Superhirn Der Hexer wird entlarvt 1. Vorboten des Unheils: Was bewegt sich im Kraut? „Ich hab die Hölle satt!“ sagte Mic...
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Superhirn Der Hexer wird entlarvt 1. Vorboten des Unheils: Was bewegt sich im Kraut? „Ich hab die Hölle satt!“ sagte Micha. „Ich will hier raus!“ Micha war der jüngste der Geschwister, aber nicht weniger mutig als Henri oder Tatjana. An Frechheit war ihm nur der schwarze Zwergpudel Loulou über. Doch auch der zeigte sich beunruhigt. Das Boot glitt 110 Meter tief durch die Höhlen von Midirac. Außer dem mürrischen Rudersmann und dem Geschwister-Trio mit dem Pudel saßen noch zwei Personen im Kahn: Henris Schulfreunde Gérard und Prosper. Von Gérard behaupteten die anderen, er trage einen Fußballkopf auf den Schultern - und als dessen Inhalt wiederum einen Fußball. Prosper hingegen war ein wandelndes Nervenbündel. „E-e-ehrlich“, murmelte er. „Ich wü-würd mich jetzt lieber sonnen!“ Dabei gehörten die Höhlen von Midirac zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Europas. Der hünenhafte Bootsmann, der Ruder und Stange wie Spieß und Schwerter handhabte, ärgerte sich über den Pudel. In der Höhle „Zum Blumengarten der schimmernden Steine“ wurde das Tierchen immer zappliger. Plötzlich schrie Micha: „Da, auf der Felskante! Ein Ungeheuer - ein Monster - eine Bestie!“ Und er blieb noch dabei, ein Monster gesehen zu haben, als die Gruppe mit Loulou längst wieder im Freien war: „Ein riesiges Pelztier mit schillernden Teufelsaugen - und dreieckigen Ohren!“ „Hübscher hast du's nicht?“ spottete Gérard. „Ach, seid still! Egal, was es gewesen ist“, sagte Tatjana, die alle Tati nannten. „Der Dichter Rabelais schwärmt jedenfalls von dieser Gegend. Hier fühlt sich der beste Mann zu Haus, hat er gesagt, denn Götter reichen ihm die Speise und den Trank! Ich sehne mich nach einem Omelett mit Trüffeln und Walnuß-Eis.“ „Eis?“ Micha horchte auf. Auch die anderen vergaßen das Geheimnis der Höhle. „Trüffel ja, Omelett - nein!“ rief Gérard eifrig. „In Midirac soll's die beste geträufelte Putensülze Frankreichs geben. oder, noch besser: in Asche gebackene Trüffel! Danach eine Lammkeule und Traubenkompott in Weißwein!“ „Das ist was für abends!“ meinte Henri. „Oder willst du mit 2 Promille Asche und Weißwein im Kopf die Autostraße entlangkurven?“ „Wir kaufen uns im nächsten Ort was aus dem Laden“, schlug Prosper vor. Sein Rat wurde einstimmig angenommen. Und bald strampelten die fünf - Tati mit dem Pudel im Lenkradkorb vorweg - über die Nationalstraße, die „Route nationale“, Nummer 20 nach Norden . Hinter Massaret machten sie im Straßengraben Pause und verzehrten die in der Stadt gekauften Leckerbissen, tranken Limo aus kleinen Flaschen und berieten von neuem. „Es ist auffällig viel Polizei unterwegs!“ warf Henri plötzlich ein. „Außerdem seh ich schon den dritten Kastenwagen, schneeweiß - mit grünem Dreieckszeichen: Forst- und Landwirtschaftsbehörde.“ „Was hat das mit uns zu tun?“ fragte Tati leichthin. „Wir sind eine Feriengruppe, alles andere geht uns nichts an! Jetzt strampeln wir nach Brossac am Atlantik. Unser Hauptgepäck ist längst dort. Also werden wir irgendwo übernachten und uns morgen früh samt unseren Rädern in die Eisenbahn verfrachten. Abends erwartet uns Superhirn in Brossac.“ Superhirn, eigentlich Marcel, gehörte als sechster zu der Freundesgruppe. Seinen Spitznamen verdankte er seiner Blitzgescheitheit und Geistesgegenwart.
Die Jungen hörten Tati kaum zu. „Guckt mal, wie Loulou am Straßenrand in Schreckstellung geht!“ murmelte Gérard. „Dabei ist weit und breit kein Feind zu sehen.“ „Und ich wundere mich über die beiden Hubschrauber, die über den Feldern kreisen, als suchten sie was!“ sagte Micha. „Jetzt halten zwei Polizisten mit ihren schweren Krädern“ rief Prosper, dessen Adamsapfel zu zucken begann. „Da seht - der eine stellt sein Motorrad ab und k-k-kommt auf uns zu.“ Der junge Streifenbeamte lüftete den Sturzhelm und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Heiß heute“, begann er freundlich. „Na, ist alles in Ordnung?“ Er trat gemächlich auf Loulou zu, der noch immer hustend im Kreise herumhopste. Doch plötzlich wandte er sich mit verzerrtem Gesicht um und brüllte seinen Kollegen herbei: „Robert! Robert! Komm mal her! Schnell!“ Den Geschwistern und ihren Freunden befahl er: „Nehmt den Hund auf! Fragt nicht lange, sondern fahrt los! Und macht, daß ihr schleunigst von dieser Straße runterkommt! Haltet euch nach Westen!“ „Das wollten wir sowieso!“ sagte Tati verblüfft. „Um so besser! Ich schätze, auf der „Route 20“ werden bald Wasserwerfer auffahren und Polizei- und Militärkolonnen. Das ganze Gebiet um Massaret wird gesperrt werden! Und noch eins: Sucht euch so bald wie möglich ein richtiges Quartier - aber nicht etwa eine leere Scheune! Und fahrt auf keinen Fall in der Nacht! Mehr kann ich euch jetzt nicht sagen, Los, auf die Räder!“ Also bogen die Freunde nach Westen ab und folgten einer fast unbefahrenen, kilometerweit nicht einmal befestigte Verbindungsroute. Oft mahlten die Räder im Sand. Die Sonne blendete stark. Nach der Begegnung mit dem Streifenpolizisten waren Tati und die Jungen recht einsilbig. Trotz des Getuckers auf dem schlechten Weg schlief Loulou in seinem Körbchen vor Tatis Lenkstange. „Der tut ja so“, keuchte Prosper, „als hätte er bisher für uns fünf zu strampeln gehabt. Dieses Faultier.“ Niemand lachte, sie waren ziemlich erschöpft. Ausgerechnet der meist schweigsame Gérard raffte sich zu einem Kommentar auf. „Auch ein Schock kann müde machen! Und ich schätze, der Hund hat einen ganz schönen Schock gekriegt.“ „Dann müßte der Polizist noch immer an der Nationalstraße 20 liegen!“ japste Tati. „Denn wenn der nicht schockiert war, nehm ich nie wieder Ballettunterricht!“ Das wollte etwas heißen, denn Tatjana tanzte für ihr Leben gern. Henri überlegte. „Die Polizei hält ihre Gründe oft geheim. Zwar soll man sich nicht immer gleich ein Monster vorgaukeln - daß wir's aber mit irgendwas Unheimlichem zu tun haben, ist klar! Einer von uns scheint es genauer zu wissen!“ „Superhirn ... ?“ fragte Prosper aufgeregt. „Quatsch. Superhirn erwartet uns in Brossac“, sagte Tati. „Superhirn ist von uns allen zwar der schärfste Denker, aber hellsehen kann er nun auch nicht. Das Unheimliche hängt bestimmt mit dem zusammen, was Loulou bei unserer Rast umkreist hat!“ Jetzt hustete Gérard, als hätte er Staub geschluckt. „Ja, ja!“ rief Tati. „Huste du nur! Denn du hast dasselbe gesehen wie der Beamte.“ Gérard ließ sich nicht provozieren. Mochte er gesehen haben, was er wollte! Er brummte nur ausweichend: „Na, wenn du meinst, Tati!“ Schweigend strampelte die Gruppe weiter. Doch nach knapp fünf Minuten hielt das Mädchen an. Die anderen stoppten gleichfalls und rutschten aus den Sätteln, „Was ist denn?“ erkundigte sich Gérard. „Wohin guckst du so eifrig? Gibt's da was zu sehen?“
„Vom touristischen Standpunkt aus gab es keine Sehenswürdigkeit in dieser bäuerlichen Gegend. Aber Felder, Weiden, Gärten, Sträucher und Bäume zeigten unendlich viele Schattierungen allein von Grün, so daß jeder Maler seine helle Freude daran gehabt hätte. Tati blickte weniger freudig. „Sagt mal...“ begann sie gedehnt. „Es weht doch kein Wind! Oder? Täusche ich mich?“ „Nein“, brummte Gérard: „Wenn man das Flimmern um uns rum überhaupt Luft nennen kann: So steht sie jedenfalls still.“ „Und doch zittert das Kraut auf dem Feld bis zum Waldrand hin!“ bemerkte Tati. „Ein Kartoffelacker!“ riet Prosper. „Ach ja?“ lachte Micha. „Ich hätte das für 'nen Weingarten gehalten. Meinst du vielleicht, Kartoffelkraut darf schwanken, wenn sich kein Grashalm bewegt? Vielleicht röstet der Teufel Pommes frites in der Erde?“ „Ich fürchte, dir wird das Lachen wieder vergehen“, meinte Henri stirnrunzelnd. „Tati hat recht! Es weht kein Wind, aber das Kartoffelkraut schwankt wie im Sturm!“ „Da k-k-kündigt sich ein E-e-erdbeben an“ stotterte Prosper. „Weiter! Laßt uns w-wweiterfahren“ Die Geschwister und ihre Freunde traten kräftig in die Pedale. Schwer atmend sagte Tati: „Komisch, Loulou ist ganz ruhig. Der schläft in seinem Korb wie in 'ner Wiege. Dabei ist er doch sonst immer gleich hoch, wenn sich in der Natur was zusammenbraut.“ „Ich seh da vorne ein Dorf“, verkündete Henri erleichtert. „Ich schlage vor, wir suchen uns einen Gasthof und machen Schluß für heute!“ Die anderen murmelten beifällig. Das Dorf hieß Orr und bestand aus einem Dutzend uralter, grauer Häuser links und rechts der mit Feldsteinen gepflasterten Straße. Die Fenster waren sehr schmal und so hoch, daß sie fast bis an die Dächer reichten. Die Läden hatte man - sicherlich wegen der Hitze - zugeklappt. „Mir fällt auf, daß uns kein Hundegebell empfängt“, sagte Tati. „In der ganzen Gegend empfangen einen solche kleinen Ortschaften schon mit Bellkonzerten, wenn man noch hinter dem Horizont ist!“ „Die Hitze.“ schnaufte Prosper. „Ich g-glaub, die Hitze macht uns zu schaffen. Wir müssen aufpassen, d-daß wir nicht überall g-gleich Gespenster sehen!“ „Ich seh nichts, gar nichts!“ wies Gérard ihn zurecht. „Und wenn du mich fragst: Mir wär ein ordentliches, handfestes Gespenst lieber als so rein gar nichts!“ „Mir auch“, sagte Micha. „Ist denn hier kein Gasthof? Ich habe Durst. Und Hunger natürlich auch! Wollten wir nicht Schluß machen und uns ein Quartier suchen?“ „Ja. Aber die Leute sind wohl noch auf den Feldern“, entgegnete Henri. „Vergiß nicht, daß es immer eine Stunde früher ist, als die Uhren anzeigen. wir rechnen ja nach Sommerzeit.“ „Seht mal da, die Katze!“ rief Tati unvermittelt. „K-k-katzen!“ maulte Prosper. „Auf den Bauernhöfen und in den Dörfern ringsum gibt's mehr Katzen als Menschen! Was ist daran Besonderes? Hast du einen Sonnenstich?“ Mit einer Schärfe, die man an ihm nicht kannte, sagte der sonst so gemütliche Gérard: „Faß dich an den eigenen Kopf. Ich wette, du hast Fieber!“ Er bremste, lehnte sein Rad an die Hauswand und ging auf die von Tati entdeckte Katze zu. Die Gruppe hatte das Tier bereits überholt. „Minou - chouchouchou!“ lockte Gérard das schmutzige, verängstigte Wesen. Aufblickend sagte er zu Tatjana: „So was wächst hier nicht wild! Die ist verwahrlost. Aber es ist eine Zuchtkatze. Die ist Gold wert!“ Tati, ihre Brüder und Prosper stellten die Räder ebenfalls ab. Der Pudel blieb in seinem Körbchen, und sonderbarerweise muckste er sich nicht. Gewöhnlich attackierte er Katzen und bildete mit ihnen ein Knäuel, bevor ihn dann ein Krallenhieb traf.
„Ja“, bestätigte Tati. „Das ist keine Wald- und Wiesenkatze! Seht euch das blaue Langhaar an! Und das feine, gewölbte Köpfchen! Das ist eine blaue Perserkatze. Sie ist ziemlich erschöpft, aber krank ist sie bestimmt nicht! Sie hat ganz klare, kugelrunde, kupferfarbene Augen!“ „Für so ein Zuchttier zahlen Liebhaber Höchstpreise“, meinte Gérard. „Wer setzt bloß solche Schätze einfach auf die Straße?“ Er kniff die Augen und blickte über die Hügel jenseits des Dorfes. „Was ist das da für eine Fabrik?“ Henri steckte seine Nase in eine entfaltete Straßenkarte mit Erläuterungen. „Keine Siedlung, sondern die große Schweinefarm von Tulle-Martol“, gab er Auskunft. „Das siehst du schon an den großen Futtersilos.“ „Und was hat das Kätzchen davon?“ rief Micha. Da hopste die hübsche, blaue Persianerin Tati vom Arm und verschwand in einer Hecke. „Vielleicht gehört sie doch nach Tulle-Martol“, murmelte Henri. „Warum soll nicht einer auf'ner Schweinefarm ein Perserkätzchen besitzen? Die findet schon wieder heim! Komisch nur, daß alles hier so - so tot wirkt!“ „Eben hast du selbst noch gesagt, die Leute sind aus dem Haus“, erinnerte Prosper. „F-f-fah-ren wir weiter - raus aus diesem Totennest. Wie heißt es? Orr! Dankeschön.“ „Da ist ein Rasthaus!“ rief Micha freudig. Er hatte ein Schild erblickt. Schlagartig fielen alle häßlichen Eindrücke von ihm ab. 2. Einer dreht durch - und einer fällt vom Himmel Die Gruppe war in eine betonierte Landstraße eingemündet. Hier herrschte wieder Autoverkehr, Und bei Tulle-Martol schien es sogar einen kleinen Flugplatz zu geben: Dort landete eben eine kleine Sportmaschine. Das Rasthaus „Zur Platane“ wirkte auf die Radler wie eine Oase in der Wüste. „Tankstelle, Telefonzelle, alles da!“ triumphierte Micha. „Ich will aber kein Benzin trinken und kein Kabel essen“, murrte Gérard. „Mit 'ner lauwarmen Limo und Kartoffelchips wär ich schon zufrieden!“ Um so freudiger waren alle überrascht, als ihnen in der kühlen, sauberen Gaststube ein junges Wirtspaar entgegenlächelte. „Siehst du, Leon?“ rief die Frau- „Nicht jeder fährt heute vorbei! Wir kriegen doch noch Leben in die Bude!“ „Du hast immer recht, Lise!“ grinste der Mann. Er fügte hinzu: „Meine Frau hat den sechsten Sinn! Wenn ihr Saft trinken wollt - die erste Runde geht auf meine Rechnung! Setzt euch dort in die Ecke. Laßt den Pudel ruhig laufen, unsere beiden Doggen tun ihm nichts.“ Während Leon die Gläser brachte, bekam Loulou von Lise ein Schälchen Milch; er lebte sichtlich auf, denn die gutmütigen Doggen schnieften ihn freundlich an. Die Wirtsleute wollten von den jungen Gästen alles mögliche wissen. „Hört mal“, sagte die junge Wirtsfrau. „Habt ihr für heute noch ein bestimmtes Tagesziel? Wenn nicht, bleibt ihr am besten hier! Wir haben unterm Dach ein paar ausgebaute Kammern.“ „Ja! Guckt nicht so verwundert! Meine Frau meint das ernst!“ Leon lachte. „Zum Abendessen gibt's Hähnchen aus der Kühltruhe, na, das wird sich finden. Unsere Spezialität ist eigentlich Fisch. Aber damit kann ich euch heute leider nicht dienen!“ Aus Lises Gesicht schwand jäh das Lächeln. Scharf, wie durch gespitzte Zähne hindurch, zischte sie Leon ins Ohr: „Ganz unnötig, das zu erwähnen! Ganz unnötig!“ Micha starrte die Wirtin entgeistert an. Gérard gab ihm einen Rippenstoß, „Hast du einen Augenkrampf? Komm! Wir schieben die Räder hinters Haus.“ Micha gab sich einen Ruck und folgte den anderen. Draußen, im lustigen Geschwätz, vergaß er den kleinen Zwischenfall.
Als sie geduscht, die Wäsche gewechselt und sich wieder angezogen hatten, stopften Henri und Tati das schmutzige Zeug in die Waschmaschine. Prosper, Gérard und Micha gingen in den Garten. Dort baute Leon die Böcke für die Tischtennisplatte auf. „Ein kleines Spielchen vor dem Essen kann nichts schaden“, meinte er. „Den ganzen Tag habt ihr die Beine bewegt, jetzt könnt ihr auch die Arme schwingen!“ Prosper und Micha spürten nicht die geringste Müdigkeit mehr. Mit Eifer warfen sie sich in das Spiel, während Gérard als Zuschauer auf einem Hauklotz hockte. „Bälle, die keine Fußbälle sind“, brummte er, „sind für mich überhaupt keine Bälle!“ „D-d-drückeberger!“ rief Prosper. „Damit meinst du, d-d-daß du uns keinen Pi-pingpong-Ball zuwerfen willst!“ „Ich meine“, erwiderte Gérard düster, „daß einer von uns die Augen aufhalten muß! Hier ist schließlich was faul! So faul wie in der ganzen Gegend ... !“ Vor dem Abendessen zeigten sich Leon und Lise von der heitersten Seite, Die Hähnchen drehten sich im Grill, Prosper half beim Tischdecken, Leon sauste ab und zu hinaus, wenn ein Auto oder Laster an der Tankstelle hielt. Tati bereitete den Salat zu. Man hörte sie und die junge Wirtin in der Küche schwatzen und lachen, Als alle am Tisch in der Ecke saßen, hob Leon sein Glas. „Auf unsere jungen Freunde!“ prostete er. „Ich hätte nicht gedacht, daß wir's heut noch so gut treffen würden!“ rief Tati. „Und ich werde dafür sorgen, daß ihr's auch morgen gut trefft“, lächelte die Wirtin. „Wir werden euch samt euren Rädern auf einen Laster packen, damit ihr schneller zur nächsten Bahnstation kommt!“ „Prima!“, schrie Micha. „Das wär ja überhaupt Spitze!“ meinte Tati ebenso begeistert. „Aber da fällt mir ein: ich muß noch mit unserem Freund telefonieren, der uns in Brossac erwartet!“ Im gleichen Moment verdunkelte sich eines der Gaststubenfenster zum Garten. Es war noch ziemlich hell draußen, und obwohl in der Mitte des Tisches eine dicke Kerze brannte, bemerkten alle den Schatten. Entsetzt sprang Lise auf. „Anatoll“ schrie sie. „Was machst du da ... Die Hunde jaulten auf, Loulou bellte. Doch sowohl die beiden Doggen als auch der Pudel zogen sich ängstlich hinter die Theke zurück. Plötzlich sauste mit gewaltigem Schwung eine Gestalt zum Fenster herein, landete auf allen vieren - und drehte sich fauchend um. Im Kerzenschein erkannte man die aufgerissenen Augen des Wesens, den geweiteten Mund, die hochgezogene Oberlippe, die zwei Vorderzähne wie Fangzähne entblößten. „Miau ...“ klang es schaurig-rauh aus tiefer Kehle. „Miau-miauuu ...“ „Steh auf, steh auf, du bist betrunken!“ schrie Leon. „Das ist ja ...“ hauchte Tati, „ein Mensch ...“ Die Gestalt schwang sich herum und machte einen Buckel. .Hör auf, den Katzenmann zu spielen!“ rief Lise schrill. „Du hast wohl in der Zeitung von dem Katzenmann gelesen, dem Würger, der die Gegend unsicher machen soll ...“ Micha stellte sich auf die Eckbank: „Wer - wer ist denn das ... ?“ schluckte er. „Wer ist denn das ... ?“ „Der Aufseher unserer Fischteiche4 erwiderte Lise, am ganzen Leibe zitternd. „Wahrscheinlich hat er wieder eine Flasche Schnaps getrunken und rohe Fische gegessen ...“ Die Gestalt auf dem Boden schüttelte sich, blickte umher, als hätte sie geträumt, und erhob sich langsam und schwankend. Den Blick verständnislos auf die Gäste gerichtet, stammelte das Wesen, das nun ganz einwandfrei als hagerer, stoppelbärtiger Mann mit gefurchten Gesichtszügen zu erkennen war:
„Ich bin Anatol, der Aufseher bei den Teichen. Mir war wohl ein wenig übel. Eine kleine Schwäche. Kaum verwunderlich bei der Hitze ...“ „Geh in die Küche und nimm dir was zu essen!“ unterbrach ihn Leon schroff. Der Fischteich-Inspektor nickte verwirrt und schob gehorsam ab. „Er - er ist sonst ein verläßlicher Mann“, versuchte die Wirtin zu erklären. „Leider trinkt er zuviel! Das ist nicht gut bei der Hitze. Neuerdings bildet er sich ein, eine Katze zu sein ...“ „Ein Katzenmann, meinen Sieh verbesserte Gérard. „Das ist etwas anderes! Der Katzenmann ist eine Sagengestalt aus der Bretagne: Sie trägt einen enormen Katzenkopf auf den Schultern. Statt der Hände hat sie krallenbewehrte Pranken. Der Sage nach reißt sie nachts Menschen und Tiere.“ „Nein, nein“ stammelte Lise. „Das tut Anatol nicht. Er ist harmlos, das schwöre ich euch ...“ „Still doch!“ rief ihr der Wirt zu. „Eben noch waren wir froh, vergnügte junge Leute bei uns zu haben, und jetzt jagst du ihnen Furcht ein!“ „Irrtum“, sagte Gérard ungerührt. „Nicht Ihre Frau hat erklärt, was ein Katzenmann ist, sondern ich hab das getan.“ Hastig lenkte Leon ein: „Jetzt bekommt ihr Früchteeis, und Lise und ich trinken noch ein Gläschen Wein. Wir wollen uns doch die Stimmung nicht verderben!“ „Können wir die nächste Nachrichtenschau sehen?“ fragte Micha. „Wir haben keinen Fernseher“, erwiderte Lise rasch. „Und ihr werdet's nicht glauben: Unser Radio ist kaputt. Wir kommen so wenig dazu. Wir - wir haben so viel zu arbeiten ...“ „Aber ich darf doch mal kurz mit Brossac telefonieren?“ bat Tati. „Dort wartet ein Freund auf uns!“ Lise gab ihr eine Handvoll Münzen, und während Henri, Micha und Prosper schon ihr Eis löffelten, gingen Tati und Gérard hinaus. Die Telefonzelle war bei den Zapfsäulen. Gérard blickte zum Dach des Rasthauses hoch: „Kuck an - wunderschöne TV-Antenne!“ murmelte er. „Und die wollen keinen Fernsehapparat haben?“ „Du merkst auch alles!“ spottete Tati. „Hast du hinter der Theke die Zeitungen gesehen? Die verschweigen uns was!“ Sie fügte hinzu: „Aber auch du spielst den Geheimniskrämer! Worüber war der Polizist an der route 20 so entsetzt?“ „Los, in die Telefonzelle!“ drängte Gérard. „Das Rasthaus könnte große Ohren haben. - So. Hast du Superhirns Nummer im Kopf?“ „Nein, am Po“, sagte Tati. Sie zog ihr Notizbuch aus der Hosentasche. „Ganz tolle Adresse: Institut Scientifique et Technique, Brossac.“ Brossac lag am Atlantik, an der herrlichen Sonnenküste von Royan, unterhalb der Gironde. Der Vater ihres Freundes Superhirn war ein bedeutender Gelehrter, Superhirn hatte seine Anlagen und Neigungen geerbt. Und so war es kein Wunder, daß der Sohn die Ferien im wichtigsten Außenstützpunkt des Staatlichen Forschungsamtes verbringen durfte. Tati hatte den Hörer schon in der Hand. Doch sie beharrte auf ihrer Frage: „Gérard! Du verschweigst etwas! Warum war Loulou an der Nationalstraße 20 so komisch? Was hat den Polizisten geschockt?“ „Ein - ein Pfotenabdruck“, brummte Gérard düster. „Eingeprägte Krallenspuren am Straßenrand, allerdings größer als ein Elefantenfuß!“ Langsam hängte das Mädchen den Hörer wieder ein: „Dann - wäre der Würger in Katzengestalt keine bloße Sage ... ?“ „Die Sache gibt's seit dem Hundertjährigen Krieg“, antwortete Gérard. „Aber der Würger in Katzengestalt, der muß brandneu sein. Vergiß nicht, wir haben auf unserer Höhlentour tagelang weder Zeitung gelesen noch Radio gehört. Abends sind wir in den Jugendherbergen todmüde aus den Schuhen gekippt!“ Eine mehrköpfige, wandernde Feriengruppe - das wurde beiden klar - isoliert sich von der Umwelt ...
„Nerven behalten“, sagte Tati entschlossen „Leon und Lise spinnen nicht. Sie freuen sich einerseits über uns, andererseits sind sie dauernd am Durchdrehen, und dann werden sie tückisch!“ „Lügnerisch!“ setzte Gérard hinzu. „Denk an den Anatol, von dem sie tun, als wäre er nur ein versoffener Kauz!“ „Meinst du, der ist ein Würger? Einer, der nachts durchs Land springt und Menschen und Tiere anfällt?“ „Michas Monster aus der Höhle von Midirac kann er nicht gewesen sein“, entgegnete Gérard. „Aber da fällt mir noch so einiges ein ...“ Tati unterbrach: „Jedenfalls übernachten wir hier nicht. Mag auf den Straßen sonst was los sein: Ein Rasthaus, in dem einer den Katzenmann spielt, ist alles andere als eine romantische Bleibe!“ Als müsse sie an dem Gedanken ersticken, öffnete sie die Telefonzelle. „Superhirn muß uns einen Rat geben. Ich rufe ihn jetzt an!“ „Nicht nötig, bin schon da!“ ertönte eine wohlbekannte Stimme von draußen. „Den Rat gebe ich euch! Fernmündlicher Kontakt erübrigt sich!“ Zwischen Tankstelle und Telefonkabine stand - die schöne blaue Perserkatze aus Ort im Arm Superhirn!!! 3. Die Nacht im unheimlichen Rasthaus: Der Ansturm der glühenden Augen Gérard war sprachlos, als sei ihm plötzlich ein Fußball an den Kopf geflogen. Tati faßte sich an die Stirn, als traute sie ihren Augen nicht. Der spindeldürre Freund mit den riesigen, kreisrunden Brillengläsern, den sie an der Küste vermutet hatten, lachte die beiden fröhlich an. Dabei hörte er nicht auf, die „Perserin“ in seinem Arm zu streicheln. „Bist du - bist du ... „, stammelte Tati, „... vom Mars gefallen? irgendwo heimlich mit 'nem Raumschiff gelandet ... ?“ „Diesmal nicht!“ grinste Superhirn. „Ich muß euch enttäuschen: Außerirdische Abenteuer, Weltraum-Sensationen oder innerirdische Wesen sind nicht im Spiel!“ Leise, aber desto schärfer fügte er hinzu: „Bestimmte, unerklärliche Ereignisse auf der Erde werden uns bald schlimmer vorkommen als ein Krieg der Sterne!“ „Aber ...“ Tati rang nach Worten, „wie hast du uns gefunden und - und woher wußtest du, daß wir dich brauchen? Und ...“ „Keine Hexerei“, unterbrach Superhirn das fassungslose Mädchen. „Ich kannte eure Reiseroute und die Übernachtungsorte. So wußte ich, daß ihr vormittags auf der Nationalstraße 20 wart. Von daher kamen seit einigen Tagen brisante Polizeiberichte: Verkehrsgefährdung durch entlaufene Zirkustiere - Tiger, Löwen, Panther, Leoparden ...“ „Ach so“, rief Tati. „Das erklärt alles!“ „Meinst du?“ fragte der Spindeldürre junge in sonderbarem Ton. Gérard horchte auf: „Warum und wieso bist du eigentlich so schnell gekommen? Und woher hast du die blaue Perserkatze?“ „Katze“, antwortete Superhirn, „Katze ist das Stichwort! Allerdings glaube ich nicht an Zirkuskatzen - genausowenig, wie die Polizei daran glaubt. Die tut nämlich nur so. Und das wissen auch die Forscher in Brossac. Ich hab den Leiter, Professor Romilly, gebeten, euch über die Funkstreifen zu orten. Schon am Frühnachmittag wußten wir, daß ihr von der route 20 nach Westen abgebogen seid.“ „Und da bist du die 350 Kilometer im Olympia-Tempo hergespurtet?“ Tati lachte jetzt. Sie und die beiden Jungen standen vor der Telefonzelle, „Heee ...!“ fiel Gérard ein. „Südlich von Orr, diesem Totendorf, liegt doch die große Schweinefarm - Tulle-Martol, nicht wahr? Und da muß ein Flugplatz sein. Wir sahen vorhin eine Sportmaschine runtergehen!“
„Eins zu null für dich!“ feixte Superhirn. „Nur kam ich etwas später, und zwar mit einem Brossacer Institutsflugzeug. Doktor Lafitte, Ingenieur für Erkenntnis-Elektronik, Strahlenmediziner und Tierarzt, hat mich in Tulle abgesetzt. Er mußte weiter, nach Toulouse.“ „Ich verstehe immer noch nicht, wie ihr auf Ort und das Gasthaus Zur Platane gekommen seid!“ rief Tati ungeduldig. „Woher wußtest du, daß wir hier hocken?“ „Hat euch die Hitze schwerhörig gemacht?“ fragte Superhirn zurück. „Der Pilot ist mehrfach über euer Dach geflogen! Deine schreiend gelben Kopftücher und Michas rotes Hemd an der Wäscheleine waren nicht zu übersehen! Auch eure Fahrräder nicht! Das schnittige blaue Vehikel von Prosper mit seinem Klubstander erkenne ich mit geschlossenen Augen“ „Und wo fandest du die Perserkatze?“ forschte Gérard. „Die kennen wir nämlich aus Orr!“ „Genau von daher hab ich sie auch“, lächelte Superhirn. „Ein Arbeiter der Farm fuhr mich her; unterwegs klaubte ich das Tierchen auf. Ja, was meint ihr, wie lange ich schon hier herumstreiche?“ Er kraulte die schöne, kleine Katze zwischen den Öhrchen: „Sie macht den Eindruck, als hätte sie sich verlaufen, nicht?“ „Das Gefühl haben wir auch!“ rief Tati gedämpft. „Aber was uns betrifft: Wir sind in ein Gruselkabinett geraten - womit ich das Rasthaus meine! Die Wirtsleute sind schmierfreundlich, doch ganz plötzlich machen sie böse Augen und lügen. Und da ist noch ein Bursche, der einen Katzenmann oder einen Würger spielt. Wir müssen unbedingt weg, noch heute abend!“ Superhirn blickte aus seinen rätselhaften Eulenaugen auf die blaue Perserkatze in seinem Arm, als bilde sie eine lebende Warnung. „An eurer Stelle würde ich nicht gerade in der Nacht radeln! Außerdem habe ich den Vorfall mit eurem Katzenmann beobachtet. Der spielt nicht - der ist verrückt vor Angst! Oder er ist von einer Wahnvorstellung besessen. Ich stand an der Hauswand, als er ins Fenster sprang. Ich hörte das aufgeregte Geschrei. Wir gehen jetzt hinein, und ich sage, ich bin seit gestern per Autostopp auf eurer Spur. In Orr hat mich der Fahrer abgesetzt. Aber wartet! Die Perserkatze tu ich in meinen Rucksack. Gérard, du bringst sie in euer Quartier. Ich schätze, sie wird stundenlang schlafen.“ „Aber die Hunde?“ wandte Tati ein. „In diesen Tagen“, sagte Superhirn noch bedeutungsvoller, „haben alle Hunde Angst vor Katzen. Den meisten ist sogar das Bellen vergangen. Sie verkriechen sich lieber!“ „Loulou auch!“ erinnerte sich Gérard. „Ha, das stimmt!“ Während Gérard mit dem Rucksack die Treppe emporflitzte, wurde Superhirn in der Gaststube nach einem Moment verblüfften Schweigens begeistert empfangen. Auch die Wirtsleute schienen sich über den Zuwachs zu freuen. Lise beteuerte: „Ein Schlafgast mehr? Kein Problem. ich geh euch die dritte Kammer. Da sind zwei Liegen drin. Decken haben wir genug!“ Plötzlich stand der Fischteich-Inspektor mit verzerrtem Gesicht neben der Theke: „In die dritte Kammer will ich!“ krächzte er. „Ich geh heut nacht nicht in meine Hütte. Nicht um alles in der Welt! Die Bestien werden mich umbringen! Sie reißen die Latten vom Schuppendach und dringen in die Hütte ein ...!“ Wieder verlor der sonst so nette Wirt die Beherrschung: „Still!“ brüllte er. „Willst du uns für alle Ewigkeit das Geschäft verderben? Guck dich doch mal um! Wo sind die Bauern aus Orr, die sonst jeden Abend zum würfeln und Kartenspielen kamen und immer eine hübsche Zeche machten?“ „Die sitzen hinter verrammelten Türen und Fenstern!“ schrie Anatol. „Und wie ich euch kenne, verbarrikadiert ihr euch auch gleich!“ „Schon gut“, beschwichtigte ihn nun der Wirt. „Dann leg dich hier in der Gaststube auf die Bank. Hilf aber erst unseren jungen Gästen, sich oben einzurichten.“ Tati nahm den Pudel mit in die erste Dachstube gleich neben der Treppe. Dort sollte auch Micha übernachten. Gérard, der das Kätzchen bereits nach oben geschmuggelt hatte, winkte
Prosper in die zweite Kammer. Und als die dritte hergerichtet war, zog Superhirn mit Henri dort ein. Als Anatol die Stiege hinuntergetappt war, erschien Lise. Sie blieb auf der vorletzten Stufe stehen und blickte nur in den Gang. „Wie ist es?“ fragte sie, „Sollen wir morgen früh einen der Fernfahrer bitten, euch aufzuladen oder habt ihr eure Pläne geändert?“ „Danke schön“, erwiderte Superhirn. „Ich borge mir in Orr ein Rad und fahre mit den anderen. Haben Sie was dagegen, wenn wir noch ein Weilchen miteinander schwatzen?“ Die junge Wirtin lachte: „Aber nein! Schwatzt nur, soviel ihr wollt, uns macht das nichts! Im Gegenteil! Vergnügte Gäste haben wir gern. Und was der Anatol da gefaselt hat - das nehmt bitte nicht ernst!“ Scheinbar unbekümmert rief Superhirn: „Ach, woher denn! Wenn einer zu tief in die Flasche geguckt hat, spinnt er gern mal!“ Lise huschte die Stiege hinunter. „Ta-ta-tati“, verhaspelte sich Prosper aufgeregt. „Hast du Superhirn von unseren Erlebnissen erzählt?“ „Ja“, bestätigte das Mädchen. „Er sagte, das Stichwort für die unerklärlichen Ereignisse sei Katze!“ „Was durch das Verhalten des Fischteich-Inspektors ja bestätigt wurde“, warf Superhirn gelassen ein. „Ja, aber du weißt noch nicht, daß Micha in der Höhle von Midirac ein Monster erkannt haben will!“ Und Gérard und ein Polizist entdeckten an der Nationalstraße 20 den Krallenabdruck einer Katzenpfote in Elefantengröße!“ Aber auch das schien den spindeldürren Jungen nicht zu verblüffen. „Was macht Loulou?“ fragte er. „Er kuschelt sich auf Michas Liege“, berichtete Tati. „Und er tut so, als gäbe es keine Katze unter diesem Dach.“ „Das paßt“, meinte Superhirn. „Die Hunde verkriechen sich, um keiner Katze zu begegnen. Sogar die Jagdhunde wollen nicht mehr ins Revier, und selbst die besten Polizeihunde verweigern die Suche.“ „Die unheimliche Stille fiel uns sofort auf!“ bestätigte Henri. „Wir hörten nirgends Gebell, noch sahen wir weit und breit einen Hund. Erst wieder hier, im Rasthaus, die beiden verängstigten Doggen.“ „Kommt!“ flüsterte Superhirn. „Wir gehen alle in Henris und meine Kammer. Die liegt nicht so nahe an der Stiege ...“ Gérard, Tati und Micha setzten sich auf das eine, Henri, Superhirn und Prosper auf das andere Schlafgestell. „So“, sagte der spindeldürre Junge und rückte an seiner Brille. „Hier sind wir einigermaßen sicher. Die Wirtsleute werden sich kaum um uns kümmern. Erst recht nicht dieser Anatol vorausgesetzt, wir verhalten uns normal. Wenn sie etwas fürchten, so hat das mit uns nicht das geringste zu tun.“ „Wir haben auf dem Rest unserer Tagestour nicht nur keine Hunde gesehen, sondern - außer der verirrten Perserkatze - auch keine Katze!“ bemerkte Gérard. „Und nirgends auch nur das leiseste miau gehört!“ staunte Micha. „Kinder, das fällt mir jetzt erst auf. In Landgebieten wimmelt es doch immer von Katzen.“ Tati zuckte zusammen. „Das Kartoffelfeld!“ hauchte sie. „Es wehte kein Luftzug, aber das Kraut wogte wie im Sturm!“ Superhirn fuhr so schnell von der Liege hoch, daß er sich den Kopf an einem der Balken stieß: „Wo war das?“ ächzte er, sich den Kopf reibend. „Tati, wo war das ...?“ „Von hi-hi-hier aus - noch vor Orr“ hüstelte Prosper. „Ei-eine Stunde mit dem Rad.“
Superhirn stelzte trotz der schummrigen Beleuchtung zwischen den Liegen hin und her. „Mein Pilot hat nichts davon mitbekommen“, murmelte er. „Na ja, er hatte ja auch keine Spezialgeräte an Bord. Schön, dann muß ich's euch verraten: Er holte einen Videokopter aus Toulouse, den größten, den es in Europa gibt.“ „Was ist ein Videokopter?“ fragte Henri. „Ein in den USA entwickelter Rauschgiftpflanzen-Aufspür-Hubschrauber“, erwiderte Superhirn. „Und neuerdings: ein fliegendes Labor für raffinierteste Luftbild-Technik. Hätten wir den Videokopter heute schon zur Verfügung gehabt, so hätten seine Geräte über dem Kartoffelfeld wahrscheinlich registriert: ,Ortsfremde Eindringlinge unter dem tarnenden Kraut. Lebewesen, die sich verbergen! Tiere, zu Hunderten!' Mit einem Wort: Katzen!!!“ „Also doch - Monster?“ fragte Tati. „Fabelgestalten, halb Riesenkatze, halb Riesenmensch ...? Das ist doch purer Blödsinn! So was kann sich in Urwäldern verbergen, aber doch nicht auf einem Kartoffelacker!“ „Ich spreche von Hauskatzen!“ betonte Superhirn. „Von ganz normalen Bauernhof-Katzen, verwilderten Wald- und Wiesen-Katzen. Aber auch von entlaufenen Zuchtkatzen, wie dieser kleinen Perserin hier!“ Wieder war es einen Augenblick lang still. Micha wisperte: „Eben war ich noch zum Umfallen müde. Aber ich müßte mit Stroh ausgestopft sein, wenn ich jetzt schlafen könnte.“ Er schwieg jäh. In der Tiefe des Hauses erklang ein mörderischer Schrei. Es war die Stimme des FischteichInspektors, die da gellte: „Sie kommen! Sie kommen!“ Man hörte auch Leon und Lise, die den Mann offenbar zu beruhigen versuchten. Aber alles ging in einem lauter und lauter werdenden Knattern, Brummen und Brausen unter. Durch das schräge Dachfenster sahen die Freunde einen kompakten Schatten am Nachthimmel, der mit blinkenden Lichtern auf das Rasthaus zugeflogen kam. „Ein Hubschrauber!“ erkannte Henri. „Superhirn, ist das schon der Videokopter, von dem du gesprochen hast?“ „Leider nein“, sagte Superhirn. „Es ist eine kleine Maschine - Försterei oder Polizei. Aber kommt. Was ist hinter dieser Tür?“ „Ein Gerümpelboden“, erwiderte Gérard. Tati und die fünf Jungen drängten durch die Brettertür und tasteten nach den Ausstellfenstern in der Dachschräge. Prosper schimpfte. Er war über einen alten Spielautomaten gestolpert. Ping, machte der Apparat, krrring. „Mensch, willst du uns Anatol und die Wirtsleute auf den Hals hetzen?“ zischte Henri. „Tati ... „, rief Micha gedämpft, „was brüllt da draußen so?“ „Auf jeden Fall keine Katze!“ entgegnete das Mädchen ärgerlich. „Wahrscheinlich die Rinder auf den Weiden.“ Es gab drei Schrägfenster nach Osten, je zwei der Gefährten balancierten davor auf Holzkisten und verbeulten Metallbehältern. Sie spähten in die Richtung, in der der kleine BehördenHubschrauber jetzt knatterte. „Was will er denn?“ wunderte sich Prosper. „Da ist doch nichts ...!“ Der Hubschrauber ging in die Kurve, schwenkte wieder zurück und schaltete seinen Suchscheinwerfer an. jetzt sah man, was da unten war: Aus östlicher Richtung, von Ort her, bewegten sich zahllose grünliche Doppelpunkte: Katzenaugen! Je nachdem, in welchem Winkel der schaukelnde Scheinwerfer über sie hinfuhr, leuchteten sie auf, intensiv strahlend wie von Gehirnbatterien gespeist, grün, rund, starr - oder zuckend, gläsern schillernd, verschwimmend am Rande des Lichtkegels. immer wieder tanzten rötliche Augen dazwischen, wie um das höllische Gewoge noch gespenstischer zu machen.
„Die Katzenflut aus den Kartoffelfeldern“ ächzte Superhirn. „Ich ahnte es. Im Institut Brossac trafen nämlich ungenaue Meldungen ein. Man vermutete die Ansammlung östlich der Straße 20! Die Biester verstecken sich tagsüber wie Buschkrieger. Nur bei Nacht ziehen sie weiter.“ Der Hubschrauber drehte ab. Das knatternde Geräusch entfernte sich. Wieder sah man nichts als Schwärze. Henri wollte es nicht fassen: „Die Katzen verstecken sich tagsüber - und in solchen Massen? Katzen sind Einzelgänger. und sie streunen wohl nachts, aber deshalb verbergen sie sich noch lange nicht am Tage.“ „Haben sie - die Tollwut?“ fragte Tati. „Auf keinen Fall“, erwiderte Superhirn. „Obwohl der Wandertrieb darauf schließen ließe. Aber man hat seit zwei Jahren schon kleine Zusammenrottungen beobachtet, wie mir Lafitte sagte, der mich herflog. Erst dachte man, die Katzen hätten sich verlaufen. Bauern haben solche Minipulks abgeschossen. Sie haben einzelne Mitläufer lebend gefangen und untersuchen lassen. Ergebnis: gleich Null. Seit zehn Tagen, ach, seit Wochen und Monaten häufen sich nun die Nachrichten von immer größeren Katzenwanderungen, darunter widersprüchliche, ja haarsträubend ungenaue Angaben. manches beruht natürlich auf dummen Gerüchten.“ „Aber das da draußen doch wohl nicht!“ widersprach Tati empört. Von Tulle-Martol hatte sich inzwischen ein zweiter Klein-Hubschrauber genähert. Er flog so tief, daß der Wind seiner Rotorenflügel die hohen Lebensbaumhecken bog und die Linden, Platanen und Ranken zauste. Wieder erschimmerte im Lichtkegel das Meer von Katzenaugen. Doch der scharfe Luftzug, die blendende Heiligkeit und das Knattern trieben die Tiere nicht auseinander. Im Gegenteil: Es schien sie eher noch rasender zu machen. Sie warfen sich gegen die Hindernisse, die ihnen im Wege standen: Zäune, Balken, Feld- und Gartengeräte, Holzstapel. und sie kletterten übereinander her wie Ameisen. Da ist ein Monster! wollte Micha schreien. Ihm versagte die Stimme. Was da aber so nahe leuchtete, war das Augenpaar einer der vielen Wanderkatzen. Sie saß auf der Ruine der Bruchsteinmauer. „Superhirn“, rief Tati, „mach dein Fenster dicht! Es sind Spaliere am Haus! Die Biester kommen raufgeklettert!“ Gérard plumpste geräuschvoll von seinem Kanister. „Hi-hi-hilfe!“ schluckte Prosper. „Mich ha-hat was gestreift!“ „Das war ich!“ bibberte Micha. „Hört, im Erdgeschoß sind sie schon! Sie fallen über Leon und Lise her!“ „Quatsch!“ rief Henri. „Leon und Lise beruhigen Anatol. Der tobt vor Angst!“ Im Haus kehrte urplötzlich Ruhe ein. Dafür waren Hof und Garten in regelrechte Explosionswellen von Katzenschreien gehüllt. „Himmel!“ stöhnte Tati. „Manche kreischen ja wie kleine Kinde! Ich halte das nicht aus, ich...“ Sie besann sich: „Was macht Loulou? Micha, guck sofort mal nach!“ „Und ich seh nach der Perserkatze!“ kam Superhirns Stimme aus der Ecke des Dachbodens. Alle sechs strebten sie dann über den Flur. Micha, Tati und Henri liefen in die erste, Superhirn, Prosper und Gérard in die dritte Kammer. Im Schummerlicht fand Superhirn die kleine Perserkatze, die noch vor kurzem friedlich auf dem leeren Rucksack geruht hatte. „Sie - sie läuft mit dem Kopf gegen die Wand“, entsetzte sich Prosper. „Immerfort gegen die Wand!“ „Und zwar nach Westen!“ wußte Superhirn, „Der Wandertrieb der Meute hat sie aufgerüttelt!“ Er versuchte, das Tierchen zu beruhigen. Die drei aus der ersten Kammer tappten herein. „Loulou hat sich unter meiner Liege verkrochen“, meldete Tati. „Er winselt furchtsam, aber verrückt spielt er nicht!“ Henri blickte zum Fenster nach der anderen Seite hinaus.
„ich sehe eine Flut von weißen, gescheckten, gestromten und sonstwie gemusterten Katzenleibern!“ rief er. „Natürlich sind auch schwarze dabei. Aber ich erkenne sie nur, wenn die Scheinwerfer über sie hinweghuschen - .. Sie ziehen weiter. Sie schreien auch nicht mehr.“ Die kleine Perserin hatte sich abgeregt. Wie ohnmächtig lag sie auf dem leeren Rucksack. von der Stiege her schrillte Lises Stimme: „Seid ihr noch wach? Haben euch die Hubschrauber gestört?“ Schnell steckte Superhirn seinen Kopf auf den Gang hinaus: „Wie? Die Hubschrauber?“ fragte er in arglosem Ton zurück. „Ach, woher! War da nicht auch ein Katzenkonzert? Na ja, dafür sind wir hier auf dem Lande!“ „Dann ist ja alles okay!“ rief Lise erleichtert. Sie tappte die Stiege hinunter. „ob sie uns glaubt?“ zweifelte Micha. „Nur zu gern, hoffe ich“, sagte Superhirn. „Die Leutchen haben fast soviel Angst vor unserer Angst - wie sie Angst vor den Katzen haben!“ „Das ist mir zu hoch“, murmelte Prosper. „Setzt euch und hört zu!“ bat Superhirn. „Landbewohner fürchten nichts so sehr, als daß ihre Häuser, Höfe und Ställe in Verruf kommen. Kapiert? Sie sind einerseits immer noch ein bißchen abergläubisch, andererseits sind sie realistisch, Was ihren Geschäften schaden könne, das spielen sie herunter!“ „Völlig klar!“ pflichtete Gérard bei. „Außerdem will niemand was mit der Polizei oder dem Amtsarzt zu tun haben.“ „A-aber, was zum Teu-teufel, ist mit den Katzen los?“ fragte Prosper. „Wenn ich das wüßte, wär ich schlauer als das Forschungsinstitut in Brossac!“ erwiderte Superhirn. „Ich sagte schon, die Wanderkatzen gab's zuerst nur in kleinen Gruppen. Wo aber liegt der Grund dafür, daß sich jetzt so viele auf die Socken machen?“ „Und die Monster!“ fuhr Micha dazwischen. „Das Monster in der Höhle von Midirac muß eine Riesenkatze gewesen sein, Sie hatte auch grüne Augen - aber so groß wie Handteller!“ „Und der Pfotenabdruck an der Straße 20 gehörte auch keinem Maikätzchen“ erinnerte Gérard. „Irre ich mich, oder haben wir's mit zwei grausigen Dingen zu tun?“ „Scheint so, leider ja“, erwiderte Superhirn gepreßt. „Einerseits werden Monsterkatzen gemeldet, andererseits beobachtet man Massenwanderungen normaler Katzen aller Arten!“ „Aber Katzen sind keine Lemminge“, sagte Tati. „Von Lemmingen, die wie Hamster aussehen, weiß man, daß sie sich aus rätselhaften Gründen zusammenrotten, ganze Landstriche durchqueren - und sich schließlich ins Meer stürzen1 Katzen laufen nie in Rudeln. Manche Edelkatze verläßt die Wohnung ihrer Besitzer nur im Deckelkorb: Und die Bauernhof-Katzen entfernen sich immer nur ein paar Kilometer von zu Hause. Darüber hinaus finden sie selten zurück. Auch verwilderte, herrenlose Katzen haben ihr festes Revier!“ „Mir sind die roten Augen aufgefallen“, erinnerte sich Micha. „Seit wann haben Katzen rote Augen, als kämen sie aus der Hölle?“ „Die roten Augen sind nichts Teuflisches“, erklärte Henri. „Unsere Normalkatzen haben eine Schicht im Augenhintergrund, die bei Dunkelheit grün widerscheint, wenn ein Lichtstrahl sie streift. Bei manchen fremdrassigen Katzen - Siamesen, zum Beispiel - reflektiert das Auge rot. Ebenso bei Albinos.“ Superhirn stand am Fenster und lauschte. „Es ist alles still“, bemerkte er. „Die Katzenarmee ist weiter nach Westen gezogen, und die Beobachtungshubschrauber haben abgedreht. Ich schlage vor, wir hören uns noch die Rundfunknachrichten an und hauen uns dann aufs Ohr.“ „Fehlanzeige!“ sagte Gérard düster. „In meinem Transistorgerät fehlt die Batterie. Es muß sie jemand herausgenommen haben.“ „Wa-wa-was?“ rief Prosper. „Und ich wundere mich, daß meins auch nicht funktioniert!“
„Wenn's jetzt überhaupt noch was gäbe, das mir nicht gefiele“, sagte Tati ärgerlich, „so wär's dies! Wer - außer Leon, Lise oder Anatol - sollte die Batterien geklaut haben? Und aus welchem Grund? Damit wir in den Nachrichten nichts von den Katzen hören?“ „Genau!“ erwiderte Superhirn. „Ich schätze aber, es waren die Wirtsleute. Der Katzenmann ist ja pausenlos am Durchdrehen. So, und nun ab mit euch, in die Falle! Wir haben einen schweren Tag vor uns.“ Als sich Tati, Micha, Prosper und Gérard zurückgezogen hatten, überzeugte sich Superhirn noch einmal, daß die kleine Perserkatze friedlich schlief. Dann zog er einen Gegenstand aus der Tasche, der kaum größer war als ein Feuerzeug. „Das ist mein Transistor“, sagte er zu Henri, „und an dem hat sich niemand zu schaffen gemacht!“ Die beiden jungen setzten sich nebeneinander auf eine der Liegen und lauschten. Nach etwa zwanzig Minuten wurde die Musik im Sender „F 1“ unterbrochen. Es ertönte die gleichgültigfreundliche Stimme der Ansagerin: „Aus gegebenem Anlaß bringen wir die neuesten Zwischenmeldungen. Wie wir soeben von zuständigen Behörden erfahren, haben die vereinzelten Katzenwanderungen normale Ursachen. Diese Wanderungen entstehen durch Bauarbeiten an Wohnsiedlungen, Umgehungsstraßen und Autobahnabschnitten, Sie sind demnach eine kurzfristige, baubiologische Erscheinung, die nichts Beunruhigendes in sich birgt.“ „Schalt das Ding ab!“ stöhnte Henri. „Wie kann ein kleiner Apparat einen so großen Mist verzapfen?“ „Still!“ sagte Superhirn. „Hören wir die Meldung bis zum Ende.“ „Die Pariser Tierärztliche Hochschule erklärt dazu“, fuhr die Sprecherin fort, „daß es keine Katzenkrankheit gibt, die eine Massenwanderung auslöst. Erst recht ist der Gedanke an eine sprunghafte Größenveränderung oder Mischgestaltigkeit als gemeingefährlicher Witz anzusehen. Im Einvernehmen mit allen zuständigen Experten werden Gemeinden und Privatpersonen aufgefordert, weder Fallen zu stellen, noch von Schußwaffen Gebrauch zu machen. Die Eindämmung des Phänomens hat das Staatliche Forschungsamt mit seinen zahlreichen Instituten übernommen.“ Superhirn schaltete den Transistor ab. „Klar, die spielen das herunter! Bau-Biologie - haha! Die Katzen fliehen in Massen vor Baggern, Beton, Chemie! Und die Zuchtrassen-Katzen? Bei denen wird 'ne Umgehungsstraße durch Frauchens Salon gelegt, ja?“ „Die machen aus einem Weltuntergang ein Kinderfest.“ murmelte Henri. Beide horchten auf, denn es bummerte wie rasend an die Tür. Tati rief von draußen: „Macht schnell auf! Micha verwandelt sich in eine Katze!“ Der jüngste der Gruppe saß auf einem Balken. Das heißt, er kniete auf einer Längsstütze und hielt sich mit den Händen an zwei Schräghölzern fest. Durch diese blickte er gähnend hindurch. Gérard hatte seine Taschenlampe auf ihn gerichtet. „Erst dachte ich, er macht Quatsch“, berichtete Tati, am ganzen Leibe bebend, „aber er ist nicht ansprechbar. Er ist so wenig bei Bewußtsein wie ein Schlafwandler!“ „Ha-ha-hat er miaut?“ stammelte Prosper. „Sonst gilt die Sache für dich wohl nicht, was?“ brummte Gérard verächtlich. „Passen wir nur auf, daß er nicht runtersaust!“ Nach drei Minuten war der Anfall vorüber. Alle Hände streckten sich nach Micha aus, als er die Augen weit öffnete und zu der jämmerlichen Frage ansetzte: „Was - was ist denn ... ?“ Geschwister und Freunde betteten ihn auf die Liege. 4. Monster frißt Kühe? Noch ein Anfall, neue Ängste.
„Ich hab schrecklich geträumt ...“, hauchte er nur noch. Und schon war er eingeschlafen. „Der Fischteich-Inspektor hat bestimmt schlimmer durchgedreht“, überlegte Superhirn. „Und Micha mag wirklich nur geträumt haben, Trotzdem, hier liegt noch mehr vor! Vielleicht 'ne Art von Gehirnwäsche?“ „Versuchen wir, wenigstens noch ein Stündchen zu schlafen“, gähnte Gérard. Wenn draußen auf dem Gang ein Kater Fußball spielt, wißt ihr, daß es mich erwischt hat.“ Doch in dieser Nacht geschah nichts mehr. Die Gefährten schliefen unruhig, außer Micha, der die Augen erst aufschlug, als die anderen bereits gewaschen und angezogen waren. Das Perserkätzchen bekam etwas Milch in die Kammer geschmuggelt. Loulou knupperte ein paar Kekse. Der Hund zeigte keine Scheu mehr vor der Katze, und die kleine Perserin guckte zutraulich, ja beinahe munter. Micha hatte nicht die blasseste Erinnerung an sein Traum-Erlebnis. Superhirn schummelte das Kätzchen aus dem Haus und nahm es mit in die Telefonzelle. Dort führte er einige Gespräche: Eines mit dem Institut in Brossac, eines mit der Schweinefarm von Tulle-Martol, die den Flugplatz besaß, und eines mit der Polizeistation von Massaret. Sodann rief er eine Nummer an, die er auf einem blauen Seidenbändchen entdeckt hatte, das den Gefährten entgangen war: Es handelte sich um das Halsband der blauen Perserkatze. Superhirn sprach mit einer alten Dame. Sie wohnte in Felletin, außerhalb von Massaret, und sie war überglücklich, vom Verbleib des kleinen Schatzes zu hören. Superhirn stellte ein paar Fragen. Dabei tauchte zum erstenmal ein Verdacht in ihm auf, der später zur Lösung des schaurigen Rätsels führen sollte. Doch es war eher ein fernes Wetterleuchten als ein Erkenntnisblitz. „Die Katze - wie heißt sie? Minou? - bekommen Sie in einigen Tagen wieder, sobald sie sich erholt hat und gründlich untersucht worden ist.“ sagte Superhirn zu der alten Dame. Henri trat aus dem Haus und berichtete: „Die Wirtsleute tun, als sei überhaupt nichts los gewesen! Aber ich habe gesehen, wie sie im Garten rumgeschlichen sind, um die Schäden der Katzeninvasion zu prüfen. Lise sagte: Katzen sind keine Trampeltiere. Das geht ja noch.“ „Womit sie recht hat“, murmelte Superhirn. „Hier, nimm die Perserkatze, geh mit ihr auf und ab. Du hast sie eben erst gefunden, verstehst du? Leon und Lise brauchen nicht zu wissen, daß sie über Nacht im Haus war.“ Henri hatte schon gefrühstückt. Superhirn setzte sich zu den anderen in die Gaststube. Er weihte sie in seine Telefonate ein und berichtete hastig von der Abmachung mit dem Freund. „Was brummt und knattert da dauernd über dem Gelände?“ fragte Gérard. „Hubschrauber, ja! offenbar sehr viele! Verfolgen die die Wanderkatzen?“ Lise trat an den Tisch, um abzuräumen: „Auf der Straße wimmelt es von Polizei-, Militär- und von Veterinärfahrzeugen. ja, und wie kommt ihr nun weiter?“ „Wird sich finden“, meinte Superhirn ungerührt. Er trank mit Behagen seinen Kakao aus. Leon kam herein: „Die - äh - die scheinen irgendwas zu vermessen. Fußtrupps mit kofferartigen Geräten und merkwürdigen Stäben. Sie durchstreifen Felder und Wiesen.“ Verstohlen blickten Tati und die anderen auf Superhirn. „Köstlich, der Kakao!“ sagte der Spindeldürre munter. Tati erhob sich: „Ich seh mal nach Henri. Und ihr tragt das Gepäck schon zu den Rädern. Habt ihr auch nichts in den Kammern vergessen?“ Alle waren aufgestanden. Das Mädchen wollte den Raum zur Straßenseite verlassen, die jungen wandten sich zur Gartentür. Da erschien ein baumlanger Mann im Haupteingang. Er trug eine Fliegerkombination: „ist hier mein Freund Marcel, genannt Superhirn?“ fragte er forsch. „Ingenieur Lafitte!“ strahlte Superhirn. „Schneller, als ich hoffte! Hat Sie 'n Zauberteppich hergetragen?“
„Nein, der Videokopter!“ grinste Lafitte. „Deine Telefon-Durchsagen wurden mir über Funk gemeldet. ich sehe, du hast deine Freunde gefunden! Macht euch fertig. Ich nehme euch allesamt mit nach Brossac.“ „A-a-aber wir haben Fahr-fahrräder.“ rief Prosper. „Außerdem sind wir sechs Typen.“ „Der Videokopter ist ein Großraum-Hubschrauber“, sagte Lafitte. „Entschuldigen Sie, Herr - Herr Ingenieur“, warf Leon ein. „Ist - hier etwas Besonderes? Ich meine: Radioaktivität - oder etwas Ähnliches?“ Lafitte musterte ihn scharf. „Sie meinen die Katzen, Herr Wirt?!“ sagte er unverblümt. „Warum drücken Sie sich um die Frage herum? Glauben Sie, so kommen unsere Forscher-Teams weiter?“ „Ihre Forscher-Teams?“ rief Lise außer sich. Sie griff nach einem Zeitungsblatt hinter der Theke: „Wir haben es den Kindern nicht gezeigt, wie wir's überhaupt keinem vor die Nase hielten, der bei uns Rast machte. Es ist das Bauern-Echo von vorgestern. Hier: Monsterkatze tötet Kühe!“ Lafitte runzelte die Stirn: „Haben Sie je ein solches Biest dabei beobachtet?“ „Aber was ist mit den Katzenheeren, die sich tagsüber auf Feldern und in Büschen verbergen? Nachts ziehen sie weiter und überfallen Campingplätze! Tausende! Hunderttausende! Millionen!“ „Unsinn!. unterbrach Lafitte. „Eine ziemlich leichtfertige Übertreibung. Gute Frau, wir wissen genau, wie viele Tiere in der Nacht hier vorbeigezogen sind. Warum - meinen Sie - waren Hubschrauber in der Luft, die die ganze Gegend abgeleuchtet haben?“ „Hat man schon eine einzige dieser Katzen auf Krankheiten untersucht?“ fragte Leon anklagend. „Nicht erst hier und heute“, versetzte Lafitte. „Ich bin seit Jahr und Tag im Einsatz, auch als Strahlenmediziner und Tierarzt. Wie die Regierung sagt: Es handelt sich bei diesen Wanderkatzen um Opfer der Industrie, des Städte- und Straßenbaus. Eine Seuche, etwa eine ansteckende, ist völlig auszuschließen! Völlig!“ Jetzt spielte Leon seinen Trumpf aus. Der Ärger riß ihn mit, und so sagte er, was er lieber zurückgehalten hätte: „Soso! Alles ist Quatsch, he? Aber warum bildet sich mein Fischteich-Inspektor Anatol ein, ein Katzenmann zu sein? ja, Sie hören recht: Ein Katzenmann! Eben glaubt man noch, er sei ganz normal - im nächsten Moment kriecht er auf allen vieren am Boden, wühlt sich ins Erdreich ein - und vorgestern kam er sogar ...“ „Still!“ schrie Lise. „Ich halte das nicht aus!“ „Aber der Herr glaubt uns ja sowieso nicht!“ brüllte Leon. „Warum soll ich ihm also nicht sagen, daß Anatol mit einer Maus zwischen den Zähnen durch den Garten kroch?“ „Augenblick ma1!“ rief Lafitte. „Den Mann will ich sehen! Wo ist er? Holen Sie ihn her!“ Die Wirtsleute rannten in den Garten. Lafitte wandte sich lachend an Superhirn, Tati und die anderen. Henri, das Kätzchen auf dem Arm, lugte zur Vordertür herein. .Es ist ein tief in der Menschennatur verwurzelter Trieb, Tiere nachzuahmen“, sagte Lafitte. „Neigt einer noch dazu, gern den Narren zu spielen, übertreibt der andere diesen Trick gleich ins Geschmacklose!“ Plötzlich verzog er das Gesicht. Seine Augen wurden schmal Micha lachte, doch Tati rief entsetzt: „Vorsicht! Er kriegt einen Anfall!“ Auch Superhirn wich zurück. Die Veränderung, die mit Lafitte vorging, war allzu furchtbar. Die Doggen und der Pudel verkrochen sich hinter der Theke. Der Ingenieur machte einen Katzenbuckel. „Miau!“ heulte er. Er „lefzte“ die Oberlippe, sprang mit Händen und Füßen zugleich auf den festen Frühstückstisch - und fraß, um sich stierend, einen Käserest. Als Gérard auf ihn zustürzte,
hob er die Hand wie zum Prankenschlag. Dann schlappte er mit weit heraushängender Zunge ein paar Tropfen vergossener Milch. „Wa-wa-wasser!“ stammelte Prosper. „Ein kalter Guß bringt ihn wieder zu sich!“ Doch schon sprang Lafitte behend vom Tisch, klopfte seine Hände ab und sah die Freunde der Reihe nach an. Er schien seinen „Katzenanfall“ vergessen zu haben. Als Leon und Lise hereinkamen, um zu berichten, Anatol sei im Augenblick nicht greifbar, kümmerte ihn das gar nicht. „Tja, wir müssen jetzt los!“ rief er entschlossen. „Lassen Sie sich nicht beirren: Die Wanderkatzen bringen wir wieder auf den rechten Weg! Und was die Monster betrifft: Hier dürfte es sich um eine Abart von Wilddieben handeln! Räuberische Viehtöter, die die allgemeine Furcht ausnützen!“ Zehn Minuten später fuhr Lafitte mit Superhirn und dem Perserkätzchen in seinem Jeep zum Flugplatz Tulle-Martol. Tati mit Loulou an der Lenkstange und die jungen folgten auf ihren Rädern. Im Jeep fragte Lafitte: „Wo hast du die Perserkatze her, Superhirn?“ „Hier gefunden. Sie konnte wohl mit den Wanderkatzen nicht mehr mithalten“, erwiderte der junge. „Mir ist es überhaupt schleierhaft, weshalb ausgerechnet Straßenbauarbeiten solche Schoß- und Zimmertierchen in die Flucht treiben sollen? Die sind doch naturentwöhnt und in bester Hut!“ „Der Fluchtgrund kann auch eine Erschütterung im Erdinnern sein“, entgegnete der Ingenieur, womit er endlich seine eigenen Zweifel zugab. „Das mögen sogar Zimmerkatzen spüren. Sie entwischen und schließen sich den gewöhnlichen Katzen an.“ Der Jeep hatte den Flugplatz erreicht. Zur Linken zogen sich die Flachbauten der Schweinezucht von Tulle-Martol nahezu endlos in die Länge. Wie überdicke, übergroße Fässer ragten die Futtersilos mit mattem Aluminiumglanz in den Himmel. Lafitte steuerte auf den mächtigen weißen Videokopter zu, Es war eine Spezialausführung der Type Bertol 216 C mit zwei Turbinen. Außer den Cockpitfenstern sah man acht seitliche Bullaugen. „So, da ist das Ding. Und wie ich sehe, ist ein Teil des Krisenstabs schon hier!“ Lafitte parkte neben mehreren Autos: „Der schwarze Staatswagen gehört dem Gesundheitsminister! Warte hier auf deine Freunde, Superhirn. Ich habe mit den Herren einiges zu besprechen.“ Er schritt auf eine Gruppe diskutierender Männer zu. Superhirn - mit dem bedürfnislosen, nichts als menschliche Wärme suchenden Kätzchen im Arm - äugte durch seine kreisrunde Brille. Bald kamen Tati und die Freunde angestrampelt. „Da sollen wir rein?“ schnaufte Gérard, den Videokopter betrachtend. „Ein Speisewagen wär mir lieber.“ „Was ist das da für ein Zeichen am Heck?“ wollte Micha wissen. „Ein Piktogramm“, belehrte ihn Henri. „Es stellt ein Molekülmodell dar, das Symbol für Staatliches Forschungsamt.“ „Kinder, au-au-auf der Straße bewegt sich so ziemlich alles, was der Polizist uns ge-gestern angekündigt hat!“ staunte Prosper. „Sogar Wa-wasserwerfer! Auch 'n Bus mit Leuten vom vom ...“ „... Internationalen Fonds für Tierschutz“, vollendete Tati sein Gestammel. „Die wachen wohl darüber, daß den Wanderkatzen nichts geschieht. Möchte wissen, ob sie Monster auch so eifrig behüten würden, falls das kein Hirngespinst ist. Mir scheint, die Experten sind genauso verwirrt wie die Wanderkatzen!“ „Womit du recht hast, teures Mädchen!“ grinste Superhirn. „Wenn man gesehen hat, wie Lafitte den Katzenmann gespielt hat?“ rief Tati, die sich veralbert fühlte. „Und der soll uns mit dem Videokopter nach Brossac fliegen? Ich danke. Was machen wir, wenn er in der Luft wieder so 'nen Anfall kriegt? Dann schrammen wir mit der Maschine ab und schreien im Chor miau!“
„Die Katzen haben ihn verhext“, murmelte Prosper kopfschüttelnd. „Wir müssen dafür sorgen, daß der Videokopter von einem anderen Piloten geflogen wird!“ sagte Superhirn ernst. „Meinst du, das hätte ich nicht schon bedacht.“ Er wandte sich an Prosper: „Daß die Katzen ihn verhext haben, kannst du getrost vergessen. Aber daß die Katzen selber behext sind, dessen bin ich sicher!“ Tati, ihre Brüder sowie Prosper und Gérard lehnten die Räder an einen Zaun. Tati nahm den wieder sehr verängstigten Pudel aus dem Korb, und Superhirn übergab Gérard das Perserkätzchen. „Ich spreche mit dem Gesundheitsminister“, erklärte der spindeldürre Junge. Er rückte entschlossen an seiner Brille. Im gleichen Augenblick hielt mit quietschenden Reifen ein schnittiger Sportwagen neben der Gruppe. Die Gefährten trauten ihren Augen nicht, als sie einen Mann im hellblauen Tropenfrack mit weißen Aufschlägen herausspringen sahen, schlank, elastisch, das dunkle Haar modisch frisiert. Man hätte ihn mit einem Schlagzeuger verwechseln können. Lafitte kam gelaufen: „Hallo, Doktor Renard! Sie tragen ja das passende Kostüm für unseren Katzenzirkus!“ Der junge Wissenschaftler warf bedauernd die Arme hoch: „Tut mir leid, ich komme geradenwegs von einer Party aus Nizza. Das Telegramm des Krisenstabes lautete: Sofort nach Tulle-Martol, weil Gutachten gebraucht. Die Nachricht hatte sowieso Verspätung, denn sie ging erst über meinen Wohnort Felletin, und ich nahm mir nicht die Zeit, dort anzuhalten!“ „Wo hab ich Felletin schon mal gehört?“ murmelte Superhirn. „Felletin - Felletin ... Ach, richtig! Das ist die Adresse, die auf dem Halsband der Perserkatze steht!“ „Hast du das Halsband in der Tasche?“ flüsterte Henri ihm zu. „Ja? Dann sag ich dir noch was! In Felletin ist eine Düngermittelfabrik! Die stellt auch Katzenfutter in Dosen her. Das liest man doch in der ganzen Gegend auf Plakaten: Soll dein Kätzchen lange leben, mußt du stets MIAUL ihm geben! und darunter: MIAUL - feinste Katzennahrung aus Felletin.“ „Und der schicke Doktor wohnt dort“ nickte Superhirn gedankenvoll. Aus dem Hubschrauber kletterte eine Gestalt in weißem Labor-Dreß, eine junge Frau, die kaum älter aussah als Tati. Lafitte redete sie munter mit „Svenskafröken“ an: „Unser schwedischer Gast, Fräulein Hammerstroem, Aber Vorsicht: Sie ist bereits Professorin! Also, unser Doktor muß einen Kittel kriegen. und die Jugendgruppe fliegt mit! Sie war heute nacht im Zentrum des Schreckens! Seid ihr komplett, Freunde? Dann her mit euch und den Rädern. Der Pilot ist schon an Bord, wir starten gleich ... l“ Die Gefährten atmeten auf. Sie waren der Sorge enthoben, von Lafitte selber geflogen zu werden. Kollegen von den Klein-Hubschraubern halfen, die Fahrräder zu verstauen. Micha kletterte als erster die kurze Gangway hoch. Er warf einen Blick ins innere der Maschine, taumelte und rief gellend: „Katzen, Tati! Nichts als Katzen! Und eine ganz große!“ 5. Ein Hexer-Virus - und ein „Hexer“? Die „ganz große Katze“ erwies sich als der Videokopter-Pilot Richard Franc. Micha hatte vor Aufregung den Schatten falsch gedeutet. Im übrigen hatte er richtig gesehen. in der riesigen Maschine standen weitmaschige Körbe, aus denen träge Zuchtrassen-Exemplare lugten: türkische Katzen, Perser-, Khmer-, Burma, Havanna-, Manx-, Rex, Abessinier- und Siamkatzen. Die verschlossenen Körbe, aus denen ein vielhundertstimmiges Miauen und Maunzen drang, wurden vorsichtig in den Lastenteil des Großraum-Hubschraubers gebracht und dort behutsam und sicher wieder aufgehängt,
„Deinen Findling kannst du auch in einen Korb tun“, sagte Lafitte zu Superhirn. „Das Kätzchen kriegt ein harmloses Beruhigungsmittel, wie alle anderen auch. Natürlich hängen wir ein Kennzeichen an den Behälter. Für den Pudel ist eine Kiste da.“ Launig fügte er hinzu: „Fräulein Hammerstroem ist uns als Fachkraft für Videographie zugeteilt worden. Was das ist, werdet ihr gleich sehen. Der junge Mann im Partyfrack ist gern zu Späßen aufgelegt. Doch auf seinem Berufsgebiet macht ihm keiner was vor: Doktor Renard ist einer der bedeutendsten Katzenforscher der Welt, daneben auch noch Nahrungsspezialist für Hauskatzen. Als ChefHygieniker leitet er die Futterherstellung der Agrarmittel-Werke Foch & Poppe in Felletin!“ ,MIAUL!“ rief Superhirn und grinste. „Soll dein Kätzchen lange leben, mußt du stets MIAUL ihm geben!“ Der schicke junge Doktor zog sich lachend einen weißen Kittel über seinen Frack: „Musik in meinen Ohren“, rief er vergnügt. „Aber wir stellen nicht nur MIAUL für Katzen her, sondern auch was für Hunde: Ich sehe nämlich, ihr habt da einen Pudel!“ Nun bekam Loulou allerdings meist Hundekuchen, Reis und Reste von Mahlzeiten. Welches Hundefutter die Firma Doktor Renards herstellte, fiel im Moment niemandem ein. „WAFF für den Hund!“ rief Renard und zitierte den Slogan: „Freude an dem Hund zu haben heißt, ihn stets mit WAFF zu laben“ „Ach ja“, rief Superhirn. „WAFF-Reklame sieht man viel an den Landstraßen.“ Der lustige Doktor wurde überraschend schnell ernst, „Was meinst du damit?“ fragte er lauernd. „Warum betonst du das so?“ „Iiich?“, fragte Superhirn gedehnt zurück. „Ich hätte das betont? Aber nein! Ich freu mich nur, daß ich's auch schon in Brossac gelesen habe. WAFF ist was für edle Hündchen, nicht?“ „So“, rief Lafitte dazwischen, „nehmt Platz und schnallt euch an. Ich sitze vorn, beim Piloten! Unterwegs könnt ihr den Forschern von euren Erlebnissen berichten!“ Im Laborteil des Großraum-Hubschraubers klang das Rotorengeräusch ziemlich gedämpft, so daß eine Unterhaltung möglich war. „Ihr seht hier einige Bildschirme“, erklärte Inga Hammerstroem. „Sie gehören alle zum Zentralgerät dieser Maschine: dem Multi-Videographen. Das ist ein Vielfach-Apparat zum Erfassen und Entschlüsseln von Bildern, Erdstrahlen, Farbwellen, Vorgängen an der Erdoberfläche und unter Wasser.“ Über Bordfunk ertönte Lafittes Stimme: „Achtung, Labor! Wir kreisen jetzt über dem Buschland bei Ligne! Dort sollen sich die Wanderkatzen verborgen halten. Die kleinen Hubschrauber und das Bodenpersonal melden keinerlei Beobachtung. Aber die Suchhunde der Polizei weigern sich, das Buschland zu durchkämmen. Kriminalkommissar Rose bittet uns um Standortbestimmung der Verstecke!“ Inga Hammerstroem tippte auf einige Kontaktplättchen. Auf allen Bildschirmen erschienen zunächst Normalbilder des Geländes, über dem der Videokopter kreiste. Man sah eine friedliche, sommerliche, leicht gewellte Wiesenlandschaft mit einem Bach und dichten, buschigen Ufern. Durch die Blätter hindurch war nichts zu erkennen. „Ich schalte auf Farbwellen-Empfang um“, sagte die junge Professorin. Gleich darauf zeigten sämtliche Bildschirme bizarre Umrisse in allen möglichen Tönungen. „Leblose Fremdkörper“, las Fräulein Hammerstroem aus diesen Gebilden heraus. „Hier - der Wortcomputer nennt sie bei Namen: Autoreifen, Kanister, verschiedenes ... Aha, da hat jemand eine getarnte Müllkippe eingerichtet!“ „Sie können den Videokopter auch zum Umweltschutz einsetzen?“ fragte Gérard. „Was meinst du?!“ lächelte die Professorin. „Wir benutzen ihn sogar zur Luftbild-Archäologie! Aber nicht nur wir. In Deutschland hat man am Rhein 5.000 unterirdische Altertümer auf diese Weise entdeckt, in England 12.000, in Griechenland und Italien würde man noch mehr finden!“ „Schalten Sie mal auf ortsfremde Lebewesen“, unterbrach Doktor Renard ungeduldig. „Sind Katzen grundsätzlich ortsfremd?“ wunderte sich Henri.
„Grundsätzlich nicht, das ist klar“, murmelte Renard. „Nur wenn sie in größerer Menge auf dichtem Raum auftreten.“ „Ich weiß, was ich schalten muß“, sagte Inga Hammerstroem ruhig. Plötzlich zeigten die Bildschirme zitternde Pünktchen. Durch eine Zuschaltung färbten sich die Körperchen signalrot, ein Zeichen, daß man das Gewünschte vor sich hatte. Der Wortcomputer meldete: „Katzen“. Inga sprach mit dem Piloten und dem Copiloten über Bordfunk: „Wir haben sie. Es sind ein paar hundert im Schutz der Büsche. Dort, wo der BachrandBewuchs in ein birnenförmiges Buschwäldchen übergeht: zwischen Brücke und Wasserturm!“ Nach einer Weile meldete sich Lafitte: „Kommissar Rose dankt. Die Soldaten Major Bergers rollen Netze aus. Sie sollen die Katzen unbedingt lebend kriegen.“ „Und wird man ihnen auch später nichts tun?“ vergewisserte sich Tati. „Nein“, beruhigte Fräulein Hammerstroem. „Der Welt-Tierschutzbund ist längst auf dem Plan. Man will die Katzen untersuchen und retten!“ „Weshalb ist eigentlich ein Kriminalkommissar eingesetzt?“ erkundigte sich Renard. Superhirn wollte ihm seine Ansicht darüber mitteilen. Doch er zog es vor, Renard zu fragen: „Sind Sie auch der Meinung, Edelkatzen fliehen gleichfalls vor der Verstädterung? Tiere, so teuer wie Diamanten, die in Villen oder Luxuswohnungen gehalten werden, von früh bis spät gekämmt und tierärztlich betreut? Luxuskatzen, die nie eine Maus gesehen haben und sich vor jeder Ratte verkriechen würden: Die suchen freies, unbebautes Land zum jagen?“ „Mit diesem Problem habe ich mich noch nicht befaßt“, erwiderte Renard ungehalten. „Es gibt seit Jahrtausenden Änderungen im gewohnten Tierverhalten. Man braucht nur an Zugvögel zu denken: Neuerdings verfliegen sich ganze Schwärme - und niemand weiß, warum!“ „Vielleicht wegen des Fabrikfutters!“ Superhirn grinste und fuhr fort: „Doktor Renards Vogelkorn schickt die Schwalbe zum Kap Hoorn!“ Renards Augen verengten sich zu zwei Schlitzen. „Du Ratte!“ stieß er unbeherrscht hervor, nur dem spindeldürren Jungen verständlich. Allen anderen war der kleine Zwischenfall entgangen. Der Videokopter landete auf einer Wiese, denn Doktor Renard - mit seinem Playboyfrack unter dem weißen Kittel - sollte Polizei und Militär beim Einfangen der Katzen beraten. Als er sich von Superhirn und dessen Gefährten verabschiedete, lachte er. Aber seine Augen waren kalt, eiskalt. Für die geplante Fangaktion blieb der Videokopter mit Inga Hammerstroem und dem Piloten an Ort und Stelle. Die Edelkatzen, darunter auch die kleine Perserin, wurden in einen Kastenwagen mit Belüftung umgeladen, die Fahrräder kamen zu den Boden-, Wasser- und Pflanzenproben auf einen Laster und die Jugendlichen stiegen mit dem Elektronik-Ingenieur und dem Strahlenarzt Lafitte in einen Mannschaftstransportwagen der Polizei, Professor Romilly, Chef der wichtigsten Außenstelle des Staatlichen Forschungsamtes, nämlich des Instituts von Brossac, hatte in einem Funkgespräch mit Lafitte darum gebeten, Superhirn und seine Freunde persönlich über die Katzennacht befragen zu können. Und dies so schnell wie möglich. Die kleine Kolonne setzte sich nach Brossac am Atlantik in Bewegung. Neben Lafitte hatten auch die sechs jugendlichen mit dem Pudel auf den Bänken des Transportwagens Platz genommen. Das Lenkrad führte ein Polizist. „Na“, sagte Lafitte unterwegs. „Superhirn hat ein Problem!“ Der spindeldürre junge musterte ihn mit seinen Eulenaugen durch die kreisrunden Brillengläser. „Weniger ein Problem als einen Vorschlag“, erwiderte er. „Und der wäre?“ „Man sollte in Brossac das Katzenfutter aus den Dosen untersuchen. Das Zeug, das in Felletin hergestellt wird!“ „Was denn?“ fragte Henri entgeistert. „Etwa Doktor Renards Produkte ...?“ „Genau die“, erwiderte Superhirn mit Nachdruck und wiederholte:
„Soll dein Kätzchen lange leben, mußt du stets MIAUL ihm geben! „Dieses MIAUL sollte unter die Lupe genommen werden. Ich meine damit: unter das Elektronenmikroskop!“ „Noch was?“ fragte Lafitte belustigt. „Das wichtigste!“ entgegnete Superhirn. „Ich denke an einen Virus!“ Es fehlte nicht viel, und Lafitte wäre von seinem sitz hochgefahren. „Bist du verrückt?“ rief er. „Du verdächtigst Doktor Renard, einen der größten Tier- und Tiernahrungsforscher? Der soll verseuchte Ware in den Handel bringen? Weißt du überhaupt, was du damit sagst?“ „Durchaus“, erwiderte der Junge, dessen Augen hinter seiner Brille wie geschlossen wirkten. „Was ist ein Virus?“ fragte Micha verwirrt. „Ein Krankheitserreger“, erklärte Lafitte unwillig. „Er ist so winzig, daß er nicht mal in Bakterienfiltern hängenbleibt. Man kann wohl Viren unter Elektronenmikroskopen orten, aber noch längst nicht alle. Dazu treten immer neue auf, sie wandeln sich und bilden Abarten.“ „Sprechen wir endlich mal über was Erfreuliches“, lenkte Tati ab. Sie hob die Plane des Transportwagens und blickte hinaus. „Das Meer!“ rief sie begeistert. „Sie liegen die Leute im goldgelben Sand! Ich sehe Surfer, Segler, Fischerboote!“ „Auch Fußballplätze?“ fragte Gérard. „In Brossac gibt's allein drei“, lächelte Lafitte. „So, da sind wir.“ Die Wagenkolonne kurvte über das weitläufige Gelände des Instituts und hielt vor dem Zentralgebäude. „Alles aussteigen!“ hieß es. Professor Romilly, begleitet von zwei Assistenten, begrüßte die Ankömmlinge schon auf den Stufen. Laboranten luden die Körbe mit den Edelkatzen aus, sowie die Behälter mit den Boden-, Wasser- und Pflanzenproben von Orr, Tulle-Martol und Ligne. „Meine blaue Perserkatze ist auch mit einem Schild am Korb gekennzeichnet“, rief Superhirn den vorbeieilenden Laboranten zu. „Daß mir die auf keinen Fall verlorengeht!“ „Du machst deinem Vater alle Ehre“, sagte Romilly. „Nun stell mir erst mal deine Freunde vor, deine Hilfstruppe von der Katzenfront, wie ich hörte!“ Dann wandte er sich an Lafitte: „Gute Nachrichten, Herr Kollege! Der Gesundheitsminister als Chef des Krisenstabes rief mich eben an: Die Katzenarmee bei Ligne ist völlig im Netz!“ „Waaas?“ rief Superhirn fassungslos. „Das kann nicht sein!“ „Doktor Renard und Kommissar Rose haben es bestätigt“, lachte Romilly. „Man brauchte weder bis zum Abend zu warten, noch mußte man Wasserwerfer und Knallkörper einsetzen. Wie der Kommissar sagt, ist es auch zu keiner Tierschutzdemonstration der katzenfeindlichen Ansammlung gekommen!“ „Na, also!“ sagte Lafitte. Er schien erleichtert. „Jetzt wird man die Tiere an verschiedenen Anstalten untersuchen. Und was wird man finden? Nichts! Nur, daß sie durchaus gesund sind und auch wieder völlig normal reagieren. Das Ganze war dann wieder einmal ein Schlag ins Wasser! Ich schätze, hier handelte es sich um elektromagnetische Ströme oder etwas ähnlich Harmloses.“ Superhirn stand wie vor den Kopf geschlagen. „Nein“, erklärte er. „Ausgeschlossen! Das ist unmöglich!!“ Der Assistent, der sich als Doktor Albert vorgestellt hatte, hob die Brauen. „Was heißt - ausgeschlossen und unmöglich ... ?“ „Ach!“, winkte Lafitte müde ab, „der Junge vermutet ein Virus im Katzenfutter. Ausgerechnet in den MIAUL-Büchsen aus Renards Fabrik!“ „Es kann ja ein eindämmbares Virus sein, ähnlich dem Grippe-Virus Influenza A“, verteidigte sich Superhirn. „Aber in unserem Fall gibt mir noch etwas anderes zu denken. Wenn sogar Zimmerkatzen behext wären, müßte sich wohl auch ein Hexer' finden lassen.“ Henri stieß ihn an, als meine er: Vorsicht! Panik vermeiden!
„Wir kennen ja schon eine Virus-Krankheit, die mit Wandertrieb verbunden ist“, fuhr der spindeldürre Junge unbeirrt fort. Seine Augen hinter den kreisrunden Gläsern waren groß auf Romilly gerichtet. „Lateinisch: rabies, griechisch lyssa!“ „Tollwut!“ Der Professor wehrte mit beiden Händen ab: „Um Gottes willen, sag das nicht laut!“ „Himmel!“ wisperte Tati Gérard zu. „Jetzt spielt Superhirn seinen Trumpf aus: Anatols und Lafittes Katzenanfälle! Und vielleicht auch noch Michas Traum! Dann kommen wir alle auf die Isolierstation!“ Doch da geschah etwas ganz und gar Unerwartetes, Superhirn hielt seinen Trumpf zurück. Statt dessen forderte er noch einmal: „Ich verlange, daß Sie MIAUL untersuchen!“ Und der Professor rief: „Wenn in den Katzen nichts ist - wie soll dann im MIAUL-Futter etwas sein? Und übrigens: Meine eigene Katze frißt seit drei Jahren täglich MIAUL, nichts als MIAUL, und sie ist noch nie ausgerissen!“ Das war ein Schlag! „Laß dich pensionieren, Superhirn!“ stöhnte Gérard. Doch da kam dem Spindeldürren der Zufall zu Hilfe. „Was - was ist denn das?“ stammelte Doktor Corne, Romillys zweiter Assistent. „Miauuu“, jammerte Lafitte. „Miauuu!“ Sein Gesicht verzerrte sich. Er warf sich auf Hände und Füße und machte einen typischen Katzenbuckel. Dann setzte er sich hin und strich sich mit Unterarm und Hand mechanisch über den Hinterkopf - eine unverkennbare Katzenbewegung! Romilly, Albert und Corne standen wie angewurzelt. Lafitte erhob sich schwankend. „Ist was ...?“ fragte er verstört. „Nein, nein“, beschwichtigte Superhirn. Und Lafittes Verwirrung ausnutzend, sagte er zu den Forschern: „Aber das ist der Grund, schnell zu handeln! Das Virus befällt nämlich auch Menschen!“ „Was war denn los?“ rief Lafitte. „Ich glaube, ich hatte einen Schwächeanfall!“ „Ja“, erwiderte Romilly geistesgegenwärtig. „Corne, lassen Sie ihn in sein Quartier bringen. Er ist total erschöpft!“ Zwei Laboranten führten Lafitte auf einen Bungalow zu. Romilly war blaß geworden. „Entschuldige, Superhirn“, murmelte er. „Ich vergaß, daß du den Europapreis der Stiftung Jugend forscht errungen hast. Einmal mehr bleibt uns nichts anderes übrig, als dich ernstzunehmen. Wir werden Lafittes Atem und Speichel untersuchen. Und - äh - das MIAUL ebenfalls. Sofort und gründlich! Nimm deine Freunde inzwischen mit zum Cap Felmy. Sie sind natürlich unsere Gäste.“ 6. Angriff auf den Leuchtturm! Ein Schatten stürzt ins Meer ... Ein Lastwagen fuhr Tati und die jungen samt ihren Rädern zum Cap Felmy, einer vorgeschobenen Felsplatte, die noch zum Institutsgelände gehörte. Den Zwergpudel hatten sie mitnehmen dürfen. „Wo sollen wir denn wohnen?“ fragte Tati. „Ich sehe kein Haus!“ Superhirn lachte. „Na, ich denke, das Wichtigste auf dem Cap ist dir nicht entgangen!“ „Du meinst doch nicht etwa - den Leuchtturm!“ schrie Micha hoffnungsvoll. „Ist das unser Hotel?“ „Erraten!“ grinste Superhirn. „Das Türmchen ist seit fünfzig Jahren außer Betrieb - aber ich sage euch: innen tipptopp! Alles da: Dusche, Bad, WC, Musterküche samt Kühlschrank und Tiefkühltruhe. Da wohnen sonst die Studenten des Instituts. Aber die haben jetzt Ferien.“
Das vorausgesandte Gepäck der Geschwister sowie von Prosper und Gérard befand sich schon lange dort. Und Superhirn hatte ja schon einige Tage als Einsiedler im Türmchen gehaust. So konnte er die Gefährten gleich einweisenDie übereinanderliegenden Zimmer hatten die Form von Apfelsinenscheiben oder Halbmonden. Wenn man aus ihnen heraustrat, stand man auf einem winzigen Perron vor der Wendeltreppe. Wenn man davon absah, daß die Betten eher Schiffskojen ähnelten und ebenfalls über- und untereinander angebracht waren, hatte Superhirn nicht zuviel versprochen: jeder Raum besaß ein praktisches, abgeteiltes Bad mit allem Drum und Dran. Die Wände waren geschliffen worden, isoliert und lustig bemalt. mit den Schränken und den wenigen Möbeln war Tati zufrieden. Richtig begeistert zeigte sich der Hobbykoch Prosper von der Küche. Sie lag - mit einem bäuerlich gehaltenen Aufenthaltsraum kombiniert - im untersten und breitesten Teil des Turms. Ohne Gezänk wurde das oberste Zimmer mit dem offenen Rundgang Tati, Micha und Loulou überlassen. Gérard und Prosper wollten direkt über der Küche wohnen. So nahm Superhirn sein Gepäck und zog mit Henri in den Zwischenstock. Eine Stunde lang war das alte Gemäuer von Freudengeschrei und Wasserplanschen erfüllt. Dann trafen sich alle mit blanken Gesichtern und noch feuchten Haaren auf der Aussichtsplattform. „Ist das herrlich!“ jubelte Tati. Sie spähte über das Meer. „Wo führt denn das Wasser hin?“ fragte Micha. „Nach Amerika!“ grinste Gérard. „Ich schlage vor, wir einigen uns, wer das Essen macht“, sagte Superhirn. „Danach hauen wir uns in die Falle. Morgen stehen uns wieder Überraschungen ins Haus!“ Doch die erste Überraschung kam schon in der Geisterstunde. Genau um null Uhr 1. Superhirn hatte das Telefon in das von ihm und Henri bewohnte Zimmer genommen und dort mit dem Steckanschluß verbunden, „Hier Romilly!“ ertönte die Stimme des Professors. „Superhirn? Halt dich fest: Bei Ingenieur Lafitte haben sie ein Virus gefunden. Eindeutig. Es ist ein Phantom-Virus, ein bisher völlig unbekanntes. Wir hatten es in 300.000-facher Vergrößerung auf dem Bildschirm. Es ähnelt dem Kartoffel-X-Virus.“ „Na also“, rief Superhirn. „Und was ist im Katzenfutter, im MIAUL?“ „Nichts“, antwortete Romilly. „Genau wie bei den untersuchten Katzen: Nichts!“ „Das ist unmöglich!“ widersprach Superhirn. „Das Virus muß auch die Katzen befallen haben. Es muß aus dem MIAUL stammen!“ Doch der Professor meldete sich nicht mehr. Ein Rauschen drang an Superhirns Ohr. Schließlich war die Leitung tot. „Was ist?“ fragte Henri, der von seiner Koje aus den Worten des Freundes aufmerksam gelauscht hatte„Komisch“, murmelte Superhirn. „Romilly hat nicht aufgelegt. Er wurde unterbrochen.“ Er versuchte, das Institut anzuwählen, aber ohne Erfolg. Plötzlich summte die Sprechanlage an der Wand: „Hier Tati!“ meldete sich die verstörte Stimme des Mädchens durch den Lautsprecher. „Das ist ja ein schrecklicher Sturm, Was kracht denn da dauernd gegen die Mauer? Stehen da Bäume vor dem Leuchtturm? ich hab keinen gesehen.“ „Sag ihr, sie soll die Tür zum Rundgang nicht öffnen.“ rief Henri. Er sprang mit einem Satz aus dem Bett und schlüpfte in die Turnschuhe. „Weck Micha!“ sagte Superhirn in die Sprechanlage. „Nimm den Pudel und komm runter. Frag nicht lange! Komm!“ Superhirn drückte auf den Knopf „Erdgeschoß“. Mit wacher Stimme meldete sich Gérard: „Hallo, Superhirn, bist du's? Ich bin ja ein begeisterter Kicker, und manchmal spiel ich sogar im Traum. Aber was die Typen da draußen machen, das verstößt gegen die Regeln!“
„Komm nur nicht auf die Idee und zeig den Typen womöglich die rote Karte!“ warnte Superhirn. „Die kegeln dann mit deinem Kopf! Ist die Eingangstür zu?“ In diesem Moment brüllte Henri laut auf. Superhirn schnellte herum und blickte instinktiv zu den Fenstern. Das größere - in Richtung See - war vergittert und wegen des Windes aus Schiffsglas. Das kleinere, in Ovalform, hatte normales Glas. Und davor schwenkte jemand eine grüne Laterne. „Zurück!“ schrie Henri. „Das ist ein Katzenauge! Ein enormes Katzenauge!“ Superhirn tat einen Sprung rückwärts und preßte sich neben Henri an die Wand. Keinen Atemzug zu früh! Wie ein Rammbock fuhr die schwarze Pranke mit den gewaltigen Krallen durch das Ovalfenster - mit solcher Wucht, daß der pelzige Vorderlauf des Ungeheuers in der Öffnung steckenblieb. Die Glassplitter lagen teils wie Zuckerstaub im Zimmer. „Da sind wir!“ sagte Tati in der Tür. „Loulou zittert vor Angst. Er wollte sich nicht mal hochnehmen lassen.“ Sie schwieg. Micha kam erst gar nicht dazu, etwas zu sagen. Alle starrten auf die festgerammte Pfote, deren riesige Krallen sich verzweifelt drehten. Da der Vorderlauf des Monsters das Fenster völlig ausfüllte, sah man nicht, was dahinter, daneben und darüber und darunter war. „Raus hier!“ schluckte Superhirn. „Henri, nimm das Telefon mit! Wir versuchen, unten...“ Und schon stieß er Tati und Micha aus der Kammer. Henri folgte mit dem Apparat. Sie rannten die Wendeltreppe hinunter. Aus dem Eßraum lugten Gérard und Prosper. „Ü-ü-üben da draußen P-p-pfadfinder Zeltebauen?“ stotterte Prosper verschlafen. „D-das müssen Anfänger sein!“ „Geh doch raus und zeig ihnen, wie man's macht!“ keuchte Henri mit verzweifeltem Grinsen. „Los, in die Stube! Die hat die dicksten Mauern.“ Er schlug die Tür hinter den Gefährten zu. „Die ist auch stabil! Wie 'ne Tresortür!“ sagte er erleichtert. Prosper schien erst jetzt richtig zu erwachen. „W-was war das eben?“ hauchte er. Sein Adamsapfel zuckte. „Ein E-e-erdbeben ...?“ „Das Monster muß seine Pfote befreit haben!“ murmelte Superhirn. Tati setzte sich mit dem zitternden Pudel auf eine Bank. „Ein Katzenmonster! Also das war der Sturm! ich hab ein Schurren und Kratzen gehört, als schleife ein Baum an der Turmwand! Wahrscheinlich wollte sich das Monster die Krallen schärfen ... !“ „Oder - die Monster.“ flüsterte Henri. Totenstille herrschte im Raum. Wieder tauschten Superhirn und Henri Blicke. Warum war das Telefon unterbrochen? Hatte ein Ungeheuer die Leitung erwischt? oder war etwa ein ganzes Rudel von Monstern über das Institut hergefallen? Wumm - krach – peng. Draußen in der Nacht ging irgend etwas aus den Fugen. Das barst und polterte, knirschte, knackte und knallte, als gelte es, einen himmelhohen Ofen anzuheizen. „G-g-gibt's 'ne Ho-ho-holzfabrik in der Nähe?“ fragte Prosper. Henri lauschte mit erhobenem Kopf und geweiteten Augen. „Nein“, sagte er. „Ich erinnere mich an so 'ne schiefe Hütte. Anscheinend springt das Monster jetzt darauf herum!“ „Also doch: Holz! Kleinholz!“ murmelte Gérard. Superhirn nahm eine Taschenlampe vom Haken. „Ich geh rauf auf die Plattform!“ entschloß er sich. „Das Biest hat die Telefonleitung zerrissen und die Maste umgeworfen. Falls das Institut noch steht, geb ich Lichtsignale, damit man uns hilft!“ „Warte!“ rief Henri. „Ich komme mit.“ Superhirn zögerte.
„Ach ja!“ erinnerte er sich. „Unter dem Turm führt ein Gang durch den Fels zum Schloß Rodincourt! Seht euch den Einstieg an! Das Riesenviehzeug könnte sich gegen den Turm werfen, das Tor und die Umrandung herausbrechen und einzudringen versuchen. Dann müßt ihr fliehen!“ Wummm. Schon bebte die starke, eisenbeschlagene Tür in den Angeln. Durch die Ritzen drang Fauchen wie aus einer Preßluftflasche. Mit zitternden Händen hoben Henri und Gérard den von Superhirn bezeichneten Bodendeckel im Vorraum hoch. Es war ein schweres Eisending, und es klirrte und schabte ohrenzerreißend auf dem Steinfußboden. „Da kommt kein Monster durch!“ meinte Tati aufatmend. „Der Einstieg paßt gerade immer für eine Person. Ist da eine Treppe?“ „Eine Leiter mit breiten Sprossen.“ sagte Superhirn. „Der Schacht geht etwa drei Meter in die Tiefe, dann zweigen waagerechte Stollen ab. Paßt auf, daß ihr den ersten nach rechts nicht verfehlt. Geradeaus mündet ein Gang im Steilufer - dort stürzt man fünfzig Meter tief fast senkrecht ins Meer.“ Er leuchtete in den rabenschwarzen Schacht. Wummm. Die starke Turmtür erbebte. Mörtel rieselte auf die Köpfe der Gefährten und auf den winselnden Hund. „Wir steigen lieber gleich hinunter!“ rief Micha. Doch niemand kam mehr dazu, auch nur einen Fuß auf die Leiter in den Schacht zu setzen, Der Pudel sprang aufjaulend an Tati hoch und landete in ihrem Arm. Aus der Öffnung quollen Katzen, Katzen, Katzen. Weiße, schwarze, cremefarbene Kurzhaarkatzen, die von x-beliebigen Bauernhöfen stammen konnten, gescheckte, gestrichelte, gestromte, auch solche mit halblangem Haarkleid, abenteuerliche Wald- und Wiesenmischungen. Aber auch Zuchtrassen-Exemplare kamen durch die Öffnung herauf, wie aus einem überkochenden Topf: eine rote Abessinierkatze, zwei schwanzlose Manx-Katzen, eine Lilac-Point-Siamesin, eine braune Burmakatze. Man konnte sie so schnell nicht benennen: Selbst ein Fachmann hätte das in der Hast und vor lauter Entsetzen nicht gekonnt. „Haltet euch fest!“ brüllte Henri. Er warnte unwillkürlich so laut. Wenn man sich urplötzlich einer solchen Katzenmenge gegenübersieht, die einem durch das ständige Drängen der Nachfolgenden die Füße unter dem Körper wegzuschieben droht, dann denkt man automatisch auch an Geschrei, Gemaunze, Gejammer. Aber das war eigentlich das geisterhafteste: Die Tiere blieben stumm! Sie tappten auf den sprichwörtlichen Katzenpfoten, hüpften übereinander her, überkugelten sich, kamen wieder auf die Beine - doch Stimmlaute gaben sie keinen von sich! Da aber zerriß zum ersten Male draußen ein Monsterschrei die Nacht. Und wenn Experten behaupten, ein normaler Kater erreiche die Lautstärke einer Dampfpfeife, so gellte das jaulen des Ungeheuers wie eine Feuersirene über Land und Meer ... Augenblicklich erstarrte die Flut der kleinen Katzen im Turm, Dann setzte - Rückbewegung ein, eine wilde, panische Flucht in den Untergrund, aus dem sie gekommen waren. Die sechs Menschen und der Pudel hatten die Tiere nicht gekümmert; sie waren an ihnen vorbeigeströmt, als seien sie nicht vorhanden. Aber der durchdringende Schrei des Monsters schien sie zur Hölle jagen zu wollen. Es dauerte nicht lange, und die letzte Katze hatte sich wieder in den Schacht gestürzt. G6rard und Prosper wuchteten den Deckel über die Öffnung. Superhirn und Henri rasten die Treppe empor und traten auf die oberste Plattform hinaus. Von See her wehte eine leichte, warme Brise. Weit draußen sah man Schiffslichter. Die Freunde hasteten zur anderen Seite und blickten zum Institut. „Na, ein Glück!“ japste Henri. „Das steht noch!“
In den Gassen zwischen den Labors und Wohnhäusern schien grelles Licht. Auch der Flugplatz mit den Hangars war beleuchtet. In den Labors herrschte ebenfalls Helligkeit. Also wurde dort noch gearbeitet! Superhirn beugte sich über die Brüstung und schickte den Lichtkegel seiner Taschenlampe dicht an der Mauer hinab. Urplötzlich hatte er das Monster im hellen Kreis, das Ungeheuer mit den riesigen, grünschillernden Augen. Es hielt den gewaltigen Katzenkopf im Genick und blickte zu den Freunden hoch. „Junge!“ hauchte Henri. „Das ist ein Königstiger, ein man-eater, ein Menschenfresser, ein...“ „Ein ganz ordinärer Kater!“ wisperte Superhirn. „Ein krankhaft ins Riesige ausgearteter Kater! Er macht einen Buckel wie ein Kamelhöcker! Und der überlaute Katerschrei vorhin - typisch!“ „Typisch wofür?“ flüsterte Henri. „Eine Wachstumsexplosion!“ sagte Superhirn vor sich hin. „Was mag in der Katzenwelt nur passiert sein? Die kleinen, normalwüchsigen wandern seit über einem Jahr, und daß sie keine Tollwut haben, weiß man längst. Ein Wandertick - aber wodurch entstanden? Und weshalb gibt's einzelne, die so furchtbar wachsen?“ „Von so irren Wachstumsstörungen hab ich nie gehört!“ murmelte Henri. „Ich schon“, entgegnete Superhirn. „In Japan gibt es Menschen, die über zwanzig Jahre alt sind - und nur 30 Zentimeter groß wurden! Ursache: ihre Eltern und sie selber benutzten zu allen möglichen Zwecken seit eh und je das Wasser eines cadmiumhaltigen Flusses.“ „Wenn das Kleinbleiben möglich ist - dann auch so ein Wachstumssprung?“ Die Freunde fuhren von der Brüstung zurück, denn das Monster machte einen Satz auf den Turm zu. Es fauchte wie eine Luftdruckbremse. „Mensch, das Biest ist größer als ein Rind!“ staunte Henri. Seine Stimme bebte. „Aber bis hier herauf kann's nicht springen!“ sagte Superhirn nach kurzer Überlegung. Beide schraken zusammen. „Was war das?“ stieß Henri hervor. „Das wollte ich gerade von dir wissen!“ zischte Superhirn. „Hinter uns hat etwas geknurrt!“ „Da...“ schluckte der Freund. „Da - an der Tür! An der Tür zur Treppe - ein rotes Auge“ Rrrrrrt, ertönte es wieder. „Mensch“ sagte Superhirn, tief Luft holend. „Ein technisches Geräusch - ein Sender!“ Er sprang vor und drückte auf den roten Leuchtknopf. Der erlosch. Dafür blinkte ein grünes Lämpchen auf: Aus einem verborgenen Lautsprecher kam eine wohlbekannte Stimme: „Hier Institut, Labor 1, Chef Romilly. Rufe Plattform Turm. Plattform, bitte melden!“ „Hier Superhirn“, antwortete Superhirn. „Turmplattform! Professor Romilly? Verstanden!“ „Das Telefon ist unterbrochen. Der Sender Turm-Erdgeschoß ist unbesetzt. Was gibt's? Was war das für ein Signal?“ „Signal? He, Professor! Kein Signal, sondern der Schrei eines Monsters! Einer Großkatze! Das Ungeheuer hat etwa die doppelte Größe einer Kuh oder eines Pferdes. Von hier oben nicht ganz genau auszumachen! Es hat die Leitung zerrissen und die Telefonmasten umgeworfen! Die elektrische Leitung liegt viel höher, da konnte es wohl nicht ran. Die Stahlbetonmasten waren ja auch viel stabiler. „Gut!“ sagte Romilly. „Ich glaube jetzt alles. Ist das Monster aggressiv?“ „Na, ich danke! Es hat mit seiner Riesenpranke ein Fenster zerschmettert. Und irgendwo da draußen eine Hütte eingedroschen. Kommen Sie mit 'ner Betäubungsharpune. Aber nicht etwa im offenen Rover?“ „Auf Safaris sind wir nicht vorbereitet“, erwiderte Romilly sarkastisch. „Bleibt im Turm. Einer muß uns von der Plattform leiten. Ich komme per Hubschrauber. Halte das Funkgerät besetzt!“ „Okay!“ bestätigte Superhirn. Er leuchtete rasch über den Rand der Brüstung. „Das Biest hat sich langgemacht, Henri! Du saust jetzt runter und sagst den anderen, daß Hilfe unterwegs ist. Am besten, du holst alle auf die Plattform. Hier sind wir am sichersten.“
Henri war mit Tati, Micha, Gérard und Prosper kaum wieder auf der Turmhöhe - der verängstigte Pudel rollte sich zu einem Knäuel zusammen -, als beim Institut ein Hubschrauber in die Luft stieg. Man hörte es am Geräusch und sah es an den Lichtern, daß es nur eine Zweimann-Maschine war. Doch der Hubschrauber hatte einen starken Bodenscheinwerfer. Er kam im Zickzack auf den Turm zugeknattert. offenbar suchten Romilly und sein Pilot die Spuren der Zerstörungen durch das Monster. Die Riesenkatze hielt sich indessen noch merkwürdig still. Als die Maschine sich ihr aber näherte, duckte sie sich: Ein geballter Schatten unter dem Turm. Mit Grausen blickten Tati und die jungen über die Brüstung. Als die Maschine über dem Turm zu kreisen begann, streifte der Bodenscheinwerfer das Ungeheuer mit dem Lichtstrahl. Sofort machte es sich sprungbereit, als gelte es, einen Vogel im Fluge zu erhaschen. Die übergroßen, grünen Katzenaugen reflektierten wie die Fluorfarben einer häßlichen Reklame. Und dann schrie das Monster ... Tati bückte sich und hob den Pudel auf. Micha hielt sich die Ohren zu und rannte auf die andere Seite. Prosper wankte und wurde rasch von Gérard gestützt. „Hier Helikopter, Chef 1, Romilly“ schnarrte der Funkapparat auf dem Turm. „Superhirn, bitte kommen!“ „Hier Turm !“ rief der junge. „Chef 1 - verstanden! Was ist?“ „War das der Monster-Schrei? Liegen Beobachtungen über weitere Tiere vor?“ „So große nicht“, erwiderte Superhirn. „Doch in den unterirdischen Gängen zum Schloß Rodincourt treiben sich Wanderkatzen herum. Katzen aller Rassen in Normalgröße.“ „Zwischen Institut und Turm liegt ein getötetes Rind“, ließ sich der Professor hören. „Das Monster muß enorme Kräfte haben!“ Superhirn rief: „Gehen Sie bei Verfolgung nicht so weit runter, Herr Romilly. Wir wissen nicht, wie hoch das Monster springen kann!“ Im gleichen Augenblick sprang das Ungeheuer. Superhirn konnte nichts sehen, da er am eingebauten Funkgerät stand. Die Schreie Tatis und der vier Jungen klangen in seinen Ohren kaum weniger furchtbar als das der Bestie. Die Fähigkeiten der Riesenkatze waren noch nicht „getestet“. Und in dieser Nacht - genau wie in der vorigen - schien alles möglich! Mit prickelnder Kopfhaut lugte Superhirn hinunter. Die Bestie sprang, sprang, sprang ... Der Aufprall war jedesmal eine Nervenprobe. Man hörte den dumpfen Schlag trotz des Maschinengeräuschs. Henri schrie: „Romilly geht auf Zermürbung aus! Er will das Monster erschöpfen!“ Es leuchtete ein, warum er das tat: Er wollte das Monster ohne Bewußtlosigkeitsdroge ins Labor bekommen. Die Zermürbungstaktik entwickelte sich nun aber zu einem richtigen „Zweikampf“ zwischen Hubschrauber und Bestie. Und diese Bestie war groß - die Flugmaschine jedoch recht klein. Außerdem hatte sie Kufen, keine Räder. „K-k-kinder, das sollen die doch lassen“, bebte Prosper. Die Riesenkatze tobte wie wahnsinnig auf der sumpfigen Wiese. Zeitweise verschwand sie im Dunkel, dann ging der Hubschrauber runter, um sie aus krüppligem Gehölz und hohen Grasbüscheln förmlich aufzustöbern. „Chef 1!“ warnte Superhirn in beschwörendem Ton. „Nicht so dicht am Boden operieren!“ Die Maschine ging wieder hoch - und die Beobachter sahen, wie das Ungeheuer mit grün aufblitzenden Augen dem Scheinwerfer unter der Kanzel direkt entgegensprang. Mit der rechten Pranke erwischte es die linke Kufe des Hubschraubers. „Aus!!!“ schrie Tati. „Seht! Sie trudeln ab! Sie werden zermalmt!“ „Und da kommt das nächste Monster - doppelt so groß!“ kreischte Micha. Doch es war nur ein Schatten. Dem Piloten gelang es, die Maschine hochzuziehen. Im Licht des schwankenden Bodenscheinwerfers sah man jetzt grünlichen Rauch. „Ist das der Atem des Monsters?“ schauderte Prosper.
„Nein“, erklärte Superhirn ruhig. „Das ist Polizeigas, volkstümlich Tränengas genannt. Es ist neuerdings gritzegrün, damit Krawallmacher es nicht mit Rauch verwechseln: Sie sollen schon durch den Anblick geschockt werden!“ „Die Bestie läßt sich nicht schocken“, meinte Micha. „Na, sie scheint auch nicht gerade begeistert!“ sagte Gérard. Die riesige Geisterkatze wälzte sich jaulend um sich selbst und rollte dem Plateau zu. Unwillkürlich rief Prosper: „Vo-vo-vorsicht - de-der Steilhang!“ „Bist du noch zu retten, daß du das Monster retten willst?“ fuhr ihn Tati an. „Außerdem versteht es zum Glück deine Sprache nicht!“ Die gespenstischen Augen schimmerten noch einmal auf, als wollten sie den Gefährten auf dem Turm eine Drohung signalisieren. Dann glitt das Monster über den Felsrand und stürzte ins Meer! „Wo ist es .. .?“ quäkte Romillys Stimme im Funk. „Läuft es nach Süden?“ „Es ist abgestürzt“, meldete Superhirn. „Da unten hat es keine Chance! Die Wand führt senkrecht ins Wasser. Und bedenken Sie den Sog.“ Der Hubschrauber schwankte landeinwärts. „Ich muß es kriegen - lebendig oder tot“ schepperte es aus dem Apparat. „Ich schicke Boote raus. Und ihr versucht zu schlafen!“ 7. Der Krisenstab tritt zusammen: Superhirn entlarvt den Hexer Trotz der durchlittenen Ängste schliefen die sechs Jugendlichen und der kleine Pudel wie die Steine. Nacheinander versammelten sie sich am Morgen um den Frühstückstisch im Eßraum. Schweigend tranken sie Tatis Kakao. Der Pudel knabberte lustlos seinen Hundekuchen. Nur Gérard verzehrte eine größere Portion Spiegeleier. Superhirn war - geduscht und fertig angezogen - als erster im Eßraum erschienen. Vorher hatte er schon einen Rundgang gemacht, Spuren fotografiert und mit den anrückenden Institutsarbeitern gesprochen, die die Telefonleitung reparieren sollten. Auch auf der Turmplattform war er wieder gewesen. „Es ist ein Boot draußen, das das ersoffene Katzenmonster sucht“, erklärte er. „Doktor Albert sucht im Park von Schloß Rodincourt nach Spuren von Wanderkatzen und nach Schlupflöchern zum Höhlenlabyrinth. ich hab über Funk mit Romilly Kontakt gehabt: Der Videokopter kommt mit einem Teil des Krisenstabes aus Tulle-Martol.“ „Auch mit dem Fracktyp, der MLAUL für Katzen und WAFF für Hunde herstellt?“ fragte Tati stirnrunzelnd. „Vor dem würde ich mich in acht nehmen, Superhirn! Deine Rechnung ist nicht aufgegangen! Man hat doch im MIAUL keine Krankheitserreger gefunden, oder?“ „Na, vor allem nicht in den rasenden Katzen!“ fügte Henri sorgenvoll hinzu. „Und doch haben Anatol und Lafitte regelrechte Katzenanfälle gehabt - und Micha ist gerade noch einmal davongekommen“, beharrte Superhirn. „Also mußte es da eine Lücke in meinen Überlegungen geben. Und wir werden bald wissen, ob ich sie schließen konnte.“ „Was ha-ha-hast du denn getan?“ rief Prosper aufgeregt. Superhirn musterte ihn durch seine kreisrunden Gläser. Mit geheimnisvollem Grinsen entgegnete er: „Ich war per Rad in Brossac. Dort hab ich im Supermarkt einen Rucksack voller MIAULBüchsen gekauft, mit hübschen roten Etiketts und Katzenköpfen darauf. Und der Inhaltsangabe: Ausgesuchtes Muskelfleisch, Thunfisch, leicht verdauliche Fette. Zusatzstoffe: Proteine, Vitamine. Na, und auch einige WAFF-Büchsen für das Hündchen: Vitaminreiche Vollnahrung, Rinderstücke, Pansen, Herz, Phosphor, Kalcium - alles auf grünen Etiketts mit einem Hundekopf darauf!“ „Aber doch nicht für Loulou!“ rief Micha.
„Nein, nein, nur so - aus Neugierde“, grinste Superhirn. Aber gebt euch keine Mühe, ich hab das Zeug versteckt. Nur ein paar MIAUL-Dosen hab ich dem Labor zur Untersuchung aufgedrängt. Die Virologen sind schon bei der Arbeit. Denn seht mal: Nachdem das Katzenmonster kein Späßchen war und hier in den Höhlen Schwärme von Wanderkatzen rumwimmeln, ist Professor Romilly bereit, selbst ergebnislose Tests zu wiederholen!“ Gérard hob lauschend den Kopf: „Ich höre den Videokopter. Los, wir radeln zum Institut!“ Da Superhirn hier, am Cap Felmy, sein eigenes Fahrrad hatte, konnten sie alle sechs in die Pedale treten. Loulou kam im Körbchen an Tatis Lenkstange mit. vor dem Hauptgebäude empfing sie Doktor Corne: „Der Professor ist noch im Labor. Die anderen sind in der Schiffshalle am Kanal. Da ist eben das Boot mit dem aufgefischten Monster eingelaufen!“ „Das möcht ich sehen!“ keuchte Henri. Die Bootsgarage für die Forschungsschiffe war groß, hell und gekachelt, daß man eher den Eindruck hatte, in einer Bootsausstellung zu sein. Tati und die jungen feierten ein kurzes, aber herzliches Wiedersehen mit der Professorin Hammerstroem. „Das Katzenmünster liegt unter einer Plane an Bord“, sagte sie. „Man hat es an Deck gehievt, und obwohl es mausetot ist, wagt sich außer dem Kriminalkommissar kaum einer an es ran!“ „Verständlich!“ meinte Tati schaudernd. „Ihr seid die Jugendgruppe, die das Biest heute nacht beobachtet hat?“ fragte Kriminalkommissar Rose. „Ich möchte die Meinung Professor Romillys hören, wie er sich diese Erscheinung erklärt!“ „Vielleicht kann Ihnen unser Freund Superhirn etwas sagen!“ rief Gérard eifrig, Der Kommissar schob die Tabakspfeife unter seinem mächtigen Schnauzbart hin und her. Scheinbar gemütlich musterte er den spindeldürren jungen, „Nur immer zu“, brummte er ermutigend. „Soll das Monster etwas mit der - der Wanderung der Normalkatzen zu tun haben?“ „Klar!“ erwiderte Superhirn überzeugt. „Die Normalkatzen sind durch einen Krankheitserreger infiziert“ Aber dieser Erreger kann Pannen hervorrufen, verstehen Sie? Der abnorme Wuchs einiger weniger Katzen ist eine Nebenwirkung, richtiger: eine Ausnahmewirkung des Virus. Soweit ich weiß, haben Russen und Österreicher Schnellwachstum und Übergröße sogar schon durch verschobene Wassermoleküle erzielt. Bei den Katzen handelt es sich um ein Virus!“ „Woher willst du das denn wissen?“ staunte Inga Hammerstroem. „Nun, irgendeinen Grund muß die Sache ja haben“, meinte Kommissar Rose ruhig. „Gehen wir raus, warten wir auf Romilly! Draußen scheint die Sonne.“ Der Kommissar deutete auf ein Bildhauerwerk aus Stein, das einen riesigen Seestern darstellte und offenbar die Meeresbiologie symbolisieren sollte. „Da sind Bänke. Es plaudert sich besser im Sitzen.“ Doch er selbst setzte sich nicht. Vielmehr strebte er sofort den Labors zu, um nach Professor Romilly zu sehen. „Kinder, wie ich euch beneide“, schwärmte die junge Videographin. „Ihr dürft hier an der See bleiben und eure Ferien genießen!“ „Wenn nur der scheußliche Katzenrummel vorüber wäre“, seufzte Tati. „Ich tanze gern, und ich würde gern auf den Wellen tanzen, Hauptsache, ich brauchte das Wort Katze nicht mehr zu hören.“ Sie streichelte versonnen den Zwergpudel. „Ich will segeln!“ maulte Prosper. „Sachte, sachte“, raunzte Gérard. „Meinst du, ich hör das Wort Fußball nicht lieber als Virus?“ „Wo bleibt denn der Professor Romilly so lange?“ rief Micha ungeduldig. „Und Kommissar Rose? Spielen die da drin Tischtennis?“ „Ich hoffe“, grinste Superhirn. „Ich hoffe, sie schmettern sich Bälle zu! Gedankenbälle!“
Prosper sprang auf. Er war von Natur zapplig, doch jetzt hüpfte er richtig: „Da kommt ein A-a-auto! Das kenn ich doch? He, das ist der Sportflitzer von Doktor Renard, dem MIAUL- und WAFF-Mann! Dem Futtermann aus Felletin!“ „Wußtet ihr nicht, daß der bestellt war?“ wunderte sich die Professorin. „Den haben wir in der Nacht noch angerufen, gleich, als uns Romilly hierher beorderte! Der Sportwagen kurvte heran und stoppte mit Vollbremsung. Lachend sprang Renard heraus. Heute trug er keinen Frack, sondern einen einfachen weißen Anzug. Doch am linken Aufschlag seiner Jacke trug er eine Rose. „Immer flott, immer flott“, lächelte Inga Hammerstroem. „Das muß man Ihnen lassen.“ „Man tut, was man kann“, entgegnete Renard vergnügt. „So, und ihr? Ihr Flohmarktforscher mit eurem Superkopf - ihr wollt von einem Monster attackiert worden sein?“ „Genauer gesagt: von einem Virus!“ erwiderte Superhirn freundlich. „Was heißt das?“ fragte Renard. Sein Gesicht wirkte plötzlich steinern. Und dann wurde er ausfallend: „Putz dir erst einmal deine Brille, du eingebildeter Laffe! Weißt du denn überhaupt, was ein Virus ist?“ „Nun, nun...“ entgegnete der Spindeldürre, „das Virus, das Sie Ihrem MIAUL beigefügt haben das dürfte mir im Moment genügen. Ich bin bescheiden, wissen Sie?“ Doktor Renard legte den Kopf zurück und lachte. Er lachte so heftig, als hätte ihm jemand einen Sack voller Witze über den Kopf geschüttet. „Ein Virus im MIAUL, haha ...!“ prustete er atemlos. „Da kommt Professor Romilly mit Doktor Corne und dem Kriminalbeamten“, sagte Tati. „Ich glaube, wir verdrücken uns jetzt ...“ Sie preßte Loulou an sich. „Hallo, Professor!“ rief Renard. „Ihre Institutsluft scheint dem Superkopf zu schaden! Er vermutet Viren in meinem MIAUL.“ Doch weder Romilly noch Kommissar Rose stimmten in Renards Lachen ein. Im Gegenteil, sie standen da und blickten auf den flotten Doktor Renard, als hätten sie ein Monster vor sich, von dem bislang noch nie die Rede gewesen war. „Ein Virus in Ihrem Katzenfutter MIAUL?“ fragte Professor Romilly, als ob er selbst nicht daran glaubte; doch dann wurde seine Stimme hart: „Die Vermutung Superhirns stimmt! Unser Labor hat es in den heute besorgten Büchsen gefunden!“ Kommissar Rose nickte dem spindeldürren Jungen zu. Alle Achtung! drückten seine Blicke aus, „Das ist unmöglich!“ Renard lachte nach einer kurzen Pause der Verblüffung rauh auf. „Völlig unmöglich! Im MIAUL ist nicht der tausendste Teil eines Virus. Das weiß ich genau, und dafür verwette ich meinen Kopf!“ „So? Dann haben Sie Ihren Kopf schon verloren!“ sagte Kommissar Rose mit bösem Humor. „Sechs virologische Asse haben das Virus nachgewiesen - wovon ich mich soeben überzeugte.“ „Es ist das gleiche, das sich bei Lafitte fand“, fügte Romilly düster hinzu. „Bei dem ist es allerdings bereits verflogen, wenn ich so sagen darf. Das Hexen-Virus, wie wir es genannt haben, scheint Menschen nur vorübergehend zu befallen. und auch nur unter ganz seltenen Voraussetzungen: Überreizung, Erschöpfung, Schlaflosigkeit - bei dauernder Beschäftigung mit infizierten Katzen. Und bei starken Säufern, wie dem Fischteich-Aufseher Anatol, von dem Superhirn telefonisch berichtete.“ Doktor Renard stand fassungslos da: „Sie - Sie glauben einem dummen Jungen! Sie, der Chef eines staatlichen Instituts? Ich werde sie absetzen lassen, Sie gehören in eine Irrenanstalt! Kommissar Rose! Der Mann muß verhaftet werden.“ „Ein Haftbefehl ist telefonisch beantragt. Er muß gleich aus Brossac eintreffen“, erwiderte der Kriminalkommissar. „Der ist allerdings auf Sie ausgestellt!“ „Sie sind wahnsinnig!“ schrie Renard. „In meinem MIAUL gibt es kein Virus! Das wird sich bei Gericht erweisen!“
Superhirn stand auf. Und die Umstehenden glaubten sich zu verhören, als er seelenruhig zugab: „Monsieur Renard hat recht! Im MIAUL ist kein Virus! Man könnte Tausende MIAUL-Büchsen öffnen: Das gesuchte Hexen-Virus fände man nicht!“ „Na also!“ brüllte Renard, während Professor Romilly und Doktor Corne einander anstarrten. Der Kommissar nahm vor Verblüffung die Pfeife aus dem Mund. Renard fuhr fort: „Der Bengel gibt also zu, Sie alle gefoppt zu haben! Schöne Fachleute! Aber ich habe es satt! Die Regierung wird Sie davonjagen!“ Er strebte seinem Auto zu. „WAFF!“ rief Superhirn hinter ihm her. Doktor Renard blieb stehen, als hätte ihn ein Schuß in den Rücken getroffen. Er drehte sich um: „Was soll denn das ...?“ „WAFF“, wiederholte Superhirn. „Das Hexen-Virus ist nicht im MIAUL, sondern im WAFF! Was sagen Sie nun, Herr Doktor?“ „Ich begreife nicht ...“ begann Professor Romilly, „Im Labor hat man MIAUL untersucht ...“ „Eben nicht!“ unterbrach Superhirn. „Ich hatte die roten Katzen-Etiketts MIAUL gegen die grünen WAFFS ausgetauscht und Ihnen das Hundefutter untergeschoben. Das war einfach, denn die Etiketts sind Kunststoffaufkleber. Im Labor hat man also nicht MIAUL, sondern WAFF geprüft! Den Befund kennen Sie: das gesuchte Virus! Der katzen-behexende Erreger war ausgerechnet in den Hundebüchsen!“ „Meinst du, meinst du!“ höhnte Renard böse. „Das wird ja immer toller!“ „Nicht wahr?“ gab Superhirn zurück. „So dumm waren Sie nicht, Ihr Katzenvirus ins Katzenfutter zu tun. Man wäre ihnen schnell auf die Schliche gekommen! Verseuchtes HundeWAFF wirkt schließlich genauso; es gibt ja Tausende von Katzen und Hunden in Haus- und Hofgemeinschaften. Die Hunde übertragen das Virus auf die Katzen, und die Katzen spielen verrückt!“ „Nicht verrückt!“ schrie der Doktor. Und nun verlor er endgültig die Beherrschung. „Ich habe ein Virus geschaffen, das sich programmieren läßt und Informationen speichern kann! Und es gelang mir, es gefahrlos im übertragenden Hund schlummern zu lassen, während es in der Katze aufwacht!“ „Hört, hört!“ rief Kommissar Rose verblüfft. „Das programmierte Virus! Die größte Erfindung eines menschlichen Geistes! Erst im besonderen Angenhintergrund der Katze beginnt der Prozeß: das Virus beeinflußt den Orientierungssinn und treibt die Katzen an einen bestimmten Punkt!“ „Und der sollte Brossac sein!“ begriff Romilly. „Sie wollten das Institut mit Katzen überschwemmen. Aus Rache, weil man damals nicht Ihnen, sondern mir die Leitung gab? Das hatten Sie vor?“ „Und es wäre mir gelungen, wenn dieser Superkopf nicht so tückisch gewesen wäre!“ rief Renard wie von Sinnen. „Ich, ich stolpere über einen Trick, einen billigen Trick!“ „Sie haben sich selber verraten“, verteidigte sich Superhirn. „Schon im Videokopter haben sie sich verraten! Ich konnte mir keinen Katzenforscher vorstellen, der sich so wenig für die Wanderkatzen interessierte wie Sie. Sie taten es mit dem Beispiel von den verirrten Zugvögeln ab. Erinnern Sie sich? Und als ich so ein bißchen antippte, es läge vielleicht am Futter - Sie erinnern sich: Doktor Renards Vogelkorn schickt die Schwalbe zum Kap Hoorn, da glaubten Sie sich einen Moment lang entlarvt! Da vergaßen Sie sich! Sie nannten mich Ratte!“ „Trotzdem hätte ich den Virus-Computer vollendet!“ schrie Renard. „Ich hatte nur noch Schwierigkeiten mit der Zeit- und Ziel-Programmierung!“ Er rechtfertigte sich jetzt, als hätte er etwas Gutes verabsäumt: „In entfernten Gebieten sprachen die Katzen auf den Zielfaktor nicht an. Ebenso nicht in unmittelbarer Nähe.“ „Wo man schon ist, kann man nicht hin“, nickte Henri. „Deshalb ist Professor Romillys Katze nicht weggelaufen. Und deshalb halten sich alle Katzen hier an der Küste an ihrem Standort!“ „Klar, du Dummkopf!“ rief Renard. „Wenn Start und Ziel eins sind, tritt keine Wirkung ein! Haha! Aber das ist mir gelungen: In keiner Katze wird man das Virus finden, kein Labor wird
es entschleiern; denn in Katzen ist es absolut unsichtbar, da tritt es nur maskiert auf. Dagegen untersucht mal die Hunde, ihr Schlauberger: im Hund, dem das Virus nichts tut, der ihm nur als Transportmittel dient, ist das Virus ortbar! Ein Witz, was? Ein Witz!“ „Ich danke“, stammelte die junge Professorin Hammerstroem. Sofort wandte sich Renard an sie: „Was glauben Sie, warum die Katzen bei Ligne plötzlich so vernünftig wurden, he? Weil Ihre videokoptischen Geräte mit Ultraschall arbeiten! Und Ultraschall tötet das Virus, ohne den Tieren zu schaden!“ Er begann wieder schauerlich zu lachen. Plötzlich blieb sein Blick auf Superhirn haften: „Wie kamst du darauf, daß ein Virus den Wandertrieb bewirkt? Und daß er im WAFF war - und nicht im MIAUL?“ „Sehr einfach“, antwortete Superhirn. „Eine alte Dame in Felletin hat mir geholfen. Ich fand ein blaues Perserkätzchen mit Adressenschleifchen. Also rief ich in Felletin an. Da sagte mir Madame Goddard: ,Ein Glück, daß du das Kätzchen gefunden hast! Es gehört meiner Schwester, die für ein paar Wochen in der Schweiz ist. Ich versprach, ihr das Tier gesund zurückzugeben. Als ich sie fragte, womit man es am besten ernähre, antwortete sie versehentlich: „Mit WAFF, aus der hiesigen Fabrik.“ Doch sie verbesserte sich gleich: „Nein, WAFF bekommt mein Dackel. ich meinte natürlich: MIAUL!“ Das brachte mich auf die Idee: Wohngemeinschaft Katze und Hund. Und darauf, daß das Virus im WAFF sein könnte!“ „Du hast Glück gehabt, du verdammter Schnüffler!“ schnaufte Renard. „Glück! Weiter nichts! Im Magen einer Wanderkatze hätte nie jemand MIAUL gefunden, denn auch das war programmiert! Und die von mir verfremdeten Katzen konnten tagelang nur mit Wasser auskommen!“ „Aber wohl nicht das Monster!“ versetzte Kommissar Rose scharf. „Ich wollte, ich hätte mehr Monster geschaffen, statt dieser drei oder vier unbeabsichtigten Auswüchse!“ tobte Renard los. Plötzlich griff er sich an die Stirn. „Meine Pillen!“ Er fingerte wie wahnsinnig in seinen Taschen umher. „Meine Pillen ...“ jaulte er. Er schrie so laut, daß die Laboranten aus den Gebäuden kamen. „Ich kriege einen Anfall.“ „Einen Katzenanfall“ schluckte Henri. „Den erwischt es auch ... weil er dauernd mit dem Zeug umgeht ...“ wollte Micha sagen. Renard stürzte auf das Auto zu und sprang hinein. Wie ein Pfeil war Kommissar Rose neben ihm. Es entstand ein Handgemenge. „Ich will doch nur meine Pillen“ heulte Renard. Er torkelte um den Wagen herum, öffnete die Kofferhaube, kramte in seinem Regenmantel, in einer Aktentasche. Einmal drehte er sich noch um und warf eine Puppe heraus, einen hübschen, doch jetzt um so traurigeren Glücksbringer. „Die Puppe dürft ihr haben!“ gellte seine Stimme über das Institutsgelände. „Gebt mir nur die Pillen! Ultraschall hilft bei mir nicht mehr! Die Pillen! Romilly! Ich flehe Sie an. Pillen! Pillen! Dafür sage ich alles. Behandeln Sie die Katzen und Hunde mit Ultraschall, auch Menschen, die auf den Virus ansprechen! Es sind nur wenige.“ Er fand die Pillen gegen seinen Katzenanfall nicht. Und woher hätte irgend jemand wissen sollen, woraus sie bestanden? Als das Polizeiauto aus Brossac mit dem Haftbefehl kam, lag Doktor Renard friedlich auf dem Rasen neben dem steinernen Seestern. Er sonnte sich. Er hatte sich zusammengerollt, und sein eben noch von Ehrgeiz, von Enttäuschung und Angst zerrissenes Gesicht war geglättet. Er schlummerte, und sein Atem ging regelmäßig - wie der einer wohlig schlafenden Katze. „Hoffentlich wird er in der Heilanstalt ebenso friedlich bleiben“, murmelte Kommissar Rose, als die Beamten aus Brossac ihn zum Wagen trugen. Inga Hammerstroem atmete auf: „Und wir werden Zeit brauchen, uns zu beruhigen“, sagte sie. Romilly bemerkte zu Corne: „Es gibt noch genug zu tun! Wenigstens hat Renard uns die Ultraschall-Methode verraten! Einleuchtend genug, um sie zuerst in den Höhlen anzuwenden. Superhirn, benachrichtige die alte Dame in Felletin und vertröste sie wegen ihres Perserkätzchens. Sie hat es als erste verdient! Und wenn ihr eure Ultraschallberieselung hinter
euch habt, geht in euer Quartier. Ich glaube, keine Feriengruppe an den Stränden hat Erholung so nötig wie ihr!“ „Das möcht ich meinen!“ ächzte Tati. „Ich bin müde.“ „Und ich hab Hunger“ rief Gérard unverdrossen. „Na, was denkst du - ich etwa nicht?“ fragte Micha vorwurfsvoll. „Hier, Tati - Renards Puppe nehmen wir mit! Die kann ja nichts dafür!“ „Wer weiß?“ versuchte Prosper zu scherzen. „WAFF!“ erklang es neben ihnen. Henri fuhr herum: „Ach so, Loulou hat gebellt!“ „Der kündigt uns doch nicht etwa das nächste Abenteuer an?“ orakelte Superhirn. „Untersteh dich, so was auch nur zu denken!“ lachte Tati. „Den Schrecken haben wir hinter uns. Jetzt beginnt endlich das Vergnügen!“ Superhirn wiegte zweifelnd seinen Kopf.
ENDE
Superhirn Interpol steht vor einem Rätsel 1. Die Polizei schlägt zu: Ein „Millionending“? „Kinder - das ist ein Tag zum Blumenpflücken!“ rief Tatjana, genannt „Tati“, den Geschwistern und Freunden zu, als sie sich auf der Plattform des Turmes umsah. Durch den Aufbau mit den Meßgeräten und der Sprechfunk-Anlage kamen die anderen aus der Stiegentür heraus: Tatis älterer Bruder Henri und der kleine Micha, der zugleich der jüngste der Feriengruppe war. Gerard, Fußballfan und Starkicker seiner Jugendmannschaft, zählte wie der zapplige, nervöse Prosper zu Henris Schulfreunden. Von Prosper behauptete Gerard des öfteren mit feixendem Mondgesicht, er verfehle mit seinen unkontrollierten Füßen nicht nur den Ball, sondern er verwechsele ihn sogar vor Aufregung mit den Handtaschen der zuschauenden Mütter und Schwestern. Das war natürlich eine unverschämte Übertreibung. Dafür übte sich Prosper neuerdings als Hobbykoch, und zwar mit Erfolg. Seine Pizza war unübertroffen. Selbst Tati gestand das neidlos ein. Und wenn Gerard mit verdrehten Augen zulangte, kaute und schluckte, glich das einer Abbitte für die Frotzeleien. Die vier Jungen und das Mädchen spähten über die steinerne Brüstung in die Höhe, Ferne und Tiefe. Hier, am Cap Felmy, nahe der Gironde-Mündung an der Küste des Atlantiks, noch dazu in einem hotelähnlich ausgebauten Leuchtturm, hatten sie ihr Ferienquartier. Henri machte sich und den anderen gewiß nichts vor, wenn er sagte: „Möchte wetten, keine Jugendgruppe der Welt würde mit uns tauschen!“ Im Westen, gleich unterhalb des Steilhangs, donnerte die See. „Sie macht Musik!“ behauptete Prosper. Bei Flut schäumte die Brandung in die unteren Löcher der Felsen. Dann schien der ganze Turm zu „gurgeln“. Doch aus den Lücken über dem Wasserschwall schoß rhythmisch die verdrängte Luft ins Freie. Dem dumpfen Getrommel folgte jedesmal ein seltsamer vier- oder Fünfklang wie aus riesigen Flöten. Rubbubbubbubbubb - haaa-hooo-huuu-hiii - mit einem im Rauschen versiegenden Schluchzer am Ende. Das war ein ewiger Wasser- und Luft-Effekt. In das atemberaubende Orgelspiel mischte sich das metallische Pfeifen der fächernden Windstöße über den Köpfen der Kinder und das Geschrei der Möwen. Tati, die als begeisterte Ballettschülerin von Musik mehr verstand, hörte ganze Orchesterstücke samt Mißtönen aus dem Naturkonzert heraus. Es war noch sehr früh am Morgen. Trotzdem wimmelten die Strände im Süden des Caps Felmy von Menschen. Micha verglich sie mit „hüpfenden Bonbons“. Aber auch die Surfer und die Drachenflieger waren schon auf dem Plan, und weiter draußen, zwischen den robusten Fischerbooten, tanzten die Segel rassiger Jachten. „Ich radle nach Brossac“, sagte Tati. „Da gibt's eine Ballettschule, und dort können auch Sommergäste Kurse belegen.“ „Bist du noch zu retten?“ ächzte Gerard. „Ebenso könntest du dich als Soldat zur Fremdenlegion melden und in einem Wüstenfort Kamele satteln! Was meinst du denn, wie heiß es heute wird?“ „Die Kamelsoldaten, die du meinst“, lachte Henri, „gibt's nur noch im Film.“ „Aber ein Kamel ist da!“ sagte Tati - mit Blick auf Gérard. „Und ein recht faules, schätze ich. Es wird sich in den Schatten legen und den ganzen Tag schnarchen!“ „Na, was meinst du, was ich mache?“ rief ihr Bruder Henri. „Ich radle mit den anderen zum Strand - und dann packen wir uns in die Nähe einer Eisbude!“ „Sehr in die Nähe!“ bekräftigte Prosper.
Micha hatte nach Osten gespäht und nach seinem schwarzen Zwergpudel Loulou Ausschau gehalten. Der Hund sprang unten am Sockel des Turms herum. Man hörte ihn bellen. Grinsend kam Micha zurück: „Sagtest du nicht, das ist ein Tag zum Blumenpflücken?“ fragte er seine Schwester. „Wetten, du hast dich geirrt? Es wird ein Tag zum Staublappen-Ausschütteln werden“ Nun rannten alle zur Ostseite der Plattform. Vom Gelände des Staatlichen Forschungsamtes her, dem Cap Felmy mit dem zweckentfremdeten Leuchtturm gehörte, kam ein putziges Dreiradmobil über den Pfad geholpert, ein Leichtmotorrad mit Ladepritsche, wie es neuerdings wieder wegen seiner Zweckmäßigkeit an den Stränden gern verwendet wurde. Loulou bellte freudig. „Madame Dingdong!“ murmelte Gérard entgeistert. „Die hat uns noch gefehlt - ausgerechnet heute!“ Frau Yvonne Dydon, genannt „Dingdong“, die da energisch angeknattert kam, erinnerte in ihren Körperformen an einen Medizinball mit einem Handball drauf. Sie war die zuständige Putzfrau für das Ferienquartier der Freunde. Und da die jugendlichen hier als Gäste des Institutsprofessors Romilly umsonst wohnten, hatte man Tati und die jungen gebeten, ihr zu helfen: So war ihr Mann, Martin Dydon, für wichtigere Arbeiten frei. Es wäre unanständig, ja geradezu eine Gemeinheit gewesen, sich zu drücken. Um so mehr, als Madame Dydon eine „goldene Seele“ war. „Dingdong!“ schrie Micha. „He, hallo, Madame Dingdong!“ Nun riefen alle im Chor, das Klingeln einer Glocke nachahmend: „Ding-dong, ding-dong, ding-dong ...!“ Die robuste Frau hatte den Motor ihres Dreirads abgestellt. Den Necknamen erkannte sie als Freundschaftsbeweis längst an. Mit einer Hand winkte sie hoch, mit der anderen versuchte sie den Pudel zu streicheln. „Also gut!“ Tati mußte lachen. „Es hilft nichts! Gérard hat's herbeibeschworen: die Kamele im Wüstenfort - das sind jetzt wir ... Und Superhirn hat ein Glück! Der ist auf einem Forschungsschiff und kommt erst abends wieder.“ „Superhirn“ war das sechste Mitglied der Feriengruppe. Den ungewöhnlichen „Titel“ verdankte er, der in Wahrheit Marcel hieß, seiner oft erprobten Blitzgescheitheit. Eine halbe Stunde später - Madame Dingdong mußte natürlich erst ihre Tasse Kaffee haben herrschte in den Kammern und auf den Treppen des Leuchtturms ein Betrieb, als hielte die freiwillige Feuerwehr hier trotz der Hitze eine Einsatzübung ab. Gérard hatte die Zusatz-Wasserpumpe im einstigen Blinkgehäuse gleich unter dem Dach angeschaltet. Prosper füllte Eimer und schraubte den Schlauch oben an den Stutzen. Henri, Tati und Micha schleppten Putzgeräte und Putzmittel aus dem Anbauschuppen ins Erdgeschoß. Und das Mordsding von Staubsauger hatte Madame Dingdong mitgebracht. Außerdem etwas, das Gerard versöhnte: Spieße zum Grillen! Vor allem die Zutaten: Fleisch, Speck, Tomaten, Zwiebeln, Gewürzflaschen, Petersilie, Schnittlauch - und verschiedene Finessen, die zu einem echten „Cap-Felmy-Spieß“ gehörten. „Lecker, lecker“, schmunzelte 0“rard. „Dir läuft das Wasser im Mund zusammen“, grollte Prosper. „Aber vom zubereiten verstehst du doch nur das Kauen!“ „Nach dem Zubereiten, meinst du“, grinste Gérard. „Ich bin schließlich kein Mülleimer, sondern ein Genießer.“ Doch Tati und die jungen kamen nicht dazu, sich nach vollendeter Putzarbeit an einem gemütlichen Abendessen zu erfreuen. Bereits beim Nachmittagstee, für den Tati einen Karton kleiner, süßer Kuchen aus Brossac geholt hatte, schlug das Schicksal zu. Das Polizeiauto näherte sich mit Drehlicht und Sirene - und trotz der Tageshelligkeit aufgeblendeten Scheinwerfern - wie eine wildgewordene, hüpfende Kröte dem Leuchtturm. Vor dem Teetisch im Garten bremste der Fahrer, daß der Pudel in einer Staubwolke verschwand. Der Institutsleiter, Professor Romilly, sprang als erster heraus.
„Ruhig, Kinder, nur keine Panik“, beschwichtigte er, „Eine dumme, eine sehr dumme Sache ... ich hoffe, sie klärt sich bald zum besten ...“ Ein uniformierter Polizist ging stracks auf Madame Dingdong zu: „Sind Sie Madame Yvonne Dydon?. fragte er scharf. „Na, hören Sie! Sie kennen mich doch!“ erwiderte Madame Dingdong. Neben den Uniformierten trat ein junger Mann in Zivil. Er hielt ihr ein Formular vor die Nase: „Ich bin Kriminalassistent Gide aus Brossac. Ich muß Sie festnehmen. Wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zu einer Räuberbande und wegen eines gestern verübten Millionenraubes.“ Die brave, dicke Frau mit den schönen dunklen Augen und ihre Teetasse in der Schwebe zitterten. Sie glaubte, nicht recht gehört zu haben. Micha und Prosper blickten sich um, als gäbe es eine zweite Person, die der Kriminalbeamte vielleicht gemeint haben könnte. „Sagen Sie mal ...“, stammelte Tati. „Leiden Sie unter der Hitze? wir kennen Madame Dingdong - äh - Dydon erst seit ein paar Tagen, aber wir würden alle die Hand für sie ins Feuer legen ...“ „... und sie euch möglicherweise verbrennen“, unterbrach der Beamte. „Haltet euch zurück. Ihr kennt die Tatsachen nicht. Los, Madame, darf ich bitten ...“ Fassungslos sahen die Gefährten dem davonrasenden Polizeiauto mit dem verhafteten Frauchen nach. Professor Romilly begleitete sie - wahrscheinlich, um eine Aussage zu machen. „Das is'n Ding.“ schluckte Prosper. „Selbst Loulou kann's nicht fassen ... l“ „Wenn Superhirn nur schon hier wäre.“ zeterte Micha. „So eine teuflische Gemeinheit, dieses liebe Muttchen zu verdächtigen.“ „Was soll die auf dem Kerbholz haben ... ?“ fragte Gérard gedehnt, als ginge ihm die Tragweite der Anschuldigung jetzt erst auf. ,Hö-hö-hörst du doch!“ rief Prosper außer sich. „Sie i-i-ist die Chefin einer R-r-räuberbande! Ihre Familie entführt Flugzeuge. Und sie? K-k-klar doch, sie hat im A-a-alleingang die Sparkasse von Brossac überfallen! B-b-beute: Eine halbe Million!“ „Eine ganze Million!“ ertönte eine gelassene Jungenstimme hinter der Gruppe, die immer noch im Freien diskutierte. Tati fuhr auf dem Absatz herum. „Superhirn!“ rief sie, halb erschrocken, halb erleichtert. „Mensch, mußt du uns auch noch schocken? Wo kommst du her?“ „Wo ich herkomme?“ fragte er. Das Brillengestell mit den enormen, kreisrunden Gläsern war ihm auf die spitze Nase gerutscht. Zudem stand er neben dem Leuchtturm gegen die glutrote Sonne. Das verlieh ihm etwas Unwirkliches. „Ich hab mich vom Forschungsschiff mit einem Schlauchboot absetzen und an den SeudreSeitenkanal bringen lassen. Na ja: Und eben kam ich den Ziegenpfad herauf. Da sah ich euch hier herumspringen wie auf einer glühenden Herdplatte!“ Henri musterte den Freund stirnrunzelnd. „Du hast uns nicht nur gesehen, du hast uns auch belauscht“, stellte er fest. „Die kleine, dicke Frau Dingdong ist hier mit Trara von der Polizei hoppgenommen worden. Wie ein großer Gangsterboß. Man hat ihr die Teetasse weggerissen, als hätte sie 'ne Maschinenwaffe im Anschlag.“ Superhirn nickte, rückte die Brille zurecht und streichelte hingegeben den Pudel in seinem Arm. „Was denn?“ rief Tati kriegerisch. „Und das läßt dich kalt ...? Hast du das Affentheater mitangesehen, wie der Polizist und der Kripo-Mann aus Brossac sie verhaftet haben? Ein harmloses, liebes, dickes Frauchen?“ Superhirn schüttelte den Kopf. „Bin ja eben erst gekommen“, erklärte er. „Von der Polizeiaktion hab ich nichts mehr gesehen. Was ich sehe, ist ihr zurückgelassenes Dreirad. Und was ich hörte, war euer Wutgeschrei - samt Prospers höhnischen Mutmaßungen mit der Sparkassenbeute von einer halben Million!.
Rasch sagte Prosper: „Du hast mich aber verbessert! Du hast gesagt: eine ganze Million!“ Superhirn bückte sich und stellte den Pudel ins Gras. „Die Beute, um die es sich handelt“, berichtete er, „hat tatsächlich einen Wert von einer Million, und zwar in Dollar! Diesen Betrag hängt man unserer braven Dingdong“, Superhirn hob die Stimme, „ganz allein an?“ „Aber das ist doch ...“, begann Gérard. „... eine hübsche, runde Sache!“ unterbrach Superhirn. „Dazu kommt, daß man Madame Dingdong sogar für ein Mitglied einer internationalen Verbrecherbande hält, die vor Waffengewalt nicht zurückschreckt!“ „Also d-d-doch ein Überfall ... ?“ stotterte Prosper. Superhirn lachte bitter. „Nicht auf eine Brossacer Sparkasse, wie du wütend gesponnen hast! Es ist etwas - ganz Unglaubliches! Aber davon später. Laßt mir Zeit zum Überlegen ...“ Die sechs und der Pudel kehrten in ihr Turmquartier zurück. Im Erdgeschoß befanden sich die Schlafund Waschräume für Prosper und Gérard, außerdem eine moderne „Musterküche“ und ein bäuerlichgemütlicher Aufenthaltsraum. Der ausrangierte Leuchtturm, der seine Funktion als einer der elektronisch gesteuerten Signalgeber längs der Küste hatte abgehen müssen, diente nun Studenten des Forschungsinstituts von Brossac als Unterkunft. Da die jetzt aber ebenfalls Ferien hatten und in alle Windrichtungen verreist waren, durften Tati und die jungen hier wohnen. Diesen Vorzug verdankten sie Superhirn. Dessen Vater, ein Gelehrter von Weltrang, befand sich zwar in Afrika, doch der Leiter der Brossacer Außenstelle des Staatlichen Forschungsamtes, Professor Romilly, und seine Kollegen schätzten auch den Sohn, der bereits den Europa Preis des Wettbewerbs „Jugend forscht“ errungen hatte. Ihr Wohlwollen erstreckte sich inzwischen auch auf Tati, deren Geschwister und Henris Klassenkameraden Prosper und Gerard. „Auf die Cap-Felmy-Spießchen hab ich keinen Appetit mehr“ erklärte Tati nun. ach mach schnell einen Salat. Das Fleisch und den Speck tun wir in die Tiefkühltruhe. Prosper, hau irgendwas aus den Büchsen in die Pfanne.“ Superhirn sauste in den Mittelstock des Turms, wo er und Henri wohnten. Er kam mit einem Notizblock zurück. Gerard, Micha und Henri brachten die Gartenmöbel in den Anbau. Dann näherten sie sich mit Saftbechern dem Tisch und lugten Superhirn über die Schulter. „Schreibst du Verdachtsmomente auf?“ brummte Gerard. „Selbst, wenn du der größte Meisterdetektiv der Welt wärst: Daß Madame Dingdong auch nur 'ne Stecknadel klauen würde, nähm' ich dir nicht ab!“ „Ich auch nicht!“ rief Micha, „Sag mal, Superhirn“, drängte Henri, „du warst doch auf See, als das alles geschah - und weiß der Teufel, was eigentlich Madame Dingdong damit zu tun hat: Durch welchen Draht hat man dir was geflüstert?“ „Durch keinen!“ Superhirn lächelte. „Die Nachricht kam über Bordfunk. Professor Romilly teilte der Besatzung des Forschungsschiffes mit, Madame Dingdong stehe unter dringendem Tatverdacht. Er fragte, ob jemand eine Beobachtung gemacht habe, was ihre Ehrlichkeit beträfe!“ „Was ... ?“ schrie Tati von der Anrichte her. „Die sind wohl wahnsinnig! Die liebe, dicke Dingdong ist die ehrlichste Haut, die's gibt!“ „Und ihr - ihr seid geborene Kriminalisten, wie?“ versetzte Superhirn spöttisch. „Mehr noch: Ihr könnt wohl auch durch die Wände gucken! Bevor ich euch in alles einweihe, mache ich erst mal mit euch einen kleinen Test.“ „Und der wäre?“ fragte Henri wachsam. „Geht alle in euer Zimmer und seht nach, was da seit dem letzten Besuch Madame Dingdongs fehlt!“ „Fehlt ... ?“ riefen alle wie auf Kommando. Prosper schob die Pfanne zur Seite und schaltete den Herd ab.
„M-m-madame Dingdong hätte uns was geklaut ... ?“ forschte er. Sein Adamsapfel zuckte heftig. „Wann - heute?“ „Schon vorher“, sagte Superhirn knapp. „Geht jetzt!“ Nach zwanzig Minuten fanden sich alle wieder bei dem Spindeldürren ein. Der blickte von seinem Notizblock hoch. „Und?“ Mehr fragte er nicht. Tati war kalkweiß. Sie hatte offenbar etwas bemerkt, was ihr Begriffsvermögen überstieg. Auch Micha sah ziemlich käsig aus. Die drei anderen schwiegen mit zusammengepreßten Lippen: Sie wußten wohl auch schon Bescheid. „Es ... „, begann Tati heiser, „es ist nur eine dumme Kleinigkeit. Micha und ich haben das blöde Ding gar nicht erst vermißt, wir sind ja auch nicht weiter scharf darauf - aber ...“ „Aber du bist trotzdem geplättet!“ fiel ihr Superhirn ins Wort. „Und ihr andern traurigen Gestalten? Allesamt am Boden zerstört?“ Tati faßte sich allmählich: „Aber, ich bitte dich, Superhirn! Es ist doch nur eine alberne, kaum fünfzehn Zentimeter große Puppe! Ein Talisman, ein Glücksbringer, 'n Mädchen in holländischer Tracht. So'n Auto- oder Fahrradanhänger.“ Superhirn nahm seinen Notizblock und reichte ihn Henri schweigend über die Schulter hinweg. „Verflixt, das ist aber dämlich!“ rief Henri, als er die Zeilen überflogen hatte. Laut las er vor: „Eine Puppe der Turmbewohner vom Cap Felmy wurde am Tatort des Millionenraubes sichergestellt. Vor dem Verbrechen hatte Madame Dingdong sie dort unter Zeugen ausgepackt und behauptet, sie habe das gestohlene Stück im Park von Schloß Rodincourt gefunden. Da an der Puppe eine Anstecknadel befestigt war, wie sie Institutsgäste zum Zeichen der Eintrittserlaubnis tragen, rief die Polizei Professor Romilly an. Romilly, besonders aber seine schwedische Mitarbeiterin Hammerstroem, erinnerte sich genau an das Holland-Meisje und die derzeitige, rechtmäßige Besitzerin: Tatjana, genannt Tati. Ergebnis eines Funkgesprächs zwischen Romilly in Brossac und Superhirn, an Bord eines Forschungsschiffs auf See ...“ Henri ließ den Block sinken und murmelte: „Ende!“ „Welcher Blödmann piekt seine Eintrittsplakette schon an einen Puppenrock?“ erboste sich Gérard. „Dieses Biest stand doch in Tatis und Michas Zimmer! oder? Also kann nur einer von euch beiden so bescheuert gewesen sein! Und das liefert jetzt die arme, dicke Dingdong ans Messer.“ „Ja, willst du nicht erst einmal wissen, was Frau Dingdong vorgeworfen wird?“ rief Superhirn. Es war mucksmäuschenstill. Wie auf Samtpfoten kroch der Pudel unter den Tisch, als spüre er Pulver in der Luft. „madame Dingdong gehört weder zur festen Putzkolonne des Forschungsinstituts, noch ist sie nur für dieses Turmquartier unter Vertrag“, erklärte Superhirn. „Sie arbeitet auch einige Stunden in der Woche im Schloß von Rodincourt!“ „Was denn - in dem ollen Felsenkasten nebenan?“ warf Gerard ein, „Immerhin ist dieses nebenan über einen halben Kilometer entfernt“, fuhr Superhirn fort. „Besitzer sind die Nachfahren der Grafen von Rodincourt und Brossac. Der Familienboß ist der Erfinder der durchgehenden Eisenbahnschiene.“ „Ich will nichts von einer Eisenbahnschiene hören!“ rief Micha ungeduldig. „Und von den Grafen und Bossen hab ich keinen Schimmer! Wozu auch? Was hat das mit unserer Dingdong zu tun ... ?“ „Sehr viel, wenn nicht gar alles“, erwiderte Superhirn kühl. „Denn das ist's ja gerade: Die Besitzer von Schloß Rodincourt halten sich sehr zurück. Bis jetzt war überhaupt nicht bekannt, daß in dem ,Felsenkasten' Millionenwerte sind - äh - waren. Auch ich wußte nichts davon, Und ihr müßt bedenken, ich bin länger hier als ihr! Ich dachte sogar, die Sippe sei längst ausgestorben, und in dem Gemäuer hausten nur Verwalter, Ratten, Fledermäuse und Katzen! besonders Katzen! Die Katzenplage ist ja erst seit einigen Tagen vorüber.“ „Alles nicht neu!“ drängte Henri. „Weiter im Text!“
„Einzig Madame Dingdong wußte von den Schätzen im Schloß!“ sagte Superhirn. „Und das wäre dann schon das Wichtigste.“ „Aaach ...“, begriff Tati. „Und weil sie davon wußte, und weil die Schätze geraubt wurden soll sie, nur sie, als Täterin in Frage kommen?“ „Eben. Gestern, 17 Uhr, reinigte Madame Dingdong das sogenannte Tresorzimmer, in dem nichts war als das Eine-Million-Dollar-Gemälde von Barbarini, genannt der RÄUBERSCHWUR. Sie verabschiedete sich eilig. Kaum war sie aus der Tür, fand man den leeren Rahmen an der wand, davor auf dem Fußboden aber den bewußtlosen 87jährigen Herrn Rodincourt. Weder sein Sohn noch die beiden Wachmänner, noch die Köchin und der Gärtner wollten begreifen, daß unsere liebe Dingdong die Täterin war. Doch im Krankenhaus von Brossac erwachte der alte Herr heute mittag aus seiner Bewußtlosigkeit. Er sagte aus, Frau Dingdong habe ihn mit einem harten Gegenstand niedergeschlagen, nachdem sie das Millionenbild aus dem Rahmen geschnitten habe. Daraufhin erst wurde der Haftbefehl erwirkt und die Polizei kam hierher.“ jetzt setzten sich Tati und die jungen nacheinander auf die Eckbänke. Superhirn rückte ein wenig zur Seite und putzte sich seine Brille. Selten hatten die anderen seine Augen so glanzlos und müde - und seine Nase so spitz gesehen. Er gab sich gelassen - und war doch genauso verzweifelt wie seine Gefährten. Da ertönte eine bedrohliche Baßstimme von der Tür her: „Heda, ihr Räuber! Könnte euch so passen, hier die Unschuldslämmer zu spielen! Gebt das geklaute Bild raus! Aber dalli, dalli.” 2. Geisterhände an der Wand - im Turm spukt es wie wild! Der Pudel kläffte wie rasend. Tati und die jungen fuhren von den Bänken hoch. Aber Superhirn hob beschwichtigend die Hand. Er kannte die Stimme des Ankömmlings, und er hatte sofort begriffen, daß es sich um einen groben Scherz handelte. „Ah, Corporal Aristide!“ rief der mit gespielter Munterkeit. „Sie sind's! Und Sie wollen uns sicher mitteilen, daß man die gute Frau Dingdong freigelassen hat.“ Prosper- schaltete die Deckenbeleuchtung an. Draußen hätte man noch unter freiem Himmel Zeitung lesen können. Hier, im Erdgeschoß des Turms, war es ziemlich schummrig, Der Polizei-Corporal Aristide gehörte zur „alten Garde“ des Postens in Brossac. Da er zu den besten Rugby- und Fußballspielern des Departements gezählt hatte, war er überall beliebt. Eher als seine jungen Kollegen konnte er sich ein privates Wort erlauben. „Fehlanzeige, leider“, seufzte er, sich einen Schemel heranziehend. „Die brave alte Yvonne, die ihr Dingdong nennt - hm-hm, tja: die sitzt in U-Haft im Polizeigefängnis von Brossac, und man bewacht sie wie eine nicht entschärfte Bombe.“ „Sie halten sie für unschuldig?“ stieß Henri geistesgegenwärtig vor. „Ja klar!“ rief der Beamte überrumpelt. „Völlig! So unschuldig wie mein neugeborenes Enkelkind!“ „Gratuliere!“ feixte Superhirn. Corporal Aristide vergaß seine Offenherzigkeit und wurde im Handumdrehen dienstlich. „Was heißt das?“ fragte er mißtrauisch. „Führt ihr mich aufs Glatteis?“ Tati sagte schnell: „Superhirn hat nur wegen des Babys gratuliert. junge oder Mädchen?“ „Mädchen!“ schmunzelte Aristide freudig. „Danke für die Anteilnahme. Spielt einer von euch Fußball, ich meine: leidenschaftlich?“ „Ich!“ rief Gérard. „Melde dich mal bei unserer Jugendmannschaft, die baut gern mal einen Gast mit ein“, erklärte der Polizist. Er nahm die Mütze ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte sich um: „Ich hab gehört, ihr seid in Ordnung“, fuhr er anerkennend fort. „Ihr habt euch ja bei der Katzen-Epidemie sehr bewährt. ja, das war 'ne böse Sache. Aber das ,Millionending' von eurer lieben Dingdong, das dürfte in die Geschichte eingehen! Man wird davon noch länger erzählen
als vom Kaiser Napoleon, der auf einem dieser Leuchttürme hier vor der Küste auf den Abtransport in die Gefangenschaft wartetel“ „Die gute Putzfrau und der Kaiser Napoleon!“ ärgerte sich Prosper. Er patschte sich mit der flachen Hand an die Stirn. „So ein W-w-wahnsinn! Madame Dingdong soll den Schloßherrn niedergeschlagen haben und mit einem K-k-kunstschatz davongehopst sein! Ha-hat man denn schon 'ne Spur von dem R-r-raub?“ Aristide griff nach seiner Aktentasche, die er an den Schemel gelehnt hatte: „Eh ich's vergesse ich bring euch die kleine Puppe zurück!“ Er nahm das holländische Trachtenfigürchen heraus und reichte es Tati. „Die Quittung ist vorbereitet. Du mußt unterschreiben!“ Fast widerwillig griff Tati nach der Puppe. Ganz plötzlich kam ihr ein Einfall, und sie glaubte sicher, der armen Dingdong damit helfen zu können: „Die hab ich Madame Dingdong ja geschenkt!“ log sie. „Gleich nach unserer Ankunft, natürlich! Als sie uns das erstemal Gemüse brachte!“ Superhirn stieß das Mädchen unmerklich mit dem Ellbogen an. Warnend in die Runde blickend, sagte er sehr deutlich: „Nein, Tati, du wolltest dich nur breitschlagen lassen, sie ihr zu geben, weil sie so sehr darum bettelte! Wir anderen meinten: Kommt nicht in Frage, die Puppe ist dein Glücksbringer, und Madame Dingdong kommt zum Putzen her, nicht zum „Abstauben“! Auf meinen teuren Radiowecker hatte sie auch ein Auge geworfen. Stimmt's, Henri ... ?“ „Stimmt“, bestätigte Henri prompt. Ihm war sofort klar, daß Superhirn etwas im Schilde führte, Micha öffnete den Mund, schloß ihn jedoch sogleich wieder, als ihn Superhirns Blick traf. Gérard kniff die Augen, und Prosper rieb sich heftig das Kinn. Aber auch er schwieg. „Ist das wahr ... ?“ staunte Aristide. „Kinder, man lernt nie aus, nie ...“ Er schüttelte bekümmert den Kopf. „Dienstlich darf ich ja keinen Tatverdacht wegleugnen, noch dazu, wenn er so eindeutig ist, wie in diesem Fall. Aber privat - privat hätt ich darauf geschworen, daß die Frau eher ihr letztes Paar Schuhe verschenken würde, als auch nur ein einziges Radieschen aus Nachbars Garten zu ziehen. ja, ich muß jetzt fort. ich sollte nur die Puppe abgeben und das Dreirad abholen!“ „Richtig, Madame Dingdongs fahrbarer Untersatz - er steht noch draußen“, erinnerte sich Henri. Der Beamte erhob sich: „Wenn ihr 'ne Liste aufstellen wollt, falls ihr noch was vermissen solltet ... K „wir haben schon überall nachgeguckt: Außer der Puppe fehlte nichts“, sagte Superhirn. „Aber ich würde gern ein Foto oder eine Beschreibung des geraubten Millionenbilds haben. Was meinen Sie? Wäre das möglich?“ „Verstehe!s Aristide lachte: „Ihr seid erprobte Detektive l Aber da kann ich euch helfen! Der Sohn des Besitzers, der junge Herr von Rodincourt, hat der Polizei einen Stoß von Privatprospekten überlassen.e Er griff in die Brusttasche und zog ein rechteckiges Stück Glanzpapier im Oktavformat hervor. „Hier ist das Gemälde verkleinert abgebildet, in bunt. Die Originalmaße stehen dabei!“ „Wo - wo ... Das möcht ich sehenk rief Tati und folgte mit den anderen Superhirn, der das Blatt zum Tisch trug und sich darüberbeugte. „Othello Barbarinis RÄUBERSCHWUR”, las Superhirn. „Von unwissenden Betrachtern ursprünglich Geisterhände' genannt . . „ „T-t-toll!“ staunte Prosper. „So'n Bild hab ich noch nie gesehen! Es w-w-wundert mich nicht mehr, daß es 'ne M-m-million Dollar wert ist ...!“ Superhirn las weiter: „Das Bild stellt die zu einem Schwur über einem nächtlichen Feuer gekreuzten Hände einiger Abruzzen-Räuber dar ...“ „Unheimlich“, hauchte Tati beeindruckt. „Der Flakkerschein, der Rauch, die Schatten der Finger ...“ „Und wie lebendig die Hände sind!“ wunderte sich Gérard.
„Die Gesichter, die Gestalten - nichts, nichts sieht man von den Räubern; nur die Unterarme und die Händek rief Henri in höchster Bewunderung. „Es ist, als könnte man sich die Räuber dazudenken“, wisperte Micha fast ehrfürchtig. „Trotzdem“, murmelte der Beamte. „Ich würd's nicht mögen! Stellt euch das mal in Riesengröße vor! Die Wiege meines Enkelchens möcht ich nicht drunterstellen! Das arme Kind könnt sich an den Räuberpfoten vergucken.! Er verabschiedete sich und schloß in dem Moment die Tür von außen, in dem Prosper ohnmächtig zusammenbrach. Im Wanken hatte er auf die wand gedeutet. Mit dumpfem Geräusch sackte er auf den Bodenbelag. Das Erdgeschoß des Leuchtturms war eckig, und zwar durch die notwendig gewordene Erweiterung der Wirtschaftsräume. Die Wände zwischen den unterschiedlich großen Fenstern hatte man teilweise bespannt oder mit lustigen Symbolen bemalt, die an das Meer erinnern sollten. Ein Teil aber war frei und grellweiß, Und dort hing - in Riesengröße - plötzlich das Originalgemälde von Barbarinis RÄUBERSCHWUR. Noch nie hatten die Freunde Superhirn so unbeherrscht gesehen. Er kümmerte sich nicht um den vor Schreck bewußtlos gewordenen Prosper, und er betrachtete kaum noch das gestohlene Original von Barbarinis RÄUBERSCHWUR, die „Geisterhände“ an der Wand - er tobte! Tatsächlich: Superhirn tobte vor Verzweiflung und Wut ... ! „Das war's, was ich verhindern wollte!“ schrie er. „Ich wollte auf keinen Fall, daß auch nur die geringste Spur zu unserem Turm führt! Ich hab den winzigsten Schatten eines Verdachts verscheucht, wir könnten aus Mitleid mit der Dingdong irgendwas verschweigen, sie etwa zu schützen versuchen oder gar Mitwisser, ja, Helfer eines Millionendrehs sein!“ Tati kniete neben dem ächzenden Prosper. Gérard suchte im Küchenbord ein Glas, um ihm Wasser zu bringen. Micha beruhigte Loulou. Nur Henri stand wie angewurzelt und starrte auf das Riesengemälde an der Wand. Die Maße standen ja im Prospekt: 1 Meter 20 breit und 57 cm hoch- Das Lagerfeuer, über dessen glimmende Scheite sich die Räuberhände zum Schwur vereinigten, wirkte so eindringlich, daß man die Glut bald stärker, bald schwächer zu sehen glaubte. Der Rauch schien dünn und träge über den Rand zu ziehen. Eine der Hände, so war es dem Betrachter, ballte sich unter seinen Blicken zur Faust ... Das alles war natürlich nur Einbildung, Die unerhörte Ausdruckskraft des Bildes, das Genie des Malers erzielten bei längerem Betrachten den unheimlichen Effekt. „Prosper!“ Tati schüttelte den jungen, der die Augen jetzt weit geöffnet hatte: „Gibt's denn noch einen Grund, weshalb du aus den Latschen gekippt bist? Hast du noch was anderes gesehen als das Bild? Vielleicht einen Menschen ... ?“ Währenddessen tobte Superhirn weiter: „Ich wollte gar nicht erst den Anschein aufkommen lassen, daß der Raub bei uns versteckt sein könnte!“ „Ja, aber warum denn?“ rief Micha schrill. „Wir haben doch mit der Sache nichts zu tun!“ „Das erzähl mal der Polizei!“ herrschte der Spindeldürre ihn an. „Die Kripo stürzt sich auf uns wie ein Wespenschwarm, wenn sie Diebesverstecke hier auch nur vermutet! Weshalb - meinst du - hab ich dem Polizisten vorgeschwindelt, die gute Dingdong war auf meinen Radiowecker scharf?“ „Ist mir klar: um vorzutäuschen, daß wir den Quatsch von ihrer Täterschaft glauben!“ sagte Henri, sich vom Anblick des Bildes losreißend. „Genau! Denn nur so können wir ihr helfen!“ rief Superhirn. „Mitleid allein bringt uns da nicht weiter - nur List kann helfen! Und da hängt nun plötzlich der Millionenraub in voller Größe, original, mitten unter uns! Wenn ich nur wüßte ...“ Er unterbrach sich und lauschte. „Was ist das? Wo kommt das Klopfen her? Und das Gebrüll?“ Dumpf tönte es aus dem Vorraum: „Aufmachen - sofort aufmachen - Kriminalpolizei ...!“ „Kripo!“ schluckte Tati.
Augenblicks stand Prosper wieder auf den Beinen. „Ich weiß, wo das herkommt!“ zischte Gerard. „Aus dem Schacht zum Heizkeller! Und da ist der Deckel drüber.“ „Klar!“ begriff Superhirn. „Schloß Rodincourt ist mit dem Turm durch ein unterirdisches Gangsystem verbunden! Denn früher stand hier ein Fort zur Abwehr von Seepiraten! Die Kripo hat vom Schloß her die Höhlen durchsucht und ist die Leiter unter dem Vorraum hochgeklettert!“ „Seitdem sich so viele Katzen da unten rumgetrieben haben, ist der Deckel gesichert. Die Männer können bestimmt nicht rauf!“ sagte Henri. „Das ist die Rettung!“ überlegte Superhirn fieberhaft. „Los, raus hier! Man darf das Bild nicht finden[ Nimm es von der Wand, Henri, verbirg es irgendwo. Und du, Micha, du rennst in euer Zimmer hoch und versteckst die Puppe! Du sagst, du hast sie vor Wut über den Diebstahl ins Meer geworfen!“ „Wieso denn ...?“ fragte der Jüngste verständnislos. „Weil sie die Puppe als Beweisstück gegen Madame Dingdong zurückfordern könnten, drängte Superhirn. „Rasch, eh sie den Deckel aufbrechen!“ Henri wandte sich dem geraubten Bild zu. Tati, Superhirn, Gerard und Prosper liefen in den Vorraum, zum eisernen Runddeckel im Fußboden. Micha rannte an ihnen vorbei, die Treppe hoch, um das Holland-Meisje in Sicherheit zu bringen. Gérard nahm einen winzigen Schlüssel vom Haken, und drehte ihn im kürzlich eingebauten Verschluß der Bodenplatte. Mit vereinten Kräften hoben sie den Deckel an und schoben ihn zur Seite. Loulou wollte seinen Kopf in den Schacht stecken. Doch er zuckte vor dem Lichtkegel einer Stablampe zurück. Tati knipste die Beleuchtung im Turmraum an. Das erste, was die Gefährten sahen, war das wutrote Gesicht des Kriminalassistenten Gide; das war der Beamte, der die arme Madame Dingdong verhaftet hatte. „Habt ihr Tomaten auf den Ohren?“ fragte er. Er kam die Treppenleiter hoch und klopfte sich den Staub von den Knien und Ellbogen. Ihm folgte keuchend ein dicklicher Herr in Jagdbekleidung. „Herr Robert Rodincourt, der Sohn des überfallenen Gemäldebesitzers“, stellte Gide mürrisch vor. Zuletzt zeigten sich zwei wahre Kofferschränke von Kerlen: die Wachmänner vom Schloß Rodincourt. Sie sprachen kein Grußwort. Als Kripo-Assistent Gide sie bekanntmachen wollte, brummte der eine nur: „Keine Namen bitte. Ich heiße X, mein Kollege heißt y. Sie verstehen?“ „Klar“, nickte Gide. Die beiden „Kofferschränke“ wollten anonym bleiben. Bei ihrem Job fürchteten sie einen Anschlag gegen ihre Familie. Aber das machte den „Besuch von unten“ nicht gemütlicher. „Wir konnten nicht ahnen, daß Sie durch die Gänge kommen würden“, entschuldigte sich Superhirn. „Außerdem war Corporal Aristide eben noch hier, und der hat uns nichts von Ihnen gesagt!“ „Schon gut“, erklärte der Kripo-Assistent, nun schon freundlicher. „Habt ihr nicht einen Raum, wo man sich besser unterhalten kann?“ Tati und die drei jungen hielten den Atem an. Oben suchte jetzt Micha nach einem Versteck für die Puppe, und im Aufenthaltsraum jonglierte Henri wahrscheinlich noch mit dem meterlangen Millionenbild herum! Prosper schwankte, als sei er am Rande der nächsten Ohnmacht. und weder Tati, noch Gérard oder Superhirn dachten an etwas anderes als an den Schock für alle Beteiligten, Henri mit dem geraubten Bild im Aufenthaltsraum hin und her irren zu sehen ... Gide hatte die Hand schon auf der Klinke, da besann er sich anders: „Ach, wir gehen erst mal nach oben. Von der Plattform hat man eine gute Übersicht über das ganze Gelände. Vielleicht bringt uns das was!“
„M-m-mir fällt ein Stein vom Herzen“, japste Prosper an Tatis Ohr. Der Kripo-Assistent wandte sich an Superhirn: „Also hat Corporal Aristide euch schon angehört? Schön, sehr schön. Das erspart mir Zeit. mit der Tatverdächtigen ist keiner von euch verwandt?“ „Das wär das Letzte.“ rief Tati in vorgetäuschter Empörung. „Eine Person, die unser Vertrauen so mißbraucht hat, streich ich von meiner Liste.“ „Garantiert!“ warf sich Gérard in die Brust. „Hier hat sie schmierfreundlich getan - und vor ihrer Festnahme sogar noch Kuchen gegessen.“ Die beiden Wachmänner, „Kofferschrank X“ und „Kofferschrank Y“, grinsten fatal. „Kuchenfressen ist das Geringste“, brummte X mit schnarrender Baßstimme. „Bei uns hat diese Höllentante eher blaue Bohnen in der Schürze gehabt!“ „Aber garantiert“, bekräftigte „Kofferschrank Y“. „Übrigens ...“, sagte Superhirn scheinbar beiläufig, „wenn der Raub schon gestern stattgefunden hat, weshalb schnappten Sie die vermeintliche Täterin erst heute?“ mir wollten absolut sichergehen“, erwiderte Gide. „Auch uns erschien es zunächst wie ein Witz, daß die als treu und bieder bekannte Madame Yvonne Dydon so brutal und gerissen sein könnte. Aber dann bekamen wir sehr rasch heraus: Die Frau hat in den letzten drei Jahren in verschiedenen Häusern gearbeitet, darunter in Marennes und Royan, wo ebenfalls teure Bilder verschwanden. Heute mittag erwachte der überfallene Schloßbesitzer von Rodincourt aus seiner Bewußtlosigkeit - er hat eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung-, und er sagte aus, die Putzfrau habe ihn niedergeschlagen und das Gemälde geraubt.“ „Auch meine Beobachtungen im Schloß sprechen dafür“, erklärte der Sohn Robert. „Es gibt nicht den geringsten Zweifel mehr. Die Frage ist nur, mit wem sie zusammenarbeitet und wo das geraubte Bild jetzt ist!“ Mittlerweile war die Kolonne im mittleren Stockwerk des Leuchtturms angelangt. Dort befand sich das Quartier von Superhirn und Henri. im obersten Stockwerk hatten Tati und Micha ihre Wohnung - und dahinein war Micha geflitzt, um die Puppe zu verstecken ... „Geht's noch sehr viel weiter rauf?“ keuchte der dickliche junge Rodincourt. „Diese Leuchttürme sehn von weitem immer kleiner aus, als sie sind!“ „Nein, nein“, beschwichtigte Tati. „Nur noch an der dritten Wohnung, am Maschinenraum und am ehemaligen Leuchtgehäuse vorbei! Dann sind wir auf der Plattform!“ Gérard, der als vorletzter die Treppe hochstieg, drehte sich zu Superhirn um. Grinsend flüsterte er: „Von mir aus könnten die in 'ner Wolke verschnaufen! Um so mehr Zeit hat Henri, das Bild zu verstecken.“ Da entstand vor ihnen Verwirrung. Micha kam aus der Tür geschossen, zwängte sich durch die Gruppe der Erwachsenen und fiel - an Prosper und Tati vorbei - in GLsrards und Superhirns Arme: „Das Bild hängt jetzt hier oben!“ keuchte er. „Was will der Knirps?“ fragte „Kofferschrank Y“, während er sich umwandte. „Er fragt, was Sie hier oben wollen!“ rief Tati schnell. Denn auch sie und Prosper hatten Michas Schreckensbotschaft verstanden. Die Männer waren zum Glück etwas „außer Puste“, ihr Sinn stand jetzt einzig und allein danach, die Plattform zu erreichen und nach einsamen Hütten oder verdächtig abseits ankernden Schiffen zu spähen. So kümmerte sie das Gewisper der jugendlichen nicht. Zudem bellte der Pudel fortwährend. Das geraubte Bild, das sie unten in Sicherheit glaubten, war ihnen also „vorausgeschwebt“ und hing jetzt im oberen Teil des Leuchtturms? Und die „Spürkolonne- hatte sich nicht von ihm entfernt, sondern war ihm sogar entgegengestiegen ... ? Nein, das gab es nicht! Das konnte, das durfte nicht sein! Bei allem, was in dieser Welt möglich war - in so kurzer Zeit konnten doch nicht so viele Leute an ein und demselben Ort verrückt spielen ...
Hatte Henri etwa eine Leiter angestellt, um mit dem geraubten Bild in die dritte Turm-Etage zu klettern? Eine derart lange Leiter gab es nicht, denn schließlich war Cap Felmy kein Feuerwehrstützpunkt. Außerdem war das Bild keine Postkarte, sondern ein riesiges Gemälde ... Diese kaum faßbaren Gedanken bewegten die jungen Gefährten. Die Männer waren jetzt auf der Plattform im Freien, Superhirn öffnete die Tür zur Wohnung von Tati und Micha. Totenbleich kam er wieder herausgeschossen: „Mich laust der Affe! Das Bild hängt zwischen Fenster und Bad!“ „Ach, Quatsch ... „, hauchte Tati, doch ihr Blick bewies, daß sie Superhirn glaubte. „Los, rauf auf die Plattform! Unterhaltet euch mit den Männern! Nichts anmerken lassen!“ Superhirn stob die Treppe hinunter - und prallte auf Henri. Wenn es darauf ankam, war Henri von allen der verläßlichte und ruhigste Partner Superhirns. Doch jetzt ruderte er mit den Armen und rollte die Augen, als hätte er eine Kartoffel im Hals. Superhirn rüttelte ihn an den Schultern: „So sprich doch! Was ist mit dem Bild?“ „Weg!“ würgte Henri. „Einfach - weg ...!“ Er riß sich los und starrte Superhirn an: „Was macht ihr denn mit mir? Haltet ihr mich für blöd? ich soll das Bild verstecken, ihr lauft in den Vorraum, ich schließe die Tür, schieb sogar noch den Riegel davor - und als ich mich umwende, hängt das Bild nicht mehr da! Ihr habt es mitgenommen!“ „Du tickst wohl nicht richtig?!“ raunte Superhirn. „Ist das Gemälde eine Briefmarke? Na also! Du machst mir Vorwürfe! Dabei wollte ich dich fragen, wie du das Bild in den dritten Stock gebracht hast!“ Henri hielt sich am Geländer fest: „Wooohin ... ?“ krächzte er. „In Tatis und Michas Wohnung! Da hängt es jetzt! ja, guck nicht so! ich spinne nicht! Das geraubte Gemälde prangt in Originalgröße da oben zwischen den Betten und der Tür zum Bad!“ Wortlos starrten sich die beiden Freunde an. Henri gewann langsam seine Fassung zurück. In normalem Ton sagte er: „Ich hab das Bild unten im Empfangszimmer nicht mehr gesehen - und zwar von dem Moment an, als ihr in den Vorraum ranntet. Ich konnte es gar nicht fassen! Wie ein Affe bin ich mir vorgekommen, als ich es suchte ...“ „Und Micha ist sich wie drei Affen auf einmal vorgekommen, als er das Ding plötzlich bei sich oben hängen sah!“ unterbrach Superhirn. „Hier ist ein Dritter im Spiel“, meinte Henri dumpf. „Einer, der mich und Micha gefoppt hat, ohne daß wir's merkten ... Hm, aber nein. Wie sollte der das angestellt haben?“ „Ja - wie! Das ist der springende Punkt“, meinte Superhirn. „Hinter der Sache steckt nicht nur ein Verbrecher, sondern ein wahrer Teufel, ein Ungeheuer.“ „Los, laufen wir nach oben und sagen dem Kripo-Assistenten Bescheid“, riet Henri. „Ja“, stimmte Superhirn zu. „Aber auf meine Art, hörst du? Auf meine Art!“ „Okay!“ Superhirn und Henri jagten die Stufen empor. Sie kamen nur bis zur obersten Wohnung. Auf der Treppe stand micha und hielt sich den Hals, als hätte ihn jemand gewürgt. „Wo sind die anderen?“ fragte Henri. „Mit den M-m-männern auf der Plattform!“ stotterte der jüngste. „Aber ...“ „Was, aber?“ drängte Superhirn. „In unserer Wohnung ... „, bibberte Micha. „Ja, ja, da hängt das Bild, das weiß ich schon.“ sagte Superhirn ungeduldig. „Nun krieg dich erst mal wieder ein. Das werden wir gleich klären.“ Er wollte Micha zur Seite schieben, doch der jüngere krallte sich an ihn: „Nichts weißt du! Nichts kannst du klären ... fauchte er in höchster Aufregung. „Da drin hängt nämlich nicht mehr der geklaute RÄUBERSCHWUR sondern ... „
„Etwa wieder gähnende Leere?“ fragte Henri. „Nein, ein anderes Bild! Es ist „Die große Seeschlacht“ von Patrick Doyle. Das kenn ich aus meinem Geschichtsbuch!“ „Eine rausgerissene Seite etwa?“ staunte Henri. „Nein! Original! Etwa 1 Meter 20 breit und viel höher als das mit den Geisterhänden.“ „Nun brat mir einer Pinsel und Palette - und einen Zentner Farbe dazu ... k stöhnte Superhirn. 3. Flammen am Himmel - Auszug der Gäste ... „Wo ist die Seeschlacht' von Patrick Doyle?“ fragte Henri. „Ich will sie mit eigenen Augen sehen.“ „Du glaubst noch immer nicht, daß hier geschehen kann, was normalerweise nicht möglich ist?“ lächelte Superhirn trübe. „Der Fall ist allerdings noch schlimmer! Denn die Seeschlacht von Doyle hängt seit 1824 in der National Gallery in London! Also müßte das Bild über den Kanal geflogen sein: ein längerer und umständlicherer Weg als der vom Nachbargrundstück bis zu unserem Turm! Und in der Londoner Nationalgalerie hat Madame Dingdong bestimmt nicht Staub gewischt!“ Die drei Jungen spähten in die Wohnung von Tati und Micha hinein. „Na, wo ist das Bild?“ fragte Henri gereizt. „W-weg ...!“ staunte Micha. „Verschwunden!“ „Sag mal, Micha“, fragte Superhirn rasch. „War die Seeschlacht in einem Rahmen? War Barbarinis RÄUBERSCHWUR überhaupt gerahmt, als er unten hing?“ Er betrachtete die Wand: „Kein Haken, kein Nagel. Henri! Hast du im Aufenthaltsraum eine Vorrichtung zum Aufhängen bemerkt? Oder eine Spur in der Mauer, etwa durch das gewaltsame, das heißt eilige Beseitigen eines Hakens?“ „Nee, Mensch!“ staunte Henri. Jetzt, wo du mich darauf bringst - es war keine Spur in der Wand! Ich hab extra darüberweg getastet!“ „Hier gibt's auch kein Anzeichen dafür, daß da ein Gemälde von Museumsgröße gehangen hätte“, murmelte Superhirn. „Aber ich habe nicht geträumt!“ beharrte Micha. „Das behauptet ja auch niemand“, sagte der spindeldürre junge. „Und ich glaube mich auf einmal genau zu erinnern: Der RÄUBERSCHWUR war nicht gerahmt!“ „Die Seeschlacht auch nicht.“ erklärte Micha mit Bestimmtheit. „Immerhin, die Rahmen sind bei so teuren alten Schinken schließlich das Schwerste“, gab Henri zu bedenken. „Madame Dingdong ist zwar robust, aber so ein Gewicht kann sie nicht schwingen wie 'ne Putzmittelflasche!“ „Besonders nicht von London bis hierher!“ spottete Superhirn. „Kommt jetzt auf die Plattform“ oben, unter dem spätabendlichen Silberhimmel, umweht vom milden Atlantikwind, stand die Erwachsenengruppe: der Kripo-Assistent Gide, der Sohn des überfallenen Schloßbesitzers und die beiden „Kofferschränke“. Prosper und Gérard hielten sich schweigend abseits. Auch Tati sprach kein Wort. Sie streichelte geistesabwesend den Pudel auf ihrem Arm. Ebbe hatte eingesetzt. Der Seudre-Kanal und der Seudre-Fluß führten wenig Wasser. An den Kais lagen die Fischerboote schräg. Die kleineren, die man an Laternen vertäut hatte, wirkten, als seien sie zum Trocknen aufgehängt, An der gewaltigen Brücke zur Insel Oleron sah man rote und grüne Lichter. Und wenn man sich vorbeugte und mit den Blicken nach links oder rechts dem Küstenverlauf folgte, sah man überall die ferngesteuerten Lichtblitze, Blinker und Richtungsschwenker, die Warnzeichen und Orientierungsmale. Diese Schiffahrtssignale hatten mit der Zeit die Leuchttürme - wie den Turm von Cap Felmy pensioniert, auf Rente gesetzt oder zweckentfremdet. Die Bucht von Royan funkelte mit den gleißenden Lichterketten ihrer teuren Hotels. An den Stränden der „Küste der Schönheit“ wechselten Lämpchen in allen Farben einander ab: Da war Musikterrasse neben Musikterrasse.
Dort tanzten jetzt die Sommergäste, aßen Eis und tranken Sekt, Wein oder Säfte. Wie gern hätte Tati dort mitgemacht! „ich halte es für ausgeschlossen, daß der Raub über See abtransportiert worden ist“, meinte Robert Rodincourt, der zu seiner Jagdjoppe ein Fernglas trug. Das hielt er eifrig vor die Augen. „Ich habe die Verdächtige ja samt dem Karton mit dem angeblichen Kleid für ihre Schwester selbst nach Averne gebracht - und das liegt 50 Kilometer landeinwärts.“ „Entschuldigen Sie“, wandte sich Superhirn an Gide. „Wer leitet die Suche nach dem geraubten Bild? Ich meine, wer ist der oberste Chef der Fahndung? Es gibt doch noch andere unaufgeklärte Kunstdiebstähle in dieser Gegend! und man vermutet ja eine ganze Bande: Mittäter, Mitwisser, Hehler und Auftraggeber ... „Richtig.“ antwortete der Assistent. „In der Gegend von Brossac hat mein Chef, Kommissar Vinloh, die Sache in der Hand. Er ermittelt bei der Schwester der Täterin und ebenso bei den opfern früherer Diebstähle!“ „Und aus Paris ist niemand da?“ forschte Superhirn hartnäckig. „Beruhige dich, von dort ist schon jemand gemeldet: der zuständige Dezernent für Kunstraub, Kommissar Barre.“ „Nicht Kommissar Rose?“ rief Superhirn. „Kommissar Rose ist ein Freund von uns, und ich meine, er würde hier viel nützlicher sein ...“ „So!“ amüsierte sich der Assistent. „Meinst du? Was weißt denn du, wer hier nützlich sein kann oder nicht? Kommissar Barre ist Interpol-Spezialist für Bilderdiebstähle. Dein Kommissar Rose, hat auch seine Verdienste, aber auf ganz anderen Gebietenl Was Gemälde betrifft, so kann er eine Barke nicht von einer Harke unterscheiden. Da ist er gewissermaßen farbenblind!“ Die beiden „Kofferschränke“ kicherten dumpf, „Trotzdem muß Kommissar Rose her!“ forderte Superhirn dringlich. „Er ist der einzige, der den Täter kennt!“ Normalerweise hätte nicht nur der Kripo-Assistent aufhorchen und über sein Taschenfunkgerät die Dienststelle in Brossac informieren müssen. Auch der junge Rodincourt und die „Kofferschränke“ müßten auf Superhirns Worte reagiert haben, als sei ein Blitz dicht neben ihnen niedergegangen. Statt dessen zerriß ein wirklicher Blitz (oder doch eine blitzhafte Flamme) die matte Dunkelheit. Noch während Superhirn mit dem Beamten gesprochen hatte, hatten Henri und Micha einer bedrohlich klingenden Bemerkung des jungen Rodincourt gelauscht. „Nein, zur See kann man das Bild nicht weggeschafft haben“, hatte er gesagt; „man hätte sonst eine Explosion gehört und eine Stichflamme gesehen! An dem Gemälde ist nämlich eine Plombe, die bei Ortsund Temperaturwechsel mit dem Effekt eines gigantischen Feuerwerks zerplatzt ... „ Wie als Antwort darauf schien in diesem Augenblick der Himmel zu bersten. Die Personen auf der Turmplattform zogen unwillkürlich die Köpfe ein. Die Nacht über ihnen färbte sich glutrot, und als sie sich aufrafften und zum Schloß hinübersahen, stand der alte Holzpavillon im Park in Flammen. „Das Bild war im Park!“ brüllte einer der beiden „Kofferschränke“. Und Kripo-Assistent Gide schrie den jungen Rodincourt an: „Sind Sie wahnsinnig? Warum haben Sie das der Polizei verschwiegen? Von einer ExplosivPlombe am Gemälde war nie die Rede! Stellen Sie sich diese Explosion mal im Gedränge der Sommergäste vor.“ Die Stichflamme stand jetzt wie eine gedrechselte dünne Säule über dem Schloßpark. Sie sackte nicht etwa zusammen, sondern verlöschte von unten nach oben! während über dem Erdboden die Nacht zurückkehrte, tanzte die Spitze der Feuerzunge zwischen den gelb, blau, rot und violett reflektierenden Wolken hin und her. „Kofferschrank X“ beteuerte lautstark: „Von der Plombe haben wir auch nichts gewußt! Daß unser Job nicht gerade Babysitting ist, war uns immer klar. Aber an Fahrkarten zur Hölle hätten wir nie gedacht ...“
Gide riß sein Taschenfunkgerät aus der Jacke und verständigte sich mit dem Kommissariat in Brossac. Er verlangte ein Auto. Superhirn blickte nach Süden, auf das weite Gelände des Staatlichen Forschungsinstituts. Die Anstalt, die zu den modernsten der Welt gehörte, war von der Reblaus über die Ornithose bis zur Austern-Parasitologie für alles zuständig, was da kreuchte, fleuchte und schwamm. Die Institutsbauten, die ganze Häuserzeilen bildeten, enthielten außer allen nur denkbaren Elektronikgeräten auch eine Menge von Labors, in denen mit Chemikalien von enorm rascher Entflammbarkeit gearbeitet wurde: einige davon waren sogar mit den Spezialmitteln der normalen Feuerwehren nicht zu löschen! Die Rodincourtsche Sprengplombe - in solcher Nachbarschaft - glich einem Verbrechen für sich ... Während auf dem Anstaltsgelände Scheinwerfer aufflammten und das Geheul einer Sirene ihr ohrenzerreißendes Klagelied erhob, gab Gide Anweisungen über Handfunk. Er unterbrach sich immer wieder, um den Sohn des Schloßbesitzers anzublaffen: „Sagen Sie mir doch bloß, welchen Sinn die idiotische Sprengplombe hatte! Wir sollen das Millionenbild finden - und Sie haben eine Vorrichtung rangepappt, die es vernichtet! Vernichtet, sage ich! Mann! Gibt es auf der ganzen Welt einen blödsinnigeren Widerspruch...?“ Robert Rodincourt verteidigte sich in verzweifeltem Ton: „Fragen Sie meinen Vater! Es war seine Idee! Er hing so sehr an dem Bild, daß er's im Falle eines Diebstahls lieber zerstört als in fremden Händen wissen wollte.“ „Aber die Un-un-unschuldigen kümmerten ihn nicht!“ schrie Prosper außer sich dazwischen. Die Gefährten dachten jetzt allesamt daran, daß sie den RÄUBERSCHWUR, der da angeblich mit der Sprengplombe im Nachbarpark hochgegangen war, vor kurzem noch in ihrem Turm hatten hängen sehen ... Das beschäftigte sie mehr als alle Ungereimtheiten, für die jetzt ohnehin keine Zeit war. „Was denn?“ rief Tati energisch. „Sie wollen uns hier allein zurücklassen? Kommt nicht in Frage! Vielleicht ist noch etwas anderes geklaut worden, das auch mit so 'nem hübschen, kleinen Knallfrosch behaftet ist?“ „Tati hat recht!“ meldete sich nun auch Micha. „Ich will weg! Sofort!“ Die anderen, selbst Superhirn, waren der gleichen Meinung: Nichts wie weg! Raus aus dem Turm, und zwar auf der Stelle! „Der Institutsleiter hat euch eingeladen.“, sagte Gide unwillig. „Soll er für ein anderes Quartier sorgen!“ „Im Institut herrscht jetzt Alarmstufe 1“, gab Superhirn zu bedenken. „Der ungünstigste Moment, für eine Feriengruppe sechs Bettchen aufzuschlagen! Ich wette, wir kämen so spät auch nicht mal mehr in das teuerste Hotel. Die Rodincourts sind für das Pulverfest verantwortlich. Die sollen für uns sorgen.“ „Was denn - willst du etwa in das Schloß ziehen?“ rief Tati. Der junge Rodincourt war sehr verlegen. „Ihr habt recht, ihr habt recht“, gab er kleinlaut zu. Und während der Kriminalbeamte und die „Kofferschränke“ schon die Treppe hinunterpolterten, fragte Rodincourt junior: „Gibt's hier ein Telefon? Packt eure Sachen. ich rufe einen Wagen heran, der euch in ein sicheres Quartier fährt!“ 4. Superhirn zuckt zusammen - und Henri fürchtet eine Falle Draußen in der Nacht hörte man die Quäksignale der Feuerwehr, der Polizeiwagen, aber auch das Hupen anderer Fahrzeuge. Gide war bereits abgeholt worden, ebenso der junge Rodincourt mit seinen „Kofferschränken“. Superhirn berichtete Tati, Prosper und Gérard in Windeseile vom seltsamen Verschwinden des RÄUBERSCHWURS, vom rätselhaften Austausch des Gemäldes gegen die „Seeschlacht,“, das, so schwor er, unveräußerliches Eigentum der Londoner Nationalgalerie sei. Inzwischen war ja aber auch dieses Bild verschwunden.
„Madame Dingdong - als Täterin - muß ein Gangsterboß mit allen Tricks einer Superhexe seink spottete Gérard. Als er sah, daß der Freund zusammenzuckte, fügte er schnell hinzu: „Mit Super' wollte ich dich nicht beleidigen!“ „Irn Gegenteil“, murmelte Superhirn, „du hast mir die Augen geöffnet! Vorhin hab ich bei Gide nur auf den Busch geklopft, aberjetzt. . .,“ Er unterbrach sich: „Micha! Gib mir die Puppe! Und wenn ich meine Brille hierlassen müßte - die Puppe nehm ich mit ...“ Zwanzig Minuten später standen die Gefährten und ihr Pudel wartend in der Nacht, vor dem Sockel des alten Leuchtturms. An Gepäck - in Rucksäcken und Beuteln - hatten sie nur das Nötigste mit. Ihre Fahrräder mußten sie im Anbau lassen. Ein Monsieur Valentin sollte sie im Auftrag des Juniors abholen. Tati blickte schaudernd zum Schloß hinüber. Eine hohe Mauer trennte den Park vom Fels- und Buschland des Cap Felmy. Trotzdem sah man Qualm in zuckenden Scheinwerferbündeln - über der Stelle, wo die Reste des Pavillons zu vermuten waren. Auf den Straßen von Brossac - oder seitlich, von den Küsten her - krochen Lichterschlangen heran: Autos sogenannter „Schaulustiger“, die der Donnerschlag zu einer zweifelhaften „Vergnügungsfahrt“ hochgeschreckt hatte. „Und unsereins sehnt sich nach einem Bett!“ sagte Gérard. Doch dann war der Kleinbus Monsieur Valentins endlich da. Die Gefährten dachten zuerst, der gute Mann bestünde nur aus einem Bart. Aber im Schein der Innenlampe sahen sie seine freundlichen Augen über dem „Gestrüpp“ funkeln. „ich bin der Hafenmeister von La Cotiniere“, krächzte er, als spräche er mit zwei Stimmen gleichzeitig. „Steigt ein, der junge Rodincourt hat mir alles gesagt. Immer mit der Ruhe! Wir sind seit mehr als zweitausend Jahren Schlimmeres gewohnt als so 'n niedliches Feuerwerkchen! Ich fahre euch über die große Brücke ins Paradies!“ „Nein!“ schrie Micha. „Auch ein Verrückter!“ „Er meint die Insel Oleron“, feixte Superhirn. „Und die ist wahrhaftig 'n Paradies! Badestrände, Korkeichenwälder, Zypressenhaine, Feigen- und Oleanderbäume ...“ Prosper schränkte ein: „Ja, bei Tage! Bei Tage laß ich mir das gefallen.“ Unterwegs seufzte Henri: „ich fürchte, uns geht's immer nur wie Sindbad dem Seefahrer: Überall, wo wir landen, erwartet uns 'ne Falle.“ „In die alte Festung werdet ihr nicht gesteckt“, lachte der Hafenmeister, als sie die Brücke hinter sich und die Insel erreicht hatten. „Ihr geht bei mir vor Anker, und das heißt: Da seid ihr sicher!“ „Was bedeutet: vor A-a-anker?“ erkundigte sich Prosper mißtrauisch. „Ist 'ne Überraschung!“ krächzte Monsieur Valentin. Unvermittelt schoß Superhirn die Frage ab: „Hat der junge Herr Rodincourt Ihnen von dem Millionenraub erzählt? Von dem Bilderdiebstahl im Schloß?“ „Nein“, erwiderte der Hafenmeister, ehrlich verblüfft. „Ich höre den ganzen Tag Radio, wo immer ich bin, schon wegen des Wetters. Und ich schau auch jeden Abend alle Zeitungen am Kiosk durch, auch von Berufs wegen. Dann interessiert mich natürlich der Sport. Die Lokalberichte nehm ich so am Rande mit, aber ...“ „... der Millionenraub ist eine Weltsensation!“ unterbrach Tati. „Er hätte Schlagzeilen machen müssen.“ „Die letzte Abendzeitung hatte 'ne andere Schlagzelle“, krächzte Valentin: „,Der Hexer aus der Heilanstalt ausgebrochen', oder so.“ Er erläuterte: „Der Hexer hat auch was mit der Gegend zu tun. Er wurde erst kürzlich im Forschungsinstitut verhaftet. Dolle Sache: Der Kerl hatte irgendwo ein Geheimlabor, in dem er einen Virus züchtete. Der sollte aus Katzen Monster machen.“ Eisige Stille herrschte nach diesen Worten im Wagen. jedem der Gefährten schien es, als hätten die fünf anderen den Atem angehalten.
Der Hexer war also auf freiem Fuß! Ein nicht nur überbegabter, sondern leider auch übergeschnappter, ja gefährlich wahnsinniger Forscher namens Renard: Er hatte die Labors einer Dünge- und Futtermittelfabrik - weit von hier, im Binnenland - geleitet, aber dem Staatlichen Forschungsamt gelegentlich als Gutachter zur Verfügung gestanden. Durch das geschickte Zusammenfügen von Beobachtungen war Superhirn mit Hilfe der Freunde seinem teuflischen Spiel auf die Schliche gekommen. Und eben jener Kommissar Rose aus Paris, nach dem Superhirn jetzt so dringend verlangte, hatte den „Hexer“ verhaftet. Wegen nur allzu deutlicher Anzeichen hochgradigen Irreseins war Dr. Renard, der Hexer, sofort in eine Heilanstalt eingewiesen worden. Ein Abenteuer, das durch neuerliche, gänzlich anderen Schrecken überholt schien, wenn - ja, wenn die holländische Puppe nicht ausgerechnet ein Geschenk dieses Mannes gewesen wäre! Tati hatte sie eher aus Mitleid behalten! Der Kleinbus schwenkte in die Einfahrt von La Cotinii“re ein. „So - da wären wir“, krächzte der Monsieur Valentin. Vom Schreck noch wie verdonnert, versuchten Prosper, Gérard und die Geschwister im Licht der wenigen Laternen irgendeine Wohngelegenheit zu erkennen, während Valentin immer näher an die Bollwerke heranfuhr. Da fragte Superhirn, scheinbar nur beiläufig interessiert: „Steht auch in der Zeitung, ob man eine Spur von dem Hexer' gefunden hat? ich meine, wohin er geflüchtet sein könnte?“ „Man vermutet ihn in Belgien“, erwiderte der Hafenmeister prompt. „Der soll ja so was Ähnliches wie Tollwut gehabt haben. Doch die Erreger hat man in der Heilanstalt emballiert!“ „Waaas ...? Verpackt??“ entfuhr es Superhirn. „Allenfalls können die Viren verkapselt worden sein. Sie meinen eliminiert' - unschädlich gemacht, beseitigt?“ „Kann sein - kann auch nicht sein; so genau weiß ich das nicht.“, krächzte Valentin. Er hielt den Bus an, griff neben sich und reichte Superhirn zerknitterte Blätter über die Schulter: „Da hast du die Zeitung! Guck selber nach! Kannst sie behalten. So, nun aber was Schöneres! Steigt aus, nehmt eure Sachen, die ,Königin der Meere' erwartet euch.“ „Das ist ein Mißverständnis!“ rief Tati. „Wir wollen keine Schiffsfahrt machen. Wohin - und mit wem auch, mitten in der Nacht! Wir brauchen Betten, hören Sie? Ein Quartier! Wir sind todmüde ...“ Monsieur Valentin trat unter einen Peitschenmast, dessen röhrenförmige Lampe die Seite zum Kai stark erhellte: „Ihr kriegt das nobelste Quartier, das der Atlantik zu bieten hat, mein ich! Die Luxusjacht der Rodincourts! Der junior hat mich angewiesen, euch an Bord zu bringen. Solange es am Cap Felmy noch drunter und drüber ginge, so sagte er, dürftet ihr das Schiff als Wohnung nutzen, und zwar uneingeschränkt: Kajüten, Waschräume, Küche samt Vorratskammer, den Sälen und den Trimm-dich-Raum!“ Er hakte die Gangway ein, legte die rechte Hand zum Paradegruß an die Mütze und machte mit gespitztem Mund „Begrüßungsmusik.“ „Tärä, tätätätä - lärä, tärä, täräää ...“ Wie in Trance schwankten die Gefährten an ihm vorbei auf die schnittige Motorjacht zu. „Da-das ist ja ein Zollkreuzer!“ staunte Prosper. „Wer hat schon mal so ein Gedicht von Zoll-Kreuzer gesehen?“, fragte Gerard. „Das scheint mir eher ne Staatsjacht zu sein!“ Tati dachte praktischer „Ich möchte nur noch die Gebrauchsräume sehen - und dann die Betten. Weiter nichts.“ Und während sie dem Hafenmeister folgte, der das Innere in wahre Lichtkaskaden hüllte, fügte sie unbeeindruckt hinzu: „Wir sind keine Marchenkinder, Eine Prunkbarke brauchen wir nicht. Die Rodincourts haben uns mit ihrem Feuerwerk verscheucht - ich wäre viel, viel lieber im Turm geblieben.“ „Ich auch!“ rief Micha.
Die Königin der Meere hatte jedoch allerlei zu bieten: bequeme Vorder- und AchterSchlafräume, gleich zwei Waschgelegenheiten, eine komplette Küche mit gefülltem Kühlschrank und einer randvollen Tiefkühltruhe. Das Schiff stand offenbar ununterbrochen zum Empfang von Gästen bereit. „Nur abfahren könnt ihr nicht4 grinste der Hafen meister. „Die Motoren sind gesichert, das Ruderhaus ist durch Alarmanlagen abgeblockt. Außerdem haben meine Leute und ich bei Tag und bei Nacht ein Auge auf das Schiffchen!“ Als sich Monsieur Valentin verabschiedet hatte, stürzten sich die Gefährten im Sälen über die Zeitung. „Ich wi-wi-will's mit eigenen Augen lesen, daß der Hexer in Belgien ist! rief Prosper. „Wann ist er aus der Irrenanstalt entsprungen?“ drängte Henri. „Das ist die Frage! Könnte er schon gestern in Brossac gewesen sein? Dann hätte er den ganzen Höllentanz veranlaßt - Er und kein anderer! Dann hätte auch nur er das Millionenbild geklaut! Er - und nicht die arme Madame Dingdong!“ Superhirn hatte den Text bereits überflogen: „Madame Dingdong ist in jedem Fall unschuldig!“ erklärte er kalt. „Und ich muß euch leider enttäuschen: Der Hexer ist laut Zeitungsbericht erst gestern abend ausgebrochen, und zwar aus der polizeilichen Nervenklinik in Paris!“ „Aber wie verträgt sich das?“ fragte Micha ungeduldig. „Und was heißt gestern?“ brummte Gérard. „Es ist jetzt null Uhr zwanzig!“ „Rechne die zwanzig Minuten ab - oder meinetwegen einundzwanzig“, versetzte Superhirn. „Dann hast du gestern'. Als Madame Dingdong im Schloß Rodincourt putzte, saß der Hexer noch hinter Gittern! Er kann den ganzen Kladderadatsch nicht ausgelöst haben. Dieser Dr. Renard, unser Hexer, ist zwar ein irres Genie - oder ein genialer Irrer, aber ein Magier ist er keinesfalls!“ „Nehmen wir an, er ist in Belgien - wie's hier steht.“ seufzte Tati. „Ich für mein Teil, ich bin todmüde. Egal was ist, ich muß ins Bett!“ Alle befanden sich in einem sonderbaren Zustand von Erregtheit und Müdigkeit. Doch die Müdigkeit überwog So bemerkte keiner das alarmierende Knurren des Pudels. „Gut, reden wir morgen früh weiter“, entschied Superhirn. „Ich werde alles versuchen, Kommissar Rose herzukriegen Henri, du schläfst mit mir in der Achterkajüte. Tati, du richtest dich mit den anderen im Vorschiff ein.“ „Worauf du dich verlassen kannst“, gähnte das Mädchen. „Der Hexer kann mir den Buckel runterrutschen!“ Da ertönte eine klare, volltönende, aber eisige Stimme aus dem Hintergrund des Salons: „Ei, ei, wer wird so unhöflich sein? Wie käme ich denn dazu? ich bin ein Mann mit Manieren! Nie würde ich einer jungen Dame den Buckel runterrutschen!“ Die Köpfe der Gefährten schnellten herum. Im Reflex erwischte Micha gerade noch den Pudel. vor ihnen stand - der Hexer ... 5. Ein Bluff wirkt selten allein: Auf dem Schiff geht es „rund“! Die Stille, die den Worten des Ungeheuers folgte, erschien den Freunden wie ein endloser Steinschlag - ein Poltern und Brausen inneren Entsetzens. Doktor Renard, der Hexer, den sie krank und zusammengebrochen in Erinnerung hatten, sah frisch und sportlich aus. Nichts Gehetztes war in seinem Wesen, im Gegenteil: Er verstrahlte Spannkraft. Der ohnehin weltläufige Mann, eher ein Playboy-Typ, konnte wieder lächeln, als sei nichts geschehen, als habe er nicht erst vor kurzem ganze Provinzen in Angst und Schrecken versetzt. Er erriet die Gedanken der Jugendlichen, denn er sagte: „Keine Sorge, ich übertrage keine Krankheitserreger mehr. Die Pariser Ärzte waren schlauer, als ich gedacht hatte. Sie fanden tatsächlich wirksame Abwehrstoffe!“
„Sonst wären Sie nicht hier!“ durchbrach Henri die Erstarrung. „Du hast es erfaßt!“ Doktor Renard lächelte. In seinem modischen Blazer, dem blütenweißen Hemd und den tadellosen Sporthosen wirkte er keinesfalls wie ein methodisch Wahnsinniger (der er ja war), sondern wie dessen ehrenwerter, höchst verdienstvoller und vertrauenswürdiger Bruder. Doch schon klang seine Stimme wieder tödlich-böse: „Setzt euch! und keiner schreit, verstanden? Niemand macht eine verdächtige Bewegung!“ Dabei zog er eine Pistole aus der Tasche. Superhirn nickte. Zu den Gefährten gewandt, wiederholte er des Hexers Befehl: „ja, ja! Setzt euch und hört zu. Keiner schreit, keiner macht eine verdächtige Bewegung - was auch kommen mag. Ihr haltet den Mund und laßt mich reden. Kapiert!“ Er nahm seine Brille ab und begann sie umständlich zu putzen. Dabei kniff er seine Eulenaugen zusammen, so daß man sie kaum noch sah. „Was soll das?“ lauerte der Hexer. „Hinsetzen! Das gilt auch für dich, du Oberhirn! Knall dir die Brille wieder auf deine Spitznase! Wir sind hier nicht beim Optiker.“ „Tatsächlich?“ erwiderte Superhirn, ohne sich beim Putzen seiner enormen Augengläser stören zu lassen. „Nun, lieber Doktor Renard, ich hielt Sie stets für einen klugen Mann!“ „Ich brauche die Komplimente eines vorlauten Bengels nicht.“ zischte der Hexer. „Ich besitze die Große Forschungsmedaille der Nation und war zweimal Anwärter auf den Nobelpreis!“ „Sie waren!“ berichtigte Superhirn gelassen. „Zuletzt waren Sie sogar doppelter HandschellenTräger. Und was Sie sein werden, wenn die Rodincourtschen Leibwächter Sie erwischen - das weiß der Himmel! Vermutlich nur noch ein Haufen gebrochener Knochen!“ „Was heißt das ... ?“ rief der Hexer alarmiert. „Daß Sie Ihrem Schutzengel - oder Schutzteufel - auf Knien danken müssen, in unserer Obhut gelandet zu sein.“ erklärte Superhirn unbewegt. Er hörte nicht auf, seine Brille zu putzen. „Stecken Sie die Pistole weg und setzen Sie sich zu uns. Ehrlich gesagt: ich bin froh, daß Sie hier sind.“ „Waaas??“ entfuhr es Micha. Da öffnete Superhirn seine Augen und schoß dem jüngeren einen Blick zu. Sofort schwieg Micha. Auch die anderen hielten es für richtiger, nichts einzuwenden. Superhirn deutete auf eine Polsterbank: „Hinsetzen, Herr Doktor Renard. Wir haben nicht viel Zeit. Wie sind Sie übrigens hergekommen? Und seit wann sind Sie in der Gegend?“ Der „Hexer“ verlor seine Glätte und Beherrschung: „Was soll der Quatsch? Du redest, als hättest du mich zu einem Kinderfest eingeladen! Wenn hier einer Fragen stellt, bin ich es! Keine Sorge, Freundchen: Für die Polizei bin ich in Belgien. Aber es gibt Sportflugzeuge, die man sich ausborgen' kann. Kurz vor Dunkelheit bin ich bei Royan gelandet; nun - und da stehen genügend leere Bungalows und verlassene Autos, deren Besitzer gerade eine kleine Seereise machen. Und ihre Golfanzüge lassen sie in den Bungalows zurück - haha.“ „Haha“, nickte Superhirn freundlich. „Dann wäre auch das geklärt. Tja ...“ Er gähnte. „Wir sind sehr müde, lieber Doktor. Legen Sie Ihre Pistole hier auf den Tisch und gehen Sie. Ich glaube jetzt, daß Sie an dem letzten Verbrechen nicht beteiligt waren. Wenigstens nicht direkt. Das bringt uns ein hübsches Stückchen weiter! Gute Nacht! Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: machen sie sich tatsächlich in Richtung Belgien davon! Lassen Sie sich in aller Ruhe schnappen, aber weit von hier, und ohne Widerstand nach Paris zurückbringen. So, das wär's dann!“ Superhirn gab den Gefährten einen lässigen Wink, sich zu erheben. Er selber wandte sich ab: „Komm, Henrik „Halt!“ schnaubte Renard. Er stand gebückt, alle Muskeln und Sehnen gespannt. Seine rechte Hand fuchtelte mit der Pistole: „Ich will die Puppe haben! Die Holland-Puppe! Den Glücksbringer, den ich euch bei meiner Verhaftung gab! Die Puppe!“
„Welche Puppe ...?“ fragte Superhirn betont erstaunt. „Ach, w-w-wenn's weiter nichts ist?“ rief Prosper wütend. „Auf so einen Glücksbringer verzichten wir gern! Superhirn! Gib sie ihm! Soll er damit zur Hölle reiten.“ „Du kommst wohl aus dem Urwald, Mensch!“ herrschte der spindeldürre Junge den verdatterten Prosper an. „Wie kann ich etwas herausgeben, das als Tatbeweis gegen Madame Dingdong von der Polizei beschlagnahmt wurde? He, Doktor Renard! Hat Ihnen niemand gesagt, weshalb wir auf diesem Schiff sind?“ Der „Hexer“ wirkte mehr und mehr verunsichert. „ich wußte zuerst nicht, wo ihr überhaupt wart“, gab er zu. „Da hab ich von einem Campingplatz aus im Forschungsinstitut angerufen, das heißt, ich hab einen jungen anrufen lassen. Der sollte nach euch fragen. Professor Romilly ließ sagen, die Rodincourts hätten ihm mitgeteilt, daß sie euch auf diese Jacht umquartieren würden. Wegen des Feuerwerks, das da vorzeitig hochgegangen ist - was weiß ich? Durch unsachgemäße Behandlung oder so. Ich sah ja auch die vielen Löschfahrzeuge und die Neugierigen. Ich kam dann doch noch eher hier an als ihr, Na und?“ Plötzlich straffte er sich: „Rucksäcke auf! Öffnet eure Beutel und Taschen1 Alles hier ausbreiten. Aber alles ...! Ich sah, was ihr an Bord getragen habt, also keinen Schummel! Los, los ...“ „Tun wir ihm den Gefallen“, sagte Superhirn ruhig. Er bückte sich und öffnete seinen Rucksack. „Die Puppe haben wir nicht, und was wir nicht haben, kann er auch nicht finden!“ „Aber ...“, schluckte Tati. „Was - aber?“ zischte der „Hexer“. „Wenn ihr mich betrügt, fliegt der Kahn hier in die Luft, so wahr man mich den Hexer' nennt. Schneller ...“ Er stieß mit der Fußspitze nach Tatis Kulturbeutel, den sie eben geöffnet hatte, zertrat die Hülle der Zahnbürste und die Seifenschale. Ein Röhrchen mit Pfefferminzpastillen rollte durch den Salon. „Die Puppe!“ keuchte er. „Die Puppe!“ Prosper wollte seinen teuren Fotoapparat in Sicherheit bringen. „Was hast du da?“ fuhr der „Hexer“ auf ihn zu, drehte ihn um, zerschmetterte das Gerät an der Tischkante und gab dem jungen einen mächtigen Stoß. Danach kriegte er Micha an den Haaren: „Du hast die Puppe! Gib sie raus, wenn dir dein Skalp was wert ist, du abgebrochener Indianer!“ Aber da hatte er den Pudel am Bein! Mit seinen spitzen Zähnen verteidigte Loulou Micha wie rasend. „Gib's ihm!“ feuerte Tati den Pudel an. Verzweifelt damit beschäftigt, Loulou abzuschütteln, sprang der „Hexer“ jetzt auf Gerards Gepäck herum. Er vergaß keinen Moment, daß er die Puppe suchte. „Lauf raus, Superhirn!“ schnaufte Gérard. „Bring sie in Sicherheit! Schrei um Hilfe!“ „Wehe!“ rief der „Hexer“ mit verzerrtem Gesicht. „Also du hast sie!“ Er bückte sich über Superhirns Sachen und kramte mit der linken Hand darin herum, daß die Fetzen nur so flogen. Da biß ihn Loulou in die Rechte. Der „Hexer“ schrie auf und ließ die Pistole fallen. Gérard „kickte“ die Waffe in die entfernteste Ecke. Den Angriff Renards wehrte er ab, indem er dessen Magenpartie mit seinem harten „Fußballschädel“ konterte. Das Weitere übernahm Tati mit einigen, geschickten Verteidigungsgriffen. Stöhnend kauerte der „Hexer“ auf dem Sofa. „Sie haben sich also davon überzeugt, daß die Puppe nicht hier ist.“ grinste Superhirn freundlich. Prosper starrte fassungslos auf Superhirns geleerten Rucksack und die umherliegenden Sachen. Er hatte wie die anderen gesehen, daß die Puppe von Superhirn besonders sorgfältig im Rucksack verwahrt worden war. Normalerweise hätte sie unter dem ganzen Zeug sein müssen... „Die Puppe ist auf dem Polizeikommissariat von Brossac“, log Superhirn kaltblütig weiter. „Und wie ich merke, sind Sie schlecht informiert! Eine gewisse Madame Dingdong hat sie uns gestohlen und sie versehentlich am Tatort des Gemälderaubs im Schloß liegen lassen! Pech für
die gute Frau! Das Millionenbild ist zwar noch nicht wieder da, aber die Puppe ist ein wertvoller Beweis gegen sie.“ Der „Hexerd richtete sich auf. Aus fiebrigen, geweiteten Augen starrte er Superhirn an. Völlig, aber auch völlig bestürzt, stammelte er: „Was redest du da? Eine Madame hat die Puppe... Äh, und im schloß ist ein Bild - ein teures Bild gestohlen worden?“ „Daher das Feuerwerk“ sagte Henri. „Das Bild trug nämlich ein verstecktes pyrotechnisches Plömbchen, das allerdings erst lange nach dem Millionenraub hochging. Sehr merkwürdig, nicht?“ „Kennen Sie Madame Dingdong?“ fragte Tati. „Sie können ihr und uns helfen. Ehrenwort: Wir legen ein gutes Wort bei der Kripo für Sie ein, wenn Sie es tun! Die Putzfrau heißt mit ihrem richtigen Namen Yvonne Dydon. Wir nennen sie Dingdong, sie ist eine Seele von Mensch und die ehrlichste dazu! Nie und nimmer kann sie das Bild gestohlen haben.“ Wie aus weiter Ferne kamen die Worte Renards: „Eine Putzfrau namens Dydon kenne ich nicht. Was war das denn für ein Bild ...?“ „Der RÄUBERSCHWUR von Barbarini“, rief Micha. Jetzt schnellte der „Hexer“ hoch. „Barbarinis RÄUBERSCHWUR? Eins der drei vom Krieg verschonten Bilder des Meisters ... Ich dachte, das Bild ist in der Schweiz! Die Hände über dem Feuer'! Hände! Wißt ihr, wie schwer es ist, Hände zu malen ... ?. „Ich denke, Sie sind Virologe und Bakteriologe“ bemerkte Henri trocken. „Aber deshalb kann ich Kunstkenner sein!“ erwiderte Renard. „Es gibt Abbildungen in Büchern. Schon die sind ein Erlebnis! Das Werk ist mit Geld überhaupt nicht aufzuwiegen! Und dieses Bild war hier im Schloß von Rodincourt?“ „War ... !“ betonte Gerard. „Sie wissen nicht zufällig, wo es jetzt ist?“ „Willst du mich verhöhnen?“ rief Renard erregt. „Oh, ich wollte, ich hätte es schon Was gäb ich darum!“ „Achtung!“ flüsterte Tati. „Er dreht wieder durch!“ „Die Puppe“, murmelte der „Hexer“ selbstvergessen. „Die ist auf der Polizei in Brossac, sagt ihr? Das kann ich mir denken. Das kann ich mir denken. Aber die Idioten wissen nicht ...“ und plötzlich fing er an zu lachen. Er fiel auf das Sofa zurück, lachte immer heftiger, atemloser, unnatürlicher. Er krümmte sich zur Seite, warf sich nach vorn, hob die Arme, legte den Kopf in den Nacken - und lachte und lachte ... Er kicherte, prustete, kickste, blies die Backen auf, blähte die Nasenflügel, zog die Luft ein wie ein Esel, die Lachtränen liefen ihm die Wangen hinunter ... Als er aufstand und Halt suchte, machte er den Eindruck eines Schwerbetrunkenen: „Das hat die Welt noch nicht erlebt“, keuchte er. „Da wird ein Bild gestohlen, ein Bild, für das der Hexer alles geben würde. Ja, das Bild wird weggehext, während er noch hinter Gittern sitzt! Und er, er, er - der große Hexer, er kommt hierher und weiß von nichts ...! Eine arme Putzfrau soll das Bild gestohlen haben, hahahahahaaa! Eine ahnungslose Madame Bimbam ...“ „Dingdong!“ verbesserte Tati. „Und die Puppe haben die Rindviecher beschlagnahmt!“ japste der „Hexer“. Unvermittelt wurde er ernst: „Ist das Bild mit Rahmen geklaut worden ... fragte er, wobei er sich zusammenzog wie ein Panther vor dem Sprung. „Sagt mir nur: im Rahmen - oder ohne? Dann laß ich euch in Ruhe.“ „Mit Rahmen!“ erwiderte Superhirn zur Verblüffung der anderen. „Unmöglich.“ schrie Renard. „Das kann nicht sein! Diesmal irrst du dich, du SuperKrähenhirn!“ Er rieb sich zwanghaft das Kinn und starrte auf den Fußboden. Mit normaler Stimme sagte er dann: „Ich verschwinde! Ich hab mir ein Auto geborgt', einen netten, kleinen Flitzer. Den werde ich jetzt besteigen. Ihr verpetzt mich nicht, verstanden? Wenn mein Coup glückt, und er muß glücken, dann kriegt ihr eure Madame Bimbam wieder.“
Der Hexer verschwand über einen Aufgang im Vorschiff, schnell und geräuschlos wie auf Katzenpfoten. Tati seufzte aus tiefstem Herzen: „Der hatte uns gerade noch gefehlt!“ Allesamt krochen sie auf dem Boden umher und suchten ihre verstreuten Sachen zusammen. „Sag mal, Superhirn“, fragte Henri staunend. „Wie hast du die Puppe verschwinden lassen? Wie ist dir das gelungen - so ganz ohne Hut?“ „Ja! Wo ist die Puppe?“ rief Micha. „Leg sie bloß nicht auf den Tisch! Der Hexer war ihretwegen hier. Er wollte die Puppe haben, weiter nichts! Und er könnte zurückkehren!“ „Der kommt nicht mehr, wenigstens nicht mehr auf dieses Schiff!“ behauptete Superhirn. „Und käme er, so würde er die Puppe hier nicht finden! ich hab sie nämlich unterwegs im Bus aus dem Rucksack gezogen und unterm Sitz versteckt. Sie liegt im Wagen des Hafenmeisters.“ Prosper und Gérard setzten sich auf den Teppich. „M-m-mir scheint, du kannst doch hellsehen“, spottete Prosper kreidebleich. „Ich verstehe!“ rief Henri. „Als du hörtest, der Hexer sei ausgebrochen, hast du bereits einkalkuliert, daß er uns besuchen käme?“ „Schlauberger!“ grinste Superhirn. „Bei seiner Verhaftung, neulich, hat er uns die Puppe überlassen. ob er sich einbildete, bei uns sei sie am sichersten?“. rätselte Tati. „Aber was mag so besonderes an diesem Ding sein? Und warum hat ihn der Gemäldediebstahl so aufgeregt? Dabei war er völlig überrascht! Du hast den Hexer' mehrfach geblufft, Superhirn. Aber wozu? Ich komme da nicht nach!“ „Ich wollte ihm hundertprozentig glaubhaft machen, daß die Puppe nicht hier sein konnte“, entgegnete der Spindeldürre ruhig. „Und das Dollste dabei ist: Die Polizei hätte das HollandMeisje durchaus als Beweis behalten können! Die Bestätigung, daß uns die Puppe gehörte, war ja telefonisch von Professor Romilly und Frau Hammerstroem durchgegeben worden. So brachte uns der Corporal Aristide das Ding zurück und ließ sich den Empfang von dir quittieren, Tati. Zu Renards Pech, aber zu unserem Glück, wie ich meine - vor allem zum Glück für Madame Dingdongl“ „Die Puppe - ist der Schlüssel zur Lösung dieses Falles?“ überlegte Henri. „Exakt!“ sagte Superhirn knapp. „Kinder, da steht ein Funktelefon1 ich muß das Kommissariat in Brossac anrufen!“ Er griff in eine Nische und nahm den Hörer ab. Die Nummer hatte er selbstverständlich im Kopf. Dem diensthabenden Beamten nannte er seinen Namen, sowie seinen und seiner Freunde Aufenthaltsort. „Bittel“ forderte er dringlich. „Verständigen Sie Kommissar Rose in Paris! Der Hexer ist in der Gegend. Rose muß sofort kommen! Und seien Sie vorsichtig: Der Mann wird versuchen, in Ihr Kommissarial einzudringen! Er fahndet nach einem Beweisstück, das mit dem Millionenraub zusammenhängt. Genau: nach einer kleinen Holland-Puppe - kaum mehr als 15 Zentimeter groß!“ „Du hast wohl schlecht geträumt?“ tönte die Stimme des Beamten leicht belustigt an Superhirns Ohr. „Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun, als Babysitter für Puppen zu spielen! Was den Hexer' betrifft: Den überlaß mal Interpol. Die Fahndung läuft auf vollen Touren! Und nun gib den Anschluß frei! Ich erwarte dienstliche Funktelefonate.“ Henri, der seinen Kopf mit in die Nische geschoben hatte, hörte nur noch das Wort: „Ende!“ Dann brach der Beamte das Gespräch ab. Superhirns: „Der Hexer schlägt zu!“ war bereits in die Luft gesprochen. Gerard gähnte vernehmlich: „Also, ob der Hexer zuschlägt oder nicht - das soll jetzt deren Sorge sein! Die Pistole stellen wir sicher, und dann packen wir uns hin! Erst mal schlafen dann weitersehen.“ Das war die Meinung aller. Selbst Superhirn hatte keine Kraft mehr, in dieser Nacht noch etwas zu unternehmen ...
6. Ananas von der Elfenbeinküste - damit fängt man den Täter? Strahlend lag der neue Tag über der Insel Oleron - der „Insel des Lichtes“, als verheiße er nichts anderes als Badefreuden und köstliche Faulenzerei. Doch die jungen Bewohner des Schiffes „Königin der Meere“ ahnten: Es würde ein Tag des Schreckens, ein Tag der Entscheidung werden. Tati, ihre Brüder sowie Gérard und Prosper hatten Klappstühle und Frühstückstisch auf dem Achterdeck aufgebaut. Superhirn war längst weg. Er hatte frisches, knuspriges Weißbrot gekauft und Henri sein Notizbuch samt einigen Anweisungen hinterlassen. Das knusprige Brot mit Butter, Marmelade und Honig, der Orangen-, Vanille-, Schoko- oder ErdbeerYoghurt waren den Gefährten vorerst wichtiger als jede Beschäftigung mit dem Albtraum der Nacht, mit der Puppe, dem Millionenraub - und dem unheimlichen „Hexer“. Endlich sagte Henri: „Hilft alles nichts! Ich muß euch Superhirns Tagesbefehl verkünden!“ „Tagesbefehl“ und „verkünden“ waren natürlich scherzhaft gemeint. Doch Tati brauste auf. „Was heißt das? Hat er geträumt, er sei Napoleon? Dann muß ich ihn daran erinnern, daß Napoleon nicht weit von hier in Gefangenschaft ging! Jawohl - und mit verbeultem Hut!“ Henri fuhr ungerührt fort: „Wir sollen so tun, als hätten wir nichts vor. Falls uns jemand fragt: Die Puppe hat uns der Polizist Aristide zwar zurückgegeben, aber ein unbekannter Beamter der Kripo nahm sie uns wieder ab.“ „ob wir vorher nicht doch noch mal mit dem Kommissariat in Brossac sprechen?“ gab Gerard zu bedenken. „Superhirn meint, die Sache ist so toll, daß sie uns niemand glauben wird! Von der Polizei darf nur ein einziger die Puppe kriegen: Kommissar Rose aus Paris! Der kennt uns und der weiß genau, daß Superhirn niemals spinnt!“ Micha schwenkte sein Butterbrot: „Aber Rose ist nicht da.“ „Superhirn hat schon mit Paris telefoniert“, berichtete Henri. „Kommissar Roses Aufenthalt ist geheim, aber man wollte die Nachricht weitergeben. So, und nun hört zu.“ Henri schlug Superhirns Notizbuch auf: „Hier, eine Gedächtnisstütze: Wie kamen wir - exakt - in den Besitz der Puppe? Damals, bei seiner Verhaftung, hat sie der Hexer in einem Anfall von Raserei uns allen vor die Füße geworfen, auch Kommissar Rose. Aber niemand, außer uns, hielt es für wert, ausgerechnet den Glücksbringer' des Hexers' aufzuheben. Und als der Hexer' im Pariser Polizei-Hospital wieder bei Sinnen war - und als ihn der Vernehmungsrichter nicht auf die Puppe ansprach, muß er zu dem einzig logischen Schluß gelangt sein: Die Puppe ist bei den Kindern!“ „Kinder? Wir sind keine Kinder!“ beschwerte sich Prosper. „Jedenfalls hat der Hexer' die Puppe bei uns gesucht“, sagte Tati. „Und da war er ja an der richtigen Adresse.“ Henri blickte wieder in Superhirns Notizbuch: „Hier hat er uns im Klartext was hinterlassen. Ich soll euch das vorlesen, die Seite rausreißen und vernichten“ Also: Die Puppe war immer dort, wo etwas Entscheidendes geschah ...!“ Micha zuckte zusammen: „Klar! Als das Bild im Schloß verschwand - lag die Puppe da! Und sie lag im Erdgeschoß des Turms, wo der RÄUBERSCHWUR plötzlich an der Wand hing! Dann war die Puppe in Tatis und meinem Zimmer - und dort tauchte das Bild aus der Londoner Galerie auf!“ „Junge, das is'n Ding.“ staunte Gerard. „Eine harte Nuß jedenfalls - und eine giftige dazu!“ sagte Tati schaudernd. „Schnell, Henri! Reiß die Seite aus dem Notizbuch! Niemand darf das lesen!“ „Da hast du wohl recht“, erwiderte der Bruder. Er zerfetzte das Papier in winzige Schnitzel und warf sie in alle Winde. „So, und nun macht nicht so verdonnerte Gesichter!“ Mittags bremste der blaue Kleinbus mit dem Amtszeichen des Hafenmeisters am Kai. „Winken! Lachen! Ferienfreude mimen!“ befahl Henri scharf.
Sogleich lachten und grinsten alle verzweifelt. Micha hopste mit Loulou wie ein Kasper an der Reling entlang. Auch Prosper gelang die Verstellung nicht recht: Sein Winken mit geballten Fäusten glich eher einer drohenden Gebärde. Gérard feixte so einfältig, daß Tati ihn anstoßen mußte: „Fehlt nur noch, daß du Valentin die Zunge rausstreckst!“ zischte sie. Ihr gelang es am besten, die Fröhliche zu spielen. „Gut geschlafen?“ krächzte der Bärtige vergnügt. „Wie die Steine.“ schwindelte Tati begeistert. „Ich sag's ja!“ lachte Monsieur Valentin. „Unter meiner Aufsicht ist gut ruhen. Bei Tag und Nacht!“ „Hast du dir gedacht!“ grollte Gérard in sich hinein. Zusammen mit dem Hafenmeister war Superhirn ausgestiegen. Er schien sich mit falschem Frohsinn wie mit Zuckerguß überzogen zu haben: „Tatilein!“ jubelte er. „Ist das ein Tag, wie? Nun aber nichts wie an die Strände! Ich lechze nach einem Bad!“ „Verrückt geworden!“ hauchte Micha, denn Superhirn so zu erleben war eine Seltenheit. Und Superhirn plauderte munter weiter: „Der Hafenmeister war so nett, unsere Räder holen zu lassen. Sie stehen drüben neben dem Café. Und die Puppe hat er mir auch wiedergegeben!“ „Nächstes Mal paßt aber besser auf euren Glücksbringer auf!“ rief der ahnungslose Valentin, Und eh sich's die fünf auf dem Schiff versahen, flog ein Päckchen durch die Luft. „Fang auf, Tatileein!“ hallte Superhirns gespielter freudiger Ruf. „Es ist die Puppe ...!“ Batsch, hatte Tati den lose eingewickelten Gegenstand in Händen. „Bist du ...“, japste sie, „bist du noch zu retten??“ Mit zitternden Händen riß sie das Papier auseinander - und starrte auf eine holländische Trachtenpuppe, als sei es eine Schlange. „Freust du dich nicht?“ fragte Superhirn mit alberner Stimme. „Verwahr sie nur gut in deiner Kajüte! So, und nun macht euch fertig zum Insel-Trip!“ Tati und die vier Jungen sausten nach unten, um ihre Leinenkappen, Halstücher, Geldbörsen und anderes zu holen. Ganz und gar nicht erfreut, eher entsetzt, steckten sie im Salon die Köpfe zusammen, um die kleine Puppe zu betrachten. Es war - eine falsche! Eben nicht jenes HollandMeisje, das der Hexer gesucht hatte und das bisher im Besitz der jugendlichen gewesen war. Häubchen, Kleidchen, Schürze - alles war hübsch angefertigt, blau, weiß, und unter dem Saum ragten die typischen Holzschuhe hervor - doch diese Puppe hatte bewegliche Beine, während die echte unten wie eine Vase abgeplattet war; die Schuhspitzen ragten nur andeutungsweise aus dem Sockel, über den sich Rock und Schürze spannten. „Am Gewicht hab ich's gleich gemerkt!“ sagte Tati. „Was mag Superhirn nun wieder mit dieser Täuschung bezwecken?“ „Daß einer, der in großer Hast hier auf dem Kahn nach 'ner Holland-Puppe sucht, prompt eine findet“, vermutete Henri. „Und wenn Superhirn wirklich nichts anderes vorhat, als mit uns baden zu gehen, verwandle ich mich auch in eine Puppe!“ murmelte Gérard. „Meine Badehose hab ich sowieso am Cap Felmy gelassen.“ „Egal“, drängte Prosper. „Ich hab das Gefühl, Superhirn geht jetzt aufs Ganze. Da will ich dabeisein.“ „Meinst du, ich nicht?“ rief Micha. Und so kletterten alle eilig vom Schiff auf den Kai. Monsieur Valentin war inzwischen abgefahren. Nur Superhirn, zwei Einkaufstüten in den Händen, stand wartend da. Sein Gesicht glich einer Maske. Er bemühte sich nicht mehr im geringsten, den „ferienfrohen“ jungen zu spielen. Es schien, als glitzerten Eisstücke hinter seiner Brille. „Um Himmels willen.“ forschte Tati. „Ist dir nicht gut?“
Ganz langsam sagte Superhirn: „Wir fahren jetzt zum Schloß Rodincourt. Und dort werde ich die Schau des Jahrhunderts abziehen. Das erfordert Nerven, Wer meint, er könne sich nicht beherrschen, der bleibe lieber hier! Ich nähme es keinem übel! Wahrhaftig nicht!“ Gerard fragte: „Geht es darum, Madame Dingdongs Unschuld zu beweisen?“ Superhirn nickte. „Gut“, meinte Gérard. „Das lohnt! Das ist überhaupt das allerwichtigste! Dafür nimmt sich jeder an die Strippe!“ „K-k-klar ... !“ schluckte Prosper. Die anderen schwiegen, doch ihre Mienen drückten Entschlossenheit aus. Um der liebenswerten Frau zu helfen, waren sie zu jedem Opfer bereit . . . Daß Valentin eine Möglichkeit gefunden hatte, die Räder der Freunde herbeischaffen zu lassen, war nichts Besonderes, Fahrzeuge von Fischern und Austernzüchtern waren ohnehin ständig und auf einer Tour oft leer - zwischen Insel und Festland unterwegs. „Sag mal, Superhirn“, forschte Tati, als sie mit dem Pudel auf die abgestellten Räder zustrebten, „wo bist du denn so lange gewesen? Da mopsen wir uns den halben Tag auf dem Schiff herum, spielen Faulenzer - und zerspringen fast vor Spannung! Und was ist in den Einkaufstüten, die du da mitschleppst?“ Superhirn wartete, bis sie den Pudel im Körbchen vor der Lenkstange ihres Rades verstaut hatte. Als alle startbereit waren, erklärte er: „Ich habe noch 'n paar Telefonate geführt, sicherheitshalber nicht vom Schiff aus. Dann bin ich in einigen Andenkenbazaren gewesen.“ „Aha!“ begriff Micha. „Um das falsche Holland-Püppchen zu kaufen. Da hast du aber Glück gehabt! Schließlich sind wir nicht in Amsterdam!“ „Du merkst aber auch alles.“ grinste Henri. „Nur eins hast du vergessen: Es gibt in großen Kiosken jede Menge Trachtenpuppen - auch solche aus den Heimatländern der Touristen. Sogar Uniformierte kannst du haben: englische Bobbys und Gardisten mit Bärenfellmützen.“ Die Gefährten radelten jetzt ostwärts über die Insel, der Brücke zu. Es war etwa 14 Uhr - und so heiß, daß Superhirn im Schatten einer Hecke Pause machen ließ. Alle sechs - und der Pudel legten sich ins Gras. „Also hört her“, sagte der Spindeldürre. „Monsieur Rodincourt erwartet uns. ich will im Schloß den Tresorraum sehen, aus dem die gute Dingdong das Millionenbild geraubt haben soll.“ „Und was hat die arme Frau davon?“ fragte Gerard. „Ihre sofortige Freilassung!“ antwortete Superhirn ruhig. Es war sehr still. Man hörte einen Windhauch in der Hecke flüstern. Aber es kam den Freunden vor, als rausche es nur in ihren Ohren. Eindringlich, wenn auch nicht im mindesten aufgeregt, fuhr Superhirn fort: „Wir sind eine normale Feriengruppe, ohne irgendein Vorrecht, ohne jede Aufgabe oder einen Auftrag. Wir setzen jetzt alles auf die List. Und das muß klappen! Kommissar Rose ist nicht zu erreichen, und die Leute vom hiesigen Kommissariat sind nervös und glauben uns nichts. Auf dem Schiff, vorhin, wart ihr übrigens sehr schlechte Schauspieler!“ „Na, und du?* warf Tati ein. „Du bist am Kai herumgehopst wie ein Rentner auf Schmetterlingsfang! So 'ne Schmierenkomödie hab ich selten erlebt!“ Superhirn nickte. „Und eben die Schmiere“, betonte er, „müssen wir uns abschminken! Unser Auftritt vor und im Schloß muß glaubhaft sein. Nur ein winziger Fehler - und wir fliegen da raus.“ Gérard richtete sich im Grase auf: „Welche Oper sollen wir aufführen? Hör mal, ich bin Fußballer und kein Sänger!“ „G-g-glaubst du, ich?“ verwahrte sich Prosper. „Schon auf dem Kindertheater, als Rabe, war ich 'ne Niete.“
„Halt, halt!“ beschwichtigte Henri. „Etwas Dummes fordert Superhirn bestimmt nicht von uns. Außerdem: Vergeßt nicht, daß wir den Hexer' ganz schön auf den Rücken gelegt haben ...“ „Eben“, hakte Superhirn ein. „Wir müssen aufpassen und geistesgegenwärtig sein! Tati, du nimmst jetzt die eine der beiden Plastiktüten an die Lenkstange. Darin ist eine zweite falsche Holland-Puppe. Auch im Bazar von La Coliniare gekauft. Die echte hab ich in der anderen Tüte, und zwar in einer ausgehöhlten, kompletten Ananas verborgen!“ „A-na-nas ... ?“ fragte Tati, als hätte sie sich verhört. „Ananasfrüchte gibt's zu jeder Jahreszeit“, grinste Superhirn. „Allerdings wachsen sie nicht auf der Insel - wie die Mimosen. Ich konnte sogar zwischen Hawaii-, Taiwan- und Cote-d'IvoireFrüchten wählen. Die Cote, also die Ananas von der Elfenbeinküste, war am geeignetsten! Wenn uns jemand die Puppe wegnehmen will“, fuhr Superhirn fort, „protestiert Tati lautstark. Sie reißt ihre Tüte an sich. Ihr anderen verteidigt sie.“ „Die Tüte oder Tati?“ kicherte Micha. „Beide!“ antwortete der Spindeldürre, indem er dem jüngsten einen humorlosen Blick zuwarf. „Ihr rennt der Tüte mit der falschen Puppe sogar nach. Der Sinn ist, von der echten Puppe in der Ananas abzulenken. Tat!, du übernimmst die Regie. Und ihr anderen merkt euch: spielt eher zuwenig, als zuviel! Wie Klamauk darf die Sache nicht wirken. Los, alles Weitere unterwegs und dann die Bewährung an Ort und Stelle ...“ 7. Sechs und ein Pudel stürmen das Schloß Eine Stunde später langte die kleine Kolonne vor der haushohen Mauer des Rodincourtschen Parks an. Die Torflügel standen weit offen. Neben der Einfahrt parkte ein Polizeiwagen, doch der Beamte darin warf nur einen flüchtigen Blick auf die Radler. Die sechs Gefährten - mit dem Pudel in Tatis Lenkstangenkorb - strampelten durch einen lichtdurchfluteten Dom von Platanenblättern auf das Schloß zu. Linker Hand, zwischen den Stämmen, sah man den verkohlten Holzpavillon. Zwei Fahrzeuge der Feuerwehr waren noch da. Die Mannschaften, wie auch einige Polizisten, durchstöberten die Trümmerstücke samt der Asche. „Schnell vorbei.“ drängte Superhirn. „ich sehe den Kripo-Assistenten Gide!“ Doch schon ertönte ein Pfiff und ein scharfes: „Halt, ihr Bande ...!“ „Stop!“ zischte Superhirn. „Der Tanz beginnt!“ Wie ein Jogger kam der junge Beamte angespurtet: „Zum Teufel“, keuchte er ärgerlich. „Da kommt ihr mir schon wieder in die Quere! Ihr stiftet nichts als Verwirrung! Was hat euch veranlaßt, mitten in der Nacht die Polizei anzurufen und was vom Hexer' und der Puppe zu faseln? Und weshalb vermutet ihr den Hexer' ausgerechnet hier, wo er damals festgenommen wurde?“ „Ist die unschuldige Madame Dingdong noch in Haft?“ fragte Superhirn höflich zurück. „Ob sie unschuldig ist, wird sich herausstellen!“ rief Gide. „Aber was suchen Sie denn da am verbrannten Pavillon?“ ließ sich der Spindeldürre nicht beirren. „Wenn die Sprengplombe, die an dem Bild hing, dort explodiert ist, muß das Bild logischerweise mitverbrannt sein! Dann kann es Madame Dingdong niemals in einem Kleiderkarton zu ihrer Schwester gebracht haben!“ „Vielleicht hat sie das Gemälde erst einmal im Pavillon verborgen.“ sagte Gide ungehalten. „Wir müssen alles in Betracht ziehen!“ Superhirn blieb unerschütterlich: „Der junge Rodincourt hat sie im Auto abgeholt und vom Schloß aus direkt zu ihrer Schwester gefahren, das steht fest. Und bei der Schwester werden Sie nichts anderes gefunden haben als den Kleiderkarton - und das Kleid. Übrigens: Gibt es im Park nicht scharfe Wachhunde?“ „Ja“, bestätigte der Kripo-Assistent unwirsch. „Aber die sind jetzt im Zwinger. Ach - da fällt mir ein: Die Puppe, die sich die liebe Dingdong ohne euer Wissen bei euch geborgt hat - und
die sie am Tatort zurückließ, die ist ja auch ein Beweis. zumindest ein Hinweis! Man hat sie euch versehentlich zurückgegeben. Doch ich sehe, daß ich sie noch brauchen werde. Kann ich sie - bitte - wiederhaben? Die Quittung kriegt ihr später!“ Jetzt zeigte sich Tatis Geistesgegenwart. Sie nahm die Tüte mit der falschen Puppe vom Lenker, hielt sie hinter sich und rief: „Das hätten Sie sich eher überlegen sollen! Noch einmal geh ich die Puppe nicht her. Sie soll Madame Dingdong nicht noch tiefer ins Unglück stoßen.“ Die anderen schoben ihre Fahrräder vor Tatis Rad und machten empörte Gesichter. Der Pudel hustete vor Zorn, als wollte er in dem ganzen Theater nicht zurückstehen. inzwischen fuhr Superhirn (mit der echten Puppe in der Ananas und in der Tüte) ein tüchtiges Stück weiter. „Wo ist Kommissar Rose?“ schrie er. „Ich beschwöre Sie: Holen Sie ihn so schnell wie möglich heran, bevor noch mehr in der Gegend passiert!“ Gide hielt jetzt die Tüte mit dem falschen Holland-Meisje in der Hand: „Was treibt ihr euch überhaupt hier herum?“ brüllte er zurück. „Wir sind Gäste von Robert Rodincourt!“ antwortete Superhirn scheinbar hitzig. „Und nicht nur auf dem Schiff in La Cotiniere. ich hab mit ihm telefoniert. Er erwartet uns im Schloß!“ „Von mir aus“, brummte Gide. Mit Tatis Tüte unterm Arm trat er den Rückweg an, während die jugendlichen eilig dem Schloß entgegenstrebten. Das riesige, gespenstisch verwinkelte Bauwerk spiegelte einen Mischmasch verschiedener Zeitalter auf den Resten eines römischen Kastells. Einst war hier das abendländische Seerecht beraten worden. Und hier hatte vorübergehend die Dame „Alienors von Aquitanien“ gewohnt: erst Königin von Frankreich, dann Königin von England. Ein Seitenteil des Schlosses verschmolz mit den Felsen von Cap Felmy, ebenso wie die dazugehörige Kirche, In jüngster Zeit hatte man in den drei Stockwerken einige Fenster zugemauert, scheinbar regellos, um den Betrachter über die Lage der „Schatzkammer“ irrezuführen. Vor der Freitreppe standen die Rodincourtschen Leibwächter „Kofferschrank X“ und „Kofferschrank Y“ mit einem uniformierten Polizisten. „Kofferschrank X“ winkte leutselig: „Da seid ihr ja“, begrüßte er Tati und die jungen. „Lehnt die Räder da an die Wand. Monsieur Robert erwartet euch schon.“ „Der Pudel muß mit hinein. Er ist dressiert und soll etwas aufspüren!“ behauptete Superhirn. Geleitet von den beiden „Kofferschränken“, tappten die Gefährten ins Innere des kalten, dunklen Gemäuers, zunächst eine geschweifte Treppe empor, dann einen ansteigenden Gang entlang, dessen Boden getippt war, als gälte es, winterlichem Glatteis vorzubeugen. Plötzlich standen sie in einem gähnend leeren Spiegelsaal. „Endstation!“ beschied „Kofferschrank Y“. Das klang wie: Wer weitergeht, wird ins Bein gebissen! „Ist das der Vorsaal zum Tresorraum, wo das Bild hing?“ fragte Superhirn. „Erraten“, knurrte „Kofferschrank X“. „Der Spiegelsaal ist sozusagen unsere Wachstube, wenn Besuch im Allerheiligsten' ist, haha ...“ Er winkte Superhirn an die mit vergoldeten Streben ausgestattete Spiegelwand heran: „Dahinter ist nicht etwa eine gewöhnliche Mauer. Die Gemäldekammer wird durch Material isoliert, wie man's in der Weltraumfahrt verwendet. Sie gleicht einer Kapsel. Wenn das Schloß brennt und einstürzt: Das Tresorzimmer mit dem Bild zieht ein Kran unversehrt aus den Trümmern!“ „Ohne das Bild jetzt, wollten Sie sagen“, grinste Superhirn. „Den RÄUBERSCHWUR von Barbarini hat Madame Dingdong ja geklaut, nicht?“ „Wer soll es sonst gewesen sein?“ rief der andere „Kofferschrank“. „Es war ja niemand da.“ „Wirf mal einen Blick durch die goldene Rosette hier“, forderte „Kofferschrank X“ Superhirn auf. „Das ist eins der vielen Gucklöcher aus Kinoglas, wie man's in Armee-Panzerwagen verwendet!“ Superhirn hielt sein Auge an das Loch, das in der Schnitzerei hervorragend getarnt lag. „Was siehst du?“ fragten beide „Kofferschränke“ fast zugleich.
„Einen fensterlosen Raum mit wenigen Möbeln“, erwiderte Superhirn. Er sprach allerdings mehr zu den atemlos verharrenden Gefährten. „Der Raum ist künstlich beleuchtet, grell wie 'ne unterirdische Ladenstraße. Und darin war das Millionenbild? An welcher Seite hing es?“ „Links. Aber das Bild konnte man selbst durch diese Spionierlöcher nicht sehen“, erläuterte „Kofferschrank Y“. „Immer wenn ein Fremder dort drinnen war - wie Madame Dydon am Unglückstag -, mußten wir Wachmänner abwechselnd durch eins der Löcher spähen. Der alte Herr Rodincourt aber saß die ganze Zeit in einem Sessel neben dem Bild, Verstehst du? Er behütete es mit seinem Leben!“ „Und ihn und das Bild konnte man also nicht sehen“, überlegte Superhirn. Hm. Er hat die Gucklöcher so anbringen lassen, daß kein Unberufener von hier aus auch nur ein Eckchen seines Schatzes erblickt.“ Er drehte sich um. „Hinter und neben dem Tresorzimmer gibt es kein Geheimkabinett, nicht wahr? Ein- und Ausgang besteht aus einer hermetisch schließenden Panzertür?“ „Oja. Wenn man von diesem Saal aus durch eine Schleuse geht, trifft man auf diese Panzertür“, bestätigte „Kofferschrank X“ bereitwillig. „Aber dann hätte doch die Dingdong mit dem geklauten Bild an Ihnen vorbeirennen müssen!“ rief Tati gereizt. „Durch Panzerwände konnte sie nicht schlüpfen, vor dem Bild saß der alte Herr - ich denke mir, wie eine Klapperschlange -, und hier lauerten Sie beide! Und Sie haben sie während ihrer Putzarbeit durch die Löcher im Spiegelsaal beobachtet!“ „Wo hatte sie denn den Karton mit dem Kleid, das sie ihrer Schwester mitbringen wollte?“ fragte Henri. „Tja“, brummte „Kofferschrank Y“ achselzuckend. „Der lag da auf einem Hocker an der Wand. Übrigens hatten wir mehr zu tun, als nur durch die Gucklöcher zu starren. Wir mußten Staubsauger, Eimer, Schrubber, Putzmittel bereithalten - und nur wir durften ihr das Zeug in den Tresorraum reichen.“ Eine freundliche Stimme unterbrach das Gespräch: „Nun, da seid ihr schon! Prächtig, prächtig! Ich bin gespannt, was ihr mir zu sagen habt!“ Vom langen Korridor her war der junge Robert Rodincourt eingetreten. Er trug einen flotten Sportanzug und machte einen etwas schwungvolleren Eindruck als früher. „Mein Vater kann euch leider nicht empfangen. Es geht ihm zwar besser, die Kopfwunde ist nicht so schlimm, aber der Schock - ihr versteht?“ „Klar!“ rief Prosper. „Du - äh - bist Superhirn, ja? Also: Du hast mir telefonisch mitgeteilt, das Bild sei nicht explodiert und du kenntest sein Versteck. Aber die Polizei - außer einem Kommissar Rose würde dir nicht glauben[„ Robert leckte sich begierig die Oberlippe: „Außerdem wollt ihr mir zeigen, wie das Bild aus dem Rahmen genommen wurde? Gehen wir ins Tresorzimmer“ „Ich freß einen Hummer samt den Scheren!“ wisperte Gerard. Tati kniff ihn in den Arm. Was hatte Superhirn ihnen unterwegs eingetrichtert? „Kein Erstaunen merken lassen, was auch kommen mag!“ Robert Rodincourt öffnete erst die Tür vorn Spiegelsaal zur Schleuse, dann das Panzerschott zum Gemälderaum. Dieser „Tresor“ hätte gut und gern einer mehrköpfigen Familie als Eßzimmer dienen können. Im grellen, künstlichen Licht, das von der Decke kam, und im Strahl zweier Scheinwerfer an der Stirnwand sahen die Gefährten den kläglich möblierten Tatort. „Der Rahmen ist in die Wand eingefügt und unlösbar mit ihr verbunden.“ erläuterte Monsieur Robert. Die Scheinwerfer beleuchteten den schwer vergoldeten, mehr als zwei Hände dicken, meterlangen und halbmeterhohen Rahmen, der den gestohlenen RÄUBERSCHWUR eingefaßt hatte. In diesem Rahmen befand sich jetzt anstelle des Millionenbildes nur ein unsauber wirkender leinener Untergrund, Superhirn deutete auf den Sessel: „Dort saß Ihr Vater , als ihn die Dingdong überfiel?“ Robert Rodincourt nickte.
Superhirn sah sich weiter um: „In der Ecke, gegenüber, steht ein Schreibtisch. Und das daneben, ist das ein Papierkasten?“ „ja, und?“ Robert blickte erstaunt: „Mein Vater arbeitete oft an dem Schreibtisch, denn er wollte seinem geliebten Bild nahe sein. Alte Kuverts, unwichtige Briefe warf er in diesen japanischen Papierkasten.“ Superhirns Brillengläser blitzten in dem grellen, künstlichen Licht. „Und wo legte die Dingdong das angeblich gefundene Holland-Püppchen hin?“ „Hier, auf den runden Tisch k erwiderte Robert arglos. „Da lag auch ihre Leinentasche, in der sich ihr weißes Häubchen und ihre weißen Handschuhe befanden. Außerdem hatte sie Erfrischungstücher mit sich. Vater forderte in diesem Raum Sterilität.“ Superhirn betrachtete unter dem atemlosen Schweigen der Gefährten den Tisch, als ob es auf der leeren, blankpolierten Platte etwas zu sehen gegeben hätte. Schließlich legte er mit großer Gebärde seine Tüte auf die Platte, holte die Ananas heraus und tat sie daneben, als wolle er sich in Madame Dingdongs Lage versetzen. Doch schließlich überraschte er die Anwesenden mit der Behauptung: „ich habe das Messer gefunden, mit dem das Bild aus dem Rahmen geschnitten wurde ...!“ Für Tati und die anderen war klar, daß Superhirn jetzt einen Riesenbluff startete. wenn er sich auf solchen Unfug einließ, dann sicher nur, weil er etwas beweisen wollte, was er nur hier und an keinem anderen Ort - so überzeugend beweisen konnte. „Er läßt einen Sack mit Flöhen los“, hauchte Tati ihrem Bruder Henri ins Ohr, „und zuletzt steht ein Krokodil da!“ Die „Kofferschränke“ und der junge Rodincourt aber machten lange Hälse. Was das Millionenbild betraf, so klammerten sie sich gern an jeden Strohhalm. Superhirn entnahm der Tüte ein altes Rasier-Klappmesser. Für die Gefährten war unschwer zu erraten, daß er sich dieses Ding vom Hafenmeister Valentin geborgt hatte - und auch der hatte sich sicherlich seit dreißig Jahren nicht mehr damit rasiert. Doch Superhirn behauptete mit kalter Stirn: „Das ist das Tatwerkzeug! Damit ist das Bild aus dem Rahmen geschnitten worden.“ „Zeig mal!“ rief Monsieur Robert eifrig. Er und die beiden „Kofferschränke“ sausten auf den leeren Rahmen zu. „Hm. Aber man sieht keine Schnittstellen“, bemerkte „Kofferschrank X“. „Vielleicht stellen Sie sich mal neben den Rahmen“, meinte Superhirn. „Von der Seite erkennt man die Schnittstellen besser.“ Die beiden Wachmänner und der junge Rodincourt gehorchten verblüfft. Dann drehten sie sich um. Alle drei murmelten nacheinander: „Das hat die Kripo hundertmal untersucht!“ „Schnittstellen sind nicht sichtbar!“ „Gerade das ist ja das Unbegreifliche an der Sache ...!“ „Danke“, sagte Superhirn. „Wo ist die Alarmanlage?“ „Nun“, erklärte Robert. „Das ist ein ganzes System! Zur Zeit, als Madame Dydon hier putzte, war sie ausgeschaltet. Die empfindliche Anlage verträgt allein schon den Staubsauger nicht. Dafür saß ja mein Vater da! Er ist zwar 87 Jahre alt, aber er hat die Augen eines Adlers und die Straffheit eines Sportfunktionärs!“ „Hat jemand die Anlage in Tätigkeit gesetzt, als das Bild weg war?“ fragte Superhirn. Die „Kofferschränke“ guckten dumm. „Kofferschrank Y“ gab zu: „Nein. Als wir den alten Herrn am Boden liegen sahen, benutzten wir das Telefon. Ehrlich gesagt, wir glaubten nur an einen Schwächeanfall, Daß das Bild weg war, bemerkte mein Kollege erst, als ich bereits telefonierte. Hätten wir den Diebstahl gleich begriffen, dann ...“ „Was dann ... ?“ fragte Superhirn lauernd. „Dann hätten wir uns das Telefonat mit dem Notarzt erspart“, erwiderte „Kofferschrank X“. „wir hätten die Alarmanlage eingeschaltet und einfach auf den Bilderrahmen gedrückt!“
„Auf den Bilderrahmen gedrückt?“ wiederholte Superhirn. „Was geschieht, wenn einer auf den Bilderrahmen drückt?“ „Um Himmels willen.“ erwiderte Robert, „Da schrillen Alarmklingeln im ganzen Schloß! Auf den Schloßdächern drehen sich Blaulichter, und beim Kommissariat in Brossac fällt eine Klappel“ „Können Sie die Anlage mal kurz einschalten?“ fragte Superhirn. „ich meine: das System, nicht den Alarm!“ „Natürlich. ich wüßte nur nicht, wie uns das weiterhelfen sollte“, antwortete der junge Rodincourt. Er tippte auf eine Kontaktstelle neben dem Rahmen, und sofort leuchtete unmittelbar darunter eine rote Kontrollampe auf. „Danke!“ rief Superhirn. Wie ein Panther sprang er auf den leeren Rahmen zu und klopfte mit beiden Händen darauf herum. Die Wirkung war entsetzlich. Robert hatte von Klingeln, von Drehlichtern auf den Dächern gesprochen - aber in der Eile hatte er vergessen, die Sirenen zu erwähnen. Die heulten nun zum Steinerbarmen. im Schloß war ein Lärm wie auf einem untergehenden Schiff. Superhirn stand schon wieder am Rundtisch, um seine Ananas in die Tüte zu stecken. Als die „Kofferschränke“, gefolgt von dem schreckensbleichen Robert, verwirrt und wütend auf ihn eindrangen, hob er nur die Hand: „Alles okay. Eine optische Täuschung, die mit dem Abstellen der Alarmanlage zusammenhing. Sicher hat der alte Herr einen elektrischen Schlag an dem Schalter gekriegt und ist deshalb hingestürzt! Überfallen hat ihn wirklich niemand!“ „Waaas ...?“ brüllte „Kofferschrank X“. „Na, da ist doch das Bild!“ lächelte Superhirn. „Es hängt im Rahmen, wie eh und je! Der millionenschwere RÄUBERSCHWUR von Barbarini!“ Alle, die sich im Tresorraum befanden, fuhren auf dem Absatz herum und starrten auf das eben noch leere Rechteck innerhalb des Rahmens. Nur der Pudel lief schniefend hin und her, denn er wußte mit der furchtbaren Aufregung nichts anzufangen. jetzt war der Rahmen ausgefüllt mit herrlich kräftigen Farben: Da glomm das blutrote Feuer, da quoll der Rauch, da dräuten die Schatten, da reckten sich die überkreuzten Hände der schwörenden Räuber des Meisters Barbarini. Das unersetzliche Gemälde war wieder da ...! Und noch immer schrillten die Klingeln, weiter heulten die Sirenen in sägendem Ton. Superhirn hatte seine Tüte mit der Ananas vom Tisch genommen. „Ich sagte doch“, rief er triumphierend, „das Bild ist niemals gestohlen worden! Madame Dingdong ist unschuldig!“ 8. Verwirrung am Tatort - und Superhirns Super-Triumph! Zwanzig Minuten später wimmelte es im Schloß von Kriminalbeamten und uniformierten Polizisten. Die Leute am zerstörten Pavillon hatten es ohnehin nicht weit gehabt. KripoAssistent Gide erschien mit der Miene eines Jägers, der noch nicht weiß, welches Wild es zu erlegen gilt. Er blickte auf die Jugendlichen, die beiden Leibwächter und Monsieur Rodincourt. Sie erwarteten ihn im großen Spiegelsaal vor der Schleuse. „Das Bild ist wieder im Tresorraum?“ schrie er. „Ausgeschlossen! Es soll nie weggewesen sein? Ich sage Ihnen, dieser Superbursche hält uns alle zum Narren! Wer weiß, was der in seiner Trickkiste gehabt hat.“ Er stürzte mit Rodincourt ins Gemäldezimmer, kam aber gleich wieder herausgeschossen: „Eine Kopie! In wessen Auftrag ist die eingeschmuggelt worden? Ich lasse mich strafversetzen, wenn das Bild da drin echt ist!“ „Dann würde ich an Ihrer stelle sofort gehen4 verteidigte sich Superhirn. „Das Bild ist so echt wie ihre Nase oder das Haar auf Ihrem Kopf!“
„Freundchen!“ schrie Gide. „Willst du Fachleute aufs Kreuz legen? Den Quatsch mit der optischen Täuschung, dem elektrischen Schlag und dem Zusammenhang mit der Alarmanlage, den du uns aufgetischt hast, glaube ich dir nie! Ich brauche jetzt einen Experten für Malerei.“ „Den können Sie sich sparen“, sagte Robert Rodincourt, „Wenigstens brauchen Sie keinen Fremden: ich bin selber Experte, und von den Gemälden meines Vaters - ob in der Schweiz, in Paris oder hier - verstehe ich genug. Der RÄUBERSCHWUR dort drinnen ist das Original!“ Inzwischen war Gides Vorgesetzter, Kommissar Vinloh, eingetroffen. Er leitete die Ermittlungen in der Umgebung, und er hatte nicht nur den längst angekündigten Pariser Kommissar Barre mitgebracht, sondern auch - Madame Dydon! Die gute Frau machte keineswegs einen verängstigten Eindruck. im Gegenteil, sie blickte recht kriegerisch drein. „Nun bin ich aber mal neugierig, was man mir noch alles anhängen will.“ rief sie laut. Der Pudel hopste freudig auf sie zu, doch Kommissar Vinloh befahl: „Zurück mit dem Köter! Wer hier stört, fliegt raus.“ Tati nahm Loulou rasch auf den Arm. Die Gefährten gaben ihrer geliebten Madame Dingdong verstohlene Zeichen, doch sie hüteten sich, laut zu frohlocken. Als letzter, auf leisen Sohlen, trat ein schnauzbärt!ger Mann in den Saal, den keiner so schnell hier erwartet hatte. „K-k-kommissar Rose ...“ stammelte Prosper. Hörbar atmete Superhirn auf. Der spindeldürre Junge straffte sich und fragte mit klarer, jedermann vernehmbarer Stimme: „Darf ich jetzt zeigen, wie das Millionenbild RÄUBERSCHWUR aus dem Rahmen verschwand ... ?“ Der Pariser Kriminalist Barre, die Brossacer Beamten und der junge Rodincourt waren eben wieder aus dem Tresorraum herausgekommen. Madame Dydon stand, mit allen anderen wartend, im Spiegelsaal. „Wie das Bild verschwand?“ fuhr Kommissar Barre Superhirn an. „Eben hörte ich, es sei niemals weggewesen - und auf einmal hängt das teure Original unversehrt im Rahmen? Sagen Sie mal, Herrschaften, will sich hier jemand wichtig machen, um in die Zeitung zu kommen? Da fragt man sich doch, wird hier die Polizei genarrt ... ?“ „Nicht im geringsten“, sagte Superhirn ruhig. Und er zog die unheimliche kleine Puppe aus ihrer doppelten Umhüllung. Niemand achtete dara“f, denn an der Stelle, wo Barre, Gide und Vinloh standen, knisterte es auf einmal beängstigend ... „Was ist das?“ rief der Assistent Gide alarmiert. „Wo kommt das her, wo kommt das her ...?“ Und plötzlich begannen sie alle auf der Stelle zu tanzen, als fürchteten sie, auf ein Dutzend giftiger Schlangen zu treten. Die jugendlichen wichen bis zur Spiegelwand zurück. Der Pudel auf Tatis Arm jaulte vor Angst. Nur drei Personen rührten sich nicht vom Fleck: die bestürzte Madame Dingdong, der kaltblütige Kommissar Rose und Superhirn. Das Knistern verebbte - und plötzlich stand zwischen Barre und den „Kofferschränken“ etwas, das man bisher nicht im Spiegelsaal gesehen hatte: eine geflügelte, etwa kniehohe Marmorfigur, die ohne jeden Zweifel kein Lichteffekt, sondern ein kompakter Gegenstand war - ein Engel ...!!! Kommissar Barre sprang auf die Marmorfigur zu, prallte mit den Beinen dagegen und sank ächzend auf das Parkett: „Was ist das ... ???“ keuchte er, den geflügelten Marmorengel entsetzt betrachtend. „Das ist“, sagte Superhirn, „der berühmte Engel von Florenz. Er wurde im Frühjahr vom Campo di Marte gestohlen. Seither sucht man ihn in aller Welt. Aber auf jeden Fall hat ihn Madame Dydon nicht geklaut ...“ Barre drehte sich im Kreise: „Wo kommt das Ding jetzt her? Teufel! Und - wo ist es geblieben?“ Die Stelle, an der der Marmor-Engel so plötzlich aufgetaucht war - war wieder leer ...!!!
„Erinnern Sie sich an den großen Briefmarkenraub in Brüssel?“ fragte Superhirn. „Die EinKreuzer-Marke, 1839 in Klagenfurth gedruckt! Vorsicht! Sie liegt auf Ihrer Schuhspitze!“ „Das ist doch ...“, brüllte Kommissar Barre. Er wollte sich bücken, doch schon war die Marke verschwunden. Barre fuhr herum und starrte Superhirn an: „Womit hantierst du da? Ist das ein Episkop? Oder ein Epidiaskop ... ?“ „Episkope und Epidiaskope können keine Figuren in den Raum stellen ... und keine echten Gemälde bleibend an die Wand werfen.“ erwiderte Superhirn ruhig. Er hatte die Tragetüte mit der Ananashülle am linken Ellbogen. Mit der rechten Hand hielt er das Holland-Meisje des „Hexers“ hoch: „Madame Dingdong, wo haben Sie dieses Püppchen gefunden?“ „Na, wie ich immer sagte: vor dem Schloß! Ich nahm sie auf, weil ich erkannte, daß es eure war. Ich steckte sie in die Tasche, nahm sie aber im Tresorraum heraus und legte sie auf den Tisch, bevor ich putzte. Dann vergaß ich sie leider.“ „Wer kann die Puppe zum Schloß getragen haben?“ fragte Superhirn. „Na, die Hunde, wer sonst?“ rief Madame Dingdong prompt. „Ich hab den Pudel schon mal mit dem Ding in der Schnauze gesehen. Er tat sich schwer damit. Das will ich meinen! Aber die gefleckte Dogge vom alten Herrn Rodincourt, die darf ja raus, sie ist ja nicht so scharf wie die Hunde im Zwinger. Und die schleppt oft mal was herbei, ach, oft!“ „Sind wir hier in einem Zirkus oder an einem Tatort?“ mischte sich Vinloh ein. „Will man mir etwa weismachen, die kleine Puppe schluckt Bilder, Statuen, Briefmarken - vielleicht sogar den britischen Kronschatz ...?“ „Was ist das überhaupt für eine Puppe?“ rief Gide. „Ich denke, ihr habt mir das Tatort-Stück vorhin gegeben?“ „Ich gab Ihnen vorhin eine falsche Puppe“, sagte Superhirn, „mit der Sie genausowenig anfangen konnten wie mit der echten. Niemand hier im Saal will ja für möglich halten, was er mit seinen eigenen Augen siehti“ „Das ist ja auch ein wenig zuviel verlangt“, ertönte die Baßstimme Kommissar Roses von der Tür her. „Entschuldigen Sie, liebe Kollegen, aber der Fall geht uns alle an, und deshalb muß ich jetzt eingreifen.“ „Die Aufklärung des Bilderraubs ist mir übertragen worden!“ wollte Kommissar Barre protestieren, doch Rose hob die Hand: „Ich habe die Lösung in der Tasche, genügt Ihnen das? Und das Tatwerkzeug hat der Junge sichergestellt: der, den man zu recht das Superhirn nennt!“ Er wandte sich an Vinloh, Gide und Robert Rodincourt: „Wie ich erfuhr, stützte sich der Tatverdacht gegen Madame Dydon auf drei Punkte. Erstens: Sie war als letzte am Tatort und ließ dort eine kleine Puppe zurück, die ihr nicht gehörte. Zweitens: Nachdem sie den Tresorraum verlassen hatte, wurde der alte Herr Rodincourt bewußtlos und mit einer Platzwunde am Hinterkopf gefunden. Das Millionenbild war nicht mehr im Rahmen. Dagegen hatte Madame Dydon einen verdächtig großen Karton mitgeführt, in dem sich angeblich ein Kleid für ihre Schwester befand ...“ „Aber es stimmt - mit dem Kleid!“ beteuerte Madame Dingdong. „Und die Puppe hab ich von der Schloßtreppe aufgehoben, aber es sah niemand, weil Monsieur Roberts Auto dazwischenstand!“ Ohne auf den Einwurf zu achten, fuhr Kommissar Rose fort: „Selbst die Polizei wollte vierundzwanzig Stunden lang nicht glauben, daß die gute Frau als Täterin in Frage käme.“ Kommissar Vinloh nickte düster. Rose sagte nun mit erhobener Stimme: „Nun zu Punkt 3! Gestern mittag erwachte der angeblich überfallene Rodincourt in der Klinik und belastete Madame Dydon. Das war entscheidend. Sie wurde - fälschlich - verhaftet!“ „Und Sie? Sie haben die Lösung in der Tasche, ja?“ hakte Gide ein. „Der vorlaute Bursche da, der Superkopf, sei im Besitz des Tatwerkzeugs? Soll ich darunter diese Mumpitz-Puppe mit den Spiegelfechter-Tricks verstehen?“
„Gewiß!“ erwiderte Rose scharf. „Einer dieser Spiegelfechter-Tricks hat den Kollegen Barre zu Boden geworfen, und ...“ „Ich muß noch einmal daran erinnern“, unterbrach Barre, „daß der Kunstraub mein Fall ist! Sie dagegen sollten einen Ausbrecher fangen, der durch grausige Versuche zum Hexer geworden ist!“ „Und der die Puppe konstruiert hat!“ setzte Rose kühl hinzu. „Sie werden staunen: Den Hexer' habe ich bereits!“ Tati ließ vor Verblüffung beinahe den Pudel fallen. „Eins zu null für Rose“ murmelte Gérard. „Ruhe!“ rief Gide. „Der Hexer' ging mir heute vormittag an seinem Wohnort ins Netz“, erläuterte Kommissar Rose. „Er kam von hier - und war nervlich total am Ende. Damit wäre mein Fall eigentlich abgeschlossen gewesen ...“ „Sage ich doch!“ rief Barre. „Wenn wir nicht, lieber Kollege, im Geheimkeller des Hexers neben den biochemischen Geräten auch eine Fülle von geraubten Kunstschätzen gefunden hätten! Und hier, Herr Barre, treffen sich unsere Wege, und hier werden sie enden!“ Nun unterbrach niemand mehr die Ausführungen des Kommissars Rose, so daß er zum Schluß kommen konnte: „Bei der neuerlichen Verhaftung drehte der Hexer wieder durch. Er faselte vom Schloß Rodincourt, dem gestohlenen RÄUBERSCHWUR, von einer unschuldigen Madame Bimbam wobei er irrsinnig lachte - und von einer Holland-Puppe, die in Wahrheit ein Pick-up-Gerät oder ein magic hood sei. Das erste bedeutet Aufsammler, das zweite Tarnkappe. Nun ja: ich borgte mir einen Hubschrauber der Verkehrspolizei und landete vor zwei Stunden auf dem Privatflugplatz des Staatlichen Forschungsamtes. Der Leiter, Professor Romilly, der die genialen Fähigkeiten des Hexers kennt, erläuterte mir einige Begriffe, die mir der Hexer hohnvoll entgegengeschleudert hatte. Sie betrafen die Puppe. „Die von der Putzfrau hier eingeschleppt wurde“ rief Gide. „Und wer, bitte, hat den alten Herrn niedergeschlagen?“ „Niemand“, antwortete Rose. „Es war, wie der eine Leibwächter anfangs vermutete, ein Unfall! Der alte Herr Rodincourt ist lediglich gestolpert! So - nun wollen wir aber mal mit der Puppe ins Tatzimmer gehen. Wie ich Superhirn kenne, hat er uns das Wichtigste dort vorzuführen. Ich darf bitten ...“ Der Tresorraum war groß genug, alle Beteiligten zu fassen. Superhirn blickte auf den RÄUBERSCHWUR, der wieder im Rahmen hing. Dann stellte er sich mit der Puppe an den Tisch, auf den Madame Dingdong ihr Täschchen gelegt hatte. „Der alte Herr saß im Sessel neben dem Bild“, berichtete Madame Dingdong. „Er bewachte es immer, wenn jemand anders mit im Raum war. Kein Fremder durfte sein Allerheiligstes betreten. Auch die Leibwächter durften nur in den Spiegelsaal, allerhöchstens bis an die Schwelle dieses Zimmers, um mir den Staubsauger und das bereitgestellte Putzzeug hereinzureichen. Was ich nicht mehr brauchte, Eimer, Lappen, Schrubber und so weiter, nahmen sie mir ab und trugen es hinaus.“ „Auch den japanischen Kasten, der als Papierkorb diente?“ fragte Superhirn. „Den leerten sie erst mal in der Schleuse aus, das heißt, sie taten den Inhalt in einen Plastiksack. Der Gärtner trug das dann alles zum Müllkasten am Pavillon.“ „Danke.“ Superhirn strahlte. „Das wollte ich hören! Jetzt erklärt sich die Explosion der Plombe, die das Bild nach einem Diebstahl vernichten sollte. Der alte Herr Rodincourt hatte ja kein Interesse an einer Versicherungssumme. Es kam ihm auf das Bild an, nur auf das Bild. Er wollte es lieber zerstört als in fremden Händen wissen.“ „Eine Plombe? Ja, ich sah sie rollen ...“, sagte Madame Dingdong verwirrt. „Ich wunderte mich, ich dachte dann, sie stamme von einer Putzflasche. Ich tat das Ding in den Papierkasten...“
„Und von da wanderte das kleine Plastikplömbchen zum Pavillon, vermutlich, weil es im Moment der Manipulation an dem Gemälde scharf wurde. In der veränderten Luft und durch die Temperaturschwankung schmorte es dann der Explosion entgegen. Das wissen wir schon“, sagte Superhirn. „Kommen wir zum Schluß“, forderte Kommissar Rose. „Madame, Sie sind sehr hastig aufgebrochen. So hastig, daß Sie die Puppe vergaßen. Wie erklärt sich das?“ „Der junge Herr Rodincourt rief vom Korridor aus durch den Spiegelsaal: Madame Dydon, es ist Zeit! Ihre Schwester hat eben angerufen. Sie sollen sofort kommen, um noch etwas zu helfen! Da nahm ich meine Tasche, tat Häubchen und Handschuhe hinein, nickte dem alten Herrn im Sessel zu und lief hinaus! Der eine Leibwächter gab mir den Karton mit dem Kleid, Ich rannte die Treppe hinunter zur Auffahrt, wo der junge Herr schon im Wagen saß. Er brachte mich zu meiner Schwester. Das ist alles!“ Jetzt meldete sich einer der beiden Leibwächter. Es war „Kofferschrank X“: „Wir schlossen die Tür zur Schleuse und warteten auf ein Summerzeichen des alten Herrn. Gewöhnlich verriegelte er die Panzertür ohne Zeugen. Dann hielten wir uns hier bereit, um ihn in die Bibliothek zu geleiten. Das heißt, erst holte einer von uns die Dogge, die vor dem Tresorraum zu wachen hatte. Als das Zeichen nach zehn Minuten noch nicht ertönt war, gingen wir in das Gemäldezimmer, um nach dem alten Herrn zu sehen. Er lag bewußtlos auf dem Boden - und das Bild war verschwunden.“ Kommissar Rose nahm Superhirn die Puppe vorsichtig aus der Hand: „Dies“, sagte er, „ist der Täter. Das ist keine Puppe, sondern ein getarntes Gerät: Ein programmierbarer Absorber, ein Aufsauger, der auf bestimmte Objektbereiche justiert werden kann. in diesem Fall: Bilder, kleine Statuen, Briefmarken. Unter Veränderung des spezifischen Gewichts saugt dann das Gerät bauplangetreu den anvisierten Gegenstand auf - und gibt ihn ebenso materialgerecht wie bauplanmäßig wieder. Im Gegensatz zum Fotoapparat, der rein optisch - also nur das Lichtbild' - aufnimmt, zersetzt dieses Gerät die Aufnahme stofflich, und zwar molekular, und speichert ihre Kleinstteile methodisch!“ „Die Puppe hatte offenbar Wackelkontakt', als Madame Dydon sie auf den Tisch legte“, sagte Superhirn. „Kein Wunder, denn die Hunde hatten sie ja vom Turm bis zum Schloß geschleift und wie einen Knochen zwischen den Zähnen gehabt. Dadurch lief in dem Gerät eine Art Countdown, den Madame Dydon versehentlich auslöste, bevor sie ging. Sie war sehr aufgeregt, rechtzeitig zu ihrer Schwester zu kommen. So aufgeregt, daß sie die Puppe vergaß - und nicht einmal sah, daß das Bild weg war. Sie tat nur die kullernde Plombe in den japanischen Papierkasten. Die Sprengplombe wurde von dem Gerät nicht mitgeschluckt!“ „Sag mal“, rief Kommissar Barre fassungslos: „Wie bist du denn auf all das gekommen?“ „Ganz einfach!“ Superhirn lächelte. „Bei uns im Turm erschien das ungerahmte Bild an der Wand. Dann war es wieder weg! Statt dessen zeigte sich ein anderes Gemälde - und auch das löste sich auf. Da wurde mir klar, daß die Puppe die Ursache sein mußte, und daß sie jemand zum Schein auf ein Holland-Meisje getrimmt hatte. Der Hexer hatte das Teufelsgerät als Glücksbringer' ausgegeben, also war er wahrscheinlich der Konstrukteur! Und nachdem uns der Hexer' auf dem Schiff aufgelauert hatte - was mir die Polizei nicht glauben wollte -, sah ich mir das Ding heute früh im Schuppen des Hafenmeisters ganz genau an. Erst ließ ich den drehbaren Kopf unter dem Häubchen vorsichtig einrasten, weil ich Angst hatte, den Inhalt in die Luft zu schießen.“ Superhirn hielt die Puppe hoch, drehte eine Schuhspitze am Sockel zur Seite und ließ sie wieder zurückschnappen, Das tat er dreimal, und jedesmal zeigte die Puppe ein anderes Gesicht. ihr „Normalgesicht“, das aus dem Häubchen lugte, ließ die drei anderen Gesichter nicht ahnen. Nun drehte er die Puppe um: Der Boden des Rumpfes glich dem einer kleinen Vase oder einer Kaffeetasse. Das Material, so meinte Kommissar Rose, sei Keramik mit dem Härtegrad und der Hitzebeständigkeit etwa eines Diamanten - eine Entwicklung der WeltraumTechnologie.
„Hier steht übrigens etwas drauf!“ sagte Superhirn und las vor: Firma Jh. K. de Ponc-Que Luxbg.W. „Luxembourg W.?“ überlegte Gide. „Das ist Luxembourg-West! Firma Ponc-Quyszt? Ganz bekannt: ein Benelux-Fabrikat“„ „Ja, die Firma gibt's wirklich“, nickte Superhirn. „Das ist das Tollste daran. Aber ...“, er zog sein Notizbuch aus der Tasche, „Ich habe mir mal die Buchstaben hintereinander aufgeschrieben: FIRMAIHKDEPONCQUYSZTLUXBGW Merken Sie etwas? in der Reihe wiederholt sich kein einziger Buchstabe! Der Firmenname steht also verschlüsselt für das Alphabet! Hier, untereinander: FIRMAJHKDEPONCQUYSZTLUXBGW ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ - also genau 26 Buchstaben! Und jetzt kann ich auch die winzige Kontrollschrift darunter ablesen und gegenkontrollieren.“ Superhirn ließ das Püppchen sein Gesicht wechseln: „FLJFKNA - das heißt: Aufnahme! IDOM bedeutet: Bild! Dazu ZUASSAJSAD - und das meint: Sperre frei!“ „Der Junge ist mir unheimlich!“ hauchte „Kofferschrank X“. Superhirn fuhr ungerührt fort: „Nun richte ich das eine Ärmchen auf das Bild. Wenn ich das andere runterdrücken würde, hätt ich das Bild sozusagen im Kasten.“ Er fügte hinzu: „Für Wertzeichen und Skulptur gibt's natürlich auch Chiffren. Um die Puppe auf Wiedergabe zu programmieren, muß ich den Sperrhebel, eins der Füßchen, zur Seite drücken und das entsprechende Gesicht mehrfach umlaufen lassen. Wann der Apparat schußbereit ist, seh ich an der Kontrollschrift im Sockel! Tja - und Madame Dydon hat durch unbewußtes Hantieren den Einkauf getätigt! Aber sie hat das Gemälde nie hinausgetragen.“ „Der alte Herr Rodincourt wurde aber bewußtlos aufgefunden“ rief Kommissar Vinloh. „Wie erklärt sich dann seine Behauptung, von Madame Dydon überfallen worden zu sein?“ „Er hat die Aussage inzwischen korrigiert“, sagte Rose. „Ich komme ja eben aus der Klinik. Der Patient war erst gestern in der Lage, die Ereignisse in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben: Danach hat er die Putzfrau aus dem Tresorraum gehen sehen; erst dann erhob er sich von seinem Sessel. Als er am Schreibtisch war, bemerkte er das Fehlen des RÄUBERSCHWURS. Er konnte es nicht fassen, eilte auf den Rahmen zu, glaubte an eine Täuschung und trat ein wenig zurück, den Blick immer auf die verbliebene Leinwand gerichtet. Dabei stolperte er über die Fußstütze des Sessels und fiel auf den Hinterkopf. Das Ergebnis: Platzwunde, Gehirnerschütterung, lange Ohnmacht und anschließende Verwirrtheit. Er ist jetzt wieder klar.“ „So k-k-klar, daß er sich bei Madame Dingdong entschuldigen kann?“ rief Prosper aufgeregt. Schnell beschwichtigte Robert Rodincourt: „Ich tue es für ihn. Ja! Auf der Stelle! Ich entschuldige mich für uns alle!“ „Für mich nicht“ empörte sich Micha. „Niemand von uns hat auch nur einen Augenblick geglaubt, daß sie eine Räuberin ist!“ Kommissar Rose grinste. Er nahm Superhirn die Puppe aus der Hand und sagte: „Von dieser Puppe da hätte es auch keiner geglaubt! Tja, lieber Kollege Barre: Die fällt ja nun in Ihr Fach! Mag sich Ihr kriminaltechnisches Labor damit beschäftigen. Und wenn Sie die Kunstschätze und Sammlerwerte aus dieser Puppe den Eigentümern zurückgeben, springt gewiß auch ein Orden für Sie mit heraus!“ Kommissar Barre ergriff das Teufelsgerät mit spitzen Fingern: „Wer weiß, was da noch alles herausspringt!“ „Ich möchte wieder in unseren schönen, alten Leuchtturm“, seufzte Tati. „Ich bin erholungsreif.“ Das zustimmende Murmeln der Jungen ging im Bellen des Pudels unter.
„Eigentlich hat uns ja Madame Dingdong darauf gebracht, was mit der Puppe los ist“, sagte Superhirn. „Was mich betrifft, so möchte ich eine Empfangsbestätigung von der Kripo haben. Denn allein dieses Dokument dürfte bald Gold wert sein.“ „Puppe, Gold - oder Dokumente!“ Madame Dingdong hob abwehrend beide Arme: „Zumindest von Puppen und Dokumenten hab ich die Nase voll! Und das einzige Kunstwerk, auf das ich jetzt aus bin, ist eine große, selbstgebackene Torte!“ „Eine sehr große!“ lächelte Robert Rodincourt. „Für die Zutaten sorge ich.“ „Und die Backgehilfen, Madame“, sagte der Kripo-Assistent Gide, „die finden Sie bestimmt im Turm!“ „Bestimmt!“ rief Micha begeistert. „Ganz, ganz, ganz bestimmt!“
ENDE
Superhirn Der weiße Spuk 1. Weiße Melonen und ein schlohweißer Schwarzbart! Die Geschwister Tatjana, genannt Tati, Henri, der Älteste, und Micha, der jüngste der drei, schoben sich, gefolgt von Henris Mitschülern Gérard und Prosper, schwitzend durch die Menge der Einheimischen und Touristen. Es war Markt in St. Trojan auf der Atlantikinsel Oléron. Die farbig gestreiften Faltdächer und Schirme schützten kaum die Stände. Fühlbar brannte die Sonne vom Himmel, wenngleich man sie nicht sah. Sie schwamm wie in Quecksilber aufgelöst im silbrig grellen, blendenden Himmel. „Komisch“, sagte Gérard plötzlich. „Ich sehe gar keine Farben mehr!“ Eine verblüffende Bemerkung, besonders auf einer Insel, die als Paradies der „wechselnden Lichtschimmer“ gepriesen wird und deren Farbenpracht durch den Einfluß des Golfstroms sprichwörtlich ist. Feigenbäume, Eukalyptushaine, Oleander, Myrten, Sandbeerbüsche geben dem Auge allein schon eine ganze Palette unterschiedlichsten Grüns! „Was meint Gérard?“ fragte Henri. Er blickte sich kurz um, zog dann aber Michas schwarzen Zwergpudel Loulou von einer aschbraunen Katze weg, die sich vor dem aufgeklappten Kühlwagen des Fischverkäufers sonnte. „Gérard sieht keine Farben!“ Micha lachte. Tati aber verging das Lachen. Sie starrte verblüfft in einen überdachten Marktstand: Auf dem Brett sah man allerlei dickliche Gebilde. manche nicht größer als eine Bowlingkugel. Andere glichen in ihrer Form und Wuchtigkeit Medizinbällen. Früchte! Das Schild wies sie als „Melonen“ aus. Doch diese Melonen waren weder grün, türkis- oder orangefarben und gelb. Auch eine gewisse typische Eierschalenfarbe, wie sie an afrikanischen Melonen zu sehen ist, war nicht vertreten. Die Schalen sämtlicher Früchte - von welcher Form und Sorte sie auch immer waren - zeigten ein unnatürliches Waschpulver-Weiß. Gérard riß die Augen auf: „Nein, die hab ich noch gar nicht gesehen. ich - ich meinte nur das grelle Licht. Das Flimmern. Aber diese Dinger da ...“ Neben dem Marktstand lehnte ein dürrer Mann an einem Karren. Er hatte den Strohhut lief in der Stirn, und sein Kinn war herabgesunken, als schliefe er im Stehen. „Ist das der Melonikus?“ wisperte Micha, „Der Verkäufer? Wir wecken ihn am besten mal und fragen ...“ Plötzlich tauchte eine Frau in einer graßgrünen Kittelschürze hinter dem Karren auf. Sie blickte erst auf den reglosen Mann, darin auf das Brett mit den Früchten. „Nur ein paar Stunden bin ich mal auf dem Festland“, rief sie erbost. „Nur ein einziges Mal laß ich dich mit den Melonen allein auf den Markt - und dann das!“ Der Mann kam mit einem erschrockenen Schnarcher zu sich, schob den Hut zurück und bewegte den Kopf zwischen der Frau und den Früchten hin und her. „Was - was ist denn ... ?“ fragte er krächzend. „Na sieh doch!“ fuhr ihn die Frau an. „Da hat dir einer einen Streich gespielt, während du besoffen vor dich hingedöst hast! Die Melonen sind mit Schiffs-Weiß übergossen worden! Los, pack sie in den Karren, sonst verlieren wir die Lizenz. Mach schon! Tu sie erst mal runter vom Brett! Eine Plane drüber! Eil dich! Eil dich ... !“ Henri wandte sich an Tati und die Jungen: „Weg hier!“ raunte er. „Da stimmt was nicht. Dreht euch nicht um! Mit dieser Sache haben wir nichts zu tun!“
Die Gruppe drängte mit ihren Einkaufsbeuteln und dem Pudel aus dem Marktgewühl heraus. Den anderen voran, strebte Henri auf ein Gartencafé zwischen mannshohen Hecken zu. „Ach ja! Jetzt 'ne große Portion Eis!“ rief Micha hoffnungsvoll. Das Zauberwort „Eis!“ ließ sie die geisterbleichen Melonen vergessen. An den kleinen, runden Tischen auf dem perlmuttschimmernden Unter917und zerstampfter Austernschalen saßen um diese Zeit nur ein paar Männer, die, offenbar in Betrachtung ihrer Seelen, an Kaffeetäßchen nippten. Der Zwergpudel Loulou kroch unter einen Stuhl und knupperte Waffeln mit ein paar Klecksern sahne. Tati und die Jungen löffelten eine Weile schweigend ihre Riesenportionen „Pistazie“, „Himbeere“, „Zitrone“, „Vanille“, „Schoko“, „Nußcreme“ - gemischt oder „einfach“. „Also - farbenblind bin ich nicht!. grinste Gérard. „Als Fußballer habe ich noch immer die gelbe von der roten Karte unterscheiden können.“ Bedächtig legte Henri den Löffel hin. Noch bedächtiger - als gelte es, einen Schnauzbart zu reinigen wischte er sich mit der Papierserviette die Lippen. Dann sagte er, wobei er jedes Wort betonte: „Seit wann gibt es schneeweiße Melonen? Die Dinger hat keiner angemalt oder mit Farbe überschüttet. Nicht mal unreife Melonen sehen wie Gletscherbrocken aus. oder züchtet man neuerdings Melonen am Südpol? Aus nichts als superweißem Hartschnee?“ Niemand antwortete. Denn eben jetzt entwickelte sich eine komische Szene am Rande des Marktes. Ein langer, dürrer Mann hatte sich vor einen Karren gespannt, als sei er sein eigener Esel - oder auch das Maultier der Frau, die zeternd neben dem Karren herlief und ihn antrieb. „Der Melonikus mit seiner Frau!“ rief Micha. „Die Frau hat's aber eilig, die Geisterfrüchte wegzuschaffen!“ „Sie hat alle Hände voll zu tun, das Zeug zu bedecken, damit es keiner sieht“, fügte Henri hinzu. „Aber - halt - jetzt will der Mann nicht weiter! Er streikt - oder besser: er bockt!“ Wirklich stellte der torkelnde Melonikus den Karren auf den Deichselsteg und nahm seine Flasche vom Gürtel. Doch da fiel die hintere Wagenklappe herab, und drei oder vier Melonen rollten über das Pflaster. Die Frau lief den geisterbleichen Früchten nach. Sie schrie, als gälte es, Zeitzünderbomben aufzuhalten. Zwei Melonen trug sie selbst zum Karren zurück. Die dritte erwischte ein Polizist und brachte sie ihr arglos nach, Ehe Tati, Henri, Prosper und Gérard es richtig begriffen hatten, sahen sie Micha an dem Marktpärchen, dem Polizisten und dem Karren vorbeisausen, gefolgt von Loulou. Der Mann und die Frau stritten noch, und der Beamte versuchte sie zu beschwichtigen, da war Micha bereits wieder zurück. „Hier“, rief er hastig, „eine weiße Melone! Eine kleine!“ Er ließ sie in seinem Campingbeutel verschwinden und setzte sich rasch auf seinen Stuhl. „willst du die Melone Superhirn mitbringen?“ fragte Gérard. Marcel - Superhirn, der dürre Junge mit der kauzigen Brille, verdankte den Spitznamen seiner Blitzgescheitheit. Auch er gehörte zur Feriengruppe. Heute war er auf dem Festland geblieben. Schon seit Tagen entwickelte er einen sonderbaren Eifer, Zeitungen zu lesen. Immer gleich pfundweise, wie ihn die anderen neckten. Mit dem Rad schwirrte er an der Bäderküste umher und kaufte sich jedes erreichbare Blatt: vom „Naturboten“ bis zur Auslandspresse. Micha nickte. „Klar! Superhirn durchschaut alles. Ein Blick auf die Melone, und er sagt uns, warum sie so eklig weiß ist!“ „So, Kinder!“ sagte Tati jetzt. „Bezahlt haben wir. Gérard, das Putzen des Bechers überlaß den Angestellten. Deine Zunge ist kein Spüllappen! Nehmt eure Sachen. Und vergeßt nicht: wir sind mit dem Boot hier. Am Kai wartet Großadmiral Schwarzbacke auf uns!“ Begleitet von Loulou, trotteten Tati und die Jungen mit ihren Beuteln und Taschen zum Hafen. Als sie die Bunkerpier erreicht hatten, hielten sie nach Schwarzbackes Piratenflagge (weiß mit aufgedruckter schwarzer Hand) Ausschau. Schwarzbacke war natürlich weder Admiral noch Pirat. Niemand an der ganzen, langen Atlantikküste - von der Bretagne bis hinab nach Spanien - hätte zu sagen gewußt, ob Schwarzbacke auch nur
Obermatrose gewesen war. Seine enorme Körperfülle und der gekräuselte, fast blauschwarze Bart hatten ihm den Ehrentitel eingebracht. Als „Markenzeichen“ für sein robustes Motorboot, das er für Lohnfahrten benutzte, diente ihm die Piratenflagge. Mit der Fracht war er nicht wählerisch: Er beförderte Hammel, Schweine, Weinfässer, Kabelrollen, Standuhren, Badewannen und - Touristen. Die jungen Freunde hatte er umsonst mitgenommen, da er sowieso eine Ladung Campingzubehör zur Insel bringen mußte. „Nanu, das Schiff ist nicht da“, wunderte sich Micha, als sie alle fünf mit dem Pudel auf der Mauer standen. Mit zusammengekniffenen Augenlidern, die Hand vor der Stirn, spähte Henri über die weite Seudre-Bucht unter dein silbrigen Himmel. „Wir hätten die Gezeitentafel besser im Kopf haben sollen“, sagte er. Es war dreizehn Uhr. Erst eine halbe Stunde später würde der Wasserstand die Rückfahrt zum Cap Felmy erlauben. Der Leuchtturm dort drüben - hoch auf der Felsnase - äffte den Betrachter, Es war, als spränge er bald ein Stück zurück, bald wieder nach vorn. Ein besonders ärgerlicher Gedanke, denn in der köstlichen Kühle dieses wohnlich ausgebauten alten Gemäuers hatten die Freunde ihre Quartiere. Nach einer Weile reckte Prosper den Hals. „Da k-k-kommt Schwarzbackes Piratenflagge hoch!“ Tatsächlich sah man jetzt an der Nachbarpier den Signalmast mit der vorschriftswidrigen Ulk-Flagge in die Luft ragen. Die Flut erreichte die Anlegestelle und hob Großadmiral Schwarzbackes Schiff, das offenbar gleich nach der Ankunft den Liegeplatz gewechselt hatte. Tati und die jungen rannten mit dem Pudel hinüber. Von oben blickten sie auf Schwarzbackes Arche. Sie hieß „Perle“, ähnelte jedoch eher einem schwimmenden Mülleimer, zumal sie keine bestimmte oder einheitliche Farbe hatte. ihre Schale war mit sämtlichen Farbresten betupft, die der Besitzer nur hatte ergattern können. „So, da sind wir wieder“, begann Tati, doch Schwarzbacke unterbrach sie in ärgerlichem Ton: „Ihr habt vielleicht Nerven, mich so lange warten zu lassen! Schließlich hab ich meine Zeit nicht gestohlen!“ Die Gefährten waren sprachlos. Der Dicke mit der schmutzig-weißen Mütze auf dem üppigen Haar und den grünspanbesetzten Goldborten an der Jacke galt als ein geduldiger und freundlicher Mensch. Warum war er plötzlich so brummig? Vorhin hatte er doch ausdrücklich gesagt: „Es eilt gar nicht! ich habe sowieso heute nichts mehr vor!“ „Wer hat Sie warten lassen - wir?“ fragte Henri. „Da irren Sie sich. Ebbe und Flut können wir nicht steuern.“ Verblüfft fügte Tati hinzu: „Mein Bruder hat recht. Gucken Sie sich doch mal um! Einige Schiffe stehen noch im Schlick!“ „Haben Sie inzwischen in die Schnapsflasche geguckt, wenn man fragen darf?“ ließ sich Gérard mißtrauisch vernehmen. „Ach ja“, brummte Schwarzbacke, „ach ja. Das heißt, nein! Ich habe nur ein Nickerchen gemacht. Natürlich! Es ist alles in Ordnung! Steigt vorsichtig über die Pierleiter. Halt, reicht mir erst das Gepäck rüber!“ Wer zuerst bemerkte, daß Schwarzbackes vorhin noch tiefschwarzer Bart nun schlohweiß war, wußte später keiner zu sagen. Sicher aber war, daß Micha zusammenzuckte, als der Mann den Pudel entgegennahm und sich dabei aus Versehen die Mütze vom Kopf streifte. Das dichte, gekräuselte Haar des Schiffers, sonst von tiefer Blauschwärze, zeigte ein ekliges Küchenkerzen-Weiß ... Alle hätten es eigentlich sofort sehen müssen: Schwarzbacke verdiente seinen Namen nicht mehr! In der Zeit zwischen ihrer Ankunft auf der Insel und ihrer Rückkehr zum Schiff war das ganze „Gebüsch“ im Gesicht und auf dem Kopf des kuriosen „Admirals“ weiß geworden! Außerdem war der Mann bis zur Hilflosigkeit verwirrt ... „Es muß an der Hitze liegen!“ versuchte er zu erklären. „Ich wurde erst aufmerksam, als mich die Fischer neckten. Vielleicht wirken die ultravioletten Strahlen aus irgendeinem Grunde stärker. Ja, das muß mit Sonneneruptionen zusammenhängen . Ja ...“
Er warf den Motor an und ließ ihn im Leerlauf knattern. Das Wasser stand noch nicht hoch genug. Aber die Wellen des Atlantiks stießen den schweren Kahn ein paarmal gegen die Mauer. Da fiel Michas Campingbeutel um, und heraus rollte - die weiße Melone! Schwarzbacke starrte darauf, als bewege sich der Kopf einer Giftschlange auf ihn zu. „Was ist - was ist das . . .?“ stammelte er. Die rollende Melone verursachte ein seltsam hohles Geräusch, doch das mochte am Schiffsboden liegen. Henri sprang hinzu, fing sie auf und verstaute sie - diesmal in Tatis Beutel. „Keine Bombe!“ beruhigte er den verstört dreinblickenden Mann. „Eine Melone, nichts weiter. Was dachten Sie denn .. .?“ „Eine Melone ...?“ fragte Großadmiral Schwarzbacke heiser. „Du meinst eine Nachbildung aus Porzellan - oder so was? Ein Souvenir? Na ja, es gibt ja die verrücktesten Sachen. Im Becken von Marennes und Oléron haben wir Millionen echter Austern. Und was kaufen sich die Leute? Nachbildungen aus Plastik mit 'nem Hafenbildchen drauf!“ Er widmete sich wieder dem Motor. Seine Hände zitterten. Plötzlich wandte er den Kopf so schnell, als sei sein kurzer Hals ein Teleskop: „Wo habt ihr die Frucht gekauft? Im Laden? Auf dem Markt? Wo genau, will ich wissen! Wie heißen die Leute... ?“ „Die weiße Melone haben wir geschenkt gekriegt“, antwortete Henri geistesgegenwärtig und log forsch weiter: „Da bummelte ein Weltumsegler rum. Er behauptete, er käme von den Fidschi-Inseln. Da züchtet man jetzt solche Dinger. Sie scheinen sehr haltbar zu sein!“ Schwarzbacke kraulte wie wild seinen weiß gewordenen Bart. Er schien noch unsicherer zu werden. „Von welcher Insel, sagst du?“ „Es gibt dreihundert Inseln im Fidschi-Archipel“, wich Henri aus und grinste. „Einen Namen hat der Segler nicht genannt. Prosper, zeig unserem Admiral die anderen Melonen!“ Schwarzbacke, der nun eigentlich „Weißbacke“ hätte heißen müssen, betrachtete die sechs goldgelben Honigmelonen, an denen nun wirklich nichts auszusetzen war. Knurrend stapfte er dann zum Ruderhaus, schaltete eine Hilfsmaschine ein und holte den Anker hoch. Gérard warf indessen die Heckleinen los, „Gut, daß du die Marktleute nicht verraten hast!“ sagte Tati zu ihrem Bruder. „Es wird immer klarer, daß in den Melonen der Teufel steckt.“ „J-j-ja, und dieser T-teufel ist Schwarzbacke in den Bart und die Haare gefahren.“ raunte Prosper. Es wehte eine erfrischende Brise vom offenen Meer her. Das hätte die verschwitzten Passagiere fröhlich stimmen müssen. Aber der „weiße Spuk“ mit den „Melonenköpfen“ und dem „Schifferkopf“ bedrückte nicht nur die Jugendlichen. Auch der Zwergpudel Loulou witterte, daß etwas in der Luft lag. Er schmiegte sich eng an Tati. Schwarzbacke verschwand im Steuerhaus. Statt aber wie vereinbart die Festlandszunge von Brossac und das vorgeschobene Cap Felmy anzusteuern, wo der Wohn-Leuchtturm der Feriengruppe stand und wo die fünf mit Superhirn zusammentreffen wollten, lenkte der Schiffer den Kahn in die entgegengesetzte Richtung. Er umrundete die Südspitze der Insel Oléron und nahm Kurs auf die zweite Riesenbrücke dieser Gegend: die, die das Nordufer der Seudre von deren Mündung aus mit der Insel verband. „He, bitte! Was soll das?“ rief Tati. Den „Point de Oléron“, mit seinen 2993 Metern eine der längsten und staunenswertesten Seebrücken Europas, kannte sie zur Genüge. „Haben Sie vielleicht noch eine Fuhre vor?“ rief Gérard. „Kann man sagen“ rief der Alte. Er drehte bei, ließ das Schiff mit geringster Motorkraft vor sich hin dümpeln und sprach ein paar Worte in ein Handfunkgerät. „So“, sagte er dann in völlig verändertem, kaltem und knappem Ton, „und jetzt raus mit der angeblichen Fidschi-Melone! Wird's bald? Auf Ehre! Ich spaße nicht!“ Das Monstrum von Pistole, das er unter einer Sitzklappe hervorgeholt hatte, wäre nur in einem Zirkus komisch gewesen. Hier - und unter all den unheimlichen Gegebenheiten - hatte sie den
einschüchternden Effekt einer Festungsbatterie. Die jungen Passagiere wußten nicht, wie lange sie stocksteif auf dem Schiffsboden hockten. Schließlich begann Henri zu verhandeln: „Hören Sie, Admiral“, sagte er, wobei er so furchtlos wie möglich dreinzublicken versuchte, „Sie haben ganz zweifellos einen coup de soleil, einen Sonnenstich oder einen Hitzschlag. Ihre Haar- und Bartverfärbung ist ein Beweis dafür. Legen Sie sich besser lang auf den Boden - meine Schwester versteht was von Erster Hilfe. Inzwischen bringen wir Ihr Schiff zum Cap Felmy. Zuerst aber geben Sie diese Pistole her. Sie richten sie ja gegen sich selbst!“ Nun stimmte es schon nicht, daß die geheimnisvolle, plötzliche Haar- und Bartverfärbung auf einen Sonnenstich oder einen Hitzschlag hinwies. Von solchen „irren“ Symptomen hatte noch nie jemand gehört. Das war Henris erster Bluff. Der zweite Bluff war die Behauptung, der Schiffer habe die Pistole gegen sich selber gerichtet. Und dieser zweite Bluff wirkte - wenngleich auch sicherlich nur deshalb, weil Schwarzbacke sein erbleichtes Haar und seine Bartverwandlung buchstäblich „in die Knochen“ gefahren war. Der Schock, sich am hellichten Tag in eine Art Gespenst „verzaubert“ zu sehen, mußte den stärksten Mann umwerfen. Schwarzbacke sank in sich zusammen wie ein angestochener Ballon. „Schmeißt die Satansmelone wenigstens über Bord!“ rief er. „Bitte! Sie kann mich das Leben kosten! Ich bin abergläubisch! Es ist ein tödliches Vorzeichen, glaubt mir ...“ „Hol das Ding aus dem Beutel und wirf es ins Wasser, Tati“ gebot Henri. Als die unheimliche Melone, von Tati mit sportlichern Schwung durch die Luft geworfen, weitab vom Schiff auf die Wogen klatschte, schnellte Henri vor und entriß dem Mann die Pistole. „Ach! Eine Alarmpistole!“ stellte er fest. „Anscheinend das Taufgeschenk für Methusalem, alle Achtung! Immerhin wurde er fast tausend Jahre alt!“ Die anderen lachten, erst mühsam, dann immer befreiter. Endlich lachte Schwarzbacke auch. Wieder ging eine Veränderung mit ihm vor - leider aber nicht mit Bart und Haar. „Ein Scherz!“ behauptete er. Er tat, als müsse er sich den Bauch halten: „Hahahahaaa. Und ihr seid darauf reingefallen! Hohooo, hihiii!“ Nach einem ausgiebigen Schluck aus seiner Pulle brachte er das Boot wieder auf Touren - und auf den richtigen Kurs. „Hab euch einen schönen Schrecken eingejagt, was ... ?“ rief er grölend. „Mehrere Schrecken“ fuhr Gérard ihn wütend an. „Erst liegen Sie auf dem Trockenen und behaupten, wir kämen zu spät, obwohl die Flut kaum einsetzte. Dann hallen Sie uns ohne Warnung einen weißen Bart hin, der kurz vorher noch schwarz war, ändern den Kurs, bedrohen uns wegen einer Melone mit ihrer Signalkanone ...“ „... und das nennen Sie Spaß!“ schimpfte Micha. Admiral Schwarzbacke tat alles, um sein Verhalten herunterzuspielen: „Ich bin nun mal abergläubisch. Ich leide nichts an Bord, was ich nicht kenne. Wenn die nächste Ebbe einsetzt, schwimmt diese Fidschi-Melone nach Amerika. Haha! Und was meinen Bart betrifft ...“ Er suchte jetzt sichtlich nach Worten: „Nun ja - eitel bin ich auch. Hatte euch immer vorgeschwindelt, meine Haare und mein Bart wären naturschwarz - ohne die winzigste graue Strähne...“ „Stimmt“, warf Tati ein. „Damit brüsteten Sie sich überall!“ „Das war selbstredend geflunkert!“ lachte Schwarzbacke verzweifelt. „Ich habe in den letzten Jahren jeden Tag ein paar Stunden damit vergeudet, Haar und Bart zu färben. Gestern und heute fühlte ich mich nicht wohl. Versteht ihr? Die Hitze, die Hitze! Na, und da hab ich halt mal mit der leidigen Färberei ausgesetzt. Das ist alles!“ Die jungen Passagiere schwiegen. Gérard, Prosper, Micha und auch Henri hätte der Alte viel erzählen können. Die Story mit dem Färben würden sie ihm geglaubt haben. Jungen erkennen den Unterschied zwischen echten und künstlichen Haarfarben selten. Tati aber konnte der Schiffer nichts vormachen. Mädchen sehen auf den ersten Blick, was von Mutter Natur stammt - und was vom Friseur. Ihr Gesicht sprach denn auch Bände, was die anderen wiederum hellhöriger werden ließ.
Schwarzbacke quackelte und quackelte - und machte die ganze Sache nur noch peinlicher. Treuherzig bat er Henri: „Gib mir die Alarmpistole, Junge! Das war ein schlechter Witz. Ich sehe es ein. Ich werde sie ins Wasser werfen!“ „Das tu ich schon selber“ erwiderte Henri. Er ließ das alte Monstrum über die Bordkante fallen. „Bei der nächsten Ebbe können Sie hier Ostereier suchen, falls Sie's bereut haben!“ „Nein, nein“, grinste Schwarzbacke. Doch seine Mundwinkel zuckten. „Achten Sie auf den Kurs“ rief Gérard. „Sie fahren uns ja im Kreis herum!“ „Ach ja, wahrhaftig?“ Der Alte sprang zum Steuerhaus und griff ins Speichenrad. „I-i-ich hab das Gefühl, der will uns gar nicht nach Hause bringen“ wisperte Prosper. „Weshalb sollte er das nicht wollen?“ fragte Micha verzagt, Die fünf jungen Leute steckten die Köpfe zusammen. „Er meint, wir wissen etwas, das keiner erfahren darf?“ vermutete Gérard. „Oder glaubt er, er kann uns so lange an Bord behalten, bis er weiß, woher die Melone stammt?“ „Wahrscheinlich will er unsere Zusicherung, daß wir ihm den haarsträubenden Schwindel mit dem Haar- und Bartfärben glauben!“ meinte Tati und unterdrückte ein Lachen. 2. Was verschweigt Schwarzbacke? - Und warum lügt Superhirn? Ein häßlicher Signalton zerriß die friedlichen Wogen- und Schiffsgeräusche unter dem hohen Silberhimmel. Unwillkürlich blickten alle in die Luft. Doch da war nichts - außer ein paar Möwen. Bugwärts zogen die Austernkutter mit ihren typischen Rümpfen flußaufwärts. Sie bildeten eine stattliche Armada, und sie fuhren in Kiellinie, in Reihen, in V-Formationen - wie auf einen allgemeinen Befehl. ihre starken, untertourigen Motoren verursachten nur ein unaufdringliches Gebrumm. jäääiii, jäääiii, jäääiii - schrie die abscheuliche Sirene. Henri spähte über das Heck. „He!“ rief er dem Schiffer zu. „He, Schwarzbacke!“ Wie sollte er ihn - trotz der Veränderung anders nennen? Die jugendlichen kannten ihn ja nur unter diesem Namen! „He, Schwarzbacke! Da verfolgt uns einer ... !“ Sofort standen Tati, Micha, Gérard und Prosper auf den Füßen. „Wa-wa-was ist das für'n Boot ... ?“ staunte Prosper. „Sieht ja aus wie'n Düsenjäger ohne Tragstutzen!“ „Ja“ bestätigte Gérard ebenso verwundert. „Solche Renner sind hier nicht üblich! Das ist 'ne Arbeitsbucht mit Berufsschiffen!“ Der „Renner“ hatte ein geschütztes Cockpit, um beim Eintauchen der Nase kein Wasser ins Bootsinnere zu übernehmen. Ab und zu verschwand es in einer Gischtglocke. Trotzdem, dieses Schiff war kein Sportflitzer, sondern ebenfalls ein Arbeitsschiff. Das sah man an der Ladefläche. Sein Rumpf war aus Metall, überzogen mit eigentümlich grün-bräunlicher Sonnenbrillenfarbe: wahrscheinlich zur Abwehr der ultravioletten Strahlen im Himmelslicht. „Es verfolgt uns ja!“ rief Micha. „Ja, und zwar von Nordosten!“ stellte Gérard fest. „Sein Kielwasser weist genau auf die OléronBrücke hin“ Schwarzbacke blickte entsetzt aus dem Steuerhaus und stellte den Hebel seines plumpen „Mülleimers“ auf „Äußerste Fahrt“. Doch das nützte ihm nichts. Erstens fuhr er geradewegs im rechten Winkel auf die heimstrebende Austernflotte zu, zweitens war der Verfolger ihm zehnmal überlegen. Jäääiii, jäääiii, jäääiii - gellte die Schreckenssirene des „Renners“. „Womit tutet der denn?“ rief Tati und zog den verstörten Pudel an sich. „Mit Preßluft“, erklärte Henri.
Zwei Männer in blauen Arbeitshosen und hellroten, ärmellosen Westen standen winkend in dein modernen Boot. Sie sandten jedoch keine freundlichen Feriengrüße herüber - soviel war klar! Jetzt nahmen sie Fahrt aus dem Schiff und dümpelten längsseits. „Ich hab schon hübschere Visagen gesehen“, murmelte Gérard. „Vorsicht! Das sind keine Bonbonverkäufer!“ Die Burschen trugen Baretts, die den Baskenmützen ähnelten; aber nicht nur deshalb wirkten sie wie Brüder. Sie hatten die gleichen harten grauen Augen. „Tag, Schwarzbacke“ begann der eine in rüdem Ton. „Willst du deinem Freund Edgar nicht verraten, warum du per Funk Alarm gibst, um dann vor uns auszureißen?“ „Das würde auch dein Freund Lothar gern von dir wissen“ grinste der andere. Schwarzbacke stand halb in die Tür des Steuerhauses gedrückt. Er hielt sich ein enormes Taschentuch vors Gesicht, anscheinend, um seine Bartverfärbung zu verdecken. Doch die Burschen in dem Metallboot beschäftigte eine andere Sache offenbar so sehr, daß sie sich nicht weiter mit dem Studium Schwarzbackes abgaben. „Du hast Gefahr gefunkt“, bohrte Edgar, „Ich - ich wollte nur mitteilen, daß ich erkältet bin“, log Schwarzbacke hüstelnd. „ich kann euren Auftrag nicht ausführeni“ Lothar hielt einen Bootshaken hoch, an dem die aufgespießte, tropfende - weiße Melone prangte: „Hast du uns das zum Abendessen aufs Wasser geworfen?!“ schnarrte er kalt. „Nein, das war ich!“ mischte sich Tati energisch ein, „Die Melone - haben wir auf der Insel geschenkt gekriegt, aber dann gefiel sie uns nicht. Das heißt, Fidschi-Melonen kennen wir nicht, außerdem hatten wär ja schon sechs Honigmelonen ... „ *Was machen Sie denn für Geschäfte?“ fragte Henri frei heraus. „Und warum halten Sie uns auf? Steht Schwarzbacke in Ihrem Dienst?“ „Wir handeln mit Sportzubehör: Firma Brüder van Horn“ entgegnete Edgar unwirsch. Er warf dem anderen einen Blick zu, der „Vorsicht!“ signalisierte. Nun unterhielten sich die beiden mit Schwarzbacke im einer fremden Sprache: 'Die jugendlichen verstanden etwas wie: „gevaarlijike safari“ - „gefährliche Jagd“. .Dann zog Lothar den Bootshaken mit der aufgespießten Melone ein. Edgar brachte den Transportflitzer in Fahrt und steuerte in schäumendem Bogen nach Nordosten zurück. Schwarzbacke nahm das Taschentuch aus dem Gesicht, schluckte ein paarmal und versuchte nun die Begegnung zu erklären: „Ich - äh - ich liefere den Brüdern manchmal Kochgasflaschen, Schlafsäcke und Klappstühle zu, ach, alles mögliche!“ „Geklautes?“ fragte Micha mit scheinheiligem Gesicht. Der Schiffer blickte unstet. Eifrig versicherte er: „Wo denkst du hin? Nein, nein, haha! Ich bin Spediteur, Transporteur! Ich habe eine Lizenz: übrigens nicht nur für das Boot, sondern auch für Lastautos und Personenbusse.“ Er ließ seinen „Mülleimer“, seine „Perle“, weitertuckern. Behutsam steuerte er zwischen der Kolonne heimfahrender Austernkutter hindurch. Doch bevor er Kurs auf Cap Felmy und das Ferienquartier seiner Passagiere nehmen konnte, ertönte wieder ein Schiffshorn. Kurz und befehlshaberisch. Von Backbord voraus hielt ein blaues Motorboot mit schäumender Bugwelle auf Schwarzbackes Arche zu. „Teufel! „ ächzte der Schiffer. „Das ist der Hafenkapitän! Der Hafenkapitän von Brossac!“ Der Zwergpudel Loulou hopste zum Bug, stellte sich auf die Hinterbeine und versuchte, über den Rand zu spähen. Je weniger ihm das gelang, desto eifriger bellte er. ja, er schien geradezu außer sich zu geraten. Prosper schrie freudig: „In dem Bo-bo-boot ist auch Superhirn!“ „Hurrraaa!“ brüllte Micha. Tati winkte mit ihrem gelben Schal. Plötzlich hielt sie inne. Zu Henri sagte sie:
„Was hat Superhirn da eben ins Wasser geschmissen? Heimlich, ohne daß es der Hafenkapitän sah ... Etwas Weißes ...“ „Etwa auch 'ne Melone?“ fragte der Bruder scherzhaft. „Nein, ein Bündel, ein ungefüges Bündel, Aber weiß war es auch ...!“ „Kinder!“ flehte Schwarzbacke, dessen Bart ihn in rätselhafter Schnelligkeit und aus unerklärlichem Grunde zur „Weißbacke“ gemacht hatte. „Sagt dem Kapitän nichts von der Melone! Stoßt ihn auch nicht gleich mit der Nase auf meinen Bart! Ich wende mich weg! Ich tu so, als hätte ich Probleme mit der Steuerung!“ Er quetschte sich hastig ins Ruderhaus, während das schnittige blaue Dienstboot sacht mit den Kunststoffenden an die Bordwand des „Mülleimers“ krängte. „Hallo, hallo!“ lachte der junge Hafenkapitän. Er hieß Paul Jordan. Die Einheimischen schätzten ihn als tüchtig und fair, und die Jugendlichen hatten in ihm einen hilfsbereiten Freund. „Na, Schwarzbacke? Heute mal nicht mit Standuhren, Surfbrettern oder Ziegelsteinen unterwegs? Kleine Tour mit Fahrgästen gemacht?“ „Jaja!“ grölte der Schiffer zur Steuerbordseite hinaus. Er tat, als beanspruche der Bootsverkehr seine ganze Aufmerksamkeit. Superhirn hatte grüne Sonnenschutzfolien über seine Brillengläser gesteckt, so daß man seine Augen nicht sah. Dafür bemerkten die anderen sein listiges Grinsen um so deutlicher. „Ho, hopp! Nehmt mal mein Fahrrad über“ bat er. Gérard und Henri packten zu, während Micha den heftig zappelnden Pudel bändigte. „No-no-noch was?“ fragte Prosper aufgeregt. Er reckte seinen ohnehin schon langen Hals und spähte in das Dienstboot, als vermute er darin mindestens einen Zentner weißer Melonen. Tat! verhielt sich still. Sie sah, daß Superhirn seinen grünen Campingbeutel wieder in den Gepäckhalter des Fahrrads geklemmt hatte: ganz offenbar täuschend aufgebauscht, denn den Inhalt das weiße Päckchen - hatte er ja hinter dem Rücken des Hafenkapitäns ins Wasser geworfen. Der spindeldürre, flachshaarige junge schwang sich auf Schwarzbackes Schiff. Und schon drehte Kapitän Jordan ab. Ein kurzes Hupsignal, ein vergnügtes Winken - das Dienstboot schoß davon. Die Geschwister und ihre Freunde bestürmten Superhirn mit Fragen. „Willst du mit dem Rad auf Schwarzbackes Kahn die Tour de France gewinnen?“ feixte Gérard. Superhirn berichtete kurz: „Ich war am Austernkanal von Brossac-Baie. Da hab ich ein paar Fotos geschossen.“ Er tippte an das Etui, das er am Lederriemen um den Hals trug. „Schließlich fiel mir ein, daß ihr ja bald wieder in unserem Leuchtturm sein müßtet. Na ja - und weil's mit dem Rad von Baie bis zum Cap Felmy 'ne ziemliche Schlaucherei ist, nahm ich Pauls Angebot gern an, mich um die Landzunge zu schippern!“ Schwarzbacke brachte inzwischen seine „Perle“ wieder auf Touren. Er blieb im Ruderhaus und steuerte die vorragende Felsküste an. Tati blickte in die Richtung, in der das Dienstboot verschwunden war. „Superhirn“, fragte sie ernst, „was hast du da vorhin ins Wasser geworfen? Ich sah nichts mehr treiben, also muß es sofort untergegangen sein! Eine Melone war es jedenfalls nicht, soviel steht fest!“ Die fünf Jungen und das Mädchen saßen im Achterteil des Schiffes. Der Wind, der jetzt erfrischend vom offenen Atlantik blies, verwehte ihre Worte, so daß Schwarzbacke auf keinen Fall etwas hören konnte. Superhirn starrte die anderen der Reihe nach an. „Wie kommt Tati auf eine Melone?“ fragte er. „Alle hätten an eine Melone gedacht, wenn sie gesehen hätten, wie du das weiße Päckchen versenktest“, erklärte Henri. „Aber nur Tati und ich haben's bemerkt. Was also war's?“ „Ach“, Superhirn mußte lachen, „Zeitungen! Ausgelesene Zeitungen! In Brossac-Baie ist ein Kiosk, da hab ich mir ein paar Exemplare gekauft. Na, ihr wißt ja, wie schnell ich lesen kann. Da ich sie nicht mehr brauchte, warf ich sie ins Wasser!“
„Seit wa-wa-wann geht ein Papierklumpen unter?“ rief Prosper herausfordernd. „Und weshalb hast du bei dem Wort Melone so komisch geguckt?“ Henri runzelte die Stirn: „Superhirn, bitte, mach uns nichts vor! Du weißt bestimmt seit Tagen etwas! Du sonderst dich ab, schwirrst in der Gegend herum, als wärst du einem unsichtbaren Wald voller unsichtbarer Affen auf der Spur - und wir wissen nichts davon.“ „Dafür stolpern wir über einen verhexten Marktstand mit Geistermelonen und fassungslosen Verkäufern“, brummte Gérard, „und dann spielt Schwarzbacke beim Anblick einer gebleichten Melone verrückt...“ „... nachdem er uns mit weißen Kopf- und Barthaaren geschockt hat!“ ereiferte sich Micha. „Jetzt wagt er sich nicht aus dem Steuerhaus, weil er dir ja noch einmal die Lügengeschichte herbeten müßte: daß er eigentlich schon lange schneeweiß ist, es nur immer nicht zeigen wollte, aber heute zum Färben zu faul war...“ Superhirn erfuhr sodann vom seltsamen Auftreten der Brüder Lothar und Edgar van Horn. Wie Schwarzbacke sie offenbar im ersten Schreck über die weiße Melone per Funk alarmiert habe und wie sie ihm mit dem aufgespießten Ding am Bootshaken in ihrem „Renner“ nachgeprescht seien. Henri schilderte natürlich auch Schwarzbackes Hantieren mit der alten Mammutpistole und wie er selber den „Großadmiral“ geblufft hatte. Superhirn saß einen Moment wie ausgestopft. Alle beobachteten ihn mit äußerster Spannung. Was für einen Vers würde sich der scharfsinnige Junge auf dies alles machen? Noch immer trug er die dunklen Folien vor seinen Brillengläsern, so daß man seine Augen nicht sah. Plötzlich lockerte er sich, als wolle er etwas sagen... Doch da rief Schwarzbacke aus dem Ruderhaus, aber so, daß man ihn nicht sah: „Bevor wir Cap Felmy runden - kann einer von euch mal kurz das Lenkrad übernehmen? ich hab was aus der Kajüte zu holen!“ Gérard sprang auf. „Ablösung kommt!“ meldete er eifrig. Tati wandte sich indessen an Superhirn. „Übrigens hast du vorhin geschwindelt! Das weißliche Bündel, das du heimlich ins Wasser geworfen hast, war kein Zeitungspacken! Es ist versunken wie ein Stein!“ „Weil ein Stein darin eingewickelt war“, erwiderte Superhirn prompt. „Dafür hab ich eine harmlose und überzeugende Begründung. Aber die würde euch jetzt eher noch mehr verwirren!“ „Noch mehr?“ setzte Henri nach. Nun ertönte ein Schrei vom Ruderhaus her. Der Pudel bellte. Superhirn und die anderen blickten zum Aufbau, der sich im vorderen Drittel des Schiffes befand. von dort kam Gérard geschwankt ... „Schwarzbackes Haare“, stammelte er, „und Schwarzbackes Bart ...“ „Was ist damit ... ?“ rief Micha. „... sind wieder schwarz ... !“ vollendete Gérard. Er plumpste auf die Planken. 3. Mal weiß, mal schwarz - eine schreckliche Rückfahrt ... Hätte Gérard mitgeteilt: Das Boot sinkt - so hätte das die anderen nicht so entsetzt wie die neuerliche Verfärbung der Haare des Schiffers. Prosper klappte den Mund ein paarmal auf und zu, bevor er stotternd zu spaßen versuchte: „Se-seseht mal! Loulou hat p-p-plötzlich ein weißes Fell!“ Micha riß den schwarzen Zwergpudel an sich, und Tati rief: „Spinnst du jetzt auch schon? Ich danke für solche Witze!“ „Ruhe!“ gebot Henri. Er beugte sich vor und rüttelte Gérard an den Schultern: „Nun glotz gefälligst nicht so blöde! Was ist mit Schwarzbacke? Wie hat sich das bemerkbar gemacht? Das kann doch nicht schlagartig passiert sein!“ Superhirn blickte erst zum Steuerstand, dann spähte er aufmerksam heckwärts. „Weshalb guckst du ins Wasser?“ rief Henri, immer noch mit Gérard beschäftigt. „Schwimmt da ein weißes Seegespenst?“
„Ich prüfe nur den Verlauf des Kielwassers“, entgegnete Superhirn kühl. „Es ist so gerade wie ein Lineal. Schwarzbacke steht wieder am Ruder und steuert mustergültig. Mustergültig!“ „Das heißt . ..“, Gérard kam langsam zu sich, „das heißt, ich hab einen Stich, aber der Schiffer ist in Ordnung, wie?“ Superhirn stand auf, suchte an der Bordwand Halt und ging auf den Steuerstand zu. „Admiral Schwarzbacke“, rief er, „kommen Sie raus! Nur auf ein Wort!“ Der dicke Riese quetschte sich durch die Tür- Die blinden Goldborten an den Ärmeln schimmerten unter der immer noch blendenden Sonne. Sein Bart war pechschwarz! Unter den Mützenrändern quoll die dichte Wolle seines Haupthaares hervor. Micha hauchte: „Da setz mich einer mit dem blanken Po auf den Grill! Auch die Haare sind wieder schwarz!“ „Nun wird mir das zu bunt!“ zischte Tati. Sie sah sich wild im Kreise um. „Wir rufen ein anderes Boot und steigen über. Ich hab genug von dem Zirkus!“ Henri hangelte sich an der Bordwand nach vorn. Gérard hatte sich aufgerappelt und folgte ihm. Zögernd schloß sich Prosper den beiden an. Die drei hörten Superhirn soeben sagen: „Machen Sie immer solche Scherzchen mit Ihren Fahrgästen?“ „Scherzchen?“ erwiderte Schwarzbacke. „Nicht, daß ich wüßte! Deinen Freunden tut die Sonne auf dem Wasser nicht gut. Drum fallen sie von einer Täuschung in die andere!“ „Täuschung?“ rief Superhirn. „Mann! Sie sind ja völlig verklebt von schwarzem Lackspray? Gut, daß Sie die Brauen vergessen haben, das hätte ja ins Auge gehen können! Wenn das Zeug nun giftig ist ... ?“ Schwarzbacke war völlig überrumpelt. „Ach, ach, ach!“ murmelte er. „Wo hab ich bloß meine Gedanken?“ „Vermutlich in einer weißen Melone, während die Kerne in ihren Kopf geschlüpft sind!“ antwortete Superhirn. „Wie wollen Sie je Ihre Mütze wieder herunterkriegen?“ Schwarzbacke sagte nichts mehr und verschwand wortlos im Steuerhaus ... „Also mit Bootsspray hat er sich sein Fell gefärbt?“ fragte Henri. „Wieso machst du ihm Vorwürfe, Superhirn? Weshalb schimpfst du mit ihm herum wie mit einem Kind, statt ihn zu fragen, was das ganze Theater überhaupt soll?“ „Er hat mir das Lenkrad übergeben und ist durch die Bodenklappe in seine Kajüte gekrochen!“ berichtete nun Gérard. „Ich hab auf den Kurs geachtet und nicht gleich gesehen, was los war, als er wieder neben mir stand. Er lobte meine Steuerkünste, Ich guckte ihn an und kriegte eben noch mit, wie er sich die Mütze aufsetzte: Rabenschwarz, der Kopf! Genau wie der Bart!“ „Und gerochen hast du nichts?“ fragte Tati. „So 'n Zeug stinkt doch zum Himmel! Ich rieche es bis hierher!“ „Jetzt, Tati, jetzt!“ Superhirn erwachte aus tiefem Brüten. „Auf alten Arbeitsbooten stinkt's sowieso aus jeder Ritze. Wir tuckern in einer regelrechten Dunstglocke von Motorengestank. Darauf hat sich der arme Kerl verlassen!“ „Wieso der arme Kerl'!“ ärgerte sich Micha. „Der hat heute genug Trubel mit uns gemacht!“ Superhirn sah auf. „Was dieser Schwachkopf gemacht hat, war nichts als rasende Verzweiflung! Er weiß weder ein noch aus. In gewissem Sinne weiß er sogar weniger als wir. Und wenn er etwas weiß, so nur das eine: Er ist in Todesgefahr! „Dann hast du einen schweren Fehler begangen“, rief Tati. „Du hast ihn noch mehr in die Enge getrieben! Jetzt überlegt er sich wahrscheinlich, ob er's riskieren kann, uns heil nach Hause zu bringen!“ Die Freunde schwiegen. Es war, als sei das Schiff auf das Stichwort Superhirns jäh aus dem Reich des Lichts in das der Düsternis untergetaucht. Ein kalter Hauch fuhr in das Boot und streifte die Insassen. über sich, auf dem drohenden Felsausläufer des Caps, sahen sie das uralte Schloß Rodincourt und nicht weit davon den Leuchtturm, ihr Ferienheim.
Aber noch waren sie nicht dort. Das zur Rechten friedliche, grenzenlose Meer brach sich mit stürmischer Wucht an drei korkenzieherförmigen Klippen vor dem Cap. Diese Klippen hießen im Volksmund - und auch auf Ansichtskarten - die „Wrackmacher“, weil im Laufe der Jahrhunderte unzählige Schiffe an ihnen zerschellt waren. Die neuzeitliche Handelsroute mit ihren Monstertankern, Schüttgutgiganten und Containerfrachtern lag weit, weit draußen. Eine Kette von Richtfeuern, elektronisch von Land aus gesteuert, ersetzte den unzulänglich gewordenen alten Leuchtturm von Cap Felmy. Das Wissenschaftliche Institut bei Brossac, dem Gelände und Turm nun gehörten, hatte das romantische Gemäuer innen mit Hotelkomfort versehen. Das Türmchen diente Studenten und Gastpraktikanten des Instituts als Quartier, doch da auch sie jetzt Ferien hatten, durften Superhirn und seine Freunde darin wohnen. Die Todesklippen, diese korkenzieherähnlichen „Wrackmacher“, rückten näher und näher. Es war nicht, als kränge das tuckernde Schiff auf rhythmischen Wogen zum leblosen Gestade, sondern es schien, als wirkten die Felsen wie Magneten auf Schwarzbackes alten „Eimer“ „Er nimmt die Kurve zu kurz!“ schrie Prosper, sich an die Bordwand klammernd. „Ta-tati hat's geahnt, er w-w-will uns zerschmettern ... !“ Der „Bug“ des grausig-hohen Überhanges verdeckte den Leuchtturm. Es sah aus, als habe sich der Turm vor Schreck verkrochen, um das Unglück nicht mit ansehen zu müssen. „Schwarzbacke!“ brüllte Henri. „Machen Sie keinen Quatsch! Wir halten dicht, wir verpetzen Sie nicht mit Ihrem Spray!“ Das Tosen der Brecher erstickte alle Schreie. Tatis Frage „Ist Schwarzbacke überhaupt noch an Bord?“ mußte man ihr beinahe von den Lippen ablesen. Micha kroch nach vorn und lugte in den Steuerstand. Sein Gesicht sprach Bände. Mit der einen Hand hielt er sich fest, mit der anderen fuchtelte er wie besessen. Er rief etwas. „Nicht da!“ erriet Gérard, der als Fußballer ein Fachmann für Gebärdensprache war. „Schwarzbacke ist weg ... !“ Micha kam zurückgestolpert. mit schriller Stimme bestätigte er: „Das Ruderhaus ist leer! Schwarzbacke muß ins Wasser gesprungen sein...“ „Nun mal Ruhe!“ versuchteSuperhirn sich durchzusetzen. „Wenigstens hat er das Lenkrad blockiert! Wir sind nicht in den Sog gekommen, die Klippen liegen schon hinter uns. Das Boot steuert genau Brossac-Außenmole an!“ Wumm! Der Pudel schoß Kobolz. Die Passagiere, soweit sie sich nicht schon stehend an die Bootswände klammerten, fuhren hoch. Wumm - wumm - wumm! Alle spürten die Schläge in ihren Körpern. Sie kamen von unten. Superhirn sah sich um. Seine Bewegungen waren gelassen; ihm war der Gedanke meilen fern, es könne etwa Neptun mit seinem Dreizack an den Schiffsboden gepocht haben. Bedächtig legte er sich auf die Planken und öffnete eine Klappe. Sofort wurde das Motorengeräusch lauter. In der Öffnung erschien Schwarzbackes Kopf mit Mütze und dem „verfremdeten Bewuchs“. „Danke“, keuchte er. „Bin leider etwas dicker als ein Regenwurm, haha. Hatte ein Problemchen mit der Maschine. Laßt die Klappe offen, ja?“ Sein Kopf verschwand. offenbar kroch er wieder nach vorn. Tati faßte sich an die Stirn. „Kann sich dieses Walroß nicht ´ne friedlichere Stelle für seine Problemchen aussuchen . . .?“ Gérard schwankte zum Steuerhaus. Nach einem Weilchen hob er die Hand und nickte. „Alles okay!“ Henri atmete auf. „Ein k-k-kolossales dickes Huhn ... !“ japste Prosper. Aber wenn er Schwarzbacke damit gemeint hatte, so stellte sich nun doch heraus, daß jemand, der die Küste von klein auf kannte, sich hier immer zurecht fand, ob vor dem Windschutzfenster am Steuerrad oder auf allen vieren unter Deck ...
So erreichte das alte „Piratenschiff“ die haushohen Molen der Einfahrt zum Seudre-Seitenkanal unbeschadet und landete butterweich vor den Bootshallen des Forschungsinstituts von Brossac. Über ihnen, auf dem Cap Felmy, grüßte der Leuchtturm mit kleinen, freundlichen Augenfenstern. Das Geländer des oberen Rundganges schien sich zu aufmunterndern Lächeln zu verziehen. „Endlich ... !“ seufzte Tati. Mit ihren Beuteln sprang sie als erste an Land. Sie war so erleichtert, daß sie zu tanzen begann. Ihr folgte der vor Wonne winselnde Pudel. Micha und Prosper warfen sich ins Gras, und zwar bäuchlings. „Wollt ihr den Boden küssen?“ spottete Gérard. Doch auch er war übermütig. Er rannte herum und kickte einen unsichtbaren Fußball. Henri übernahm Superhirns Rad und schob es dem Ziegenpfad entgegen, der in Windungen zum alten Turm emporführte. Superhirn selbst sprach noch mit Schwarzbacke. „Ich nehm kein Geld, das hab ich versprochen“ beteuerte der Dicke. „Ihr könnt auch immer mit mir fahren. Ihr seid doch Schwarzbackes Freunde, nicht?“ Das klang fast flehentlich. „Ich guck halt gern mal in die Flasche“, fuhr er grinsend fort, „und dann bin ich nicht ganz ernstzunehmen...“ „Sie sind sogar sehr ernstzunehmen!“ sagte Superhirn. „Auf Wiedersehen, Herr Admiral!“ „Ach Kinder!“ rief Tati erleichtert. „Wir sind wieder hier! Erst einmal unter die Dusche, frisches Zeug an - und dann eine Tasse Kakao.“ Schwatzend liefen die Geschwister mit Gérard und Prosper auf den Turm zu. Außer „Duschen“ und „Kakao“ hatten sie nichts anderes mehr im Kopf. ja es war, als wollten sie in ihrer Freude ihren Kakao gleich unter der Dusche nehmen. Der Pudel hopste allen voran. Schweigend, den Kopf gesenkt, stapfte Superhirn hinterdrein ... 4. Ein totes Telefon - und ein ärgerlicher Besuch Das Türmchen am Cap Felmy - hoch über dem Atlantik und hoch über der Ebene von Brossac - war innen mit großem Geschick modernisiert worden. Die übereinanderliegenden Wohnungen - Zimmer, Bad, Dusche, WC - hatten die Form von Apfelsinenscheiben oder Halbmonden. Mit der Küche im Erdgeschoß war der Hobbykoch Prosper besonders zufrieden: Sie bildete eine höchst sinnvoll eingerichtete Nische neben dem bäuerlich gehaltenen Eßraum. Prosper und Gérard waren in das direkt darüberliegende Stockwerk gezogen. Das oberste Quartier mit dem offenen Rundgang - hatte man Tati, Micha und Loulou eingeräumt. Superhirn und Henri begnügten sich mit der Wohnung in halber Höhe. Stand man auf der Plattform, hatte man nicht nur die herrlichste Aussicht auf das Meer, die Bucht und die von bunten Gestalten wimmelnden Strände, Ganz nahe sah man das Gelände des wissenschaftlichen Instituts, der wichtigsten Außenstelle des Staatlichen Forschungsamts. Der Komplex mit den modernen Flachbauten, den Hangars und den Start- und Landepisten vermittelte eher den Eindruck einer eigenen Stadt als einer Anstalt, die sich bescheiden „wissenschaftliches Institut“ nannte. Hinter der anspruchslosen Bezeichnung - das wußte Superhirn - verbarg sich ein breit gefächertes, zukunftsweisendes Forschungsprogramm: Meereskunde, Landwirtschaftsberatung, Erd- und Seebebenforschung, Umweltkontrolle, Seuchenbekämpfung, Bakteriologie, Virologie, aber auch Strahlenforschung ... Vor dem Turm stand ein komisches motorisiertes Dreirad mit Ladefläche. „Madame Dingdong ist da!“ rief Micha begeistert. „Sicher hat sie uns was mitgebracht!“ Madame Yvonne Dydon, von den jugendlichen „Dingdong“ genannt, war nicht nur Putzfrau, sondern auch eine Art Herbergsmutter, die hier ab und zu nach dem Rechten sah. Sie erfreute sich mindestens der gleichen Beliebtheit wie der volkstümliche „Admiral Schwarzbacke“. Allerdings wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, eine Piratenflagge an ihrem Dreirad zu führen. Noch weniger hätte sie sich ihr Haar etwa - mit schwarzem Lackspray gefärbt ... Das war das erste, was Tati ihr berichtete, während Loulou freudig um sie herumsprang. Die jungen sausten sofort unter die Duschen.
„Lackspray spritzt sich der alte Seebär in den Bart?“ rief Frau Dingdong kopfschüttelnd. „Noch dazu schwarzen? Ist der nicht mehr ganz dicht?“ Sie schimpfte noch vor sich hin, als sie die Einkäufe von der Insel Oléron in den Kühlschrank tat. Während Tati sich duschte und umzog, bereitete sie Kakao, deckte den Tisch im Eßraum und stellte den mitgebrachten Blätterteigkuchen dazu. Loulou bekam die Krümel und Bröckchen aus dem Alupapier, sowie seine Milch und eine Portion angewärmten Reis. Prosper erschein als erster wieder: „Es ist ja noch nicht mal siebzehn Uhr.“ wunderte er sich. „Mir kommt's so vor, als hätte die Schreckensfahrt Tage gedauert. Was sagen Sie denn zu Schwarzbackes Fimmel? Es soll wohl k-kkeiner wissen, daß er schon grau und weiß ist! Und da er heute zu faul war, sich morgens Haar und Bart zu färben, tat er's unterwegs mit klebrigem Auto- oder Bootslacke.“ „Das hörte ich schon“ erwiderte Frau Dingdong. Sie war mit dem Kakao am Herd beschäftigt. Plötzlich fuhr sie herum: „Waaas . . .? Schwarzbacke soll grau und weiß sein? Kein Mann an der ganzen Küste hat so dichte, echte schwarze Haare! Und wenn sein Bart nicht naturschwarz ist, will ich bei euch nicht mehr Dingdong heißen! Nein! Der war nur betrunken, und deshalb hat er sich mit Spray bekleckert!“ „A-a-aber...“ stammelte Prosper verwirrt. Er brach ab, denn mit Getöse kamen Gérard, Micha und Henri herein. Tati folgte. Sie trug einen schicken, hellblauen Hosenanzug. „Aaah, die Primaballerina“ spöttelte Gérard. „Aaah, die Mandelpastete!“ rief Micha. ihn interessierte nur der Kuchen. „Wo ist Superhirn?“ fragte Tati. „Er sucht etwas“ gab Henri Auskunft. „Er sucht wie verrückt. So nervös hab ich ihn selten erlebt. Überall kramt er, sogar in seinen Gummistiefeln. Aber wonach, das verrät er nicht!“ „Na, dann fangen wir schon an“, meinte Gérard. „Wir können ja nicht mit Kakao und Kuchen bis zum Abendessen auf ihn warten!“ Aber da stand Superhirn in der Tür. „Madame Dydong“, sagte er scharf, und es fiel sofort auf, daß er nicht „Dingdong“ sagte, „ist heute ein Fremder in diesem Turm gewesen? Jemand, der vielleicht vorgab, die Wasserspülung zu kontrollieren - oder so was Ähnliches?“ „Neiiin...“, erwiderte die Frau gedehnt. „Aber ich bin erst kurz vor euch gekommen. ich wollte heute nur den Kuchen bringen und Wäsche mitnehmen.“ „Und Sie selber waren nicht in den Obergeschossen?“ vergewisserte sich Superhirn. „Es kann doch sein, Sie wollten mit dem Einsammeln der Wäsche beginnen! Dabei fanden Sie nicht eine verdorbene Frucht und warfen sie in den Müllschlucker? Vielleicht eine - eine weiße Birne?!“ Tatis Kuchengabel fiel mit einem häßlichen Geräusch auf den Rand des Tellers. Die jungen hörten auf zu kauen. Prosper reckte den Hals: „Bi-bi-birne? Und eine - eine weiße ...?“ Superhirn trat zum Tisch. Auch er hatte geduscht und frische Sachen angezogen. Er trug die Sonnenfolien nicht mehr. Man sah seine Augen hinter den Brillengläsern. Er guckte wie eine geblendete Eule. „Ja, eine weiße Birne!“ sagte er nun mit Nachdruck. „Wahrscheinlich so unnatürlich pappig-weiß wie eure Melone. Etwa wie eine Schaufensterreklame. ich gebe also zu: Ich stecke bereits tiefer in einem Geheimnis, als ihr wissen könnt, nur daß ich, bei Licht betrachtet, auch noch keine Zusammenhänge sehe.“ Er setzte sich auf seinen Stuhl. „Eine Birne suchst du?“ fragte Frau Dingdong lachend. Sie schenkte Superhirn Kakao ein. Zum Glück hatte sie nichts begriffen, wie sollte sie auch? „Na ja, du bist ja schon 'n halber Gelehrter; wenn du nichts zu studieren hast, ist dir nicht wohl. Aber weshalb untersuchst du ausgerechnet Birnen?“ „Schädlingsbefall“, murmelte Superhirn in seine Tasse hinein. Er hätte ebensogut sagen können: „Mondfinsternis“. Es war ihm anzusehen, daß er andere Sorgen hatte als ein Gärtner. Aber er nahm sich zusammen: „Sie wissen, ich bin etwas schusselig, Madame Dingdong. Ich hab den Apfel selbst weggeworfen!“
„Apfel ... ?“ fragte Micha. „Schon gut, schon gut“, sagte Tati mit warnendem Unterton. „Superhirn hat dauernd etwas anderes vor. Morgen sammelt er Schmetterlinge.“ Madame Dingdong lachte wieder. „In den Ferien darf man das tun, was einem gerade Spaß macht“, verteidigte sie Superhirn. „So, ich gehe jetzt raus und gieße die Blumen!“ „Was ist ... „ - „Woher stammte die Birne?“ - „Weiß, sagst du“ - „Kannst du beschwören, daß du sie hergebracht hast?“ - „Wer soll denn hier eingedrungen sein, um sie zu klauen?“ wurde Superhirn von den Gefährten bestürmt. „Es war eine weiße Birne! Ich hatte sie in einem Schuh versteckt“, erklärte Superhirn leise. „Es ist jemand hiergewesen, um nach Material zu suchen, das ihn belasten könnte. ich schätze, heute werden wir keinen Besuch mehr bekommen. Sie werden erst einmal Schwarzbacke ausquetschen, bevor sie sich auf unsere Quartiere stürzen wie die Mörderbienen!“ „Wer ... ?“ hauchte Tati. „Die Melonen-Heinis? Die ,Weißmacher'?“ „Erfaßt!“ sagte Superhirn. Er blickte zum Wandtelefon. „Ich alarmiere jetzt den Werkschutz vom Institut! Professor Romilly soll entscheiden, ob die Polizei verständigt werden muß. Die Sache ist zwar längst noch nicht reif zum Zuschlagen...“ „W-w-wolltest du noch 'n paar andere Bärte und Früchte weiß werden sehen?“ unterbrach Prosper aufgeregt. „Genau!“ erwiderte Superhirn düster. „Auch Bäume zum Beispiel, Hecken, Sträucher, Blumen - oder Vögel und Insekten ...“ Henri beugte sich vor: „Dann haben wir uns also nicht geirrt, als wir Schwarzbackes Bart morgens noch tiefschwarz und mittags schlohweiß sahen? Seine Erklärungen waren demnach nichts als dämliche Ausreden?“ „K-k-klar!“ erinnerte sich Prosper. „Madame Dingdong sagte doch, kein Mann an der Küste hat so dunkle Naturhaare wie Schwarzbacke, und er hat's gar nicht nötig, sie zu färben! Sie meint, den Lackspray nahm er im Suff!“ „Wenn man Todesangst Suff nennt, hat sie recht“, sagte Superhirn nachdenklich. Gérard stützte den Fußballkopf in die Hände. „Augenblick mal ... Es geht ja nicht nur um Schwarzbackes Haar- und Bartverwandlung, da sind auch noch die schaurigen Melonen und jetzt die verschwundene weiße Birne. Und du kennst“, wandte er sich an Superhirn, „also noch mehr von diesen Weiß-Rätseln- ganz verschiedene Dinge an ganz verschiedenen Orten, stimmt's?“ Superhirn nickte. „Und du sprichst von Polizei?“ rief Micha entgeistert. „Du willst den Werkschutz alarmieren? Also steckt ein Verbrecher hinter der Sache? Vielleicht sogar eine ganze Bande...“ Tati stand auf. „Dann müssen wir sofort weg von hier! Wir sind zu Mitwissern geworden!“ „Halt, halt, halt!“ schaltete sich Henri ein. „Der Turm steht immerhin auf dem Gelände des Wissenschaftlichen Instituts, Die Zufahrt ist durch eine Schranke versperrt, und ein Posten läßt nur Mitglieder und Gäste durch. Wenn die Direktion erfährt, daß hier ein Einbrecher war und uns Gefahr droht, wird man uns in der Nacht verstärkt bewachen. ich bin für Superhirns Vorschlag, gleich jetzt die Institutsleitung anzurufen. Dann kann uns überhaupt nichts passieren!“ Superhirn ging daraufhin zum Telefon und nahm den Hörer ab. Stille herrschte im Raum. Der junge drückte ein paarmal auf die Tasten, legte den Kopf schräg, aber so, als lausche er ins Nichts. „Wa-was ist?“ fragte Prosper nervös. „Tot!“ entgegnete Superhirn dumpf. „Sendepause! Kein Freizeichen, kein Rufzeichen. Auch nicht das Geräusch für belegt'. Die Leitung ist wie abgeschnitten!“ „Eine Störung, vielleicht wegen Relais-Arbeiten“, murmelte Gérard wenig überzeugt. Wuff ..., machte der Pudel, wuff - waff-waff - wuff ... Hustend vor Aufregung hopste er in den Vorraum, zum Ausgang des Turms. Ehe sich die Gefährten verständigen konnten, hörten sie draußen Autogeräusche und Stimmengewirr. Madame Dingdong schien zu protestieren, aber ein Mann schnitt ihr das Wort ab:
„Nichts da! Zur Seite! Die Bude wird ausgeräuchert! Los, Leute! Eine Gruppe umstellt den Turm, alle anderen besetzen die Stockwerke. Daß mir keiner entwischt! Achtet besonders auf diesen Superbengel, das ist der Rädelsführer!“ Tati und die Jungen standen wie gelähmt. Viel zu spät begriffen sie, daß sie gemeint waren. „Die Gangster!“ schrie Micha. „Sie kommen!“ Vergeblich sah er sich nach einem Ausweg um. Und schon scharrten Stiefel im Vorraum. Männer stürmten mit wuchtigen Tritten die Treppe empor, als hätten sie ein Feuer zu löschen. „Das Telefon! Superhirn“, rief Tati, „versuch's noch mal!“ „Hiiilfeee ...“ gellte Prospers Stimme. Und Gérard versuchte zu bluffen: „Die Polizei ist schon unterwegs! Sie wird gleich hier sein!“ brüllte er so laut, daß man es im ganzen Leuchtturm hören mußte. im Chor schrien sie nun alle durch die geöffneten, leider aber vergitterten Fenster: „Polizeiii ...! Madame Dingdong ...! Holen Sie die Polizei ...! Den Institutsleiter ...! Rufen Sie Professor Romilly ...! Professor Romilly ...!“ „Leider nicht möglich“„ ertönte eine eiskalte Stimme von der Tür her. „Zu meinem Bedauern müßt ihr mit mir vorliebnehmen!“ 5. Superhirn ein Giftmischer? - Die Verwirrung wächst Der Mann mit der eiskalten Stimme trug einen seidenen Tropenanzug ohne Kopfbedeckung. Sein rötliches Haar erinnerte an eine Löwenmähne, seine Figur an die eines Leistungssportlers. Er schien sich für das Leitbild aller Boßtypen zu halten. Seine Sätze waren Kommandos. „Wo ist der Superschlaue?“ fragte er. „Wenn Sie mich meinen ...“begann Superhirn. „Wen sonst?“ sagte der Boßtyp barsch. „Du bist also der Bursche, der Gartenpflanzen, Bäume und Früchte vergiftet? „o hast du die Kanister versteckt?“ „Sie - Sie ... „, Tati schnappte nach Luft. „Superhirn soll ein Giftmischer sein...?“ „Der Giftmischer!“ betonte der Mann. „Das junge Gespenst, das heimlich durch die Gegend schleicht und Vernichtung sät!“ „Das g-g-glauben Sie doch selber nicht!“ stammelte Prosper. „Rühren Sie ihn nicht an!“ warnte Gérard. „Madarne Dingdong holt den Chef!“ trumpfte Micha auf. „Sie schlägt Alarm im Institut! Professor Romilly wird kommen!“ Der Mann wandte sich dem jüngsten zu: „Eure Madame müßte eine Zauberin sein, um Romilly herzuholen!“ Er griff in die Tasche und holte einen schneeweißen, unregelmäßig-rundlichen Gegenstand hervor. Es war eine Birne, die er Superhirn unter die Nase hielt: „Ist das deine? Hast du sie als Trophäe aus Monsieur Lignys Grundstück geklaut? Du hast sie hier versteckt, nicht wahr? Du stecktest sie in einen Schuh!“ „Ach wo - das war ein Apfel!“ ließ sich Madames Stimme vom Eingang her hören. „Erst hat er Birne gesagt, dann murmelte er was von einem Apfel. Superhirn ist ja selbst schon ein halber Gelehrter. Er macht immer irgendwelche Versuche!“ „Also - auch Äpfel!“ rief der Mann im Tropenanzug. „Wo? In welchem Ort? Auf wessen Grund und Boden...?“ Er packte Superhirn am Arm. „Wo hast du noch Gift gespritzt? Antworte! Was hast du alles weiß gefärbt . . .???“ Die Gefährten sahen, daß Superhirn erbleichte, als wolle er die ungesunde Farblosigkeit der Birne annehmen. Was ging hier vor? In welchen Fall war Superhirn verwickelt ...? Hinter dem herrischen Mann mit der Löwenmähne sahen sie Dr. Mutzig und die schwedische Gastprofessorin Hammerstroem. Beide waren den Freunden längst bekannt. Der Hüne ließ sie nicht zu Wort kommen:
„Es treibt hier ein Weißmacher sein Unwesen!“ fuhr er fort. „Aber er ist erkannt worden! Die Beweise liegen vor, und so wurde heute der Turm durchsucht. Außer der verfärbten Birne werden wir bestimmt noch anderes finden.“ „Dürfen wir erst einmal wissen, wer Sie eigentlich sind?“ fragte nun Henri. „Ich sehe, Sie tragen das Institutswappen am Hemd. Aber ich kenne Sie nicht!“ Trotzig fügte Tati hinzu: „Superhirn ist Ehrengast des Wissenschaftlichen Instituts!“ „Gewesen“, sagte der Mann. „In einer halben Stunde wird er Ehrengast im Arrestzimmer der Gendarmerie sein! Professor Romilly ist kaum zwei Tage fort, da tanzen hier schon die Puppen. Na, ich werd's euch zeigen!“ Henri ließ sich nicht verblüffen: „Wir wußten nicht, daß Professor Romilly weg ist. Er hat sich nicht verabschiedet. Und Sie haben uns immer noch nicht gesagt, wer Sie sind!“ „Professor Romilly ist auf einer Tagung in Kanada, er hatte keine Zeit, euch um eine Audienz zu bitten!“ höhnte der Mann mit der Löwenmähne. „Ich bin vom Staatlichen Forschungsamt in Paris als Vizechef hier eingesetzt worden. mein Name ist Franc Flohr, und das Brossacer Institut untersteht jetzt mir, der Turm und seine Insassen eingeschlossen!“ Ein Mann in blauer Sommerkombination drängte herein Sein Helm kennzeichnete ihn als Werkschutzangehörigen: „Nichts, Chef!“ meldete er. „Auch auf der Plattform nichts Verdächtiges. Der Bengel könnte Beweisstücke ins Meer geworfen haben. Und draußen - rund um den Turm herum - ebenfalls Fehlanzeige!“ „Na, dann bleiben wir bei dem, was wir schon haben, das dürfte genügen“, meinte Flohr. „Wo ist der Rentner aus Baie? Herein mit ihm! Herein auch mit dem Besitzer des Fotoladens!“ Den Inhaber des Fotogeschäfts von Brossac, Monsieur Bouline, kannten die Jugendlichen alle. Superhirn schien auch den Rentner Ligny aus Baie schon einmal gesehen zu haben, denn er murmelte: „Aha!“ „So“, rief Professor Flohr, „nun mal her mit den Fotos.“ Er nahm die beiden Vergrößerungen im Format 14 x 18 aus Boulines Mappe entgegen und hielt sie den Jugendlichen vor: „Dämmert euch jetzt etwas ...?“ Es waren Farbfotos. Dennoch sah man einen weißblättrigen Birnbaum mit weißen Früchten vor einer rot angestrichenen Veranda! Die Rotfarbe der Veranda bewies eindeutig, daß der Birnbaum davor nicht etwa durch einen Fehler im Fotomaterial weiß erschien. „Diese Aufnahme hat mir dieser Bengel mit der Brille vor vier Tagen zum Entwickeln gebracht“, berichtete der Fotomann. „Ich hatte sie bereits im Normalformat fertig, als Monsieur Ligny kam. Es war reiner Zufall, daß er sie sah, und er erkannte seinen Garten mit dem vergifteten Birnbaum natürlich gleich. Da bat er mich, das Foto zurückzuhalten: Er hätte den Übeltäter geknipst, als er gerade dabei gewesen sei, seine Hecke zu vernichten!“ „ja, und das ist das andere Bild!“ sagte Professor Flohr. „Hier erkennt ihr deutlich euren Superstrolch samt Giftkanister neben der weiß gewordenen Hecke.“ „Das Foto“, ließ sich der Gartenbesitzer, ein kleines, gichtgekrümmtes, altes Männchen, vernehmen, „hab ich einen Tag nach dem Diebstahl der Birne gemacht. Der Bursche da ...“ er deutete auf Superhirn, „schlich um den vergifteten Baum herum, rupfte eine Birne ab und zwängte sich durch die ebenfalls vergiftete Hecke. Ich dachte mir: Der kommt noch mal wieder! Und ich lauerte ihm mit dem Fotoapparat auf. was soll ich sagen? Er kam! Er kam mit einem gelben Kanister und schüttete draußen, vom Weg aus, Gift in meine Blumen!“ Triumphierend fügte er hinzu: „Daß ich mich nicht verguckt habe, sieht man auf dem Bild. Ein hübsches Bild - nicht wahr?“ „Nuuun ... ?“ fragte Professor Flohr mit erhobener Stimme. Superhirn verharrte stocksteif. Doch Tati und die anderen steckten die Köpfe über dem Foto zusammen. „Wa-wa-wahrhaftig ... „, stammelte Prosper. „Su-su-superhirn an einer weißen Hecke ... Und da, wo der Zaun beginnt, schüttet er was aus ... Ja: Das ist Superhirn!“
„Hm“, brummte Gérard, als wüßte er noch nicht: Latte oder Tor? „Tja, aber warum schweigst du, Superhirn?“ rief Micha. „Sag doch, daß das ein Irrtum ist.“ Henri biß sich auf die Lippen. Er sah so angestrengt aus, als müsse er das Rätsel des Jahrhunderts lösen. Dafür empörte sich Tati: „Die wollen doch nicht etwa dabei bleiben, daß Superhirn ein Verbrecher ist?! Daß er wie Dracula heimlich herumschleicht und alles weiß macht?! Früchte, Blätter, Blumen - und vielleicht auch noch Menschenhaare...?“ „Spotten Sie nur, mein Fräulein“, sagte Professor Flohr in eisigem Ton. „Die Fotos sprechen für sich. oder will einer von euch behaupten, der Täter auf dem einen Bild sei nicht Superhirn?“ „Nein“, rief da Micha empört. „Ich behaupte, daß er's nicht ist!“ „Sooo ...“ Der neue Vizechef rieb sich das Kinn und blickte auf den jüngsten herab. „Da fällt mir ein: Wo wart ihr denn heute? Und gestern? Und vorgestern? Ich bekam vorhin einen Anruf von der Insel Oléron: Eine Gemüsehändlerin erbat eine fachliche Erklärung für das Weißwerden ihrer Melonen! Sie meinte, es habe ihr jemand einen Streich gespielt!“ „Wir sind an ihren Melonen nur vorbeigegangen!“ verteidigte sich Tati. „Außerdem waren wir gestern und vorgestern am Strand von Palmyre - und Superhirn ist heute gar nicht mitgewesen!“ Nun meldete sich Henri wieder: „Sie verdächtigen unsere ganze Gruppe, in der Gegend irgendwelche dummen Dinger weiß zu färben - wie es uns gerade einfällt. Weshalb und womit sollten wir das fertigbringen?“ „Was weiß ich“, knurrte der Vizechef. „Aus Langeweile vielleicht oder blinder Zerstörungswut!“ Hier unterbrach ihn Madame Dingdong. Sie hatte inzwischen begriffen, daß ihr unbedachtes Gerede besonders Superhirn geschadet hatte. Energisch rief sie: „Das glaube ich nie! Die jungen Leute haben was Besseres zu tun. Sie sind hier noch niemals lästig gewesen oder unangenehm aufgefallen.“ „Es ist, wie Madame Dydon sagt!“ ertönte die Stimme der schwedischen Gastprofessorin aus dem Hintergrund. „Und das Foto des Rentners Ligny aus Baie?“ bohrte der Vizechef. „Hier ist Superhirn neben der vergifteten Hecke zu erkennen, wie er eine neue Ladung Gift auf ein Beet streut - oder gießt!“ Er wandte sich an den Spindeldürren: „Bist du das nun - oder bist du das nicht ... ?“ Was nun folgte, hätte keiner erwartet. Mit fester Stimme erwiderte Superhirn: „Ja - das bin ich!“ Der Vizechef sah sich im Kreise um. „Na also“ sagte er knapp. Gérard hob die Hände, als hätte seine Fußballmannschaft 1:10 verloren. Sein Seufzen deutete an: Mußte das sein? Mußtest du das zugeben ...? Doch Superhirn stand keineswegs wie ein reuiger Sünder da. Er schnellte vor, nahm Professor Flohr die Bilder aus der Hand und legte sie auf den Tisch. indem er auf das Bild mit dem Birnbaum deutete, fragte er den Rentner scharf: „Wie lange sind die Blätter schon weiß?“ „Fünf oder sechs Tage ...“ erwiderte Monsieur Ligny unsicher. „Ich weiß das nicht so genau. Ich sehe nicht gut, und von Baie kommt auch immer Staub herüber, weißer Chemiestaub. Erst, als meine Frau von der Reise zurückkam, sagte sie: Mit dem Birnbaum ist was los, der ist krank, die Birnen werden wieder nicht. Diesmal sehen sie aus wie Waschpulver! Ja, da hab ich mir das genauer angeguckt. Auch der Stamm war wie von einem weißen Schimmelpilz überzogen.“ „Es war keine gute Birnensorte, nicht wahr?“ fragte Superhirn. „Ihre Frau erinnerte indirekt an die vorigen Ernten. Stimmt's?“ Der Rentner Ligny machte ein Gesicht, als bereue er es längst, die ganze Sache ins Rollen gebracht zu haben. „Trotzdem“, murrte er. „Als ich dich mit der Birne wegrennen sah ...“ „... haben Sie Ihre Frau angeschwindelt, der Baum hätte sich nur durch systematische Vergiftung schlecht entwickelt. und endlich haben Sie sich das selber eingeredet, weil ja auch ein Stück der Hecke weiß war!“
„Das Weiße ist aber erst seit einigen Tagen da!“ beteuerte Ligny. „Und was hattest du bei meinem Garten zu suchen? Ich hatte wirklich Angst um meine Pflanzen!“ „Ich auch!“ sagte Superhirn ernst. „Ich bin mit dem Rad öfter die Abkürzung von Brassac-Baie nach Brossac-Centre gefahren. Ihr Garten liegt einsam, und er ist recht hübsch. Da fiel mir aber der Baum auf - und das Stück gespenstisch weißer Hecke. Ich machte ein Foto, kam dann aber noch einmal zurück, um am Zaunrand etwas Erde zu entnehmen. Das haben Sie geknipst! Ich hatte mir vom Hafenkapitän einen Plastikeimer und eine kleine Handschaufel geborgt. Ich wollte die Erde und die Birne untersuchen lassen. Leider hat der Hafenkapitän den Humus versehentlich weggeschüttet, als ich den Eimer dort untergestellt hatte. ich mußte noch etwas anderes erledigen. mir blieb also nur die Birne - und das Foto bei Monsieur Bouline, auf das ich gewartet habe!“ „Da sehen Sie's!“ rief Madame Dingdong. „Der Junge macht sich Sorgen um fremdes Eigentum! Das ist für ihn typisch, sehr typisch! Er hat mich auch schon einmal aus einer bösen Klemme befreit!“ Das blieb nicht ohne Eindruck. Madame Dingdong hatte sich aber gehütet, Admiral Schwarzbackes Haar- und Bartentfärbung zu erwähnen - und seinen kläglichen Versuch, dem Rätsel mit schwarzem Lackspray zu begegnen. wenn es darauf ankam, besaß sie den sechsten Sinn. Professor Flohr meinte jedoch unbeirrt: „Wie auch immer: Die Sache ist faul. Ich sehe mir Herrn Lignys Birnbaum gleich einmal an!“ „Das geht nicht“, räusperte sich das Männchen verlegen, „Ich hab den Baum gestern zersägt und mit allem Blatt- und Wurzelwerk verbrannt. Auch die Hecke. Es macht sowieso zuviel Arbeit, sie zu beschneiden. Und meine Frau wollte schon längst anstelle des Birnbaums ein Zierbecken mit einem kleinen Springbrunnen haben. Sie freut sich ja über das Unglück, denn nun bekommt sie ihren Willen.“ Professor Flohr sah auf Ligny herab, als wollte er ihn mit Blicken durchbohren. Doch so leicht gab er sich nicht geschlagen: „Es ist doch merkwürdig, Superhirn“, begann er, „daß du ausgerechnet Dinge wahrnimmst, die sogar dem Briefträger entgehen! Und daß ihr euch ... „, er wandte sich an Tati und die anderen jungen, „auf der Insel Oléron einen Obststand aussucht, dessen Melonen gerade erst die Farbe verloren haben!“ „Merkwürdiger ist“, konterte Superhirn, „daß Sie diese Erscheinungen für Kinderstreiche halten! Ich wollte nur noch einige Beweise haben, um ihr Institut zu alarmieren. Nun, jetzt sind Sie alarmiert! Und was tun Sie? Sie legen sich mit uns an, statt sich an die zu halten, die für Streiche diesen Kalibers in Frage kommen.“ Bevor Professor Flohr antworten konnte, schrie Tati auf. Loulou hatte sich an den Erwachsenen vorbeigeschlängelt und hopste auf sie zu. Das Fell des kleinen Hundes war normalerweise von tiefer, gleichmäßiger Naturschwärze. Doch jetzt war es weiß, schneeweiß, von einem schaurigbleichen Weiß . . . Micha bückte sich, wobei sein Kopf heftig gegen die Tischkante stieß. Doch das kümmerte ihn nicht. „Es ist ... „, japste er, „es ist wahrhaftig Loulou! Sein Fell ist plötzlich weiß ... l“ Prosper sah sich wie rasend um: „Wo-wollen wir warten, bis wir alle weiß sind? Warum laufen wir nicht raus und suchen den Täter . . .?“ „Halt, halt !“ bremste Professor Flohr, der den Zwergpudel ja noch nie gesehen hatte. „Will mir jemand etwa weismachen, daß der Hund das Schicksal der Birne teilt?“ „Er muß sich in Staub gewälzt haben!“ hörte man die zitternde Stimme Madame Dingdongs. „Ich weiß ja nicht, wie Mondstaub aussieht, aber es ist, als hält ihn ein Ufo gestreift!“ „Das reicht!“ sagte Professor Flohr. „Ein Ufo ...! Das hat uns gerade noch gefehlt! Ich will nicht, daß unser Institut durch alberne Gerüchte in Verruf gebracht wird. Und das zu einem Zeitpunkt, wo wir Tausende von Urlaubern an der Küste haben! ihr räumt sofort den Turm. Auch Sie, Madame!“ Er wandte sich zum Gehen, doch Superhirn hielt ihn zurück: „Der Hund hat sich nicht in weißem Staub gewälzt. Sein Fell hat sich entfärbt ...“ „Genau wie das Haar und der Bart von Schwarzbacke!“ rief Micha. Doch Professor Flohr kannte Schwarzbacke nicht.
Superhirn sprach eindringlich weiter: „Haben Sie von den holländischen Tulpenfeldern gehört, die im Frühjahr ihre rote Farbe verloren? Lasen Sie von plötzlich auftauchenden Spatzenschwärmen weißen Schwärmen - in London, Amsterdam, Hamburg und Hannover? Wissen Sie, daß Reisende bereits die griechischen Inseln verlassen, weil ihre Haare über Nacht weiß geworden sind?“ „Wir sind in Frankreich!“ unterbrach Professor Flohr. „Und du mußt nicht denken, daß wir schlafen! Manche Auslandsberichte sind wissenschaftlich nicht erhärtet, und aus unserem Land ist uns kein einziger dieser Fälle bekannt! Die Sache mit dem Birnbaum, mit den Tulpen und mit den Leutchen da auf der Insel - äh, die halte ich für geklärt: Überdosis von Konservierungsmitteln oder Unkrautvertilgern. Bei letzterem tippe ich auf das verbotene Tilanid! Und euer Hund ist in einen Bottich mit Trockenpulver gesprungen ...“ „Ich würde ihn zumindest mal untersuchen!“ mischte sich nun die schwedische Professorin ein. „Wenn er Pulver im Fell und an den Pfoten hätte, sähe man Spuren auf dem Boden!“ Aber der winzige Hund hatte sich der lauten Streiterei entzogen und war geschickt an den vielen Beinen vorbei ins Freie entwischt. Micha lief ihm nach, und Doktor Mutzig fragte: „Ist es nicht vielleicht eine Verwechslung? Ist das denn wirklich euer Hund?“ „Unser Institut“, beharrte Professor Flohr, „darf nicht ins Gerede kommen! An den Badestränden könnte eine Panik ausbrechen!“ Er schwieg, Irgendwo draußen erscholl ein kurzes, dumpfes, explosives Krachen, als sei ein riesiger Gegenstand geborsten. Frau Dingdong, Ligny und der Fotomann blickten unwillkürlich hoch, ob etwa der Turm über ihnen zusammenstürze. Dann aber hörte man Micha schreien: „Schwarzbackes Boot ... ! Sein Schiff - die Perle - brennt!!“ Niemand beachtete den weiß gewordenen Pudel, der vor Schreck in den Schuppen floh. „Da! Da ...!“ schrie Micha. Er stand am Klippenrand und deutete zur Buchtseite. „Es schwimmt noch! Aber es sinkt!“ Reglos verharrten Erwachsene und Jugendliche vor dem Abhang. Ja! Da schwamm Schwarzbackes buntscheckiger, robuster Kahn. Aber das typische Ruderhaus war weg, der Signalmast mit der Piratenflagge fehlte, und der Bug hatte sich in die Dünung gesenkt, als wolle er Wasser saufen. Eine bläuliche Flamme schwankte wie unwirklich an Deck hin und her. „Was hat der denn geladen?“ hauchte Frau Hammerstroem. Ein weiterer, gewaltiger Schlag erschütterte die Trommelfelle. Lähmende Stille folgte. Das Schiff war verschwunden ... „Der Kahn hat sich eine verdammt gute Stelle zum Hochgehen ausgesucht!“ murmelte Superhirn. „Kein Objekt in Gefahr! Dabei hätte der Sprengsatz für 'ne Autobahnbrücke gereicht!“ Auf Oléron, in Brossac-Baie und in Brossac-Centre heulten die Alarmsirenen. Man sah, wie sich einzelne Boote von den Gestaden lösten und Kurs aufnahmen. „Sie suchen Schwarzbacke!“ rief Tati. „Vielleicht ist er über Bord gesprungen!“ „Dein Wort in Neptuns Ohr!“ meinte Superhirn. „Der ist niemals über Bord gesprungen, und ich schätze, sie werden nicht mal ein einziges verfärbtes Haar von ihm finden!“ „Los!“ befahl Flohr seinen Leuten. „Zum Institut! Vielleicht braucht man unsere Analysen!“ Er wandte sich an Tati und die Jungen: „Und ihr, ihr tummelt euch jetzt! In Brossac ist ja wohl ein Jugendheim, oder?“ Mit seinen Begleitern eilte Flohr auf die Geländewagen zu. Der Rentner stieg mit dem Fotomann in ein Auto, das die Aufschrift „Bouline gibt Ihren Bildern Farbe“ trug. „Farbe!“ schluckte Prosper. „Ausgerechnet Farbe!“ Der Pudel kam aus seinem Versteck gekrochen. Madame Dingdong griff hastig nach ihm und hob ihn hoch. „Er muß sofort zum Tierarzt!“ rief sie. „Seht mal, er hat auf einmal rote Augen!“ „Die roten Augen gehören dazu k erklärte Superhirn trocken. „Sie sind der Beweis, daß Loulou nicht etwa in eine Mehlkiste gefallen ist. Sein ganzer Körper hat die Farbe verloren, auch die Farbe der Regenbogenhaut in den Augen!“ „Er sieht wie ein weißes Kaninchen aus!“ jammerte Tati. „Wie ein Albino!“
„Eben!“ betonte Superhirn. „Und als ich mich von Schwarzbacke verabschiedete, sah ich, daß auch er rote Augen hatte. Ich wette ...“ er sah sich vorsichtig um, „es werden noch mehr Lebewesen in dieser Gegend rote Augen kriegen“ „Laß uns bloß abhauen!“ drängte Prosper. Die Gefährten rannten in die Quartiere, um die Fahrrad-Packtaschen vollzustopfen. Die Koffer, die per Bahn hergeschickt worden waren, wollte Madame Dingdong auf ihr Motordreirad nehmen. „Hör mal“, begann Henri, der gemeinsam mit Superhirn packte, „was meintest du vorhin, als du sagtest, Schwarzbacke sei nie aus dem Kahn gesprungen - und man würde kein einziges verfärbtes Haar von ihm finden? War die Schiffsexplosion etwa ein Bluff?“ „Sie war auf jeden Fall zu stark, also verdächtig! Sie sollte von vornherein alle Hoffnung beseitigen, man könnte von Schwarzbacke auch nur noch den Mützenschirm finden. Völlig irres Brimborium! Gerade das sagt mir: Schwarzbacke lebt! Er mußte untertauchen, aber nicht im Wasser!“ „Hältst du ihn für den Täter, den Großen Weißmacher'? Für den Kopf einer Bande ... ?“ „Nein ...“ entgegnete Superhirn zögernd. „Als närrisches, überall beliebtes Original käme er dafür schlecht in Frage. Aber möglich ist alles ...“ „Und der Rentner Ligny? Oder der Fotomann Bouline?“ forschte Henri weiter. „Dann schon eher der Vizechef des Instituts“, sagte Superhirn rauh. „Dieser forsche Typ aus Paris! Warum hat er mich verdächtigt? Auf jeden Fall war er nicht geistesgegenwärtig: Er hat die weiße Birne und die Fotos vergessen!“ „Und - wo ist das Zeug?“ fragte Henri, „Schon eingepackt!“ Superhirn grinste vielsagend. 6. Auf der Suche nach dem „Weißmacher“ - Wer ist der „Herzog von Alba“? „Hallooo..!“ hörte man Michas aufgeregten Schrei aus dem oberen Stockwerk. „Um den Turm kreisen Vögel - lauter weiße Vögel ...!“ „Weg! Nur weg hier!!“ brüllte Prosper im Parterre. „Komm“, sagte Superhirn zu Henri, „jetzt hilft wirklich nur noch die Flucht! Der Turm ist schon die reinste Klapsmühle. Micha vergißt anscheinend, daß die Möwen immer weiß gewesen sind ...“ Madame Dingdong und Henri luden einen Teil des unhandlichen Gepäcks auf das Motordreirad. Die Taschen und Regenplanen kamen hinten auf die Fahrräder. Tati nahm den Pudel in das Körbchen vor ihrer Lenkstange. Er mußte es sich gefallen lassen, mit einem schwarzen Pulli bedeckt zu werden. „Wir fahren nach Brossac-Baie, zum Hafenkapitän“, entschied Superhirn. „Bei dem sind wir am sichersten!“ Madame Dingdong schaukelte mit ihrem Motorgefährt durch den Ort Brossac-Centre, während die Jugendlichen das Cap Felmy auf schmalen Wiesenpfaden hinter sich ließen. Erstens bot diese Strecke eine erhebliche Abkürzung, zweitens sollte in Brossac-Centre niemand den weiß gewordenen Hund sehen. „Irre ich mich - oder habt ihr über den Großen Weißmacher gesprochen?“ fragte Tati, als der Weg sich verbreiterte und sie neben Superhirn und ihrem Bruder herfahren konnte. Henri bestätigte es. „Die Frage war, könnte Schwarzbacke der Große Weißmacher sein? Oder der Rentner mit den weißen Birnen? An den Fotoladenbesitzer dachte ich auch, und Superhirn nannte sogar Professor Flohr!“ „Ihr habt die Männer von der Insel Oléron vergessen.“ erinnerte Tati. „Die Brüder van Horn, Sportzubehör! Die kamen uns doch wie zwei Raketen nachgezischt, und sie hatten die weiße Melone im Wasser treiben sehen. mir schien, als hätten sie Schwarzbacke bedroht!“ Superhirn horchte auf: „Wieso bedroht? Und warum schien es dir nur so ...?“ „Weil sie holländisch sprachen“, erwiderte das Mädchen. „Immerhin verstand ich das Wort Duckdalben!“ „Duckdalben ...?“ Superhirn kam vom Pfad ab und stürzte kopfüber in einen Graben. Das Wort Duckdalben hatte ihn wie ein Schlag getroffen.
Die anderen bremsten. „Hast du dir was getan?“ rief Tati. „Nee!“, ächzte Superhirn. „Gottseidank ist's hier schön trocken. Kommt her, setzt euch einen Moment dazu. Es gilt etwas zu klären. Womöglich das Entscheidende ...“ Er setzte sich auf die Böschung und legte sein Fahrrad neben sich. „So“, sagte er dann. „Duckdalben! Weißt du, was Duckdalben sind, Tati? Oder habt ihr anderen eine Ahnung?“ „Sind das nicht Anlegestellen für Schiffe?“ meinte Prosper. „So ungefähr“, nickte Superhirn. „Es sind in den Grund gerammte Pfähle aus Holz, Stahl, Stahlbeton, an denen sogar Tanker festmachen können.“ „Und was ist daran so interessant?“ fragte Tati, „Das Wort, Tati, das heißt: seine Bedeutung! Es kommt aus dem Flämischen, aus der Zeit der Unterdrückung Flanderns durch den spanischen Herzog von Alba“, erklärte Superhirn. „Das war im 16. Jahrhundert. Zur Entlastung der Häfen ließ Alba hölzerne Dreierpfosten in den Meeresboden rammen. Die französischsprechende Bevölkerung im heutigen Belgien nannte diese Pfähle nach ihm, dem Unterdrücker: die Duc d'Albes'! Und das ist das Interessante an dem Wort: duc heißt Herzog, d'Albe heißt von Alba - und Alba wiederum kommt aus dem Lateinischen und bedeutet weiß . . .!“ Die Gefährten schwiegen verblüfft. „Du meinst also“, wagte sich Gérard. mit seiner Meinung heraus, „es handelt sich um eine Art Codewort.. .?“ „So ähnlich“, meinte Superhirn. „Vielleicht sieht es für einen Treffpunkt ...“ „Oder der Große W-w-weißmacher heißt bei ihnen ,Duckdalben'!“ sprudelte Prosper hervor. „Verschlüsselt für Alba, Herzog- also so w-w-was wie Chef der weißen Bande!“ „Ich denke, sie nennen einen ganz bestimmten Ort so!“ sagte Superhirn nach kurzer Überlegung. „Das andere mag Zufall sein. Wenn auch nicht für uns. Wir meinen den Chef der Weißmacher, also unseren Herzog von Alba. Seine Gangster sind hinter uns her, weil sie uns für Mitwisser halten!“ „Alinst du den Zweck der Weißmacherei'?“ fragte Henri. „Nein“, gab Superhirn zu. „Ich halte nur einige Stücke eines Puzzlespiels in der Hand. Aber ich sehe die Gefahr so deutlich vor mir wie Loulous rote Augen!“ „Wenn das kein Argument ist!“ rief Tati. „Los, weiter! Hafenkapitän Jordan muß uns helfen!“ Aber in Brossac-Baie, am Bollwerk vor der großen Schleuse, lag Paul Jordans Dienstboot nicht. Die Jugendlichen verpusteten sich, nachdem sie ihre Räder an das Geländer des Kinderspielplatzes gelehnt hatten. Tati nahm den Pudel an die Leine und verschwand mit ihm hinter einer Mauer. Superhirn und Henri betraten die Baracke des Hafenkapitäns; sie trafen aber nur Paul Jordans ehrenamtlichen Vertreter an. Das war der hagere Monsieur Hugo Vergne. „Was gibt's?“ fragte er Superhirn. „Du warst doch heute schon mal hier, oder?“ „Wir müssen Paul Jordan sprechen, unbedingt!“ sagte Henri. „Es ist sehr, sehr wichtig!“ „Ihr seht doch, er ist nicht hier!“ brummte Herr Vergne. „Habt ihr die Explosion nicht gehört? Da ist ein Boot hochgegangen, draußen in der Bucht.“ Superhirns Blick ruhte auf dem Funkgerät. „Kapitän Jordan ist noch draußen? Klar, hätte ich mir denken können! Schwarzbackes Kahn flog in die Luft. Hat Paul schon durchgesagt, was die Ursache war? Und - gibt es eine Spur von Schwarzbacke?“ Herr Vergne schüttelte den Kopf. „Sein Eimer ist vermutlich auf 'ne alte Kriegsmine geschrammt. Weiß der Teufel auch, was der Bursche geladen hatte. Vielleicht 'ne Kiste Dynamit? Jedenfalls meint Paul“, Herr Vergne wies auf das Funkgerät, „daß es sich nicht mal lohnen wird, einen Froschmann runterzuschicken.“ Superhirn zuckte zusammen. Er starrte auf einen Schreibblock, auf dem etwas lag. „Was - was ist denn das da ... ?“ fragte er. Auch Henri blickte auf den Schreibblock, sah aber nichts als zwei bläulich schimmernde Plättchen. Und schon brummte Herr Vergne:
„Was hier im Büro liegt, geht euch nichts an. So, nun muß ich Pauls Durchsagen entgegennehmen. Kommt morgen wieder!“ „Okay“, sagte Superhirn. Er zerrte Henri eilig mit sich ins Freie. „Was ist los?“ fragte Gérard. „Wie seht ihr denn aus?“ „Drinnen ist nur der Vertreter von Kapitän Jordan. Paul ermittelt an der Unfallstelle“, erklärte Henri. Tati lugte über eine Blumenstaude, hinter der sie den weiß gewordenen Pudel verborgen hatte: „Heißt das, wir müssen auf Schutz und Hilfe warten?“ rief sie nervös. „Na, w-w-was denn sonst?“ stotterte Prosper wütend. „Mit dem muffeligen alten Vergne würd' ich nicht mal a-a-angeln gehen!“ „Da kommt unsere Madame mit ihrer Karre“, meldete Micha. Frau Dingdong bremste am Straßenrand. „Was ist?“ fragte sie. „Wir haben nicht daran gedacht, daß der Hafenkapitän sich an der Unfallstelle aufhalten könnte“, erklärte ihr Henri. „Und was wird nun mit euch?“ überlegte Madame Dingdong. „Am besten, wir fahren zurück nach Brossac-Centre, und ihr wendet euch dort an die Polizei.“ „Polizei ist jetzt das einzig Richtige“, stimmte Superhirn sofort zu. „Nach dem, was ich eben gesehen habe ...“ Er unterbrach sich: „Aber wir schalten nicht die Ortspolizei ein, denn auch die, wette ich, hat noch an Schwarzbackes Kahn zu knabbern. Ich telefoniere mit dem Präsidium in Paris!“ „Mit unserem Freund, dem Kommissar Rose?“ Auf Gérards Rundgesicht zeigte sich ein erleichtertes Grinsen. „Mit dem Trainer hätte unsere Mannschaft alle Chancen!“ „Bleibt hier!“ befahl Superhirn. „Und Sie, Madame, gedulden sich bitte! Ich telefoniere schnell mal da drüben im Café. Manchmal ist so ein Gewimmel die beste Tarnung!“ Er wartete nicht auf Antwort, sondern lief am Rondell mit dem alten Anker vorbei auf die offene Tür des Bistros zu. „Ich möchte wissen, warum Superhirn so erschrak, als er bei Monsieur Vergne im Büro war“, überlegte Henri. „Micha, paß mal auf Loulou auf, Tati kann mir da eher helfen. Tati, auf dem Fensterbrett, auf einem Schreibblock, liegen zwei blaue Plättchen. Geh doch mal außen vorbei, scheinbar gelangweilt, ohne Ziel. Dann guck ganz zufällig durch die Scheibe. Vielleicht siehst du was!“ Tati kam im Bogen zurückgeschlendert. „Es sind Kontaktlinsen“, berichtete sie, „Augenhaftschalen!“ „Was denn? So 'n Zeug, das man über die Hornhaut schieben kann, wenn man k-k-keine Brille tragen will?“ fragte Prosper. „Daran ist doch nichts Besonderes!“ wunderte sich Madame Dingdong. Doch da kam Superhirn schon eilig über den Platz, Er war ganz außer Atem. „So! Die Sache läuft. Sonderbarerweise hat der Kommissar auf das Stichwort weiß gleich gespurt. ich sagte, wir würden untertauchen, bis er käme. Unseren Schlupfwinkel erführe er bei Madame Dingdong!“ Frau Dingdong nickte: „Der Kommissar kann sich auf mich verlassen. So - und da der Hafenkapitän nicht da ist, kommt ihr jetzt zu mir! Ihr werdet bei mir abend essen; eine Unterkunft wird sich schon finden ...“ 7. Ein Schlupfwinkel - oder eine Falle? Die Sonne war längst untergegangen, doch es war noch ziemlich hell, als Superhirn und die vier jungen das Gartentor des letzten Hauses von Brossac-Baie aufschlossen. Madame Dingdong hatte ihnen den weg erklärt und die Schlüssel ausgehändigt. Tati war mit Loulou bei ihr geblieben. Als sie die Räder auf das schiefe Holzhaus zuschoben, murrte Gérard: „Die Sache gefällt mir nicht. Monsieur Dingdong war nicht sehr begeistert über den Eifer seiner Madame. Er hätte uns am liebsten auf dem Mond gesehen. Und dann hatte sie gleich diese unbewohnte Hütte inmitten windschiefer Schuppen zur Hand'. Hier sind wir ja verratzt!“
„Du m-m-meinst, die Dingdong steckt auch hinter dem weißen Spuk'?“ fragte Prosper. „Und dieses Haus hier wäre die letzte Falle, in die wir tappen . ..?“ „Ich bin so weit, daß ich alles für möglich halte“, erwiderte Gérard. „Seid mal still!“ wisperte Micha. „Was ist das? Was sind das für Geräusche?“ „Na, die Lastwagen der Essigfabrik Vinaigre Vergnette beruhigte ihn Henri. „Davon sprach Madame Dingdong doch! Hast du das nicht gehört?“ Jetzt reckte auch Superhirn den Hals. „Da arbeiten sie noch auf Hochtouren ... Hm - also, was die Dingdong betrifft, so seht ihr Gespenster! Aber was dieses Haus hier angeht: Das ist entweder der beste oder der schlechteste Schlupfwinkel - ausgerechnet für uns!“ „Erst mal hineink drängte Henri. „Erst mal hinein ...“ Sie stellten ihre Räder an die Rückwand des Hauses. Dann öffnete Superhirn die Eingangstür mit dem Wohnungsschlüssel. Elektrisches Licht war vorhanden, darüber hinaus aber auch eigentlich alles, was man sich wünschen konnte. An Liegen, Sofas, Klappbetten und ausziehbaren Gartenmöbeln herrschte kein Mangel. „Wenigstens verkohlt hat sie uns nicht!“ stellte Gérard fest. „Sie sagte, es sei das Ferienhaus ihrer Schwester: Genauso sieht's aus! Nur, daß ich mir 'n schöneres Plätzchen wünschen würde. Die Umgebung könnte ebensogut eine Müllkippe sein!“ „Geerbt ist geerbt, und da macht man das Beste draus!“, meinte Superhirn. Offenbar war er mit einem neuen Problem beschäftigt. Geistesabwesend starrte er in den Wandkasten, der mit Glühlampen und gelbroten Glasstücken ein Kaminfeuer vortäuschte. „Die Essigfabrik schmeckt dir wohl nicht!“ vermutete Micha. Statt darauf zu antworten, sagte Superhirn: „Holt die Fahrräder rein. Stellt sie irgendwohin, aber möglichst ohne Flurschaden.“ „Er-er-erwartest du Besuch rief Prosper. „Ein harmloser Fahrraddieb wär mir jetzt geradezu 'ne Erholung! Wenn wir aber von der W-w-weißmacherbande überfallen werden: Wie sollen wir hier im Haus drin auf den Rädern ausrücken?“ „Tür zu! Fensterläden kontrollieren! Alle Lichter aus - bis auf das falsche Kaminfeuer!“ befahl Superhirn, ohne auf ihn einzugehen. „Henri, du beobachtest durch einen Spalt die Anfahrt! Aber hör mir trotzdem zu!“ Superhirn kauerte sich auf ein Sitzkissen und starrte in das kalte Scheinfeuer in der Wand. Prosper, Gérard und Micha rückten Hocker und Klappsessel heran. „Die Essigfabrik trägt die Bezeichnung Vergne!“ grübelte Superhirn. „Das aber ist der Name von Paul Jordans Vertreter!“ „Bei dem wir die Augenhaftschalen liegen sahen!“ meldete sich Henri vom Fenster her. „Und wie du weißt, schließt Tati jeden Zweifel aus!“ Superhirn nickte. „Ich habe Tati einen Zettel mit Aufträgen hinterlassen“, erklärte er. „Sie muß morgen die Optiker abklappern und die Schönheitssalons, wo die Damen sich ihre Wimperntusche und ihre Haarfärbemittel besorgen!“ „Und was nützt das unserem armen Pudel?“ rief Micha heftig. „Mit dem fährt Frau Dingdong zu einem Tierarzt“, antwortete Superhirn. „Der Mann soll aber nicht wissen, daß der Hund urplötzlich weiß geworden ist. Er muß glauben, es handle sich um einen Albino, also um eine Fehlfarbe von Geburt! Das wäre nichts Ernstes. Das gibt's. Ich will nur wissen, ob Loulou sonst gesund ist!“ „Ich verstehe das aber nicht!“ maulte Micha. „Albinismus nennt der Biologe den erblich bedingten Farbwandel in Haaren, in der Haut und in den Augen bei Mensch und Tier“, erklärte Superhirn. „Sogar unter dunkelsten Schwarzafrikanern gibt es vereinzelt solche Albinos. Die Regenbogenhaut ihrer Augen ist nicht brombeerfarben oder braun, sondern wegen des durchschimmernden Blutes rot!“ „Das kenn ich bisher nur bei weißen Kaninchen!“ rief Micha.
„Du hörst doch eben, Voll-Albinos laufen nicht in Scharen rum!“ sagte Gérard unwillig. „Gibt's Albinismus auch bei Pflanzen?“ Superhirn nickte: „Ja, durch Blattgrün-Schwund! Aber Gérard hat den wichtigsten Punkt berührt: Voll-Albinos sind selten; Teil-Albinos, also Weißhaarige mit bläßlichen Augen und Hautbleiche gibt's öfter. Daß aber plötzlich in einer Gegend zugleich Melonen, Birnen, Hecken, Menschen - und ein Pudel Albinismus zeigen, und zwar schlagartig, das grenzt an Spuk! Das liegt nicht an der Natur. Bei dem Rentner Ligny sah ich nicht nur die unheimlichen Birnen, sondern, Tage vorher schon, ein paar Blumen, die normalerweise knallrot sein mußten. Sie waren aber weiß, und so abscheulich leblosweiß, daß das keine Züchtung sein konnte, Ich erinnerte mich daraufhin an die Tulpengeschichte in Holland, und - was schlimmer ist - an die weißen Spatzen. Hier!“ Superhirn zog ein Röllchen aus der Hosentasche: „Zusammengedrehte Zeitungsartikel. Meist kleine Meldungen in der internationalen Presse. Aber die haben's in sich: dpa, Deutschland: Was die weißen Spatzenschwärme betrifft, so weigerte sich der Kernkraftspezialist Professor Renner, sie als Opfer radioaktiver Verseuchung anzusehen. Renner erklärte: Albinos gab es schließlich immer!“ „Aber keine Schwärme“ rief Prosper. „Eben!“ sagte Superhirn spöttisch. „Die Spatzen bilden keine Notgemeinschaft von Farbgeschädigten. Die Sache mußte also eine andere Ursache haben. Ich fand noch mehr Artikel mit weißen Rätseln, scheinbar ohne Zusammenhang. In Mittelitalien, in der Toskana, regnete es plötzlich weiße Vögel vom Himmel. Solche, die von Natur aus eine Färbung und Musterung hätten aufweisen müssen! Wissenschaftler vermuten, die Tiere seien durch eine Giftwolke geflogen. Das ist sogar möglich, denn ein ganz bestimmter falscher Albinismus kann durch chemische Gifte hervorgerufen werden!“ „Loulou hat doch nicht etwa Rattengift gefressen ...“ hauchte Micha. „Nein“, Superhirn schüttelte den Kopf. „Dann wäre er eher tot gewesen, als er hätte weiß werden können. Rattengift-Albinismus entsteht durch Langzeitvergiftung mit geringsten Dosen! Ich fand noch einige Meldungen: In Griechenland, in Italien, in Portugal, aber auch in Irland werden Fälle von TeilAlbinismus unter Reisenden beobachtet. Ebenso in Spanien, In den heißen Ländern führt man das auf unvernünftiges Sonnenbaden zurück.“ „Du tippst aber auf ein verbrechen und eine Weißmacher-Bande!“ erinnerte Gérard. „Was haben die Gangster vor? Eine gigantische Panik?“ „Im Gegenteil“, erwiderte Superhirn. „Eine Panik ist das allerletzte, das sie gebrauchen können! Ich meine ...“ und er betonte jedes Wort, „diese Weiß-Fälle sind unbeabsichtigte Pannen. Mag im übrigen Europa vorkommen, was will: Hier in Frankreich wurde bisher kein Fall von TouristenAlbinismus' bekannt, so als hätten sich die Gangster von Anfang an eine Freizone schaffen wollen! Da, auf einmal, spielen, Melonen, Birnen, Blumen, Hecken, Männer und ein Hund verrückt - und zwar in einem ganz bestimmten Küstenbereich. Das, meine ich, war keinesfalls geplant!“ Da rief Henri gedämpft vom Fenster her: „Still! Draußen steht Schwarzbacke!“ „Ach, du spinnst!“ wisperte Micha. Superhirn sprang auf und löschte das falsche Kaminfeuer. Alle spähten sie jetzt durch die Ritzen der Fensterläden. „Er ist weg!“ flüsterte Henri. „Aber ich sah ihn ganz deutlich. Im Mondschein erkannte ich seine Mütze, die Ärmelstreifen - und überhaupt die typische Gestalt!“ :)Das gefällt mir nicht“, murmelte Superhirn. „ich habe zwar keinen Moment daran gezweifelt, daß die Explosion ein Täuschungsmanöver war und daß Schwarzbacke lebt - aber was hat er hier herumzuschnüffeln ... ?“ „Trotzdem“, sagte Gérard energisch, „wir müssen versuchen, 'n paar Stunden zu schlafen. Schätze, was uns da morgen blüht, ist alles andere als ein Freundschaftsspiel ...!“ 8. Augenhaftschalen - passend zur Zweitfrisur?
Micha erwachte von einem heftigen Bummern gegen einen der Fensterläden. Wumm - wumm - wumm ... Dazu ertönte eine Stimme, die fortwährend „Aufmachen! Aufmachen!“ schrie. Micha rieb sich die Augen, setzte sich auf und blickte um sich. Er hockte auf einem Sofa; ringsum war es dunkel. Schemenhaft erkannte er seinen Bruder Henri im Sessel. Die drei anderen hatten sich auf Liegen und Klappbetten in den Nebenzimmern verzogen. Daß es bereits Tag war, sah man an vereinzelten Sonnenstreifen auf dem Fußboden. Es war Tati, die da draußen rumorte und heftig Einlaß begehrte. Schlaftrunken wankte Micha zur Tür, während Henri die Fensterflügel und die Holzläden öffnete. Auch Prosper und Gérard erschienen auf dem Plan. „Wo ist Superhirn?“ erkundigte sich Gérard. „Vorläufig bin ich erst mal da!“ rief Tati. „wißt ihr nicht, wie spät es ist? Ich bringe euch das Mittag essen! Der Schlüssel steckt von innen, das Patentschloß ist zugeschnappt - und ich steh mit dem Zweitschlüssel wie ein Schaf vor der Türk „Wo ist Superhirn?“ fragte Gérard wieder, „Das klären wir dann!w sagte das Mädchen. „Helft mir jetzt! Ich hab zwei schwere Topfgestelle an der Lenkstange baumeln. Spaghetti, Gulasch und Kompott.“ „Warst du mit Loulou beim Tierarzt?“ forschte Micha besorgt. „Frau Dingdong hat den Hund einem Doktor im Nachbarort gezeigt“, berichtete Tati. „Der meinte, einen Albino-Pudel hätte er noch nie gesehen - doch er fand sonst nichts. Loulou ist völlig gesund!“ „Soweit man als sein eigenes Gespenst gesund sein kann!“ murmelte Prosper. Plötzlich starrte er zur Küchentür und öffnete den Mund, wobei ihm die Spaghetti über die Zunge zurück auf den Teller fielen, Auf der Schwelle, blaß und mit geweiteten Eulenaugen hinter den Brillengläsern, stand - Superhirn. Er war von Kopf bis Fuß verstaubt. „Ah, Tati“ rief er hoffnungsvoll. „Was bringst du? Ich meine, außer dem Essen?“ „Nimm erst mal hier den Topf - und bedien dich gleich daraus.“ erwiderte Tati, Dankbar nahm Superhirn das Gefäß mit dem Gulasch. Eifrig löffelnd, erkundigte er sich: „Was von Kommissar Rose gehört?“ „Nein. Aber ich sagte gerade: Die Dingdong war im Nachbarort bei einem fremden Tierarzt. Außer dem Farbverlust fehlt dem Pudel nichts, Ich habe die Optiker und die Schönheitssalons in BrossacBaie und Brossac-Centre abgeklappert. Mit Erfolg: Es hat tatsächlich ein Mann für seine Freundin Kontaktlinsen gekauft. Nun kommt der Knüller: Die Freundin war nicht dabei, aber der Mann ließ sich ein Plättchenpaar mitgeben...“ „Muß der Augenoptiker solche Augenhaftschalen nicht selber anpassen? Braucht er nicht sogar vom Augenarzt die Meßwerte?“ fragte Henri. „Wenn es echter Brillenersatz ist, ja“, erklärte Tati. „Aber das waren sogenannte Mode-Linsen, Boston-Linsen zur Verwandlung der Augenfarbe, passend zu Kleid, Lippenstift, Zweitfrisur! Was sagt ihr nun?“ Der Topf in Superhirns Hand zitterte. „Dachte ich mir!“ sagte er. „Und solche Mode-Haftschalen hast du gestern im Hafenamt gesehen, nicht wahr?“ Tati nickte. „Nannte dir der Optiker den Namen des Mannes? Oder hat er den Namen, den ich dir auf den Zettel schrieb, bestätigt?“ wollte Superhirn weiter wissen. „Nein“, sagte Tati. „Der Optiker leugnete ihn aber nicht ab. Er berief sich nur auf seine SchweigePflicht!“ „Ich verstehe nicht, was affige, bunte Augenhaftschalen - passend zu Kleid, Lippenstift und zur Z-z-zweitfrisur - mit Gangstern zu tun haben!“ erregte sich Prosper. „Ich wünschte, Kommissar Rose wäre schon da!“ Mit Nachdruck in der Stimme meinte Superhirn: „Ich auch ...!“
„Henri hat angeblich Schwarzbacke gesehen!“ meldete sich Gérard. „Bist du ihm etwa auch begegnet, Tati?“ Ehe das Mädchen antworten konnte, sagte Superhirn, wiederum mit harter Stimme: „Ich sah ihn! Und zwar, als sie ihn fesselten und ihm den verfärbten, mit Schwarzlack verfärbten Bart samt dem Skalp rasierten!“ Stille herrschte in der Küche. „Tja, Freunde“, fuhr Superhirn düster fort. „Schwarzbacke wollte den Gangstern offenbar entwischen und ist in einem der windschiefen Schuppen da draußen gewesen, als wir hier anlangten. Er muß unentschlossen gewesen sein, ob er sich uns anvertrauen sollte. Schließlich wagte er es doch nicht und schlich reumütig zurück.“ „Und wohin?“ fragte Prosper. „In die Essigfabrik Vinaigre-Vergne!“ antwortete Superhirn. „Vergne - na und?“ fragte Tati. „Die Fabrik gehört doch dem Vertreter des Hafenkapitäns. Herr Vergne macht sich nützlich, wo er kann, sagt Madame Dingdong. Er war früher Bürgermeister. Er hat auch die Schleusen gebaut ...! „Und die Duckdalben!“ vermutete Henri. „Mir geht ein Licht auf!“ rief Gérard. „Die Essigfabrik ist die Giftmühle. Eine bessere Tarnung kann man sich gar nicht vorstellen! Da mischen sie Hasch oder Heroin mit Albino-Pulver! Verflixt! Hier sitzen wir ja der Bande direkt auf der Schippe!“ „So ähnlich“, sagte Superhirn, „wenn nicht sogar noch schlimmer! Wir sind hier an einem Küstenstück, das seit Jahrhunderten die Todeszunge heißt. Eine Kette von Klippen schirmt den Einschnitt nach Norden und Süden ab. Mittendrin liegt eine Tankerplattform, umgeben von Dalben aus Stahlbeton. Hier hat man im Krieg Benzin durch die Pipelines an Land gepumpt: Der Kraftstoff kam in die Behälter der damals zweckentfremdeten Essigfabrik!“ „Woher weißt du das alles?“ wunderte sich Micha. „Ich hab mir an der nächsten Tankstelle die Karte angeguckt und ein bißchen mit dem Sohn des Pächters geschwatzt“, erklärte Superhirn. „Allerdings konnte der Junge mir nur bestätigen, was ich mir bereits zusammengereimt hatte. Das Wichtigste durfte er nicht wissen!“ „Das W-w-wichtigste?“ rief Prosper. „Daß die Pipelines heimlich wieder in Betrieb sind und nachts mehrere Sorten Sud in die AluBehälter befördern: roten, gelben und braunen. Aus den Behältern gelangen die verschiedenen Flüssigkeiten dann in die Tank- und Kastenwagen von Vinaigre-Vergne - Abtransport per Achse!“ „Essigessenzen?“ fragte Tati. „Extrakt, der später im Handel verdünnt wird?“ „Extrakt, ja. Ich sah auch Flaschen und Kunststoffässer. Klar, daß das Zeug erst später verdünnt wird: denn so braucht man das Wasser nicht mitzutransportieren“, sagte Superhirn. „Ich bezweifle nur, daß es Essigessenzen sind. Paß auf, Tati: Du fährst jetzt zu Madame Dingdong zurück. Telefonier noch mal mit Paris, mit Kommissar Roses Dezernat. Die wissen dort, wo und wie sie ihn unterwegs erreichen. Gib ihnen dringend das Stichwort Essigfabrik und Todeszunge mit den nötigen Erklärungen durch. ich hau mich jetzt aufs Ohr. Es war sehr unbequem, die halbe Nacht an den blinden Fenstern dieser Vinaigre-Vergne-Küche zu hängen.“ „Gut“, erwiderte das Mädchen. „Aber ich denke nicht, daß ihr am Tage gefährdet seid. Legt euch draußen in den Schatten! Kein Gangster wird bei dieser Hitze den Kopf rausstrecken, besonders, wenn er in der Nacht durchgeschuftet hat!“ 9. Wie auf einem Sklavenschiff - oder die Hölle der roten Augen Tati strampelte davon. Die Jungen folgten ihrem Rat und suchten sich ein schattiges Plätzchen im Garten. Superhirn war bald fest eingeschlafen ... Als ein Donnerschlag ihn weckte, hatte er keine Ahnung, wie spät es war. Zwei Pappeln bogen sich vor ihm wie rasend gewordene Scherenschnitte im Winde. Schwarze, tiefliegende Wolken bedeckten den Himmel.
„He!“ rief Superhirn. Er rannte ins Haus, weil er glaubte, die Freunde hätten sich vor dem Sturm in Sicherheit gebracht. „Und mich laßt ihr einfach liegen!“ schimpfte er. Ein neuer, flacher, lang anhaltender Donnerschlag erschütterte die Luft. Aber es kam kein Tropfen von oben. Und die Freunde - die Freunde waren nicht im Haus ...! Superhirn zog sich die Wetterjacke an, hängte sein Fernglas um und rannte über die buckligen, verlassenen Wiesen westwärts, der Küste zu. Es war erst 18 Uhr, doch es herrschte eine Finsternis, wie sie so plötzlich nur an der See oder im Hochgebirge eintreten kann. Superhirn folgte eher einer Ahnung als einem bestimmten Verdacht. Die Essigfabrik lag jetzt landeinwärts. Vor sich sah er den flachen Strand der Todeszunge, gespickt mit Warn- und Verbotsschildern, zwischen den Klippen war Sperrgebiet für die Fischerei- und Sportschifffahrt. Weit draußen, auf den Betonsockeln, hatte die Sensorenschaltung die automatischen Warnlichter aufleuchten lassen. Die Tide war gekentert, die Flut wieder im Kommen. Kreischend flogen die Möwen landeinwärts. Aber noch immer wollte es nicht regnen, der Donner wurde schwächer. Nur die Dunkelheit blieb. Superhirn sah die Gerippe der Tankerplattform mit den vielen Duckdalben. Und am Horizont einmal darüber, einmal darunter - stand die geisterhafte Erscheinung des großen Frachtschiffs, das da offenbar wartete. An einer ausgebaggerten Stelle, dem Ufer ziemlich nahe, lagen zwei kleinere Schiffe mit den Schornsteinzeichen VV im Schutze einer Betonmole: Das eine war ganz augenscheinlich ein sogenanntes „Frischwasserboot“, das andere ein Fabrik- und Transportschiff, wie Form und Aufbauten verrieten. Die „Essigschiffe“ hatten sicher das Recht, hier zu sein, vorausgesetzt, sie taten das, was sie zu tun vorgaben. Das fremde - weit draußen - war ein Zubringer: Der wartete wieder auf die tiefe Nacht. Seinen Schatten hatte Superhirn schon ziemlich nahe gesehen. Der Junge sah die Pipeline aus dem Schlick ins Land hineinragen, eine schwarze, pralle Schlange auf teils bleigrauem, teils schmutzig-braunem Untergrund. Und schon bemerkte er auch die Freunde. Keuchend stapfte er auf sie zu: „Seid ihr wahnsinnig.. .?“ Gérard, Prosper, Micha - sogar der sonst meist besonnenere Henri - klopften an der Pipeline herum, Micha hatte einen Hammer in der Hand, Prosper ei „Es sind zwei Pipelines in dieser großen verkündete Micha stolz. „Und es gluckert tüchtig!“ „Bei euch gluckert's auch!“ rief Superhirn. „Schnell, weg hier ...!“ „Halt!“ ertönte eine unangenehm klingende Stimme. „Ihr sollt das Gluckern noch etwas deutlicher hören!“ „Das meine ich auch!“ schloß sich eine zweite, ebenso unangenehme Stimme an. Superhirn hörte den Akzent. Er begriff: Das mußten die holländischen Brüder van Horn von der angeblichen Sportfirma in St. Trojan sein. So bestätigte Prosper auch gleich: „D-d-die Herren van Horn ...!“ Doch die Gefährten hatten es nicht nur mit den sauberen Brüdern, sondern mit zwei weiteren Männern zu tun. Diese Burschen führten zwar offensichtlich keine Waffen, dafür aber sehr ungemütliche Doggen mit sich, die sie an kurzen Leinen hielten. „Marsch!“ befahl der eine van Horn, von den Kumpanen „Edgar“ genannt. Die Freunde wurden in eine Pinasse gestoßen, und es dauerte keine zehn Minuten, als sie sich im Inneren des Fabrikschiffs wiederfanden. „Oh - oh - oh!“ hörte man es da drinnen ständig wimmern, „Oh - oh - oh!“ „Wenn Sie es nicht glauben“, dröhnte nun eine nur zu bekannte Stimme, „dann lassen Sie das Zeug doch noch mal auslaufen!“ „Guten Tag, Herzog von Alba!“ rief Superhirn höhnisch. „So also sehen wir uns wieder!“ „Alle Wetter!“ entfuhr es dem rothaarigen Mann im weißen Kittel. „Wo kommt ihr denn her? Ihr habt mir gerade noch gefehlt.“ „Beruht auf Gegenseitigkeit, Herr Professor!“ rief Gérard. „Sieh einer an! Der Herr Vizechef vom Brossacer Institut als Weißer Riese'! Hatte ich mir doch beinahe gedacht!“
„Vorwärts!“ befahl Edgar van Horn. „Morgen früh dürft ihr wieder an Land! Aber dann sind wir sowieso hier fertig! Inzwischen wird es euch freuen, uns ein wenig zu helfen. Wo ist das Mädchen?“ „Zu Hause“, log Henri. „Wir haben sie in die Bahn gesetzt. Ihr feiner Chef hat uns doch gefeuert[ Wissen Sie das nicht?“ „Ab zum Heck! Ihr schleppt Säcke zur Destillation!“ schrie der andere van Horn, der Bruder Lothar. „Keine Müdigkeit vorschützen!“ Die jungen tappten durch den abgeblendeten Fabrikraum im Schiffsinnern. Dort lief ein HitzeGenerator. Man sah viele Rohre, die in Kessel hinein und wieder aus ihnen herausführten, In Kontrollgläser tröpfelte rote, gelbe und braune Flüssigkeit. Alle Räume beherrschte das monotone Keuchen und Klicken von Pumpen. Am schlimmsten aber war der Anblick der Männer, die an den Schalthebeln und an den Sichtzylindern standen. Sie wirkten hoffnungslos - wie Sträflinge einer vergangenen Epoche, denen man nur vorübergehend die Ketten genommen hatte. ihre Haare waren weiß, ihre Bärte wie Watte, ihre traurigen Augen - rot! In der Ladeluke stand ein Monstrum von Mensch in mehlig-bestäubten Fetzen. Er hatte eine Glatze, und auch sein Gesicht war fahl. Aus rubinroten Augen blickte er den Gefährten entgegen: „Oh - oh - oh ... !“ „Schwarzbacke!“ schrie Micha. „Was hat man mit ihnen gemacht?“ „Still! Nehmt euch einen Sack und schleppt ihn nach vorn!“ tönte es den Freunden ausdruckslos entgegen. „Oh - oh - oh ... !“ „Der hat Prügel gekriegt“, wisperte Superhirn. Schwarzbacke schlurfte mit seiner Last an ihnen vorbei, und die Jungen blickten auf die Unmenge von Plastiksäcken im Bunker. Viele waren geplatzt und enthüllten ihren Inhalt: ein weißliches, gespenstisch glasiges Pulver. „Ist das Haschisch?* raunte Micha. „Nee“, flüsterte Superhirn. „Auf keinen Fall. Wenn das, was da liegt, und das, was die hier schon verflüssigt haben, alles Hasch wäre, käme die ganze thailändische Jahresernte zusammen!“ Er bückte sich und schleppte mit Prosper den ersten Sack zum Fülltrichter, an dem Schwarzbacke jetzt stand. Der Unglücksmann kippte den rnhalt in den Metallschlund. Zwei weitere „Weißmänner“ mit Säcken schlossen sich schweigend an. Danach kamen Gérard, Henri und Micha gekeucht. Micha zerrte eine halbvolle, beschädigte Pulvertüte hinter sich her. „Ekelhaft anzufassen, dieses komische Kartoffelmehl!“ knurrte Gérard. „Es riecht nach nichts!“ „Hopp, hopp! Arbeiten!“ brüllte Edgar van Horn. Er verschwand sofort wieder im Destillationsraum. Man hörte seine Kommandos: „Schieber A schließen! Schieber B auf!“ Das Pumpgeräusch änderte sich merklich. Als Schwarzbacke wieder am Fülltrichter stand, näherten sich Superhirn und Henri. Sie stellten sich so tolpatschig wie möglich an. Superhirn raunte Schwarzbacke zu: „Was für Pulver ist denn das? Und was wird damit gebraut ...?“ Zitternd erwiderte der glatzköpfige, seines Bartes beraubte Mann: „Das Pulver ist Abfall, Chemierückstand! Es wird unter Druck und Hitze mit Duftwasser zu Sirup verarbeitet: Konzentrate für falschen Cognac, falschen Rotwein und künstliche Limo! In anderen Ländern wird das Zeug dann eins zu zwanzig verdünnt!“ Drohend rief Edgar van Horn durch ein Schott: „Dich bei der Mückenbande anzuschmieren, nützt dir nichts mehr! Du hast nicht nur deinen Bart verwirkt, Alter! Du weißt ja, weshalb!“ „Frechheit - uns eine Mückenhande zu nennen!“ schnaufte Gérard. „Still!“ warnte Superhirn. Mit einer Reihe rotäugiger, teilnahmsloser Männer arbeiteten sie weiter. Erst nach einer halben Stunde fand Superhirn Gelegenheit, wieder ein paar Worte mit Schwarzbacke zu wechseln: „Werden alle Leute weiß, die öfter mit dem Pulver arbeiten?“ fragte er. Zu seinem Erstaunen antwortete Schwarzbacke:
„Nein! Das Pulver tut einem nichts. Auch nicht das gepanschte flüssige Zeug! Nur: bei der Verbindung mit Aromastoffen und Weinfarben sind hohe Temperaturen nötig. Dabei platzt schon mal ein Behälter. Wer die Dämpfe einatmet, wird weiß und kriegt rote Augen. Die Dämpfe sind's!“ „Du mußt es ja wissen!“ höhnte hinter ihnen Lothar van Horn. „Schön, schön, daß du deinen kleinen Freunden sagst, wie harmlos und gesund unsere Ware ist! Harmlos und gesund! Haha! Du hättest von den Dämpfen kaum je was abgekriegt, denn du warst ja nur einer von den Zutaten-Schiffern. Aber nein, was mußtest du tun? Erzähl es doch mal deinen Freunden.“ „Ich hab mir auf meinem Kahn ein Labor eingerichtet!“ jammerte Schwarzbacke, während Edgar van Horn breit grinste. „ja, ich hab mir immer mal ein paar Säcke abgezweigt - hier gab's ja genug! -, und ich dachte, ich könnt auf eigene Kappe ein paar Fäßchen Cognac, Rotwein oder Limo herstellen. Mit dem Pulver ließ sich ja manches machen. „Auch als Rasendünger und Frischhaltemittel verkaufte sich das ganz gut ...“ „Die Melonen! Der Birnbaum und die Hecke beim Rentner Ligny!“ raunte Henri. „Rasendünger und Frischhaltemittel!“ „Aber was ist dir passiert, du ehemaliger Schwarzbart?“ rief Edgar, dem das Lachen wieder vergangen war. „Du kamst in deinem Schiffslabor mit dem Katalysator nicht zurecht, ein Behälter platzte, und du warst drauf und dran, uns alle als wandelnden Weißmacher zu verraten!“ „Sein Schiff ist doch nicht durch solche Laborversuche hochgegangen?!“ bezweifelte Superhirn. „Danach“, sagte van Horn böse, „danach! Du wirst begreifen, daß wir da ein bißchen nachhalfen! Wir mußten ja einen Grund für Schwarzbackes Untertauchen haben. So, nun wißt ihr genug - arbeitet weiter!“ Die jungen waren bald so erschöpft, daß ihnen die Lust zu reden verging. Von den Männern wurden sie kaum beachtet. Trotzdem war an eine Flucht nicht zu denken. Endlich berichtete Henri: „Der Frachter ist da! Hört ihr das Quietschen? Es kommt von den Bordkränen! Die restlichen Säcke werden vom Frischwasserschiff der Essigfabrik übernommen!“ Schon ertönte der Befehl des jüngeren van Horn „Gib schön Pfötchen, Schwarzbacke, und komm! Du landest als letzter auf dem Frischwasserkahn! Dann geht's auf deine Traumreise. jede Menge Rotwein inbegriffen! Hahahaaa ...!“ Von vier Männern mußte der arme Kerl davongeschleift werden. Nach einer Weile hörte man eine gedämpfte Lautsprecherstimme: „Okay. Wir gehen ankerauf. Und ihr, ihr trödelt nicht! Es wird Zeit!“ 10. Die roten Augen des „Weißen Riesen“ Ein ekelhaftes Krachen erscholl. Superhirn und seine Freunde warfen sich auf den pulvrigen Boden, Durch die offene Luke sahen sie, wie der Himmel blendend hell wurde. Das natürliche Gewitter hatte sich spurlos verzogen, dafür setzte aber jetzt ein künstliches „Unwetter“ ein. Es begann mit dem Donner einer weit über Land und See schallenden Stimme: „Hier spricht die Polizei! Werft sofort Anker! Versucht weder zu fliehen, noch die Schiffe zu versenken! Übergebt die Apparaturen in heilem Zustand!“ Aus dem Schiffslabor kam als erstes Echo ein Verzweiflungsschrei: „Ich bin unschuldig ...!!“ „Der Herr Vizechef, Professor Franc Flohr!“ kicherte Gérard. „Unser Herzog von Alba!“ So schnell wie möglich kletterten die jungen an Deck. Es gab ja genügend eiserne Leitern. Superhirn hatte Kommissar Roses Stimme schon erkannt. Aber selbst war er verdutzt über den Anblick, der sich ihnen oben bot: Am Himmel pendelten Leuchtfallschirme. Vor den Klippen lauerte einsatzbereit eine Fregatte der Toulouse-Klasse. Ihre Scheinwerfer lagen auf dem plumpen Riesenfrachter. Mehrere Polizei- und Zollboote strahlten das Fabrikschiff an, sowie den auslaufbereiten Wassertanker, den RotweinTransporter, auf dem sich Schwarzbacke befand. „Kinder - und an Land erst!“ schrie Prosper. „Da ist Jahrmarkt!“
Das ganze Gelände war von Mannschaftswagen abgeriegelt, die samt und sonders ihre Scheinwerfer aufgeblendet hatten. Zollbeamte und Polizisten schoben Schlauchboote ins Wasser. Fünf Minuten später waren die drei Gangsterschiffe besetzt. Auch die Essigfabrik wurde gestürmt, wie man an den tanzenden Schatten und den schwankenden Lichtern sah. Lautsprecherbefehle dröhnten durch die Nacht. Drei Autos schwankten an der Pipeline entlang zum Ufer. Gleich darauf rief Micha freudig: „Da ist Tati mit Loulou!“ „Vor allem Kommissar Roses Team!“ brummte Gérard, auf die Gestalten im Bündel der Scheinwerfer weisend. Beamte setzten die jugendlichen über, die aber zunächst einmal die wilde Begrüßung des Pudels hinter sich bringen mußten. „Ein Segen, daß ihr Tati zurückließt!“ empfing sie Kommissar Rose. „Ich kenne die Vorgeschichte also genau! He, was ist, Vinloh?“ Der Leiter der Kripo von Groß-Brossac kam heran. Der Blick, den er auf die Jungen warf, war weniger freundlich: „Aktion geglückt!“ meldete er. „Von den Schiffen und aus der Fabrik entweicht keine Maus. Ich schicke ihnen die Rädelsführer, sobald sie aussortiert worden sind!“ „Worum ich gebeten haben möchte!“ grinste Rose. „Wenn wir unseren Weißen Riesen jetzt erwischen, verdanken wir das Superhirn! Vergessen Sie das nicht, Kollege Vinloh!“ Der Kommissar aus Paris wandte sich an den jungen: „Superhirn, das war einsame Klasse! Interpol registriert seit Monaten Weiß-Fälle, doch selbst die erfahrensten Laboranten fanden keinen Zusammenhang. Erst deine telefonischen Hinweise gaben mir den Schlüssel zur Lösung!“ „Dazu, daß hier aus Chemie-Müll und Duftstoffen ein Gelee gepanscht wird, das man ins Ausland verschuftet?“ fragte Henri. „Zum verdünnen und Verscherbeln in armen Ländern?“ „Ich sprach von Zusammenhängen“ sagte Rose. „Weiß-Fälle, hatten wir genug, konnten sie aber nicht unter einen Hut bringen. Einiges wußten wir schon: Die Sache mit den weißen Tulpen und den weißen Spatzenschwärmen war geklärt: Daran war die englische Chemikalie Sterolin schuld, die den Großstädten ein Mittel lieferte, um die Taubenplage einzudämmen. Spatzen, die diese fortpflanzungshemmende Chemikalie fraßen, reagierten darauf mit Totalentfärbung. Ebenso hatten sich ganze Tulpenfelder entfärbt, weil in Holland einige Fuhren Sterolin mit dem Mailänder Düngemittel Titanid untermischt worden waren, und zwar infolge einer Panne. Daraufhin zog die englische Firma ihren Sterolin-Müll sofort zurück, und das Mailänder Titanid wurde verboten. Das jedoch aus anderen Gründen, denn für die Weißfärbung war allein Sterolin verantwortlich.“ „Wenn schon Sterolin zurückgezogen wurde - wie konnten wir dann darin rumkriechen?“ ereiferte sich Prosper. „Und wie erklärten sich die Haar- und Hautveränderungen bei Touristen, möchtet ihr wissen? Das ist der springende Punkt! Wir haben herausbekommen, daß das nur eine bestimmte Sorte von Leuten traf: solche mit albinistischer Veranlagung, also sogenannte Schwachpigmentierte von Natur aus. Die Betroffenen konnten der Polizei nicht weiterhelfen, denn meistens hatten sie genau dasselbe gegessen und getrunken wie Nichtbetroffene, zweitens verloren sie das Interesse an einer Aufklärung, sobald ihre Haare und ihre Haut die natürliche Farbe zurückgewannen . . .“ Kommissar Rose unterbrach sich, denn eben wurden, in einem Pulk von Beamten, die gefesselten Brüder Edgar und Lothar van Horn ins Scheinwerferlicht gezerrt. „Die behaupten, ihr großer Boß säße in den USA“, meldete ein Polizist. „Nie!“ rief Superhirn. „Der Herzog von Alba ist mitten unter uns!“ „Du mußt es ja wissen, du Kleisterkopp!“ höhnte Edgar. „Abführen“, befahl Rose. Und während die Durchsuchung der Schiffe und der Essigfabrik ihren Fortgang nahm, sagte er: „Als Superhirn mir gestern per Telefon von weißen Melonen, weißen Hecken, Birnen, einem verfärbten Schiffer und dem erbleichten Pudel berichtete, wurde mir schlagartig klar: Hier treffen alle diese rätselhaften Erscheinungen, die - räumlich getrennt - bisher nur teilweise aufgeklärt werden konnten, örtlich aufeinander. Das ist die Chance! Noch in der Nacht
ließ ich die Chefchemiker der britischen Firma Sterolin aus den Betten holen. Sie hielten es für ausgeschlossen, daß ihr Chemieabfall an den Brossacer Fällen schuld sein könnte, da der weiße Müll mit gecharterten Frachtern ins Meer geschüttet werde. Das Salzwasser mache diesen Müll hundertprozentig schadlos für Fische und Plankton - und unsichtbar, sobald er mit der See nur in Berührung komme. Während ich noch mit den Sterolin-Leuten telefonierte, flog mir das erste Funkbild der Luftaufklärung von gestern abend auf den Schreibtisch: Ein Sterolin-Transporter unter liberianischer Flagge - mit dem Namen Golden Star.“ „Da hat also ein Gangster seine Hand auf die Müllfuhren gelegt und die Schiffe hierherdirigierte.“ begriff Henri. „Unser Herzog von Alba hatte erkannt, daß man aus dem weißen Dreck reines Gold machen konnte.“ „Ja“, grinste Superhirn. „Und da kam ihm dann Schwarzbacke mit eigenen Geschäften in die Quere. Er zweigte Sterolin-Säcke ab und machte allen möglichen Unfug mit dem Zeug: Frischhaltespray für Melonen, Rasendünger, Unkrautvertilger!“ „Und das ließ die Sache auffliegen“, nickte Rose. „Tati wies mich gleich bei meiner Ankunft auf den Rentner Ligny hin. Der gab zu, daß er nicht nur Schwarzbackes Wunderdünger, sondern auch das verbotene Mailänder Titanid verwendet hatte. Beides gemeinsam verursacht die Weißfärbung, wie wir schon wußten. Bereits in der Nacht hatten mir meine Mittelsmänner nicht nur Aktivitäten vor der Brossacer Küste gemeldet, sondern auch einen regen Lastwagenverkehr von der Essigfabrik aus - in Richtung Spanien. Viele dieser Mix-Transporte wurden noch vor Morgengrauen gestoppt, und einige Fahrer gestanden den Sterolin-Coup. Hier, an Ort und Stelle, befinden sich eingeflogene Chemiker von British Sterolin. Sie sind fest davon überzeugt, daß die gemeldeten Albino-Fälle unter Touristen durch das Zusammentreffen des verbotenen Titanids mit dem Sterolin-Gelee verursacht wurden.“ „Und die hiesigen Albino-Pannen bei Menschen beruhen auf dem Einatmen der Dämpfe“, erinnerte Superhirn. „Auch das wäre geklärt!“ „Aber warum ist Loulou weiß?“ rief Micha. „Das wird er uns nicht erzählen können“, sagte Tati. „Möglich, daß er auf Schwarzbackes Kahn was gefressen hat!“ „Hier haben wir den Vizechef vom Institut!“ ertönte Kommissar Vinlohs Stimme. „Er bestreitet, daß er der ,Weiße Riese' ist4 „Ich bin unschuldig!“ beteuerte Professor Flohr, der jetzt pulverbestäubt in seinem Sommeranzug von den Scheinwerfern erfaßt wurde. Zwei Polizisten geleiteten ihn. „Man hat mich auf einer Spazierfahrt von meinem Motorboot geholt - unter Zwang! Die Gauner hatten Probleme mit einem Katalysator!“ „Seien Sie froh, daß ich ihnen glaube“, versetzte Rose kalt. „Sie dagegen haben die Chance zu einer Klärung der Sache nicht ergriffen, sondern Superhirn und seine Freunde davongejagt.“ „Auch ich bin unschuldig“, jammerte die nächste Gestalt, die Rose vorgeführt wurde: Schwarzbacke, ohne Haar und Bart, über und über mit Pulver bedeckt. Seine roten Augen leuchteten schaurig im grellen Licht. „Daß Sie ein Dummkopf sind und nicht der Herzog von Alba, glaub ich ihnen unbesehen!“ sagte Kommissar Rose. „Seine Weißfärbung ist die Folge eines Geräteschadens“, erklärte Superhirn. „Alle werden vorübergehend Albinos, die einmal in konzentrierte Dämpfe geraten sind. Und ich wette: Der Obergangster, der „Weiße Riese“, der „Herzog von Alba“, hat auch rote Augen!“ „Aktion ist von uns aus beendet!“ meldete der Hafenkapitän von Brossac mit frischer Stimme. „Na, Kinder, da seid ihr ja! Ihr hättet mich aber früher holen sollen.“ „U-u-unser Freund P-p-paul Jordan!“ sagte Prosper eifrig zu Rose. „Nicht mehr unser Freund!“ meinte Superhirn. „Und sicher in zehn Sekunden kein Hafenkapitän mehr! Herr Kommissar, lassen Sie ihm die Augenhaftschalen abnehmen!“ Alle standen wie erstarrt - nur einer nicht: Paul Jordan nestelte mit einem Fluch an seiner Pistolentasche. Schnell ergriffen ihn zwei Polizisten. Rose richtete einen Handscheinwerfer auf ihn: „Augen auf!“
Strahlend blau und unschuldig standen die Augen in dem wutzerrissenen Gesicht des jungen Mannes. Doch im nächsten Moment glühten sie schaurig rot ... „Dachte ich mir's doch!“ sagte Superhirn, als habe er eben selbst noch an seinem Wissen gezweifelt. Rose hielt die Kontaktlinsen in der Hand: „Wie bist du denn darauf gekommen, Superhirn?“ fragte er verblüfft. „Gérard und ich sahen solche Dinger in seinem Büro“, berichtete Superhirn. „Recht unvorsichtig! Ich ließ Tati beim Optiker Berliner in Brossac-Centre anfragen, ob er ihr nicht auch so schöne ModeHaftschalen verkaufen könne, wie der Hafenkapitän für seine Freundin ausgewählt hatte, Herr Berliner bestritt nichts. Er sagte nur, er dürfe den Namen seines Kunden nicht verraten. Tati war übrigens auch in Schönheitssalons, wo man Haarfärbernittel kriegt!“ „Ja, aber ich brauche keinen Friseur, um zu sehen, daß seine Haare getönt sind!“ erklärte Tat!, auf den mit Handschellen gefesselten Paul Jordan weisend. Der entmachtete Herzog von Alba starrte Superhirn haßerfüllt an. „Seit wann bist du mir auf der Spur, du Spitznase?“ schrie er. „Seit Sie versehentlich die Erdprobe aus Lignys Garten verschwinden ließen“, sagte Superhirn. „Schade! Hafenkapitän ist ein schöner Job! Und für Ihren Freund Vergne wird nun auch alles Essig sein!“ „Wenn ich nur wieder schwarz sehen würde!“ seufzte Micha - womit er den Pudel meinte. Er beugte sich ratlos über das kleine Tier. „Keine Bange!“ meinte Rose. „Zum Glück verschwindet dieser Albinismus nach einigen Tagen wieder.“ „Na, denn wird ja auch Schwarzbackes Haarpracht bald wieder in allem Glanz erstrahlen“, grinste Superhirn.
ENDE
Superhirn Unheimliche Strahlen 1. Geisterpferde - ferngesteuert ... ? Tatjanas und Henris jüngerer Bruder Micha stapfte mit schreckverzerrtem Gesicht die Dünen empor. Oben, im Schatten der hohen Strandkiefern, saß Prosper mit seinem Zeichenblock. „Na?“ fragte Prosper. „Was ist? Hast du wieder mal ein Gespenst gesehen?“ „Ja!“ keuchte Micha. „Ich - ich ...“ Er atmete so heftig, daß er kaum sprechen konnte. „Das war das Schlimmste, das ich je - das ich je ...“ Prosper hatte kaum aufgeblickt. Er zeichnete ruhig weiter - ein Beweis dafür, daß er den jüngsten der sechsköpfigen Feriengruppe - mit dem schwarzen Zwergpudel Loulou waren es sogar sieben - nicht verstanden hatte. Prosper war nervös und hitzig, und im Falle eines „Alarms“ war er gewöhnlich der erste, der wie eine an Fäden gezogene Puppe herumhopste. „Sind denn die anderen noch nicht da?“ erkundigte sich Micha verzweifelt. Prospers Kohlestift zerbrach. Mechanisch griff er nach einem neuen und beäugte mit schiefem Kopf seine Skizze. „An die Hitze gewöhnst du dich wohl nie?“ fragte er zurück. Er gab sich ganz gelassen, so als wollte er Superhirn nachmachen. und er zählte dem japsenden Micha auf, was der natürlich genau wußte: Henri, Michas Bruder, sei mit Marcel - Superhirn beim Surfen in der Bucht von Ronce. Tatjana, genannt Tati, Michas Schwester, habe ja einen Tanzkurs in Brossac belegt, und der Pudel werde inzwischen geschoren und getrimmt. Und was Gérard, den Fußballfan beträfe ... Hier fand Micha die Sprache wieder. „Der springt heute in der Brossacer Mannschaft als Torhüter ein - im Spiel gegen Bonbourg“ rief er ärgerlich. „Ja, ja, ja, das ist klar! Und die Brossacer werden Fischsuppe aus ihm machen, falls die Bonbourger ihm ein paar Bälle zwischen die Latten knallen!“ „Genau!“ feixte Prosper schadenfroh. Es war ihm anzusehen, daß er dem stämmigen Freund eine kleine „Abreibung“ wünschte. „Aber was machen wir inzwischen mit den Geisterpferden?“ jammerte Micha. Er sackte neben Prosper zu Boden und hielt sich den Kopf, als hätte ihn ein Huf gestreift. Mit bebender Stimme wiederholte er: „... was machen wir mit den Geisterpferden?“ manchmal dauerte es doch ziemlich lange, bevor der sonst so hellhörige Prosper etwas begriff. Sein Kohlestift schrappte weiter über das Papier. Micha fragte, nur um die Ratlosigkeit zu verdrängen: „Soll das ein Bild sein?“ „Was denkst du denn?“ entgegnete Prosper beleidigt. „Eine Speisekarte? Seit wann ißt man fliegende Möwen im Gefieder?“ „Wirkt eher wie ein fliegendes Krokodil“, meinte Micha. „Also, das ist eine Frechheit!“ verwahrte sich Prosper, „Einen Eisbecher mit Himbeer und Schoko hättest du gleich erkannt, wette ich! Vorausgesetzt, ich würde mit Farbstiften malen! Ine Kohleskizze sagt dir überhaupt nichts! Typisch! Sehr typisch!“ Da er nun mal aus seinem „Kunstwerk“ herausgerissen war, zeterte er weiter auf den jüngsten ein. Plötzlich fiel bei ihm der Groschen. Er unterbrach sich und fragte hastig: „Geisterpferde? Sagtest du etwas von Geisterpferden?“ „Endlich!“ Micha atmete tief, Es klang wie ein Stoßseufzer. „Ich dachte schon, du hast deine Ohren verloren. Mir scheint, auch andere Leute hören nicht gut. Ich jedenfalls, ich habe deutlich gehört, wie der Schimmel zum Rappen gesagt hat: Das Traben am Strand ist herrlich! Das hat er
mit ganz tiefer Stimme gesprochen. Und das schwarze Pferd antwortete: Ja! Die Wellen rauschen so schön! Komisch - der Rappe sprach wie ein Mädchen, ganz hell!“ Prosper sprang auf und warf Skizzenblock und Kohlestifte von sich. Mit zuckendem Adamsapfel und gerecktem Hals ging er rückwärts, die Arme abwehrend gegen Micha ausgestreckt. „Du - du bist verrückt!“ stammelte er. „ja, wirklich! Es muß die Hitze sein! Du sprichst wirr! Nein, irr! Seit wann reden Gäule ...“ Micha war ebenfalls aufgesprungen. Er musterte Prosper mit kaum geringerem Entsetzen, „Du tust, als hättest du nicht ein einziges Abenteuer mitgemacht!“ rief er. „Wenn ich verrückt wäre, würde ich so 'n Pferdegespräch für normal halten, verstehst du? Du weißt doch, daß die Gegend hier mehr als unheimlich ist!“ „D-d-deshalb b-b-brauchen aber nicht gleich Pferde übers Wetter zu quatschen! Oder übers Wellenrauschen - oder, ach egal!“ verteidigte sich Prosper. Er fuchtelte aufgeregt mit den Armen. „Hörst du sonst noch Stimmen? ich meine: andere? Vielleicht waren deine Pferde nichts weiter als zwei Badegäste, die auf allen vieren nach Muscheln suchten: der eine schwarzhaarig, der andere blond! Reiß dich zusammen, Micha! Siehst du die Dinge noch, wie sie sind?“ „Du meinst wohl, ich hätte in einem gefüllten Weinfaß kopfgestanden?“ erboste sich der Jüngere. „Keine Bange! Ich sehe und hör dich zum Beispiel ausgezeichnet! Ich sehe auch deinen Zeichenblock mit dem fliegenden Krokodil, das eine Möwe darstellen soll! Und ich höre deine angstbibbernde Stimme! Sehr mutig benimmst du dich nicht!“ Brabbelnd hob Prosper den Block auf. Dann sammelte er die Stifte und tat sie in ein Etui: „W-w-wenn man um die Gesundheit seines Freundes besorgt ist, muß man nicht gleich feige sein! Ich sitze hier n-n-nichtsahnend, und da kommst du plötzlich angeschwankt wie nach einem Vipernbiß. jawohl, es fehlte dir nur noch der Schaum in den Mundwinkeln. Und erzählst was von sprechenden Pferden! Ist doch logisch.“ „Vorsicht!“ unterbrach Micha. Er drückte sich an einen Kiefernstamm, denn zwei Reiter kamen im Schalten der Bäume heran und strebten den Dünen zu. „Sehr unbedacht von uns, zwischen den Touristen herumzutraben!“ hörte man eine tiefe Stimme. „Ja“, erwiderte eine helle, melodische. „Machen wir, daß wir wieder ans Wasser kommen!“ Die Reiter auf ihren Pferden, einem Rappen und einem Schimmel, schossen nun im Galopp an den Jungen vorbei. Die Reiter ... ? Im Wechsel von Licht und Schatten zwischen den Bäumen hatte man voraussetzen müssen, daß auf den Pferden Reiter säßen; denn gerittene Pferde bewegen sich ganz anders, als sogenannte „ledigeR. Zudem blinkten geputzte Steigbügel; auch das metallverzierte Zaumzeug reflektierte die Sonnenstrahlen. Doch - die beiden Tiere waren zwar gesattelt, aber es saß niemand auf ihren Rücken! „Das - das waren sie ...“ schluckte Micha. „Sie sind im Bogen getrabt - und nun wollen sie wieder an den einsamen Teil des Strandes ...“ „W-w-wer ... ?“ fragte Prosper und schluckte wild. „W-w-wer ... ?“ „Na, die Pferde!“ rief Micha. „Begreifst du das noch immer nicht? Es waren dieselben, die ich da unten am Wasser sah ...!“ „Ich m-m-meine nur“, erklärte Prosper hitzig, „daß Pferde - w-w-wenn sie schon reden, nicht so albern quatschen würden! Sehr unbedacht von uns, zwischen den Touristen herumzutraben!' und so weiter! Wenn ich mich nicht irre, hat der Rappe zum Schimmel sogar: Jawohl, Madame gesagt!“ „Der Schimmel zum Rappen“, berichtigte Micha. „Der Schimmel war der mit der Tiefen Stimme. Der, der anfangs gesagt hat...“ „Mensch, du machst mich weich!“ schrie Prosper. „Es ist egal, wer die tiefe und wer die helle Stimme hat! Kapierst du nicht? Die Biester sind ferngesteuert ...!“ „Ferngesteuert ... ?“ staunte Micha.
„Klar! Denen hat man Chips in die Gehirne montiert und reitet sie jetzt von einer Versuchszentrale aus!“ Micha schwieg. Er und Prosper spähten über die Dünen zum Strand hinab. in gleichbleibender Folge rauschten die auslaufenden Wogen mit schäumenden Zungen auf den goldenen Sand. Weit draußen auf dem heute friedlichen Atlantik sah man die weißen und bunten Segel der Sportjachten. Links schränkte der Felsen von Pointe de Vernan die Sicht ein, und zwar in Richtung Bordeaux und Biarritz. Rechts war der Vorsprung von Cap Felmy, auf dessen Höhe der alte Leuchtturm, das Ferienquartier der jugendlichen, stand. Der Strand war sehr, sehr breit. Trotzdem tummelten sich dort nicht so viele Touristen und Badegäste, wie man hätte annehmen können. Der Grund lag darin, daß das Baden wegen des tödlichen Sogs hier verboten war. Nur die, die sich sonnen und Muscheln suchen wollten, Leute mit Kleinkindern meistens, bevorzugten diesen Abschnitt. im Wald, hinter den Dünen, war allerdings mehr los: Dort standen die modernen Mietbungalows, und an der ausgebauten Küstenstraße reihte sich Campingplatz an Campingplatz. Die beiden )iGeisterpferde“, der Schimmel und der Rappe, strebten der einsamsten Küstenstelle zu, einem Stück, das wegen der Entfernung zum Erfrischungskiosk fast unbelebt war. „Da, sieh mal - einige von den Sonnenbadenden stehen auf!“ bemerkte Micha. „Sie sehen den Pferden nach!“ „Das will nichts heißen“, meinte Prosper. „Pferde sind immer interessant. Es bedeutet längst nicht, daß man ihre Unterhaltung' gehört hat! Und wenn!? Die meisten Menschen glauben bei geisterhaften Erscheinungen an eine Täuschung. Sie würden eher glauben, es hätte in ihren Ohren geklingelt'!“ „Hallo, ihr da!“ ertönte es unversehens hinter den Jungen. Die beiden fuhren herum, als spräche im Wald ein drittes Pferd ... Wuff, wuff - waff, waff ..., fuhr der schwarze Zwergpudel Loulou auf sie los. Aus dem Schatten der Bäume trat Michas Schwester Tati. Pustend schob sie ihr Rad. Vergnügt rief das Mädchen: „Was steht ihr denn da wie die Salzsäulen? Ist euch das Geld für Eis und Limo ausgegangen? Dann komm ich ja als wandelnde Reisekasse gerade recht!“ „N-n-nein . ..“, stammelte Prosper. „Es ist nur - äh - wir hatten dich nicht so früh erwartet.“ „Nicht so früh!“ echote Micha. „Wir dachten, du wärst noch beim Tanzen. Wo ist Superhirn? Reitet er noch mit Henri in der Bucht?“ Tati lehnte ihr Rad an einen Baum. Sie nahm den grünen Sonnenschutz von der Stirn und starrte die beiden Jungen an: „Ich - noch beim Tanzen? Was meint ihr, wie spät es ist?! Und das Surfen kann man natürlich reiten' nennen! Wellenreiten! Wollt ihr jetzt noch wissen, ob Gérard Wasserball spielt? Dann sag ich euch gleich: Er ist auf dem Fußballplatz von Bonbourg! Was ist mit euch? Mir scheint, ihr habt ein schlechtes Gewissen! Raus mit der Sprache! Hat einer von euch was angestellt?“ „N-n-nein!“ beteuerte Prosper übereifrig. „Aber es haben zwei Pferde miteinander gequatscht, verstehst du? Und ich meine, die Gäule werden ferngesteuert! Da ist ein Versuch im Gange...“ „Ein Versuch ... ?“ Tati begriff blitzartig. „So, ich danke, wir holen Superhirn und Henri! Und sobald Gérard aus Bonbourg zurück ist, packen wir unsere Sachen und hauen ab! Diesmal hält mich nichts. ich bleibe eisern, verlaßt euch drauf! Und wenn wir die Nacht durchradeln müssen. Keinen Augenblick verbringe ich noch neben dieser elektronischen Hölle!“ Tati meinte das Wissenschaftliche Institut von Brossac. Sie ergriff ihr Rad, wendete es mit Schwung und fügte energisch hinzu: „Wenn wir erst wiehern, Mähnen und lange Hälse haben - und vier Hufe, brauchen wir unsere Fahrräder nicht mehr! Sprechende, ferngelenkte Pferde! Nein danke. Als so 'n Biest will ich mir nicht im Spiegel begegnen! Die Wissenschaftler schrecken vor nichts zurück - das wissen wir
doch. Aber da geh ich doch zu Hause lieber auf meinen eigenen zwei Menschenbeinen in einen Zirkus ...“ 2. Koteletts schweben in der Luft – und „Antennen“ sprießen aus der Erde! Im Quartier der Feriengruppe - dem umgebauten Leuchtturm von Cap Felmy - herrschte große Aufregung. Tatis und Michas großer Bruder Henri war mit Superhirn vom Surfen heimgekehrt. Nicht lange danach folgte Gérard mit strahlendem Rundgesicht: „0 zu 2 gewonnen!“ Doch das Lachen verging ihm, als Prosper rief: „F-f-freu dich nicht zu früh! D-d-dein 0 zu 2 nützt uns hier überhaupt nichts! 0-o-oder bist du schon mal gegen sprechende Pferde angetreten ...?“ „Neee“, brummte Gérard. „Wovon redest du? Sprechende Pferde??“ „Darüber reden wir unterwegs!“ fuhr Tati dazwischen. „Ich habe gesagt: Wir fahren ab - und wenn wir die Nacht hindurch radeln müssen! Dabei bleibt's! So, nun duscht euch noch mal und packt eure Sachen!“ „Was denn ... ?“ Der letzte Siegesschimmer schwand aus Gérards Miene. „Gerade erst durften wir wieder in den Leuchtturm einziehen - und schon willst du uns ausräuchern! Wir sind doch keine Küchenschaben!“ Der Leuchtturm, dessen Funktionen längst von vorgelagerten, elektronisch gesteuerten Signalbaken übernommen worden waren, diente dem Wissenschaftlichen Institut von Brossac als Gästehaus. Sein Inneres hatte man um- und ausgebaut und mit modernstem Komfort versehen. Da die Institutspraktikanten Urlaub hatten, durfte Superhirn mit den drei Geschwistern und Prosper und Gérard hier Ferien machen. Der spindeldürre, flachshaarige Marcel verdankte den Beinamen Superhirn seiner enormen Gescheitheit (die er allerdings für Außenstehende gern hinter seiner betont kauzigen Riesenbrille verbarg). Sein Vater, ein dem Institut verbundener Forscher von Weltrang, befand sich zur Zeit in Afrika. Aber der Junge hatte seine Fähigkeiten und Neigungen geerbt. Deshalb wurde er besonders vom Chef der Anstalt - Professor Romilly - nach Kräften gefördert. Leider nicht immer zur Freude einiger wissenschaftlicher Kollegen, die den spindeldürren Jungen und sein Team gelegentlich als „lästige Schnüffelnasen“ oder „Störenfriede“ empfanden. Superhirn tat die Aufregung um die „Geisterpferde“ als Unsinn ab. Was er aber nicht so einfach abtun konnte, war Tatis wilde Entschlossenheit, den Feriensitz fluchtartig zu verlassen. Nach dem Duschen stieg er mit Henri zu einer kurzen Beratung auf die Aussichtsplattform des Turms. Im Westen stand die untergehende Sonne wie eine goldene Kuppel über der endlosen, rötlich geäderten See. Im Norden sah man die Einfahrt zur Bucht mit den heimkehrenden Austernkuttern. Die Industriefarben ihrer Rümpfe ließen sie wie schwimmende Edelsteine erscheinen. Und an den endlosen, herrlichen Stränden tummelte sich noch das fröhliche Ferienvolk. „Und Tati will weg!“ ärgerte sich ihr Bruder Henri. „Sie hat sich angewöhnt, das Wissenschaftliche Institut für eine Hölle zu halten“, sagte Superhirn ruhig. Er spähte auf das Anstaltsgelände hinab. Die vielen, modernen Flachbauten, die Hangars, der Flugplatz, die Straßen und Grünflächen vermittelten eher den Eindruck einer Trabantenstadt als den der wichtigsten Außenstelle des Staatlichen Forschungsamtes. Nur Eingeweihte kannten die Fülle der Aufgaben, die dort auf dem Programm standen. Strahlen- und Wellenkunde gehörten dazu, und so konnte es nicht ausbleiben, daß manche Leute von „schrecklichen Experimenten“ munkelten. Es war also kein Wunder, daß Tati wegwollte. „Trotzdem, wir werden erst einmal in Ruhe essen“, erklärte Superhirn. „Deine Schwester ist schließlich alles andere als ein ängstliches Huhn. Ich werd ihr diese blöden Geisterpferde schon abzäumen'!“
Henri lachte. Zuversichtlich meinte er: „Na, das glaube ich auch!“ Doch als sie das Erdgeschoß betraten, in dem sich Küche und Eßraum befanden, schlug ihnen fast körperlich fühlbar so etwas wie „geballte Angst“ entgegen. Tati, Micha und Prosper standen wie die Salzsäulen. Gérard hockte dumpf glotzend auf einem Stuhl. Der Pudel hatte sich verkrochen. „Ma-ma-madame Dingdong ist da“, krächzte Prosper. Nun war Madame Dydon (von den Freunden scherzhaft immer „Dingdong“ genannt) eine herzensgute, tapfere, fleißige, überall geachtete Person. Sie arbeitete gelegentlich als Raumpflegerin im Institut, ebenso im benachbarten Schloß Rodincourt. Den alten Leuchtturm und seine Gäste betreute sie wie eine Herbergsmutter. Henri lugte rasch aus dem Fenster. Er sah das komische Dreirad-Motorvehikel mit der Ladefläche: das typische „Dingdong-Fahrzeug“, mit dem sie Putzzeug, Gemüse, Obst, Fleisch, Fisch, Krebse, Brot, Milch, frische Wäsche und Hundefutter brachte - also alles, was hier benötigt wurde. „Na und?“ Henri wandte sich erstaunt um. „Was macht ihr für Gesichter? ihr tut ja, als wär sie auch ein sprechendes Pferd!“ „Viel schlimmer!“ sagte Tati. „Die sprechenden Pferde können einem Sonnenstich entsprungen sein. Prosper und Micha haben manchmal mehr Phantasie als Verstand. Aber die Pfanne mit kalten Koteletts, die Madame Dingdong reinbrachte, schwebte vor ihr her durch die Luft ...!“ Superhirn schwieg. Henri fragte grinsend: „Durch die Luft? Hat die Pfanne auch vorschriftsmäßig zur Landung in der Küche angesetzt?“ Henri hatte einen Scherz machen wollen, doch zu seiner Verblüffung erwiderte Gérard ernst: „Hat sie! Eine Riesenpfanne mit langem Stiel! Es sind prima, prima kalte Koteletts. Normalerweise hätt ich meins schon vertilgt!“ „Was holt sie jetzt?“ erkundigte sich Superhirn nüchtern. „Einen Topf mit Fischsuppe, wie sie sagte“, erwiderte Tati im Verschwörerton. „Wir sollen uns die Suppe warm machen.“ Aus dem Vorraum ertönte die Stimme der guten Madame, etwas schrill, wie es schien, doch um Freundlichkeit bemüht: „Nimmt mir einer die Suppe ab? ich habe nicht viel Zeit heute!“ Superhirn schnellte wie eine Viper zur Tür. Als sei alles völlig normal, kehrte er mit dem Topf zurück. Er lüftete den Deckel, schnupperte und rief: „Aaaah, köstlich! Tati, gleich auf den Herd damit! Los, Kinder, deckt den Tisch! Suppenteller raus! Löffel! Wird's bald? So was kriegen wir in keinem Vier-Sterne-Hotel!“ „B,-b-bist du wahnsinnig?“ raunte Prosper. „Das Zeug auch noch essen, das ihr zehn Meter vor dem Ki-ki-kinn rumtanzte?“ „Übertreib nicht“, mahnte Superhirn. „A-a-aber ich hab aus dem Fenster geguckt ...“ begann Prosper wieder. „Hör lieber auf Superhirn!“ unterbrach ihn Henri scharf. „Wir sollen uns nichts anmerken lassen, ist das klar?“ „Aber ich pfeife auf das Abendessen!“ zischte Tati. „ich wollte weg, so oder so! Und jetzt erst recht!“ „Jetzt nicht! jetzt erst recht nicht!“„ sagte der Spindeldürre ebenso scharf. „Du meinst, es könnte unser Tod sein?“ erkundigte sich Micha atemlos. Superhirn machte eine Bewegung, als wolle er sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippen. Er unterließ es, denn draußen rief Madame Dydon: „Und hier noch - Weintrauben und Käse! Guten Appetit!“ Wieder „wetzte“ Superhirn hinaus, um ihr die Sachen abzunehmen. Die Gefährten im Eßraum hörten das Knattern des Motor-Dreirads.
„Sie fährt schon ab!“ meldete Gérard, der wieder einen Blick aus dem Turmfenster riskierte. „Sie fährt so schnell sie kann. Hm. Und so sicher wie immer!“ „Und wo bleibt Superhirn?“ fragte Tati nervös. Der Pudel winselte. Henri ging entschlossen in den Vorraum. Und dann hörte man seinen Schrei ... Selbst Tati und Micha hatten ihren sonst immer so ausgeglichenen Bruder niemals so schaurig schreien hören. Im Vorraum stand der Korb mit den Weintrauben. Daneben stand der blecherne Henkelkasten, der den Käse enthalten mochte. Doch von Superhirn – keine Spur! Gefolgt von Prosper und Gérard, rannten Tati und die Brüder ins Freie. Hustend vor Aufregung, zwängte sich Loulou an ihnen vorbei. „Mir war“, ächzte Henri, „als sähe ich nur noch einen Schatten. Einen Schatten - und dann nichts mehr! So als hätte Superhirn sich aufgelöst!“ Wenn es darauf ankam, erwies sich Henri stets als der Bedachtsamste und Zuverlässigste der Gruppe. Deshalb meinte Tati: „Diesmal spinnst du auch! Superhirn kann doch nicht einfach in Luft aufgehen! Wie stellst du dir das vor ... ?“ „Aber Pferde können sprechen!“ rief Micha bebend. „Aber da - was siehst du da hinten, am Rand der Wiese, auf dem Feldweg ... ?“ „Ei-ei-einen Schimmel und einen Rappen!“ schrie Prosper außer sich. „Nun heult gefälligst nicht immer gleich los wie die Alarmsirenen!“ schimpfte Tati. „Seit wann sind wir ein Klub von Schreitüten?“ „Wahrhaftig, das wär das Neueste ...“, murmelte Gérard. Tati kniff die Augen und fuhr fort: „Ich sehe zwei Pferde. Ein schwarzes und ein weißes. Aber ich kann sie beim besten Willen nicht hören! Oder hat eins von ihnen „Hallo, Micha“ gerufen? Und wenn! Was hätte das mit Superhirns Verschwinden zu tun?“ „Nun tut mal nicht so überlegen“, sagte Henri, dem es peinlich war, die Beherrschung verloren zu haben, „wer wollte eben noch von hier fliehen - du oder wir?“ >Superhirn hat bestimmt die reiterlosen Pferde bemerkt und Deckung genommen!“ vermutete Gérard. „He, Micha! Sind das denn dieselben Tiere, die du mit Prosper am Strand gesehen hast?“ „ja!“ erwiderten Micha und Prosper zugleich. Eifrig fügte Prosper hinzu: „Die sprechenden Pferde waren auch gezäumt und gesattelt! Sie hatten Steigbügel und Zügel und alles, was ein Reiter braucht.“ „Nur, daß niemand auf ihnen saß!“ vollendete Micha. „Das ist jetzt nicht wichtigk mahnte Tati. „Wichtig ist jetzt nur, wo Superhirn abgeblieben ist.“ Laut rief sie: „Suuu-per-hirn ...!“ „Suuu-per-hirn ...!“ echoten die anderen, und der Pudel bellte dazu. Plötzlich ertönte Superhirns Stimme hell und kalt von oben: „Was macht ihr denn da für ein Theater? Seid ihr in einen Wespenschwarm geraten?“ Der spindeldürre Junge stand auf der Plattform des Leuchtturms. Ärgerlich schwenkte er ein Fernglas: „Ich geb ja zu, es ist ja alles ein bißchen geisterhaft! Aber gerade deshalb muß man ruhig bleiben!“ Tatsächlich waren die fünf am Sockel des Turms jetzt still - sprachlos vor Verblüffung! Endlich stemmte Tati die Hände in die Hüften und rief mit gerecktem Hals, den Kopf in den Nacken gelegt: „Na, du bist gut! Ein bißchen geisterhaft, sagst du? Am geisterhaftesten war dein Verschwinden! Hast du nichts von unserer Aufregung mitgekriegt? Henri meinte schon, du wärst geplatzt!“
„Wir suchen dich hier draußen - und du beguckst dir stumm und träumerisch den Sonnenuntergang!“ schimpfte Henri. „Hättest du uns nicht einen Wink geben können, daß du nach oben wolltest?“ „Mensch, Henri!“ grinste Gérard. „Wo hast du deine Augen gehabt? Und deine Ohren? Du mußt doch gemerkt haben, daß da jemand die Treppe hochgelaufen ist!“ Er grinste immer breiter: „Heute sehen wir allesamt immer nur Gespenster!“ Doch da stand Superhirn schon neben ihnen. Er hatte Gérards letzten Satz noch gehört. Ernst sagte er: „Wenn du das spöttisch meinst, hast du dich geirrt, mein Lieber! Die Pferde da ...“ Er wies zum Feldweg hinüber: „Die Pferde sind tatsächlich Gespenster! Das heißt, mit ihnen ist was nicht in Ordnung! Ich sah den Rappen und den Schimmel, als die Dingdong gerade abfuhr. Da bin ich hochgesaust, hab mein Fernglas vom Bord geschnappt und die Biester aufs Korn genommen.“ „Und?“ fragte Gérard, dessen Miene sich wieder verdüsterte. „Die Pferde benahmen sich nicht wie reiterlose Gäule!“ betonte Superhirn. „Die Zügel schwebten hinter den Mähnen der Tiere diagonal ins Nichts, aber so, als hielte sie einer, der auf ihnen säße! Desgleichen baumelten die Steigbügel nicht schlapp - sie hingen an gestrafften Riemen, und nicht etwa mit den Öffnungen seitwärts. Gangart und Kopfhaltung des Rappen und des Schimmels wiesen auf geübte Reithilfen hin!“ „ich freß einen Fußball mit Tomatensoße!“ staunte Gérard. „Stimmt. Wenn du das so sagst, fällt mir ein, daß ich's auch bemerkt habe! Die Biester trabten wie beritten, aber auf den Sätteln saßen Herr und Frau Niemand!“ „Herr und Frau...“ japste Prosper. Er richtete sich auf und spähte zum Feldweg. „Die Geisterpferde, die wir sahen, sprachen nämlich mit männlicher und weiblicher Stimme. Der Rappe als Mann, der Schimmel als Frauk „umgekehrt“, verbesserte Micha, „genau umgekehrt! Der Rappe hatte eine helle Frauenstimme. Eine Mädchenstimme, glaube ich, war's. Und das weiße Pferd sprach tief und rollend - wie so ein Baß in der Oper.“ „Also, jetzt ...“, begann Tati wieder gereizt, „jetzt wird's mir zu dumm! Darf ich euch daran erinnern, daß wir abfahren wollten?“ „Du wolltest fahren!“ berichtigte Superhirn. Er setzte das Fernglas an die bebrillten Augen. „Die Geisterpferde sind offenbar im Schloßpark von Rodincourt verschwunden. Hm...“ Er hüllte sich in Schweigen, während es den anderen unter den Schuhsohlen kribbelte. Auch dem Pudel war nicht wohl. Er lief immerzu schniefend um die Gruppe herum. „D-d-die Geisterpferde könnten sich gut in dem Schloßpark verstecken“, überlegte Prosper. „A-a-aber was mir siedendheiß eingefallen ist: Superhirn hat recht - ich wollte es vorhin schon sagen. Diese - diese Gespenster ...“ Er schnaufte. „Ich könnt's beschwören, daß ich Reitgerten mitschweben sah, und zwar neben und oberhalb der Sättel!“ „Aber was hat das mit Madame Dingdong zu tun?“ fragte Tati unwillig. „Erst die sprechenden Pferde, dann die Geisterreiter in leeren Sätteln - und inzwischen eine sonst völlig normale Putzfrau, der eine Pfanne mit Koteletts voranschwebt!“ „... schwebt ... !“ hakte Superhirn ein. „Das ist das entscheidende Wort. Merkt ihr was?“ Henri schlug sich mit der Hand vor die Stirn: „Klar! Prosper faselt von schwebenden Reitgerten, und wir - wir wollen bei Madame Dingdong die ,schwebenden Koteletts gesehen haben!“ „Wir wollen nicht, wir sahen wirklich!“ stellte Tati richtig. Plötzlich war sie genauso gelassen wie Superhirn: „Und wenn wir nicht faseln, dann faselt auch Prosper nicht!“ Alle schwiegen, und in dieses Schweigen hinein tönte das Aufjaulen des Pudels. Auf dem weiten Wiesengelände zwischen Schloß Rodincourt zur Linken und dem Forschungsinstitut rechts von Cap Felmy begannen plötzlich seltsame Stengel zu sprießen. Es war wie in einem botanischen Lehrfilm im Zeitraffertempo. jeder hat das schon auf dem Bildschirm gesehen. Zunächst verrät die Erde den eingesäten Samen noch nicht. Doch dann
beginnt er zu keimen, zu sprießen. über der Oberfläche zeigt sich die Spitze eines Pflänzchens. Der winzige Kopf ragt nur wenig hervor, es ist, als müsse er sich an die Luft gewöhnen - oder als traue er dem Frieden über dem Erdboden noch nicht. Dann aber wird er keck und streckt sich rasch und immer rascher: bis die ausgewachsene Pflanze - zentimeter- oder meterhoch selbstbewußt in der Gegend steht. Dieses Wunder vollzog sich jetzt in Sekundenschnelle hundertfach und über eine weite Fläche hinweg vor den Augen der Freunde. Nur, daß es sich hier weder über einen Pflanzenversuch noch um einen filmischen Beschleunigungstrick handelte. Außerdem waren die Stengel nicht grün, bräunlich oder sonstwie naturfarben, sondern metallischsilbrig. Und sie trugen weder Blätter noch Blüten. Loulou vollführte die tollsten Kapriolen, als wisse er nicht, ob er zwischen den weitverstreuten unheimlichen, dünnen, blinkenden Stahlstangen umherhopsen - oder ob er sich in den Turm retten sollte. Er entschied sich, noch einmal furchtbar aufheulend, für die Flucht ins Innere. Die Geschwister und Prosper und Gérard blickten auf Superhirn. obwohl der Widerschein der schwindenden Sonne den Himmel in allen nur denkbaren Rotschattierungen erschimmern ließ, wirkte das Gesicht des spindeldürren Jungen käsigblaß. Es war, als sei er eben selber wie einer dieser starren Stengel aus dem Boden gewachsen. „Das“, sagte Henri bestürzt, „das sind Sperren! Sensoren! Lichtschranken! Oder Mini-Kameras auf Drähten! Man beobachtet uns! Vielleicht hört man uns sogar ab!“ „W-w-wir laufen zur Straße ...!“ ächzte Prosper. „Ja“, hauchte Tati. „Die Gegend ist mit Todesantennen gespickt! Seht nur! wo ist der Pudel? Micha, nimm ihn - und dann: Nichts wie weg!“ Da sagte Superhirn entschieden: „Halt! Das wäre das Letzte! Wir wären wahnsinnig, zwischen diesen Dingern hindurchzulaufen! Möglicherweise ist es eine Warnung, nicht zu fliehen - oder man will unsere Flucht sogar verhindern!“ „Du meinst“, bibberte Micha, „die - die Teufelsdrähte werden vom Institut gesteuert?“ „Von wo aus sonst“, höhnte Gérard. „Aus der Konditorei in Brossac-Centre vielleicht?“ „Marsch, alle zurück in den Turm!“ befahl Superhirn. Doch das hätte er früher sagen sollen. Was jetzt geschah, wäre keinem von ihnen auch nur im Traum eingefallen. Tati riß ihr Stirnband ab, zerzauste sich die Haare und begann mit schrillem Gelächter zu tanzen. „Ich bin der schwarze Schwan!“ rief sie, und sie machte Spagat am Blumenbeet, breitete die Arme wie Flügel aus, warf den Kopf zurück, drehte sich singend auf den Fußspitzen und trippelte wie irrsinnig im Kreise. Und da jaulte auch schon Gérard auf. In Bocksprüngen jagte er um das Beet herum und verkündete mit brüllender Begeisterung: „Ich bin das Tor des Monats - wumm, wumm!“ Er bäumte sich auf, als finge er einen Ball: „Das Tor des Monats! Habt ihr gesehen?“ Henri fuchtelte in der Luft herum. Er schrie: „Kinder, sooo ein großer Fisch an der Angel! Faßt mal mit zu! Den schaff ich nicht - den schaff ich nicht ...!“ Micha lief auf den Händen und kicherte: „Komische Füße hab ich! Komische Füße!“ Prosper hatte sich zu Boden geworfen. Er kratzte mit den Fingern im Kies: „Das muß ich zeichnen!“ jubelte er. „Tolles Motiv! Ganz irre Spitze ...!“ Und Superhirn bog sich vor Lachen: „Wo ist meine Brille? Wo ist meine Brille ...? Nein, ist das komisch - die Brille saust mir um den Kopf herum, ich kann sie nicht fassen, hahahahaaa ...“ Schließlich hielten sie allesamt inne, sahen einander an und hielten sich die Bäuche, während ihnen die Lachtränen über die Wangen liefen. „Nein“, prustete Gérard. „So lustige Ferien hab ich noch nie erlebt!“ „Ich auch nicht! - Ich auch nicht!“ verkündeten die anderen mit unbändigem Gelächter. „So ...“, keuchte Superhirn. „Nun ist's gut. Hahahaaa!“ Er rückte seine Brille zurecht. „Ich muß was essen! Nach so einem Tag hat man einen bärigen Hunger.“
„Hunger!“ echoten die anderen. Tati rief freudig: „Na, worauf warten wir? Es ist ja alles da! Madame Dingeldongeldingdingdong hat uns doch köstliche Suppe und saftige Koteletts gebracht!“ Wie übermütige Schulkinder stürmten sie ins Innere des Turms. Plötzlich hob Superhirn den Kopf, als müsse er sich an etwas erinnern: „Du, Henri! Waren da nicht - diese Antennen ...?“ Henri lugte aus dem Fenster: „Jaaa - aber sie sind weg! Man hat sie wieder eingezogen!“ Der Pudel kam ängstlich winselnd unter dem Eßtisch hervorgekrochen. Er sprang an Tati hoch und auf einmal war es grabesstill im Raum. „Haben wir uns nicht eben über irgendwas gefreut?“ fragte das Mädchen unsicher. Micha zog die Stirn kraus: „Scheint so. Aber ich weiß nicht mehr ...“ „Tati hat getanzt“, meinte sich Gérard zu erinnern. „Das war irre komisch - oder etwa nicht?“ „Wir haben gelacht, weil wir alle auf einmal Hunger hatten und nach Essen schrien!“ behauptete Prosper. „Ich hab tatsächlich einen Mordshunger!“ „Komisch, ja - ich auch!“ rief Henri. Es stellte sich heraus: Das, was eben geschehen war, konnte sich keiner der Gefährten zusammenreimen. Aber Hunger hatten sie alle - Bärenhunger, Mordshunger... Superhirn klatschte in die Hände: „Tati, Prosper - ran an den Herd! Wir anderen decken den Tisch! Lassen wir's uns wohl sein! Essen steigert die Gemütlichkeit! Und wo man Hunger spürt, herrscht keine Gefahr...“ Darin aber sollte sich der kluge junge gründlich getäuscht haben ... 3. Beratung am Feuer - doch was kreischt da draußen? Als hätte es keinen einzigen unerklärlichen Vorfall an diesem Tage gegeben, kein Heulen und Zähneklappern - und nicht mal den Anflug eines Gedankens an Abreise (oder gar Flucht), saßen die Gefährten schmausend und schmatzend am Tisch. Auch Loulou zeigte sich wieder putzmunter. Prosper vertilgte das fünfte Käsebrot. „Möcht wissen“, mampfte er mit vollen Backen, „wo ich den tollen Hunger her habe! Irgendwann - vorhin - war mir speiübel! Ich dachte, ich würde tagelang keinen Bissen runterkriegen!“ Eben griff Tati nach den Weintrauben. Doch sie zog ihre Hand zurück und blickte auf: „Ja, komisch! Und mir war zumute, als flatterten meine eigenen Nerven wie Mücken um mich rum! Jetzt ist mir so wohl wie - wie nach einem duftigen Schaumbad! Henri, der sonst gar nicht so gerne Suppe ißt, hat Madame Dingdongs Kochkünste bei jedem Löffel gelobt. und Micha atmete sein Kotelett regelrecht ein!“ „Also, was mich betrifft“, erklärte Gérard satt und breit, „ich bin rundum zufrieden! Ein herrlicher Tag! Der Sieg heute, ha: Brossac gegen Bonbourg! Absolute Spitze für mich in diesen Ferien! Übermorgen radle ich zum Kiosk und hole mir die Zeitung. Wetten, daß ich lobend erwähnt werde?“ „Übermorgen...?“, wiederholte Superhirn nachdenklich. Dann grinste er plötzlich: „Sagt mal bin ich nicht wie ein Kasper meiner eigenen Nase nachgelaufen?“ „Deiner Brille!“ lachte Micha. „Wir waren ja alle ganz überdreht vor Albernheit. Ferienstimmung!“ Superhirn stand auf und ging in den Vorraum. Man hörte ihn die schwere Eingangstür des Leuchtturms öffnen und sorgfältig wieder schließen. Ein dumpfes Geräusch verriet, daß er den Balken als Sperre vorschob. Als er zurückkam, sagte er:
„Es ist stockdunkel draußen - und ungewöhnlich kühl nach dem heißen Tag. Der Wind hat gedreht. Wir hätten sonst noch ein bißchen auf dem Vorsprung sitzen können. Ich schlage vor, wir heizen hier drinnen den Kamin ein, und Tati macht noch eine Kanne Kakao!“ Dafür waren alle zu haben. Beim Umbau des Leuchtturms hatte man einen Durchbruch geschaffen und eine gemauerte Nische angefügt. Darin befand sich der Wandkamin mit einer Klappluke für den Holzvorrat. Als Sitzbänke dienten abgeflachte und zurechtgesägte Teile von Baumstämmen. Auch der grobe, tiefe Tisch bestand aus zusammengeleimten Baumstücken, Bald flackerte das Feuer gemütlich, und die Gefährten, ihre Becher in Händen, saßen zwischen den tanzenden Schatten. „Seltsam“, sagte da Superhirn zu Tati gewandt, und blickte sie unergründlich an. Die Gläser seiner Brille funkelten im Feuerschein. „Wer hatte noch vor einigen Stunden vor, den Turm und das Forschungsgelände fluchtartig zu verlassen?“ „Ach, das war doch nur so eine Idee ...“, versuchte Tati ihre Absicht herunterzuspielen. „Reden wir nicht mehr davon! Kinder, wir waren doch sooo vergnügt, es ist prima hier! Ich hab keine Lust, mir die Stimmung künstlich zu vermiesen.“ „Unsere Fröhlichkeit war künstlich!“ verbesserte Superhirn. „Tut mir leid, aber wir dürfen schaurige Ereignisse nicht nachträglich in Zuckerwatte hüllen. Prosper und Micha haben vor Entsetzen geschlottert, als sie sprechenden Pferden begegnet waren. Einige von uns haben dann darauf geschworen, daß die Pfanne mit den Koteletts unserer guten Frau Dingdong vor ihr her geschwebt sei. Und dann - wuchsen auf einmal vor unserem Turm diese Antennen aus dem Boden. Ich nehme eher an, es waren Strahler. Und ausgerechnet in dem Augenblick, als wir innerlich auf höchste Gefahrenstufe schalteten und vor Entsetzen wie angeleimt standen, befiel uns die närrische Fröhlichkeit.“ Superhirn starrte ins Feuer. Nach einer Weile verbesserte er sich: „Ich wollte sagen: diese idiotische Fröhlichkeit!“ Henri pflichtete ihm bei: „Mir ist, als hätte ich eine Mattscheibe gehabt. Nein, mehr noch: so 'ne Art Bildsalat vor Augen. Und dann hab ich mich unbändig über irgendwas gefreut!“ „Also hätten wir doch wegfahren sollen!“ rief Tati. „Gleich nach der Geschichte mit den Geisterpferden! Eigentlich müßten wir durch Schaden klug geworden sein. Dieses Institut bringt uns nichts als Abenteuer!“ „Was in der Natur der Sache liegt“, sagte Henri ruhig. „Bisher ist aber noch kein Abenteuer direkt vom Institut ausgegangen. Das mußt du gerechterweise bedenken!“ „Ich bedenke nur, daß wir dafür jetzt in allergrößter Gefahr stecken, und zwar bis zum Hals!“ konterte seine Schwester; „W-w-wenn's nur bis zum Hals wäre!“ stammelte Prosper, dem die Erlebnisse ebenfalls wieder eingefallen waren. „Die silbernen Stengel sind Sperren gewesen. Ferngesteuert, klar! Und an den Pferden war auch etwas, das mit Frau Dingdongs Verhalten übereinstimmte! Hat Superhirn das nicht längst raus? Im Institut will man nicht, daß wir fliehen! Wir haben etwas gesehen, wir sind wieder einmal Mitwisser'!“ Er sprach immer schneller: „Ich hab's! Gangster halten die Forschungslabors besetzt! Sie machen da irgendwelche mörderischen Versuche! Natürlich - Gangster ...!“ Er sprang auf, und sein Schatten wölbte sich über die weißen Wände: „Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Gangster ...!“ „Und wir könnten jetzt so schön in einer weit entfernten Herberge liegen“, stöhnte Tati. „Meinst du?“ fragte Superhirn scharf. „Du hast wohl vergessen, wie anstrengend der Tag war!? Dein Tanzkurs, Gérards Fußballmatch, unser Surfen ... Und Prosper und Micha sind auch von früh bis spät durch die Gegend gequirlt. Mal abgesehen von allen anderen. Etwas hau uns vorhin aufgeputscht und wach gemacht. Aber zum Abstrampeln waren wir viel zu müde gewesen! Falls uns Gangster festhalten wollen: Die hätten uns ein paar Kilometer hinter Brossac eingekriegt und in einem Kastenwagen wieder hierher verschuftet!“
„Verschuftet ist das richtige Wort“, meinte Henri. „Das leuchtet mir ein. Du glaubst also auch an Gangster?“ „Ich glaube, daß wir hier noch immer am sichersten sind“, wich der Spindeldürre aus. „Vorausgesetzt, wir lassen uns nichts anmerken!“ „Aber wir haben Telefon!“ rief Micha. „Warum sprechen wir nicht gleich mit dem Forschungsinstitut?“ „Ja - mit den Chef! Professor Romilly ist unser Freund!“ sagte Gérard hoffnungsvoll. „Wieso haben wir das nicht längst getan?“ „Wann denn?“ fragte Henri in besonnenem Ton. „Wann hätten wir Zeit dazu gehabt? Etwa, als wir wie die Affen um das Beet sprangen? Und jetzt? Wenn es stimmt, daß Gangster den Laden besetzt haben, kriegen wir Romilly als letzten an den Apparat!“ Das Wort „Gangster“ stand stumm im Raum. Alle schwiegen, selbst der Pudel war mäuschenstill. Nur das Feuer im Kamin wisperte und prasselte leise vor sich hin. Superhirn lehnte jetzt am Sims, Er wirkte wie ein grotesker Doppelschatten. „Es müssen Zusammenhänge bestehen ...“, murmelte er. „Zusammenhänge ...“ „Ich bin dafür, wir rufen das Pariser Präsidium an“, sagte Tati. „Kripo-Kommissar Rose kennt uns, der ist immer für uns da!“ Superhirn schüttelte den Kopf. „Wir können nicht bei jeder Gelegenheit nach Kommissar Rose schreien wie die Babys nach der Flasche. Außerdem klingt die ganze Sache zu märchenhaft. Sprechende Pferde, geritten von Herrn und Frau Niemand, schwebende Bratpfannen, unser Affentheater am Beet, der Wald der Silberstangen auf der Wiese ... Nein: ich brauche einen handfesten, logischen Verdacht!“ „Dann ist's womöglich zu spät!“ gab Henri zu bedenken. „Es kann ja noch mehr hinzukommen!“ „Daran dachte ich längst“, entgegnete Superhirn. „Aber weißt du, was mir einfach nicht in den Kopf will? Daß man die Geisterpferde und die verwandelte Madame Dingdong frei herumlaufen läßt! Die Strände, Campingplätze, Orte und Straßen sind noch immer voll von Urlaubern!“ „Ach, wo viele Leute sind, achtet kaum einer auf den anderen“, rief Micha. „Das haben wir ja erlebt, Prosper und ich. Wir waren zwar an 'ner einsamen Stelle, aber es lagerten genügend Menschen da, Keiner ist aufgesprungen und hat mit dem Finger auf die Gäule gezeigt!“ „Hm ...“ Superhirn rieb sich das Kinn. „Sicher. Micha hat recht. Wo viele Leute sind ...“ Er kam nicht weiter, denn Prosper, der sich wieder hingesetzt hatte, kippte hintenüber. Da die Sitzbank keine Lehne hatte, stützte er sich mit den Händen am Boden ab. in dieser seltsamen Lage starrte er zur Decke. „W-w-was ...„, schluckte er, „was war das ... ?“ „Nichts!“ behauptete Gérard unwillig. Doch er belog sich selbst. Loulou gab einen Schreckenslaut von sich, wie ihn keiner der Gefährten je von ihm gehört hatte, Michas Augen wurden groß, „Hat den Hund jemand getreten?“ wunderte sich Tati. „Nein. Aber es scheint ein Sturm aufzukommen, ein Orkan“, meinte Henri. „Der Wind heult um den Leuchtturm.“ Ruckhaft legte Superhirn den Kopf schräg. Zweifelnd und in merkwürdigem Ton fragte er: „Der Wind ...? Mir schien es eher, als klatschte jemand mit Lappen an die Fenster!“ „Ja!“ hauchte Micha. „Und in der Luit lacht einer kreischend!“ „Deine Pferde!“, rief Gérard „Deine Pferde wiehern! Aber nicht in der Luft, sondern in deinem Kopf, Ich will ins Bett! Ich glaube, die Hitze hat uns verrückt gemacht - und im Kakao war Schnaps!“ Wütend stand er auf, doch dann blieb er wie angewurzelt stehen. Wohl waren die mauern des alten Leuchtturms dick. Aber der Anbau bestand aus neuestem Material, und im Eßraum wie auch im Treppenschacht, im Zwischen- und im Obergeschoß, hatte man die Fenster entweder nicht ganz geschlossen oder überhaupt offengelassen. So hörten
die Freunde jetzt ein lauter und lauter werdendes Knattern und Klatschen. Dazu aber - und das war das grauenhafteste - ein sich steigerndes Kreischen, ein gellendes, schneidendes Kichern, als hätten sich Gestalten aus der Sagenwelt das Cap Felmy zum Hexentanzplatz erkoren. Und der Pudel heulte dazu Wuiii-huiii ... Tati riß ihn an sich. Das Toben um den allen Leuchtturm herum nahm eher noch zu. Superhirn löste sich vom Kamin: „Zum Telefon!“ entschied er. „Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig!“ „Nein!“ sagte Henri hart. „Das da draußen - ist ein Angriff. Und dieser Angriff - gilt uns ...!“ 4. Tobsüchtige Möwen - und eine tote Leitung „Fenster schließen!“ schrie Prosper. „Alle Fenster!“ Da er aber den ungesicherten Öffnungen nicht zu nahe kommen wollte, rannte er mit dem Schürhaken im Erdgeschoß herum. Niemand traute sich auf die Treppe. Superhirn hatte den Telefonhörer am Ohr. Eng an ihn gepreßt standen Tati und Micha. „Meldet sich der Professor nicht?“ fragte Tati. „Und wenn du nun einen Gangster an die Strippe kriegst?!“ überlegte der Bruder besorgt. „Dann hab ich ins Schlangennest gegriffen“, erwiderte der spindeldürre Junge. Sein Gesicht hellte sich auf: „Hallo, Professor Romilly! Hier Superhirn. Sagen Sie bitte: Hat uns eine Fieberkrankheit erwischt, so daß wir phantasieren - oder geht da draußen etwas - hm Sonderbares vor? Wir sahen vorhin Antennen aus dem Boden wachsen, und seit ein paar Minuten ist rund um den Turm die Hölle los . . .“ Er brach ab. Den Freunden schien es, als verwandelten sich seine scharfen Brillengläser in zwei Mattscheiben. Er lauschte angestrengt. „Was ist?“ drängte Henri. „Hattest du den Chef nicht am Apparat?“ Superhirn räusperte sich: „Er ist noch immer dran“, flüsterte er. „Jedenfalls höre ich ihn.“ Prosper kam mit dem Schürhaken näher: „D-d-du hörst ihn? Was soll das heißen? Spricht er nicht mit dir?“ Langsam, fast schlafwandlerisch, legte Superhirn den Hörer auf. Und dann sagte er: „Rätselhaft ... ich war mit dem Chefzimmer im Forschungsinstitut verbunden. Wir haben ja eine Direktleitung ...“ „Und? – Und? - Und?“ riefen die anderen. „Professor Romilly war sofort am Apparat. Er muß also noch am Schreibtisch gesessen haben. Er meldete sich aber - nicht mal wie ein müder, sondern vielmehr wie ein kranker Mann. Ihr habt ja alle mitgekriegt, was ich ihn fragte.“ „Du hast gesagt: Hier ist die Hölle los!'„, erinnerte Tati. „Was erwiderte er darauf?“ „Nichts als: ja, jaaa'!“ erklärte Superhirn. „Er nahm meine Meldung entgegen wie das Angebot eines lästigen Vertreters, wie eine Hausfrau, die gleich abwimmeln wird: Danke, kein Bedarf?“ „D-d-das hat ihn a-a-also nicht vom Stuhl gerissen?“ schluckte Prosper. „Nein. Eben nicht!“ sagte Superhirn, „Aber es kommt noch schöner! Während ich auf Romillys Antwort wartete“, fuhr er fort, „summte ein anderes Telefon auf seinem Schreibtisch. ich hörte, wie er einen zweiten Hörer abnahm und sich meldete. Mich vergaß er, und so bekam ich das Gespräch halbwegs mit. Er redete scheinbar wirres Zeug: Tja, wenn Sie das so genau wissen, besteht ja noch Hoffnung. ich frage mich nur, was Ihnen diese Sicherheit gibt. Ich persönlich halte alles für verloren. Nicht nur das Wissenschaftliche Institut von Brossac, sondern alles, einfach alles!“ „Alles ... ?“ wiederholte Henri gedehnt. „Und du hast keine Ahnung, wer der Anruf er war - und worauf sich Romilly bezog?“ „Nein“, entgegnete Superhirn dumpf. „Nur eins weiß ich klipp und klar: Der Professor glaubt sich am Ende.“
„Ja - w-w-wieso glaubt sich der Professor am Ende?“ rief Prosper. „Und w-w-was hält er für verloren? Mit wem sprach er überhaupt?“ „Ich sagte schon, ich weiß es nicht. ich weiß weder das eine noch das andere“, antwortete Superhirn. „ich ziehe nur meine Schlüsse. Romilly erwähnte eine Pistole. Das ist meine letzte Zuflucht', drohte er.“ „Pistole?“ wiederholte Tati. „Er will sich erschießen ...?“ In diesem Augenblick schrie Micha: „Autsch! Wer schlägt mich da mit einem Lappen?“ Er hielt sich die linke Wange und drehte sich im Kreise. „Seid ihr verrückt, jetzt zu albern?“ fragte Henri. Er blickte erst Gérard, dann Prosper an. Doch Prosper ging ganz rasch in die Hocke und bedeckte seinen Kopf mit beiden Händen: „Mich hat was Spitzes getroffen ...!“ jammerte er. Alle begriffen: Diesmal spielte keiner Theater. Es narrte sie keine Täuschung, und sie machten einander nichts vor. Der Pudel bellte wie wahnsinnig. Er raste umher und sprang dauernd in die Höhe, als wollte er etwas erhaschen. Tati öffnete die Tür zum Vorraum. Dabei krümmte sie sich. „Mir ist ein Blätterzweig über die Haare gerauscht . . A, behauptete sie. „Er raschelt die Treppe hoch ... !“ „Ich will auf die Plattform - mal sehen, was los ist4 sagte Gérard grimmig. Er stapfte entschlossen los. „Kommt jemand mit?“ „Klar!“ rief das Mädchen. „Wenn einer geht, gehen alle!“ Die jungen und sie holten ihre Stablampen aus den verschiedenen Stockwerken des Turms. Dann strebten sie durch das alte Signalgehäuse auf das mauergeschützte Flachdach empor, Der Sturm - wenn es einer war! - hatte nicht nachgelassen. Aber das schrille Gekreisch klang entfernter. „Kein Licht machen!“ befahl Superhirn. „Die Lampen bleiben ausgeschaltet, verstanden?“ Henri blickte durch die stockfinstere Nacht auf das Gelände des Forschungsinstituts hinunter. „Kinder, kommt mal her!“ rief er mit gedämpfter Stimme. „Nirgendwo ein Licht! Die Läden der Labors sind geschlossen, die Straßen unbeleuchtet. Die Hangars, der Flugplatz - alles liegt im Dunkeln!“ „Nur die Warnlampen für Flugzeuge brennen noch“, stellte Superhirn fest. „Die Hochspannungsmaste sind noch - wie immer - rot befeuert.“ Er beugte sich vor und blickte über den Rand: „Auch die Turmlichter hat man nicht ausgeschaltet.“ Prosper knipste seinen Stabscheinwerfer an und bestrahlte die Wiese zwischen Schloß Rodincourt und dem Institut. „Keiner von den Silberschnorcheln mehr zu sehen!“ meldete er. „Und über der Zufahrt, durch die Madame Dingdong abgetuckelt ist, hat sich die Schranke automatisch geschlossen.“ „Brossac-Centre und der Austernhafen von Brossac-Baie hüllen sich aber in festlichen Glanz!“ versuchte Henri zu scherzen. „Die Hotels an der See gleichen Aquarien mit Innenbeleuchtung.“ „Sieht alles nicht nach Großalarm aus“, meinte Tati. „Ich sagte ja: Das Geisterzentrum ist das Institut!“ Micha kam mit dem Pudel von der anderen Seite des Turms: „Was da so kreischt, sind keine Hexen!“ berichtete er atemlos. „Nur Möwen, ganz gewöhnliche Möwen. Kinder, haben wir uns blamiert!“ Bevor Superhirn einen Gedanken fassen konnte, sausten die fünf mit aufgeblendeten Stablampen zur Buchtseite. Aber dann schien der Himmel über dem Turm einzustürzen. Es war, als rissen die Wolken, von Giganten gepackt, wie Bettlaken, unsichtbare Fäuste schlugen den Freunden Fetzen auf die Köpfe und um die Ohren. Tausendfaches Geschrei erschütterte die Nerven bis zum Wahnsinn. Gleichzeitig hackte die entfesselte Nacht mit hagelnden Spitzen auf sie ein. Es knatterte um das alte Gemäuer, peitschte und knackte. Und der Luftzug kam stoßweise, bald surrend, bald fächelnd, bald kreuzweise, bald quer. Mit Wucht prallten elastische Geschosse gegen die Körper der Freunde. Wer sich hinwarf, fühlte sich von Dämonen attackiert. ihre
Schmerzensschreie vermischten sich mit höhnischem Gekreisch und Gelächter über den Gefährten und dem Pudel. „Licht aus!!“ brüllte Superhirn mit völlig fremder Stimme. „Stablampen aus! Schützt eure Augen[ Die Augen . . .! Sie haben's auf eure Augen abgesehen!“ „Wer denn? Was denn??“ schrie Tati. „Da greift mich dauernd etwas an, das ich nicht sehe.. .!“ „Mich auch - ich auch nicht. . .!“ hörten sie Micha irgendwo zetern. „Pfui Teufel, Vogelmist!“ Loulou war durch die Einstiegsluke ins Innere des Turms geflüchtet. Mit dem Instinkt des Vierbeiners war er dem Verstand der Zweibeiner überlegen. Prosper wälzte sich auf dem Steinboden und wimmerte: „Hi-hi-hilfe, Hilfeee ...!“ „Du hilfst dir selber am besten, wenn du endlich die Taschenlampe ausmachst!“ rief Superhirn. „Micha hat recht: Es sind Möwen, unsichtbare Möwen! Warum man sie nicht sieht, weiß ich nicht! Aber die Biester müssen uns sehen, vor allem zieht das Licht sie an! Rein in den Turm! Schnell! Die Viecher sind tobsüchtig!“ „Tollwütig?“ verstand Prosper. Mit zitternden Knien standen die Gefährten im Lampengehäuse des alten Leuchtturms. Henri hatte sich vergewissert, daß ihnen keines der unsichtbaren Monster gefolgt war. „So“, sagte er aufatmend. „Die Tür ist zu!“ „Superhirn! Wie erklärst du dir das?“ fragte Tati schaudernd. „Tollwütig, wie Prosper meint, sind die Vögel nicht. Nur äußerst gereizt“, begann der Spindeldürre. „Gereizt? Das ist aber freundlich ausgedrückt!“ grollte Gérard. „Um sie zu beruhigen, laden wir sie morgen zum Kaffee ein, ja?“ „Q-q-quatsch nicht!“ fuhr ihn Prosper an. „Ich w-w-will wissen, warum sich Möwen unsichtbar machen können, w-w-weshalb sie sich auf uns gestürzt haben und wieso wir unsere Augen zuhalten sollten!“ „Ich sagte schon, daß ich die Unsichtbarkeit oder die Durchsichtigkeit der Möwen auch nicht begreife“, erklärte Superhirn. „Aber wahrscheinlich sind sie deshalb so rasend, weil sie sich untereinander nicht sehen können. Möwen haben einen messerscharfen und flinken Blick, aber nun erkennen sie alles andere - nur ihresgleichen nicht. Das Licht unserer Stablampen zog sie an, als sie sich gerade entfernt hatten, In ihrer Wut stürzten sie sich auf uns ... „ Er unterbrach sich und fragte hastig: „Ist jemand von euch ernsthaft verletzt? Ich Esel, daß ich erst jetzt daran denke ... !“ „Nein. - Ich nicht. - ich auch nicht!“ kam es beruhigend von seinen Gefährten. „Kommt jetzt runter in den Eßraum“, sagte Tati. Sie nahm den zitternden Pudel auf den Arm. „Mir reicht allein schon der Möwendreck!“ Im hellen Schein der Deckenbeleuchtung musterten sie sich gegenseitig. Nach dem furchtbaren Erlebnis waren sie doppelt und dreifach erleichtert. Die Folge war ein krampfhaftes Grienen und Kichern, das sich zu wildem Gelächter steigerte. Selbst Tati und Superhirn wurden davon angesteckt. „Wir sehen alle wie Vogelmenschen aus!“. krähte Micha. „Wir haben Federn im Haar! Und den Dreck! Iiih ...!“ „Iiih!“ äffte ihn Gérard nach. „Du siehst eher wie'n Buddelkastenindianer aus, den man vom Marterpfahl losgebunden hat!“ Mißtrauisch fuchtelte er mit beiden Armen durch die Luft: „Ist auch keins der Biester mehr hier drinnen?“ „Ach ja“, erinnerte sich Henri. „Da war doch eins, das Micha für einen fliegenden Lappen hielt!“ „Und d-d-das mich am Kopf getroffen hat!“ stotterte Prosper. „Ja - der Blätterzweig, der meine Haare streifte!“ schloß sich Tati an. „Nein, das Scheusal ist bestimmt weg! Ich hatte ja die Tür geöffnet. Da ist's nach oben entwischt. Es ist mit uns durch die Luke geflutscht!“
„Hat jemand eine Hackwunde?“ forschte Superhirn. „ich - am Unterarme, erwiderte Henri. „Ist nicht weiter schlimm. Aber Gérard hat mich so getreten, daß ich meinen Daumen in Gips legen muß!“ „Nun halt mal die Luft an!“ empörte sich der Rundkopf. „Ich hab ein paar Flügelschläge abgekriegt - wie Backpfeifen!“ „Sieht sehr gesund aus!“ foppte ihn Micha. Gleich darauf klagte er: „Mein Knie tut mir weh!“ „Das kommt vom Hinschmeißen(i, beruhigte ihn die Schwester, als sie das Bein abgetastet hatte. „Und was ist mit dir?“ wandte sich Superhirn an Prosper, Prosper hielt ihm den Kopf hin, und Superhirn befühlte ihn vorsichtig: „Eine Wunde ist es nicht. Glück gehabt. Nur 'ne Beule!“ „Ein paar Beulen und blaue Flecke haben wir wohl alle.“ meinte Tati. Sie schob mit den Brüdern und Prosper und Gérard ab; es drängte die fünf danach, den Möwenschmutz abzuduschen und die Kleidung zu wechseln. Verstört folgte ihnen der Pudel. Superhirn blieb allein zurück. Er hatte dringendere Sorgen. Während er im Kamin herumstocherte und Holz nachlegte, war er mit seinen Gedanken ganz woanders. Ab und zu trat er zurück, hob den Kopf und lauschte. Er lockerte sich, seufzte erleichtert und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann blickte er auf die Armbanduhr. Erst eine Stunde vor Mitternacht! Er ging noch einmal ans Telefon. Der Institutschef, Professor Romilly, meldete sich nicht mehr. 5. Gefangen im Turm - doch dann - der Rausschmiß! Am Morgen herrschte prächtiges Sommerwetter. Friedlich strebten die bunten Fischerboote auf den Atlantik hinaus. Die Strände südlich von Brossac füllten sich wieder mit Menschen. In den Hecken und Bäumen zwitscherten die Vögel. Falter flatterten im Zickzack über die Wiese vor dem alten Leuchtturm. Fern schwebten ganze Schwärme von Möwen um das Fahrgastschiff „Eiffel“ herum, um ein paar Keks- oder Brotbrocken zu erhaschen. Der Feriengruppe auf Cap Felmy erschienen die grausigen Erlebnisse des vergangenen Tages und der Nacht wie ein böser Traum. Tati und die jungen saßen bei Kakao, Yoghurt und Spiegeleiern mit Speck am Tisch. Aufmerksam hockte Loulou an Michas Seite - in der Hoffnung auf einen Wurstzipfel. „Na, Superhirn“, fragte das Mädchen, „wofür hast du dich entschieden? Was machen wir?“ Henri, Gérard, Prosper und Micha setzten ihre Kakaobecher ab oder hörten auf zu kauen. Gespannt starrten sie den Spindeldürren an. Doch was der erwiderte, hätte keiner erwartet. Superhirn sagte nämlich: „Wir reiten!“ „Reiten ...?“ rief Tati. „Worauf denn? Auf unseren Stahlrössern?“ spottete Gérard. Henri runzelte schweigend die Stirn. Micha kicherte, als hätte Superhirn einen dummen Witz gemacht. Und Prosper kam sich mächtig schlau vor mit seiner Frage: „Reiten? Auf K-k-kamelen ...?“ „Überlegt mal“, erwiderte Superhirn ruhig. „Was läge wohl näher, als uns Mietpferde zu suchen und auf ihnen - hm - zum Beispiel am Strand entlangzureiten?“ „Verstehe“, nickte Henri. „Längst kapiert! Du rechnest damit, daß wir Prospers und Michas Geisterpferden begegnen?“ „Meinst du, die Mietgäule würden die Gespenstermähren oder ihre unsichtbaren Reiter ausfragen können?“ feixte Gérard. Superhirn ließ sich nicht beirren. „Flügel haben wir nicht“, konterte er. „Also können wir uns nicht unter die Möwen mischen. Aber das Reiten wäre keine Zauberei.“
„Spitze!“ Tatis Augen blitzten. „Einen Ausritt hätte ich nach dem scheußlichen Möwenkrieg nötig!“ Sie sprang auf und drehte sich freudig im Kreis. Plötzlich blieb sie stehen: „Aber was ist mit dem Institutsleiter? Superhirn, hast du Professor Romilly heute schon gesprochen?“ „Ja! Und wie wollen wir überhaupt von hier weg!“ rief Prosper. „An Land versperren uns die Todesdrähte jede Flucht! Seewärts kann man sich nur über hohe Felsen stürzen!“ „Wir sind Gefangene!“ schluckte Micha, „Die - die unsichtbaren Möwen bewachen uns! ich wette, wir kommen keinen Schritt weit!“ „Halt, halt, halt!“ beschwichtigte Henri. „An die Metallstangen und die wildgewordenen Möwen wird Superhirn genauso gedacht haben wie an die Geisterpferde! Hört ihn doch erst einmal an!“ „Also, schön der Reihe nach!“ erklärte der spindeldürre Junge gelassen. „Krieg ich noch einen Becher Kakao? Danke! Mit Professor Romilly habe ich heute morgen noch nicht telefoniert. In der Nacht war er nicht mehr zu erreichen. Aber wenn etwas passiert wäre, ich meine, falls er sich was angetan hätte, wäre das inzwischen bemerkt worden.“ „Einleuchtend“, sagte Gérard. „Aber kommen wir doch mal auf die Gangster-Theorie zurück: Wenn uns nun doch jemand hier festhalten will, weil wir etwas Unerklärliches bemerkt haben?“ „Glaub mir“, erwiderte Superhirn. „Ich hab mir den Kopf genügend darüber zerbrochen. Und ich meine jetzt: In diesem Fall hätte man einen der Gauner unter einem Vorwand zu uns geschickt. Der hätte uns womöglich den Buckel vollgelogen, weshalb wir nicht ins Freie gehen sollten.“ Eine Viertelstunde später strampelte die Fahrradkolonne über den Zufahrtsweg zur Straße. Von den sonderbaren, silbrigen Stäben war nicht eine einzige Spitze mehr zu sehen. Tati hatte den Pudel im Körbchen vor sich an der Lenkstange. Er schnupperte begierig die frische Luft ein und war sichtlich munter - ein Zeichen mehr, daß keine Gefahr drohte. „Mensch, Prosper, guck auf den Weg!“ schimpfte Gérard. Der nervöse Freund hatte die Nase fortwährend in den Wiesen oder im Himmelsblau, „Du drehst den Kopf wie ein Mixquirl!“ „W-w-wenn's hier unsichtbare Pferde und Möwen gibt“, verteidigte sich Prosper, „dann g-ggibt's bestimmt auch unsichtbare Fallstricke!“ „Und die würdest du sehen, nicht?“ lachte Henri. Als sie an der getarnten Videokamera vorbeifuhren, öffnete sich die Schranke, Superhirn atmete auf: „Die Wache im Forschungsinstitut spurt wie immer“, sagte er. „Demnach sitzt da nach wie vor einer, der uns kennt!“ Ohne jede Behinderung erreichten sie die Küstenstraße. Neuerdings war das lnstitut weithin durch Sperr- und Warnschilder abgeschirmt. „Unbefugte“ durften nicht passieren, so daß der geringe Verkehr um das Gelände herum nichts Verdächtiges signalisierte. In Brossac-Centre aßen die Gefährten Eis. Aufmerksam, aber so unauffällig wie möglich, spähten sie umher. „Sieht nicht so aus, als hätten die Leute was Schreckliches erlebt“, erkannte Tati. „Sie kaufen sich Postkarten und Andenken und hocken faul in den Cafés“, stellte Gérard fest. „Von denen hat keiner schlecht geschlafen - es sei denn, er hätte sich überfressen!“ „Das mußt ausgerechnet du sagen!“ Henri grinste. „Achtung!“ rief Micha alarmiert. „Da kommt Frau Dingdong auf ihrem Dreirad!“ Das komische Vehikel mit der guten Madame knatterte über den Marktplatz. Nicht so sehr an der Fahrerin war ein Erkennen möglich als am Fahrzeug. Madame Dydon trug nämlich ein weites Regencape mit Kapuze - und dazu eine dunkel getönte Sonnenbrille, Auf der Ladepritsche lag ein zusammengerollter grüner Plastikschlauch. Wohl für ihren Garten. Außerdem beförderte sie zwei Säcke. „Guckt mal - die Handschuhe!“ sagte Tati. „D-d-dicke Gummidinger“, wunderte sich Prosper. „Solche, wie sie die Fischer tragen. Dazu noch hellrote!“
Micha nahm Loulou schnell an die Leine. „Nicht so hinstarren! Sie will nicht erkannt werden!“ mahnte Superhirn. Ohne den Kopf zur Seite zu wenden, ratterte Madame Dingdong an den Gefährten vorbei. Nun sahen sie ihr mit gereckten Hälsen nach. Prosper stotterte: „W-w-was hat sie denn nun schon wieder? Trägt Fischerhandschuhe und 'n Regencape mit Kapuze. Dazu so was Ähnliches wie eine Taucherbrille! Dabei sieht man kein Wölkchen am Himmel!“ „Die will doch nicht als Wassertrampler zur Insel Oléron!“ brummte Gérard. Das sollte ein Scherz sein. Doch niemand lachte, allen war der Aufzug ihrer bewährten und beliebten Madame Dingdong unheimlich. „Kein Einheimischer und kein Tourist wird etwas dabei finden“, meinte Superhirn ruhig. „Sie könnte ja in die Fischmarkthalle fahren. Da braucht sie Handschuhe und so 'ne Art Kittel, um ihr Kleid zu schonen. Und die Brille? Na, es kann ihr ja was ins Auge geflogen sein!“ Tati musterte den Freund von der Seite. „Das sagt noch lange nicht, daß mit ihr sonst alles in Ordnung ist. Hast du den rechten Handschuh gesehen?“ „Klar“, erwiderte Superhirn unbewegt. „Ich weiß, was du meinst ...“ „Was war denn mit dem Handschuh!“ unterbrach Micha neugierig. Alle steckten die Köpfe zusammen, als Superhirn seine Beobachtung mitteilte: „Der rechte Handschuh war leer ... !“ sagte er leise. „Den hat sie an den Lenker gebunden, damit man nicht sieht, daß ihr die rechte Hand fehlt. Und weshalb sie die dunkle Brille trug? Nun, ich denke mir, jedermann verzeiht es eher, nicht erkannt zu werden, wenn er eine Sonnenbrille aufhat!“ „Versteh ich nicht ...„, hauchte Micha entsetzt. „Aber ich!“ erklärte Henri ernst. „Sie wollte nicht anhalten und sich etwa in der prallen Helligkeit in Gespräche einlassen!“ „Sie wollte schon gestern nicht angegafft werden!“ erinnerte sich Tati. „Deshalb sauste sie wie wild davon! Sie hat etwas zu verbergen!“ dm Gegenteil ...“, murmelte Superhirn. Aber die anderen wußten: Wenn der Spindeldürre in Rätseln sprach, war nichts Weiteres aus ihm herauszukriegen. So schwiegen sie. „Auf zum nächsten Pferdehof!“ rief er ablenkend. Der Mietstall hinter der Küstenstraße von La Palmyre war von gewaltigen, langen Lebensbaumhecken eingefaßt. Zur ständigen Freude aller Ferienkinder nannte er sich: „Paradies der wiehernden Schimmel“, obwohl der einzige, wirklich weiße Vierbeiner - ein Hund war. Sonst gab es nur Graue, die allenfalls ein sehr gutwilliger Pferdenarr für weiß halten konnte. Auch Rappen waren in der Minderheit. Die meisten Pferde waren braun. „Hallo, Gérard!“ rief ein junger Bursche, als die Freunde von den Rädern sprangen. „Seit wann interessieren dich Reiterhöfe? Aber immer hereinspaziert! Auch deine Freunde sind willkommen! Schließlich hast du uns in Bonbourg einen tollen Sieg verschafft!“ Es stellte sich heraus, daß der junge Mann - er hieß Philippe Berger - der oberste Vorsitzende sämtlicher Sportklubs von Brossac-Centre und BrossacBaie war, Er organisierte nicht nur Reitveranstaltungen und Bootsrennen, er war auch zuständig für Fußball, Rugby, Boxen und was in der Gegend eine ganz große Rolle spielte - für Radsport. „Hier sind wir richtig!“ strahlte Tati, Leider konnte aber selbst Philippe Berger, obwohl Juniorchef des Reiterhofs, nur drei große Pferde und ein Pony für die Freunde freistellen. „Macht nichts“, sagte Superhirn. Er nahm Tati und Henri zur Seite: „Ihr werdet mit Prosper und Micha ausreiten, denn die beiden haben ja die sprechenden Pferde gesehen und gehört. Laßt euch die einsame Stelle am Strand zeigen - und auch das Waldstück! Wenn ihr den Gespenstergäulen begegnet, darf man euch um Himmels willen nichts anmerken1 Aber haltet die Augen trotzdem auf und späht wie die Luchse! Falls euch was Verdächtiges über den Weg läuft, schießt ihr ein paar Fotos. Aber nicht so auffällig, verstanden?“ „Klar!“ sagte Henri. Tati nickte ernst.
„Gérard und ich rufen inzwischen eure Eltern an“, fuhr Superhirn fort. „Sie dürfen sich nicht ängstigen, und ich will vermeiden, daß sie mit dem Institut telefonieren ...“ Die Geschwister und Prosper trabten los. Micha saß auf einem frechen, lebhaften Pony, und der Pudel hopste freudig hinterher. „Hoffentlich reiten die nicht in eine Falle.“ meinte Gérard düster. „Prosper merkt Gefahr immer erst dann, wenn er Kopfstand in einem Fangeisen macht!“ „Täusch dich nicht!“ murmelte Superhirn. „Außerdem sind Tati und Henri dabei ...„ Gérard und Prosper hatten durch Gespräche mit dem jungen Berger bald heraus, daß die Geisterpferde nicht vom Hof der „wiehernden Schimmel“ stammen konnten. Alle Tiere des Unternehmens waren am Vortage nur von Kindern und auf den umzäunten Weiden geritten worden. Überdies gab es so stattliche Pferde hier nicht, wie sie Superhirn am Park von Rodincourt mit dem Fernglas beobachtet hatte. Superhirn führte die versprochenen Telefonate. Gérard hockte inzwischen unter einem Baum und knabberte Kartoffelchips. „Die hab ich von Philippe“, sagte er kauend, als Superhirn aus dem Bauernhaus kam. Er hielt ihm die enorme Tüte hin: „Hier, bedien dich! Ist alles okay?“ „Soweit - ja!“ erwiderte der Spindeldürre. Er setzte sich neben Gérard. „Ich hab deine Mutter auch gleich verständigt. Sie meinte, es wäre auch ein Wunder gewesen, wenn du Faultier selber angerufen hättest. Aber sie hat gelacht.“ „Na prima“, grunzte Gérard ungerührt. „Nimm noch 'ne Handvoll! Die Chips sind ganz frisch.“ „Danke“, sagte Superhirn. „Ich bin noch bei den Telefonaten. Eben sprach ich übrigens mit dem Chef des Forschungsinstituts.“ Gérard hörte auf zu kauen. „Und ...?“ fragte er in völlig verändertem Ton. Superhirn rieb sich das Kinn: „Tjaaa - Professor Romilly hat sich wie ein Irrer gefreut, als ich mich meldete. Er konnte sich überhaupt nicht mehr einkriegen vor Begeisterung!“ „Waaas ... ?“ fragte Gérard. Er war so verblüfft, daß er die Tüte mit den Chips fallen ließ. Und das wollte etwas heißen. „Nun sag nur noch, er hat uns zum Abendessen ins Strandhotel eingeladen!“ „Irn Gegenteil“, erwiderte Superhirn. „Ausgeladen hat er uns! Er hat mir da am Telefon ein Freudentheater vorgespielt, daß sich der Hörer bog, Er bat aber gleichzeitig, daß wir uns für zwei Nächte hier im Ferienhof einquartieren sollten, weil ein Forschungsteam das Turmgelände botanisieren und die Klippen von Cap Felmy nach Regensäure untersuchen will!“ „Regensäure?“, wiederholte Gérard verständnislos. „Richtig ausgedrückt: nach saurem Regen“, erklärte Superhirn. „Nach den Auswirkungen etwa chernieverseuchten Niederschlags auf Gestein!“ „Wieso denn ausgerechnet jetzt?“ rief Gérard. „Es hat doch gar nicht geregnet!“ „Eben“, bestätigte Superhirn. „Dieser alberne Vorwand macht mir furchtbare Sorgen. Romilly gebraucht Ausreden, die selbst Micha nicht einfallen würden. Seine Absicht ist aber ganz klar: Er will uns eine Weile vom Cap Felmy fernhalten! Ich sagte, wir brauchten doch aber unser Gepäck, wenigstens ein Teil davon, um auswärts zu übernachten!“ „Hat er das etwa auch nicht kapiert?“ fragte Gérard. „Nicht kapieren wollen oder nicht kapieren dürfen“, sagte Superhirn. „Er überging das Problem einfach: Der Pferdehof hat ja alles! sagte er. Da fehlt euch nichts! Für zwei Nächte läßt sich das einrichten' - und weiter in dieser Art. Er würde auch alles bezahlen ...“ „Aber in unsere Turmquartiere dürfen wir fürs erste nicht?“ forschte Gérard mißtrauisch. Superhirn sah den Freund lange an. „Auf keinen Fall! sagte mir Professor Romilly. Und das klang - drohend!“ 6.
Im Wald des Grauens steht kein Clubhaus, sondern eine Ruine Superhirn und Gérard beschlossen, den anderen die böse Neuigkeit so schonend wie möglich beizubringen . . . Nachmittags kamen Tati, ihre Brüder und Prosper mit Loulou vom Ausflug zurück. „War das schön!“ schwärmte das Mädchen. „Ich hab ein Traumpferd erwischt! Ehrlich: Meine Fuchsstute war Spitzenklasse!“ „Ich denke, du willst Tänzerin werden?“ feixte Gérard. „Das eine schließt das andere nicht aus“, grinste Superhirn. „Vielleicht geht Tati zum Zirkus!? Da kann sie im Galopp auf dem Sattel tanzen!“ „Ihr Frösche habt gut reden!“ konterte Henri lachend. „Schaukelt hier in Hängematten zwischen den Bäumen und schwitzt vor lauter Nichtstun!“ Die Reiter hatten ihre Pferde in den Stall gebracht und versorgt. jetzt saßen sie, Kartoffelchips knabbernd, wie vorhin Gérard, bei den Hängematten auf Holzkloben. Sie plapperten eifrig über die Vorzüge der Mietpferde und über die Vor- und Nachteile des Strandreitens. Erst nach einer Weile schaltete Superhirn sich ein: „Habt ihr vergessen, daß ihr eine bestimmte Aufgabe hattet? Hoffentlich hat das Reitfieber nicht eure Köpfe vernebelt!“ Gérard blieb stumm. Er griff nach dem Pudel, zog ihn zu sich in die Hängematte und kraulte ihn. Niemand merkte ihm an, wie gespannt er war. „Ach ja“, erinnerte sich Henri. „Also, wir haben wahrhaftig den Strand und die Waldwege abgeklappert und ringsum nur die verbotenen Zonen ausgelassen.“ „Es sind uns viele Reiter begegnet“, berichtete Tati. „Aber keine sprechenden oder unberittenen Pferde. Das könnt ihr uns glauben!“ „Nur zu gern, nur zu gern“, murmelte Superhirn. „Zweimal haben wir gewendet, um uns einen Schimmel und einen Rappen genauer anzusehen“, teilte Prosper mit. „Aber erstens waren sie nicht so schön wie die Geisterpferde, und zweitens saßen Leute drauf. Feriengäste, mäßige Reiter!“ „Aber du bist kein Feriengast und der geborene Herrenreiter, wie?“ ließ sich Gérard. hören. „Auf jeden Fall ist uns nichts Grausiges über den Weg getrabt“, rief Micha. Er fügte hinzu: „Oder geflogen! Möwen sahen wir jede Menge. Aber sie segelten friedlich in der Luft herum, und nirgends war Trubel unter ihnen, so als wären unsichtbare dazwischen!“ „Unterwegs aßen wir an einem Kiosk 'ne Kleinigkeit“, erzählte Tati. „Dazu tranken wir Limo. Wir konnten die Ohren aufsperren, so weit wir wollten: Kein Mensch sprach über was Ungewöhnliches. Wenn man die Leute reden hörte, mußte man glauben, in und um Brossac gäbe es keine ungelösten Fragen, nicht mal ein lumpiges Kreuzworträtsel.“ „Danke für das Stichwort!“ Superhirn schwang sich aus der Hängematte. „Dafür hab ich eins in der Tasche, das Gérard und ich bisher nicht lösen konnten. Ihr müßt uns helfen!“ „Aber doch jetzt nicht!“ rief Micha, der den Doppelsinn nicht begriff. „Ich will zurück zum Cap Felmy - in unseren Leuchtturm!“ Auch Gérard kletterte aus seiner Hängematte. Tati musterte die beiden. Jäh schwand die Freude über den gelungenen Tag aus ihrem Gesicht. Auch Henri wurde ernst. Prosper hopste vom Holzklotz hoch, als hätte ihn etwas gebissen. „M-m-madame Dingdong war wieder hier?“ forschte er. „Ohne Hand und Fuß - mit einer Kanne über dem Kopf ...?“ „Seit wann bist du Hellseher?“ brummte Gérard ironisch. „Die Dingdong lassen wir besser hinter uns. Es gibt ein neues Problem.“ „Ich habe mit Professor Romilly telefoniert“, erklärte Superhirn. „Er bat uns, unseren Gästequartieren ab sofort fernzubleiben. Für zwei Nächte könnte uns Philippe Berger hier aufnehmen. Wir brauchten es nicht zu bezahlen!“ „Und das“, erkannte Henri, „war ein Befehl!“ „Du hast's erfaßt!“, nickte Superhirn.
Tati biß sich auf die Lippen. „Ich könnte mich jetzt weigern“, sagte sie betont ruhig, „diesen - diesen vorübergehenden Rausschmiß zu akzeptieren. Wir haben ja nicht mal eine Zahnbürste und einen Waschlappen mit. Es wäre das wenigste, daß man uns unser Gepäck holen ließe! Und die Lebensmittel aus dem Kühlschrank. Aber ich merke schon: Selbst wenn einer von uns seinen Kopf im Leuchtturm vergessen hätte, würde man uns nicht einlassen!“ „Da hast du genau ins Schwarze getroffen!“ entgegnete Superhirn fast lobend. „Es hätte auch nicht den geringsten Zweck, darauf zu bestehen, denn wenn Romilly jede Chance ausspart, muß er einen dringenden Grund haben.“ „H-h-hast du ihm von den sprechenden Pferden, den unsichtbaren Möwen und dem DingdongTheater erzählt?“ fragte Prosper erregt. „Ich habe mich gehütet!“ antwortete Superhirn. „Ich greife doch nicht in kochendes Wasser! Nicht nur Romilly, sondern das ganze Institut scheint in einer tödlichen Klemme zu stecken. und wenn ihr mich fragt: Ich bin froh, daß wir die Sache von außen angehen können!“ „Du wechselst deine Meinung seit gestern abend alle vier Stunden!“ behauptete Prosper. „Wenn schon“, sagte Superhirn ungerührt. „Künftig werde ich sie wahrscheinlich noch öfter wechseln müssen. So. Wir besorgen uns jetzt bei Philippe ein Quartier. Zu essen gibt's auf solchen Ferienhöfen genug. Ebenso Waschgelegenheiten und saubere Trainingsanzüge. Das wäre das Geringste. Die Hauptsache ist, daß wir unsere Räder haben und alle beisammen bleiben!“ „Das ist wirklich die Hauptsache!“ bestätigte Tati mit Nachdruck. Es stellte sich heraus, daß die Gefährten auf dem Reiterhof zwar duschen und essen konnten; ein Quartier für die sechs und den Pudel hatte der freundliche Philippe Berger aber nicht. Sowohl das große Haus als auch die Nebengebäude waren bis unter die Dächer belegt. Auch freie Zelte gab es nicht mehr. Außerdem hatte die Polizei die Neuaufnahme von Gästen bereits verboten. „In Brossac gibt's ganz andere Dinge, die die Polizei verbieten sollte!“ brummte Gérard. „Nur Ruhe, immer mit der Ruhe, Freunde“, sagte der junge Bursche. „ich laß euch schon nicht hängen. Ein Quartier - wo auch immer - sollt ihr kriegen!“ Plötzlich stutzte er: „Habt ihr nicht im alten Turm gewohnt? Wieso könnt ihr denn da nicht mehr hin? Und wo ist euer Gepäck?“ „Wir haben den Hauptschlüssel verloren!“ schwindelte Tati schnell. „Jetzt müssen sie das Schloß auswechseln, und das geht heute nicht mehr. Romilly ist ziemlich wütend. Da ist es besser, wir lassen uns zwei Tage beim Institut nicht sehen!“ „Na, dann“, äußerte Philippe mitfühlend. Auf dem Pferdehof herrschte am Abend so viel Betrieb, daß er sich nicht die Mühe nahm, über Tatis hastige Antwort nachzudenken. „Ich weiß was!“ rief er erfreut. „Das Clubhaus der Radsportler steht leer, denn die Brossacer Zivilisten - womit er die Rennfahrer meinte - sind auf großer Tour. Die alte Hütte dient auch als Unterkunft für ausländische Radler. Da könnt ihr erst mal wohnen!“ Er schlug Gérard auf die Schulter: „Wozu bin ich im Vereinsvorstand? Haha! Für Sportsfreunde tun wir alles.“ So machten sich die Gefährten mit dem Pudel auf den Weg zum Clubhaus des Radsport-Vereins von Brossac. Tati hatte einen Metallring mit klappernden Schlüsseln an der Lenkstange, die Loulou zu dauerndem Gebell veranlaßten. Henri hielt einen zerknüllten Zettel in der zusammengekrallten Hand - die „Orientierungsskizze“, damit sie sich auch ja nicht verfuhren. Denn Philippe Berger hatte auf seinem Hof so viel zu tun, daß er sie beim besten Willen nicht begleiten konnte. „Ich kenne die Gegend in- und auswendig“, japste Prosper unterwegs, „aber von einer Insel des Dicken' und einem Vogelteich hab ich noch nie was gehört!“ „Dann hattest du noch Kartoffelchips in den Ohren!“ rief Gérard. „Philippe hat uns ja genug darüber erzählt! Die Insel war der Jagdsitz des Festungshauptmanns von Brossac unter Kaiser Napoleon. Der Hauptmann war so fett, daß man seinen Namen vergessen hat: Er heißt nur noch der Dicke, Und das Vogelschießen war sein Hobby!“ Die Gefährten strampelten über einen Waldweg. Superhirn meinte:
„Wenn ich noch einigermaßen richtig ticke und nicht vergessen habe, daß die Sonne im Westen untergeht...“ „Was dann?“ wollte Henri wissen. „Dann fahren wir durch den Wald zwischen Brossac-Centre und Brossac-Baie“, vollendete der Spindeldürre. „Wir nähern uns also wieder Cap Felmy!“ „Na und?“ fragte Micha. „Dürfen wir das etwa nicht? Wäre ja noch schöner, wenn Romilly uns das auch verboten hätte!“ „Nein, nein. So meine ich das nicht“, sagte Superhirn rasch. „Einerseits paßt es in meine Pläne, daß wir in der Nähe bleiben, andererseits ... „ Er brach ab, als hätte er in der Eile schon zuviel gesagt. „Ich frage mich nur“, fiel Tati ein, „warum wir die Polizei nicht alarmiert haben. Die Sache mit Professor Romilly und seiner Pistole gefällt mir nicht. Und mir gefällt ebensowenig, daß er seine Gäste kurzfristig ausquartiert!“ Da gab Superhirn sein bisher sorgfältig gehütetes Geheimnis preis: „Keine Sorge“, lachte er, „Ich hab mit Kommissar Rose in Paris telefoniert. Unsere Erlebnisse wollte er der Hitze zuschreiben. Als er aber hörte, daß Romilly im Institut hockt und ratlos auf seine Pistole starrt, war er wie verwandelt. Er wollte sofort den Forschungsminister anrufen.“ „Na, Gott sei Dank!“ rief Tati erleichtert. „Weiß Kommissar Rose denn, wo er uns findet, wenn er kommt?“ „Ich gab ihm die Adresse des Pferdehofs durch“, antwortete Superhirn. „Dann sind wir gerettet!“ pustete Micha. Er strampelte gleich nicht mehr so krampfhaft. Deshalb blieb er ein paar Meter hinter den Gefährten zurück. Plötzlich hörte er hinter sich ein tiefes, rollendes Lachen. Und eine Baßstimme sagte mit teuflischer Fröhlichkeit: „Herrlich, so durch die Gegend zu zockeln, finden Sie das nicht auch, Madame?“ Michas Kopf fuhr herum. Der Junge strampelte mechanisch weiter. Was er sah, ließ ihn alles vergessen: Hinter ihm trabte ein reiterloser Schimmel heran. Und eben ertönte wieder das rollende, tiefe Gelächter: „Ihre Begleitung ist mir äußerst angenehm, Madame!“ „Lieber Doktor!“ kam es mit mädchenhaft heller Stimme von dem Rappen, der ebenfalls einen leeren Sattel trug. „Sie sprechen zu laut! Erschrecken Sie die Radfahrer nicht!“ Doch dann schien sich der Rappe selber zu erschecken, denn er rief: „Mein Gott, da ist ja Micha!“ „Hiiilfeee!“ schrie der Junge da. „Hiiilfeee!“ Er fuhr in den Graben und sauste kopfüber auf die andere Seite. Zum Glück landete Micha weich auf einem Nadelteppich. Die anderen - samt dem aufgeregt hustenden Loulou - kamen auf schwankenden Rädern zurück. „Was ist dir denn über den Weg gelaufen?“ erkundigte sich Gérard. Der jüngste nahm das als Hohn und schrie wütend: „Ein Fußball mit deiner Fratze drauf! Da muß man ja zu viel kriegen!“ „Der dümmste Moment, sich zu streiten!“ mahnte Tati. „Warum hast du um Hilfe geschrien?“ Superhirn radelte den Weg ein Stück in Gegenrichtung entlang. Als er sich den anderen wieder zugesellte, machte er sein typisches spitzes „Alarmgesicht“. „Da sind frische Pferdespuren“, berichtete er. „Die Reiter bogen links in den Wald ab!“ „Die Reiter ... ?“ ächzte Micha, sich aufrichtend. „Ha! Keine Rede! Es waren wieder die Geisterpferde! Das schwarze und das weiße! Gezäumt und gesattelt, aber mit Herrn und Frau Niemand auf dem Rücken! Der Schimmel sagte mit Grabesstimme: Herrlich, so durch die Gegend zu zockeln, Madame. Und der Rappe antwortete mit einer ganz hellen Frauenstimme: Lieber Doktor, Sie sprechen zu laut! Und dann rief das schwarze Pferd: Mein Gott, da ist ja Micha! Dann sind die Geisterpferde geflüchtet!“
Niemand sah, wie Superhirn zusammenzuckte. Aber seine Nervosität konnte er nicht verbergen, als er Micha anherrschte: „Begreif endlich, daß es nicht die Pferde waren, die da sprachen! Es sind gewiß ganz normale Tiere, die aber von unsichtbaren Reitern gelenkt werden.“ „Ob man so oder so einen Schock kriegt, ist schließlich egal!“ rief Prosper. Er warf sein Rad hin und hopste auf dem Weg hin und her. „Laß das!“ sagte Henri. „Ich glaube, keiner von uns hat jetzt Lust, sie zu verfolgen!“ „Kommt!“ drängte Superhirn. „Wir besprechen das alles später. Ich kann nicht sagen, daß mir der Pferdespuk je gefallen hätte - aber jetzt gefällt er mir noch weniger. obwohl mir plötzlich klar ist . . .“ „Was ist dir klar?“ wollte Gérard wissen. Superhirn winkte ab: „Nichts, nichts. Wenigstens sag ich das nicht hier auf dem Weg!“ Henri hob Michas Rad aus dem Graben. „Noch mal Glück gehabt“, brummte er. „Sonst alles in Ordnung?“ fragte Tati besorgt. „Bis auf meine Nerven, ja!“ behauptete Micha. „Deine Nerven!“ spottete Gérard. „Die sind in deinem Babyspeck gut aufgehoben!“ „Als ob ich sie im Po hätte - und nicht im Kopf“ ärgerte sich der jüngste. Die Gruppe radelte weiter. „Ich finde, es war ganz richtig, daß wir die Geisterpferde nicht verfolgt haben“, sagte Tati zu Superhirn. „Soll sich Kommissar Rose um sie kümmern, wenn er da ist. ich sehne mich jetzt nach unserem neuen Quartier!“ „In dem Clubhaus sind wir sicher“, meinte Gérard. „Das ist ein Gebäude für Leistungssportler, bestimmt schnörkellos und trockennüchtern. Da haben Gespenster nichts verloren“, fügte er grinsend hinzu, „weder echte noch falsche!“ Bald standen die sechs mit ihren Rädern am Ende des Pfades vor einem hölzernen Steg. Links und rechts war undurchdringliches Dickicht, und vor ihnen erstreckte sich der Teich - eher ein kleiner See - mit der Insel. „Dein Clubhaus hätte ich mir anders vorgestellt“, sagte Prosper enttäuscht zu Gérard. „ich dachte an einen luftigen Flachbau mit Fensterfronten, ringsum Tennisrasen, neueste Sportgeräte, Swimmingpool und Fahnenstange ...“ „Fahnenstange!“ schnaubte Tati. „Als wär das das wichtigste! Ich sehe überhaupt kein Clubhaus auf der Insel! Nur Büsche und Bäume.“ Prosper warf sein Rad hin und drehte sich wieder im Kreise. „M-m-madame Dingdong kommt!“, stammelte er. „1-i-ich höre ihr Motorrad ... !“ „Die hat uns gerade noch gefehlt“, raunzte Gérard. „Erst die Pferde, dann sie ... Ha, und wo bleiben die unsichtbaren Möwen ... ?“ „Ich dachte, ihr hättet begriff en, daß keiner von uns durchdrehen darf“, sagte Superhirn mit Schärfe. „Was dir da in den Ohren rattert, ist nicht das Vehikel von Madame Dingdong, sondern ein ferner Hubschrauber! Und was das Clubhaus betrifft, so hat Philippe Berger von einer Hütte auf der Insel im Vogelteich gesprochen. Also sind wir hier durchaus richtig!“ Henri entfaltete seine Skizze: „Ja“, bestätigte er. „Hier hat Philippe eine gestrichelte Linie eingezeichnet: Das ist der Fährweg mit dem Flachboot, das da liegt. Man kann aber die Insel auch zu Fuß erreichen, und zwar an der Westseite über einen langen, gewundenen Steg!“ Tati betrachtete das Flachboot: „Das ist ja nichts als eine flache Holzkisten, stellte sie fest. „Nicht mal rudern kann man das Ding. Da liegt eine Stange zum Staken drin, und mehr als zwei Personen passen nicht hinein!“ „Der Kasten trägt höchstens eine Person, wenn man das Fahrrad hinzunimmt“, meinte Henri. „Ich schlage vor, Tati kriegt das Boot. Sie bringt ihr Rad und den Hund hinüber. Wir anderen schieben über den Steg!“
Gérard und Prosper halfen dem Mädchen, sich und das Fahrrad zu verfrachten. Sie nahm den Pudel in den Kahn und stakte eifrig los. „Sportsgeist hat sie, das muß man ihr lassen!“ sagte Gérard, indem er der Fuhre anerkennend nachblickte. „D-d-du kannst ihr nachher Blumen schenken“, drängte Prosper. Jetzt müssen wir sehen, daß wir da rüberkommen!“ „Kommt!“ rief Henri. „Nach der Skizze geht's haarscharf am Ufer entlang. Irgendwo müssen wir da den Steg erreichen ...“ Der „Steg“ begann als Knüppeldamm, der sich in zahlreichen Windungen neben dem See herzog, ohne daß man das Wasser überhaupt sah. Die jungen gingen stolpernd und keuchend mit ihren Fahrrädern hintereinander. Micha hielt die Spitze, Superhirn bildete den Schluß. Nach einer Viertelstunde blieb der jüngste völlig ausgepumpt stehen. „Das ist ein Irrgarten!“ japste er. „Wir trotten und trotten - und kommen dem See nicht näher! ich habe Angst um Tati! Die ist sicher längst auf der Insel, grault sich und kriegt vor Sorge um uns weiße Haare!“ „S-s-seid mal still“, raunte Prosper. „War das nicht eben ein Schrei ...?“ Die Jungen lauschten. „Ja!“ bestätigte Henri. Er schluckte. „Tatis Stimme! Sie schreit wie besessen! Und der Pudel jault! Hört ihr?“ „Ich höre noch ganz was anderes ...“, murmelte Superhirn. „Los, weiter! Wir müssen den Übergang finden!“ Es war fast dunkel, als die Freunde die eigentliche Brücke, ein schmales Gebilde aus Balken, Brettern und Pfosten, erreichten. Schwach blinkte unter ihnen das stille Gewässer. Ein Geländer zum Festhalten „Und das ist nun der Zugang zu einem Radler-Clubhaus!“ schimpfte Gérard. „I-i-ich höre immer Clubhaus“, ereiferte sich Prosper. „Hast du vom Ufer aus eins gesehen? Ich wette, das ist längst abgebrannt - und Philippe Berger hat's nur nicht gewußt!“ „Achtung!“ rief Micha. „Hier kommt wieder ein Knüppeldamm! Hach! Und lauter schiefe Bäume! Bückt euch, bückt euch!“ „Na, dann hätten wir die Insel ja erreicht!“ rief Superhirn, „Die Bäume wachsen ja nicht im Wasserk Nun sahen sie in der Finsternis buchstäblich gar nichts mehr. Einzig der Knüppeldamm bot ihnen Orientierung. „Man müßte längst ein Licht sehen!“ wunderte sich Henri. „Tat! ist doch bestimmt schon in der Hütte! Wie ich sie kenne, wird sie jetzt am Herd stehen und uns noch einen Tee machen!“ „Diese Insel riecht eher nach Giftpilzen als nach Tee“, maulte Gérard. Doch plötzlich stieß Micha einen Freudenruf aus: „Loulou! Loulou ist hier!“ „Und mich hältst du wohl für eine Trauerweide?“ erklang Tatis Stimme aus dem Dunkeln. „Dabei hab ich wie eine Wilde geschrien, damit ihr mich findet. Sag mal, Gérard, hat Philippe Berger irgendwas von Lichtschaltern erwähnt? ich taste da drin an den Wänden herum und finde nichts! Die Ruine ist schwärzer als die Nacht!“ „Ruine ... ?“ wiederholte Gérard verständnislos. „Ja! Das sogenannte Clubhaus ist weder eine Hütte noch eine Baracke. Dem Schattenriß nach eher ein abgebrochener, quadratischer Bergfried! Von außen macht's den Eindruck, als sei es mit vermoosten Pocken übersät. Alle Löcher und Risse sind mit Wellblech und Zement ausgebessert.“ „Hast du wenigstens eine Tür gefunden?“ fragte Henri mit düsterem Humor. „Sonst hätt ich nicht nach Lichtschaltern suchen können.“ antwortete das Mädchen. „Und so was nennt sich nun C-c-clubhaus!“ rief Prosper.
Die jungen lehnten ihre Räder an die nächsten Bäume und tappten auf einen besonders kompakten Schatten unter dem dunklen Himmel zu. „Hier ist die Tür!“ hörten sie Tatis Stimme. „Wenn man sich an der hohen Klinke 'ne Beule geholt hat, weiß man Bescheid.“ Gérard rief wütend: „Aber Philippe sagte doch: Schlafsäcke sind da, Licht habt ihr auch, die Büchsen mit Saft und Lebensmitteln stehen zur Verfügung...“ „Und Hausdiener und Zimmermädchen betreuen uns!“ fügte Henri höhnisch hinzu. „Daß ich nicht kichere!“ rief Tati. „Natürlich hat niemand eine Taschenlampe mit?“ „Ich!“ sagte Superhirn. Er leuchtete das Gebäude an und stutzte. „Was ist?“ hauchte Micha argwöhnisch. Superhirn schien vor Schreck die Sprache verloren zu haben. Er betastete die Buckelsteinwand des uralten Gemäuers. „Du tust ja, als wäre die Ruine radioaktiv!“ sagte Henri. Aber das brachte den Spindeldürren nur noch mehr aus der Fassung. Seine Hand mit der Taschenlampe zitterte. „Gehen wir endlich rein!“ drängte Gérard. „Ich will nicht!“ weigerte sich Micha. „Ich will zurück! Lieber schlafe ich in Bergers Ställen bei den Pferden!“ Da sagte Tati - und das sollte böse Folgen haben: „Sei nicht so feige, Micha!“
7. Schreckensnacht auf der Insel - Michas Kopf schwebt durch die Luft! Superhirn leuchtete das Innere des seltsamen Clubhauses ab. „Na ja - so toll ist es ja nicht“, meinte Henri. „Immerhin aber besser, als es von draußen wirkt!“ „Wenigstens ist es nicht schmutzige, stellte Tati fest. „im Gegenteil: alles wie geleckt!“ „Kunststück!“ maulte Prosper. „Die ganze Höhle besteht ja nur aus zwei Räumen, dazu steht kaum etwas darin!“ „Philippe hätte uns klar sagen müssen, daß dies kein geeigneter Schlafplatz ist“, murrte Gérard. „Hier hält der Vereinsvorstand seine Sitzungen ab, das sieht man an dem typischen ovalen Tisch. Aber wo sind die Gäste-Unterkünfte?“ „Ich sage doch, da ist ein zweiter Raum!“ rief Prosper. „Leuchte mal!“ „FÜnf ganze Bettgestellek zeterte Micha. „So 'ne Frechheit, uns dieses - dieses Gefängnis anzubieten!“ „Immerhin fünf Übereinander-Betten“, berichtigte Superhirn. „Ausgestattet mit ordentlichen Schaumgummi-Matratzen. Und in diesen Reißverschluß-Rollen sind Schlafsäcke. Die kenne ich: prima Qualität!“ Aus dem Sitzungsraum kam ein zittriger Lichtschein näher, dahinter, wuchs ein Schatten auf Henri. „Nebenan ist 'ne Kochnische mit Propan“, meldete er. „Im Schrank fand ich Kerzen, jede Menge, dazu Streichhölzer, Büchsengemüse, Corned beef in Dosen und Saftflaschen samt Öffnern sind auch genügend vorhanden. Es reicht für einen Überlebenstest!“ „Wir wollen hier nicht überwintern!“ sagte Tati. „Saft!“ Das war das Stichwort für Micha. „Ich hab Durst!“ Prosper zündete sofort eine zweite Kerze an und machte sich ans Öffnen einiger Flaschen und Dosen. Loulou bekam eine Portion Büchsensahne in einen Blechnapf geträufelt. Inzwischen stapften Superhirn und Henri um das zusammengeflickte Gemäuer herum. Sie fanden ein angebautes Waschhaus mit WC, das allerdings nur von außen zu erreichen war.
„Na, wenigstens gibt's eine Kanalisation“, sagte Henri erleichtert. Dann fiel ihm etwas ein: „Du hast dich unterwegs so komisch benommen, Superhirn! Und worüber warst du erschrocken, als du die Außenwand betastet hast?“ „Eins nach dem anderen!“ antwortete Superhirn hastig. „Erstens gefiel mir die Richtung nicht. Ich sagte ja, wir nähern uns wieder Cap Felmy. Prompt tauchten die reiterlosen Geisterpferde hinter uns auf. Und wer immer auf dem Rappen saß - er hatte Micha. erkannt! Das war die zweite Panne. Und das dritte, was mir zu denken gibt, ist das Baumaterial dieser Ruine. Die alten Bruchsteine stammen aus derselben Felsmasse, auf der der Leuchtturm von Felmy steht! Außerdem ist das Riesenschloß von Rodincourt aus solchem Gestein erbaut. Merkst du nun endlich was?“ „Nein“, murmelte Henri. „Ist das wieder einer deiner berühmten Zusammenhänge?“ „Ja, diesmal ein äußerer, der sich übrigens geschichtlich begründen läßt: Schloß Rodincourt war im Mittelalter eine Festung, Cap Felmy bildete die Kanonen-Bastion gegen Feinde von See - und dies hier scheint mir eine Art Unterschlupf für den Fluchtfall gewesen zu sein!“ „Ach so, du meinst, die Schloßherren konnten sich dann über den Vogelteich hinweg in Sicherheit bringen?“ „Unter diesem Teich – unter!“ betonte Superhirn. „Unter ihm hindurch, verstehst du?“ „Nein“, gestand Henri ehrlich. „An allem macht mir nur eins Sorge. daß Micha von dem einen Geisterpferd - oder von dem Unsichtbaren auf dem Rappen - erkannt worden ist. Wenn diese Niemands etwas gegen uns haben, wissen sie jetzt vermutlich, wo wir sind!“ „Eben!“, sagte Superhirn gedankenschwer. Doch er schwieg über das, was er noch bemerkt zu haben glaubte. „Nach dem Ritt heute, nach den Aufregungen gestern nacht - und überhaupt nach allem“, erklärte Tati, „bin ich todmüde. Da das Gemäuer ja sowieso nicht viel mehr bietet als Betten, schlage ich vor: Wir gehen gleich schlafen. Um so früher kommen wir von hier weg und können uns was Vernünftigeres suchen!“ Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden. Superhirn hegte zwar die Absicht, früher aufzustehen und eine Runde um den Bau zu drehen - doch trotz des „Alarmzustands“, in dem er sich befand, schlief er so tief und fest wie alle anderen. Erst als der Pudel wie rasend bellte, fuhr Superhirn hoch. Er tastete nach seiner Brille: „Himmel“, rief er, das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr dicht vor Augen, „es ist bald sechs!“ „Ach, wenn schon ...“, brabbelte Gérard, „... alles noch stockdunkel...“ „Hier drinnen, ja!“ ließ sich Henri hören. „Aber draußen ist's gleich hell. Trotz der Sommerzeit...“ Er unterbrach sich, um zu fragen: „Was ist das ... ?“ Ein Rascheln und Knarren verkündete, daß nun alle wach waren und aus ihren Schlafsäcken schlüpften. Rrrufff - rrrachchch - haaauuu, tönte es von draußen. Gleichzeitig vernahmen die Freunde ein häßliches Geräusch, als renne jemand gegen die Außentür an. „Eine Dogge“ rief Superhirn. „Vorsicht! Ich hab schon gestern das scheußliche Bellen gehört! Wahrscheinlich sind's mehrere - ein ganzes Rudel vielleicht... Es ist möglich, daß man die Viecher auf uns angesetzt hat!“ Tati sauste in den anderen Raum. Die Jungen hörten sie nur noch sagen: „Ich seh mal schnell nach, ob die Tür geschlossen ist!“ Gleich darauf war im Haus der Teufel los. Tati hatte nur sicherheitshalber auf die Klinke gedrückt, in der festen Meinung, die Tür sei mit dem großen Schlüssel und dem kleinen für das Sicherheitsschloß von innen versperrt worden. Doch das war ein Irrtum! Die schwere, schiefliegende Tür öffnete sich nur zu bereitwillig, und ehe Tati es begriffen hatte, sauste etwas bösartig Kompaktes heulend und schnaubend in den Sitzungsraum. Polternd flogen die Stühle durcheinander. „Tati!“ schrie Superhirn. „Verbirg dich hinter der Tür!“
Furchtlos leuchtete der Spindeldürre in den anderen Raum hinein. Er sah, wie sich die Stühle bewegten, wie der Tisch zitterte, er hörte das Hecheln und Grollen des Ungeheuers. Doch den tobenden Leib des Monsters entdeckte er nicht ... „Klettert in die oberen Betten!“ brüllte er. „Haltet Loulou fest! Das ist einer von den scharfen Wachhunden des Instituts!“ „Wo denn...??? Was denn ... ???“ schrie Tati. Superhirn griff sich einen Schemel aus der Kochnische, um sich den unsichtbaren Hund vom Leibe zu halten. Eilig fuhr der Schein seiner Taschenlampe über die Vorräte. Da! Da lag noch ein Stück Corned beef! Er warf es rückwärts durch die Luft und hörte die Kiefer der Bestie zusammenkrachen. Die kurze Frist genügte, um die Pfefferbüchse zu erwischen. Superhirn drehte sich um und schleuderte eine „Gewürz-Wolke“ durch den Raum. Der unsichtbare Hund jaulte schauerlich auf. An seinem Wimmern war zu hören, daß er dem Lichtschimmer zutaumelte. „Tür zu!“ brüllte Superhirn. „Das Biest ist wieder raus!“ Tati verlor keinen Augenblick. „Mensch“, bibberte sie, „wenn der einen von uns zwischen die Zähne gekriegt hätte! Meinst du, er trollt sich? Wo kam der überhaupt her ...?“ Auf Strümpfen tappten Henri, Prosper und Gérard herbei. Henri, der den zappelnden Pudel trug, sagte zu Superhirn: „Also das ist dein äußerer Zusammenhang'? Eine Verbindung zwischen Cap Felmy, Schloß Rodincourt und diesem ehemaligen Jagdhaus? Unter dem Teich hindurch zur Insel?“ „Das wäre technisch nichts Besonderes“, erwiderte der Spindeldürre, noch immer keuchend. „Stollen unter Kanälen, die zehnmal breiter sind als dieser Teich, findest du sogar in Holland! Aber hier hat man sich natürliche Verzweigungen zunutze gemacht! Ich hörte den Köter - oder mehrere dieser Art - schon heulen, als wir herfuhren.“ „Wer hat bloß den Schlüsselring?“ zitterte Tati. „ich kann nicht abschließen!“ „Schieb den Riegel vor!“ befahl Henri. Kaum hatte Tati das getan, da bemerkte sie: „Von außen will einer rein! Ich spüre den Druck auf der Klinke!“ „Den Riegel vor!“ wiederholte Henri dringlich. „Da ertönte eine klägliche Stimme: „Warum laßt ihr mich nicht ein? Ich hab nichts getan! Ich war nur auf Erkundungsfahrt beim Institut.“ „Das ist .. .“, hauchte Tati, „das ist Micha! Um alles in der Welt - hat jemand gewußt, daß er weg war ... ?“ „N-n-nein!“ stotterte Prosper. „M-m-mir ist nichts aufgefallen!“ dch dachte die ganze Zeit, Micha sei hier . ..!“ rief Henri. „Zum Teufel, laß ihn endlich ein, sonst kriegt er's mit dem unsichtbaren Hund zu tun!“ Loulou zappelte wie besessen auf seinem Arm. „Schnell!“ Tatis Atem flatterte. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit: „Komm rein. Fix, fix! Und hab keine Angst, es wird dich niemand ausschimpfen!“ „Ist dir der Köter über den Weg gelaufen?“ fragte Gérard. „Nein“, erwiderte Micha. „Ich hab nur ein gräßliches Bellen gehört. Aber nicht weit von diesem Haus ist eine Grotte, da muß er verschwunden sein. Ich kam mit dem Rad von der Anlegestelle, denn ich benutzte hin und zurück das Flachboot. Und ...“ „Dich hat wohl der wilde Pelikan gepikt!“ unterbrach Tati. „Ich wette, du hast kaum geschlafen!“ „Überhaupt nicht!“ trumpfte der Bruder auf. „Du sagtest doch, ich solle nicht so feige sein! Na ja - das hab ich nun bewiesen! Ich war in Brossac, am Cap Felmy, und ich hab beobachtet, was sie da machen!“
„Woher hast du denn den Tarnmantel?“ fragte Henri in sonderbarem Ton. In der Finsternis der Eingangsnische war Superhirns Taschenlampe die einzige Lichtquelle, und in deren Schein sah man von Micha nicht viel. „Tarnmantel?“ rief der Bruder. „Ich trage meinen Anorak und die Jeans, weiter nichts, jedenfalls keinen Mantel!“ „Tretet zur Seite!“ befahl Superhirn. Er strahlte Micha nun direkt an. Doch er mochte leuchten, so viel er wollte, er erkannte nicht, wo die Füße des jungen standen. Tati stieß einen gellenden Schrei aus. Prosper wollte fliehen und prallte mit voller Wucht auf Gérard. Henri hatte den Pudel fallen lassen. „Verflixt!“ brüllte Henri. „Was ist denn das ...?“ Micha kam auf die zurückweichenden Geschwister und Freunde zu. „Ihr tut“, schluckte er, „als hättet ihr mich noch nie gesehen .“ „Gesehen - gesehen!“ schrie Tati. „Was soll man denn sehen? Du bist ja gar nicht da! Nur dein Kopf schwebt vor uns auf und ab ... ja, dein Kopf, nur dein Kopf! Und der gleitet frei durch die Luft ...!“ Prosper lehnte schlaff vor Entsetzen an der Wand. Gérard murmelte Unverständliches vor sich hin. Tati und Henri tasteten zaghaft in die Richtung von Michas Kopf. Superhirn stand wie ein Ausrufungszeichen. Es war grauenhaft, zu sehen, wie Michas Kopf „sich“ schüttelte - denn da kein Micha vorhanden war, konnte auch kein Micha seinen Kopf schütteln. „Was seht ihr mich so entgeistert an?“ jammerte Micha. „So helft mir doch! Was ist denn mit mir los?“ „Du bestehst nur noch aus Kopf!“ wiederholte Superhirn schonungslos. „Tati hat sich nicht verguckt: Vor uns schwebt dein Kopf durch die Luft. Es ist sinnlos, so zu tun, als hätten wir Tomaten auf den Augen. Was ist passiert? Erinnere dich!“ „Ich - ich war heimlich mit dem Rad beim Institut“, begann Micha verstört, „und ich sah, daß Männer in Schutzanzügen mit Sonden auf dem Gelände rumliefen. Sie hatten starke Scheinwerfer eingeschaltet. Auch bei unserem Leuchtturm war was los. Da versuchte ein Wärter, zwei Wachhunde hineinzulocken!“ „Hast du die Hunde gesehen?“ forschte Superhirn. „Ja - das heißt: nein!“ rief Michas Kopf. „ich hörte nur, wie sie gerufen wurden. Der Wärter meldete Professor Romilly: Die beiden Tiere sind in Sicherheit!“ „Die waren seit gestern vormittag in Sicherheit“, vermutete Superhirn. „In den Felsen von Cap Felmy sind unterirdische Gänge, die man vom Keller des Turms aus erreichen kann! Da hat man die Hunde versteckt - aber wohl nicht geahnt, daß einer hier beim Jagdhaus auftauchen würde. Wahrscheinlich warf ihnen der Wärter Futter hin und sorgte für Trinkwasser!“ „Was hat das mit Michas Kopf zu tun?“ fragte Tati verzweifelt. „Sehr viel“, erklärte der Spindeldürre. „ich sagte, die Hunde hat man versteckt. Unsichtbare Doggen kann man schließlich nicht frei herumlaufen lassen. Die Panik im Institut - oder etwa an den Stränden von Brossac - wäre unvorstellbar!“ „A-a-aber wenn Michas Kopf durch die Landschaft schwebt“, meldete sich Prosper empört, „Gibt's keine P-p-panik, meinst du? W-w-was für einen Zweck hat der ganze Blödsinn überhaupt? Wozu machen die da alles unsichtbar?“ „Die wollen nichts unsichtbar machen“, meinte Henri. „Da hat es eine Panne gegeben - oder es war ...“, er schluckte und fügte hinzu: „... Sabotage!“ „Erzähl weiter, Micha“, wandte sich Superhirn wieder an Michas Kopf. „Ja!“ kam die kleinlaute Antwort. „Aber dann dachte ich, ich bin nur in einen Bodennebel geraten. Und das glaubte ich die ganze Zeit, auch, als ich mein Rad wieder in den Kahn packte und zur Insel stakte. Denn ich fühl mich wie immer! Ich fühle meine Arme und ich fühle meine Beine.“ Der schwebende Jungenkopf senkte die Nase und wendete sie nach links und rechts, als versuche er, im Licht der Taschenlampe seine Gliedmaßen zu erkennen.
„Los, Kerzen her!“ rief Gérard. „Gehen wir in den Sitzungsraum!“ Tati, Henri und Superhirn betasteten Micha. „Er ist völlig da“, seufzte Tati erleichtert. „Bis zu den Fingerspitzen und den Schuhsohlen! Aber weshalb sieht man nur den Kopf?“ „Weshalb sah man die Reiter, die Möwen, den Wachhund und Madame Dydons rechte Hand nicht?“ fragte Superhirn zurück. „Ich will es euch sagen: Die Betroffenen, auch Micha sowie einige Möwen und der Köter, sind mit dem Gelände des Wissenschaftlichen Instituts in Berührung gewesen! Da muß sie eine Art von Astral- oder Transparenz-Strahl voll erwischt oder nur gestreift haben. Ich fühle nicht nur Michas Leib, sondern auch seine Kleidung! Demnach mobilisieren diese Transparenz-Strahlen auch die körpereigenen Wellen, die Körperwärme und das menschliche Fluidum, also die noch nicht er forschte Eigenausstrahlung des Menschen, so daß die Kleidung mit in die Unsichtbarkeit einbezogen wird!“ „Du sprichst, als hättest du die Versuche mitgemacht!“ meinte Gérard kopfschüttelnd. „ich habe nur beobachtet, nachgedacht und Folgerungen gezogen“, erwiderte Superhirn, ohne die Stimme zu heben. „Macht doch mal ein Glas Marmelade auf und gebt Micha einen Klacks auf einem möglichst langen Löffel!“ Im Schimmer vieler Kerzen schwebte der Kopf des jüngsten über der Tischkante. Tati hielt den Löffel mit der Marmelade in die Luft: „Hier, nimm's ab, Micha!“ Gebannt beobachteten alle, wie der Löffel scheinbar von selber durch die Luft glitt. In dem Augenblick aber, in dem er dem geöffneten Mund „zustrebte“, war der Löffelstiel nur noch halb zu sehen. Prosper behauptete sogar: „D-d-der war ganz weg!“ „Ich will noch mehr Marmelade!“ rief Michas Kopf. „Also, aus Glas ist Micha nicht!“ stellte Gérard erleichtert fest. „Man sieht die Marmelade nicht rutschen, und bis auf diese dämliche Unsichtbarkeit muß alles an ihm in Ordnung sein!“ „Wie bei den Reitern, bei Madame Dingdong, bei den Möwen und bei dem Hund, der hier auftauchte.“ sagte Superhirn. „Daran habe ich keinen Moment gezweifelt!“ „Wie kannst du das denn behaupten!“ rief Tati gereizt. „Und was nützt uns das? ich kann doch den Eltern nicht nur Michas Kopf nach Hause bringen! Selbst wenn sein Körper okay ist - wie stellst du dir das vor?“ „Wir werden ihn wieder sichtbar machen“, sagte Superhirn ebenso entschlossen wie selbstsicher. „So sichtbar, daß einigen Leuten das Hören und Sehen vergeht!“ 8. Superhirn geht aufs Ganze - vor versammelter Ministerrunde! Die Gefährten nutzten die Morgenfrühe, um so unauffällig wie möglich mit „Michas Kopf“ zum Reiterhof zurückzukehren. Tati verhandelte mit Philippe Berger und behauptete, dem jüngeren Bruder sei nicht wohl, man erwarte einen Arzt, und Micha brauche bis dahin Ruhe. Dann verbargen sie ihn in einem abgelegenen Schuppen. Aber alle Versuche, ihm ein Cape oder eine Decke umzuhängen, mißlangen: Was dem „Fluidum“ des Körpers mehr oder weniger lange ausgesetzt war, wurde von der Unsichtbarkeit, der Transparenz, „durchtränkt“. Zuletzt blieb immer eines übrig: Michas Kopf! Superhirn erfüllte grimmige Entschlossenheit. Wieder und wieder murmelte er: „Denen werd ich das Handwerk legen!“ Und Tati und die jungen wurden von ihm vertröstet: „Kommissar Rose ist schon unterwegs! Aber nicht nur er allein!“ Dann setzte er sich zu Michas Kopf und befragte ihn genau über die Stimmen der unsichtbaren Reiter: „Denn diese beiden Leute sind ein Forscher und eine Forscherin des Instituts - sie sind die Schlüsselfiguren!“ Das war seine unverrückbare Ansicht.
Gegen Abend, noch vor Anbruch der Dunkelheit, bog eine Kolonne imponierender Autos in Bergers Reiterhof ein. Sie brachte nicht nur Kommissar Rose und zwei Assistenten, sondern auch gleich eine ganze Gruppe von Ministern! „Was wollen denn die?“ wunderte sich Gérard. Kommissar Rose nahm Superhirns Bericht entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Forschungsminister, der Minister für Umweltschutz, der Verteidigungsminister, der Innenminister und der neue Minister für die Angelegenheiten des Meeres hörten aufmerksam zu. Sie besichtigten Michas Kopf, betasteten seine Glieder und tauschten entsetzte Blicke. Der Forschungs- und der Verteidigungsminister waren sich einig: „Niemals haben wir Brossac einen Auftrag gegeben, Astralstrahlen oder Ähnliches zu entwickeln!“ Im Schutz der Gruppe wurde Micha zu den Autos geleitet. Superhirn und die anderen wurden auf die verschiedenen Wagen verteilt - und dann ging es los zum Wissenschaftlichen Institut. Superhirn saß neben Kommissar Rose und beantwortete dessen Fragen ... Ein so gewichtiger wie gemischter Besuch war Professor Romilly, dem Institutsleiter, noch nie vorgekommen. Er mußte den Konferenzraum öffnen lassen - und dort standen sie nun alle: die Minister, die Kripo-Beamten, die Jugendlichen mit dem Pudel. Allein Micha war nur mit dem Kopf „vertreten“. „Sie wollten sich in der vorletzten Nacht erschießen!“ überrumpelte Rose den Professor. „Warum? Weil ihre Strahlenversuche Sie reuten? Antwort!“ „Es - es war nur so eine Bemerkung...“ Zum erstenmal hörten die Freunde den Professor stammeln. „Ich - ich konnte die Sache noch nicht übersehen. Meine Mitarbeiter waren mit den Experimenten gewissermaßen vorgeprescht ...“ „Darf ich Sie bitten“, sagte Superhirn höflich, „Ihren Vizechef, Professor Flohr, und die Gastprofessorin aus Schweden, Frau Hammerstroem, rufen zu lassen?“ „Ja, das waren die unsichtbaren Reiter!“ schrie Micha, oder vielmehr sein Kopf. „Ich hab's lange nicht begriffen. Erst, als Superhirn mich heute fragte, ob die Dame auf dem Rappen eine schwedische Aussprache hatte, wurde mir's klar!“ „Das waren die Schuldigen!“ behauptete Superhirn. „Sie sind die Opfer ihres eigenen Versuchs geworden, und danach versteckten sie sich im Schloß von Rodincourt. Aber wir wissen, Herr Professor Flohr ist ein selbstbewußter, manchmal rücksichtsloser Mann: Deshalb besaß er die Kühnheit, mit seiner ebenfalls unsichtbaren Kollegin auszureiten! Er lächelte und fügte hinzu: „Ich wette, die Herrschaften werden nicht kommen!“ Doch Professor Romilly gab eine telefonische Anweisung - und nach einer Weile öffnete sich die Tür. Es traten ein: Der Vizechef, Professor Franc Flohr, und die junge schwedische Gastprofessorin Inga Hammerstroem! Von Kopf bis Fuß plastisch sichtbar, wie jeder im Raum, außer Micha. Kommissar Rose wandte sich stirnrunzelnd an Superhirn: „Du warst doch deiner Sache sehr sicher, dachte ich!?“ Superhirn hatte nur einen Moment gestutzt. Nun sagte er unbefangen zu Frau Hammerstroem: „Wollen Sie leugnen, gestern noch unsichtbar durch den Wald am Vogelteich geritten zu sein? Und streiten Sie ab, den ebenso unsichtbaren Vizechef mit seinem Schimmel begleitet zu haben?“ „Es ist ...“ begann die Schwedin ängstlich. „Es war ... Nun, wir wußten genau, die Unsichtbarkeit hält nicht an. Wir hatten bereits Tierversuche gemacht ... Deshalb waren wir sorglos. Und, wie du siehst, wie ihr seht, wie Sie sehen ...“ „Sorglos!“ rief der Forschungsminister schneidend. Er wandte sich an Professor Flohr. „Ich kenne Sie, mein Lieber! Sie sind ein tüchtiger Gelehrter, aber der Ehrgeiz reißt Sie immer wieder mit sich fort! Was waren das für überstürzte Experimente ... ?“ „Keine schädlichen, jedenfalls“ dröhnte der hochgewachsene Mann. „Ich verbitte mir jeden Anwurf! Ich stehe im Dienst der Wissenschaft!“
„Sooo ...?“ höhnte der Minister für Umweltschutz. „Im Dienste der Wissenschaft?“ Er wies auf Michas verschrecktes Gesicht. „Schwebt der Kopf des Jungen - da - auch im Dienst der Wissenschaft?“ „Diese Kinder haben auf unserem Institutsgelände nichts verloren!“ brüllte Franc Flohr unbeherrscht. „Das mag ihnen eine Lehre sein! Der Bengel wird seine Sichtbarkeit voll wiedererlangen, genau wie Frau Hammerstroem und ich nach zweieinhalb Tagen!“ „Und die beiden Wachhunde - oder wieviel es sind?“ fragte Rose, „Und die Vögel? Und was ist mit Madame Dydon?“ „Madame Dydon ist aufgeklärt worden“, versicherte Professor Romilly eifrig. „Sie hat einen winzigen Strahlenherd kaum gestreift. Auch bei den Tieren gibt sich das, es waren ja Vorversuche mit Ratten im Gange. Meine Zweifel sind vollauf beseitigt. Kollege Flohr beruhigte mich schon in der vorvergangenen Nacht am Telefon.“ „Während Sie mit mir sprachen“, murmelte Superhirn. „Darf ich mal wissen, was das für Experimente sind, die am Ende mir in die Schuhe geschoben werden?“ mischte sich der Verteidigungsminister lautstark ein. „Wir haben eine Ölpest-Beseitigungsmethode erfunden!“ berichtete Professor Romilly. „Sie besteht aus einer Kanone mit Kombi-Strahlen-Magazin. Die Kombistrahlen ziehen den Ölteppich zusammen, so daß man ihn mit Laser zerschneiden und als steinhartes Bauelement verwenden kann. Leider ist eine winzige Stelle des Strahlenmagazins auf dem Forschungsschiff defekt geworden. Es war ausgerechnet der Astral-Zusatz, der ohne Einbündelung die Unsichtbarkeitswirkung hat. Herr Flohr und die Kollegin brachten die defekte Zelle sofort ins Institut. Wegen unsachgemäßer Lagerung war aber die Schutzhülle undicht geworden.“ „Heiter, heiter!“ schnaufte Kommissar Rose. „Sie müssen sich das so vorstellen“, fuhr der Professor fort, „als hätte der Behälter getropft.“ Er ließ im Gelände winzige, strahlenaktive Inseln zurück, einige kaum größer als Fingernägel, und das Dumme war, daß man diese Inseln nicht sehen konnte. Ebensowenig wie man einer normalen Herdplatte ansieht, daß sie unter Strom steht. Tote Gegenstände und Pflanzen werden von der harmlosen Astral-Strahlung nicht betroffen. Ich habe sofort alle nötigen Maßnahmen ergriffen: Ich habe die Spür- und Entgiftungssonden aus dem Boden fahren und DetoGegenwellen ausstrahlen lassen.“ „Das haben wir gemerkt!“ rief Tati. „Es hat auf uns gewirkt wie Juckpulver! Wir sind wie närrisch um das Blumenbeet gehopst und haben allerlei Kapriolen vollführt!“ Einer der Minister schaltete sich ein: „Die Versuchspläne und Erfahrungsberichte nehmen wir uns später vor. Zunächst möchte ich wissen: Wer ist dafür verantwortlich, daß die Schutzhülle der defekten Zelle nicht sorgfältig geprüft wurde? Und wer zog damit durchs Gelände wie mit einer Tüte Bonbons in der Hand?“ „Ich!“ rief Professor Flohr mit verblüffender Offenheit. „Ich bin nicht so zimperlich für meine Person!“ „Auch für andere nicht - und das ist Ihr Pech!“ sagte der Forschungsminister schneidend. „Herr Professor Flohr, Sie sind auf der Stelle entlassen!“ „Gut, gut, gut!“ lachte der Hüne, „Um so besser! Mir ist längst ein Job in Übersee geboten worden.“ „Lassen Sie sich nicht aufhalten!“ konterte der Minister, Professor Flohr schritt hocherhobenen Haupte hinaus. „Und was machen wir mit Micha?“ fragte Superhirn. „Der bleibt mein persönlicher Gast!“ erklärte Professor Romilly. „Ich räume ihm den Anbau in meinen Bungalow ein, und der Garten mit Swimmingpool steht ihm jederzeit zur Verfügung. Frau Hammerstroem wird ihn betreuen, bis er wieder voll sichtbar ist .“ „Au fein!“ Michas Kopf grinste. „Aber den nehme ich mit!“ „Und wo steckt man uns hin?“ fragte Henri. „In den Felsgängen unter dem Turm sind ja noch die unsichtbaren Hunde!“
„Ihr fünf anderen seid meine Gäste!“ sagte der Forschungsminister. „Ich miete euch auf der Insel Oléron ein. Dort könnt ihr segeln, angeln, surfen, reiten, sonnenbaden und Minigolf spielen, bis Micha euch - von Kopf bis Fuß erkennbar - abholt!“ „Das ist kein Ausgleich!“ protestierte Gérard. „Micha ist doch schon übermorgen wieder voll da!“ Alle lachten. „Nun, dann wird Micha bis zum Ferienschluß zu euch auf die Insel kommen!“ versprach der Minister. „Dann hätte ich nur noch eine Bitte“, meldete sich Superhirn, der mit Tati geflüstert hatte. „Vergessen Sie nicht, daß es auch an Madame Dydon etwas gutzumachen gibt!“ „Die schicke ich euch als Gesellschaftsdame“ sagte Professor Romilly aufgeräumt. „Ja!“ rief Prosper begeistert. Der gute Junge wollte hinzufügen: Dann putze und wasche ich auch mal für sie! Im Eifer wurde daraus: „Ich p-p-putze und wasche sie ...!“ Da wackelte vor Lachen selbst Michas Kopf.
ENDE
Superhirn Ein Zug verschwindet 1. Ein Zug verschwindet - und Superhirn kommt zu spät „Still, Sultan“, beschwichtigte der Nachtpförtner seinen Schäferhund. Und zu sich selber sagte er: „Es ist nichts. Nichts. Nur der Nachtzug, der verdammte Nachtzug.“ Er straffte die Leine, so daß er den zitternden Leib des Hundes an seinem Knie spürte. Weiß der Teufel, dachte er, der Zug ist noch nicht zu hören - aber Sultan hat wohl so etwas wie ein inneres Vorsignal. Das erklär mir mal einer! Die Julinacht am Atlantik - nahe der Girondemündung - war warm, wenn auch ein wenig feucht. Noch zwanzig Kilometer landeinwärts spürte man die Brise der See. Dunst lag über Weinfeldern, Weiden und Brachland. Die Wolkendecke gab den Mond nur selten frei. Mit dem unruhigen Hund stapfte der Pförtner Morant über das Werftgelände, am Zaun entlang, der dem Verlauf des Treidelpfades und dem Kanal folgte. Bei der hintersten Halle leuchteten Scheinwerfer. Dort legten zwei Arbeiter und ein Gehilfe letzte Hand an ein hochgebocktes Austernboot. Die Nachtschicht war nötig geworden, weil die Decksdübel nicht rechtzeitig eingetroffen waren. „Der Hund ist ein Menschenfresser!“ meinte der Gehilfe Edi mißtrauisch. Er trat zur Seite und griff nach seiner Bierflasche. „Halten Sie das Biest fest, Morant. Ich will nicht als Knochenbündel heimfahren.“ Morant kicherte. „Keine Angst, Edi. Du bist erst gestern gekommen, und deine Arbeit fällt ausgerechnet in unsere Geisterstunde. Sultan tut dir nichts. Er hat's in der Nase, daß du zu uns gehörst. Aber es ist zu komisch: Immer, wenn der SILBERBLITZ fällig ist, kriegt er das Kribbeln.“ „SILBERBLITZ?“ fragte Edi verständnislos. Der ältere Arbeiter oben auf dem Boot mußte lachen. „Ein Privatzug von der Küste. Vom Cap Felmy. Letzter Schrei der Technik. Fast so einer wie die Schienentorpedos in Japan. Na ja, er kommt ja auch aus dem Brossacer Forschungsinstitut. Bringt jede Nacht geheimes Zeug aus den Labors nach Buronne an die Hauptbahn.“ „Waaas?“ Edi stellte die Bierflasche ab. „Ich hab sechs Monate in „ner japanischen Autofabrik gearbeitet. Ich kenn die fliegenden Torpedos, diese Wahnsinnszüge mit fast dreihundert Stundenkilometern! Und jetzt ist man dabei, Loks zu testen, die über den Schienen schweben, die sollen noch schneller sein. So ein Ding habt ihr hier?“ „Ganz so wild sind wir nicht!“ grinste der andere Arbeiter. „Der SILBERBLITZ ist nichts weiter als 'ne Werksbahn: Diesellok, ein paar Waggons mit Kleincontainern, aber alles schnittig und sauber, prima isoliert. In hellen Nächten denkst du, da zischt 'ne Silberschlange vorbei!“ Sultan winselte. „Da kommt er!“ bemerkte Morant. „Das ist der SILBERBLITZ!“ Edi trat an den Zaun und blickte über den Kanal. In nordöstlicher Richtung sah man die starken Scheinwerfer wie zwei stechende, bösartige Augen. Der Hund begann zu jaulen. Edi drehte sich kurz um. „Aber man hört ja gar nichts!“ „Sultan hat andere Trommelfelle“, behauptete Morant. „Es hängt wohl auch damit zusammen, daß...“ Er brach ab, denn der Gehilfe stieß einen Ruf des Erstaunens aus. An der Böschung, über die der Zug heransauste, befand sich ein Peitschenmast mit ziemlich hellem Licht. Als der SILBERBLITZ daran vorbeifuhr, sah man die Stromlinienhaube der Lok mit den Cockpitfenstern: gleichsam ein Flugzeug ohne Tragflächen. „Donnerwetter!“ flüsterte Edi. „Das soll ein Werkzug sein? Dann aber sicher die rassigste aller Kleinbahnen! So'n Ding möcht ich haben!“
Das Mondlicht gab für einen Moment die Uferträger der alten Kanalbrücke frei. Edi wandte seinen Blick dorthin, um den SILBERBLITZ in seiner ganzen Schnittigkeit zu sehen. Doch die Pfeiler versanken wieder im Wolkendunkel, ohne daß die Scheinwerfer der Lok sie gestreift hätten. Sultan heulte laut. Morant hatte Mühe, ihn zu halten und zu beschwichtigen. Inzwischen rief Edi entsetzt: „Was ist das? Der Zug ist weg! Verschwunden! Er kam nicht über die Brücke! Er ist - er ist wie vom Erdboden verschluckt!“ Die drei Männer lachten. Der ältere Werftarbeiter sagte gemütlich: „Merkst auch alles, Edi. Der SILBERBLITZ fährt nicht über die Brücke. Wär auch ein Wunder. Das ist 'ne alte Hebebrücke, und der Übergang ist hoch oben an den Pfeilern arretiert. Siehst du den Schatten?“ „Ach ja“, entgegnete Edi ein wenig beschämt. „Hätte ich mir denken können. Wunderte mich vorhin schon, was das Ding da oben soll.“ „Schrott, der auf Demontage wartet“, erläuterte der jüngere Bootsbauer. „Früher ging da die Austernbahn von Brossac-Baie nach Royan. Die Brücke wurde per Dampfkraft runtergelassen und immer gleich wieder hochgeschoben, damit die Kanalschiffe passieren konnten. Jetzt werden die Austern in Lkws transportiert. Die Bahntrasse nach Royan ist wegen der Hotels und Campingplätze abgerissen worden. Der SILBERBLITZ fährt unter dem Kanal durch und macht dann einen langen Schleif nach Buronne!“ Edi drehte sich unwillkürlich nach Südwesten. „Aber wo ist der Zug geblieben? Er taucht ja nirgends wieder auf!“ „Er fährt unterirdisch weiter“, murrte der Nachtpförtner, den das genauso zu irritieren schien wie seinen Hund. „Er saust durch einen langen Tunnel aus vergrabenen Fertigteilen. Fast wie durch 'ne Pipeline.“ „Dann kann ich ja lange glotzen“, sagte Edi achselzuckend. „Und warum benimmt sich der Köter so komisch? Der müßte sich doch an den Zug gewöhnt haben.“ „Der Boden vibriert unmerklich“, versuchte Morant zu erklären. „Wir spüren das nicht. Aber der Hund kriegt das in die Pfoten.“ Er fügte hinzu: „Horcht! Die Schafe dahinten, die haben sich noch immer nicht beruhigt!“ Man hörte vielstimmiges, leises Blöken von irgendwoher aus der Nacht. „Die Vögel aus den Hecken und Büschen fliegen jedesmal hoch, lange bevor die Lokscheinwerfer in Sicht sind“, sagte der ältere Arbeiter, „wie bei 'nem fernen Erdbeben, das unsereiner nicht wahrnimmt. So - aber nun ran! Meiner Mutter Sohn will Feierabend machen, bevor die Sonne aufgeht!“ Der Nachtpförtner schnalzte mit der Zunge und stapfte weiter, nachdem er Sultans Hals beruhigend getätschelt hatte. „Den SILBERBLITZ wirst du noch oft genug erleben, Edi!“ rief er über die Schulter zurück. „Na klar“, murmelten die Bootsbauer, die bereits wieder über ihrer Arbeit waren. Keiner der vier Männer ahnte, daß er den SILBERBLITZ zum letzten, zum allerletzten Mal gesehen hatte ... Knapp zehn Stunden später trafen fünf Jugendliche aus einer anderen Richtung und in einem ganz anderen Zug. nämlich dem Pariser „Atlantik-Expreß“ der Staatsbahn, in Buronne ein: die Geschwister Henri, Tatjana - genannt Tati -, ihr jüngerer Bruder Micha und Henris Freunde Gérard und Prosper. Ihr Endziel war das Brossacer Forschungsinstitut, dessen Werkzug SILBERBLITZ um ein Uhr in der Nacht gestartet war. Doch davon wußten die Ankömmlinge nichts. Obwohl sie schon öfter Feriengäste des Instituts am Cap Felmy gewesen waren, hatten sie den SILBERBLITZ nie kennengelernt. Der Werkbahnbetrieb lief erst seit Februar des Jahres. „Leg Loulou das Halsband um“, ermahnte Tati den jüngeren Bruder. Der schwarze Zwergpudel war der unzertrennliche Begleiter der Gruppe. Noch hatte der Expreß den Bahnhof nicht erreicht, aber alle standen schon mit ihren Campingbeuteln vor der Waggontür. Es war ein sonniger Vormittag, und sie brannten darauf, ins Freie zu gelangen. „Gleich raus, zum Packwagen, die Fahrräder geschnappt - und ab nach Brossac“, drängte der zapplige Prosper.
„Ich wollte, ich sähe einen Fußballplatz“, seufzte Gérard, wegen seines Hobbys und seines Rundschädels oft als „Fußballkopf“ gehänselt. „Surfen, segeln, tauchen, fischen, faulenzen“, schwärmte Micha. „Tati melden wir zum SommerTanzkurs an. Und - und ...“ „Sachte, sachte“, unterbrach der besonnene Henri. „Wird sich alles finden. Erst müssen wir im Bahnhof sein.“ Doch kurz vor der Einfahrt auf Gleis l hielt der Atlantik-Expreß. „W-w-was ist denn nur los?“ rief Prosper. Tati drückte ihre Nase an ein Fenster, „Ich dachte. Buronne wäre ein .aufstrebendes Seebad'. So steht's im Prospekt. Dabei besteht die Gegend nur aus Schienen.“ „Jede Menge“, bestätigte Gérard. „Haupt- und Nebengleise, Schmalspur, Rangieranlagen... Hier hat 'n Riese seinen Sammeltick ausgetobt.“ Die Anreise über Buronne war für die fünf etwas Neues. Bisher waren sie auf Autostraßen nach Brossac gelangt. „Vier Minuten Verspätung“, stellte Henri fest. „Na ja, das bißchen Warten schadet Freund Superhirn nichts.“ Marcel, der Sechste im Bunde, der seinen Spitznamen seiner Blitzgescheitheit verdankte, wollte Tati und die Jungen abholen, um mit ihnen gemeinsam zum Brossacer Forschungsinstitut am Cap Felmy zu fahren. Sein Vater hatte dort gearbeitet, bevor er ein afrikanisches Projekt übernahm, und der Sohn und seine Freunde waren gern gesehene Feriengäste dort. Besonders in diesem Jahr, denn seit einiger Zeit leitete Superhirns Patenonkel, Professor Victor Kyber, das Institut. Der Expreß hielt noch immer vor dem Bahnhof. Hinter den Jugendlichen stauten sich Reisende mit ihrem Gepäck im Gang. „Ich verpasse den Anschluß nach Royan!“ rief eine Frau. Da knackte es in den Waggonlautsprechern: „Durchsage des Zugführers! Zug steht auf freier Strecke, noch nicht in der Station! Das Aussteigen ist verboten! Wer das Verbot mißachtet, riskiert in eine Polizeiaktion zu geraten. Achtung ...“ „Po-po-Polizeiaktion?“ stammelte Prosper. „W-w-was heißt denn das?“ „Fahndung nach Schmugglern“, vermutete Gérard. „Da! Polizisten mit Schäferhunden!“ „Wo? Wo? Wo?“ rief Micha. Er zwängte sich neben Tati und preßte sein Gesicht an die Scheibe. „Ja! Ich seh sie! Aber es sind auch Soldaten da. Und Feuerwehrmänner!“ „Vielleicht brennt der Bahnhof“, meinte ein Mann mit spöttischem Grinsen. „Was wird aus meinem Anschluß nach Royan?“ ließ sich die Frau wieder hören. „Gleis 7 oder Gleis 8! Wie komme ich da hin?“ „Durch den Rauch!“ sagte der Witzbold. „Quatsch - Rauch!“ murmelte Henri. „Keine Spur davon! Und nirgendwo ein Löschfahrzeug ...“ „Achtung!“ ertönte die Stimme des Zugführers wieder. Zur gleichen Zeit spürte man einen leisen Ruck. „Der Atlantik-Expreß fährt jetzt in die Station von Buronne ein. Bitte öffnen Sie die Türen erst beim endgültigen Halt. Ende der Durchsage.“ „Na also!“ Tati atmete auf. „Wahrscheinlich ist nur irgend so ein Kesselwagen leck. Oder es war Fehlalarm. - Da sind wir. Seht euch gleich nach Superhirn um!“ Auf dem Bahnsteig fand sich die Gruppe mit Pudel und Campingzeug von eiligen Reisenden umgeben, die den Ausgängen zustrebten. Das Mädchen hob den Hund hoch. Micha kämpfte heftig gegen den Strom, Prosper folgte in der Aufregung dem allgemeinen Gedränge. „Hierher!“ rief Henri. „Zusammenbleiben! Sieht jemand Superhirn?“ Zu diesem Zeitpunkt war die fahrplanmäßige Ankunftszeit bereits um vierzehn Minuten überschritten. „Warten wir, bis die Leute weg sind“, schlug Gérard vor. Er spähte an der Wagenkette des Expreßzuges entlang. „Vorn ist Superhirn nicht. Hinten auch nicht.“ Tati horchte auf. „Da dröhnt wieder ein Lautsprecher. Wahrscheinlich der Fahrdienstleiter.“ Sie drückte den zappelnden Pudel an sich. Der Bahnsteig lichtete sich allmählich. Bald standen die Gefährten allein, und Superhirn war immer noch nicht aufgetaucht!
„Komisch“, meinte Henri. „Superhirn ist sonst doch 'ne lebende Stoppuhr. Sein Timing hat sonst immer geklappt...“ Tati schüttelte den Kopf. „Hier ist doch mehr los, als ich dachte: Man hat den gesamten Zugverkehr von und nach Buronne eingestellt. Alle Strecken sind gesperrt. Für die Reisenden stehen Busse bereit.“ Henri blickte in die Luft. „Schon der vierte oder fünfte Hubschrauber, der über dem Bahnhof kurvt. Die suchen was. Ja - es macht genau den Eindruck, als wären die auf was ganz Bestimmtes aus!“ „Und da drüben steht ein Eisenbahnkran“!, bemerkte Gérard. „Habt ihr je so ein Mordsding gesehen? Ein Militärgerät! Und die Soldaten sind Eisenbahnpioniere!“ „Tati hat recht“, murmelte Henri. „Hier ist mehr los als bloß ein läppischer Kesselwagen-Defekt. Es muß was ganz, ganz Dolles sein! „He, was steht ihr da herum?“ rief ein Umformierter. Es war kein Ortsgendarm, kein gewöhnlicher Polizist, sondern ein Beamter der Bahnpolizei. „Eure Fahrräder? Bleibt, wo ihr seid, die werden euch gebracht!“ „Kinder, ist der aber nervös!“ bemerkte Tati. „Überhaupt, wenn ich mich so umschaue: Ich habe selten so nervöse Männer erlebt!“ Alle blickten dem Elektrokarren entgegen, der ein Rollgestell mit Fahrrädern heranzog. Da erklang hinter ihnen eine atemlose Stimme: „So - da bin ich ...!“ Die fünf fuhren wie elektrisiert herum. Es war Superhirn! Sie schwiegen verdutzt, während Loulou freudig bellend an dem spindeldürren Jungen hochsprang. Superhirn trug eine Strandmütze mit grünem Schirm, der seinem Gesicht einen käsigen Schimmer verlieh. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern wirkten unnatürlich groß. „Tut mir leid“, sagte er hastig. „Wolke eigentlich schon nachts mit dem SILBERBLITZ kommen, irgendwo im Schlafsack pennen und in der Bucht von Buronne baden...“ „Und da hatte dich ein Fisch an der Angel“, versuchte Micha zu spaßen. „Laß mich erst mal ausreden“, entgegnete Superhirn. „Der Lokführer der Brossacer Werkbahn fuhr ohne mich. Hatte sich's anders überlegt - im letzten Moment. Mein Rad könne nicht mit, meinte er.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Ein Glück, denn sonst stünde ich jetzt nicht hier!“ „Ein Witz, was?“ grinste Gérard. „Weil der Kerl von der Werkbahn - wie heißt sie? SILBERBLITZ? - dich .abgeblitzt hat, kommst du zu spät?“ „Im Institut laufen sie wie die aufgescheuchten Ameisen herum“, berichtete Superhirn. „Ich packte mein Rad also auf einen Lkw, der hierherfuhr. Vorher hab ich mit den Suchtrupps in Tunnels geschnüffelt, leider vergebens!“ „Ver-vergebens ... ?“fragte Prosper ahnungsvoll. „Der SILBERBLITZ ist nämlich - verschwunden“, sagte Superhirn dumpf. „Der - der ...“ Selbst Henri fand keine Worte. „Die neue Werkbahn? Die vom Brossacer Institut nach Buronne? Die - ist weg ...?“ Superhirn nickte. „Spurlos. Als hätte sich der SILBERBLITZ in Luft verwandelt. Man sucht ihn seit Sonnenaufgang auf allen Schienen. Hubschrauber kreisen über der ganzen Gegend. Im Meer, vor den Klippen, steht ein Taucherboot. Aber bis jetzt immer nur: Fehlanzeige, Fehlanzeige!“ Die Ankömmlinge kramten schweigend nach ihren Gepäckscheinen und nahmen ihre Fahrräder entgegen. Tati begriff, was für sie alle das wichtigste war: „Und mit dem SILBERBLITZ, dem Zug, der verschwunden ist, wolltest du fahren, Superhirn?“ „Ja!“ „Dann können wir aber wirklich von Glück reden“, sagte das Mädchen energisch. „Wo hast denn du dein Rad? Komm jetzt! Wir besprechen die Sache unterwegs ...“ 2. Geklaut, abgestürzt oder explodiert?
„Den Zug kann doch keiner geklaut haben“, meinte Gérard, als die sechs - mit Superhirn an der Spitze - aus dem Ort hinausradelten. Superhirn kannte einen Abkürzungsweg nach Brossac, der an Weinfeldern und Weiden entlang durch abgelegene Dörfer führte. Über ihnen knatterten Hubschrauber in immer weiteren Kreisen. „Wenn die diesen SILBERBLITZ suchen“, sagte Henri, „na, dann sind die ganz schön mutig. Soll der irgendwo an einem Kirchturm hängen?“ Der einzige, der sich nicht um das Rätsel kümmerte, war Loulou. Schnuppernd saß er im Korb vor Tatis Lenkstange. Ihre Beutel hatten die Radler auf den Gepäckhaltern verstaut. Über Michas Zeug tanzte ein tolpatschig befestigter Tuchbeutel, in dem Superhirn beiläufig einen Fußball vermutete... Prosper hob sich im Sattel. „W-w-wo ist denn die Geisterstrecke? Die Schienen müßte man doch sehen!“ Superhirn deutete meerwärts. „Bei Haute Buronne fährt der SILBERBLITZ an der Steilküste lang. Und zwar dreißig Meter über dem Atlantik.“ „Ha!“ rief Micha. „Dann ist er abgestürzt ...!“ „Abgestürzt!“ wiederholte Gérard. „Klar! Was denn sonst?“ „Natürlich“, rief Tati. „Es wäre nicht die erste Bahn, die in einen Abgrund gefallen ist!“ „Die Hubschrauberpiloten scheinen das aber nicht zu glauben“, stellte Henri fest. „Seht! Sie suchen immer weiter landein. Wo kreisen sie jetzt? Das ist doch die Gegend, wo das römische Amphitheater ausgegraben wurde!“ Die Freunde fuhren jetzt in zwei Gruppen über einen staubigen Feldweg. „Abgestürzt ...?“ griff Superhirn die Vermutung Michas wieder auf. „Ich muß euch enttäuschen. Es stimmt zwar: Der SILBERBLITZ folgt zehn Kilometer der hohen Felsenstrecke, auf der früher ein Touristenbähnchen verkehrte. Fünf Kilometer Tunnel, dann fünf Kilometer Balkon, also freie Trasse mit einer starken Mauer zum Meer. Die Mauer ist aber an keiner Stelle beschädigt oder gar durchbrochen.“ „Dann ist er explodiert!“ rief Prosper. „Hast du nicht gesagt, das war ein Laborzug? Sicher hat er hochbrisante Ladung mitgeführt. Sprengsäure, Feststoff-Proben für Raketen, vielleicht sogar Raketenmodelle!“ „Nein“, widersprach Superhirn entschieden. „Stellt eure Phantasie mal auf Sparflamme. Der SILBERBLITZ hatte überhaupt nichts Sensationelles geladen. Das ist's ja gerade, und deshalb sind die Männer alle so ratlos.“ „Aber wenigstens was Teures muß doch drin gewesen sein“, meinte Tati beinahe ärgerlich. „Elektronenmikroskope vielleicht, Forschungskameras, oder Platindrähte, Industrie-Diamanten meinetwegen ein Koffer mit Geheimformeln!“ Superhirn lachte. „Blumenkästen! Der Zug transportierte alte Blumenkästen zum Wegschmeißen! Wert - gleich Null!“ „Gleich Null? Du willst uns wohl verklapsen“, begann Gérard. „Alte Blumenkästen ...“ Doch Superhirn fuhr ungerührt fort: „Alte Blumenkästen, du hast richtig gehört. Dazu ein paar Schippen Sand, etwas Asche, unbrauchbar gemachte Folien, die Trümmer einer Tiefkühltruhe - ich sagte: die Trümmer!“ „Trümmer!“ ächzte Micha. „Jawohl. Und paßt gut auf: zerstückelte Bodenbeläge, massenweise welkes Wurzelzeug, 'ne Menge Wasserkanister zum Vernichten, zerfetzte Laborkittel, kaputte Handschuhe, gebrauchte Watte, ganze Ballen schmutziger Zellstofftücher und - Glasbruch. Glasbruch in jeder Form: Scherben, Splitter, Staub!“ Micha fiel fast vom Rad. „Dann war das ja ein - ein Müllzug ...!“ „Na, na“, bremste Henri. „Das klingt, als wärst du jetzt beleidigt. Aber weg ist weg. Und das Rätsel ist dadurch nicht gelöst, daß es nicht der Paris-Lyon-Expreß war.“ „Ich hab das so verstanden, als war der SILBERBLITZ was ganz Besonderes gewesen“, maulte Micha, „ein schnittiges, rassiges Schmuckstück für blitzblanke Laborgeräte, aber keine alte Dreckschleuder.“
Die Freunde fuhren durch ein kleines Dorf und hatten eine Weile damit zu tun, die verschiedensten Hunde abzuwimmeln, die sich mit Loulou bekannt machen wollten. Der Weg führte nun durch weithin unbebautes, brachliegendes Land. Etwa zehn Minuten strampelten sie zwischen Buschwerk und Hecken wilder Brombeeren dahin. Die Sonne stand hoch am blendend weißen Himmel, der für das ganze Gebiet nahe der Atlantikküste so typisch war. Zum Glück wehte fortwährend ein leichter, erfrischender Wind. „So, Micha!“ rief Superhirn plötzlich in alarmierendem Ton. „Nimm mal den Kopf hoch, guck nach vorn, etwas weiter links, ja? Da hast du deine Dreckschleuder ...!“ Auch die anderen hoben die Köpfe. Das Radeln auf den Sandwegen hatte sie ermüdet - und die Düsterkeit des Geschehnisses bewegte ihre Gemüter. Um so erregter, ja, ermunternder, wirkte der Anblick, der sich ihnen unversehens bot. In der angegebenen Richtung flimmerte Wasser vor ihnen wie ein grünbetupfter Spiegel, offenbar sehr flach - eher ein schier grenzenloser Sumpf. Wie der Abschnitt eines riesengroßen Kreises, wölbte sich eine lange, schattenhafte Biegung darüber hin. Bei näherem Hinsehen war aber nur der Ansatz jeweils an den Ufern des Geschimmers bogenartig, die Verbindung stellte eine Gerade dar. Und sie war keine Fata Morgana, denn sie wurde durch Pfeiler gestützt. „Ei-ei-eine Brücke ...!“ stotterte Prosper. Achtlos warfen die Jungen ihre Räder hin, nur Tati nahm den Pudel aus dem Korb, bevor auch sie zum Wegrand strebte, um die unerwartete „Erscheinung“ zu bestaunen. „Hier herrscht starker Dunst“, erklärte Superhirn. „Ihr habt eure ,Stadt-Augen' mitgebracht und seid noch nicht daran gewöhnt.“ „Na, so viel seh ich jedenfalls“, sagte Tati ruhig, „daß das nicht nur eine Brücke ist, sondern eine Überführung auf Stelzen, wie bei Stadtbahnen - na, und bei Autobahnen. Aber...“, sie stutzte,“... das ist gar keine so wuchtige Sache. Das ist - Himmel, das ist eine Silberschlange, ein Zug! Das muß doch - das muß ...“ „... sag's ruhig: der SILBERBLITZ sein“, vollendete Superhirn. „Ist er aber nicht, sondern sein Bruder, der SILBERBLITZ II, der allerdings nur zu Meßzwecken dient. Äußerlich gleicht er dem verschwundenen Zug wie ein Ei dem anderen. Na, Micha? Wie findest du diese Art von Dreckschleudern?“ „So was Schönes hab ich noch nie gesehen!“ erklärte der Jüngste in seiner Verwirrung. Doch die Geschwister und die Freunde begriffen, wie er das meinte. Er hatte sich ja eine Reihe von rollenden, bedeckelten Mülleimern vorgestellt! Jetzt aber stand da auf der Überbrückung eine Stromlinienlok, makellos mattsilbern in der Sonne blinkend, schlank wie ein Blitzzacken, niedrig, geduckt: Ein kleiner Windhund auf dem Sprung! und die vier Wagen hingen ihr nicht etwa an wie einfache Anhänger, nein, sie schienen Teile dieser rassigen Lok zu sein ...!“ „W-w-was will der Blitz denn da?“ fragte Prosper beeindruckt. „Ich seh darunter was Schwarzes, Pontons oder so was Ähnliches!“ „Soldaten stochern im Sumpf herum“, erkannte Superhirn. „Und mit dem Ersatzzug will man die Fahrt der Unglücksbahn nachvollziehen, um Anhaltspunkte für ihr Verschwinden zu finden. Aber der SILBERBLITZ kann da nie und nimmer reingefallen sein, denn der Wassermatsch ist flach.“ Henri meinte: „Wenn der SILBERBLITZ so aussah wie der Zug da auf der Pfeilerstrecke - na, toll! Spitze! Eine hochmoderne Isolierbahn! Und dein Müll, Superhirn, war tödlicher Abfall, stimmt's? Virusverseuchte Pflanzen wahrscheinlich samt der Erde aus Laborversuchen, Bakterienwasser, Reagenzglasbruch. Lappen und Beläge mit Säure- und Kontaktgiftschäden. Die Container sollten in Buronne in einen Entsorgungszug umgeladen werden, Ziel: geheime Gift-Deponie! Hab ich recht?“ „Wer hat denn Interesse an solchem Zeug?“ lief Tati. „Ich meine: falls man die Entführung des Zuges vermutet!“ „Ha, ich weiß!“ triumphierte Micha. „Die Verbrecher wollten nicht den Müll, sie wollten den Zug! Es gibt 'ne Menge Hobby-Eisenbahner - und wenn ich einer wäre, ich würde mich auf solche Flitzer stürzen!“
„K-k-klar!“ Prosper zeigte den gleichen Eifer. „Micha trifft den Nagel auf den Kopf. In Buronne hat man den SILBERBLITZ auf ein falsches Gleis dirigiert. Ganz einfach!“ „So. Ganz einfach. Und das wäre die Lösung?“ Superhirn grinste spöttisch. „Und daran hätten die Fahnder noch nicht gedacht?“ „Aufs Nächstliegende kommt man oft nicht“, brummte Gérard. „Verwette deinen Fußballkopf, Gérard“, erwiderte Superhirn, „aber die Mühe wäre zu groß und zu teuer, eine Bahn zu .verschieben', die man auf der Messe in Hannover kaufen kann. Die Firma Krappe und Schmoll stellt solche Werkzüge her. Einige davon laufen in südafrikanischen Diamantminen. Ach - und das Wichtigste ...“ „Jaaa ...?“ fragten die anderen wie aus einem Munde. Was nun kam, war wirklich eine „Bombe“. „Der SILBERBLITZ paßt auf keine fremde Schiene“, erklärte Superhirn. „Und andererseits: Kein fremder Zug kann auf der SILBERBLITZ-Strecke fahren – außer seinem Doppelgänger dort auf der Überführung. Unser Werkbahngleis hat weder Normal-, noch Kleinbahn- oder Feldbahnspur, sondern Spezialbreite - etwa zwischen Feld- und Kleinbahnmaß.“ Gérard machte ein Gesicht, als hätte er soeben das „Tor des Monats“ am eigenen Leibe erlebt. Bevor jemand seiner Verblüffung Ausdruck geben konnte, kam von Osten her ein Geräusch. Es kam rasch näher und erfüllte die Luft mit immer stärkerem Maschinendonner. „W-w-was ist das ...?“schrie Prosper. Er hielt sich die Ohren zu. Die anderen duckten sich unwillkürlich. Der Pudel sprang wie besessen auf dem Feldweg hin und her. Ein gewaltiger Schatten flog in geringer Höhe über die Gruppe hinweg, ein Hubschrauber, aber kein gewöhnlicher: Es war ein Militärtransporter, und zwar einer der drei größten und modernsten, die Frankreich zu bieten hatte. „Ein Suiza vom Typ Atleth!“ brüllte Henri. „Was will denn der hier?“ Superhirn deutete zur Hochtrasse, die das wässrige Gelände auf Pfeilern überspannte. Der Hubschrauber flog darauf zu und querte sie dröhnend. Dann wendete er. Auf der Stelle schwankend, hielt er sich so tief wie möglich über dem SILBERBLITZ-Zwilling. „Mensch, der fegt den Zug glatt runter!“ befürchtete Micha. Durch die Luft pendelten Trossen. Die Männer auf den Schienen - putzig klein, fast wie Scharnierpüppchen - duckten sich unter den baumelnden Seilen und Haken. „Was sagst du nun. Superhirn?“ rief Gérard. „Man glaubt also doch an Verschiebung - aber durch die Luft! Man stellt dem Raub per Hubschrauber nach“ Superhirn schüttelte den Kopf. „Man prüft nur die Möglichkeit. Ein heimlicher Klau durch so ein donnerndes Monstrum? Ausgeschlossen!“ „Herrscht nicht Nachtflugverbot im Sommer?“ überlegte Tati. „Die Campingplätze sind nicht weitEin Hubschrauber dieser Art hätte Steine aufgeweckt.“ „Seht!“ sagte Superhirn. „Man merkt schon, daß der Versuch zwecklos ist. Die Maschine schwenkt ab. Sie kann zwar schwerere Dinge heben als eine Werkbahn. Aber die Sache hier würde Vorbereitungen an Ort und Stelle benötigen: also Lärm, Lärm und nochmals Lärm. Und Zeit. Zeit, die der SILBERBLITZ einfach nicht hatte. „Der Hubschrauber entfernte sich nach Nordosten. „Vorsicht, da kommt ein Auto!“ warnte Prosper. Ein grüner Sportwagen schnurrte über den Feldweg heran. Die Gefährten zerrten ihre Räder zur Seite. Tati griff nach dem Pudel. Aber das Auto hielt, und eine modisch frisierte Dame in flottem weißem Strandkleid stieg aus. Ihre Augen hatten etwas Jugendliches, doch ihr Blick versprühte Zorn. „Ich dachte, es wäre Polizei hier“, begann sie ohne Gruß. „An die Strecke, dort, komm ich nicht ran! Was ist das für ein Theater - nun sogar schon am Tage? Meine Schülerinnen wollen eine Polizeistreife gesehen haben. Ich würde den Beamten was hinter die Ohren schreiben: Der Zug muß weg! Dieser alberne SILBERBLITZ!“ Sie sah zur Trasse hinüber. „Die ganze Überführung muß abgerissen werden!“ Die Geschwister und Freunde warfen sich Blicke zu.
„Ihre Schülerinnen, sagten Sie?“ nahm Tati höflich das Gespräch auf. „Sie sind Lehrerin? Haben die Mädchen keine Ferien?“ „Ich bin die Direktorin des Schulheims ,La Rose'!“ entgegnete die Frau. „Meine Anstalt ist gleichzeitig Ferienheim.“ Ohne die Jungen weiter zu beachten, fuhr sie fort: „Ich heiße Ladour, Yvette Ladour.“ Sie hielt sich an Tati, die ihr vertrauenerweckend erschien. Inzwischen spähten die anderen durch die Hecke hügelwärts. „Da ist das Heim!“ raunte Micha. „,La Rose'! Ich seh die Fahnenstange mit blauem Tuch und aufgestickter gelber Rose. Piekfeines Haus. Wie ´n Hotel!“ Das stufenförmige Gebäude war dem Abhang eingepaßt. Die Terrassendächer schmückten prächtige Blumen. Und die Anordnung der Blumen auf dem Plateau ließ erkennen, daß es dort Sport- und Spielplätze gab. „Ich möchte wissen, wie ich da jetzt hinkomme, wo der Zug steht“, sagte die Direktorin laut zu Tati. „Ein Weg führt dort nicht hin, nun gut. Dann werde ich verlangen, daß der Lokführer entlassen wird.“ Superhirn fuhr herum. Auch die anderen horchten auf. „Ja, der Lokführer!“ wiederholte Madame Ladour. „Dieser Schienen-Casanova! Ein eitler, eingebildeter junger Geck! Filou, Hallodri, Allerweltskerl! Er verdreht meinen Mädchen die Köpfe! Und das - letzte Nacht - war der Gipfel. Der Bursche macht einen Zirkus aus meinem Heim. Er reißt die Mädchen aus den Betten...“ „Der Lokführer?“ vergewisserte sich Superhirn. „Wer denn sonst?“ rief Madame Ladour. „Nachts war der Teufel los! Er hatte das angekündigt, und ich bin extra aufgeblieben, um alles festzuhalten auf Band und Film: Punkt l Uhr 30 fuhr der SILBERBLITZ auf die Hochstrecke. 45 Sekunden später verschwand er im Schacht nach Belle-Buronne. Aber solange er im Freien fuhr, hat er ununterbrochen geblinkt und die Sirene heulen lassen.“ Sie wendete sich wieder an Tati: „Er macht ja jedesmal Unfug, der Herr „Ritter vom Silberblitz“, aber diesmal übertraf er sich selbst. Er weiß, daß die Mädchen nicht schlafen, bevor er seine Nachtvorstellung gegeben hat. Sie hingen aus den Fenstern, schwenkten Taschenlampen, und eine blies auf einer Trompete, die sie weißgottwoher hatte. Das reicht mir nun. Der Bursche kriegt eine Anzeige!“ „Madame“, sagte Superhirn schnell, „Sie haben den SILBERBLITZ gesehen? Er hat nicht angehalten, sein Tempo auch nicht verringert? Er kam pünktlich wie immer? Er tauchte aus dem Röhrenschacht auf, blieb 45 Sekunden auf der Überführung und verschwand am anderen Ende im Boden, ohne daß etwas Ungewöhnliches geschah ...?“ „Nichts Ungewöhnliches? Der Lokführer Otello - ja, so heißt er tatsächlich -, dieser Otello hatte auf der Post einer meiner Schülerinnen angekündigt, er würde ,Remmidemmi' machen, besonderen Jokus' - oder wie er sich ausdrückte. Soll das vielleicht nichts Ungewöhnliches sein?“ „Ich meine ...“, Superhirn räusperte sich, „haben Sie einen Hubschrauber gehört? Ist so ein Riesending - wie eben - hier herumgebraust?“ „In der Nacht? Das fehlte noch!“ sagte die Direktorin. „Nein, nein. Von einem Hubschrauber ist keine Rede. Der SILBERBLITZ hat mir genügt. Und wenn der Lokführer nicht rausfliegt, entlasse ich seine Verlobte - denn die ist bei mir Lehrerin!“ Diese unerwartete Eröffnung traf die Gefährten wie ein Schlag. Tati fand als erste Worte: „Wenn seine Verlobte im Heim wohnt, wollte er sicher nur ihr ein Zeichen geben.“ „Sie hat einen Bungalow am Strand bei Palmyre geerbt“, erwiderte die Direktorin. „Nachts ist sie niemals hier. Ja, und wenn man noch dazu mit einem hochbezahlten Lokführer verlobt ist, dann kann man natürlich leben wie ein Feriengast. Aber das wird sich ändern!“ „Ich fürchte“, sagte Superhirn ernst, „es hat sich schon geändert. Der SILBERBLITZ ist in der Nacht verschwunden, und mit ihm der Lokführer.“ „Aber“, begann Madame Ladour, „dahinten, auf der Überführung ...“ „... steht nur der Zweitzug“, unterbrach Superhirn. „Ich wundere mich, daß Sie von dem Fall noch nichts wissen! Wenn die Verlobte des Lokführers Ihre Angestellte ist...“
„Sie hat Urlaub, die Susanne“, murmelte Madame Ladour. „Aber wo kann der Zug verschwunden sein? Ist er ins Meer gestürzt? Den größten Teil der Strecke fährt er doch unterirdisch. Und, wie gesagt, dahinten auf der Überführung sah und hörte ich ihn in der Nacht. Kein Zweifel. Ich habe Beweise. Und Zeugen! Viele Zeugen!“ Der Direktorin war nichts weiter anzusehen. Aber Tatis Augen weiteten sich. „Entschuldige, Superhirn“, sagte das Mädchen, „es ist uns noch gar nicht richtig klar geworden, daß auch Menschen verschwunden sein könnten. Sehr dumm von uns, aber es kam alles so überraschend.“ „Das will ich meinen“, bestätigte Gérard. „Auch vom Zugbegleiter hat man keine Nachricht“, ergänzte Superhirn. „Er hieß - er heißt Alfons. Ich habe aber nur Otello vor der Abfahrt noch gesprochen.“ „Nun, der Rundfunk wird ja was durchgeben, und in der Abendzeitung steht sicher ein Bericht“, meinte Madame Ladour. Kopfschüttelnd stieg sie in ihr Auto. Die Gefährten blieben in einer Staubwolke zurück. „Micha ist schlecht geworden“, bemerkte Henri. „Kein Wunder!“ rief Tati. „Glaubt ihr, meine Knie zittern nicht? Außerdem ist Mittag vorbei- Wir brüten in der Hitze, und gegessen haben wir noch nichts, außer Schokolade und Keksen im Expreß. Fahren wir jetzt endlich in unser Quartier!“ Sie radelten weiter „querbeet“. Bis zum Damm der alten Austernbahn sahen sie die SILBERBLITZStrecke nicht mehr. Superhirn zeigte auf Wiesen und Weinfelder, unter denen die Schienen durch das Röhrensystem führten. Man bemerkte nur hier und da kleine hydrantenähnliche Gehäuse im Boden: die Entlüfter. Am frühen Nachmittag fuhr die Gruppe durch Brossac-Centre, und bald erreichte sie ihre Ferienunterkunft, den alten Leuchtturm beim Forschungsinstitut. „Ich lebe auf“, seufzte Tati. „Ein Bad, ein kühler Raum...“ „... und was zu essen!“ stöhnte Gérard. „D-d-dann sehen wir weiter“, japste Prosper. 3. Rätsel um den Lokführer Otello - eine Lehrerin taucht auf „Ihr habt euch wirklich den rechten Moment ausgesucht!“ klagte die Wirtschafterin, die die jungen Gäste im alten Turm empfing und zu betreuen hatte, Sie hieß Dydon, doch die Freunde hatten sie stets nur „Dingdong“ genannt. „Ach, und der Micha ist gewachsen! Und zu Tati muß man wohl bald ,Sie´ sagen, wie?“ So ging das ohne Punkt und Komma. Loulou sprang freudig an ihr hoch. Er witterte einen Begrüßungstrunk und einen entsprechenden Happen. „Hat euch Superhirn von dem verschwundenen Zug erzählt?“ wandte sich Madame Dydon an die Geschwister und Prosper und Gérard. „Wir haben nichts anderes vor Augen als silberne Blitze“, stöhnte Henri. „Was wir jetzt brauchten, war 'ne Erfrischung!“; „Steht schon bereit, steht schon bereit!“ strahlte die Frau. „Aprikosen-Kaltschale, Bratenstücke mit Kartoffeln und Salat, Milch oder Saft dazu .. .“ „Gehen wir erst in unsere Zimmer“, entschied Tati. „Unsere Koffer sind ja schon da.“ Superhirn folgte ihr mit dem hopsenden Hund in den Küchen- und Eßraum, während die anderen in ihre Quartiere strebten. „Gibt's was Neues?“ fragte er. „Es ist ein Kommissar aus Rochefort angelangt“, berichtete Madame Dydon, während sie dem Jungen ein Glas Milch auf den Tisch stellte. „Und?“ „Der Kommissar meint, der SILBERBLITZ kann nicht weg sein. Lokführer und Begleiter hätten ihn in Buronne in einen Schuppen geschoben, um sich in Ruhe zu besaufen. Sie lägen noch irgendwo schnarchend im Kraut.“
Superhirn sprang auf. „So ein Blödsinn. Ich war doch in Buronne, um die Freunde abzuholen! Und da bin ich vorher noch wie ein Wilder zwischen den Suchtrupps rumgelaufen. Was ich gehört habe, ist mehr als unheimlich!“ „Was denn?“ forschte die Frau. „Der SILBERBLITZ war bereits in den Staatsbahnbereich eingefahren. Er stand schon 150 Meter vor dem Ziel! Ja, Madame, ich weiß mehr, als die Leute denken! Der SILBERBLITZ kam aus dem Werkbahntunnel raus und blieb - wie immer - vor der Signalampel stehen, um das vereinbarte Hupsignal zu geben: Erbitte freie Fahrt zur Gift-Entladerampe! Mindestens zehn Arbeiter der Nachtschicht beschwören, den haltenden Zug gesehen und seine Hupe gehört zu haben.“ „Und dann war er weg?“ „Genau! Aber er paßt auf keine Normalschiene, also kann er sich nicht über die Verschiebegleise verdrückt haben. Ebensowenig fand man Spuren, etwa einer heimlichen Verladung, auf LkwTransporter.“ „Ziemlich viele Widersprüche“, meinte Madame Dydon. „Du bist also davon überzeugt, daß der Zug weg ist. Andererseits glaubst du - wie der Kommissar: Er kann gar nicht verschwunden sein!“ „Genau das ist das Problem“, nickte Superhirn. „Die Fahnder sehen es aber nur zur Hälfte. Meiner Meinung nach haben wir es mit einem unglaublichen Verbrechen zu tun!“ Er gähnte. „Aber ich muß mich unbedingt einen Moment aufs Ohr legen. Ich habe seit sechzehn, siebzehn Stunden nicht geschlafen.“ Er verließ den Raum gerade, als die Geschwister sowie Prosper und Gérard zurückkamen. „Superhirn verbirgt uns was!“ meinte Tati. „Sollen sich die Erwachsenen die Köpfe zerbrechen“, lenkte Madame Dydon ab. „Der SILBERBLITZ wird schon wieder auftauchen.“ „Das meinen Sie doch nicht im Ernst“, sagte Henri kopfschüttelnd. Nach dem Imbiß stiegen er und Gérard zur Aussichtsplattform empor, um die Such-Hubschrauber zu beobachten. Tati saß am Radio und wartete auf eine Durchsage. Prosper meldete vom Portal her: „Auf dem Institutsgelände steht ein Ü-Wagen vom Fernsehen, solche Dinger kenn ich. Auch Pressefahrzeuge scheinen da zu sein, jedenfalls wimmelt es von Leuten mit Fotoapparaten!“ „Ist mir schnuppe!“ Tati faßte einen Entschluß: „Wir bleiben hier, bis wir Näheres wissen. Wir haben heute genug in der Hitze geschmort. Ich schlage vor, wir packen erst mal in Ruhe unsere Koffer aus.“ Madame Dydon fuhr in ihrem Kombiwagen - ihrer neuen Errungenschaft - nach Brossac-Centre, um Einkäufe für das Abendessen zu machen. Als sie kurz nach 18 Uhr zurückkam, saßen ihre Schützlinge beim Tee. Auch Superhirn war wieder dabei. Er sah erstaunlich frisch aus, obwohl er kaum zwei Stunden geschlafen haben konnte. Nur Micha saß vor seiner Tasse, als bedrücke ihn irgend etwas. „Nun, wie ist die Stimmung im Ort?“ fragte Prosper neugierig. „Ach ...“, Madame Dydon winkte ab. „Man redet das unsinnigste Zeug. Besonders die alte Tante des Lokführers meint, sie wüßte schon alles.“ Superhirn horchte auf: „Was will sie wissen? Was - genau?“ Madame Dydon lachte ärgerlich. „Daß die Bahn verhext worden ist! Es läge ein Fluch über der Strecke, auch wenn die Schienen erneuert wurden.“ Sie unterbrach sich und wandte sich zum Eingang, denn der Pudel bellte. „Ist da jemand?“ rief sie. „Entschuldigen Sie“, ertönte eine weibliche Stimme. „Ich suche hier jemanden.“ Eine junge Frau, eher noch ein junges Mädchen, kam herein. Sie trug einen blauen Blusenanzug mit aufgestickter gelber Rose am Kragen, dazu einen gleichfarbigen Schal. Ihr dunkles Haar war zerzaust, ihr Gesicht auffällig blaß. Nur mit Mühe hielt sie sich auf den Füßen. Micha rutschte vom Stuhl und wich an die Wand zurück, als sähe er ein Gespenst. Den anderen fiel das nicht weiter auf, denn auch sie starrten die Besucherin an. „Mein Gott, Mademoiselle Susanne!“ rief Madame Dydon. „Susanne?“ murmelte Gérard. „Das muß die Lehrerin sein, die Braut vom SILBERBLITZ!“
„Ich wollte mit meinem Auto an die Bahnstrecke ran“, berichtete Susanne stockend. „Aber die Polizei ließ mich nicht durch, auch nicht zu Fuß. Ich hab ja alles viel zu spät erfahren. Otello wollte nach dem Dienst mit seinem Motorrad nach Palmyre kommen. Bis fünf Uhr früh lag ich wach, dann nahm ich eine Schlaftablette. Erst mittags stand ich auf, ich glaubte, er hätte mich mal wieder sitzenlassen, um einem Freund bei einer Reparatur zu helfen. Das tat er - das tut er öfter, und er kümmert sich dann um keine Zeit. Nun, ich war ärgerlich und ließ das Telefon klingeln. Dann arbeitete ich im Garten, und erst vor eineinhalb Stunden nahm ich den Hörer ab. Aber nicht Otello war am Apparat, sondern eine Schülerin. Sie hatte von der Direktorin erfahren, daß der SILBERBLITZ verschwunden sei ...“ „Nun setzen Sie sich da in den Sessel“, versuchte Frau Dydon sie zu beruhigen. „Das wird nichts anderes sein als eine ungewöhnliche Panne! Man tappt ja völlig im dunkeln.“ Die Lehrerin blickte auf. Fassungslos fragte sie: „Ja, wissen Sie denn noch nichts? Der SILBERBLITZ ist gefunden worden!“ Tati und die Jungen rührten sich nicht auf ihren Plätzen. Micha stand noch immer an der Wand. Und ausgerechnet er war es, der mit rauher Stimme fragte: „Wo .. .?“ „Auf der Felsenstrecke“, erwiderte Susanne. „Das heißt: Nicht darauf, sondern darunter. Die Trümmer liegen im Meer.“ „Ausgeschlossen“, meinte Superhirn. „Ausgeschlossen! Wer hat Ihnen das gesagt?“ „Ich erfuhr es eben im Stellwerk, Dort hörte ich auch, daß hier ein Junge ist, der als letzter mit Otello sprach.“ „Der Junge bin ich“, erklärte Superhirn. „Aber ich glaube auf keinen Fall, daß sich jetzt die Wassergeister mit Ihrem Otello unterhalten.“ „Superhirn ...!“ rief Tati entsetzt. Doch er bekam Schützenhilfe von unerwarteter Seite: „Ich glaube es auch nicht!“ sagte Micha fest. Tati trat rasch neben Susanne und stützte sie: „Mein Bruder und Superhirn sind ziemlich taktlos und vorlaut, aber sie meinen es nicht so.“ „Ich meine es genau so, wie ich es sage“, beharrte Superhirn. „Ich auch!“ erklärte Micha standhaft. „Es ging mir nur darum, zu hören, ob Otello vielleicht krank war. Oder - ob er was getrunken hatte“, fuhr die Lehrerin mit schwacher Stimme fort. Superhirn schüttelte den Kopf. „Er war stocknüchtern. Er machte mir klar, daß er mich nicht mitnehmen könne, weil mein Rad nicht in den Führerstand der Lok passe. Denn da habe er schon sein Motorrad stehen. Er wolle von Buronne aus zu seiner Verlobten fahren. Das behauptete er wenigstens.“ „Superhirn ...!“ mahnte Tati wieder. „Nun ja ...“, Superhirn sprach etwas freundlicher: „Ich kannte ihn ja kaum. Ich wußte nur, daß er bei der Herstellerfirma dieser SILBERBLITZ-Züge angestellt war, bevor er hierherkam - und daß er sie in aller Welt auf Industriemessen vorgeführt hat. Wir hatten noch keine Zeit gehabt, uns anzufreunden.“ „Keine Zeit - ja .. .“, hauchte Susanne. Sie stand jetzt zwischen Madame Dydon und Tati. Sie schwankte. „Die Kanzel der Lok hat man geborgen. Auch das Motorrad . ..“ „Achtung!“ rief Henri unterdrückt. Er und Gérard sprangen hinzu, denn die Lehrerin knickte bewußtlos zusammen. „Aufs Sofa mit ihr!“ keuchte Madame Dydon. „Das arme Kind!“ „Und der blöde Affe!“ betonte Micha. „Der blöde, blöde Affe, der die Trümmer aus dem Meer gefischt haben will!“ „Der war ich!“ sagte ein Mann von der Tür her. „Jedenfalls war ich es, der als erstes das Taucherschiff vor den Steilhang beordert hat!“ Auf der Schwelle stand Professor Kyber, Chef des Forschungsinstituts und zugleich Superhirns Onkel. Selbst für die, die ihn noch nicht kannten, war kein Irrtum möglich: Er trug seinen Namen in
unübersehbaren Buchstaben auf der linken Brustseite seines weißen Anzugs. Und auf seinem Schutzhelm, der ebenfalls weiß war, stand in signalroten Lettern: CHEF! 4. Liegt der „Silberblitz“ im Meer? -Superhirn verrät ein Geheimnis Professor Kyber unterschied sich in vieler Hinsicht von seinen Vorgängern. Er war klein, schlank, fast zierlich. Niemals fiel er aus der Rolle, Ungerechtigkeit und Übereifer lagen ihm fern. Auf den ersten Blick mochte man meinen, er neige zur Nervosität, doch auch das täuschte. Superhirns Vater hatte einmal gesagt: „Ein lebhafter Geist mit einem Gemüt aus Stein.“ Er nickte den Geschwistern und ihren Freunden flüchtig zu und betrachtete das junge Mädchen auf dem Sofa. „Die Braut des Lokführers“, erklärte Superhirn. „Ich weiß“, nickte Kyber. „Man sagte mir im Stellwerk, daß sie herkommen wollte.“ Er blickte hoch: „Ihr scheint nicht glauben zu wollen, daß der Zug ins Meer gestürzt ist?“ „Nein. Er stand ja schon vor dem Ziel - der Giftentsorgungsrampe“, sagte Superhirn. „Ich sprach in Buronne mit dem Werkbahnmeister und einigen Bahnarbeitern, die den SILBERBLITZ dort pünktlich und heil gesehen haben!“ „Die sind einem typischen Gewohnheitsirrtum zum Opfer gefallen“, entgegnete Kyber ungerührt. „Auch die Theorie des Kommissars aus Rochefort ist unhaltbar.“ „Das glaube ich“, sagte Superhirn. „Trotzdem kommt ein Unfall für mich nicht in Frage!“ „Für mich auch nicht!“ erklärte Micha mit erstaunlicher Beharrlichkeit. Kyber lächelte dünn. „Und ihr bleibt dabei? Obwohl unser Taucherboot die ersten Beweisstücke geborgen hat? Na, dann komm mal mit, Superhirn. Du auch, da - der Kleine, der so ungläubig guckt!“ „Ich heiße Micha!“ sagte der „Kleine“. Kyber sprach mit Madame Dydon ein paar Worte, die Otellos Verlobte betrafen. Dann fuhr er mit Superhirn und Micha im Auto zum benachbarten Institut hinunter. Die ganze Anlage mit den gepflegten Bauten, Grünflächen und dem Hangar machte eher den Eindruck einer eigenen, kleinen Stadt als den einer Anstalt. Doch hinter den Fassaden arbeitete hochqualifiziertes Personal an einem breitgefächerten Forschungsprogramm. „Onkel Victor!“ sagte Superhirn, bevor sie in den Chefhubschrauber umstiegen. „Onkel Victor, ich wette tausend zu eins, daß ihr euch da an eurem Unfallort in einer Sackgasse verrennt! Der SILBERBLITZ kann nie und nimmer ins Meer gestürzt sein. Die Schwachstelle am Steilhang paßt als Lösung so prima wie der Deckel auf einen Topf!“ „Nimm an, die Container mit dem Labor-Müll wären aber doch im Wassers, erwiderte Kyber, „und die bombensicheren Behälter wären gegen jede Wahrscheinlichkeit undicht geworden: Wie stünde ich vor der Welt denn da? Gewiß, die Ladung wurde vorher sterilisiert. Doch es gibt hochresistente, nahezu unvernichtbare Viren, und wir haben keine Erfahrung, wie die sich auf Dauer zum Meeresplankton verhalten. Es treten sowieso genug rätselhafte Seuchen auf, gegen die es keine Impfstoffe gibt. Also muß ich auf jeden Fall dort suchen lassen, wo die größte Gefahr besteht. Und ich weiß nicht, ich weiß immer noch nicht, was du. eigentlich willst! Wir sind ja bereits bei der Bergung!“ Superhirn schwieg, doch er biß sich auf die Unterlippe, als müsse er gewaltsam eine Mitteilung zurückhalten ... Die Maschine hob sich vom Boden und knatterte in den rotgold blendenden Himmel hinein. Südwestlich machte die Küste einen weiten Bogen, so daß sie diagonal fliegen mußten. Unten sah man den Damm der Austernbahn, über den die neuen Schienen führten. Der Strang verlief dann in der Erde weiter. Bis zum Anschluß an das Bett des längst vergessenen Touristenbähnchens tauchte das SILBERBLITZ-Gleis nur ein einziges Mal wieder auf: in der Nähe der Mädchenschule „La Rose“. Um Siedlungs- und Ferienschwerpunkte nicht zu berühren, wand sich der unterirdische RöhrenSchacht in Schlangenlinien. Der SILBERBLITZ mußte zwischen Brossac-Institut und Buronne-
Einfahrt 60 km zurücklegen, während die Freunde am Vormittag „querbeet“ nur 39 km gestrampelt waren. Der Hubschrauber mied die belebten Strande, folgte dem breiten Gürtel der herrlichen Strandsandkiefern, die von vielen Sommergästen fälschlich „Pinien“ genannt wurden, ließ die „Küste der Schönheit“ mit ihren Palasthotels, Promenaden und Mietbungalows hinter sich und steuerte das Klippengebiet der „Todeszunge“ hinter der verrotteten alten Essigfabrik an. Hier begann das felsige Gelände von Haute-Buronne, bis zum Jahre 1914 ein beliebtes Ausflugsziel, seitdem - aus vielerlei Gründen - immer wieder zur Sperrzone erklärt. Professor Kyber landete auf dem Plateau., wo einige der kleinen Diensthubschrauber parkten, die sich an der Suche beteiligt hatten. „Zur Strecke führt eine Leiter hinunter“, erklärte Kyber. Der Vorsprung bildete eine Art Längsbalkon, auf dem das neue Gleis von Tunnel zu Tunnel zwischen Felswand und Schutzmauer verlief. Hinter dieser Mauer führte ein dreißig Meter hoher Steilhang direkt ins Meer. Wegen unterseeischer Zuflüsse wirkte sich hier die Ebbe kaum aus, und das Taucherboot stand in ungünstigster Position. „Die Froschmänner sind ja lebensmüde“, murmelte Micha. Gruppen von uniformierten Helfern diskutierten mit Zivilisten, die Kyber als „Experten“ bezeichnete. Vor den Tunnels sah man einfache Schienenautos. Aber auch eine bullige Lok mit der Spurweite des verschwundenen Zuges war da. Sie hatte den kleinen, schweren, äußerst leistungsfähigen Bergungskran des Werkbahnbetriebs herangebracht. Den Ingenieur, der die Aufsicht führte, verband Sprechfunk mit dem Taucherboot. Die Trommel des Krans begann sich zu drehen, und bald erschien über der Mauer das Motorrad, das die Froschmänner unten geborgen hatten, „Ist das Otellos Maschine - oder ist sie es nicht?“ wandte sich der Professor an Superhirn. Doch statt des Jungen antwortete ein Polizist: „Einwandfrei. Marke und Kennzeichen sind mir bekannt!“ Er wiederholte das einein Mann gegenüber, den er mit „Kommissar Lenninger“ anredete. Das war der Kriminalist aus Rochefort. Natürlich sahen die Jungen auch Brossacer Beamte. Aus früheren Ferientagen gehörten die ja fast schon zu ihren Freunden. „Mensch!“ Micha stieß Superhirn an. „Ein tolles Motorrad, 'ne Hummel-Yazuki - deutschjapanisches Modell!“ Woher sich der Lokführer Otello den teuren Feuerstuhl hatte leisten können, kümmerte im Augenblick niemanden. Selbst Superhirn hatte noch nicht darüber nachgedacht. Um über die Schutzmauer meerwärts blicken zu können, mußte man zwei Leisten aus Beton erklimmen. Die Sonne blendete noch stark vom westlichen Horizont. Die vorgelagerte Festungsinsel Kastell Roc erschien wie ein Schattenriß. Superhirn war mit einem Zentimetermaß beschäftigt, als Micha ihn wieder am Hemd zupfte. „Von der Lok haben sie nichts geborgen als einen Teil des Dachs. Vom Führerstand aber nicht die Spur!“ Dieser Führerstand - das wußten sie jetzt zur Genüge - ähnelte äußerlich dem Gehäuse eines Flugzeugs. Viele „große“ Loks wurden längst so gebaut: etwa wie die Maschine des „LyonChampions“. Das war also nichts Neues. Superhirn knurrte: „Ich bin nicht blind, Micha. Was sie da aus dem Wasser gezogen haben, ist der hochklappbare Einstieg der Lok-Kabine.“ In diesem Augenblick rief ein Mann vom Schienenkran herab: „Der Fall liegt für mich klar, meine Herrschaften. Der SILBERBLITZ ist ohne menschliches Verschulden über die Mauer ins Meer gestürzt - oder besser: geflogen. Ich will das erläutern!“ „Was ist denn das für ein Spinner?“ raunte Micha. Aber schon sagte der Mann: „Sie wissen, ich bin vom Technischen Überwachungsverein. Wir kennen solche Fälle. Sehen Sie bitte die Markierung an der Innenseite der Unglücksstelle!“ Die Leute auf dem Gleis wandten sich um und reckten die Hälse. „Hier ist im Jahre 1913 eine Aussichtsbahn mit drei Personenwagen in die Tiefe gestürzt!“
„Da war der TÜV-Heini noch nicht auf der Welt“, ärgerte sich Micha. „Still!“ Superhirn lauschte angespannt. „Der Zug verunglückte damals aufgrund einer Erscheinung, die wir den Miller-Effekt nennen!“ „Den ,Miller ...' waaas ..?“ fragte ein Polizist. Der TÜV-Sprecher erklärte: „Walt Miller war ein New Yorker Hochbahn-Experte. Er hatte sieben ähnliche Abstürze untersucht, bis er auf folgendes kam: Ein fahrender Zug ist weitgehend mit einem Hohlkörper in einer Art Schwebezustand zu vergleichen. Fährt er nun an einer Wand entlang, hat er von dort keinen Luftwiderstand. Kommt jetzt - wie in unserem Fall - ein Windstoß von der Seeseite, so wird der Zug an die Wand geschleudert, prallt dort ab, hebt sich und saust wie ein Pfeil schräg vorwärts über die Mauer!“ „Auch in unserem Fall?“ meldete sich der Polizist wieder. „Sie meinen doch das Unglück von 1913!? Da verlief das alte, hochbordige Gleis viel dichter an der Felswand, und zur Seeseite gab es keine Schutzmauer, soviel ich hörte. Wer will denn das mit dieser SILBERBLITZ-Anlage vergleichen?“ „Erst im vorigen Jahr ist der Balkan-Expreß nach dem Miller-Effekt verunglückt“, konterte der Herr vom TÜV. „Und auf allen Autobahnen gab es massenweise Unfälle nach ähnlichem Prinzip. Ja, man kann das sogar auf bestimmte Flugkatastrophen in den Bergen übertragen.“ „Quatsch“, murmelte Superhirn. „Ich kenne den Miller-Effekt. Auch die Theorie vom fahrenden Zug als Teilvakuum - die ist sogar noch viel älter. Aber ich sehe hier keine Schramme auf der Mauer. Weder Kratzer, Splitter, Schleif spuren ...“ Er unterbrach sich, denn sein Onkel kam auf ihn zu. „Na, was sagt ihr nun?“ fragte er. „Daß das unmöglich stimmen kann“, rief Superhirn. „Der SILBERBLITZ hat sich ja dicht vorm Ziel noch mal gemeldet - da hatte er diese Stelle längst heil hinter sich.“ „Und hier ist nichts kaputt!“ bekräftigte Micha. „So- Und was ist das da . . .?“ fragte Professor Kyber in bedeutsamem Ton. Ei wies auf die Leiste an der Mauer: „Ein zerschmetterter Meßkasten.“ Es handelte sich um eins der Geräte, die auf der gesamten Strecke den Achsdruck, somit auch die Achsfolge in Bildschirm-Impulse für das kontrollierende Stellwerk umsetzen. Das Kästchen, nicht größer als eine Sardinenbüchse, war von der Spurensicherung der Kripo mit weißem Streupulver „abgegrenzt“ worden, außerdem lag jetzt eine durchsichtige Folie darüber. Superhirn betrachtete das zerbrochene Gerät. Dann starrte er den Professor an: „Da hat die Bergungslok was drauffallen lassen oder der Kranwagen: vielleicht einen Haken?!“ „Der Führer der Bergungslok hat den Kasten gleich heute morgen als beschädigt gemeldet“, erwiderte Kyber. Superhirn lachte, doch es klang nicht fröhlich: „Läßt du dir diesen dicken Bären aufbinden, Onkel? Der SILBERBLITZ ist hier vorübergefahren - er ist hier vorübergefahren wie geschmiert! Man hat ihn bis Buronne-Einfahrt auf dem Bildschirm gehabt, und der Computer im Stellwerk spuckte den kompletten Fahrtenschreiber aus, den Papierstreifen mit den Meßdaten!“ „Phantom-Meßwerte, Schein-Daten!“ mischte sich Kommissar Lenninger ein. „Als der Kasten hier zertrümmert wurde, übertrug sich die Vibration auf das Meldesystem der restlichen Strecke. Eine ,technische Gehirnerschütterung', verstehst du? Die kann in jedem TV-Sender, in jedem Kraftwerk, in jeder Telefonzentrale vorkommen. Selbst bei der Staatsbahn sind ähnliche Pannen möglich!“ Der Kranführer trat an Kyber heran und sagte: „Das Taucherschiff meldet die Bergung des Zugbegleitersitzes samt angehängter Provianttasche, Man ortet eine größere Menge Metall, anscheinend den abgestürzten SILBERBLITZ. Aber die Flut setzt jetzt voll ein. Für heute empfiehlt es sich, die Sucharbeit abzubrechen !“ Professor Kyber nickte. Er wandte sich Superhirn wieder zu, doch der Junge schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen, ausgeschlossen!“ beharrte er. Und mit gedämpfter Stimme gestand er dem Onkel: „Ich hab's für mich behalten wollen, aber ich sehe, es geht nun nicht mehr ...“
„Was .,.?“ fragte Professor Kyber. „Was wolltest du für dich behalten?“ „Daß ich es war, der den SILBERBLITZ auf seiner letzten Fahrt überwacht hat! Jawohl - ich! Ich selber saß im Instituts-Stellwerk, sah die Meßwerte auf dem Bildschirm, den Fahrtverlauf auf der Leuchttafel - und den SILBERBLITZ wie im Film auf den Sichtmonitoren. Ich stand mit Otello in Funkverbindung und nahm seine Sprechfunk-Meldung ab: ,Ende der Werkstrecke, Einfahrt BuronneRangierbahnhof´“ Micha stand sprachlos da. „Und wo ...“, begann Kyber eisig, „wo war der diensthabende Stellwerksbeamte?“ „Auch im Raum. Aber ihm war schlecht geworden, Er mußte sich auf die Pritsche legen. Zum Schluß stand er aber wieder auf den Beinen, und er übernahm das Telefon, als Buronne meldete: ,SILBERBLITZ ist überfällig'.“ „Das behältst du besser für dich“, entschied Kyber. „Die staatliche üntersuchungskommission aus Paris nimmt ihre Arbeit morgen früh auf. Wir werden Ja hören, was der Stellwerksbeamte bei der Vernehmung angibt. So. Ich fliege euch zurück ins Quartier. Und ich verbiete euch, den Bahnkörper und das Stellwerk zu betreten ...“ „Das ist ja ein Ding!“ murmelte Micha. „Superhirn - du hast den SILBERBLITZ überwacht!“ 5. Ein Schutzhelm, Pik-As - und ein verdächtiges Foto! „Liegt der SILBERBLITZ nun im Meer, oder nicht?“ rief Tati, als Micha und Superhirn ihr Ferienquartier betraten. Es war 20 Uhr, aber man rechnete ja nach Sommerzeit, und durch die Fenster des alten Turms leuchtete rotglühendes Abendlicht. Madame Dydon und Tati deckten den Tisch. Gérard und Prosper saßen schon da, als hätten sie den ganzen Tag noch nichts gegessen. „Die Lehrerin Susanne, Otellos Braut, ist weg“, berichtete Madame Dydon. „Sie wollte zur Polizei, um Näheres zu hören.“ „Und Henri steht mit dem Fernglas auf der Plattform“, sagte Gérard. „Wonach er ausguckt, ist mir schleierhaft.“ Loulous Bellen im Vorraum verkündete, daß Henri bereits die Treppe herunterkam. Er hatte den Hubschrauber landen sehen. „Na?“ fragte er gespannt. „Hat man wirklich Zugtrümmer geborgen?“ „Otellos Motorrad wurde aufgefischt - und ein Teil der Lok“, erwiderte Superhirn. „Und der Sitz des Zugbegleiters samt Freßtasche“, fügte Micha hinzu. „Das Taucherboot hat aber schon gemeldet, daß sie den ganzen SILBERBLITZ geortet hätten. Er soll durch einen Sog über die Mauer gesaust sein!“ Superhirn versuchte, die Behauptung des TÜV-Experten zu erklären. „Das klingt doch logisch?“ meinte Henri. „Der Wind warf den Zug gegen den Felsen - und der Anprall ließ ihn über die Mauer springen!“ „Das ist reichlich ,über den Daumen gepeilt“, entgegnete Superhirn. „Die ganze Sache sieht so ausweglos aus, ist so unheimlich, daß man sich an Jeden Strohhalm klammert...“ „A-a-aber man hat doch schon etwas!“ warf Prosper ein. „Das Motorrad - und - und ...“ „Ein Kaninchen aus dem Hut!“ unterbrach Superhirn verächtlich. „Zauberei, Zirkusmagie - ein übler Trick!“ „Superhirn weiß schon viel mehr“, platzte Micha heraus, „und er hat uns die Hauptsache verschwiegen!“ „Fragt sich, was du uns verschwiegen hast!“ konterte Superhirn. „Ich weiß erst mal, daß die Behauptung des Experten auf diesen Fall nicht paßt - mag im Jahr 1913 tausendmal ein Bimmelbähnchen an derselben Stelle ins Meer gestürzt sein.“ „Na eben, na eben!“ rief Madame Dydon. „Ich erinnere mich? In meiner Kindheit hat man dauernd da von gesprochen!“ „Der Miller-Effekt, von dem der Experte sprach“, fuhr Superhirn fort, „war längst vor Miller bekannt. In England machte man schon im vorigen Jahrhundert die Erfahrung, daß die schneller
gewordenen Züge einander berührten, wenn sie sich auf zweigleisigen Strecken begegneten! Diesen Effekt hatte man nicht geahnt, er trat ja erst auf, als die Bahnen sprunghaft schneller wurden. Und man löste das Problem denkbar einfach: Man verlegte Doppelstrecken mit größerem Zwischenraum.“ Superhirn zog seinen Notizblock und machte eine erläuternde Skizze zu seinen Worten: „Aber wir haben es hier mit einer eingleisigen, technisch völlig einwandfreien und neuen Strecke zu tun. Eine Neigung des Zuges gegen den Fels durch einseitig fehlenden Luftwiderstand hätte keine Schrammwirkung, denn das neue Gleis hatte genügend Abstand. Na, Micha, was ist dir sonst noch aufgefallen?“ „Die Schutzmauer zur Seeseite“, antwortete Micha prompt. „Sie wirkt zwar sehr niedrig, vom Plateau her gesehen - oder wenn man auf dem Kranwagen steht. Aber ich mußte erst auf eine Betonschwelle steigen, um drüber weg zu gucken!“ „Zwei Betonschwellen!“ berichtigte Superhirn. „Du mußtest auf zwei Betonschwellen steigen, Längsstufen unterhalb der Mauer, jede 25 cm hoch. Ich habe sie gemessen, ich habe auch die Höhe der Mauer gemessen. Die Gesamthöhe ab Schienenkante beträgt bis zur Mauerkante 170 cm! Und der SILBERBLITZ ist nur 200 cm hoch!“ „Nun bin ich aber gespannt, was das bedeutet!“ rief Madame Dydon. „Der Fall liegt also ganz anders als das Bimmelbahn-Unglück von 1913!“ begriff Gérard. „Darauf werden die Fachleute auch noch kommen“, meinte Madame Dydon, „Aber das Motorrad und die Trümmer?“ Sie schüttelte den Kopf. „Sollte Otellos Tante recht haben, daß da Hexerei im Spiel ist?“ Sie reichte Tat! eine dampfende Porzellanplatte: „So, und nun denkt mal eine Weile an etwas anderes. Laßt euch die Schinkenpastete schmecken. Ich muß nach Hause. Aber wenn ihr meine Meinung hören wollt: Otellos Verlobte ahnt mehr, als sie sagt ...“ „Susanne?“ fragte Tati ungläubig. „Ich fand sie nett und ehrlich, sehr nett und sehr ehrlich sogar!“ „Nichts für ungut!“ rief Madame Dydon in der Tür. „Also dann: Bis morgen ...“ „Stimmt“, meinte Micha, als sie abgefahren war, „Otellos Verlobte muß sogar etwas ahnen, denn so dumm kann sie nicht sein ...“ Er schwieg. Tati blickte auf. Stirnrunzelnd sah sie ihren jüngeren Bruder an. „Was ist nur mit dir los, Micha? Seit heute mittag benimmst du dich so komisch!“ „Es fing damit an, daß ihm schlecht wurde“, erinnerte sich Gérard. „Und was meinte Superhirn, als er dich, Micha, beschuldigte, du verschweigst uns was?“ rief Tati. „Und, wenn ich fragen darf, was verheimlichst du?“ „Frag mich lieber, was ich im Gepäck habe!“ erwiderte Micha, „Den Schutzhelm des Lokführers vom SILBERBLITZ!“ „0-o-otellos Helm . . .?“ schluckte Prosper. „Den - und noch mehr! Ihr werdet euch wundern. Die Bombe liegt oben - in meinem Schrank!“ Gefolgt von dem verstörten Pudel, sausten die Geschwister und ihre Freunde ins oberste Stockwerk des Turms, wo Tati und Micha auch in diesem Jahr wieder wohnten. Micha zog aus dem Schrank den prallen blauen Beutel, in dem Superhirn einen Fußball vermutet hatte. Hastig zerrte er am Reißverschluß. Tati rief: „Aber das Ding hast du 300 Kilometer weit mit dir herumgeschleppt! Ist das etwa deine Überraschung?“ Micha hockte atemlos auf dem Boden. Bevor er die „Überraschung“ sehen ließ, sagte er: „Es waren bloß 200 Kilometer, Tati. Ich hab in Tribourg auf die Landkarte geguckt.“ „Tribourg .. .?“ fragte Superhirn. „Da habt ihr doch übernachtet, ehe ihr in den Atlantik-Expreß gestiegen seid. Na und ...?“ „W-w-wir waren in Tribourg in der Jugendherberge“, stotterte Prosper aufgeregt. „T-t-tati wollte den Ballettabend im Schloß sehen. Heute früh fuhren wir dann hierher. Als wir in Tribourg zum Bahnhof radelten, blieb Micha zurück: Er wollte sich ein Ei-ei-eis kaufen. Und dabei...“
„Und dabei schimpfte ein Gärtner mit mir“, berichtete Micha weiter, „Er hielt mir so 'nen komischen Helm vor die Nase und behauptete, den hätt ich in seine Beete geworfen ...“ „Her damit!“ forderte Superhirn in ahnungsvoll gespanntem Ton. Micha nestelte etwas Ungefüges, Schwarzes aus dem Beutel. Es war ein Schutzhelm - von der Art, wie ihn das SILBERBLITZ-Personal trug. Männer mit solchen Kopfbedeckungen hatten nahe der Überführung beim Schulheim „La Rose“ gestanden - dort, wo auch die Direktorin aufgetaucht war. „Deshalb ist mir schlecht geworden“, erklärte Micha. „Begreift ihr nun?“ „Nein“, brummte Gérard. „Dieses total verbeulte Ding ist Otellos Lokführerhelm“, sagte Superhirn langsam. „Aber noch einmal: Wo hast du ihn her? Wirklich 200 Kilometer von hier? Nicht erst aus Buronne?“ „Ich schwör's!“ rief Micha. „Ich bekam noch Ärger mit den anderen, weil ich dem verrückten Gärtner das Ding abgenommen hatte. Aber da ist 'ne kleine Silberlok mit 'nem Blitz drauf, und deshalb dachte der Alte wohl, es war ein Kinderspielzeug. Mir gefiel die Lok auf dem Schwarz. Und ich dachte zuerst, wenn ich später mal ein Moped kriege ...“ „Wir haben den Helm gar nicht gesehen!“ beteuerte Henri. „Bloß den Beutel! Micha klaubt ja öfter allerlei Unsinn auf, um es später in sein Zimmer zu hängen! Es eilte auch sehr, heute früh. Wir mußten die Räder schleunigst in den Zug verfrachten!“ „Und auf dem Feldweg, beim Heim ,La Rose', da dämmerte dir ein Zusammenhang?“ wandte sich Superhirn forschend an Micha. Plötzlich schwiegen alle. Superhirn hatte den Helm gedreht, und sie starrten auf einen Aufkleber, der eine gelbe Rose darstellte. „D-d-das Wappen der Mädchenschule“, hauchte Prosper. Micha nickte. „Das haute mich beinahe um. Beim Auspacken sah ich mir den Helm genauer an. Ihr werdet zugeben, ich habe mich toll beherrscht!“ Superhirn warf ihm einen Blick zu und öffnete eine Lasche an der linken Seite des Helms. Er zog etwas heraus: ein Kärtchen aus einem Kartenspiel in kleinem Format und ein nur wenig größeres Foto. Wortlos betrachtete er beides. „Was ist das?“ fragte Gérard. „Schlimmer als 'ne gelbe oder 'ne rote Schiedsrichterkarte ist wohl keins der Blätter!?“ „Meinst du?“ fragte Superhirn zurück. „Na, dann seht euch erst einmal das Foto an!“ Die Aufnahme stellte drei Personen dar. Links einen lachenden, jungen Mann mit einem schwarzen Schutzhelm auf dem Kopf. Der Helm trug das Zeichen der Lok mit dem silbernen Blitz. In der Mitte des Bildes stand eine schicke Dame, rechts ein Mädchen von zehn, elf Jahren. Der junge Mann hatte seinen Arm um die Schultern der Dame gelegt. Sie blickte lächelnd zu ihm auf. „Na?“ drängte Superhirn. „Wer ist die Frau? Sie trägt eine gelbe, gestickte Rose am Blazer, das Mädchen neben ihr hat die gleiche Rose, nur einfacher - ich nehme an, auf den Stoff gedruckt. Sicher eine Schülerin ...“ Endlich fand Tati Worte: „Die Frau ist die Direktorin des Mädchenheims! Madame Ladour . ..!“ „Und der junge Mann ist der verschwundene Lokführer“, fügte Superhirn dumpf hinzu. „Otello, der ,Ritter vom SILBERBLITZ'! Derselbe, den die Dame angeblich nicht leiden kann, ja, den sie zum Teufel wünschte! Auf dem Foto stehen sie beide da wie ein Liebespaar! Zumindest aber wie Bruder und Schwester!“ „So eine - eine Schlange!“ rief Tati. „Falsch wie eine Hexe! Schimpft auf Otello, stellt ihn als einen Windhund hin, will ihre Lehrerin entlassen - nur, weil sie mit so einem verlobt ist! In Wahrheit hat sie ihn der Susanne ausgespannt! So ein schäbiges Theater!“ „J-j-ja . . .!“ ereiferte sich Prosper. „Diese Schlange hat den SILBERBLITZ verschwinden lassen! Wie, weiß ich nicht. Aber wahrscheinlich will sie mit Otello fliehen!“ Gérard lachte. Auch Henri grinste ungläubig. Doch Superhirn blieb ernst: „Ich will noch was über diesen Schutzhelm hier wissen: 200 Kilometer von Buronne entfernt, im nördlich gelegenen Tribourg. hat also ein Gärtner Micha das Ding angedreht! Wann war das genau?“
„Heute früh zwischen acht und acht Uhr dreißig“, antwortete Micha, „als wir zum Tribourger Bahnhof fuhren.“ „Und kurz nach zwei Uhr nachts verschwand der SILBERBLITZ“, überlegte Superhirn, „demnach ungefähr sechs Stunden, bevor dir der Lokführerhelm in die Hände kam.“ „Was ist das für eine Spielkarte, die da noch in der Helmlasche war?“ fragte Gérard. Superhirn drehte sie um: „Pik-As!“ Und in bedeutungsvollem Ton fuhr er fort: „Das ist keine gewöhnliche Spielkarte! Die sieht nur so aus! Das ist ein Telepaß! Schaut mal, die Rückseite! Scheinbar gemustert, wie eine beliebige Rommee- oder Patience-Karte? Fährt man mit der Fingerspitze drüber, fühlt sie sich rifflig an. Wißt ihr, was das ist.. .?“ „N-n-na sag schon!“ schluckte Prosper. „Eine getarnte Folie! Eine Zugbegleit-Karte! Auf der Rückseite sind Daten gespeichert - Angaben über alles, was der SILBERBLITZ geladen hatte! Der Empfänger steckt diese Karte in ein. Entschlüsselungsgerät und liest den Klartext einfach ab!“ „Wozu muß eine Begleitkarte getarnt werden?“ wunderte sich Tati. „Und weshalb nimmt man dazu ausgerechnet ein Pik-As .. , ?“ „Weil das bei Verlust keinem Fremden auffällt“, erklärte Superhirn. „Nimm an, du findest einen offenen Frachtbrief. Den guckst du dir wenigstens flüchtig an - und schon kriegst du mit: Wagen l ~ tödliches Kontaktgift, Wagen 2 - virushaltige Objekt-Bruchstücke, lebensgefährlich! - und so weiter. Da gehst du vor Schreck hoch wie eine Rakete, alarmierst womöglich die Öffentlichkeit - und schon hat das Forschungsinstitut den schönsten Skandal!“ „Du glaubst“, begriff Henri, „die Lösung des Falles ist das Pik-As?“ „Unbedingt!“ sagte Superhirn- „Und zwar zusammen mit dem Foto!“ „Wir müssen sofort deinen Onkel anrufen“, meinte Micha. „Mir liegt der scheußliche Helm schon stundenlang im Magen, besonders, seit ich das Bild fand. Und nun noch dieses - dieses Pik-As!“ „Micha hat recht.“ Henri nickte bedächtig. „Wir müssen das melden - am besten gleich die Polizei einschalten! Angenommen, jemand, der scharf wie ein Hecht auf die Ladekarte ist oder der das Foto vernichten will, rückt uns auf die Bude!“ „Himmel, ja!“ hauchte Tati. „Das Zeug muß zur Polizei!“ „Ich kenne nur einen, der sofort schaltet, ohne die ganze Gegend verrückt zu machen“, erklärte Superhirn, „und das ist Kommissar Rose vom Pariser Präsidium. Der muß her!“ „D-d-der muß her ...!“ wiederholte Prosper erleichtert. 6. Auf den Spuren des Geisterzuges - doch die Spur löst sich auf Von Müdigkeit überwältigt, schliefen die Freunde trotz aller Anstrengungen und Schrecknisse tief und traumlos. Superhirn saß schon am Frühstückstisch, als sich die Geschwister mit Gérard, Prosper und Loulou einfanden. „Ich habe in Paris angerufen“, berichtete er. „Kommissar Rose war noch nicht im Dienst. Ich erreichte ihn in der Privatwohnung.“ „Die Hauptsache ist: Kommt er her?“ fragte Tati. „Hat er dir den Spuk überhaupt abgenommen?“ wollte Gérard wissen. „Und ob!“ versicherte Superhirn. „Er riet mir dringend, Michas Mitbringsel aus Tribourg geheimzuhalten.“ „D-d-den Lokführerhelm von Otello?“ rief Prosper. „Am besten, wir vergraben ihn!“ „Wenn, dann nur in einer fugendichten Folie“, gab Henri zu bedenken, „sonst kommt die Spurensicherung durcheinander.“ „Zieh die Pik-As-Karte und das Foto erst aus der Lasche“, wies Superhirn Micha an. Während die Brüder mit Prosper und Gérard Otellos verbeulten Helm an. der Seeseite des alten Leuchtturms vergruben, steckte Superhirn die Pik-As-Karte sorgfähig in seine Brusttasche. Dann betrachtete er zusammen mit Tati das verräterische Foto.
„Du könntest dich sehr nützlich machen, Tati“, überlegte er. „Daß die beiden Erwachsenen auf dem Bild Otello und die Schuldirektorin sind, würde ich sogar ohne Brille erkennen. Wer aber ist das blonde Mädchen, neben Madame Ladour?“ „Eine Schülerin! Sie trägt das Wappen der gelben Rose!“ „Ach, ja? Ich dachte, es wäre eine Distel!“ spottete Superhirn. „Im Ernst: Wir müssen rauskriegen, wer diese Schülerin ist, wie sie heißt, woher sie stammt! Sie könnte eine Mitwisserin sein. Traust du dir zu, dich unter einem glaubhaften Vorwand in ,La Rose' umzuhorchen? Laß aber Susanne unbedingt aus, die dürfte noch nicht wieder im Heim sein - und sie hat andere Sorgen.“ „Gib mir das Foto, damit ich mir das Mädchen einprägen kann“, sagte Tati. „Keine Angst, der Madame halt ich's bestimmt nicht unter die Nase. Verlaß dich drauf!“ Die Jungen kamen zurück und versicherten, der Lokführerhelm sei „hundesicher“ vergraben worden. Loulou könne ihn auf keinen Fall ausbuddeln, denn sie hätten einen „mittleren Felsbrocken“ über die Stelle gehievt. „Hört zu!“ berichtete Superhirn weiter. „Mein Onkel sitzt mit dem Krisenstab des Instituts in der Polizeitaucherschule von Ronce. Mittlerweile sind Beamte aus vier Ministerien eingetroffen: aus dem Innen-, dem Forschungs-, dem Umweltministerium und dem Ressort für Angelegenheiten des Meeres.“ „Noch jemand ohne Fahrschein?“ warf Gérard grinsend ein, „Man geht also weiter davon aus, daß der SILBERBLITZ in der Bucht von Haute-Buronne liegt“, fuhr Superhirn unbeirrt fort. „Kommissar Rose sagte mir, in Paris hielte man die ganze Sache für einen Unfall - ähnlich dem, der sich kürzlich in Schottland ereignet hat. Die Zeitungen nehmen kaum Notiz davon.“ „Das ist gut - oder?“ ließ sich Henri hören. „Ja, aber wann will Rose zu uns kommen?“ rief Micha ungeduldig. „Sobald er alle Vollmachten des Präsidenten hat“, erklärte Superhirn. „Er wird nicht verraten, daß ich ihn anrief - und was uns bisher aufgefallen ist, Er will meinen Onkel auf keinen Fall verärgern. So...“, Superhirn wandte sich an Gérard: „Tati hat schon einen Auftrag. Und du besuchst Otellos Tante, die überall verbreitet, daß der SILBERBLITZ verhext war. Stell dich als ein Freund ihres Neffen vor. Frag sie, ob du ihr was helfen kannst. Mach dich nützlich und sperr deine Ohren auf!“ „Kannst dich drauf verlassen“, erwiderte Gérard, „Und wenn ich in ihrem Garten Unkraut zupfen muß! Ich quetsche sie aus wie eine Zitrone!“ „Aber Vorsicht, daß sie dir nicht sauer wird!“ mahnte Superhirn. Prosper sollte nach Royan strampeln und von dort aus mit der Fähre zum Kastell Roc übersetzen. Ein Teil der Festung war in ein Hotel umgewandelt worden, und Superhirn wollte wissen, ob von dort aus jemand den SILBERBLITZ zur fraglichen Zeit auf der Felsenstrecke gesehen hatte. Das konnte leicht möglich sein, denn das Spielkasino auf der Insel Roc schloß erst um drei Uhr früh. „Henri und ich fahren mit dem Bus nach Buronne“, sagte Superhirn. „Wir werden uns dort auf dem staatlichen Rangierbahnhof umgucken, besonders aber an der Werkbahnrampe, wo der SILBERBLITZ vor seinem Verschwinden schon aufgetaucht sein soll.“ „Und ich?“ rief Micha. „Du wartest auf Madame Dingdong und hältst Telefonwache ...“ Bereits kurz nach zehn Uhr verließen Superhirn und Henri den Bus aus Brossac-Centre am Bahnhof von Buronne. Auf einem Schotterweg trabten sie an dem hölzernen Wandzaun entlang, hinter dem sich das Rangiergelände befand. Man hörte das Pfeifen, Scheppern und Quietschen der Loks und Waggons, dazu die Hin- und Herrufe der Eisenbahner. „So!“ schnaufte Superhirn. Er hielt inne und sagte zu Henri: „Siehst du die Sträucherwildnis rechts? Da - ganz hinten - kommt das SILBERBLITZ-Gleis aus seinem unterirdischen Schacht. Die Felsentrasse von Häute-Buronne, wo der Zug angeblich ins Meer gestürzt ist, etwa 15 km in Richtung Cap Felmy, kann man wegen des Gestrüpps nicht sehen!“ Die Bretterwand wich einem starken Drahtzaun- Der künstliche Schlund, aus dem der verwaiste Schienenstrang in das Netz der Staatsbahn überging, gähnte schaurig - um so mehr, als das Gitter davor wie eine Reihe dünngefeilter Drachenzähne wirkte.
„Dieses Gitter“, sagte Superhirn, „ging erst herunter, als der SILBERBLITZ den Schlund in der Unglücksnacht passiert hatte. Ich sah das auf dem Überwachungsschirm im Institut! Er konnte gar nicht zurück!“ „Und wie weit ist es bis zur Zielrampe?“ fragte Henri. Er blickte nach links: „Mensch, ist das ein Gewirr von Schienen!“ „Alles Breitspur, das heißt: Normalspur. Kein einziges Gleis also, auf das der SILBERBLITZ gepaßt hätte! Die letzten 300 Meter - also vom Schacht bis zur Rampe - unterstand er der Kontrolle auf dem Staatsbahngebiet!“ „Trotzdem glaubst du immer noch“, meinte Henri, „daß der SILBERBLITZ nur auf diesen letzten 300 Metern vor dem Ziel verschwunden ist?“ Superhirn nickte: „Exakt! Ich verfolgte seinen Weg auf den Bildschirmen bis zum Ende des Schachts. Alle Kameras und Meßgeräte signalisierten: Schluß der Werkstrecke - Einfahrt Kontrollgebiet Buronne-Laderampe! und der Lokführer Otello meldete über Sprechfunk dasselbe!“ „He!“ Henri packte Superhirn am Arm. „Da steht ein Mann auf dem Gleis. Einer mit einem schwarzen Helm ...“ „Ach, unser Buronner Rampen- und Bahnmeister“, erklärte Superhirn. „Er ist hier der Verbindungsmann zur Staatsbahn. Mit dem hab ich gestern früh schon gesprochen, er war vor Aufregung ,außer Jacke und Hose'. Hm. Das scheint er auch jetzt noch zu sein ...“ Der Werkbahnmeister hatte die Jungen erspäht. Mit beiden Armen wild fuchtelnd, kam er herbeigestolpert. „Was macht ihr da?“ rief er. „Habt ihr fotografiert? Hier wird nicht herumgeschnüffelt!“ „Einen schönen Gruß von Otello!“ rief Superhirn kalt zurück. „Stichwort: Pik-As! Er kommt heut nacht mit dem Zugbegleiter auf ein Spielchen zu dritt!“ Der Werkbahner blieb keuchend stehen. „Pik-As?“ fragte er verwirrt. „Was willst du damit sagen? He! Dich kenn ich doch?! Warst du nicht gestern schon hier? Du bist der Sohn des Forschungsleiters! Man nennt dich Superhirn!“ „Superhirn stimmt“, entgegnete der Junge. „Professor Kyber ist mein Patenonkel.“ „So? Und deshalb darfst du dreist und vorlaut sein? Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht - und du verhöhnst mich noch: Einen schönen Gruß von Otello!“ „Wer hat Otello denn zuletzt gesehen, und gesprochen, du oder ich?“ „Ich - im Stellwerk des Instituts, kurz vor der letzten Fahrt“, antwortete Superhirn. „Und ich habe den SILBERBLITZ hier an die Verladerampe gelotst!“ rief der Mann. „Ich, Franc Brasser!“ „Monsieur Brasser“, sagte Superhirn, „mein Freund Henri und ich möchten Ihnen helfen. Wir könnten gemeinsam etwas klären.“ „Klären!“ Der Bahnmeister lachte bitter. „Und was klärt die Polizei? Kommissar Lenninger glaubte zuerst, der SILBERBLITZ sei hier irgendwo versteckt worden. Aber - bitte - wo ...?“ Er kramte einen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete eine Pforte im Zaun. „Kommt mit, überzeugt euch! Superhirn mag seinem Onkel getrost erzählen, daß Franc Brasser verrückt ist. Es macht mir nichts mehr aus!“ Die Jungen stapften mit dem Werkbahner über verrostete Normalgleise, die von Unkraut überwuchert waren. Geborstene Waggons, an ihren Bestimmungstafeln noch Reste von Kreidezeichen, dösten aus schiefen Lücken. Wie poliert wirkte dagegen der tadellos gebettete schmale Schienenstrang der SILBERBLITZ-Bahn. Er führte aus dem Schacht heraus, im Bogen um ein Dutzend verwitterter Prellböcke herum, an einer hohen Hecke entlang. „Hinter dieser Hecke haben sie auch schon gesucht“, klagte Brasser. „Aber da ist nichts als ein vergammeltes Schiffshebewerk, über das die Fischer ihre Beute direkt an die Kühlwagen brachten ja, ha: vor fünfzig Jahren! Läge der SILBERBLITZ da unten, würde man die Lok und alle Wagen Kopfstand machen sehen!“ Superhirn bückte sich und reckte den Hals nach links und rechts. „Was ist?“ fragte Henri.
„Die Hecke verläuft nicht durchgehend“, murmelte der Freund. „Wegen des Windes“, erklärte Brasser- „Oder meinst du, der verschwundene Zug sei da durchgeflutscht? Junge, ich hab dir doch gesagt: Die Fahnder sind mit ihren Ideen allesamt auf dem Holzweg. Sie meinen jetzt sogar, der SILBERBLITZ sei nie hier angelangt! Sie suchen ihn 15 Kilometer entfernt im Meer!“ „Und sie haben ja die ersten Teile schon geborgen“, gab Henri zu bedenken. Was nun folgte, berührte die beiden Jungen gespenstisch. Brasser rannte auf den vergitterten Schacht zu und rüttelte an den Stäben. Er schrie in den dunklen Schlund hinein, und seine Stimme verhallte in der Grabesstille des langen, langen Tunnels: „Wenn der SILBERBLITZ im Meer liegt, dann müßte er rückwärts durch dieses Gitter geschwebt sein wie eine Rauchwolke! Versteht ihr denn nicht? Will mich keiner verstehen? Das Gitter ist automatisch hinter ihm heruntergegangen, als der letzte Wagen aus dem Schacht heraus war!“ Der Bahnmeister wandte sich um und deutete mit bebender Hand auf das Rangiergelände: „Nach dort ist er gefahren, zur Rampe, wo der Entsorgungszug zur Übernahme der Giftladung wartete! Ich stand in der Tür meines Büros und sah seine Scheinwerfer! Kommt, wir gehen die Strecke entlang, die er in der Unglücksnacht gefahren ist, nachdem er den Schacht verlassen hatte!“ Brasser schwankte, vor Erregung zitternd, auf dem SILBERBLITZ- Gleis der Zielstation „Giftrampe“ zu. Superhirn und Henri stapften links und rechts neben ihm her. Sie sahen eine einsame Signalampel, deren eingeschaltetes rotes Licht trotz der hellen Sonne deutlich zu erkennen war. Das Licht bedeutete „Halt!“ - Halt für einen Zug, der nie mehr kommen würde, Halt auf einer Strecke, deren Zufahrt durch das Schachtgitter abgeblockt war. Der rote, runde Kreis wirkte wie das Auge eines weltvergessenen, träumenden Fabeltiers. „Hier - an dieser Ampel - mußte der SILBERBLITZ immer halten“, erklärte Brasser. „Eiserne Vorschrift, obwohl ihn nichts hätte behindern können, denn seine Zufahrt war stets frei. Aber die Bahngesetze für Giftmülltransporte sind streng: Hier, in Buronne, werden Militärwaggons rangiert, aber auch Fuhren mit frischen Lebensmitteln. Deshalb also dieser ,Sicherheits-Halt'. Wenn der SILBERBLITZ zwischen Schacht und Ampel eine ,Klingelschwelle' überfährt, läutet es in meinem Büro so oft, wie der Zug Achsen hat. Gleich darauf heult die Preßlufthupe der SILBERBLITZ-Lok, so daß ich weiß, er wartet auf Einfahrtserlaubnis!“ „Und so war's auch in der vorletzten Nacht?“ fragte Henri. „Selbstverständlich! Ich höre das Klingeln, geh aus meinem Stellwerk raus - und seh den SILBERBLITZ hier stehen. Nun laufe ich wieder hinein und telefoniere mit dem. Rangierleiter der Staatsbahn. Ich frage: Liegt was an? Wird vielleicht ein Viehtransport oder 'ne Ladung Fische hin und her geschoben? Nein? Dann darf ich unserm Giftzug freie Fahrt geben? Okay! Wie gesagt, das ist Vorschrift, reine Routine, wichtig natürlich zur Beruhigung der Öffentlichkeit. Ich drücke also auf den Knopf, die Ampel zeigt ,grün' - und der SILBERBLITZ kommt an die Rampe!“ „Und in der Unglücksnacht ist er auch gekommen?!“ nickte Superhirn. „Aber ja, aber ja!“ rief Franc Brasser. „Doch das glaubt man mir nicht! Man glaubt ja auch den Bahnarbeitern nicht, bei denen sich Otellos Zugbegleiter Feuer für seine Zigarette geholt hat. Einer von den Leuten hatte Geburtstag, und da kreiste 'ne Flasche mit Apfelschnaps. Nun denken sie, wir waren vielleicht allesamt besoffen!“ „Dürfen wir mal auf die Rampe, in Ihr Stellwerk?“ fragte Superhirn. „Von mir aus. Dann kann ich mir wenigstens meine Wut von der Leber reden!“ „Mir ist das gar nicht geheuer!“ flüsterte Henri dem Freund zu. Superhirn lachte leise: „Meinst du, mir?“ „Der Mann verschweigt etwas“, beharrte Henri. „Ich hab das Gefühl, wir laufen in eine Falle!“ Bevor Superhirn antworten konnte, erscholl eine rauhe Stimme hinter ihnen: „Halt! Halt. sage ich - oder ich laß den Hund auf euch los!“ Brasser und die Jungen wandten sich um. Da stand wie aus dem Boden gewachsen ein kräftiger, untersetzter Mann, dessen Miene alles andere als freundlich war. Die gefleckte Riesendogge, die er
am Stachelhalsband ziemlich kurz hielt, blickte ungeduldig drein. Sie schien auf einen Befehl zu warten. „Was soll denn das, Monsieur Flacfloc?“ rief der Bahnmeister. Erklärend sagte er zu Superhirn und Henri: „Dieser Herr heißt eigentlich Bethel, er ist der Sohn des letzten Schleusenwärters - von der alten Anlage da, unterhalb der Hecke. Niemand darf mehr im Bereich der Giftverladung wohnen, nur er, weil der Staat seinem Vater das Wärterhaus als Entschädigung schenkte.“ „Und als weitere ,Entschädigung' tötete der SILBERBLITZ den Zwilling meiner Dogge!“ grollte der Mann. „,Flacfloc' nennt man mich, und zwar nach den Namen der beiden Hunde! Flac ist vor drei Wochen an der Ampel vom Lokführer Otello getötet worden, obwohl der Zug helle Scheinwerfer hat. Nur Floc ist mir geblieben. Beinahe verdiente ich auch diesen Namen nicht mehr, denn m der vorletzten Nacht ist der Lokführer ausgestiegen und hat der Dogge mit der Brechstange eins überhauen wollen. Otello hat den Hund nur gestreift, aber der Riß im Fell ist zu sehen!“ „Das - das glaube ich nicht!“ rief Henri. Ihm waren diese Worte eher m der Verblüffung entfahren, doch der Mann brüllte: „Soll dir mein Floc beweisen, wie sehr er seit der vorletzten Nacht alles liebt, was hier am Schienenstrang rumläuft?“ „Aber wissen Sie denn nicht, daß der SILBERBLITZ verschwunden ist?“ fragte Superhirn. „Waren die Suchtrupps nicht auch bei Ihnen?“ Monsieur Flacfloc lachte höhnisch: „Ablenkungsmanöver, weiter nichts! Man fürchtet sich vorm Tierschutzbund! Aber ich habe die Brechstange sichergestellt - und dann ...“ Er zog etwas aus der Jackentasche und hielt es triumphierend hoch: „Otellos Handschuh! Den kriegt aber die Polizei nicht! Den übergebe ich noch heute meinem Rechtsanwalt, denn die Polizei ist auf Otellos Seite. Klar: Die Giftbahn ist dem Staat wichtiger als eine Hundeseele!“ Der Mann zerrte die Dogge zurück durch die Hecke. Brasser und die Jungen starrten einander an. Und völlig unerwartet sagte der Bahnmeister: „Es stimmt. Otello ist in der Unglücksnacht ausgestiegen. Aber daß er einen Kampf mit dem Hund hatte - hm, davon erwähnte er nichts!“ „Gehen wir in Ihr Stellwerke“; schlug Superhirn vor, als messe er dem Zwischenfall keine Bedeutung bei. Schweigend führte der Bahnmeister Brasser die Jungen zur SILBERBLITZ-Rampe. Erst im Büro wurde er wieder gesprächig: „Hier ist eine Leuchttafel, die die Fahrt des Zuges überträgt. Der SILBERBLITZ wird durch eine kleine, rotschimmernde Schlange markiert, die ich vom Augenblick der Abfahrt bis zur Ankunft an der Ampel beobachten konnte!“ Superhirn nickte. „Hm. Und wie war das vorletzte Nacht? War da irgendwas ein bißchen anders - ich meine, nach dem Halt an der Ampel, auf den 150 Metern bis hierher? Vielleicht eine ganze Kleinigkeit? Der Mann mit der Dogge sagte ...“ Brasser winkte ab. „Das ist ein Spinner, Und wenn etwas anders war als sonst, so bestätigt es die Ankunft des Zuges nur. Es bestätigt sie tausendprozentig. Ich hatte grünes Licht gegeben und den Brossacer Institut durch gemeldet: ,SILBERBLITZ am Ziel'. Denn was sollte noch passieren?“ „Und ...?“ fragte Henri gespannt. „Ich nehme den Hörer wieder auf und verständige den BegleitIngenieur des Entsorgungszuges der Staatsbahn. Da ertönt draußen plötzlich ziemlich nahe das Signalhorn der SILBERBLITZ-Lok. Ich renne raus, sehe die Scheinwerfer etwa fünfzig Meter vor der Rampe, Otello ruft: ,He, Franc, was ist los? Die Ampel ist aus! Prüf das mal!' - Ich erwidere: ,0kay, mach ich! Aber du kannst schon reinfahren!´“ „Und Otello fuhr nicht rein!?“ fragte Superhirn ahnungsvoll. „Nein!“ bestätigte der Bahnmeister hitzig. „Als ich die Kontrollampen geprüft hatte, ging ich wieder hinaus. Auf einmal sah ich die SILBERBLITZ-Scheinwerfer nicht mehr! Na, ich denke, er hat den Zug sicherheitshalber zurückgesetzt, und die Scheinwerfer werden durch die alten Güterwagen verdeckt. Nach einer Weile war mir das zu dumm. Ich lief die Werkschiene entlang und pfiff auf meiner Trillerpfeife ...“ „Und das Gleis war leer - und der SILBERBLITZ war spurlos verschwunden!?“ vollendete Superhirn.
„Ja!“ Franc Brasser atmete tief. „Ich weiß nicht, was ich denken soll. Zurück kann er niemals gefahren sein, denn das Gitter zum Schacht war zu. Außerdem hätte er die Klingelschwelle passieren müssen - und es hätte hier im Büro wieder wie verrückt geschellt?“ Er fügte hinzu: „Die Bahnarbeiter, die Leute vom Entsorgungszug, sogar der Ingenieur - alle haben sich sofort auf die Suche gemacht. Sie sind bis zur Schleuse runtergekrochen, da findet keine Ziege mehr durch; nur Monsieur Flacfloc hat noch einen Trampelpfad, der reicht nicht mal mehr für ein Fahrrad - es war alles umsonst. Auf dem Rangiergelände entdeckten wir nicht die geringste Spur eines Fahrzeugs nichts, nichts, nichts!“ Brasser schwieg einen Moment, dann wandte er sich hastig an Superhirn: „Was sagtest du da vorhin von Otello und dem Pik-As?“ Superhirn zog die Spielkarte hervor, die in Wahrheit eine getarnte Ladekarte war. „Wir wollen Ihnen helfen. Aber dazu brauchen wir auch Ihre Hilfe. Dieses Blatt haben vielleicht Verbrecher verloren. Bevor wir es der Kripo übergeben, möchten wir wissen, ob sie etwas Besonderes über die SILBERBLITZ-Ladung verrät!“ „Otellos Todeskarte“, murmelte Franc Brasser. „Pik-As!“ Er gab sich einen Ruck. „Ja. Pik-As war in der Unglücksnacht turnusmäßig an der Reihe. Kartenspiel-Chiffren, die gehören ganz offiziell zu unserem Transport-Tarnsystem. Für mich ist das nichts Neues. Seht her: Ich stecke die Karte hier in den kleinen. Apparat, eine Entschlüsselungsmaschine - auch ,Decoder' genannt. Was auf dem schwarzen Täfelchen jetzt aufleuchtet, ist die Anweisung für die Ladefolge unserer SILBERBLITZContainer im Entsorgungszug. Weiter nichts. Zwei der Kästen würden danach in einen Gefrierwagen gekommen sein, die beiden anderen in Strahlen-Isolierwaggons.“ „Und die Art der Ladung?“ fragte Superhirn. „Die kenne ich nicht“, entgegnete Brasser. „Der Ingenieur des Entsorgungszuges bekommt die Karte und begleitet die Fracht zu einer staatlichen Giftmüll-Deponie, die ebenso ,bombensicher' sein soll, wie sie geheim ist. In dieser Giftmüll-Deponie ist wiederum ein Decoder, dem die Karte etwas Zusätzliches preisgibt: nämlich den genauen Inhalt der Container zum Zweck der fachgerechten Vernichtung oder Versenkung in der Erde.“ Er blickte auf die Leuchtdaten des Decoders. Kopfschüttelnd meinte er: „Nichts Besonderes! Der übliche Giftmüll des Forschungsinstituts. Wäre etwas unmittelbar Tödliches dabeigewesen, so würde ich das an gewissen Zeichen erkennen, und der betreffende Container müßte in einen Spezialtriebwagen umgeladen werden.“ „Aber wieso ist das Pik-As Otellos Todeskarte'?“ bohrte Superhirn. „Ach, nur dummes Gerede! Als die Spielkartentarnung eingeführt wurde, hieß es: mit der Herz-Serie fangen wir an, mit der Pik-Serie hören wir auf. Immer: 2, 3,4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, Bube, Dame, König, As! Bei Pik-As waren alle Serien das erstemal durch. Pik-As war also der Schlußpunkt, sozusagen. Manche Werkbahnleute meinten von Anfang an, die Reihenfolge hätte was zu bedeuten. Unsinn. Ebenso hätten wir zur Tarnung Bierdeckel nehmen können wie das Chemiewerk in Buronne. Das System ist narrensicher: Die Verlade-Ingenieure erkennen ihre Folien auf diese Weise im Halbdunkeln. Kein Außenstehender kann etwas damit anfangen.“ „Danke, Monsieur Brasser“, sagte Superhirn. „Jetzt ist mir manches klar: Pik-As gleich Todeskarte wie in der Oper Carmen - sowie „Schluß der Serie'! Da könnte einer gedacht haben, diesmal sei kein gewöhnlicher Giftmüll im SILBERBLITZ, sondern was ganz Tolles, etwas irre Wichtiges!“ „Aber das erklärt noch immer nicht, wo und wie der Zug verschwunden ist!“ rief Brasser. „Vom Rangiergelände konnte er nirgends runter, das steht fest!“ „Und durch die Luft ist er nicht geschwebt!“ grollte ein Bahnarbeiter von der Tür her. „He, Franc, was wollen die Burschen? Dich durch Seifenschaum ziehen - etwa für 'ne Schülerzeitung? Dann laßt euch eins gesagt sein: Bei mir hat sich Otellos Zugbegleiter Feuer für seine Zigarette geholt, als der SILBERBLITZ vor der Ampel wartete. Er ist nie zurückgefahren! Er hatte Strahlgut mit, was Radioaktives - und das hat ihn zerstört! Jawohl? Seine eigene Ladung hat ihn vernichtet! Das kann aber das Forschungsinstitut niemals zugeben. So sieht die Sache aus!“ „Quatsch!“ murmelte Henri so leise, daß nur Superhirn ihn verstand.
In diesem Moment läutete das Telefon. Brasser griff nach dem Hörer und meldete sich. Dann hielt er sich an der Pultkante fest und machte ein Gesicht, als hatte er Magenschmerzen. „Ja ...“, sagte er dumpf, „jaaa ... Aber das ist ... hm, hm ... Ende ...“ Er legte den Hörer auf und wandte sich den anderen zu: „Es war Monsieur Hugo - der Transportchef des Instituts. Man hat den SILBERBLITZ geborgen.“ „Wo?“ fragte der Arbeiter. „Im Meer“, stammelte Brasser, „das Taucherschiff zog ihn raus, am Steilhang, 15 km von hier. Otello und der Zugbegleiter Alfons sind tot. Ertunken ...“ 7. Noch eine Unbekannte - und etwas Unsichtbares! „So ein Dingt“ keuchte Henri, als er mit Superhirn der Buronner Bushaltestelle zustrebte. „Da schnüffeln wir ahnungslos auf dem Rangiergelände herum, lassen uns von Spinnern einwickeln - und inzwischen zieht man den SILBERBLITZ aus dem Meer! Paß auf, am Ende heißt es dann doch nur: Bedauerlicher Unfall!“ Superhirn schwieg. „Na, wie stehen wir denn jetzt da?“ begann Henri wieder. „Dumm ist gar kein Ausdruck! Oder was meinst du: Vielleicht sind die Bergungsmeldung und die Nachricht vom Tod durch Ertrinken nichts als gemeiner Bluff?“ Superhirn blieb stehen. „Der Anruf eben kann tausendmal amtlich gewesen sein. Dagegen beharren Brasser, dieser Doggenbesitzer und der Bahnarbeiter aber darauf, daß der SILBERBLITZ in der Unglücksnacht sein Ziel bereits erreicht hatte. Es gibt dort bestimmt noch weitere Zeugen!“ „Und du . . .?“ fragte Henri beschwörend. „Du kannst doch nicht beides glauben! Du kannst doch unmöglich glauben, daß der SILBERBLITZ erst unterwegs ins Meer gestürzt ist, darauf - als wäre nichts gewesen - Buronne per Schiene erreichte, um dann endgültig zu verschwinden .. .!“ Die Jungen liefen weiter. „Jen weiß jetzt das Wichtigste“, erklärte Superhirn. „Die sogenannte Todeskarte, das Pik-As, hat eine besondere Rolle gespielt. Wenn wir in Brossac-Centre sind, werden wir uns umhorchen, was für ein Mann Otellos Zugbegleiter war - dieser Alfons, denn den erwähnt man verdächtig wenig.“ „Vergiß den Lokführerhelm nicht, der 200 Kilometer von hier in einem Blumenbeet lag“, erinnerte Henri. „Und das Foto mit Otello, der Schuldirektorin und dem unbekannten Mädchen!“ „Ja, ja - wir müssen die Berichte der anderen prüfen!“ sagte Superhirn. „Und ich hoffe nur, daß sich Kommissar Rose beeilt...“ Am Spätnachmittag trafen die Geschwister und ihre Freunde im alten Leuchtturm wieder zusammen. Die Stimmung war auf dem Siedepunkt, denn alle hatten inzwischen etwas von der Bergung des Werkzuges gehört. Die Gefährten rückten die Klappmöbel auf die Gartenseite des Turms, stärkten sich mit kühler Limonade und tauschten ihre Erlebnisse aus. Eine erstaunliche Nachricht kam von Prosper: „Auf der Insel Roc hat man den SILBERBLITZ über die angebliche Unfallstelle glatt hinwegfahren sehen. Jemand wettete mit vier Hamburger Seglern, daß sie ihre Uhren nach dem Zug stellen könnten. Schlag l Uhr 45 haben sie die Scheinwerfer auf der Küsten-Strecke gesehen - über dem Steilhang! Und sie haben die roten Rücklichter bemerkt, als der SILBERBLITZ ohne Aufenthalt im Tunnel verschwand. Von Absturz keine Rede!“ Superhirn machte sich Notizen. „Was hast du im Mädchenheim erreicht, Tati?“ „Tja ...“, Tati zögerte. „Ich weiß nicht, ob es viel oder wenig ist. Unterwegs traf ich zwei Schülerinnen, und ich fragte sie, wie's denn in dem Heim so wäre. Meine Eltern wollten mich da auch eintreten lassen, sagte ich - na, und so .,.“ „Na, und so . .?“ wiederholte Superhirn ungeduldig. „Sie ließen mich gar nicht ausreden“, fuhr Tati fort. „Die Schule sei eine Tretmühle, Madame Ladour ein Drache . . .“ „Darauf geb ich nichts!“ murrte Henri. „Stimmt es, daß die Mädchen für Otello schwärmen?“
„Eben nicht!“ erwiderte die Schwester nachdenklich. „Die Direktorin hat doch so ein Theater gemacht, Otello würde ihnen die Köpfe verdrehen, er hätte in der Unglücksnacht ein Höllenspektakel mit der Lokpfeife vollführt, so daß sie aus den Betten gesprungen und an die Fenster gelaufen seien. Alles halb so wild! Die meisten halten ihn doch nur für einen Angeber.“ „Bist du. bei Madame Ladour gewesen?“ drängte Henri. „Nein, mir fiel was anderes ein. Ich fragte, ob Otello - als Verlobter der Lehrerin Susanne - öfter zu Besuch im Heim gewesen sei. Da warfen sich die Mädchen Blicke zu und kicherten. Otello habe ab und zu Madame Ladours Auto repariert - aber immer dann, wenn Susanne einen Tagesausflug mit einer Klasse unternahm oder schon zu Hause war: Susanne wohnt ja in Palmyre. Schließlich erkundigte ich mich, ob die Direktorin eine bestimmte Lieblingsschülerin hätte.“ „Du hast doch hoffentlich das Foto nicht vorgezeigt?“ fragte Gérard. „Von wegen! Aber die beiden Mädchen sagten prompt ja und beschrieben mir Madame Ladours Augapfel. Größe, Alter, Typ entsprechen dem abgebildeten Mädchen auf dem Foto. Es ist eine Engländerin. Aber sie nennt sich Ladour, denn Madame ist ihre Ersatzmutter. Meist wird sie Milly gerufen!“ „Aus dem Salat soll einer klug werden“, maulte Micha. „Wenn diese Milly wenigstens 'ne verzauberte Katze wäre - oder so was Ähnliches!“ „Das ist sie auch!“ sagte Tati scharf. „Hört nur weiter! Ich bin zum Rathaus gefahren und hab der Meldebehörde das Foto vorgelegt!“ „D-d-du bist wahnsinnig!“ ereiferte sich Prosper. „D-d-das Foto mit Otello und der Direktorin ...?“ „Natürlich nicht! Otello und die Madame hab ich abgeknickt“, erklärte Tati. „Nur das Teilfoto mit dieser Milly konnte man in meiner Ausweisfolie sehen, da ist doch so eine Klappe für Fahrscheine.“ „Verstehe, verstehe!“ drängte Superhirn. „Und weiter?“ „Ich sagte, ich hätte dieses Mädchen am Strand kennengelernt. Wir wollten Brieffreundinnen werden, aber ich kenne nur ihren Necknamen Milly. Der Beamte erkannte sie sofort. Da sie Engländerin ist, braucht sie eine Daueraufenthaltserlaubnis für Ausländer. Sie soll vielleicht immer bei Madame Ladour bleiben, weil ihre Eltern geschieden sind. Und sie heißt: Mildred Stilkins!“ „Stilkins...“ Superhirn sprang auf. „Wo hab ich den Namen schon mal gehört? Stilkins, Stilkins! Da klingelt bei mir etwas!“ Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Aber was? Aber was ...?“ Er wurde durch Madame Dydon unterbrochen, die aus dem Gebäude gekommen war, um sich zu verabschieden. „So, Kinder!“ rief sie. „Die Pizza ist fertig! Tati, kümmere du dich um den Salat, er muß noch in die Schüssel getan werden!“ Sie lief zu ihrem Kombiwagen. „Bis morgen!“ Am Eßtisch im Wohn- und Küchenraum unterhielten sich die Gefährten weiter. „Übrigens“, sagte Micha, „Susanne hat vorhin angerufen!“ „Schätze, die ist nicht so wichtig“, erklärte Gérard breit. „Räumt mal das Geschirr zusammen, denn die Bombe, die ich mitgebracht habe - die braucht Platz!“ „Ich denke, du warst nur bei Otellos Tante?“ fragte Prosper. „Die hast du doch nicht etwa huckepack angeschleppt?“ Gérard verschwand in seinem Schlafraum. Mit einem großen Karton kam er zurück. Neugierig sprang der Pudel um ihn herum, und Micha sah so aus, als hätte er's dem Hund gern nachgetan. Dann aber herrschte betroffenes Schweigen. Was Gérard da aus dem Karton holte und bedächtig auf den Tisch stellte, war eine Mini-Eisenbahn. Genaugesagt: ein Modell. Das Modell einer Werkbahn mit einer silbrigen Stromlinienlok und vier Containerwagen! „D-d-der SILBERBLITZ“, hauchte Prosper. „Was sagt ihr nun?“ triumphierte Gérard. „Ist das 'ne Bombe - oder ist das keine ...?“ „Hast du die Mini-Bahn von Otellos Tante?“ fragte Micha mit geweiteten Augen. „Ist das etwa etwa eine Verkleinerung ...?“ „Du meinst: der verzauberte Original-SILBERBLITZ?“ grinste Gérard. „Nee, da muß ich dich enttäuschen. Es ist nur 'ne maßstabgetreu nachgebastelte Attrappe. Otellos Tante sagte mir, ihr Neffe
hätte immer heimlich in der Dachkammer damit gespielt. Sie wolle das ganze Teufelszeug nicht mehr haben, sagte sie, und gab es mir nur all zu gern.“ „Das ganze Teufelszeug“, wiederholte Superhirn. „Dazu gehört auch das Papier im Karton?“ Er griff hinein und zog ein Faltblatt heraus. „Kinder! Eine Streckenkarte! Dem Datum nach stammt sie aus der Eröffnungszeit. Und was haben wir da weiter? Jetzt werd ich verrückt: Das ist ein Orientierungsblatt für Flieger, Fluggebiet Frankreich! Und hier sehe ich eine Schraffur mit Rotstift. Das ist das Massif Central!“ „Massif Central?“ wunderte sich Prosper. „Das ist doch das Mittelgebirge mitten in Frankreich. Verdammt einsame Gegend, wo sich die Füchse und die Hasen gute Nacht sagen! Otello wollte doch wohl nicht seine Hochzeitsreise dorthin machen?!“ „Was ist da eben vom Tisch gefallen?“ unterbrach Tati. „Es hat so komisch geklickt. Ich seh aber nichts!“ Sie schaltete die zusätzliche Deckenbeleuchtung ein. „Stimmt - da ist was runtergefallen“, bestätigte Gérard. Alle blickten auf dem Fußboden umher. Plötzlich rief Henri: „Seht mal, was Loulou macht! Der hat wohl die Maulsperre! Er dreht sich wie besessen im Kreis und kriegt die Schnauze nicht mehr zu .. .!“ Superhirn griff nach dem Pudel, hielt ihn fest und rüttelte an seinen Kiefern. Loulou stieß einen Schmerzenslaut aus, aber schon ließ ihn der Junge los. Wie befreit hopste der Hund davon. „Er sah so aus, als hättest du ihm einen Knochen weggenommen“, sagte Tati. „Und du hast auch etwas in der Hand. Aber bin ich denn blöd? Ich sehe nichts!“ „Sollte mich wundern“, murmelte Superhirn. Er hatte die Hand zur Faust geballt, als hielte er einen Hammerstiel. Und dann schlug er etwas Unsichtbares mehrmals bollernd auf den Tisch, „Was ist das ...?“ riefen die anderen. „Was machst du denn da ...? Nun sprich schon .. .!“ Superhirn tastete den unsichtbaren Gegenstand ab. „Ein länglicher Kasten“, erklärte er, „etwa 30 Zentimeter lang, quadratisch, etwa 4 mal 4! Er ist an beiden Enden seitlich aufklappbar. Ihr müßt euch das Ding aus Glas vorstellen, etwa als Hülle für eine Neonlampe über einer Flurgarderobe.“ „Spinnst du?“ hauchte Micha. „Ich wollte, du hättest recht“, sagte Superhirn ruhig. „Hm, ich vermute, das Material besteht aus stahlharter Luft. Es hat denselben Berechnungsindex wie Luft - und deshalb kann man's nicht sehen. Schätze, es ist der Behälter für die Mini-Bahn. Seht her - sie läßt sich hineinschieben. Ja, sie läuft in dem Behälter sogar auf einer Schiene!“ In diesem Augenblick läutete das Wandtelefon. Tati nahm den Hörer ab und meldete sich wie in Trance. Dann aber wurde ihre Stimme klar: „Kommissar Rose!“ rief sie erleichtert. „Ja, wir sind alle da! - Wie? Wann? - Gut, wir kommen!“ Aufatmend berichtete sie den Geschwistern und Freunden: „Rose möchte uns sehen. Er hat mit Superhirns Onkel gesprochen. Beide erwarten uns um 22 Uhr im Stellwerk, unten, im Forschungsinstitut!“ „Na, dann auf - zur letzten Runde!“ sagte Superhirn mit großer Entschlossenheit: „Micha: Grab Otellos Schutzhelm aus, aber laß ihn im Beutel. Tati: Vergiß nicht das Foto von Otello, der Direktorin und dieser Milly! Den Pik-As-Telepaß habe ich! Gérard, wir verpacken die Mini-Bahn, die Papiere, vor allem aber die Hülle! Und merkt euch eines ganz genau: Wir rücken mit unserem Wissen und mit den Sachen erst heraus. wenn ich das Zeichen dazu gebe ...“ Punkt 22 Uhr langten die Gefährten auf ihren Rädern am Instituts-Stellwerk des unterirdischen SILBERBLITZ-Bahnhofs an. Den Pudel führte Tati im Körbchen an der Lenkstange mit. „Na, so eine Überraschung!“ heuchelte Kommissar Rose. „Ich ahnte ja gar nicht, daß ich euch wieder hier treffen würde! Tja, ein trauriger Anlaß, leider. Superhirn, ich sagte das deinem Onkel schon: Lieber hätte ich 'ne Segelpartie mit euch gemacht!“ Es war noch einigermaßen hell, und man sah einen Mannschaftswagen der Polizei, aber auch uniformierte Beamte, die neben ihren schweren Motorrädern warteten. Professor Kyber trat heran, begleitet von verschiedenen Angehörigen des Forschungsinstituts.
„Meine jungen Gäste - oder Ihre alten Freunde“, sagte Kyber mit dem Anflug eines Lächelns, „wollten von Anfang an nicht glauben, daß der SILBERBLITZ ins Meer gestürzt sei.“ „Hm!“ Kommissar Rose rieb sich den Schnauzbart. „Ich kam bereits mittags mit dem Hubschrauber. Ich kenne alle Berichte, ich war auch per Schienenauto nach Buronne. Die SILBERBLITZ-Lok ist tatsächlich aus dem Meer gefischt worden, ich habe sie mit eigenen Augen gesehen ...“ „Und die Waggons?“ rief Superhirn. „Und Otello? Und Alfons?“ „Da wurden voreilige Nachrichten verbreitet“, knurrte Rose. „Von mancherlei Unklarheiten abgesehen: In der geborgenen Lok fehlte der Fahrtenschreiber. Aber du, Superhirn, sollst hier im Stellwerk geholfen haben, den Zug zu überwachen, weil der Bahninspektor plötzlich krank wurde: Gallenkolik, das ist ärztlich bestätigt. Also erzähl mal, was dir aufgefallen ist...“ „Ich selber rief den Arzt, als es schlimmer wurde“, berichtete Superhirn. „Es waren mehrere Männer im Stellwerk, die das Telefonat mitkriegten: ,Ziel erreicht' - und dann den Alarm: ,SILBERBLITZ spurlos verschwunden!'“ Kommissar Rose nickte. „Wir haben den Bahninspektor Poller aus dem Krankenhaus geholt. Er wird mit dir - in Anwesenheit der verantwortlichen Herren - die Unglücksfahrt an den Bildschirmen erläutern. Es ist alles bereit. Im unterirdischen Bahnhof steht der Werkzug BLITZ II startfertig, um den gesamten Hergang auf der Strecke zu rekonstruieren. Eine Expertenkommission erwartet den Zug in Buronne an der Rampe.“ „Ist das Meßsystem denn in Ordnung?“ fragte Superhirn. „Ja“, erwiderte Kyber. „Die Zerstörung des Kästchens an der Absturzstelle bewirkte nur einen Teilausfall. Aber sag mir mal, Superhirn: Wie kommt es, daß ich dich in der Unglücksnacht hier im Stellwerk nicht sah?“ Jetzt meldete sich der kranke Inspektor Poller zu Wort: „Nun ja, Herr Professor. Es herrschte ein schreckliches Durcheinander. Der Arzt war da, dann kam der Sicherheitsingenieur mit dem Transportchef - und alle nahmen an, der Junge hätte nichts anderes getan, als den Doktor zu rufen. Niemand fragte, warum er sich hier aufhielt. Und ich hab mich gehütet, was zu sagen. Superhirn verdrückte sich auch sehr schnell. Aber bevor der Zug abfuhr, sehen Sie, da war der Junge so enttäuscht, daß Otello ihn nicht mitnehmen wollte. Ich tröstete ihn und ließ ihn die Überwachung mitmachen. Plötzlich erwischte mich die Kolik ...“ „Schon gut“, sagte Professor Kyber. „Wir werden das jetzt nachspielen. Allerdings mit Zeitverschiebung. Der SILBERBLITZ fuhr um l Uhr los - BLITZ II startet um 23 Uhr. Ich fürchte aber, Superhirn, deine Freunde und der Pudel können nicht mit ins Stellwerk.“ „Der Raum ist groß genug“, meinte Kommissar Rose. „Ich halte es für sicherer, die Bande unter Kontrolle zu. haben.“ „Wie Sie wollen!“, murmelte der Professor. 8. Der Knoten platzt - ein Totgesagter erscheint! Das Stellwerk glich in seiner sauberen Nüchternheit auf den ersten Blick einer modernen Ambulanz mit medizinisch-technischen Geräten, Drehstühlen, Wandschrank, Bank und Liege. Die Liege diente der Freiwache zum Ausruhen. Zu Kommissar Rose, Professor Kyber, den Gefährten, dem Inspektor Poller und dem Sicherheitsingenieur gesellte sich der Transportchef, dem außer der Bahn die Kraftwagen, die Schiffe und die Flugzeuge des Instituts unterstanden. „In der Unglücksnacht“, begann Werkbahn-Inspektor Poller, „saß ich hier vor den Kontrollgeräten. Superhirn kam zehn Minuten vor der Abfahrt herein, um auf Otello zu warten. Otello meldete sich bei mir ab, erklärte aber, er könne Superhirn leider nicht im SILBERBLITZ mitnehmen, weil er sein Motorrad in der Nacht noch brauche und es im Führerstand untergebracht habe. Dazu habe er die Rückbank hochgeklappt, für einen Passagier sei also kein Platz mehr. Otello ging dann allein in den Werkbahnhof hinunter.“
Inspektor Poller schaltete die Bildschirme und alle Kontrollgeräte ein. „Auf Monitor l sehen Sie jetzt den BLITZ n an der Abfahrtsrampe“, erklärte er. „Der Labor-Verlader und seine Hilfslaboranten tragen noch ihre Gift- und Strahlenfolien mit den Schläuchen und Atemgeräten. Die Container sind in den vier Waggons. Die Waggons werden versiegelt ... Jetzt bekommt der Lokführer Coubelle den getarnten Telepaß ausgehändigt. Vorgestern war das die PikAs-Karte, heute wäre wieder die erste Serie dran - demnach die Herz-Drei.“ Alles, was Inspektor Poller erläuterte, konnten die Anwesenden in brillanter Schärfe ~ und in Farbe nach- und nebeneinander auf den verschiedenen Bildschirmen verfolgen. Ein Telefon schrillte. Poller stellte den Lautsprecher zum Mithören an und sagte: „Das ist der Fahrdienstleiter!“ „Hier Fahrdienstleiter!“ kam sogleich die Bestätigung. „Leertransport BLITZ II mit Lokführer Coubelle und Zugbegleiter Merck fahrbereit. 22 Uhr 57. Erbitte Starterlaubnis!“ Poller telefonierte daraufhin mit Buronne: „Leertransport BLITZ II Abfahrt 23 Uhr - danke - Ende!“ Jetzt sah man auf einem schwarzen Bildschirm eine zitternde, regelmäßig gezackte Lichtlinie. „Das ist der Fahrtstreifen des Zuges“, sagte Poller. „Die Zacken entsprechen den Achsfolgen. Links unten läuft die Zeit nach Minuten und Sekunden mit. Rechts erscheint die Kilometer- und Meterzahl der zurückgelegten Entfernung. Auf den Bildmonitoren sehen Sie BLITZ II bei der Auffahrt auf den Austerndamm.“ Die Scheinwerfer kamen aus dem Untergrund, aber man sah im Gegenschuß einer anderen Kontrollkamera auch, wie sich die Rücklichter entfernten. Ping, klang ein akustisches Signal in der Wand. „Jetzt geht ein Gitter hinter dem Zug herunter“, erklärte der Inspektor. „Jede Ein- und Ausfahrt der Schächte ist abgesichert, damit nicht etwa Touristen da herumlaufen. Außerdem sind an der Strecke beleuchtete Warntafeln weithin sichtbar aufgestellt.“ Auf den Bildschirmen sah man BUTZ n in den nächsten Untergrundabschnitt einmünden. „So!“ Inspektor Poller wandte sich auf seinem Drehstuhl um. „Hier etwa, nach 15 Kilometern Fahrtüberwachung, bekam ich den Anfall. Ich hielt mich noch eine Weile mit Mühe.“ Der Sicherheitsingenieur bemerkte scharf: „Sagen Sie lieber: Sie rissen sich zusammen! Denn als ich Sie genau zwanzig Minuten nach dem SILBERBLITZ-Start anrief, meldeten Sie forsch: ,Alles okay'!“ Der Transportchef fügte hinzu: „Dasselbe bestätigten Sie mir über Funk.“ „Ich wollte mich nicht blamieren“, murmelte Poller. „Ich dachte, es geht vorbei, und da Superhirn so gut spurte, legte ich mich auf die Pritsche. Ich hoffte ...“ Ein Funksignal zerschnitt mißtönend die Entschuldigung. Aus dem Lautsprecher kam Coubelles leicht verzerrte Stimme: „Hier BLITZ II! Pfeilerstrecke Nähe Mädchenheim erreicht. Nichts Verdächtiges. Ende!“ „Verstanden“, quittierte Superhirn durchs Mikrofon. „Nichts Verdächtiges“, wiederholte Kommissar Rose. „Na, das muß wohl stimmen. Neben dem Lokführer hockt nämlich Kommissar Lenninger. Ich hab ihn dahin befohlen ...“ Superhirn wies auf die leuchtende Zackenlinie: „Ganz regelmäßig, sehen Sie? Dreißig Minuten Fahrt - Halbzeit! Auf die Sekunde. Die Fotometer messen keinen Rauch, die Lichtschranken keinen Fremdkörper. Keine Kontrollampe zeigt ,Rot', also ,Gefahr' oder ,Ausfall'. Es geht alles wie geschmiert, genau wie beim SILBERBLITZ in der Unglücksnacht!“ „Hm!“ Rose wandte sich an den Transportchef: „Wo kam eigentlich der ebenfalls vermißte Zugbegleiter her? Dieser Alfons?“ „Von der Buronner Chemie, genau wie Otello. Otello war gelernter Werkbahner, wir schickten ihn nach Hannover, wo er im Herstellungskonzern der SILBERBLITZE einen Jahreskurs machte. Er hat uns nicht enttäuscht, und so vertrauten wir ihm auch bei der Personalwahl.“ „Achtung ...!“ tönte es jetzt aus dem Lautsprecher. „BLITZ II fährt auf die Felstrasse und wird gleich sogenannte Unfallstelle passieren!“
„Wenn das nur gutgeht . . .!“ hörte man Tati bange flüstern. Dem Pudel teilte sich die Nervosität im Raum mit. Dann aber herrschte Totenstille. Wie gebannt beobachteten alle die Bildmonitore und den Fahrtenschreiber-Leuchttisch auf dem Schwarzgerät. Da - die Kamera erfaßte die Scheinwerfer der Lok auf der Felsenstrecke am Steilhang hoch über dem Meer. Zack – zack - zack - zack, erschien korrekt, ohne Flimmern, Schwimmen, Auspendeln, die Achsfolge. Zeitziffern und Meterzahlen liefen weiter, weiter, weiter ... „J-j-jetzt?“ schrie Prosper. Für ein einziges Intervall fiel die gesamte Anzeige der Achsfolge aus, der Fahrtenstrich auf dem schwarzen Schirm brach zusammen. Dann aber leuchtete er wieder auf und verkündete von neuem gleichmäßig seine stumme, rhythmische, optische „Musik“. Heiser sagte Superhirn: „Er ist drüber! Er hat's geschafft! Da war nur das eine, einzige SchwellenMeßgerät kaputt, und Kommissar Lenninger hatte nicht recht, als er meinte, das hätte das ganze Meßsystem verunsichert!“ „Die Sache ist geklärt“, bemerkte Professor Kyber ruhig. „ich habe das prüfen lassen. Nicht der SILBERBLITZ hat in der Nacht einen Meßkasten zerstört, sondern unsere Werklok, am Morgen, als sie sich an den Bergungsversuchen beteiligte.“ Über Funk kam jetzt die Meldung des Lokführers Coubelle: „Achtung Stellwerk Forschungsinstitut Brossac-Cap Felmy! Hier BLITZ II! Keinerlei auffällige Beobachtung! Angeblicher Absturzpunkt ohne Seitendrall zum Fels. Neigungswinkel gleich Null! Alles okay! Ende!“ Und exakt auf die Sekunde gab er dann durch: „Einfahrt Buronne Rangierbahnhof!“ Nach einer Weile läutete das Telefon: „BLITZ II am Prellbock Entsorgungsrampe, meldete der Buronner Bahnmeister Franc Brasser. „Keinerlei Zwischenfälle.“ Superhirn stand auf. „So war es. Genau so! Nur mit dem Unterschied, daß nach 25 Minuten die erste Rückfrage kam; ,Wo ist der SILBERBLITZ geblieben?'“ Er atmete tief und sagte mit Nachdruck: „Der SILBERBLTTZ muß also in Buronne zwischen Schachtausfahrt und Rampe verschwunden sein. Trotz der Bergung des Motorrads, des Einstiegsteils der Lok, des Zugbegleitersitzes - und schließlich auch trotz der Bergung der ganzen Lok. Kommissar Rose sagt, in der SILBERBLITZ-Maschine sei der Fahrtenschreiber ausgebaut gewesen. Das scheint mir verdächtig genug. Aber der Computer, hier, hatte die Fahrt in der Unglücksnacht ebenfalls mitgeschrieben und .ausgespuckt'. Darf ich den Streifen haben?“ Kommissar Rose reichte ihm die beschlagnahmte Rolle, die er von seinem Kollegen Lenninger erhalten hatte. Superhirn verglich den eingezeichneten Fahrt verlauf mit den eben aufgefangenen Fahrtenschreiber-Werten von BLITZ II. „Bis auf die Fehlanzeige durch das zerstörte Meßkästchen durchweg dieselben Daten“, sagte er. „Aber wie käme die Lok dann ins Meer?“ fragte der Sicherheitsingenieur. „Niemals durch einen Unfall!“ behauptete Superhirn unbeirrt. „Micha, zeig den Herren doch Otellos Schutzhelm, den dir der Gärtner 200 Kilometer von hier gegeben hat! Der Telepaß, die Ladekarte das Pik-As -, war in der Helmtasche.“ Er gab Tati einen Wink und zwinkerte Gérard zu. Tati hielt dem Kommissar das Foto von Otello, der Heimleiterin und der Schülerin unter die Nase und gab ihre Erklärungen dazu ab. Inzwischen hatte Gérard die SILBERBLITZ-Modellbahn ausgepackt und demonstrierte die Unsichtbarkeit der Hülle, indem er sie hörbar an seinen „Fußballkopf“ klicken ließ. Die Männer lauschten den Berichten der Freunde mit wachsender Bestürzung. Kommissar Rose stand mit Kyber über die Flugkarte gebeugt. Plötzlich kam ein Polizist herein. „Herr Kommissar“, meldete er. „Da ist eine junge Dame, die sich nicht abweisen lassen will. Jemand hat ihr gesagt, Sie leiteten die Untersuchung ...“ „Susanne!“ rief Tati. „Ach!“ fiel Micha ein. „Ich vergaß ganz, noch mal daran zu erinnern! Susanne hatte ja im Turm angerufen!“
„Mensch, das dürfte eigentlich ich nicht vergessen haben!“ sagte Superhirn alarmiert. „Du hast es uns ja ausgerichtet, und ich hab 'ne kochendheiße Frage an sie!“ Die junge Lehrerin erklärte dem Kommissar, wer sie sei, wo sie arbeite und wohne - und daß sie sich bis heute als Otellos Verlobte betrachtet habe. Sie hatte sich gut in der Gewalt, aber sie sah aus wie ein Mensch, der zu allem entschlossen ist. „Otello lebt“, sagte sie. „Er ist nicht ertrunken, wie die Leute munkeln - und über den Unfall wird mittlerweile so viel dummes Zeug geredet, daß ich nichts mehr glaube!“ „Aber Sie glauben, daß Otello lebt?!“ fragte Rose mit grimmigem Humor. „Es ist etwas Unfaßbares passiert“, erwiderte Susanne tapfer. „Otello tauchte heute nachmittag, ich meine natürlich gestern, ganz plötzlich in der Gegend auf ...“ „Ja?!“ drängte Kommissar Rose, dem das Grinsen vergangen war. „Er erschien ziemlich abgerissen in der Volksbank neben der Tankstelle, da, wo ich mein Konto habe. Er wollte mein ganzes Geld abheben. Sie müssen wissen, ich hatte geerbt ...“ „Von der Erbschaft erzählte Ihre Direktorin schon“, warf Gérard ein. „Und Otello besaß als mein Verlobter eine schriftliche Vollmacht von früher her“, fuhr Susanne fort. „Er wollte gleich mein ganzes Vermögen abheben. Er sagte: ,Für unsere Hochzeitsreise nach Mexiko ...“ „Hat er das Geld gekriegt?“ fragte Kommissar Rose, „Nein, die Kassiererin war entsetzt, ihn zu sehen. Sie hatte gehört, er sei ertrunken. Er lachte und sagte: .Falschmeldung! Ich war ein paar Stunden im Spital. Außer einer Handverletzung fehlt mir nichts!'“ „Die Bißwunde!“ meinte Henri aufgeregt. „Die Dogge in Buronne von diesem Herrn Flacfloc!“ „Nun schnell?“ drängte der Kommissar die Lehrerin: „Was geschah dann?“ „Die Kassiererin telefonierte mit mir. Sie wollte ganz sichergehen. Inzwischen floh er. Er rannte aus dem Schalterraum und warf sich auf ein Motorrad mit einer fremden Nummer. Auf den Zweitsitz sprang sein Freund Alfons, der verschwundene Zugbegleiter. Ich habe in meinem Haus gewartet, ich dachte, Otello würde vielleicht kommen und mir eine Erklärung abgeben!“ „Er wird gewußt haben, warum er sich nicht meldete“, überlegte Superhirn fieberhaft. „Und daß er ausgerechnet hier wieder auftaucht und in Ihre Bank rennt ... Himmel, das sieht nach Verzweiflung aus! Da muß was nicht geklappt haben. Aber was ...? Tati, zeig ihr rasch das Bild mit Otello, der Madame und der Schülerin! Ich will wissen, woher diese Milly kommt - und ob sie wirklich Stilkins heißt!“ Kyber stützte die junge Lehrerin. „Otello und Madame Ladour ...“, sagte sie schwach. „Ja, und die Schülerin ist ihr Liebling. Sie hat geschiedene Eltern, die sehr, sehr viel bezahlen. Sie trägt den Namen der Mutter. Der Vater ist Lord Robert Morton, glaube ich.“ „Morton? Ja ...“ rief Superhirn. Er schrie es fast. „Morton und Stilkins, Handel und Transporte, die haben noch eine französische Filiale im Massif Central? Aber der Großteil der Firma ist pleite gegangen ...“ „.. . und zwar mit Luftschiffen nach dem Blasenprinzip!“ unterbrach Professor Kyber lebhaft. „Mir geht ein Licht auf!“ „Waaas ...?“ Kommissar Rose fuhr auf dem Absatz herum. „Pleite? Luftschiffe? Dann funktionieren die Dinger nicht gut? Trotzdem hat man versucht, den SILBERBLITZ mit so einem Versager zu entführen? Wo kann Otello jetzt untergekrochen sein? Ihr spracht von einer Tante!“ „Die hält ihn für einen Teufel!“ rief Gérard. „Ich denke, die Schuldirektorin ist Otellos Komplizin?!“ Rose befahl dem Polizisten, die wartenden Mannschaften in Marsch zu setzen und das Mädchenheim umstellen zu lassen. Dann telefonierte er mit der Untersuchungskommission in Buronne, mit allen örtlichen Polizeistationen der Umgebung. Schließlich leitete er über die Präfektur in Rochefort die landesweite Fahndung mit Schwerpunkt Massif Central ein und forderte Kontaktaufnahme mit Interpol.
„Kommen Sie“, befahl er Susanne. „Ich brauche Sie im Schulheim. Und Sie“, er wandte sich an Professor Kyber, „Sie fahren mit Ihren Herren und den Jugendlichen samt deren Beweisen sofort nach Buronne, zur Rampe!“ Der Transportchef mobilisierte einen Werkbus. Als sie über die nächtliche Straße sausten, sagte Kyber zu Superhirn: „Wenn wir da nur nicht auf einen Holzdampfer geraten! Diese Sache mit den Blasen-Luftschiffen ...“ „Aber die hast du doch selber bestätigt!“ verteidigte sich der Junge. „Anfangs war das sogar eine Weltsensation: Luftschiffe mit Hüllen aus elastischer Luft! Daneben gelang es der Firma ja auch, Luft zu härten! Denk doch an den unsichtbaren Kasten des Modells, den Gérard von der Tante bekam! Otello hat damit geübt!“ „Abgesehen davon, daß sich die Blasenluftschiffe und die Hartluft-Garagen nicht bewährten - wir entwickeln zusammen mit der deutschen Versuchsanstalt in Köln sehr erfolgversprechende SolusLuftschiffe. Und ich wüßte nicht, weshalb man noch ein Morton-Stilkins-Schiff eingesetzt haben sollte, um den SILBERBLITZ zu entführen. Das wäre, als baute man einen Riesentanker zum Abtransport einer Schuhsohle!“ Es war 2 Uhr 30 in der Frühe, als die Passagiere des Institutsbusses auf dem Buronner Rangiergelände mit der Expertenkommission zusammentrafen. An den Arbeitsstellen strahlten blendend helle Scheinwerfer. Der Unfall-Sachverständige hatte den BLITZ II bis vor die Ampel zurückfahren lassen. Bahnmeister Franc Brasser, einige Arbeiter und Herr Flacfloc mit seiner Dogge waren zur Stelle. Wieder beschworen die Männer, den verschollenen SILBERBLITZ hier gesehen zu haben. „Und Otello schlug meinen Hund mit einer Brechstange!“ beharrte der Doggenbesitzer. „Hier der Beweis: Otellos Handschuh! Es wimmelten mehrere Leute um den SILBERBLITZ herum, aber keiner vom Rangierbahnhof!“ „Klar!“ sagte Superhirn zu der Gruppe, mit der er gekommen war. „Das Blasenluftschiff stand über dem Gleis, man hatte die Hartluft-Gondel runtergelassen - und der SILBERBLITZ war da bereits hineingefahren wie in ein Depot! Monsieur Flacfloc sah die Hartlufthülle nicht! Die Hülle wurde rasch hochgezogen, nachdem die Lokscheinwerfer ausgeschaltet worden waren. Nur Otello blieb. Er täuschte mit einem kleineren Luftfahrzeug und Buglichtern den einfahrenden Zug an der Rampe vor.“ „Welches Interesse bestand aber an einem Müllzug?“ fragte der Professor kopfschüttelnd. „Habt ihr im Forschungsinstitut nicht auch Geheimprojekte, Onkel Victor?“ fragte Superhirn zurück. „Donnerwetter!“ entfuhr es dem Transportchef. „Ja, es bestand der Plan, Kunstkeime für Plantagen in Wüstenzonen hier zu verladen. Das war ein Staatsprojekt! Kommerziell genutzt, wäre das eine Sache mit Milliardengewinn gewesen! Wir wählten dann aber doch den Straßentransport und ließen die Fracht in Paris ausfliegen. Das war aber bereits Ende Mai!“ „Und jemand muß nach wie vor auf den Zugtransport getippt haben!“ erklärte Superhirn. „Vor allem schon deshalb, weil die Telepässe als Spielkarten eingeführt worden waren! Darin sah man ein Signal! Und welches konnte der Stichtag sein? Der, auf den die letzte Karte der letzten Serie fiel: Pik-As!“ Über die Gleise schwankten Schatten. „So, da wären wir!“ grollte die mächtige Stimme von Kommissar Rose. Bahnmeister Brasser hob seine Lampe und leuchtete einem verstörten jungen Mann ins Gesicht, der von Polizisten flankiert wurde. „Otello!“ schrie Brasser. „Du Schuft!“ Monsieur Flacflocs Dogge heulte auf, und der Pudel bellte, als gäben sich Gespenster ein Stelldichein. Rose berichtete, daß die Morton-Stilkins-Tochter tatsächlich in Madame Ladours Heim eingeschleust worden sei: „Die Direktorin war die Komplizin der Pleite-Firma. Die Morton-Stilkins-Leute hatten von der Produktion sensationeller Nutzpflanzen in Brossac Wind gekriegt. Sie wollten die Keime für ein weltweites Geschäft schnappen. Dazu brauchten sie einen Mittelsmann, und den glaubte Madame
Ladour in Otello gefunden zu haben. Otello und sein Freund Alfons ahnten nicht, daß tatsächlich nur Müll in den SILBERBLITZ-Containern war. Sie vertrauten der Magie der Karte Pik-As!“ „Das taten die Engländer aber auch!“ rief der verhaftete Alfons über die Schulter seines Kollegen hinweg. „Ja!“ bestätigte Otello in jammerndem Ton. „Sie lauerten im Massif Central mit ihrem letzten BlasenLuftschiff. Ich mußte ihnen Streckenpläne, Fotos und Zeichnungen vom Rangierbahnhof liefern. Und ich habe nicht versagt! Nur der Bengel, dieser Superhirn, machte mir beinahe einen Strich durch die Rechnung, weil er in der Nacht mitfahren wollte!“ „Und Sie redeten sich mit Ihrem Motorrad heraus?“ fragte der Sicherheitsingenieur. „Hatten Sie das wirklich im Führerstand der Lok?“ „Das lag schon im Meer, Sie großartiger Aufpasser!“ höhnte Alfons. „Auch 'n alter, ausgebauter Zugbegleitersitz und noch ein paar hübsche Beweise!“ „Und ich“, rief Otello in traurigem Stolz, „ich bin genau in die unsichtbare Gondel gefahren, die das Luftschiff aufs Gleis bugsiert hatte! Und während das Ding samt dem Zug schon hochgezogen wurde, stieg ich in ein Schwebemobil um, das die gleiche Scheinwerferstellung wie der SILBERBLITZ hatte: Alle Arbeiter und der Bahnmeister sind darauf reingefallen!“ „Wenn meine Dogge nicht nur beißen, sondern auch reden könnte ...“, begann Monsieur Flacfloc, doch Brasser unterbrach ihn: „Was denn, Otello?! Als ich aus dem Stellwerk guckte, bist du. mit so 'ner komischen Luftblase dem Geistertransport nachgeschwebt? Aha! Und die Lok hat man aus dem Hauptschiff ins Meer geworfen, damit's nach Unfall aussieht!?“ „Du merkst auch alles!“ sagte Otello mürrisch. „Leider hatten sie die Felswand verfehlt, sonst hätt's noch 'n paar schöne, echte Kratzer gegeben!“ „Na, und auch sonst hat einiges nicht geklappt“, mischte sich der Kommissar ein. „Otello hatte Probleme mit dem Schwebemobil. Er kam nicht gut damit zurecht, zumal er durch den Hundebiß behindert war. So wurde er nach Tribourg abgetrieben.“ „Weiß ich, wo das war!“ schrie Otello. „Das Schwebekissen drehte sich dauernd um seine Achse, Dabei verlor ich meinen Helm! Und als ich im Massif Central runterging, wollten mich die MortonStilkins-Leute killen. Alfons hatte den ersten Container schon aufgestemmt, aber was sie fanden, waren keine Keimkraft-Diamanten, sondern Müll! Wir sind dann ausgerückt. Wir griffen uns das erste beste Motorrad und fuhren wieder hierher! Denn wo sollten wir unterkriechen?“ „Bei Ihrer Tante sicher nicht“, brummte Gérard. „Die Tante glaubte, Ihre Modellbahn-Übungen seien Teufelswerk. Eine fromme Dame!“ „Und Susanne hat das Verlobungstheater geahnt. Ohne sich's einzugestehen“, vermutete Tati. „Nun, die Hintermänner kriegen wir auch noch“, sagte Rose. „Übrigens, Otello - wer hat Ihnen den wahnwitzigen Gedanken eingeblasen, sich mit Madame Ladour und der Morton-Stilkins-Tochter fotografieren zu lassen?“ „Ich!“ triumphierte Otello. „Ich hab 'ne Kamera mit Selbstauslöser. Und ich wollte das Foto haben, damit die Herrschaften nicht ableugnen könnten, mit im Bunde gewesen zu sein!“ „Aber nun können Sie es auch nicht ableugnen!“ murmelte Henri. „Das war schlecht gepokert!“ „M-m-man soll eben nie auf die falsche Karte setzen!“ rief Prosper. Und Micha fügte hinzu: „Schon gar nicht auf Pik-As!“
ENDE
Superhirn Stoppuhr des Grauens 1. Sturmwarnung - Der Unheimliche taucht auf Auf dem Leuchtturm von Cap Felmy und auf den Dächern des Atlantik-Instituts heulten die Alarmsirenen: Sturmwarnung! Das Institut lag an der Einbuchtung der Seudre, nahe der Gironde-Mündung. Es glich mit seinen Trakten, Hangars, Flug- und Parkplätzen eher einem neuen Stadtviertel von Brossac oder Royan als einer Außenstelle des Staatlichen Forschungsamts. Hinter den hotelähnlichen Fassaden arbeitete zur Zeit allerdings nur ein kleines Team an einem medizinischtechnischen Versuchsprogramm. Die meisten Mitarbeiter - ebenso Angehörige der Werkbahn und des Werkschutzes - hatten Betriebsferien. Im „Gästehaus“ des Instituts, dem gemütlichen alten Leuchtturm auf dem vorgeschobenen Cap Felmy, horchten drei Jugendliche auf: Marcel, der spindeldürre Junge mit der kauzigen Brille, von den anderen wegen seiner Blitzgescheitheit „Superhirn“ genannt, sein Freund Henri und dessen Klassenkamerad Prosper, auch er ein verläßlicher, treuer Bursche, nur oft sehr nervös und zapplig. „G-g-geht schon wieder mal die Welt unter?“ stotterte er, und die beiden anderen wußten nicht recht: meinte er das im Ernst oder im Scherz? Ihr Quartier, das Türmchen am Cap Felmy - hoch über dem Atlantik und hoch über der Ebene von Brossac - war ihnen als behaglich-kühle Zuflucht vor der stechenden, völlig windstillen Hitze erschienen. Das Gemäuer bot jeden Komfort, so geschickt hatte man es modernisiert. Die übereinanderliegenden Wohnungen - Zimmer, Bad, Dusche - hatten die Form von Apfelsinenscheiben. Mit der Küche im Erdgeschoß war vor allem Hobbykoch Prosper sehr zufrieden: Sie bildete eine sinnvoll eingerichtete Nische neben dem bäuerlich gehaltenen Eßraum. Und hier nun saßen die drei, tranken Limo mit Eis, sortierten seltene Muschelschalen, kritzelten Postkarten und vermerkten Ferienerlebnisse in Stichworten. Das Wandtelefon läutete. Superhirn sprang auf und nahm den Hörer ab: „Hier Gästehaus Leuchtturm, Institut Brossac - Cap Felmy?“ meldete er sich. Am anderen Ende sprach Professor Victor Kyber, gegenwärtig der Chef des Instituts, Superhirns Patenonkel. „Seid ihr vollzählig?“ fragte er. „Wir haben mit einem ungewöhnlichen Sommerorkan zu rechnen. Geht nicht auf die Plattform, auch nicht an die mittlere Balustrade, am besten nicht einmal vor die Tür! Macht alles dicht! Verriegelt die Fenster!“ „Aber Tati und Micha fehlen noch!“ entgegnete Superhirn. „Tati hat da in Brossac einen Sommerkurs für Ballett, und Micha ist am Strand von Palmyre!“ Den schwarzen Zwergpudel Loulou erwähnte er nicht. Den hatte Henris Schwester Tatjana, die sie Tati nannten, im Körbchen an der Lenkstange mitgenommen; er war der „Augapfel“ der Geschwister und gehörte eigentlich Micha, dem jüngsten. Das Mädchen würde schon darauf achten, daß ihm nichts passierte. „Ach, da fällt mir ein“, rief Superhirn, „ich habe Gérard vergessen, unseren Fußballfan! Er spielt heute auf der Insel Oleron wieder mal als Gast in der Brossacer Jugendmannschaft!“ „Die Wetterdurchsage ist an alle Küstenstationen bis runter zur spanischen Grenze und rauf bis in die Bretagne gegangen“, sagte Professor Kyber. „Strandwächter“ Bademeister und Forstleute warnen die Feriengäste durch Lautsprecher. ich habe also allen Grund, euch zu warnen! Die drei bleiben am besten, wo sie sind. Sollten sie schon unterwegs sein, wird sie der Orkan -
hoffentlich zeitig genug - zum Unterkriechen zwingen. Kommen sie aber bis zu euch durch, so sorgt dafür, daß sie den Turm nicht mehr verlassen. Ende!“ „Ende!“ erwiderte Superhirn mechanisch. Er wandte den Kopf. Im Vorraum des Leuchtturms war ein hitziges Gespräch im Gange. Er hörte die kreischende Stimme einer Frau. Madame Dydon! Die sonst stets vergnügte, bei den jugendlichen überaus beliebte Wirtschafterin. Die Freunde nannten sie immer nur „Madame Dingdong“, und das hörte sie gern. Sie nahm es als ein Zeichen der Anhänglichkeit. Aber jetzt schrie sie - und ihre Stimme kippte unangenehm über. Das war noch niemals vorgekommen, Es durchfuhr Superhirn schlimmer als die Warnung vor dem 0rkan! Er lief in den Vorraum. Dort bot sich ihm ein seltsames Bild: Inmitten eines Kleiderhaufens saß die Wirtschafterin am Fuß der Treppe. ihr Gesicht war schmerzverzerrt, offenbar war sie die Stufen herabgefallen. Prosper versuchte, die Sachen aufzuheben. Doch Madame Dydon hielt verbissen alles fest, wonach er griff. „Das ist alles schmutzig!“ schrie sie. „Das muß in die Wäsche! Ich werde dafür bezahlt, euer Zeug in Ordnung zu halten.“ „Madame!“ rief Henri. „Sie sind doch nicht auf den Kopf gefallen! Sehen Sie sich die Trainingshose an, an der Sie zerren! Die kommt doch gerade aus der Reinigung! Alle Sachen, alle, die Sie mitnehmen wollten haben Sie uns heute früh erst gesäubert hergebracht!“ „An den Sa-sachen hängen noch die Etiketts“, stammelte Prosper. „Aber nicht an Michas Jeans - und auch an Tatis Kittel nicht!“ beteuerte Madame Dydon. „Gut!“ griff Superhirn rasch ein. „Dann nehmen Sie die Jeans eben mit. Meinetwegen auch Tatis weißen Kittel.“ Das ließ sich die Frau nicht zweimal sagen. Sie packte die Sachen und stob zur Tür hinaus. Die Freunde sahen sie auf ihren Kombiwagen zuhasten. Henri hob einige der übrigen Kleidungsstücke auf. „Begreift ihr das ... ?“ fragte er gedehnt. Superhirn berichtete vom Anruf des Institutschefs. „Es ist ein starker Sturm gemeldet. Noch merkt man davon nichts, draußen regt sich kein Lüftchen, aber offenbar bahnt sich das Unwetter schon in manchen Köpfen an. Das wäre nichts Neues ...“ Nun hatten die Freunde allerdings zusammen mit Madame Dydon hier an der Küste schon Orkane erlebt, und noch nie hatte die bewährte Person vorher „durchgedreht“. Das wußte Superhirn genausogut wie Prosper und Henri. Die beiden hielten es jedoch für besser, der Erklärung Glauben zu schenken. Also trugen sie die Kleidungsstücke, die durchweg Henris Geschwistern gehörten, wieder hinauf ins oberste Quartier. Mit einem Blick in den Zwischentrakt hatte Henri festgestellt: „Bei Superhirn und mir fehlt anscheinend nichts, da ist sie gar nicht dringewesen.“ „In Gérards und meinem Quartier war sie zuletzt auch nicht“, bemerkte Prosper. „Da hätten wir sie ja durchs Parterre gehen sehen!“ Doch im obersten Stockwerk sah es schlimm aus. Da standen die Schiebeschränke offen, die Kommodenschubladen waren nicht nur auf-, sondern herausgerissen: Die sonst so ordentliche und zuverlässige Madame hatte da gehaust wie ein Dieb auf der Suche nach Schmuck. Die jungen warfen die Kleidungsstücke auf die Betten und sahen sich fassungslos an. Dann starrten sie einander an. „Wenn man Madame Dingdong nicht so gut kennen würde ...“, begann Henri. Superhirn winkte ab. „Lassen wir das. Du weißt ja so ungefähr bei deinen Geschwistern Bescheid. Stopf die Sachen in die Schränke und Kästen, damit Tati nicht gleich einen Schlag kriegt ...“ Entgegen der Weisung des Professors sauste Superhirn zur Aussichtsplattform empor, dicht gefolgt von dem keuchenden Prosper. „Ich will sehen, ob die Sturmwarnung echt war.“ erklärte er.
„E-e-echt ...?“ Prosper verstand nicht. „ja! oder ob sich's um einen Vorwand handelte“, sagte Superhirn. „Möglicherweise ist hier nicht der Wettergott' im Spiel, sondern einer der Halbgötter aus den Labors! Wäre nicht das erstemal ...“ „Ach - du meinst, da könnte was geplatzt sein, und jetzt hängt 'ne Giftwolke über uns ...?“ „Ich denke an Madame Dingdongs Benehmen*, erwiderte Superhirn. Die beiden jungen durchquerten das Lampengehäuse des alten Turms und stiegen auf die offene Plattform. Der vor kurzem noch so schmerzend helle Silberhimmel bot sich den Augen um einige Schattierungen grauer. Es wehte immer noch kein Wind, und der Ozean lag träge wie Blei. „Sieh mal!“ staunte Prosper. „Die Brücke zur Insel Oleron ist verschwunden, und die Insel scheint sich zu entfernen - wie ein Schiff!“ „Die üblichen optischen Täuschungen“, murmelte Superhirn. Ein hoher, singender Ton, den man nicht orten konnte, drang an ihre Ohren: die Warnsirenen von Ronce, Marennes, Brossac-Baie und des Yachthafens, der im Dunst verschwindenden Insel. „Also doch!“ meinte Prosper, „Also doch das Wetter und kein Giftalarm!“ Wie von unsichtbaren Schnüren gezogen, strebten die typischen Austernkutter ihren Standorten zu, vorerst noch in Pulks, in Linien- oder Keilformationen. Die unterschiedlichen Industriefarben ihrer Rümpfe boten einen phantastischen Kontrast zum grauer und grauer werdenden Hintergrund: Da sah man zinnober- und krapprote, ocker- und sienafarbene Schiffe, flaschen-, lind- und feurig-chromoxydgrüne, blaue, orangefarbene, gelbe und fahlweiße, die tiefschwarz abgesetzt waren. Ihre Volvo-Motore ließen sie miteinander „Schritt halten“, so daß der Eindruck einer geschlossenen Flotte entstand. Die grellweißen Fahrtwellen blitzten wie Zahnreihen, unheimlich rein auf der dunklen Fläche. Nun trennten sich die Boote. Einzeln oder gestaffelt, auch im „Gänsemarsch“ steuerten sie die Ösen ihrer Heimatkanäle an. „Auch die Möwen suchen das Land“, stellte Superhirn fest. Er blickte nach Südwesten. Dort verblaßten die Bonbonfarben der Sommerbekleidung Tausender von Gästen. Die Surfer und Sportsegler sah man längst nicht mehr. Prosper quetschte seine Nase an das Barometerglas neben dem Niedergang. „Mensch, ist das gefallen!“ staunte er. Sie hangelten sich in das Turmgehäuse zurück, verriegelten die Tür und prüften die Fenstersperren. Plötzlich stieß Prosper einen unterdrückten Schrei aus. „Was ist?“ fragte Superhirn alarmiert. „Unter den Ref-f-flektoren ragen B-b-beine hervor!“ wisperte Prosper an seiner Seite. „Da liegt einer ...!“ Die Beine waren mit leichten, weißen Halbschäftern und weißen Hosen bekleidet - so wie sie das Laborpersonal des Forschungsinstituts trug. „Ein T-t-toter ...“, schluckte Prosper. „Nein“, entgegnete Superhirn, „Das eine Bein hat sich bewegt!“ Mit einer Schuhspitze stieß er gegen die rechte Sohle der Gestalt. „He? Wer sind Sie? Was machen Sie hier?“ Die Beine verschwanden. offenbar erhob sich die Person hinter den alten, blinden Reflektoren oder ihren Resten, die bei der Renovierung nicht ausgebaut worden waren. Die jungen wichen zurück. Wider Erwarten war es draußen plötzlich sehr dunkel geworden. Es war Nachmittag, dennoch schien sich die Nacht über den Turm zu senken, Die Gestalt, ein Mann mit schwarzem Lippenbart und einem desto wachsfarbener wirkenden Gesicht, kam gebückt um das Drehgestell herum. Es war ein junger, schlaksiger Bursche. Er trug den Schutzhelm mit dem Zeichen des Instituts. „Dachte, das wär ein Gästehaus hier.“ knurrte er unfreundlich.
„I-i-ist es auch“, rief Prosper. „Aber die Gäste sind zur Zeit w-w-wir! Fünf Jungen und ein Mädchen. Im Augenblick ist allerdings außer uns beiden nur Henri da.“ „Wir sahen Sie nicht kommen“, unterbrach Superhirn den redseligen Freund. „Man hat Sie uns auch nicht telefonisch gemeldet. Haben Sie Ihre Wohnung nicht unten im Institut?“ „Ja. Aber ich wollte mal allein sein“, behauptete der Bursche. „Übrigens, ich heiße Valery Commard de Sully, Student aus Paris, für zwei Monate hierher versetzt.“ „A-a-aber das Institut hat Betriebsferien“, wunderte sich Prosper. „Es gibt da unten nur das Stamm-Team und die Feuerwache.“ „Es gibt auch noch mehr da unten ... „, brummte der junge Mann. In seiner Stimme klang etwas Bedrohliches. „Ich - ich bin vorhin die Turmtreppe raufgegangen, wollte mich auf der Plattform ausruhen. Es war mir aber zu heiß, und da legte ich mich ins Gehäuse. muß wohl eingepennt sein!“ Er blickte auf seine rechte Hand, in der er ein fast armlanges, pilzförmiges Gerät an einem Stiel hielt. „Komisch. Hab einen Krampf in den Fingern. Krieg sie nicht auseinander. Helft mir mal ...“ Er mühte sich, mit der linken Hand die Finger seiner Rechten von dem pilzförmigen Rand wegzubiegen. Es gelang ihm nicht. Prosper wollte ihm helfen, doch Superhirn hielt ihn zurück: „Was ist das? Was haben Sie da?“ fragte er scharf. „Etwas, das dir deine Brille schmelzen läßt, du neugieriger Vogel“, erklärte der Eindringling. „Und nun paßt gut auf: Der Zapplige da, der mit dem langen Hals ...“, er meinte Prosper, „der geht jetzt runter und packt mir was zu essen und zu trinken in 'ne Tasche. Kann auch'ne Tragetüte sein, am besten wär aber ein Rucksack! Schokolade, Brot in Scheiben, haltbare Wurst, Apfelsaft oder Limo - aber nur in verschlossenen Pappdosen, nicht in Flaschen. Muß für drei, vier Tage reichen, hab nämlich eine kleine Wanderung vor! Einen Trimm-dich-Marsch, ha, ha!“ Er hob die Hand, die den seltsamen „Pilz“ umklammert hielt: „Du da“, nun sprach er zu Superhirn, „du bleibst so lange hier. Und wenn mir dein Freund nicht das Gewünschte bringt - oder um Hilfe schreit und jemanden heranholt, verwandle ich dich in eine Rauchsäule.“ „Simsalabim!“ grinste Superhirn, aber eher verkrampft als fröhlich. „Simsalabim!“ wiederholte der Mann. „Du scheinst noch nicht aus dem Märchenalter raus zu sein! Was ich hier habe - das ist das Herzstück des Forschungsinstituts! Jawohl! Damit kann ich Maikäfer aus euch machen, wenn ihr nicht spurt!“ „Lauf, Prosper!“ befahl Superhirn. „Tu alles, was er sagt! Schließ die Tür, laß außer Tati, Micha und Gérard niemanden ein. Henri soll dir seinen Rucksack geben. Packt alles ein, was sich an Marschverpflegung eignet! Schnell!“ „Schon besser!“ brummte der unheimliche, als Prosper verschwunden war. „Ich merke, du bist doch nicht so neugierig!“ „Neugierig bin und bleibe ich!“ entgegnete Superhirn furchtlos. „Sie werden das Gewünschte kriegen, und ich werde Ihnen hier im Turm kein Bein stellen, Das verspreche ich. Aber, noch einmal: Wer sind Sie - und was haben Sie da in der Hand? Überhaupt, was soll das Ganze ...?!“ „Es soll mich reich und unabhängig machen“, sagte der Mann mit listigem Kichern. „Meinst du, ich habe Lust, zehn Jahre als. Assistent durch die Labors zu kriechen, bevor man mir eine Abteilung anvertraut? Mit diesem Biomaten steck ich alle Forschungsinstitute in die Tasche! Die da unten, der saubere Professor Kyber und sein restliches Völkchen, die sind ja jetzt schon klein mit Hut!“ Ein Blitz erhellte für den Bruchteil von Sekunden das Gehäuse. Ein mörderischer Donnerschlag folgte. Der Unheimliche murmelte den Rest seiner Mitteilung in sich hinein. Eine weitere Unterhaltung war nicht mehr möglich. Das sintflutartige Prasseln unvermittelt einsetzenden Regens erstickte jedes Geräusch. Prosper erschien bibbernd. Er mußte schreien: „Henri hat den Rucksack gepackt! Kommen Sie!“
„Gut, gut!“ lachte der Laborant. „Das Wetterchen paßt mir!“ Er hüpfte hinter den jungen die Treppe hinunter. Im Vorraum stand Henri mit dem Rucksack; er hatte sich tadellos in der Gewalt. Mit unbeweglichem Gesicht starrte er auf die Erscheinung, „Hier!“ sagte er. „Es ist alles darin, was Prosper mir nannte!“ Der Mann griff mit der linken Hand zu und hängte sich einen der Riemen über die Schulter: „Ihr verratet keinem, daß ich hier war, verstanden? Wenn mir jemand folgt, hat er seinen letzten Sturm erlebt! Und vielleicht, nein, ganz sicher, käme ich dann zu euch zurück!“ Begleitet von Blitz und Donnerschlag, verschwand der Unheimliche ein paar Schritte vor dem Turm, als hätte ihn der Regen verschluckt.
2. Ein Panikkauf findet statt - und eine Ambulanzsirene ertönt „Was war denn das für einer?“ fragte Henri, als sie die Tür hinter dem Mann geschlossen hatten. „Ein Ve-ve-verrückter ...“ stammelte Prosper. Bevor Superhirn etwas sagen konnte, bestritt Henri: „Einer mit Mattscheibe war es auf keinen Fall! Der hatte Augen wie Pistolenmündungen! Und soviel ich verstand, ist er auf der Flucht - also, dafür braucht man keinen Souffleur. Aber seine Drohungen? Und das Ding in seiner Hand: dieser - dieser technische Pilz'?!“ „Er nannte es einen Biomaten“, sagte Superhirn, sich heftig die Stirn reibend. „Hm. Er trug das Zeichen des Strahlenlabors, und ich denke, er hat im Institut was Mörderisches geklaut! Seine Drohung, er könnte Maikäfer aus uns machen, mag ein Witz sein, aber ein schlechter, ganz sicher nur ein halber Witz!“ „Wie meinst du das P“ rief Prosper. „Er kann mit dem Gerät irgendwas hochgehen lassen“, erklärte Superhirn hastig. „Ich muß sofort mit Kyber sprechen!“ Er lief in den Eßraum, zum Telefon. Die Freunde folgten ihm auf dem Fuße. „Nicht, Superhirn, nicht!“ beschwor ihn Henri. „Der Kerl könnte zurückkommen und durchdrehen, wenn er Verrat wittert! Warte noch!“ „Laß erst Tati wieder hier sein“, drängte Prosper, „und Micha und Gérard. ich habe so ein dummes Gefühl, solange sie weg sind!“ Superhirn hatte den Hörer schon in der Hand. Er tippte auf die rote Taste für die Direktverbindung zum Forschungsinstitut. Die Freunde schwiegen mit angehaltenem Atem. Aber auch Superhirn blieb eine Weile stumm. „Meldet sich niemand ...“, murmelte er dann. „Horcht!“ Prosper zuckte zusammen. „Draußen ist jemand an der Tür!“ Es war Tati. Das Mädchen kam pitschnaß, aber munter in den Vorraum gestapft. Sie setzte den Zwergpudel ab. Beide schüttelten sich, und normalerweise hätten die jungen über den Anblick gelacht. „Bin mit dem Lastwagen gekommen“, japste Tati. „Mein Rad ist schon im Schuppen. Wartet, ich zieh mir nur was anderes an. Henri, reib inzwischen den Pudel ab. Ich hab eine komische Neuigkeit!“ Es dauerte eine halbe Stunde, bevor Tati wieder unten war. Sie trug ihren blauen Trainingsanzug, und darüber einen geblümten Bademantel. „Wie sieht es denn in unseren Schränken und Schubladen aus?“ fragte sie erstaunt. „Und wo ist mein weißer Kittel? He - was macht ihr denn für Gesichter? Ist der Blitz in den Turm geschlagen? Hat's bei euch reingeregnet?“ „Na ja, wie man's nimmt!“ Henri grinste schwach. „Der Sturm ist nicht von Pappe“, seufzte Tati. „Hoffentlich wird Micha nicht weggeweht. Ach und Gérard ist ja auch noch nicht da! Also, was guckt ihr so? Habt ihr Hunger?“ „Hunger? D-d-der ist uns vergangen.“ stotterte Prosper.
Superhirn warf ihm einen Blick zu, der soviel bedeutete wie: Halte dich zurück - reg sie nicht auf Dann wandte er sich an das Mädchen: „Du hattest ein komisches Erlebnis?“ Tati lachte: „Das kann man sagen! Eine Zirkusnummer! Als ich aus dem Ballettgarten kam, sah ich mich im Kleider-Großmarkt von Brossac-Centre um. ich wollte mir ein Halstuch kaufen. Der Sturm hatte noch nicht eingesetzt. Da sah ich eine Frau, die benahm sich ganz närrisch und kriegte Ärger mit anderen Kunden. Ihr werdet nie darauf kommen, wer die Person war!“ „Madame Dingdong!” sagte Superhirn prompt. „Sie war auf ganz bestimmte Kleidungsstücke aus. Hab ich recht?“ Tati machte große Augen. „Woher weißt du das? Das hat dir schon jemand erzählt?“ „Superhirn kombiniert nur“, erklärte der Bruder. „Aber ich sehe, er trifft ins Schwarze.“ „Ja“, fuhr Tati irritiert fort. „Das Seltsame war, daß sie Angst zu haben schien, die anderen kauften ihr was vor der Nase weg. Eine Frau nahm ein Kinderkleidchen vom Haken. Sofort schrie sie: Das will ich haben, ich hatte es mir schon angesehen! Oder: Der Freizeitanzug gehört mir! Ich biete mehr!' - so, als sei sie auf einer Versteigerung. Schließlich riß sie fünfzig, sechzig Strampelhöschen von einem Tisch, warf sie auf die Erde und rief: Die nehm ich, die nehm ich alle!“ Tat! setzte sich auf die Eckbank und blickte die drei Jungen der Reihe nach an: „Ich dachte, ihr würdet euch krümmen vor Lachen! Jetzt steht ihr mit Trauermienen da und glotzt wie die Fische!“ „Du hast sicher auch nicht gelacht, da, in dem Kleiderladen von Brossac-Centre“, warf ihr Prosper vor. „Du wirst dich erschrocken haben.“ Tati nickte langsam. „Stimmt! Ehrlich gesagt, ich fand's erst hinterher komisch, und ich hoffte, wenigstens mit euch darüber lachen zu können. Es hat mich geschockt! Ich wollte Madame Dingdong ansprechen, aber sie sah mich kaum. Sie verlangte blicklos, ich solle ihr helfen, die Kindersachen in ihren Kombi zu tragen! Ich dachte, bei ihr ist 'ne Sicherung durchgebrannt“, meinte das Mädchen. „Entschuldige, Tati“, unterbrach Superhirn. „Madame Dingdong ist nicht der Typ. Ihre Panik scheint mir keine krankhafte Ursache zu haben - eher einen Zweck, den wir nicht kennen!“ „Und woraus folgerst du das?“ fragte das Mädchen. „Aus dem, was inzwischen hier noch passiert ist“, erwiderte Superhirn. Er berichtete kurz von dem unheimlichen Eindringling mit dem „Biomalen“, der den Jungen gedroht und einen Rucksack voller Marschverpflegung gefordert hatte. „Wenn total verrückte Ereignisse zu annähernd gleicher Zeit und am gleichen Ort passieren, so hängen sie gewöhnlich miteinander zusammen“, schloß er. „Erst spielt die Dingdong hier verrückt - und der Bursche liegt oben im Lampengehäuse versteckt, dann stellt Madame in Brossac einen Laden auf den Kopf - und der Kerl flüchtet mit seinem Biomaten und Henris Rucksack in den Sturm hinaus.“ „Aber wo siehst du das Bindeglied?“ rief Tati. „Im Forschungsinstitut“, sagte Superhirn. Nun schwieg auch das Mädchen. Draußen rüttelte der Sturm an den Mauern - hier drinnen saß man wie im sprichwörtlichen „Auge des Hurrikans“, wenngleich das Unwetter an dieser Küste schlicht nur als „Sommerorkan“ bezeichnet wurde. Der Pudel hatte sich irgendwo verkrochen. „A-a-aber Superhirn hat ja noch mit seinem Onkel telefoniert“, erinnerte Prosper. „Der Chef rief an und gab einige Weisungen durch!“ „Die lediglich den Sturm betrafen!“ fügte Superhirn hinzu. „Allerdings tat er das sehr ausführlich: Er riet uns, nicht auf die obere Plattform zu steigen und auch den mittleren Rundgang zu meiden. Wir sollten nicht einmal vor die Tür treten! Wörtlich sagte er: ,Macht alles dicht! Verriegelt die Fenster!' Und für den Fall, daß Tati, Micha und Gérard trotz des Unwetters heimkämen, hätten wir dafür zu sorgen, daß sie den Turm nicht mehr verließen!“
„Das kriegt jetzt alles einen anderen Klang“, meinte Henri. „Professor Kyber hat bestimmt gewußt. Hier ist noch etwas anderes im Spiel!“ „Als ob der Sturm nicht reichte!“ seufzte Tati. „Von der Kapelle Saint Cirq ist das Holzdach runtergeweht. Es flog wie ein riesiger Spitzhut in den Teich. Wenn mich der Lastwagen nicht hergefahren hätte, stünde ich noch in einem großen Torbogen in Brossac. Aber wir müssen etwas tun! Wir wissen ja nicht, wo Micha steckt, Gérard fehlt auch noch!“ „Beide haben Busse benutzt“, beschwichtigte Henri. „Micha den nach Ronce, und Gérard fuhr mit der Brossacer Fußballmannschaft. Keiner von ihnen ist allein, auch Micha nicht, er gehört dem Surfclub in Ronce an.“ Superhirn versuchte erneut, telefonische Verbindung mit dem Forschungsinstitut aufzunehmen. „Die Leitung ist nicht gestört, sondern belegt“, sagte er. „Vorhin ertönte dauernd das Rufzeichen, als sei die Chef-Zentrale ausgestorben!“ Als er das entsetzte Krächzen Prospers hinter sich hörte, verbesserte er sich: „Ich meine, es war niemand da!“ „Na, wenigstens funktioniert der Apparat“, sagte Henri erleichtert. „Prosper, steh nicht so belämmert herum! Ein guter Koch mischt sogar noch in der Hölle mit. Brate die Fischlendchen und mach die Trüffelsoße warm. Schätze, sie hat lange genug gezogen.“ „Und ich bereite Tee!“ erklärte Tati energisch. „Henri hat recht, es ist sinnlos, ängstlich vor sich hin zu bibbern. Los, Kinder, deckt den Tisch!“ plötzlich ging das Licht aus. „Au-au-auch das noch ...!“ hörte man Prosper schimpfen. „Und der Herd hat jetzt keinen Strom mehr!“ Henri hielt sich das Leuchtzifferblatt seiner Uhr vor die Nase: „Junge, Junge! Erst 20 Uhr Sommerzeit - und alles stockdunkel. Wo sind die Kerzen?“ Während die vier im Eßraum und in der angebauten Küche herumtappten und mehrmals über den winselnden Pudel stolperten, läutete das Wandtelefon. Superhirn knallte mit dem Kopf gegen die Nischenkante, als er nach dem Hörer griff. „Gästehaus Institut Brossac - Cap Felmy?“ meldete er sich benommen. Am anderen Ende war Micha. „Hab versucht, euch anzurufen“, quietschte die Stimme des jüngsten der Gruppe in Superhirns Ohr. „Es war immer besetzt!“ „Nur dreimal, zuletzt nur zwei Minuten“, erwiderte Superhirn. „Wo bist du?“ „Bei Madame Dingdong!“ rief Micha. „Der Bus hatte ja in Brossac-Centre Endstation, da ging ich in ein Café. Als ich euch nicht erreichen konnte, versuchte ich's bei Madame Dingdong zu Hause. Sie holte mich mit ihrem Kombiwagen - und nun bin ich hier. Ich werde hier übernachten.“ „Du bist bei Madame Dingdong ...?“ wiederholte Superhirn. „Dingdong?“ schrie Prosper aus dem Dunkel. Etwas Metallisches, wahrscheinlich ein Topfdeckel, schepperte zu Boden. Loulou bellte wie verrückt. „Er soll nicht bei der Dingdong bleiben!“ zischte Henri neben Superhirn. „Die hatte was Wahnsinniges im Blick!“ „Himmel, nein!“ japste Tati, „Moment“, sagte Superhirn. Er zwang sich zur Ruhe. „Hör mal, Micha. Ist Madame Dingdong äh - bei guter Laune? Ich meine, macht sie der Sturm nervös? Wie benimmt sie sich denn so...?“ „Wie soll sie sich benehmen?“ kam Michas verwunderte Rückfrage. „Der Sturm macht ihr überhaupt nichts. Im Gegenteil! Sie arbeitet wie besessen!“ „Sie arbeitet?“ flüsterte Henri, Kopf an Kopf mit Superhirn am Telefonhörer. „Und wie besessen? Frag mal, woran sie arbeitet!“ „An Kinderkleidern!“ war die prompte Antwort. „Sie hat einen Großauftrag von einem Institut...“ „Institut?“ rief Superhirn. Beinahe verlor er die Beherrschung. Doch schon tönte Michas Stimme verwundert und erklärend zugleich: „Wieso denn nicht? Ein Kinderheim - mit Größeren, die immer kleiner werden.
„Waaas werden die?“ „Na, es sind eben größere und kleinere Kinder!“ erwiderte Micha ungeduldig. „Wie die Orgelpfeifen. Was ist dabei? Es sind wohl auch 'n paar Babys darunter! Jedenfalls arbeitet Madame Dingdong mit ihrem Mann an zwei Nähmaschinen - und ich darf helfen. ich schneide Hosen kürzer, Ärmel - ach ja, und ich sortiere Schuhchen!“ „Schuhchen?“ betonte Superhirn, als habe er nicht recht gehört. „Das macht Spaß!“ versicherte Micha. „Mal was anderes! Und ich darf so viel Kompott und Kuchen essen, wie ich will! Wirklich - ich bin prima versorgt! Morgen bringt mich Madame wieder zu euch!“ „Grüße sie schön, hörst du?“ sagte Superhirn eindringlich. „Und wenn du was Tolles beobachtest - paß genau auf: Wenn dir irgendwas unheimlich vorkommt, dann laß dir nichts anmerken! Wiederhole jetzt nichts und, frag auch nicht weiter: Sobald du merkst, da dreht einer durch, dann mach dich davon!“ „Hier dreht keiner durch!“ antwortete Micha, die Mahnung mißachtend, nichts zu wiederholen. „Ich fühle mich pudelwohl!“ „Zwecklos“, sagte Superhirn, als er den Hörer eingehängt hatte. „Die beiden Dingdongs spinnen: Sie schnipseln da wie die Blöden Kinderkleider zurecht, gleich an zwei Nähmaschinen - und Micha sortiert Kinderschuhe und fühlt sich pudelwohl.“ „Unser Pudel fühlt sich nicht so wohl.“ bemerkte Tati mit Galgenhumor. „Ich ha-ha-habe meine Taschenlampe gefunden.“, ließ sich Prosper vernehmen. „Seid mal still!“ rief Henri. „Hört ihr nichts? Da draußen quäkt eine Sirene, ein AmbulanzSignal!“ Er spähte durch eins der kleinen, tiefgemauerten Gitterfenster: „Vor dem Turm steht ein Auto mit Drehlicht. ich sehe zwei Schatten. Zwei Gestalten! Sie wollen in unseren Turm!“ Superhirn tastete wie ein Wilder die Wand neben dem Telefonkasten ab: „Gott sei Dank“, murmelte er, „ich hab den Stabscheinwerfer!“ Er schaltete ihn ein. Sofort durchschnitt ein scharfer, breiter Lichtkegel den Raum. Gefolgt von Loulou, der sich wie rasend gebärdete, eilten die vier jugendlichen in den Vorraum. Ehe sie den schweren Riegel zurückschoben, brüllte Henri: „Wer ist da?“ „Der Chef!“ antwortete eine bekannte Männerstimme. „Professor Kyber! Superhirns Onkel! Macht rasch auf, es ist wichtig. Lebenswichtig...!“ 3. Der Chef schrumpft - und eine Todesuhr läuft Der Leiter des Instituts stürmte mit seinem Begleiter herein. Professor Victor Kyber war eher zierlich und nicht besonders groß. Stets gab er sich freundlich und zurückhaltend, doch man sagte von ihm, er sei unerschütterlich wie ein Fels. „Alles in Ordnung?“ fragte er, in Superhirns Handscheinwerfer blinzelnd. Er wies auf seinen Begleiter: „Der Kantinenchef, Monsieur Roller!“ War es schon seltsam, daß Kyber bei diesem Sturm einen Besuch im Gästequartier machte, so verblüffte die Anwesenheit des Kantinenwirts erst recht. „Was will der denn?“ flüsterte Tati Prosper zu. „Ich wünschte, Onkel Victor, du hättest einen Elektriker mit“, sagte Superhirn. „Wir feiern hier so 'ne Art ,italienische Nacht'!“ Sie traten in den von drei Kerzen notdürftig erhellten Eßraum. „Stromausfall herrscht in ganz Brossac“, erwiderte Kyber, dem von der vielgerühmten Unerschütterlichkeit nicht viel anzumerken war. Er trug kein Wetter zeug und keinen Schutzhelm, sondern einen Laborkittel. Der Kantinenwirt hatte sogar seine Küchen schürze um! Beide Männer waren durchnäßt, ihre Haare trieften vom Regen. „Bei uns läuft nur ein Aggregat in den medizinischtechnischen Labors“, fuhr der Professor fort. Dringlich wiederholte er: „Bei euch alles in Ordnung? Seid ihr jetzt vollzählig?“
„Gérard hat sich noch nicht gemeldet“, antwortete Henri. „Und Micha übernachtet bei Madame Dingdong.“ Kyber wandte sich auf der Stelle um und starrte zu Henri, dessen Schatten im Kerzenschein schwankte: „Bei der Putzfrau? In ihrem Haus ...?“ „Er ist dort untergekrochen“, sagte Tati. „ich versuchte dich anzurufen, Onkel Victor“, meldete sich Superhirn. „Einmal hat sich niemand gemeldet, und später war dauernd besetzt.“ In diesem Moment ging die Deckenbeleuchtung im Eßraum wieder an. Tati und die jungen erschraken über das verstörte Gesicht des Professors. Auch der Kantinenwirt sah aus, als sei ihm des Teufels Großmutter samt Kusine über den Weg gelaufen. Ja - äh, das Telefon murmelte Kyber. „Wir sind zur Zeit unterbelegt, die meisten Mitarbeiter haben ja Betriebsferien. Nur die Versuche in der biomatischen Abteilung gehen weiter.“ „Aha ...!“ entfuhr es Superhirn. „Aha, aha?“ rief der Professor ungehalten. „Was weißt du von Biomatik? Mit unserer biomatischen Apparatur bekämpfen wir Wachstumsschäden! Wir regulieren bereits erfolgreich bei Tieren und Zwergwuchs!“ „Zwergwuchs ... ?“ wiederholte Tati. „Rafft Madame Dingdong deshalb Mini-Kleidung, wo sie sie nur kriegen kann? Aus jedem größeren Stück macht sie ein Zwergengewand! Aber nicht für Tiere ...!“ Kyber biß sich auf die Lippen. Über die Schulter blickte er zu dem belämmert dreinschauenden Kantinenwirt auf. Der zuckte nur die Achseln. Beschwörend bat Superhirn: „Onkel Victor! Tati hat recht, es gibt bei euch ein Problem! Wär es nicht besser, offen zu sein?“ „Nun ja ...“, der Professor suchte nach Worten: „Wir haben einen Schaden am Filter des Biomaten. Das Ding im Trakt C versagte heute früh bei Dienstbeginn. Dazu kam, daß das Überwachungspult im Vorraum verschaltet war und keinen Alarm auslöste. Im Augenblick der Inbetriebnahme trafen explosionsartige, jedoch lautlose Biowellenstürze das Arbeitsteam: Sieben Mitarbeiter, drei Frauen und vier Männer, waren die ersten Opfer. Ihre Körpergröße verringerte sich sprunghaft. Das heißt, sie schrumpften ...“ „Sch-sch-schrumpften ...?“ wiederholte Prosper ungläubig. Kyber hob abwehrend die Hände: „Ich sagte es ja, ich sagte es ja! Frau Professor Rahn, eine stattliche Person von ein Meter achtzig, war plötzlich nur noch 98 Zentimeter groß!“ „98 Zentimeter ...“, hauchte Tati. Sie streckte den Arm mit der flachen Hand aus, als versuchte sie, das nachzumessen. „Das Ganze geschah im Isoliertrakt“, fuhr Kyber fort. „Ich war zur Zeit der Katastrophe im Chefgebäude, und in der Panik hat man mich zu spät alarmiert. Statt dessen rief man die Gerätetechniker sowie zwei Ärztinnen und einen Arzt, die den Betriebsurlaub in ihren Bungalows verbringen wollten. Als diese Leute - zusätzlich sechs Personen - um die Opfer und die Apparatur bemüht waren, erfolgte die zweite Explosion. Ergebnis: Die Zahl der Betroffenen erhöhte sich auf dreizehn, fünf Frauen und acht Männer. Danach maß die nunmehr größte Person einen Meter fünfzig!“ „Es kam aber noch schlimmer?!“ argwöhnte Henri. Kyber nickte abwesend. „Ich wurde telefonisch verständigt, befahl die Stillegung des Biomaten und die Überführung der Opfer ins hauseigene Lazarett. Im unterirdischen Kraftwerk ließ ich den Erzeugungsrotor der Biowellen abschalten, dort aber hatte die Explosion zu einem Rückstau und Rücklauf der Wellen geführt. Der Ingenieur und seine zwei Assistenten waren bereits so klein, daß sie nur mit Mühe an die Kontakte herankamen.“ „D-d-das wären dann 16 M-M-Mini-Menschen!“ stammelte Prosper. „Wenn man die Betroffenen der Werkschutz-Reserve und der Feuerwache hinzurechnet, sind es sogar 22“, erklärte Professor Kyber. „Aber ihr hier im Turm braucht keine Angst zu haben. Diese Art von Schwund, von körperlicher Gesamt-Atrophie, ist an sich reparabel; sie ist auch
nicht ansteckend. Die Biomaten-Katastrophe war ein Verpuffungsvorgang, der sich mit einem heftigen, aber überaus kurzen Windstoß vergleichen läßt. Etwas wie Radioaktivität liegt also nicht vor.“ „Danke schön!“ rief Tati. „Aber wen tröstet das? Etwa Ihre 22 Zwerge? Wer oder was bringt die denn nun auf Normalmaß zurück? Sie sagten kein Wort davon, daß das bereits geschehen wäre! Ich stelle es mir grausig vor, in meinen Sachen zu schrumpfen und zu schrumpfen - und die Kleidung schrumpft nicht mit! Ein Wunder, daß die Leute nicht erstickt sind!“ „Seit fast zwölf Stunden bin ich bemüht“, sagte Kyber, „das Technische und das menschliche unter Kontrolle zu bringen und unter Kontrolle zu halten. Daß ausgerechnet eine unserer Ärztinnen die liebe Madame Dydon anruft und in ihrer Panik um Mini-Kleidung bittet, tritt den Fall nur unnötig breit!“ „Unnötig?“ betonte Superhirn. „Onkel Victor! Du tust, als hätte es hier einen Wasserrohrbruch gegeben, weiter nichts! Aber ich sage dir auf den Kopf zu: Dein Biomat war nicht nur zufällig schadhaft! Du verschweigst uns die Hauptsache ...“ „Was verschweige ich?“ rief Professor Kyber aufhorchend. „Seit elf Uhr ist die Kripo im Hause. Kommissar Vinloh aus Brossac mit zwei Assistenten und sechs Polizisten. Anfahrt und Untersuchung fanden unter strenger Geheimhaltung statt. ich kann mich rühmen, die Sache lokalisiert zu haben!“ „Onkel Victor“, sagte Superhirn unbeirrt. „Du verschweigst uns doch etwas! Du glaubst, du kannst eine mörderische Panne verharmlosen, weil du eine Rettung siehst - oder zu sehen glaubst!“ „ja, selbstverständlich!“ rief Kyber. „Der defekte Filter braucht nur repariert zu werden. Sofort funktioniert der Umwandler wieder, und alle Betroffenen erhalten ihre Normalgröße zurück!“ „Es sei denn“, meldete sich Prosper, „Sie hä-hä-hätten den Filter! Dazu fangen Sie aber erst einmal den D-d-dieb ...!“ Dieb. - . Das Wort hing lange im Raum. „Gott steh uns bei“, murmelte der Kantinenwirt. Kybers Stimme klang heiser: „Was wißt ihr von einem Dieb ...? Wer hat euch gesagt, daß der Filter gestohlen wurde ... ?“ „Der Täter selbst“, sagte Superhirn. „Er war hier. Er hatte sich oben im Lampengehäuse versteckt. In einem unbewachten Moment muß er die Treppe raufgesaust sein. Und er hielt den suppentellergroßen Apparat am Stiel in der Hand: Das Ding sah aus wie ein künstlicher Pilz.“ „Und? Und? Und?“ drängte Kyber. „Er verlangte Fluchtproviant“, gab Prosper Auskunft. „Henri holte seinen Rucksack und packte Essen und Trinktüten für vier Tage ein, denn er drohte, uns zu Maikäfern zu machen.“ „Stimmt!“ nickte Superhirn. „Aber sofort, nachdem er in den Sturm hinausgelaufen war, versuchte ich dich zu erreichen.“ Kyber legte die Hände auf den Rücken und ging in kurzen Schritten heftig auf und ab. Es war, als hätte er das letzte nur halb begriffen, denn er murmelte: „Unmöglich, unmöglich ...“ Der Kantinenwirt folgte ihm offenen Mundes mit den Blicken. „Warum sind Sie denn eigentlich hier?“ fragte Tati. „Hat Monsieur Kyber keinen Assistenten mehr?“ „Ich bin der einzige, der nicht geschrumpft - äh, der nicht kleiner geworden ist“, antwortete der Mann fast treuherzig. Professor Kyber blieb stehen und starrte ins Leere: „Der Dieb kann das Gebäude nicht verlassen haben.“ Doch gleich schränkte er ein: „Wenigstens nicht den umzäunten Teil des Institutsgeländes! Er hat sich mit dem Filter in einem der 17 Trakte versteckt. Das wissen wir, und wir werden ihn finden!“ „Leider sind die Suchhunde auch geschrumpft“, verriet der Kantinenwirt. „Vier der unseren und drei Hunde von der Kripo.“
Als hätte er den Einwurf nicht gehört, fuhr Kyber fort: „Wir wissen mit absoluter Sicherheit, daß der Dieb sich unten im Institut verbirgt. Dort sitzt er in der Falle. macht euch also keine weiteren Gedanken! ich bin hier“ um euch noch einmal zu bitten, unbedingt im Turm zu bleiben. Und, natürlich, um euch zu beruhigen!“ „Aber wir können dich nicht beruhigen!“ rief Superhirn. „Der Dieb war hier, und er hatte den Filter! Es war ein Laborant aus dem Medizinlabor! Ich habe mir seinen Namen gemerkt, gerade weil der weder kurz noch alltäglich ist: Der Bursche nannte sich Valery Commard de Sully!“ Kyber schien aus einem Wachtraum in die Wirklichkeit zurückzukehren. „Das ist er! Der Sohn unseres Forschungsministers! Aber wie konnte er unbemerkt den Bannkreis verlassen? Wir haben ein Gerät, daß uns die Entfernung des entwendeten Filters in Metern verrät! In Metern! Demnach hockt der Täter mit dem Ding allenfalls in der Unterkellerung! In der Unterkellerung des Medizintrakts!“ Der Professor eilte zur Treppe. Auf dem Fuße folgte ihm der Kantinenmann. Sie wollten zum Lampengehäuse empor. Doch Kyber überlegte es sich anders, drehte auf den Stufen um und prallte gegen seinen Begleiter. Beide kamen in den Eßraum zurück. „Es mag sein, daß dieser verrückte Commard de Sully die Anzeigeskala zerstört hat“, sagte der Professor. Er wandte sich beschwörend an Superhirn: „Was wollte er? Was gab er vor zu wollen ...?“ „Mindestens - die Welt aus den Angeln zu heben!“ Superhirn grinste schwach. „Dabei schwenkte er den Pilz, um dessen Stiel sich seine Hand krallte!“ „Krallte!“ wiederholte Kyber. Er triumphierte: „Der Filter allein nutzt ihm nichts. Damit kann er nichts, rein gar nichts anfangen! Einbildung eines Idioten! Das ist, als hätte er den Trichter einer Wasserbrause in der Hand - aber was täte er damit in der Wüste? Er könnte versuchen, uns zu erpressen, doch das wäre schon alles ... !“ „Alles?“ bezweifelte Superhirn. „Soweit ich das begriffen habe, braucht ihr den Filter gleichzeitig als Wandler! Um die Schrumpfgestalten wieder zu normalisieren!“ „Dafür genügt ein Ersatzfilter“, entgegnete Kyber. Er ging zum Telefon und wählte auf der Institutsschaltung das medizinische Labor an. „Wer?“ rief er in den Apparat. Superhirn biß sich auf die Lippen. Der Onkel war nervös! Er wurde immer nervöser. „Kommissar Vinloh?“ schrie er. „Waaas? Sie schrumpfen auch ... ? Wie kommt das? - Wie? Hatte ich nicht verboten, den Biomaten vor meiner Rückkehr wieder in Betrieb zu nehmen? Was heißt, Sie dachten? Sie dachten, die Reparatur sei gelungen?“ Professor Kyber legte die Hand auf die Sprechmuschel und stierte im Kreis umher: „Vinloh ist durchgedreht! Da die Techniker wegen ihrer verringerten Größe Schwierigkeiten hatten, griff er selber zu. Nun schrumpft er auch. Und jetzt -jetzt ist auch noch der Ersatzfilter geplatzt!“ Wortlos hängte er den Hörer an den Wandkasten. ]Dann griff er sich an die Stirn: „Soweit die Forscher noch zu rechnen in der Lage sind, ergibt sich folgendes: Die Betroffenen, ob von Natur aus größer oder kleiner, gerieten in unterschiedliche Mengen der Minuswellen. Das heißt, sie schrumpften sozusagen ,wahllos'! Ist das klar?“ „Klar!“ murmelten die jugendlichen. Der Kantinenwirt nickte schwerfällig, doch er schien nichts zu begreifen. „Dabei gibt es Schrumpfungs-Verzögerungen und Schrumpfungs-Nachschübe. Frau Professor Rahn ist am schlimmsten betroffen. Seit Beginn des Gewitters mehren sich minimale, schleichende' Nachschübe. „ „Wie soll man das verstehen?“ fragte Henri. „Sie war nach dem ersten Schlag 87 Zentimeter groß, danach schrumpfte sie pro Stunde jeweils um einige Millimeter. Wenn das so weitergeht...“ „Ist sie weg!“ erkannte Prosper. „Ja“, gab Kyber zu. „Aber abgesehen von der Frist für Frau Rahn: der Filter selbst ist an eine Zeitspanne gebunden. Nach meinen Berechnungen verliert er seine Wirkung ...“, er sah auf die Armbanduhr, „... morgen abend, 20 Uhr.“
„Das heißt, es bleiben knapp 24 Stunden, den Dieb mit dem Gerät zu schnappen!“ sagte Superhirn. Professor Kyber nickte. Monsieur Roller, der Kantinenwirt, starrte ausdruckslos vor sich hin. „Ja - na und ... ?“ fragte Tati gedehnt. „Und was geschieht nun weiter ... ?“ „S-s-sucht denn die P-p-polizei nicht nach dem Kerl?“ wollte Prosper wissen. „Selbstverständlich, selbstverständlich Kyber drehte sich hilflos im Kreis. „Die Fahndung ist längst eingeleitet, allerdings nur nach einem Saboteur, einem Metall- und Juwelendieb. Es darf ja um Himmels willen niemand wissen, was hier vorgeht!“ „Juwelen ...? Metall ...?“ rief Henri, „Der Filter besteht aus einer Mischung von Edelmetallen, Kristallen und Bio-Elementen“, versetzte Kyber. „Ich sagte ja, das Ding selber ist völlig harmlos, völlig!“ „Nur daß er für einige wichtiger ist als alles in der Welt!“ murmelte Superhirn. „Ja! Ein Königreich für ein Pferd!“ ließ sich Tati hören. „Und w-w-wie können wir helfen?“ fragte Prosper. „Indem ihr euch still verhaltet“, antwortete Kyber nach kurzem Zögern. „Der Dieb wird nicht zurückkommen. Wenn er Verpflegung forderte, wollte, er fliehen. Und damit hat er sich die Falle selber gestellt!“ Ehe ihn jemand fragen konnte, wie er das meine, gab der Professor dem Kantinenwirt einen Wink und schritt auf den Vorraum zu. „Halt!“ rief Superhirn. „Onkel Victor! Du hast deinen Schuh verloren!“ Kyber drehte sich um. „Danke.“ Er steckte den Fuß hastig in den Schuh wie in einen Pantoffel. und dann sah man, wie er sich auf der Stelle drehte - doch der Schuh drehte sich nicht mit! „Was ist denn ...“ Plötzlich standen beide Schuhe neben ihm, er blickte auf seine Füße, aber die schienen aus den Strümpfen gerutscht zu sein, ihre Spitzen schlängelten sich auf dem Boden. „Hilfe!“ brüllte der Kantinenwirt. An ihm selber war nichts Ungewöhnliches zu bemerken, doch das Wahrgenommene erschreckte ihn. Winzige Finger hingen auf einmal aus Kybers Ärmeln, und auch diese zogen sich wie empfindliche Fühler in die Stoffröhren zurück. „Der Ko-ko-kopf ... !“stammelte Prosper. Kybers Gesicht verengte sich. Der Hals verschwand mehr und mehr im Kragen, der Schädel „tauchte“ schließlich in den Kittel ein - er war nur noch so groß wie eine Kokosnuß. „Er - schrumpft!“ hauchte Tati. „Zieht ihm den Kittel aus!“ schrie Henri, als er sah, wie Professor Kyber in seiner Kleidung verschwand. „Eine Schere! Wo ist eine Schere ...?“ Der Kantinenwirt, dessen Gestalt unverändert groß und breit geblieben war, zerrte an dem Stoffbündel herum. Nur ein Zappeln und Flattern verriet darin das Vorhandensein eines Menschen. Der Kittel flog auf den Fußboden. Mittlerweile ragte aber auch schon der Kopf des Professors nicht mehr aus dem Anzugskragen. Die Hände schienen sich verflüchtigt zu haben, und was sich in der Kleidung bewegte, schien aus Geflügelteilen zu bestehen. Das Unheimlichste aber war die Stimme. Professor Kyber quäkte wie ein Kind, das ein böser Bursche an den Haaren zog. Superhirn rannte in den Vorraum. Dort, auf einer Wandplatte, lag die Heckenschere, die Madame Dydon zur Pflege des Turmgartens benutzte. Der Kantinenwirt hatte Kyber auf den Eßtisch gelegt. Superhirn reichte ihm die Schere, und nun stutzte Herr Roller - in den Knien zitternd, aber mit sicherer Hand - an der Kleidung des schrumpfenden Professors herum. Zum Vorschein kam ein Wesen, das die Größe eines fünfjährigen Jungen hatte, aber nicht dessen Proportion. Kyber wirkte jetzt wie eine dünngliedrige Puppe, die einen Erwachsenen darstellen soll. Seine Stimme klang hoch. Doch was er mitzuteilen hatte, ließ auf sein unvermindertes Denkvermögen schließen:
„Eine Nachwirkung ...!“ fistelte er. „ich - ich habe einen Minuswellen-Schub abgekriegt, ohne es zu merken! Monsieur Roller! Fahren Sie mich schnell ins Institut. Wenn wir alle so winzig werden, kommen wir an die Apparate nicht mehr heran, nicht ans Telefon, an keinen Schalter...“ Der Kantinenwirt hob das verkleinerte Lebewesen in den zerschnittenen Kleidern mit seinen mächtigen Armen hoch. „Superhirn!“ quietschte Kyber. „Melde dich bei uns! Ich fürchte, bald wird keiner von uns mehr ins Freie gehen können! Jeder Grashalm wäre ein Hindernis! Jeder Raubvogel, jeder Hund, jede Katze würde uns fressen! Du mußt den Dieb des Filters finden - unsere einzige Rettung ...“ „Tragen Sie ihn ins Auto!“ drängte Tati den Kantinenwirt. „Fahren Sie ihn so schnell wie möglich hinunter.“ Mit dem Schrumpfmännchen auf den Armen rannte der verstörte Kantinenwirt in die stürmische Nacht hinaus. Die drei Jungen und das Mädchen blieben mit dem winselnden Pudel im Turm zurück. „W-w-was soll das heißen, sie können bald nicht mehr ins Freie - die Raubvögel, die Hunde und die Katzen würden sie fressen?“ ächzte Prosper. Er tastete nach einem Hocker. „Mein Onkel meint, wenn der Schrumpfprozeß bei einigen so weitergeht“, erklärte Superhirn, „Oder falls neue Nachschübe eintreten. Stell dir doch nur so ein paar Mim-Männchen im Freien vor! jeder Windstoß könnte sie davonblasen, jede Blume stellte eine Palme dar, jeder Bach den Mississippi, jede Pfütze einen See! Allein eine Mücke oder eine Biene würde so winzige Schrümpflinge schließlich wie ein Jagdflugzeug vernichten!“ „Nicht gleich das Schlimmste ausmalen“, mahnte Henri. „Kyber hat die Gefahr ja erkannt.“ „Stimmt“, überlegte Superhirn fieberhaft. „Er hat alles erkannt und uns sehr viel verraten. Aber etwas, und zwar etwas Ausschlaggebendes behielt er für sich ...“ „Wie denn das - wo wir ihm doch helfen sollen?“ zweifelte Tati. Ihre Augen funkelten vor Empörung. „Das wär allerdings ein tolles Stück! Superhirn, bist du sicher? Wenn ja, dann hauen wir sofort hier ab! Garantiert! Und wenn es draußen noch so sehr stürmt!“ Wuff, machte der Pudel alarmiert, waff, wuff, waffwaff! Prosper quetschte seine Nase an ein Vorderfenster, schirmte die Augen mit den Handflächen ab und spähte durch Glas und Gitterwerk. „D-d-da steht doch schon wieder so 'ne Schrumpftype!“ meldete er. „Man sieht den Schatten, wenn's b-b-blitzt!“ „Hat er diesen - diesen Pilz in der Hand?“ forschte Tati. Zur Verblüffung der anderen lautete Prospers Antwort: „Ja ...!“ Er wich vom Fenster zurück und fügte mit bebender Stimme hinzu: „I-i-ich glaube, sogar zwei Pilze. Jedenfalls hält er die Arme so komisch von sich ab!“ „Moment, Moment“, beschwichtigte Superhirn. „mein Onkel hat nichts davon erwähnt, daß der Dieb auch eine Minuswellen-Dusche abgekriegt hat. Und weshalb, bitte, sollte er ein Gerät mühsam geklaut haben, um dann mit zwei Geräten wieder aufzukreuzen...?“ Loulou heulte schaurig im Vorraum. jemand bummerte von außen gegen die Eingangstür. „Da hängt die Eisenstange zum Öffnen der Kellerklappe“, wisperte Henri. „ich halte sie zum Schlag erhoben, während ihr die Tür öffnet!“ Doch während sie sich bereit machten, eine Art Gespenst zu empfangen, drang schon eine wohlbekannte Jungenstimme an ihre Ohren. „Heut scheint jeder Fußball viereckig zu sein! Matsch mit Soße! Klappt denn überhaupt nichts mehr?“ Es war Gérard, der stämmige Freund, der in der Brossacer Mannschaft auf der Insel Oleron hatte spielen sollen. Triefend vor Nässe stand er - zum Glück in seiner vollen Größe - mit einem Fahrrad vor den Stufen: „Hab ich mir geborgt. Der Bus ging nur bis Brossac-Centre, und ich fand weit und breit kein Auto, das mich hätte mitnehmen können, nicht mal 'ne Taxe!“
„Schnell, rein mit dir!“ rief Henri. Er hängte die Eisenstange wieder an den Haken, zerrte das Rad in den Vorraum und lotste den Freund an den anderen vorbei gleich in dessen Quartier. Freudig winselnd hopste Loulou mit. „Ich informiere Gérard, während er sich umzieht!“ sagte Henri. Superhirn beugte sich über den Tisch und kritzelte Notizen. Tati übte ein paar Tanzfiguren. Prosper hockte auf dem Boden und schwenkte einen seiner beiden Sportschuhe. Superhirn blickte auf. „Was macht ihr denn da?“ *Ich prüfe meine Kondition!“ erwiderte Tati. „Aha!“ Superhirn begriff. „Keine Sorge, du bist noch nicht kleiner geworden! Deine Tanzbeine sind noch keine Wurzelknollen.“ „A-a-aber mein linker Schuh ist plötzlich zu groß!“ behauptete Prosper. „Der Schaden beginnt im Kopf!“ Superhirn grinste zweideutig. „Und wenn einer sich in einen Esel verwandelt, werden die Ohren größer.“ Doch ehe Prosper beleidigt reagieren konnte, stürmten Henri und Gérard herein. „Ich hab Gérard alles erzählt, und er glaubt, daß er was gesehen hat!“ rief Henri. Der stämmige junge frottierte sich den nassen Kopf. „Also“, begann er, „was das Fußballspielen auf Oleron betrifft ...“ „... so wollen wir davon nichts hören!“ unterbrach Tati heftig. „Wir sitzen auf einem glühenden Rost. jede Minute, jede Sekunde ist wichtig. Dein dämliches Fußballspiel ...“ „... hat gar nicht stattgefunden!“ brummte Gérard. „Erst gab's 'ne ganze Latte Ärger - und dann kam der Sturm. Mit dem Bus fuhren wir dann endlich über die lange Brücke aufs Festland zurück. Und ich sagte schon, ich borgte mir ein Rad, weil ich um jeden Preis herkommen wollte, statt bei den wütenden Kumpels zu übernachten. Und wenn die Welt untergeht, die käuen nur immer ihren Mannschaftskrach wieder!“ „Deine Kommentare kannst du später abgeben. Du bist also mit dem Rad von Brossac-Centre hierhergestrampelt und willst etwas bemerkt haben!“ erinnerte Superhirn. „Genau“, sagte Gérard. „Ich fuhr absichtlich nicht über die Autostraße, weil ich da glatt weggeweht wäre. Ich nahm den Waldpfad und hielt mich im Schutz des Bahndamms!“ „Des Bahndamms?“ fragte Tati. „Na, wo die alte Austernbahn fuhr. Der Pfad geht durch 'ne schmale Unterführung, aber schon vorher hörte ich einen Ton, der nicht vom Sturm herrührte. Auf der anderen Seite des Dammes hielt ich an und sah zurück. Am Himmel flimmerte es dauernd, ich glaube, das war Wetterleuchten. immer, wenn es ein wenig hell wurde, sah ich einen Schatten auf dem Gleis, einen Mann. Er hockte da, als hätte er sich was gebrochen.“ „W-w-wenn du deine Nase nicht immer auf dem Fußballrasen hättest...“, tadelte Prosper, „...müßtest du W-w-wetterleuchten eigentlich kennen!“ „So!“ erwiderte Gérard knapp. „Und kennst du einen Blitz, der wie ein Pilz aussieht?“ Die Zuhörer schwiegen. Schließlich sagte Tati: „Ein Mann auf dem Bahndamm - und ein Blitz wie ein Pilz! Gérard ist dem Filterdieb begegnet! Was liegt näher, als daß der Blitz die Schiene entlanggesaust ist und das Gerät erwischt hat! Vielleicht ist der Kerl auch gestreift worden und kann sich nicht mehr rühren!“ „Wir müssen die P-p-polizei hinschicken!“ rief Prosper. Gerard murrte: „Was sollen wir nun eigentlich? Ich hab das nicht begriffen: Im Turm bleiben oder auf eigene Faust handeln?!“ Superhirn entwirrte das Durcheinander. „Mein Onkel wollte uns anfangs hier in Sicherheit wissen. Zuletzt aber flehte er. Superhirn, du mußt den Dieb finden!` Er rief, das sei die einzige Rettung!“ „Ja, ja, ja!“ bestätigte Tati ungeduldig. „Aber er war verzweifelt und nicht mehr Herr seiner Sinne! Und Superhirn meinte, er hätte uns noch immer nicht alles gesagt. Das macht mich
mißtrauisch! ich habe keine Lust, in so ein Minuswellen-Bündel zu geraten und als MiniPüppchen in Pfützen rumzuschwimmen.“ „I-i-ich auch nicht!“ brabbelte Prosper. „Das verlangt ja auch keiner“, sagte Henri. „Soweit ich den Fall übersehe, sind nur die betroffen, die im Trakt der medizinischen Geräte und im darunter gelegenen Kraftwerk rumgelaufen sind. Und das waren natürlich die Beschäftigten, dann die Helfer - und schließlich die Polizeifahnder samt ihren Suchhunden!“ Superhirn nickte. „Die Minuswellen verkleinern lebende Objekte, und diese reagieren individuell, teils galoppierend, teils streng zeitgebunden-systematisch. Sie sind aber so wenig ansteckend wie Sonnenbrand und Sommersprossen.“ „Genau“, meinte Henri. „So versteh ich das auch. Los, Kinder! Ziehen wir uns Wetterzeug an und radeln wir runter zum Institut. Wir müssen wissen, was der Kripo-Kommissar da macht!“ 4. Noch 23 Sunden - oder ein Kommissar in Seidenfolie Eine Viertelstunde später strampelten die Gefährten im Schutz der Umfassungsmauer auf die Institutseinfahrt zu. Nachtschwarze, dichte Wolken bedeckten den Himmel, doch das Gewitter war abgezogen, und der Regen hatte nachgelassen. Mit flatternden Ohren, die Pfützen umspringend, hopste Loulou den Radlern hinterher. Lampen an Peitschenmasten bestrahlten durch wässrigen Dunst die weißroten Schranken, Das gläserne Pförtnerhaus schimmerte grünlich wie ein Aquarium. „Vor dem Tor steht ein Polizeiauto.“ erkannte Prosper. Doch schon trat ihnen ein Schatten in den Weg. Kurz blitzte die Signalkelle auf: „Halt! Polizei!“ „Absteigen!“ gebot Superhirn. „Wer seid ihr? Wo wollt ihr hin?“ fragte der Beamte mit der Kelle. „Ich bin Professor Kybers Patensohn“, sagte Superhirn ruhig. „Und die anderen sind meine Freunde - allesamt Gäste des Instituts!“ Unverfroren schwindelte er hinzu: „Ihr Kommissar Vinloh befahl uns, herunterzukommen. Hier sei ein Bursche mit einem Laborgerät entwischt, und der Kommissar wolle uns einiges fragen.“ Der Mann mit der Kelle wandte sich an seine beiden Kollegen, die bei heruntergedrehten Scheiben im Wagen saßen: „Habt ihr das gehört? Vinloh will die jungen Leute was fragen.“ Unfreundliches Gelächter tönte aus dem Auto. Der Polizist neben dem Fahrer rief: „Das ist prächtig! Kommissar Vinloh bestellt Kinder zu sich, um sie etwas zu fragen - aber auf unsere Fragen reagiert er nicht. Na, hören wir noch mal ...“ Es piepste im Wagen, und der Beamte auf dem Beifahrersitz sprach in sein Funkgerät: „Hier Streife Brossac 7, Brossac 7, Corporal Masset ruft Kommissar Vinloh! Kommissar Vinloh, bitte kommen ...!“ Nach einer Weile ertönte eine gräßlich quäkige Stimme im Lautsprecher: „Hier Vinloh! Kommissar Vinloh! Hallo, Masset! Was ist?“ „Mensch, Sie Gänseschnabel oder Papagei - oder was immer Sie sind!“ erwiderte der Corporal wütend. „Ich will Kommissar Vinloh sprechen, nicht Sie! Kapieren Sie das nicht ... ?“ „Und Sie kapieren nicht“, quäkte es schaurig im Apparat, „daß Ihr Funk gestört ist! Hier spricht Vinloh! Ich gebe ihnen die Nummer meiner Dienstmarke durch!“ Tati flüsterte: „Vinloh ist geschrumpft! Seine Stimme hat sich verändert!“ Den Mann mit der Quäkstimme kostete es offenbar äußerste Anstrengung, eine verständliche Lautstärke einzuhalten. Er mußte ununterbrochen schreien. jetzt gab er die Dienstnummer durch. „Wir suchen den Täter in den Kellern des Instituts!“ jaulte er. „Sie haben eine ganze Handvoll Kollegen dabei, überdies noch unsere besten Suchhunde“, entgegnete der Corporal. „Seit 15 Minuten fordert der Präfekt unseren Abzug. Alle Beamten werden bei den verwüsteten Campingplätzen gebraucht. Es gibt dort Plünderungen am
laufenden Band. Wie wollen Sie es verantworten, mit Ihren Leuten im Institut zu bleiben, wenn am Strand Frauen und Kinder in Lebensgefahr sind?“ „D-d-die Polizisten wissen nichts von dem Schrumpfungsprozeß!“ hauchte Prosper. „Still!“ herrschte ihn Superhirn leise an. „Die sollen nichts wissen! Vinloh will nicht auch noch 'ne Polizei-Panik haben!“ Doch wenn das stimmte - und es stellte sich später heraus, daß Superhirn recht hatte -, so sollte er gleich die Nachteile dieses Entschlusses erfahren. Der Corporal setzte das Funkgespräch mit dem armen Kommissar im Institut fort: „Gut, Monsieur Vinloh. Wenn Sie den Dieb in den Kellern geortet haben, kann er wohl schlecht woanders sein! Sie haben da ja auch genug Leute, so daß Sie uns nicht mehr brauchen! ich melde das der Polizeistation. Wir selber gehen - wie befohlen - in den Katastropheneinsatz. Und der gesamte Außendienst, der gegenwärtig nach dem Dieb im Freien fahndet, kann abgezogen werden. Ende!“ „Ende!“ kam die quietschende Bestätigung. Der Polizist mit der Signalkelle öffnete die hintere Wagentür. Beim Einsteigen sagte er: „Möchte wissen, was mit dem Sprechfunk los ist. Brossac-Centre und die Streifenwagen melden sich völlig normal. Nur aus dem Institut kommt dieses Mäusepfeifen Das Polizeiauto fuhr ab. „Halt!! brüllte Gérard. „Suchen Sie wenigstens am Bahndamm! Da hockt 'ne verdächtige Gestalt mit einem Pilz!“ Henri packte den Freund beim- Arm. „Still, Mensch! Willst du dem Kommissar da drinnen in den Rücken fallen? Als Mini-Männer hocken die doch in der Klemme! Ihre Hauptsorge ist, daß kein Kollege sie so erbärmlich sieht!“ „Ihre Hauptsorge ist, daß wir ihnen helfen!“ erklärte Tati energisch. Die Gefährten schlüpften unter der geschlossenen Schranke hindurch und zerrten ihre Räder nach. „Im Pf-pf-pförtnerhaus ist kein Mensch“, murmelte Prosper, Von Loulou gefolgt, strampelten sie auf das Chefgebäude zu. Im Inneren der Eingangshalle war Licht. Ein großer Mann hielt die Glastür auf. Der Kantinen-Wirt! „Sie sind wohl jetzt Mädchen für alles'?“ fragte Superhirn. Das meinte er im Ernst, und der verstörte Monsieur Roller bestätigte sogleich: „ja! Aber das kommt nur daher, daß sie im medizinischen Versuchstrakt durchgedreht sind und Personal dorthin gerufen haben! Schnell, Professor Kyber erwartet euch in der Zentrale. Da sind auch die Heinzelmännchen von der Polizei!“ Im Arbeitszimmer des Institutsleiters bot sich den Gefährten ein schauriges Bild. Auf seinem Drehstuhl hinter dem Schreibtisch stand Superhirns verkleinerter Onkel. Er hatte die Größe, nicht aber die Proportionen eines zwei- bis dreijährigen Kindes, sondern die einer Puppe, glich also der künstlichen Nachbildung eines Erwachsenen. Das besonders Gefährliche daran wurde den Eintretenden sogleich klar: Ein normal proportionierter Dreijähriger kann einen Telefonhörer ergreifen, er hat die Kraft, ihn an sein Ohr zu heben, und sein Stimm- und Hörvermögen sind der Erwachsenenwelt angepaßt. Bei der „Schrumpfpuppe“ eines Erwachsenen aber hatte sich alles in einem regelmäßigen Verhältnis zurückentwickelt, demnach samt und sonders gegen die Natur! Für das schmale Mini-Männchen und dessen zerbrechliches Knochengerüst war selbst ein einfacher Kugelschreiber schwer zu handhaben. Seine hohe, helle Stimme setzte sich kaum durch. Ein normales Geräusch wirkte wie ein Schlag auf seine Trommelfelle. „Bleibt stehen!“ kam sein mühsamer Schrei wie aus weiter, weiter Ferne. „Hallet den Pudel fest, um Himmels willen!“ Doch Tati hatte Loulou schon an sich gepreßt. „Was laufen denn da für Lampenschirme auf dem Schreibtisch rum?“ staunte Henri.
Superhirn beugte sich vor und äugte angestrengt durch seine Brille. Dann sagte er: „Kommissar Vinloh erkenne ich. Die beiden anderen scheinen seine Assistenten zu sein. ja, was haben die denn an? Die sehen ja aus wie Flimmertüten!“ „Und Professor Kyber guckt wie aus 'ner kaputten Sonnenschirm-Hülle!“ raunte Tati. Der Kantinenwirt, der hinter der Gruppe stand, erklärte mit gedämpfter Stimme: „Leichteste Seidenfolie aus den Labors! Ganz teures Zeug. ich hab's zurechtgeschnippelt, weil jeder Anzugstoff zu schwer wäre!“ „Wo sind die anderen?“ fragte Superhirn mit gleichmäßiger, etwas hochgestellter Stimme, damit die Mini-Männer auf und hinter dem Schreibtisch ihn verstehen konnten. Bei normaler Ansprache würden sie die meisten Worte nur wie eine Art Gebell vernehmen. Kommissar Vinloh hockte jetzt verdrießlich auf seinem Handfunk-Gerät. Er benutzte es wie jemand, der sich auf einem Koffer ausruht. Natürlich war das Gerät ausgeschaltet, doch man begriff, welche enormen Willensenergien ihn die Verständigung mit der Besatzung des Polizeiwagens gekostet haben mußte. Superhirn zog seinen Notizblock hervor: „Nach meinen Berechnungen sind außer den 22 Erstbetroffenen noch 6 Polizisten als Opfer zu verzeichnen, von den 7 Suchhunden mal abgesehen. Dann du, Onkel Victor, der Kommissar und seine beiden Assistenten ...“ „Ja!“ riefen die Mini-Männer alle zugleich. „Die anderen Opfer sind isoliert“, half der Kantinen-Wirt wieder, „Sie brauchen ja sterile Luft und ein besonderes Atemgemisch. ich muß die Herren da ...“, er wies zum Schreibtisch, „auch gleich auf die Intensivstation tragen. Ich muß ihnen Wasser aus Pipetten reichen!“ „Wie sollen wir helfen?“ fragte Superhirn. „Daß der Filterdieb nicht hier ist, wissen wir. Onkel Victor, was meintest du vorhin, als du sagtest, wenn der Kerl flieht, läuft er in die selbstgestellte Falle!?“ „Die Biomasse im Filter!“ krächzte Kyber. „Der Dieb kann sie über einen Umkreis von 10 km nicht hinaustragen! Und er hängt daran fest, als stünde der Stiel unter Strom!“ „Wieviel Zeit bleibt uns, ihn zu finden?“ „23 Stunden!“ Kyber deutete mit seinem Ärmchen auf die riesige Wanduhr. Dann winkte er verzweifelt. Der Kantinenwirt sprang hinzu und ergriff ein Kästchen auf einem Nebentisch. „Der Detektor!“ fistelte Kyber. „Das Suchgerät! Ich kann es dir nicht mehr erklären, Superhirn! Du kommst aber sicher damit zurecht!“ „Die Männer müssen jetzt isoliert werden!“ erklärte der Kantinenwirt aufgeregt. „Die Luft ist hier zu dick. Sie haben nicht mal so solide Lungen wie Säuglinge!“ „Ich bleibe hier“, entschloß sich Tati. „Ich helfe Monsieur Roller!“ „Gut“, sagte Superhirn, „Wir brauchen nur noch ein Funkgerät, um mit dir in Verbindung zu bleiben. ist das Forschungsministerium in Paris verständigt?“ jetzt krächzte Vinloh in seiner Seidenfolie etwas Unverständliches. Doch einer der beiden Assistenten quäkte: „Ja! Der Vater des Diebes! Der Forschungsminister selber! Er müßte längst hier sein. Auch Kommissar Rose vom Sonderdezernat...!“ „Noch besser.“ Superhirn nickte. „Wir flitzen jetzt los.“ Er nahm das Suchkästchen entgegen. Professor Kyber winkte Herrn Roller heran und hauchte ihm etwas ins Ohr. „Ja!“ sagte der Mann eifrig. Er öffnete einen Wandschrank: „Hier, die Funkgeräte des Professors! Eins für Tati, eins für Superhirn. Die Frequenz ist eingestellt.“ „Ach, noch was, Tati!“ fiel Superhirn ein. „Ruf bei den Dingdongs an! Das Kleidernähen ist ja Unsinn, denn die Minis können schwere Stoffe nicht tragen. Sag den Leuten, sie sollen mit Micha helfen kommen!“ „Prima Idee!” rief Tati. „Dann hab ich die richtige Verstärkung!“ 5.
Heiß, heißer - oder „Es geht um die Wurst!“ „Der Kantinenwirt verdient einen Orden“, japste Henri, als die Jungen mit dem Pudel die Schranke hinter sich hatten. „Das hätt' er sich zwischen Fischsuppe und Kompott nicht träumen lassen, die Stellung in einem Forschungsinstitut zu halten!“ „Im Grunde nichts Neues“, meinte Superhirn. „Köche haben sogar schon Ozeandampfer geführt, wenn die Besatzung ausgefallen war. So - und nun stop!“ Es war noch nicht 22 Uhr, in Wirklichkeit kaum 21 Uhr, wenn man die Sommerzeit bedachte. Doch als Nachwirkung des Orkans hüllte noch immer eine schwarze Wolkendecke die Landschaft in Stockfinsternis. „Henri, du nimmst das Funkgerät“, befahl Superhirn. „Lehnt eure Räder an die Mauer, Wir müssen uns mit dem Detektor vertraut machen!“ „Das Ding sieht aus wie 'ne Kamera“, behauptete Prosper. „In ku-ku-kubischer Form, mit 'nem Tragbügel dran!“ „Was für'n Kukuruz?“ fragte Gérard „Er meint einen Kubus' - und das ist nichts anderes als ein Würfel“, murmelte Superhirn, während er das Suchgerät nach allen Seiten drehte. „Und was da so schimmert, sind keine Linsen oder Hilfsoptiken, sondern Mattscheiben: kleine Bildschirme. Der Apparat ist federleicht, ein regelmäßiger Sechsflächner - also er hat sechs gleiche Quadratflächen, etwa 15 mal 15!“ „Aber auf keinem der Bildschirme tut sich was“, sagte Henri enttäuscht. „Verlaß dich drauf. In dem Kasten schlummert mehr, als du denkst“, versicherte Superhirn. „Der Bügel ist nur eine verstellbare Schlaufe. man kann sich das Ding um den Hals hängen! So, und nun los, auf die Räder! Gerard, du hast den Burschen zuletzt auf dem alten Damm gesehen. Du übernimmst die Führung!“ Der stämmige Junge bückte sich, packte Loulou und steckte ihn vorn in seinen Anorak. „Das kleine Biest schaff ich auch noch!“ sagte er. Die Lichtkegel der Radscheinwerfer durchschnitten die Finsternis. Ringsum herrschte absolute Einsamkeit. Vor dem Institut hatte man eine Sperrzone für Touristen und „Einheimische“ geschaffen; jetzt, nach dem schlimmen Sturm, begegnete man nicht einmal einem Neugierigen oder Verirrten. Dafür hörte man in der Ferne das an- und abschwellende Geräusch klagender Signalhörner. Über die Autostraßen fuhren Feuerwehren und Einsatzwagen der Technischen Nothilfe der Küste zu. „Leuchtet mir ein, daß die Polizei jetzt andere Sorgen hat“, meinte Henri, „als nach einem Dieb zu suchen, von dem sie nur weiß, daß er mit einem teuren Gerät abgehauen ist!“ „... dessen Wichtigkeit man ihr verschweigen will!“ fügte Superhirn hinzu. „Diesmal sitzt der übereifrige Kommissar Vinloh aber in der Klemme! Der würde bestimmt lieber wegschrumpfen, als sich von seinen Vorgesetzten als Mini-Mann ertappen zu lassen!“ Die kleine Kolonne holperte über einen Waldpfad. „Da vorn ist die Unterführung!“ meldete Gérard. „Alles haaalt ...!“ befahl Superhirn. Die Freunde lehnten ihre Räder an eine Krüppelbaum-Hecke. Gérard setzte den Pudel ab, und Henri schärfte dem Tierchen ein, „bei Fuß“ zu bleiben. Prosper tauchte neben Superhirn auf und fragte begierig: „W-w-was macht dein Kasten ... ?“ „Das prüfe ich gerade“, erwiderte Superhirn. In diesem Augenblick piepte das Sprechfunkgerät in Henris Hand. „Ruhig“, zischte Henri. „Das wird Tati sein ...!“ Die Schwester meldete sich mit klarer, wenn auch gedämpfter Stimme: „Hier Zentrale! Hier Zentrale! Gruppe Superhirn, bitte kommen!“ „Gruppe Superhirn. Hier Henri!“ gab der Bruder zurück. „Verstanden! Hallo Tati, was gibt's Neues bei euch?“
„Forschungsminister Commard de Sully hat angerufen“, berichtete Tati. „Er war per Flugzeug unterwegs, mußte wegen des Unwetters zwischenlanden. Habe nicht verstanden, wo!“ „Ja und?“ fragte Henri. „Der Minister, das ist doch der Vater des Filterdiebs?“ Tati bestätigte das. Sie fügte hinzu, Kripo-Kommissar Rose werde aus dem Urlaub geholt. Er hätte sich persönlich noch nicht gemeldet.“ Superhirn überlegte: „Das ist furchtbar blöde! Den Minister hätten wir jetzt gebraucht vorausgesetzt, sein Sohn treibt sich mit dem Filter da irgendwo vor uns herum! Er hätte ihn ansprechen und zur Vernunft bringen können- Und Kommissar Rose macht niemals halbe Sachen! Henri! Frag Tati, ob sich noch andere Regierungsstellen einschalten!“ Tati verneinte. Sie fügte hinzu: „Kyber hat den Minister unter Geheimhaltung herbestellt, allein schon deshalb, weil es sich um seinen Sohn handelt. Und auch Rose ist ja Fachmann für Institutspannen. Man wollte eine mögliche Großaktion hier besprechen!“ „Wie sieht's in deinen Schrumpfkreisen' aus?“ fragte Henri betont lässig, um jede Angst herunterzuspielen. „Schlecht, aber noch nicht dramatisch“, erwiderte Tati. „Nach neuesten Berechnungen fürchtet der Professor allerdings, daß mit Tagesanbruch ein unverhoffter Mim-Schub einsetzen könnte. Er bringt das mit der Erddrehung und allen möglichen Faktoren in Zusammenhang.“ „Klar, er muß alles bedenken“, murmelte Superhirn. „Henri, frag sie, ob die Dingdongs und Micha schon da sind!“ „Nein!“ antwortete Tati. „Aber Madame Dingdong versprach zu kommen. Sie schwor auch, dichtzuhalten. Monsieur Roller, der Kantinenwirt, und ich, wir sind inzwischen um keinen Millimeter geschrumpft, falls euch das tröstet!“ „Ungemein, da ich Tati ja mal heiraten will!“ versuchte Superhirn zu scherzen. „Paß auf, Tati“, sagte Henri dringlich. „Wir sind kurz vor der Unterführung, die uns Gérard angab. Der komische Würfel gibt noch weiter nichts von sich!“ „Der Detektor reagiert auf den Filter!“ betonte das Mädchen. „Aber das Wetter ist ungünstig, soviel hab ich aus Kyber inzwischen rausgekriegt! Wenn ihr aber auf zwei Meter an dem Filter dran seid - der Dieb kann sich davon ja nicht lösen -, gibt der Detektor Alarm und zeigt ein Blitzquadrat: Das soll Superhirn auf den Täter richten, dann sitzt er fest! Und der Filter löst sich aus seiner Hand. „ >Uns wäre es aber doch lieber, du würdest die Polizei in Brossac noch mal alarmieren“, sagte der Bruder. „So, wie's jetzt steht, kommt Rose bestimmt nicht mehr rechtzeitig!“ „ich kann gar nichts tunk beteuerte Tati. „Alle Betroffenen sind sich darin einig, die Welt nicht in Schrecken zu versetzen! Niemand soll was von einer ,molekular-biologischen' Panne erfahren. Kyber sagt, es gibt allein in Paris mindestens zwanzig Geheimdienste, die sich wie die Wespen auf die Sache stürzen würden. Er setzt alles auf euch, auf euch allein!“ „Sehr schmeichelhaft“, murmelte Superhirn. „Sag ihr, daß wir uns vor jedem weiteren Schritt melden.“ „Hat man so was schon erlebt?“ wunderte sich Prosper nach dem Funkgespräch. „Die schrumpfen lieber weg, als daß sie auf die Pauke hauen!“ „Ich denke eher daran, daß Kyber uns im Besitz des Detektors für absolut sicher hält“, erklärte Superhirn. „Also, was tun wir? Fahren wir weiter? Will jemand zurückbleiben?“ „Ach, du meinst wohl, einer von uns würde lieber eßbare Pilze suchen!“ ließ sich Gérard spöttisch vernehmen. „Nee, mein Lieber. Das Spiel wird nicht abgebrochen!“ „N-n-nie ...!“ versicherte Prosper. Henri nahm noch mal Funkverbindung mit Tati auf: „Gruppe Superhirn. Wir suchen am alten Damm. Ende!“ „Wir fahren jetzt wie eine ahnungslose Ausflugsgruppe durch die Unterführung“, entschied Superhirn. „Dann löschen wir die Fahrradlampen und kehren um. Strengt eure Augen an, ob der Kerl da noch irgendwo auf dem Boden hockt!“
„Aber der Pudel!“ warnte Prosper. „Er könnte durch sein Bellen verraten, daß er jemanden wittert!“ „Gib ihn mir mal!“ wandte sich Henri an Gérard. „Nimm du so lange das Funkgerät. Loulou kann nämlich ein disziplinierter Spürhund sein. Man muß ihm nur durch Raunen verständlich machen, daß er sich nicht mucksen soll. Das haben wir ja oft genug geübt!“ Henri flüsterte auf das kleine Kerlchen ein und knöpfte es vorn in seinen Anorak, so daß nur der Kopf herausragte. „Fertig!“ rief Superhirn leise. Die Gruppe setzte sich in Bewegung und näherte sich der schmalen Unterführung. Der alte Bahndamm, den Gérard meinte, stellte den kärglichen Rest einer Nebenstrecke der längst eingestellten Austernbahn dar. Er bestand buchstäblich nur noch aus der winzigen Brücke und zwei Bruchstücken links und rechts, die sich jäh in den Kuhwiesen verloren. Es handelte sich nicht um jenen Abschnitt, der von der Werkbahn des Instituts mitbenutzt wurde. Hundert Meter hinter der Unterführung hielten die Freunde an. Gérard. erklärte: „Diesmal sah ich keinen Schatten. Ich hab auch nichts wimmern oder stöhnen hören. Der Bursche ist weg! He, Superhirn - was macht das Suchgerät?“ „Es hüllt sich in Schweigen“, murmelte der Angesprochene. „Keine der sechs Mattscheiben gibt ein Sichtzeichen. Ich spüre auch nicht die geringste Vibration!“ „Und unser lebendiges Gerät - Loulou - hat sich unter meinem Anorak nicht gestrafft oder auch nur schneller geatmet“, sagte Henri. Superhirn hockte schräg auf seinem stehenden Fahrrad und drehte den Würfel: „ich erkenne ganz schwach einen Leuchtrahmensucher mit Parallaxen-Ausgleichsmarkierung. Auf einem anderen Schirm taucht eine Langzeitwarnung auf, und zwar in Digitalschrift. Demnach ist der Täter nicht in unmittelbarer Nähe. Er hat sich nicht weiter vom Institut entfernt, sondern er muß bei gleichem Abstand von hier aus nach Nordosten gewandert sein. Dies beweist ein Pfeil mit Kompassangabe!“ „Mensch, auf dem Gerät taucht eine 5 auf!“ erkannte Henri mit einem Blick über Superhirns Schulter. „Ich wette, das ist eine Marschzahl, ein bewährtes Panzerwagen- oder U-BootSystem! Der Pfeil zeigt, daß wir der Zahl folgen sollen!“ „Kluges Kind!“ spottete Superhirn. „Also los, versuchen wir´s!“ Die Freunde schoben ihre Räder über die Wiese jenseits der Unterführung. Wenn Superhirn auch nur den kleinsten Bogen um ein Bodenhindernis machte, zirpte der Würfel, die rote 5 wich einer grünen 4 oder einer gleichfalls grünen 6: Das bedeutete: Achtung, Abweichung! Henri ließ den Pudel „bei Fuß“ hoppeln. Tatsächlich hatte Loulou begriffen, daß es gewissermaßen um eine „siedendheiße Wurst“ ging. Er sprang wie auf Samtpfoten und gab keinen Laut von sich. Von der Marschzahl 5 geführt, erreichten die Gefährten einen matschigen Feldweg. „Hier kommen wir nicht weiter“, raunte Prosper verzagt. Den Weg begrenzte auf der anderen Seite eine etwa drei Meter hohe Feldsteinmauer. Doch der Pfeil wies auf diese Mauer zu, und die Marschzahl ließ den Freunden keine andere Wahl, als davor stehenzubleiben. Henri forderte von Gérard das Funkgerät und setzte sich mit Tati im Institut in Verbindung. Seine Schwester meldete sich sogleich. „Seid ihr auf einer Spur?“ rief sie. „Kyber trifft gerade Maßnahmen gegen die völlige Verschrumpfung! Er selbst, Frau Rahn, Kommissar Vinloh, seine Assistenten und Polizisten sind im Moment noch 60 Zentimeter hoch.“ „Aber verschwunden ist noch keiner?“ forschte Henri. „Nein? - Wenigstens ein kleiner Trost in der großen Hoffnungslosigkeit! Mach allen klar: Wir tun, was wir können! Und wir geben nicht auf, hörst du?“ „Aber die Uhr! Denkt an die Todesuhr!“ „Wir denken jeden Moment daran!“ versicherte Henri. „Ist Micha bei dir?“
„Er kam mit Herrn und Frau Dingdong“, entgegnete Tati. „Mit dem Kantinenwirt sind also drei Erwachsene hier, die die Minis betreuen. Die Schrumpfung ist tatsächlich nicht ansteckend. Auch ich habe mich nicht verkleinert.“ Man hörte Tati kurz lachen: „Micha wirkt beinahe, als habe er sich vergrößert!“ Henri war gar nicht nach Heiterkeit zumute. Er besprach sich rasch mit Superhirn und stellte dann fest: „Wir stehen hier jenseits des alten Bahndamms vor einer Mauer. Das Suchgerät weist stur auf sie hin. Kann dir jemand sagen, was hinter der Mauer ist? Wir sind im vorigen Jahr mal an ihr entlanggeradelt, aber das Gelände hat uns nicht interessiert.“ Das war nicht weiter verwunderlich. Im Département Charente-Maritime gab es Hunderte solcher alter Bruchsteinmauern, und was sie schützten, waren oft genug wertlose Reste versunkener Epochen. Tati bat um einen Augenblick Geduld. Schneller als erhofft, meldete sie sich wieder: „Madame Dingdong sagt, hinter der Mauer liegt das ,Luftschloß'. Es gehört den Nachkommen der Herzöge von Daville-Ramour, die jetzt in Kanada mit Pelzen handeln. ihr sollt euch nicht über die großen Ohren des Teufels erschrecken!“ „Waaas ...?“ rief Henri. „Bitte wiederholen!“ Tati berichtete hastig: „Keine Zeit. Habe das Telefon neben mir! Es blinkt! Das kann der Minister sein. Ende!“ Stille senkte sich über die Freunde, die in der Dunkelheit an der Mauer standen. Der Pfeil neben der Marschzahl auf Superhirns Suchgerät blieb beharrlich auf das Hindernis gerichtet. Prosper hatte sein Rad gegen die buckligen, schiefen, bemoosten Steine gelehnt. Er tastete sich etwa zwanzig Schritte vorwärts. Aufgeregt meldete er: „Ei-ei-ein Loch! Hier können wir durchschlüpfen!“ „Worauf warten wir noch?“ fragte Gérard ungeduldig. 6. Die Teufelsohren - und andere Scheußlichkeiten Für die Räder war die Öffnung, die Prosper gefunden hatte, nicht groß genug. So entschied Superhirn, sie zurückzulassen. Nacheinander schlängelten sich die Freunde durch die Lücke. „Was zeigt dein Gerät?“ flüsterte Gerard. „Daß wir auf der rechten Fährte sind“, wisperte Superhirn. „Einer der sechs Bildschirme hat von Langzeitwarnung auf kurz gewechselt. Die Marschzahl wird deutlicher, der Pfeil beginnt zu blinken!“ „Ich bin patschnaß!“ murrte Prosper. „Kunststück! Nach dem Sturm!“ raunte Henri. „Aber wo ist denn das Luftschloß?“ „Achte auf den Pudel!“ warnte Superhirn. Die Freunde bewegten sich gebückt durch klatschnasse Farne. Plötzlich ließ Prosper seine Stablampe kurz aufblitzen. „Bist du verrückt?“ zischte Gérard. Doch das Weitere erstarb ihm im Munde. Ein „guter Geist“ hatte Prosper offenbar veranlaßt, nach vorn zu leuchten. Keinen Augenblick zu spät! Die Freunde standen vor einem riesigen, mit Steinen, Erde und Wasser gefüllten Becken. „Aaah, wie romantisch!“ murmelte Henri. „Ein Swimming-pool für Steinzeitmenschen!“ „Nee, das ,Luftschloß'„, sagte Superhirn. „Ein Schloß aus Luft! Man hat es abgerissen! Was ihr da seht, sind nur noch die Katakomben.“ „I-i-ich begreife nichts!“ stotterte Prosper. „Aber ich!“ brummte Gerard. „Die Bezeichnung ist ein Volkswitz. Das Schloß ist weg! Es besteht nur noch aus Luft. Kapiert?“
„N-n-nein!“ erwiderte Prosper ehrlich. Wieder ließ er seine Stablampe kurz aufleuchten. Dann aber plumpste er in eine Pfütze, als hätte ihm jemand die Beine unter dem Leib weggerissen. „W-w-was ist denn das Furchtbares?“ stammelte er erschrocken. „Ein mannshohes, steinernes Ohr!“ sagte Superhirn ruhig. „Der Lichtkegel hat übrigens noch ein zweites gestreift. Nach Tatis Andeutung gibt es hier mehrere Scheußlichkeiten! Grotteneingänge in Form von Teufelsohren! Das sind Scherze aus der Barockzeit. Künstlich geformt aus Gips, Sand, Kalk und allem möglichen. Henri, paß auf Loulou auf!“ „Der will unbedingt in eins dieser Ohren rein!“ meinte Henri besorgt. „Plötzlich hat er den Schneid eines Schäferhundes, aber er vergißt, wie winzig er ist.“ „Er soll nicht vergessen., seine Schnauze zu halten“, sagte Superhirn ärgerlich. „Los, folgt mir!“ Allen voran tastete er sich mit dem Suchgerät in einen der ohrenförmigen Grotteneingänge hinein. „Die Marschzahl wird deutlicher, der zuckende Pfeil immer größer!“ raunte er über die Schulter. „Falls wir plötzlich auf den Dieb treffen, rennt einer sofort zurück. Henri, hast du den Funkapparat? Gut. Du bildest den Schluß: Es ist möglich, daß ich den Burschen mit meinem Detektor nicht lähmen kann und daß der Filter-Pilz gefährlicher ist, als wir ahnen können. Dann schlägst du bei Tati Alarm!“ Die Jungen gingen weiter. Öööööööööö - begann es da vor ihnen zu brausen. Je weiter sie tappten, desto lauter und vielfältiger wurde das Orgeln. Schließlich war es, als mische sich Gelächter mit hinein: Sssiiiiiii-kikikikik ... „Hiiilfeee“, schrie Prosper. Und nun brach auch der Pudel aus und bellte. „Still!“ brüllte Gérard. „Das sind die Gänge! Hier trifft sich der Wind aus den Grotten!“ Prosper rappelte sich auf: „D-d-das wär was für den Fremdenverkehr“ rief er wütend. „Ei-eieinmal und nie wieder...“ Henri beruhigte den Pudel. Superhirn ließ die Freunde aufschließen. „Ich kann mir nicht helfen“, sagte er, „aber ich hab das Gefühl, als wäre mein Suchgerät mit dem Dieb im Bunde!“ „Du machst vielleicht Spaß!“ entgegnete Gérard verdutzt. „Das Suchgerät reagiert auf den Filter“, erinnerte Superhirn, „soviel wissen wir. Wenn aber an dem Filter ein Gegengerät ist, das dem Wahnsinnigen unsere Annäherung meldet? Vergeßt nicht, die Leute im Institut hatten keine Zeit, uns zu unterweisen!“ „Ich rufe Tati noch mal über Funk“, sagte Henri, Doch die Schwester meldete sich nicht ... „Wir sind in der Erde“, meinte Gérard. „Da gibt's Hindernisse, die 'ne Verbindung stören!“ Sie tappten weiter voran. Das Brausen durch die verschiedenen Grottenöffnungen wurde schwächer. jäh blieb Prosper stehen, so daß Gérard und Henri auf ihn prallten. „W-w-wo ist Superhirn ...?“ stammelte er. „Taste mal nach vorn!“ rief Henri. „Tu ich ja!“ erwiderte Prosper. „Er ist weg. Wie im Boden versunken!“ „Ich hab was platschen hören“, behauptete Henri. „Wie weit war er vor dir, Prosper?“ „Zwei, drei Schritt!“ „Mach deine Lampe an!“ sagte Gérard. Im gleichen Moment bebte die Erde unter den Füßen der Freunde. Das erschreckte Winseln des Pudels ging in einem sonderbaren Schleifen und Knistern unter. Dem folgte ein dumpfes Poltern und ein gewaltiger, luftverdrängender Schlag. „Es hat mich was gestreift!“ rief Prosper. „Eine kleine Druckwelle“, entgegnete Henri. Doch seine Stimme klang heiser. „Hinter uns ist die Decke des Ganges runtergekommen. ich fühle hier so was wie einen steinernen Kopf. Gérard, reich mir Prospers Lampe.“
„Erst muß ich wissen, wo Superhirn ist!“ beharrte Prosper. „Er scheint in ein tiefes Loch gesaust zu sein!“ Prosper leuchtete den Boden ab. In der Wassermulde vor ihm sah er zwei verschlammte Hände und ein mit Dreck überzogenes Gesicht. „Will mir keiner hier raushelfen?“ gurgelte Superhirn. Seine Brille saß ihm noch auf der Nase, doch er konnte nicht durch die verschmutzten Gläser gucken. Die Freunde legten sich längelang hin und versuchten, seine glitschigen Arme zu packen. Als Superhirn endlich keuchend neben ihnen hockte - fehlte das Suchgerät! „Die Tragschlaufe ist abgerissen!“ stellte Prosper entsetzt fest. Mit Gérards Taschentuch reinigte Superhirn so gut es ging seine Brille. „Nicht zu fassen!“ hustete er. „So ein Suchgerät gibt's auf der Welt kein zweites Mal! Was es wert ist, kann man gar nicht schätzen, abgesehen von seiner Lebenswichtigkeit in diesem Fall! Und da machen sie eine Tragschlaufe ran, die nicht mal so viel aushält wie der Griff einer Supermarkt-Tüte!“ „Willst du hier philosophieren?“ fragte Gérard ungeduldig. „Und willst du hier tauchen?“ gab Superhirn zurück. „Wir müssen umkehren, eine Stange suchen - oder was Ähnliches ...“ „Tut mir leid“, sagte Henri, „der Rückweg ist verschüttet! Der Sturm hat da oben irgendwas umgeworfen und einen Erdrutsch verursacht. Prosper! Reichst du mir deine Lampe?“ Der Scheinwerfer huschte über schlammiges Geröll und streifte etwas, das wie ein Kopf mit einem tellerförmigen Gebilde darauf aussah. Dieses ziemlich kompakte Etwas stak unbeweglich in der Drecklawine. „Der P-p-pilz ...!“ schluckte Prosper. „Das ist der erstarrte Bursche mit dem Pilz!“ Henri trat einen Schritt zurück, stolperte und fiel über Gérards Füße. Die Lampe flog im Bogen gegen die Wand und erlosch. „Mahlzeit!“ sagte Gérard und half dem Freund auf. „Mir scheint, wir sind mit Taschenlampen ein wenig unterversorgt!“ „Auch mit Verstand!“ schnaubte Henri wutentbrannt. „Selbst wenn wir Superhirn dabeihaben wer erleuchtet uns jetzt? Zurück können wir nicht, nach vorn ist der Weg verbaut, und vorläufig sind wir noch keine Maulwürfe!“ „Ich möchte wissen, was das für 'ne Type mit dem Pilzkopf ist!“ rief Prosper. „Das ist 'ne Brunnenfigur mit einem Barett“, sagte Henri. „Was anderes kann's gar nicht sein! Wenn du nicht so geschrien hättest, hätt' ich dir das gleich erklärt. Wahrscheinlich ist der Brunnen seit Jahrhunderten undicht, und jeder Regen hat am Boden genagt ...“ „Genagt ist schön!“ unterbrach Superhirn. „Sehr anschaulich. Aber Prosper hat mich auf etwas gebracht: Der Dieb klebt an dem Filter, und die Biomasse des Materials kann sich und ihn verändern. Mein Onkel deutete das an: Der Bursche kommt nicht weit!“ „War nicht von zehn Kilometern die Rede?“ erinnerte Henri. „Wenn er diesen Abstand erreicht hat, verändert sich das Gewicht des Filters, so daß der Dieb ihn nicht mehr tragen kann. Aber aus einem unerfindlichen Grund bummelt er, wie's scheint, immer in der Nähe des Instituts herum. Warum, zum Beispiel, hat er sich nicht in sein Auto gesetzt? Warum hat er sich nicht einen schnellen Sportwagen geklaut?“ „Weil er sofort gemerkt hat, daß der Biomat an seiner Hand kleben blieb“, erwiderte Superhirn. „Das ist eine enorme Behinderung, und die verwirrt ihn zusätzlich. Deshalb handelt er nicht logisch.“ „Und wir handeln nicht viel logischer, wenn wir hier stehen und quatschen“, brummte Gérard. „Wir müssen den Detektor aus dem Wasserloch holen. Vielleicht gibt uns das Ding einen Rat, wie wir uns aus der Falle befreien!“ Kurzentschlossen warf er Anorak, Pulli, Schuhe und Strümpfe von sich und glitt in die Kuhle hinein. „Sehr tief ist sie nicht!“ meldete er nach einer Weile. „Bindet mir eure Gürtel um die Schultern. Ich kann nichts anderes tun, als den Grund mit den Füßen abzutasten. Möchte nicht mit dem Kopf im Schlamm steckenbleiben!“
Was Gérard, der oft verspottete „Fußballkopf“, in dieser Nacht leistete, verdiente ein langes und ausführliches Kapitel in den Tagebüchern der Freunde. Zwar gönnte er sich eine Erholungspause, in der Henri seine Arbeit übernahm, doch nach zwanzig Minuten drängte es ihn wieder in den „Einsatz“. Indessen fand Prosper die Taschenlampe, doch die funktionierte nicht mehr. Alle Versuche, das Institut über Sprechfunk zu erreichen, blieben ergebnislos. Ergebnislos blieb schließlich auch die Fahndung nach dem Suchgerät ... Um sechs Uhr früh gab Gérard auf. Er rubbelte sich notdürftig mit seinem Hemd ab, zog die übrigen Sachen wieder an und legte sich lang auf den Boden. Er war zu Tode erschöpft. Prosper und Henri deckten ihn mit ihren Anoraks zu. Aber auch Henri war ziemlich entkräftet, Abwechselnd mit Superhirn - aber doch die meiste Zeit hatte er den „Taucher“ an den zusammengeschlossenen Gürteln gehalten. Superhirn versuchte wie ein Wilder, über die durchgebrochene Steinfigur einen Weg ins Freie zu schaffen. Doch das erwies sich als ganz und gar zwecklos, denn fortwährend rutschte Erdreich nach. Endlich forderte Superhirn absolute Stille und verlegte sich aufs Lauschen, indem er die Wände abhorchte. „Das Suchgerät hat uns diesen Weg gewiesen“, murmelte er. „Der Dieb muß ihn also vor uns gegangen sein. Das bestätigt meinen Verdacht: Er war aufs Verkriechen' aus. Er hoffte fortwährend, seine Hand von dem Stiel lösen zu können.“ „Und wie lösen wir uns aus dieser Falle?“ ächzte Gérard. „Es ist acht Uhr früh“, stellte Henri mit einem Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr fest. „Wahrscheinlich sind die Leute im Institut schon so klein wie Mücken ... Und Tati meldet sich noch immer nicht!“ „Kinder!“ schrie Prosper. Er fuhr hoch, stieß sich den Kopf und sank mit einem Schmerzenslaut zusammen. „Was ist denn?“ fragte Henri ärgerlich. „Hat dich 'ne Schlange gebissen?“ „N-n-nein!“ stotterte Prosper. „A-a-aber Loulou ...!“ „Loulou...?“ rief Gérard. Daß der kleine Hund dem Freund nichts getan haben konnte, war allen sogleich klar. „Der ist seit Stunden weg!“ fügte Gérard. hinzu. „Vor lauter Aufregung haben wir das nicht bemerkt!“ Superhirn überlegte. „Kurz bevor ich in das Loch rutschte, sprang er zu meinen Füßen herum. Aber er ist auf keinen Fall mit hineingeplumpst!“ „Loulou ...!“ schrie Prosper mit überkippender Stimme. „Loulou ...!“ „Loulou ...!“ echote Gérard. Plötzlich sagte Henri: „Regt euch ab, hier ist er ja. Ich sagte doch, er hat einen prima Instinkt! Er weiß, wann er einem nicht im Weg zu stehen hat.“ Doch ganz überraschend brach er seine Erklärung ab und stieß einen womöglich noch schrilleren Schrei aus als Prosper. Die anderen verstanden nur immer: „Kasten! Kasten! Kasten!“ „Ruhe ... !“ gebot Superhirn. Ahnungsvoll fragte er: „Von was für einem Kasten redest du? He, Henri, was meinst du ... ?“ „Na, den Würfel“, rief Henri. „Das Suchgerät am Rest der Schlaufe! Der Hund hat den Riemen geschnappt und zerrt den Detektor die ganze Zeit hinter sich her!“ Superhirn tastete in Henris Richtung. Gleich darauf hielt er das vermißte Suchgerät in der Hand. „Es ist nicht matschig“, sagte er. „Also muß ich es während des Sturzes verloren haben, und Loulou hat nach dem Rest der Schlaufe geschnappt und den Kasten vor dem Schlammbad bewahrt. Die Frage ist: Wo war der Hund, während wir hier stundenlang suchten?“ Schweigend betrachtete er eine Weile das Gerät. „Der Gang hat einen Ausweg nach vorn“, sagte er dann. „Bildschirm Nummer vier markiert das unterirdische System. Die Marschzahl blinkt, desgleichen der Richtungspfeil. Hinter dem Schlammloch ist ein Durchgang. Dort hat sich der Hund brav wartend aufgehalten.“ „Er konnte nicht wissen, wie dämlich wir sind“, murmelte Henri, an der Wand entlangtastend,
„Stimmt!“ bestätigte Superhirn bitter. „Hätten wir eine zweite Taschenlampe oder wenigstens ein lumpiges Kerzenlicht ...“ Er verstummte. Alte sechs Flächen des Würfels strahlten plötzlich eine intensive Helligkeit aus. Die Jungen sahen einander in ihre müden, verschmutzten, ratlosen, aber auch verblüfften Gesichter. „Der Computer spricht auf Reizworte an“, staunte Henri. Superhirn fing sich rasch. „Das ist an sich nichts Neues. Solche Reizprogramme gibt es schon in der Autoelektronik. Zum Beispiel kannst du Blinker per Ansprache betätigen.“ Er hielt den Würfel hoch und blickte über das Schlammloch hinweg: „Wenn wir an der linken Wandkante langkriechen, brauchen wir nicht durch diesen Höllentümpel. Los, versuchen wir's! Entweder wir kommen bald wieder ins Freie - oder wir stoßen noch in den Gängen auf den Dieb.“ 7. Im Turm des Schreckens - doch dann zur Erholung rückwärts! Allen war klar, daß es ums Ganze ging, und so gelang das waghalsige Unterfangen. Superhirn warf Gérard den zum „Rundum-Scheinwerfer“ gewordenen Würfel zu und schlängelte sich ebenfalls hinüber. Dann übernahm er das Gerät und setzte sich wieder an die Spitze. Tatsächlich führte der Stollen weiter. Aber nach zwanzig Schritten endete er in einem gemauerten, unterirdischen Hof. Hier wurde Loulou sehr unruhig. Mit der Nase am Boden lief er fortwährend im Kreise herum. „Das muß ein uraltes Schloßgefängnis sein“, bemerkte Henri schaudernd. „Ja“, bestätigte Superhirn dumpf. „Und der Dieb war hier! Seht mal die Spuren im Steinstaub! Er scheint mit dem Filter auf und ab gekrochen zu sein, um sich das Ding von der Hand zu streifen. „Was macht der Pudel da?“ raunte Prosper alarmiert. „Er zerrt was aus einer Nische!“ „Meinen Rucksack!“ rief Henri. „Ja! Meinen Rucksack, den ich dem Dieb mit Proviant gefüllt habe !“ Er riß ihn an sich und wühlte darin herum, „Leere Safttüten. Auch von der Schokolade ist nur die Hülle da. Er hat nichts übriggelassen. Außer - einer Knoblauchwurst!“ „Gib her!“ bat Gérard. „Wißt ihr, daß ich wochenlang nichts mehr gegessen habe?“ „Iß - aber übertreib nicht!“ sagte Superhirn. „Mensch, wie kann man jetzt Knoblauchwurst fressen“, jammerte Prosper, „wo doch was Trinkbares das Wichtigste wäre!“ „Nun tu mal nicht so, als hättest du Jahrzehnte in diesem Gefängnis geschmachtet!“ vermahnte ihn Henri. Er zog das Funkgerät aus seinem Anorak und machte einen neuerlichen Versuch, seine Schwester im Institut zu erreichen. Es piepte und knatterte stark, und manchmal meinte man, Tatis Stimme herauszuhören. Doch was sie sprach, war nicht zu verstehen. „Wenigstens ist der Funk nicht tot“, meinte Superhirn etwas hoffnungsvoller. „Ich wette, die Verbindung ist nur durch Leitungen oder Adern in der Erde gestört. Wir probieren es später noch mal!“ Gerard entdeckte eine Spalte in der Mauer. „Die ist frisch“, behauptete er. „Seht mal! Durch den Sturm hat sich der Boden verschoben. Superhirn, leuchte mal mit dem Würfel!“ „Fußtapfen! „ sagte Superhirn knapp, „Folgt mir jetzt durch die Spalte ...“ Es war elf Uhr vormittags, als die Freunde durch die geborstene Schweißnaht eines Tunnelabschnitts die unterirdische Strecke der Instituts-Werkbahn erreichten. Hier stand das Wasser in Höhe der Schienenkanten. Superhirn drehte den Würfel um und um und ließ seine Fingerspitzen über die Flächen und Kanten gleiten. Der Detektor verlor urplötzlich seine „Ampelfunktion“ und zeigte dafür auf einem seiner Bildschirme die Positionsmarkierung in Form eines gestrichelten Lageplans. „Die Pünktchen sind wir“, sagte Superhirn mit mühsamer Beherrschung. „Aber wo der Dieb mit dem Filter steckt, signalisiert der Kasten nicht!“
„Und wie weit sind wir vom Institut weg?“ fragte Prosper bange. „Soviel ich sehe, sind wir fast schon wieder zu Hause“, murmelte Superhirn. „Wenn wir dieser Werkbahnstrecke nach Nordosten folgen, landen wir genau im Bahnhof unter dem Institut!“ Henri sprach dringlich in das Funkgerät: „Hier Gruppe Superhirn! Hier Gruppe Superhirn! Tati - bitte melden! Tati - bitte melden! Tati ...!“ Und Tati meldete sich! Ihre leicht verzerrte, sehr erregte Stimme klang den Freunden wie Engelsgesang in den Ohren. „Um Himmels willen, wo steckt ihr denn? Die Uhr läuft! Habt ihr das vergessen? Neun. Stunden sind eine knappe Zeit, denn der Filter muß wieder eingeschraubt, vielleicht sogar repariert werden! Kyber hat alle Weisungen dafür festgelegt, indem er mit den Füßen auf der Schreibmaschine rumgesprungen ist! Ein grausiger Anblick war das! Habt ihr das Gerät? Ist der Dieb gebannt ...?“ „Du wirst lachen – nein!“ erwiderte Henri grob. „Wir waren verschüttet und sind durch einen geborstenen Tunnel auf die Werkbahnstrecke geraten. Der Dieb kann nicht weit sein, aber der Detektor, diese verflixte Kekskiste, die läßt uns immer wieder im Stich. Wie sieht es bei euch aus?“ „Schlechter, aber noch nicht hoffnungslos!“ berichtete Tati. „Die gefürchtete völlige Verschrumpfung ist bei keinem der Minis erfolgt. Aber die kleinsten sind nur noch 21 Zentimeter groß, und die Suchhunde hopsen wie Heuschrecken unter ihrer Sauerstoffglocke rum. Kommissar Vinloh dreht dauernd durch: Man kann den Knirps nicht mehr verstehen, aber er scheint seine Mini-Mitarbeiter dauernd in den ,Einsatz' schicken zu wollen. Die Dingdongs und der Kantinenwirt sausen zwischen den Labors hin und her, um die frierenden Minis mit immer kleineren, immer feineren Seidenfolien zu bedecken, Micha führt ein Protokoll. Und ich hab Funk- und Telefonwache!“ „Kommt Hilfe aus Paris?“ drängte Henri. „Ja. Der Forschungsminister ist nach der Notlandung in einen Pkw umgestiegen, aber der Fahrer hat einen Unfall gebaut. Überall sind enorme Sturmschäden. Doch Monsieur de Sully bringt einen Filter-Experten aus der Pariser Zentrale mit, einen Biomolekular-Mediziner, Allerdings ohne Filter...!“ „Ohne Filter! Nicht zu fassen!“ ächzte Henri. „Den erwarten sie von uns!“ „Frag sie, ob Kyber Ratschläge für uns hat!“ sagte Superhirn. Tati erwiderte: „Nein. Er ist fest davon überzeugt, daß ihr den Dieb mit dem Detektor findet, denn der Filter hält den Burschen nach zehn Kilometern unweigerlich fest. Nur sprach Kyber auch von fotonischen Energien, die nicht getestet sind. Aber seine Stimme ist zu piepsig geworden, um ihn noch richtig zu verstehen!“ „mach ihm klar: Wir tun, was wir können!“ gab Henri durch. „Unser Standort zur Zeit: die unterirdische Werkbahnstrecke in der Nähe des Instituts. Warte mal...“ „Drei Kilometer!“ sagte Superhirn. „Drei Kilometer!“ wiederholte Henri. „Ende.“ Prosper kam durch das Wasser zwischen den Gleiskanten gepatscht: „Da ist eine W-w-weiche, die in 'ne G-g-garage führt ...“ Superhirn zuckte zusammen, „Das Bergungsdepot! Da bin ich mal mit dem Werkschutz gewesen, als was mit der Bahn los war! Kommt!“ Gérard. nahm den Pudel hoch und folgte den Freunden. An der Bruchstelle des Schachtrohrs, wo das Wasser eingedrungen war, klafften auch die Gleisstücke auseinander. Die Abzweigung zum unterirdischen Depot zeigte sich jedoch unversehrt. Superhirn benutzte den Detektor wieder als Scheinwerfer. „Noch 'ne Weiche!“ stellte Henri fest. „Das sind zwei Abstellgleise. Ich sehe ein Schienenauto!“ „Aber keine Bergungslok!“ sagte Superhirn bedeutsam. „Du meinst doch nicht etwa ...“, begann Prosper.
„Doch!“ unterbrach Superhirn. „Der Dieb hat die Lok in Betrieb genommen und ist damit auf und davon! Die Lok muß ihm wie ein Geschenk des Himmels erschienen sein, denn - immer an den Filter gebunden - war allein die Flucht bis hierher eine teuflische Tortur!“ „Aber wie weit kommt er mit der Lok?“ fragte Henri zweifelnd. „Er käme bis zum Güterbahnhof von Buronne, wo die Giftstoffe aus dem Institut in den Entsorgungszug umgeladen werden“, erklärte Superhirn. „So weit kann er aber mit dem Filter nicht! Denn genau nach zehn Kilometern, und zwar Luftlinie, hält der Filter ihn fest: Das haben wir ja eben noch einmal gehört! Wie das vor sich geht, weiß ich nicht, aber eins ist mir klar: Der Dieb mag benutzen, was er will, Auto, Flugzeug, Schiff oder Bahn: Bei zehn Kilometern Abstand vom Institut verändert sich schlagartig das spezifische Gewicht des Filters, und das Ding durchbricht jeden Fahrzeugboden!“ „Du bist deiner Sache ja ziemlich sicher“, brummte Gérard. „Professor Kyber ist sicher“ betonte Superhirn. „Und daraus ziehe ich meine Schlüsse. So. Jetzt versuchen wir, das Schienenauto in Gang zu bringen.“ Dieses Schienenauto war ein einfaches Streckenkontroll-Fahrzeug. Es bestand aus einem offenen Gestell mit vier Sitzen. Als Antrieb diente ein Dieselmotor. Superhirn erklomm den Führersitz. Henri setzte sich neben ihn. Prosper und Gérard kletterten auf die hinteren Plätze. Nach ein paar Versuchen sprang der Motor an. „Was sagt dein Würfel?“ erkundigte sich Henri. „Er weist Südwest“, antwortete Superhirn. „Die Marschzahl ist 37!“ Langsam setzte sich das Schienenmobil in Bewegung. Superhirn blickte auf das Schaltbrett. „Noch sechs bis sieben Kilometer, und wir stoßen auf den Dieb. Gérard, halte Loulou fest!“ Der Motor arbeitete nahezu geräuschlos. Und so fuhren die Freunde aus dem Depot in den leeren, dunklen U-Schacht ein. Superhirn ließ die Scheinwerfer aufleuchten. Man sah nur Gleis und Wände der Werkstrecke, die einer gewaltigen Pipeline ähnelte - immer nur Gleise und Wände. „Da vorn wird's hell!“ entdeckte Henri. „Ja“, bestätigte Superhirn. „Die Strecke läuft dann auf dem Hauptdamm der alten Austernbahn weiter, bevor sie wieder in die Erde geht. jetzt aufpassen,. Das Schutzgitter vor dem Tunnel ist mit Gewalt aufgestoßen worden. Seht ihr? Die Lok muß es durchbrochen haben!“ „Aber dann hat's Alarm im Institut gegeben!“ meinte Gérard. „Den haben die Schrumpfmänner' bestimmt nicht gemerkte, meinte Superhirn. „Und das Stellwerk in Buronne ist wegen der Betriebsferien geschlossen. Da guckt nur ab und zu ein Hilfsposten rein – könnte ich mir denken!“ Kurz vor zwölf Uhr fuhr das Schienenmobil auf die freie Strecke hinaus. Die Sonne brannte vom Himmel herab und blendete die Augen. jäh sahen sich die Freunde dem typischen Silberlicht ausgesetzt, das sie hier am Atlantik gewohnt waren, Die dunklen Wolken und den verheerenden Sturm schien es nie gegeben zu haben. „Halt!“ schrie Prosper. Er war aufgesprungen und krallte sich an Henris Vordersitz. „Da ist was auf der Strecke! Die L-lok - die B-b-bergungslok mit dem Dieb ...!“ Jäh brachte Superhirn das Schienenauto zum Stehen. „Jetzt Vorsicht!“ befahl er. „Henri, du bleibst mit dem Funkgerät hier! Ich gehe mit dem Detektor an die Lok heran, der Dieb wird mit dem schwer gewordenen Filter darunter liegen...“ „Du solltest den Kerl mit deinem Detektor mattsetzen, eh du den Filter anstrahlst!“ rief Henri ihm warnend nach. Prosper und Gérard stolperten hinter Superhirn über das Gleis. Sie fanden den offenen Führerstand der Bergungslok leer. Der Filterdieb lag nicht unter der Maschine. „ich sah eben noch mal auf das Schaltbrett“, murmelte Gérard. „Wir haben insgesamt, vom Institut her gerechnet, noch keine zehn Kilometer hinter uns ... Seht! Loulou kullert die Böschung runter. Kinder, ja - und dort sind schwere Fußabdrücke!“
„Der Zeiger blinkt wie verrückt“, stellte Superhirn fest. Er starrte auf eine der sechs Würfelflächen. Dann hob er den Kopf. „Hier ist nichts als teilweise überschwemmte Kuhwiese. Aber da ... ! Da steht das neue Pumpwerk! ich wette, es befindet sich noch vor der 10-km-Grenze, und der Dieb ist da reingesaust. Er will sich verkriechen, immer wieder verkriechen, um den Filter von der Hand zu lösen!“ Prosper beschattete die Stirn mit der Hand und blickte an dem etwa zwanzig Meter hohen, kegelförmigen Turm empor: „Sitzt da nicht einer auf dem Dach?“ „Wahrscheinlich 'ne Möwe! „ meinte Gérard. Sein Funkgerät eifrig schwenkend, kam Henri die Böschung herabgestürmt. Atemlos meldete er: „Da oben hockt einer! Ich bin auf die Lok gestiegen, außerdem liegt die Schiene schon ziemlich hoch - kein Zweifel, das ist der Dieb!“ „Gib mir das Funkgerät und halte den Detektor“, sagte Superhirn. Er funkte das Institut an und sprach mit Tati. Das Mädchen berichtete, die kleinsten Minis seien nur noch zwischen 18 und 19 Zentimeter hoch. „Aber der Forschungsminister ist jetzt hier. Er will mit seinem Sohn sprechen und ihn zur Vernunft bringen. Wo seid ihr ... ?“ „Am neuen Wasserturm!“ erwiderte Superhirn hastig. „Ich will nicht länger warten. Wir gehen hinein. Ich versuche, den Burschen mit dem Detektor zu überwältigen. Der sitzt da auf dem Dach und sonnt sich - und inzwischen läuft die Uhr ab. Nein, so haben wir nicht gewettet!“ Von Tati kam keine Bestätigung. Der Funk war plötzlich wieder gestört. Superhirn reichte Henri das Gerät und griff nach dem Würfel. Er stapfte über die von Pfützen und winzigen Seen blinkende Wiese auf den Wasserturm zu. Die Freunde folgten ihm. Loulou, der den Weg bereits - eher schwimmend als laufend - zurückgelegt hatte, hopste mit lautem Gebell an der Rundwand hoch. „Kommt nicht in Frage, daß du da allein reingehst“, sagte Henri zu Superhirn. „Der Dieb könnte 'ne Pistole haben! Hast du daran schon gedacht?“ „Erst muß ich ja mal einen Zugang finden“, erwiderte Superhirn gelassen. „Selbst, wenn der Bursche 'ne Tür im Turm aufgebrochen hat - wer sagt, daß er sie nicht irgendwie hinter sich verriegelte?“ „Was signalisiert der Detektor?“ wollte Gérard wissen. Superhirn blieb stehen: „Auf allen Flächen erscheint das Wort: Pulk'! Nichts anderes als immer nur Pulk'!“ Er schüttelte den Kopf: „Lehr mich einer, das Innenleben des Geräts zu erforschen! Ich glaube, der Kasten ist manchmal wirr. Im Institut schrumpfen die Minis inzwischen weiter!“ fügte er hinzu. „Wir gehen in den Turm hinein!“ „Hier ist eine Tür“, ließ sich Prosper vernehmen. „Na ja - eigentlich eher eine Klappe!“ entgegnete Prosper. „Die Schwelle liegt verdammt hoch. Ohne Klimmzug kommen wir da nicht rüber!“ „Wir sind zwar allesamt nicht mehr frisch“, meinte Henri, „aber das schaffen wir noch! Ich hebe erst mal Loulou hinauf!“ Drei Minuten später befanden sich die vier Freunde im Vorraum des Wasserturms. „Wo ist denn hier die Treppe?“ wunderte sich Prosper. „Ich sehe nur silbrige Stangen! Eine Sprossenwand - wie in einer Turnhalle!“ Die Jungen hangelten sich an diesen Stangen aufwärts und gelangten durch eine Öffnung auf eine Plattform. Hier ruhten sie sich aus. „Was sagt der Detektor?“ fragte Henri. „Nichts!“ murmelte Superhirn. „Er scheint zu streiken. Merkwürdig ...“ Doch dann raffte er sich auf: „Weiter! Der Kasten wird reagieren, wenn wir uns der Dachluke nähern. Ich vertraue darauf, daß wir den Dieb samt Filter damit bannen! Wäre das in irgendeiner Situation nicht möglich, so hätte uns mein Onkel niemals gehen lassen! Nie!“ Ammer noch keine Treppe!“ keuchte Prosper.
Die Freunde kletterten ein Rundgitter empor. Gérard trug den Pudel wieder im Anorak. „Daß der Dieb mit dem Filter diesen Aufstieg geschafft hat!“ staunte Henri. Erleichtert stellte er fest: „Wieder eine Plattform. Laßt uns verschnaufen!“ Die Jungen setzten sich auf den Boden. „Komisch“, murmelte Superhirn. „Ich höre keine Pumpe und kein Wassergeräusch! Nirgends summt ein Aggregat ...“ „Ist doch ganz gleichgültig, oder?“ fragte Gerard. „Der Filterdieb ist bis aufs Dach raufgekommen, und ich sehe nicht ein, warum wir das nicht auch können!“ Henri blickte nach oben. „Ich sehe keinen Weg! Über uns ist eine glitzernde Decke! ja - als ob da die Welt mit Flimmersteinen versperrt wäre!“ Auch Prosper reckte den Hals: „Steine, ja. Ganz dicht beieinander! Sieht aus wie eine K-kkläranlage. wird nicht Flußwasser durch Kiessiebe gefiltert?“ Bei dem Wort „gefiltert“ zuckte Superhirn zusammen. in dem gespenstischen Glitzerlicht, das von den Steinen ausging, wirkte sein Gesicht käsebleich. Er stand mühsam auf. Fast krächzend sagte er: „Kinder! Wir waren bescheuert, in diesen Turm zu gehen - und - und darin hochzuklettern. Prosper hat mir die Brille geputzt!“ „Iiich ... ?“ fragte Prosper verblüfft, „Ja, du!“ brachte Superhirn stoßweise heraus. „Begreift ihr nicht? Das ist kein Wasserturm! Das Wort ,gefiltert' hat mir schlagartig die Augen geöffnet!“ „Ja, aber... „, begann Henri. Dann verstand er. Sein Blick wurde starr. „Was habt ihr denn?“ rief Gérard. „Jetzt weiß ich!“ schluckte Prosper. „Wir - wir sitzen nicht in einem Pumpwerk - oder worin auch immer, wir sitzen - in dem geklauten Filter!“ Einen Augenblick herrschte tiefe Stille. Endlich stöhnte Superhirn: „So ist es! Tati warnte vor fotonischen Energien. Das sind vor allem Sonnenstrahlen, Naturkräfte, wie sie das Leben der Pflanzen beeinflussen! Der geklaute Filter ist nicht nur schwerer geworden, er hat sich explosionsartig vergrößert! Er besteht ja aus Biomaterial sowie aus Kristallen und Metallen, wie sie in und über der Erde vorkommen! Und das ganze Zeug, noch dazu dem chemiehaltigen und radioaktiv verseuchten Regen ausgesetzt, schoß an der 10-km-Grenze im Zeitraffertempo gen Himmel! Der Dieb sitzt nicht mit dem Filter auf dem Dach, sondern er sitzt auf dem Dach des riesig gewordenen Filters!“ „Und kein Hund riecht das!“ brummte Gérard, den verstörten Pudel in den Anorak zurückstopfend. „Raus hier! Runter, so schnell wie möglich!“ Den Freunden wurde bitter klar und immer klarer, wie richtig die Erkenntnis Superhirns war. Sie befanden sich in den enorm gewachsenen „Innereien eines Laborgeräts. Deshalb auch keine Treppe, kein Geländer, nichts dem „Fußgänger“ Angepaßtes. War der Aufstieg schon mühselig gewesen, so wurde der Abstieg zur Qual. In den Köpfen verhedderten sich die Gedanken, die Glieder wurden schwerer und schwerer. Und als sie endlich den „Turm“ verlassen hatten, sanken alle fünf - die vier Jungen und der Pudel - trotz des feuchten Untergrundes in tiefen Schlaf . . Henri erwachte durch das Piepsen des Funkgeräts. Benommen tastete er danach. Doch als er Tatis Stimme hörte, war er sofort hellwach. „So meldet euch doch endlich!“ schrie das Mädchen. „Es ist 17 Uhr! Die kleinsten Minis sind nur noch 13 Zentimeter hoch! Der Experte aus Paris versucht verzweifelt, den kaputten Ersatzfilter zusammenzusetzen. Kommissar Rose ist auch längst da! Er steht mit einem Hubschrauber beim neuen Wasserturm von Brossac-Baie! Dort findet er euch nicht!“ „In Brossac-Baie kann er uns ewig suchen!“ erwiderte Henri. „Der Turm, neben dem wir zu Boden gegangen sind, ist der Filter ...!“ „Der - waas ...?“
Jetzt fuhr Superhirn hoch. Er griff nach dem Detektor. Der Pudel floh zum Bahndamm und jaulte. Prosper und Gérard standen schwankend auf. In der Nachmittagshitze dampften die feuchten Anoraks. Als Superhirn sich die Lage klargemacht hatte, sprach er mit Tati: „Rose ist da? Er soll sofort per Hubschrauber zur Werkstrecke kommen! Orientierungspunkt: Bergungslok auf dem freien Bahndamm. ich versuche mein Glück inzwischen mit dem Detektor!“ Die Jungen flohen das riesige Gebilde, das sie für einen Wasserturm gehalten hatten. Henri schimpfte: „In der ganzen Gegend stehen solche kegel- oder pilzförmigen Silos herum. Jedes Jahr kommen neue dazu! Wer hätte ahnen können ...?“ Superhirn unterbrach ihn: „Jetzt versteh ich das: Das Suchgerät mußte die Situation erst verkraften! Aber es hat uns gerettet! Wir sind im Pulk geblieben, immer in der Gruppe! Sonst hätte uns der Schreckensturm festgehalten - wie den Dieb da oben!“ Keuchend erklommen die Freunde den Bahndamm. „Und ich bin vielleicht ein Pilzkenner!“ stammelte Prosper. „Das Ding steht ja kopf!“ Tatsächlich stand das vergrößerte pilzförmige Gerät mit dem Teller nach unten. Der „Pilzhut“ bildete eine Art Sockel, aus dessen Mitte der nach oben hin breiter werdende Stiel ragte. Der Dieb saß also nicht auf dem Dach, sondern er klebte in etwa zwanzig Meter Höhe auf dem flachen Ende des Stiels! Der Biomat war gewachsen, der an ihm, klebende Bursche hatte sich auf die Rundkante verlagert. Und dort briet er nun seit Stunden in der Sonne! „Achtung!“ rief Superhirn. „Jetzt heißt es wirklich: alles oder nichts! Gérard, nimm den Pudel hoch.. .!“ Prosper ging hinter der Bergungslok halbwegs in Deckung. Der Detektor in Superhirns Händen begann zu arbeiten. Auf jeder der sechs Flächen erschien eine Zahl. Dazu die Weisung: „Schirm 4, rechte Oberkante auf Objekt richten. Sensor drücken.“ Vor den Augen der Freunde begann der „Wasserturm“ zu „schmelzen“. Wie Schokolade in der Sonne sank er in sich zusammen, verflüchtigte sich scheinbar, als würde er nichts, rein gar nichts zurücklassen. Doch am Ende des fünfminütigen Prozesses - lag ein Mann auf der nassen Wiese: der Dieb, Valery Commard de Sully, mit dem annähernd armlangen Stiel des pilzförmigen Filters in der rechten Hand. Und nun „funkte“ der Detektor gelbe Blitze. Superhirn näherte sich dem ohnehin völlig erschöpften Dieb, löste das Gerät aus seiner Hand und reichte es Gérard. Dann beugte er sich über den Liegenden. „Den hat allein schon die Hitze mattgesetzt“, murmelte er. „Der tut niemandem etwas ...“ Loulou sprang knurrend um den Bewußtlosen herum. „Ja, bewach ihn nur!“ grinste Superhirn. Aber nun betrachtete er das „zurückerbeutete“ Gerät: „Wen das Schaden genommen hat“, seufzte er, „war alles umsonst!“ „Der Hubschrauber kommt! rief Prosper. Um 17 Uhr 30 landete die Maschine neben dem Bahndamm. Mit dem Piloten und einem Assistenten näherte sich der schnauzbärtige, den jugendlichen wohlbekannte Kriminalkommissar Rose. „Wo ist der Filter?“ schrie er. „Her damit! Rein mit dem Burschen in den Hubschrauber!“ Er wandte sich an die Freunde. „Tut mir leid - ihr müßt sehen, wie ihr ins Institut kommt. Der Filter muß geprüft und eingebaut werden. Hoffentlich klappt der Vergrößerungsprozeß ...“ Der Hubschrauber entschwand. Henri sprach über Funk mit Tati: „Aktion beendet. Zweieinhalb Stunden vor Ablauf der Frist!“ „Freuen wir uns nicht zu früh“, erwiderte die Schwester. „Kybers Kopf ist nur noch so groß wie eine Kirsche!“ „Wie ich den kenne, wird er seine Birne schon wiederkriegen“, meinte Henri grinsend. „Hallo, Tati? Wir kommen über das Werkbahngleis. Unsere Fahrräder holen wir später!“
Gérard atmete erleichtert auf: „Wenigstens bleibt uns der marsch durch die Teufelsohren erspart! Wir machen 'ne hübsche Spazierfahrt mit dem Schienenauto. Zur Erholung einmal rückwärts ...“ Doch vom Depot aus mußten sie wegen des geborstenen Untergrundschachts zu Fuß auf dem überschwemmten Gleis weitertappen. Prosper begann zu bibbern. „Kinder, wenn ich bloß die feuchten Klamotten vom Leib hätte! Und der Gedanke an ein Bett - haaach ...!“ „Ich hab erst Ruhe, wenn ich weiß, daß die Minis wachsen“, murmelte Superhirn. „Wie die Pilze nach dem Regen!“ fügte Henri hinzu. „Falls alles gutgeht, verdient Loulou eine Sonntagsmahlzeit. Der hat uns bald mehr genutzt als diese Kekskiste von Detektor!“ Sie tappten aus dem unterirdischen Schacht in eine hell erleuchtete Halle und sahen die dort abgestellten Loks und Waggons der Werkbahn, Auf der Rampe neben dem Hauptgleis standen Tati und Micha! Der Pudel jaulte freudig auf. Micha hob ihn aus Gérards Händen zu sich herauf. „Wie steht's?“ rief Superhirn den beiden wartenden zu. „Alles okay!“ erwiderte Tati. Ihr Gesicht glänzte. „Dein Onkel war als erster wieder voll da!“ „Der Filter funktioniert?“ Superhirn sprang auf die Rampe und umarmte die Geschwister. „Klappt toll - diese Biomolekular-Berieselung - auch bei den anderen Minis!“ berichtete Micha strahlend. „Der Forschungsminister, der seinem Sohn zu dem Laborposten verholfen hat, schreibt sein Rücktrittsgesuch. Und der Dieb sitzt schon auf der Polizeistation!“ „Damit hätten wir uns eigentlich einen roten Teppich verdient!“ meinte Prosper grinsend. „Und wir?“ rief Tati. „Wir haben schließlich hier die Stellung gehalten. Ist das nichts?“ „Ohne euch wäre Kyber geliefert gewesen“, bestätigte Superhirn. „Eure Nachrichten sind für uns ein großer Bahnhof!“ „Auf den roten Teppich verzichte ich“, seufzte Gérard. „Darauf habe ich keinen Appetit. Aber auf ein Essen, ein richtiges Essen, sag ich euch, habe ich einen Heißhunger ...“ „Nun steig mal erst auf die Rampe“, lachte Tati. „Für deinen Heißhunger wird sich Prosper etwas ausdenken. Wozu ist er Hobbykoch?“ „Für heute ist mir die Kochlust vergangen!“ ächzte Prosper. „Etwas Trockenes an den Leib und dann eß ich, wenn es sein muß, einen leeren Teller!“ „Muß nicht sein“, amüsierte sich Tati. „Madame Dingdong und ich - wir sind ja auch noch da!“
ENDE