheint auch dort, und sie wollen mich für die Publicity.« Ich gab ihm den Namen und die Telefonnummer von Grace Brown und sagte ihm, er könne über sie erfahren, wann ich aus Mailand zurückkäme. -290-
»Kann ich dich denn nicht in Italien anrufen? Kannst du mir deine dortige Telefonnummer geben?« Plötzlich bekam ich Panik. Ich kannte diesen Mann ja kaum. Ich hatte ihn zuvor exakt zweimal getroffen. Und außer Norah kannte ich niemanden, der ihn kannte. Er konnte alle möglichen Gründe haben, mich zum Flughafen zu fahren und mich mit Fragen zu bombardieren. Er konnte statt Schriftsteller genausogut Journalist sein, er konnte alles nur inszeniert und in Wahrheit etwas ganz anderes im Sinn haben… »Ich glaube, ich brauche ein bißchen Ruhe, um durchzuatmen. Kannst du das verstehen?« »Natürlich. Du hast ja meine New Yorker Telefonnummer, und du weißt, wo du mich finden kannst, wenn du es willst.« Er schien wirklich enttäuscht zu sein. Am Flugsteig küßte er mich, preßte seine Lippen hart auf meine und saugte an ihnen. »Ich weiß, daß du Model bist und ich auf deine Haut achten muß, aber jetzt arbeitest du ja erst einmal eine Woche lang nicht, und ich mußte es einfach tun.« Als das Flugzeug abhob, saß ich auf meinem Fensterplatz und nippte an einem Glas Sekt. Mir wurde klar, daß auch ich es gewollt hatte. Das erste, was ich tat, als ich in Italien ankam, war, Norah anzurufen und sie über ihn auszufragen. Es dauerte eine Weile, sie von dem Thema der Zeitungsstories über mich abzubringen, aber schließlich hatte ich es geschafft. »Rory Stirling? Mein liebes Kind, was sagst du da? Ich kenne ihn seit seiner Kindheit. Er ist absolut bewundernswert. Das schlechteste, was man ihm nachsagen kann, ist, daß er ein absoluter Einzelgänger ist. Er geht nie aus. Ekelhaft ungesellig. Der Alptraum einer jeden Gastgeberin. Es ist wahr, daß ich ihn schon seit Monaten für dich im Sinn hatte, aber ich habe gewußt, daß ihr beide einen meilenweiten Umweg um die Party gemacht hättet, wenn ich zu offensichtlich gesagt hätte, was meine Pläne mit euch waren. Ich bin wirklich entzückt darüber, -291-
daß ich euch schließlich und endlich doch zusammengebracht habe. Ihr seid das ideale Liebespaar.« Das war nicht mehr als eine Redensart - etwas, das Außenstehende ständig über jede Art von Beziehung sagten. Aber mich machte es nachdenklich. Laura Lobiancos Villa am Comer See war zum Sterben schön. Ihre Familie war schon seit Jahrzehnten im Besitz einer Textilfabrik in Como, und als Kind hatte Charleys Mutter ihre Ferien immer in der Villa Luini verbracht. Mailand hat Como viel für seinen Aufstieg zu einem der Weltmodezentren zu verdanken. Die Seidenfabriken von Como und das dazugehörige industrielle Fachwissen waren ein unerläßlicher Faktor für den Erfolg der Designer für Konfektionsbekleidung. Sowohl Armani als auch Versace haben eng mit Lauras Familie zusammengearbeitet und ihre Ideen in schöne Gewebe umgesetzt, aber viel wichtiger war, daß die Familie die neuen Modedesigner zu Beginn ihrer Karrieren finanziell unterstützt hatte. In der wettbewerbsorientierten Welt der Konfektionsbekleidung gab ihnen diese Unterstützung den nötigen Schwung, um gegen die Franzosen bestehen zu können. Laura hatte auch mich zu Beginn meiner Karriere unterstützt. Kurz nachdem er mich unter Vertrag genommen hatte, nahm mich Charley mit zu ihr, weil ich sie in der Villa Luini kennenlernen sollte. Ich hatte schon immer vermutet, daß er sich in der Auswahl seiner Mädchen stark auf das Urteil seiner Mama verließ. Ich mochte seit jeher die italienischen Seen mit den Pinien, Eichen und Kastanien an steilen Böschungen, die bis zum Wasser reichten, die Steinhäuser, die mit alten gewölbten Brücken untereinander verbunden waren, und die Art und Weise, wie die kleinen Boote in den Häfen der Fischerdörfer beängstigend in den Wellen schaukelten, die vorbeifahrende -292-
Dampfschiffe verursachten. Und ich mochte auch das literarische Erbe dieser Gegend. Vergil war verrückt nach diesem Ort gewesen, und war es nicht Longfellow, der gefragt hatte: »Gibt es sonst noch irgendwo ein Land mit solch überragender und perfekter Schönheit?« Die Villa Luini erreichte ich immer mit dem Schnellboot. Vom See aus kann man die schneebedeckten Alpen in weiter Entfernung erkennen, und am Ufer entlang stehen Palmen. Immer wenn wir uns unserem Ziel näherten, stand ich auf, um einen ersten Blick auf das Dach mit den Terrakottaziegeln zu erhaschen, bevor wir dann an einem mit kleinen Flechten überzogenen Anlegeplatz an Land gingen. Oberhalb davon findet sich ein riesiges schmiedeeisernes Tor aus dem achtzehnten Jahrhundert, das in Steins äulen eingehängt ist und zwei Flügel hat. Auf den Säulen stehen Löwen, die denen vor unserem alten Haus in den Boltons ähneln. Der Schlüssel des Tores ist schon vor Jahren verlorengegangen, daher muß man um die Säulen herum durch kniehohen Lavendel und Gänseblümchen bis zum Haus hinaufgehen. Das erinnerte mich an die Felder rund um unser Haus in Wiltshire. Wenn man sich der Villa nähert, geht man durch einen Tunnel aus Zypressen und kann überall künstliche Gärten mit umzäunten Terrassen, von steinernen Enge ln umgebene Lilienteiche, Azaleenhecken, Rhododendron-Büsche, Buchsbaumhecken und Eiben sehen. Lauras Familienbesitz hat die Ausmaße eines florentinischen Palazzos. Die Wände sind mit feinen Fresken aus dem achtzehnten Jahrhundert nur so übersät. Die großen Salons und das Erdgeschoß sind mit Marmorböden, reichverzierten Spiegeln, Konsolen, Kristallüstern und endlos vielen Türen ausgestattet, die sich zu den Ba lkonen mit Blick auf den See hin öffnen. Von einer kleinen Pergola hat man einen wunderschönen Blick über den Garten und den See. Hier aßen und entspannten wir uns meistens. Ich mochte die großen Terrakottakästen, die mit rosafarbenen Geranien bepflanzt sind. Die kleinen -293-
Kostbarkeiten, die Lauras Schlaf-, Wohn- und Gästezimmer darstellen, sind eine ganz andere Geschichte. Laura hat hier moderne Mailänder Möbel mit italienischen Renaissancemöbeln kombiniert, massenweise Bücher, Blumen, Gemälde und schön gewebte Kissen über den ganzen Raum verteilt. Die Türen sind handvertäfelt belassen, vor den Kaminen sind Holzscheite gestapelt, und das warme sanfte Licht eleganter Tischlampen durchflutet alle Zimmer. Wir wärmten uns am lodernden Kaminfeuer auf, um die Februarkälte abzuschütteln. An meinem ersten Abend aßen wir das Abendbrot von Tabletts: siedendheiße Minestrone alla Milanese, gefolgt von Osso Buco, einem Salat, zum Nachtisch Panettone und schmackhaften Gorgonzola, Mascarpone und Stracchino. Wir hatten kaum mit dem Osso Buco begonnen, als ich anfing, Laura von Rory Stirling zu erzählen. Sie ließ mich eine Zeitlang ohne Unterbrechung erzählen. Ihre elegante Statur war in eine weiche, bodenlange Kaschmir-Strickjacke gehüllt, die sie über einem Seidenhemd und weiten Wollhosen trug. Ihr fast weißes Haar war sehr kurz geschnitten, und ihr stolzes Adlerprofil warf im Kerzenlicht einen beeindruckenden Schatten an die Wand hinter ihr. Sie war eine stolze Schönheit, stark und temperamentvoll, aber ich wußte, daß sie im Innern warmherzig und romantisch war. Plötzlich unterbrach sie mich. »Sag mir, glaubst du an il destino?« Ob ich an das Schicksal glaubte? Ich nickte. Ja, das sei jetzt modern. »Du mußt den Augenblick festhalten. Sagt man das so bei euch? Du selbst weißt, wann du den richtigen Mann gefunden hast. Niemand kann dir das sagen. Du mußt es selbst wissen, und das tust du auch. Er ist mit niemandem zu vergleichen, den du vorher kennengelernt hast. Junge Mädchen denken, daß sie sich wieder und wieder verlieben. Mit fünfzehn beginnt das -294-
heutzutage vielleicht sogar schon mit zwölf, wer weiß? Aber wenn du den Richtigen kennenlernst, weißt du, daß du dich zuvor selbst betrogen hast. Für mich hört es sich so an, als hättest du Glück gehabt, SWAN. Viele Frauen begegnen ihrem Traummann nie. Sie erleben nie Leidenschaft. Oder sie heiraten einen von diesen Jungs, von denen sie glauben, daß sie in ihn verliebt sind, bis sie dann den Richtigen treffen, sich scheiden lassen und alle Beteiligten unglücklich machen. Doch die Leidenschaft in deiner Stimme verrät, daß Stirling anscheinend der richtige Mann für dich ist.« »Mein Rory… O mein Gott, was habe ich da gerade gesagt? Er ist nicht mein… Ich habe mit ihm ja noch nicht einmal…« »Du hast noch nicht mit ihm geschlafen? Sieh mich nicht so schockiert an. Ich bin zwar schon sechzig Jahre alt, aber ich schlafe noch immer mit meinem Mann. Das ist sehr, sehr wichtig. Du mußt mit ihm schlafen, SWAN. Wenn es mit ihm im Bett nicht gut klappt, mußt du ihn vergessen. Dann ist das nichts von Dauer. Du mußt mit ihm schlafen. Meine Familie hat nie verstanden, warum ich mit Charleys Vater durchgebrannt bin. Dabei ist das so einfach. Wenn ich einen Mann aus Mailand, Como oder Bergamo kennengelernt hätte, der im Bett so gut gewesen wäre wie er, dann wäre ich geblieben. Obwohl mir seine Geschäfte in Amerika ein bißchen - wie soll ich sagen? - suspekt sind. Da sehe ich nicht so genau hin. Alles, was wichtig ist, er macht mich im und außerhalb des Bettes glücklich. Such Signor Stirling und geh mit ihm ins Bett. Und, SWAN…« Ja?« »Ruf mich an, und erzähl mir, wie er ist. Jedes Detail.« »Kommst du zu den Shows nach Mailand zurück?« fragte Laura mich, als wir die schmale Straße entlangfuhren, die die Dörfchen entlang des Sees miteinander verbindet. Sie mußte die -295-
Frage mehrmals wiederholen, bevor ich verstand, was sie sagte. Ich befand mich wie in eine m Traum. In der letzten Nacht war ich bis in die frühen Morgenstunden aufgeblieben und hatte Rorys Buch ›Kämpferisches Bekenntnis - Memoiren eines Triebtäters‹ gelesen. Es handelte von einem Jungen Anfang Zwanzig, der sich stark zu älteren Frauen hingezoge n fühlt, nicht nur zu einer, sondern zu mehreren. Ohne dabei zu hart zu sein, lieferte Rory eine Serie brillanter Porträts einer Gruppe von geschiedenen, unsicheren, aber immer noch begehrenswerten Frauen in den Vierzigern, die verzweifelt nach Sex und Liebe suchen. Rorys derber junger Einwandererheld ist in der Lage, ihnen beides zu geben. Was das Buch aber so wundervoll machte, waren die fantastischen Beschreibungen der verschiedenen sinnlichen Unterweisungen, die der Held von jeder einzelnen Frau erhält. Ich fragte mich ständig, wie autobiographisch die Geschichte wohl war. Und ich konnte es kaum noch erwarten, ihn endlich wiederzusehen, denn wenn er nur ein halb so guter Liebhaber wie sein Held war, dann mußte Rory Stirling Spitzenklasse sein! Wir waren auf dem Weg zum Mittagessen im Haus einer von Lauras Freundinnen, deren Sohn eine Party mit Gästen aus Mailand gab. Unter diesen Gästen waren mehrere Models, ein oder zwei Fotografen und die übliche Gruppe von Playboys, die in Mailand Jagd auf die Models machten - die Söhne reicher Familien mit den richtigen Verbindungen, die ihr Geld genauso leicht mit Olivenöl, Tomaten oder im Lumpenhandel verdienen konnten. Die Porsches und Ferraris, die sich vor der Villa breitmachten, sprachen für sich. »Ich arbeite fü r Armani«, erzählte ich Laura. »Willst du dafür nach Mailand kommen?« »Wahrscheinlich. Ich bin schon seit einer ganzen Weile nicht mehr bei seinen Shows gewesen, aber ich glaube, er hält immer einen Platz für mich frei. Ich erinnere mich, vor Jahren hatte er eine Show in New York, und ich war gerade in der Stadt. Er -296-
schickte mir ein Ticket, und ich kam erst sehr spät. Es gab keine Platznumerierungen, und alle Sitze waren besetzt. Dann stand ein Mädchen von einem Platz in der ersten Reihe auf und bot ihn mir an. Ich war überrascht. Doch dann sah ich, daß ein großer Teil der ersten Reihe von jungen Mädchen besetzt war, die Verkäuferinnen in den Geschäften waren. Jedesmal, wenn ein besonderer Kunde kam, sprangen sie auf und räumten ihren Platz. Ist das nicht süß? So, jetzt sind wir da. Hoffentlich ist es halbwegs amüsant. Wenn nicht, kehren wir so früh wie möglich zu unseren Büchern vor den Kamin zurück.« Ich war auf mich allein gestellt, als Laura von ihrer Freundin für ein kurzes Essen zu zweit in ein anderes Zimmer gezogen wurde, während man mich in ein großes rustikales Eßzimmer führte. Ich wollte fast schon wieder hinausgehen, denn eine Art Direktor namens Roberto Fabiani war anwesend. In unserer Branche gibt es viele Schwule, und die meisten von ihnen sind die besten Freunde der Mädchen. Nicht so Roberto. Ich habe ihn immer verabscheut und sofort gespürt, daß er nur Schwierigkeiten verursachte. Er war schleimig, einschmeichelnd und tratschsüchtig, alles in allem ein richtiges Ekelpaket. Zum Glück wurde ich, als er schon auf mich zusteuerte, von Suzy Davis gerettet, einem verrückten texanischen Mädchen, mit dem ich schon in New York zusammengearbeitet hatte. »SWAN, ich wußte gar nicht, daß du auch kommst. Komm und erzähl mir, was in New York so alles passiert ist.« Das war typisch Suzy. Sie war weit entfernt davon, mir auch nur ein halbes Ohr für eventuelle Neuigkeiten zu leihen. Statt dessen zog sie mich auf den Platz neben sich und ging dazu über, mich mit Skandälchen über jeden der im Raum Anwesenden zu versorgen. »Siehst du das Mädchen da drüben? Das ist Gigi Garcia. Sie kommt von der falschen Seite von South Beach. Hast du sie in New York gesehen?« -297-
Ich schüttelte den Kopf. Das Mädchen war das Idealbild einer heißblütigen Latina, sie verströmte Sex-Appeal aus allen Poren, und ich konnte mir vorstellen, daß die Kameras sie absolut bewunderten. Ich fragte mich, warum ich noch nie Bilder von ihr gesehen hatte. »Glaub mir, das kannst du dir sparen. Sie hat mehr Aufnahmen über sich ergehen lassen, als Bonnie und Clyde Banken überfallen haben, mal ganz abgesehen davon, was ich sonst gehört habe. Bei ihr ist es wohl so, daß sie lieber für mindestens zehntausend Dollar pro Tag ins Bett geht, als daß sie dafür aufsteht. Und siehst du den Typen neben ihr? Nun, das ist ein Fotoassistent. Man erzählt sich, daß er mit Roberto Fabiani geschlafen hat, um eigene Fotos machen zu können. Er ist süß, nicht? Ich würde gerne mit ihm gehen, aber er hat schon eine Freundin, und damit meine ich nicht Roberto.« »Diese Gigi?« »Nein, ein englisches Mädchen, wirklich hübsch, rothaarig. Die Italiener sind verrückt nach ihr. Sie macht es hier wirklich gut. Ich frage mich ernsthaft, was sie mit diesem Schwächling Bobby Fox will.« »Ist sie auch hier?« Ich fand es interessant, was sie mir über die Rothaarige erzählte, und hätte es nett gefunden, mich mit jemandem aus England unterhalten zu können. »Nein. Sie ist zwar eingeladen, aber wie ich gehört habe, hat sie Wind von Bobbys und Robertos Verhältnis bekommen. Als sie erfahren hat, daß Roberto hier sein würde, hat sie im letzten Moment abgesagt. Man erzählt sich, sie sei wegen der ganzen Sache ziemlich verwirrt.« »Na, tu doch nicht so erstaunt, Suzy. Wärst du das nicht auch? Nein, wenn ich's mir recht überlege, hättest du das alles geschluckt. Ist denn dieser Bobby jetzt mit Roberto hier?« »Nein, das ist das Härteste: er ist mit Gigi Garcia hergekommen. Und Gigi ist ausgerechnet die Zimmergenossin -298-
seiner Freundin.« Während des Essens beobachtete ich, wie Gigi Garcia sich ernstlich betrank. Irgend etwas an ihr war bedauernswert. Es kam mir vor, als hätte sie keinerlei Kontrolle über sich und ein mutwilliges Bedürfnis nach Selbstzerstörung. Gleichzeitig kam sie mir wie ein unglückliches Kind vor. Mit jedem, mit dem sie sich unterhielt, flirtete sie und beleidigte ihn zugleich. Sie war gierig, beim Sex wahrscheinlich genauso wie beim Essen. Ich beobachtete, wie sie sich schaufelweise Pasta in den Mund schob. Sie sollte aufpassen, denn sie sah nicht gerade verhungert aus, und ich vermutete, daß sie schon fast ein bißchen zu pummelig für die Fotos war. Während des Kaffees richtete sich ihre Aufmerksamkeit plötzlich auf mich. »Was ist an dir nur so besonders?« Plötzlich wurden alle still. Ich war immerhin ein Topmodel, und sie war ein Mädchen, das noch auf seinen Durchbruch wartete. Ich tat, als hätte ich sie nicht gehört. Das schien mir das höflichste, was ich tun konnte. »Ich habe gefragt: Was ist nur so besonders an dir? Du bist bei Etoile, nicht wahr?« »Ja«, beantwortete ich ihre zweite Frage und ignorierte die erste weiterhin. »Ich auch. Hast du es jemals - du weißt schon - mit Charley getrieben?« Das war unerhört, aber sie machte in diesem Stil weiter und wartete noch nicht einmal eine Antwort ab. »Weißt du, Charley ist verrückt nach mir. Er paßt auf mich auf. Ich bin sein besonderer Schützling. Er hat mich nach Italien geschickt. Er wartet auf mich, wenn ich zurückgehe. Das könnte auch deine Erfolgsgeschichte sein, nicht wahr, hohe und erhabene SWAN?« -299-
Ich zwang mich, daran zu denken, daß sie nur ein junges Ding war, dazu wahrscheinlich noch ein sehr unsicheres. Gerade kamen Laura und unsere Gastgeberin herein. Ziemlich bald würde ich hier draußen sein. Ich durfte in den nächsten fünf Minuten nur nicht meine Beherrschung verlieren. »Wer ist denn die alte Hexe, mit der du gekommen bist, SWAN?« Gigis Frage war von allen im Raum gut zu hören. Ich verlor sie. »Das ist, falls du es nicht weißt«, zischte ich, »die Mutter von Charley.« »Scheiße!« sagte Gigi. Sie wußte, daß sie bereits zu weit gegangen war, um da noch schadlos herauszukommen. Zum allgemeinen Entsetzen torkelte sie betrunken auf Laura zu und fuhr fort: »Dein kleiner Junge ist in Schwierigkeiten. Weißt du auch, warum? Da gibt es nämlich ein kleines vierzehnjähriges Mädchen namens Victoria Parrish, die ein Baby erwartet. Ich kenne ein Zimmermädchen in einem Hotel in Miami, das sie zusammen mit Charly gesehen hat. Sieht so aus, als hätte Charley mit einem minderjährigen Püppchen geschlafen, und du wirst jetzt Großmutter!« Noch in dieser Nacht riefen wir Charley in New York an. »Was man natürlich bedenken muß, ist, daß er nicht nur nach mir geraten ist, sondern auch nach seinem Vater«, hatte Laura bemerkt, als wir nach dem Essen nach Hause gefahren waren. »An ihrer Geschichte könnte tatsächlich etwas Wahres dran sein. Irgend etwas läuft in Charleys Leben momentan schief. Die letzten Male, die ich mit ihm gesprochen habe, klang er ziemlich bedrückt und niedergeschlagen. Du weißt, ich rede nicht gerne lange um den heißen Brei herum. Sein Vater war immer in Schwierigkeiten, als er noch jung war, und zu seiner Zeit hat er Charley mit einigen ziemlich zwielichtigen Leuten zusammengebracht. Ich weiß alles über Charleys Ruf bei den -300-
Frauen. Das Problem dabei ist, daß nicht nur ich das weiß, sondern praktisch jedermann. Jemand könnte diese Frau als Köder für irgend etwas benutzen.« »Wie es aussieht, ist sie noch nicht einmal eine Frau«, hatte ich ergänzt. »Da stimme ich dir zu. Aber du weißt, daß man heutzutage leicht einen Fehler machen kann. Als ich noch ein Mädchen war, haben wir unserem Alter entsprechend ausgesehen. Heute kann ein zwölfjähriges Kind für zwanzig durchgehen, und das ist keine große Übertreibung. Nach allem, was ich in der Modelwelt gesehen habe, unterstützt man das sogar. Ich habe mit Charley darüber diskutiert. Mir mißfällt das sehr, aber er meint, ich sei altmodisch.« Charley war sehr ausweichend am Telefon. Laura hatte recht, er war nicht mehr der alte. Er gab zu, daß er durchaus zur gleichen Zeit wie das Mädchen in Miami gewesen sein könnte. Mrs. Parrish war anschließend noch einmal zu ihm gekommen und hatte ihre Tochter mitgebracht. Charley räumte zwar ein, daß ihm Victoria Parrish bekannt vorgekommen sei, aber er konnte sich nicht daran erinnern, mit ihr geschlafen zu haben. Die Kleine wiederum behauptete, das sei in einem Hotel in Miami gewesen, und das Datum, das sie angab, stimmte mit demjenigen überein, das Gigi vom Zimmermädchen erfahren hatte. »Charley, wo hast du diese Gigi aufgegabelt?« fragte ich ihn, nachdem Laura den Hörer mir gereicht hatte. »Auch in Miami. Ich kann mich kaum mehr daran erinnern, aber sie sagt, ich hätte sie in einem Hotelzimmer gesehen, als ich den Korridor entlangging. Ich soll ihr geraten haben, an unseren Schönheitswettbewerben teilzunehmen, wenn sie älter wäre. Dann ist sie in New York aufgetaucht, und als ich sie in meinem Büro gesehen habe, habe ich sie nicht einmal wiedererkannt.« -301-
»Aber, Charley, genau dasselbe ist doch offensichtlich auch Victoria Parrish passiert, nur daß sie keinen Schönheitswettbewerb ge wonnen hat und jetzt wütend ist. Ist sie hübsch? Könnte sie später als Model arbeiten?« »Das bezweifle ich. Sie hat ziemlich kurze Beine. Ich vermute, daß ihre Eltern sie nach New York gezerrt und nie aus den Augen gelassen haben - und das ist jetzt so was wie ein rebellisches Aufbegehren, mit dem sie auf sich aufmerksam machen will. Aber es könnte unangenehm werden. Etoile kann einen Skandal nicht gebrauchen, und es wird einen geben, wenn die Presse darauf stößt.« »Du meinst, daß dich dann kein Elternpaar mehr sein Kind unter Vertrag nehmen ließe?« »Weißt du, das traurigste an der Sache ist, daß einige Eltern es wahrscheinlich trotzdem tun würden, selbst wenn sich das mit Victoria als wahr erwiese. Ich habe schon sehr ehrgeizige Mütter erlebt, die bis zum Äußersten gehen würden.« »Wirst du Gigi Garcia rausschmeißen?« »Nein. Sie könnte es schaffen, vorausgesetzt, daß sie sich zusammenreißt und irgendwie eine zweite Chance bekommt. Ich werde sie dazu bringen, dir ihre Mappe zu zeigen. Diese Bilder, die Marion Warner von ihr gemacht hat, sind sehr beeindruckend. Sie hat das Aussehen, das man braucht, um aus der Masse herauszuragen. Vielleicht klappt es ja. Sie ist allerdings auch in der Lage, sich selbst und ihre Karriere endgültig zu zerstören, gleich beides zusammen, aber ich will ihr das nicht so leichtmachen, indem ich sie rauswerfe. Entweder sie zerstört sich, oder sie wird in nicht allzu ferner Zukunft ein Topmodel. Sofern man überhaupt ein Topmodel sein kann, ohne auch zugleich Mannequin zu sein. Denn das wird sie niemals werden.« Gleichgültig, ob Gigi Garcia jemals Erfolg auf dem Laufsteg haben würde, als ich zu Etoile in Mailand reiste, begegnete ich -302-
dort einem Mädchen, dem die Laufstegqualitäten förmlich ins Gesicht geschrieben standen - einem großen gertenschlanken Rotschopf mit zarter weißer Haut, porzellanfarben wie meine, jedoch mit ein paar kleinen Sommersprossen. An ihrer Aussprache erkannte ich, daß sie Engländerin war, und ich schloß daraus, daß es sich um die Freundin von Bobby Fox handeln mußte. Carla bestätigte das. »Si, Tessa. Ein wunderbarer Fang. Seit ihrer Ankunft hat sie so ziemlich jeden Tag gearbeitet.« »Wie hast du sie denn gefunden, Carla?« »Die haben da in London diese fantastische neue Bookerin namens Angie. Die hat sie entdeckt. Das war sehr interessant. Grace hat mich angerufen und vorgewarnt. Sie hat gesagt: ›Angie wird dir ein Mädchen schicken, das sehr schüchtern ist und kein Selbstvertrauen hat. Wir sind wegen ihr schon ganz verzweifelt. Sie wird zusammen mit ihrem Freund kommen. Das ist die einzige Möglichkeit. Nur wenn sie mit ihm zusammen ist, hat sie Selbstvertrauen. Tu, was du kannst! ‹ Dann hat mich Angie angerufen und mir genau erklärt, wie ich mit Tessa umgehen soll, daß ich sehr vorsichtig sein und ihr ständig Mut machen müsse. Und sie hatte in allem recht. Also haben wir hier jetzt ein Mädchen, das zwar die ganze Zeit arbeitet, aber immer noch kein Selbstvertrauen hat. Es ist zwar etwas besser geworden, aber wir sind noch nicht am Ziel.« »Ich habe gehört, daß es einen Skandal um ihren Freund gegeben hat. Das übliche Problem mit Roberto Fabiani?« »Si, und jetzt ist es sogar noch schlimmer geworden. Heute morgen hat Tessa sich mir das erstemal anvertraut. Letzte Nacht kam sie nach Hause und fand ihre Zimmergenossin Gigi mit Bobby im Bett vor. Sie waren am Wochenende gemeinsam weggewesen. Dann kamen sie nach Mailand zurück, stiegen zusammen ins Bett, und Tessa schneite herein. Heute hat mir Tessa gesagt, daß sie zurück nach London möchte. Was soll ich -303-
tun?« »Hast du sie schon für eine der Shows gebucht?« »Sie hätte in dieser Woche anfangen sollen, zu den Bewerbungsterminen zu gehen. Heute hätte sie ein paar gehabt, aber sie will nach Hause. Nicht zu fassen. Das ist ihre Chance, Mannequin zu werden, und sie will nach Hause.« »Du weißt, daß sie für Armani perfekt wäre«, sagte ich zu Carla. »Soll ich nicht mit Giorgio reden und ihm sagen, daß er sie sich ansehen soll? In der Zwischenzeit setzt du ihre Namen einfach auf die Liste und schickst sie zu dem Casting. Was das Mädchen jetzt braucht, ist ein massiver Anschub ihres Selbstbewußtseins. Du mußt sie nur dazu bringen, daß sie noch einen einzigen Versuch hier in Mailand wagt, bevor sie nach Hause fliegt.« Ich blieb eine Nacht lang in Mailand, um am Abend mit Marcello und Carla essen zu gehen und mit ihnen abzusprechen, an welchen der Shows ich teilnehmen würde und wann ich dafür jeweils nach Italien zurückkommen müßte, dann flog ich nach London. Die Londoner Modewoche begann, und ich war für die Shows der neuen jungen Modedesigner gebucht. In der Wochenmitte fanden keine Shows statt, dann würde ich Zeit haben, nach Wiltshire zu fahren, um Harry und - sofern sie mich ließen - das erstemal seit Jahren auch wieder meine Eltern zu besuchen. Als ich aber auf dem Londoner Flughafen Heathrow landete, waren alle Pläne, die ich im Flugzeug geschmiedet hatte, plötzlich wie weggeblasen: neben meinem Leibwächter von Etoile wartete in der Ankunftshalle Rory Stirling auf mich.
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Mailand, 1994 Auf dem Weg zum Armani-Casting in der Via Borgo nouvo versuchte sich Tess auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag. Aber ihre Gedanken schweiften immer wieder zu der Szene ab, deren Zeuge sie in der vergangenen Nacht geworden war: Gigi und Bobby. Sie hatte es gar nicht nötig, zu diesem blöden Casting zu gehen. Niemand wußte, daß sie bereits genug Geld verdient hatte, um ihrer Mutter den neuen Rollstuhl kaufen zu können. Sie hatte es aus ihrem Depot bei der Agentur entnommen, um es jederzeit nach London mitnehmen zu können. Jetzt trug sie es die ganze Zeit über bei sich. Das war ihr lieber, als das Geld im Dársena liegenzulassen. Sie wollte so schnell wie möglich nach England zurückkehren - fort von den durchdringenden Blicken der Italiener und den lüsternen Einladungen der Mailänder Playboys - und sich bei ihren Eltern künftig von der Modebranche fernhalten. Danach könnte sie darüber nachdenken, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Sie wußte, daß ihre Mutter es gern sehen würde, wenn sie wieder zur Schule ginge und den höheren Abschluß schaffte, aber Tess war sich nicht sicher, ob sie das noch könnte. Eines stand auf jeden Fall fest: das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein weiteres erniedrigendes Casting. Zu diesem hier ging sie nur Carla zuliebe, die während ihres ganzen Aufenthaltes in Mailand so wahnsinnig nett zu ihr gewesen war. Tess beschleunigte ihre Schritte. Sie mußte zwischen 12.00 Uhr und 12.15 Uhr dort sein. Danach wurden die Türen geschlossen, und wenn man auch nur eine Minute zu spät kam, ließen sie einen nicht mehr hinein. Viele, viele Mädchen waren in Richtung Armani unterwegs. -305-
Was Tess nicht ahnte: Gigi Garcia, die wußte, daß sie etwas für ihre Karriere tun mußte, war als eine der ersten dort angekommen. Natürlich hatte Gigis Name nicht auf der Liste gestanden, denn Carla hätte sie niemals für Armani vorgeschlagen. Aber da Gigi früh genug gekommen war, konnte sie sich einschleusen, indem sie den Namen eines Mädchens angab, der auf der Liste stand. Sobald der Türsteher den entsprechenden Namen abgehakt hatte, durfte Gigi passieren. Das erste, was Tess sah, als sie endlich ankam, war Gigi. Es war schon komisch, noch vor wenigen Minuten hatte sie Probleme gehabt, das Casting ernst zu nehmen. Jetzt genügte ein einziger Blick auf Gigi, und schon war sie wütend wie nie zuvor. Diese kleine Herumtreiberin hatte ihr Bobby weggenommen. Tess war stinksauer. Das war für sie eine neue Erfahrung, die ungeahnte Energien freisetzte. Sie ging hocherhobenen Hauptes an Gigi vorbei und würdigte sie keines Blickes. Gigis verblüffter Gesichtsausdruck entschädigte sie für vieles. Was als nächstes geschah, war für Tess das absolut befriedigendste Erlebnis ihres gesamten Mailand-Aufenthaltes: die Mädchen wurden gebeten, sich zu entkleiden und einen fleischfarbenen Body und flache Schuhe anzuziehen. »Flache Schuhe?« schimpfte Gigi. »Wozu denn das?« Das sollte sie bald herausfinden. Indem man die Mädchen bat, flache Schuhe zu tragen, wollte man sich davon überzeugen, daß sie wirklich alle mindestens 1,73 Meter groß waren. Gigi war es nicht. In der Reihe der Mädchen, die auf die Bühne hinaustraten, war sie ohne ihre zehn Zentimeter hohen Absätze deutlich kleiner als alle anderen. Sie wurde gebeten, das Casting zu verlassen. Als Gigi diesmal an ihr vorbeiging, lächelte Tess strahlend und rief ihr »Ciao, Liebes, ich seh dich später« nach, ein für sie völlig untypisches Verhalten. Kurz bevor die Mädchen auf den Laufsteg traten, zog man -306-
ihnen Armani-Jacketts an. »Keine Mappen bitte, nur einmal kurz auf und ab!« Coolelegant ging Tess den Laufsteg hinab. Ihr erdbeerrotes Haar fiel auf ihre Schultern, das Armani-Jackett saß perfekt, und ihre langen, wohlgeformten Beine waren bis auf die Seidenstrümpfe nackt. Am Ende des Laufstegs bemerkte sie Armani höchstpersönlich, umgeben von drei, vier Leuten. Als sie dort ankam, herrschte völlige Stille. Alle musterten sie von oben bis unten und sahen dann in eine Zeitschrift. Tess bemerkte, daß es sich dabei um eine Ausgabe von Carter's handelte. Das mußten ihre Mrs.-De-Winter-Aufnahmen sein. Tess hatte gehört, daß man, wenn man dem Kunden gefiel, aufgefordert wurde, ein zweitesmal auf und ab zu gehen. »Geh für uns doch bitte noch mal auf und ab.« Und Tess hatte auch gehört, daß, wenn man dem Kunden sehr gefiel, dieser ein paar Fotos machen würde. Sie kam ein zweites Mal ans Ende des Laufstegs. »Warte eine Sekunde…« Mit einer Polaroidkamera schoß ein Mann ein paar Fotos von ihr. »Vielen Dank«, sagte er schließlich und lächelte sie an. Auf dem Weg zurück in die Agentur war Tess hin- und her gerissen. Offensichtlich kam sie in Mailand an. Aber sie wollte auch zurück nach England. Wenn man sie in Mailand mochte, würde man auch in England lernen, sie zu mögen. Aber sie wollte nicht länger Model sein. Sie wollte ihrer Mutter den Rollstuhl kaufen und sich dann nach etwas anderem umsehen. Genug Geld dafür hatte sie, jetzt mußte sie nur noch… Unvermittelt wurde sie von einem Mann angerempelt. Tess trat empört zur Seite. Jedesmal, wenn sie einen Schritt vor die Tür setzte, wurde sie angemacht. Erst als sie später wieder in der -307-
Agentur war, bemerkte sie, daß dieser Mann sie ausnahmsweise einmal nicht hatte begrapschen wollen. Das ganze Geld, das sie für ihre Mutter gespart hatte, war ihr gestohlen worden.
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London, 1994 Tommy Lawrence kam tatsächlich mit eingezogenem Schwanz aus Mailand zurück. Er hatte dort kaum gearbeitet, aber die Agentur auch keinen Cent gekostet, weil sie ihm das Ticket nicht bezahlt hatte. Etoile Mailand hatte ein Fax geschickt, und er war auf eigene Kosten hingeflogen. Tommy war in Croydon aufgewachsen, einer Vorstadt im Süden Lo ndons. Seine Eltern hatten unter einem schönen Leben den Besuch eines klassischen Musikkonzerts in den Fairfield Halls oder einen Ausflug ins Whitgift Shopping Centre verstanden. Das alles hatte Tommy sterbenslangweilig gefunden. Und so hatte er sich in seine Wunschträume geflüchtet. Beispielsweise hatte er sich eine ganze Woche lang eingeredet, sein richtiger Vater wäre nicht Allen Lawrence, der Buchhalter, sondern ein entfernter Verwandter des Fürsten Rainier von Monaco, und demnach wäre sein wirklicher Name Tomas Grimaldi und er der rechtmäßige Erbe eines kleinen Fürstentums. In der nächsten Woche hatte er sich dann vorgestellt, ein großes Tier in der Stadt zu sein, und man hatte ihn anschließend dabei beobachten können, wie er mit einem imaginären Funktelefon rund um die Croydon Holding lief und für astronomische Summen Gebrauchtwaren verkaufte. Zwangsläufig war ihm irgendwann die Idee gekommen, daß er seine Vorstellungskraft doch wunderbar dazu einsetzen könnte, um Schauspieler zu werden. Aber den Gedanken, sich an einer Schauspielschule zu bewerben, hatte er weit von sich gewiesen. Das war typisch Tommy. Das Geld, das ihm seine Eltern zum achtzehnten Geburtstag schenkten, verpulverte er für ein Flugticket nach Los Angeles, wo er dann herumlungerte und an seinem ganz großen Durchbruch bastelte. In der Zwischenzeit jobbte er in Supermärkten, als Schwimmbadreiniger oder -309-
Kellner, wo immer sich ohne Arbeitserlaubnis schnelles Geld verdienen ließ. Einmal war er nahe daran gewesen, eine Rolle zu bekommen. Das war, als er für das Remake von ›Denn sie wissen nicht, was sie tun‹, vorgesprochen hatte. Tommy sah zwar nicht im entferntesten wie James Dean aus, aber sein Aussehen hatte etwas so Grüblerisches und Fesselndes, daß es den Leiter des Castings dazu veranlaßt hatte, Probeaufnahmen mit ihm zu machen. Eine ganze Woche lang wurde Tommy auf die Folter gespannt und dann schließlich von einem Typen ausgestochen, der den lächerlichen Namen Water Detroit trug. Um ihn zu trösten, hatte der Leiter des Castings Tommy geraten, es doch mal als Model zu versuchen. Ein männliches Model? hatte Tommy mit Abscheu gedacht und die Stadt verlassen, um nach London zurückzukehren. Das waren doch alle nur verfluchte Schwule. Er hatte sich getäuscht. Jetzt, da Männer zunehmend modebewuß ter wurden und die entsprechenden Zeitschriften lasen, war der heterosexuelle Look im gleichen Maße gefragt wie der homosexuelle. Als Tommy dann über Kate Moss' Bruder las und darüber, wie er als Model gefeiert wurde, dachte er erstmals über den Ratschlag des Casting- Leiters nach. Er war mit Nick Moss zur Schule gegangen, der Gott sei Dank ein paar Klassen unter ihm gewesen war. Das gute an männlichen Models war, daß sie später anfangen und länger im Geschäft bleiben konnten. Das war dann aber auch schon das einzig Positive, denn männliche Models verdienten bei weitem nicht soviel wie die weiblichen. Tommy Lawrence war zwanzig Jahre, als er erstmals in das Büro von Etoile kam. Zufälligerweise geriet er an Ashley, der diesen Morgen am Booking Tabel für Männer verbracht und endlos mit Müttern telefoniert hatte, die, wie er sich ausdrückte, von ihren Kindern ganz hingerissen waren. Alle waren fest davon überzeugt, daß ihre schlaksigen Schuljungs die perfekten Models wären. Im Vergleich dazu erinnerte Tommy ihn an die britische Ausgabe -310-
eines Markus Schenkenberg, einen stattlichen Schweden und den männlichsten Mann, den es in der Modewelt der Topmodels nur geben konnte. Als erstes schnitt man ihm die Haare ab. Tommy sah nicht im entferntesten wie das typische Gilette-Modell mit dem markanten Kinn aus, aber sein schwarzes, kurzgeschnittenes borstiges Haar verlieh ihm ein neues und anderes, fast verwahrlostes Aussehen, ohne ihm dabei die männliche Härte zu nehmen. Er hatte ein schönes Lächeln, nicht zu breit und ganz und gar nicht affektiert. Er konnte eine Augenbraue hochziehen, die Stirn ein wenig runzeln und sah so sexy aus, wie alle es haben wollten. Tommy hatte eine maskuline Sinnlichkeit und verströmte eine Art von Selbstvertrauen, die genau richtig war. Wenn er auf einem Foto in einer Bar auf ein Mädchen einredete, sah es immer so aus, als würde er sie ohne jeden Zweifel auch bekommen. Aber Tommy mußte noch sehr viel lernen. Er verbrachte Stunden damit, seine Mimik einzustudieren, doch wenn er dann vor der Kamera stand, wirkte er oft so selbstbewußt, daß es nicht mehr natürlich wirkte; er lächelte zu breit und übertrieb maßlos. Das beste an ihm war vielleicht sein großes Mundwerk. Wenn er in seiner Mappe auch nichts anderes als ein Foto seines Gesichtes vorzuweisen hatte, erinnerte man sich in London doch immer gerne an ihn, weil er einen zum Lachen brachte. Ashley erkannte traurig, daß der Grund für Tommys Scheitern wahrscheinlich der war, daß er drüben in Mailand nicht in der Lage gewesen war, sich auf italienisch zu unterhalten. Nun, das hatte er jetzt hinter sich, er war ja zurück. Außerdem hatte er den Zahnseidenwerbesport an Land gezogen, es ging aufwärts. Cassie konnte es nicht fassen. Fast drei Stunden hatte man ihr die Haare frisiert und sie geschminkt, und nun betrachtete sie -311-
das Ergebnis: sie sah Lady Di unheimlich ähnlich. Zwar mochte die kurze Perücke in feierlichem Stil einiges dazu beitragen, aber Cassie war darüber entzückt, wie sehr ihre veilchenblauen Augen und ihre Gesichtsform denen der Prinzessin von Wales glichen. Sie sah in das Skript. Aufgrund ihres amerikanischen Akzents würde sie den Text nicht selbst sprechen, sondern sollte später synchronisiert werden. »Wenn ein neuer Mann in Ihr Leben tritt, dann wollen Sie auch sicher sein, immer gut auszusehen - besonders bei der ersten Umarmung.« Cassie las den Text laut und kicherte darüber, wie bescheuert er sich anhörte. »Nur keinen Spinat zwischen den Zähnen haben, wenn der erste Kuß ansteht, wie?« sagte eine Stimme hinter ihr. Cassie drehte sich um und schrie vor lauter Freude auf. »Tommyyyy!» »Der bin ich. Ich dachte, ich schaue mal vorbei und sage hallo. Wir erledigen das Ding hier ja zusammen. Ich bin Tommy Lawrence. Deinen Namen hat man mir allerdings nicht gesagt.« Sie wurde sich plötzlich bewußt, daß er sie in ihrer Aufmachung als Lady Di unmöglich erkennen konnte. »Ich bin's. Cassie. Cassie Dylan oder Cassie Zimmerman, wie ich geheißen habe, als wir uns kennengelernt haben.« »Haben wir das?« Er sah sie verblüfft an. »Ich habe dich überall ge sucht. Ich wußte doch nicht, bei welcher Bank du arbeitest und wo sich dein Landhaus befindet. Was machst du denn hier? Gehört dir die Zahnseidenfirma oder so?« »Ich bin Model. Wie du auch. Wir machen den Spot zusammen. Und ich besitze kein Landhaus und auch keine Firma. Ich glaube, du verwechselst mich mit jemandem.« -312-
»Das tue ich nicht. Ich erkenne dich doch. Ich erkenne deine Stimme.« Sie wollte schon fast sagen: ich will dich küssen, so wie beim letztenmal, als wir uns gesehen haben! »Tja, es tut mir schrecklich leid, aber ich glaube nicht, daß ich dich schon mal gesehen habe.« »Warst du nicht in Kalifornien? Vor achtzehn Monaten? Am Strand von Alice.« »In der Tat, das war ich. Ich meine, ich kann mich nicht mehr erinnern, an welchen Tagen genau ich an diesem Strand gewesen bin, aber ich habe eine Weile in Los Angeles gelebt. Kommst du auch von dort?« Cassie fühlte sich plötzlich sehr seltsam. Sie war fast bis zur Besinnungslosigkeit glücklich, Tommy wiedergefunden zu haben, aber gleichzeitig war sie tief verletzt, weil er sich nicht an sie erinnerte. Weitere Peinlichkeiten blieben ihr erspart, da der Leiter des Castings zur Probe rief. Die Handlung war denkbar einfach. Cassie und Tommy mußten Arm in Arm eine Straße entlanggehen, während sie ihn bewundernd ansah und den Kopf an seine Schulter lehnte. In der nächsten Einstellung saßen sie in einem Restaurant. Bei Kerzenschein saßen sie sich gegenüber und genossen ihr Abendessen. Plötzlich kam Cassie allein ins Bild. Man sah, wie sie sich die Zähne putzte und mit Zahnseide behandelte, bevor sie schließlich in Tommys Arme sank, über seine Schulter hinweg strahlend in die Kamera lachte und all ihre jungfräulich weißen Zähne zeigte. Und es blieb der Phantasie des Zuschauers überlassen, ob die anschließende Umarmungsszene im Schlafzimmer noch am selben Abend oder erst einen Tag später stattfand. Den ganzen Tag über hänselte Tommy sie. »Möchten Ihre Königliche Hoheit vielleicht ein Würstchen?« fragte er sie in der Mittagspause. »Oder doch lieber ein Käsesandwich?« -313-
Und als sie am Ende des Tages das Gebäude verließen, fragte er sie: »Vielleicht möchte mich Ihre Königliche Hoheit zum Abendessen begleiten. Nichts Teures, denn das war mein erster Job seit Monaten.« Der Pizza-Expreß in der Fulham Road war nicht ganz so vornehm wie das Caprice oder Daphne's, in denen Cassie in ihrer Vorstellung immer mit Tommy gesessen hatte. Aber allein ihre Augen an seinem wundervollen Gesicht auf der anderen Seite des Tisches zu weiden und zu wissen, daß sie ihn endlich gefunden hatte, entschädigte sie für alles. Anschließend sagte er: »Ich glaube, es ist besser, ich bringe dich nach Hause und vergewissere mich, daß du die Extraportion Peperoni auch mit Zahnseide entfernst.« Er blieb natürlich über Nacht. Das hatte er die ganze Zeit über im Sinn gehabt, denn es wäre ein echter Schlauch gewesen, den langen Weg nach Croydon zurückzufahren. Solange er keine eigene Wohnung besaß, konnte man in der Old Church Street in Chelsea genausogut pennen wie überall sonst. Ganz nebenbei mochte er das offene, freundliche Wesen des kalifornischen Mädchens, obwohl sie ganz offensichtlich eine kleine Spinnerin war, wenn sie einem Typen, den sie nur einmal gesehen hatte, durch die halbe Welt nachlief. Trotzdem, es war schmeichelhaft und verklärte ihm den Blick auf die Zeit, die er in Los Angeles verbracht hatte und in der er fast jede Nacht mit einem anderen kalifornischen Mädchen zusammengewesen war. Er würde ohnehin bald weiterziehen, und da paßte ihm das hier ganz gut in den Kram. Das ruhige Leben am heimische n Herd war nichts für ihn. Das Gute am Modelberuf war, daß man ständig herumreisen konnte, wenn man Erfolg hatte. Denn das letzte, was Tommy wollte, war, sich mit Frau und Familie irgendwo fest niederzulassen. Wenn er geahnt hätte, daß sein Einzug in Cassies kleine Wohnung in Chelsea seine Freundin dazu veranlaßte, bereits die Hochzeit, ihre Flitterwochen und vor allem ihr erstes Baby zu -314-
planen, hätte er so schnell wie möglich die Flucht ergriffen. Es war die pure Ironie des Schicksals, daß Tommys Leben und seine Karriere sich auf völlig unerwartete Weise unlösbar mit Cassie Zimmerman verschmolzen. Der Werbespot wurde in der Woche gesendet, in der Tommy von Etoile zu einer Filmpremiere geschickt wurde. Es war eine reine PR-Angelegenheit, bei der er eine junge Schauspielerin begleiten sollte, die in dem Film mitwirkte. Sie brauchte eine Begleitung, und Tommys Gesicht brauchte Öffentlichkeit. Obwohl es keine königliche Premiere war, hatte man Lady Di eingeladen. Nach der Veranstaltung ging sie zur Treppe der Mitwirkenden hinüber, und als sie die Hand einer jungen Schauspielerin ergriff, stand Tommy genau neben ihr. Am nächsten Tag prangte Tommy auf den Titelseiten sämtlicher Klatschblätter. »DAS IST ER!« verkündeten die Überschriften. Man hatte das Foto beschnitten, so daß jetzt nur noch Lady Di und neben ihr Tommy zu sehen waren. Daneben wurde ein Ausschnitt des Werbespots plaziert, auf dem Tommy und Cassie als Lady Di zu sehen waren. Die Überschrift gab den Text des Spots wieder: »Wenn ein neuer Mann in Ihr Leben tritt…« Über Nacht war Tommy als neuer Mann im Leben der Lady Di ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gelangt. Der Werbespot schlug ein wie eine Rakete. Alle Länder dieser Erde wollten ihn haben, und Angie verbrachte Tag und Nacht am Telefon, um über die Konditionen zu verhandeln. Cassie und Tommy wurden sehr, sehr reich…
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London/Wiltshire, 1994 Ich war wie betäubt, als ich Rory dort stehen sah. Natürlich hatte ich ununterbrochen an ihn gedacht, aber mir wäre es nicht im Traum eingefallen, daß auch er an mich gedacht hatte. Mein wundervoller Leibwächter Brian Murphy, ein Ebenbild von Robert Mitchum, schloß taktvoll die Glasscheibe hinter sich, als Rory und ich uns im Fond der Limousine aneinanderkuschelten. Zu meiner Verwunderung erfuhr ich, daß Brian ihn hergefahren hatte, damit er sich mit mir treffen konnte. Wie er weiter erzählte, hatte Grace Brown ihm die Einzelheiten über meine Ankunft weitergegeben. Ausgerechnet Grace! Normalerweise hütete sie meine Privatsphäre, als gehörte ich zu einer vom Aussterben bedrohten Tierart. Sie gab nie Details darüber preis, wo ich mich gerade aufhielt. Wie hatte Rory das angestellt? »Ganz einfach. Ich habe sie zum Essen eingeladen. Bei Etoile in New York hat man mir erzählt, daß Grace dich in London betreut. Also habe ich sie angerufen und ihr gesagt, daß du für mich jemand ganz Besonderes bist und ich sie gerne zum Essen einladen würde, um mit ihr darüber zu reden. Sie antwortete, daß du auch für sie jemand ganz Besonderes seist und sie sich nichts Netteres vorstellen könnte, als in ihrer Mittagspause bei einem Teller Nudeln über deine Besonderheit zu reden.« Mit diesem Bericht sagte er mir zugleich zwei sehr wichtige Dinge. Erstens, daß er mich für jemand Besonderes hielt; und zweitens, daß Grace ihn für einen außergewöhnlichen Menschen hielt, denn sonst hätte sie ihm niemals geholfen, mich zu treffen. Und ich vertraute dem Urteil von Grace wahrscheinlich mehr als meinem eigenen. Rory wohnte im Blake's, ich hatte im Halkin gebucht. -316-
Auf dem Weg vom Flughafen fuhren wir zuerst am Blake's vorbei. Ich stieg mit ihm aus und bat Brian, mein Gepäck ins Halkin zu bringen. Unsere Ankunftszeit war optimal, um in die winzigkleine, dunkle Hotelbar hinunterzugehen und etwas zu trinken. Die Bar wurde hier und da von Lichtkegeln erhellt und war eine der romantischsten in ganz London. Man konnte hier stundenlang unentdeckt zusammenhocken, was wir auch taten. Mehrer Gläser Champagner später gingen wir in den Speisesaal zum Abendessen. Es war unvermeidlich, daß wir irgendwann auch über Harry redeten. »In Amerika hätte er zur Zeit keine Probleme«, sagte Rory. »Warum nicht?« »Nun ja, in Amerika ist jedermann ein Opfer. Man ist nicht einmal dann schuldig, wenn man am hellichten Tage im ausverkauften Shea-Stadion fünfundneunzig Leute abschlachtet. Alles, was du tun mußt, ist, dich daran zu erinnern, daß du in deiner Kindheit übel mißhandelt wurdest und deshalb zu einem Monster geworden bist; und wenn du dich nicht selbst daran erinnern kannst, tut es dein Anwalt für dich.« »Das hätte ich mal in der Today-Sendung anbringen sollen. Aber Harry hat ja überhaupt kein Verbrechen begangen.« »Natürlich nicht, aber ich denke, wenn du wegen irgend etwas verdächtigt wirst, tust du gut, ein Lügenmärchen aus der Schublade ›Familiengeheimnisse‹ aus dem Hut zu zaubern. Wirst du dich während deines Aufenthaltes hier mit ihm treffen?« »Selbstverständlich. Mein größtes Problem ist nur, ob ich meine Eltern besuchen soll oder nicht. Sie sind so ängstlich, was mich betrifft. Verständlicherweise - erst wurde Venetia getötet, und dann ist Harry verschwunden; sie werden so leicht nervös, wenn sie mich sehen, und wenn ich dann wieder aufbrechen muß, können sie den Abschied kaum ertragen. Wir haben vor einiger Zeit eine Art stillschweigendes Abkommen getroffen: je -317-
weniger sie mich sehen, desto besser werden sie mit der Situation fertig. Was ist mit deinen Eltern?« »Nur mein Vater lebt noch, und der ist schon sehr alt. Meine Mutter hat mich spät bekommen. Es gab Zeiten, da habe ich mich gefragt, ob ihr das nicht geschadet hat. Sie ist vor fünf Jahren an Krebs gestorben.« »Kommst du mit deinem Vater klar?« »Ja, das tue ich. Zwar sehe ich ihn nicht allzuoft, denn er lebt ganz weit draußen in Montana, in einer ziemlich rauhen Gegend, die ihn irgendwie an Schottland erinnert. Er haßt New York, denn er ist ziemlich ungesellig.« »Ich habe gehört, das wärst du auch.« »Ich bin nur sehr wählerisch, was meine Gesellschaft betrifft. Da ist nichts Schlechtes dran.« »Wie war deine Mutter?« »Sie war auf stille Feindseligkeiten spezialisiert, sie haßte offene Auseinandersetzungen. Mein Vater ist zwar ein manchmal ziemlich schroffer Mensch, aber er ist ehrlich. Man weiß immer, woran man mit ihm ist. Meine Mutter hingegen schmollte gern und schaute oft mißmutig drein, aber sie sagte nie ein Sterbenswörtchen. Deshalb konnte man mit ihr nicht reden und reinen Tisch machen.« »Das hört sich ja frustrierend an.« »Das war es auch. Ich erinnere mich noch daran, wie wir einmal…« Wir saßen dort und plauderten über uns und unsere Familien, als wäre es das selbstverständlichste der Welt. Als wir beim Kaffee angelangt waren, wußte ich endlich, was ihn von anderen unterschied: er hatte nicht dieses unbändige Bedürfnis, mich zu beeindrucken, das die meisten Männer an den Tag legten, mit denen ich ausging. Er langweilte mich nicht mit leerem Geschwätz über seinen BMW, seine Jacht, seine -318-
Maisonettewohnung am Sutton Place, sein Haus in den Hamptons, seinen Sitz im Aufsichtsrat oder seine Affären mit Filmstars. Er rivalisierte nicht mit mir, und genau damit hatte ich in der Vergangenheit einige Probleme gehabt. Den meisten Männern behagte es nicht, daß ich wahrscheinlich weit mehr als sie verdiente, aber Rory Stirling war selbstsicher genug, das zu ertragen. Noch dazu stellte sich heraus, daß er der beste Liebhaber war, den ich je gehabt hatte. Er liebkoste meinen Körper auf eine Art und Weise, wie es kein Mann zuvor getan hatte. Er legte mich in seinem Zimmer im Blake's auf sein Bett und erforschte meinen Körper von Kopf bis Fuß, streichelte meine Füße, die Innenseiten meiner Schenkel, glitt mit seiner Handfläche sanft über meinen Bauch, wölbte die Hand über meinen Brüsten, liebkoste die Haut meiner Arme und beschrieb mit seinen Fingern wieder und wieder Kreise auf meiner Handinnenfläche. Dann nahm er mein Gesicht zwischen seine Hände und betrachtete mich eine Ewigkeit lang, bevor er seinen Kopf zu mir herabsenkte und mich über und über mit Küssen bedeckte. Als er sich über mich beugte, konnte ich einen Blick auf seinen stark eregierten Penis erhaschen, der bereit war, sich zu entladen. Als er schließlich in mich eindrang, entspannte er sich total, zog ihn wieder heraus, drang wieder in mich ein, raus, rein, raus, rein. Ich hatte das Gefühl, als würde sich mein ganzer Körper verflüssigen und zu einem reißenden Strom werden, in den er so tief wie möglich eintauchen wollte. Hinterher brachte er ein Handtuch aus dem Badezimmer mit und trocknete mich ab, bevor er mich herumdrehte und diesmal die Rückseite meines Körpers untersuchte. Es endete damit, daß er mit seinem langen, fe ingliedrigen Körper auf mir lag und von hinten in mich eindrang. Wir schliefen eine Weile. Dann setzte ich mich rittlings auf ihn und beugte meinen Oberkörper zu ihm herab, so daß er an meinen Brustwarzen lecken konnte, bis sie hart wurden. Als ich -319-
dann das gleiche bei ihm machte, verlor er gänzlich die Kontrolle und explodierte, als ich mich mit seinem Penis in mir auf und ab bewegte. Dann ließ ich ihn schlafen und weckte ihn, indem ich sanft seine Hoden drückte und seinen Schwanz massierte, bis er wieder bereit für mich war. Am nächsten Morgen waren wir schweißgebadet. Unter der Dusche schamponierte ich ihm das graue Haar, das mir als allererstes an ihm gefallen hatte, während er mein Schamhaar wusch und sich niederkniete, um mich zu lecken. Wir versuchten, möglichst unschuldig auszusehen, als der Zimmerservice uns das Frühstück brachte, aber ich wußte, daß uns das mit Sicherheit nicht gelang. Ich trug eines seiner TShirts und konnte wohl niemanden täuschen. Jedesmal, wenn wir das Hotel verließen, bekamen wir ernsthafte Probleme; denn wann immer wir uns rein zufällig berührten, konnten wir nicht genug voneinander bekommen. Als wir nach dem Mittagessen aus der Oyster Bar kamen, dachte ich schon, er würde es mit mir gegen die Wand des Michelingebäudes gelehnt machen wollen. Es gelang mir gerade noch rechtzeitig, ihn in ein Taxi zu ziehen. Die Fahrt zurück zum Hotel dauerte gerade einmal fünf Minuten, aber er schob eine Hand unter meinen Rock, und es kam mir zweimal, bevor wir das Hotel erreichten. Am Montagmorgen tat mir alles weh. Ich konnte meine Augen kaum offenhalten, so wenig hatten wir geschlafen. Wir waren wie alle frisch verliebten Paare an dem Punkt angelangt, daß wir uns für ein paar Stunden trennen mußten, um neue Energien zu sammeln. Ich nahm ein Taxi zum Halkin und schrieb mich dort ziemlich verlegen ein - drei Tage, nachdem Brian mein Gepäck im Hotel abgegeben hatte. Dann bat ich Brian, mich zu Etoile zu fahren. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, band mir ein Kopftuch um und schlüpfte in ein Café, um in einer hinteren Nische eine -320-
gemütliche Tasse Kaffee zu trinken und einen klaren Kopf zu bekommen. Es war fast Mittag. Zwei Mädchen kamen herein und setzten sich in die benachbarte Nische. Ich saß zwar mit dem Rücken zu ihnen, so daß ich sie nicht sehen konnte, aber ihrer Unterhaltung konnte ich sehr gut folgen. Es war mir immer schon schleierhaft, warum manche Menschen ganz ungeniert vertrauliche Dinge in der Öffentlichkeit, zum Beispiel in einem Restaurant, besprachen und davon ausgingen, daß die Leute an den Nachbartischen nicht mitbekamen, wovon die Rede war. Als ich folgende Worte vernahm, spitzte ich unwillkürlich die Ohren: »Hast du es Grace schon gesagt?« »Natürlich nicht. Ich habe das Angebot ja auch noch nicht angenommen. Ich denke immer noch darüber nach.« »Aber das viele Geld, Angie - so etwas kannst du doch nicht ablehnen. Dein Vater würde dich umbringen, wenn er erfährt, daß du eine derart hohe Summe abgelehnt hättest. Wie heißt die andere Agentur noch mal?« »Tempest.« »Könntest du denn ein paar Mädchen mitnehmen?« »Tess Tucker würde mit mir kommen. Ich habe sie immerhin entdeckt, und sie hat ihre Sache in Mailand wirklich gut gemacht. Sie ist in Paris sehr gefragt, und bevor sie dorthin geht, wird sie einige Modeschauen für die London-Modewochen absolvieren. Sie ist richtig abhängig von mir. Die Sache ist nur die: wenn sie nicht mitkommt, würde ich mich schrecklich fühlen, daß ich sie im Stich lasse.« »Was ist mit der, die die Nacktfotos im Waschsalon gemacht hat?« »Celestia? Aus deinem Mund hört sich das an, als hätte sie Pornobilder gemacht. Es ging doch um Mode. Na egal, sie ist nicht mehr in meiner Truppe. Sie ist nach New York gegangen und wird von dort aus direkt nach Paris fliegen. Nein, mein -321-
großer Coup könnte dieses amerikanische Mädchen sein Cassie. Du hast sie bestimmt als Lady Di in der Zahnseidenwerbung gesehen. Sie verdient ein Vermögen mit diesem einen Spot. Er ist nämlich nicht saisonabhängig, sondern läuft international das ganze Jahr über, und sie bekommt einen Anteil der Lizenzgebühren für jede Ausstrahlung. Und für den Verkauf der Rechte an diese Länder erhält sie noch einen Aufschlag zu ihrem BSF.« »BSF?« »Basic Studio Fee - ihr Grundhonorar. Und dann hat man sich für einen Werbespot, der in Südfrankreich gedreht werden soll, eine Option auf sie gesichert. Er soll nicht in England gezeigt werden, sondern nur in Frankreich. Wenn Cassie den Job bekommt - und sie wollen sie wegen ihres Erfolgs mit dem Lady-Di-Werbespot auf jeden Fall haben -, wird sie für ein Grundhonorar von 1000 Pfund pro Tag arbeiten und automatisch mindestens noch mal das Fünffache für das Exklusivrecht erhalten, da die Ausstrahlung ausschließlich in Frankreich erfolgt. Ich bekomme täglich solche Angebote für Cassie. Das Problem ist nur, daß Cassie völlig hingerissen ist von diesem Kerl, der mit ihr den Lady-Di-Spot gemacht hat. Kannst du das glauben? Sie hat ihn nur einmal am Strand von Kalifornien gesehen und ist gleich hier rübergeflogen, um ihn zu suchen. Wir sparen uns die Weitergabe dieser Geschichte noch für den richtigen Moment auf.« »Und wo ist da das Problem?« »Sie will nichts ohne ihn machen. Er hingegen würde sehr wohl alleine arbeiten und möchte sich unabhängig von ihr einen Namen machen. Natürlich weiß sie das nicht, das arme Ding. Zu allem Überfluß will die Werbeagentur mit den beiden einen zweiten Zahnseidenspot drehen, die Fortsetzung sozusagen. Wie auch immer, ich habe Cassie den Werbeauftrag verschafft, so daß sie mir gegenüber wahrscheinlich loyal ist und bei mir bleiben wird - es sei denn, ich will gar nicht weg von Etoile. Wir -322-
haben wirklich einen starken Booking-Table. Sie haben ein neues Mädchen für die neuen Gesichter angestellt, und ich bin befördert worden. Ich bewundere Grace. Sie hat mich immer unterstützt. Vor allem, als ich eine wirklich harte Zeit mit dieser tauben Nuß namens Gigi durchgemacht habe, die uns das New Yorker Büro freundlicherweise überlassen hatte. In Mailand hat sie jetzt alles in den Sand gesetzt. Sie war schon damals total aufdringlich. In einem fort hat sie angerufen und mich gefragt, wann sie dieses und wann sie jenes machen könne. Einmal habe ich so lachen müssen. Ich hatte ihr ein Casting bei einer deutschen Firma besorgt, und die haben verlangt, daß sie einen Bikini mitbringt und Fahrrad fahren kann. Gut, und dann hat man sie im Regen in Soho rumradeln lassen und dabei gefilmt. Das hat natürlich jede Menge Gaffer angezogen. Ein Typ hat nachher ständig in der Agentur angerufen und nach ihrer Telefonnummer gefragt. Er hat mich so lange angebettelt, ob sie ihm nicht eine signierte Setkarte von sich schicken könne, bis ich sie schließlich überredet hatte, ihm eine zuzusenden. Und danach ist sie ihn kaum noch losgeworden… Na ja, jetzt haben wir sie erst einmal für drei Wochen aus dem Verkehr gezogen, bis sie genug abgenommen hat. Das ist ein wirkliches Problem für sie…« »Siehst du SWAN manchmal? Sie ist doch bei euch, oder?« »Sie ist momentan in London. Ich mache mir wirklich Sorgen, weil ständig eine Journalistin anruft und alle möglichen Fragen über sie stellt.« »Wegen der Sache im Standard über ihr ermordetes Kindermädchen?« »Genau, das ist von derselben Frau geschrieben worden. Lindy-Jane Johnson. Eine seltsame Sache, weil die Johnson im Grunde gar nicht an SWAN selbst interessiert ist, sondern vielmehr an ihrem Bruder Harry. Das ist der, der gleich nach dem Mord an dem Mädchen verschwunden ist. Ich sage dir - die Bemerkungen, die sie fallengelassen hat, haben mir gar nicht -323-
gefallen… Heute morgen hat sie schon wieder angerufen. Sie hat SWAN am Wochenende mit einem Mann in der Oyster Bar beim Essen gesehen und wollte wissen, wer das sei. Als ob ich ihr das erzählen würde, selbst wenn ich es wüßte!« »Hör mal, du wolltest mir doch etwas über deine Familie erzählen.« »Es geht um meinen Bruder Patrick. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll. Er hat im Clarence Hotel gearbeitet, und in seinem letzten Brief hat er mir dann geschrieben, daß er, sobald Bobo seinen neuen Club Kitchen eröffnen würde, dort einen neuen Job antreten würde. Ich habe dann ein Mädchen, das zu Aufnahmen nach Dublin mußte, gebeten, nach ihm zu sehen. Doch vor Ort hat man ihr erzählt, daß er verschwunden wäre - nach Amerika, und seitdem hat niemand mehr was von ihm gehört….« Ich hörte der Unterhaltung nicht länger zu. Lindy-Jane Johnson hatte uns am Wochenende gesehen! Ich mußte Rory anrufen und ihn warnen. Er war im Hotel und gab Interviews zu seinem Buch. Ich flitzte über die Straße zu Etoile, umarmte Grace und zwinkerte ihr zu, um sie wissen zu lassen, daß am Wochenende bei mir alles klargegangen war. Als ich dann im Blake's anrief, sagte man mir, daß Mr. Stirling für die Dauer der Interviews nicht gestört zu werden wünschte. Ich zwang mich, mich auf die Termine zu konzentrieren, die Grace mir zusammengestellt hatte. Ich hatte die Londoner Modewoche vor mir, danach mußte ich nach Mailand und weiter nach Paris. Ich bestand darauf, daß Grace weiterhin sämtliche meiner Buchungen machte. Das war eine Frage der Loyalität. Etoile war meine Mutteragentur. Apropos Loyalität… »Grace, ich habe ein paar interessante Dinge über eines eurer Mädchen am Booking-Table gehört. Eine Angie soundso…« »Angie Doyle. Sie ist eine Wucht. Erst vor kurzem ist sie Head Booker neben mir geworden. Du mußt sie unbedingt -324-
kennenlernen.« »Sofern sie vorher nicht von jemand anderem abgeworben wird.« »Hast du irgendwas gehört, das ich wissen sollte?« Grace war nicht dumm. »Könnte sein. Vielleicht wäre es Zeit für eine Gehaltserhöhung? Bevor sie… ein wenig deutlicher wird…« »Gott im Himmel! Danke, SWAN. Ich kann mir nicht vorstellen, von wem du das gehört hast. Du mußt dich in sehr dubiosen Kreisen herumtreiben.« Das wiederum rief mir Lindy-Jane Johnson in Erinnerung. Ich war erfreut, daß ich etwas für Angie Doyle zu tun konnte, obwohl ich sie noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. Aber nach allen, was ich zufällig von ihrer Unterhaltung mit der Unbekannten mitbekommen hatte, schien sie eine äußerst vernünftige junge Frau zu sein. Tess Tucker und diese Cassie, wer immer sie auch war, konnten froh sein, sie als Bookerin zu haben. Ich ignorierte das ›Bitte-nicht-stören‹-Schild im Blake's und platzte mitten in das Interview rein, das Rory einer schmallippigen Frau mit strähnigem Haar gab. Als sie mich erkannte, fiel ihr fast das Kinn herunter. »Liebling, das ist Jane Smith«, stellte er mich vor. Bei dem Wort Liebling zuckte ich zusammen. So schön dieses Wort auch in meinen Ohren klang, in dieser Situation war es absolut unvorsichtig von Rory. »Ein schlichter Name für ein schlichtes Mädchen«, lautete mein Kommentar, als die Frau gegangen war und ihren Platz für den nächsten Reporter geräumt hatte. Normalerweise bin ich nicht so bissig, aber diese Journalistin hatte eine ekelhafte Ausstrahlung gehabt. Ich entschlüpfte ins Schlafzimmer und -325-
wartete dort, während Rory sein nächstes Interview gab. Immerhin waren wir bislang zweifelsohne recht unvorsichtig gewesen, und ich wollte nicht, daß mich noch weitere Journalisten hier sahen. »Hallo, mein Name ist Ruth Picardie vom Indépendant. Was hat die eben denn hier gemacht, wenn ich fragen darf? Ich hätte nicht gedacht, daß Ihre Verleger jemanden wie die in Ihre Nähe lassen. Schließlich schreibt die ja keine Buchbesprechungen oder etwas Ähnliches.« »Jane Smith? Die schreibt für den Guardian.« »Für den Guardian! Wer's glaubt, wird selig! Die heißt nicht Jane Smith. Die heißt Lindy-Jane Johnson und schreibt für ein schäbiges Klatschblatt. Ich hoffe, Sie sind schön bei Ihrem Buch geblieben und haben ihr nichts über sich selbst erzählt. Andernfalls sind Sie jetzt in echten Schwierigkeiten. « Ich sank aufs Bett. Lindy-Jane Johnson, ausgerechnet! Und es war bereits das zweitemal, daß sie mich mit Rory gesehen hatte! Wir bildeten schon ein komisches Quartett, wie wir so zusammengekauert um das Feuer im alten Kalkofen herumsaßen. Rory hatte den Arm um mich gelegt, um mich zu wärmen, und Sally Bainbridge kuschelte sich an Harry. Wir waren wie Kinder, die sich hinausgeschlichen haben, um eine dieser unvergleichlichen Mitternachtsfestessen an einem verbotenen Ort zu veranstalten. Lieber würde man sterben, als zuzugeben, daß das nicht gerade das Paradies auf Erden ist. Man beißt beherzt in ein weiches Sandwich, versucht sich gegen die Kälte zu schützen und wünscht sich insgeheim, man läge zu Hause in seinem schönen warmen Bett. In unserem Fall war dies ein schönes warmes Himmelbett in einem der romantischsten kleinen Hotels Englands. Das Sign of the Angel ist eine alte Kutschstation in Lacock, auf der anderen Seite von Wiltshire. Rory und ich hatten uns dort über das -326-
Wochenende eingemietet, und ich gebe zu, daß ci h ein wenig Angst um die Haltbarkeit des Himmelbetts hatte, als wir es in unserer ersten Nacht miteinander machten. Ich war aufgeregt, weil ich Harry und Rory einander vorstellen mußte. Ich wußte nicht, wie Harry darauf reagieren würde, daß ich Rory von ihm erzählt hatte, und außerdem war mir bange zumute, was er von der ersten großen Liebe meines Lebens halten würde. Ich wußte nur zu gut, wie sehr ich mich in Rory verliebt hatte. Doch ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Rory ging wunderbar mit der Situation um. Als Harry ihm die Hand schüttelte, legte Rory den Arm um seine Schulter, führte ihn von uns fort und redete heftig auf ihn ein. Ich gehe nicht davon aus, daß ich jemals erfahren werde, was er zu meinem Bruder gesagt hat, aber was immer es gewesen ist, es schien funktioniert zu haben. Als sie zurückkamen, strahlte Harry. »Prima Bursche, dein Rory«, sagte er. Mein Rory! So hatte auch Laura Lobianco ihn genannt was mich daran erinnerte, daß ich ihr einen Anruf schuldete, um ihr zu erzählen, wie Harry im Bett war. Ich kicherte, als ich daran dachte, was ich ihr erzählen würde. »Also ehrlich! Guck sie dir an…«, bemerkte Harry mit gespieltem Ärger. »Das hat sie schon als Kind immer gemacht. Sie kichert über einen Witz, den sie sich selbst erzählt hat. Los, Skinny, spuck es aus. Worüber lachst du?« »Nenn mich nicht so!« »Siehst du. Ungezogen wie immer. Sie wird nie erwachsen. Du weißt nicht, auf was du dich da eingelassen hast, Rory.« »O doch, das weiß ich«, erwiderte Rory. »Trotzdem, es ist schon schwer, sich vorzustellen, daß du ein weltberühmtes Topmodel bist, so wie du jetzt dasitzt in deinem ausgebeulten Sweatshirt, den Jeans und mit Pferdeschwanz, kichernd wie ein ungezogenes Schulmädchen«, mischte sich -327-
Sally lachend ein. In der Tat, in ihrem Pulli von Edina Ronay und der Hose von Paul Costelloe sah sie unendlich eleganter aus als ich. Sie war viel entspannter als bei unserem letzten Treffen, und ich hatte das Gefühl, daß ihre Beziehung zu Harry in der Zwischenzeit noch ernsthafter geworden war. »Tja, lange werde ich das auch nicht mehr sein«, eröffnete ich ihnen. »Was?« »Ich denke daran, mich langsam aus dem Geschäft zurückzuziehen. Ich werde aus dem Vertrag als SWAN-Girl aussteigen. Charley wird es Mr. Takamoto nach den Shows mitteilen. Ich habe eine sechsmonatige Kündigungsfrist.« »Und was wirst du dann tun? Dich niederlassen und heiraten?« platzte Harry taktlos heraus, bevor Sally ihn davon abhalten konnte. »Ja, das wäre eine Möglichkeit«, flüsterte ich und spürte, wie Rorys Hand die meine sanft drückte. »Aber, Harry, wir sind nicht hier, um über mich zu reden. Ich möchte jetzt mal etwas klären. Ich habe Celestia Fairfax in New York getroffen. Erinnerst du dich an Oliver Fairfax' Tante Prudence und seinen Onkel Hugo? Gut, sie haben nach Venetias und Olivers Tod noch eine Tochter bekommen, und die ist Model geworden. Sie ist sagenhaft, total punkig und wild, aber das ist jetzt Nebensache. Sie hat mir erzählt, daß Oliver mit Molly Bainbridge ging, bevor er Venetia kennenlernte. Sag mal, Harry - und in diesem Fall auch Sally -, hat das einer von euch beiden gewußt?« Sally schüttelte den Kopf. »Oliver Fairfax war ein Kriecher!« rief Harry nach einer kurzen Pause aus, und ich lehnte mich vor, um sein Gesicht im Feuerschein besser sehen zu können. Ich kannte diesen Ton in seiner Stimme. Ich hörte es heraus, wenn der sonst so verbindliche, charmante und lockere Harry wirklich wütend war. -328-
»Okay«, fuhr er fort, »du kannst es ruhig auch wissen. Ich werde dir die ganze Geschichte erzählen. Sitzt ihr bequem? Es geschah alles in einer dunklen, stürmischen Nacht…« Da war er wieder, der alte Schelm in Harry. »Mach voran, Harry«, warnte ich ihn. »Ich bin mit Oliver zusammen zur Schule gegangen. Eton, wie du dich vielleicht erinnern wirst. Er hat Venetia durch mich kennengelernt. Nicht daß ich das etwa geplant hätte. Er war ein Schwein und hatte noch jede Menge andere Miezen, während er mit Venetia ging. Ich erinnere mich, daß er in seinem letzten Jahr auf Eton mit einer ganzen Meute nach London gefahren ist und sie dort in eine Begleitagentur gegangen sind. Ich meine, es war ganz offensichtlich ein Puff, aber es schimpfte sich Begleitagentur. Ich erinnere mich sogar noch an den lächerlichen Namen der Agentur: Cécile. Alles, was wir von da an bis zum Semesterschluß von Oliver zu hören bekamen, waren Angebereien über seine enormen Leistungen in diesem Laden. Wie mich das angeödet hat.« »Eifersüchtig?« Ich konnte mir nicht verkneifen, das zu fragen. »Oh, halt den Mund, Skinny!« »Gebt Ruhe, ihr beiden. Versucht wenigstens, euch wie Erwachsene zu benehmen. Ich weiß, es ist schwer für euch, an diesem Ort zu sein. Er ruft sicherlich viele Erinnerungen in euch wach.« Sally war wie immer die Vernünftige. »Oliver war von einem der Mädchen völlig besessen. Er hat behauptet, sie sei besser als der Rest und stamme aus einer ehrwürdigen Familie. Er ist zwar nicht herumgegangen und hat seine unsterbliche Liebe für sie erklärt oder etwas in der Art, aber er war ganz offensichtlich hin und weg von ihr - wie ein Schuljunge, der sich in das Mädchen verliebt, mit dem er zum erstenmal geschlafen hat. Dann habe ich ihm irgendwann Venetia vorgestellt, und ich glaube, da hat er gemerkt, was für -329-
einen Idioten er aus sich gemacht hatte, als er sich mit dieser Prostituierten abgab. Tut mir leid, Sally. Es war Molly. Aus diesem Grund habe ich es bis jetzt nie erwähnt. Ich wollte nicht, daß du herausfindest, daß deine Schwester eine Nutte war. Womit Oliver damals allerdings nicht gerechnet hat, ist die Tatsache, daß Molly eine ganz schön zähe Person war. Sie hat offensichtlich erkannt, daß ihre Beziehung zu Oliver eine nützliche Sache war, und sie hat ihn nicht so einfach gehenlassen. Sie hat ihn weiterhin angerufen. Es hört sich grausam an, aber wenn er sich nicht selbst umgebracht hätte, hätte sie ihn bestimmt in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Soweit ich weiß, wollte sie uneingeladen auf Venetias Geburtstagsfeier auftauchen.« »Also hast du sie bereits gekannt, bevor sie als mein Kindermädchen zu uns kam?« Ich war wie betäubt. »Ich hatte sie nie persönlich kennengelernt, aber als sie zu uns kam, wußte ich, wer sie war. Sie hat es mir sogar selbst erzählt. Sie hat behauptet, sie hätte schon immer ein Auge auf mich geworfen gehabt, seitdem sie Oliver und Venetia einmal in der Stadt nachspioniert und mich mit ihnen zusammen gesehen hätte.« »Du meinst, sie hat sich nur deshalb als Swans Kindermädchen beworben, weil sie hinter dir her gewesen ist?« fragte Sally. »Damals hat es für mich sicherlich so ausgesehen. Trotzdem war da noch etwas anderes, das ich nicht richtig fassen konnte, aber sie schien verängstigt zu sein, so als suchte sie irgendwie Schutz. Wer immer hinter ihr her war, er konnte sie in den Boltons nicht finden.« »Wer konnte sie nicht finden?« »Ich weiß es nicht.« Er wußte es sehr wohl. Ich konnte schon immer sofort erkennen, wenn Harry log. Er hat ein offenes, ehrliches Gesicht -330-
und sieht einem immer direkt in die Augen, manchmal so intensiv, daß es ganz schön anstrengend ist. Wenn er jedoch weiß, daß er die Unwahrheit sagt, schaut er weg. »Nun, dann müssen wir nur überprüfen, ob es diese Agentur Cécile noch gibt, und ihr einen Besuch abstatten.« »Sie existiert nicht mehr«, sagte Harry schnell. »Sie ist schon vor vielen Jahren geschlossen worden.« Ich wußte sofort, daß er abermals log. Rory und ich machten einen Spaziergang durch den Wald und gingen den schmalen Flußpfad entlang, bis wir das alte Backsteinhaus sahen, das in den Lichtschein der untergehenden Wintersonne getaucht war. Plötzlich hörten wir das Knacken von Zweigen hinter uns, und dann stand völlig unerwartet mein Vater vor uns. Ich hatte ihn sehr lange nicht gesehen, und nichts von dem, was meine Mutter mir erzählt hatte, hatte mich darauf vorbereitet, wie sehr er gealtert war. Er war in sich zusammengefallen, als hätte ihn jemand einen Schlag auf den Schädel gegeben. Er trug eine flache Mütze, wie er sie auf dem Land schon immer gerne getragen hatte, und seine alte Tweedjacke hatte Lederflicken auf den Ellbogen. Sein Sweatshirt wies Löcher auf, sein Hemdkragen war durchgescheuert, und seine Stoffhose hatte auch schon bessere Tage gesehen. Er sah aus wie jemand, der sich aufgegeben hatte. »Lavinia, meine Liebe, da bist du ja«, sagte er, als hätte er mich erst vor ein paar Tagen zuletzt gesehen, und bald wurde mir klar, daß er das wirklich dachte. »Papa!« Ich schlang meine Arme um seinen Hals. »Papa, das ist Rory, Rory Stirling, ein sehr lieber Freund.« »Sehr schön«, sagte mein Vater. »Sie kommen aus London, nicht wahr?« -331-
»Ja, Mr. Crichton-Lake«, antwortete Rory. »Wir wohnen im Lacock, Papa.« »Schöne Abtei. Habe dort die Fotografie entdeckt. Oder irgend so etwas. Schon deine Mutter gesehen?« »Nein, noch nicht.« »Ihr kommt besser zum Tee mit ins Haus. Sag mir bitte noch mal, was du zur Zeit tust, Lavinia. Mein Gedächtnis ist schrecklich schlecht. Schrecklich!« Was sollte ich ihm sagen? In New York würde man mir das nie glauben. Ich war das berühmteste Topmodel der Welt, und mein eigener Vater konnte sich nicht daran erinnern, was ich tat. »Ich bin Model, Papa.« »Klasse. Ich nehme an, dann sind Sie bestimmt ein Künstler, Mr. Stirling.« »Nein, Rory ist Schriftsteller. Ein Buch von ihm wurde gerade hier in England veröffentlicht.« »Bei Penguin?« fragte mein Vater erwartungsvoll. Anscheinend war es der einzige Verlag, an dessen Namen er sich erinnern konnte. »Seeker & Warburg.« »Sehr schön.« Meine Mutter sah uns von ihrem Schlafzimmerfenster aus über die Felder kommen und eilte uns entgegen. Sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, als ich ihr Rory vorstellte. »Bitte verzeihen Sie mir, es tut mir ja so leid. Das ist wirklich eine unglaublich schöne Überraschung, damit habe ich nie im Leben gerechnet. Wir haben Lavinia schon so lange nicht gesehen, verzeihen Sie bitte…« »Rory ist ein alter Freund von Norah Nicholson, Mutti.« »O mein Gott, ich weiß genau, wer Sie sind. Sie müssen Annabel Stirlings Sohn sein. Arme Annabel. Es tat mir so leid, -332-
von ihrem Tod zu hören. Doch jetzt kommen Sie erst einmal herein, und dann trinken wir zusammen Tee, und Sie erzählen mir alles über Ihren lieben Vater. Ich habe gehört, er soll nach Montana gezogen sein und dort vollkommen abgeschieden leben. Obwohl wir auch deinen Vater, Lavinia - der Himmel ist mein Zeuge - nicht öfter sehen, als wenn er in Alaska wäre.« Mein Vater wandte sich ab und schlurfte zur Terrasse, die zu seinem Arbeitszimmer führte. »Ich kann mir vorstellen, daß es ein großer Schock für dich gewesen sein muß zu sehen, wie tatterig er geworden ist. Aber ich habe versucht, dich zu warnen.« Ich bemerkte schnell, daß Mama Rory anbetete. Er schmeichelte ihr so skrupellos, daß ich fast eifersüchtig wurde. Wir blieben zum Abendessen, zu dem auch mein Vater wieder aus seinem Arbeitszimmer auftauchte. Er stocherte in seinem Essen herum und trank Whisky statt Wein. Nach dem Essen tranken wir einen Kaffee in der Bibliothek, die eine Erweiterung von Vaters Arbeitszimmer war. Erst hier begann er, Rory Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht daß Rory ihm etwas Besonderes gesagt hätte; er verdankte seine plötzliche Beliebtheit einzig der Tatsache, daß der Hund meines Vaters, ein alter schwarzer Labrador namens Golly - eine Kurzform des englischen Wortes für Vogelscheuche und somit wohl der unpassendste Name, der einem Hund jemals gegeben wurde -, ihn sofort ins Herz schloß, gemächlich zu ihm herüberschlurfte und ihm die Hand leckte. Das kam selten vor. Normalerweise wurde Golly in der Waschküche eingesperrt, wenn meine Eltern Besuch hatten, weil er Fremde häufiger mit gefletschten Zähnen angegriffen hatte. Er verfehlte sie zwar meistens kilometerweit, weil er total blind war, aber es machte keinen guten Eindruck. Rory aber hatte für ihn offensichtlich den Geschmack des Monats. Golly wich jedenfalls nicht mehr von der Seite und ging sogar so weit, daß er versuchte, auf seinen Schoß zu klettern. »Golly«, schimpfte meine Mutter, »wie oft soll ich es dir denn -333-
noch sagen? Du bist kein Schoßhund. Geh runter! « Aber mein Vater saß da und sah glücklich aus. Wenn Golly diesen jungen Mann neben mir mochte, dann mußte das ein guter Bursche sein. Und es war gut, daß er so dachte. Denn später - wir wollten uns gerade aufmachen, um zu unserem Himmelbett zurückzukehren, das zwar etwas wacklig geworden war, aber immer noch stand - ließ Rory die Bombe platzen. Er ging auf meinen Vater zu und fragte ihn: »Mr. Crichton- Lake, darf ich Sie um die Hand Ihrer Tochter bitten?« Alles, was mein Vater erwiderte, war: »Sehr schön!« Das erste, was ich in London nach unserer Rückkehr tat, war, im Telefonbuch nach der Agentur Cécile zu suchen. Mein Gefühl in bezug auf Harrys vermeintliche Lüge hatte mich nic ht getrogen: die Nummer stand dort noch immer eingetragen! »Du mußt hingehen«, sagte ich zu Rory. »Tu so, als wärst du ein Freier. Mich würden sie erkennen, und dann steht's morgen sofort in der Zeitung.« »Wenn ich dorthin gehe, gibt das auch keine schlechten Schlagzeilen: Topmodel schickt ihren frisch Verlobten als erstes ins Bordell.« Ich schlug ihn mit einem Kopfkissen. Dann saßen wir zusammen und kamen überein, unsere Verlobung vorerst strikt geheimzuhalten. Ich rief Mutter an und fragte, ob es ein Problem für sie und Papa wäre, unsere Verbindung für sich zu behalten. »Ich tue, was immer du willst, Liebling, und was deinen Vater betrifft, sei nicht zu enttäuscht, aber ich fürchte, er kann sich kaum daran erinnern, daß du hier warst.« »Wir haben uns überlegt, nach den Shows heimlich in London zu heiraten. Willst du mit Papa nicht hinkommen? Es muß irgendwo stattfinden, wo es sehr persönlich ist…« -334-
»Natürlich werde ich kommen. Für deinen Vater kann ich nicht sprechen. Aber hör mal, ich habe eine bessere Idee: warum laßt ihr euch nicht in der Fairfax-Kapelle in Trevane trauen, nur im engsten Familienkreis? Ich werde mit Hugo und Prudence sprechen, die es garantiert auch für sich behalten werden. Es ist der abgeschiedenste Ort, den ich kenne.« »Das ist eine wunderbare Idee. Verrückterweise habe ich übrigens Celestia in New York wiedergetroffen.« »Ich werde alles organisieren. Mach dir keine Sorgen. Während du bei den Shows bist, ist immer noch genügend Zeit, das Aufgebot zu bestellen.« Ich war so aufgeregt, daß ich Rorys Mission ganz vergessen hatte, bis er nach Hause zurückkam und mir erzählte, daß man bei der Agentur Cécile leugnete, Molly Bainbridge gekannt oder gar beschäftigt zu haben. Außerdem wäre man bei seinen Fragen verdächtig wütend geworden und hätte ihm nicht glauben wollen, daß er nichts mit der Journalistin zu tun hätte, die vor einer Woche dort gewesen war und Fragen über Molly Bainbridge - wer immer das auch sein mochte - und einen Mann namens Harry Crichton-Lake gestellt hatte. Ich brauchte gar nicht erst nach dem Namen der Journalistin zu fragen. Er lautete natürlich… Lindy-Jane Johnson.
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New York, 1994 Water war weit weg in Kalifornien, und Celestia fühlte sich insgeheim erleichtert darüber. Sie war zwar ganz schön versessen auf ihn, aber manchmal nahm er sich selbst sehr viel wichtiger, als sie das für angemessen hielt. Celestia fühlte sich an der Upper East Side nicht wohl, was Water einfach nicht verstehen konnte. Sie wußte, daß er sie für eine klassische Britin der Oberschicht hielt. Im Grunde mochte er keine Briten, das war ihr klar, obwohl er, abgesehen von seinem Kurztrip nach London für die ›Seelenqual‹-Premiere, nur ein einziges Mal dort gewesen war - vor mehr als acht Jahren, als Rucksacktourist mit seinen Eltern. Sie hatte die endlos vielen Fotos gesehen, die er damals aufgenommen und fein säuberlich in ein eigens dafür angelegtes Album geklebt hatte. Celestias britisches Image hingegen mochte Water, besonders in Verbindung mit ihrem Status als Topmodel. Doch er war nicht in der Lage, hinter die Fassade zu blicken und den rebellischen Teenager zu erkennen, der unter der Oberfläche von Celestias Starrolle schlummerte. Water hatte es aufs Geld abgesehen, sie dagegen wollte einfach nur ihren Spaß haben. Aber den schien sie nur dann haben zu können, wenn ihr Lover fort war. Celestias neues Modelapartment lag im Westcoast-Building in der Horatio Street, passenderweise nur einen Block vom Industria-Superstudio entfernt, wo sie einen Großteil ihrer Zeit arbeitete. Sobald sie genug Geld für eine Eigentumswohnung zusammen hätte, würde sie sich eine Dachwohnung südlich der Canal Street in TriBeCa kaufen. Das war ein Gebäude am West Broadway, das mehrere der weltbekanntesten Topmodels beherbergte. Nur SWAN nicht… -336-
Celestia dachte eine Weile über SWAN nach. Sie waren nicht miteinander verwandt. Wenn Oliver und Venetia noch leben würden und geheiratet hätten, wären SWAN und Celestia so etwas wie angeheiratete Cousinen zweiten Grades gewesen. Celestia wußte, daß ihre Eltern noch mit den Crichton-Lakes befreundet waren - eigentlich noch mehr als mit Olivers Eltern -, aber SWAN selbst hatte sich in den letzten Jahren auf keinem Familientreffen mehr blicken lassen. Celestias Mutter hatte beleidigt bemerkt, SWAN sei wohl »zu berühmt für einfache Leute wie uns geworden. Vielen Dank. Ich habe ihr geschrieben und sie um Hilfe bei meinem Comeback als Model gebeten, aber sie hat mir nicht einmal geantwortet.« Vielleicht ist SWAN einfach nur zu schlau, um ihre Zeit mit ganz offensichtlich aussichtslosen Unterfangen zu verschwenden, hatte Celestia damals für sich gedacht. Zur Zeit war Celestia allerdings mehr darüber besorgt, daß sie vor ihrer Abreise mit dieser Journalistin gesprochen hatte. Sie fragte sich, ob sie SWAN wegen der kürzlich in der Presse erschienenen Geschichten hätte anrufen müssen, aber bei Etoile hatte man ihr gesagt, SWAN sei in Europa, das könne warten, bis sie wieder zurück sei. Water hatte sie genervt, ihn mit SWAN bekannt zu machen. Das war Teil seines Planes, sich beim Erwerb der Filmrechte von Rorys Roman ›Kämpferisches Bekenntnis‹ einen Vorteil zu sichern; denn Water war der Überzeugung, daß zwischen Rory und SWAN irgend etwas war. Soweit Celestia es mitbekommen hatte, war Rory Stirlings Agentur CAA nicht besonders daran interessiert, mit Water zu verhandeln, seitdem sie Interessensbekundungen von Tom Cruise, Liam Neeson, Daniel Day-Lewis und Tom Hanks bekommen hatte - um nur einige zu nennen. Es hatte einfach nicht in Waters Kopf hinein gewollt, daß sein Name nicht so zugkräftig wie die seiner Konkurrenten war. Es war, als würde Celestia glauben, mit gerade einmal einem Carfer's-Cover im Gepäck einen Multi-Millionen-Dollar-Kosmetik-Vertrag -337-
verlangen zu können. Aber Water sah das nicht, es war völlig sinnlos, ihm zu sagen: »Träum weiter, Water. Gib's auf. Laß uns in den Club gehen.« Überdies waren seine Vorstellungen vom Ausgehen sehr kalifornisch: ein frühes Abendessen in einem französischen oder italienischen Restaurant und danach mit einem Stapel Manuskripte ins Bett - das war's. Seitdem Water, wie er behauptete, Rory in einem Cherokee Jeep aus der Garage des Carlyle hatte fahren sehen, war er sehr hartnäckig geworden, was SWAN betraf. Die Befragung des Portiers vom Carlyle, ob Rory dort wohnte oder nicht, war fehlgeschlagen. Erst an der Rezeptio n hatte er erfahren, daß Mr. Stirling kein Gast des Hauses war. Zuvor hatte Water ein paar Tage damit verbracht, sich stundenlang aus dem Fenster seines Apartments zu lehnen, von wo aus er den Eingang des Carlyle beobachten konnte, aber von Rory war weit und breit keine Spur zu sehen gewesen. Dann hatte er sich gefragt, wen Rory wohl besucht haben könnte, und sich schließlich daran erinnert, daß SWAN auf Norah Nicholsons Party gewesen war. Mit ziemlicher Verspätung hatte er also Norah angerufen, um sich für die Einladung zu bedanken und ein paar Andeutungen über Rory und SWAN fallenzulassen. Norah hatte sich hocherfreut gezeigt, sich in weitaus deutlicheren Andeutungen ergehen zu können, ohne dabei allerdings etwas Konkretes zu verraten. Das hatte Water den Rest gegeben. »Wenn ich aus Kalifornien zurückkomme, möchte ich, daß du SWAN anrufst und sie zu uns einlädst«, hatte er Celestia aufgetragen. »Auf diesem Weg komme ich an Rory Stirling heran, lerne ihn durch SWAN näher kennen und überzeuge ihn davon, daß ich in ›Kämpferisches Bekennt nis‹ sowohl die Rolle des Ralph spielen als auch Regie führen und Produzent sein muß.«
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Etoile hatte Celestias Mappe zwar schon im voraus nach New York geschickt, aber die ersten Monate, bis man ihr eine Arbeitserlaubnis besorgt hatte, mußte sie illegal arbeiten. Trotzdem hatte sie schon bald mindestens zehn Bewerbungstermine am Tag, und binnen eines Monats wurde sie für eine GAP-Kampagne für Russel Bennett, Joan Vass, Mark Eisen, den in Kuba geborenen Manolo und die New Yorker Vivienne Westwood gebucht. Sie verdiente Geld und lernte schnell den grundsätzlichen Unterschied zwischen England und Amerika kennen. In Amerika mußte man die Hälfte seines Verdienstes an die Agentur abgeben, und diese entrichtete dreißig Prozent davon direkt an das Finanzamt. In England dagegen gab sie zwanzig Prozent an die Agentur ab und kümmerte sich selbst um ihre Steuern. Bald schon beantragte sie mit zehn Arbeitsproben und einem Leumundszeugnis ihrer Agentur durch einen Rechtsanwalt eine Arbeitserlaubnis. Sie zahlte 1200 Dollar, und es dauerte nur ganze drei Wochen. Danach, so schien es, konnte in Celestias Karriere nichts mehr schiefgehen. Dafür war ihr Privatleben etwas schizophren geworden. In den schicken Kreisen uptown galt sie als die englische Freundin von Water, dem Filmstar, und sie zog mit einer immer größer werdenden Gruppe von Freunden herum, nahm Einladungen zu Abendessen in Apartment-Blocks an, die Türsteher hatten, und wurde von Water stets als eine alte Freundin von Swans Familie vorgestellt. Water benutzte sie nur, um bei den sozialen Aufsteigern, mit denen er zu tun hatte, Eindruck zu schinden: Bankiers, Verleger, Anwälte, Agenten, Präsidenten, Vizepräsidenten, Geld, Geld, Geld… Aber das war nicht sie. Sie haßte diese harte, schicke, gierige Meute und vermutete, daß es SWAN genauso ging. Nach allem, was Celestia darüber gehört hatte, wie SWAN aufgewachsen war, hatte sie das Gefühl, daß sie sie mögen würde. Ihr Vater hatte ihr immer erzählt, daß SWAN von allen Leuten, die nach -339-
Trevane kamen, diesen Ort am meisten geliebt hatte. »Sie war ein seltsames Kind«, hatte er einmal bemerkt, »ist nicht aus sich herausgegangen. Sie war als kleines Mädchen nicht einmal besonders schön. Venetia - Gott habe sie selig hingegen war eine wirkliche Schönheit, SWAN stand immer in ihrem Schatten. Erstaunlicherweise aber bemerkt man bald, wenn man sich ein Familienalbum aus der alten Zeit anschaut, daß man die Fotos von Lavinia lieber ansieht als die der anderen. Sie ist schon damals sehr fotogen gewesen, aber wir hätten uns nie träumen lassen, daß sie einmal berühmt werden würde. Keiner von uns hat das erkannt, außer Fiona Fairfax natürlich. Es hat Prudence regelrecht wahnsinnig gemacht, wenn meine Mutter vorschlug, Lavinia solle einmal darüber nachdenken, ob sie nicht Model werden wolle. Aber diese Crichton-Lakes umgibt etwas Tragisches. Lavinia war die einzige, die gern hierher nach Trevane kam. Es hat ihr gefallen. Sie ist immer kilometerweit spazierengegangen, genau wie du, und als ihr Bruder verschwand, habe ich sie eine Woche lang hier gehabt. Prudence ist damals Gott sei Dank nicht daheim gewesen. Das arme Mädchen war völlig am Boden zerstört. Ich glaube nicht, daß sie je darüber hinweggekommen ist. Zu jener Zeit fing es an, daß sie eine Einsiedlerin wurde. Man kann es auf den Fotos in diesen Modemagazinen, die deine Mutter überall im Haus herumliegen läßt, in ihren Augen erkennen. Sie ist eine einsame Seele, Celestia. Tragisch.« Das war für Hugo Fairfax eine ungewöhnlich lange Rede gewesen, und Celestia vergaß sie nie. So sehr sie ihn liebte, sie hatte ihn immer für einen verstaubten alten Historiker gehalten. Damit war jetzt Schluß. Ihr Vater war ganz offensichtlich weitaus scharfsichtiger in der Beurteilung der Menschen, die ihn umgaben, als ihm das irgend jemand zugetraut hätte - am allerwenigsten seine Frau. Celestia fühlte sich SWAN auf seltsame Weise eng verbunden, und das letzte, was sie je getan hätte, war, ihre Beziehungen zu -340-
den Crichton- Lakes zu mißbrauchen und sich SWAN aufzudrängen, um Waters erbärmliche Karriere voranzutreiben. Sie wurde sich des großen kulturellen Unterschieds bewußt, der sich in der angeborenen amerikanischen Aufdringlichkeit und der natürlichen britischen Zurückhaltung ausdrückte. Jeder Amerikaner, den sie traf, behauptete, überglücklich zu sein, sie kennenzulernen - vor allem, wenn sie wußten, daß Celestia etwas mit SWAN zu tun hatte. Celestia fand so etwas unaufrichtig. Sie wurde sich schnell der Tatsache bewußt, daß SWAN offensichtlich nicht mit dieser Meute herumhing und daß diese Leute - ebenso wie Water - Celestia als jemanden betrachteten, der ihnen möglicherweise Zugang zu Swans Welt verschaffen konnte. Plötzlich begriff sie, warum sich SWAN in einem Apartment im Carlyle verschanzte, und sie beschloß, SWAN nach deren Rückkehr aus Europa einzuladen - aber nicht in Waters makellos eingerichtetes Apartment in der Madison Avenue. Celestia würde SWAN in die Horatio Street oder auf einen Espresso ins Braque einladen. Irgendwie war sie sich sicher, daß SWAN das vorziehen würde… Celestia war also ziemlich froh, daß Water weggefahren war. Sie flüchtete sich ins Westcoast Building zu den vielen Models, Friseuren und Modeleuten. Sie liebte es, in Soho mit seinen kopfsteingepflasterten Straßen, den dunkelgrünen und roten Häusern mit ihren Feuerleitern, die im Zickzack an den Außenwänden entlangliefen, und den großen Fahnen, die über den Geschäften und Galerien hingen, herumzuschlendern. Sie liebte die Galerie und die Buchläden Anna Sui und Agnes B, und sie lebte von makrobiotische m japanischem Essen bei Nosmo King in der Varick Street oder bei Souen an der Ecke 6th Street und Prince Street. Und nachdem sie zufällig ihre alte Freundin Caroline getroffen hatte, mit der sie auf dem Internat gewesen war und die jetzt in einer Galerie in der Spring Street arbeitete, schloß sie sich der Kunstszene an. -341-
Sie ließ ihre pfiffigen Designerklamotten in einer kleinen Kammer in Waters Apartment hängen und trug nun wieder ihre richtigen Kleider, die sie in einem Warenhaus in Brooklyn für anderthalb Dollar erstanden hatte und die besser zur Horatio Street paßten. Sie grub sich durch Berge von gebrauchten Kleidern und schleppte für weniger als zehn Dollar eine komplett neue Garderobe in einem riesigen Müllsack mit nach Hause. Die meisten Sachen stanken ekelerregend, bis sie gewaschen waren, aber dann hatte Celestia die Grundausstattung - Hemden von Tankwarten und Arbeitshosen mit Ketten -, um sich ihren coolen, sackartigen Look zusammenzustellen. Darüber hinaus ging sie natürlich weiterhin in die Clubs. Water hatte seine Stammlokale. Und so führte ihr Weg Celestia immer mal wieder ins Limelight, eine alte Kirche an der 20th Street. Danach ging sie in die Disco 2000. Sushi und Astro Earl und die anderen Club-Angestellten ließen sie wie selbstverständlich hinein. Sie hätte in den VIP-Raum gekonnt, aber sie zog Techno- und progressive House-Musik vor, die in den größeren Räumen gespielt wurde. In der Regel mied sie Rave-Partys. Nur wenn Moby irgendwo Musik machte, ging sie natürlich dorthin, denn er war bei Hardcore-Techno ganz besonders gut. Jede Menge Telefongespräche zwischen den Models im Westcoast Building drehten sich allein um die Frage, wie man auf die Clublisten kommen konnte. Hier war Waters Name für Celestia nützlich, um sich Eintritt zu verschaffen. Manchmal machte sie sich auf, um Bands in der Strickfabrik in der Houston Street - sie hieß so, weil die Decke aus gestrickten Pullovern bestand - spielen zu hören. Celestia hätte in noch mehr Clubs gehen können, aber sie war diszipliniert. Sie lernte, daß die New Yorker professioneller waren als alle anderen. Es gab keine Überstunden. Die Studios wurden von neun bis siebzehn Uhr gebucht, und jeder arbeitete darauf hin, seinen Job pünktlich zu erledigen. Der Kunde wollte ja nicht mehr bezahlen als unbedingt nötig. Celestia fühlte sich -342-
in diesem Umfeld sehr wohl. Tagsüber hart arbeiten, nachts in Clubs rumhängen und sich den Rest der Zeit unter Künstlern und Models in Galerien, Cafés und auf den Straßen von Soho herumtreiben - das war ihre Welt. Und genau das tat sie auch - bis Water nach New York zurückkam. Celestia zog in sein Apartment und kleidete sich mit den Sachen des braven Amerikaners Bill Blass, die Water ihr bei Bergdorfs gekauft hatte und in denen sie mindestens wie eine Sechsundzwanzigjährige aussah. In dieser Aufmachung wartete sie auf ihn, als er vom Flughafen kam. »Komm, wir gehen mit Mike Ovitz essen, Er ist nur kurz in der Stadt. Ich konnte ihn an der Küste nicht treffen, aber für heute abend ist alles klargemacht.« Nichts war klargemacht. Als sie in das Restaurant kamen, war weit und breit keine Spur von dem legendären Agenten zu sehen, und Celestia kam nie dahinter, wer die Leute waren, mit denen sie statt dessen aßen. Sie waren sehr beeindruckt von ihr, und sie fragte sich, was Water ihnen wohl erzählt hatte wahrscheinlich, daß sie demnächst auf einem Vogue-Cover zu sehen wäre. Sie fragten sie, ob sie an den bevorstehenden Modenschauen in Paris und Mailand teilnehmen würde. Als sie antwortete, daß sie für beide bereits vorgemerkt wäre, wurde Water plötzlich still. Auf dem Weg nach Hause drehte er sich im Taxi zu ihr um und wurde sehr laut. »Warum hast du mir das nicht gesagt? Ich habe nicht gewußt, daß du nach Paris gehst, und ich habe auch nicht gewußt, daß du nach Mailand gehst. Plötzlich bist du wohl schwer in, wie?« So ist das also, dachte Celestia. Er will zwar, daß ich seine aufgefallene Modelfreundin bin, aber nur unter der Voraussetzung, daß er mich im Zaum halten kann und seine Karriere besser als meine läuft. Mike Ovitz hat ihn versetzt. Er ist nicht näher an Rory Stirling und die Rechte an dessen Buch -343-
herangekommen. Ich hingegen könnte ein Volltreffer auf dem Laufsteg sein, und das mag er überhaupt nicht. Water war nicht gerade das, was man einen sanften und behutsamen Liebhaber nennen würde. Aber sie war Model, und Models konnten nicht mit lauter blauen Flecken an Körper und Gliedmaßen bei den Castings auftauchen. Die Ironie des Ganzen war, daß Water für einen dominanten Möchtegern-HerrscherTyp einen recht kümmerlichen Körper hatte, fast wie ein schüchterner kleiner Junge. Das weckte in Celestia Muttergefühle, was Water nur noch wütender machte. Nachdem sie sich geliebt hatten, streichelte sie die hervorstehenden Rippen seines Brustkastens und glitt mit ihren Fingern über seine Beckenknochen. »Du wärst das ideale Model«, sagte sie zu ihm, »genau das will man haben. Du siehst wie ein verwahrlostes Kind aus, und das ist genau richtig für den Babydoll- Look.« Das hätte sie besser nicht sagen sollen. Water nahm sich selbst viel zu ernst, als daß er es ertragen hätte, gehänselt zu werden. Er sprang aus dem Bett und packte den erstbesten Gegenstand, den er finden konnte - ausgerechnet Celestias große schwarze Modelledertasche. Perfekt! Water riß sie an ihren Riemen hoch und wollte damit auf Celestias nackten Körper einschlagen. Sie flüchtete ins Badezimmer, als die Tasche auf sie niedergesaust kam und sich der Inhalt über das gesamte Bett verstreute. Sie setzte sich auf die Toilette, rauchte eine Zigarette und starrte im Spiegel ihr gerötetes Gesicht an. Hier würde sie eine Weile bleiben. Sollte er ruhig ein bißchen schwitzen. Sollte er ruhig denken, er hätte sie ernsthaft verärgert. Sollte er sich ruhig schuldig fühlen. »Jesus Christus, diese Scheiße ist erstaunlich!« Sie wurde neugierig. »Was denn?« -344-
»Dieses Zeug in dem Notizbuch hier. Mach die verdammte Tür auf, und ich lese dir was vor. Kannst du mich hören? Hör dir das mal an: man läßt die Mädchen dabei zusehen. Die Kunden werden umgebracht, und sie zwingen die Mädchen, die ganze Sache mit anzusehen…« »Hey, Celestia, was tust du da?« Celestia war aus dem Badezimmer herausgekommen und hatte ihm das Notizbuch entrissen. »Water, durchwühle nie wieder - nie wieder, verstehst du? meine Tasche. Dieses Buch ist sehr persönlich.« »Hey, Baby, reg dich ab. Es tut mir leid. Ich schwöre es. Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, daß du so ein Zeug magst. Du hättest es mir nur sagen müssen, daß…« »Ich habe damit nichts zu tun. Absolut nichts. Wie kannst du nur denken, daß ich so etwas mögen könnte?« »Aber du wirfst doch schon ganz gern mal einen Blick auf diese Seiten. Macht dich das an? Wer hat denn das Zeug geschrieben?« Ihn machte es an, das konnte sie deutlich sehen! Sie schlief noch einmal mit ihm, um ihn von diesem Notizbuch abzulenken. Um nichts in der Welt würde sie ihn herausfinden lassen, wem es gehörte. Sie hatte es auf dem Dachboden in Trevane gefunden. Nachdem ihr Vater ihr erzählt hatte, wie fotogen SWAN sei und daß man das schon in den Familienalben erkennen könne, war Celestia hinaufgegangen, um selbst einen Blick auf die Fotos zu werfen. »Du findest die Alben in einem Karton, auf dem ›CrichtonLake‹ steht«, hatte ihr Vater gesagt. »Seit Olivers und Venetias Unfall packt Prudence alles, was mit der Familie zu tun hat, da rein. Sie ha t an jenem Tag einen Brief von Oliver bekommen er hatte das vorangegangene Wochenende hier verbracht und sich wahrscheinlich bei ihr bedanken wollen -, der sie völlig fertiggemacht hat. Danach hat sie einfach alles, was mit dieser -345-
Familie zu tun hat, in die Kiste gepackt und mich gebeten, sie wegzutragen.« Celestia hatte den ungeöffneten Briefumschlag gefunden, der an ihre Mutter adressiert war. Mit kindlicher Neugier hatte sie ihn unverzüglich geöffnet und gelesen. Es handelte sich um das übliche höfliche Dankesschreiben: ›Liebe Tante Prudence, vielen Dank, daß Venetia und ich das letzte Wochenende bei Euch verbringen durften. Wir haben es sehr genossen. Es war so schön, Dich und Onkel Hugo in so guter Verfassung zu sehen… bla bla bla… die allerliebsten Grüße, Euer Oliver.‹ Erst das Postskriptum hatte Celestias Aufmerksamkeit geweckt. ›PS: Entschuldige bitte, daß ich Dir Umstände bereite, Tante P., aber ich habe ein ziemlich wichtiges Notizbuch an meinem Bett vergessen. Es ist ein kleines, rot eingebundene s Buch von der Marine. Ich mache meine Buchführung darin und brauche es. Sei ein Engel und schick es mir.‹ Prudence hatte das Notizbuch gefunden, es heruntergebracht und mit dem festen Vorsatz, es abzuschicken, in eine Schublade gelegt. Anschließend hatte sie es vollkommen vergessen. Irgendwann hatte sie es einmal wiedergefunden, aber da war Oliver bereits tot gewesen, und sie hatte es ungelesen in die Kiste auf dem Dachboden gesteckt. Celestia hingegen hatte alles gelesen - sich danach gewünscht, sie hätte es nicht getan. Erst hatte sie es nicht so recht verstanden, aber über die Jahre hatte sie es wieder und wieder gelesen und die ganze, ekelerregende und schreckliche Wahrheit über ihren ›Cousin‹ Oliver erfahren. Es handelte sich um eine Art Tagebuch, Notizen über einen Ort namens Cécile, wo Oliver offensichtlich einen Gutteil seiner Zeit verbracht hatte. Celestia hatte begriffen, daß Oliver die Aufzeichnungen über diesen Ort mit dem Ziel gemacht hatte, sie jemandem zu zeigen. Er schien in eine Situation ge raten zu sein, -346-
aus der er nicht mehr herauskam. Es war nicht klar, ob er tatsächlich bei Cécile's gearbeitet hatte oder dort nur Kunde gewesen war. Celestia vermutete, daß er als Kunde angefangen und sich dann immer tiefer in irgend etwas verstrickt hatte. Der Name Murray tauchte immer wieder auf, und eine Frau namens Molly war ganz offensichtlich Olivers Informantin und berichtete ihm, was dort vor sich ging. Viele Seiten begannen mit den Worten: ›Molly erzählte mir heute…‹ Nach und nach war Celestia dahintergekommen, daß einige der männlichen Kunden im Cecile's gestorben waren und daß Murray - wer immer das war - die Mädchen, die es gesehen hatten, davor gewarnt hatte, zur Polizei zu gehen. Wenn sie es tun würden, würden sie des Mordes angeklagt werden; und er hatte ihnen eingeschärft, daß dann stets noch jemand im Hintergrund bereitstehen würde, um das Todesurteil an ihnen zu vollstrecken. Der letzte Eintrag war der entsetzlichste: ›Ich muß Molly hier herausbekommen. In allen Räumen gibt es Videokameras. Sie drehen Filme von all diesen jungen Männern, die sterben, und die Mädchen sind auch auf den Filmen zu sehen. Molly hat zu große Angst, um etwas für sich zu tun. Ich komme alleine nicht mehr damit klar. Ich habe Harry alles erzählt! ‹ Diese Eintragung war auf den Tag vor Olivers Tod datiert. Harry wußte also alles. Aber warum hatte er nie etwas gesagt? Celestia mußte sich das nicht ernsthaft fragen, denn sie kannte die Antwort: Harry hatte aus dem gleichen Grund geschwiegen, aus dem auch sie all die Jahre über Olivers Notizbuch für sich behalten hatte. Die Crichton-Lakes und die Fairfax' konnten keinen weiteren Skandal gebrauchen. Dennoch hatte Celestia immer gewußt, daß sie den Tatsachen eines Tages würde ins Auge blicken müssen. Aus diesem Grund, darüber war sie sich im klaren, hatte sie den Namen Cécile auch dieser -347-
unangenehmen Journalistin gegenüber fallenlassen. Sollte Lindy-Jane Johnson doch im Dreck wühlen, falls es die Agentur noch immer gab. In der Zwischenzeit würde Celestia einen Weg finden, wie sie SWAN von Harrys Verwicklung in die Angelegenheit erzählen konnte. Da bestand jedoch keine Eile. Es war ja nicht so, als ob die arme SWAN nicht wüßte, wo sich ihr Bruder Harry aufhielt. Eine Woche später kam Water von einer Versammlung nach Hause und erzählte Celestia beiläufig: »Das ist cool. Ich werde dich nach Paris zu den Modenschauen reisen lassen, und ich werde dich begleiten. Ich wurde gerade für Robert Altmans Modefilm ›Prêt-à-porter‹ engagiert, den er dort dreht. Wir werden in dem Film wahrscheinlich zusammenarbeiten.« Kleines Konkurrenz-Arschloch! dachte Celestia. Er weiß sehr gut, daß ich bislang noch für keine der Pariser Shows fest gebucht bin. Na gut, soll er mich nur runterputzen, solange er kann. Wenn es darauf ankommt, werde ich es ihm schon zeigen!
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Paris, 1994 Während ihres Air-France-Flugs saß Gigi trübsinnig auf ihrem Fensterplatz und verbrachte eine Dreiviertelstunde damit, sich über ihr bisheriges Leben klarzuwerden. Sensationell war es ja nicht gerade gelaufen. In Mailand hatte sie alles versaut. Man mochte sie dort nicht, Bookings hatte es so gut wie nicht gegeben, und um allem die Krone aufzusetzen, hatte sie sich noch der Mutter von Charley Lobianco gegenüber wie eine Idiotin benommen. Die einzige Person, die sich als einigermaßen nett erwiesen hatte, war Bobby Fox gewesen. Gigi wußte von dem Klatsch. Alle dachten, sie wäre mit ihm ins Bett gesprungen. Sie hatten ja so unrecht! Gut, ja, sie hatte mit ihm im Bett gelegen, aber keiner wußte, daß Bobby damals gerade sein Coming out gehabt hatte. Er mochte mit Tess Tucker geschlafen haben, er mochte noch mit ein oder zwei anderen schönen, freundlichen, nicht bedrohlichen Mädchen geschlafen haben, aber in Wahrheit war Bobby schwul. Der Grund dafür, daß Gigi schließlich zu ihm ins Bett gekrochen war, bestand darin, daß sie gespürt hatte, er würde sehr viel Zeit benötigen, um ihr sein Herz auszuschütten - die Unterhaltung hatte schon auf der Rückfahrt von Como nach Mailand begonnen -, und es war bequemer, es sich dabei neben ihm gemütlich zu machen. Sie hatten nicht miteinander geschlafen. Bobby war ein verwirrter Junge, der nach und nach herausgefunden hatte, daß er zwar Sex mit dem kriecherischen Roberto Fabiani verabscheute, aber andere Abenteuer mit attraktiveren Männern hatten ihn auch erkennen lassen, daß er im Grunde nicht auf Mädchen stand. Gigi hatte ihm zugehört, als er über die Probleme mit seinem Vater sprach, über seine Sorgen bezüglich seiner Karriere, und über die Frage, was er als nächstes tun sollte. Vor allem aber hatte er über seine Schuldgefühle -349-
gegenüber Tess gesprochen, weil er sie an der Nase herumführte, und darüber, daß alles eigentlich Graces Schuld gewesen war, weil sie ihn dazu gebracht hatte, Tess zu überreden, daß sie nach Mailand ging. Aber vom Gesichtspunkt ihrer Karriere war das andererseits das beste gewesen, was sie hatte tun können. Und dann war Tess hereinspaziert und hatte sie dort zusammen vorgefunden. Gigi hatte sie seitdem nicht mehr gesehen. Sie war kurz darauf nach London abgereist, und in dem Moment, als sie bei Etoile in Covent Garden hereinkam, wußte sie, daß sie hier auch keine Arbeit finden würde. Sie wurde einer Bookerin namens Angie zugeteilt, die sie auf Anhieb unsympathisch fand - und das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Gigi war schlau genug zu wissen, daß die Aussichten auf einen Job gering waren, wenn der Booker einen nicht mochte. Der Booker würde sich kein Bein für dich ausreißen, und dein Name würde ihm gewiß nicht als erster einfallen, wenn die Castings anstanden. Dann aber landete Gigi einen Glücksgriff. Der Besitzer von Etoile Paris, Daniel Mercier, war gerade in der Stadt. Gigi kannte Daniel nicht, und als er leise hereinkam und sich in das große Ledersofa zwischen den beiden Tischen der Booker kauerte, um zu warten, bis Grace ihr Telefongespräch beendet hatte, ignorierte Gigi ihn und fuhr in ihrer Unterhaltung mit einem anderen Model fort. »Hör zu, Baby, wenn du ein Angebot von Tempest hast, warum verlangst du nicht mehr Geld und wechselst einfach? Das ist deine Chance. Du hast mir letzte Woche erzählt, Kari B will von Models One weg. Jeder wechselt. Ich habe sogar gehört, daß Tempest hinter meiner kleinen, fürsorglichen Bookerin Angie her gewesen und sie nur deshalb nicht gegangen ist, weil Grace ihr fürs Bleiben mehr Geld geboten hat. Ich war letzte Nacht im Iceni, und da hat mir ein Mädchen erzählt, sie wolle zu Etoile kommen und was ich für sie tun könne? Ich meine, bin ich etwa ein Modelscout?« -350-
Am Tag drauf sprach Daniel Mercier Gigi an. Daniel war eine französische Ausgabe von Charley Lobianco in New York und Marcello Molino in Mailand: Ende Dreißig, teurer Anzug, sehr gewandt. Er wolle sie in Paris haben, sagte er, und er hätte das bereits mit Grace Brown abgestimmt. Gigi solle am nächsten Tag abreisen. Und da war sie nun - gerade im Begriff, auf dem Flughafen Charles De Gaulle zu landen, mit einer komischen Vorahnung im Blut, daß dies ihre letzte Chance sein würde, etwas aus ihrem Leben zu machen. Sie nahm ein Taxi zum Montparnasse, wo die gute alte Greta, die Gigi aus Mailand kannte, ein preiswertes Apartment in der Rue Broussais an Land gezogen hatte. »Sie werden versuchen, dich in Henris Apartmentblock zu stecken«, hatte Greta ihr am Telefon erzählt. »Wer ist Henri?« »Das ist dieser sehr reiche Playboy, der die geniale Idee hatte, ein Gebäude in der Avenue de l'Opéra in der Nähe von Etoile und den Fordagenturen aufzukaufen. Das ist eine wirklich teure Gegend, wo schon eine Karotte zwanzig Francs kostet - nahezu perfekt für arme, sich abstrampelnde Models, die gerade einmal in der Woche gebucht sind. Unter uns Skandinaviern ist er bekannt wie ein bunter Hund. Er fährt dorthin, meist nach Schweden, sammelt diese blonden Hühner von der Straße auf, sagt ›Komm mit mir nach Paris, ich kaufe dir alles, was du haben willst!‹ und schon folgen sie ihm, erwarten die ganze Welt und bekommen nichts. In diesem FertigbauApartmentblock für Models gibt es zweistöckige Wohnungen mit zwei Einzelbetten und einer kleinen, abgeteilten Küchenzeile, und die Wände sind vom Boden bis zur Decke verspiegelt.« »Oha…« »Genau, und er sitzt auf der anderen Seite der Spiegel und beobachtet die Mädchen, während sie sich völlig ahnungslos -351-
ausziehen. Und so weiter… Vielleicht hat er sogar Videokameras installiert, um sie zu filmen, wer weiß? Er hat freien Zugang zu den Apartments und spaziert dort ein und aus. Er ist der Hauseigentümer, und diese armen Mädchen sind völlig in seiner Gewalt. Er verteilt auch diese ganzen Drogen, und wenn die Mädchen sich in dieser Szene nicht auskennen, gehen sie sehr schnell vor die Hunde. Komm und wohn bei mir, Gigi, dann organisieren wir uns unsere Partys selbst.« Greta war vielleicht gerade einmal einen Monat in der Stadt, aber sie hatte keine Zeit vergeudet und schnell herausgefunden, wo was los war. Sie war nach Paris gekommen, nachdem sie in Mailand Aufnahmen gemacht hatte, die ihr das Coverbild auf der französischen Glamour beschert hatten. Sie stellte Gigi jedem vor, und bevor diese daran dachte, sich um ihre Mappe zu kümmern, kaufte sie sich ein kleines Notizbuch. Um in Paris nachts in ein Wohnhaus zu gelangen, mußte man die Codenummer des Gebäudes kennen. Nur dann hatte man Zugang zu den Eingängen der in den oberen Stockwerken gelegenen Apartments. Wenn ein Typ sie also nachts in seine Wohnung einlud und sie sich nicht an den Code des betreffenden Gebäudes erinnern konnte, würde sie unten auf der Straße stehen und keine Chance haben, zu ihm zu kommen. Sie konnte ja kaum ihre eigene Codenummer im Kopf behalten, und zu allem Überfluß war ihr verrückter Fan ihr aus London noch nach Paris gefolgt und rief sie zu jeder Tages- und Nachtzeit an. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er überhaupt ihre Telefonnummer herausgefunden hatte. Er war offensichtlich doch schlauer, als sie gedacht hatte. Aber die Codenummer, um in ihr Wohnhaus zu gelangen, würde er bestimmt nicht bekommen. Würde wenigstens das ihn davon abhalten, plötzlich bei ihr aufzutauchen? Nachts zog Gigi also durch die Stadt, und tagsüber klapperte sie die Bewerbungstermine ab. Allmählich fragte sie sich schon, ob sie überhaupt noch jemand buchen würde. Nach dem Fiasko -352-
bei Armani in Mailand wußte sie, daß sie für die bevorstehenden Modenschauen jedenfalls keinen Auftrag erwarten konnte. Sie mußte der Wahrheit ins Gesicht sehen und sich eingestehen, daß sie kein Mannequin war. Sie haßte die Castings. Sie haßte es, in einen Raum zu gehen, in dem sieben Leute herumsaßen, die ausschließlich Französisch plapperten, so daß sie kein Wort verstand, und sich ihr schließlich mit gerümpfter Nase und einem »Oui, merci, au revoir« zuwandten. Das war's. Sie fragte sich, warum um alles in der Welt Daniel Mercier sie überhaupt nach Paris geholt hatte. Den Grund dafür sollte sie erfahren, als Greta sie eines Nachts in den berüchtigten Club Bains-Douche mitnahm. Vor ein Uhr nachts ging niemand in die Clubs. In Gretas Haus wohnten viele Models. Sie alle kamen irgendwann am frühen Abend von der Arbeit nach Hause, kochten sich etwas, fielen ins Bett und schliefen bis Mitternacht. Und dann gingen sie aus. Zwischen vierundzwanzig und ein Uhr verbreiteten diejenigen, die ausgehen wollten, Hektik im Haus. Sie zogen ihre besten Sachen an und stylten sich entsprechend. Diejenigen, die blieben, weil sie am nächsten Morgen einen frühen Anruf erwarteten, flehten zwar um Ruhe, wurden aber ignoriert. Als Greta und Gigi am Bains-Douche ankamen, wartete eine Menschenschlange rund um den Block. An der Tür stand eine blonde Frau mit einem Betongesicht. Es gab keine Liste, sondern nur zwei gewaltige Türsteher und diese grimmige Blondine. Plötzlich rief die Frau Greta zu: »Hey, du! Du warst doch auf dem Cover von Glamour. Du kannst reinkommen.« Und siehe, das Rote Meer teilte sich - und sie waren drin. »Die Tanzfläche ist unten. Laß uns erst nach oben gehen und an der Bar etwas trinken«, sagte Greta. Daniel Mercier hatte dort einen Tisch bestellt. Die Szenerie erinnerte Gigi an Marcellos Festessen in Mailand millionenschwere Kunden und eine Schar schöner Mädchen. Sie -353-
zögerte und war sich nicht sicher, ob sie gleich hinübergehen sollte. Dann sah er sie und zwinkerte ihr zu. Er bot Gigi den Platz neben sich an und bestellte ihr einen Wodka Tonic. Gigi erinnerte sich daran, was Greta ihr erzählt hatte: »Gigi, wenn du im Bains-Douche etwas trinken willst, mußt du Geld haben. Antialkoholische Getränke kosten umgerechnet mindestens zehn Pfund und eine Flasche Wodka sogar um die achtzig… Laß es also langsam angehen!« Daniel legte seinen Arm um ihre Schulter und stellte sie den anderen Tischgästen vor. Die meisten der Namen rauschten viel zu schnell an ihr vorbei, als daß sie auch nur einen davon hätte behalten können - mit Ausnahme dieses seltsamen Filmstars und Modejournalisten, den sie schon einmal gesehen hatte, der aber zu berühmt war, um sich an sie zu erinnern. Plötzlich verlor Gigi den Boden unter den Füßen. Greta war verschwunden, und sie war auf einmal ganz allein und fühlte sich wie ein armes Waisenkind, das von draußen in die warmen Stuben der Reichen guckt. »Na, Gigi, hast du schon viele neue Freunde in Paris gefunden?« Daniel zerzauste ihre dunklen Locken, und sie nickte. »Gut, gut. Genau das sollst du auch. Schließe Freundschaft mit all den anderen Models und finde heraus, wer von ihnen unglücklich ist.« »Unglücklich?« »Du hältst auf den Castings, zu denen du gehst, die Ohren offen. Du findest heraus, wer uns verlassen will, wer bei einer anderen Agentur erfolgreich ist und lieber zu uns käme, wer mit welchem Fotografen schläft und alles, was du sonst noch herausfinden kannst. Und vergiß nicht die privaten Apartmentnummern. Dann kommst du zu Onkel Daniel ins Bains-Douche und erzählst ihm alles. Kommen wir miteinander ins Geschäft?« »Was springt für mich dabei heraus?« Unwillkürlich kehrte -354-
Gigi die Geschäftstüchtige heraus. »Geschenke. Was immer du haben willst. Ich weiß nicht, was du möchtest, deshalb mußt du es mir sagen. Oder einem meiner Freunde.« Er zeigte in die Runde. Gigi begriff in Sekundenschnelle: das alles waren reiche junge Playboys, die wie Wolfsrudel durch Paris zogen, genau wie die in Mailand. Einer von ihnen war wahrscheinlich der berüchtigte Henri, der Besitzer der verspiegelten Modelapartments, vor denen Greta sie gewarnt hatte. Gigi mochte das nicht, da bevorzugte sie schon eher Mailand mit seiner unverhohlenen Schmierigkeit. In Paris schienen die Dinge sehr viel subtiler abzulaufen. Die Stadt war überlaufen von einer reichen Modeschickeria, die oberflächlich und selbstverliebt war; aber alles fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen, sobald man auch nur leicht an der Fassade kratzte. Doch Gigi hatte eine neue Überlebensphilosophie: Bettler dürfen nicht allzu wählerisch sein. Und Daniel hatte eine gute Wahl getroffen, denn Gigi war zur Spionin geboren. Es lag in ihrer Natur, allen Mädchen, denen sie begegnete, die Zunge zu lösen, ihnen zu entlocken, wie erfolgreich sie waren und was sie an ihren Agenturen störte. Dann lief sie damit zu Daniel, flüsterte es ihm ins Ohr und gab ihm damit die Mittel an die Hand, die er brauchte, um Mädchen für Etoile abzuwerben. Als die Pariser Modewoche begann, trafen auch die Amerikaner ein, so daß eine neue Truppe an Daniels Tisch saß und Gigi dem Mann mit dem meisten Sex-Appeal vorgestellt wurde, den sie je getroffen hatte. Bevor sie Jiro Takamoto kennenlernte, war sich Gigi nie der Tatsache bewußt gewesen, daß sie Muskelprotze unattraktiv fand. Solche Männer machten sie einfach nicht an. Was sie wollte, waren sinnlichemotionale Typen, die einen Zug von Gemeinheit an sich hatten. Für japanische Verhältnisse war Jiro groß, langgliedrig und beweglich wie ein eleganter Jüngling. Er trug einen teuren Anzug, ein weißes Hemd mit offenem Kragen und eine -355-
schiefsitzende Krawatte. Und er war umgeben von einer Aura gefährlicher Gleichgültigkeit. Irgendwie hatte er etwas Zwielichtiges an sich. Seine Augen waren kaum sichtbare schwarze Punkte, aber ihnen schien dennoch nichts zu entgehe n. Und ohne seine fast orientalischen Gesichtszüge hätte man ihn für einen Franzosen halten können - ja, in gewisser Weise war er ein japanischer Alain Delon. Gigi sah ihn vor ihrem geistigen Auge auf einem Bildschirm, wie er eine 45er zog und die Leute an Daniels Tisch wegpustete. Genau das war es, was sie anzog: seine bedrohliche Aura. Jiro war eine Mischung zwischen einem Gangster aus der Park Avenue und einem Playboy aus Tokio. Jiro bestellte einen Black Russian und fragte Gigi, woher sie käme. Ohne zu überlegen, erzählte sie ihm von ihrem ertrunkenen Vater, ihrer Mutter, die nach Kuba zurückgekehrt war, ihrer Adoption durch Elena und ihrer Kindheit in South Beach. »Und Sie?« »Bei mir war es ähnlich. Ich wurde in Osaka geboren. Das Geschäft meiner Familie befindet sich dort. Ein sehr großes. Mein Großvater ist Tatsuo Scheiß- Takamoto. Wir übernehmen täglich amerikanische Gesellschaften. SWAN, zum Beispiel, gehört Takamoto.« »Also arbeiten Sie für Ihren Vater?« »Für meinen Großvater. Mein Vater kam ums Leben, als unser Firmenjet abstürzte. Aber ich vermisse ihn nicht. Ich vermisse meine Mutter. Sie lebt immer noch in Osaka, so daß ich sie nicht sehr oft sehe. Mein Großvater möchte, daß ich heirate und Kinder bekomme - Erben, die Takamoto ins einundzwanzigste Jahrhundert führen, aber ich habe noch keine Frau gefunden, die sich so um mich kümmert, wie meine Mutter es getan hat. Die Frauen sind heutzutage alle so unabhängig. Ich will eine Sklavin.« -356-
Gigi merkte, daß er sehr betrunken war. Sie hatte schon in New York den Klatsch über Tatsuo Takamotos mißratenen Enkel gehört. Jiro stand in dem Ruf, sehr unjapanisch zu sein. Die Geschichten über die Geräusche, die jede Nacht aus seinem Apartment in der Columbus Avenue herausdrangen, waren Legende. Erfahrene New Yorker wußten, daß Japaner niemals ihr Gesicht verlieren durften. Deshalb verfuhren sie mit lauten japanischen Nachbarn folgendermaßen: sie klopften an ihre Tür, sagten mehrmals »Guten Abend!« und warteten, daß ihnen mit einem höflichen »Kann ich etwas für sie tun?« geantwortet wurde. Dann erklärte man ihnen, daß man nicht schlafen könne. »Ach, wirklich?« - »Ja.« Nun war es an den Japanern zu fragen: »Oh, ist es vielleicht meine Musik, die Sie stört?« - »Nun, vielleicht ja.« -»Soll ich sie leiser stellen?« - »Oh ja, das wäre außerordentlich liebenswürdig von Ihnen.« Jiro hingegen öffnete angeblich die Tür und brüllte, bevor irgend jemand irgend etwas hätte sagen können: »Was verdammt noch mal wollen Sie hier?« Der japanische Verhaltenskodex war formell und schrieb vor, niemals nein zu sagen oder etwas zu fordern. Jiro dagegen galt als arrogant und fordernd, wenn er auch einigen Leuten gegenüber unwiderstehlich charmant war. »Wenn Sie wollen«, sagte Gigi lachend, »werde ich Ihre Sklavin sein.« Sie betrachtete Jiros »Geständnis« als Herausforderung. Es lag ihrem Charakter so fern, die demütige Dienerin zu spielen und unterwürfig zu sein, daß sie diese neue Rolle ein paar Tage und Nächte lang regelrecht genoß. Wenn sie zusammen auf dem Bett lagen, schaute sie gern an ihrer beider Körper hinab und bemerkte im warmen Licht von Jiros Nachttischlampe, wie -357-
harmonisch ihre Körperfarben zueinander paßten. Ihre war milchkaffeebraun, seine weizengold. Wenn sie sich nackt vor dem Spiegel umarmten, mochte sie die Art, wie ihrer beider schwarze Haare zu einem einzigen kohlrabenschwarzen Kopf verschmolzen. Seine Grausamkeit brachte ihr Latinablut wieder zum Kochen. Zuerst liebten sie sich sinnlich und langsam, und dann, in ihrer dritten Nacht, aschte er nicht in den Aschenbecher, sondern auf ihren nackten Hintern. Sie dachte zunächst, es wäre ein Versehen gewesen, bis sie zu ihm aufschaute und seine geschürzten Lippen sah. Sie langte hinauf und zerkratzte mit ihren blutrot lackierten Krallen sein Gesicht. Als er ihr ein japanisches Wort entgegenbrüllte, wußte sie sofort, daß es ›Sklavin‹ bedeutete. Aber in diesem Augenblick hatte sie bereits aufgehört, seine Sklavin zu sein. Sie zahlte ihm fortan seine Grausamkeiten mit gleicher Münze heim - und das erregte ihn sehr. Genau wie sie.
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London, 1994 Letzten Endes nahm Armani Tess doch nicht für seine Show. Statt dessen flog sie zu den Bewerbungsterminen für die Londoner Modewoche nach Hause zurück, wo sie zur Freude aller nacheinander von Amanda Wakeley, der ›NewGeneration‹-Designershow von Harvey Nichols, John Rocha, Tomasz Starzewski, Ally Capellino, Salisbury Plain und Helen Storey gebucht wurde. Bei Harvey Nichols hatte man ein Restaurant im fünften Stock umgebaut und einen Laufsteg quer durch den Raum gelegt. Ganz in der Nähe befand sich der Lebensmittelmarkt, in dem Brian Murphy, Swans Beschützer, oft dabei beobachtet werden konnte, wie er Einkäufe für seine Chefin tätigte. Hinter der Bühne traf Tess auf ein recht verträumtes amerikanisches Model namens Cassie, das auf sie zustürzte, kaum daß sie ihren Namen gehört hatte. »Ich kenne dich. Dein Vater besitzt den Zeitungskiosk am Ende der Earls Court Road. Er war damals so nett zu mir. Ich war so niedergeschlagen, so abgrundtief depressiv, als ich in London ankam. Ich hatte keine Arbeit, und ich hatte Tommy noch nicht gefunden…« »Tommy?« »Tommy Lawrence. Mein Freund. Da drüben sitzt er. Kannst du ihn sehen? Der große, dunkle Typ mit dem verwahrlosten Aussehen, den Bartstoppeln und dem Nasenring. Meine Mutter und mein Vater würden sterben, wenn sie wüßten, daß ich mit jemandem zusammen bin, der einen Nasenring trägt. Wir haben diesen Spitzenwerbespot gemacht und sind richtige Medienstars geworden. Ich habe so viel Geld damit verdient, daß ich es kaum glauben kann.« Und ich habe gerade so viel Geld verloren, daß ich es kaum -359-
glauben kann, dachte Tess. Aber sie neidete Cassie ihren Erfolg nicht. Dieses amerikanische Törtchen konnte ihr so wenig das Wasser reichen, daß man ihr nichts übelnehmen mußte. »Bei welchen Shows bist du dabei?« fragte Te ss. »Bei keiner. Tommy führt hier Mode von Copperwheat Blundell vor. Er wird einen Hut aus Wolle und ein grobgewebtes Leinenhemd tragen. Ich bin froh, daß ich hiersein kann, um ihn zu unterstützen. Es ist seine erste Show. Für Paris ist er auch gebucht.« Bei der Show von John Rocha, die in einem großen Zelt vor dem National History Museum stattfand, war Cassie ebenfalls hinter der Bühne. Hier bekam sie den ersten Vorgeschmack darauf, wie es bei einer richtigen Vorführung zuging: ihr Auftritt war wesentlich länger und anspruchsvoller als der bei Harvey Nichols. Die Kleider von John Rocha paßten Tess perfekt. Ihr rotbraunes Haar und ihre weiße Haut verschmolzen wunderschön mit Rochas erdbraunen, gegerbten Jacken aus Schaffell, unter denen sie feinste Chiffonoberteile und schokoladenfarbene Wildleder-Boleros mit Schaffellkragen und -manschetten trug. Tommy nahm ebenfalls an dieser Show teil, gemeinsam mit den hochkarätigen männlichen Models Jerome, Mat Rose sowie dem dürren Keith Martin mit seinen großen Augen, der früher bereits mit Paul Smith zusammengearbeitet hatte. Nach der Show schlug Cassie Tess vor, sie solle sich heute zum Abendessen zu ihnen gesellen. »Ich kann nicht«, seufzte Tess. »Ich habe schon eine Verabredung.« »Hoffentlich ist er's auch wert«, erwiderte Cassie. »Er ist es nicht. Er ist bereits Vergangenheit. Aber ich muß ihm eine Chance geben, mir seine Version der Geschichte zu erzählen.« »Das klingt, als würde es eine lange Geschichte werden.« -360-
»So ist es. Ich werde sie dir ein anderes Mal erzählen.« »Vielleicht in Paris?« »Ich will es hoffen«, sagte Tess. »Da spricht ein wahres Model. Ist das nicht genau das, was wir die ganze Zeit über tun? Wir haben so wenig Kontrolle über unser Schicksal, alles, was wir tun können, ist hoffen. Ciao, Tess, es war nett, dich kennengelernt zu haben.« Am ersten Abend, den Tess wieder daheim verbrachte, rief Bobby Fox mitten während des Abendessens an. Ihre Eltern waren so überglücklich, ihre Tochter zu sehen, daß ihr Vater sogar seinen Zeitungsstand früher geschlo ssen hatte, um ja nicht die kleinste Kleinigkeit dessen zu verpassen, was seine Tochter über ihre Zeit in Mailand erzählen würde. »Wir wußten, daß du es schaffst, Liebes. Wir wußten, daß Bobby dich richtig eingeschätzt hat.« Tess schwieg. »Du hättest deinen Vater sehen sollen, als die Story mit dir auf diesem Friedhof in Carter's herausgekommen ist«, erzählte ihre Mutter. »Er hat die Seiten mit deinen Bildern aufgeschlagen und die Zeitschriften überall am Kiosk ausgehängt. Und jedem seiner Kunden hat er natürlich erzählen müssen: das ist mein Mädchen! Er war so stolz auf dich, Tess. Genau wie ich.« Du hättest noch viel stolzer auf mich sein können, wenn ich genügend Geld mit nach Hause gebracht hätte, um dir einen Rollstuhl zu kaufen, dachte Tess. »He, Bobby ist am Telefon«, rief ihr Vater aus dem Flur. Bobby! Sie hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, seitdem sie ihn zusammen mit Gigi im Bett vorgefunden hatte. »Hallo«, sagte er ruhig, als sie dann zu ihrer Verabredung in die Weinbar in der Fulham Road kam. Er saß allein in der Ecke, und Tess konnte es kaum fassen, als sie am Nachbartisch eine -361-
Gruppe ehemaliger Schulfreundinnen erblickte. Sie hatte keine von ihnen mehr gesehen, seitdem sie Model geworden war. Mittlerweile mußten sie bereits alle ihren Abschluß haben. »Jenny, Susie, Lynda, wie geht es euch? Was habt ihr in der Zwischenzeit so gemacht? Und was ist mit Gary? Bist du immer noch mit ihm zusammen? Mit was für Noten hast du deinen Abschluß geschafft, Lynda? Gehst du jetzt auf die Uni? Ich komme gerade aus Italien.« »Das wissen wir«, antwortete Lynda. »Dein Vater hat es uns erzählt.« »Vielen Dank für deine Postkarten«, ergänzte Jenny. »Ich vermute, allen Topmodels fehlt die Zeit, sich an ihre unwichtigen Freunde daheim zu erinnern.« »Mein Freund Bobby sitzt dort drüben. Können wir uns zu euch setzen? Laßt uns doch zusammen ausgehen. Kommen Gary und die Jungs noch?« Tess blickte sich nach einem Stuhl um. Wie auf ein Stichwort hin betrat nun ein schmuddelig aussehender Junge die Bar, der den Kragen seiner Lederjacke hochgeschlagen hatte, und ihm folgten zwei weitere Jungs in Sweatshirts, deren Kapuzen sie über den Kopf gezogen hatten. Alle versuchten, möglichst cool auszusehen. »Tess! Großartig! Laß dich anschauen! Ich hab' dein Foto in der Zeitung gesehen. Was ist mit dieser Geschichte, wo man dich ganz nackt in einem Badezimmer fotografiert hat?« Zu ihrer eigenen Überraschung lachte Tess. Noch vor ein paar Monaten wäre sie ausgeflippt, falls sie jemand auf die Geschichte von Lindy-Jane Johnson angesprochen hätte, aber jetzt machte ihr das überhaupt nichts mehr aus. So weit war sie schon gekommen. Sie merkte nicht, daß sie ihre Freundinnen ausstach. Diese starrten sie stumm an und waren sauer, daß Tess im Mittelpunkt stand. Ihre Blicke sagten ausnahmslos dasselbe: was glaubt die eigentlich, wer sie ist, daß sie hier so einfach hereinspaziert kommt und denkt, sie könnte uns unsere Freunde -362-
ausspannen, nur weil sie Model geworden ist. »Warum gehst du nicht, setzt dich zu deinem Freund und läßt uns in Ruhe?« zischte Susie. »Was - diese kleine Schwuchtel dort? Der ist doch niemals ihr Freund, oder etwa doch, Tess?« Gary sah zu Bobby hinüber. Tess war schockiert - sowohl über Susies Ton als auch über die Tatsache, daß Gary sofort erkannt hatte, daß Bobby schwul war. »Nein«, gab sie zu. »Aber er ist ein guter Freund. Tja, ich laß euch jetzt allein. Bis bald.« »Die wirst du niemals wiedersehen«, sagte Bobby, als sie sich zu ihm setzte. »Das weißt du doch, oder? Ich habe das immer wieder erleben müssen. Sobald ein Mädche n es geschafft hat, fühlen sich diejenigen, die sie bis dahin für ihre Freundinnen gehalten hat, plötzlich von ihr bedroht. Und übrigens hat er recht, wenn er sagt, daß ich eine Schwuchtel bin.« Er blickte ihr direkt in die Augen und flehte sie geradezu an, zwischen ihnen wieder alles gut werden zu lassen. »Und ich bin wahrscheinlich ein bißchen naiv«, erwiderte Tess. »Es ist verrückt. Die Mädchen halten mich für so welterfahren, und dabei habe ich noch nicht einmal gemerkt, daß du in Wahrheit schwul bist. Du mußt mich für blöd gehalten haben.« »Niemals! Und weißt du auch, warum? Weil ich mir, als wir miteinander geschlafen haben, selbst noch nicht bewußt war, daß ich schwul bin.« »Wir haben miteinander geschlafen«, wiederholte Tess. »Haben wir, ich meine, hast du dabei…?« »Es war Safer Sex. Du weißt doch, daß wir jedesmal ein Kondom benutzt haben. Es besteht kein Grund, daß du dir -363-
Sorgen machst.« »Und was ist mit Gigi? Hast du bei ihr auch ein Kondom benutzt?« Tess' Tonfall wurde scharf, als sie sich daran erinnerte, in was für einer Situation sie Bobby überrascht hatte. Bobby erklärte ihr alles, so gut er konnte. Er war von der neuen Tess beeindruckt, aber er konnte sehen, daß ihre alte Verwundbarkeit trotzdem nach wie vor vorhanden war. Tess war noch immer leicht aus der Fassung zu bringen. Als er seine Geschichte beendet hatte, fügte er noch hinzu: »Ich weiß, daß ich dich verletzt habe, und die einzige Möglichkeit, alles wieder gutzumachen, besteht darin, daß ich dein bester Freund werde falls du mich läßt. Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert, Tess, und dieser Jemand könnte ich sein. Du arbeitest in einem harten Job, und du hast wahnsinnige Fortschritte gemacht. Grace Brown und Angie haben gerade gestern erst gesagt, daß deine Einstellung viel positiver geworden ist. Aber du hast noch einen langen Weg vor dir. Laß mich dir helfen.« Tess weinte, sie konnte sich nicht dagegen wehren. Sie vergrub ihr Gesicht in Bobbys Armen und ließ sich den Rücken streicheln. »Ist ja gut, ist ja gut«, flüsterte er beruhigend, als spräche mit einem Baby. Nach all der Anspannung in Mailand war seine Sanftheit eine Wohltat für Tess. Schließlich trocknete sie ihre Tränen und sah ihm ins Gesicht. »Ich hätte nie geglaubt, daß ich jemals so etwas sagen würde aber ich liebe dich, Bobby Fox. Nicht auf die Art, wie ich das früher getan habe, aber ich liebe dich… als meinen besten Freund.« »Tja, wenn das so ist, solltest du deinem besten Freund einen Gefallen tun. Versprich ihm, daß du bei den Bewerbungen für die Pariser Modeschauen wie eine Bombe einschlägst, damit wir dort zusammenarbeiten können. Ich werde dort sein und niemand geringerem als Willy O'Neil assistieren.« »Abgemacht«, grinste Tess. »Ciao, Gary!« rief sie im -364-
Hinausgehen ihrem alten Klassenkameraden zu und ignorierte dabei ihre Freundinnen. »Dumme, hochnäsige Kuh«, befand Susie. »Was, glaubt die, hat sie, was wir nicht haben?« »Alles«, erwiderte Bobby, als er Tess nach draußen folgte. »Ich habe alles«, wiederholte Tess zwei Wochen später, als sie sich in ihrem Pariser Apartment in der Avenue de l'Opéra im Spiegel betrachtete. Sie war bei jedem der Castings hier wie eine Bombe eingeschlagen und nicht nur für Sonia Rykiel und Claude Montana, sondern auch für Valentino gebucht worden. Sie konnte es kaum fassen. Bobby war ebenfalls in Paris und wohnte mit Willy O'Neil in einem Hotel. Er wollte ihr die Stadt bei Nacht zeigen. »Aber ich muß am Ball bleiben…«, nahm sie sich vor. Sie zog sich ihr CK-Unterhemd über den Kopf, schüttelte ihr langes rotes Haar und blickte selb stkritisch auf ihr nacktes Spiegelbild. Und auf der anderen Seite des Spiegels starrte Henri zurück.
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Paris, 1994 Ich reise gerne nach Paris. Seltsamerweise kann ich mich hier am besten in mein Privatleben zurückziehen. Ich wohne nie im Hotel, sondern habe ein kleines Apartment am Ende der Rue de Clichy im neunten Arrondissement, direkt unterhalb vom Montmartre, nicht weit von Pigalle. Dieser Stadtteil von Paris ist nicht besonders in, aber er ist herrlich unverdorben, ruhig und still. Wenn ich will, kann ich zu Fuß bis zur l'Opéra, dem Place de la Concorde, dem Jardin des Tuileries, dem Louvre und sogar über die Seine aufs linke Flußufer gehen. Der Eingangsbereich des Gebäudes ist typisch für Paris - mit Doppeltüren, die von der Straße auf einen Hof führen, und einem Treppenhaus, über das man in die oberen Stockwerke gelangt. Meine kleine Wohnung hat vier Zimmer und würde in Amerika als Eisenbahn-Apartment bezeichnet werden, weil ein Raum in den anderen übergeht. Alle Zimmer sind weiß gestrichen und besitzen einen Kamin aus Marmor, mit einem großen gerahmten Spiegel darüber und einer wundervollen Holzvertäfelung unten an den Wänden. Vor den Fenstern befinden sich kleine Balkons und Markisen, und direkt vor der Tür gibt es ein Café, in dem ich oft frühstücke oder eine heiße Schokolade trinke. Zu den Shows gehe ich nicht zu Fuß. Man schickt einen Fahrer, der mich abholt. Ich lief diesmal schnell zu meinem Wagen runter, weil ich nicht wollte, daß er hochkam und Rory sah, der mit mir nach Paris gekommen war. Während ich mit den Shows in London beschäftigt war, war Rory nach Wiltshire zurückgekehrt, um bei meinen Eltern zu bleiben und ihnen Zeit zu geben, ihren künftigen Schwiegersohn in Ruhe kennenzulernen. Bei dieser Gelegenheit hatte er auch Harry besucht, um ihm alles über seinen Besuch bei der Agentur -366-
Cécile zu erzählen. Ich war erschrocken, als ich hörte, daß mein Bruder geradezu panisch darauf reagiert hatte, daß die Agentur Cécile noch immer existierte. Danach war kein Wort mehr aus ihm herauszubekommen. Er hatte lediglich gesagt, daß er ausschließlich mit mir über die Geschichte sprechen wollte. Da es aber im Kalkofen kein Telefon gab, mußte das bis zu unserer Hochzeit warten. Wir hatten uns entschieden, Harry bei der Trauung in Trevane wieder mit meinen Eltern zusammenzubringen. Die meisten Kollektionen wurden in einem neuerbauten Schmuckstück der Pariser Modeszene gezeigt, dem Carrousel du Louvre, einer vierzig Millionen Pfund teuren und zweihundertfünfzig Meter langen unterirdischen Galerie neben der I.-M.-Pei-Pyramide im Louvre. Die Tage, an denen Moderedakteure sich ihren Weg durch klatschnasse Menschenmassen hin zu durchnäßten Zelten erkämpfen mußten, waren vorbei. Irgendwie war es typisch, daß, als New York gerade damit begann, die Mode in Zelten vorzuführen, Paris zu unterirdischen modernen Salons überwechselte. Es machte mir das Leben leichter, obwohl ich immer ins Schwärmen geriet, wenn ich an die alten Tage zurückdachte, als ich für ein Auto mit Chauffeur noch nicht bekannt genug gewesen war und auf den Rücksitz eines kleinen Rollers klettern mußte, mit dem wir alle von Show zu Show gebracht wurden. Es war Mittwoch, der 9. März, und wir alle traten bis 12.30 Uhr bei Valentino auf - Claudia, Naomi, Linda, Christy, Helena, Cecilia, Brandi, Nadja und ich. In diesem Jahr gab es bei den Shows zusätzliche Hektik, weil der unter großem Beifall begrüßte amerikanische Regisseur Robert Altman - der mit »M.A.S.H«, »McCabe and Mrs. Miller«, »Nashville«, »The Player« und vor kurzem auch »Short Cuts«, um nur einige seiner Filme zu nennen, berühmt geworden war - ein Modeepos namens »Prêt-à-porter« drehte. Er war für seinen dokumentarischen Anspruch bekannt und hatte seine Kameras -367-
mitten zwischen den Zuschauersitzen aufgebaut - ganz zu schweigen von denen hinter der Bühne. Er ließ Sophia Loren, Lauren Bacall, Sally Kellerman und Tracey Ullman in der ersten Reihe sitzen. Unter den Presseleuten gab es eine Menge Getratsche darüber, daß diese Leute zwar Moderedakteure spielten, sich jedoch nie etwas notierten und noch nicht einmal Notizblöcke in den Händen hielten. Unser hauseigener Spion Water Detroit, Celestias Freund, der in dem Film mitspielte, lieferte uns täglich Berichte über das Durcheinander am Drehort. Keiner der Beteiligten wußte, wann genau er gefilmt wurde und welche seiner Worte man einfing. Hinter der Bühne waren wir alle ziemlich verletzbar, und in einer amüsant anmutenden Szene waren drei berühmte Topmodels dabei aufgenommen worden, wie sie ihre Köpfe zusammensteckten und sehr ernsthaft verkündeten, sie wollten jetzt über Politik reden. So etwas regte mich auf. Warum mußte alle Welt glauben, wir wären dumm? Mit den Dreharbeiten bei Valentino hatte Altman die Showaufnahmen abgeschlossen, und wir alle konnten uns etwas entspannen. Celestia war ebenfalls hinter der Bühne, und mit ihrem platinblondgefärbten Haar sah sie einfach umwerfend aus. Die Kleiderstangen der Topmodels waren in einer Reihe aufgestellt und mit Pappschildchen versehen, auf denen in einer großen, kindlichen Schrift in Schwarz unsere Namen geschrieben standen. Die noch weniger bekannten Models befanden sich auf der anderen Seite der Kleiderstangen, und durch all die Kleider hindurch konnte ich Celestia zuerst nicht sehen. Überall herrschte ein unglaubliches Gedränge. Mädchen zogen sich um, und Dresser riefen Dinge wie: »Wie meinst du das, deine Schuhgröße ist 40? Mir hat man 38 gesagt, und das hier ist das einzige Paar, das ich gerade noch gefunden habe. Nun mach schon, du mußt gleich raus auf die Bühne.« Wir trugen diese riesigen Pferdeschwanzhaarteile, mit denen man sich nur sehr schlecht bewegen konnte, und für ein Outfit hatte -368-
ich fünfundzwanzig Knöpfe eines schwarzen Abendjacketts zu öffnen, bevor ich am Ende des Laufstegs angelangt war. Aber sie wollten einfach nicht aufgehen. Als ich von der Bühne abging, nestelte ich noch immer an ihnen herum. Dennoch, trotz all der Panik war die Show ein wahnsinniger Erfolg. Wir liefen zum Schluß zusammen mit Valentino den Laufsteg hinunter, während ringsum Beifall geklatscht wurde, und später kamen diejenigen, die die Sicherheitskräfte passieren durften, hinter die Bühne, um Handküßchen und Glückwünsche zu verteilen. Celestia trat an meine Kleiderstange heran und stand ganz schüchtern da, während ich wieder meine eigenen Sachen anzog. Ich bemerkte, daß sie leicht zitterte, und nahm sie in den Arm. »Wie war es?« »Beeindruckend. Es ist die einzige Show, die ich hier unten im Louvre gemacht habe. Es ist alles so riesig hier. Ich bin schon bei Dries van Noten, Ann Demeulemeester, Vivienne Westwood, Martine Sitbon und Jean Colonna aufgetreten, aber das hat alles irgendwo stattgefunden. Die Show hier war eine ganz große Sache. Kurz vor meinem Auftritt hatte ich plötzlich das Gefühl, daß ich alles vermasseln würde. Ich habe erst einmal eine Sekunde innehalten müssen und an meine Großmutter gedacht - und an alles, was sie mir beigebracht hat.« »Sie ist eine der ganz Großen gewesen. Du hättest kein besseres Training erhalten können«, sagte ich zu ihr. Und das war wahr, Fiona Fairfax war eine Legende. Celestia erzählte mir von den Unterrichtsstunden in der Eingangshalle in Trevane, wo ich bald meine eigene Show haben würde - meine Hochzeit. »Ich werde heiraten«, erzählte ich Celestia aus einem Impuls heraus. »Nein! Das glaub ich nicht. Wen denn?« »Sein Name ist Rory Stirling. Er ist Schriftsteller. Du hast ihn -369-
übrigens schon mal gesehen. Er war auf der Party von Norah Nicholson.« »Natürlich! Er ist himmlisch. Dann hat Water also doch recht gehabt.« »Wie meinst du das?« »Water hat Rory Stirling gesehen, als der eines Tages aus dem Carlyle gefahren kam, und er hat keine Ruhe gegeben, bis er endlich herausgefunden hatte, was Rory dort wohl wollte. Er will ihn unbedingt kennenlernen, um die Filmrechte an seinem Buch zu erwerben. Er will sogar, daß ich euch zusammenbringe, sobald wir zurück sind.« »Nein, Celestia, du darfst keinem etwas von Rory und mir erzählen. Nicht einmal Water. Behalt es bitte für dich. Aber ich fände es schön, wenn du zur Hochzeit kommst, sofern du das einrichten kannst. Du wirst das sowieso über deine Eltern erfahren. Wir lassen uns in Trevane trauen. In der Kapelle. Warum willst du nicht meine Trauzeugin - oder wie immer man das nennt - werden? Aber, tut mir leid, ich möchte nicht, daß du Water mitbringst. Irgendwie traue ich ihm nicht über den Weg.« »Oh, keine Sorge, das tue ich bestimmt nicht. Ich habe nur eine gute Zeit mit ihm. Soweit es mich angeht, ist es nichts Ernstes. Im Moment geht er mir sogar ziemlich auf die Nerven. Er ist eifersüchtig, weil es den Anschein hat, als hätte ich in ›Prêt-à-porter‹ oben auf dem Laufsteg eine größere Rolle als er in dem Film. Er ist momentan recht unsicher. Mit dieser improvisierten Sache, die da gemacht wird, kann er nicht so gut umgehen. Es gibt kein Script, und er weiß nicht, wann genau er gefilmt wird und ob sie auch seine Schokoladenseite aufnehmen und so weiter und so fort. Aber, Lavinia… ich meine, SWAN… ich komme liebend gern zu deiner Hochzeit. Da ist nur eine Sache, die ich dir vorher zeigen muß.« »Natürlich. Was ist es denn?« Es war seltsam. Sie drückte mir überstürzt ein rotblaues -370-
Notizbuch in die Hand und rannte davon. Ich schlug es auf. Darin lag ein zusammengefaltetes Stück Papier mit einer einzeiligen handschriftlichen Notiz: Dies ist Olivers Tagebuch. Laß uns darüber sprechen, wenn du Zeit gefunden hast, es zu lesen. Celestia. Erschrocken ließ ich das Notizbuch fallen. Eine Hand tauchte hinunter und hob es für mich auf. Ich sah hoch und erblickte den hübschen Rotschopf aus Mailand. Wie hieß sie doch gleich? Tess soundso. »Ich wollte mich bei dir bedanken. Carla hat mir erzählt, daß du mich für das Casting von Armani vorgeschlagen hast.« »Stimmt genau«, bestätigte ich ihr. »Wie ist es dir ergangen? Ich erinnere mich, daß ich dich bei den Shows in London gesehen habe.« »Tja, Armani hat mich dann leider doch nicht genommen, aber ich bin bei sehr vielen anderen Shows hier in Paris auf getreten.« Ich musterte sie eine Sekunde lang. Dieses Mädchen sprühte vor Schönheit und Energie. Ich kannte diesen Ausdruck - sie war verliebt. »Du siehst fantastisch aus. Kann es sein, daß ich da einen besonderen Glanz in deinen Augen sehe?« Sie kicherte. »Ich habe ihn zufällig am letzten Sonntag in der Gaultier-Show kennengelernt. Er ist dieser einfach irre aussehende Junge, der Gaultier in Paris auf der Straße über den Weg gelaufen ist. Obwohl er kein Model ist, hat die Art, wie er sich bewegt, Gaultier so sehr gefallen, daß er ihn gleich mit zu seiner Show genommen hat. Es ist so beruhigend, ihn um sich zu haben, daß ich es gar nicht in Worte fassen kann.« »Das mußt du auch nicht. Ich kenne das Gefühl.« Die Liebe lag überall in der Luft. Bei diesem Gedanken fiel mir ein, daß ich um dreizehn Uhr in einem meiner -371-
Lieblingsrestaurants mit Rory zum Mittagessen verabredet war. Es handelte sich um eine kleine Gaststätte, und das Paar, das sie betrieb, erntete sämtliches Gemüse im eigenen Garten. Ich konnte mich jedoch kaum auf mein Consomme' en gelée und Carré d'agneau aux haricots konzentrieren und vernachlässigte sogar meinen geliebten Rory, weil ich es einfach nicht erwarten konnte, endlich das Tagebuch von Oliver Fairfax zu lesen und herauszufinden, warum Celestia es mir so überstürzt gegeben hatte. Nur gut, daß Celestia zusammen mit Water zu einem Festessen kam, das Polly Mellen und Linda Wells für die Zeitschrift Allure in dem hübschen kleinen Restaurant Marie et Fils in der Rue Mazarin im Quartier Latin gaben. Polly Mellen ist eine Institution in der Modewelt, eine legendäre und unerschrockene ehemalige Moderedakteurin von Vogue in New York. Seit meiner Ankunft in New York war sie immer sehr nett zu mir gewesen. Ich war begeistert, daß man sie soeben für ihr Lebenswerk ausgezeichnet hatte - zu recht! Ich erinnere mich an jemanden, der mir erzählt hatte, er sei einmal zusammen mit Polly im Aufzug zu Conde Nast gefahren und sie habe ihm bei dieser Gelegenheit gestanden, daß sie jedesmal weinen müßte, wenn sie bei den Shows ein schönes Kleid sah. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich noch einen Tag länger hätte warten müssen, um endlich mit Celestia über Olivers Aufzeichnungen sprechen zu können. Nichtsdestotrotz mußte ich mich den ganzen Abend über gedulden. Die Gästeliste war sehr erlesen: Anna Wintour, Gene Pressman von Barneys, Ellin Saltzman von Bergdorf Goodman, Helmut Newton und seine Frau, die Fotografin Alice Springs, Andrée Putman und André Leon Talley, der Kreativdirektor von Vogue, Natasha Fraser von W Fashion Europe, Suzy Menkes, Massen von Designern wie John Galliano, Sonia Rykiel, Agnès B, Jean Colonna, Martine Sitbon, Eric von Chloé sowie eine Handvoll Schriftsteller und Schauspieler wie Sandra Bernhardt und ihre -372-
Freundin, Billy Norwich, Rupert Everett, Diane von Fürstenberg und schließlich und endlich - aufgrund seiner eigenen Leistung und mit Gewißheit nicht meinetwegen eingeladen - der junge, aufstrebende Schriftsteller Rory Stirling. Wir waren getrennt angekommen, um keinerlei Verdacht zu erregen. Als er durch die Tür getreten war, hatte ich mich allerdings schwer zurückhalten müssen, ihn nicht in meine Arme zu schließen. Ich hörte einer verrückten Unterhaltung zwischen Helmut Newton und Rupert Everett zu, die beide in Erinnerungen an Aufnahmen für Anna Wintour schwelgten, die mir gerade kurz »Hallo« gesagt hatte. Ausnahmsweise hatte Celestia auf ihren jungen, rebellischen Stil verzichtet und trug ein ausgesproche n schönes Kleid von Todd Oldham. Mit ihrem neuen, platinblonden Haar und ihren großen grauen Augen sah sie fast so aus, als wäre sie nicht von dieser Welt. Sie saß hinten an einem der runden Tische, während man mich ganz vorne an Pollys Tisch zwischen Helmut und André Leon Talley plaziert hatte. Ich konnte den ganzen Abend lang nicht zu ihr hinübergehen. Zu meinem Entsetzen sah ich, daß Water am selben Tisch wie Rory saß und sehr raublustig aussah. Die Unterhaltungen drehten sich um die Modewoche und darüber, wessen Kleider gut gegangen waren und welche nicht. Es hieß, daß Valentino fünfundvierzig Minuten zu spät angefangen hätte, oder daß ein Designer von den Fragen, die ihm hinter der Bühne von einer Journalistin der englischen Elle gestellt worden waren, so gelangweilt gewesen war, daß er mitten im Interview eingeschlafen war. In dem Stil ging es weiter und weiter. Normal erweise hätte ich das toll gefunden, aber an diesem Abend hatte ich zu viele andere Dinge im Kopf. Wir saßen bis kurz nach 22.30 Uhr zusammen, und sobald wir mit unserem Dessert fertig waren und sich die strenge Sitzordnung auflöste, eilte ich zu Celestia. »Komm, wir gehen«, flüsterte ich ihr zu. »Erzähl es Water. -373-
Vielleicht kann er Rory dazuladen. Auf diesem Weg könnte ich mit ihm Zusammensein.« »Wo gehen wir hin?« »Zu einem Club in der Nähe von Etoile. Sag deinem Taxifahrer, daß er meinem folgen soll.« Ich hatte einen Anruf von Cher bekommen, die in Paris war, im Club St. James, und sie hatte mir gesagt, daß ich sie auf der ›Chrome Hearts Party‹ treffen sollte. Wie auch immer, als wir dort ankamen, war von Cher weit und breit keine Spur zu sehen, aber das dunkle Ambiente des Clubs bot eine perfekte Gelegenheit für Celestia und mich, um in einer Ecke über Olivers Tagebuch zu sprechen. Der arme Rory mußte sich mit dem gefürchteten Water herumschlagen, aber ich hatte ihm schnell zugeflüstert, warum ich die beiden gebeten hatte, uns zu begleiten. Ich wußte, er hatte Verständnis dafür. Ich umklammerte Celestia im Halbdunkel. »Ich habe gewußt, daß Harry gelogen hat. Ich habe es einfach gewußt. Er hat mir zwar erzählt, daß Oliver zu dieser Begleitagentur namens Cécile gegangen ist, aber er hat auch gesagt, daß die vor Jahren dichtgemacht hätte. Doch das stimmt nicht. Rory ist hingefahren, um das zu überprüfen, und als er Harry mit den Ergebnissen seiner Nachforschungen konfrontiert hat, ist dieser fast aus der Haut gefahren. Rory erzählte mir, daß Harry sehr erschrocken war und nur mit mir darüber sprechen wollte. Sobald die Shows vorüber sind, werde ich direkt nach Wiltshire fahren, um mich mit ihm zu treffen.« »Heißt das, daß du weißt, wo dein Bruder ist?« Celestia war so überrascht, daß sich ihre Stimme fast überschlug. Mir wurde klar, daß ich die sprichwörtliche Katze aus dem Sack gelassen hatte, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Ich mußte Celestia die ganze Geschichte erzählen. »Das ist unglaublich«, sagte sie, nachdem ich ihr alles -374-
berichtet hatte, was ich wußte. »Ich weiß nicht, was mich veranlaßt hat, dir nach dieser langen Zeit Olivers Buc h zu geben, aber ich bin so froh, daß ich es getan habe. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen, wenn wir zurück in England sind. SWAN, kann ich dir ab jetzt dabei helfen? Bitte, sag ja! Ich fühle mich so schrecklich, weil ich dir das Buch nicht früher gezeigt habe. Ich möchte wirklich helfen.« »Natürlich kannst du das«, nickte ich ihr zu. »Als erstes werde ich Harry nach Einzelheiten über diesen Typ namens Murray fragen.« Als ich nach Hause in die Rue de Clichy kam, wartete auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht auf mich. »SWAN, ich bin's, Sally. Sally Bainbridge. Hör zu, ich hoffe, bei dir ist alles in Ordnung. Ich habe mir nur gedacht, ich sollte dich besser anrufen. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Es geht um Harry. Letztes Wochenende bin ich runter nach Wiltshire zum Kalkofen gegangen - und er war weg. Nichts war mehr da. Er hat all seine Sachen mitgenommen, und ich habe seitdem kein Lebenszeichen mehr von ihm gehört. Er ist wieder spurlos verschwunden. « Alice Johnson wankte zum Aufzug am Eingang zum Carrousel du Louvre. Sie hatte sich mit ihrem einzigen Kostüm von Chanel herausgeputzt. Unglücklicherweise war es ihr mittlerweile zu eng geworden und spannte sich, aber wenn man schon zu einer Chanel-Show ging, dann mußte man doch auch Chane l tragen, oder etwa nicht? Sie spazierte die unterirdische Einkaufspromenade entlang und lächelte Suzy Menkes von der International Herald Tribune zu, die sie ihrerseits jedoch vollkommen ignorierte - was auch nicht weiter überraschend war, denn sie hatte Alice noch nie in ihrem Leben gesehen. Dumme Kuh, dachte Alice, warum trägt sie bloß immer diese lächerliche Frisur? Alice hatte Suzys Bild -375-
schon so oft in Zeitschriften gesehen, daß es ihr tatsächlich so vorkam, als würde sie sie persönlich kennen. Alice wäre eher gestorben, als daß sie zugegeben hätte, zum erstenmal bei den Shows zu sein. Und zu allem Überfluß hatte sie sich gleich nach ihrer Ankunft in Paris auch noch einen Virus eingefangen. Heute hatte sie das Bett zum erstenmal wieder verlassen. Sie hoffte, daß Geraldine und Lindy-Jane wohlauf waren. Am Abend zuvor hatten sie ihr die Eintrittskarte für Chanel überlassen und waren anschließend zur ›Chrome Hearts Party‹ gegangen, was immer das auch gewesen sein mochte. Alice hatte vermutet, daß ›Chrome Hearts‹ der Name irgendeiner Band war, aber die beiden hatten nur gekichert. Sie erreichte den Eingang zu den Sälen und wedelte beim Eintreten mit ihrem Ticket herum. »S'il vous plaît, s'il vous plaît, Madame, Madame!« Ein Mann mit einem Funktelefon eilte hinter ihr her und führte sie - o Schreck, o Graus! - wieder zurück hinter die Abgrenzung bis ans Ende einer langen Menschenschlange, die darauf wartete, eingelassen zu werden. »Aber ich habe ein Ticket. Sehen Sie? Hier steht mein Name.« Sie zog die schwarze Karte hervor, auf dem in goldenen Lettern CHANEL stand. »Ja, Madame, aber Sie haben keinen Sitzplatz. Sie haben nur einen Stehplatz.« Und weg war er. Alice konnte es kaum ertragen. Sie mußte zusammen mit dem gemeinen Volk anstehen und zusehen, wie die Auserwählten, die einen Sitzplatz hatten, triumphierend an ihr vorbeistolzierten. Keiner von ihnen würdigte sie auch nur eines Blickes. Alice vermutete, daß Anna Wintour, John Fairchild, André Leon Talley, Alexandra Shulman, Anna Harvey und natürlich auch Suzy Menkes sich köstlich über sie amüsierten. Dann sah sie Geraldine und Lindy-Jane. Sie hatten ihre Tickets -376-
gezückt und wurden ebenfalls durchgewunken. »Geraldine! Hier! Hier bin ich.« Doch sie ignorierten sie. Plötzlich dämmerte es ihr. Geraldine hatte die Tickets vertauscht und ihren Stehplatz Alice zugeschoben. Immer mehr Menschen kamen an. Die Menge hinter ihr drängelte und schubste, und als sie dann endlich eingelassen wurden, mußten sie am nächsten Eingang ihre Ausweise vorzeigen. Alice hatte ihren nicht dabei. Sie wühlte in ihrer Tasche herum und zog das erstbeste Ding heraus, auf dem ihr Name stand - ihre Blockbuster-Video-Mitgliedskarte. Als der Kontrolleur sie intensiv studierte, wurde sie von der Menge nach vorne geschoben, und die Barriere brach. Alice lief schnell los. Was machte es schon aus, daß sie ihre Blockbuster-Karte verlor, wenn sie dafür zu Chanel kam? Drinnen sah sie sich einem weiteren Problem gegenüber. Ihre hohen Absätze bereiteten ihr Todesqualen, denn sie waren nicht dafür gemacht, eine Stunde lang darauf zu stehen. Und wenn sie ihre Schuhe ausziehen würde, wäre sie zu klein, um noch über die Menge hinwegblicken zu können. Sie schaute sich um. Der Raum war überfüllt. Sie sah mehrere Japaner, die im Alkoholrausch vor sich hin dösten, und Frauen, die in ganz neue Kostüme von Chanel gekleidet waren und mit Motorradhelmen in den Händen ihre Plätze einnahmen. Sie entdeckte Geraldine, die auf ihrem Sitz auf und ab sprang und Leuten zuwinkte, die jedoch - Alice freute es, das zu sehen - nicht zurückwinkten. Sie erspähte eine gähnende Eileen Ford, eine wahre Königin unter den Modelagenten, deren Mädchen bald den Laufsteg zieren würden. Die Lichter wurden gedämpft. Alice verlor fast das Gleichgewicht, als der Boden unter ihren Füßen im Rhythmus der lautesten Discomusik zu vibrieren begann, die sie je gehört hatte. Jedesmal, wenn sie etwas schreiben wollte, zitterte ihr Stift. -377-
Eine Sportbekleidungskollektion wurde gezeigt, mit Trainingsanzügen, über denen sich die Models in gigantische Nationalflaggen gehüllt hatten. SWAN hatte den Union Jack um ihre Schultern drapiert, Linda Evangelista trug die die rote Fahne mit dem weißen Ahornblatt ihres kanadischen Heimatlandes und Claudia Schiffer die schwarzrotgoldene deutsche Fahne. Es war viel Kunstpelz zu sehen, ergänzt von originellen Accessoires: kleine Picknickkörbe mit Wasserflaschen, winzige Pelztäschchen, Mobiltelefone, Skibrillen und Gummistiefel mit dem Coco-Chanel- Logo. »Chanel - Schätzchen«, schrieb Alice pflichtbewußt, »Hüte mit flauschigen Tintenfischarmen.« Das klang noch nicht gut. Sie mußte Geraldine unbedingt dafür gewinnen, das ein bißchen zu verfeinern. Sie blickte zu ihrer Assistentin hinüber. Das Mädchen würde das schon für sie machen. Ihr Blick wanderte weiter zu Lindy-Jane. Alice traute ihren Augen kaum: LindyJane sah sich noch nicht einmal die Show an. »… und das nach all den Schwierigkeiten, die ich hatte, um ihr überhaupt die Tickets zu besorgen!« flüsterte Alice verärgert. Ihre Schwester saß vornübergebeugt auf ihrem Platz und war in ein kleines rotblaues Notizbuch versunken. Es sah so aus, als läse LindyJane in dem Tagebuch von irgend jemand anderem. Und tatsächlich. Lindy-Jane hatte die Nase voll von ihrer Schwester, deren Wortschatz sich mit einem Male nur noch auf die zwei Wörter ›fließend‹ und ›dekonstruk tiv‹ beschränkte. Alice meinte wahrscheinlich, daß sie den Leuten glauben machen könne, sie verstünde etwas von Mode, wenn sie diese zwei Worte zu jedem Satz benutzte. Wann immer es ihr möglich war, suchte Lindy-Jane das Weite. Am vorangegangenen Abend hatte sie sich ihren Weg hinein zur ›Chrome Hearts Party‹ erkämpft und bei dieser Gelegenheit zufällig SWAN und Celestia beobachtet, die in einer Ecke saßen und eifrig über einem Notizbuch brüteten. Außerdem hatte sie gelauscht, als Water Detroit Rory Stirling erzählte, daß ziemlich -378-
viel Sex darin vorkommen würde. Und so hatte sie bei der erstbesten Gelegenheit in Celestias voluminöse Modeltasche gegriffen und das Notizbuch herausgenommen. Jetzt konnte sie kaum glauben, was sie da in den Händen hielt. Sie würde es fotokopieren und dann bei Etoile in Paris zu Celestias Händen abgeben, mit einer kurzen Notiz, daß es irgendwo auf dem Boden gefunden worden wäre. Als die Show bereits zu Ende war, las sie immer noch, und schreckte erst hoch, als Alice ihren Arm schüttelte. »Komm, mein Mädchen. Es ist Zeit zu gehen. Das ist das letztemal, daß du meine Unterstützung hattest. Ich habe die ganze Zeit über stehen müssen. Jetzt komm, um Himmels willen, und kümmer' dich um Geraldine. Das verdammte Mädchen hält sich plötzlich für Anna Wintour und versucht, hinter die Bühne zu kommen.« Inzwischen herrschte auf dem Laufsteg eine vollkommen andere Stimmung. Wo noch vor wenigen Minuten Linda, Helena, Tatjana, Naomi, Claudia und die anderen um Karl Lagerfeld mit seinem kleinen Pferdeschwänzchen herumgesprungen waren und ihm applaudiert hatten, wurde die arme Geraldine gerade von einem Sicherheitsbeamten ins Gesicht geschlagen. Eigentlich sollte der Hieb einen Fotografen treffen, doch Geraldine hatte ihm dummerweise im Weg gestanden. Sie ging zu Boden und zu Alices unendlicher Beschämung war das letzte, was die Pariser Modewelt von ihr sah, der Anblick, wie sie auf dem Laufsteg herumtaumelte und dabei ihre halbbewußtlose Assistentin hinter sich herzog. Alice eignete sich Geraldines Einladungskarte für das Fest am Abend an und gab sie an Tess Tucker weiter. Sie hatte es arrangiert, daß Tess für Carter's ein paar Geschichten darüber schrieb, wie es in Paris nach den Shows zuging. Die Mrs.-DeWinter-Story war ein voller Erfolg gewesen. Das Mädchen hatte -379-
diese Chance verdient, obwohl sie unbedingt einen eher merkwürdig aussehenden Freund mitnehmen wollte. Die Party fand in einem der ältesten und etabliertesten Pariser Restaurants statt, dem Ledoyen auf den Champs-Elysées. An diesem Abend hatten es die Juweliere von Bulgari gemietet. Dieser Name prangte in einem gigantischen Neonschriftzug über dem Eingang. Bulgari veranstaltetet die Party, um Robert Airman weitere Aufnahmen für den Film › Prêt-à-porter‹ zu ermöglichen. Die gesamte Besetzung war anwesend, einschließlich der armen Sophia Loren, die von 19.30 Uhr an fertig geschminkt dasaß und um drei Uhr in der Frühe, als man die Dreharbeiten beendete, immer noch nicht an der Reihe gewesen war. Um eine gute Tonqualität zu bekommen, liefen die Schauspieler allesamt mit einem kleinen Mikrofon ausgerüstet herum, und jeder, der mit ihnen redete, mußte sie mit den Namen ansprechen, die sie im Film hatten. Nur leider waren diese Namen so gut wie niemandem bekannt. »Rupert, du siehst schrecklich aus, warum trägst du nicht deinen Kilt?« fragte Jean Paul Gaultier Rupert Everett, der sonst zu feierlichen Abendanlässen immer den Kilt der Mac Leans (mütterlicherseits) trug. »Schscht! Du sollst mich doch Jack nennen. Ich spiele Jack Lowenthal, den Sohn von Simone Lowenthal, der in Wahrheit aber der Sohn von Sonia Rykiel ist.« »Darling, darf ich dich jetzt küssen?« fragte Gianfranco Ferre und ging zu einer Frau mit Kurzhaarschnitt und einer eingefaßten dunklen Brille hinüber, die in einer Ecke saß und Hors d'œuvres in sich hineinschaufelte. Als sie aufblickte, fiel er fast hintenüber. Die Frau war riesig. Er hatte angenommen, daß es sich um die dürre Anna Wintour handelte und zog sich schnell zurück, wobei er »'tschuldigung, 'tschuldigung!« flüsterte, aber wer immer diese große Lady war, sie war bereits -380-
aufgesprungen und folgte ihm. »Lauf, Darling!« brüllte die Begleitung der riesigen Lady. »Er hat ein zum Sterben schönes Haus am Corner See, und wenn du seine neue beste Freundin wirst, können wir alle hinfahren und dort wohnen.« Die Modeschöpfer Agnes B, Vivienne Westwood, Christian Lacroix, Claude Montana, Sonia Rykiel und Jean-Charles de Castelbajac standen Rücken an Rücken mit Marcello Mastroianni, Lauren Bacall, Kim Basinger, Rossy de Palma, Lyle Lovett, Tracey Ullman und Richard E. Grant. Grant trug Schnürstiefel mit Plateaussohlen, einen hohen Hut und einen Arbeitskittel. Und Stephen Rea latschte in einem roten Samtjackett durch die Gegend. Die Sicherheitsmänner rannten herum und rieten den Gästen, nicht direkt in die Kameras zu blicken. Das gestaltete sich ziemlich schwierig, denn alle fünf Sekunden hing einem irgendeine Kamera vor dem Gesicht herum. Water Detroit war schon wieder stocksauer, weil Tommy Lawrence in den Shows von Dries van Noten und Gaultier auf dem Laufsteg so gut eingeschlagen war, daß Altman ihn auch bei dieser Party filmte, während er selbst nur als normaler Gast anwesend war. Cassie war vor Begeisterung fast außer sich. Sie erzählte jedem, daß es hier wie auf einer richtigen HollywoodParty zuging, wie bei ihr zu Hause. Dann wurde ihr bewußt, daß Hollywood ja gar nicht mehr ihr Zuhause war. Zu allem Überfluß traf sie dann auch noch auf Ute Lemper, die in dem Film die Rolle der Albertine spielte. Albertine stellt ein Model dar, das für die Shows eines Modedesigners unter Vertrag steht und bei ihrem Erscheinen dort im neunten Monat schwanger ist. Cassies Blick verweilte auf Ute Lempers Bauch, der sich unter der enganliegenden seidenen Abendgarderobe wölbte. Sie seufzte tief, und dann brach sie in Tränen aus. -381-
»Na, na, na«, machte Tess, die schnell zu ihr eilte. »Was ist denn los?« »Es ist wegen ihr«, schluchzte Cassie und deutete auf Ute Lemper. Dann erzählte sie Tess alles über ihre Abtreibung und wie verzweifelt sie sich wünschte, ein Baby zu haben. »Nun, weshalb bekommst du denn keins?« fragte Tess. »Tommy erweckt den Anschein, als würde er einen prima Vater abgeben.« »Ja, das würde er wirklich nicht wahr?« erwiderte Cassie und nahm sich fest vor, die Pille abzusetzen. Ute Lempers Mikrofon nahm die ganze Unterhaltung auf. Nach der Party ging die gesamte Besetzung ins BainsDouche, und Tommy und Cassie schlossen sich ihnen an. Gigi war die erste, die Tommy hereinkommen sah. Sie eilte auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Wie weit du es nur gebracht hast! Ich habe gehört, daß du in London gewesen bist und dort diesen tollen Werbespot gedreht hast. Super, Tommy!« Sie küßte ihn mit einem Schmatz auf den Mund. Damit traf sie Cassie, die durch den Anblick der schwangeren Ute Lemper sowieso schon aus dem Gleichgewicht geraten war, an ihrer wundesten Stelle. Cassie hatte geglaubt, daß sie diese kleine Nutte nie wiedersehen würde - und jetzt küßte sie ihren Tommy. Dabei gehörte der doch niemand anderem als ihr. Mit Riesenschritten eilte sie auf die beiden zu und riß Gigi aus Tommys Armen. »Wart einen Moment. Was soll denn das, Cassie? Ich bin's doch - Gigi.« »Finger weg von Tommy!« »Warum sollte ich? Wir haben schon viel zusammen erlebt, was, Tommy?« Sie hakte sich bei Tommy unter. Cassie ging abermals dazwischen und verpaßte Gigi eine -382-
Ohrfeige. Die ließ Tommys Arm los und schlug Cassie ins Gesicht. Dabei gruben sich ihre Nägel so tief in Cassies zarte Pfirsichhaut, daß sie blutete. Cassie hämmerte auf Gigis linke Brust, was die Gästeschar, die gaffend zusammengelaufen kam, zu einem Raunen veranlaßte. Cassies Bluse war bis zum Rücken zerrissen und enthüllte ihren spitzenbesetzten BH. Gigi trat kurz zurück und rammte Cassie dann ihren Kopf, den sie wie ein Stier gesenkt hatte, in den Leib. Cassie ging zu Boden. Gigi stürzte sich auf sie und ließ Schlag auf Schlag folgen. Cassie gelang es, eine Hand zu befreien, mit der sie Gigis Schenkel unter derem kurzen Rock zerkratzte. Gigi trat auf sie ein, doch irgendwie kam Cassie wieder auf die Füße. Sie überragte Gigi ein gutes Stück - und sie war immer erfolgreicher gewesen. Hier kämpfte die typische amerikanische Blondine gegen die LatinoEinwanderin. Es herrschte Krieg. Beide Mädchen atmeten schwer. Mittlerweile hatte die Menge die Namen der beiden Furien herausgefunden und feuerte sie an. »Allez, Gigi!« »Los, Cassie, schlag sie nieder!« Gigi stellte sich auf die Zehenspitzen und spuckte Cassie mitten ins Gesicht, so daß diese sekundenlang nichts sehen konnte. Dann holte sie aus und riß Cassie das, was noch von ihrer Bluse übriggeblieben war, vom Leib und entblößte ihre Brüste, die aus dem BH rutschten. Gigi zog ihre Lederjacke fest um ihre eigenen Brüste zusammen und zog sich zurück, während sie dem Publikum Kußhände zuwarf und auf diese Art die anfeuernden Pfiffe beantwortete. Das war ihr Terrain, ihr Publikum. Nachdem Tommy die heulende Cassie weggebracht hatte, schlängelte Gigi sich an die Tafel neben Daniel Mercier. »Das ist genug für eine Nacht«, sagte er. »Morgen wird es in allen internationalen Zeitungen stehen. Die Presse ist hier ebenfalls anwesend, und sie haben bestimmt einige Fotos -383-
gemacht. AMERIKANISCHE MÄDCHEN PRÜGELN SICH IN EINEM NACHTCLUB UM EIN MÄNNLICHES MODEL AUS ENGLAND - das reicht. Ich will nicht, daß du so etwas noch einmal machst, jedenfalls nicht, solange ich dich betreue. Übrigens, wer ist die Blondine überhaupt? Jemand, den ich kennen sollte?« »Sie ist ein hoffnungsloser Fall. In New York ist sie nicht angekommen. Ich habe mir ein Apartment mit ihr teilen müssen. Sie ist so was von unzuverlässig gewesen! Zu allen Aufnahmen ist sie zu spät gekommen. Sie hat Castings vergessen. Und sie wird langsam fett und nimmt Drogen. Es lohnt sich nicht, mit der etwas zu tun zu haben, glaub mir, Daniel«, log Gigi fröhlich. »Danke für den Tip«, antwortete Daniel. »Gute Arbeit. Mach weiter so. Da kommt Jiro, um dich nach Hause zu bringen. Geh behutsam mit ihr um, Jiro, sie hat heute hier 'ne kleine Schlägerei gehabt. Nichts, womit sie nicht klarkommen würde, aber sie könnte ein bißchen erschöpft sein.« Jiro fuhr Gigi zurück ins Hotel und ließ ihr ein Bad ein. »Diese letzte Bemerkung von Daniel… Weiß er, was wir zusammen treiben?« fragte Gigi, als sie faul und tropfnaß in der Wanne lag. »Natürlich weiß er das. Er hat mir sogar erzählt, daß du das magst.« »Aber woher hat er davon gewußt? Ich habe es doch nicht einmal selbst gewußt?« »Daniel weiß so etwas immer. Aber hör zu, ich muß dir unbedingt etwas über die neuesten Gerüchte erzählen, die im Umlauf sind. Das wird in der Modewelt wirklich Wellen schlagen.« »Erzähl es mir, erzähl es mir!« Gigi setzte sich auf, mit Schaum auf ihren Brustwarzen. Jiro konnte nicht anders, als sie zu kneifen. Und zwar fest. -384-
»Ich habe mit meinem Vater gesprochen. Charley Lobianco von Etoile in New York hat ihn besucht. SWAN hat gekündigt. Sie will aus dem Vertrag aussteigen. Und jetzt suchen wir ein neues SWAN-Girl…« Das muß ich schnellstens Daniel erzählen, dachte Gigi. Ich frage mich, wo er wohl gerade ist. Es war vier Uhr morgens. In der »Ultra«-Nacht im FoliesClub am Place Pigalle war es gerammelt voll. Eine Menge Leute von der Agentur Karin waren hier. Und einer von Etoile. Bobby Fox, den Tess fallengelassen hatte, weil sie für einen neuen Mann schwärmte, amüsierte sich darüber, daß er vo n niemand anderem als Daniel Mercier angemacht wurde.
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London/Devon/New York, 1994 Ich bekam einen Anflug von Panik, als Charley anrief, um mir mitzuteilen, Vanity Fair wolle eine Titelstory über mich bringen. Warum gerade jetzt? Wußten sie etwa von Rory? Hatten sie herausgefunden, daß Harry sich irgendwo versteckt hielt? Bei näherem Nachfragen kam jedoch heraus, daß alles ganz harmlos war. Ich mußte lächeln, als ich daran dachte, was für eine Ironie des Schicksals es war, daß sie ausgerechnet jetzt etwas über mich bringen wollten. Wenn sie nur gewußt hätten, was für eine Story sie bekommen könnten: SWAN wird heiraten! Ich weihte Charley in mein Geheimnis ein, denn ich wußte, daß er es für sich behalten würde. Außerdem wollte ich ihn und Laura einladen. Ich hatte mich entschieden, das Ganze ruhig anzugehen und nur ein paar auserwählte Gäste zu meiner heimlichen Hochzeit einzuladen. Norah Nicholson zum Beispiel mußte unbedingt kommen. Sie hatte uns ja schließlich miteinander bekannt gemacht. Ich befand mich ge rade in Grace Browns Büro (sie mußte ich natürlich auch einladen), als sie einen Anruf von Barbara Harper aus New York erhielt. Danach erzählte sie mir von Amy La Mars verrücktem Erfolg. »Die Sache ist die«, sinnierte Grace, »daß sie eine wirklich dicke PR-Aktion braucht, um auch international ins öffentliche Bewußtsein zu rücken. Ich meine, der Brand in ihrem Haus hat ihr in New York zwar zu einigen Aufträgen verhelfen, aber hier interessiert das niemanden auch nur die Bohne.« Es machte mich nachdenklich. Ich hatte mir immer vorgenommen, daß ich irgendwann einmal etwas für Amy La Mar tun wollte - und jetzt sah ich eine Möglichkeit dazu. Ich rief Barbara Harper an, eine alte Freundin von mir. -386-
»Barbara, ich habe eine Idee. Sag mir, was du davon hältst. Man will mich für eine Titelgeschichte in Vanity Fair haben. Was hältst du davon, wenn ich ihnen erzähle, daß ich nur unter der Bedingung zustimme, daß sie Amy mit einbeziehen und sie zusammen mit mir aufs Cover kommt. In dem Interview könnte ich in erster Linie allgemein über die Modelszene sprechen, und Amy könnte…« »… speziell etwas über schwarze Models sagen. SWAN, das würdest du wirklich tun?« Barbara war überglücklich. Ich wollte es, und ich tat es auch. Zuerst war man nicht unbedingt begeistert davon, aber nach einer Weile akzeptierte man meinen Standpunkt. Sie würden uns allerdings erst dann fotografieren können, wenn ich zu den Shows nach New York zurückkommen würde. Amy wollte offensichtlich auch bei diesen Shows auftreten. In Paris und Mailand hingegen wollte sie erst in der nächsten Saison dabeisein. Der Interviewtermin wurde für April festgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt würde ich bereits verheiratet sein - doch das wußte man bei Vanity Fair natürlich nicht. Einen großen Trumpf hielten sie trotzdem in der Hand: es würde vermutlich mein letztes großes Interview als Model sein, und sie würden zugleich eine Story über meine Kündigung des SWAN-Vertrags machen können. Auf meinen Wunsch hin interviewten sie für eine der nächsten Ausgaben auch Barbara, und sie konnte erzählen, daß eine Untersuchung der New Yorker Behörde für Verbraucherfragen ergeben hatte, daß Schwarze in der Printwerbung fast überhaupt nicht vorkamen. Und obwohl diese Untersuchung verschiedenen Magazinen und Werbeagenturen vorgelegt worden war, hatte sich niemand bereit erklärt, sich dafür einzusetzen, daß Schwarzen mehr Chancen eingeräumt werden. Als Barbara anrief, klang sie begeistert. »Wir sind alle sehr stolz auf dich, Mädchen, wirklich, das sind wir. Sie haben keine Chance, das, was ich gesagt habe, nicht zu -387-
drucken, weil sie wissen, daß ich sonst überall herumposaune, daß sie es gestrichen haben. Danke, SWAN. Amy und ich danken dir aus tiefstem Herzen. Wirklich.« Jetzt mußte ich die beiden natürlich ebenfalls zu meiner Hochzeit einladen. Vier Tage vor der Hochzeit reisten Celestia und ich nach Trevane. Rory sollte am Abend vor dem großen Tag nachkommen. Celestia und ich bekamen aneinander angrenzende Zimmer, und wir verhielten uns wie Schulmädchen, die sich im Internat ein Schlafzimmer teilten. Wir blieben die ganze Nacht auf und tauschten den Tratsch aus der Welt des Modelling aus. Wir hatten bereits beim Abendessen damit angefangen, aber das Thema schnell fallengelassen, weil es für Außenstehende total langweilig war. Wir hielten sogar ein Mitternachtsfestmahl ab. Dafür plünderten wir den Kühlschrank und nahmen Hähnchenschenkel und geräucherten Lachs mit auf den Dachboden hinauf, wo Celestia die alten Fotoalben aufstöberte, in denen sie mein Bild erstmals gesehen hatte. Wenn man erst einmal anfängt, alte Bilder anzuschauen, kann man nur schwer wieder damit aufhören, und schon bald kicherten wir über die verschiedenen Schnappschüsse aus der ganzen Familie. Als wir bei den Bildern von Oliver und Venetia ankamen, war ich ziemlich erschüttert. Sie sahen zusammen so jung und glücklich aus. Ich blätterte schnell weiter, und die nächste Seite versetzte mir einen regelrechten Schock. Hier sahen wir Bilder von Oliver in Eton, und auf mehreren Fotos stand er neben einem großen, zynisch aussehenden Jugendlichen, dessen spöttisch grinsendes Gesicht mich zusammenzucken ließ. Am härtesten aber trafen mich die Bildunterschriften: ›Ich und Murray.‹ - ›Murray und ich am 4. Juni.‹ - ›Murray und ich in den Schulferien.‹ Murray! -388-
Charley traf später zusammen mit seiner Mutter und Norah Nicholson ein. Er war blendender Laune und hatte uns wunderbare Neuigkeiten zu erzählen. »Man hat Victoria Parrish, dieses ungezogene Mädchen, in Miami sozusagen auf frischer Tat ertappt. Ihre Eltern haben sie dorthin immer mit in die Ferien genommen. Und dann ist sie meist einfach in den Central Park gegangen und hat sich an irgendwelche Typen rangemacht. Ich meine, womöglich war ich damals einer von ihnen, aber ich begegne so vielen Mädchen, daß ich mich nicht an sie alle erinnern kann. Mein Problem war ja nicht, daß ich mich nicht erinnern konnte, etwas mit ihr angestellt zu haben, sondern daß ich mich nicht erinnern konnte, nichts mit ihr angestellt zu haben - wenn ihr versteht, was ich meine. Also, was ich sagen will, ist folgendes: da hat es damals irgendwelche Waldarbeiter gegeben, an die sie sich ebenfalls herangemacht hat. Jetzt, wo sie erfahren haben, daß das Mädchen damals erst fünfzehn war, behaupten sie natürlich alle, daß Victoria versucht hätte, sie zu verführen; aber natürlich will keiner von ihnen was mit ihr gehabt haben. Trotzdem könnte jeder von ihnen der Vater ihres Babys sein. Und dann wurde sie auch noch von einem Hoteldetektiv dabei erwischt, wie sie sich irgendwelchen Gästen angeboten hat - zwar auf wohlerzogene Weise, aber angeboten hat sie sich trotzdem. Mrs. Parrish ist das alles so peinlich, sie weiß gar nicht, wo ihr der Kopf steht. Natürlich glaubt sie, ich würde jetzt Anzeige erstatten. Mein Gott!« Wir waren alle so erlöst, daß wir kaum aus dem Lachen herauskamen. Trevane war riesig groß. Jeder hatte ein eigenes Zimmer. Ich war glücklich, daß ich alle Leute, die ich mochte, um mich herum hatte. Der einzige unangenehme Zwischenfall ereignete sich, als Barbara Harper mit Amy, deren Freund Marcus und dessen Brud er ankam. Ich ging gerade mit einer großen Vase voller Blumen durch die Halle, als ich Prudences Stimme -389-
vernahm. Mir blieb fast das Herz stehen. »Gütiger Himmel, Celestia, da steigen ein paar Schwarze aus dem Taxi. Und da ist noch einer in einem großen Lastwagen. Lauf schnell, bevor ihr Taxi wieder losfährt, und sag ihnen, daß sie hier falsch sind.« Ich ging zurück in die Halle. »Eigentlich, Prudence, sind das meine Gäste.« »Sie nicht albern, Kindchen. Versuch jetzt bitte nicht, mich aufzuziehen, dafür bin ich zu beschäftigt.« »Ich ziehe dich nicht auf.« »Aber mein liebes Mädchen, warum hast du mich nicht vorgewarnt? Was soll ich denn jetzt machen?« Ich glaube, wenn ich auch nur eine Sekunde länger darüber nachgedacht hätte, hätte mir dämmern müssen, daß Prudence Fairfax eine Rassistin war. Sie dachte wahrscheinlich, daß alle Schwarzen erschossen gehörten - genau wie Hugos Fasane. Da gab es nur eines: Prudence mußte soweit wie möglich von ihnen ferngehalten werden. »Prudence, ich kümmere mich um sie und zeige ihnen ihre Zimmer. In der Küche ist ein Mann von der Firma, die das Festessen liefert, und ich glaube, er streitet sich gerade mit unserer Köchin. Vielleicht solltest du mal nach dem Rechten sehen.« »Ja, gut, Lavinia. O nein! Schau mal, um Himmels willen, jetzt haben die auch noch ein Kind mitgebracht!« Es handelte sich um meine Brautjungfer. In unserer Familie war niemand jung genug dafür, daher hatte ich Amy gefragt, ob sie nicht ihre kleines Schwester Tootie als meine Brautjungfer mitbringen könnte. Ich fand die überschäumende kleine Kreatur, die in rosafarbenem Organza gekleidet war, einfach unglaublich. Sie kam in die Halle gelaufen und tat so, als ginge sie mit einem Blumensträußchen in der Hand hinter mir her. -390-
»Bist du SWAN? Soll ich das so machen? Darf ich singen, wenn ich hinter dir hergehe? Meine Stimme ist brillant. Hör zu…« Prudence floh. Später erfuhr ich, daß Tootie hauptsächlich deshalb so aufgeregt war, weil sie hier zum erstenmal ihre neue Frisur vorführte. Alle kleinen schwarzen Mädchen möchten gerne langes, wallendes Haar haben, das sie wie kleine weiße Mädchen schütteln können. Ungeflochten sahen Tooties gewellte Zöpfchen wie ein Mop aus strohig gekräuselten Haar aus, das kaum ihre Ohren bedeckte. Amy hatte ihr einen besonderen Gefallen getan, indem sie sie zum Shepard's-BushDrogeriemarkt mitgenommen und ihr dort lange falsche Haarteile gekauft hatte. Diese hatte sie in ihr echtes Haar geknüpft. Jetzt hing Tooties Mähne den halben Rücken hinunter, und sie verbrachte eine Menge Zeit damit, ihren kleinen Kopf wie ein Pony zu schütteln, damit ihr neues Haar auch richtig herumflog. Ich konnte erkennen, daß es Amy nicht sehr gut ging. Ich schickte Marcus mit Barbara und Tootie fort - sie sollten sich das Grundstück ansehen - und nahm Amy mit nach oben, damit wir uns in Ruhe unterhalten konnten. Offensichtlich steckte ihr Bruder Leroy in Schwierigkeiten. Sie vermutete eine Drogengeschichte dahinter. Auf jeden Fall war er verschwunden. (Willkommen im Club, hätte ich fast gesagt, hielt mich aber zurück.) Sogar die Polizei war gekommen, und ihre Mutter befand sich in einem schrecklichen Zustand. »O meine Güte, ich hätte deine Mutter einladen sollen. Ist sie jetzt ganz allein?« »Ihr geht es gut. Sie hat ein paar nette friedliche Tage für sich ganz allein.« Dann versank ich wie ein weißer Watte, denn Rory traf ein zusammen mit seinem Vater, der den weiten Weg von Montana -391-
hierher auf sich genommen hatte. Er war ein wahrer Bär von Mann. Ich konnte an nichts anderes mehr als an Rory denken. Für den Bruchteil einer Sekunde hörte ich sogar auf, mir um Harry Sorgen zu machen. Celestia machte sich mit Amy bekannt, und ich konnte erkennen, daß sie gute Freundinnen werden würden. Water Detroit war in New York geblieben. Er und Celestia führten schon eine komische Beziehung: sie schien absolut glücklich zu sein, ihn für ein paar Tage los zu sein, aber ich wußte, daß es ihnen irgendwie auch gutging, wenn sie zusammen waren. Mein Hochzeitstag fiel auf einen wunderschönen Tag im März. Es war ziemlich windig, aber die Sonne schien. Ich stand an meinem Schlafzimmerfenster und beobachtete, wie alle durch die Felder und über den schmalen Pfad, der mit Osterglocken gesäumt war, hinunter zu der kleinen Kapelle gingen. Die Frauen hielten wegen des Winds ihre Hüte fest. Tootie, Celestia und meine Mutter waren bei mir und halfen mir beim Anziehen. Ich trug ein elfenbeinfarbenes, enganliegendes Seidenkostüm, ein Jackett mit geradem Kragen und langen schmalen Ärmeln. Auf dem Rücken lief es spitz zu, bis kurz über den Rockansatz. Der Rock selbst war hauteng, knöchellang und mit einem Kunstpelzband gesäumt, das zu dem Muff paßte, den ich trug. Ein wunderschöner Kranz weißer Rosen schmückte mein glänzendes, schwarzes Haar, und meine Großmutter, die zu schwach gewesen war, die Reise auf sich zu nehmen, hatte mir als Hochzeitsgeschenk ihr Perlencollier geschickt. Mein Vater wartete unten. In seinem grauen Morgenanzug sah er prächtig aus. Golly, der schwarze Labrador, trug eine weiße Fliege um seinen Hals, die von Tootie als Hundehalsband benutzt wurde. »Sehr schön«, sagte mein Vater vorhersehbarerweise, als ich die Treppe herunterkam, aber als ich den Stolz und die Zuneigung in seinen Augen bemerkte, wußte ich, daß ich ihn schrecklich glücklich machte. Willy O'Brien war ebenfalls -392-
gekommen, um Aufnahmen zu machen. Vor dem Haus schoß er ein Gruppenfoto von uns: Daddy und ich in der Mitte, neben uns meine Mutter und Celestia und vor mir schwenkte Tootie mit der einen Hand einen kleinen Union Jack, auf den sie nicht hatte verzichten wollen, und mit der anderen Hand hielt sie mühsam Golly fest, der sie beinahe mit sich fortriß. Wir erreichten die Kapelle, wo Rory auf mich wartete. Als ich hocherhobenen Hauptes neben ihm vor den Traualtar trat, wußte ich, daß dieser Auftritt besser war als alle, die ich auf dem Laufsteg gegeben hatte. Der alte Onkel Matthew war das einzige Familienmitglied, das je die Priesterweihe erhalten hatte. Er wurde aus seinem Rentnerdasein geholt, um diesen Gottesdienst zu leiten. Ich weiß nicht mehr, was mich veranlaßt hatte, meinen Kopf zu drehen, aber als Onkel Matthew sich zum zwanzigstenmal räusperte und die Worte »Liebe Gemeinde, wir sind hier im Angesicht Gottes und im Angesicht dieser Gemeinde versammelt, um diesen Mann und diese Frau im heiligen Stand der Ehe zu vereinen…« intonierte, tat ich es und konnte erkennen, wie Harry am anderen Ende der Kapelle hereingeschlüpft kam und sich im Seitenschiff hinter einer Säule versteckte. Als der Gottesdienst vorüber war, ich meinen Schleier zurückgeworfen hatte und triumphierend an Rorys Arm den Mittelgang zurückschritt, war er natürlich wieder verschwunden. Zurück auf Trevane, hatten wir viel Spaß miteinander. Wir waren zwar kaum zwanzig Personen, aber wir rollten die Teppiche in der großen Halle zur Seite und tanzten zu einer unbeschreiblichen westindischen Musik, die aus einer improvisierten Anlage ertönte, die Marcus' Bruder im letzten Augenblick eigens zu diesem Zweck zusammengebastelt hatte. Wie sich herausstellte, war sie ihr Hochzeitsgeschenk für uns. Wann immer Tootie die Möglichkeit hatte, sang sie für uns, und wir schafften es, Prudence zum erstenmal in ihrem Leben betrunken zu machen, so daß sie mit uns tanzte und ihren -393-
Petticoat schwenkte, wobei Willy sie fotografierte. Das einzige, was mich ein wenig traurig machte, war die Tatsache, daß es Harry zwar gelungen war, bei der Trauung anwesend zu sein, aber er all das hier nicht mehr mitbekam. Und es war mir ebenfalls nicht möglich gewesen, Sally einzuladen, weil ich dann hätte erklären müssen, wer sie war. Rory und ci h brachen gegen zwei Uhr morgens zu unseren angeblichen Flitterwochen auf. Angeblich bedeutete, daß wir zwar zum Flughafen Heathrow fuhren, um von dort in die Karibik zu fliegen, aber es würde trotzdem kein Urlaub werden, weil ich dort Aufnahmen machen sollte. Wir fuhren gerade durch das Haupttor, als eine Gestalt mitten über die Straße lief und vom Lichtkegel eingefangen wurde. Harry! Er kletterte zu mir auf den Rücksitz. Ich erwähnte den Namen Murray, und auf unserer langen Fahrt nach London zurück erzählte er mir alles. »Guy Murray. Schrecklicher Typ. Erinnerst du dich noch an Toby, den Sohn der March-Wentworths? Die arme kleine Sau mußte für Murray in Eton gewisse Dienste leisten.« »Was hast du gesagt?« fragte Rory und kam beinahe von der Fahrbahn ab. »Das ist eine barbarische Sitte an englischen höheren Privatschulen für Jungen«, erklärte ich. »Die älteren Jungen haben sogenannte Diener, die ihre Schuhe putzen, die Betten machen, Laufbursche spielen, sich wie Bedienstete verhalten und in der Regel alles für sie tun. Das ist erschreckend, aber ich befürchte, das existiert dieser Tage wahrscheinlich noch immer.« »Guy Murray war ein abscheulicher Tyrann«, fuhr Harry nach einer kurzen Unterbrechung fort. »Es war furchtbar. Er hatte irgendwie Macht über Oliver. Am Anfang vergötterte Oliver ihn noch. Dann, glaube ich, hat er irgendwann gemerkt, was für ein -394-
Kriecher er war, doch zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät, um von Murray wegzukommen. Murray hat Oliver auch bei Cécile eingeführt. Als Oliver mir einmal erzählte, was dort vor sich ging, riet ich ihm, die Finger von Murray zu lassen. Dann kam Oliver ums Leben, und ich dachte, daß die Sache damit erledigt wäre. Tut mir leid, das so zu sagen, aber du weißt, wie ich es meine. Auf Molly Bainbridge war ich nicht vorbereitet. Murray tyrannisierte sie. Sie hatte jahrelang dort gearbeitet, bevor sie all ihren Mut zusammennahm und zu fliehen versuchte. Dann hat sie sich an mich rangemacht. Ich wußte damals nicht, was ich tun sollte. Aber ich habe mich irgendwie verantwortlich für sie gefühlt und ihr erzählt, daß meine Eltern jemanden suchten, der auf dich aufpassen sollte, Titch…« Ich ließ den Ausdruck durchgehen. Ich war eine erwachsene, verheiratete Frau und konnte über diese Stichelei ausnahmsweise hinwegsehen, weil das, was Harry zu erzählen hatte, so fesselnd war. »Ich habe gedacht, wenn sie unter unserem Dach leben würde, könnte ich sie beschützen. Aber damit lag ich falsch. Sie erzählte mir, daß Murray ihre Fährte aufgespürt hätte. Sie glaubte, daß er ein Teilhaber des Clubs war. Er soll sie bedroht haben, damit sie dorthin zurückkommt - andernfalls würde ihr etwas passieren. Und leider ist ja dann genau das geschehen. Ich habe ihn dabei überrascht. Er stand auf dem obersten Treppenabsatz und hat sie mit einem Kopfkissen erstickt. Ich habe versucht, ihn wegzuziehen, aber da war sie bereits tot. Er hat Handschuhe getragen und gesagt, daß es unmöglich für mich wäre zu beweisen, daß er es getan hatte, weil es keine Zeugen dafür gab. Und falls ich es jemals jemandem erzählen würde, wäre ich noch in derselben Stunde ein toter Mann.« Ich zitterte und erwartete fast schon, daß sich im nächsten Moment Guy Murray hinter uns aufrichten würde, so wie es im Kino immer geschah, und Harrys Gehirn wegpustete. -395-
»Woher wußtest du überhaupt von Murray?« fragte er mich plötzlich. »Ich habe dir nie von ihm erzählt.« Ich berichtete ihm von Olivers Notizbuch und den Fotoalben auf dem Dachboden von Trevane. »Olivers Tagebuch! Laß es mich sehen. Hast du es bei dir?« Da fiel es mir wieder ein: Olivers Tagebuch war in Paris verlorengegangen. Nachdem ich es Celestia zurückgegeben hatte, hatte sie es verlegt. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Rory. »Wir schaffen das schon. Kannst du nicht zusammen mit Sally versuchen, Murray aufzuspüren? Wenn SWAN und ich das nächstemal im Lande sind, statten wir ihm einen Besuch ab, selbst wenn wir dafür seinen Club stürmen müßten.« Harry tauchte in London in einer kleinen Wohnung unter, die über der von Sally lag. Ich rief Sally vom Flughafen aus an und bat sie, sich das Geld für die Miete über Grace Brown von meinem Agenturkonto auszahlen zu lassen. Ich erzählte ihr Einzelheiten über meine Hochzeit, damit sie diese an Grace weitergeben konnte. So würde Grace wissen, daß sie es mit jemandem zu tun hatte, der mich sehr gut kannte. Anschließend flogen Rory und ich nach Sant Barts. Es wurde schließlich doch eine richtige Hochzeitsreise, denn am Zielflughafen gab es eine böse Überraschung bei den Zollpassierscheinen für die gesamte Fotoausrüstung und die Kleider. Die Sachen kamen nie an, und daher konnten wir auch keine Aufnahmen machen. Während wir darauf warteten, daß sich die Dinge regelten, zog ich zu Rory, der in einem anderen Hotel untergebracht war, und stellte fest, was für ein Glück es war, Mrs. SWAN Stirling zu sein. Der Weiterflug nach New York war weniger erfreulich. Rory flog nicht mit mir zurück, und neben mir saß ein Mann, der von allen nur Wilderer genannt wurde. Ich kann mich nicht einmal -396-
an seinen richtigen Namen erinnern. Er war Talentsucher bei einer Konkurrenz-Agentur von Etoile, bereiste die ganze Welt und versuchte, Topmodels davon zu überzeugen, ihre eigene Agentur zu verlassen und zu derjenigen zu wechseln, für die er tätig war. Wir alle kannten ihn; er war eine wahre Pest. Er buchte seine Sitzplätze immer in der ersten Klasse direkt neben den Topmodels, vornehmlich auf Langstreckenflügen, beispielsweise nach Australien. Und dann quatschte er einem vom Start bis zur Landung ohne Unterbrechung die Ohren voll. Ich warf ihm einen Blick zu und schluckte eine Schlaftablette. Als ich wieder in New York war und in meine Wohnung im Carlyle kam, wurde mir bewußt, daß Rory und ich noch nicht darüber gesprochen hatten, wo wir künftig leben wollten. Vermutlich würden wir beide unsere eigenen Apartments behalten, bis wir unsere Hochzeit offiziell bekanntgegeben hätten. Gut, daß Rory das Teleskop so eingestellt hatte, daß ich zum südlichen Central Park blicken konnte und wir uns wenigstens durch unsere Ferngläser ein wenig nahe kommen konnten. Bridie hatte mir etliche Köstlichkeiten im Kühlschrank und auf dem Küchentisch eine entschuldigende Nachricht zurückgelassen. Es hatte den Anschein, als würde sie in den kommenden Wochen weniger Zeit für mich haben. Ihr Sohn Mayo hatte sich nach Paris aufgemacht, und daher hatte sie bei Industria reinen Tisch machen und ihnen erzählen müssen, daß eigentlich sie die Köchin war. Bis zu seiner Rückkehr, die sie täglich erwartete, arbeitete sie jetzt halbtags dort. Ich ging niedergeschlagen in mein Schlafzimmer, weil ich Rory bereits zu vermissen begann und von dem langen Flug hundemüde war. Das rote Licht des Anrufbeantworters blinkte. Vielleicht hatte er ja schon angerufen. Ich beeilte mich, das Band zurückzuspulen. Als ich gerade dabei war, meine Taschen im oberen Schrank zu verstauen, sprach eine leise, verführerische Stimme zu mir, -397-
die mir irgendwie bekannt vorkam: »SWAN? Bist du da? Hattest du eine gute Reise? Ich hoffe es sehr, denn das, was ich dir zu erzählen habe, wird dich ein wenig aus der Fassung bringen. Es ist wirklich zu dumm, daß das New York Magazine neulich dieses malerische Porträt von dir veröffentlicht hat…« Was für ein malerisches Bild? fragte ich mich. Wahrscheinlich war das wieder so eine zusammengestückelte Geschichte gewesen. Um was immer es sich handelte, ich wußte nichts davon, aber ich wußte, daß es ziemlich leicht war, Fotos aus verschiedenen Archiven zu sammeln und eine neue Story daraus zu basteln. Ich hörte weiter der Stimme des Fremden zu und befolgte all seine Instruktionen ohne jedes Nachdenken und wie hypnotisiert. Und das sollte in den kommenden Monaten häufiger der Fall werden.
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TEIL 3 DER ANRUFER, 1994/1995
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New York, 1994 Sechs Monate später, im Oktober - ich war gerade von den Pariser Shows nach New York zurückgekehrt -, hörte ich folgendes von meinem Anrufer: »Erinnerst du dich noch daran, als ich dich das erstemal anrief? Erinnerst du dich daran, worum ich dich damals gebeten habe? Nun, jetzt bitte ich dich wieder, dir deine Post anzusehen, bis du einen weiteren blauen Briefumschlag findest, der in London, Heathrow, abgestempelt ist. Ich habe ihn aufgegeben, bevor wir - du und ich - nach Paris aufgebrochen sind. Du wirst wieder ein Bild darin finden, genau wie das letztemal. Keine Angst, diesmal ist es keines von dir. In meiner nächsten Nachricht werde ich dir erzählen, warum ich es dir geschickt habe. Und nun schalte die Maschine aus und geh nachsehen.« Zu Beginn seiner Nachricht hatte er erzählt, daß der Schuß, der mich in Paris auf dem Laufsteg so sehr erschreckt hatte, nur vom Band gekommen war. Der Typ war ein Fanatiker. Er mußte förmlich von Bändern besessen sein. Ob sie sich nun in Anrufbeantwortern befanden oder sonstwo. Das Foto in dem Umschlag war mir ein Rätsel. Ich wußte, um wen es sich darauf handelte. Es war ebenfalls ein Model, ein wirklich hübsches Mädchen, das ich jedoch nur oberflächlich kannte. Aber warum ausgerechnet sie? Nun, es gab nichts, was ich im Moment tun konnte. Ich mußte im Laufe der nächsten Woche überlegen, wie ich weiter vorgehen sollte, ehe er wieder anrief. Falls er überhaupt wieder anrief. An den folgenden Tagen erfuhr ich von Mr. Takamoto, daß sie drauf und dran wären, sich für das neue SWAN-Girl zu entscheiden. Ich war von der Art und Weise, auf die die Takamoto Inc. meine Nachfolgerin suchte, ziemlich -400-
beeindruckt. Sie zogen aus der ganzen Sache ihren Vorteil, indem sie eine Publicity-Aktion à la ›Vom Winde verweht‹ starteten und die Suche nach SWAN II mit der Besetzung der Scarlett O'Hara im zweiten Film verglichen. Sie behaupteten, daß sie auf der Suche nach einer relativ Unbekannten seien. Die Bewerbungstermine fanden - wie so oft bei japanischen Castings - in einer Hotelsuite statt. Praktisch der ganze Vorstand von Takamoto Inc. war aus Osaka eingeflogen. Alle drängten sich um das Ende eines langen Tisches, während die Mädchen sich am anderen Ende vorstellten. Überflüssig zu erwähnen, daß fünf Mädchen in die engere Auswahl kamen, deren Namen zwar nicht geläufig, aber doch auch nicht völlig unbekannt auf dem Markt waren. Ich war entsetzt darüber, daß sich auch Gigi Garcia unter den Kandidatinnen befand, aber ich wußte, daß sie Jiro Takamotos Freundin - wenn nicht gar Verlobte - war, und er hatte sicherlich seine Beziehungen spielen lassen. Das war alles schön und gut, vorausgesetzt sie wurde nicht meine Nachfolgerin. Ich war überrascht, als ich bemerkte, daß ich das eher unangenehme Bedürfnis verspürte, ihre Chancen zu verringern, indem ich ein Wörtchen mit dem alten Mr. Takamoto wechselte, aber ich unterdrückte diese kindischen Anwandlungen. Daß Cassie Dylan ebenfalls in der engeren Auswahl war, war verständlich. Ihr sensationeller Zahnseidenspot als Lady Di war auch in Japan ein Riesenerfolg gewesen, und sie traf - man möge mir diesen Vergleich nachsehen damit den Geschmacksnerv des Monats. Auch die Wahl von Tess Tucker war leicht nachvollziehbar gewesen. Die Japaner standen auf diesen Typ. In Paris war sie gut angekommen, dort mochte man das Aussehen der englischen Rose mit den Sommersprossen. Sie hatte alle für Paris typischen Aufnahmen gemacht - in einem Straßenbistro bei einem Kaffee oder beim Heranwinken eines Taxis auf einem Boulevard. Sie hatte sich in dem besten Pariser Tageslichtstudio, dem Place de -401-
la Concorde, fast zu Tode gearbeitet. Armes Mädchen! Von Milou, dem Busfahrer, der uns immer zu den Aufnahmeorten fährt, hatte ich gehört, daß man mit ihren Aufnahmen dort ganze Kataloge hätte füllen können. Ich erfuhr weiterhin, daß Tess aber auch ein bißchen Pech gehabt hatte. Es war das Übliche. Man prahlte mit der Verbreitung eines Bildes in einer Zeitschrift, weil man so aufgeregt war, und dann erzählte einem die Agentur auch noch, daß man förmlich zusehen könnte, wie man im Kurs stieg, wenn die Bilder erst mal veröffentlicht würden. Dann war die Zeitschrift endlich am Kiosk erhältlich, und das Bild hatte gerade einmal die Größe einer Briefmarke und war für die Karriere völlig unbrauchbar. Aber offensichtlich hatte Tess all diese Niederschläge gut weggesteckt, weil ihr neuer Freund ihr darüber hinweggeholfen hatte. Es war eine wirkliche Überraschung für mich, als sich herausstellte, wer er war. Inzwischen war Tess Tucker schon seit einiger Zeit in New York, um hier ihr Glück zu versuchen, was ihr - nach allem, was man so hörte - auch gelungen war. Ich traf sie zufällig im Industria, wo wir beide einen gemeinsamen Fototermin hatten. Mayo stand wieder hinter der Bar - und wer kam wohl herein und umarmte ihn leidenschaftlich? Tess. Wie ich erfuhr, hatte er in Paris Urlaub gemacht und war von Jean Paul Gaultier aufgegabelt worden, als er durch die Straßen schlenderte. Gaultier hatte ihn auf direktem Weg in einer seiner Shows des letzten Frühjahrs untergebracht. Als ich darüber nachdachte, fiel mir ein, daß sie mir bei Valentino hinter der Bühne bereits von ihm erzählt hatte. Nur seinen Namen hatte sie nicht erwähnt. Mayo! Wer hätte das gedacht? Meine persönliche Favoritin war Amy La Mar, und ich freute mich, daß sie in der engeren Auswahl stand. Unsere VanityFair-Story hatte ihr mit Sicherheit dabei geholfen, bekannter zu werden. Sie war ein wunderschönes Model. Ich muß zugeben, daß ich irgendwann einmal Mr. Takamoto gegenüber erwähnt hatte, ich sei der Meinung, man sollte sie wählen. Ohne lange -402-
um den heißen Brei herumzureden, hatte ich ihre Vorzüge aufgeführt und erwähnt, daß man in punkto Political Correctness gut dastehen würde, wenn man auch ein schwarzes Model in die engere Wahl nahm. Schließlich war da noch Celestia. Sie gehörte fast zur Familie, daher freute ich mich sehr für sie. Sie war ein solcher Hit auf den Pariser Laufstegen und danach auch in New York gewesen außerdem war sie der Liebling von Conde Nast -, daß sie fast schon ein todsicherer Tip war. Irgendwie war sie mir sehr ähnlich: die gleiche Herkunft, der gleiche Schwanenhals. Es würde ein ziemliches Kopf-an-Kopf-Rennen unter den vieren werden. Ich konnte mich nicht überwinden, Gigi ernsthaft in Betracht zu ziehen. In der Tat war ich sehr erleichtert, als Mr. Takamota anrief, um mir mitzuteilen: »SWAN, ich möchte, daß du es als erste erfährst. Wir haben eine sehr schwierige Entscheidung zu fällen gehabt, und schließlich haben wir Cassie Dylan zum neuen SWAN-Girl gewählt.« Am nächsten Tag meldete sich der Anrufer wieder. Er erzählte mir, daß das Mädchen auf dem Foto, das er mir geschickt hatte, seine Verlobte sei, und wenn ich ihr nicht den SWAN-Vertrag zukommen ließe, würde er das Bild von Harry und mir an die Presse weiterleiten. Seit Monaten zerbrach ich mir den Kopf darüber, wer der Anrufer sein konnte. Jetzt war ich mir ziemlich sicher, daß ich ihn kennen mußte. Es konnte jeder der fünf Männer sein, die mit den Mädchen in der engeren Auswahl liiert waren. Das Bild von Harry und mir war 1987 in England aufgenommen worden. Und wer immer der Anrufer auch sein mochte, er mußte Zugang zu den Pariser Shows gehabt haben. Gigi war vermutlich mit Jiro Takamoto verlobt, und Jiro war als Junge in England erzogen worden. Er war bei den Shows für Takamoto Inc. immer anwesend gewesen. Cassie war mit Tommy Lawrence zusammen. Er war -403-
Engländer und dort aufgewachsen. Als männliches Topmodel hatte er Zugang zu den Shows. Tess war in Mayo verliebt. Gut, er hatte einen englischen Akzent, und Gaultier hatte ihn für seine letzten Shows gerade erst zurückgeholt, obwohl er ihn dann am Ende gar nicht gebraucht hatte. Trotzdem hielt er sich noch immer irgendwo in Paris auf. Amy war mit Marcus verlobt. Sie waren beide Engländer, und Amy hatte Marcus für alle ihre Shows Ausweise besorgt. Aber der Anrufer konnte unmöglich der wunderbare, zuverlässige Marcus sein. Water Detroit spazierte überall herum und erzählte der ganze n Welt, daß er mit Celestia verlobt sei. Ich hatte mich schon lange entschlossen, das erst zu glauben, wenn Celestia es mir selbst erzählte. Aber andererseits waren sie immer noch zusammen, und das hatte etwas zu bedeuten. Ich konnte mich daran erinnern, daß er mich mit Einzelheiten über einen lang zurückliegenden Englandurlaub mit seinen Eltern fast zu Tode gelangweilt hatte. Da er zu den vielversprechenden HollywoodJungstars gehörte, war ihm bei den Shows ein Platz in der ersten Reihe sicher, wann immer er einen haben wollte. Ich starrte auf das Foto mit dem Mädchen und dachte an die Stimme des Anrufers, dessen Identität ich nun zu kennen glaubte. Es paßte alles zusammen. Die Stimme war mir immer recht vertraut vorgekommen, auch wenn sie irgendwie seltsam klang, so, als ob die Person ihre richtige Stimme verstellte. Cassie Dylan war zum neuen SWAN-Mädchen auserkoren worden, aber das Mädchen auf dem Foto, das mir der Anrufer geschickt hatte, war Tess Tucker. Was sollte ich nun tun?
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London, 1994 An dem Tag, an dem Takamoto Inc. bei Etoile anrief, um die Vertragsverhandlungen für Cassie als neues SWAN-Girl aufzunehmen, entschied Cassie, daß sie Tommy ihre Schwangerschaft nicht länger verheimlichen könne. Man konnte es allmählich schon sehen. Direkt nach den Pariser Shows der letzten Saison hatte sie die Pille abgesetzt, ohne Tommy etwas davon zu sagen. Sie war nicht sofort schwanger geworden, es hatte schon zwei Monate gedauert. Jetzt war sie bereits im vierten Monat schwanger, und sogar bei der Agentur hatte man schon Wind davon bekommen, denn die Schneider bei den Anproben beschwerten sich schon darüber, daß Cassie Dylan bei jedem neuen Job eine größere Kleidernummer brauchte. Doch Tommy wußte bislang noch nichts davon Es war erstaunlich, daß er es noch nicht selbst bemerkt hatte, aber er hatte so viel anderes im Kopf. Und weil er so vielbeschäftigt war, wollte Cassie ihm keine zusätzlichen Schwierigkeiten bereiten. Er hatte es abgelehnt, seinen eigenen Vater als Steuerberater zu nehmen, und nun gab es fürchterliche Schwierigkeiten mit den Steuerbehörden. Das war alles, worüber er zur Zeit redete. Aber weshalb hätte die Nachricht über ein zu erwartendes Baby seine Sorgen vergrößert? Was dachte sie sich bloß? Für Tommy wäre das bestimmt eine freudige Überraschung. Für Cassie war es ohnehin die Erfüllung eines Traumes - ein Ausgleich für das Baby, das sie in Kalifornien verloren hatte. Ihre Mutter würde sich bestimmt sehr darüber freuen. Einer Eingebung folgend griff Cassie zum Telefon, um Kari in New York anzurufen. Aber nein, vorher mußte sie es erst Tommy erzählen. Etoile kam ihr zuvor. Man beabsichtigte das zwar nicht, aber -405-
Tommy war gerade in der Agentur, und Angie nahm an, daß er natürlich von dem Baby wußte. »Hey, Tommy, kannst du das glauben? Cassie wurde zum neuen SWAN-Girl gewählt. Wir haben das Baby noch nicht erwähnt, aber bald müssen wir das tun.« Tommy machte den Eindruck, als wäre er vom Blitz getroffen worden. »Ich weiß, das ist aufregend, nicht wahr? Das ist ein ganz, ganz großer Vertrag. Hol ruhig erst mal tief Luft. Das mußten wir auch, als wir davon erfahren haben.« »Das ist es nicht…«, stammelte Tommy. »O verdammt. Heißt das, daß du von dem Baby nichts gewußt hast? Warte bitte eine Sekunde… Mr. Pearson, ja. Hallo, ich bin's, Angie Doyle. Hören Sie, es tut mir leid, aber ich habe Ihnen doch schon x- mal erzählt, daß es Ihrer Tochter gutgeht. Sie ist doch schon neunzehn. Außerdem hat sie ihre fünf Sinne beisammen. Sie hält sich nur in den sicheren Stadtteilen von Los Angeles auf. Wirklich. Bitte, Mr. Pearson. Ja, natürlich, sprechen Sie ruhig mit Grace Brown darüber, aber sie wird Ihnen das gleiche erzählen… Grace? Hier ist wieder dieser überängstliche Vater. Er will für seine verdammte Tochter einen Bodyguard haben. Sie ist erst seit zwei Monaten Model, und schon führt er sich auf, als wäre sie Claudia Schiffer. Wie auch immer… ach ja, Tommy. Wir waren gerade bei dem Baby. Am besten, du sprichst mit Cassie darüber. Ganz vernünftig. Ich meine, wir hier haben es schon seit 'ner-Weile gewußt. Man will euch übrigens für einen weiteren Zahnseidenspot, wenn sie noch schwanger ist, und später für noch einen, wenn das Kind dann da ist. Das soll wie ein Fortsetzungsroman werden. Der weltweite Erfolg ist so groß, daß man diese Sache solange wie möglich weiterlaufen lassen will.« Tommy saß in der Falle. Man wollte nicht, daß er den Spot ohne Cassie machte. Das wäre einfach nicht dasselbe. Wenn -406-
man Cassie und Tommy nicht zusammen haben könnte, würde man nach einem gänzlich neuen Pärchen Ausschau halten. Und wenn Cassie keinen weiteren Werbespot mit ihm machen würde, wäre er raus aus dem Geschäft - und stünde einer riesigen Steuernachzahlung nahezu hilflos gegenüber. Etoile erwartete, daß Cassie überglücklich über die SWANNeuigkeiten sein würde. Nun grübelte man dort darüber nach, wie man Takamoto Inc. beibringen sollte, daß sie schwanger war und ob man so lange auf sie verzichten könnte, bis sie das Baby zur Welt gebracht hätte. Bis zum Ende des Jahres war schließlich immer noch SWAN das offizielle SWAN-Girl. Cassie überraschte jedermann: sie entschied sich für den Werbespot. Das Drehbuch war ein bißchen umstritten. Sie war schwanger und sollte laut Skript nach Tommy rufen, der um ihre Hand anhielt, um dem Kind einen Vater zu geben. Das Zahnseidenelement war jetzt mehr oder minder Nebensache, das Paar war das tragende Element. Die Presse nahm die Story begeistert auf. Ob er sie auch in der Realität heiraten würde? Auf Tommy lastete ein enormer öffentlicher Druck, und am Ende gab er nach. Cassie verlor den SWAN-Vertrag, weil das Baby einfach zur falschen Zeit kommen würde, aber ihr persönlich war das egal. Was sie hatte, bedeutete ihr wesentlich mehr. Sogar Tommy war schließlich zufrieden. Solange die Werbespots liefen, war er finanziell aus dem Schneider. Aber er mußte etwas wegen eines Interviews unternehmen, das er einer Zeitschrift gegeben hatte. Es war um die Frage gegangen, was männliche Models bei den Aufnahmen mit den weiblichen Models alles machten und wie ihre Freundinnen darüber dachten. Als ihn dieses hübsche blonde Mädchen ausgefragt hatte, war er leicht angetrunken gewesen und hatte die Wahrheit erzählt - bei jedem Aufnahmetermin ein anderes Mädchen. Das würde Cassie gar nicht gefallen… Nun, er konnte immer noch zurück nach Croydon gehen und sich mit seinem Vater zusammentun. Der -407-
Himmel wußte, wie sehr er einen guten Steuerberater brauchte. Mr. Takamoto rief SWAN ein zweitesmal an. »Hast du schon die letzten Neuigkeiten gehört? Traurig, aber sie ist so stolz, daß sie ein Baby bekommt. Ich denke, du wirst erfreut sein zu hören, wen wir statt dessen gewählt haben. Ich habe gehört, daß sie fast zu deiner Familie gehört. Ein wunderschönes englisches Mädchen - und ehrenhaft dazu: Celestia Fairfax.« Als Grace Brown bei Etoile diese Nachricht erhielt, saß Celestia gerade in einer Suite im Hotel Château Marmont in Los Angeles, umgeben von in Geschenkpapier gewickelten Champagnerflaschen, Pralinenschachteln und überdimensionalen Blumensträußen. Es handelte sich dabei um Präsente ›ihrer Freunde‹ vom CAA, von William Morris und ICM. Celestia sah sich die Namen an: Guy Mac Elwaine, Ed Limato, Steve Kenis sowie Michael Ovitz. Sie wußte nichts über diese Leute, außer daß sie Agenten waren. Ein HollywoodStudio hatte ihr das Angebot unterbreitet, die Hauptrolle in einem Film zu übernehmen, und sie hatte keinen Schauspielagenten, um einen Vertrag auszuhandeln. Falls sie daran interessiert wäre, ihre Filmkarriere weiter auszubauen, brauchte sie aber einen Hollywood-Agenten. Was hieß, falls sie daran interessiert wäre? Sie hatte das Drehbuch gelesen und war begeistert! Sie hatte die Nase voll vom Modelling. Die rebellischen Instinkte ihrer wilden Kindheit waren wieder an die Oberfläche gekommen, und sie wollte etwas Neues machen. Es war so langweilig, den ganzen Tag in einem Studio herumzustehen! Die Fotoaufnahmen vor Ort waren zwar recht lustig, aber man sah kaum etwas von dem Land, in dem man sich aufhielt. Immer hieß es gleich, auf zum nächsten Job! Das einzige, was sie wirklich gern tat, war die Arbeit auf dem Laufsteg, aber die gab es nicht ständig. -408-
Der Film, für den man sie engagieren wollte, handelte von einer jungen Amerikanerin, die von ihrem Onkel ein stattliches englisches Haus erbt und sich entscheidet, daraus ein Rehabilitationszentrum für junge Drogenabhängige und Alkoholiker zu machen. Alles läuft wunderbar, bis ein schöner junger Mann aus New York auftaucht. Sie verliebt sich in ihn, und er versucht, sie drogenabhängig zu machen. Es war besonders der Drehort, der Celestia so begeisterte. Das Ganze spielte nicht in der Halbwelt der Süchtigen und Dealer, sondern in dem Haus, das sie im Film erbte. Laut Drehbuch sollte sie auf einem Pferd über die Ländereien reiten, und Celestia spürte, wie sehr sie dieses Leben vermißte. »Das klingt, als würde es sich um die Betty-Ford-Klinik in ›The Secret Garden‹ handeln«, sagte Water voller Sarkasmus. »Sei dir darüber klar, Celestia, daß all diese Agenten nicht wirklich an dir interessiert sind. Sie wollen sich nur gegenseitig ausstechen, um dich unter Vertrag zu nehmen.« Doch Celestia hörte nicht auf ihn. Sie wußte, daß er eifersüchtig war, weil sie ihret- und nicht seinetwegen in Los Angeles waren. Seitdem er die Dreharbeiten zu ›Prêt-à-porter‹ beendet hatte, war er völlig launisch. Niemand nahm ihn als Produzenten ernst. Er konnte mit keinem der Studios Vorverträge schließen, und er konnte erst recht nicht die Rechte erwerben, die er haben wollte, weil sie ihm immer jemand vor der Nase wegschnappte. Niemand lud ihn zum Essen ein, ja man ließ sich noch nicht einmal von ihm einladen. Und zu allem Überfluß war Celestia in der ganzen Stadt gefragt. Das einzige Mittel, Aufmerksamkeit zu erlangen, bestand für ihn darin, sich an seine Freundin dranzuhängen. Aus diesem Grund hatte er damit angefangen, überall herumzuposaunen, daß sie verlobt wären. Celestia war nicht dumm. Auf eine seltsame Art und Weise war sie nach Water regelrecht süchtig, doch deshalb mußte sie ihn nicht unbedingt heiraten. Sie wollte jetzt noch überhaupt -409-
niemanden heiraten. Aber sie wollte Water um sich haben. Am Ende unterzeichnete sie nur deshalb bei Ed Limato vom ICM, von dem sie vorher noch nie etwas gehört hatte, weil er unter anderem Richard Gere, Mel Gibson und Michelle Pfeiffer betreute, und von denen hatte sie schon etwas gehört. Water platzte vor Neid. »Nimm mich nur zu einem einzigen Treffen mit ihm mit«, bettelte er. Er wollte, daß Ed Limato auch ihn managte - anstelle dieses Idioten, bei dem er zur Zeit unter Vertrag war und der keinen blassen Schimmer hatte. Ed Limato handelte einen erstaunlichen Vertrag für Celestia aus und schickte sie während der Vorproduktionsphase zum Schauspielunterricht und zur Sprecherziehung, damit sie sich einen amerikanischen Akzent antrainierte. Als Grace Brown anrief, um ihr mitzuteilen, daß sie zum neuen SWAN-Girl gewählt worden sei, befand Celestia sich gerade beim Unterricht, und Water nahm den Anruf entgegen. Er rastete aus. Man arbeite momentan an der Besetzung der männlichen Hauptrolle in diesem Film - Celestias Gegenpart, der versucht, die Heldin in seine Welt zu locken. Dafür war er im Gespräch. Das Studio mochte die Publicitystrategie, das neue, heiße und junge Model zusammen mit ihrem Verlobten, dem jungen coolen Schauspieler, in dem Film auftreten zu lassen. Aber offenbar hatte Takamoto Inc. ein Problem damit, daß Celestia in einem Film spielte, in dem es um Drogen ging, während sie gleichzeitig das SWAN-Girl sein sollte. Sie mußte sich für eines von beiden entscheiden. Und wenn Celestia sich aus dem Film zurückzog, wäre wahrscheinlich auch Water draußen. Aber darüber mußte er sich keine Sorgen machen. Celestia war in die Modewelt gegangen, weil sie dem Andenken ihrer Großmutter Ehre erweisen wollte. Jetzt jedoch war sie bereit, diese Szene wieder zu verlassen. An dem SWAN-Vertrag hing jede Menge Geld, aber niemand hatte gedacht - und Water, der noch nicht einmal davon wußte, als allerletzter -, daß Celestia -410-
die Erbin von Trevane und des Fairfax-Vermögens war. Was kümmerte sie also Geld? Auch in bezug auf Water hatte sie gut Lachen. Er war zuerst in regelrechter Hochstimmung gewesen, weil er tatsächlich die zweite Hauptrolle als Celestias Gegenpart bekommen hatte - alle jungen, coolen Schauspieler hatten sich darum gerissen. Dann aber erfuhr er, daß dies nicht geschehen war, weil sein Verhältnis mit Celestia für zusätzliche Pub licity sorgen würde, sondern in erster Linie aus dem Grund, daß sein beschissenschlauer Agent zugestimmt hatte, um seine Karriere anzukurbeln. Seine Freundin würde ein Vermögen verdienen, und Water mußte sich damit begnügen, durch sein Mitwirken in diesem Film vielleicht einen Karriereschub zu bekommen…! »O Gott«, sagte Grace Brown, als Celestia ablehnte. «Fünf Mädchen waren in der engeren Auswahl für die Nachfolgerin von SWAN. Das entwickelt sich langsam wie eine Geschichte mit den zehn kleinen Negerlein. Eines ist in den Brunnen gefallen, da waren's nur noch vier.«
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London, 1994 Es war keine gewöhnliche Beerdigung. Man ließ den Sarg nicht in die Erde hinab, sondern holte ihn vielmehr wieder aus dem Grab heraus. Dann warf man ihn plötzlich hoch, und er landete auf einem Laufsteg. Die Fotografen im Schweinestall am Ende des Laufstegs sprangen auf und rissen ihn auf. Die Gesichter sämtlicher Moderedakteure und Käufer, die entlang des Laufstegs saßen, waren mit schwarzen Spitzenschleiern verhüllt. Sie beugten sich in ihren Sitzen in der ersten Reihe vor und verrenkten sich die Hälse, um die Leiche zu identifizieren. »Ich bin es, ich bin es!« Ich wachte schreiend auf. In dem Moment, in dem ich wieder zu mir kam, war mir nicht bewußt, daß nicht ich das dunkelhäut ige Mädchen war, das aus dem Sarg herausstieg, sondern Gigi Garcia. Tootie kam hereingelaufen und sprang auf mein Bett. Seitdem ich wieder zu Hause war, schlief sie bei Mutter, anstatt sich wie früher das Zimmer mit mir zu teilen. Ich versuchte, meiner Mutter beizubringen, daß ich mich nicht verändert hätte und glücklich wäre, Tootie um mich zu haben, aber sie hielt daran fest, daß ich jetzt mein eigenes Zimmer brauchte. Seit dem Erscheinen der Vanity-Fair-Ausgabe mit mir und SWAN auf dem Titelbild war ich sozusagen der Star in der Nachbarschaft. Mit dem Interview, das ich dank SWAN hatte geben können, war ich sehr zufrieden. Es hatte mir die Gelegenheit gegeben zu sagen, was ich fühlte. Ich hatte darauf hinweisen können, daß so wenige schwarze Models auf den Titelbildern der Magazine erscheinen. Als man einwarf, das liege daran, daß ein schwarzes Gesicht auf der Titelseite eines Magazins die Auflage sinken lasse und es Statistiken gebe, die das belegten, war ich zum -412-
Angriff übergegangen. »Nun, natürlich geht die Auflage runter, weil das ein Schock für die Öffentlichkeit ist. Ein schwarzes Gesicht auf dem Cover von Vogue oder Harper's oder wo auch immer ist so selten, daß jeder denkt, es könne sich dabei überhaupt nicht um Vogue oder Harper's handeln, sondern um irgendein Magazin, das sich ausschließlich an schwarze Käufer richtet. Auf der Suche nach Vogue übersehen die Käufer dann die Zeitschrift, es sei denn, es handelt sich um ein Topmodel oder eine andere Berühmtheit. Ein unbekanntes schönes schwarzes Mädchen bewirkt das nicht.« »Demnach verstehen Sie also, daß die Magazine sich dem Druck der Werbekunden beugen und schwarze Models von ihren Titelbildern fernhalten müssen, wenn sie den Willen der Öffentlichkeit respektieren wollen?« Der Interviewer war mir schnurstracks in die Falle gegangen. »Nein, das ist ganz und gar nicht meine Meinung«, hatte ich erwidert. »Ich glaube, wenn sich das Publikum erst einmal daran gewöhnt hat, ständig schwarze Models auf den Titelbildern zu sehen, dann gibt es dieses Problem überhaupt nicht mehr. Wenn man daran gewöhnt wäre, ja, wenn man erwarten würde, alle paar Monate ein schwarzes Model auf dem Cover von Vogue zu sehen, so wie man daran gewöhnt ist, schwarze Schauspieler im Fernsehen oder im Kino zu sehen - und das schockiert ja auch niemanden -, wäre die Auflage wieder völlig normal. Am Anfang wird das bestimmt schwierig sein, aber der Verleger, der mutig genug ist, die Schranken einzureißen, wird in die Geschichte eingehen.« Sie waren skeptisch gewesen, aber ich hatte meinen Standpunkt deutlich gemacht, und alles war gedruckt worden, wie ich es gesagt hatte. Insgeheim war ich über mich selbst erstaunt. Noch vor etwas über einem Jahr war ich ein Mädchen wie jedes andere aus Portobello Court Estate. Jetzt hingegen -413-
hatte ich das Selbstvertrauen, in einer internationalen Zeitschrift für die Rechte der Schwarzen einzutreten. Marcus hatte mir einmal ein Zitat von Marcus Garvey gegeben, das ich stets bei mir trug: Ohne Selbstvertrauen wirst du im Wettlauf des Lebens zweimal geschlagen. Mit Selbstvertrauen hast du schon vor dem Start gewonnen. Dazu konnte die Arbeit als Model also auch nütze sein - zu einem Schnellkurs in Sachen Weltanschauung. Doch sie konnte auch die schlimmsten Vorstellungen zutage fördern. Ich kannte das Mädchen aus meinem Traum, Gigi Garcia, eigentlich gar nicht, aber was ich von ihr wußte, hatte mich beeindruckt. Sie war Kubanerin oder besser gesagt: KubaAmerikanerin. Wenn ich es nicht mochte, daß man mich nur deshalb nicht für eine Engländerin hielt, weil ich schwarz war, dann hatte ich auch nicht das Recht, Gigi als Kubanerin zu bezeichnen. Sie war weder wirklich dunkel noch war sie weiß. Sie hatte mir gesagt, daß ihre Eltern als Bootsflüchtlinge mit ihr nach Amerika gekommen seien. Von Marcus wußte ich, daß viele Leute glaubten, alle Kubaner wären weiß, weil ja auch die meisten der kubanischen Einwanderer weiß waren. Das war aber keineswegs der Fall. Kuba war seit jeher überwiegend von Schwarzen und Mulatten bevölkert, und da ein großer Teil der weißen Bevölkerung die Insel wieder verlassen hatte und die Geburtenrate unter der zurückgebliebenen schwarzen Bevölkerung sehr viel höher lag als bei den Weißen, hatten inzwischen über siebzig Prozent der Einwohner eine dunkle Hautfarbe. Als ich Gigi nach ihrem Vater fragte, verlor sie kein Wort darüber, ob er schwarz oder weiß gewesen ist. Warum hätte sie auch? Je häufiger ich sie sah, desto deutlicher spürte ich, daß sie unter Komplexen wegen ihrer Hautfarbe litt, so hell diese auch sein mochte. Trotzdem mochte ich ihre scheinbar -414-
furchtlose Art und die Direktheit, mit der sie stets sagte, was sie dachte. Sie ging den Leuten vielleicht auf die Nerven, aber sie war leidenschaftlich, feurig und stand ständig unter Strom, und ich bewunderte ihren Esprit. Sie war ihrer Hautfarbe und Herkunft wegen unsicher, ließ sich davon aber nicht unterkriegen. Ich spielte das Spiel mit und machte keinen Ärger. Sie hingegen verursachte Ärger, wann und wo immer sie konnte, und ihre Karriere stand ständig kurz vor dem Ende. Aber Gigi war einfach aufregend! In meiner eigenen Familie ging es ebenfalls aufregend zu. Obwohl er älter ist als ich, ist Leroy nicht mehr als ein verwirrtes Kind, das Räuber und Gendarme spielt, sich mit Yardie-Gangstern trifft und sich selbst in ganz große Schwierigkeiten bringt. Als ich aus Amerika zurückkam, wußte niemand, wo er sich aufhielt. Marcus und ich versuchten, unsere Mutter davon zu überzeugen, zur Polizei zu gehen, aber sie lebte schon zu lange in dieser Gegend, als daß sie es als normal empfunden hätte, so etwas zu tun. Sie mißtraute der Polizei. Gleichzeitig war sie verrückt vor Sorge, bemühte sich aber, es Tootie zuliebe nicht offen zu zeigen. Die arme kleine Tootie war die Hauptleidtragende von Leroys Dummheiten. Als Marcus und ich eines Nachmittags nach Hause kamen, fanden wir sie im Schrank eingesperrt. Vor Angst zitterte sie am ganzen Körper und klapperte mit den Zähnen, und es dauerte gute fünf Minuten, ehe wir sie beruhigen und dazu bringen konnten, uns zu erzählen, was geschehen war. Sie war allein in der Wohnung gewesen und hatte zu einem Nachbarn gehen sollen, bis Mutter von der Arbeit zurückkommen würde. Aber der Nachbar war nicht da, und so ging Tootie mit ihrem eigenen Schlüssel in unsere Wohnung. Als es wenige Minuten später an der Tür schellte, lief sie hin, um zu öffnen, obwohl Mutter ihr immer eingeschärft hatte, das niemals zu tun, wenn sie allein war. Tootie hatte gedacht, daß es der Nachbar wäre, der sie zu sich holen wollte. Statt dessen war -415-
ein ganzes Rudel schwerer Jungs von der Grove-Gang hereinmarschiert und hatte Tootie wegen ihres Bruders einzuschüchtern versucht. Wo er wäre? Und wann sie ihn zuletzt gesehen hätte? Als sie merkten, daß sie wirklich nicht wußte, wo er war, hatte man sie in einen Schrank gesperrt und dort zurückgelassen. »Crack, crack, crack…«, machte Tootie mit hoher, schriller Stimme. »Das haben sie immer zu mir gesagt crack, crack, crack.« Sie kicherte, einer Hysterie nahe, und ich zog sie an mich. Was meinte sie nur? »Ich habe dir doch erzählt, daß Leroy da in etwas hineingeraten ist«, sagte Marcus. »Er hat für sie mit Crack gedealt. Wollen wir nur hoffen, daß er nicht so dumm war, mit ihrem Stoff abzuhauen. Seine Aussichten für den Fall, daß sie ihn erwischen, gefallen mir ganz und gar nicht.« Wir hinterließen Mama eine Nachricht und nahmen Tootie mit zur Polizeiwache, bevor noch mehr passieren konnte. Und dort wurden wir von Leroy überrascht. Er stand schon die ganze Zeit über unter Polizeischutz, aber sie bewahrten Stillschweigen darüber, weil er ihnen bei ihren Ermittlungen half. Man hatte sogar unsere Mutter und mich überwacht - nett, das hinterher zu erfahren -, aber man hatte nicht damit gerechnet, daß jemand Tootie einen Besuch abstatten würde. Leroy steckte selbst sehr tief drin. Nachdem er von der Polizei aufgegriffen worden war, was sich im nachhinein als eine vorgetäuschte Festnahme herausstellte, war er panisch geworden und hatte ausgepackt. Aufgrund der Informationen, die man ihm tröpfchenweise aus der Nase zog, konnte man eine Crackzentrale in Notting Hill auffliegen lassen. Im Gegenzug dafür verlangte Leroy Polizeischutz. »Das ist die totale Scheiße, Mann. Wenn ihr mich rauslaßt, bevor ihr sie habt, bringen die mich um.« Wir mußten nach Hause und unserer Mutter alles erzählen. -416-
Einerseits war sie erleichtert, andererseits traurig. Es war das erstemal seit zehn Jahren, daß ich meinen Bruder gesehen hatte - und dann ausgerechnet in einer Gefängniszelle. Aber das Leben ging weiter. Leroy war bald wieder der kleine Möchtegerngangster, Tootie der Familienclown, und Marcus und ich unternehmungslustige schwarze Jugendliche, die versuchten, aus allem das Beste zu machen - sei es in einer schwarzen, sei es in einer weißen Welt. Ich schrieb mich für einen Grundlagenkurs am hiesigen polytechnischen Institut ein, und anschließend wollte ich mich für das Fach Modedesign am Central St. Martins College for Art and Design anmelden. Wie Marcus mir damals prophezeit hatte, hatte ich als Model tatsächlich eine ansehnliche Summe Geld zusammensparen können. Die Tatsache, daß ic h in der engeren Auswahl für den SWAN-Vertrag war, erschien mir eher unwirklich, bis mich etwas Unerfreuliches veranlaßte, sie ernst zu nehmen. Ich ging zu Etoile, um mit Grace und Angie über einen in Aussicht stehenden Job zu sprechen und natürlich auch, um über den SWAN-Vertrag zu spekulieren. Grace telefonierte gerade mit Jiro Takamoto. Sie runzelte die Stirn. »Du kannst nicht herumlaufen und solche Sachen erzählen, Jiro. Nicht hier und heute.« »Was für Sachen?« fragte Angie, als Grace aufgelegt hatte. »Es tut mir leid, Amy, aber er hat gesagt, daß sie den SWANVertrag niemals einem schwarzen Mädchen geben würden. Es war eine reine PR-Sache, dich in die engere Wahl zu ziehen.« »Das glaube ich nicht!« empörte sich Angie. »Ruf Gigi an und frag sie. Sie muß mitgehört haben.« Ich kann nicht behaupten, daß ich allzu überrascht war, so etwas zu hören. Ich war nur froh, nicht zu große Hoffnungen gehegt zu haben. Unterwegs, auf dem Weg zum Essen mit -417-
Marcus, vergaß ich die Sache fast völlig. Marcus hatte eine Freundin, die mit einem weißen Typen zusammen war; dessen ältere Schwester, eine Rechtsanwältin, hatte uns alle zu sich eingeladen. Georgina war blond und hatte blaue Augen, und sie war warmherzig und gastfreundlich. Sie besaß ein schönes Haus in West-Kensington und war sichtbar erfolgreich. Ich begann mich ein bißchen mickrig zu fühlen. Mit dem SWAN-Vertrag in der Tasche hätte ich mir zwei oder drei Häuser dieser Art kaufen können. Darüber grübelte ich nach, als wir uns zum Essen in ihre Küche setzten. Nach wenigen Minuten wurde ich durch Georgina aus meinen Gedanken gerissen. »Ich sitze zur Zeit an einem heiklen Fall«, sagte sie. »Es gibt da ein italienisches Mädchen, das in einer Bank gearbeitet hat, die dann von Japanern übernommen wurde. Sie - ich meine die Japaner - entließen sie unter dem Vorwand, sie sähe nicht britisch genug aus. Sie hätten eine britische Bank gekauft, also müßte auch alles britisch wirken. Die Italienerin hat die Bank wegen Diskriminierung verklagt.« Das Wort ›japanisch‹ ließ mich aufhorchen. Marcus saß neben mir und spürte mein Interesse. »Na los, erzähl ihr, was dir passiert ist.« »Ich war in der engeren Wahl für einen Kosmetikvertrag mit einer japanischen Firma namens Takamoto Inc.« »O ja, ich habe bereits von ihnen gehört«, wußte Georgina. »Sag nicht, daß es dabei un den SWAN-Vertrag geht, für den sie so aufwendig geworben haben?« »Doch. Genau darum. Heute hat einer der Vorstandsmitglieder - jedenfalls glaube ich, daß er einer ist, auf jeden Fall ist er der Enkel des Besitzers - gesagt, daß ich den Job nie bekommen würde, weil ich schwarz bin.« »Was hat er genau gesagt?« »Nun, ich habe nicht selbst mit ihm geredet, aber er soll gesagt haben: ›Wir würden den Vertrag niemals einem -418-
schwarzen Mädchen geben. ‹« »Gibt es dafür Zeugen?« »Ja. Es war jemand bei ihm, als er das gesagt hat. Und er hat es zu jemand anderem am Telefon gesagt.« »Ich glaube, damit hast du genügend Zeugen«, sagte Georgina. »Wenn man beweisen kann, daß eine Person einen Job aufgrund ihrer Hautfarbe nicht bekommen hat, kann Anklage wegen Diskriminierung erhoben werden. Jedenfalls, sofern es sich nicht um einen Job handelt, den nur Personen mit einer bestimmten Hautfarbe ausführen können. Aber da sie dich in die engere Wahl gezogen haben, setzt das voraus, daß sie jeden glauben machen wollten, sie wären nicht unbedingt auf ein weißes Mädchen festgelegt.« »Die Zeugin ist ebenfalls keine Weiße.« »Laß dir die Sache durch den Kopf gehen, und gib mir Bescheid, wenn du es weiterverfolgen möchtest«, sagte Georgina. »Jetzt haben wir genug über Geschäfte gesprochen. Marcus, schenk mir doch bitte noch etwas Wein nach.« Am nächsten Tag sprach ich mit Grace darüber. Sie konnte nicht leugnen, was Jiro zu ihr gesagt hatte. Wir riefen Gigi an und baten sie, zu kommen und seine Worte zu bestätigen. »Hört mal, was ist denn das wieder für ein Scheiß? Der Typ ist mein Lover. Diesen Dreck kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Hat daran vielleicht schon mal jemand gedacht?« »Gigi«, sagte ich und zog sie beiseite, »wenn du in den Spiegel schaust, siehst du dann ein blütenweißes Gesicht?« Es war vielleicht das gemeinste, was ich je in meinem Leben zu einem Menschen gesagt hatte, aber ich war sehr enttäuscht von ihr. Denn sie ließ mich offensichtlich hängen. »Laß mich darüber nachdenken, okay?« »In Ordnung.« Das war alles, was ich sagen konnte. Ein paar Tage später rief sie mich an. »Amy? Ich habe mich -419-
entschlossen, dir da rauszuhelfen. Jedenfalls unter Umständen. Such dir einen Anwalt, und ich werde mit ihm sprechen.« »Mit ihr.« »Egal. Ich werde erst einmal nur mit ihr sprechen. Ohne eingeschaltetes Tonband. Und dann werden wir weitersehen.« An diesem Tag wußte ich, daß ich es mit Takamoto Inc. würde aufnehmen können. Ich rief Georgina an und vereinbarte ein erstes Treffen mit ihr. In der Nacht danach träumte ich von Cigis Beerdigung. In was hatte ich sie da nur hineingezogen?
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Paris, 1994 »Fick dich doch ins Knie, du Arschloch!« brüllte Gigi ins Telefon. Sie mußte sich wegen dieses Typen etwas einfallen lassen, wer immer er war. Wie hatte er nur ihre Telefonnummer herausbekommen? Seit ihrer Rückkehr aus London hatte er sie alle paar Tage angerufen, sie angefleht, sich mit ihm zu treffen, und sie bedroht, wenn sie ablehnte. Sie wußte immer noch nicht, wer er war. Er behauptete, ihr größter Fan zu sein. Er habe sie bei Aufnahmen gesehen, würde mit ihrer Setkarte unter seinem Kopfkissen schlafen und wolle sie unbedingt näher kennenlernen. Er wollte seinen Namen nicht nennen, sondern flehte sie nur immer wieder an, sich mit ihm zu treffen. Und dann tat er etwas, das sie wirklich erschreckte, denn es zeigte ihr, daß er es ernst meinte. Gigi fuhr zu einem Job hinaus aufs Land, und als sie zurückkam, fand sie in ihrer Wohnung eine Nachricht von ihm vor. Er hatte jetzt also nicht nur die Codenummer, um in das Gebäude zu gelangen, sondern auch einen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Er war hier gewesen, hatte in ihrem Bett geschlafen und geduscht. Sie erzählte es Jiro, aber der lachte nur. Er war mittlerweile selbst ziemlich verrückt geworden. Seine sadistischen Ausschweifungen wurden immer schlimmer, und allmählich konnte Gigi das kaum mehr genießen. Es machte ihr sogar angst. Sie hatte schon immer gewußt, was Amy erst vor kurzem entdeckt hatte - nämlich daß ihr Name auf der Liste für die SWAN-Nachfolge eine reine Farce war. Jiro hatte seine Beziehungen spielen lassen und ihren Namen daraufgesetzt, weil er auf seine Art und Weise ebenso besessen von ihr war wie der Fan, der sie ständig anrief. Aber sie hatte sich weiß Gott -421-
keine Hoffnungen gemacht, den Vertrag zu bekommen. Es gab einen kleinen Lichtblick in ihrem Leben, der ihr Hoffnung gab. Die Agentur hatte eines Tages angerufen und ihr mitgeteilt, daß sie einen Stapel Setkarten von ihr an J. Walter Thompson geschickt hatten, der eine weltweite Kampagne für ein neues französisches Parfüm planen würde. Jetzt wollte man sie sehen. Sie ging zur Agentur, wurde in ein Zimmer geführt und bekam ein Glas Wasser angeboten. Wasser! Sobald sie allein war, langte Gigi in ihre Modeltasche nach der EvianFlasche, die mit Bacardi gefüllt war, und trank schnell einen Schluck. Dann kamen der Artdirector und ein paar Leute vom Rechnungswesen herein. Gigi genoß die respektvolle Behandlung. Hier sah man in ihr nicht irgendein abgehalftertes Model, sondern das potentielle Mädchen für die Kampagne, also wurde sie so behandelt, als wäre sie bereits dieses Mädchen. Und dabei musterte man sie in einem fort. Anschließend gab es noch einige Telefongespräche, und schließlich benachrichtigte man die Agentur und teilte ihr mit, daß man sich für Gigi entschieden hatte. Ihre Vormerkung wurde bestätigt. Für die Aufnahmen flog sie nach Südfrankreich. Im Hotel wartete ein Team von zwölf Leuten auf sie, die alle nur deshalb dort waren, um sie für die Aufnahmen zurechtzumachen. Bis jetzt war Gigis Gerede von ihrer Modelkarriere die reine Heuchelei gewesen. Sie hatte zwar mit Unterbrechungen stets gearbeitet, aber nie den großen Coup landen können. Erst ihr Name auf der SWAN-Liste hatte ihr zu dem Bewerbungstermin für diesen Job verhelfen, und jetzt plötzlich erlebte sie den Nervenkitzel, den die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Teams von Leuten ihr bereitete. Sie alle wußten, daß sie ein Star werden konnte, wenn sie sich nur richtig stylte. Jeder wußte, daß das die Grundlage für den Erfolg des neuen Parfüms war. Wenn die Aufnahmen gut werden würden, würde auch bei ihr mit einem Schlag alles laufen. Der Fotograf, ein Deutscher, besprach mit ihr seine -422-
Philosophie, wie er die Aufnahmen zu gestalten dachte und welches Image er ihr geben wollte. Zum erstenmal hörte Gigi aufmerksam zu. Dann fuhren sie zu einer Villa, von der aus man einen Ausblick auf die Stadt hatte. In dem dazugehörigen Garten hatte man bereits den Szenenaufbau errichtet. Von überall her waren Pflanzen herangeschafft worden, so daß der Garten fast wie eine ganze Baumschule aussah. Es gab einen kleinen Stuhl und einen kleinen Tisch, und dort saß Gigi zwei Tage lang und wurde fotografiert. Als sie nach Paris zurückkehrte, meinte man in der Agentur, daß sie ein Star werden würde. Selbst wenn die Kampagne noch nicht gestartet war, man hatte endlich eine Grundlage, um ihr Verträge zu beschaffen. Plötzlich wollte jeder sie haben. Als nächstes war für sie ein Flug nach London gebucht, wo sie zwei Tage lang an Castings teilnehmen sollte. J. Walter Thompson hatte berichtet, daß die Aufnahmen den Werbeleuten im Büro der Parfümfirma sehr gut gefallen hätten, aber da sich die Firma in Familienbesitz befinde, müßte man diese noch davon überzeugen. Aber das habe man bis jetzt immer geschafft, das wäre gar kein Proble m. Immerhin dauerte es nur noch eine Woche bis zum Start der Kampagne, was konnte da also noch passieren? Gigi war ge rade auf dem Weg nach London, als Etoile die Nachricht erreichte, daß die Familie abgelehnt hatte. Sie hatten nicht einmal einen bestimmten Grund dafür angeben können, sondern nur Gigis Gesicht angeschaut und entschieden, daß es nicht das richtige für ihr Produkt wäre. Gigi befand sich in Hochstimmung, als sie in Heathrow landete. Etoile hatte ihr gesagt, daß man ihr als feierliche Geste für die Parfümkampagne einen Wagen schicken würde. Sie ging durch die Ankunftshalle und suchte ihren Namen in dem Meer von Schildern, die von Chauffeuren hochgehalten wurden. -423-
Da war er: GIGI GARCIA. Der Fahrer trug zwar keine Uniform, aber Gigi tröstete sich mit dem Gedanken, daß das heute ja immer weniger Fahrer taten, war es nicht so? Und statt einer großen Limousine hatte man ihr nur ein kleines Taxi geschickt. Nun, das würde sich schon ändern, wenn die Kampagne erst einmal freigegeben worden wäre. Der Fahrer sprach kein Wort, als er ihr Gepäck aufnahm und sie zum Auto führte. Erst als sie es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte, drehte er sich zu ihr um und sagte: »So, nun habe ich es also doch geschafft, dich kennenzulernen.« Sie erkannte die Stimme sofort als die ihres besessenen Telefonfans.
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London, 1994 Wir haben nie erfahren, ob mein Alptraum von Gigis Beerdigung wahr geworden ist. Lebte sie noch? Anfangs waren Grace und Angie nur wütend darüber, daß Gigi schon wieder einen Termin hatte platzen lassen. Nach und nach aber war die Wut in echte Sorge umgeschlagen, vor allen Dingen, als sich Angie an den verrückten Fan erinnerte, der ständig angerufen hatte, als Gigi zum erstenmal in London gewesen war. Und sie erinnerte sich auch daran, daß eine Mitarbeiterin von Etoile in Paris irgend jemandem Gigis Telefonnummer gegeben hatte. Das traurigste war, daß Gigi allem Anschein nach völlig allein auf der Welt war. Sie hatte keine Familie, die hätte unterrichtet werden können. Knapp zwei Jahre lang hatte sie sich durch die Welt der Models laviert und überall Chaos angerichtet. Jetzt empfand jeder ein seltsames Gefühl des Verlustes und hatte dunkle Vorahnungen. Diesen Einfluß hatte sie eben auf die Leute. War sie anwesend, machte sie einen rasend, aber jetzt, da sie verschwunden war, fehlte sie uns irgendwie. Ihr Verschwinden hatte für mich noch eine andere verheerende Konsequenz, aber ich fühlte mich schuldig, auch nur daran zu denken: ich hatte meine Hauptzeugin verloren. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Grace. «Ich habe die Unterhaltung mit Jiro auf Band aufgenommen.« Georgina hatte in einer anderen Hinsicht Fortschritte gemacht. SWAN hatte mich angerufen, um mir mitzuteilen, daß der alte Mr. Takamoto sehr verärgert über die Anklage wegen Diskriminierung war - und zwar so sehr, daß er persönlich nach London kommen wollte. Georgina hatte den Anwälten von Takamoto klargemacht, daß sie Beweise und zwei unbeugsame Zeugen hatte. Zu dieser Zeit war die arme Gigi noch hier -425-
gewesen. Georgina hatte ihnen geraten, die Angelegenheit außergerichtlich beizulegen. SWAN erklärte mir, daß Mr. Takamoto sehr wütend wegen Jiros unbedachter Äußerung wäre. Er machte sich Sorgen, daß Takamoto Inc. das Gesicht verlieren könnte, wenn sie vor Gericht verlören, und stimmte zu, die Sache außergerichtlich zu regeln. Letztendlich bekam ich etwas Geld, das ich in meine Zukunft investierte, allerdings nicht auf die Art, wie Marcus es vorausgesagt hatte. Es war keine riesige Summe - etwa 25000 Pfund -, und ich investierte sie, indem ich eine Hypothek aufnahm, um eine größere Wohnung für Mutter zu kaufen, in der sie, Tootie und Leroy dann jeweils ein eigenes Zimmer hatten. Ich hingegen wollte mit Marcus zusammenleben. Ich wußte, daß ich ihn heiraten würde, und war bereit, mit ihm zu schlafen. Er jedoch wollte nicht heiraten, bevor er nicht seine Fotoagentur eröffnet und zum Laufen gebracht hätte. Aber ich konnte warten. Die Alpträume waren verschwunden, und ich hatte täglich neue Ideen für meine Entwürfe. Außerdem hatten wir ein neues Model in der Familie. Wann immer ich Zeit hatte, eine meiner Kreationen auf Mutters alter Singernähmaschine zusammenzuschneidern, gab Tootie das ideale Model ab. Sie war im letzten Jahr in die Höhe geschossen, und ihre Teenagerfigur reifte zart. Als ich sie auf und ab marschieren sah und dabei die Modemagazine durchblätterte, die ich mir beim Zeitungshändler jetzt leisten konnte, mochte ich kaum glauben, daß ich ein kurzes Jahr lang Teil dieser Welt gewesen war. Das alles erschien weit, weit entfernt. Wenn aber meine ne uen Träume wahr würden - und ich war fest entschlossen, das zu erreichen -, könnte ich bald wieder zu dieser Welt gehören. Nur, daß ich dann bald wieder selbst die Kontrolle über mein Schicksal hätte.
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London, 1994 Alice Johnson hatte sich noch nicht an Geraldine dafür gerächt, daß sie die Eintrittskarten zur Chanel-Modenschau in Paris vertauscht hatte, aber ein kleiner listiger Plan machte sich wie von selbst in ihrem nicht sehr einfallsreichen Köpfchen breit. Geraldine war die ganze Woche über in heller Aufregung gewesen, was sie an diesem Abend anziehen sollte. Nicht sie persönlich war eingeladen worden, sondern sie ging stellvertretend für Alice - wieder mit deren Eintrittskarte und dieses Mal auch mit ihrem Segen - als Repräsentantin von Carter's zu einem Abendessen. Es wurde von einem neuen Hersteller veranstaltet, der den großen Industrieunternehmer spielen und Kleider aller Top-Designer produzieren wollte. Deshalb hofierte er die Modewelt auf Teufel komm raus. Der Grund, warum Alice nicht selbst zu diesem Essen ging, war der, daß sie anderweitig verpflichtet war: sie hatte es endlich geschafft, zu einer sehr großen Party am Eaton Square eingeladen zu werden. Ihr sozialer Aufstieg war für Alice ziemlich wichtig geworden, und sie hatte beschlossen, daß der ›Lumpenhandel‹, wie sie sich ausdrückte, in ihrem Leben die zweite Geige spielen konnte. Männer im heiratsfähigen Alter wuchsen schließlich nicht auf Bäumen. Doch zuvor hatte sie noch eine Rechnung mit Geraldine zu begleichen. »Geraldine, Liebes, es ist ganz einfach. Warum wirfst du nicht einen Blick in den Modeschrank? Ich bin sicher, dort findest du etwas, das dir perfekt steht.« »Oh, ich habe immer gedacht, wir dürften nicht… Ich meine, darf ich wirklich?« Geraldine war ganz atemlos vor Aufregung. In dem Schrank konnte sie aus einem Dutzend kleinerer Modelle auswählen - von Flyte Ostell, Anouska Hempel, Calvin Klein, -427-
Alexander McQueen, Helen Storey oder Ben de Lisi. Sie mußte vorsichtig sein. Die Kleider waren für Modeaufnahmen benutzt worden und mußten den Designern nächste Woche zurückgegeben werden. Geraldine wählte ein Kleid von Anouska Hempel - wann hätte sie sich so etwas jemals leisten können? Die erste Person, der sie begegnete, als sie zum Abendessen eintrat - und Alice Johnson hatte genau gewußt, daß es so kommen würde -, war die PR-Beauftragte von Anouska Hempel. Sie hatte Alice und Geraldine das Kleid für die Aufnahmen in Carter's zugeschickt und erwartete es am nächsten Tag zurück, und zwar ungetragen - außer vom Model natürlich. Die arme Geraldine wußte sofort, daß man sie dabei erwischt hatte, wie sie ein ernsthaftes Vergehen beging. Aber wenn sie zu erklären versucht hätte, Alice habe ihr das erlaubt, hätte diese bestimmt alles abgestritten. Das sagte ihr eine innere Stimme. Alice genoß es am Morgen nach ihrer Party, ein wenig länger im Bett zu bleiben. Sie hatte mehr getrunken als sie vertrug und bis mittags geschlafen. Nun nahm sie den Hörer ab und rief LindyJane im Büro an. Es bereitete ihr Vergnügen, ihre Schwester über ihre gesellschaftlichen Aktivitäten auf dem laufenden zu halten. Sie fühlte, daß sich die arme Lindy-Jane darüber ärgerte, daß sie selbst - gleichgültig wie sehr sie sich auch bemühte, und der Himmel wußte, daß Alice alles tat, um ihr zu helfen - weder beruflich noch sozial weiter nach oben kam. Man sagte ihr, Lindy-Jane sei nicht in der Redaktion; sie sei schon die ganze Woche nicht dagewesen. Alice war für Sekundenbruchteile besorgt. Lindy-Jane hatte auch ihre Nachrichten auf dem Anrufbeantworter seit über einer Woche nicht abgehört. Wo war sie nur? Wenn Alice nur die Antwort erahnt hätte! Genau in diesem -428-
Augenblick sah Lindy-Jane nämlich einen halbbekleideten Mann erwürgt auf einem Bett liegen. Sie arbeitete erst seit einer Woche in dem Club. Schon vor Monaten war sie in der Agentur Cécile gewesen und hatte nach einem Job gefragt, um ihre Nachforschungen voranzutreiben, und man hatte ihr erzählt, daß der Laden schließen würde. Der Manager war trotzdem mit ihr in Verbindung geblieben, und als der Club wiedereröffnet wurde - unter dem Namen Brigitte -, hatte sie ihre sogenannte Einarbeitungswoche begonnen. Sie hatte von den anderen Mädchen schlimme Geschichten gehört. Wenn die Agenturleitung einem vertraute, mußte man seinen Freier ablenken, während jemand hereinkam und ihn erledigte - ein für allemal. Das Ganze wurde auch noch gefilmt, deshalb sollte man sich besser abseits halten. Irgendwo, überlegte Lindy-Jane, mußten sie diese Videos doch aufbewahren. Auf der Rückseite des Gebäudes gab es im Erdgeschoß ein Büro, das immer abgeschlossen war. Als sie fragte, wem es gehörte, hatte ihr der Manager gesagt, dies sei das Büro von Mr. Murray. Und als sie wissen wollte, wer Mr. Murray wäre, sagte man ihr, das müsse sie nicht interessieren; das stachelte ihre Neugier nur um so stärker an. Das Problem war nur, daß der Club täglich rund um die Uhr geöffnet hatte. Er funktionierte wie eine Art Hotel. Lindy-Jane hatte das Büro auf der Rückseite sehr genau beobachtet. Niemand schien sich in dessen Nähe zu wagen. Sie hatte die Türklinke mit Handcreme beschmiert und sie in unregelmäßigen Abständen überprüft. Sie war stets unberührt gewesen. Einmal hatte sie die Creme über Nacht darauf gelassen und am nächsten Morgen um acht Uhr früh festgestellt, daß jemand hier gewesen sein mußte, denn die Creme war abgewischt worden. Eines Nachts, als man dachte, sie wäre bereits gegangen, versteckte sie sich im Korridor und blieb die ganze Nacht über dort. Um 7.30 Uhr morgens kam ein Mann zur Vordertür des Gebäudes herein, ging zum Büro, schloß auf und verschwand hinter der Tür. Schon Sekunden -429-
später kam er wieder heraus und schloß hinter sich ab. Er war groß und sehr schlank, hatte blondes, glatt zurückgekämmtes Haar und war wie ein Vorstadtgangster alten Stiles gekleidet. Er trug einen Nadelstreifenanzug mit breiten Streifen, dazu ein zweireihiges Jackett, eine Uhrkette, ein Knopflochsträußchen und schön glänzende Schuhe. Außerdem hatte er einen Übermantel mit schwarzem Samtkragen an - ein richtiger Großstadtpinkel, dachte Lindy-Jane. Sie hielt weitere Nächte Wache und entdeckte, daß er jeden Tag um dieselbe Uhrzeit kam. Nach drei Tagen wurde sie für ihre Ausdauer belohnt. Er kam mit der schweinsledernen Aktentasche, die er immer bei sich trug, aus dem Büro und ließ sie fallen. Da sie nicht richtig geschlossen war, fiel der gesamte Inhalt heraus. Neben Papieren befanden sich auch Videos darin. Lindy-Jane beschloß, nach Hause zu gehen und erst ein paar Nächte gut zu schlafen, um dann zurückzukehren, das Türglas einzuwerfen, ins Büro einzubrechen und sich gründlich umzuschauen. Aber als sie dieses Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, erwartete Guy Murray, der Typ mit dem Nadelstreifenanzug und der schweinsledernen Aktentasche, sie bereits. Der Zeitpunkt, zu dem mir der Anrufer sein Ultimatum gestellt hatte, war deshalb so schlimm, weil wir Murray immer noch nicht festgenagelt hatten. Das Hauptproblem bestand darin, daß die Agentur Cécile plötzlich geschlossen worden war. Sie hatte von einem auf den anderen Tag dichtgemacht. Während ich nach unserer Hochzeitsreise von Saint Barts aus direkt zurück nach New York geflogen war, war Rory nach London zurückgekehrt, um sich mit Harry in Verbindung zu setzen und Murray gegenüberzutreten. Bei dieser Gelegenheit hatten sie festgestellt, daß die Agentur Cécile nicht mehr existierte. Harry hätte unter seinen alten Schulfreunden aus Eton schlecht seine -430-
Fühler nach Murray ausstrecken können, weil schließlich niemand wissen sollte, wo er steckte. Er hatte Rory einige Tips gegeben, aber bislang hatte dieser nichts herausfinden können. Murray schien sich zusammen mit der Agentur Cécile in Luft aufgelöst zu haben. Am Ende war es Sally Bainbridge zu verdanken, daß Guy Murray ausfindig gemacht werden konnte. In der Werbeagentur, in der sie arbeitete, hörte sie eines Tages zufällig das Gespräch einer geschwätzigen kleinen Sekretärin von Sloany mit. Sie hing zwanzig Minuten lang an der Strippe und verhinderte damit, daß die Telefonzentrale wichtige Anrufe an ihren Chef durchstellen konnte. Sie erzählte einer Freundin von einem ›einfach traumhaften neuen Typen‹, der in einen Straßenzug namens Laurels gezogen war. Sein Name wäre Piers Murray, und er hätte eine Schwester, die Marietta heißt. Er wäre achtzehn Monate jünger als sie und absolviere gerade sein letztes Jahr auf Eton, aber das wäre ihr egal, weil sie die ganze Nacht durchgetanzt hätten… Die Verbindung der Aussage, der Typ absolviere gerade sein letztes Jahr auf Eton, mit dem Namen Murray ließ Sally von ihrer Arbeit aufschauen und der Unterhaltung heimlich lauschen. Abends gab sie das Gehörte an Harry weiter, der sofort mich anrief. Wir entschieden, daß es zwar ein kühner Plan war, aber wir sahen keine andere Chance: Harry hatte den Superschnüffler gespielt und alle Guy Murrays ausspioniert, die es in England gab, aber er hatte keinen von ihnen wiedererkannt. Es gab nur einen, den er noch nicht gesehen hatte, und das war ein Guy Murray, der plötzlich verzogen war, ohne eine neue Adresse zu hinterlassen. Niemand aus der Gegend, in der er gelebt hatte, schien viel über ihn zu wissen, nur, daß er in der Stadt gearbeitet hatte. Harry hatte daran gedacht, daß er vielleicht durch die Stadt ziehen sollte, um den schwer zu fassenden Murray zu suchen, aber das hätte nur die Aufmerksamkeit auf ihn selbst gelenkt. -431-
Also schritten wir zur Tat: Sally fuhr in das Dorf, in dem die Murrays lebten, und erkundigte sich dort, ob sie Kinder hätten. Ja, lautete die Antwort, zwei - Piers und Marietta. Herauszufinden, wo die kleine Schnattergans von Sekretärin aus Sallys Büro wohnte, war kein Problem. Jetzt hatten wir den Namen des Dorfes und Murrays Wohngegend: die Laurels. Weitere Lauschangriffe auf die Telefonate der Schnattergans mit ihrer Freundin enthüllten, daß die Murrays jeden Sonntag in die Kirche gingen. »Mama und Papa konnten es einfach nicht begreifen. Erst komme ich jedes Wochenende nach Hause, und dann gehe ich auch noch mit ihnen zur Kirche. Alle Murrays gehen zur Kirche - der Vater ist wirklich gläubig -, und ihr Platz in der Kirche befindet sich genau gegenüber unserem, so daß ich Piers den ganzen Morgengottesdienst über heimlich beobachten kann. Toll!« Ich wäre am liebsten auf der Stelle mit dem nächsten Flugzeug hinübergeflogen und mit Harry, Sally und Rory in die Kirche des kleinen Dorfes in Oxfordshire marschiert, um zu sehen, ob wir unseren Mann gefunden hatten. Aber mein Gesicht war viel zu bekannt und hätte für zuviel Aufsehen gesorgt. Wenn es sich um den Guy Murray handelte, den wir suchten, dann mußte er meinen richtigen Namen kennen, genauer gesagt: meinen Mädchennamen. Als Harry anrief, um uns mitzuteilen, daß es tatsächlich der gesuchte Murray war, tat ich etwas, was ich in meiner ganzen Modelkarriere noch nie getan hatte: ich sagte im letzten Moment einen Job ab. Ich wußte, daß ich die Leute hängenließ, aber ich konnte nicht anders. Ich war dabei, dem Dämonen gegenüberzutreten, der meine Familie seit vierzehn Jahren verfolgte. Guy Murray hatte Harry in der Kirche nicht bemerkt, und Sally versicherte, daß die Sekretärin aus ihrem Büro auch sie nicht gesehen habe. Am nächsten Sonntag fuhren wir alle nach -432-
Oxfordshire - Harry und Sally, Rory und ich - und warteten im Auto, bis die Gemeinde aus der Kirche kam. Wir beobachteten, wie Murray lächelnd und ganz der brave Bürger dem Pfarrer die Hand gab, dann hinter seiner Frau und seinen zwei Kindern die Straße hinunterging und rechts in die Laurels einbog. Wenn es ums Ganze geht, trage ich immer Armani. Ich liebe Armani, aber bewahre mir dessen Kleider immer für besondere Gelegenheiten auf, weil sie mir zusätzliches Selbstvertrauen geben. Ich weiß, daß ich ein zauberhaftes Topmodel sein sollte, aber meistens fühle ich mich innerlich wie eine vollkommen normale junge Frau. Ich glaube, das geht uns allen so. Doch wenn ich Armani trage, fühle ich mich immer, als könnte ich die ganze Welt erobern. Damals trug ich zusätzlich meine Sonnenbrille, obwohl es November war. Ich wollte meiner Erscheinung etwas Geheimnisvolles verleihen. Rory trug ebenfalls Armani, eine Fliegerjacke aus Seide und eine Jeans. Harry hatte einen alten Barbour von meinem Vater an, den ich für ihn stibitzt hatte, und Sally steckte in ihrem üblichen ärmellosen Pullover von Fair Isle und ihrer schönen, blaßgrünen Tweedjacke mit Rock. Als Guy Murray uns mit einem Glas Sherry in der Hand die Tür öffnete, kam Harry gleich zur Sache. »Ich bin Harry Crichton-Lake, du hast mich eine ganze Weile nicht gesehen. Vielleicht erinnerst du dich noch daran, wo und wann wir uns das letztemal getroffen haben. Wir würden gern reinkommen und dir ein paar Fragen über einen Club namens Cécile stellen. Du siehst, wir haben…« Guy Murray griff hinter sich, schnappte sich die Autoschlüssel vom Flurtisch, warf sein Sherryglas auf den Kies und stürmte durch uns hindurch zu seinem Auto. Er setzte seinen Mercedes 300 SL die Einfahrt zurück, bevor wir überhaupt begriffen, was geschah. »Schnell!« schrie Harry. »Hinterher!« -433-
Wir drängten uns wieder in Sallys BMW und nahmen die Verfolgung auf. Nach vielleicht fünfzehn Kilometern auf der A 40 sagte Rory zu Harry: »Halt an!« »Aber dann werden wir ihn verlieren.« »Das werden wir bestimmt, wenn du weiterfährst. Jetzt halt an und laß mich ans Steuer.« Ich erfuhr etwas Neues über meinen Ehemann: er war ein angehender Rennfahrer. Guy Murray fuhr sehr schnell, aber da wir unser Auto um die Ecke an der Kirche geparkt hatten, wußte er wahrscheinlich nicht, daß wir ihn verfolgten. Nachdem wir die Autobahn verlassen hatten, war ein wirklich guter Fahrer nötig, um ihm auf den Fersen zu bleiben. Und Rory war erstaunlich gut. Murray führte uns zu einem Gebäude in einem schäbigen Teil vom King's Cross. Harry ging allein um die Rückseite des Gebäudes, äugte durch ein paar Fenster und kam ziemlich schnell wieder zurück. »Such die nächste Telefonzelle und ruf die Polizei an«, sagte er zu Sally. »Sie sollen so schnell wie möglich herkommen. In einem Raum auf der Rückfront liegt jemand auf dem Boden.« Als sie kamen, bat mein Bruder Sally und mich, im Auto zu bleiben, während er und Rory mit der Polizei zur Vordertür des Gebäudes gingen. Niemand öffnete, also brachen sie die Tür auf. Guy Murray wollte gerade fliehen, aber sie stellten und verhafteten ihn. Er hatte eine schweinslederne Aktentasche voller Videos bei sich. Die Frau, die gefesselt, geknebelt und sehr erschöpft auf dem Boden lag, war Lindy-Jane Johnson, die, wie sie der Polizei sagte, eine schöne Geschichte zu erzählen hätte.
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London Wiltshire, 1994 Bei Etoile herrschte aufgeregtes Geschnatter, weil die Wahl des neuen SWAN-Girls nun ein für allemal feststand. Tess Tucker war nicht schwanger, hatte nicht vor, Filmstar zu werden, führte keine Klage wegen Diskriminierung, wollte nicht auf die andere Seite hinüberwechseln, um Designerin zu werden, und war - solange nichts Unvorhergesehenes geschah noch recht lebendig und voller Elan. Außerdem hatte sie angefangen, den Beruf des Models zu mögen, selbst wenn sich ihr Karrierestart als schwierig erwiesen hatte. Alles eine Frage des Selbstvertrauens, und sobald Tess begriffen hatte, daß die Leute sie für wert befanden, beachtet zu werden, war sie regelrecht aufgeblüht. Die Presse hatte einen Mordsspaß mit ihr. Man liebte die Geschichte, daß sie als Model angefangen hatte, um ihrer Mutter einen neuen Rollstuhl zu kaufen. Mr. Takamoto flog an diesem Nachmittag ein und sollte zusammen mit mir, seinem alten SWAN-Mädchen, und Tess, seinem neuen, fotografiert werden. Es würde ein lustiges Foto werden, zumal er uns gerade mal bis zu den Brüsten reichte. »Ich muß sagen«, meldete sich Grace in einem der wenigen ruhigen Augenblicke am Booking Table zu Wort, »Ehre, wem Ehre gebührt. Angie, steh auf und bedank dich für den Beifall. Wenn ich damals die Entscheidung getroffen hätte - das muß ich ehrlich zugeben -, hätte ich Tess nie genommen. Es ist allein Angies Vertrauen in Tess zu verdanken, daß wir einen MultiMillionen-Dollar-Vertrag an Land gezogen haben.« »Und ich muß ehrlich zugeben, daß ihrem neuen Freund auch ein Teil der Ehre gebührt«, sagte Angie. »Ich weiß nicht, wer zum Teufel er ist, aber seitdem sie ihn kennt, ist sie ein vollkommen neuer Mensch geworden. -435-
Laßt uns hoffen, daß er nicht von der Bildfläche verschwindet.« Ich wußte nicht, was ich tun sollte, und das bereitete mir große Sorgen. Ich wußte nämlich genau, wer er war: er hatte mir Tess' Foto geschickt und mich am Telefon belästigt. Und ich wußte auch, daß er irgendwie krank sein mußte - also der letzte, den Tess in ihrem Leben gebrauchen konnte. Ich mußte ihr davon erzählen, und sie mußte sehen, wie sie damit klarkam. Ich konnte gut nachempfinden, was Angie gerade gesagt hatte. Tess mochte jetzt ein erfolgreiches Model sein, aber gefühlsmäßig war sie wahrscheinlich immer noch sehr verletzlich. Zu erfahren, daß Mayo nicht perfekt war, konnte ihr jetzt, da sie in Topform sein mußte, sehr schaden. Trotzdem mußte ich etwas unternehmen. Da Guy Murray endlich gefaßt worden war, hatte der Anrufer keine Handhabe mehr gegen mich. Dann aber fiel mir noch etwas anderes ein: was sollte ich nur Bridie erzählen? »Ich kenne Tess' Freund«, sagte ich ruhig. »Er arbeitet bei Industria in New York, ich habe ihn kennengelernt, als ich dort gearbeitet habe. Er steht hinter der Bar im Restaurant und heißt Mayo.« Ich wollte gerade fortfahren, als ich Angies Gesicht sah. Sie war völlig fassungslos. »Mayo?« flüsterte sie. »Ja«, bestätigte ich. »Verrückter Name, nicht wahr? Sie nannten ihn im Industria so, weil er so sensationell gute Mayonnaise macht.« »Er hat in seinem Leben noch nie Mayonnaise gemacht«, behauptete Angie. »Genau, damit hast du recht. Aber woher weißt du das? Seine Mutter macht sie. Sie ist eine wunderbare Köchin. Sie kocht auch für mich, und er nimmt das, was sie zubereitet, immer mit ins Industria.« -436-
»Seine Mutter?« fragte Angie ungläubig. »Ja, er lebt mit ihr zusammen in New York, genau auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom Industria in dem großen Wohnhaus über dem West Side Highway. Angie, kennst du den Mann etwa?« Ich wurde langsam argwöhnisch. »Ich weiß nicht«, sagte Angie langsam, »aber es wäre gut möglich.« Dann erschreckte sie uns alle zu Tode, als sie sagte: »Grace, kann ich ein paar Tage freinehmen, um nach New York zu fliegen und diesen Mayo zu treffen? Unter den gegebenen Umständen wäre es wichtig, etwas besser über ihn Bescheid zu wissen. Tess hat mir erzählt, daß er gestern nach New York zurückgeflogen ist.« »Angie, wenn's nach mir geht, kannst du tun, was du willst«, antwortete Grace. »Wenn du nach New York gehst, um diesen Typen ausfindig zu machen, würde ich das aber nicht unbedingt freinehmen nennen.« »Danke«, sagte Angie. »Ich werde nach Hause gehen und zusehen, daß die Kinder versorgt sind, während ich weg bin, und dann nehme ich das erste Flugzeug.« »Angie, weißt du, wo du wohnen wirst?« fragte ich. »Oh, ich erwarte, daß Stacey von Etoile in New York ihr irgendwo etwas besorgt«, meinte Grace. »Nein«, Widersprach ich. »Ich bestehe darauf, daß du bei mir wohnst. Ich fliege noch heute nacht. Ich werde dort sein und auf dich warten.« »Danke, SWAN«, erwiderte Angie. »Ich freue mich wirklich, bei dir wohnen zu können. Aber… Ich meine, ich kenne dich doch kaum. Bist du dir ganz sicher?« »Mehr als sicher«, lächelte ich. »Ich freue mich schon darauf. Und was das nicht kennen angeht, haben wir dann endlich mal die Gelegenheit, das zu ändern, stimmt's?«
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Lindy-Jane Johnson war sehr glücklich, noch am Leben zu sein. Sie war zu Guy Murrays Büro zurückgekehrt und hatte dort einbrechen wollen, doch er hatte sie bereits erwartet. Dann rief er jemanden, der sie bewußtlos schlug, fesselte und knebelte. Was sie nicht wußte, war, daß dieser Mann nach Murrays Verschwinden zurückkommen und sie töten sollte. Aber glücklicherweise waren wir ihm zuvorgekommen. Murray war Besitzer der Agentur Brigitte, und er war zuvor schon Teilhaber an Cécile gewesen. Diese Agentur war überstürzt geschlossen worden, nachdem Murray seinen Partner ermordet hatte. Denn der war kurz davor gewesen, die Sache mit den Mord-Videos auszuplaudern. Murray löste daraufhin das Problem auf seine Weise und verlegte den Ort des Geschehens. In den sogenannten Todeszimmern arbeiteten immer nur wenige, ausgesuchte Mädchen. Ständig wurden Videos gedreht, die Murray täglich einsammelte, damit sie nicht in falsche Hände gerieten. Er bewahrte sie an einem sicheren Ort auf. Ein Todesvideo wurde zudem nur sehr selten gedreht. Der Kunde beziehungsweise das Opfer mußte sorgfältig ausgesucht werden: es durfte niemand mit Familie oder einem Ehepartner sein, der nach ihm suchen würde. Und das Mädchen, das ihn bediente, mußte besonders ausgebildet sein. Nur vier Leute des Mitarbeiterstabs waren eingeweiht: das Mädchen, die Person, die die Videokamera bediente, der Mann, der in den Raum kam, um zu töten, und Murray selbst. Und Murray sah immer gerne dabei zu. Es war alles so außerordentlich grausam, daß ich gar nicht daran denken mochte. Es gefiel ihm, zuzusehen, wie jemand erwürgt wurde. Die Leichen verscharrte er anschließend in seinem Garten auf dem Land. Deshalb hatte er auch umziehen müssen. Der Platz war knapp geworden. Als man Nachforschungen anstellte, fand man insgesamt vierzehn Leichen. Die Geschichte über das Haus des Schreckens in Gloucester zu Beginn des Jahres war schon schlimm genug -438-
gewesen, doch Murray war noch schlimmer und hatte geplant, in den Laurels wieder damit anzufangen. Die Videos verrieten ihn. Der Mann an der Kamera hatte darauf geachtet, daß auch Murray selbst, der in der Tür stand und zusah, gelegentlich im Bild war. Diese Videos hatte er für sich behalten. Als Murray verhaftet worden war, rückte er sie heraus und zeigte sie der Polizei. Als Murray sie sich anschauen mußte, brach er zusammen und gab alles zu, auch den Mord an Molly Bainbridge. Letzten Endes war Harrys Name wieder reingewaschen. Ob Harry bei der Verhandlung würde aussagen müssen oder nicht, blieb offen. Armer Harry! Er war schließlich doch zusammengebrochen. Die Anspannung, daß er sich so lange verstecken mußte, und der schockierende Ausgang der Geschichte forderten ihren Tribut. Sally war ein wenig stoisch veranlagt, so daß schwer zu sagen war, wie es ihr wirklich ging, aber niemand von uns konnte die schreckliche Depression übersehen, in die Harry gefallen war. Rory sagte schon voraus, daß er in ein Krankenhaus müßte, aber glücklicherweise verschrieb ihm mein Arzt statt dessen einen langen Aufenthalt auf dem Land. Es lag auf der Hand, wohin wir ihn schicken würden: zurück nach Wiltshire. Aber nicht zu seinem geheimen Versteck, dem Kalkofen. Dieses Mal würden wir direkt zum Haus fahren und von unserer Mutter willkommen geheißen werden. Sie würde vorbereitet darauf sein, sofern man auf ein derart emotionsgeladenes Wiedersehen überhaupt vorbereitet sein konnte. Die schreckliche Geschichte von Guy Murrays Morden hatte tagelang die Schlagzeilen aller Zeitungen beherrscht, und auch Molly Bainbridges Name stand auf der Liste der Opfer. Rory und ich waren schon bei ihr gewesen, um ihr von Harry und auch von Sally - zu erzählen. Wir hatten uns entschlossen, ihn dann selbst berichten zu lassen, daß er sich im Kalkofen versteckt gehalten hatte. Trotzdem, als wir uns mit dem händchenhaltenden Paar auf dem Rücksitz unseres Autos dem -439-
Haus näherten, hatten wir alle ein bißchen Angst. Natürlich stellte sich heraus, daß Golly bei dieser Gelegenheit ausnahmsweise einmal nicht eingesperrt worden war. Um sein Heim zu verteidigen, kam er wütend bellend auf Harry zugerannt und sprang ihn mit voller Wucht an. Der arme Harry war so schwach und völlig erschöpft, daß er wie ein Strohhalm umknickte. Aber in gewisser Weise war das gut so. Anstatt ihren Sohn, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte, verlegen begrüßen zu müssen, lief meine Mutter ohne jedes Zögern auf ihn zu, half ihm auf die Beine und führte ihn ins Haus. Rory und ich kamen mit Sally nach und brachten das Gepäck hinein. Währenddessen waren meine Mutter und Harry verschwunden. Sie hatte ihn direkt auf sein Zimmer gebracht. Zwei Stunden lang warteten wir auf sie, und als sie endlich herunterkam, wirkte ihr Gesicht um zwanzig Jahre verjüngt. Da kam sie wieder zum Vorschein - die entspannte, schöne Frau, die ich als Kind gekannt hatte. Aber die größte Überraschung bereitete uns mein Vater. Meine Mutter erzählte uns, daß er die Neuigkeit von Harrys Wiederauftauchen erstaunlich gut aufgenommen hätte. »In der Tat«, sagte meine Mutter, »ich glaube, Harrys Rückkehr hat seine Lebensgeister neu erweckt - das und deine Hochzeit, von der er pausenlos spricht. Er hat jeden Morgen alles gelesen, was über Guy Murray in den Zeitungen stand. Du kennst deinen Vater ja und weißt, wie er immer war. Er raschelt mit der Zeitung und ruft Dinge wie: ›Kein Wunder, schon sein Vater ist immer ein Schweinehund gewesen. Chips Murray ist damals Gast in meinem Haus gewesen, ein absoluter Schweinehund, ein Kerl, der beim Kartenspiel betrogen hat!‹ Ich habe versucht ihm klarzumachen, daß die Tatsache, daß jemand beim Kartenspiel betrügt, nicht notwendigerweise bedeutet, daß sein Sohn ein perverser Massenmörder werden wird. Aber in den Augen deines Vaters ist das natürlich eine zwangsläufige Folge.« -440-
Es gab noch ein anderes Problem, das ich in meiner Angst vor dem Wiedersehen meiner Eltern mit Harry nicht vorausgesehen hatte - Sally Bainbridge. Mir wurde das während des Abendessens bewußt. Meine Mutter hatte Harry in seinem alten Zimmer zu Bett während Sally das Bett im Gästezimmer hergerichtet worden war. Zum erstenmal seit Ewigkeiten beherrschte mein Vater die Unterhaltung am Abendbrottisch. »Sehr schön, daß Harry wiederaufgetaucht ist. Er soll mir beim Ausmisten des Dachbodens helfen. Jede Menge Papiere liegen da oben.« Mein Vater redete, als wäre Harry nach einem Monat Abwesenheit fürs Wochenende hergekommen. »Ich kann Ihnen dabei behilflich sein, Mr. Crichton- Lake«, bemerkte Rory bei dieser Gelegenheit. »Wenn ich in den Zeitungen all diesen Unsinn lese, muß ich immer an früher denken. Die Vergangenheit muß endlich ruhen. Venetias Tod, der junge Fairfax, dieses Mädchen namens Bainbridge… Ich habe die Zeitungsausschnitte da oben außer Reichweite meiner Frau gehalten. Jetzt ist Zeit, das alles wegzuwerfen. Machen wir ein Freudenfeuer, was haltet ihr davon?« »Sehr schön!« riefen wir alle im Chor. Außer Sally. Sie hatte das ganze Abendessen über nichts gesagt, und ich bemerkte, wie meine Mutter ihr verstohlene Blicke zuwarf. Ich verfluchte mich selbst dafür, daß ich so unsensibel gewesen war. Sally war die Schwester von Molly Bainbridge, und weder sie noch meine Mutter wußten, wie sie damit umgehen sollten. Auf dem Weg zu unserem Kaffee in der Bibliothek lauerte ich Rory auf. »Nimm meinen Vater jetzt mit nach oben auf den Dachboden. Oder geh mit ihm hinunter in den Obstgarten. Oder wirf ihn in den Fluß - tu', was immer du willst, aber lenk ihn ab. Ich möchte Sally und Mama die Gelegenheit geben, einander besser -441-
kennenzulernen, ohne daß Daddy ständig dazwischenredet. Ich weiß nicht, was er vorhat, aber was es auch sein mag, ich bitte dich, Rory, kümmere dich darum. Bitte, Rory. Mach es für mich, ja?« »Wir sehen uns später«, war alles, was er erwiderte, und er drückte er mir einen Kuß auf die Nase, bevor er meinen Vater entschlossen von uns wegführte. Meine Mutter servierte in der Bibliothek den Kaffee. Sally saß nervös in einer Ecke des Sofas. »Nehmen Sie Milch?« fragte meine Mutter. »Ich liebe Harry wirklich von ganzem Herzen«, sagte Sally im gleichen Augenblick. Und ich platzte heraus: »Wenn Sally nicht gewesen wäre, hätte Harry nie die Kraft gehabt, das durchzustehen. Sally war ihm eine ganz wichtige Hilfe. Wir verdanken ihr soviel, Mom, das kannst du dir gar nicht vorstellen.« Meine Mutter lehnte sich eine Sekunde lang in ihrem Stuhl zurück, dann stand sie auf und ging mit ausgebreiteten Armen auf Sally zu. Als sie sich umarmten, dachte ich einen schrecklichen Augenblick lang, meine Mutter würde so etwas furchtbar Kitschiges sagen wie: »Ich mag eine Tochter verloren haben, aber dafür habe ich nun eine neue gefunden.« Dann merkte ich, daß es einzig und allein kitschig von mir war, auch nur an so etwas zu denken. Meine Mutter überredete Sally, von sich zu erzählen, und als man Rory und meinen Vater die Treppe herunterstapfen hörte, waren sich die beiden Frauen unendlich viel nähergekommen. Sally sagte, sie sei müde, und bat darum, sich für die Nacht verabschieden zu dürfen. »Ich habe das Gästezimmer für dich hergerichtet«, sagte meine Mutter. »Aber wenn du bis zum Ende des Flurs gehst und dann nach rechts, findest du Harrys Zimmer gleich auf der linken Seite. Süße Träume, Sally, Liebes. Und ich möchte dir -442-
noch sagen, wenn auch verspätet, wie leid mir der Tod deiner Schwester tut und wie froh ich andererseits bin, dich jetzt in unserer Familie zu haben.« Ich hatte zwar noch nichts davon gehört, daß Harry und Sally heiraten wollten, aber meine Mutter schien zu unterstellen, daß das durchaus möglich wäre. »Ein liebes Mädchen. Ruhig. Bestimmt. Genau das, was Harry jetzt braucht. Aber wenn man bedenkt, daß er sie nie getroffen hätte, wenn ihre Schwester nicht in unserem Haus gestorben wäre…« »Und ich wäre nie Model geworden«, ergänzte ich. »Bereust du es?« wollte meine Mutter wissen. »Ganz und gar nicht.« Ich wunderte mich selbst über die Heftigkeit meiner Antwort. »Es ist ein wundervolles Leben für ein Mädchen, sofern es mit beiden Füßen auf dem Boden bleibt und nicht zuläßt, daß ihr der Ruhm zu Kopfe steigt.« »Ich habe mir immer Sorgen um dich gemacht…« »Du hast nie etwas gesagt.« »Na ja, ich wollte nicht, daß du dir Sorgen machst, weil ich mir Sorgen mache, wenn du weißt, was ich meine. Aber man scheint Models nicht unbedingt ernst zu nehmen. Sehr oft habe ich dich gegenüber Leuten verteidigen müssen, die gedacht haben, daß du dumm wärst, nur weil du ein Model bist. Natürlich sprachen sie das nicht offen aus, aber ich wußte, daß sie es dachten. Und dann all die Geschichten, die man über Drogen und die Partys hört.« »Ich habe keine Ahnung von Drogen, aber man kann sich prächtig amüsieren, wenn man Feten feiert und ein bißchen tratscht«, widersprach ich. »Man ist nur einmal jung. Und der gesunde Menschenverstand ist beim Modelling genauso gefragt wie in anderen Berufen. Man kann Spaß haben, man kann einen Haufen Geld verdienen, und man kann in der Welt herumreisen, -443-
wozu die meisten jungen Mädchen normalerweise keine Gelegenheit haben. Man darf dabei nur nicht vergessen, daß das alles nicht ewig andauert.« »Wirst du es vermissen?« fragte meine Mut ter. »Nein… ja… ich weiß nicht. Teilweise werde ich es schrecklich vermissen, aber ich glaube kaum, daß ich mich nach den Tagen im Flugzeug sehne oder nach den langen Stunden, die ich herumgehangen und gewartet habe, bis der Fotograf endlich Zeit für mich hatte. Ich werde die Menschen vermissen, die meine Freunde geworden sind, die Visagisten, die Friseure und all die anderen Leute, die ich nie kennengelernt hätte, wenn ich kein Model geworden wäre. Aber ich bin glücklich. Ich steige auf dem Gipfel des Erfo lges aus. Und ich habe Rory.« »Und du hast uns, deine Familie«, sagte meine Mutter. Ich wußte nur zu gut, daß das eines der wichtigsten Dinge für ein Model war, gleichgültig, an welchem Punkt seiner Karriere es stand. Als Rory und ich am nächsten Tag abfuhren, um unsere Maschine zurück nach New York zu bekommen, ließen wir Harry bei meiner Mutter und Sally zurück, die ihn pflegen würden. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und sah das Hügelland von Wiltshire in der Gewißheit vorbeiziehen, daß meine Sorgen jetzt endlich vorüber waren. Die Bedrohung durch den Anrufer war endgültig kein Teil meines Lebens mehr. Einen kurzen Augenblick lang fragte ich mich, was aus Mayo werden würde, aber als unser Wagen auf der Autobahn Richtung London und Flughafen schneller wurde, sagte ich mir, daß mich das nichts mehr anging. Dieses ganze Kapitel meines Lebens gehörte der Vergangenheit an. Doch tief in meinem Inneren sagte mir eine Stimme: sei dir da nur nicht so sicher!
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New York, 1994 Als unser Flugzeug auf dem John F. Kennedy Airport landete, waren wir beide so erschöpft von den Alpträumen der vergangenen Woche und von dem Flug, daß wir uns entschieden, früh zu Bett zu gehen - getrennt. Jetzt konnten wir unsere Heirat zwar öffentlich bekanntgeben und zusammenleben, aber diese Nacht würden wir noch einmal getrennte Wege gehen. Wir kamen überein, uns so gute Nacht zu sagen, wie wir es immer taten, wenn wir jeweils in unseren eigenen Wohnungen waren. Punkt 23.00 Uhr würden wir durch unsere Teleskope schauen - Rory hatte im Gainsborough auch eines installiert - und uns gegenseitig Kußhände zuwerfen. Rory setzte mich zuerst ab, und Michael brachte mich hinauf zu meinem Apartment. »Da wären wir, Miß SWAN. Rufen Sie unten an, falls Sie irgend etwas brauchen.« Das rote Licht am Anrufbeantworter blinkte wütend, aber es bedrohte mich nicht mehr wie früher. Ich hörte die Nachrichten ab, und wie erwartet, war nichts von Mayo, dem Anrufer, dabei. Ich nahm ein ausgedehntes Bad und schlüpfte in mein Nachthemd. Ich wollte gerade zum Teleskop herübergehen, um Rory noch einmal zu küssen, bevor ich ins Bett ging, als ich ein schrecklich bekanntes Geräusch hörte. Es kam aus dem Wohnzimmer, in dem ich noch nicht gewesen war. Dann war es wieder zu hören. Und wieder. Schüsse! Jemand feuerte in meinem Wohnzimmer mit einer Pistole herum. Als ich zum Telefonhörer griff, um die Sicherheitskräfte zu rufen, wurden die Schüsse lauter und lauter, als würde jemand die Lautstärke hochregeln. Ich legte den Hörer wieder auf. Damit würde ich schon selbst -445-
fertig werden. Das war keine Pistole. Jemand hatte auf volle Lautstärke gedreht - also kamen die Schüsse von einem Tonband. Ich zog meinen Bademantel an und trat ins Wohnzimmer. Mayo saß auf dem Sofa und spielte mit dem Cassettenrekorder. »Hi, SWAN«, begrüßte er mich herzlich. »Ich habe Mutters Schlüssel benutzt. Das stört dich doch nicht, oder?« »Nein, natürlich nicht, Mayo. Kann ich dir etwas anbieten? Eine Tasse Kaffee?« »Nein, bleib hier.« Plötzlich sah er ängstlich aus. »Geh nicht weg.« »Ich denke nicht im Traum daran. Ich gehe nirgendwo hin.« Wie er so dasaß, sah er wie ein großes, ungeschicktes Kind aus. Sein langes Clownsgesicht war, so ins Mondlicht getaucht, fast von Modiglianischer Schönheit. Ich hatte das Licht nicht angeschaltet, aber die Vorhänge waren offen, und hinter ihnen glitzerte die Skyline von New York. »Mayo, warum hast du mir so lustige Nachrichten hinterlassen?« Ich stellte die Frage so freundlich wie möglich. »Ich habe Tess wiedergetroffen. Damals in London wußte ich, daß sie mich mochte, aber dann ist sie mit diesem Bobby weggegangen. Ich wollte ihr zeigen, daß ich jemand bin. Ich wollte ihr zeigen, daß ich ihr den Vertrag beschaffen könnte. Sie ist so beeindruckt von dir gewesen. Sie hat mir die Geschichte über dich in der Zeitschrift gezeigt, und da ist mir klargeworden, daß ich dich fotografiert habe, als ich noch ein Kind war. Und zwar mit einer Kamera, die mir meine Mutter überlassen hat. Ich habe jedes Foto, das ich gemacht habe, aufgehoben, um es ihr irgendwann einmal zu zeigen. Und das habe ich auch getan - bis auf das eine, auf dem du bist. Und als du mir dann deine Telefonnummer gegeben hast und meine Mutter hier bei dir zu arbeiten anfing, war alles ganz einfach. Ich bin schon immer ein kleiner Spaßvogel gewesen. Zu Hause hat mich keiner -446-
ernstgenommen, weißt du? Ich habe meiner Familie beweisen müssen, daß ich… daß ich…« »Daß du Macht hast?« »Genau. Daß ich jemand bin, mit dem man rechnen muß. Angie und mein Vater haben mich nie ernstgenommen. Darum bin ich auch fortgegangen und habe meine Mutter gesucht. Sie war die einzige, die mich ernst nehmen würde, selbst wenn ich Tess nicht zurückbekommen würde. Es hat funktioniert, stimmt's? Sie hat den Vertrag bekommen. Sie ist das neue SWAN-Girl.« Er schaute mich ängstlich an, als suchte er meine Zustimmung. »Ja, Mayo, sie hat den Vertrag bekommen. Aber ich wußte gar nicht, daß du Angie kennst. Meinst du die Angie, die Tess' Bookerin ist?« »Ja, aber Tess weiß, daß sie Angie nichts von mir erzählen sollte. Es ist unser Geheimnis.« »Woher kennst du Angie überhaupt, Mayo?« »Woher ich sie kenne? Was glaubst du denn, woher ich sie kenne? Ich bin mit ihr aufgewachsen. Sie ist meine Schwester.« Als Rory ein paar Minuten später ankam, war Mayo in meinen Armen auf dem Sofa eingeschlafen. Rory war he rübergestürzt, weil ich um 23.00 Uhr nicht zum Teleskop gekommen war. Er verbrachte die Nacht bei mir, und Mayo schlief im Wohnzimmer. Am nächsten Morgen brachten wir ihn zu Bridie nach Hause und überbrachten ihr die Neuigkeit, daß ihre Tochter auf dem Weg nach New York war. »Bridie«, fragte ich sie, »woher um Himmels willen wußte Angie, daß Mayo ihr Bruder Patrick ist.« »Nun, ich nehme an, daß sie sich da nicht sicher sein konnte, aber wie viele Leute heißen schon Mayo? Ich habe ihn immer so -447-
genannt. Er ist in einem Landstrich namens Mayo in Irland geboren worden, verstehen Sie? Ich komme auch von dort, und als Kind haben wir ihn immer so genannt. Als er dann älter wurde, hat sein Vater begonnen, ihn Patrick zu rufen, was ja sein richtiger Name ist. Und die anderen Kinder sind diesem Beispiel natürlich gefolgt. Ich allerdings habe immer meinen besonderen Namen für ihn gehabt, und als er hier aufgetaucht ist, weil er nach mir gesucht hat, hat er mich gebeten, ihn wieder so zu nennen.« Ich betrachtete Bridie. Sie war größer als Angie, hatte jedoch die gleichen schwarzen Locken und kornblumenblauen Augen. Ich sah die Ähnlichkeit. Mir wurde klar, daß ich in Bridie immer nur eine Köchin gesehen hatte. Jetzt sah ich eine wunderschöne Frau. Sie war vielleicht ein wenig dick, was bei all der Kocherei wohl unvermeidlich war, aber trotzdem hatte sie ein außergewöhnliches Gesicht. Sie hätte ein wunderbares Model abgegeben… »Bridie, darf ich dich etwas fragen? Und wenn es mich nichts angehen sollte, dann sag es bitte - warum hast du deine Familie verlassen?« Anstatt zu antworten, öffnete sie eine Tür und rief: »Felix!« Daraufhin kam ein großer Mann mit grauem Bart herein. Sein Gesicht war warm und wettergegerbt und hellte sich augenblicklich auf, als er mich sah. Ein Mann, der schöne Frauen schätzte. »Der Liebe wegen«, sagte Bridie. »Ich habe meine Familie der Liebe wegen verlassen. Ich habe Joseph Doyle nicht geliebt. Als ich ihn geheiratet habe, dachte ich, daß ich es tun würde, aber da war ich noch sehr, sehr jung. Als ich dann all die Kinder hatte, fühlte ich mich eingesperrt. Und dann habe ich Felix kennengelernt. Ich hatte es nicht darauf abgesehen. Aber er war meine Rettung - ein Ire auf dem Weg nach Amerika und auf der Suche nach einem neuen Leben. Ich bin romantisch, SWAN. Sehen sie mal, wie glücklich ich gewesen bin, als Sie Ihren Rory -448-
gefunden haben. Er ist der Richtige, das sag ich Ihnen. Genau wie Felix. Als ich ihn gesehen habe, wußte ich, daß ich mit ihm gehen muß. Und wenn ich damals nicht weggegangen wäre, hätte ich es über kurz oder lang nachgeholt. Ich habe das gewußt, und Joseph hat es auch gewußt, egal was er den Kindern erzählt hat.« »Aber du hast jede Verbindung abgebrochen.« »Es ist besser, einen klaren Schnitt zu machen. Wenn die Kinder mich hätten finden wollen, hätte es eine Menge Leute gegeben, die sie hätten fragen können und die sie auch in die richtige Richtung geschickt hätten. Wie Mayo. Es hat ihn nicht viel Zeit gekostet, mich aufzuspüren. Aber… Sie sagen, daß Angie gerade auf dem Weg hierher ist? Wir werden ein großes Wiedersehen feiern. Also, was wollen Sie essen? Ich fange wohl besser mal an, mich um das Festmahl zu kümmern.« Ich weiß nicht, was geschah, nachdem Angie wieder mit ihrer Mutter vereint war. Es wird nicht leicht gewesen sein. Vielleicht war es sogar besser für sie gewesen, daß ihre Mutter sie verlassen hatte. Sie waren sich wenig ähnlich. Angie war praktisch, bodenständig und hatte die Entschlossenheit ihres Vaters, Bridie war schwach, unverantwortlich, romantisch - und eine verdammt gute Köchin! Zweifelsohne hätte es viele Auseinandersetzungen gegeben, und Angie wäre wahrscheinlich ohnehin in die Pflicht genommen worden, auf ihre Geschwister aufzupassen. Wer weiß das schon? Die Person, die mich wirklich überraschte, war Tess. Ich rief sie in dieser Nacht an, um ihr von Patrick zu erzählen. Sie wußte seit langem über ihn Bescheid, über alles - bis auf seine Rolle als Anrufer. »Ich habe ihn in Paris wiedergetroffen, und wir sind seitdem wie Bruder und Schwester. Er ist so sanft, SWAN, und genauso verwirrt, wie ich es lange gewesen bin. Als ich gesehen habe, in -449-
welchem Durcheinander er steckt, ist mir klargeworden, wie stark ich sein mußte, um ihm zu helfen. Ich liebe ihn, SWAN. Er ist krank, und er braucht mich. In gewisser Weise verdanke ich ihm sehr viel. Abgesehen von Angie ist er derjenige gewesen, der mir am Anfang viel Mut gemacht hat. Wir sind oft auf einen Kaffee zusammen ausgegangen und haben uns stundenlang unterhalten, und das hat mich immer wieder aufgerichtet. Ich weiß, daß ich ihm weh getan habe, als ich mit Bobby nach Italien gegangen bin. Er ist so verletzlich, SWAN, viel, viel verletzlicher, als ich es bin. Ich hoffe, Angie versteht das. Ja, ich glaube, sie wird es verstehen, wenn sie einmal selbst verliebt ist. Er muß in Behandlung, und wir alle müssen dafür sorgen, daß er sie auch bekommt. Aber nur, weil eine Person emotional labil ist, heißt das noch lange nicht, daß man sie nicht trotzdem lieben kann. Sie brauchen sogar noch mehr Liebe, so mußt du das sehen.« Sie würde nur nicht für ihn dasein können. War ihr das nicht klar? Jetzt, da sie das SWAN-Girl war, würde sich ihr Leben so sehr verändern, daß sie es kaum noch wiedererkennen würde. Sie würde die ganze Zeit über arbeiten und reisen. Sie würde alle Sorten von Männern kennenlernen, die fast alle bezaubernder als Patrick wären. Würde sie ihm wirklich treu bleiben? Aber je länger ich darüber nachdachte, um so klarer wurde mir: Wenn ihm überhaupt jemand treu sein würde, dann Tess. Sie besaß eine Standhaftigkeit, die sie befähigte, allen Piranhas, die da draußen auf sie warteten, zu entkommen.
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London, 1995 Tess' erste Werbung als SWAN-Girl erschien Anfang des nächsten Jahres, und sie sah einfach umwerfend schön aus. Ich muß allerdings zugeben, daß ich, als ich sie so betrachtete, einen kleinen Anflug des Bedauerns fühlte. Ich hatte eine Menge aufgegeben und wußte immer noch nicht richtig, was ich als nächstes tun wollte. Doch das ergab sich bald - zufällig, wie fast alles in meinem Leben. Ich ging die King's Road in Chelsea entlang, blickte in eine Seitenstraße und sah ein Schild: zu VERKAUFEN. Ich wußte augenblicklich, um welches Geschäft es sich handelte. Es war der kleine Buchladen, in dem ich gearbeitet hatte und in dem mich sowohl Willy O'Brien als auch Harry entdeckt hatten. Binnen eines Monats gehörte er mir, binnen zweier Monate war er wiedereröffnet. Ich arbeite drei Tage die Woche dort und fühlte mich glücklich. Ich betrieb einen schwunghaften Handel und machte bald sogar den großen Buchläden wie Dillon und Waterstone Konkurrenz. Swans Buchladen wurde so etwas wie eine Touristenattraktion. In Scharen strömten sie herein, um das frühere Topmodel einmal aus der Nähe zu sehen. Nun, laß sie, dachte ich, solange sie auch ein Buch kauften. Das einzige, was ich ablehnte, war, Bücher für sie zu signieren. Es gab nur einen Schriftsteller in der Familie, und das war Rory. Rory und ich waren in das Haus in den Boltons gezogen. Wir teilten es in zwei wundervolle Wohnungen auf, eine für uns, die andere für Harry und Sally, die in diesem Sommer heiraten werden. Wir haben der Treppe einen weiteren Steinlöwen -451-
hinzugefügt und ihn natürlich Stirling getauft. Und zu Weihnachten, wenn mein Baby auf die Welt kommt, werden wir noch ein kleines steinernes Löwenjunges hinzufügen. Oder sollte es besser ein Schwanenjunges werden?
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