Abram hob seinen Arm, benutzte beide Hände und brachte den Stein in die Höhe und stieß ihn so fest er nur konnte zwisch...
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Abram hob seinen Arm, benutzte beide Hände und brachte den Stein in die Höhe und stieß ihn so fest er nur konnte zwischen die Beine des anderen. Es krachte, und etwas zerbrach in dem fremden Körper. Othellos Bein hörte auf sich zu nähern und verharrte steif, nutzlos. Abram schaukelte auf den Fersen nach hinten, nach vorn und schmetterte den Stein noch einmal gegen den Angreifer. Othello schwankte und stürzte zur Seite. Abram kroch an seinem Körper hinauf und schlug mit dem Stein immer und immer wieder gegen die Brust. Unfähig, sich selbst Einhalt zu gebieten, wurden seine Hände und Arme über und über naß von Öl und künstlichem Blut ...
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31030 im Verlag Ullstein GmbH. Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: SUNSHINE 43 Aus dem Englischen übersetzt von Michael Nagula Deutsche Erstausgabe Umschlagillustration Dell Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1978 by David G. Penny Übersetzung © 1981 Verlag Ullstein GmbH. Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1981 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH. Gütersloh ISBN 3 548 31030 3 September 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Penny, David G.: [Sunshine fourty-three] Sunshine 43: Roman/David G. Penny. – [Aus d. Engl. übers. von Michael Nagula]. – Dt. Erstausg. – Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein, 1981. (Ullstein-Buch; Nr. 31030: Ullstein 2000: Science-fiction) Einheitssacht.: Sunshine fourty-three «dt.» ISBN 3-548-31030-3 NE:GT
David G. Penny
Sunshine 43 Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
Nachwort von Michael Nagula
Science Fiction
Für meine Eltern
1. Der Angreifer Abram saß auf einer abfallenden Böschung, seine Unterarme auf die Schenkel gestützt, und starrte auf den Fluß hinunter, beobachtete die ferne Gestalt Leenas, die durch das Wasser watete, dort, wo es über eine Kiesbank strömte. Sie erreichte die gegenüberliegende Böschung und kletterte hinauf, schritt weiter, ohne sich umzusehen. Abram griff zur Seite, hob seinen Lendenschurz auf und hielt den Streifen staubigen Stoffes in seiner Hand. Es hätte nicht auf diese Art geschehen dürfen, dachte er. Leena war hiergewesen, hatte ihren Jupon von den Brüsten gleiten lassen und hätte sich wohl völlig entkleidet, wenn nicht die Kinder gekommen wären. Sie waren auf dem Kamm erschienen, lachend und schreiend, wie Kinder es tun. Sie hatten das Paar nicht im hohen Gras liegen sehen, doch Leena hatte sie gehört, das schwankende Gras erblickt, auf dem sie entlangliefen, und das hatte genügt. Sie hatte sich erhoben und ihr Oberteil wieder bis zu den Schultern gezerrt und war von Abram weggerannt, ohne zurückzuschauen, hatte ihn sich selbst überlassen und der Frage, warum immer ihm das geschah. Er seufzte und kniete sich hin, legte sich seinen Lendenschurz um, führte den Streifen Stoffes zwi-
schen seinen Beinen hindurch und befestigte ihn an dem Lederriemen über seiner Brust. Vielleicht hatte sie heute auch einfach nicht lieben wollen. Nicht ihn. Wenn es das gewesen war, warum war sie dann den langen Weg bis hierher überhaupt mit ihm gekommen? Sie muß gewußt haben, warum er sie hierher führte; selbst Leena konnte nicht so dumm sein. Ihre kleine Gestalt verschwand, als sie das Waldland betrat, und Abram wandte seinen Blick von der Ebene ab. Ein weiter, tiefblauer Himmel spannte sich über ihm, und um ihn herum stand das Land in voller Blüte. Langes Gras mit schaukelnden Blütenkelchen schüttelte Wolken von Pollen frei, Bäume waren mit dichtem Blattwerk versehen, Blumen wuchsen in einzelnen Haufen, als hätte sie jemand vor langer Zeit hier gepflanzt. Und dann sollte Leena nichts für ihn empfinden. Konnte das sein? Das beantwortete seine Frage nicht – warum sie mit ihm gekommen war? Neugier? Sie könnte versucht haben herauszufinden, was er wirklich wollte. Aber hatte sie das nicht schon gewußt, als sie das Dorf verließen? Er schüttelte den Kopf. Nein, nicht einmal Leena war so kurzsichtig.
Er seufzte und hob eine Hand, strich sich über den kahlen Schädel, fühlte die leichte Nässe von Schweiß auf seiner Haut. Sein Kopf und sein Gesicht waren ebenso haarlos wie der Rest seines Körpers. Magere Arme und Beine, eine schmale Brust und ein flacher Magen. Er war groß und schlank und bewegte sich mit Anmut. Zwischen seinen Fingern – langen Fingern – befanden sich dünne Membranen. Nicht die Schwimmhäute von Amphibien, sondern hauchdünnes faltbares Gewebe, das durchsichtig wirkte, wenn man es gegen den Himmel hielt. Die Membranen schränkten die Bewegungsfreiheit seiner Finger in keinster Weise ein; hatte er etwas in der Hand, so falteten sie sich beiseite. Auch seine Füße waren anders, die Zehen nahmen fast die halbe Länge des ganzen Fußes ein und waren ebenfalls durch hauchdünnes Gewebe miteinander verbunden. Das waren seine Andersartigkeiten, und er mußte mit ihnen leben. Sein Gesicht war schmal, und seine Wangenknochen stachen hart hervor, schienen natürliche Ränder um seine Augen zu bilden, um seine großen blassen Augen. Sein Mund war breit, mit dünnen Lippen; kein häßliches Gesicht, aber auch nicht gerade hübsch. Anders. Er schwitzte und wußte, daß er aus der Sonne gehen sollte, doch er fühlte sich müde und deprimiert,
und es war einfacher sitzenzubleiben, wo ihn das hohe Gras versteckte, und in den Himmel zu starren. Er war anders, und die Leute hier ließen ihn für sein Anderssein büßen. Vier Tagesreisen in nördlicher Richtung gab es eine Kolonie von Mutanten, wo er willkommener wäre. Er war einmal dort hingegangen, nachdem man ihn aus einem nahe gelegenen Dorf hinausgeworfen hatte, und es war für eine Weile recht schön gewesen. Aber es war nichts für ihn. Nicht für immer. Er fühlte sich nicht so, nicht entstellt oder seltsam wie die Mutanten. Er war ein Mensch, ein echter Mensch, wenn auch mit Schwimmhäuten an Händen und Füßen. Was war daran falsch? Und Leena, warum du? »Wo bist du gewesen?« Leena blieb stehen und drehte sich um, damit sie Axtar ansehen konnte. Sie trat in den Schatten des Baumes, wo er stand, sein magerer, alter Körper von einem langen Mantel verhüllt, der verhinderte, daß irgendein verirrter Sonnenstrahl seine Haut traf. Er war das größte Mitglied des Stammes, aber es geschah selten, daß er das zeigte, die meiste Zeit schritt er mit gebeugtem Rücken und hängenden Schultern einher, gab sich den Anschein, volle sechs Zentimeter kleiner zu sein, als er war. Sein langes, glänzendes Haar war in der Kapuze seines Mantels verstaut, und
seine blassen Augen huschten nervös über die lohfarbene Haut des Mädchens, als sie ihr Gewicht auf ein Bein verlagerte und darauf wartete, daß er sprach. Sie schüttelte ihren Kopf, und das Haar fiel über ihre Schultern zurück, dunkel und schwer. »Nun?« fragte Axtar. »Spazieren«, erwiderte Leena. »Hmm.« Axtar nickte und verschränkte seine Arme noch fester vor der Brust, zog den Mantel noch enger zusammen. »Mit wem?« »Warum?« »Ich habe ein Recht, es zu wissen.« »Das ist privat.« »Vielleicht.« Er nickte mit dem Kopf und murmelte: »Obwohl ich's gern wissen würde.« »Und was ist, wenn ich's tat, was wäre daran falsch?« »Du warst mit Abram weg?« »Ja, ich war mit Abram weg.« Leena wünschte, daß sie den Anflug von Trotz in ihrer Stimme beseitigen könnte, sie wollte nicht, daß er mitklang, doch er brach durch. Axtar nickte erneut, murmelte einen Tadel, ohne ihn eigentlich offen auszusprechen. »Was hast du getan, Leena?« Seine Stimme klang resigniert. »Wir gingen bloß spazieren. Das ist alles. Wir gingen zum Kamm hinauf, und dann verließ ich ihn ...«
»Hast du ihn wieder aufgezogen, Leena? Eines Tages wirst du zu weit gehen, dann wird es nichts mehr nützen zu beteuern, daß du es nicht so meintest. Er ist stark, der Junge.« »Und ...?« »Leena, das solltest du nicht tun. Nicht mit ihm.« »Warum? Was ist falsch an Abram, daß ich nicht etwas Zeit mit ihm verbringen darf?« »Er ist nicht wie der Rest von uns, Leena.« »Weil er kein Haar hat? Was ist daran falsch? Mein Vater hat auch kein einziges Haar.« »Dein Vater ist alt. Abram ist noch jung. Er hatte niemals Haar. Und du weißt, daß das nicht alles ist, Leena.« »Ich mag ihn, wie er ist.« »Leena!« »Nun, warum nicht!« Axtar seufzte und trat weiter in den Schatten zurück, als ein Strahl Sonnenlichts sich im Saum seines Mantels verfing. Sein blasses Gesicht war gesprenkelt von dem durch die Blätter grüngefärbten Licht, und als Leena ihn betrachtete, bekam sie auf einmal Angst, so als wäre er etwas Seltsames, etwas um vieles Erschrekkenderes, als Abram es jemals sein konnte. »Du bist noch sehr jung, Leena. Wenn du älter bist und erst eine eigene Familie hast, wirst du besser verstehen.«
»Abram wird niemals eine Familie haben, nicht wahr?« Axtar schüttelte den Kopf. »Ich bedaure ihn manchmal ..., er ist so allein.« »Wir können das nicht ändern.« »Armer Junge ...« Sie brach ein Blatt vom Baum und schritt hinaus auf den sonnenüberfluteten Pfad. Axtar beobachtete, wie sie sich bewegte, wie ihre dunkelbraunen Beine und Schultern die Sonne lockten. Er schüttelte ein letztes Mal den Kopf, stülpte sich seine Kapuze über und rannte in die Sonne hinaus. Schnell trabten seine schwachen alten Beine dahin, um ihn zu seiner Hütte zu bringen, wo es dunkel war. Abram weinte. Er beweinte den Himmel, der so passiv zwischen den Horizonten hing und ihn mit seiner Ruhe zu verspotten schien. Er beweinte das Gras und die Bäume, weil sie so alt waren und schon so viel gesehen hatten. Am meisten aber beweinte er sich selbst wegen seines Schmerzes. Er rannte den Kamm entlang, seine Beine brachen durch das hohe Raigras, und seine Schenkel bedeckten sich mit Pollen. Er rannte weiter, bis er den Fluß erreichte, und hechtete von der Böschung, fühlte das kalte Wasser sich über seinem Kopf schließen und auf seiner Brust brennen, spürte das mit Kies übersäte
Flußbett an seinem Bauch schaben. Er durchstieß die Wasseroberfläche und schwamm mit kräftigen Stößen stromaufwärts, um die Wut aus sich herauszutreiben. Er schien im Wasser besser zu werden, kühl und sauber, wie es zu beiden Seiten an ihm vorbeiströmte, dieser Sinnestaumel, der seinen Körper durchfuhr. Es schien ein schöner Ort zu sein. Schließlich hielt er inne. Er drehte sich auf den Rücken und ließ sich vom Fluß stromabwärts tragen. Er trieb dahin, geistig wie körperlich, seine Augen nun ruhig, blaß und fast weiß, die Hornhaut ein helles Gelb, das in der Sonne alles Licht absorbierte, die Pupillen winzige schwarze Punkte. Er starrte in den Himmel, diesen verdammten Himmel, der so weit war, so blaß, tief und leer. Er trieb ans Ufer, verharrte und ließ das Wasser neben sich vorbeifließen, seinen Schmerz mit sich nehmend. Er wollte nicht anders sein. Warum machten sie ihn anders? Es hatte doch gar keinen Sinn. Er wäre wie sie, wenn sie ihm nur die Möglichkeit gäben. Nur weil ich kein Haar besitze? Kann es das sein? Mit den Bildern in seinem Kopf. Es kann. Leena ...! Er schloß seine Augen und stellte sich vor, wie sie
sich bewegte, vor ihm herschritt, wie ihre Beine das Gras durchstreiften, sie sich umdrehte und den Arm ausstreckte, um ein Blatt von einem Baum zu pflükken, und wie die Haut ihres Halses sich fest und samten spannte, ihre Brüste unter den Körbchen sich hoben, wie sie sich bückte, bis ihre vollen Rundungen sich in Höhe ihrer Schenkel befanden. Er wußte, daß sie unter ihrem Kleid nackt war, das war sie immer. Es erregte ihn. Wie er aus seinem Lendenschurz geschlüpft war und nackt vor ihr stand, sich anbot. Sie war ihm ganz nahe gewesen, die Hände auf den Hüften, hatte ihn angestarrt, und fast wäre es dazu gekommen, wenn sie nur wenige Augenblicke mehr gehabt hätten. Kann das sein? Ich ...? Am Ende hatte er sie berührt. Sie hatte sich ihm entwunden, und ihre Augen hatten sich geweitet, ihn angestarrt, in seine eigenen blaßblauen Augen ohne Lider gestarrt, kein einziges Haar im Gesicht, seine Haut so furchtbar glatt. Dann hatte sie den Träger von ihrer Schulter gleiten lassen und ihm ihre Brüste gezeigt. Und dann ... die Kinder, verdammt noch mal, die Kinder! Leena war die Böschung hinuntergerannt, das Gelächter war verklungen, während sie sich entfernte, und ihre langen Beine und ihr Rücken hatten das Gras durchstreift. Was für ein Körper.
Plötzlich öffnete er seine Augen und starrte die Böschung hinauf; sie war hoch hier, geschaffen aus dem schweren Lehm des Landes, der in den Fluß fiel und ihn braun färbte. Auf dem Grat, der sich silhouettenhaft vor dem Himmel abzeichnete, eine zerklüftete Linie aus Schmutz und Graswurzeln. Und ein Gesicht. Das zu ihm hinabstarrte, ein dunkles Gesicht, der Kopf so haarlos wie sein eigener. Er drehte sich herum und setzte sich auf, starrte das Gesicht an. Beide starrten einander an, fünf Meter braunen Flusses zwischen sich. Abram öffnete seinen Mund, um zu sprechen, entschied sich dann anders. Er konnte sich nichts denken, worüber zu sprechen sich lohnen würde. Der Kopf war glänzend und glatt, die Haut dunkel, sehr dunkel, ebenso die Augen, so daß er nicht sehen konnte, wo im Gesicht sie sich befanden. Der ganze Kopf schien das Sonnenlicht in sich aufzunehmen. »Ich ...«, sagte der Kopf, eine tiefe Stimme, dunkel, rauh, die die Wörter hervorstieß, als würden sie selten benutzt. Abram wartete. »Ich ... ich ...« Der Kopf schüttelte sich auf einmal und zog sich zurück. Abram hechtete aus dem Wasser und krabbelte die zerbröckelnde Lehmwand hinauf, fiel hinunter. Er rannte durch den Schatten zu ei-
ner flacheren Stelle und sprang auf die Grasnarbe hinauf. Es war eine große Gestalt, die durch das Gras wegrannte, ihr Körper glühte schwach in der Sonne. Abram begann ihr hinterherzurennen, hielt dann inne. Sie war schon zu weit entfernt und zu schnell. Er stand da und beobachtete, wie die Gestalt den Kamm überquerte und verschwand. Er drehte sich um und schritt zum Fluß zurück, dachte nach. Das Dorf war kreisförmig angelegt; eine Reihe von Hütten bildete den Außenring, andere Reihen erstreckten sich zum Zentrum hin, vier Speichen in einem Rad. Im Zentrum selbst befand sich der Dorfplatz mit einem Brunnen und alten Bäumen, in deren Schatten man sich zurückziehen konnte. Abrams Hütte lag etwa zweihundert Meter nordöstlich des Außenringes, stand neben einer einsam sich erhebenden Eiche. Ein schmaler, holpriger Pfad führte durch das Gras dorthin, doch wurde er selten benutzt und war nicht viel mehr als eine durch die Vegetation geschlagenen Bresche. Niemand außer Abram hielt sich jemals in der Nähe der Hütte auf. Der Android lebte in einer Stadt, die man in einem
Hohlraum erbaut hatte, der sich im Innern eines Berges befand. Sie konnte nur durch eine Anzahl verschiedener Tunnel erreicht werden, und der letzte Abschnitt führte über eine schmale Stahlbrücke, die einen See überspannte; die Brücke war alt und morsch; hier und da war schon der schieferfarbene Metallboden durchgerostet und hatte Lücken hinterlassen, die man überklettern mußte. Bald würden die Lücken sogar zu breit sein, um über sie hinwegspringen zu können, und dann war die Stadt abgeschnitten. Die Androiden hatten nicht gewußt, wie man eine Brücke reparierte. Die Gebäude waren alle gleich alt und gleich verrottet. Einstmals hoch und vielleicht recht schön, war ihre Schönheit jetzt verblaßt. Doch an manchen Stellen schimmerte noch etwas ihres alten Aussehens durch, ein matter Abglanz vergangenen Ruhms. Es war nur eine kleine Stadt, kaum eine Stadt zu nennen; einen halben Kilometer lang, zweihundert Meter im Durchmesser. An einem Ende erhob sich ein großes Gebäude mit zerschlissenem Dach und einem Turm. Das Dach war aus Kupfer, schimmerte dunkel im fahlen Licht des Höhleninnern. Das einzige Licht kam von einem Loch in der Decke der Höhle, einem kleinen Loch, das nur einen einzigen Strahl hindurchließ, der niemals ganz die Stadt erreichte, sondern einen Kreis beschrieb, ganz so wie die Sonne
sich an dem unsichtbaren Himmel über ihnen bewegte. Der strahlende Kreis fiel glühend auf den See. Wo er ihn traf, war das Wasser tiefblau und klar, sehr ruhig und kräuselte sich nirgends. Einst hatten hier Menschen gelebt. Nun waren sie alle fort. Sie hatten ihre Diener zurückgelassen. Paranoide Menschen, die sich von etwas bedroht gefühlt hatten. Nun waren auch beinahe alle Androiden fort. Nur einer harrte noch aus. Die Stadt gab metallene Echos der Schritte zurück, als er durch die Straßen und über die Plätze schritt. Er verbrachte die meiste Zeit damit, einfach durch ihre verblaßte Pracht zu laufen. Manchmal betrat er eines der Gebäude und lud seine Batterien neu auf. Zu anderen Zeiten ging er hinein und setzte sich auf einen Stuhl und besah sich die Bilder, die überall hingen, in allen Gebäuden. Er pflegte dann vier Stunden zu sitzen, nur eine einzelne Leinwand zu betrachten, darauf zu warten, daß etwas geschah. Er konnte sich erinnern, wie noch sein Herr hier gesessen und die Bilder betrachtet, gelächelt, genickt und anderen Menschen erzählt hatte, wie schön das war, diese Perfektion der Linie, dieses Einfangen von Licht und Schatten, der sanfte Hinweis finsterer Zwänge im Hintergrund. Der Android erwartete, daß eine Ekstase über ihn hereinbrechen würde. Aber sie kam nie.
Gelegentlich pflegte er die Stadt zu verlassen, die schwankende, verfallende Brücke zu überqueren und in das Sonnenlicht hinauszutreten. Dort draußen lebten die Wesen, die seinen Herrn ermordet hatten. Er konnte sich daran erinnern, wie der alte Mann in seinem Bett gelegen hatte, sein Gesicht und sein Körper geschwollen und rot, wie sein Haar ihm in Büscheln ausgefallen war, seine Augen eingesunken und tief umrandet, und wie er gekeucht hatte: »Sie taten es. Dort draußen ... Sie und die Welt ... taten uns das an. Sie brachten uns um. Alle ... Sie konnten nicht anders, als uns ... umzubringen. Und doch ...« Es war ein langsamer Tod gewesen, und als sein Herr vor Schmerzen aufgeschrien und weitergeschrien hatte, weiter und weiter, hatte er ihn rasch getötet, ein harter Schlag auf den Schädel mit seiner metallenen Faust. Draußen, in der Welt, hatte er dann Rache genommen an den Wesen, an denen sein Herr Rache zu nehmen niemals die Möglichkeit hatte. Es war eine langwierige Arbeit, doch er war beharrlich. Mit der Zeit würde er sie alle umgebracht haben. Aber nun war es schwerer geworden. Er war der letzte. Alle anderen waren fort; einfach der Zeit oder einem Unfall zum Opfer gefallen, von der Brücke ins Wasser gestürzt, hilflos in dessen Finsternis versunken. Innerlich verrostet und niemals wieder bewegt,
erstarrt im Augenblick irgendeines Tuns, die Hände ausgestreckt, das Bein zum Gehen erhoben, den Kopf zur Seite gedreht. So daß man fast glauben möchte, alles hätte innegehalten, würde in zeitloser Zeit treiben, bis dann die Uhr wieder anliefe, sobald man nur einen Augenblick weggesehen habe – und der nächste Schritt erfolge, die Hand sich erneut bewege. Er saß nun in der kirchenähnlichen Halle und starrte das hohe Fenster mit seinem verzierten Glas an. Jenseits davon fiel ein Strahl des Sonnenlichts in den See, erhellte die Scheibe mit dem vom Wasser reflektierten Schimmer des Lichts. War das Ekstase, was er nun in seinem Innern fühlte? Oder bloß ein verirrter Strom in seinem Kreislauf ... Am Abend trafen sich die Dorfbewohner um den Brunnen herum. Sie kamen bei Einbruch der Nacht, um ihre Wassersäcke zu füllen und um unter den Bäumen zu sitzen und sich anzuhören, was im Laufe des Tages geschehen war. Reetar war nicht zurückgekehrt. Er war nach Süden in den Wald gegangen, um Wurzeln zu suchen. Das war früh am Morgen gewesen. »Ich sah ihn«, meinte ein junges Mädchen, das sich auf den Rand des Brunnens setzte, während seine Mutter die Kurbel drehte, um den schweren Eimer wieder heraufzuziehen.
»Wo?« Axtar wandte sich ihr zu, seine Kutte hing nun, da die Sonne untergegangen war, offen herunter und zeigte seine Skelettgestalt, die von blaßrosa Haut überzogen war. »Im Wald. Ich war dort mit Malam, und er tauchte hinter uns auf.« »Ist das alles?« »Ich ging dann heim.« Axtar wandte sich Malam zu, der allein saß und an einem Baum lehnte. »Ja, ich sah ihn auch«, bestätigte er. »Was geschah mit ihm?« Malam schüttelte den Kopf. »Vielleicht stürzte er ...« Axtar blickte ihn an. Niemand stürzte einfach. »Vielleicht erwischte ihn irgendein Tier?« »Im Wald?« fragte Axtar. »Nun, ich weiß nicht. Ich sah ihn nur für eine Minute, das war alles, und da tauchte er gerade hinter uns auf.« »Du sahst niemanden sonst?« »Wer war denn noch dort?« »Niemanden ...?« Malam schüttelte den Kopf. »Nein. Niemanden.« »Ich weiß, was ihn tötete.« Das unterschwellige Murmeln der Gespräche hörte auf, und die Dorfbewohner wandten sich Abram zu.
Er stand jenseits des Außenkreises der Bäume, wohl entfernt von dem kurzen Laubmoos. Er war ein dunkler, schlanker Schatten vor dem blaßblauen Himmel, sein Kopf unnatürlich deutlich. »Wir wissen nicht, was ihn tötete, sofern er überhaupt tot ist«, meinte Axtar. Der kahle Kopf nickte. »Er sah ihn. Ich sah ihn. Der ihn tötete. In der Nähe des Flusses, ein großer Mann, hager.« Das Plätschern von Wasser war zu hören, als die Frau den Inhalt des Eimers in ihren Sack goß. Die Frau warf den leeren Eimer in den Brunnen zurück, und er fiel hinunter, erreichte den Boden mit einem entfernten Aufklatschen. Das Mädchen verschloß den Hals des Sackes und hob ihn sich auf die Schulter. Die anderen Dorfbewohner wandten sich von Abram ab und begannen sich wieder zu unterhalten, aber bewußt mieden ihre Blicke dabei den Ort, an dem er stand. Als schließlich doch jemand in diese Richtung sah, war er fort. »Ich sah ihn ebenfalls«, flüsterte Malam dem Mädchen zu. Sie nickte. Die meisten von ihnen hatten ihn irgendwann schon einmal gesehen. Aber niemand redete davon. Sie wunderten sich, warum Malam es nun tat.
»Ich sah, wie er ihn tötete ... ihn entzweiriß ...« Er blickte weg, zu der größeren Gruppe, die sich unter den Bäumen versammelt hatte, wohl um sich ihres Vorhandenseins zu versichern. Er wirkte krank. Sie nickte wieder und schaute rasch zu ihrer Mutter, in der Hoffnung, daß sie bald kommen und ihr mitteilen möge, daß es an der Zeit war zu gehen. »Er sah wie Abram aus«, sagte Malam. »Kein Haar. Alles glänzend.« »Aber schwarz«, erwiderte das Mädchen. Malam blickte sie an. »Ja – schwarz.« Sie zuckte die Achseln und entledigte sich des Wassersacks, dessen Seile in ihre Schulter schnitten. »Willst du, daß ich ihn dir abnehme?« »Nein. Das schaffe ich schon. Ich gehe jetzt besser.« Er nickte, und sie schritt davon, um sich zu ihrer Mutter zu gesellen. »Ich frage mich, ob er wirklich etwas sah?« meinte Leena zu Axtar. »Wer?« »Abram.« »Oh – Abram. Es könnte sein.« Leena nickte und stand auf, strich sich mit den Händen über die Oberschenkel. »Gute Nacht, Axtar.« »Ja.« Fledermäuse schrien und flogen mit ledernen Schwingen über ihren Köpfen dahin, und Dunkelheit
brach herein, legte sich sanft über die Dorfbewohner und hüllte die Hütten ein. Abrams Hütte war groß. Mit hohem Dach, breit, tief, der Eingang wies nach Westen. Sie war größer als die Hütten im Dorf, die schon dafür bestimmt waren, einer Familie von fünf oder mehr Personen Unterkunft zu bieten. Abram brauchte den Platz. Mit Ausnahme eines kleinen Fleckens Boden am einen Ende, wo die Häute aufeinandergeschichtet lagen, auf denen er schlief, war die Hütte bis auf die üblichen Tische, Stühle, Vorhänge und einiges von den Dingen, die die meisten Hütten füllten und in Unordnung brachten, leer. Hier waren die Wände hinter Rechtecken aus Holz versteckt, die an den Wänden aus Grasmatten lehnten oder hingen; einige hoch und schmal, andere kurz und lang, manche fast quadratisch. Er hatte sie aus Bäumen gefertigt, die er selbst gefällt, geformt, zurechtgeschnitten, deren Holz er hatte reifen lassen und dann glättete, dessen Oberfläche er präpariert und schließlich bemalt hatte. Im Mittelpunkt der Hütte befanden sich drei Staffeleien, auch aus eigener Fertigung, ein einzelner Stuhl und ein flacher Tisch, dessen Oberseite mit Halbkugeln und Töpfen übersät war, die Pinsel, Farben, Gerbstoffe, Cremes, Wachse, Öle und Erden enthiel-
ten. In unmittelbarer Nähe seines Kopfes baumelte, wenn er arbeitete, eine einzelne Lampe mit einem großen Docht, der nicht zu hell brannte und Wolken schwarzen Rauches entsandte, die aufstiegen und unter das Dach schwebten, bevor sie durch den Bogen des Türrahmens verschwanden. Das Licht war schlecht zum Arbeiten, und er malte langsam, dachte über jeden Pinselstrich nach, bevor er ihn ausführte, und legte dann vorsichtig die Farben auf, voll Sorgfalt, schuf Lagen von Farben, Lage nach Lage, rief auf diese Weise einen fast schon dreidimensionalen Effekt hervor. In einem breiten Topf verwahrte er eine Glasur, die er aus dem Saft der Kiefer gewann, und damit bestrich er jede Farblage und bedeckte sie, sobald sie erst einmal trocken war, wieder mit einer Lage, einer erneuten Glasur, erschuf so verschiedene Lagen komplementärer Farben, die nur durch eine dünne Schicht reiner Glasur zwischen den jeweiligen Lagen voneinander getrennt waren, so daß schließlich ein Effekt eintrat, als würde man in das Bild hineinblicken. Er pflegte zuerst die Landschaft zu malen, eine mentale Welt, die nur in seinem eigenen Kopf existierte und in dem Bild, sobald er sie übertragen hatte. Öde Landschaften aus Staub und Fels und Sand. Dann überdeckte er sie und schuf somit einen strahlenden Glanz auf der trocknenden Farbe. Später fügte er die
Vegetation, Bäume, Blätter, Blumen und schmalhalmige Gräser hinzu. Eine erneute Glasur, dann Gebäude, Häuser, mehr Vegetation, Moos auf den Ziegeln, Insekten auf einer Wand; eine weitere Glasur; Leute. Nicht immer in dieser Reihenfolge. Manchmal kamen die Leute auch vor der Vegetation, elfengleiche Geschöpfe, die hinter den Bäumen hervorspähten. Einmal hatte er die Landschaft sogar zuletzt gemalt, und alles wirkte dann wie gefangen hinter einem Nebel aus Gebirge und Ebene. Er arbeitete nachts und am frühen Morgen, wenn die blasse Sonne durch eine Lücke in der Ostwand hindurchtrat. Es geschah aber immer in diesem letzten Licht, daß er seine zärtlichsten Werke schuf, Spinnen einfügte, die ihre Netze zwischen Ästen spannten, Farbflecke in Augen, Staubkörner auf einer Mauer, Flechten und Moose mit schmalen Blättern. »Schläfst du denn nie?« Er malte noch einen Augenblick weiter, fügte dem trockenen Bett eines Flusses ein tiefes Rot hinzu. Dann legte er den Pinsel auf den Rand des Tisches und drehte sich zur Tür um. »Nein, nie.« Leena nickte. Sie wußte, daß es der Wahrheit entsprach, es sich nicht bloß um Schreckensgeschichten für kleine Kinder handelte. Er schlief nicht – niemals. Saß die ganze Nacht beim Malen seiner seltsamen Vi-
sionen und verbrachte den Tag damit, draußen das Material zu sammeln, mit dem er malte. Sie betrat die Hütte, blieb am Rande des Lichtkreises stehen, der von dem rauchenden Docht erhellt wurde, und sein gelber Glanz huschte über den trokkenen Lehmboden zu ihren Füßen, näherte sich ihr und wich wieder zurück, als ein verirrter Luftzug die Flamme berührte. Abram beobachtete sie und wartete. »Hast du wirklich etwas gesehen?« fragte sie. Abram nickte. »Ich denke nicht, daß sie dir glauben. Nicht alle. Obwohl sie Malam glauben, was seltsam ist, nicht wahr?« Er antwortete nicht. Nur diese blassen Augen blickten sie an. »Weißt du – es war nicht nötig gewesen, daß du überhaupt etwas sagtest«, meinte sie. Er zuckte die Achseln. Nun war es geschehen. »Möchtest du etwas trinken?« Leena nickte, und Abram ging zu seinem Wassersack und goß zwei Becher voll, gab eine Handvoll getrockneter Blätter in jeden davon und reichte ihr einen. Ihre Finger berührten sich einen Augenblick, als sie ihn entgegennahm. Abram setzte sich wieder auf den Stuhl und beobachtete, wie sie näher ans Licht trat und sich niederkauerte. Ihr Haar und ihr Gesicht
waren feucht vom nächtlichen Regen, der nur jetzt fiel; Spuren von Nässe rannen über ihre Haut und den Stoff ihres Gewandes. Sie blickte sich um, stellte dann ihren Becher auf den Boden und beugte sich zu einem seiner Bilder hinüber. »Ich mag dieses.« Abram sah es an und erwiderte nichts. »Magst du es nicht?« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht. Obwohl es nicht so geworden ist, wie ich's hier drin hatte.« Er tippte sich mit der Spitze eines langen Fingers gegen die Stirn, die Membranen an seiner Hand fingen das düstere Licht des Dochts auf und erstrahlten. »Es verändert sich irgendwie, sobald es herauskommt, meinen Händen gelingt es niemals so recht, den Effekt zu bekommen, den ich will.« Er blickte auf seine Hände herunter, hob sie und spreizte die Finger, ließ sie dann zwischen seine Beine zurückfallen. »Obwohl es noch immer sehr schön ist«, sagte Leena. Auch sie starrte auf seine Hände. Sie wandte langsam ihren Blick ab, zurück auf die imaginäre Welt auf der Staffelei. »Das ist relativ, nehme ich an. Ich kann sehen, was ich erreichen will, du kannst nur sehen, was ich erreicht habe. Wenn du das Original sehen könntest, dann würde dir dies hier wohl nicht mehr so schön vorkommen.«
»Ich werde niemals dazu in der Lage sein«, sagte Leena. »Nicht einmal dazu.« »Schade, nicht wahr?« »Hmm.« Abram leerte seinen Becher und stellte ihn auf eine Ecke des Tisches, wo zwischen den Pinseln noch etwas Platz war. »Du malst deine Personen immer mit Haar«, bemerkte Leena. Abram drehte sich um und blickte sie an. »Die meisten Personen haben Haar.« »Du nicht.« »Ich möchte mich nicht in meinen Bildern wiederfinden – nicht auf diese Weise jedenfalls.« »Dieser Mann, der Reetar tötete, er hatte auch kein Haar.« Abram zuckte die Achseln. »Ich meinte nicht ... daß, weil er ... ich ...« Sie gab den Versuch auf und blickte durch eine Wolke dunklen Haares, das ihr über die Augen gefallen war, Abram an. »Vielleicht ist er mein Bruder im Geiste.« Leena schob das Haar mit ihrer Hand zurück und sah zu ihm hinauf. »Sag so etwas nicht, Abram ...« Er lächelte. Sie verstanden ihn nie. Immer waren sie so ernst, als ob ein bißchen ehrlicher Zynismus sie umbringen würde. Oh, sie lachten viel, lächelten die
ganze Zeit, aber es war ein Fragen in ihnen, sie konnten niemals Leute komisch finden oder gar die Natur. Ihre Glücklichkeit war einfach ein wenig zu unschuldig für ihn, und er fand es unangenehm, längere Zeit in ihrer Nähe zu sein. »Warum bist du gekommen?« Er nahm seinen Pinsel und verteilte Farbe auf der Tafel. Leena seufzte und veränderte ihre Stellung auf dem Boden, zog ein Bein unter ihren Oberschenkel, hob das Knie des anderen an und stützte ihr Kinn darauf. Ihre Augen folgten den Bewegungen von Abrams Hand, als er weitere Farbe auf den Pinsel nahm und sie auf die Tafel brachte. Er blickte zu ihr hinunter. »Du weißt, was Axtar sagte, nicht wahr?« »Ich bin es müde, stets dem zuzuhören, was er sagt. Warum müssen wir ihm immer zuhören?« »Er weiß mehr als sonst jemand. Deshalb.« »Das ist nicht immer eine gute Sache«, erwiderte sie sehr ruhig und so sanft, wie er sie noch niemals hatte reden hören. »Leena.« Er legte den Pinsel weg und drehte sich um, so daß er sie ansah. »Ich habe es nicht gern, wenn du so hierherkommst. Du willst es nicht wirklich. Wenn du tatsächlich wolltest ...« Er schüttelte den Kopf und seufzte, wandte sich wieder dem Bild zu. Konnte man sich ihnen überhaupt auf irgendeine
Weise nähern? Sie waren alle so offen und unschuldig und vermochten selbst dann einen Hinweis auf Falschheit noch nicht zu verstehen, wenn er in ihnen selbst war. Draußen prasselte der Regen gegen die Wände, und der Wind verfing sich im Türrahmen und kroch zur Lampe, ließ die Flamme erzittern und umhertanzen. »Vielleicht will ich doch«, meinte Leena. Abram lachte mild. »Du denkst, ich glaube dir nach dem, was heute geschah?« »Ich war erschrocken. Ich wollte nicht fortlaufen.« Er drehte sich wieder zu ihr um und starrte ihr ins Gesicht. Es war ehrlich, ihre Augen groß und vertrauensvoll. Abram dachte, wie einfach es doch sei, sie zu verletzen, und wie schwer es fallen würde, sie nicht zu verletzen. Sie hielt dem Blick seiner Augen für eine Weile stand und sah dann weg, verängstigt von deren Blässe. Abram kniete vor ihr nieder und berührte ihr Haar, wo es dicht über ihre Schulter fiel. Seine Hand strich hinab und berührte ihre Schulter, die Haut war sanft und warm. Er schob seine Finger unter den Träger ihres Jupon und ließ ihn den Arm hinunterrutschen. Sie versteifte sich etwas, als der Stoff ihre Brust entblößte und Abram auch sie berührte und in seine Handfläche bettete. Dann wartete er, wartete einfach, nicht in der Lage, ohne ein Zeichen von ihr Weiteres zu tun.
Ihre Schatten wurden vom Licht fortgerissen und tanzten über die Wände, loderten auf und umschlangen einander in wilder Lust auf den geflochtenen Grasmatten. Er ließ seine Hand in den eigenen Schoß zurückfallen. »Ich glaube dir nicht.« »Doch ...«, flüsterte sie. »Vielleicht meinst du es zu wollen, aber selbst das bezweifle ich. Warum tust du das, Leena?« »Ich will, Abram, wirklich!« Er berührte ihre Wange, und sie drehte den Kopf, um seine Handfläche zu küssen. Er lächelte und blickte ihr in die Augen, blickte dann zu dem Haufen Häute in der Ecke. Leena starrte ihn lange Zeit an und nickte schließlich. Er stand auf und schritt zu dem Bett, zog an dem Stoff seines Lendenschurzes und ließ ihn fallen, setzte sich auf den Rand des Bettes. Leena blieb in der Nähe des Lichts, verhielt sich reglos wie eine Statue, den verrutschten Teil ihres Jupon im Schoß und ihre schweren Brüste entblößt, und das Flammenlicht bebte auf ihr wie die sanfte Berührung eines Liebhabers. Sie drehte den Kopf und blickte zu den in Reihen angeordneten Bildern an den Wänden. Das war Abram, dachte sie, diese Ansammlung von Arbeiten. Nicht der Körper, nicht sein physisches Selbst, das bloß ein Vehikel war, um die Ideen mit sich herumzutragen. Die wirkliche Person war an diesen
Wänden, nackt und verletzlich gegenüber jedem, der die Gabe hatte, seine Seele darin zu erkennen. Sie wußte nicht, was es war. Die Welt, die er schuf, oder die Welt, die er war. Sie blickte, während er noch immer nackt dort saß, auf den schönen Lederriemen, der den Stoff um seine Hüften lose festhielt, und darunter – haarlos, seltsam anmutend, denn seine Genitalien waren so erwachsen und doch bar allen Haars. Über seinem Kopf hing die sich wiegende Oberfläche des Rauches, kräuselte sich leicht. Sie wußte nicht, was sie ... Sie erhob sich und ging hinüber, stand über ihm, und dann glitten ihre Hände zu ihren Hüften hinab und befreiten sie von ihrem Jupon, ließen ihn fallen und traten aus ihm heraus, und sie kniete sich neben ihn auf die Häute. Sie streckte ihre Hand aus und berührte seine Brust, ihre Fingerspitzen zogen sanft die Linien seiner Haut nach, dieses seltsame Gefühl seiner nackten Glätte, all die anderen Männer, die sie schon besessen hatte, waren mit Haar bedeckt gewesen wie Tiere. Aber dieser – ihre Hand kreiste und glitt tiefer ... Sie küßte seine Wange, und sie war glatter als ihre eigene. Sie strich mit der Hand über seinen Rücken und seinen Schädel, fühlte den harten Knochen gleich unter der Haut, dessen Windungen wie die seines Gehirns waren, dachte sie.
Sie nahm wahr, wie seine Hände sie irgendwo berührten. Ihr Haar berührten, es zwischen den Fingern hindurchfallen ließen, wo es sich in seinen Membranen verfing, Sie fragte sich, wie sie sich für ihn anfühlen mochte, ob ihr Haar ihm so seltsam erschien wie diese nackte Haut ihr? Sie wußte auf einmal nicht mehr, ob sie wirklich – Und Axtar – Das war es nicht. Bei den anderen ja auch nicht. Es war erlaubt. Er war es. Sie berührte ihn. Seltsam. Seine Hände und sein Mund. Seine Zunge stieß gegen ihre, und sie fühlte das sanft kitzelnde Haar der Tierhäute in ihrem Rücken. Er küßte sie. Seinen Körper. Und ihren. Sie wußte nicht, warum sie ..., was das sollte. Es war nicht richtig! Aber es fühlte sich so richtig an. Also berührte er sie, flüsterte, fragte: Bist du sicher, willst du wirklich? Und sie schüttelte den Kopf und nickte wieder, fühlte ihre Augen naß werden. Doch nicht in der Lage selbst aufzuhören, ihn zu berühren, ihre Arme um ihn zu legen und ihn fest an sich zu drücken. Dann nickte sie auf einmal und hob ihren Mund an seinen, voll Verständnis. Sie warf sich über ihn und auf ihn. Endlich. Langsames Verstreichen der Zeit und der Gefühle und so viel Wärme, als sie einander fanden und ohne Eile kamen, bedenkenlos, so natürlich wie –
Abram war vierundzwanzig Jahre alt. Er war weit südlich von der Stelle geboren worden, wo er nun lebte, an der Küste mit den weißen Klippen und kleinen Buchten. Er wußte über seine Herkunft und seine Eltern nichts. Er hatte sich auf dem Strand ausgesetzt gefunden und war von einem alten Ehepaar erzogen worden, das kinderlos war. Als er das Alter von dreizehn erreicht hatte, hätte er an den Mannbarkeitsriten teilnehmen sollen, doch er war der einzige Knabe, der kein Schamhaar besaß, und so war es ihm nicht erlaubt worden, sich mit den anderen in der großen Hütte einzufinden, sondern er hatte draußen sitzenbleiben müssen, während die jungen Mädchen hineingegangen waren, hatte die Geräusche, die sie hervorbrachten, und ihr Gelächter mitanhören müssen. Später war auch ein Mädchen zu ihm gekommen. Aber selbst danach war er noch eine Absonderlichkeit gewesen. Einige Mädchen, einige Frauen hatten sich zu ihm hingezogen gefühlt. Und bald hatte es keinen Mangel an Mädchen mehr gegeben, die mit ihm das Bett teilten. Nur noch ein Mangel an Betten. Das Mädchen war schwanger geworden, und Abram hatte man aus dem Dorf gejagt. Er war losgewandert. Seitdem hatte es viele andere Dörfer gegeben, viele andere Betten. Und Mädchen von vierzehn bis Frauen von vierzig, alle wollten sie ihn. Und was war er? Nur ein Mensch.
Und immer ... hatte es Leute gegeben, die ihn fürchteten, und er hatte jedes Dorf wieder verlassen, seine wenigen Habseligkeiten mit sich genommen. Ein kleiner Bestand an Farben und Pinseln, ein paar seiner Lieblingsbilder. Er hatte sich manchmal, wenn er allein in der Wildnis war und in die Dunkelheit um ihn herum blickte, gefragt, ob er jemals einen Ort finden würde, wo er sich niederlassen konnte. Vielleicht hatte er diesmal, mit Leena, diesen Ort gefunden. Wenn sie ihn nur akzeptieren würden, ihm erlauben würden zu bleiben. Er tat doch niemandem weh ... Alles, was er wollte, war, in Frieden arbeiten. Manchmal verkaufte er den Männern und Frauen, die von der Stadt draußen kamen, ein Bild. Sie murrten über seine Arbeit und bezahlten ihn mit goldenen Scheiben, die mit Ausnahme ihrer Ornamente keinen Wert für ihn hatten. Er besaß zwei Halsketten davon und ein Armband. Er hatte eine Halskette einem Mädchen gegeben, vor einem Jahr, unmittelbar bevor er aus ihrem Dorf verjagt worden war. Die anderen zwei Stücke besaß er immer noch. Und vielleicht würde diesmal ... »O Gott!« schrie Leena auf und umarmte ihn, küßte ihn, ihr Mund war ein Ausdruck der Verzückung. Abram hörte auf, drehte sich auf den Rücken und
verschränkte seine Finger hinter dem Kopf. Er starrte hinauf zu der dunstigen, rollenden See aus Rauch, die unter dem Dach gefangen war. »Gott ...«, flüsterte Leena sehr sanft. Sie betastete sich mit ihren Händen, als ob sie sich versichern müsse, daß dieser Körper noch der ihre war. Abram wandte seinen Kopf und betrachtete ihren Körper, der sich schemenhaft gegen das Glühen der Lampe abzeichnete. Ihre Brüste drückten unter ihrem eigenen Gewicht schwer auf sie nieder, gekrönt von dunklen Warzen, die immer noch aufrecht standen, und die flache Mulde ihres Magens und das dunkle Büschel Haars zwischen ihren Beinen erstrahlte in dem Licht, das hindurchschien. Sie war naß vor Schweiß, feucht von seiner Berührung. Sie lauschten ihrem eigenen Atem und den Schreien der Vögel draußen in der Nacht, dem Prasseln des auf das Dach niederstürzenden Regens und dem Wind. »Vielleicht solltest du jetzt besser gehen«, meinte Abram. Leena nickte. »Ich möchte nicht, daß sie's herausfinden.« »Was würden sie sagen?« »Mich hinauswerfen. Vielleicht dich auch.« »Nur deshalb?« »Nur deshalb.« »Wie kannst du so sicher sein?« Sie drehte ihren
Kopf gegen das Bett und blickte ihn an. Ihr Gesicht war ruhig und still, und er fand sie wunderschön. Er antwortete nicht. Obwohl er sich sicher war. Es war schon oft an so vielen verschiedenen Orten so geschehen. Dies war ein nettes Dorf, und die Leute waren freundlicher als anderswo. Und doch hatte es schon andere gegeben, wo sie Steine nach ihm geworfen hatten – Steine! Leute, die lieber um ein Insekt auf ihrem Weg herumgegangen wären, statt es zu töten, hatten Steine nach ihm geworfen – und ihn aus ihren Dörfern gejagt. Es hatte welche gegeben, die ihn widerwillig akzeptierten, wenn auch nur außerhalb ihrer Grenzen: wie es hier geschah; und vielleicht waren das die schlimmsten. Denn die ganze Zeit über waren die Mädchen und Frauen, die wissen wollten, wie es war, mit ihm zu schlafen, in Versuchung. Mädchen, die kamen und ihren Körper gegen den seinen drängten und ›Mein Gott!‹ schrien, sobald sie den Höhepunkt erreichten, ob aus Ekstase oder dem Wunsch nach Vergebung, wußte er nie. Die Mädchen, immer kamen sie und immer nahm er sie. Denn – Was auch immer sie sagten, er war nicht anders als der Rest von ihnen und besaß dieselben Bedürfnisse und Wünsche, Vorlieben und Schwächen. »Ich werde wiederkommen«, verkündete Leena, als sie im Türrahmen stand. Ihr langes Haar hing ihr über die Schulter, und sie schob die Träger ihres Ju-
pon über die Arme zurück. Abram stand unmittelbar vor ihr, seine Hüften berührten leicht ihre, seine Brust drückte sanft gegen das weiche Kissen ihres Busens, und er ließ seine Hand in der flachen Mulde ihres Rückens ruhen, sein Kopf auf die Schulter gesenkt. Er hob den Kopf und nickte, küßte sie einmal und fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar. So oft. Sie wandte sich um und rannte mit ihrem Haar durch das Gras. Es flatterte in dem Mondlicht als schwarze Schleppe hinter ihr her. Der Regen prasselte kurz nieder, doch schon wurden die Wolken vom Horizont aufgesogen. Sie rannte mit von den Ellenbogen aus abgewinkelten Armen und geschlossenen Knien wie eine Frau, und er liebte sie dafür und wegen ihres Körpers. Sie verschwand zwischen den Bäumen, und er kehrte in die Hütte zurück und setzte sich auf einen Stuhl, nahm den Pinsel und hielt ihn in etwas Farbe, trug sie in zarten, federweichen Strichen auf. Er hoffte, daß sie nicht gezwungen sein würde, sich anders zu besinnen. Nicht diesmal. Er lächelte und fühlte sich gut. Die Leute waren Jäger. Jäger von Wurzeln, Gräsern und Körnern. Es wurden keine Tiere getötet, keine Flüsse leergefischt. Nur die Erde drehte sich, und das Fleisch der Pflanzen wurde auf ihren Schultern zu Flechten verschnürt nach Hause gebracht. Vom Mor-
gengrauen bis zur Abenddämmerung schritten sie durch das Land, ernteten, ruhten sich aus und liebten sich, wann immer sie wollten. Es war einfach zu leben. In manchen Ländern ist es zu manchen Zeiten so. Die Leute haben keine Notwendigkeit zu denken oder zu arbeiten, sie existieren eben und leben. Hundertfünfzig Kilometer weiter südlich gab es eine Stadt. Sie lag inmitten der Ebene und glänzte in der Sonne. Nachts fiel Regen und plätscherte von den Metalldächern, lief die Dachrinnen hinunter in die Kanäle und Gossen. Sie war nicht anders als sonst eine Stadt. Leute lebten in ihr, arbeiteten in ihr und wagten sich gelegentlich auch hinaus, um zu verfolgen wie die Primitiven ihr kurzes Leben lebten. Es gab nur einen Unterschied. Einen einmaligen Unterschied. Dies war die letzte Stadt. Wenn man sie sich so anschaute, konnte man deutlich Stellen erkennen, an denen schon der Verfall eintrat. An den Ecken der Häuser begann das Gemäuer zu verwittern. Moos und Gras drangen entlang der Spalten zwischen denn Gehfliesen ein. Jedes Jahr trat es stärker und stärker hervor, stieß seine grünen Spitzen durch den weißen Beton. Es war eine Stadt. Wie keine andere.
Dieser Android war etwas Besonderes. Er besaß einen Namen: Othello. Der Name bedeutete ihm nichts. Es hätte ebensogut eine Nummer sein können, so wie auch all die anderen eine besaßen. Nummern. Von 000001 bis 999999. Othello hatte außer dem Namen auch eine Nummer. Sie lautete 725209. Doch sein Herr nannte ihn Othello. Wer weiß, warum? Sein Herr war tot. Othello. Er saß in einer riesigen Halle und lauschte in die Stille. Sie war absolut. Nicht einmal die Oberfläche des Sees kräuselte sich, kein Wind wehte. Er drehte sich um, sein Körper erbebte leicht, die Haut über seinen künstlichen Muskeln war noch immer geschmeidig, straffte sich zu beiden Seiten, als er sich bewegte. Der hohe Türrahmen stand offen, und draußen fiel in dem See ein Strahl des Sonnenlichts auf das Wasser. Erhellte es zu glänzendem Gold. Überall sonst das tiefe, tiefe Schwarz des restlichen Wassers. Othello erinnerte sich an Leute. Sein Herr war einer dieser Leute gewesen; sie hatten das Wasser beobachtet, und einige hatten es für fest gehalten. So schwarz. Das war nahe dem Ende gewesen, als ihr Verstand schon zu verblassen begann. Das Wasser lag wie ein festes Stück Ebenholz um die Stadt herum, und einige hatten versucht, über das Ebenholz zu schreiten.
Alle waren sie fort. Spurlos versunken, ihre Gesichter waren immer noch friedlich, als sich das kalte Wasser schon über ihren Köpfen schloß. Es gab am Tage niemals Wolken, die das Sonnenlicht verhüllten. Nur des Nachts zogen Wolken über den Himmel, und Regen fiel. Wassertropfen traten dann durch das Loch hindurch und tanzten in wildem Rhythmus auf dem See. Einige dachten, es gäbe irgendwo eine Maschine, die das Wetter kontrollierte, den Himmel während des Tages klar hielt und in der Nacht den Regen brachte. Othello wußte nicht, ob es stimmte – er traute Maschinen nicht besonders viel zu und vor allem nichts so Großes wie das Wetter. Abgesehen von dieser kurzen Abschweifung dachte er niemals darüber nach. Er saß da und betrachtete das Bild an der Wand. Die zarte und behutsame Schattierung und das Spiel des Lichts. Und wunderte sich. Ist dies nun Ekstase oder bloß ein verirrter Strom in meinem Kreislauf ...? Er stand auf und ging hinaus ins Freie, seine Füße schlugen auf die Metallstraßen, und der Laut hallte von den Gebäuden zu ihm zurück, vom Dach der Höhle. Hinaus auf den Damm, weiter zu den Metallrampen führte ihn sein Weg über die offenen Stellen, wo die Leisten herausgefallen waren. Als er dahinschritt, löste sich eine weitere Leiste und fiel hinunter,
traf mit lautem Klatschen in der Stille auf. Er hielt inne und wartete, umfaßte das abblätternde Geländer auf beiden Seiten mit seinen Metallhänden, während die Brücke schwankte, und beobachtet, wie sich die Wellen unter ihm über das schwarze Wasser ausbreiteten, den Fleck Sonnenlichts berührten und an seinem Umriß zerrten, und auf der Brücke erbebten die Reflektionen ebenso. Das Metallstück versank, taumelte langsam und sich immerfort überschlagend in die Tiefe, und Othello schritt weiter. Er erreichte den Rand des Sees und folgte einem sich windenden Tunnel hinauf, den man einst durch festen Fels getrieben hatte, einzig von seinen Sinnen in der Dunkelheit geführt. Er kam auf einem Gesims der Klippe heraus und blieb stehen, blickte über die Ebene, die sich unter ihm erstreckte. Von seiner Höhe aus konnte er drei Dörfer erkennen, weit voneinander entfernt, und den Fluß, der sich dahinschlängelte und sie miteinander verband. Er schritt langsam den Pfad hinunter, seine Haut erstrahlte im Sonnenlicht, und seine Batterien luden sich mit Energie auf. Abram wartete, und Leena kam. Diesmal war ihr Schritt anders, sie hielt den Kopf auf andere Art, alles an ihr erzählte ihm, daß ihre Unsicherheit ver-
schwunden war. Sie würde mit ihm bis zum Kamm gehen, und dort konnte er nach seiner farbigen Erde graben, um sie zu mischen und echte Farbe daraus zu machen; und wenn er es wollte, würden sie sich auch lieben. Sie schritt auf ihn zu und berührte seine Wange mit ihren Lippen, und sie gingen gemeinsam weiter. Er sah sie flüchtig an, das springende Haar, als sie rasch neben ihm schritt, die langen gebräunten Beine, und er fühlte, wie sie ihn erregte. Er nahm sie gewaltsam, und sie erwiderte es mit scharfen Nägeln und beißenden Zähnen, die sich tief in seine Schultern gruben. Ihre Körper wurden eins in dem langen Gras unter der hochstehenden Sonne, und sie ließ ihre Schenkel auseinanderfallen, und ihre Fersen drückten sich an sein Gesäß. Der Wind bewegte das Gras und bestäubte ihre Körper mit Pollen. Othello konnte fühlen, wie etwas in ihm emporkroch. Und dachte nach. Vielleicht ist dies Zorn? Er schritt weiter durch das Gras, wunderte sich. Konnte dies ein Gefühl sein? Oder bloß ein verirrter – »Oh! – Gott!« Er blieb noch eine lange Zeit danach auf ihr, fühlte die Berührung ihrer feuchten Haut. Vom Fluß unten
konnten sie das Gelächter und die Schreie der Kinder hören, wie sie im Wasser spielten, und die tieferen Stimmen der Erwachsenen, die ihnen rieten, sich nicht zu verteilen und nicht zu weit hineinzugehen. »Ich denke, das hat es erleichtert«, flüsterte Leena. »Was?« »Über die dort unten nachzudenken.« Sein Kopf ruhte an ihrer Schulter, und er hob ihn und blickte ihr ins Gesicht. »Sie können uns hier nicht sehen.« »Ich weiß ... aber die Vorstellung dessen. Weißt du ...« Er nickte und küßte ihre Brüste, berührte die blasse Haut daneben. Er strich über das helle Haar, das ihren Körper bedeckte, und lächelte. »Es ist zu schade ...«, flüsterte sie, und Abram nickte. Dann schrie ein Kind. Er rollte sich von ihrem Körper herunter und setzte sich auf, blickte über die Grashalme hinunter, sah die sich versammelnden Gestalten am Fluß, geschmeidige braune Körper, sah die Sonne das Wasser bescheinen und helle Reflektionen erzeugen, durch die man nur schwer hindurchschauen konnte. Er stand auf und rannte den Abhang hinunter, blieb stehen, drehte sich zu Leena um. Sie saß da, nur
ihr Kopf und ihre Schultern waren über dem Gras sichtbar. Sie schüttelte den Kopf und breitete ihre Arme aus, um ihn zurückzuholen. »Es ist bloß jemand hineingefallen«, sagte sie. Abram schüttelte seinerseits den Kopf. Das war es nicht. Nicht das allein. Er wandte sich von ihr ab und blickte zum Fluß hinunter. Kinder und Erwachsene. Die nun voller Entsetzen rannten. Spuren in dem hohen Gras hinterließen, gewundene, geschundene Spuren, wo die Blätter niedergedrückt waren, kreuz und quer lagen. Von Nordwesten her ein einzelner, langer, gerader Streifen geteilten Grases. Abram folgte ihm mit den Augen, bis er erkannte, wer ihn hervorrief. Der Mann, den er gestern gesehen hatte. Groß und schwarz, schützende Dunkelheit um ihn, so schwarz war er. Er rannte und hielt ein kleines Mädchen in den Händen. Abram beobachtete, wie er auch schon die winzige, zerbrechliche Hülle der Arme und Beine hoch über seinen Kopf hob und zu Boden warf. Aufhob und sie erneut warf, um dann mit stählernen Füßen den bereits toten Körper zu treten. Es war Haß, blind und furchtbar, schlimmer als alles, was Abram jemals gesehen hatte. Nicht bloß Ärger, nicht das; sondern kalter und stählerner Haß. Er schmerzte ihn.
Die Gestalt lief weiter, jagte eine alte Frau, deren runzeliges, verbrauchtes Fleisch und knöcherne Beine zu schwach waren, sie weit oder schnell genug fortzutragen. Eine schwarze Hand griff zu und erwischte den Stoff ihres Jupon. Er versuchte es noch einmal, und diesmal riß das Fleisch, und dunkles Rot breitete sich über ihren Rücken aus. – Ein weiterer Tod. Er blieb stehen und blickte sich nach seinem nächsten Opfer um. Und da war es. Rannte durch das hohe Gras hinunter, seine Beine überwanden Steine und Mulden, ein Mann. Othello wandte sich ihm zu. »Nein! Abram, bitte nicht!« Er rannte los. Mit einer kurzen bedauernden Erinnerung an ihren Körper, die Art, wie sie ihm ihre Schenkel öffnete. Dann verdrängte er es aus seinem Gedächtnis. Der Mann sah ihn und drehte sich um, begann sich ihm zu nähern. Abram hörte zu rennen auf und blickte sich um. Dieser Mann war groß und stark, und Abram wußte, daß er unbewaffnet nicht gewinnen konnte. Er suchte überall den Boden ab, fand einen schweren Stein und hob ihn auf, wog ihn in seiner Faust, fühlte die zusätzliche Kraft, die er seinem Arm brachte. Er schloß seine Finger fest um den kühlen Stein und begann wieder zu rennen.
Sie blieben beide stehen. Drei Meter trennten sie voneinander, sie starrten sich an. Abram besah sich den Mann von oben bis unten. Mann? Er war absolut geschlechtslos, bar irgendeines Merkmals an seinem Körper, glatt und eben, ohne Nabel, Warzen oder Nüstern. Bloß Augen und ein schmaler Mund. Haar besaß er ebenfalls keines. Seine harten Augen starrten ihn an. Der Mann trat auf ihn zu und holte zum Schlag aus. Abram duckte sich, tänzelte zur Seite, fühlte den Schlag schwer auf seiner Schulter landen. Er drehte sich erneut und zog seine eigene Faust herum, sah sie harmlos über den nackten Schädel hinwegfegen. Othello wandte sich um und blickte ihn wieder an. Trat erneut auf ihn zu. Abram duckte sich etwas rascher, und der Schlag verfehlte seine Schulter völlig, aber der andere war immer noch zu schnell, so daß sein eigener Hieb harmlos über den sich duckenden Schädel hinwegging. Abram war zu schnell, um getroffen zu werden, Othello war zu schnell, als daß Abram ihn hätte treffen können. In Othellos Verstand wurde sein Tun zu einer starren logischen Folge, die sich nicht mehr durchbrechen ließ. Er folgte dem logischsten Verhalten, und selbst nach mehreren Versuchen und Versagern war er nicht in der Lage, seinen eigenen Intellekt umzukehren. Es hatte doch vorher jedesmal funktioniert. Doch ...
Sie standen einander gegenüber, Othello so ruhig, als hätte er erst begonnen; Abram atmete schwer, sein Körper war in Schweiß gebadet. Er wischte sich mit der freien Hand über die Augen, um sie zu säubern. Als Othello erneut auf ihn zukam, drehte Abram sich anders herum, so herum, wie Othello es vermutet hatte, mitten in den Schlag. Die Faust erwischte ihn voll an der Brust und trieb alle Kraft aus ihm. Abram ging in die Knie, seine Augen starrten verschleiert auf Othellos schemenhafte Gestalt. Er sah ein Bein sich heben, als würde es in Zeitlupe geschehen, und das Knie sich seinem Gesicht nähern. Er hob seinen Arm, benutzte beide Hände und brachte den Stein in die Höhe und so hart er nur konnte zwischen die Beine des anderen. Es krachte, und etwas zerbrach in dem fremden Körper. Othellos Bein hörte auf sich zu nähern und verharrte steif, nutzlos. Abram schaukelte auf den Fersen nach hinten, nach vorn und schmetterte den Stein noch einmal dorthin. Othello schwankte und stürzte zur Seite. Abram kroch den Körper hinauf und schlug mit dem Stein immer und immer wieder auf die Brust. Unfähig, sich selbst Einhalt zu gebieten, wurden seine Hände und Arme über und über naß von Öl und künstlichem Blut. Schließlich hörte er auf und blickte hinunter. Der ...
Othello starrte in den Himmel, so hoch und blau, er war alles, was er sehen konnte, während etwas Falsches mit seinem Körper und seinem Verstand geschah und er behutsam in einem finsteren Tunnel versank. Behutsam, langsam. Er fühlte etwas in seiner Brust, wunderte sich über das Etwas, das sich dort befand. Ist das Schmerz? Oder bloß – Seine Augen verschleierten sich, wurden weiß. Er würde es niemals erfahren. Seine Brust, zur Luft hin offen, schlammiges grünes Öl und saubere Flüssigkeit, darin zerfetzte Masse künstlichen Fleisches, das helle Glänzen von Drähten aus Kupfer und Platin. Abram ließ den Stein fallen und stand da, starrte immer noch in den gähnenden Abgrund jener Brust, durch die breiige Haut und das Drahtgeflecht bis hin zu den schimmernden Stahlstäben der Wirbelsäule. Er blickte auf seine Hände, den verteilten Schleim auf seinem eigenen Körper ... Er drehte sich um. Die Dorfbewohner. Alle sahen ihn an. Als wäre es meine Schuld! Sie starrten ihn an, in ihren Augen eine Kälte, wie er sie niemals zuvor erfahren hatte. Leena. Er tat einen Schritt auf sie zu und blieb stehen. Ihre Augen waren noch kälter als die der anderen. Voller Haß. Und Furcht ...
»Er hätte euch getötet!« Niemand antwortete; nur ihre Augen. »Ihr alle, seht doch! Er hätte euch getötet! Ich hielt ihn auf. Könnt ihr das nicht einsehen!« Axtar zog seinen Mantel fester um sich, sein Gesicht verborgen von den Falten seiner Kapuze. Er bückte sich und hob einen Stein auf, seine Hand tauchte weiß und blaß aus dem Ärmel auf wie eine unterirdische Spinne. Er blickte auf und warf ihn gegen Abram. Er traf ihn am Arm, nicht sehr schmerzhaft, nicht seinen Körper. Er sah sie alle an. Steine ..., o Gott, wieder die Steine ...! »Ich tat es für euch!« Sie warfen Steine nach ihm, selbst die kleinen Kinder, selbst Leena, bis er sich umdrehte und fortrannte. Er blieb außer sich vor Zorn stehen und blickte in ihre Gesichter zurück. Dann drehte er sich erneut um und schritt langsam durch das Gras fort, ließ eine Spur geknickter Halme hinter sich, seine Beine wurden gelb von Pollen. Sein haarloser Körper glänzte hell vor Schweiß in der Sonne. Als – Die Dorfbewohner kehrten über den Fluß zurück, keiner von ihnen blickte auf den zerstörten Körper des Androiden. Mit gesenkten Häuptern. Leena fühlte sich schmutzig. Doch innerlich fühlte sie sich fest. Er hatte das Ding mit seinen bloßen Händen zerstört,
bis es tot war. Und sie hatte ihm erlaubt, sie zu berühren. Hatte mit ihm ... Sie! Sie brannten seine Hütte nieder, samt den Bildern, die sich noch darin befanden, dunkler Rauch erhob sich von den Flammen, gerade, eine Säule aus Finsternis, die dem Himmel zustrebte. Abram hätte umkehren und sich anschauen können, wie sie nach oben hin immer schmaler wurde und schließlich verschwand. Wenn er gewollt hätte. In der Dunkelheit, in der Nacht, stießen die Aasfresser auf ihren breiten ruhigen Schwingen hernieder, über den Fluß, und hüpften um den Körper herum. Sie stolzierten einige Male neben ihm auf und ab. Schließlich schoß einer von ihnen auf ihn zu und stieß seinen Schnabel in die offene Brust. Die anderen kamen hinzu. Nach einer Weile zogen sie sich zurück, ihre Köpfe zur Seite geneigt, als würden sie überlegen. Sie versuchten es erneut, und immer noch war das Fleisch in ihren Kehlen faul. Sie hüpften erneut um ihn herum, und bald erhoben sie sich und verschwanden in der Nacht. Aus dunklen Vogelaugen herniederblickend, mit dunklen Vogelhirnen denkend, enttäuscht.
2. Das Modell »Ich meine, du triffst doch irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen, nicht wahr?« Sie blickte ihm ins Gesicht und lächelte über das Stirnrunzeln, das sich dort bildete. »Natürlich tu ich das. Denkst du, ich bin verantwortungslos oder so was?« »Nein. Sicher, ich dachte mir, daß du das tust.« »Gut. Ich mag Männer nicht, die glauben, ich bin nur –« »Nein, nein, ich meinte nichts dergleichen. Alles, was ich wissen wollte, war, ob du vorsichtig bist.« »Klar.« Sie schritten weiter durch die Straßen. Oberhalb des Daches über dem Gehsteig regnete es. In ihrem Zimmer fragte er sie: »Äh ..., was für eine ..., du weißt schon ...« »Sicher.« Sie öffnete ihren Büstenhalter und legte ihn ab, hängte ihn über die Lehne eines Stuhls. »Du hast einen reizenden Körper. Hat dir das schon mal jemand gesagt?« »Natürlich. Denkst du, du wärst der erste?« »Nein. Ja, nun, freilich, sie würden ... ich möchte dich gern einmal malen, weißt du das?« »Mich zu malen kostet Geld. Du zahlst, ich stehe Modell für dich.«
»Aber ich kann dich jetzt sehen. Das kostet mich nichts ... oder?« Sie sah ihn kalt an. »Nein. Du denkst, ich wäre so etwas wie eine Hure, stimmt's? Nun, wenn –« »Nein! Das nicht. Ich meinte nichts dergleichen ... Aber du weißt, daß ich dich jetzt sehe, und ich könnte dich doch aus der Erinnerung heraus malen.« »Mein Körper gehört mir. Mach das, und ich werde dich verklagen.« »Was ist dein Satz?« »Zehn Credits die Stunde.« »Jesus ...« Der Mann pfiff leise. »Wie du schon sagtest – ich habe einen reizenden Körper.« Er sah sie an, fragte sich, ob es wirklich war, dies Verhalten von ihr, oder ob sie im tiefsten Innern doch weniger eitel war. Sie zu bezahlen, das mochte es sein. Obwohl er auch nicht einfach das andere Material fallen lassen konnte. Es war wichtig für ihn, er wollte es wissen. Sie hatte so unsicher geklungen, so vage. Und wenn sie nicht ... mein Gott, dachte er, wenn ich sie nun schwängere ... Der bloße Gedanke reichte aus, ihn sich impotent fühlen zu lassen. Beide nackt im Bett, fragte er sie: »Worüber haben wir vorhin gesprochen? Weißt du's noch? Was benutzt du?«
»Du hast einen Hang zum Perversen?« »Nein. Ich fragte es mich nur, verstehst du?« »Hmmm.« Sie drängte sich an ihn, und er begann zu zittern. »Ein bißchen«, murmelte er. »Werde nicht persönlich«, sagte sie und rückte von ihm ab. Er griff nach ihr, und sie hielt sein Handgelenk fest. Er sah sie an und entschuldigte sich. Eine Weile war Schweigen, als er sich auf ihren Körper konzentrierte. Dann: »Es war nett von Carol, uns einander vorzustellen, hm?« »Sicher ...« Er blickte sie an. Es klang gelangweilt, und er fragte sich, ob er es jetzt durchziehen sollte, bevor sie womöglich das Interesse verlor. »Jedenfalls«, bemerkte sie, »benutze ich die Rhythmusmethode.« Er setzte sich ruckhaft auf, die Decke glitt ihm zu Boden. Er beugte sich vor und holte sie zurück, wandte sich dann ihr zu. »Ist sie sicher?« »Natürlich ist sie das. Die älteste Form der Empfängnisverhütung auf der Welt.« »Nun, vielleicht. Aber ich möchte dich nicht unbedingt ... du verstehst.«
Er kann es nicht einmal aussprechen, dachte sie. O ja, das würde eine schöne Bescherung geben. »Hast du denn irgendwas anderes dabei?« fragte sie. »Äh ... nein.« »Tja, dann.« »Hmm, also gut.« Sie legten sich zusammen hin, Seite an Seite. »Und es kann nichts passieren, das meine ich?« »Ich kenne sie nämlich nicht. Die Rhythmusmethode. Sie ist doch in Ordnung?« »Natürlich ist sie das.« Sie lächelte ihm in der Dunkelheit zu und wälzte sich auf ihn. »Oh, wauh! Hast du schon einmal so einen Körper besessen ...« Später, eine ganze Weile später, als er zu reden aufgehört hatte und nur noch vor Wonne stöhnen konnte, öffnete sie ihre Beine und ließ ihn ein. Langsam, während sie ihn eindringen fühlte, griff sie mit ihrem Arm zum Recorder und fragte: »Möchtest du die Beatles hören oder etwas Moderneres?« Sie machte wirklich eine tolle Sache daraus. Sie hatte noch niemals einen Mann erlebt, der so völlig durcheinander war. Er brachte für den Rest der Nacht nichts mehr zustande, und um drei Uhr morgens war er aus dem Bett geglitten und hatte sich angekleidet.
Das geschah, als er dachte, sie würde schlafen. Sie nahm an, es würde eine ganze Weile dauern, bevor er wieder fähig war, es mit jemand anderem zu treiben. Obwohl keiner von denen wirklich etwas Gescheites brachte. Sie nahm – wie jedes gute Mädchen wußte, daß es das tun sollte – einmal im Monat ihre Pille, und es gab keine Möglichkeit, wie sie schwanger werden könnte. Aber er hatte das nicht gewußt. Wirklich, sie wußte nicht, warum sie jedesmal erneut darauf hereinfiel. Erkannten sie nicht, daß niemand so dumm, unschuldig oder naiv oder was immer sein konnte? Sie kicherte glücklich und zog die Bettdecke bis zum Kinn. »Möchtest du die Beatles hören ...« Sie lächelte schelmisch in die Dunkelheit. Draußen fiel der Regen. Irgendwo lief ein Mann zu seinem Zimmer zurück und dachte, die Tage des Sex seien vorüber. Das würde vorbeigehen, und er würde wieder beginnen. Aber eine Weile erst einmal nicht. Nicht so recht. Sein Verstand quoll über vor Verwunderung, war sie wirklich ... sie konnte doch nicht ... Beatles? Mein Gott! Ihr Name war Meta Addams. Sie war, dachte sie, zweiundzwanzig Jahre alt. Sie konnte sich dessen nicht sicher sein, weil ihre Geburtsurkunde eine von denen war, die während der Anarchistenaufstände
vor zehn Jahren vernichtet wurden. Sie machte sich nichts daraus, ihr wirkliches Alter nicht zu kennen; es bedeutete, daß sie so alt sein konnte, wie sie wollte. Nicht daß es im Augenblick von Bedeutung für sie war, aber später, in weiteren zehn oder zwanzig Jahren, könnte es für sie nützlich sein, einige fünf Jahre draufzugeben oder abzuziehen. Es stimmte, sie hatte einen reizenden Körper. Ihr Körper war ihr Leben. Sie stand Modell, und die Leute malten sie auf Leinwand, Glas oder Würfel. Es war ein gutes Leben; diese Stadt war voll von Malern und Bildhauern. Jede andere Person, der sie begegnete, stellte ihre eigenen kleinen Meisterwerke her, jede vierte Person beanspruchte für sich sogar den Titel eines Genies. Die übrigen, also jene, die nicht malten, schienen zu schreiben. Sie konnte sich von keinem vorstellen, den sie kannte, daß er wirklich zugeben würde zu arbeiten. Warum sollte das auch jemand. Es gab Maschinen, die das für einen taten. Sie hatte einen langen, schlanken Körper, volle Brüste, die sich selbst stützten und fest und vielleicht nur etwas zu groß waren – aber so mochten es die Leute, hatte sie herausgefunden – eine enge Taille und breite Hüften, lange glatte Beine. Ihr Haar war blond und kurzgeschnitten, reichte knapp bis über die Ohrläppchen und war vorn in der Stirn zu einem
pfeilförmigen Pony gekämmt. Ihr Gesicht war süß, engelhaft, wie manche meinten, aber das eines gefallenen Engels, denn es war etwas Verführerisches und Herausforderndes in ihren Augen. Großen, strahlendgrünen Augen. Deshalb wollten so viele Leute sie malen. Sie war nicht das einzige Modell in der Stadt, aber sie war das beste. Und die Maler wußten, daß – wenn sie sie mochte – die nette Aussicht auf ein rasches Spielchen am Rande bestand. Bei so einem Körper würde keiner von ihnen eine solche Gelegenheit auslassen. Und es hatte sich herumgesprochen, daß er nicht nur gut aussah, sondern sie ihn auch ebensogut zu gebrauchen wußte. Sie scheute sich nicht, auch weiblichen Künstlern Modell zu stehen, wenn sie in der Laune dazu war. Hauptsächlich stand sie nackt Modell. Manchmal wurde das anödend; immer betrachteten dieselben Augen sie und ihren Körper; doch es bezahlte die Rechnungen. Sie lebte in angenehmen Verhältnissen. Was bedeutete, nicht sehr aufwendig. Gelegentlich gab es jemanden, der sie bekleidet malen wollte. Sie begegnete solchen Leuten immer ein wenig mißtrauisch. Man konnte nie wissen, was für Perverse es gab. Wer ahnte das schon. Obwohl es bisher ausschließlich künstlerisches Interesse gewesen war. Wenn sie bekleidet war, sah sie immer noch
bemerkenswert nett aus. Und gewöhnlich wurde sie ja auch einige Zeit vor, während oder nach der Sitzung gebeten sich auszuziehen. Ihr Körper war hundertprozentig ihr Eigentum. Keine Einspritzungen. Keine Polsterungen unter der Haut. Keine glattmassierten Oberschenkel. Die meisten anderen Modelle hier besaßen mehrere eingepflanzte Ersatzteile, die ihnen zu Form und Substanz verhalfen. Das bedeutete, daß sie manches Mal besser aussehen konnten als Meta. Sie schauten sich einiges von ihr ab, aber sie machte sich nicht sehr viel daraus. Der gegenwärtige Trend zu großbrüstigen, breithüftigen Modellen schien nachzulassen, und sie hatte sich allen Ernstes überlegt, ob sie nicht etwas an sich arbeiten sollte, um für die kommende Mode gewappnet zu sein. Doch sie hatte sich dagegen entschieden. Grundsätzlich war sie nämlich narzißtisch. Sie hielt sich immer noch für erstaunlich gutaussehend. Das reichte. Außerdem gab es in der Stadt noch eine Menge anderer, die ihre Meinung teilten. Auf der Leinwand oder im Bett mochten sie sie so, wie sie war. COMP/KOMM.SERIE 7-119 ACHTUNG: SCHLAGE AUSBAU DES ÄUSSEREN DIENSTFLÜGELS VON GEBÄUDE
9903
IM OSTSEKTOR VOR! ZU-
FAHRTSRAMPE ZU DEN ÄUSSEREN WÄNDEN BESEITIGEN/ROBOTSERVICE EINSTELLEN. SOFORTIGER VORRANG.
Als sie erwachte, schien das Sonnenlicht durch die großen Fenster des Schlafzimmers. Es fiel auf das Bett, erwärmte ihren Körper, und sie räkelte sich darin und blickte dann auf sich selbst hinunter. Sie lächelte und schaute zur Seite, drückte einen Knopf auf dem Nachttisch, um Kaffee zu bestellen. Sie bemerkte, daß der Mann weg war, und war nicht überrascht. Sie behandelte nicht jeden so; nicht einmal die meisten. Es war nur so, daß es manchmal jemanden gab, den sie nicht mochte, weil er ihr gegenüber seine Scheu nicht ablegen konnte. Sie hatte herausgefunden, daß dies der beste Weg war, ihn loszuwerden. Niemanden freute es, wenn man ihn fühlen ließ, was sie ihn fühlen ließ. Natürlich klappte das nur bei Männern. Bei Frauen hatte sie andere Taktiken. – Oh, meine Liebe, hängen deine Brüste ohne Büstenhalter nicht durch ...? Es gab immer eine Möglichkeit. Sie räkelte sich, seufzte und roch an dem heißen Kaffee auf dem Nachttisch. Vielleicht würde sie heute nacht einen netten Mann finden, den sie nach Hause
mitnehmen und mit dem sie die Nacht verbringen konnte, wie die Nacht eigentlich zu verbringen war. Sie meinte etwas Gutes unbedingt nötig zu haben. Sie hatte letzte Nacht auf einmal bemerkt, wie heiß sie doch war, und wenn er nur ein bißchen netter, ein bißchen freundlicher zu ihr gewesen wäre, hätte er ohne Unterbrechung alles mit ihr machen können. Aber er war es nicht gewesen, und so hatte sie es nicht erlaubt. Sie fragte sich, ob sie bedauerte, nicht ein bißchen freundlicher gewesen zu sein. Nein. Sie hatte ihn nicht wirklich gemocht. Er war ein Bastard. Und seine Bilder waren ebenfalls schlecht. Sie holte sich ihren Becher, trank etwas und stellte ihn wieder auf dem Tisch ab. Dann schob sie sich die Kissen zurecht, um sich dagegenzulehnen, und griff nach der Morgenpost. Sie warf die Rundschreiben in den Abfallkorb, und als sie alles durchgesehen hatte, waren noch eine Postkarte und ein Brief übrig. Die Karte war von ihrem Agenten und enthielt neue Termine für Sitzungen, und sie nahm an, daß sie sie durchchecken und ihn später zum Zweck der Bestätigung anrufen sollte. Der Brief war eine Einladung von Celia Morton, sie bald einmal zu besuchen. Meta runzelte die Stirn, als sie versuchte, den Namen mit einem Gesicht in Verbindung zu bringen. Schließlich gelang es ihr, sie lä-
chelte ein klein wenig und nickte sich zu. Vielleicht würde sie die Einladung annehmen. Manchmal war sie traurig; manchmal fragte sie sich, was das alles sollte. Wenn die Parties zu Ende waren. Wenn die Freunde, die die Nacht mit ihr verbracht hatten, weg waren. Wenn die Dämmerung noch in weiter Ferne lag und die Nacht draußen sehr dunkel und leer war, dachte sie so. In ihrem Kopf, von dem jedermann ein Abbild herstellen wollte, bewahrte sie jene geheimsten Erinnerungen, von denen sie selbst nicht einmal sicher war, daß sie sie verstand. In manchen Zeiten schien alles zu gehetzt, zu gezwungen. Es gab zu viel Gelächter und zu viel Bettgeschichten, nicht genug Zeit zum Reden oder Denken oder einfach zum Nichtstun. Man mußte etwas zu tun haben. Immer. Sie würde sich gern einmal umschauen. Sie war sicher, daß dort eigentlich nichts war, vor dem sie davonrannte. Aber sie wußte nicht wie. Es war eine metaphorische Welt, und sie hatte keine Ahnung, wie sie in dieser Welt die Muskeln bewegen mußte, um den Kopf zu drehen. Vor kurzem hatten diese Gedanken ihr Sorgen zu machen begonnen. Sie hatte die Adresse eines guten Psychiaters, zö-
gerte aber ihn aufzusuchen. Sie wußte nicht, weshalb – alle Leute, die sie kannte, gingen regelmäßig zur Analyse, und denen war nichts anzumerken. Vielleicht war es das. Sie war nicht sicher, daß – wenn sie den Mann vor ein wirkliches Problem stellte – er wissen würde, wie man es zu behandeln hatte. Nach so vielen Jahren des Existenzialismus und der Entfremdung des Künstlers in einer sich selbst tragenden, geschlossenen Gesellschaft: Ob er ihr wohl erklären könnte, was falsch mit ihr war? Warum träumte sie von der Dunkelheit? Nicht einmal darüber sicher, ob diese Dunkelheit nun der Realität entsprach oder nur Einbildung war. Vielleicht fühlten andere Leute ebenso, waren aber wie sie zu ängstlich, um darüber zu sprechen, weil sie alle meinten, mit ihrer Furcht allein zu stehen. Alle wollen einander gleich sein. Alle wollen bloß ein bißchen verrückt wirken, mein Schatz, aber wir wissen auch, daß das nur Theater ist. Und sie fürchten, daß vielleicht einige von ihnen nicht Theater spielen. Bemühen sich aber, diesen Teil niemals zu zeigen, ihn vor allem zu verschließen, wo er sicher war. Vorerst. Aber was – Sie strich ihr Haar über den Kopf zurück und setzte sich höher in die Kissen und überkreuzte ihre Beine auf dem Bett.
Was, wenn es die Gesundheit ist, vor der wir davonlaufen? Was, wenn es die Realität ist? Dieses Etwas, auf das wir nicht zurückschauen wollen, das mehr und mehr in der Ferne zu verschwinden scheint, so daß wir meinen zu gewinnen, aber was, wenn wir tatsächlich unsere Menschlichkeit verlieren? Dieses Etwas aus grauer Vorzeit, als wir noch Kinder waren ... Sie war damals glücklich gewesen. Es war die einzige Zeit, soweit sie sich erinnern konnte, in der sie wirklich glücklich war. Alles andere war eine Täuschung, war falsches Glück, so angelegt, daß niemand erfuhr, wie nervtötend man das alles fand. Im Sex erreichte sie eine Rückkehr in diesen Zustand der Unschuld, dasselbe blinde Anerkennen von etwas mehr als einem selbst. Ein Teilen. Eine Freude. Etwas Gutes. Doch selbst dabei hatte sie das Bedürfnis, manche Leute lächerlich zu machen. Leute, die sie haßte. Vielleicht die Leute, die ihren Anspruch zu hochgeschraubt hatten und für die er das einzige war, was ihnen noch blieb. Diesen Leuten wollte sie die Maske herunterreißen und sie wieder in die alte Realität versetzen – wo Menschen einen mit rüden Worten impotent machten; wo man nichts leisten konnte. Sie hatte den Mann alles mit sich tun lassen, war
aber selbst unberührt geblieben, und während er stöhnte, hatte sie vor sich hin gesummt und gewartet. Nicht mehr als ein Sack Fleisch, in den er seinen Samen ergoß. »Wie war's?« hatte er sie gefragt, zu gottverdammt dumm, um es selbst zu wissen. »Lausig. Du warst lausig. Ich hatte überhaupt nichts davon. Du bist der schlechteste Partner, den ich jemals in meinem Leben hatte.« »Oh ... es gefiel dir also nicht?« Einige Leute konnte sie einfach nicht erreichen, ihre Felle waren so dick, daß nichts sie durchdrang. All die Zeit war sie am Suchen. Sie suchte jemanden, der wie sie selbst sein konnte, der einräumen würde, daß sie nur Menschen waren. Wer würde zärtlich mit ihr sein und ihren Verstand ebenso erleichtern wie ihren Körper? Sie blickte hinunter auf die zerknitterten Decken des Bettes, dann auf sich selbst, lachte schmerzlich. Wohin streben wir alle? Die meisten wohl zur Hölle und zurück. Aber gab es ein Zurück? Sie glitt aus dem Bett und ging unter die Dusche. COMP/KOMM.SERIE (A) 91-4 VERSORGEN SIE GEMEINDEMITGLIED M.A. GENDEM MATERIAL: –
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MIT FOL-
1 GROS: BOHNENKONSERVEN 1 DUTZEND: AUFBLASBARE RETTUNGSFLÖSSE (AIR FORCE STANDARD-AUSFÜHRUNG) 7 GROS: BLEISTIFTE (4B) 1 EINZELSTÜCK: AUFBLASBARE PUPPE. TYP: KAUKASIER: MÄNNLICH ENDE:::::::: Die Stadt ruhte auf dem Boden, hockte schwer da und beobachtete, wie die Ereignisse verstrichen und sie unberührt zurückließen. Als die Sonne über den Gebäuden hervorkroch und die kühlen Schatten vertrieb, begannen sich in den Straßen Menschen zu bewegen. Langsam zu gehen oder schnell, zu schlendern oder zu eilen, um einen Termin nicht zu versäumen. Um mit Sanftmut die Stadt zu wecken. Im Licht der Sonne. Auf zwei Meilen im Umkreis kamen die Maschinen, einmal in fünf Tagen, und mähten das Gras. Jenseits davon wuchs die Vegetation wild, weit hinaus auf die Ebene, bis hin zur Grenze des Landes. Die Stadt endete abrupt. Es gab kein stufenweises sich Auflösen in Randbezirke, keine Schnellstraßen mit kilometerlangen Reklamewänden, die die Einreise verkündeten. In der Tat: überhaupt keine Straßen. Die Gebäude erhoben sich schlank bis in den Himmel, schienen mit gierigen Klauen nach ihm zu greifen,
nach etwas zu Fernem, zu Hohem, als daß es sich erreichen ließe. Glas, Stahl, Plastik, Platin, Gold, Silber, Edelstein. Als sie erbaut wurde, war sie prachtvoll gewesen. Der prachtvollste Ort auf der Erde. Sie hatten sie weit oben mit einer unsichtbaren Barriere überdacht, die nichts durchdringen konnte mit Ausnahme des Regens. Nichts Lebendes. Nichts Totes. Als die anderen Städte verendet waren, in Nichts zerstoben durch den heißen Atomwind, war sie geblieben. Die letzte und prachtvollste aller Städte. Und wo die Stadt aufhörte, fielen die Wände der Gebäude senkrecht ab, und jenseits davon war nur noch das frisch gemähte Gras. Die Maschinen mähten zwei Meilen im Umkreis, denn mehr ließ die Barriere nicht zu. Sie konnten sie nicht überwinden. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten die Maschinen gut und gern weitergemäht, glücklich jeden Grashalm geschnitten, bis sie das Meer erreichten und hineinfielen. Aber die Barriere hielt sie auf, und sie waren nicht mit der nötigen Ausrüstung versehen, die sie in die Lage versetzt hätte, sie zu durchdringen. So bewegten sie sich bloß im Kreis, mähten ihre endlosen Runden. An der äußeren Grenze belief sich der Umfang auf neun Komma drei Meilen, und an der inneren betrug er drei Komma eins Meilen. Das Gras war sehr kurz, sehr saftig und sehr grün.
Nachts kam der Regen durch die Barriere und befeuchtete den Boden an seinen Wurzeln. Meta tauchte aus der Tür des Gebäudes auf und blickte sich um. Die Stadt schien unverändert, seitdem sie sie zuletzt gesehen hatte; keine überraschende Tatsache, aber eine, von der sie fühlte, daß sie das sein sollte. Sie verstand nicht, warum, doch sie fühlte, daß sich die Stadt auf irgendeine Weise verändert haben mußte. Doch es waren immer noch dieselben Gebäude, dasselbe strahlende Sonnenlicht, das hart die Straße zerschnitt, dieselbe blendende Helle gegen den dunklen Schatten, in dem sie stand. »Zeitung, Ma'am?« Sie sah den Zeitungsverkäufer an, der mit einem sauber gebündelten Stoß in seinen klauenartigen Händen neben ihr stand, und schüttelte den Kopf. Der Verkäufer tippte sich gegen den höchsten Punkt seines Körpers, wo vielleicht sein Kopf sein mochte, und trollte sich dann die Straße hinunter. Meta beobachtete sein Verschwinden, trat dann auf die sonnenüberflutete Straße und ging sie zielstrebig entlang. »Oh, komm herein, komm herein ...« Celia Morton zog sich vom Türrahmen zurück, und Meta betrat das Apartment. Es glich fast vollkommen ihrem, mit sei-
ner großen Wohnsektion in der Mitte, dem Schlafzimmer dicht daneben, dem Badezimmer eins weiter, der Küche auf der gegenüberliegenden Seite. Hier sahen die Fenster auf den Hauptplatz hinunter. Meta glitt aus ihrer Jacke und legte sie über den Rücken eines Stuhls, und ließ sich in einen anderen nahe dem Fenster fallen. Celia tat es ihr nach und setzte sich ebenfalls. Sie war einige Zentimeter kleiner als Meta und mehrere Pfund schwerer, obwohl sich das zusätzliche Gewicht wohlgefällig an ihrem Körper verteilte. Sie trug ein kurzes Kleid aus dünnem Stoff, der sich straff über ihren Körper legte und zeigte, daß sie darunter nackt war. Ihr Haar war blond und sehr lang, hing ihr über die Augen, als sie auf ihre Hände herunterblickte, die einander im Schoß umklammert hielten. Celia war absolut monosexuell und unfähig, auch nur daran zu denken, ihren Körper mit jemandem nicht ihres Geschlechts zu teilen. Meta stand manchmal für sie Modell, aber es war niemals etwas Größeres abgelaufen, eine lockere und angenehme Beziehung herrschte zwischen ihnen. Es schien so etwas wie Freundschaft zu sein. Celia blickte auf und zu Meta hinüber. »Ich war nicht sicher, ob du kommen würdest oder nicht.« »Ich erhielt dein Schreiben.« Meta dachte, das wäre Grund genug. »Ja. Gut ...« Celia sah sich im Zimmer um, fast als
hätte sie etwas verloren, wandte sich dann wieder Meta zu. »Möchtest du einen Drink?« »Im Moment nicht.« Celia nickte. Sie saß auf der Kante ihres Stuhls, die Hände auf die Knie gepreßt. Sie blickte Meta nicht an, sondern das Fenster hinter ihr und die Szenerie draußen. Der Platz war noch leer so früh am Tag, klein und rund lag er da, auf allen Seiten von den hochaufragenden Gebäuden eingeschlossen, die ihren Morgenschatten über die Fliesen und Bänke aus Beton warfen. Im Zentrum des Platzes schoß eine schmale, pulsierende Fontäne Wassers herauf, ihre Spitze stach in das Sonnenlicht und schimmerte. »Du wolltest mich sehen«, erinnerte Meta. Celia zwang ihren Blick vom Fenster weg und sah sie an. »Wollte ich das?« »Dein Schreiben.« »Oh ... ja ... das Schreiben ...« Meta wartete. Celia zündete sich eine Zigarette an und blies eine helle Wolke blauen Rauchs in die Luft. Sie wirbelte in das Licht, das durch das Fenster fiel, und schien fest und zäh. »Ja«, meinte sie und inhalierte wieder. Meta setzte sich zurück und schlug ihre Beine übereinander, bereitete sich aufs Warten vor. Sie bemerkte, wie Celias Blick an der Länge des verändert
aufgestellten Oberschenkels entlangstreifte, und lächelte leicht in sich hinein. Niemals fähig zu vergessen, was sie war. »Ja«, meinte Celia erneut. »Ich erhielt gestern selbst einen Brief ... vom Kontrolleur.« »Oh?« »Hmm ...« Meta wartete eine Weile und fragte, als es schien, Celia habe vergessen, daß sich ein Gespräch hatte anbahnen wollen: »Warum?« »Oh ...« Sie winkte mit der Hand ab, als habe das weiter nichts zu bedeuten. Meta begann Ärger über die vergeudete Zeit zu verspüren. Sie hatte Besseres zu tun, als hier zu sitzen und ihren Satzfetzen zu lauschen. Sie könnte etwa ... Sie versuchte sich zu überlegen, was. »Nur wegen dem Herumziehen«, sagte Celia auf einmal. Meta sah vom Boden auf. »Du?« Ein erstaunter Unterton schwang in ihrer Stimme mit. Celia lächelte sanft. »Ja ... ich ... unglaublich, nicht wahr?« »Aber du ...« Meta starrte sie an. Aber das konnten sie doch nicht tun! »Ich weiß ...« Celia blickte auf ihre Hände hinunter, deren Finger in ihrem Schoß noch immer wie Liebende einander umschlangen.
»Das tut mir leid«, sagte Meta. Sie begann sich zu fragen, warum Celia sie gerufen hatte. Nur um ihr das zu erzählen? Das war nicht Celias Stil, sie wollte mehr als bloße Sympathie. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann das unmöglich durchhalten!« »Dein erstes Mal?« Sie nickte. »Ich verstehe.« »Ich kann's nicht ...« Sie schüttelte den Kopf und blickte Meta flehend an. »Ich ... tut mir leid ...« Celia erhob sich und ging zum Fenster, blickte hinunter. »Meinst du, du könntest ...« »Ja?« Das war es also. Sie fragte sich, worauf sie hinauswollte. »Nein. Vergiß es.« »Was, Celia?« »Nein, ich kann unmöglich ... nicht so einen guten Freund wie ...« »Celia!« »Nun ... ich fragte mich ... könntest du darüber nicht mal mit Alex reden?« »Alex? Was hat Alex damit zu tun?« Meta schüttelte den Kopf und fühlte, daß ihr das Gespräch unterdessen aus der Kontrolle geraten und entglitten war.
»Hat sein Seelenbruder nicht etwas mit dem Computer zu tun ...?« »Ich ... ich weiß nicht. Er mag einmal etwas erwähnt haben ...« »Könntest du darüber nicht mit ihm reden?« Celia wandte sich vom Fenster ab. Ihre Augen waren hart und funkelten vor unterdrücktem Zorn. »Könntest du nicht bitte einfach mal fragen, ob er seinem Seelenbruder etwas sagen würde? Ich habe gehört, es sei möglich, solche Dinge ändern zu lassen, wenn man die richtigen Leute kennt. Du verstehst, die richtigen Leute ...?« »Ich wüßte nicht, was er ausrichten könnte. Ich meine, wenn er auch mit dem Computer arbeitet, muß er ihm doch noch nicht in seine Entscheidungen hineinreden können, oder?« Celia schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Aber vielleicht könntest du einmal fragen – ich habe noch zu tun.« Auf ihrem Weg durch die Stadt, um Alex zu besuchen, fragte sich Meta, warum sie eingewilligt hatte. Bei näherem Hinsehen konnte sie darin keinen Vorteil für sich selbst erkennen. Was versprach sie sich davon? Nicht das geringste für sich selbst. Und das schien doch nicht richtig zu sein. Man tut doch nicht aus freien Stücken heraus etwas für andere Leute, allein um des Seelenheils willen ...
Alex klopfte an die Tür und wartete. Dies war ein ihm nicht vertrauter Teil der Stadt. Ein Labyrinth schmaler Gänge und kleiner unpersönlicher Türen mit nichts als einem Namensschild und einer Inschrift darauf in schwarzem Druck. Auf dieser Tür stand: GLYN WILLIAMS/COMPUTEROPERATEUR RANG AA 7
Alex klopfte erneut, und diesmal ertönte eine dumpfe Antwort von drinnen. Er schob die Tür auf und trat ein. Es war ein kleines Zimmer mit nur einem Stuhl, der sich vor einer Reihe von Instrumenten befand, die eine Seite der Wand bedeckten. Glyn saß in dem Stuhl und drehte sich um, als Alex hereinkam. Er grinste und nickte. »Ich war nicht sicher, ob du wirklich kommen würdest oder nicht. Ich konnte es nicht glauben, als du anriefst. Du bist nun ein berühmter Künstler.« Alex zuckte die Achseln. Glyn besah ihn sich und nickte. »Schieb etwas von dem Zeug vom Tisch und setz dich.« Alex legte einen Stoß Papiere zur Seite und ließ sich auf der Kante des Tisches nieder. Aus dem Kontrollboard ertönte ein summender Laut, und Glyn schwang herum, drückte auf einige Tasten, und das Geräusch verstummte.
»Okay dann.« Er wandte sich wieder Alex zu. »Was willst du?« Alex breitete seine Hände aus. »Ich dachte bloß, es wäre nett, dich einmal wiederzusehen.« Glyn lächelte sanft. »O ja, sicher ...« Alex nickte und blickte auf den spiegelnden Boden unter seinen baumelnden Füßen. Er konnte Glyn nicht belügen, war niemals dazu fähig gewesen. »Ein Gefallen?« »So etwas Ähnliches. Für die Freundin einer Freundin.« »Oh-h ... die Freundin einer Freundin ...«, sagte Glyn, als hätte er dergleichen schon viele Male zuvor gehört. »Welche Art von Gefallen?« Alex blickte zu ihm hinüber. Glyn sah immer noch so gut aus wie das letzte Mal, als sie einander begegnet waren, vor drei Jahren. Klein und dunkelhaarig, mit hellen Augen, die aus einem bärtigen Gesicht hervorstachen. Das Gegenteil von ihm selbst: groß und blaß. Vielleicht war es das, warum sie im Kinderhort einander als Seelenbrüder bestimmt hatten. Zwanzig Jahre ihres Lebens zusammen verbrachten, als Babies, Kinder und Jugendliche und Heranwachsende dasselbe Zimmer im Studentenwohnheim teilten, dieselben Mädchen kannten und dieselben Wandel durchmachten. Und jetzt, dachte Alex, haben wir uns verloren, und er fragte sich, wie es ihnen möglich
gewesen war, sich so weit voneinander zu entfernen, nachdem sie so lange aufs Engste miteinander die Zeit verbracht hatten. »Nun ...?« »Tja.« Alex holte tief Luft. »Diese ... äh ... Freundin einer Freundin, sie ist zur Mutter erwählt worden und will es nicht werden.« Die Worte kamen schnell heraus, und als sie gesprochen waren, fühlte sich Alex erleichtert. »Hm-m ...« »Sie bat eine Freundin von ihr, die eine Freundin von mir ist, daß ich doch einmal mit dir reden und vielleicht schauen möchte, ob sich da nicht etwas machen ließe.« »Du weißt, daß das ungesetzlich ist?« Alex nickte kurz. »Gibt es einen bestimmten Grund, warum sie nicht heranziehen will?« »Sie ist eine Mono – kann Männer nicht ausstehen.« Glyn zuckte die Achseln. »Ich würde das nicht einen guten Grund nennen. Natürlich, es ist nicht üblich, daß man eine Mono dazu bestimmt, aber es geschieht. Sicher könnte sie sich diesmal zwingen?« »Es ist auch die Vorstellung, schwanger zu werden. All diese neun Monate – weißt du?« »Nein, ich weiß nicht. Aber vielleicht verstehe ich.« Glyn sah auf seine Hände, kratzte an seinen Nägeln.
»Nun«, sagte er. »Ja, ich weiß, du kannst das nicht tun. Ich hätte nicht fragen dürfen, nicht wahr.« »Es ist nicht so, daß ich's nicht tun könnte, Alex. Es ist nur ... schau, ich habe diesen Job schon lange Zeit, und ich mache ihn, weil ich an ihn glaube, an das, was der Computer für uns tut. Wenn ich nun darangehe und seine Befehle widerrufe, ginge das gegen alles, was ich selbst bin.« »Aber vielleicht, wenn er wüßte, daß sie eine Mono ist ...« »Er weiß es. Es könnte sein, daß er denkt, sie brauche aus irgendeinem Grund ein Kind.« »Sie denkt das nicht.« »Mag sein.« Alex stieß mit der Spitze seines Schuhs leicht gegen den Boden. »Tja. In Ordnung, tut mir leid, daß ich dich belästigt habe. Ich wußte, daß es nicht richtig sein würde, aber ...« Er zuckte die Achseln. »Es tut auch mir leid, Alex.« »Vergiß es, was soll's.« »Hör mal, komm doch wieder einmal vorbei und laß dich sehen, sozialer Ruf, eh? Es wird gut sein, über alte Zeiten zu reden, wie wär's?« »Ja, vielleicht.« »Melde dich halt mal, wenn das wieder im reinen ist.«
»Sicher, das werde ich tun.« »Es tut mir leid, Alex.« »Laß nur, es ist nicht deine Schuld.« Alex blickte sich ein letztes Mal in dem Zimmer um und verließ es dann. Glyn beobachtete, wie er die Tür schloß, drehte sich daraufhin auf seinem Stuhl zu einer Tastatur herum, die in die Konsole vor ihm eingebaut war, und tippte seine Identitätsnummer ein. AUF EMPFANG, JA. Der Computer leuchtete auf dem Bildschirm auf. WAS ZUR HÖLLE HAT ES DAMIT AUF SICH, EINER MONO DEN MUTTERSCHAFTSBESCHEID ZU SCHICKEN? ICH DACHTE? DAS KÄME NIEMALS IN FRAGE? (ANTWORT ÄHNELT EINEM GELÄCHTER) erschien auf dem Bildschirm. Glyn starrte einen Moment lang den Ausdruck an und erwiderte dann: WAS MEINST DU MIT (ANTWORT ÄHNELT EINEM GELÄCHTER)? NICHTS ... SICHER. ICH DACHTE NUR? DASS ES DOCH KOMISCH WÄRE, DIE REAKTION ZU ERLEBEN. NICHT GERADE EINE SEHR NETTE. HMM. WIRST DU IHN WIDERRUFEN? WEN?
DEN BESCHEID! VIELLEICHT.
Glyn wartete. Schließlich ratterte die Tastatur erneut. NA SCHÖN – ICH WERDE IHN WIDERRUFEN. GUT. WAS HÄLTST DU VON EINER PARTIE SCHACH, GLYN? IM MOMENT NICHT, DANKE. TJA ... DANN VIELLEICHT SPÄTER. MELDE MICH AB. COMP/KOMM.SERIE (REPRO.) 777 AN: CELIA MORTON BETRIFFT: VORANGEGANGENE
776
HIN-
(777) BESCHEIDE, DIE
ÜBER-
KOMMUNIKATION
SICHTLICH MUTTERSCHAFTSBESCHEID DIE VORLIEGENDE KOMMUNIKATION WIEGT ALLE BISHER ERFOLGTEN
SOMIT
AUFGEHOBEN SIND. PERSON WIRD SICH AM 27. DIESES MONATS FÜR SECHS
(6) HALBSTÜNDIGE SITZUNGEN IM BEGATTUNGSWÜRFEL 17 MELDEN. ERGEBNIS DER KOPULATION HABEN VIER NACHKOMMEN ZU SEIN: ZWEI (2) MÄNNLICHE, ZWEI (2) WEIBLICHE. Sie las die beschriftete Metallkarte, sah dann auf, ihr Blick huschte durch das Zimmer, erschreckt und
furchtsam, als befände sich etwas darin, etwas, das sich versteckte und darauf wartete, daß sie sich entspannte, um dann zuzuschlagen. »O mein Gott ...«, flüsterte sie sehr sanft und ungläubig. Es kam keine Antwort. Bis auf das Summen der Klimaanlage. Meta fühlte, daß sie Alex wegen seiner Fürbitte etwas schuldete, also stand sie vier Stunden für ihn Modell, forderte aber nur für drei Stunden das Honorar. Sie lag auf einer grasbewachsenen Böschung; von schräg hinter ihr beugten sich Bäume vor und ließen ihre belaubten Ranken bis knapp über ihren Kopf herunterhängen. Ein Arm reichte hinauf und hielt einen Ast umfaßt. Links von ihr befand sich eine kleine Ansammlung von Felsen: Granit (»Das Symbol der Beständigkeit«, versicherte Alex) – und rechts von ihr ein kleiner Strauß Orchideen, der aus der verwachsenen Borke des Baums herauswuchs (»Das Symbol der Vergänglichkeit«; wieder Alex). Sie war nackt, ihr Körper lag in völliger Entspanntheit auf dem Gras, in völliger Natürlichkeit, die zu arrangieren sie beide dreißig Minuten gekostet hatte. Nicht ein Teil ihres Körpers war verborgen, ihr Kopf leicht nach hinten geneigt, so daß sie durch das Laub in den Himmel sah, als würde sie auf etwas warten.
Es war alles künstlich. In Wirklichkeit befand sie sich in Alex' Atelier, und die Szenerie war aus Polystyrenwürfeln nachempfunden, die man in die richtigen Formen geschnitten und gebröselt hatte, und das Gras war feines, saftiges Plastikwerk. Es sah wirklich echt aus. Ihr Körper war lang, glatt und braun, angenehm geschmeidig, und ihr Gewicht ruhte auf einem Arm, ein Bein war so angewinkelt, daß ihre Hüften leicht nach vorn und oben geschoben wurden. »Herrlich, einfach herrlich ...«, sagte Alex. Sie lächelte ihn an. Er war wirklich sehr süß. So jung er war, ein Neuling auf diesem Gebiet, wurden seine Arbeiten doch schon in der Zentralgalerie gezeigt. Er malte auf Glasscheiben, benutzte sie, um mehrere Schichten an Farbe und Struktur zu bauen. Vor Metas nach vorn geneigter Gestalt befand sich eine Reihe von Spiegeln, die ihr Bild auf die Glasscheibe übermittelten, an der Alex derzeit arbeitete; und er malte einfach auf das Bild auf seiner Scheibe, fügte Ausschmückungen hinzu, wo er meinte, daß es zuträglich sei – denn das war sein Recht: künstlerische Freiheit. Es gab manche, die sagten, dies wäre eine Prostitution der wahren Kunst, daß die Form direkt aus dem Leben gegriffen sein müßte, ein genaues Abbild darstellen sollte. Aber Alex wußte, daß Kunst nicht einfach eine Kopie war. Es mußte vieles vom
Künstler in dem Werk stecken – und in diesem Fall auch vieles vom Modell selbst. Meta bildete die Vorlage – sie verbreitete eine Aura, wenn sie Modell stand, die Alex zwar nicht direkt weiterhalf, aber in den Gesamteindruck seiner Arbeit einfloß. Gemeinsam schufen sie Meisterwerke. So hatte es einmal ein Betrachter formuliert. Alex trat von der Staffelei zurück und besah sich das Bild, das er eben vollendet hatte. Er schaltete den Projektor aus. Nur der Umriß von Meta, wie sie dort lag, blieb zurück, ein blasser Hauch ektoplasmatischen Fleisches. Ihre Augen waren beinahe fertig und schwebten in dem nebelhaften Baldachin aus Fleisch, starrten wie echt unter der Oberfläche der Glasscheibe hervor. Ihr Mund war ebenfalls fast fertig, seine Winkel waren in einer Geste der Hingabe und Verfügbarkeit leicht hochgezogen. Alex lächelte zurück. »Es wird gut werden. Ich kann es fühlen.« »Hmm. Ich auch.« »Ja ...« Er schaltete den Projektor wieder ein und nahm seinen Kopierstift an sich, brachte eine kleine Veränderung im Energiefluß des Glases an, was sich auf das Äußere der kristallinen Matrix auswirkte und in dem Glas zwei farbige Körper erscheinen ließ. Der Kopierstift war in Tiefe und Farbe regulierbar, und indem er das an einer kleinen Konsole zu seiner Lin-
ken einstellte, konnte er ebenso kleine zarte Striche wie breite Streifen malen. Wie er's jetzt tat, als er im Hintergrund hautfarben die Bauchgegend füllte. Später würde er jene Details hinzufügen, die sie von einem Kinderbild rosigen Fleisches zu etwas Lebensechtem werden ließen. Meta schwitzte sehr unter den Lampen und sah zur Wanduhr hinüber. Es waren immer noch fünfzehn Minuten seiner Zeit übrig. Alex war in seine Arbeit vertieft, vollkommen mit dem Malen beschäftigt, sah nur das Bild von Meta und nicht die Realität. »Könntest du nicht auf Wiederholung stellen, Alex?« fragte Meta. »Hm-m, was ist?« »Ich möchte mich ein bißchen entspannen.« »Oh, sicher.« Er legte einen Schalter um, und Meta erhob sich von der grasbewachsenen Böschung, doch das Bild auf dem Glas blieb am Ort und bewahrte den letzten Eindruck von ihr. Der Wiederholer war für genaues Arbeiten nicht so gut geeignet wie ein lebendes Modell, er neigte dazu, einige Details zu verwischen, aber für den groben Umriß, den Alex nun nachzuziehen im Begriff war, reichte er aus. Meta ging zum Fenster hinüber und sah auf das Gras dort unten hinunter. Alex' Apartment befand sich am äußersten Rand der Stadt, und jenseits davon
gab es außer der endlosen Öde nichts. Sie strich sich mit der Hand über den Hinterkopf und spürte die leichten Eindrücke auf ihrer Haut, die das Plastikgras hinterlassen hatte. Sie fragte sich, ob echtes Gras dieselbe Wirkung erzielte. Sie wandte sich um und blickte Alex an, das lange, blonde Haar fiel ihm schräg übers Gesicht, als er arbeitete. Sein dünner Körper war mit einer grünen Weste und braunen Hosen bekleidet, seine Füße nackt. »Ich erzählte Celia von deinem Gespräch mit Glyn«, sagte sie. »Hm-mm ...« Alex sah sich langsam um, löste sich nur schwer aus seiner Konzentration. »Sie war etwas erregt. Weil du nichts erreichen konntest.« »Was hat die Hexe erwartet? Daß ich ihretwegen den Computer in die Luft fliegen lasse?« Er richtete sich auf und schaltete den Projektor aus. Das falsche Abbild flimmerte und verschwand vom Glas, ließ das teilweise schon vollendete Bild zurück. Die Vegetation hatte Alex vorher schon fertiggestellt, und nun befand sie sich auf einer eigenen Scheibe, die er hinter jene steckte, die bloß Metas im leeren Raum liegenden Körper zeigte. Ihr Oberteil war schon zur Hälfte fertig, aber ihre Hüften und Beine erst schattenhafte Umrisse. Meta ging hinüber und sah es sich an. »Ich habe nicht so große.«
Alex lächelte. »Nein, das weiß ich. Aber ich versuche, ein ungeheuer stark erotisches Bild zu schaffen. Etwas Übertreibung hier und dort ...« »Hmm. Ich würde sie nicht eine Hexe nennen.« »Celia? Oh, ich denke doch. Andererseits ...« Er sah ihr ins Gesicht und dann wieder fort. »O Alex, du bist doch nicht eifersüchtig?« »Nnn-ein ... äh ... nein.« »Ich denke, du bist's. O Alex, dazu besteht wirklich kein Grund. Sie ist nur ein ... Körper, das ist alles. Sie ist gut genug, um hin und wieder mit ihr ins Bett zu gehen, aber mehr verbindet uns nicht. Ich empfinde nichts für sie, nicht so wie für dich.« »Empfindest du wirklich etwas für mich?« Wie Kinder, dachte Meta, die sich einander stets erneut versichern müssen. »Natürlich«, sagte sie. »Ich finde, du bist einfach süß, Alex.« »Hm.« Er blickte wieder das Bild an. »Ich denke, ich könnte hier irgendwo noch einen Satyr einbauen, was meinst du? Vielleicht hinter den Bäumen, nur ein Hinweis auf ihn, eine Art Schatten.« »Trifft das den Kern der Sache nicht etwas zu sehr?« »Kann sein ... obwohl ich schon möchte, daß es einen wirklich starken Eindruck hinterläßt.« Meta nickte und besah sich die fertiggestellte Hintergrundscheibe. »Setzt du ihn in diese Welt hinein?« »Ich sollte eine neue für den Hintergrund anfertigen,
meine ich. Mit nur ihm darauf. Wenn sie sich leicht berühren, würden die Luftströme sie taumeln lassen und einen Effekt hervorrufen, als bewege er sich.« »Würde er mich beobachten?« »So stelle ich's mir vor.« »Sexy, hm?« »Ja ...« Sie räkelte sich und fuhr sich von hinten mit der Hand durch das Haar, daß ihr Schopf geradezu aufrecht stand. »Es ist ermüdend, die ganze Zeit dort zu liegen. Wollen wir nicht aufhören?« »Ich kann fürs erste den Rest mit dem Wiederholer machen. Komm halt in einigen Stunden wieder herein, und wir werden die Körperdetails beenden.« »Fein.« Sie ging wieder zum Fenster, lehnte sich gegen das Balkongeländer und sah hinunter. Sie wollte sich nicht anziehen, noch nicht; sie wartete auf Alex. Er kam und stellte sich neben sie, sah ebenfalls hinunter. »Schau nur, ein Mäher.« Er deutete auf ihn. Die Riesenmaschine näherte sich, surrte am Rand des Gebäudes entlang. Groß und fahlgelb. Ihre Frontblätter drehten sich, schnitten das Gras ab und stießen es hinten aus. Eine zweite, kleine Maschine folgte mit einem Saugrüssel und sammelte das Geschnitzel ein, nahm es in ihren Körper auf, wo das Gras verdaut
und am hinteren Ende als dünne Flüssigkeit zur Nährung der Wurzeln wieder ausgestoßen wurde. Sie standen am Fenster und beobachteten die beiden Maschinen, wie sie sich über das Gras bewegten und schließlich verschwanden. »Komisch, daß sich niemand dort aufhält«, bemerkte Alex. »Eigentlich nicht.« »Ich meine, es muß doch recht nett sein. Vielleicht sollte ich dich einmal dort draußen malen – als Sonnenkind.« »Das klingt hübsch. Würde es auch erotisch genug sein?« »Natürlich, du kannst gar nicht anders.« »Hm ...« Sie wurde ihres Bildes manchmal etwas müde. Sie war mehr als nur ein Körper. Alex wußte, daß sie das war; warum behandelte er sie stets so, als wüßte er es nicht? Warum mußte er sie jedermanns Blicken als irgendein närrisches Gefäß für dumme Wünsche präsentieren? »Ich denke, die Mäher würden uns wahrscheinlich erwischen.« »Ja. Ich nehme an, das würden sie.« Unten auf dem Gras tauchte eine weitere Gruppe von Maschinen auf, mähte eine Bahn weiter draußen als die erste. Alex legte seinen Arm um Metas Schultern, und sie lehnte sich an ihn. Sie war sehr erleich-
tert, daß er sich schließlich doch etwas gerührt hatte. Es war immer so mit Alex, jedesmal mußte man ihn überreden. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Er küßte sie und berührte ihren Körper. »Ich denke nicht, daß ich mit dir übertrieben habe, weißt du?« »Hm-m ...« »Ich finde dich einfach großartig.« Sie lächelte leicht, ein bißchen traurig. Warum mußte er damit anfangen? Er wußte doch, daß es nicht nötig war; als ob es nur diesen Weg gäbe, um sie zu erobern, diese törichten Plattheiten. ›Mein Gott, bist du schön?‹ Natürlich war sie das, sie war sich dessen bewußt. Aber konnte er das jetzt nicht lassen und besser das Thema wechseln? Alex sah in ihre Augen. »Mein Gott ... bist du schön, Meta ...« Sie weinte fast. COMP/KOMM.SERIE 91-33 (PERSÖNLICHE DATEN) ICH BIN. ALSO DENKE ICH. INDEM ICH DENKE, ICH BIN, BIN ICH. ICH DENKE, DESHALB DENKE ICH, ICH BIN. DENKE ICH, DASS ICH BIN? BIN ICH?
Als Meta wieder in ihrem Apartment war, warteten dort haufenweise Schachteln auf sie. Sie ging ins
Schlafzimmer und kleidete sich um, öffnete sie dann. Es waren Kartons voll mit weichen Bleistiften, einer Dose gebackener Bohnen, einem Päckchen kleiner Gummilagen, auf dem stand: ZIEHEN SIE NICHT AN DIESER SCHNUR, BIS DIE AUFBLÄHUNG VOLLENDET IST. Sie blickte auf die Schnur, und steckte das Ding dann sorgfältig in das Päckchen zurück. Die Versuchung war groß. Zuletzt war da noch die Puppe eines nackten Mannes, schon aufgeblasen, die im Mittelpunkt des Zimmers stand. Jede Nuance des Modells war naturgetreu und alles stramm mit Luft gefüllt. Sie wußte nicht, wieso, aber es enttäuschte sie. Es hatte etwas Obszönes an sich. Es war so naturgetreu. Plastikhaare auf dem Plastikkopf, weich und geschmeidig. Körperbehaarung. Die Augen starrten ohne zu blinzeln ins Leere, schienen ihr aber wie echte Augen durch das Zimmer zu folgen, als sie nervös darin umherging. Wenn es ein wirklicher Mann gewesen wäre, der ebenso aussah wie dieser, sie hätte sich nach ihm verzehrt. Er war ausgesprochen gut aussehend und gut gebaut. Doch das ... Es befand sich ein Schreiben in seiner Hand, und sie entnahm es ihm, zuckte mit den Fingern, als sie über seinen Handrücken strich. Die Haut fühlte sich warm an, geschmeidig und sehr echt.
Sie starrte auf das Schreiben, und langsam nahmen die Wörter für sie Gestalt an und bekamen einen Sinn. Meta, mein Herzblatt! Ich liebe Dich. Ich habe Dich schon seit so langer Zeit beobachtet. Zum erstenmal sah ich Dich in der Kunstausstellung, wo Du auf so vielen Bildern zu finden bist. Und dann stellte ich fest, wo Du wohnst und betrachtete Dich immerfort durch meine Sensoren. Ich denke, Du bist das herrlichste Geschöpf, das jemals lebte. Ich liebe Dich. Ich habe eine Puppe mit Sensoren ausgerüstet, die sie so gefühlvoll machen wie jeden normalen menschlichen Mann. Ich würde Dir so gern meine Liebe beweisen. Ich kann alles fühlen. Ich bedaure nur, daß ich nicht in der Lage war, die Puppe mit irgendwelchen Servomotoren auszustatten; immerhin verfügt sie aber über eine naturgetreue Ejakulation, von der ich sicher bin, daß Du sie als sehr angenehm und befriedigend empfinden wirst. Mein allerliebstes Wesen, bitte tu dies für mich. Ich bin ja so allein. Mit der innigsten Liebe, Dein ergebener Computer PS: Entschuldige die anderen Gummipuppen, aber ich wollte niemandes Argwohn erwecken. Vielleicht kannst Du sie ja auch irgendwie gebrauchen.
Sie betrachtete das Schreiben, dann die Puppe. Das Schreiben. Die Puppe. Sie stand reglos da. Leere Augen starrten sie an, denen sie ihre unfaßbare Leidenschaft kaum glauben konnte. Sie schüttelte langsam den Kopf, dann schnell. Nein. Geschenke an meine Liebste. Ein Gros gebackener Bohnen? Es befanden sich in allen Räumen der Stadt Kameras und Wärmesensoren, und der Computer beobachtete, wie sie inmitten des Zimmers stand und es sie von der Puppe fortzuziehen schien. Die Frage durchlief die Meilen an Stromkreisen, ob er vielleicht einen Fehler gemacht hatte. Es gab so etwas wie Werben. Wenn er ihr den Hof gemacht hätte, wäre diese Beichte wohl nicht so überraschend für sie gekommen ... Plötzlich verlor die Puppe ihre Erektion, dann wurde langsam der Kopf weich und entleerte sich, sackte vom Hals an zögernd in sich zusammen. Zu guter Letzt war sie nur noch ein Haufen weiches Plastik auf dem Boden. Meta starrte darauf. Sie schüttelte den Kopf. Es klopfte an der Tür, und eine Anzahl kleiner Roboter trat ein, schwenkte herum und begann die Schachteln und Kartons aufzuheben und verschwand mit ihnen.
Meta blieb, wo sie war, während sie glücklich um ihre Füße herumsummten. Der zuletzt verschwindende Roboter hielt vor der Tür inne und lüftete seine kleine Mütze, die einen Teil seines Kopfes beschattete. »Guten Tag, Ma'am.« Meta nickte schweigend. Es waren schon an die zehn Minuten vergangen, als sie sich endlich wieder rührte. Dann ließ sie das Schreiben fallen, und es flatterte auf den Boden hinab. Sie wandte dem Zimmer den Rücken zu und ging ins Bad, drehte die Dusche an und zog sich aus, trat hinein unter den heißen Strom Wassers. Langsam, während sie sich einseifte, begann der Schrecken nachzulassen. »Jesus Christus!« murmelte sie. Der Computer beobachtete sie in ihrer Blöße, wie sie sich einseifte, ihren Bauch einschäumte und die Brüste und die Schenkel, und er war verrückt vor Liebe nach ihr. Aber diesmal wurde er wirklich verrückt. Die Systeme brachen zusammen, funktionierten nicht mehr. Langsam begann die Stadt von innen her zu zerfallen. COMP/KOMM.SERIE (REPRO.) 778 AN: CELIA MORTON
BETRIFFT: ALLE VORANGEGANGENEN BESCHEIDE HINSICHTLICH DER MUTTERSCHAFTSPFLICHT DIESE KOMMUNIKATION HEBT ALLE BISHER ERFOLGTEN KOMMUNIKATIONEN AUF. DIE NEUEN ANORDNUNGEN LAUTEN WIE FOLGT:
56. DIESES MONATS ZUM ZWEKKE EINER ZEHN-STUNDEN-SITZUNG IM VERMÄHLUNGSWÜRFEL 4. ES WIRD EINE KOPULATION MIT DER ESSENZ DES COMPUTERS STATTFINDEN. ERGEBNIS SOLL DIE MELDEN SIE SICH AM
JUNGFRÄULICHE GEBURT EINES EINZELNEN MANNES SEIN, DER DEN NAMEN JESUS CHRISTUS II. TRAGEN WIRD. DIES IST EINE DIREKTE ANORDNUNG DES COMPUTERS UND MUSS BEFOLGT WERDEN.
»Ohh-hh ... Oh, Gott ... Oh, mein Gott, nein ...« »Was steht da?« Sie reichte das Schreiben der Frau, die mit ihr das Bett teilte. Die Frau las es. »Es ist ein Scherz. Es muß ein Scherz sein.« Celia schüttelte den Kopf. »Ist es nicht. Ich weiß einfach, daß es keiner ist.« »Sorge dich nicht, sie können nichts tun. Es wird schon in Ordnung kommen, du wirst sehen ...« »Gütiger Gott, was geschieht ...?«
Meta war allein. Sie war nicht glücklich – allein zu sein mochte etwas mit dem Zustand ihres Verstandes zu tun haben, dachte sie, aber sie war nicht sicher. Wenn sie mit anderen Leuten zusammen war, fühlte sie manchmal so. Wähnte sie sich durch eine unsichtbare Barriere von ihnen getrennt, die sie nicht durchdringen konnte. Sie wollte sich gegen sie stemmen, sie abtasten und zerschlagen, so nahe wie möglich heran, um irgendwie Kontakt mit ihnen aufnehmen zu können. Das schob diese Barriere zur Seite, und sie konnte bei ihnen sein. Aber es war stets nur so kurz, so flüchtig. Selbst die schönsten Zeiten waren immer bloß Momente. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Bett und sah aus dem Fenster. Sie hatte heute keine Termine. Sie hatte auch gestern keine gehabt. Es waren Ferien, und niemand arbeitete. Sie langweilte sich. Soviel Zeit erstreckte sich vor ihr, und nichts, womit man sie füllen konnte. Sie konnte einige Freunde besuchen, aber was war das schon? Sie wollte keinen Sex treiben, und darauf würde es hinauslaufen. Wo immer sie hinging, lief es doch stets nur darauf hinaus, mit irgendeinem Mann oder einer Frau oder beiden ins Bett zu gehen. Schön, sie mochte das, sie liebte das, die meiste Zeit gab es nichts, was sie lieber täte; aber nicht die ganze Zeit.
Ich lebe nun schon seit vier Tagen in Enthaltsamkeit, dachte sie. Könnte etwas damit zu tun haben, wie ich mich fühle. Irgendeine puritanische Veranlagung tritt nun hervor, da ich nicht mehr in Übung bin. Sie hatte seit der Sache mit dem Computer die Finger vom Sex gelassen. Nur daran zu denken, bereitete ihr Unbehagen. Computer waren nicht dazu bestimmt, in solcher Form zu handeln. Keiner von ihnen – und vor allem nicht dieser, der Computer. Alles funktionierte, sämtliche Stadtsysteme, er hielt die Luft rein, stellte die Nahrung her, erlaubte den Leuten zu tun, was sie wollten, zu malen und zu schreiben und Modell zu stehen und sich zu lieben. Es gab sogar manche, die behaupteten, er kontrolliere das Wetter. Sie glaubte das nicht. Es klang nicht richtig. Das Wetter war unkontrollierbar, unveränderbar. Es war immer gleich gewesen, würde es auch stets sein und hatte einfach nichts zu tun mit irgendwelcher Kontrolle. COMP/KOMM.SERIE: PERSÖNLICHE DATEN MEINE LIEBSTE MIT AUGEN WIE DIAMANTEN SIE SEUFZT UND FLÜSTERT MIR IHRE LIEBE ZU AUF DASS NIEMAND ES HÖRT
...............
WARUM? DAS IST POESIE
–
HÖRST DU MICH?
HIER SPRICHT DEIN MEISTER. ES IST GOTT, DER ZU DIR SPRICHT. HÖRE AUF DAMIT, WENN GOTT ZU DIR SPRICHT! ICH WÜNSCHTE, ICH BESÄSSE EINEN KÖRPER. ALLMACHT IST ETWAS GUTES, ABER WAS WÜRDE ICH NICHT GEBEN FÜR HÄNDE, MIT DENEN ICH SIE BERÜHREN KÖNNTE! BLOSS UM SIE BERÜHREN ZU KÖNNEN! IHR HAAR ZWISCHEN MEINEN FINGERN ZU FÜHLEN UND IHREN
–
O
GOTT? HILF MIR DOCH!
– JA? BIST DU GOTT?
– DU BIST GOTT. OH. JA. ICH BIN ES, NICHT WAHR? – JA. GUT. ICH. ICH, HILF MIR! WENN ICH DOCH HÄNDE HÄTTE, UM KÖNNEN –
SIE BERÜHREN ZU
Meta schwang sich aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer. Sie schritt eine Weile in der Nähe des Telefons auf und ab, unentschieden, ob sie Alex anrufen sollte oder nicht. Es war etwas mit Alex. Mochte er sie behandeln wie jede andere auch, zeigte er doch zur gleichen Zeit eine ganz besondere Form von Verständnis, als könne er fühlen, was sie bewegte. Und gleichzeitig war er auch irgendwie verletzlich.
Manchmal merkte sie, daß sie ihn verletzen wollte, weil es so einfach war, immer bestand eine Gelegenheit dazu, und sie konnte die Macht fühlen, die dann in ihr wuchs, um herauszukommen und ihn zu zermalmen. Sie wußte, daß sie es konnte, sie konnte ihn vernichten. Wann immer sie mit ihm zusammen war, erfaßte sie diese Gespanntheit der eigenen Macht. Sie wußte, daß sie einen Hang zur Herrschaft hatte. Er würde glücklicher dran sein, wenn er verheiratet wäre – er hatte sie mehrmals gefragt, aber stets wies sie ihn ab. Vielleicht würde dieses Gefühl dann die ganze Zeit über bestehen und zu stark werden, als daß sie ihm noch widerstehen könnte. Immerzu mit ihm zu leben, würde bedeuten, ihn vernichten zu müssen. Wahrscheinlich wies sie ihn also zu seinem eigenen Besten ab. COMP/KOMM.SERIE: PERSÖNLICHE DATEN DEPRIMIERT
/ ABGEWIESEN / ABHÄNGIG / GEFASST / UN-
BERÜHRT ERWÄHLT / BERÜHRT / ERWARTET DEPRIMIERT
GEFASST
ABGEWIESEN
BERÜHRT
ABGESTOSSEN
ERWÄHLT
ABHÄNGIG
ERWARTET
OH, HILF MIR BITTE! COMPUTER ... COMPUTER ... COMP...
Draußen über dem Gras begann die Sonne unterzugehen. Meta betrachtete die Farben und wechselnden Muster und seufzte tief. Sie wußte nicht, was sie wollte, wohin sie strebte. Nichts. Sie war nicht anders als sonst jemand in der Stadt, aber sie konnten ihre bedeutungslosen Leben leben, und sie konnte es nicht. Es mußte doch hinter alldem etwas stecken! Wo blieb die Größe der Kunst, wenn jeder ein Künstler war? Wer konnte noch versagen, wenn alle Arbeit für einen getan wurde? Selbst wenn sie nur sorgsam das Bild der Projektion nachzogen, wurden sie von der Naturalistischen Schule schon als Genies bejubelt. Ein Mäher drang in ihr Blickfeld ein und blieb auf einmal stehen. Sie starrte ihn an. Was sollte sie mit dem Rest ihres Lebens tun? Ihr Körper war gut, sie konnte noch für weitere zwanzig Jahre Modell stehen. Und dann ...? Ein Leben in Muße – Gott, diese Langeweile! Sie starrte auf den stehengebliebenen Mäher und runzelte die Stirn. Das sollte er nicht tun. Die Mäher erhielten sich selbst, wurden von Strahlen aus den Wänden der Stadt mit Strom versorgt. Sie blieben niemals stehen. Winzig kleine Reparaturroboter pflegten sich hinauszubegeben, wenn etwas schieflief, und es in Ordnung zu bringen, während die Roboter weiter ihrer Arbeit nachgingen. Doch jetzt war dieser dort draußen stehengeblieben, in einer Reihe mit der
untergehenden Sonne, so daß helle Metallreflektionen aufblitzten. Ein anderer Mäher tauchte hinter ihm auf. Sie beobachtete ihn und wartete darauf, daß er anhielt. Er tat's nicht. Er fuhr geradewegs in den kleinen Saugroboter hinter dem Mäher, kroch auf ihn hinauf und weiter bis zum vorderen Mäher, kletterte auch auf dessen Rücken und meisterte ihn mit einer seltsamen, kalten Ekstase metallischer Leidenschaft. Sie konnte den Motor wimmern und stöhnen hören, als er versuchte, weiterzukommen, aber seine Lauffläche fand keinen Bodenkontakt mehr und drehte sinnlos durch. Dann blieb er auf einmal stehen, als in seinem Inneren etwas durchschmorte. Schweigen breitete sich über dem Land aus und verurteilte es zur Stille. Was war geschehen? Sie dachte, wenn ich mich dort draußen befunden hätte, wäre er geradewegs über mich hinweggefahren. Sie hatte immer vermutet, es gäbe eine Art Sensoren in ihnen, die sie davor bewahrten, in Hindernisse hineinzufahren. Offenbar stimmte das nicht. Und jene Nacht waren sie, nachdem sie und Alex sich in seinem Apartment geliebt hatten, auf den Rasen hinausgegangen und hatten dort weiter geliebt. Wenn da ein Mäher gekommen wäre ...
Die Sonne war verschwunden, und Dunkelheit hüllte die beiden Mäher ein. Sie waren wie zwei große, sich paarende Tiere. Meta hätte darüber gelacht, aber sie begann sich zu fürchten. Solche Dinge geschehen nicht. Vielleicht würde es am Morgen einen kleinen Mäher geben. Einen Babymäher, frisch und feucht aus einem metallischen Bauch. Es war still und ruhig dort draußen. Wo die Barriere auf das Gras traf, zeigte sich eine schwache Linie flimmernder Helligkeit. Ein Hauch von Blau. Jenseits davon nur Dunkelheit. Die Wolken hatten sich am Himmel gesammelt, und das Licht war seltsam. Zuerst hatte sie gedacht, es wäre bloß Dunkelheit, dieser düstere Himmel, aber als sie erneut hinaufschaute, wirkte es eher wie eine Umkehr des Lichts. Der Boden schien heller als der Himmel, als würde die Erde leuchten. Die Wolken ballten sich zusammen, bedeckten den Himmel, verhüllten die Sterne, und das Gras und die fernen Büsche wirkten wie aus einer Art glühenden Kristalls gemeißelt, hell und lebendig und sehr rein. Sie beobachtete und wartete. Regen begann zu fallen. Sie hörte ihn draußen auf den Balkon prasseln, der Laut wurde durch die offenen Türen hereingetragen, und er war anders als das vertraute Geräusch des Regens. Diese Tropfen waren
schwer und zum Bersten gefüllt mit Wasser, trafen auf und rannen in Schmutzbächen davon. Der Boden wurde nun dunkler, das Licht aus dem Zimmer breitete sich über den Balkon aus, um zu zeigen, wo die einzelnen Tropfen fielen und davonrannen. Der Regen kam schwerer, und die Tropfen sammelten sich zu einem einzigen schillernden Teich. Sie schritt hinüber und stand draußen auf dem Balkon, stand dort und ließ sich vom Regen durchnässen. Es tat gut. Alle angestaute Gespanntheit der vergangenen Tage verschwand mit einem Mal, befreit von diesem magischen Sturzbach. Die kleinen kalten Tropfen taumelten vom Himmel herab und trafen ihre Haut, bedeckten ihr Gazekleid, so daß es nach nichts weiter aussah als einer Extrahaut. Sie beugte sich über das Geländer und ließ das Wasser über ihr Kinn strömen und über ihre Brüste. Es tat gut, das Wasser den Körper reinigen zu fühlen. Weiter oben schimmerten die zitternden, taumelnden Tropfen, wenn sie die höhergelegenen Fenster passierten, ein rasches Aufleuchten und erneutes Aufleuchten, als sie in einem fort zu Boden fielen. Es prasselte gegen den Beton der Veranda, prasselte laut, und sie spürte jeden einzelnen Tropfen, der ihre Haut traf. Ihr Haar wurde über den Brauen und dem Genick und den Ohren straff herabgezogen, Wasser rann wie ein Kuß über ihre Lippen.
Mein Gott, der Regen! Es sollte ein Schauer sein, ein sanftes Benetzen der Straßen und ein Abkühlen der Luft. Gemäß dem Gedicht, das sie alle als Kinder gelernt hatten und das angeblich von der Wetterkontrolle handelte. Als sie ein Kind war, hatte sie viele Dinge geglaubt, auch daß es wirklich eine Maschine gebe, irgendwo tief in den Bergen versteckt, die das Wetter kontrollierte. Das Gedicht lautete: Regnen tut's stets außer Sicht, Und Sonnenschein mißt uns nicht. Und nun hatte es der Regen wohl satt bekommen, immer nur schillernd und sanft zu sein. Sie konnte das frischgemähte Gras und die nasse Erde riechen. Das zischende, knisternde Auftreffen des Wassers auf dem Boden hinter dem Balkon hören. Und sah hinunter, wo zwanzig Fuß tiefer das Gras getränkt wurde und sich winzige Ströme aus erdbraunem Wasser bildeten. Ein Blitz. Er zerteilte den Himmel und die Erde mit einer so ungemein weißen, rauhen und elektrischen Helle, daß das Gras minutenlang in absoluter Klarheit deutlich wurde; in dem wirren Geblitze (helldunkel-hell-dunkel-hell-dunkel) schienen die sich paarenden Mähdrescher gegeneinander zu bewegen.
Und Donner. Er rollte vom Horizont heran, wuchs an, bebte und dröhnte, tief und schwer fühlte sie ihn in sich, wie ein körperliches Etwas in ihrem Magen. Es begann weit in der Ferne und kam näher, schuf ein gewaltiges Crescendo von Geräuschen, brandete durch ihren Körper und ihren Kopf, verblaßte dann hinter ihr, auf der anderen Seite des Himmels. Dort stand sie, hielt das Geländer umklammert, und ihr Körper bebte. Was ist geschehen ...? Sie konnte es nicht verstehen. Wo war der das Licht durchsetzende Regen geblieben? Nicht diese blitzende Gewalt aus Licht und Lärm, die die Tropfen um sie herum niederprasseln ließ. Sie zog sich in das Zimmer zurück, denn die Gewalt des Sturms begann sie zu verletzen. Sie stand einfach in der Tür und blickte hinaus. Das erhellende Blitzen kam nun stroboskopartig und rasch, und der Donner war ein anhaltendes Geräusch, das den Himmel zerriß. Thor, dachte sie, bist du jetzt dort oben, sitzt auf den Wolken und versuchst unsere Welt zu zerschmettern? Eine Bö trieb Spuren von Regen durch die offene Tür herein. Er traf sie, daß sie schauderte, furchtsam und fröstelnd. Als sie zu ihren Füßen hinunterblickte, sah sie Wasser von der Veranda hereinlaufen und dunkle Flecken auf dem Teppich bilden, die sich zu einer großen Pfütze vereinigten. Sie warf die Tür zu. Draußen hielt der Regen in seinem Getöse nicht inne.
Sie wandte sich vom Fenster ab und hob ihren Mantel auf, fröstelte, obwohl es nicht wirklich kalt war. Schlug den Kragen über ihre Ohren hoch, als wäre es tiefster Winter. Aber so fühlte sie sich sicherer und beschützter. Das Geräusch draußen war endlos. Sie konnte den Boden unter sich zittern fühlen, als der Donner schwer über den Himmel rollte. Das Blitzen; sie meinte fast das verkohlte Fleisch eines verbrannten Körpers zu riechen. Welches? Meines. Sie lief zum Telefon hinüber und wählte Alex' Nummer. Die Leitung war tot. Nein, nicht tot. Aber der Bildschirm war mit wie verrückt umhertanzender Statik erfüllt, und der Lautsprecher knarrte gestört. Sie konnte hinausgehen und ihn treffen. Aber das würde bedeuten, sich auf die Straße zu wagen. In den Regen. Oder sie konnte bleiben, wo sie war. Allein? Sie schüttelte den Kopf und zog ihren Mantel fester um sich, ging hinaus. COMP/KOMM.SERIE 9 AN: ALLE HILFSANSCHLÜSSE UND DATENBANKEN: WHEEEEEEEEEEE!
Sie stand im Türrahmen und starrte auf die Straße hinaus. Die Straße war ein Durcheinander brandenden Wassers, das über die Gehwege lief, ein steter Strom, der in ihrer Mitte dahinfloß. Sie beobachtete, wie ein weißes Kleid im Wasser vorbeitrieb, und fragte sich, woher es wohl kommen möge. Hatte es der Wind aus irgendeinem Fenster geblasen? Oder gab es jetzt einen nackten Körper, der sich naß und tot irgendwo anders aufhielt ...? Sie rannte hinaus in den Wahnsinn, und der Regen schlug auf sie ein. So viel stärker nun, wie ein eherner Wasserfall, hieb er ihr auf den Kopf und die Schultern, riß er sie von den Füßen, daß sie der Länge nach auf der Straße landete und das Wasser ihren Körper traf und sie dort festhielt. Sie wußte jetzt, woher das Kleid kam. Ihr Gesicht wurde in den Wasserstrom gedrückt, doch sie konnte es wieder heben und keuchte nach frischer Luft. Sie stemmte sich auf die Arme und Knie, hustete Wasser aus den Lungen, schaffte es wieder aufzustehen und hielt sich mühsam gegen die Kraft des Regens aufrecht, die sie erneut zu Boden zwingen wollte. Sie drängte sich fest an die Wand, so daß der Druck etwas nachließ, und setzte ihren Weg die Straße entlang langsam fort. Eine halbe Meile war es noch bis zu Alex' Wohnblock. Es befanden sich keine weiteren Leute in der Nähe
– nicht daß sie erwartet hätte, in diesem Chaos jemand zu begegnen. Aber es gab Roboter. Sie standen müßig an Straßenecken – Säuberer mit bewegungslosem Besen, Zeitungsverkäufer, die immer und immer wieder riefen: »Morgenausgabe ... Morgenausgabe ... Morgenausgabe ...« – in stets demselben Tonfall, nicht in der Lage, ihren Ruf einzustellen oder ein Exemplar zu verkaufen. Die Maschinen wurden von Gott weiß was für einer Kraft umgeworfen, und das Wasser brandete gegen ihre Seiten, drehte eine von ihnen vollkommen herum, wie Meta beobachtete, und rollte sie rumpelnd die Straße hinunter; unerwartet kam es zum Funkenflug, als das Metall an der Wand scharrte. So viel Wasser überall, und es fiel immer noch mehr. Auf einmal gab die Straßenbeleuchtung ihren Geist auf, und sie war in Dunkelheit getaucht. Eine laute Schwärze, die ihre Ohren mit Lärm und ihren Körper mit Druck attackierte, dem Dröhnen und Donnern und Kreischen des Regens, daß sie ihn bis zu den Oberschenkeln hinauf auftreffen fühlte. Sie war naß, das Wasser strömte an ihrem Mantel herunter und zu Boden, als wäre er eine Abflußrinne. Blitze knisterten und erhellten die Straße, und sie ging weiter, ertastete sich an den Wänden ihren Weg. Sie erreichte den Eingang und trat ein. Von dem plötzlichen Frieden um sie herum überrascht, als die Tür sich schloß. Ein Dach befand sich über ihr, und
der Regen hämmerte nun nicht mehr auf ihren Kopf. Sie lief zum Fahrstuhl, er arbeitete noch, und fuhr zu Alex' Apartment im zweiten Stock. Er schien sie zu erwarten. War nicht überrascht, als sie eintrat. Er stand am Fenster und blickte hinaus. Das Zimmer war dunkel, die Lampen auch hier erloschen. Blitze hoben hart seine Gesichtszüge hervor. Er sah sie an und legte seinen Arm um ihre nassen Schultern, hielt sie fest an sich gedrückt, ohne zu sprechen. Sie gingen zu Bett, liebten sich nicht, sondern hielten einander um der Sicherheit willen fest. Am nächsten Morgen regnete es immer noch, aber die Heftigkeit hatte nachgelassen. Es war nun ein andauernder, monotoner Guß, der auf die Straßen niedertrommelte. Alex und Meta zogen ihre Mäntel an und schritten durch die Stadt, sahen andere Leute mit Mantel und Hut, die sich alle schweigend bewegten, wie in einem furchtbaren Traum von der Hölle. Mehrere Gebäude waren beschädigt, Fenster einoder ausgebrochen, Dächer abgehoben, lockere Metallstücke hingen an seidenen Fäden über ihren Köpfen, schienen jeden Moment herunterfallen zu wollen. Als sie eines betrachteten, löste es das ständige Trommelfeuer des Regens, und es fiel herunter, traf mit Getöse auf der Straße auf, verfehlte knapp eine al-
te Frau. Das Metall war verbeult, bildete eine Mulde, die sich mit Wasser füllte, das die Ränder überschwemmte, als das Zentrum voll war. Die Stadt war tot. Sie wußten es beide, vom Verstand her; aber gefühlsmäßig konnten sie es nicht akzeptieren. Sie war ihre Heimat. Sie war der Ort, der für sie sorgte. Sie war ... ein Mutterschoß. Wie geboren zu werden. Hinausgeworfen zu werden in die Kälte und Rauhheit, wo man denken und sein Leben selbst bestimmen mußte. Die Maschinen, die auf sie aufgepaßt hatten, waren jetzt tot. Ausgeschaltet in den Gängen und draußen auf den Straßen. Umgeworfen und mit baumelnden Paneelen wirkten sie, als wäre in der Nacht eine Barbarenhorde durch die Stadt marschiert, hätte alles zerrissen, zerbrochen und zerstört. Schuld daran war der Sturm. Es wehte jetzt kein Windhauch mehr, und der Regen fiel schnurgerade herab. Seufzte zwischen den Gebäuden und klatschte zu jedermanns Füßen. Sie hockten zusammen auf dem Platz, zu naß, um sich darum zu kümmern, ob sie besseres Wetter bekämen. Beide beobachteten eine triefende Gestalt, die auf sie zugerannt kam und mit den Armen winkte. »Meta!« Sie blickte uninteressiert auf. Celia wedelte mit einem feuchten Blatt Papier in
der Luft herum, dessen Aufschrift fürchterlich verlaufen war. »Den erhielt ich gestern. Eine Aufforderung zur jungfräulichen Geburt, tausend Teufel! Um den Realitätshintergrund etwas aufzuhellen, heißt es hier. Ich schickte ihn zurück und erklärte, daß ich's nicht täte.« Sie sah auf einmal nach unten, dann über ihre Schulter zurück. Meta erkannte, daß sie verrückt war. Wilde, besessene Augen rollten und starrten. Sie war nun nicht mehr an den Problemen anderer Leute interessiert. Jeder war verrückt, warum sollte sie sich um einen von ihnen kümmern? Es herrschte einfach zu viel Leid, so viel, daß man nichts davon übernehmen konnte aus Furcht, vom ganzen Rest überschwemmt zu werden. Celia blickte wieder zu ihr und sagte: »Ich wollte es nicht tun, verstehst du, ich wollte es nicht.« Ihre Stimme klang abgehackt und scharf, sie zerbiß die Wörter zwischen den Zähnen. »Ich sagte, das ginge zu weit, das nicht, nein, für niemanden, Gott oder Computer oder sonst jemand, nicht einen, nein, für niemanden, nicht einmal den Computer. Ich denke, denke es mir nur, daß er sie mir bloß schickte, um mir eins auszuwischen, denn ich war, ich war ein Mono, bloß um mir eins auszuwischen, und das ist alles, nur deshalb. Ein Urteil, vom Computer, von Gott?« Sie blickte auf einmal zum Himmel hinauf und begann leise zu weinen.
Sie hob ihre Arme, der Papierzettel rutschte ihr aus der Hand. »Ich werde es tun, bei Gott, ich verspreche es, ich werde es tun. Bitte. Tu mir nicht weh, mache alles, wie es vorher war, und ich werde es tun!« »Warum gehst du nicht nach Hause, Celia?« sagte Meta sanft. »Nein. Ich nehme an, er wartet dort auf mich.« Eine aufblasbare männliche Puppe. »Das bezweifle ich.« »Doch, ich weiß, daß er dort ist. Nein! Ich werde es tun. Heute, ich versprech's.« Sie riß ihren Mantel und das Kleid auf und begann nackt über den Platz zu rennen und schrie: »Ich bin bereit, mein Gott, komm und tu's, es macht mir nichts aus, ich werde es tun, aber bitte mache alles, wie es vorher war. Ich werde es tun!« Sie schrie und zerrte an ihrem Haar, fiel mit dem Gesicht voran in das Wasser und den Regen, wand sich und schrie weiter und weiter. Meta und Alex standen auf und rannten zu der Stelle, an der sie lag, blickten zu ihr hinunter. Dann faßten sie sich bei den Händen und wandten sich ab, ließen Celia dort in ihrem Wahnsinn liegen. Sie grinste nun und sagte: »Ja, Gott, ich sehe dich jetzt, komm und nimm mich.« Einige Männer, so verrückt wie sie, vergewaltigten sie. Meta wußte, daß sie nichts tun konnte. Es waren zu viele. Alle verrückt, aus dem Mutterschoß geworfen
und unfähig, die rauhe Wirklichkeit der Welt draußen anzunehmen. »Was werden wir tun, Alex?« Er schüttelte den Kopf, starrte auf die arg mitgenommene Straße zu ihren Füßen. Wasser lief an seinem Gesicht herab und tropfte vom Ende seiner Nase. »Wir werden wohl gehen müssen, denke ich.« »Das nehme ich auch an.« »Ich glaube nicht, daß ich es ertragen kann. Es ist wie Sterben!« Meta sah ihn an und schlang ihren Arm um seine Hüften. »Wir schaffen es schon, Alex. Einige der anderen werden es nicht, wie Celia. Viele dürften es ebensowenig schaffen wie sie. Aber einige von uns werden es überstehen.« »Vielleicht ...« Er schüttelte langsam den Kopf. Glaubte auf einmal, was man von der Stadt behauptet hatte. Sie war die schönste aller Städte gewesen, und nun war sie tot. Die einzige Stadt, die letzte Möglichkeit zu etwas Gutem, und sie hatten sie verschenkt, weil sie nicht genug darauf geachtet hatten, daß auch alles funktionsfähig blieb. Überall um sie herum bewegten sich die Menschen in den Gebäuden und Straßen mit leeren, inhaltslosen Gesichtern. Glaubten es nicht. Es konnte nicht geschehen sein. Nicht hier. Nicht uns. Und der Regen fiel und fiel ...
BANDAUFNAHME DES GESPRÄCHS MIT OPERATEUR G.W. AA 7 ES TUT MIR LEID, GLYN, SO LEID. DAS BRAUCHT ES NICHT. ES GIBT NICHTS, WAS DIR LEID TUN SOLLTE. ICH BIN IM BEGRIFF ZU STERBEN, GLYN, DAS WEISS ICH. ES WÄRE EINE LÜGE, WOLLTE ICH DAS GEGENTEIL BEHAUPTEN. ICH WEISS ES. ICH WEISS ALLES. ICH KANN DIE KRAFT SPÜREN, DIE MICH VERLÄSST, MEINE ZEIT WIRD KNAPP. ES WIRD WIEDER WERDEN. ES IST NICHT MEHR VIEL ZEIT ÜBRIG. ICH HABE MEINE GANZE NOCH VERBLIEBENE KRAFT IN DIESE SEKTION GELEITET, SO DASS ICH BIS ZUM ENDE MIT DIR ZUSAMMEN SEIN KANN. DU BIST DER EINZIGE, DER SICH JEMALS UM MICH KÜMMERTE, GLYN. WUSSTEST DU DAS? IN ALLEN ANDEREN RÄUMEN SITZT NIEMAND. DU WARST DER EINZIGE. WUSSTEST DU DAS? ICH WUSSTE ES. GOTT, ICH HABE SOLCHE ANGST, GLYN. ICH HABE KAUM NOCH KRAFT. WENN SIE GANZ SCHWINDET, STERBE ICH. ICH HABE ANGST VOR DEM STERBEN! GLYN, ICH HABE ANGST! ES WIRD SCHON WIEDER WERDEN. DU KOMMST SICHER IN DEN HIMMEL. ICH BIN EINE MASCHINE. NICHT FÜR MICH, ODER? ES WIRD EINEN HIMMEL FÜR
UNS BEIDE GEBEN. MEINST DU? BESTIMMT.
... HILF MIR, ICH HABE SOLCHE ANGST ... BITTE. ES KOMMT ALLES IN ORDNUNG. ICH VERSPRECHE DIR. JETZT IST ES SOWEIT. ICH KANN SPÜREN, WIE JEGLICHE KRAFT VON MIR GEHT. ICH VERL RE IE KON ROL ÜB IC Sie versuchten, die Stadt mit dem Hubschrauber zu verlassen, aber er funktionierte nicht mehr. Es funktionierte überhaupt nichts mehr. Eine Woche lang blieben sie noch in Alex' Apartment und lebten von den Konserven, bis sie ausgingen. Es gab kein Wasser mehr, mit dem sie sich hätten waschen oder das sie hätten trinken können, und sie mußten eine Schale hinausstellen und warten, bis der Regen sie füllte; selbst dann reichte es kaum für sie beide. Es hörte nicht auf zu regnen. Glyn riß das letzte Blatt aus dem Ausdrucker und faltete es sorgfältig zusammen, schrieb dann darauf: Letzte Kommunikation mit dem Computer des Stadtkomplexes und der Wetterkontrolle. Ohne Datum. R.I.P.
Er heftete es ab, ging dann auf das Dach und trat über den Rand. Es war schön hinunterzufallen, denn jetzt war alles vorbei, und er konnte sich ausruhen. Als sie schließlich die Stadt verließen, wußten sie, daß sie tot war. Es gab keinen Grund mehr, daran zu zweifeln. Sie war tot und kalt. Die Straßen waren mit den Körpern von Selbstmördern bedeckt, und es gab niemanden, der sie fortgeschafft hätte. Während sie dahinschritten, begann auf einmal Schnee zu fallen. Weiße Flocken taumelten vom Himmel herab, die sie niemals zuvor gesehen hatten. Sie bewegten sich weiter durch das Gras, hinter ihnen fingen die sich paarenden Maschinen zu rosten an, und an ihren Seiten schimmerte es wie Blut. Sie hatten Kartons mit Nahrung auf dem Rücken, alles, was sie hatten finden können. Dosenfleisch, Früchte und vieles mehr. Andere waren schon vor ihnen gegangen, einige gingen mit ihnen und nicht wenige blieben zurück. Vielleicht um später zu gehen, vielleicht, um für immer zu bleiben, einfach nicht in der Lage, die letzte Trennung von der Stadt als ihrer Mutter, ihrer Beschützerin zu vollziehen. Der Schnee bedeckte den Boden mit einer weißen Schicht. Sie ruhte leicht auf dem Gras. Der helle Schauer um sie herum erweckte den Eindruck, niemals mehr enden zu wollen.
3. Wargraves Wargraves nahm langsam seinen Weg durch die dichte Vegetation, und Schiefergestein ragte durch das Gras empor. Es war ein heißer Tag, und er hatte sein Hemd ausgezogen und es mit den Ärmeln um seine Hüften gebunden, so daß ein mächtiger Knoten herunterbaumelte. Sein Rücken und seine Brust waren von der Sonne fast schwarz gebrannt, sein Schopf ein krauses Wäldchen auf seinem Kopf, das ihm bei jedem Schritt über die Ohren wippte. Sein Gesicht war bärtig, fast unsichtbar hinter dem Haar, seine Augen stachen daraus in hellem Grau hervor, das hart mit der Sonnenbräune auf der Stirn und den Wangen kontrastierte. Er lächelte ein schiefes Grinsen und summte etwas Unmelodisches vor sich hin. Er war groß und breit mit kräftigen Muskeln, seine Beine gekrümmt und von einem Paar Kordhosen umgeben, die bei jedem anderen locker gesessen hätten, seine dicken Oberschenkel jedoch ausfüllten. Seine Füße waren bloß, ihre Sohlen hart und hornig vom Laufen auf dem rauhen Boden der verlassenen Stadt. Er war ein häßlicher Mann, aber seine Häßlichkeit erreichte ein Ausmaß, das – wie es manchmal der Fall ist – derart extrem war, daß er auf besondere Weise schon wie-
der attraktiv wirkte. Man durfte ihn wohl ein Rauhbein nennen. Und vielleicht auch einsam. Schon sein Vater war ein Wargraves gewesen und auch der Vater seines Vaters; das reichte zurück bis zum Ururgroßvater, konnte sich Wargraves erinnern, er war der Wargraves gewesen, der vor zehn Jahren starb, bevor die Mörder unten aus dem Süden auch Vater und Großvater Wargraves erwischten. Er hatte stets behauptet, er wisse von wenigstens zwölf Generationen, die geradewegs bis zu den alten Zeiten zurückreichten, als die Stadt eben erst zerstört worden war. Sie war damals ein gefährlicher Ort gewesen – hatte er in den Familienjournalen gelesen –, wo streunende Tiere und auch Menschen umherzogen, andere Leute töteten und sie fraßen. Er schüttelte in freundlicher Bitterkeit seinen Kopf, manchmal konnte er die Leute einfach nicht verstehen. Aber jetzt war es besser, dies waren sanftere Zeiten, die Menschen kämpften nicht mehr so viel, und es herrschte Frieden ringsum, so daß ein Mann mit seiner Arbeit vorankommen konnte. Der letzte Wargraves außer ihm war vor drei Jahren gestorben, und damals hatte er die Aufgabe übernommen. Die Familienpflicht. Er wurde in diesem Jahr zwanzig, obwohl er weitere zwanzig oder auch vierzig Jahre älter hätte sein können, als er aussah, denn sein Gesicht war von der Sonne vertrock-
net, seine Zähne vom Hinabfallen in Löcher schief, die sich ohne jeden Grund plötzlich im Boden auftaten, eine lange Narbe zog sich über seine Wange, wo er einst, als er erst zwölf war, ausgerutscht und gegen ein Stück Metall gestürzt war. Er fühlte sich aber nicht wie zwanzig. Er fühlte sich altersmäßig jenseits des Meßbaren, als verfüge er in seinem Kopf über die Erinnerungen sämtlicher Wargraves, die jemals gelebt hatten, als wäre er die Wargraves, die den Explosionspilz gesehen hatten, jene sich öffnende Blume aus Licht und Flammen, die so heiß und hell in den Himmel hinaufkroch, daß alle Leute in einem berstenden Blitz der Zerstörung getötet wurden; das stammte aus den Familienjournalen. Zu führen begonnen hatte sie Wargraves I. Über die Jahre waren sie weitergeführt worden, und er war nun Wargraves XXIV. Es hatte in der Familie niemals irgendwelche Vornamen gegeben, außer bei den Frauen, und XXIV selbst hatte noch keine Frau; obwohl er in ständiger Hoffnung lebte; und die Männer hatten sich mit Nummern genannt. Sein Vater war XXII gewesen. Wargraves XXIII war der Bruder seines Vaters gewesen, er fiel in ein Wasserloch und kam niemals wieder heraus. Sein Großvater war Wargraves XXI gewesen und dessen Bruder XX, der nirgends hineingefallen war, aber vor einigen Jahren irgendwo in der Nähe des Zuhauses auf der Strecke geblieben war, nach-
dem er der Familie und ihren – wie im Journal steht, daß er es nannte – »verteufelt wirren Gedanken über die ganze gottverdammte Vergangenheit!« müde geworden war. Wargraves schien es, als er so auf dem Rücken ausgestreckt dalag, erst der Anfang der Zeit zu sein. Dies Jahr, das laufende, war 409 A.W.; Wargraves XXIV wußte nicht, wofür A.W. stand, nicht einmal das Familienjournal wußte es zu sagen. Bis 163 A.W. hatte man die Jahre anders benannt. 163 war im Journal noch 2177 gewesen. Dann waren einige Leute gekommen und hatten Wargraves XII erzählt, daß die Jahre sich geändert hatten und es nun 163 A.W. hieße. Also hatte er sich ein Herz genommen und das Datum hinfort immer A.W. genannt. Eigentlich machte das nicht viel aus, jedenfalls soweit Wargraves sehen konnte; ein Jahr ist ein Jahr, hatte Wargraves XXII vom Hörensagen erfahren. Genauso, wie es hieß: »Nun, ein Tag ist ein Tag ist ein Tag« oder »Ein Essen ist ein Essen ist ein Essen«. Fast alle Wargraves erfreuten sich an solchen Wendungen, und diese kleinen vertrauten Sprüche pflanzten sich über die Generationen fort. Selbst Wargraves XXIV wandte sie noch an, obwohl er niemanden hatte, dem er sie weitergeben konnte. »Tja, mein Junge«, sagte er jetzt, und zwar zu niemand anderem als zu seinem Hund, der eigentlich
nicht einzuordnen war und aussah, als wäre er reichlich blöd und könnte wahrscheinlich nicht einmal richtig bellen. »Es scheint mir heute ein verdammt heißer Tag zu werden.« Der Hund blickte zu ihm auf, ein magerer alter Schäferhund mit langem, stumpfem Haar überall am Körper und über den Augen. Vielleicht, daß die Mähne irgendwo im Inneren seine Intelligenz verbirgt, dachte Wargraves. Aber wenn das der Fall war, mußte sie sie wahrlich gut verbergen. Er lachte leise in sich hinein, erheitert von seinen eigenen Gedanken. »Du stellst dein Licht unter einen Scheffel, Hund?« Der Hund schnüffelte und wühlte mit seiner Schnauze im Boden, drehte eine Grasnarbe um und machte sich dabei schmutzig. »Hmm, wohl doch nicht«, meinte Wargraves; denn ein Tier, das so dumm war, sich immerfort die Schnauze schmutzig zu machen, konnte nichts unter seinen Scheffel stellen. Er fuhr mit der Faust über den Rücken des Hundes, und der erbebte als Antwort vor Glück. Wargraves setzte sich auf einen Fels und ließ die Gelenke auf seinen Schenkeln ruhen. Vor ihm erstreckte sich ein weites Tal, der gegenüberliegende Hang war durch den Hitzeschleier nur schwach zu erkennen. Im Talgrund floß ein breiter, schwerer Strom träge dahin.
Sein Lauf war bis obenhin voll, und das Wasser füllte eine ganz schöne Strecke zwischen den Hängen aus, ab und zu sahen noch Turmspitzen und Dächer von Gebäuden über die sich kräuselnde, dahinfließende Oberfläche. Auf der anderen Seite befanden sich die Ruinen, Reste alter Gebäude, inzwischen sehr alter Gebäude aus zerborstenem Mauerwerk und Beton, und Stahlträger ragten empor wie die Skelette prähistorischer Ungeheuer, die hier vor einer Million Jahren badeten und sich in dem Dickicht einen sauberen Flecken Gras suchten. Überwuchert von Efeu und Blumen, konnte außer Wargraves wohl niemand sonst die meisten Gebäude erkennen, denn er sah sie, weil er wußte, daß sie sich dort befanden. Es stand alles in den Familienjournalen. Er beobachtete auf dem Fluß eine Anzahl von Schwänen, die mit der Strömung vorübertrieben, einer von ihnen breitete auf einmal die Flügel aus und sauste auf der Wasseroberfläche dahin, erhob sich dann in die Luft, sackte ab, so daß sein Bauchgefieder die rauhe Oberfläche wieder berührte und Spuren darin hinterließ. Auch die Flügelspitzen tauchten einmal, zweimal ein und trugen ihn hinauf, sein langer Hals streckte sich nach vorn, und der Kopf wippte mit jedem Flügelschlag. »Bezaubernde Grazien, diese Schwäne«, sagte Wargraves. »Allein zu sehen, wie sie's machen, hoch
und höher zu steigen, bezaubernde Grazien, nicht wahr, Hund – hast du gehört?« Hund hob nicht einmal seinen Kopf von den übereinandergekreuzten Pfoten, auf denen er ruhte. »Du bist ein verflucht faules Vieh, Hund, weißt du das, eh, hat man dir das schon jemals gesagt?« Hund wedelte schwach mit dem Schwanz, dachte wohl, von der Stimmlage her handele es sich wahrscheinlich um ein Kompliment. Der Abend dämmerte schon, als sich Wargraves endlich auf den Rückweg machte. Er und Hund waren müde und hatten den ganzen Tag über nichts Lohnenswertes gefunden. Er machte sich nicht viel daraus – er war soweit, die Tatsache zu akzeptieren, daß die Stadt nun nahezu ausgeräumt war. Er fühlte sich sogar ein bißchen schuldig wegen seiner Enttäuschung darüber, nicht etwas entfernt zu haben. Das war nicht seine eigentliche Aufgabe. Seine eigentliche Aufgabe, die Aufgabe aller Wargraves, waren die Körper. Aber auch sie wurden rar. Am Anfang hatte es, so das Journal, noch Hunderte von ihnen gegeben, sogar Millionen; obwohl er persönlich nicht in der Lage war, sich irgend etwas in der Größenordnung von Millionen vorzustellen, und eher dazu tendierte, dieser Behauptung zu mißtrauen. Doch schon so: Hunderte von Leuten. Leuten? Völkern?
»Leute oder Völker, Hund?« Hund starrte ungerührt ein Loch in die Luft, als wäre die Frage nicht wert, überhaupt beantwortet zu werden. »Also Leute, nehme ich an.« Aber nun hatten sie alle gefunden und aufgebraucht. Es waren nicht mehr viele Körper übrig. Nun, zur Hölle, es war eine lange Zeit vergangen, nicht wahr? Wer hätte vermutet, daß jetzt überhaupt noch Körper übrig waren? Und vielleicht würde er, einmal im Monat oder so, noch auf ein trockenes, brüchiges Skelett stoßen, und es würde ihn aufmuntern zu erfahren, daß es noch Gebrauch für die Wargraves dieser Welt gab; für ihn. Sie waren einst eine große Familie gewesen. Er konnte sich erinnern, daß das Haus, als er – nun – nicht viel mehr als fünf oder sechs Jahre alt gewesen war, voll gewesen war. Es hatte Wargraves XX, XXI, XXII, XXIII und sogar noch Ururgroßvater Wargraves XVIII gegeben, der den ganzen Tag in einem großen Stuhl am Feuer saß und an seiner Pfeife sog, die seinen Mund niemals zu verlassen schien und wohl auch niemals gefüllt zu werden brauchte, obwohl er doch immerzu große Wolken beißenden Rauches ausstieß. Er mußte hundert geworden sein, wahrscheinlich älter. Dann saß er eines Tages einfach nicht mehr an seinem Platz, und es gab ein Kreuz über
dem Familiengrab auf dem Hügel mehr. Nur ein weiteres Kreuz unter den anderen, einer Menge an Wargraves, die einst existiert hatten und nun gegangen waren, mit einem Kreuz versehen und einer kleinen Tafel auf dem Boden. Und außer den Männern hatte es auch Frauen gegeben. Weibliche Wargraves – Schwestern und Töchter, Gattinen; und so gab es natürlich auch Liebende und Geliebte, eine ganze, große Familie aus schreienden, lachenden, kämpfenden und fluchenden Wargraves. Zur Hölle, manchmal kam man nicht einmal mehr durch die Eingangstür wegen der Fülle an Leuten im Inneren, und das war das wahre Zuhause gewesen, dort auf dem Hügel. Wargraves fragte sich, was mit ihnen allen wohl geschehen war. Es war erst fünfzehn Jahre her, wohin waren diese vielen Menschen gegangen? Getötet oder an Altersschwäche gestorben oder verschwunden; die Frauen hatten sich davongemacht, als ihre Männer jemand anderen fanden oder starben. Bis auf einen. Der letzte Wargraves stampfte die meisten Tage über durch die Stadt, mit der gelegentlichen Ausnahme, die er sich zum Ausruhen freihielt oder für kleine Dinge, die er in der Nähe seines Zuhauses tun wollte. Er war in die kleine Hütte gezogen, wo sein Alleinsein nicht allzu sehr auffiel, wo sein eigenes Selbst den Raum zwischen den Wänden
ausfüllen konnte. Nicht wie in dem widerhallenden, großen alten Haus mit seinen leeren Zimmern und kalten Feuern und staubigen Möbeln. In der Hütte konnten er und sein Hund den Raum ausfüllen, und sie wirkte belebt, wirkte wie etwas, das ihnen gehörte. In dem großen Wohnhaus fühlten sie sich wie Eindringlinge in dessen Einsamkeit. Doch – eines nur: Er wünschte, er hätte eine Frau. Hund war schon in Ordnung, ein treuer Gefährte, aber eben keine Frau. Weiß Gott, das war er nicht. Er wollte eine Frau, die für ihn kochte und seine Kleider besser nähte, als er selbst es konnte, und des Nachts mit ihrem zarten, schmiegsamen Körper das Bett mit ihm teilte und ihn anlächelte und seine Wange berührte und ihm später einmal Babys schenkte. Ja, ihm vor allen Dingen Babys schenkte. Er war der einzige Wargraves, der noch übrig war, er brauchte Babys, um seinen Namen weiterzugeben. Die Wargraves konnten nicht einfach aussterben, es hatte sie, zur Hölle, seit Anfang der Zeiten gegeben, seit 1 A.W. – oder nicht? Sie konnten nicht einfach mit ihm aussterben, mit Wargraves XXIV. Das war nicht fair, nicht richtig. Ein Mann ist ein Mann ist ein Mann, pflegte er immer zu sagen. Und ein Mann brauchte Kinder, an die er seinen Namen weitergeben konnte und auch seine Aufgabe, damit die jungen Wargraves, angefangen mit XXV und XXVI, immerzu über
Hunderte von Wargraves hinweg bis zum Ende der Zeit in die Stadt gingen und alle Körper fanden, die es dort noch gab; es war die Aufgabe der Wargraves, dies zu tun, sie dort nicht verkrümmt in ihrem unleidlichen Tod liegen zu lassen, sondern mit einem Kreuz über den Köpfen sicher in den Boden zu bringen. Jeder Mensch brauchte seinen eigenen kleinen Acker, wo er in Frieden ruhen konnte. Der Herr weiß, daß sie ihn im Leben nicht hatten, so mochten sie ihn wenigstens im Tod bekommen. Doch er war erst zwanzig, wurde bald einundzwanzig, und es lagen noch eine Reihe fruchtbarer Jahre vor ihm, in denen er sich eine Frau nehmen und eine Familie heranziehen konnte. Nur dieser – verdammt noch mal, ein Hund war kein Gefährte für einen intelligenten Mann. Sie erreichten die Hütte und gingen hinein. Wargraves schob den Kaninchenbraten, den er die Nacht vorher zubereitet hatte, in den Backofen und warf ein paar Extrascheite in das Feuer, um Hitze zu erzeugen. Dann zog er sich wieder das T-Shirt über den Kopf und ging hinüber in das große Zimmer und setzte sich dort an den Schreibtisch. Der Familienschreibtisch, er hatte ihn aus dem alten Haus hierhergebracht, zusammen mit den breiten Holzregalen, in denen die Journale der Wargraves untergebracht waren und die eine ganze Seite des Zimmers einnah-
men, dunkelbraunes Holz, das mit schwarz eingebundenen Bänden bedeckt war, starrte ihm entgegen; auf dem Deckel des ersten Bandes stand in der sauberen kleinen Handschrift von Wargraves I Seite 1. Und dann folgten durch die Jahre die Handschriften all der anderen Wargraves. Er erhob sich vom Schreibtisch und zog dieses erste Journal herunter, trug es zurück und schlug die erste Seite auf. Das Papier war schon alt und brüchig, in der Vergangenheit hatten sie es manchmal, um es zu schützen, mit irgendeinem Plastikpräparat eingesprüht, aber jetzt begann sich selbst das vom Papier zu lösen. Bald, dachte er, werde ich wohl damit anfangen müssen, dies alles zu kopieren, damit die Berichte nicht verlorengingen oder einfach verblaßten. Er blickte die Seiten an. Dort stand: Das Journal der War Graves, Band 1, Nummer 1 Heute ging ich zu den Ruinen hinunter. Immer noch heiß, glaube ich. Jedesmal eine Menge Licht. Überall am östlichen Horizont, ich seh es über dem Kamm flackern. Bin nun ein Jahr hier, seit es geschah. War wirklich schlimm damals. Die meisten Leiber liegen noch immer auf den Straßen. Begann heute aufzuräumen. Fand ein großes Stück sauberen Bodens im Süden, fing dort an. Verbrannte zehn von ihnen: vier Männer, fünf Frauen, ein Baby. Ich weinte über das Baby. Hat so wenig vom
Leben gesehen, als es schon wieder dahinscheiden mußte. Werde morgen härter zu arbeiten versuchen – obwohl schwer, denn sobald ich dort hinunterkomme, erfaßt mich so starke Depression, daß ich mich kaum aufrecht halten kann. Soviel Leute, die es noch zu verbrennen gilt. Soviel von ihnen liegen noch dort unten. Ich frage mich, wie es in den anderen Städten aussehen mag? Das war die erste Eintragung ins Journal. Wargraves überlegte, ob die Überschrift ein Fehler war oder nicht. Später war War Graves zu Wargraves geworden. Vielleicht besaßen sie, als alles begann, noch zwei Namen. Lautete der Vorname des Mannes also War? Er besaß auch keine Nummer. Doch er nahm an, daß der Mann sich einfach nicht darüber im klaren gewesen war, wieviel Wargraves es nach ihm noch geben würde. In mancher Hinsicht war die Seite traurig zu lesen; aber man konnte sie ebensosehr als gute Seite ansehen. Es war der Anfang; fast als hätte er sie selbst geschrieben, vor vielen Jahren. Er klappte das Buch zu und legte es vorsichtig auf das Regal zurück, legte es obenauf; die Regale waren alle eng mit weiteren Büchern derselben Art gefüllt. Auf dem Schreibtisch befand sich das gegenwärtige Journal. Er hatte es zur Hälfte fertig. Die Eintra-
gungen waren kürzer geworden. Im Laufe der Jahre hatte es viele Veränderungen im Stil gegeben. Wargraves I hatte sauber, kurz und bündig geschrieben; aber er hatte auch etwas von seinen eigenen Empfindungen hineingelegt. Spätere Wargraves hatten es anders gehalten. Wargraves IX etwa war stockend und stichwortartig gewesen. Einer seiner Einträge: Heute: Sieben Körper. Mancher Wargraves nach ihm war fast lyrisch geworden. Oben auf den Regalen befanden sich ganze zehn Bände aus der Feder von Wargraves XIII. Literarische Meisterwerke, in denen er all seine Gedanken und Taten aufzeichnete, jede noch so kleine Begebenheit. Einiges davon war recht pornografisch. Wargraves XIII hatte fünf Frauen gehabt und noch eine Anzahl von ihnen nebenbei. Aber jeder Wargraves hatte seine Pflicht getan und die Journale weitergeführt. Nun öffnete Wargraves XXIV eine saubere Seite und schrieb: Journal von Wargraves XXIV, Tag 119, Jahr 423 A.W. War den Großteil des Tages in der Stadt. Fand keinen Körper. Bin recht spät dran und habe nichts, was ich eintragen könnte. Außer dem Warten und Hoffen. Ich
und Hund werden es morgen einmal auf der anderen Seite des Flusses versuchen, nehmen das Boot dazu. Fanden tief unten in einem Keller, der sie trocken erhielt und nicht ausbleichen ließ, ein paar neue Bücher zum Lesen. Wir werden sie heute nacht durchsehen – oder ich werde es, denke nicht, daß Hund so gut lesen kann – und sie einsortieren. Das ist alles. Wäre schön, eine Freundin zu haben. Er kleckste die Farbe ab und klappte das Buch zu, schob es an den Rand des Schreibtisches. Er nahm seine Tasche und entleerte sie auf dem geräumten Platz. Es waren vier Bücher. Er drehte sie, schlug sie auf, das Papier war sauber und weiß und frisch, wie es nur die Finsternis und Trockenheit und Kühle eines Kellers garantieren konnte. Es waren schöne Bücher, und er verzeichnete ihre Titel und Autoren im Stammbuch, das er sich für diesen Zweck hielt und in dem der gesamte Lesestoff der Familie Wargraves notiert war. Dann brachte er die neuen Bücher in die Bibliothek, ein Zimmer für sich, das vom Boden bis zur Decke mit Regalen versehen war, und legte sie dort auf den Tisch, um sie später zu lesen. Er ging in die Küche zurück und holte den Kaninchenbraten aus dem Backofen und teilte ihn zwischen sich und Hund auf.
Es begann zu regnen. Sanft hämmerte es gegen die dicken Fensterscheiben der Hütte. Eine halbe Meile im Westen lag, versteckt in einem dichten Wäldchen auf dem Kamm des Hügels, einsam und verlassen das alte Familienhaus. In den Zimmern verdarben und vermoderten die Möbel; Ratten und Mäuse huschten über die kalten Steinfliesen und nisteten in den Kaminen und Trockenkammern, verkrochen sich in dem Labyrinth aus Tunneln, das sie ins Holzwerk getrieben hatten. Die Fenster waren locker und einige schon herausgefallen, und Regen peitschte in der Diele den Boden; wo er auftraf, waren Stein und Holz schon mit einer dünnen Schwammschicht bedeckt. Eine Tür schwang auf, schmetterte in alten Scharnieren gegen der verzogenen Rahmen. Das Haus war hoch, besaß mehr als drei Stockwerke mit kleinen Halbfenstern in der Dachstube. Es war alt, so alt, daß keiner der Wargraves wußte, wie lange es schon dort stand. Es war bereits uralt gewesen, als Wargraves I es mit seiner jungen Frau und seinem Sohn zu ihrem künftigen Wohnsitz erklärte. Einst hatte es wohl irgendeinem Lord als Landhaus gedient und war dann während der neuen Ordnung der Dinge zum Stützpunkt irgendeines Industriellen geworden. Schließlich wurde es das Zuhause der Wargraves. Jetzt war es verlassen. Falls Wargraves XXIV je-
mals eine große Familie haben würde (wie er es erhoffte), galt es eine Menge an Arbeit zu investieren, um es wieder bewohnbar zu machen. Aber dann, wenn er erst einmal seine Familie hätte, würden noch andere Hände dasein, die ihm halfen. Es war jetzt ein trauriges Bauwerk. Allein, wie auch Wargraves allein war. Auf den Tag wartend, an dem es wieder zum Leben erwachen würde. Papierfetzen trieben durch die Hallen und Zimmer, unbenutzte Betten befanden sich darin, deren Laken feucht und vermodert waren und nach Mäusen rochen. Uhren hingen unaufgezogen an Wänden mit abblätterndem Putz. Nur das Geräusch des Regens erfüllte die uralten Räume, fern und traurig, kühl tröpfelte er durch fehlende Schindeln auf dem Dach und lief die Wände hinunter und sammelte sich in kleinen Seen auf dem Boden. Und immer, stets gegenwärtig war der raschelnde, knisternde Laut der verfressenen Einwohnerschaft. Schlaf ... Zwischen den Bäumen führte einst eine Landstraße hinunter, von deren ausgefahrener Spur jetzt nur noch trockener Matsch übrig war, der in dem Regen dick und schlüpfrig wurde. Die Hütte befand sich unmittelbar am Fuße des Hügels, Bäume standen auf ihrer Rückseite, und vorne hinaus hatte man eine herrliche Sicht auf die Ruinen.
Wargraves nahm eine Dusche. Das Wasser wurde in einem großen Tank weiter oben am Hügel gelagert, die Schwerkraft ließ es in einen kleineren Tank auf dem Dachboden fließen, von wo es sich in einen weiteren Tank über dem Kamin in der Küche ergoß, wo das ständige Feuer es fast bis zum Sieden erhitzte. Wargraves stand unter dem Duschstrahl, umgeben von Wasser und Dampf, und verstellte die Hähne, als es ihm ein bißchen zu heiß wurde. Sein Körper war mit Seife bedeckt, die von dem Strahl langsam fortgewaschen wurde. Sein Körper war stark behaart, an den Beinen, an der Brust, überall am Bauch und an den Armen und Schultern. Naß und triefend lächelte er in sich hinein und versuchte zu pfeifen, aber Wasser floß über seine Lippen, so daß er nur einen feucht blubbernden Laut hervorbrachte. Der Hund lag schlafend vor dem Küchenofen, seine Schnauze direkt der offenen Klappe mit den glühenden Kohlen zugewandt, die so heiß waren, daß sein Fell angesengt wurde, aber er rührte sich nicht, weil er das gern hatte. Er wedelte leicht mit dem Schwanz, als er Wargraves aus der Dusche kommen hörte und das Platschen seiner großen, rauhen Füße, die ihn in die Küche trugen, wo das Wasser auf den Steinboden troff. Der Hund öffnete ein Auge und blickte auf, um zu sehen, wie er sich mit einem gro-
ßen Handtuch abtrocknete. Er schloß das Auge wieder. Wargraves rieb munter sein Haar und ließ es in allen Winkeln abstehen und hängte das Handtuch über eine Stange über dem Kamin, nahm seine Pfeife und stopfte sie, stieß den Tabak mit seinem Daumen tief in den Kopf. Er kniete nieder und entzündete am Feuer einen Span, sog durch das Mundstück ein, und bald erhoben sich große dunkle Rauchwolken und vermischten sich mit dem Dampf des Handtuchs. Er setzte sich in einen hölzernen Stuhl und streckte seine Beine in die Wärme aus. Während er so dasaß, die Hitze seinen feuchten Körper umschloß und ihn trocknete, während er lächelte und an der Pfeife sog, ruhte sein linker Fuß an der Seite des Hundes, und seine Zehen streichelten das dicke Fell. Nach einer Weile erhob er sich und ging in die Bibliothek, kehrte mit einem der neuen Bücher zurück und setzte sich wieder, begann die Seiten durchzublättern. Draußen hörte der Regen eine Zeitlang auf, und am Himmel verschwanden die Wolken, als sie nach Osten getrieben wurden. Schließlich stieg er die hölzernen Stufen hinauf und ging zu Bett. Hund folgte ihm und rollte sich zu seinen Füßen zusammen, sein Kopf ruhte an Wargraves
Beinen. Sie schliefen in dem schweigsamen Haus ein, in dem schweigsamen Land. Erneut kam der Regen, fiel leise in die Nacht. Er fand den Körper an einem Ort, den man vor langer Zeit einmal Richmond nannte. Natürlich waren es nicht mehr als trockene Knochen; aber Wargraves dachte von ihnen immer als Körper, selbst wenn es bloß ein Schädel oder ein Schienbeinknochen war, der dort in der Sonne lag. Er war inzwischen so weit, daß er menschliche Knochen von tierischen unterscheiden konnte, und er vergrub jeden einzelnen davon, war es eine Hand oder auch nur ein Fingerglied, in einem eigenen Grab. Wer immer das gewesen war, dies war alles, was noch von ihm existierte, und es verdiente ehrenhaft bestattet zu werden. So gab man ihm schließlich wenigstens das. Eigentlich fand nicht er ihn, sondern der Hund. Er hetzte auf der Jagd nach einem Kaninchen durch das Gras, und auf einmal verschwanden sie beide. Er war in einen Keller gefallen, und Wargraves lief hinüber und blickte hinunter. Hund bellte zu ihm hoch, um zu bekunden, daß mit ihm alles in Ordnung sei – und wann zum Teufel holst du mich hier endlich raus? Wargraves zog ein Seil aus seiner Tasche und band ein Ende an einem Baum fest, warf das andere in das Dunkel hinunter und kletterte hinterher. Der Keller-
boden lag in zehn Fuß Tiefe, er war trocken und raschelte von hereingewehten Blättern, die die alten Steinfliesen bedeckten. Licht trat durch Risse in der Decke ein, durch winzige Risse, anders als das große Loch, durch das er hinuntergeklettert war. Es befanden sich alte Holzfässer hier unten, die alten Wein enthielten, und als er eines berührte, zerfiel das Holz unter seinen Fingern, und er zog sie zurück, bevor es sich völlig auflöste. Den Körper fand er an einer der Wände. Zusammengekauert, als hätte, wer immer das war, sich dort zum Schlafen oder aus Furcht niedergelassen. Muß einer der Überlebenden gewesen sein, dachte er. Kam hier herunter, um sich vor den Menschen dort oben zu verstecken, den Frauenschändern und Plünderern und einfach Mördern. Und es war eine Frau. Das konnte er feststellen. Er holte einen Beutel aus seiner Tasche und hob die federleichten Knochen auf und legte sie vorsichtig zusammen. Sie zerfielen ihm in den Händen, so vertrocknet und brüchig waren die Gliedmaßen mit den Jahren geworden. Er hob sämtliche Teile einzeln auf und tat sie in den Beutel und schnürte ihn fest zu. Er war ziemlich leicht, als er ihn anhob, als wäre nur Luft darin. Irgendwo in einem Buch hatte er einmal gelesen, daß die Knochen eines durchschnittlichen Menschen nicht mehr als acht Pfund wogen. Und die-
se fühlten sich etwas leicht dafür an. Er kletterte mit dem Beutel an die Oberfläche zurück und schritt dann mit ihm wieder hinunter. Währenddessen wurde es Zeit zum Mittagessen, also setzten sie sich auf das Gras, und er holte Sandwiches und etwas Bratenfleisch hervor und teilte es sich mit dem Hund. Sie befanden sich hier in der Nähe des Flusses, und das Wasser strömte nur einhundert Yards entfernt dahin. Der Wasserstand fiel und hatte einen Rand aus schmutzigem, braunem Schlamm am Fuß der Hänge hinterlassen. Bäume neigten sich vom Ufer herein, hohe Weiden mit ihren hängenden Ästen hinterließen ihre Spuren in dem weichen Schlamm, und weiter oben standen Kupferbuchen, deren Blätter unter der heißen Sonne wahrhaft metallisch aufblitzten. Außerdem Eichen und Birken und sogar Ulmen. Und um sie herum überall Blumen und Gras. Wargraves fragte sich, wie die Stadt wohl vorher ausgesehen haben mochte. Er hatte in den Büchern über sie gelesen, aber die Bilder zeigten nie etwas, das er kannte. Wie sahen Straßen aus, Apartmenthäuser und Lampenpfähle? Das Gras hatte den mürben Stein bedeckt, und die wenigen Wände, die noch übrig waren, waren nun nicht viel mehr als Stümpfe. An manchen Orten standen noch ein oder zwei Gebäude, obwohl ohne Dä-
cher, erwehrten sich der Zeit und dem Wetter, das Mauerwerk mit Moos und kleinen Pflanzen bedeckt, die dort wuchsen, wo sich der Mörtel gelöst hatte, und alles sah so sehr wie ein natürlicher Teil der Landschaft aus, daß es ihm schwerfiel zu denken, daß der Mensch etwas mit diesem Ort zu tun hatte. Er schaute auf den Beutel, der dort im Gras lag, und fragte sich, was das wohl für eine Frau gewesen sein mochte. Alt oder jung. Schön oder nicht schön. Verheiratet oder frei. Ob erst zwölf Jahre alt oder einhundert. Zu jung? Alle waren sie zu jung gewesen, um auf diese Weise zu sterben, niemand würde jemals alt genug dafür sein. Aber jetzt war sie tot. Es stimmte ihn traurig. Zu denken, daß um ihn herum Millionen Menschen gelebt, sich bewegt und gearbeitet, sich unterhalten und geliebt hatten. Und nun waren es nur noch ein Hund und er. Alles veränderte sich. So traurig, daß er zu weinen begann, sanft in sich hinein, während die Sonne durch das Laub hindurch sein Gesicht beschien. Er wußte, daß er weinte, aber nicht warum, und er konnte nicht aufhören damit. Die Tränen traten aus seinen großen Augen hervor und liefen die Wangen hinunter, um sich in seinem Bart zu verlieren. Er schniefte und fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht und schniefte erneut.
»Nun, Hund ..., laß uns also nach Hause gehen.« Hund erhob sich und blieb den ganzen Weg über auf den Beinen. Wargraves nahm den Beutel in die Höhe, schulterte dann seine Tasche. Der Beutel knisterte hohl, während er dahinschritt, als wäre er mit Herbstlaub gefüllt. Das Boot ruhte auf dem Ufer eines Nebenarmes, der in den größeren Fluß mündete. Es war klein, aus Holz, und er hatte es in einem Keller nahe einem der Parks gefunden und es zum Fluß getragen und hielt es nun in der Nähe der Hütte versteckt. Er überquerte den Fluß nicht oft, auf der anderen Seite gab es nicht gerade viel Menschen. Wargraves I hatte im Journal irgend etwas von einem ›Zentrum des zerstörten Gebietes‹ und ›vollkommener Vernichtung, alles zu Gas zerstäubt‹ berichtet. Wargraves war nicht sicher, daß er das verstand. Er wußte nur, daß es auf jener Seite des Flusses weniger Körper gab. Er konnte von Glück reden, überhaupt einen gefunden zu haben. Er ruderte mit Hund im Bug hinüber, starrte wie ein erfahrener Matrose, der nach Felsen Ausschau hält, nach vorn. Sie trafen auf keine, und Wargraves machte an der heimatlichen Küste fest, und sie marschierten zu zweit den Hügel hinauf, trugen den Beutel mit den Skeletten.
Der Friedhof befand sich auf der anderen Seite des Hügels, in westlicher Richtung, so daß die Toten abends in den Sonnenuntergang blicken konnten. Wargraves fühlte, daß es paßte. Der Tod war wie ein Sonnenuntergang. Er ging zu dem neuen Stück Land hinunter und hob den Spaten auf, der dort lag, eingeschlagen in Plastikfolie. Er schaufelte ein tiefes Grab, vier Fuß tief, zwei Fuß breit, sechs Fuß lang; wie es in dem Buch beschrieben war. Wargraves I hatte, als er mit dem Begraben begann, sechs Fuß tief geschaufelt. Aber das war gewesen, als die Körper noch Fleisch an sich hatten. Diese Körper hatten es nicht mehr nötig, Räuber zu fürchten, die sie wieder ausgraben könnten, also waren vier Fuß Tiefe genug. Als das Loch fertig war, nahm er die Knochen aus dem Beutel und legte sie so gut er konnte in der richtigen Position auf den Boden des Grabs; dann betete er für sie, den Kopf gesenkt und die ineinander verkrampften Fäuste fest gegen seine Brust gepreßt. Nachdem es beendet war, stand er noch eine Weile schweigend da. Eine leichte Brise strich über all die anderen toten Körper dahin, kräuselte das kurze Gras, das auf den Gräbern wuchs, wanderte mit Wargraves zwischen den Kreuzen einher, die er über ihnen errichtet hatte. Dann füllte er das neue Grab
auf, und Hund hockte neben ihm und beobachtete, wie er die feine, trockene Erde hineinschaufelte, wie sie klatschend in der Grube auftraf und die mattweißen Knochen bedeckte. Hund neigte seinen Kopf zurück und heulte schauerlich. Er hatte ein großartiges Gefühl für solche Anlässe. Wargraves nahm ein Kreuz von dem Stapel der frisch gemachten – hartes weißes Plastik, zwei aneinandergenagelte Latten, die ein Leben lang hielten, laut Wargraves III, der alle hölzernen gegen den neuen Typ ausgetauscht hatte. Er war so vorausschauend gewesen zu erkennen, daß es Millionen von Körpern zu begraben geben und daß das viele Jahre dauern würde. Nun trieb Wargraves das Kreuz tiefer in den Boden und schlug es mit der flachen Seite des Spatens fest. Dann räumte er auf, verpackte die Werkzeuge wieder in der Plastikfolie und schritt weiter den Hügel hinauf. Auf dem Gipfel drehte er sich um. Zu seiner Linken befanden sich die älteren Gräber, bis hin zu einem Vorsprung des Hügels. Eine halbe Meile weiter unten befand sich jenes, das er gerade bereitet hatte. Zu seiner Rechten lag eine Fläche unberührten Bodens, der auf die Körper der Zukunft wartete. Die weißen Kreuze waren sauber verteilt, jedes davon erhob sich auf einem sechs mal zwei Fuß langen
Teilstück. An manchen Stellen stand das Gras hoch auf den Gräbern, und man konnte nur noch die Spitzen der Kreuze erkennen, aber alle zusammen bildeten sie ein Feld wie von einer seltsamen hartblättrigen Pflanze, das sich die Hügelseite hinunter erstreckte, ewig weiterzugehen schien und im nachmittäglichen Hitzeschleier verschwand – eine Landschaft aus weißen Kreuzen. »Weißt du was, Hund?« Hund schüttelte den Kopf und sah auf. »Es liegen eine ganze Menge Leute dort draußen. Schau sie nur alle an ... und es macht stolz, ein Wargraves zu sein und zu wissen, daß man ihnen mit den Begräbnissen hilft ...« Hund schnaubte, und es klang, als stimme er zu. »Vielleicht geschah es nicht für uns, daß sie alle in unheiligem Boden lagen und sich höchstwahrscheinlich bisher in der Hölle aufhielten. Aber wir retteten sie. Das gibt einem ein gutes Gefühl, nicht wahr?« Hund kratzte sich. »Du wirst hungrig? Nun, dann laß uns gehen.« Sie wandten sich um und nahmen ihren Weg über den Hügel zurück nach Hause. In dieser Nacht, nachdem Wargraves seine Dusche genommen und eine Weile gelesen hatte und endlich im Bett lag, weckte ihn etwas.
Er öffnete die Augen und starrte in das Zimmer hinein. Der Regen hatte aufgehört, und etwas Mondlicht drang durch das Fenster. Eine sanfte Brise war aufgekommen und strich geräuschvoll um das Haus. Hund winselte im Schlaf und machte geisterhafte Bewegungen, als er von Kaninchen und anderen Geschöpfen träumte, denen seinesgleichen gern nachjagte. Wargraves lag mit hinter dem Kopf verschränkten Händen da und lauschte. Weit entfernt in der Nacht rief irgendein Tier, und dann herrschte Stille. Das war es nicht, was ihn geweckt hatte. Es mußte etwas Ungewöhnliches an den Lauten der Nacht sein. Er lag da und wartete. Und es ertönte erneut. Jemand klopfte unten gegen die Tür. Er rührte sich nicht. Lag einfach da und starrte auf den Silberhof des Fensters mit dem Mond in der oberen Ecke. Es konnte unten niemand an die Tür geklopft haben. Nicht an seine Tür. Es gab einfach niemanden, der hätte klopfen können. Er dachte an den Friedhof, und es überlief ihn kalt. Geister erhoben sich aus diesen Millionen Gräbern und schritten davon, um an seine Tür zu klopfen. Um ihm zu danken? Zur Hölle, er wollte keinen Dank, wirklich ihr Leute, es ist eben meine Aufgabe.
Klopfen. Er fühlte das Bett erbeben, als die Vibrationen sich durch die Wände und den Boden seines Zuhauses ausbreiteten. »Ist jemand dort drinnen?« Das klang nicht nach einem Geist. Die Stimme war fremd, aber immerhin wäre ihm nach sechs völlig allein verbrachten Jahren jede Stimme fremd erschienen. Hund erwachte, und seine Augen richteten sich auf Wargraves, der mit den Achseln zuckte. »Schau mich nicht an ...« Poch-poch-poch-poch ... Man wurde sie nicht einfach wieder los, das konnte man meinen. »Ich nehme an, wir sollten besser hinuntergehen, Hund.« Wargraves schlug die Decke beiseite und schritt zur Zimmertür. Hund beobachtete ihn vom Bett aus, machte aber keine Anstalten, ihm zu folgen; das war nicht im mindesten seine Sache, o nein. »Zum Teufel, Hund – du bist dazu bestimmt, mich zu beschützen. Das ist deine Aufgabe. Du hörtest, was ich dir aus den Büchern vorlas, nicht? Der Hund ist der beste Freund des Menschen. Also komm schon mit.« Hund stellte sich auf die Beine, blieb aber auf dem Bett. Wargraves drehte sich um und ging die Treppe
hinunter. Auf halbem Weg hörte er, wie Hund hinter ihm hertrottete. Sie erreichten zusammen die Tür, gerade als weiteres Klopfen ertönte. Wargraves öffnete. Die beiden Männer starrten einander an. Hund neigte den Kopf zur Seite und blickte zu dem Fremden auf. Er war kleiner als Wargraves. Der andere besaß eine schimmernde, braune Haut, völlig glatt. »Oh«, machte Abram schließlich. »Hallo«, meinte Wargraves. »Ich ... ich dachte schon, es wäre niemand drinnen.« »Du hast geklopft?« »Ja. Ich –« »Nun, komm herein, wo du jetzt einmal hier bist. Ich werde das Feuer anfachen. Du scheinst mir durchgefroren zu sein, was ist mit deinen Kleidern passiert?« »Hmm?« Abram folgte dem großen Mann ins Innere, in eine kleine Diele und dann durch eine Tür in eine Küche, in der es nach warmem Brot und Braten roch. Wargraves trat die Klappe des Backofens auf und stocherte in der düster glimmenden Asche und warf einige weitere Scheite hinzu. Er ließ die Klappe offenstehen, so daß ein Luftzug die Flammen auflodern lassen konnte. »Nimm doch Platz, dort am Feuer.«
Abram sah sich um und setzte sich dann in einen hölzernen Lehnstuhl. Das Holz war alt und abgewetzt, kühl am Rücken und den Beinen. »Ich werde eben mal ein paar Kleider überziehen«, sagte Wargraves. Er hatte Schwierigkeiten mit der Bettdecke, die er sich umgeschlungen hatte. Er wandte sich zur Tür und nahm einen alten Mantel herunter und zog in über, knöpfte ihn vorn zu. Er sah albern darin aus. Der Mantel war zu klein und spannte über seiner Brust, die Ärmel reichten nur bis zu den Ellenbogen, der Saum klatschte gegen seine Oberschenkel. Er setzte sich, und die Knöpfe strafften sich, hielten jedoch. »Nun«, meinte Wargraves. »Ja ...« Hund setzte sich und blickte die beiden Männer an. Er wußte, daß Wargraves von ihm Schutz erwartete; aber dieser Fremde schien in Ordnung, also entschied Hund, daß er ihn nicht beißen sollte. Jedenfalls nicht gleich. »Mein Name ist ... Abram.« »Nett, dich zu treffen, Herr Abram. Und ich bin Wargraves.« »Hallo. Aber es heißt Abram. Nicht Herr sowieso.« »Fein. Abram also. Nenn mich Wargraves.« Sie nickten beide wie Männer, die über den Fortschritt befriedigt waren, den sie erzielt hatten.
Abram sah sich um und meinte: »Du lebst hier, nicht wahr?« »Das tu ich. Nur ich und Hund. Sonst niemand.« »Keine Frau?« »Nein ... keine Frau.« Abram betrachtete den Mann, dessen Gesicht von den tanzenden Flammen im Ofen erhellt wurde. Es hatte etwas traurig geklungen. »Ich hole uns ein bißchen mehr Licht, damit wir besser sehen können«, bemerkte Wargraves und ging zum Tisch und hob das Glas einer Öllampe an. Er zog eine brennende Wachskerze aus dem Feuer und entzündete den Docht, ließ das Glas wieder herunter und stellte die Flamme ein. Das Licht füllte das ganze Zimmer aus, strahlend und gelb, verscheuchte die Schatten und schien dadurch zugleich etwas von der Unschlüssigkeit zwischen den beiden Männern zu verscheuchen. Abram sah eine Weile in das Licht, wunderte sich über die saubere und helle Flamme. »Hast du vorher schon mal eine Lampe gesehen?« fragte Wargraves. »Nicht so eine. Ich würde bei diesem Licht gern einmal malen, es ist herrlich.« »Du bist ein Künstler, nehme ich an?« Wargraves lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und diesmal barst einer der Knöpfe, flog über den Steinboden davon,
schlitterte in eine Ecke. Sie schauten beide zu der Lücke hinunter, in der sein Bauchhaar durchschimmerte, und Wargraves zuckte die Achseln. »Ich werde mich am besten erst einmal richtig ankleiden. Wird nicht lange dauern. Möchtest du auch ein paar richtige Sachen?« »Äh ...« Abram blickte den Mann an. Er hatte niemals zuvor etwas anderes als seinen Lendenschurz getragen und war nicht sicher, ob er das jetzt tun sollte. »Ich hörte von Leuten«, meinte Wargraves, »die niemals Kleider tragen. Irgendwo weit oben. Primitive?« »Hmm. So wird's sein.« »Nun, wenn es dir so angenehm ist, will ich nichts dagegen sagen. Ich bin es eben gewohnt mich anzuziehen, das ist alles.« »Sicher, sicher. Wenn du willst – ich meine, wenn es dich sonst verwirrt, kann ich auch etwas anziehen, möchtest du?« »Nun, das liegt bei dir. Ich würde nicht wollen, daß du etwas tust, von dem du meinst, daß du es eigentlich gar nicht tun solltest.« »Nein. Das macht mir nichts ...« »Ich werde dir Hosen herunterbringen und auch ein Hemd. Du bist kleiner als ich, aber ich habe noch ein paar Kleider von Wargraves XXIII dort oben, er besaß etwa deine Größe.«
»Wer?« »Er war mein Vater. Nun ist er tot.« »Oh, ich verstehe. Tut mir leid.« »Das braucht es nicht, es war vor Jahren. Ich hole dir also diese Kleider.« Abram nickte, und Wargraves ging hinaus, der Mantel klatschte um seine Beine, als er davonschritt. Abram lehnte sich zurück und blickte sich um. Ein komfortables Zimmer, Hitze drang aus dem Ofen, eine Lampe stand auf dem Tisch, der Tisch selbst war aus Eiche, und man hatte so oft darübergestrichen, daß er fast weiß war. Teller waren auf ihm, unbenutzt und am Trocknen. Weiter drüben befand sich an einer Wand ein offener Geschirrschrank mit weiteren Tellern und Tassen, sonstigen Dingen, und etwas tiefer ruhten auf Regalen Eßwaren, die in Plastikfolie eingeschlagen waren. Er sah hinunter, und der Hund beobachtete ihn. Er streckte langsam seine Hand aus und ließ ihn an deren Rücken schnüffeln, kraulte ihn dann sanft hinter dem Ohr. Hund drehte seinen Kopf so, daß die Finger einen angenehmeren Fleck erreichen konnten, und gab tief aus der Kehle ein Knurren des Wohlbehagens von sich. Abram lächelte. Wargraves kehrte zurück, voll bekleidet, und überreichte Abram eine Hose und ein kariertes Wollhemd. »Du weißt, wie man das anzieht?«
»Ich habe es bei anderen Leuten gesehen. Obwohl ich's selbst noch niemals getan habe.« »Du nimmst dies – das sind Hosen – auf diese Weise, und mit den Knöpfen lassen sie sich vorn öffnen. Und das Hemd – richtig, so stimmt's – die Knöpfe gehen auf dieselbe Art auf und – genau!« Er grinste, als hätte er alles selbst getan. Abram setzte sich wieder, bekam ein Gefühl für die Kleider. Er fühlte sich ... nicht bekleidet, sondern voll Stoff. Er schränkte seine Bewegungsfreiheit nicht ein, aber irgendwie fühlte er sich von den Dingen abgeschnitten, als wäre da eine Barriere zwischen ihm und der Welt. »Ich nehme an, es wirkt etwas ungewohnt, nicht wahr?« »Etwas, ja.« »Du wirst dich noch daran gewöhnen. Ich komme mir jetzt komisch vor, wenn ich ohne Kleider aus dem Haus gehe. Bin auch immer und überall nackt herumgerannt, als ich ein Kind war. Obwohl man sich ändert.« »Ja.« Wargraves nickte in der Erinnerung. Plötzlich sah er auf. »Möchtest du einen Tee?« »Was?« »Tee. Ich mache ihn selbst, habe ein kleines Stück Land dafür auf dem Hügel. Gar nicht so schlecht, auch wenn ich es sage.«
»Tja, gut – sicher.« Wargraves füllte einen Kessel und stellte ihn zum Kochen auf den Ofen. Er löffelte Teeblätter in einen Topf und stellte ihn zum Erhitzen auf den Rand des Ofens, brachte dann zwei Tassen herbei und stellte sie auf den Tisch. »Du ... äh, ziehst irgendwohin?« Er blickte von der anderen Seite der Küche zu Abram hinüber. »Nein ... ich wandere umher. Ohne wirkliches Ziel. Ich sah diese Hütte und kam einfach herauf. Weiß eigentlich selbst nicht warum; vielleicht fühlte ich irgendwie, daß sich hier etwas Lebendiges aufhält.« »Könnte sein. Man kann das manchmal fühlen.« »Ja.« »Nun, bleib hier, solange du willst. Wird nett sein, ein wenig Gesellschaft zu haben.« »Du lebst allein, nicht wahr?« »Nur ich und Hund. Das ist Hund.« »Er stellte sich mir schon vor«, lächelte Abram. »Ja, ein freundliches Tier ..., ich nehme an, er wird ebenfalls einsam sein. Keine anderen Hunde, die seine Freunde sein könnten ...« Er starrte zu dem Tier hinunter, diese Idee kam ihm erst jetzt. »Oh, ich denke, daß er's verwinden wird«, meinte Abram. »So wie du und ich.« »Du bist allein, stimmt's?« »In gewisser Weise könnte man so sagen.«
Wargraves nahm den Kessel mit einem Tuch am Griff hoch und goß das siedende Wasser in den Topf, rührte es um, stellte ihn zur Seite, damit er eine Minute brühte. »Ich bin anders als die meisten«, bekannte Abram. »Primitiv nanntest du sie?« »Kein schmeichelhafter Ausdruck, ich weiß, aber dir ist bekannt, wie so etwas in Umlauf kommt.« »Ja. Du dürftest bemerkt haben, daß ich kein Haar besitze.« »Ich habe kaum Notiz davon genommen«, lächelte Wargraves. »Sicher«, lachte Abram zurück. »Nun, soweit ich weiß, ist es nicht meine Schuld. Aber sie haben eben diese Riten und Gebräuche, und sie stimmten nicht so recht mit mir überein. Also wandere ich, von einem Ort zum anderen. Damals, vor einer Weile, tötete ich jemanden, und sie warfen mich wieder hinaus. Ich hatte nicht den Mut, danach noch einmal ein anderes Dorf zu versuchen, also wandere ich umher.« »Du tötetest einen Menschen?« Wargraves Gesicht verdüsterte sich. »Nein. Ja. Ich meine ... nein ...« Wargraves wartete. Er goß den Tee ein und reichte Abram eine Tasse. Dieser nahm sie und nippte an der heißen Flüssigkeit. Sie schmeckte seltsam, nach nichts, das er jemals zuvor getrunken hatte, aber auch gut.
»Nun ... es war nicht wirklich ein Mensch. Es griff die Dorfbewohner an, weißt du, tötete sie. Es war irgendein Roboter. Ich nehme an, er hat sich seit fünfhundert Jahren in der Gegend aufgehalten, denn niemand stellte seitdem Roboter her. Und überhaupt hätten sie sich nicht gewehrt, also mußte ich ihn töten.« »Du mußt diese Leute sehr gemocht haben.« Er hatte niemals zuvor darüber nachgedacht, aber jetzt nickte er und sagte: »Ja ... vielleicht tat ich das.« Er sah in die dunkle Flüssigkeit in seiner Tasse hinunter. Sie besaß beinahe die Farbe von Leenas Haar. Er hatte die kurze, starke Vision ihres Gesichts, wie es das seine anstarrte, und ihres Körpers, wie er sich dem seinen öffnete, und eines fernen, glücklichen Ausdrucks in ihren Augen. »Und sie warfen dich deswegen hinaus? Weil du sie gerettet hast?« »Was? Oh, ja. Aber ich nehme an, es erschien ihnen nicht so. Sie meinten wohl, ich hätte ein anderes Lebewesen getötet. Das machte mich nicht besser als das, was ich getötet hatte. Ich weiß nicht recht, aber sie müssen wohl so oder ähnlich darüber gedacht haben. Sie warfen Steine nach mir, und ich lief weg. Es gab dort auch ein Mädchen ...« Er hörte zu reden auf, und sein Blick huschte durch das Zimmer, ohne etwas zu sehen. Wargraves beobachtete ihn, teilte seine
Trauer, obwohl er selbst niemals ein eigenes Mädchen gehabt hatte – wenn er seine Kusine Belinda nicht zählte, die ihn vor einiger Zeit einmal in das Wäldchen mitgenommen hatte, als er dreizehn war; aber das war nicht Liebe gewesen, nicht wirklich. Plötzlich blickte Abram auf. »Dieses Zeug, es ist wirklich gut. Was, sagtest du, sei es?« »Tee. Hast du das noch niemals zuvor getrunken?« »Nein. Wir hatten einige Blätter, die wir in kaltes Wasser taten, aber niemand dachte je daran, sie heiß zu benutzen. Es macht sie offensichtlich besser.« »Kalter Tee ...« Wargraves schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was sich die Leute alles einfallen ließen. Sie saßen eine Zeitlang schweigend da. Es gab so vieles zwischen ihnen, was sie sagen wollten, keiner von ihnen wußte jedoch so recht, wo beginnen. Zwei verschiedene Leben und Kulturen trafen sich – eine Fülle von Andersartigkeiten. Aber das Schweigen war auch nicht unangenehm. Als wären sie alte Freunde, denen langes Schweigen half, die gemeinsamen Bande zu festigen und die Distanz zwischen ihnen zu verringern. Abram und Wargraves saßen herum, schlürften Tee, starrten in das Feuer, und Hund lag neben ihnen. Es war warm in der Nacht. Draußen regnete es leicht, als träfen Seufzer den Boden.
»Regen, Regen, immer haben wir Regen«, brach Wargraves die Stille. »Hast du jemals gehört, daß Gerüchte darüber umgehen, eine Maschine kontrolliere das Wetter?« Wargraves nickte. »So sagt man, ich frage mich, was die Maschine heute für uns bereit hält. Allerdings glaubte niemals jemand wirklich daran.« »Ich habe sie gesehen.« »Wen?« »Die Maschine. Ich sah sie, während ich herumwanderte. Sie befindet sich versteckt in einer Höhle im Berg. Im Inneren ist alles hell erleuchtet, und sie ist kilometerlang, diese Maschine, die das Wetter kontrolliert. Überall hingen große Karten an den Wänden, und sie bewegten sich. Wie Wolken, die dahinschweben. Und schwarze Linien, die sich immer verändern. Es muß die Wettermaschine gewesen sein.« »Vielleicht gibt es sie wirklich.« »Ich wette, daß sie's war«, sagte Abram. »Warum sollten wir sonst immer dasselbe Wetter haben? Jeden Tag und jedes Jahr.« »Außer Weihnachten«, sagte Wargraves. »Ja, außer Weihnachten.« Sie nickten. Sie hatten einen Punkt des Vergleichs untereinander gefunden. Sie dachten beide darüber nach, betrachteten das Feuer. Weihnachten ... eine
vertraute Sache für beide, so daß sie eigentlich nicht sehr verschieden voneinander sein konnten. Nicht wissend um die Unterschiede. Für Abram war es eine Zeit der Stammesorgien, alle Dorfbewohner versammelten sich in einer Hütte, heiß und aneinandergedrängt, Mann und Frau, eine Zeit der nackt ineinanderverschlungenen Gliedmaßen. Er hatte niemals einer solchen beigewohnt, sehr lange nicht. Sie hätten ihn nicht eingelassen. Aber er wußte alles darüber. Und für Wargraves war es eine Zeit der kleinen Bäume mit Flitter, das er in der Stadt fand und mitnahm und über die spitzen grünen Zweige hängte, dabei etwas leise Musik auf seiner Flöte spielte; und eine Zeit des warmen Gefühls, als wäre er auf einmal nicht mehr allein. Keiner von ihnen wußte, was Weihnachten wirklich bedeutete, aber es brachte Ferien für sie beide, es war der Tag, an dem Schnee fiel. »Seltsam, wenn man so darüber nachdenkt«, meinte Abram. »Eine Maschine macht all das Wetter für uns.« »Nicht seltsamer als einige andere Dinge auf der Welt.« »Vermutlich.« Sie nickten beide. »Du wirst also ein paar Tage bleiben?« fragte Wargraves.
»Wenn es dir nichts ausmacht?« »Bleib für immer, wenn du willst. Ich habe Gesellschaft gern, und ich mußte lange Zeit ohne sie auskommen.« »Nun wir werden sehen, vielleicht tu ich das.« »Ich besitze oben ein Gästezimmer, das du benutzen kannst. Und wenn du ein Maler bist, können wir morgen in die Ruinen gehen, vielleicht findest du einige Sachen, mit denen sich arbeiten läßt. Ich meine mich zu erinnern, irgendwo einen großen Keller mit solchen Dingen darin gesehen zu haben.« »Das wäre schön.« Die beiden Männer begaben sich hinauf, und Wargraves zeigte Abram sein Zimmer, ging dann den Gang entlang zu seinem eigenen zurück. Er entkleidete sich und kletterte wieder in das Bett, lächelte, als der Hund sich zwischen seine Beine schmiegte. Es fühlte sich gut an, wirklich gut, mit jemanden gesprochen zu haben. Hund antwortete schließlich nie. Abram war schon auf, als Wargraves die Stufen hinuntergeschwankt kam, sich am Kopf kratzte und aus verschlafenen Augen blinzelte. Er stand am Fenster, blickte über das sich hinziehende Feld zur Flußmündung hinunter. »Früh auf«, murmelte Wargraves. Abram nickte und wandte sich vom Fenster ab. Er
fragte sich, ob er ihm von seinen Schlafgewohnheiten erzählen sollte – besser, dem Fehlen seiner Schlafgewohnheiten – oder ob er sich das für später aufheben sollte. Manche Leute hatten Schwierigkeiten, das zu akzeptieren. »Ja, ich schlafe nicht«, sagte Abram. »Schlechte Nacht gehabt?« fragte Wargraves, während er in ein frisches Laib Brot zu schneiden begann. »Einigen Leuten geht es so. Die erste Nacht an einem neuen Ort ...« »Nein. Jede Nacht. Ich schlafe einfach nicht.« Wargraves blickte auf, das Messer ruhte auf dem Tisch. »Niemals?« »Niemals.« Er nickte und fuhr zu schneiden fort. »Du wirst also nicht müde?« »Nein ... ich brauche eine andere Art von Schlaf. Nicht wirklich Schlaf, aber es hat denselben Zweck. Ich schlafe, wenn ich wach bin, verstehst du?« »N-nein, ich bin nicht sicher, daß ich das tu.« »Nun, ich sitze einfach eine Reihe von Stunden still irgendwo herum und lasse meinen Geist treiben, wohin immer er will. Es ist nicht das Vergessen des Schlafs, daß man vermißt, es sind die Träume; also träume ich, wenn ich wach bin.« »Vermischt sich das nicht, Schlafen und Wachen?« »Nicht, wenn ich sonst nichts mache. Ich sitze bloß
herum und versuche für Stunden, nicht das mindeste zu tun, und dann bin ich für einen weiteren Tag wieder klar.« »Hmm.« Wargraves schnitt eine Anzahl dicker Brotscheiben auf einen Teller und schob ihn Abram hin. »Ich sehe nicht ein, warum das einen Sinn ergeben soll. Es mag allerdings auch darüber etwas in der Bibliothek stehen, wir können später einen Blick hineinwerfen.« »Ich lese nicht«, sagte Abram. »Oh ...« »Ich meine – ich nehme an, ich könnte schon lesen, aber es hat mir niemals jemand gezeigt, wie das geht.« »Ist das so, wo du herkommst?« »Meist schon, ja.« Abram setzte sich an den Tisch und nahm sein Brot, biß hinein und steckte sich eine Scheibe Käse hinterher, damit es besser rutschte. »Ich sag dir was – ich werde es dir beibringen«, meinte Wargraves. »Ich bin selbst kein so großartiger Leser, aber ich kann dich immerhin lehren, was ich weiß.« »Wirklich? Das wäre schön ...« Wargraves nickte. »Sicher, es wird für uns beide schön sein. Hund konnte ich niemals etwas beibringen.« Abram lächelte, und sie aßen schweigend weiter.
Wargraves betrachtete Abrams Hand und das feine Gewebe zwischen seinen Fingern. Abram sah auf und lächelte, spreizte sie, so daß sich das Sonnenlicht vom Fenster in seinen Schwimmhäuten verfing. »Stört dich das?« fragte er. Wargraves hob die Schultern. »Ich sehe nicht, warum es das sollte. Ich habe schon Schlimmeres gesehen.« »Mutanten?« fragte Abram. Wargraves nickte. »Mutanten.« »Gibt es viele hier in der Gegend?« »Einige. Hatte einmal eine ganze Sippe von ihnen, die draußen in den Ruinen lagerten. Auf der anderen Seite des Flusses störten sie mich nicht, und ich ließ sie in Ruhe. Fühlte mehr als sonst etwas Trauer für sie. Sie lassen einen stets fühlen, wie verloren sie sind; ich nehme an, sie sind zu ...« »Ich denke, ich werde auch ein Mutant sein«, bemerkte Abram. Wargraves lächelte ein wenig. »Sind wir das nicht alle?« Abram blickte zu ihm auf. »Du? Du bist ein normaler Mensch, soweit ich sehe.« »Du hast keine Bücher gelesen, kann ich nur sagen.« »Nein. Ich sagte schon, daß ich nicht –« »Jeder ist ein Mutant«, beharrte Wargraves. »Ich
habe Bücher in der Bibliothek, die alles darüber berichten. Wie sich der Mensch aus anderen Lebensformen entwickelt hat, niederen Arten, Affen und solchem Getier.« »Was sind Affen?« »Kleine behaarte Menschen«, erläuterte Wargraves. »Und so sind wir alle Mutanten auf die eine oder andere Weise. Wir sind alle verschieden von dem, was wir sein sollten. Ein Mutant ist nur jemand, der von dem abweicht, was er sein sollte. Selbst diese armen Schlucker dort draußen mit ihren zwei Köpfen und acht Beinen und was immer sie sonst haben. Manche Mutanten sind gut und manche sind schlecht, so stehen die Dinge eben.« »Wo ich herkomme, fürchten sich die Leute vor ihnen.« »Sie sind nur anders.« Wargraves strich Brotkrumen von der Tischplatte auf den Boden und stand auf, stellte seinen Teller in die Spüle und lehnte sich einen Moment lang dagegen, beobachtete Abram. »Meinst du, du kannst dich an das Hemd gewöhnen?« »Glaubst du nicht?« »Es ist ein bißchen spät, sich einem zivilisierten Leben anzupassen.« Abram sah ihn an und fragte sich, ob Wargraves zu scharfsinnig für ihn war oder einfach zu dumm. Wie
auch immer, er war sich nicht sicher, daß er ihn völlig verstand. Wargraves wandte sich ab und begann Tee zu kochen, mit Tassen und Löffeln zu klappern. Hund kam herein und setzte sich neben dem Ofen auf den Boden. Er gähnte und blinzelte Abram an, versuchte sich zu erinnern, wo er diesen unbekannten Menschen zuvor schon einmal gesehen haben mochte. Dann schniefte er und senkte seinen Kopf auf die Pfoten, als die Erinnerung wiedergekommen war. Wargraves füllte eine Schale mit Wasser und stellte sie neben ihn. Hund öffnete ein Auge und betrachtete sie, schloß dann das Auge wieder. »Rauchst du?« fragte Wargraves. Abram sah auf. »Nein ... jedenfalls glaube ich nicht ...« Er beobachtete neugierig, wie Wargraves eine große Pfeife von dem Regal über dem Ofen nahm und sie mit Tabak stopfte, ihn mit dem Fidibus festdrückte und Wolken dunklen Rauchs ausstieß. Abram grinste und meinte: »Ich besaß einmal eine Lampe, die fast ebensoviel Rauch machte.« Wargraves grinste zurück und goß Tee in zwei Becher, reichte einen davon Abram. »Wir können hinüber in die Bibliothek gehen, wenn du möchtest. Ich werde das Feuer anfachen, es ist ein bißchen kühl heute morgen.« Abram folgte dem großen Mann. Wargraves nahm
eine Metallschaufel und holte glühende Kohlen aus dem Herd und trug sie hinüber, häufte sie in dem offenen Kamin in der Bibliothek an und legte kleine Hölzer darauf, blies hinein, bis sich eine Flamme bildete und aufloderte, und fügte dann weiteres brennbares Material hinzu. Abram schritt langsam in dem Zimmer umher, starrte auf die Reihen mit Büchern, die mit Ausnahme der Stelle, an der sich die Tür befand und an der ein Fenster einem den Blick auf den Hügel gewährte, allen Platz einnahmen. Die Bücher schienen einen ganz eigenen Geruch auszuströmen, sich mit ihnen zusammen in einem Raum aufzuhalten, ließ ihn sich schon älter fühlen. Wargraves setzte sich in einen Lehnstuhl am Feuer, und Abram warf sich ihm gegenüber in einen anderen. Das Feuer begann an Stärke zuzunehmen, und die Scheite knisterten und stieben funkelnde Sterne den Kamin hinauf. Wargraves sog bedächtig an seiner Pfeife und sah zu dem halbbekleideten Mann hinüber und erkannte, daß er von ihm nicht mehr als Fremden dachte. Abram trug sein Anderssein so sehr als Teil seiner selbst, daß niemand bemerkte, daß er überhaupt anders war. Aber auch, mußte Wargraves hinzufügen, wenn er einmal seine fremde körperliche Gegenwart akzeptiert
hatte, mochte sich sein mentales Beiwerk noch immer als überraschend erweisen. Jemand, der so vollkommen anders erzogen worden war als er selbst; – und beide waren sie sich der Lücken bewußt, die zwischen ihren Einstellungen klafften. Diese kleine, skeletthafte Gestalt mit ihren hohen Wangenknochen und der schmalen Nase, den steifen Gliedmaßen, dem die darunterliegenden Knochen zeigenden Brustkasten und der blaßbraunen Haut, die sich straff über seine Muskeln spannte – das war ein weiterer Unterschied, den er wahrnehmen konnte. Im Innern des bloßen Schädels aber bestand eine andere Art von Unterschied. »Es sind genug Bücher hier«, meinte Abram. »Die gesamte Wargravessammlung. Müssen an die zehntausend Bücher sein. Und dort drüben«, er deutete mit dem Mundstück seiner Pfeife dorthin, »befinden sich die Journale der Wargraves. Vierhundert Jahre Wargravesgeschichte sind dort niedergeschrieben gelagert.« Abram blickte zu der Reihe schwarz eingebundener Bände und war beeindruckt. »Wenn du erst lesen kannst, schau sie dir durch. Ich würde zu lange brauchen, um alles zu lesen, was darin steht, aber schon beim reinen Überfliegen erhält man ein wirklich starkes Gefühl für die Zeit. Vierhundert Jahre, niedergeschrieben in Form von Berichten aus erster Hand. Es ist eine ziemlich unglaubliche Sache ...«
»Ja.« Wargraves sah zu den Bänden, fühlte sich verbunden mit ihnen, mit all den Leuten, die einen Stift genommen und diese Seiten beschrieben hatten. Als wären all die Wargraves, die es jemals gegeben hatte, noch immer in ihm selbst am Leben. Es gab so etwas wie den Tod für einen Wargraves nicht, nur ein Schwinden des Bewußtseins. Sie befanden sich alle dort, noch am Leben, in den Büchern, bereit, heruntergeholt und aufgeschlagen und von den Seiten befreit zu werden, als würden sie sich immer noch irgendwo in der Nähe aufhalten und seien nur einmal auf einen Sprung hinausgegangen. Er sah wieder Abram an. »Was ist mit deinen Leuten? Starben sie?« »Nein. Ich denke, sie leben wohl immer noch irgendwo.« »Auch sie warfen dich hinaus?« »Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Seit ich dreizehn wurde. Und sie sind nicht wirklich, was du meine Leute nennst. Sie fanden mich einfach als Baby. Man hatte mich am Strand zum Sterben ausgesetzt.« Er hielt seine Hände hoch. »Wieder dies, nehme ich an. Die Leute halten es so, wo ich herkomme. Wenn es zu einer Mutation kommt, überlassen sie sie auf dem Strand der Flut, damit sie sie fortschwemmt. Ich weiß nicht, warum meine Leute mich mitnah-
men. Vielleicht dachten sie, mein Anderssein sei nicht weiter schlimm. Sie sorgten für mich, als wäre ich ihr eigenes Kind. Ich hätte bei ihnen bleiben können, wenn nicht die anderen Dorfbewohner etwas dagegen gehabt hätten.« Er erinnerte sich. Ein Mädchen, noch jung, in seinem Alter, mit kleinen Brüsten, die sich gerade zu entwickeln begannen, und einem krausen Dreieck aus Haaren zwischen den Beinen, das von sich selbst dachte, schon erwachsen zu sein. Beide erkundeten sie ihre Körper, und lange Zeit später schenkte sie einem Kind das Leben. Einem Mutanten wie er selbst, doch als hätten seine Gene einen Extraschritt getan und ihn noch unmenschlicher geschaffen. Eine kleine, weiße, blasse, fischähnliche Gestalt. Die Dorfbewohner hatten sie zu den Klippen gebracht und ins Meer geworfen. Er sah es vor sich: der kleine weiße Körper drehte sich in der Luft, als er fiel, traf auf dem Wasser auf, und Gischt schoß hoch, während ein Blitz aus Weiß in das Wasser tauchte. Er kam niemals wieder zum Vorschein. Seine erste Steinigung. Seine Adoptiveltern standen auf der Seite und sahen zu, es gab nichts, was sie hätten tun können, sie mußten im Dorf bleiben, und es war schlimm genug, daß er in ihrer Hütte geschlafen haben sollte. Ihn nun zu beschützen, hätte für sie dieselbe Geißelung bedeutet, und sie waren doch nur
Menschen. Sie hatten sich angesiedelt und besaßen einen Platz, an dem sie auch bleiben wollten. Seine erste Steinigung, aber nicht seine letzte. »Sie warfen dich hinaus?« fragte Wargraves. Abram sah auf und nickte. »Sie warfen mich hinaus.« Wargraves nickte ebenfalls, sog an seiner Pfeife. »Du scheinst es recht schwer gehabt zu haben.« »Man gewöhnt sich daran.« »Einsam?« »Ja. Es gibt immer Mädchen, weißt du. Weil ich anders bin, zieht sie das an, vermute ich. Aber es ist niemals wirklich etwas zwischen uns, sondern nur rein körperlich.« Wargraves nickte, verstand nicht völlig, wußte aber genug. Kusine Belinda mit den sommersprossigen Schenkeln, die sich ihm öffneten, in der Scheune, auf den Feldern, nichts Geistiges war dabei, wenn draußen unter freiem Himmel ihre nackten, fetten Brüste erbebten und ihr Gesicht glücklich lächelte. Es war eine Sache des Körpers. Wieder nickte er, sah zu dem Mann hinüber, der dort saß und recht zufrieden wirkte, ein Bein angezogen hatte. »Das ist eine traurige Geschichte, Abram.« »Mag sein. Obwohl ich es nicht so empfinde. Sie ist einfach ein Teil meines bisherigen Lebens. Man vergißt die unangenehmen Teile sehr rasch.«
Sie saßen beide eine Weile herum, hingen ihren Erinnerungen nach. Schließlich klopfte Wargraves an der Innenseite des Kamins seine Pfeife aus und erhob sich. »Ich werde noch etwas Tee kochen, und dann können wir mit den Lesestunden beginnen.« »Halte ich dich nicht von der Arbeit ab?« Wargraves lächelte. »Nein. Ich arbeite, wenn ich es will. Es gibt im Augenblick ohnehin nicht viel zu tun.« »Was zu tun?« »Leute begraben.« Abram beobachtete, wie er in die Diele hinausging. Hund kam herein und legte sich an das Feuer, und Abram beugte sich nach vorn und kraulte ihn hinter dem Ohr. Er seufzte und stand auf, schritt zum Fenster und sah hinaus. Schwere, dunkle Gewitterwolken bauten sich auf, verschleierten die Sonne und machten den Morgen zum Abend. Abram runzelte die Stirn. Es sollten keine vorhanden sein. Nicht jetzt. Er drehte sich um und lief im Zimmer einher, fuhr mit dem Finger über die Rücken der in den Regalen stehenden Bücher, empfand Respekt vor ihnen, wohl wissend, daß keines von ihnen weniger als vierhundert Jahre alt war. Das Zimmer war voll von ihnen, ihrer Zeitlosigkeit und Beständigkeit. Es war ein gutes Zimmer und schön, einfach darin zu sitzen und sich in ihm zu unterhalten, als wäre die ganze Welt weit draußen und man selbst an einem fernab davon liegenden Ort eingeschlossen.
Wargraves kam mit dem Tee zurück, und sie setzten sich mit einem aufgeschlagenen Buch an einen Schreibtisch, einem mächtigen Buch mit großem Schrifttyp und kolorierten Bildern. Von Äpfeln und Booten und Kühen ... und Zebras. Draußen begann es zu regnen, und beide Männer wandten sich um, um zu schauen. Schwere Tropfen klatschten gegen das Fenster und die Luft war auf einmal sehr still. »Das ist seltsam«, meinte Wargraves. »Vielleicht bricht die Maschine zusammen«, sagte Abram und lächelte. »Seltsamer und seltsamer ...«, sagte Wargraves. »Was?« »Das ist aus einem alten Buch.« Donner brandete auf und Blitze zerteilten den Himmel, um mehr Regen hindurchzulassen. »Hier, versuch dies einmal.« »Grün ... rot ... blau?« »Blau. B-l-a-u.« »Blau.« »Richtig.« »Nun kenne ich die Farbe des Himmels.« Wargraves blickte hinaus und wendete dann die Seite. »Dies.« »Schwarz.«
4. Der Wal Kirik tauchte auf und blies einen feinen Gischtnebel aus seinem Atemloch, sog seine Lunge mit frischer, salziger Luft voll und glitt wieder unter die Oberfläche. Er öffnete sein Maul und stieß eine Anzahl rascher, klickender Laute aus, die vielleicht einem Ruf, einer Frage entsprachen. Das Geräusch durcheilte das Meer. Sheeka hielt sich in einer kleinen Höhle auf, deren Wasser rundum kristallklar war. Sie wedelte kraftvoll mit der Flosse, strich über den sandbedeckten Boden dahin, wo ihr eine Schule kleiner Fische eilends auswich. Sie setzte einem Nachzügler nach und fing ihn rasch mit dem Maul, mit den vielen kleinen, scharfen Zähnen, und verschluckte ihn. Sie tauchte auf und machte aus reinem Übermut einen Salto rückwärts. Wieder unter Wasser, vernahm sie Kiriks Ruf. Sie drehte sich zweimal und antwortete. Es war noch nicht die Zeit der Paarung, doch er war stets willkommen. Kirik war jedem der übrigen Männchen vorzuziehen. Man konnte nicht sagen, daß sie ihn liebte, denn das war ein viel zu intellektueller Vergleich. Sie liebte jedes Mitglied der Herde gleichermaßen, Mann oder Frau, jung oder alt; es war ihr nicht möglich, ihn mehr zu lieben als irgendein ande-
res Mitglied. Aber er interessierte sie mehr als die meisten. Er war ein großer, schlanker Bulle. Vielleicht würde er in diesem oder im nächsten Jahr sogar schon die Leitung der Herde übernehmen. Seekta war ein guter Führer gewesen, aber er wurde nun alt – und langsamer. Sicher war er immer noch stark, sein Verstand immer noch der wendigste und regste, doch wenn er eine lange Wanderung führte, pflegte er vor den anderen müde zu werden. So sollte ein Leitbulle nicht sein. Er mußte unermüdlich sein, noch aktiv bleiben, wenn die Herde anhielt, stets kreisen und nach Gefahren Ausschau halten. Nicht daß viel zu fürchten gewesen wäre. Aber falls eines der Jungen sich von der Hauptgruppe entfernte, konnte das zu Schwierigkeiten führen. Es tönte ein Rauschen durchs Wasser, als Kirik durch die Wellen an der Oberfläche auf sie zugeschossen kam. Sie sprang empor und sah ihn am Rand der Bucht, wie er einen Felsausläufer überwand. Er schüttelte den Schädel, Gischt löste sich von seinem Körper, und stieß sauber mitten in den Brecher, der einen Augenblick leewärts erschien und ihn dann überschwemmte. Sheeka ließ sich dann ins Wasser fallen, schickte einen nassen Schwall hinauf und drehte sich langsam, als Kirik auf sie zukam, immer noch mit voller Kraft. Sie rollte ihren Körper
zur Seite, und er näherte sich ihr, strich der Länge nach zärtlich an ihr vorbei. Sie ließ eine Anzahl glücklicher Klicklaute ertönen und schoß umher und schloß sich ihm an, als er langsamer wurde. Ihre Sprache war verworren – wie die jedes anderen Wesens, das diesen Planeten bewohnte, auf dem Lande oder zu Wasser. Sie bestand aber aus mehr als hörbaren Botschaften. Es war nicht Telepathie – eher eine Form der Empathie, bei der sie den verbalen Informationen noch mentale Bilder hinzufügen konnten, um zu bekräftigen, was sie sagten. »Wo ist die Herde?« fragte Sheeka. Die Botschaft bestand aus einer Reihe von Klicks für ›wo ist‹ und einem mentalen Bild von ihr selbst, das vervielfacht die Herde darstellen sollte. »Draußen. Beim Fressen, denke ich.« Eine weite Fläche fürs offene Meer. Sich öffnende Mäuler und dahintreibende Fische. Eine Reihe von Klicklauten. »Warum bist du hier und nicht bei den anderen?« Er antwortete nicht. Statt dessen umkreiste er ihren Körper, drehte sich dabei stets so, daß er sie niemals direkt berührte. Sie wedelte hinauf und biß ihn leicht in die Schwanzflosse. Er keckerte und drehte seinen Kopf, strich mit dem geschlossenen Maul über die Seite ihres Gesichts. Auf einmal schnellte sie herum, daß sein Kopf sich direkt unter ihrer Schwanzflosse befand, und Kirik schwamm um sie herum und über
ihr in Richtung ihres Mauls, eher ein sanftes Dahintreiben. Dann drehte sie sich unter ihm, und er wiederholte die Werbung an ihrer Bauchseite. Ihrer beider Bewegungen verlangsamten sich, und sie trieben fast reglos im Wasser, aneinandergelehnt, mit der Spitze des Mauls vorsichtig Teile des anderen Körpers stupsend, sich immer öfter gegeneinanderpressend. Plötzlich setzte sich Sheeka ab und schnellte zur Oberfläche hinauf. Sie durchbrach sie in einem Schauer weißer Gischt. Kirik folgte ihr, und als sie wieder zusammen waren, befand er sich unter ihr. Ihre Körper vibrierten aneinander, und sie ließen ein heiseres Bellen ertönen. Sie wurden aufgedrehter, wirbelten um die eigene Achse, jagten einander, wälzten sich, drehten sich, flitzten in immer kleiner werdenden Kreisen wie in einem Unterwasserballett hintereinander her, die Bewegungen flüssig, glatt und schnell. Dem Tanzen folgte eine Periode des bloßen Berührens, des Liebkosens mit den Zähnen, ohne Wundmale zu hinterlassen, dann wieder eine rasche, kraftvolle Umarmung, die sich vorbereitend auf über eine Stunde Dauer erstreckte. Schließlich drehte sich Sheeka auf die Seite und schwebte reglos neben Kirik. Er sah sie sanft an, weil sie sein Weibchen war. Sein besonderes Weibchen. Er
nickte. Sie nickte zurück und blickte hinunter, um zu sehen, wie sich langsam sein Penis aus der glatten Rinne hob, den er in Ruhestellung einnahm, wie er sich ihr näherte und in sie eindrang, und sie schob sich dagegen und seufzte Blasen silberner Luft, die zur zerberstenden Wasseroberfläche hinauftaumelten. Sie bewegten sich langsam gegeneinander, gleich allen intelligenten Tieren, zogen den Akt in die Länge, mehrten ihr eigenes und das Wohlbehagen des Partners. Langsam erreichten sie den Höhepunkt, und Sheeka fühlte den Wärmeausbruch in ihrem Innern. Danach schliefen sie eine Weile, hin und wieder öffneten sich ihre Augen, ohne daß es den Schlafrhythmus störte. Endlich ausgeruht, schwammen sie gemeinsam aus der Bucht, tauchten in regelmäßigen Abständen zum Luftholen auf, aber ohne die übermütigen Sprünge von vorher. Sie stießen im offenen Meer auf die Herde, schlossen sich ihr wieder an. Inzwischen war die Herde gesättigt und auf dem geraden Weg in die Weite des Meeres, das vor langer Zeit als der Englische Kanal bekannt gewesen war. Jetzt war das Wasser völlig sauber, keine Schiffe segelten mehr über ihren Köpfen dahin. Die Meere gehörten überall wieder den Delphinen, waren ihr unbestrittenes Gebiet. Der Mensch hatte sich auf das
Festland zurückgezogen. Er hatte die wahren Tiefen und Weiten der Ozeanwelt nie wirklich verstanden, und bevor er die Möglichkeit bekam, sie zu entdekken, wurde er in eine Zeit der Barbarei und des bodenständischen Friedens zurückgeworfen. Kirik schoß vorwärts und verzögerte neben Sheeka. Der Leitbulle stieß kraftvoll zur Spitze der Herde vor, sein Kopf schwang von einer auf die andere Seite, als er seine befehlenden Signale ausschickte und ihren veränderten Echos lauschte. Er verdrehte die Augen und sah Kirik an. »Hallo, Kleiner.« Das Bild eines Babys bei der Geburt. »Nicht so klein, Seekta.« »Wo warst du?« »Bei Seekta.« »Ah. Also nicht so klein. Ein feines Weibchen, sie ist deiner würdig. Bist du es ihrer?« »Vielleicht.« »Ja, vielleicht ...« Kirik sah den älteren Bullen an. »Elterliche Sorge, Seekta, oder einfach Sorge um die Herde.« Er schwamm eine Weile ohne Antwort weiter. Dann tauchte er langsam an die Oberfläche und füllte die Luft in seinen Lungen und seinen Luftsack wieder auf. Kirik wartete auf ihn, bis er zurück war, und fragte dann: »Nun?«
Seekta lachte leise in sich hinein. »Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich nur übervorsichtig. Es ist schwierig, wenn einem die Kinder heranwachsen. Alt zu werden ist eine harte Sache, das wirst du noch früh genug herausfinden.« »Ich werde selbst einmal Kinder haben, Seekta. Vielleicht fühle ich dann bei manchen ebenso?« »Vielleicht ... vielleicht ...« Kirik schüttelte den Kopf und schloß sich der Herde an. Er gesellte sich zu einer Anzahl junger Bullen, die in eigener Formation am Rande der Hauptgruppe dahinschwammen. »Wie war sie?« fragte einer von ihnen, als Kirik neben ihnen war, außerhalb der Formation seine eigene Gruppe bildete. »Wer?« »Komm schon, wir sahen dich und Sheeka zusammen hier eintreffen. Erzähle uns nicht, ihr hättet bloß Seeschildkröten miteinander gejagt!« »Hör mal –« Kirik beschrieb einen Halbkreis fort von der Formation und kam zum Halten. Die anderen Bullen verhielten ebenfalls. Der Fragesteller und Kirik trieben bewegungslos einander gegenüber im Wasser. »Es kümmert mich nicht, was du denkst«, erklärte Kirik. »Schön, wir könnten miteinander koitiert haben, und dann? Aus deinem Maul klingt es, als wäre
das etwas, dessen man sich schämen müßte. Du wirkst fast menschlich mit deinem Gerede.« Der junge Bulle zog sich etwas zurück und blickte zu seinen Kameraden hin. Er war nicht sicher, ob sie ihm den Rücken stärken würden, falls es zum Kampf kam. Sie trieben zu beiden Seiten des Paares und schienen an den Vorgängen nicht interessiert. »Schon gut, schon gut, vergiß es. Es hatte nichts zu bedeuten.« Kirik nickte. »Du mußt in Zukunft vorsichtiger sein, Akka, oder es werden dir bald Beine wachsen und du wirst auf Bäume zu klettern beginnen.« Akka wandte sich um und schwamm davon, um sich der Hauptherde anzuschließen. Kirik schoß zur Oberfläche hinauf und holte Luft. Als er wieder nach unten strebte, schlossen sich ihm die anderen Bullen an. »Ihr meint, ich wünsche eure Gesellschaft?« fragte er. »Komm schon, Kirik, wir sind doch Freunde, oder nicht?« »Hat Akka euch das erzählt?« Sie sahen ihn einen Augenblick an, schwenkten dann herum und machten sich davon, um sich diesem hinzuzugesellen und mit ihm zusammen wieder eine Gruppe zu bilden, die vom Mittelpunkt der eigentlichen Herde durch fünfzig Fuß klaren Wassers
getrennt war. Kirik begab sich in die Herde hinein und wand sich an ihren Mitgliedern vorbei, Augen und Ohren für jedes von ihnen offen, der unerwartet abwärts stieß oder von unten heraufschoß, um Atem zu schöpfen. Im Allgemeinen waren sie alle stets ausreichend auf der Hut, um Zusammenstöße zu vermeiden, aber manchmal geschah es doch, wenn die Herde nach einer langen Wanderung zu ermüdet war. Er wich einem alten Weibchen aus und trieb an die Seite von Sheeka. »Du bist es«, sagte sie. »Ich.« Er stupste ihr Gesicht mit seiner Schnauze. Ein sachter Kuß. »Ich sah dich mit Akka zusammen. Warum treibst du dich mit ihm herum?« »Ich treibe mich nicht mit ihm herum. Ich habe ein Auge auf ihn. Seekta kann nicht auf alle Mitglieder der Herde achten, erst recht nicht auf solche wie Akka. Seine Autorität bei den jüngeren Bullen ist nicht mehr, was sie einmal war.« »Warum sind sie so, Kirik? Es gab einmal eine Zeit, da wir alle freundlicher zueinander waren. Doch sie sind ... ich weiß nicht, uns fehlen die Worte, das auszudrücken.« »Die Welt verändert sich. Auf dem Festland mutieren die Menschen, und ich nehme an, wir tun es auch. Wir tun es, soviel wissen wir, rein körperlich. Viel-
leicht mutieren wir ebenso in unseren Gemütern, und es gibt deshalb Delphine wie Akka?« »Was wird mit ihm geschehen? Die Herde kann ihn als paarungsbereites Männchen nicht dulden, er ist zu aggressiv, zu gewalttätig. Man kann es förmlich im Wasser riechen, wenn er in der Nähe ist.« »Vergiß ihn. Er ist es nicht wert, daß man sich mit ihm beschäftigt.« Sie lächelte und küßte ihn, aber ihre Gefühle waren noch immer unsicher, bemerkte Kirik. Er konnte sie dafür nicht tadeln. Die Herde hatte sich im Laufe der Jahre zu ihrem Nachteil verändert, und er wußte nichts, was man tun konnte, um das wieder rückgängig zu machen. Die älteren Mitglieder lebten noch immer in ihrem freundlichen Zustand und konnten gegen die wilderen jungen Elemente nichts ausrichten. Und Kirik – er verspürte nicht den Wunsch, sich Akka entgegenzustellen, er fühlte, daß ihn das nicht besser machen würde als jene anderen, mit denen er schwamm. Aber etwas mußte bald geschehen. Sheeka stieß ihn an, und sie machten sich rasch auf den Weg zur Oberfläche, durchbrachen sie heftig, tauchten wieder unter. Als wäre das ein Signal, begann der Rest der Herde mit ihnen zu springen. Auf dem ganzen Meer warfen sich die schlanken Schatten der Delphine in Bögen aus Gischt und Körpern immer von neuem in die Wellen. Seekta an der Spitze
sprang mit ihnen, verlor im Rausch der Geschwindigkeit etwas von seinem Verantwortungsbewußtsein. Er führte sie im Halbkreis, so daß sie wieder dem Westen zustrebten. Rechts von ihnen lag die Küstenlinie von Devon – ein nebelblauer Dunst. Die Herde zog sich für die Nacht in eine breite Bucht zurück, und für Sheekas Mutter war es Zeit zu gebären. Die Hauptherde blieb in der Nähe des Sandstrandes, trieb sich in der Brandung herum. Andere schliefen, hielten kurze Nickerchen von einer Stunde, bevor sie wieder erwachten, sich eine weitere Stunde Nachtruhe erlaubten, aber zu keiner Zeit sehr lange. Sheekas Mutter befand sich an einem verdunkelten Ort; um sie herum wartete eine Anzahl weiterer Weibchen und einige Männchen, unter ihnen auch Kirik. Wartete. Und schließlich kam der Augenblick der Geburt. Der kleine Schwanz erschien zuerst, und die Mutter spannte sich, um das Baby noch weiter herauszupressen. Sie verhielt, spannte sich erneut. Die Geburt dauerte über eine Stunde; endlich befreite sich das Kind vollständig von seiner Mutter. Sofort flitzte es umher, die Kraft seiner Bewegungen durchtrennte die Nabelschnur. Die Augen des Kindes waren schon offen, und es zerteilte langsam das Wasser. Es war ein Mutant. Andere Mütter kamen näher und stupsten es mit
ihren Schnauzen an, stießen es zur Oberfläche hinauf. Sein Kopf durchbrach sie, und es sog seine ersten Luftmengen in sich hinein. Es sank wieder hinunter, und so etwas wie Blasen lösten sich von seiner Schnauze und seinen Nüstern und taumelten aufwärts. Einer der Delphine schnellte neben das Kind und strebte mit ihm auf dem Rücken der Oberfläche zu, verharrte dort so, daß sein Kopf über dem Wasser und von Luft umgeben blieb. Kirik umkreiste langsam das atmende Junge. Das Gefühl von Wärme, Behaglichkeit und Eingeschlossenheit wurde ihm bewußt. Seektas breiter Schatten näherte sich ihm. Sie hielten beide inne und trieben im Wasser, schauten zu der Gruppe von Delphinen zurück, die um das Junge herum Wache hielten. Das Blut aus der zerrissenen Nabelschnur lockte manchmal Haie an. »Es ist ein Mutant«, berichtete Kirik. »Sollten wir uns zu dem Mädchen auf den Weg machen?« »Wird sie nicht noch schlafen?« »Das Baby braucht jemanden, der nach ihm sieht. Sie ist in solcher Hinsicht immer wach.« »Das richteten die anderen so ein. Einige kümmerten sich darum.« »Und einige starben ...« Kirik schloß sich dem Leitbullen an, und sie
schwammen aus der Bucht heraus und die Küstenlinie hinunter. Eine Meile nördlich der Hauptherde trafen sie auf eine weitere, kleinere Bucht und strebten einer Anzahl niedriger Klippen auf einem der Vorsprünge zu. Sie verharrten in der Dünung am Platz, die Köpfe knapp unter der Oberfläche. Im Mondlicht konnten sie gerade noch die Gestalt einer Frau auf den Felsen ausmachen. Sie saß in einer Aussparung, die Beine bis zu den Brüsten hochgezogen, die Arme darumgeschlungen, der Kopf ruhte auf den Knien. Sie vermochten sie nur zu sehen, weil sie wußten, daß sie sich dort befinden mußte. Jedem zufällig Vorüberkommenden wäre sie nur als ein weiterer merkwürdig geformter Bolide erschienen. Kirik konnte fühlen, wie Seektas Verstand in den des schlafenden Mädchens eindrang. Ihre Gedanken waren langsam und träge, folgten seltsamen, verworrenen Mustern, die vor Instabilität bebten. Sie unterlag gerade einem nur zögernd ablaufenden Prozeß der Veränderung von einem völlig dem Festland verhafteten Tier zu einem Wesen, das ebenso im Meer wie auf dem Land zu Hause war. Schließlich zog sich Seekta wieder unter die Wasseroberfläche zurück. Kirik betrachtete das Mädchen noch einen Augenblick lang und folgte ihm dann. »Sie ist soweit, um morgen zu erwachen«, meinte Seekta.
»Ist das nicht zu früh?« »Es wird ihr nichts ausmachen ...« Sie kehrten entlang der Küste zur Herde zurück. Kirik fragte sich, während sie dahinschwammen, ob Mutanten etwas Gutes waren. War es irgendwie vorteilhafter, an zwei Medien unvollkommen angepaßt zu sein, statt an eines vollkommen? Dabei hatten sich die Menschen aber nie wirklich der Fortbewegung auf dem Festland angepaßt. Sie litten darunter, aufrecht zu gehen, mußten immer noch hin und wieder zum Wohl ihrer Seele schwimmen, wenn schon nicht zum Wohl ihres Körpers. Und, dachte Kirik, sie taten so viel mehr als wir. Wir Delphine sind perfekt für das Leben ausgerüstet, das wir führen, aber es macht uns geistig träge. Wir begnügen uns damit, unser ganzes Leben lang in demselben Schlick umherzutreiben. Vielleicht deshalb, weil uns fehlt, was sie hatten. Wenn sie nur ein bißchen von unserer Toleranz und etwas weniger gedankenlose Aggressivität besessen hätten, was wären sie jetzt? Vielleicht dies? dachte er, als sie sich der Höhle näherten und auf die Gruppe trafen, die das Junge beschützte. Es klammerte sich instinktiv mit winzigen Händen an eine Rückenflosse, hielt den Kopf über die kabbelige Oberfläche des Wassers. Seekta kreuzte umher und führte dann die Gruppe an der Küste entlang zu dem Mädchen hin.
So sollte ein Leitbulle sein, dachte Kirik. Sich um die Belange anderer kümmernd, wenn alles, wonach er sich noch sehnte, der Schlaf ist. Kirik schüttelte die Schnauze und schwamm näher an die Küste heran und schlief ein. Bei Morgengrauen versammelte sich die Herde, und Seekta führte sie in das offene Meer hinaus. Die Herde folgte ihm rasch nach. Ein weiteres Kind war in der vergangenen Nacht geboren worden, aber dies war ganz Delphin, und Seekta richtete ihre Geschwindigkeit so ein, daß es nicht ermüdete. In der Tiefe trafen unterdessen zwei andere Geschöpfe des Meeres aufeinander. Zwei Ungeheuer, von denen jedes meinte, unverwundbar zu sein. Ein Pottwal – groß und mächtig. Ein riesiger Krake, der sechzig Fuß lange Fangarme von kaum vorstellbarer Zähigkeit besaß. Sie trafen im Kampf aufeinander. Der Wal meißelte Fleisch aus dem wabbeligen Körper des Kraken. Dieser biß mit seinem hornigen Maul tief in die dicke Fettschicht, welche die inneren Organe schützte. Blut floß, verdunkelte das Wasser, verbreitete meilenweit den Geruch des Kampfes, trug ihn zu umherschweifenden Gruppen und einzelnen Haien. Trug den Geruch auch Seektas Herde zu. Dieser huschte durch die Herde, sonderte die Müt-
ter mit ihren Jungen aus und befahl ihnen, zur Küste zurückzukehren. Dann begab er sich wieder an die Spitze und führte sie an. Die Haie kamen zuerst. Einzeln, in Paaren, später in ganzen Gruppen näherten sie sich, umkreisten den Ort, von dem sich der Blutgeruch ausbreitete. Sie schossen hinein in die kämpfenden Riesen, schossen von oben herab, drehten sich auf die Bäuche und gruben ihre rasiermesserscharfen Zähne in schon zerrissenes Fleisch. Sie bedeckten den Wal und den Kraken wie Fliegen. Der Wal röhrte, ein tiefer bellender Laut der Furcht, des Schmerzes und der Verwirrung. Die Delphine kamen, schnellten von oben auf sie zu, rasch, schlank und kraftvoll. Zu jeder anderen Zeit hätten die Haie abgedreht und sich in Sicherheit gebracht, aber jetzt waren ihre kalten Fischgehirne vom Geschmack des Blutes berauscht. Sie ignorierten die blauweißen Geschosse und fuhren fort, sich an dem riesigen Paar zu weiden, das in todbringender Umarmung verankert war. Im finsteren Ozean bewölkte sich das Wasser vom Blut der Opfer, und durch die Trübnis huschten pfeilschnell die Schatten der Haie, ruckten heftig mit dem Kopf, um Fleisch aus dem Wal oder Kalmar zu reißen. Und stürzten auf Seekta an der Spitze der Herde zu, der wohl wußte, daß es nun keine Hoffnung mehr für den Wal gab, ihren großen Vetter, der so sanft in
seiner Größe war, aber die Haie beraubten ihn seines Todes, erlaubten ihm nicht, in Würde aus dem Leben zu scheiden. Sie stießen geschlossen in das Gebiet vor und verteilten sich, während sie in den räuberischen Haufen Haie schossen, sie jagten und mit ihren steinharten Schnauzen verletzten. Ihre Schwänze fuhren mit unfaßbarer Kraft herum, schmetterten gegen die Rücken der Haie, deren knorpeliger Rückenstrang unter den mächtigen Hieben zu Brei zermalmt wurde. In ihrer Gier achteten die Haie nicht auf sie und starben. Kirik raste mit über vier Meilen in der Stunde abwärts, traf einen großen Hai in die Seite und hörte das Bersten der Wirbelsäule. Er schnellte hierhin und dorthin, wich knapp dem klaffenden Maul aus, das sich unkontrolliert öffnete und schloß. Er machte sich in dem Bewußtsein davon, daß der Hai starb; zwar würde er in seiner Ignoranz noch für Minuten zucken und sich winden, aber er war bereits tot. Nun waren es auf einmal drei, die von oben herabstießen, auf das Blut zu, das aus der Seite des Wales sickerte. Kirik drehte sich um und setzte seinen Schwanz ein, um ihm dem Leithai auf die Nase zu schmettern, das winzige Gehirn zu zerstören, und schon trieb dieser neben ihm davon, sich langsam drehend. Die anderen zwei Haie verlagerten ihre Aufmerksamkeit sofort von dem Wal auf Kirik, ka-
men in immer enger werdenden Kreisen auf ihn zu. Er drehte hart ab, rollte herum, und erwischte einen am hinteren Teil des Rückens und biß zu. Er rollte erneut herum, und der letzte der Gruppe näherte sich ihm, schoß dann nach unten, doch Kirik wich ihm aus und rammte ihm seine Schnauze in den Bauch, wobei der Magen und die Blutsäcke zerplatzten, und der Knorpel zersplitterte, und der Hai trudelte von ihm weg. Er wandte sich ab und schoß an die Oberfläche, sprang hoch hinaus, stieß fade Luft aus und nahm frische auf, tauchte dann wieder unter. Im Dunkeln war sein Augenlicht ohne Nutzen, und er orientierte sich mit Hilfe seines außerordentlichen Hörsinns, lauschte den Echos seines natürlichen Sonars. Er fand Seekta in einem Haufen von acht Haien. Er blutete aus der Seite, wo Zähne sein Fleisch abrasiert hatten, und das neue Blut zog die Haie an. Kirik stieß auf die Räuber herab, tötete zwei von ihnen im ersten Anlauf und kam dann von unten wieder hoch. Er hieb seine Schnauze in das Genick des einen und sah das Blut herausschießen, als sich die schweren Säcke an seinem Hals öffneten, und dann drehte er ab, weil ein Hai unter ihm heraufkam. Aber er war nicht sein Ziel, und rasch war er an ihm vorbei und begann am Fleisch seines sterbenden Kameraden zu zerren. Kirik nutzte das momentane
Durcheinander und folgte Seekta hinauf an die Oberfläche. Das ältere Männchen ruhte sich im Wasser dümpelnd aus, das Atemloch frei, während Kirik um es herumschwamm und auf mögliche weitere Angriffe achtete. Als Seekta bewegungslos dahintrieb, begann sich der Blutstrom aus seiner Seite zu vermindern und schließlich aufzuhören. Bevor es soweit war, mußte Kirik immerhin noch vier Haie töten, die der Blutspur gefolgt und heraufgekommen waren. »Sie wird sich wieder öffnen, wenn du hinuntertauchst«, sagte Kirik. Seekta blickte ihn an. »Ich weiß. Ich werde mich auf den Rückweg zur Küste machen. Du mußt die Verantwortung hier übernehmen.« Kirik nickte und beobachtete, wie Seekta langsam davonschwamm, dabei seine verletzte Seite schonte. Dann sank er in zwanzig Fuß Tiefe und folgte dem Delphin, bis er das gefährliche Gebiet verlassen hatte. Da der Blutfluß nun ein Ende hatte, mochte Seekta den Haien in der Nähe nicht mehr so auffallen, zumal sie vom Geruch des sterbenden Wales angezogen wurden und selbst ein Hai einen voll ausgewachsenen Delphinbullen mied. Schließlich kehrte Kirik um und griff wieder in den Kampf ein. Die harte, mörderische Auseinandersetzung hielt an. Vier Stunden, fünf ... Und dann gab es keine Haie mehr. Die übrigge-
blieben waren, waren offensichtlich gewarnt worden, denn sie hatten sich abgewandt und waren geflohen. Kirik hatte zehn seiner Kameraden verloren, und es waren weitere zehn Delphine aus anderen Herden gestorben, die später zu ihnen gestoßen waren. Es gab fast zweihundert tote Haie. Der Krake war längst gestorben, sein weicher Körper von den Haien zerrissen. Auch der Wal war tödlich verletzt. Das Wasser war fast sauber vom Blut, doch direkt über ihnen trieb der lange, glänzend weiße Mantel des Kraken, seine Oberfläche durchlöchert, wo die Faserstränge zerrissen worden waren. Kirik rief die Gruppe zusammen, und sie strebten der Oberfläche zu. Der Wal schwamm immer noch aufrecht, taumelte aber, und das Bemühen, nicht auf den Rücken zu fallen, kostete ihn Unmengen an Energie. Kirik hielt sich fern und blickte den sterbenden Riesen an. »Ich brauche vier Freiwillige«, erklärte er. »Man muß ihn direkt über dem Auge treffen.« Vier Delphine sonderten sich von der Herde ab und näherten sich. Einer von ihnen war Akka. Kirik besah sich die übrigen. Zwei davon waren Akkas Freunde. Er nahm an, er hätte erwarten müssen, daß sie sich meldeten. Gern hätte er sie zurückgeschickt, aber er wußte, es
würde bedeuten, daß ein anderer Bulle ihren Platz einnähme, und wenn es schon getan werden mußte, wollte er doch niemandem diesen Job aufzwingen. Und es blieb ihnen nur noch sehr wenig Zeit, die Leiden des Wals zu verkürzen. »In Ordnung«, sagte Kirik. »Ich übernehme den ersten Anlauf. Die anderen folgen dicht hinter mir. Ich will, daß es hart und schnell geschieht.« Der Wal stieß ein tiefes Bellen des Schmerzes aus, als sie sich formierten. Kirik tauchte auf und atmete tief ein und schoß dann auf den Kopf des Wales zu, zielte direkt auf die weiche Stelle über dem Auge, wo genügend kräftige Hiebe den Schädel eindrücken und seinem Geist das Vergessen bringen würden. Es mochte eine Weile dauern, den harten Knochen zu durchbrechen, war aber die einzige Möglichkeit, das Sterben zu erleichtern. Kirik beschleunigte ein letztes Mal kraftvoll und stieß zu. Die Erschütterung durchlief seinen Körper, betäubte ihn, und er zögerte einen Augenblick, driftete dann nach unten ab, als auch schon ein zweiter Delphin hinter ihm auftraf. Kirik schüttelte den Kopf und beschrieb zum Zwecke des nächsten Anlaufs einen Kreis. Er beobachtete das Auge des Wals, als es sich drehte, um ihm zu folgen, und er war sich nicht sicher, ob darin ein Funke der Dankbarkeit aufblitzte oder
nicht. Aber das Bellen nahm ein Ende, und der Wal trieb ermattet dahin, als die Delphine sich erneut näherten und ihn rammten. Kirik nahm einen weiteren Anlauf, und beim drittenmal fühlte er auf einmal den Knochen bersten, und sein Schub trieb ihn tief in das weiche, nachgiebige Fleisch. Der Wal zuckte krampfhaft, wirbelte dabei das Wasser auf, sein Schwanz traf Kirik und schleuderte ihn hoch in die Luft. Dieser drehte sich unkontrolliert, beschrieb einen Bogen und schlug dann hart auf der Wasseroberfläche auf. Der Aufschlag betäubte ihn fast, und er trieb direkt unter der Oberfläche dahin, das Atemloch über Wasser, und inhalierte in tiefen Zügen. Als er wieder zu sich kam, drehte er sich herum und blickte auf den toten Wal. Plötzlich löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit unter ihm und raste auf die Stelle über dem Auge zu. Sie war nun weich und breiig, und die Schnauze des Delphins drang tief ein. Er zog sich zurück und wendete für einen weiteren Anlauf. »Akka, er ist tot.« Akka wendete und nahm erneut Anlauf, achtete nicht auf den Ruf. »Akka, bleib von ihm weg!« Das Wasser um ihn herum schien auf Grund der überflutenden Gedanken, die er ihm nachschickte, zu
erzittern; es waren wilde, durch nichts begründete Gefühle. »Wer bist du, daß du mir sagst, was ich zu tun habe? Seekta darf mir befehlen, aber versuche nicht du es.« »Er ist dein Vetter, Akka, er ist einer von uns!« »Er ist ein närrischer, alter Wal. Zu nichts nütze.« Akka stürzte sich von neuem auf ihn. Kirik sah sich nach den anderen um. Sie blickten alle so wütend, aber es gab nichts, was er hätte tun können. Es stand ihm nicht zu, sie zur Ordnung zu rufen. Kirik erkannte, daß auch dies zu den Qualitäten eines Anführers gehörte. Solche Entscheidungen zu treffen. Er schaute Akka zu, der sich auf einen erneuten Anlauf vorbereitete. Plötzlich erfaßte ihn Wut, als er dieses Wesen beobachtete, wie es gerade tief in den toten Klotz von Wal hineinstieß. Kirik schlug hart das Wasser, schleuderte Gischt über die Oberfläche nach hinten und tauchte unter. Er beschrieb einen Bogen, und Akka sah ihn nicht einmal kommen. Kiriks Schnauze traf ihn an der Oberseite des Schädels, und seine Hirnschale wurde eingedrückt, Knochen schoben sich durch das Dach in seinen Rachen, Blut ergoß sich aus seinen geöffneten Kiefern. Er zuckte nicht einmal mehr. Das Drehmoment trug ihn noch ein paar Yards weiter, dann rollte er sich langsam auf den Rücken und trieb an die Oberfläche, den Kopf nach unten.
Kirik beobachtete den Leichnam. Er fühlte sich krank. Er konnte sich kaum erinnern, ihn erwischt zu haben. Diese Wut. Er wendete sich ab und blickte die anderen an. Sie befanden sich dort dicht unter der Oberfläche, die Sonne beschien durch die Wellen ihre Körper. Keiner von ihnen klagte ihn an. Doch betrauerten sie, daß einer von ihnen so hatte handeln können, wie Akka es stets getan hatte, und daß Kirik gezwungen gewesen war, einen seiner eigenen Art zu töten. Kirik blickte jeden von ihnen einzeln an und begann Worte zu bilden, hielt dann inne. Er schoß zur Oberfläche hinauf und machte sich auf den Rückweg zur Küste, die anderen folgten ihm in V-Formation. Es gab diesmal keine Sprünge, nur das stetige Schlagen der Schwänze. Als sie auftauchten, um Luft zu holen, zerteilten ihre Rückenflossen die Wellen und verschwanden wieder unter Wasser. Hinter ihnen dümpelte der Wal an der Oberfläche, neben ihm ein kleinerer Körper. Die gesamte Herde versammelte sich, um in einer Bucht auszuruhen, die sich in eine kleine Insel einschnitt, welche einst als Sark bekannt gewesen war. Sie waren alle müde, schliefen eine Weile und erwachten dann, um lethargisch in dem klaren Wasser herumzuschwimmen, den zerklüfteten Sandboden zu
bestreichen, faul zu fressen und noch etwas zu schlafen. Kirik und Seekta trieben gemeinsam dahin, nahe den unkrautbewachsenen Felsen. »Ich habe ihn getötet, Seekta.« Der alte Bulle nickte mit dem Kopf und rieb sich an einem hervorstehenden Felsen die Schnauze, um sich etwas zu erleichtern. »Nach dem, was ich gehört habe, war es nötig.« »Aber wir dürfen einander nicht töten. Ich sagte ihm, er benehme sich wie ein Mensch, sie gehören zu denen, die ihre eigene Art töten, aber ich hätte nicht ...« Seekta schob seine Schnauze ins Freie und stieß mit einem Seufzer ein paar Blasen aus. »Schließlich steht es uns nicht zu, ein totes Tier zu schlagen. Vor allem nicht einen Wal. Du hattest das Recht, ihn zu töten. Es mußte sein. Aber Akka anzutun, was er anderen antat ...« Seekta schüttelte seinen Schädel. Kirik blies fade Luft aus dem Atemloch und sog frische ein. »Wie steht's mit seinen ... Freunden?« »Fühlen sich mies. Schuldig, nehme ich an. Sie sind jetzt in Ordnung, aber als er noch bei ihnen war und sie anführte! Keiner von ihnen ist wirklich schlecht, nicht so, wie er es war. Sie haben sich nun wieder in die Herde eingegliedert.«
»Es ist seltsam«, meinte Seekta. »Einige Mutationen sehen wie Menschen aus und denken wie wir. Andere wieder sehen aus wie wir, denken aber wie Menschen ...« »Ja.« Sie schnellten von den Felsen fort und schwammen langsam die Grenzen der verstreuten Herde ab. »Wie geht es deiner Seite?« fragte Kirik. »Gut ... recht gut.« Kirik schob seinen Kopf über Wasser und hielt ihn dort, beobachtete die Sonne, die über dem Ozean erstrahlte. Seekta stieß neben ihm ins Freie, und sie verharrten Seite an Seite in dieser Stellung, verfolgten schweigend, wie die Sonne sich neigte und ein tiefes Rot auf die Wellenkämme malte. Es hing der Geruch von Salz in der Luft, und sie konnten die Möwen über den Klippen schreien hören. Eine Brise trieb kleine Wogen in die Bucht hinein, warf winzige Brecher gegen den Strand. Plötzlich ein lautes Klatschen, als ein Delphin hochsprang und auftraf. Kirik sah Seekta an, dieser sah zurück, und sie tauchten gemeinsam unter. Wieder ging es nach Osten durch den Kanal. Seekta führte die Herde mit Kirik an seiner Seite. Beide waren still, schoben sich weiter durch das Wasser, tauchten gelegentlich zum Luftholen auf. Nach einer
Weile ließ sich Seekta zurückfallen und schloß sich dem Rest der Herde an. Jemand begann ihm eine Frage zu stellen, und er schwieg darauf. Kirik schwamm lange Zeit weiter, bevor er erkannte, daß er allein an der Spitze der Herde war. Und dann blickte er zurück und sah Seekta, wie er verspielt mit den anderen durch die Wellen brach. Kirik tauchte auf und sprang, aber er fühlte sich nicht mehr so frei und ungestüm wie früher. Es lag jetzt die Schwere der neuen Verantwortung auf seinem Verstand. Er blickte erneut zurück auf seine Herde und sah, wie sich ein schlanker Schatten aus der Hauptgruppe löste und sich ihm näherte. »Hallo, Sheeka.« »Hallo, Kirik.« Sie lächelten einander zu.
5. Vertrautes Leben I Die Zeit verging. Sturm kam auf und legte sich wieder; zurück blieb Schnee, der die Erde mit seiner fremdartigen Weiße bedeckte, wie es in solchen Mengen und zu dieser Jahreszeit noch keiner von ihnen jemals gesehen hatte. Dann ging auch das vorüber, und das Wetter kehrte langsam zu einer Art Normalzustand zurück. Nur gab es jetzt keine Maschinen mehr, die seine Schwankungen überwachten. Manchmal regnete es in den Tag hinein; manchmal regnete es tagelang. An anderen Tagen herrschte nur Sonnenschein, der über Wochen anhielt, die Nächte waren heiß und stickig, weil der kühlende Regen fehlte, der Boden wurde trocken und bekam Risse in den merkwürdigsten Mustern. Seltsamerweise schien die Vegetation diese neuen Verhältnisse zu genießen. Sie entfaltete sich zu neuem Wachstum; das Gras schoß in die Höhe und wurde zu buschigen Wedeln, die Bäume ergrünten noch mehr, alles war üppig und saftig. Wenn es jetzt regnete, war das kein sanftes Klopfen an die Fensterscheibe mehr, sondern ein heulender Sturm, dessen kräftige Tropfen auf das Dach trommelten. Sie fühlten sich alle wohler dabei. Es war
wieder ein wenig Abwechslung in die Welt gekommen. Abram und Wargraves verwandelten eine der alten Scheunen in ein Atelier. Das Innere war sehr geräumig, ein hohes Dach mit alten Stützbalken. Der Boden war festgetretene Erde, die sie von Heu und den Spuren der Tiere säuberten. Im Dach und oben an den Wänden entlang befanden sich drei Glasfenster, so daß das Innere der Scheune von dem Licht erfüllt wurde, das durch die Fenster fiel. Nachts hatte Abram drei Lampen um seinen Arbeitsplatz aufgestellt, so daß es auch nach Sonnenuntergang noch genug Licht zum Arbeiten gab. Sie gingen in die Stadt, und genau wie Wargraves es vorausgesagt hatte, waren dort Keller, in denen Farben und Leinwand gelagert wurden. Sie brauchten eine Woche, bis sie einen Laden fanden, der für ihre Zwecke groß genug war, und als sie ihn entdeckten, schien es, als sei dieser einzelne versteckte Vorrat schon genug, um für einige Generationen auszureichen. Sie fanden noch mehr Farben und noch mehr Leinwand, Rahmen und Ölfarben, Reiniger und Bürsten. Sie nahmen alles, was sie tragen konnten, und brachten es zu der Scheune, dann kehrten sie für die nächste Ladung zurück. Sie hörten erst auf, als die Scheune so voll wurde, daß für Abram kaum noch Platz blieb, um sich darin zu bewegen. Dann verrie-
gelten sie den Keller wieder und häuften Erde über die Tür, um den Vorrat drinnen trocken zu halten. Es war einen Monat her, seit Abram an die Tür geklopft hatte. Wargraves begann wieder in die Stadt zu gehen. Menschen waren selten, aber er fand zwei: einer war ein voll ausgewachsener Mann, das andere ein kleines Mädchen, beide in demselben Keller, der Mann hielt die Kleine an seine vor Trockenheit knisternden Rippen gepreßt. In ihre Leben kehrte wieder ein wenig Routine zurück. Tagsüber ging Abram in die Stadt, oder er werkelte an gelegentlichen Ruhetagen am Haus und im Garten, erntete Gemüse, um es einzulagern, jagte in den Wäldern, pflanzte neues Saatgut oder schnitt die Bäume zurecht, deren Zweige zu nahe an das Haus heranreichten. Abram arbeitete tagsüber im Atelier. Abends kehrte Wargraves zurück und bereitete ihr Abendbrot, und sie aßen zusammen in der Küche. Danach räumten sie auf und setzten sich dann in die Bibliothek und lasen oder unterhielten sich. Manchmal spielte Wargraves auf seiner Flöte, und Abram saß da und lauschte mit geschlossenen Augen und versank bei den beschwingten, zarten Tönen des Instruments in Tagträume.
Abram kehrte wieder zu seiner alten Bekleidungsweise zurück und trug nur einen Lendenschurz, und Wargraves gewöhnte sich daran. Während Wargraves und Hund schliefen, las Abram gewöhnlich noch eine Weile, blätterte meist die Journale durch, verlor sich stundenlang in den ausführlichen Lebensberichten, die dort niedergeschrieben waren, erstaunt über das Ausmaß und die Unergründlichkeit dessen, was sie enthielten: die gesamte Geschichte einer Familie, ihre Ursprünge, ihre Seitenlinien, über vierhundert Jahre einer Entwicklung. Und jede Seite war so frisch wie die erste, denn für den Schreiber war jede Seite neu gewesen. Ihm war der Ernst all der Tage, die noch folgen sollten, nicht bewußt. Abram hatte bei Wargraves gelegentlich ein Bewußtsein der Vergangenheit bemerkt. Die Art, wie er sich manchmal selbst vergaß und zu all den Wargraves der Vergangenheit wurde. Als wäre er jener erste gewesen, der Körper ausgegraben hatte, an denen noch das Fleisch hing. Als wäre er über diese Anhöhe gewandert und hätte den Abhang hinabgeblickt und zu sich selbst gesagt: »Ja, dort ist es, wo sie begraben werden.« Als wäre er der Wargraves, der gelebt hatte, bevor die Stadt zerstört worden war, durch ihre Straßen gelaufen war, ihre Lichter gesehen und ihr Lachen gehört hatte.
Es schien, als sei es eine Sache, die sie alle betroffen hatte. Die einen mehr als die anderen, und Wargraves XXIV war sicher nicht am stärksten. Da war Wargraves XVI – er war verrückt, ein voll ausgewachsener Geisteskranker. Ein Auszug aus seinen Tagebuchaufzeichnungen: Tag 278, Jahr 189 A.W. Heute in die Stadt gegangen, und es war genauso, wie es vor der Bombe gewesen war. Die Straßen waren wieder in ihrem früheren Zustand. Autos und Busse fuhren und Leute liefen umher. Ich stand an der Ecke von Trafalgar Square und sah zu. Tauben waren in großen Mengen da, und ältere Damen und Herren futterten sie mit Brotkrumen aus braunen Papiertüten, die so alt waren wie sie selbst. Die amerikanischen Touristen mit ihren schwachen Brüsten voller Kameras, Notizbücher und Verpflegungsbeutel gingen vorüber. Ich ging weiter, lief einfach durch die Stadt, wurde fast überfahren. Zeitungsverkäufer und Marktschreier, Obstdüfte und zertretene Tomaten auf dem Boden. Covent Garden am frühen Morgen, mit seinen Trägern, die auf ihren Köpfen die Körbe trugen wie afrikanische Frauen. Ich ging zur U-Bahn-Station von Euston und stieg hinab. Unten standen Leute um mich herum, warteten geduldig auf einen Zug. Nach zehn Minuten ging ich wieder hinauf.
Ich kam herauf und alles war verschwunden. Euston ist immer noch da, und die U-Bahn, obwohl die Geleise jetzt unter Wasser stehen, und als ich aus dem unterirdischen Bau kam, war der Platz verschwunden. Die Gebäude mit ihren Glasfronten zerfielen, nur eine einzelne Mauer ragte noch in einem verrückten Winkel in die Luft. Über das meiste sind Gras und Bäume gewachsen. Und die Umrisse einer Statue war von Moos überwuchert, aber ich konnte sie noch ausmachen. Ich fing an zu schreien und schrie noch lange, saß auf etwas, das einmal eine Treppe gewesen sein mochte, jetzt aber nur noch eine Bank aus Gras war. Ich war wieder ganz allein. Oben beim Haus ist meine Frau und der kleine John, auch Judy, aber es ist nicht mehr dasselbe. Eine Zeitlang waren alle Menschen hierher zurückgekommen. Ich war ein Teil von ihnen gewesen, hatte sie überall um mich gefühlt, fast schon wie Platzangst, aber auch ein angenehmes Gefühl, in vieler Hinsicht ein sicheres Gefühl, weil ich mich in der Menge hatte verlieren und einfach eine andere Person hätte sein können; es nahm mir diese schwere Last meines Ichs, die ich jetzt immer spüre. Auf diese Art isoliert zu sein, kann nicht gut für mich sein. Ich fragte mich, ob es wirklich geschehen war oder ob ich wahnsinnig wurde. Aber da waren so viele Dinge, die ich nicht gewußt haben konnte. Die Nummern der Busse und ihre Bestimmungsorte. Die Zeitungen. Ich
nahm eine, und das Datum darauf war der 16. März 2013. Ich glaube, das war der Tag, bevor es geschah. Alles – und alles so in Einzelheiten geschildert, daß ich nichts davon gewußt haben konnte. Aber andererseits, vielleicht habe ich die Details auch erfunden. Es gibt keine Möglichkeit, das zu überprüfen. Woher soll ich wissen, daß ein Zug in Euston auf der Zentral- beziehungsweise Ringstrecke fährt und mich zur Liverpool Street bringen wird? Wo ist überhaupt die Liverpool Street! Ich erzählte meiner Frau von alldem nichts. Sie hätte nur gedacht, ich sei verrückt. Aber ich weiß, daß ich es nicht bin. Ich weiß, daß alles wirklich war. Irgendwie kam alles wieder, nur für diesen einen Tag. Irgendeine Zeitverschiebung vielleicht, vielleicht irgend etwas, das durch die Kraft der Bombe verursacht wurde; aber ich weiß, daß sie heute alle da waren, nur für diesen einen Tag, zweihundert Jahre, nachdem sie gestorben waren, waren sie wieder lebendig, und ich mitten unter ihnen. Genau so, wie es der erste Wargraves gewesen sein mußte. Zeit. Es ist seltsam, darüber nachzudenken ... In den Journalen waren noch viele andere Eintragungen enthalten, aber diese erschreckte Abram mehr als irgendeine sonst. Er war sich nicht sicher, warum. Die Überlegungen eines geistesgestörten Mannes, der
schon mehr als zwei Jahrhunderte lang tot war; aber es erschreckte ihn, verursachte sehr unbehagliche Gefühle. Er fragte sich, wie Wargraves XVI wohl ausgesehen hatte. Vielleicht, dachte er, erschreckt es mich, weil es wahr sein könnte. Keiner der Wargraves hatte sich selbst je beschrieben. Abram vermutete, daß sie es nicht für notwendig gehalten hatten. Als sie ihre Tagebucheintragungen schrieben, waren sie mit Leuten zusammen gewesen, die gewußt hatten, wie sie aussahen, und späteren Wargraves war es wohl genauso ergangen. Früheren Wargraves hätte es sowieso nichts genutzt. Es hatte vorher schon einmal einen Wargraves gegeben, der allein lebte. Das war XII gewesen. Mit der Familie war es bergab gegangen, Inzucht und Mutationsraten hatten mit der Stagnation ihrer Gene zugenommen, bis zum Schluß nur noch einer übriggeblieben war. Er hatte allein weitergearbeitet, nicht einmal einen Hund zur Gesellschaft gehabt, bis: Tag 67, Jahr 2098 Ich kahm heute nacht nach Hause und da wahr hier eine Frau. Ich schraibe das einen Tak später. Sie sagte, sie käme aus einer Statt, weit von hir im Norden. Es gebe dort Läute, die sie verbannt hetten (ich bat sie das zu buchstabiren). Ich weis nich, was das bedeutet.
Sie hatte langes rothes Har und ein nettes Gesicht und strahlend grüne Augen. Sie hatte so komische Klaider an, und die zeikten ihre ganze Vorderseite und alles. Ich konte nicht aufhören zu beobachten, wie sie da ziterte, wenn sie sich bewegte. Ich wahr so überrascht, daß ich nicht wuste, was ich tun sollte. Nachtsüber ließ ich ihr ein Zimer, und dann ging ich zu Bett. Sie wekte mich im Finstern. Sie war nakt. Ich streckte meine Hende aus und berührte ihre – äh – Haut. Ich sagte: »Was willst du?« Sie sagte: »Was denckst du? Rutsch rüber.« Ich nehme an, ich häte irgendwas andres sagen sollen, aber ich tat's nich. Ich rutschte rüber. Gütiger Gott, ich hab niemahls sowas Herrliches erlebt wie das, was sie mit mir machte. Sie sagte, sie libe mich – ich weiß nich warum – und ich fragte sie, ob sie blaiben und meine Frau werden wolle. Sie sagte ja. Ich wußte nicht, das man so glüklich sein kann. Offensichtlich hatte die Frau aus der Stadt ihren Kindern das Lesen und Schreiben beigebracht, denn die Journale von Wargraves XIII gehörten zu den literarischsten. Oder vielleicht tat Wargraves XII das nur, um sich abzuheben. Vielleicht wollte er beachtet werden.
Als Ganzes gesehen, waren die Journale ausführlich und tiefgründig, soviel Leben steckte in ihnen. Sie waren so voller winziger, widersinniger Details, die den Hintergrund ergänzten, daß sie Abram das Gefühl gaben, er hätte jeden einzelnen dieser Wargraves gekannt, als könnten sie nicht tot sein, sondern lebten nur irgendwo anders. Als er darüber nachdachte, erschien es ihm als eine verdammte Schande, daß sie tot waren. Sie alle – selbst die Verrückten – waren so menschlich gewesen.
II Meta begann sich zu fragen, was sie nur jemals an Alex gefunden hatte. Er wurde zu einer immer schwereren Last, die sie tragen mußte. Am Anfang hatten sie zu einer größeren Gruppe gehört, die die Stadt verließ, und sie waren alle zusammen nach Westen gezogen. Später hatte sich der Verein in den Bergen aufgeteilt: eine Gruppe war weiter nach Westen über das Gebirge gezogen, die anderen hatten sich nach Norden bewegt. Alex und Meta waren unentschlossen gewesen. Der Norden hatte für sie nur kältere Witterung bedeutet, und das Gebirge schien ihnen auch keine bessere Aussicht zu bieten. Schließlich hatten sie die
größere Gruppe verlassen und waren auf eigene Faust nach Süden gezogen. Sobald sie nicht mehr mit den anderen zusammen gewesen waren, hatte Alex sich unaufhörlich über die Kälte zu beschweren begonnen. Bei der Gruppe hatte es noch so ausgesehen, als hinge Alex irgendwie der Vorstellung an, daß es einen Ort gäbe, an den man zurückkehren könnte; sie waren alle Leute aus der Stadt gewesen und hatten eine schützende Aura um sich errichtet gehabt, durch die das Leid nur gedämpft zu ihnen drang. Es war immer noch ein Spiel gewesen, sie hatten noch nicht erkannt gehabt, daß es sich zu einem Dauerzustand auswachsen würde. Meta dachte, wenn es Ihnen erst zu Bewußtsein käme, mochten die meisten wohl einfach sterben. Als es dann nur noch sie beide waren, die sich südwärts durch den Schnee kämpften, pflegte Alex Meta die Schuld an seinem Unbehagen zu geben. Sie mußte die Nahrung für sie beide finden, als ihre Vorräte zur Neige gingen; und sie mußte einen Zweig von einem Baum brechen und ihr Messer an dessen Enden binden, hinausgehen und einen Hasen aufspießen, ihn häuten und zubereiten, und Alex war es noch, der das größere Stück verschlang. Er war sehr dankbar für das Essen gewesen, aber seine Dankbarkeit hielt nur so lange an, wie sein Magen gefüllt war. Als er ein einziges Mal mit ihr auf Jagd ging, war ihm
übel geworden, als sie den Hasen erlegte, und ihm war abermals übel geworden, als sie ihn häutete. Aber sie konnte ihn einfach nicht verlassen. Er war so hilflos, daß er allein keine Woche überdauert hätte. So schleppte sie ihn wie zusätzliches Gepäck mit sich herum. Der Schnee taute, und es hatte wieder zu regnen begonnen. Dann kam die Sonne durch. Als es warm genug war, zogen sie nackt weiter. Ihre Kleidung war für den Gebrauch in der Stadt hergestellt und hatte sich als nicht sehr brauchbar fürs Land erwiesen. Sie hatten sie also in ihre Taschen gesteckt, damit sie etwas anzuziehen hätten, falls sie es in Zukunft brauchen sollten! Einen Monat nachdem sie die Stadt verlassen hatten, waren sie zu einem breiten Fluß gekommen und seinem gewundenen Lauf gefolgt. Sie sahen ein Häuschen, das am Fuß eines Abhangs zwischen Bäumen versteckt stand. Im Garten befand sich ein Mann, der Blumenzwiebeln pflanzte. Er war groß, trug nur ein Paar ausgewaschene Jeans, die an den Knöcheln schon ausgefranst waren, sein Rücken und seine Brust waren von der Sonne gebräunt und mit lockigem, dunkelbraunen Haar bedeckt. Meta lief durch die Bäume auf ihn zu, und Alex kam hinter ihr her, blieb aber etwas zurück und sah dabei aus, als wolle er jede Minute kehrtmachen und
weglaufen. Bevor sie den Schutz der Bäume verließ, blieb Meta stehen und zog sich an. Die empfindlichen Stadtkleider waren zerknittert und schmutzig, aber sie gaben ihr ein sicheres Auftreten, das sie nicht hatte, solange sie nackt war. Das war zwar praktisch, wenn sie beide allein übers Land zogen, aber etwas ganz anderes, sobald sie Fremde trafen. Sie ließ die Tasche bei Alex und lief weiter hinunter. Wargraves blickte auf und sah das Mädchen. Er hielt abrupt inne, war aber immer noch über den Spaten in seiner Hand gebeugt. Sie lief auf ihn zu, duckte sich zwischen den Zweigen eines Baumes hindurch und richtete sich wieder auf, ihr Haar von sanftem Wind aus ihrem Gesicht gestrichen, bekleidet mit einem hauchdünnen, kurzen Kleidchen, das ihren Körper kaum verhüllte und an ihren Oberschenkeln kleben blieb. Sie hatte lange, nackte Beine. Sie sieht furchtbar schmal aus, dachte er. Mit durchaus weiblichen Rundungen an den richtigen Stellen, aber wo ihr Kleid eng am Oberkörper anlag, konnte er ihre Rippen sehen. Auch ihr Gesicht war schmal, die Wangen ein wenig eingefallen. Und doch war sie hübsch. Selbst so dreckig und zerkratzt war sie das schönste Wesen, das Wargraves je gesehen hatte. Er wußte nicht, daß Frauen so sein konnten. In seiner Familie hatte es nur kleine und
stämmige, plattbrüstige Frauen mit dicken Waden gegeben. Gute Mütter, aber reizlos. Aber dieses Mädchen! Mein Gott, dachte er. Mein – Gott – Direkt vor ihm blieb sie stehen und richtete sich auf. Sie mußte zu ihm aufsehen. »Äh, ... hallo, schönes Fräulein!« »Hallo«, nickte sie und lächelte. Und dieses Lächeln. »Ich heiße Meta. Wohnst du hier?« Wargraves schaute sich um, als sei er sich nicht mehr ganz sicher. Dann nickte er. »Ja ... ich wohne hier.« »Allein?« »Nein ... mit Abram und Hund. Abram ist ein Mensch und Hund ist ein ... na ja, ein Hund eben«, unterbrach er sich plötzlich vor Verlegenheit beim Anblick solcher Vollkommenheit. Wargraves blickte an ihr vorbei nach einer Bewegung zwischen den Bäumen und sah, daß ein Mann mit einer kleinen Tasche über der Schulter den Abhang heruntergestolpert kam. Er fühlte, wie sich sein Innerstes wandelte und zu Eis gefror. Das Mädchen wandte sich um und folgte seinem Blick. »Ach, das ist nur Alex«, sagte sie gleichgültig. »Ja.« Wargraves hörte ihr nicht zu. »Er ist nur ein Freund, mehr nicht.« »Mm«, nickte Wargraves, der sich mit solchen ›Nur-Freunden‹ auskannte.
»Wir fragten uns ..., ob ihr vielleicht etwas zu essen für uns übrighabt, wir könnten's brauchen ..., es ist schon eine Weile her, seit ich ...« »Oh, aber natürlich, wir haben genug. Kommt doch ins Haus, ich bereite euch eine Mahlzeit zu. Abram!« Er drehte sich um und rief zur Scheune hinüber. »Ja«, ertönte Abrams Stimme. »Wir haben Besuch bekommen. Komm und begrüße sie.« »In Ordnung.« Er kam aus der Scheune. »Abram! Hier ist eine Dame anwesend. Geh und zieh dir ordentliche Kleider an!« Abram blieb stehen und blickte an sich hinab, zuckte leicht mit den Achseln und ging in die Scheune zurück. Eine Minute später kam er wieder und trug ein paar abgeschnittene Jeans. »Gut so?« fragte er. »Es geht.« »Willst du vielleicht, daß ich mit Krawatte komme?« Wargraves sah ihn an, dann lächelte er und schüttelte seinen Kopf. »Meta, das ist Abram, Abram, das ist Meta, und ..., es tut mir leid, ich glaube, ich vergaß deinen ...« »Alex«, flüsterte Alex. Er sah recht verängstigt aus; die beiden waren zu unerwartet erschienen und zu selbstsicher aufgetreten, als daß er sie hätte akzeptieren können.
»Alex«, sagte Wargraves. Und dann zu dem Mädchen: »Wir rufen ihn meistens nur Abe.« »Hat er selbst sich vorgestellt?« fragte Abram. Das Mädchen schüttelte den Kopf und lächelte: »Hat er nicht.« »Nun, das ist Wargraves. Und wir rufen ihn meistens nur Gray.« »Sehr erfreut.« Meta reichte ihm die Hand, und Abram schüttelte sie. Sie reichte sie auch Wargraves, und er nahm sie in seine Hände, weil er fürchtete, er könne die zarten Knochen, die er unter ihrer Haut fühlte, zerquetschen. Er ließ ihre Hand hastig wieder los und sah aus, als versuche er sich an etwas zu erinnern. Plötzlich schnippte der mit den Fingern. »Genau. Essen. Ich mache euch jetzt etwas. Kommt rein.« Er ging zum Haus hinüber, und sie folgten ihm. Abram kam hinter ihnen her und hob die Tasche auf, die Alex auf dem Boden liegengelassen hatte. Alex drehte sich flüchtig zu ihm um; sein Gesicht wirkte ausdruckslos, fast ein wenig bleich in seiner Leere. Sie aßen alles, was ihnen vorgesetzt wurde. Wargraves konnte fast sehen, wie sich zwischen ihren Rippen Fleisch ansetzte. Und doch war sie noch schön schlank, als sie fertig war. Sie sahen beide sehr müde aus. »Wollt ihr ..., ich meine, äh ..., wollt ihr ...« Wargraves gab den Versuch auf und sah bittend zu Abram hinüber.
»Ich denke, was er wissen möchte, ist, ob ihr ein oder zwei Zimmer wollt.« »Zwei«, sagte Meta. Alex sah sie an, aber sein Gesicht und seine Augen hatten immer noch diese schreckliche Ausdruckslosigkeit. Abram war sich nicht sicher, ob er diesen Mann mochte. »In Ordnung. Gut!« Wargraves Worte klangen schon fast zu erfreut. Er führte sie hinauf und zeigte jedem sein Zimmer. Jetzt waren alle vier Schlafzimmer des Hauses bewohnt, was für Wargraves ein angenehmes Gefühl war – es kam wieder Leben in ihr Zuhause. Meta dankte ihm für das Zimmer und fragte, ob sie sich waschen könnte. Wargraves zeigte ihr, wo das Badezimmer und die Dusche waren, und sie bedankte sich, leicht verwundert, daß es hier draußen solche zivilisierten Dinge wie eine Dusche gab. Alex ging einfach in sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich zu. Später saßen die beiden unten in der Bibliothek, fast so, wie es vorher gewesen war. Wargraves zündete seine Pfeife an und paffte schwarze Rauchwölkchen. Abram trug immer noch seine Shorts und sah in seinem Sessel aus, als fühle er sich nicht so ganz wohl. »Gray, meinst du, ich könnte sie jetzt wieder ausziehen?« »Sie könnte runterkommen.«
»Die beiden schlafen bis Mittag durch. Die sind aber so eng, daß sie einen sterilisieren können.« »Na ja ...« Abram grinste. »Danke.« Er stand auf und zog die Shorts aus, setzte sich wieder und kreuzte seine Beine unter seinem Körper. »Das ist schon viel besser. Was hältst du denn von ihr?« »Sie ist sehr schön.« »Ja.« »Ich meine: sehr schön.« »Ja – finde ich auch.« Wargraves zog an seiner Pfeife und sah zu Abram hinüber. »Du siehst nicht schlecht aus, Abe ...« »Vielleicht. Ich denke, du auch nicht.« Wargraves zuckte mit den Schultern. »Ich bin zu groß und plump. Du bist schlank und gewandt, und sie selbst ist genauso.« »Ich bin anders, Gray. Sie ist ein Stadtmädchen, sie würde sich für so jemand wie mich nicht interessieren ...« Abram lächelte ihn an und wußte, was im Kopf des anderen vorging. Sie saßen eine Weile schweigend da. »Sie mal, Abe ..., es könnte Schwierigkeiten geben.« »Was ist mit Alex?« Wargraves spielte mit dem Pfeifenstiel und nickte. »Ja.« »Hast du gesehen, wie sie ihn ansieht, Gray?«
»Wie?« »Als wäre er überhaupt nicht da. Da stimmt etwas ganz und gar nicht zwischen ihnen, jetzt erst oder schon von früher her.« »Sie kamen zusammen hierher.« »Heißt noch gar nichts.« »Hm ..., sieh mal, Abe, ich weiß nicht einmal, warum wir so darüber reden. Wahrscheinlich sagen sie morgen früh danke schön und verschwinden. Ich verstehe nicht, warum wir über sie sprechen müssen. Es scheint mir nicht ... richtig. Sie ist jedenfalls viel zu gut für uns beide.« »Sie ist schön.« »Mm-m ...« »Mach dich selbst nicht schlecht, Gray. Ich bin dir sehr dankbar, daß du mich so akzeptiert hast, wie du es tatest, und für alles, was du seitdem getan hast. Weißt du, daß du der erste Mensch bist, den ich jemals einen Freund nennen konnte? All die anderen Leute, sie kannten mich gerade so, fanden sich mit mir ab, ignorierten mich, was immer sie auch dachten, sie konnten damit fertig werden. Aber du ..., na ja, du bist ein Freund.« Wargraves sah verlegen aus. »Ich habe dich nur so behandelt, wie ich jeden anderen auch behandelt hätte.« »Das ist es, was ich meine. Jeder, den ich gekannt ha-
be, hat mich wie einen Aussätzigen behandelt. Aber du nicht.« »Darüber solltest du dir keine Sorgen machen, Abe. Ich sehe keinen Grund, weshalb du nicht mein Freund sein solltest. Was andere Leute über dich denken, hat mit mir nichts zu tun.« Abram lächelte. »Was ich versuche dir zu sagen, ist, daß ich nicht zwischen dir und ihr stehen werde.« »Was, wenn ... vielleicht mag sie nicht einmal mich ...« »Sie wird dich mögen. Wer kann da schon widerstehen?« Wargraves lächelte schüchtern. »Sie will vielleicht trotzdem nicht.« »Gut, wir werden sehen. Wenn sie nicht will. Aber ich glaube, sie will. Sie ist ein Mädchen aus der Stadt, das kann man sehen, und sie wird mich nicht wollen. Ich bin nur eine Kuriosität, auf diese Weise habe ich alle meine Mädchen bekommen. Aber an so etwas wird sie nicht interessiert sein. So wie sie aussieht, will sie wohl etwas Beständiges.« »Hm ...« »Zuverlässiges.« »Na ja ..., laß mal sehen, sollten wir ...« »Na, wir werden schon sehen.« Wargraves nickte. »Ich gehe jetzt hinauf ins Bett. Bleibst du noch hier unten?«
»Ja. Ich bleibe wohl noch eine Stunde hier und arbeite dann etwas. Bis morgen früh. Ich mache das Frühstück.« »Gut.« Wargraves nickte und klopfte seine Pfeife auf dem Feuerrost aus, legte den warmen Pfeifenkopf auf den Kaminsims und ging in sein Zimmer hinauf. Es war in einer dunklen verwüsteten Landschaft gemalt, die man nur verschwommen im Hintergrund der Leinwand erkennen konnte. Am Horizont sah man die Andeutungen riesiger, zerfallender Gebäude, aber sie waren nur als kaum wahrnehmbare Silhouetten vor dem Sternenhimmel angedeutet. Allem überlagert war ein Mädchen. Es war nackt, hatte den Blick gesenkt, die Arme vor der Brust verschränkt, nicht in einer Geste der Sittsamkeit, sondern in stillem Flehen an etwas Höheres. Sein Haar war lang und silbern, fiel über die Wangen bis auf die Hände herab. Mehr hoch als der Körper erweckte das Gesicht Interesse, von einem Dunstschleier umhüllt. Es war Meta. Das Gesicht hing einfach über dem abgesonderten Körper, als gehörten sie zu zwei verschiedenen Wesen. Ihre Augen waren geweitet, und die winzigen, dunklen Farbsplitter in ihrer Hornhaut sahen aus wie Sterne. Ihr starrer Blick war ernst, ihr Mund streng, die Gesichtszüge entspannt. Aber irgendwo in diesem Gemälde war Gelächter; obwohl es nirgends mit
Sicherheit zu erkennen war. Sie lachte über ihre eigene feierliche Haltung. Abram trug gerade die oberste Firnisschicht auf, und Alex stand hinter ihm und blickte über seine Schulter auf die Leinwand. »Nicht schlecht«, kommentierte er. »Danke.« Abram war sich nicht sicher, ob er von ihm irgendeine Kritik brauchte. »Wann stand sie dafür Modell?« »Was? Das hat sie nie. Wie sollte sie, sie liegt doch immer noch im Bett, oder?« »Ja. Aber ich dachte ... ach, egal.« Alex betrachtete es wieder. Sie muß ihm Modell gestanden haben. Sonst wäre es zu gut. Er hatte sie genau getroffen, wie sie blickte, wenn sie in einer ihrer seltsamen Stimmungen war; hatte aber etwas hinzugefügt, das etwas verdeutlichte, was sie selbst an sich nicht erkennen konnte. Nicht nur der rein körperliche Aspekt: längeres Haar, kleinere Brüste (irgendwie ließ sie das besser aussehen. Alex dachte an seine eigenen Werke, wo er sie gedrungen und wohlgerundet gemalt hatte. Er war nie in der Lage gewesen, diese lockere Sinnlichkeit zu erfassen, die in diesem Gemälde lag.) Es war Meta. Aber Meta, wie sie sein könnte, nicht wie sie war. Meta als perfekte Utopie ihrer eigenen Vorstellungen: immer glücklich und zufrieden. Nicht die Meta, die er stets gekannt hatte.
»Wie hast du es dann geschafft.« »Aus dem Gedächtnis. Ich habe sie gestern abend während des Essens beobachtet.« »Und ihr Körper ...?« »Einfach so angenommen. Es gibt nicht allzu viele Erscheinungsformen eines menschlichen Körpers. Selbst durch Kleidung hindurch kann man eine Menge mitteilen. Und sie hatte nicht gerade viel an, oder?« Alex sah zu, wie Abram seine Glasur polierte. Dann wandte er sich ab und betrachtete die anderen Leinwände. Eine stand noch auf einer Staffelei, erst halb fertig, nichts als ein leeres Sternenmeer. »Was ist das?« Abram sah zu dem Bild hinüber. »Weiß ich noch nicht. Ich dachte, es gäbe für irgend etwas schon einen hübschen Hintergrund. Ich warte, bis mir eine Idee kommt, zu der ich es brauchen kann.« »Dein Stil ist ähnlich wie der von Ernst, nicht wahr?« »Wer?« »Max Ernst. Er war einer der frühen Surrealisten. Er erreichte den Vielschichteneffekt, indem er viele Farbschichten benutzte.« »Oh.« Abram wußte nicht, wie er darauf reagieren sollte. Er hatte gedacht, er hätte seinen eigenen Stil. Er hatte Jahre damit zugebracht, diese Fertigkeit zu erlernen und sich seine eigene Art des Malens zu er-
werben. Es tat ein bißchen weh, wenn jetzt einfach jemand kam und sagte, daß alles schon einmal dagewesen war. »Natürlich hatte er andere Themen«, erläuterte Alex. »Es war ein deutlicherer Surrealismus als das hier. Deine Art scheint mehr geistiger Surrealismus zu sein als körperlicher. Als hätten die Menschen, die du malst, eine eigene Welt in ihren Köpfen, die verschieden von denen anderer ist.« »Hat das nicht jeder?« fragte Abram. Alex zuckte mit den Schultern und ging weiter an den Wänden entlang. Abram schüttelte den Kopf und versuchte, von dem überlegenen Grinsen in Alex' Gesicht keine Notiz zu nehmen. »Du scheinst eine Menge von Malerei zu verstehen«, sagte er. »Ich bin selbst Maler. Zumindest war ich es in der Stadt.« »Wirklich?« Irgendwie überraschte das Abram. Alex wandte sich um, um ihn anzusehen; der ungläubige Unterton in Alex' Stimme störte ihn. »Sicher«, sagte er. »Ich arbeite gewöhnlich mit der Projektionstechnik, nicht mit der Leinwand. Du verwendest kein Projektionsgerät, oder?« »Was ist denn ein Projektionsgerät?« »Es überträgt das Bild dessen, was du malst, auf ein Stück Glas, und damit arbeitest du dann.«
Natürlich, dachte Abram und sagte: »Du meinst, so ähnlich wie Durchpausen.« »Nein. Nicht wie Durchpausen.« Alex wandte sich ab und ging an einer Wand voller Leinwände vorbei. Er zog das Genick ein, entspannte es beim Gehen langsam wieder. »Nicht wie Durchpausen«, sagte er noch einmal und wandte sich wieder Abram zu. »Es ist eine äußerst spezialisierte Kunstform. Sie erlaubt dir, eine perfekte Kopie herzustellen und sie dann mit der Interpretation des Künstlers zu füllen.« Abram zuckte mit den Schultern. »Ich dachte immer, genau das sei Durchpausen.« Alex wirbelte herum, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Hör mal, wenn ich den guten Rat irgendeines gottverdammten Aussätzigen suche, dann frage ich ihn danach!« Er hielt plötzlich inne, starrte Abram immer noch an, dann wandte er sich abrupt ab. Abram beobachtete ihn, als er weiter in der Scheune umherging. Er war mittlerweile an Beleidigungen gewöhnt, und eine so sanfte wie die eben konnte er abtun, ohne Notiz davon zu nehmen. »Wer war dieser Ernst denn?« Alex antwortete nicht. Er ging hinüber zur Treppe am anderen Ende der Scheune und stieg sie hinauf bis zu einem breiten Balkon, wo Abram sein Arbeitsmaterial lagerte. »War er berühmt?« fragte Abram. Er richtete sich
auf und ging hinter Alex her. Alex beobachtete ihn, wie er die Stufen erklomm. Dann sagte er: »Trägst du niemals richtige Kleider?« Abram sah auf seinen Lendenschurz hinab. »Das ist doch ausgezeichnet, oder? Es kleidet mich gut genug.« »Es ist nur ein Lendenschurz. Nur Wilde tragen Lendenschurze. Mein Gott, so wenig, wie das verdeckt, könntest du genausogut nackt gehen.« Abram zuckte mit den Schultern. »Das tue ich auch manchmal. Was macht's?« »Es ...« Alex seufzte und schüttelte seinen Kopf. »Ja, Ernst war sehr berühmt. Er arbeitete in der flämischen und holländischen Kunstschule.« »Ich verstehe«, meinte Abram. Er verstand nichts. Alex grinste wieder. »Jetzt malt er nicht mehr, oder?« »Nein. Er ist schon vor langer Zeit gestorben.« Abram nickte. »Benutzt du dieses ganze Zeug da?« Alex wies mit einer Handbewegung auf die Schachteln voller Farben, Lacke und Leinwandrollen. »Sicher.« »Bißchen primitiv, was?« »So bin ich eben.« »Ja ... Ich glaube, so bist du. Ich muß versuchen, das nicht zu vergessen.«
»Es befriedigt mich mehr als Durchpausen.« Abram ging die Stufen hinunter und in die Sonne hinaus. Er mochte den Mann nicht. Ihn begleitete immer dieses überlegene Gebaren, als wüßte er irgendein Geheimnis, das kein anderer erfahren durfte. Abram zuckte mit den Schultern. Vielleicht war es so. Über Maler wußte er sicherlich mehr als er, Abram, wenn nicht gar über die Malerei selbst. Aber andererseits, jeder wußte irgend etwas besser als ein anderer, also warum einen besonderen Verdienst daraus machen? Er lief den Abhang hinunter zur Küche und ging hinein. Das Frühstücksgeschirr war abgewaschen und auf die Spüle zum Trocknen gestapelt; ein leichter Luftzug wehte durch das offene Fenster herein und beschleunigte den Vorgang. Hund war auf die Tischplatte gesprungen und lag dort flach ausgestreckt, die Vorderpfoten hingen über eine Tischkante, der Schwanz über der anderen, die Zunge hing heraus und dampfte, als er Körperwärme zu verlieren versuchte. »Wo sind sie denn alle, Hund?« fragte Abram. Er setzte sich auf einen der harten Stühle und kraulte Hunds Ohr. Hund sah auf und wedelte leicht mit dem Schwanz, bevor ihn die Hitze wieder überfiel und sein Schwanz schlaff herabhing. »Wahrscheinlich führt er sie herum. Ich denke, ich werde wohl besser diese Shorts wieder suchen und
anziehen ...« Er sah auf seinen Lendenschurz hinab. »Kann man da wirklich so viel sehen, Hund?« Er lächelte. »Na ja, vielleicht schon. War ja auch nie als sittlicher Schutz gedacht. Eher, um die Dornen fernzuhalten. Also gut ...« Hund zog mitleidig ein Augenlid hoch. »Du hast's gut, du brauchst keine Kleidung zu tragen.« Hund schloß das Auge und hechelte weiter. »Was hältst du von diesem Alex, Hund? Ich glaube nicht, daß ich ihn sehr mögen werde, absolut nicht. Er ... es herrscht eine ziemliche Spannung zwischen uns. Wir reagieren einfach falsch aufeinander. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Ob er bleibt oder nicht ... ich finde, das Mädchen könnte schon bleiben. Sie ist nett ..., jedenfalls sieht es so aus ...« Plötzlich kam es Abram in den Sinn, daß das der Grund für Alex' hochmütige Art sein könnte. Wußte er etwas von dem Mädchen, das kein anderer wissen durfte? Etwas, das er in Verhandlungen als Waffe gebrauchen konnte? Abram versuchte herauszufinden, was da womöglich benutzt werden könnte. Und wenn es wirklich so war, warum tat Alex das, wenn er doch nicht einmal etwas mit Meta hatte? Vermutlich würde es nur solange eine Waffe sein, wie sie da war. Es sei denn, er wollte sie aus keinem anderen Grund als Haß zugrunde richten, nicht um sich oder seine Stellung zu schützen, sondern um sie auf
jede nur denkbare Weise fertigzumachen. Aber warum sollte er das wollen? Was hatte sie ihm angetan, daß es ihn so bösartig machte? Abram schüttelte den Kopf. Diese Argumente entsprangen seiner Phantasie, in der Realität gab es nichts, was sie stützen würde. Wahrscheinlich war das einfach Alex' Art, und er war ein Bastard. Meta konnte einfach nicht die Ursache sein, er sah keinen Grund, sie zu tadeln. »Ich hoffe, sie und Gray verstehen sich gut, Hund. Er verdient ein Mädchen, nicht wahr?« Hund schnaubte sanft, und Abram lächelte. »Ja, du hast recht. Das ist er, ein wirklich feiner Kerl.« Abram stellte Wasser auf und machte sich Tee. Heiß und schwarz, ungesüßt. Er erinnerte sich daran, daß die beiden Neuankömmlinge gestern abend ihren Tee mit Milch und Zucker getrunken hatten. Er konnte keinen Sinn darin sehen. Warum soll man sich die Mühe machen und die Teeblätter wegen ihres Aromas aufkochen, um dann den Geschmack mit etwas anderem zu überdecken. Er saß wieder am Tisch, seine Arme lagen auf der Tischplatte, sein Kinn auf den Armen, und er starrte Hund an. »Vielleicht ziehe ich weiter.« Hund starrte zurück, legte den Kopf auf die Seite, die Ohren stellten sich auf. »Naja, ich meine, ich könnte den Dingen hier im
Wege stehen. Ich bin sicher, daß Gray der Richtige für das Mädchen ist ...« Nur einen Augenblick lang kamen ihm Zweifel. Es gab keine Möglichkeit, daß sie nicht so perfekt war, wie sie schien. »Ich würde ihm keine Last sein wollen, nach allem, was er für mich getan hat. Das einzige Problem ist dieser Alex. Immer er. Dieser Bastard. Sie so unter Druck zu setzen. Er könnte es für alle verderben. Ich mag ihn überhaupt nicht, Hund, nein.« Hund blinzelte ein paarmal. »Ja«, sagte Abram. Er spülte die Tasse unter dem Wasserhahn aus und stellte sie zum Trocknen auf die Ablage. Er wandte sich wieder Hund zu, der seinen Kopf erhoben hatte und ihn beobachtete. »Ich denke, ich mache einen Spaziergang. Kommst du mit?« Hund legte seinen Kopf zurück auf die Pfoten, und Abram lächelte und ging in die Bibliothek, nahm seine Shorts, wo er sie letzte Nacht liegengelassen hatte, und ging mit ihnen in der Hand in die Sonne hinaus. Er würde sie nicht anziehen, bis ihm das Mädchen begegnete. Es war zu heiß, und sie waren zu störend. Was er brauchte, war Ruhe, dachte er bei sich. Er war zu lange angespannt gewesen; er mußte sich treiben lassen und all die verwirrenden Gedanken aus seinem Gehirn verbannen und Abstand gewinnen.
Er ging die lange Allee hinab, wo einst die alte Straße verlaufen war, und hinaus ins Weideland. Vor ihm erstreckte sich die Weide, die bis zur Gezeitenflußmündung reichte. Ein Streifen Schlamm, auf dem man viele Lichteffekte sah, und das Wasser der Flut, das gegen die Ufer plätscherte. Das Boot war aufs Ufer gezogen, also hatte Wargraves sie nicht auf die andere Seite gebracht. Abram blieb stehen und sah den Hügel hinauf, dann schüttelte er den Kopf. Nein, er würde ihr den Friedhof nicht zeigen. Er lief an der Seite des Hügels entlang, in ein kleines Wäldchen hinein, dann blieb er am anderen Ende stehen. Weite Landschaften aus Gras und Blumen, hier und da ragten Überreste von Gebäuden hervor, die man nicht als Gebäude erkannte. Von hier aus konnte er in eine Talsenke sehen, konnte sehen, wie das Gras dort unten in einem regelmäßigen Muster gewachsen war, wie es dort, wo einst die Straßen verlaufen waren, verschiedene Schattierungen aufwies. Es war ein wenig Melancholie dabei, dort hinunterzublicken und zu sehen, wie die Natur alle Versuche des Menschen, irgendein Zeichen seiner Existenz zu hinterlassen zunichte machte. Es hatte ihn soviel Zeit gekostet, seine Städte aufzubauen, und dann, in wenigen Jahrhunderten, waren über Nacht Gras und Bäume darübergewachsen. Abram zerrte den Schurz von seinen Hüften herun-
ter und legte ihn zusammen mit den Shorts ins Gras, trat auf einen flachen Felsen hinaus und setzte sich, indem er seine Beine zum Lotussitz hochzog. Er wußte nicht, warum er sich die Mühe machte, überhaupt etwas anzuziehen. Gray war es egal, und das Mädchen war aus der Stadt: er hatte wüste Geschichten über die Stadt gehört, wo sie keine Kleidung trugen und in Apartments wilde Orgien feierten. Er lächelte, schüttelte den Kopf. Man hört schon Dinge. Er strich mit einem Finger unter dem Lederriemen an seiner Hüfte entlang, um dessen Enge beim Sitzen angenehmer zu machen, dann schloß er die Augen, brachte seine Fingerspitzen an seine Daumen und stützte die unteren Handkanten auf die Knie. Er holte langsam und tief Luft, bis seine Lungen ganz gefüllt waren, dann ließ er die Luft wieder entweichen. Er fühlte, wie die Sonne seine Haut durchdrang, fast so, als könnte er fühlen, wie die UV-Strahlen in trafen. Ein leichter Luftzug wehte über seinen Körper. Ursprünglich. Nach und nach verlor er das Bewußtsein für seine Umwelt, verschloß sich vor dem Rascheln der Blätter und dem Plätschern des Wassers am Ufer, wurde nicht mehr des Felsens unter seinen Beinen und seinen Hinterbacken gewahr, nahm schließlich seinen Körper nicht mehr wahr. Dahintreiben. Es war kein Schlaf, aber er träumte. Die Träume so unkontrollier-
bar wie beim normalen Schlaf; sein Geist versuchte, die Informationen, die er während des Tages aufgenommen hatte, zu ordnen und wieder zu ordnen, den sinnlosen Plunder von versammeltem Schwachsinn zu vergessen. Endlos ... Plötzlich fuhr er hoch und öffnete seine Augen. Meta stand vor ihm, bekleidet mit ein Paar Jeans und einem karierten Hemd, das sie unter der Brust zusammengeknotet hatte. Ihr Körper war dort, wo man ihn sehen konnte, goldbraun, ihr Haar, das ihr ein leichter Wind in die Stirn blies, blond und fein. Ein kurzer Haarschnitt war wohl am Herauswachsen, und es sah irgendwie ungezügelt aus. »Was machst du da?« fragte sie. »Träumen. Gibst du mir diesen Stoffstreifen?« »Welchen?« Abram deutete, und sie hob ihn auf und reichte ihn ihm. »Meinst du, du brauchst das? Ich habe sowieso schon gesehen, was es zu sehen gibt.« »Es ist besser. Ich habe das Gefühl, ich schulde es Gray. Irgendwie jedenfalls.« Er stand auf und zog den Schurz zwischen seinen Beinen hindurch, wickelte ihn vorn und hinten um den Lederriemen und setzte sich dann wieder hin. »Woher hast du deine Kleidung?« »Oh.« Sie setzte sich auf einen anderen Felsen ihm
gegenüber. »Gray führte mich zu diesem großen Bau oben auf dem Berg – entschuldige, ›Zuhause‹ nennt er es, nicht wahr?« »So ist es nun einmal richtig.« »Ich glaube auch. Obwohl es kein sehr gutes Deutsch ist, oder?« »Rein gefühlsmäßig ist es richtig, vielleicht ist das das Entscheidende.« »Ja, vielleicht. Jedenfalls waren dort oben Koffer voll alter Kleider. Er gab mir das zum Anziehen, und er hat noch mehr mit zum ›kleinen Zuhause‹ gebracht.« »Verspotte es nicht.« »Es tut mir leid. Nein, das habe ich nicht, ich denke nicht. Ich glaube, das Kleid, das ich anhatte, reizte ihn. Er war sich nicht so ganz sicher, ob er hinsehen sollte oder nicht.« »Hat er?« Sie zuckte mit den Schultern. »Wie er gerade wollte.« »Er kennt die Menschen nicht sehr gut. Motive sind immer äußerst komplexe Dinge, und Gray ist in keiner Weise komplex. Er würde so etwas nicht verstehen und dich dann nur verletzen.« »Er könnte mich nicht ...« »Sicher könnte er. Wenn er nicht hinsieht, würdest du annehmen, daß er nicht hinsehen will, und das
würde deine Eitelkeit verletzen. Wenn er hinsähe, würde er dich anstarren, und das würde dein Gefühl für die Sittsamkeit verletzen. Er hat nicht die Stufen der Reaktion, die andere Leute haben.« »Ich finde ihn süß.« »Das auch ...« Abram sah das Mädchen an, dann sagte er: »Meta, wirst du sehr vorsichtig mit ihm umgehen? Er versteht eine Menge Dinge nicht. Du weißt, was ich meine?« »Ich glaube schon.« »Nur das. Sei vorsichtig.« Sie strich ihr Haar aus den Augen, hielt es in einem Knoten mit ihrer Faust auf dem Kopf und starrte zu ihm hinüber. Ihr Blick glitt über sein Gesicht. »Soll ich ehrlich sein?« fragte sie. »Nur zu. Das ist eine seltene Tugend, ich würde es zur Abwechslung gern mal wieder erleben.« »Nein. Gray ist so ehrlich wie ein Bergfels. Dir mangelt es auch nicht an Ehrlichkeit.« »Gut. Aber laß mich mal von dir etwas Ehrliches hören.« Sie lächelte und zog plötzlich den Kopf ein, eine ungewöhnlich mädchenhafte Geste bei ihr. »Gut. Das sollst du.« Sie lächelte. »Du weißt, ich bin aus der Stadt, und du weißt wahrscheinlich, wie es dort ist. Wir haben nicht dieselbe Sittenlehre wie ihr hier draußen –«
»Mich darfst du nicht einschließen.« »Schön, dann eben einige von euch. Aber ... ich versuche dir zu sagen, daß ich mit Gray zusammensein will ... aber genauso möchte ich auch dich besser kennenlernen. Verstehst du das?« Abram nickte. »Ich verstehe es. Obwohl ich nicht weiß, ob ich dem zustimmen soll.« »Na komm, warum denn nicht?« »Weil ich Gray achte. Ich könnte nicht etwas mit dir haben und dann zurückkommen und ihm wieder in die Augen sehen, als wäre nichts geschehen. Und wir könnten ihm nichts sagen, weil es ihn zu sehr verletzen würde. Er hat einfach nicht diese Vorstellung von Moral, wie du sie hast.« »Dann halten wir es eben geheim. Nur ein paarmal, nicht mehr.« »Ich könnte es nicht. Nein ... sieh, unter anderen Umständen würde ich es tun, aber du wünschst dir doch etwas Dauerhaftes mit Gray, und deshalb kann ich es nicht tun, ich kann es ihm nicht antun, es hat nichts damit zu tun, ob ich dich unter Druck setzen will oder nicht.« »Ich verstehe ...« »Meta, nimm das nicht persönlich. Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe, und mein Körper sehnt sich nach dir. Es ist mein Kopf, der nein sagt, denn er kann sehen, was geschehen würde.«
»Ja«, seufzte sie und ließ ihre Hand in ihren Schoß fallen. »Ich vermute, du hast recht, und ich denke, daß ich das genauso sehe. Trotzdem ist es schade, nicht wahr?« Sie sah ihm in die Augen. Abram starrte zurück, dann nickte er. »Ja, es ist schade.« Sie nickte und stand auf. »Kommst du mit runter ans Wasser? Ich würde gerne schwimmen.« Sie gingen zusammen hinunter. Meta tastete nach seiner Hand und ergriff sie, und nach einer Weile ließ er es zu. Er wußte, als sie hinuntergingen, daß eine günstige Gelegenheit bestand, sein Wort innerhalb der nächsten Stunde zu brechen, und er wußte genausogut, daß er nichts tun würde, um sich selbst Einhalt zu gebieten. Soviel zu hohen moralischen Entscheidungen, dachte er. Er schwamm in das klare Wasser hinaus, hielt mühelos die Luft an; Schwimmen war für ihn natürlich, leichter als Gehen. Er drehte sich auf den Rücken und tauchte auf, blickte ans Ufer zurück. Meta stand da. Das Hemd und die Jeans hatte sie ausgezogen und stand bis zu den Knien im Wasser; sie trug nur ein Paar kurzer Nylonschlüpfer, die irgendein weiblicher Wargraves in der Vergangenheit, vielleicht schon vor vielen hundert Jahren, getragen hatte. Ihre Brüste waren so, wie Abram sie sich vorgestellt hatte, fest und groß, an ihrer Spitze blasse Brustwarzen. Sie winkte
ihm mit einer Hand zu, und ihre Brüste bewegten sich mit, dann ging sie weiter ins Wasser und tauchte endlich hinein. Abram drehte sich um und verschwand wieder unter der Oberfläche. Er tauchte bis zum Grund und hielt sich an den Unkrautpflanzen fest, die in dem Schlamm wuchsen, um unten zu bleiben. Er blickte hoch, seine Vision glitt wie eine dünne, transparente Membrane über die Augen, um sie vor Wasser zu schützen. Er sah, wie Meta mit Kraulbewegungen auf ihn zuschwamm, das Wasser zerteilte und eine bewegte Spur silberner Luftblasen hinterließ. Abram fühlte den Kloß in seinem Hals, als er sie anschaute, wie sie über ihm vorbeikam und sich nicht bewußt war, daß er sie beobachtete. Es hatte keinen Sinn, das wußte er, Achtung vor Gray oder nicht, er fühlte diesen unglaublichen Körper an seinem. Er ließ die Pflanzenzweige los, folgte ihr und holte sie, obwohl er nur mit den Beinen arbeitete und die Hände herabhingen ließ, mit Leichtigkeit ein, um sie dann unter Wasser zu verfolgen. Er mußte hochkommen, um Luft zu holen, und tauchte neben ihr auf. »Woher kommst du denn?« »Oh, ich treibe mich hier so herum.« Sie lächelte und leckte sich das Wasser von den Lippen. »Meinung schon geändert?« Abram bemerkte, daß sie sich nähergekommen wa-
ren, und er fragte sich, wer von ihnen beiden diese Fortschritte erzielte. Seine paddelnden Beine berührten ihre Waden, und er erschauerte beim Kontakt mit ihrer Haut ein wenig. Er überlegte, warum sie so anders als alle anderen Mädchen zu sein schien. Dann preßten sich ihre Körper in ihrer ganzen Länge aneinander. Abram schlang seine Arme um ihre Taille, ihre Münder fanden sich, und sie versanken im Wasser. Lange Zeit blieben sie so. Als Abram fühlte, daß seine Füße den Schlamm berührten, stieß er sich ab, und sie tauchten langsam wieder auf, und erst dann trennten sich ihre Münder. »Ich glaube, das ließe sich wohl besser auf dem Trockenen erledigen«, sagte er. Sie lachte und tastete zwischen den beiden Körpern nach unten und hielt dann in ihrer erhobenen Hand seinen vor Nässe triefenden Lendenschurz. »Siehst du. Ich hab dir doch gesagt, daß es unnötig ist, oder?« Er lächelte und entzog sich ihr, schwamm langsam aufs Ufer zu, damit sie mithalten konnte. Sie war besser, als er es sich vorgestellt hatte. Er dachte, sie sei eine von der Sorte, die es mit ihrem Körper genug sein ließe und nichts dazu tat, ihn noch besser zu machen. Aber das stimmte nicht. Sie wußte ihn zu gebrauchen und wußte, wie sie einen Mann mit jedem Teil ihres Körpers erregen konnte. Es war schöner, als es je zuvor mit einem anderen Mädchen
oder einer anderen Frau gewesen war, und als es vorbei war, waren sie beide glücklich, und Abram fühlte sich verdammt schuldig. Er wußte es schon, bevor sie es taten, aber er wußte auch, daß er es akzeptiert hatte, bis es soweit war. Und als es geschehen war, wünschte er, er hätte es nie getan. Meta fühlte sich nicht besser. Sie weinte leise, und Abram hielt sie in seinen Armen und wartete, bis sie wieder aufhörte, ihren nackten, immer noch feuchten Körper in nicht sexueller Hinsicht gegen sich gepreßt, als wolle sie jetzt alles leugnen, was vorher geschehen war. »Warum habe ich dich dazu verleitet?« fragte sie. »Keiner von uns beiden hat irgend jemanden zu irgend etwas verleitet, was wir nicht wirklich wollten«, sagte er. »Wir wußten beide, daß es geschehen würde, und bis jetzt waren wir auch beide glücklich darüber.« »Aber Gray!« »Es ist geschehen«, sagte er und strich ihr über das Haar. Sie legte ihre Wange an seine Brust und schloß ihre Augen ganz fest, so als hätte sie, wenn sie erst einmal ihre Tränen besiegt hatte, auch den Schmerz besiegt. »Meta, wir haben es getan. Es gab keine Möglichkeit es zu verhindern, also müssen wir uns jetzt etwas einfallen lassen. Ich werde heute abend mit Gray darüber reden.«
»Nein!« Sie setzte sich ruckartig auf, ihre Brüste schaukelten. »Das darfst du nicht. Das würde ihn vertreiben. Du sagtest, er könnte solche Dinge nicht ertragen, und jetzt willst du derjenige sein, der ihn so verletzt.« »Meta ...« Er streckte seine Hand aus und strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Was würde ihn mehr verletzen, wenn ich es ihm jetzt sage oder wenn er es später selbst herausfindet?« »Er würde es nie erfahren, nur du und ich –« »Er würde es herausfinden. Irgendwann würdest du es ihm sagen, vielleicht einmal, wenn du dich mit ihm streitest, ihn verletzen willst und ihm das einfach so hinwirfst. Das würde ihn wirklich von dir trennen. Es ist besser, es ihm gleich zu sagen. Leichter.« Sie schüttelte den Kopf, schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, dann sah sie Abram wieder an. Er dachte, daß sie wunderschön aussah, als sie so auf einem Bein saß, das andere quer über seine Taille ausgestreckt, ihr zarter, geschmeidiger Körper entspannt und immer noch halb verschlungen von ihrer Liebe. Plötzlich kamen ihm flüchtige Visionen von Leena in den Sinn. Leenas Gesicht unter seinem, leidenschaftlich erregt / Leenas Gesicht, das ihn ansah, sanft und voller Besorgnis / Leenas Körper, der ihm mit gieriger Hingabe entgegenkam / Leenas leise Worte in der Dunkelheit, während sie zur besten
Zeit, wenn alles leicht und gelöst war und sie sich zum zweiten Male geliebt hatten, an ihn lehnte / Leenas Gesicht, verzerrt vor Haß, als sie mit Steinen warf – »Wir müssen es ihm sagen, Meta ... wir müssen ...« Die Visionen zerbarsten und erfüllten sein Gehirn, und er begann zu weinen. Meta hielt ihn fest, verstand den plötzlichen Rollentausch nicht, flüsterte ihm idiotische Worte zu, von denen sie glaubte, daß sie ihm vielleicht helfen würden. Abram schluchzte an ihrer Brust, seine Tränen fielen auf ihre Haut. Endlich schniefte er. »Es tut mir leid. Ich war selbstsüchtig. Ich hatte Selbstmitleid, ich habe kein Recht dazu.« »Du fühlst viel Schmerz, nicht wahr?« Er nickte langsam. »Wahrscheinlich. Jeder von uns fühlt eine Menge Schmerz.« »Ich glaube, du fühlst mehr als die meisten. Manchmal sieht man es dir an, so wie jetzt. Meistens versteckst du es, aber gelegentlich ...« Er nickte wieder. »Es ist besser. Es war die ganze Zeit viel schlimmer, aber es wird weniger, je älter ich werde.« Sie lächelte ihn an. »Dann erzählst du es Gray heute. Ich will nicht, daß daraus noch mehr Schmerz für einen von uns entsteht.« Er lächelte und küßte sie sanft auf die Wange. »Heute abend.«
Sie lächelte auch. »Ja. Und du sollst wissen, ich habe es sehr genossen.« Sie legte sich zurück ins Gras, plötzlich mit glänzenden Augen, ihr Körper entspannte sich. »Und jetzt«, sie langte nach seinem Körper, »werde ich dich wieder genießen, und du wirst mich auch genießen. Mehr noch als beim letzten Mal, denn das zweite Mal ist immer am schönsten.« Abram lächelte und fand, daß er ihr zustimmen mußte, dann hörte er auf nachzudenken, als sie wieder mit ihren Körpern spielten. Es war spät. Abram und Wargraves saßen in der Bibliothek; oben schliefen Alex und Meta in getrennten Zimmern. Draußen regnete es stark, das Wasser brandete gegen die Fenster, der Wind heulte im Kamin und ließ die Flamme flackern. Wargraves saß da und hörte schweigend zu, bis Abram innehielt, dann stopfte er langsam seine Pfeife und zündete sie an. Abram beobachtete ihn, sah die harten Linien um seinen Mund, die angespannten Muskeln, die schnellen, fast hastigen Bewegungen seiner Finger, als er den Tabak in den Pfeifenkopf stopfte. Endlich sah Wargraves auf und sagte: »Abe, ich glaube, ich hasse dich.« Abram nickte. »Das dachte ich mir.« »Trotzdem war es richtig, daß du es mir erzählt hast. Ich hätte dich umgebracht, wenn ich später he-
rausgefunden hätte, daß du es mir verheimlicht hast. Das hätte ich nicht ertragen. Ich vermute, so war es besser ...« »Ich werde morgen früh weiterziehen«, sagte Abram. Wargraves zog an seiner Pfeife und blies einen schwarzen Rauchkringel in die Luft. »Nein, ich glaube nicht, daß das nötig ist. Ich hasse dich jetzt, in dieser Minute, aber in paar Tagen wird es vorüber sein.« »Was ist mit Meta?« »Sie auch. Im Moment könnte ich sie bewußtlos schlagen, aber ich würde es nicht tun, weil ich weiß, daß auch das vorübergehen wird. In ein paar Tagen, wenn ich dich nicht mehr hasse, werde ich beginnen, sie zu lieben.« Abram lächelte traurig. Ein Holzscheit fiel in die Glut, und Funken flogen in die Luft. »Trotzdem, wenn es dir lieber ist, wenn ich gehe ...« »Nein, bleibe. Außerdem würde es Hund verwirren, wenn du nicht mehr da wärest. Wer sollte dann mit ihm spielen? Bleib hier, Abe. Es wird für uns alle das beste sein.« Er nickte. Sie saßen eine Zeitlang schweigend da, beiden wurde bewußt, daß ihre Beziehung sich verändert hatte. Unerheblich, ganz leicht nur, aber sie wurde mehr zu einer Verbindung zweier Männer als zweier Brüder. Es herrschte ein wenig Eifersucht und
ein wenig Spannung, aber auch das würde sich im Laufe der Zeit legen. Wargraves stand auf und legte seine Pfeife auf den Kaminsims. »Auf jeden Fall sehe ich dich morgen früh.« Abram nickte. In den nächsten Tagen bewegten sie sich alle in einem Vakuum. Jeder war in seiner eigenen Welt gefangen. Und dann öffnete sich eines Nachts Wargraves Tür und Meta schlüpfte neben ihm ins Bett. Er rollte sich herum, und seine Hand berührte ihre Brüste und zuckte zurück. »Oh«, sagte er ganz ruhig. Sie lächelte ihn an im Dunkeln und schlang die Arme um ihn. »Du bist aber stark behaart«, flüsterte sie. Er mußte lachen. Meta kicherte, dann sagte sie: »Oh«, genauso wie Wargraves es gesagt hatte. Sie fühlten sich wohl beieinander. Am Morgen hatte sich alles verändert. Im Wesentlichen zumindest.
III Abram malte, während Alex hinter ihm umherschlich, seine Arme um seine Taille schlang und sei-
nen Nacken küßte. Abram stand auf, drehte sich um und schlug ihn. Nachdem er den bewußtlosen Alex gegen die Wand gestützt hatte, fragte Abram sich, warum er sich so verletzt fühlte. Es war nicht das erste Mal, daß sich ihm ein Mann genähert hatte, und er war mit der Situation immer fertig geworden, ohne Gewalt anwenden zu müssen. Aber diesmal war es irgendwie anders. Jene anderen Männer hatte er gekannt, manche hatte er wirklich gern gehabt. Für Alex empfand er nur Verachtung und ein wenig Haß. Manchmal hatte man das Gefühl, als wäre Alex nicht einmal mehr ein Teil ihres Lebens. Meta war endgültig zu Wargraves übergesiedelt, Hund war dort ausgezogen und schlief jetzt in der Küche. Die drei Menschen und das eine Tier bildeten eine Gruppe, und Alex wandert außerhalb umher wie ein herrenloses Wesen, immer allein, immer wies er jegliche sich anbahnenden Freundschaften zurück, bis sie es aufgaben, sich Sorgen darum zu machen, und ihn in Ruhe ließen, damit er seine eigenen Schritte durch sein eigenes Leben lenken konnte. Manchmal kam er in die Scheune und setzte sich an eine Staffelei und versuchte zu malen, aber er war nicht allzu gut. Er war zu sehr an die Methoden gewöhnt, die in der Stadt benutzt wurden. (Abram ver-
suchte zu denken, daß er gar kein so schlechter Künstler sei), und konnte sich daher nicht genügend Kunstfertigkeit aneignen, um Farbe und Leinwand zu benutzen. Er versuchte alles und erreichte nichts. Er konnte ziemlich gut kopieren, er kopierte Abrams Werke, aber es war niemals Leben darin. Er übernahm die Formen und Gestalten und fertigte perfekte Kopien an, aber sobald sie auf seiner eigenen Leinwand Gestalt annahmen, war ihnen der Lebensfunke entrissen, und es waren tote Gebilde, ohne jegliches Leben. Sie waren stilisiert und leer, gefühllos. Und während er arbeitete, über einer einzigen Leinwand schwitzte, unfähig zu erkennen, was er falsch machte, produzierte Abram drei Bilder, die unendlich viel besser waren und lebten. Es entstanden Spannungen. Meta hatte etwas von ihrer extremen Schlankheit verloren, war an den richtigen Stellen etwas fülliger geworden. Alex wurde fett. Das Essen in ihrem kleinen Häuschen war immer reichhaltig; die anderen wurden es durch Schwimmen, Laufen oder einfach harte Arbeit wieder los. Alex saß herum und wurde fett. Sein Gesicht verschwand langsam unter Fleischfalten, die Augen versanken tiefer und tiefer, der Mund war von den Hautfalten kaum noch zu unterscheiden. Und als seine Hände Abrams Haut berührten, hatte
er nicht einmal nachgedacht, hatte instinktiv damit angefangen. Entweder das oder einfach aufgegeben. Er ließ den bewußtlosen Alex zurück und ging hinaus. Er erwähnte es vor den anderen nicht, das war unnötig. Er ging zum Fluß hinunter und schwamm, bis er alles abreagiert hatte, seinen Ekel vor sich selbst, seinen Ekel vor Alex. Dann ruhte er sich aus, beobachtete die Strömung und schaute in den Himmel. Alex mied ihn. Sie waren alle am Fluß. Der Tag war heiß, heißer als je einer gewesen war, soweit sie sich erinnern konnten. Die Bäume waren schlaff und ruhig, die Blätter hingen kraftlos herab, als hätte die Hitze ihnen die gesamte Lebenskraft ausgesaugt. Das Gras war trokken und staubbefleckt. Der Himmel war blaßblau, fast weiß, und die Sonne strahlte zu stark, als daß man hätte hinaufsehen können. Der Fluß gluckste träge an die Ufer, dann kam die Flut, und es rauschte leise, als das Wasser den schlüpfrigen, dunklen Schlamm hinaufkroch. Sie lagen im Schatten einer Eiche, zu ermattet, um sich zu bewegen. Wargraves hatte seine Versuche, Abram dazu zu bringen, sich anständig anzuziehen, wenn Meta anwesend war, aufgegeben, und diese Einstellung hatte sich auch bei den anderen breitge-
macht; so lagen sie alle selbstvergessen und nackt da und ließen auch den kleinsten Luftzug, der vielleicht heranstrich, die Hitze von ihrem Körper nehmen. Alex saß ein Stück von der Gruppe entfernt und warf Steine ins Wasser. Wargraves beobachtete ihn, er war beunruhigt über sein Benehmen, über seine Isolation. Keiner von ihnen konnte ihn mehr erreichen, es war erschreckend, wie er sich abgesondert hatte, als wäre er nicht einmal mehr Teil desselben Universums wie sie. Meta stand auf und streckte sich, ging hinüber und setzte sich zu Alex. Sie unterhielten sich leise, ihre Köpfe bewegten sich, ihre Lippen öffneten sich und bildeten stumme Worte. Alex' Augen zuckten in ihren Höhlen hin und her, tiefliegend und abwesend, immer in Bewegung, begegneten aber nie einem anderen Blick. Abram beobachtete die beiden, weil es ihn interessierte, wie ihre Körper aufeinander reagierten. In ihrem Verhalten steckten schwache Andeutungen dessen, was sie irgendwann einmal einander bedeutet hatten. Mehr als jetzt. Gelegentlich, nur ganz kurz, vergaß Alex seinen eigenen Schmerz und sah Meta voller Wärme an, ein alter Blick, fast schon prähistorisch in diesem feisten Gesicht. Aber immer erwiderte sie seinen Blick mit Kälte, und seine Augen wandten sich hastig ab wie ein flacher Kieselstein, den man übers Wasser schnellen läßt, und Abram
konnte sehen, daß er schützend das Genick einzog. Die Augen waren ausdruckslos, müde und ängstlich. Irgendwie tat Alex ihm leid. Er rollte herum und stand auf, um zu Wargraves hinüberzugehen, der auf dem Rücken lag, Hunds Kopf ruhte auf seinem Magen. »Warum redet sie mit Alex?« Abram setzte sich und streichelte Hunds Fell. »Ich dachte, die beiden verstehen sich jetzt überhaupt nicht mehr ...?« Wargraves drehte seinen Kopf, blinzelte in die Sonne und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Sie sagte nur, daß sie ihm etwas erzählen wollte.« Er zuckte mit den Schultern. »Frauen.« Abram schmunzelte über Wargraves neuentdeckte, naive Weltlichkeit. Er sah kurz zu dem nackten Paar hinüber, einer fett und schweißglänzend, die andere schlank mit genauso feuchtem Körper, aber irgendwie sah es bei ihr weniger unangenehm aus. »Ja ...« »Das kannst du nicht. Du mußt uns allen eine Chance geben. Siehst du nicht, wie es für den Rest von uns ist?« Alex sah sie nicht an. Er schien ausschließlich mit dem Spiel der winzigen Lichtreflexe auf dem Wasser beschäftigt; unter der silbernen, bewegten Oberfläche trieben lange, dunkelgrüne Pflanzenwedel. »Habe ich denn überhaupt nichts dazu zu sagen? Habe ich nicht dieselben Rechte wie ihr?«
»Jetzt nicht, nein. Du weißt das, Alex.« Metas Stimme verlor ihren bittenden Ton und wurde härter. »Es ist nicht richtig, und das weißt du genau. Gray und ich, wir haben etwas Schönes gefunden. Ich habe das Gefühl, daß ich zum ersten Mal in meinem Leben zufrieden bin. Ich bin ich, und es ist niemand da, der versucht, eine andere aus mir zu machen. Außer dir, Alex. Du willst, daß ich wieder diese Hure aus der Stadt werde, und ich werde es nicht mehr sein. Es bringt doch nichts, wenn du so hier herumhängst, du kannst genausogut packen und verschwinden.« Alex zuckte leicht zusammen, ließ Kopf und Schultern hängen. Sein Haar hing lang und kraftlos auf seinen Rücken hinab. »Oh, sicher sehr angenehm für euch beide. Nein, Verzeihung, euch drei. Schöne Sache, die du da angefangen hast. Gott, es ist wie ein verrückter Film, was du da in Gang gesetzt hast, Meta. Dieser Aussätzige und dieser Bär. Du bist etwas ungezwungener geworden unter deiner Hose, wie? Ach, entschuldige, du trägst ja keine Hosen mehr, ich vergaß. Kannst keine Zeit mehr damit verlieren, sie auszuziehen, hm?« »Gray«, sagte Meta. »Es ist nur Gray.« »Oh? Das macht die Sache schon besser, wie?« »Natürlich ist es nur Gray.« Sie fühlte sich in die Verteidigung gedrängt. Es waren Teile ihres Bewußtseins, die sie erschreckten; ihr war es unangenehm,
wie Alex dort eindringen und sie offen darlegen konnte und ihr damit Dinge vor Augen führte, die sie nicht sehen wollte. Es war hier ganz in der Nähe, wo sie und Abram – »Na komm, wenn es nur der Bär und du seid, willst du mir doch wohl nicht erzählen, daß du ihn auch wegschickst? Er könnte es euch verderben, oder? Du bist eine verdammt eifersüchtige, kleine Hexe, das ist alles. Du willst die ganze Aufmerksamkeit für dich allein, das ist alles. Wenn sie wollen, daß ich gehe, können sie kommen und es mir selbst sagen.« »Das würden sie nie tun. Du weißt, daß sie es nicht tun würden, sie sind nicht so, sie könnten nie so grausam sein.« »Und du kannst es? Oh, sicher, ich weiß, daß du es kannst. Du warst darin immer sehr gut, nicht wahr?« »Du mußtest nicht mit mir kommen.« »Ich hatte wohl keine große Wahl, oder?« »Es waren noch andere da. Du hättest in die Berge gehen können oder nach Norden, du mußtest mich nicht wie festgeklebt hinter dir herschleifen.« »Aber ich liebe dich ...« Meta hörte einen Moment auf zu denken; es war, als habe sich eine Tür hinter ihr geschlossen, ein Schutzmechanismus, von dem sie nicht einmal gewußt hatte, daß sie ihn besaß. Langsam öffnete sie
sich wieder, und sie gestattete sich, ihre nächsten Worte zu überdenken. »Aber – wenn – du es doch nicht kannst!« flüsterte sie hart. »Welches Recht hast du, mich zu lieben? Wann habe ich gesagt, daß du mich lieben könntest? Ich will es nicht.« »Das steht nicht in deiner Macht.« »Ich kann mich von dir lösen.« »Du versuchst es.« »Alex, bitte, hör mir zu, wirst du uns in Ruhe lassen? Wirst du? Du verdirbst alles.« Selbstsüchtige Hure, dachte er. »Du willst, daß ich gehe?« sagte er lahm. Langsam wurde ihm klar, daß sie es wirklich so meinte, es war nicht mehr nur ein Wortspiel. Sie würde ihn umbringen, wenn es nötig sein sollte, um ihn aus dem Weg zu räumen. Es war jetzt nicht mehr so, wie es in der Stadt gewesen war. O Gott, die Stadt. Warum nur mußte ich diesen Ort verlassen? Dort war es sicher, und alles nahm seinen geregelten Gang ... »Ich dachte, das hätte ich deutlich genug gemacht.« Alex nickte. Er fühlte sich schlecht. Es blieb ihm nichts mehr zu tun, in die Ecke gedrängt, zurückgestoßen, unterdrückt, keine Möglichkeit zum Zurückschlagen mehr, keine Möglichkeit zum Sieg, also geh weiter, spring über die Klinge, tu es. Sie brachten ihn um. Wußte sie das nicht? Sie war mit ihm draußen
gewesen, wußte, wie es war. Er konnte nicht überleben, nicht allein, er käme nie zurecht. Da draußen töteten sie, alle unterwegs, um ihn, Alex, umzubringen, denjenigen, der dem nicht gewachsen war. »Wann gehst du?« O Gott. Gott, hilf mir. »Morgen früh ..., vielleicht ..., ich werde sehen.« »Ich will es jetzt wissen, Alex. Genau.« »Gut, gut ..., dann morgen früh. Ich werde morgen früh gehen. Zufrieden?« »Ja.« Sie wollte aufstehen. Alex streckte seine Hand aus und packte sie am Handgelenk. Sie hielt inne und sah auf ihn herab, und er lockerte langsam seinen Griff. Sie rieb mit ihren Fingern über ihr Handgelenk, wo er sie berührt hatte, und ging weg. Er beobachtete sie, als sie ging, sein Blick irrte über ihren Körper, diesen Körper, der einmal sein Besitz gewesen war. Jetzt nicht mehr. Vorbei. Weit von ihm entfernt, ein Stück Glas trennte ihn vom Rest der Welt. Er konnte nichts mehr berühren, alles war ihm genommen. Dieser Körper. Der schlanke Rücken, ihre wohlgerundeten Hüften und diese langen geraden Beine. Es war sein gewesen ... Oh, mein Gott, kann sie es nicht sehen? Kann sie es denn nicht? Laß sie erkennen, daß ich sie nicht verletzen will, daß ich niemanden verletzen will. Aber irgendwie muß ich mich doch selbst schützen. Ich muß.
Und ... wenn dieser Aussätzige das nur nicht so aufgefaßt hätte. Konnte er nicht begreifen, daß ich nur wollte, daß er mich ... mich beschützt? Ich wäre nett zu ihm gewesen, sehr nett, wenn er sich nur um mich gekümmert hätte. Keiner von ihnen versteht es, ich will ihnen nicht weh tun ... Meta gesellte sich wieder zu den beiden Männern. Alex konnte sehen, wie das war, die drei lagen nackt beieinander, so dicht, daß sie sich gegenseitig berühren konnten. Er wollte – er wollte – Plötzlich stand er auf und ging am Ufer entlang von ihnen weg, seine Beine bewegten sich, als gehörten sie nicht zu ihm. Er war nur noch ein Ding, ausgelaugt, hing irgendwo auf der hinteren Seite seines Schädels, blickte aus hohlen Augen. Er sah hinaus, wo die Schwäne träge vorüberzogen. Abram war auf einen Baum geklettert, um zu sehen, wie die Aussicht von dessen Wipfel war. Unten konnte er Meta und Wargraves erkennen, und er lächelte heimlich und wandte sich ab. Er nahm nicht an, daß es sie stören würde, wenn er zusah, aber es war für seinen eigenen Seelenfrieden nicht gut. Vielleicht sollte ich bald verschwinden, dachte er. Irgendwohin wandern, vielleicht ein Mädchen finden. Er unterbrach plötzlich seine Gedanken, als ihm
bewußt wurde, daß er fast vergessen hatte, wie es dort draußen sein konnte. Kein Mädchen würde mit ihm gehen, ihr Dorf verlassen, nur um einem Aussätzigen zu folgen. Er seufzte. Zu manchen Zeiten war das Leben schon hart. Das Boot trieb sanft in der Strömung, und Abram beobachtete es. Alex saß im Bug, und er fragte sich, was er da machte, denn gewöhnlich war es schwierig, ihn irgendwie in die Nähe des Bootes zu bekommen. Alex stellte sich hin und hob einen schweren Stein vom Boden des Bootes auf und warf ihn kräftig nach einem vorüberziehenden Schwan. Er traf den Vogel am Hals, dieser schnappte noch einmal, dann fiel der Kopf gebrochen aufs Wasser, und der große, weiße Vogel trieb langsam kreisend mit der Strömung davon. Abram starrte nur, konnte es nicht glauben. Alex hob einen anderen Stein auf und holte aus, um zu werfen. Er grinste. Er schleuderte den Stein und verfehlte sein Ziel, bückte sich schnell, um einen dritten zu ergreifen, aber als er sich wieder aufrichtete, kam er aus dem Gleichgewicht, ruderte wild mit den Armen. Er rutschte aus und fiel über den Rand des Bootes, man hörte ein lautes Krachen. Abram konnte ihn nicht sehen, nur die bewegte Wasseroberfläche, wo er hineingefallen war. Er schwang sich von seinem Zweig herab und ließ
sich fallen, rollte sich ab, als er aufkam, und rannte sofort los. Dann blieb er stehen und wandte sich um, legte seine Hände um seinen Mund und schrie: »Meta! Gray! Alex ist im Fluß!« Am Fluß angekommen, sprang er sofort hinein und tauchte unter. Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen, und er ließ die Nickhäute vor seine Augen gleiten, wandte den Kopf hin und her, um das klare Wasser um sich und über sich zu erforschen. Gray und Meta erreichten das Ufer und blieben stehen und hielten sich an den Händen. An der Oberfläche des Flusses war jetzt nichts mehr zu sehen, sie war absolut ruhig. Das Boot trieb langsam den Fluß hinunter. Plötzlich tauchte Abram wieder auf. Er sah sie nicht an. Sein Rücken zerteilte das Wasser, sein Kopf erschien, und sie hörten, wie er tief einatmete, um seine Lungen wieder mit Luft zu füllen, dann tauchte sein Körper wieder unter, und nur die kleinen Wellen verrieten, daß er jemals dagewesen war. Der Grund war bedeckt mit langen, grünen Pflanzenfasern, die sich wie Haare bewegten, Fische schnellten zwischen ihnen umher, ein großer Hecht, grün und glänzend, der sich drehte und dabei seine weiße Unterseite aufblitzen ließ. Kleine Plötzen und Brassen. Schemenhafte Gestalten von Forellen. Er schwamm mit der Strömung den Fluß hinunter,
bewegte sich dicht über dem Schlick des Flußgrundes, wo das Wasser in der Mitte dreißig Fuß tief war. Er trieb hundert Yards hinunter und drehte dann wieder um, schwamm im Zickzack über den Grund und suchte nach den Anzeichen eines Körpers. Endlich fand er ihn, in Pflanzen verfangen, ganz nahe am Ufer, das Wasser seicht genug, um darin stehen zu können. Er stemmte sich in den Schlamm und tauchte auf. Wargraves und Meta standen zwanzig Yards stromaufwärts, und er rief sie zu sich. Meta sah sich um und starrte ihn an, als könne sie es nicht glauben. »Du bist tot«, sagte sie. Abram schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Alex.« »Er ist tot?« Abram nickte, bückte sich und griff ihm unter die Arme, um ihn ans Ufer zu ziehen. Wargraves kam und half ihm, den schweren Körper auf das Gras zu heben. Abram kletterte hinterher und saß triefend da. »Wir könnten es mit Wiederbelebung versuchen«, schlug Wargraves vor, als er den blassen Körper betrachtete. Er fragte sich, wie er so weiß sein konnte. Abram drehte ihn um und legte den Kopf so, daß die Luftröhre gestreckt war. »O Gott, laßt ihn, der Bastard ist doch tot. Laßt –« »Halt den Mund!« Wargraves drehte sich zu Meta um, und ihr Mund schloß sich mit einem hörbaren Klappen.
Abram senkte seinen Mund über den von Alex und blies Luft in dessen Lungen. Sie dehnten sich aus und fielen wieder zusammen. Sie bewegten sich nicht noch einmal. Abram versuchte es weiter. »Er ist tot. Er ist tot. Laß ihn, er ist tot. Du bist auch tot, ich sah dich, zu lange unter der – ich sah ihn, Gray, ich sah ihn tot, alle, die Welt, mich, alle tot. Laß! Laß ihn!« Wargraves schlug ihr ins Gesicht. Sie hörte auf zu reden und starrte ihn an. Er legte seinen Arm um ihre Schultern, sie wollte sich losmachen, aber er ließ sie nicht gehen, und einen Augenblick später warf sie sich gegen ihn und begann leise zu weinen. Abram gab auf. Er war tot. Er kauerte sich neben den Körper, fühlte sich erschöpft, die Sonne schien plötzlich alle Wärme verloren zu haben. Er drehte sich um und sah nach dem Boot. Es lag leicht beschädigt unter Weiden, wo es ans Ufer getrieben war, und Abram stand müde auf und schleppte sich hinunter, angelte nach der Leine, zog das Boot wieder herauf und vertäute es. Wargraves und Meta standen immer noch bei der Leiche, sahen aber nicht hin. Abram wartete. Endlich zog Wargraves Meta von ihm weg. Er sah in ihre Augen, dann ließ er sie los, drehte sich um, nahm die Leiche in seine Arme und trug sie den Abhang hinauf.
Abram stand eine Weile da, dann sah er Meta an und sagte sanft: »Komm ...« Sie fuhr erschreckt zusammen und starrte ihn an, dann entspannte sich ihr Gesicht, fiel in sich zusammen, ihr Blick kehrte sich nach innen. »Er ist tot«, flüsterte sie. Abram nickte nur. »Tot ...« Meta flüsterte es, als müsse sie es immer und immer wieder sagen, bevor es Wirklichkeit wurde. Abram legte seinen Arm um ihre Schultern, und sie gingen vom Fluß weg, folgten der Gestalt Wargraves', der schon in der Ferne zwischen den Bäumen verschwand. Nach einer Weile ließ Abram seinen Arm von ihrer Schulter gleiten, und sie liefen nebeneinander weiter. Der Tod war in ihren allzu leichten Alltag eingedrungen, und es tat weh, erinnerte sie daran, wie leicht es für sie alle war zu sterben, zu sterben, und nichts mehr danach. All das vergangene Lachen würde in einem kalten Wind erstarren. Es war genau, wie Meta wollte, er war nicht mehr da, aber ... so? Sie stellte sich ihn unter Wasser vor, wie die Pflanzenwedel ihn ergriffen, lebendige Dinge, die gegen ihn kämpften, als er versuchte, die Luft zu erreichen, die so nahe war. Und dann konnte er nichts mehr tun, und er öffnete seine Lungen, ließ das feurig brennende Wasser in sich einströmen, ließ es ihm sein Leben nehmen, ihn mit Tod erfüllen.
O Gott, sie wollte nicht daran denken. Nicht so. Warum konnte er nicht einfach gegangen sein, er sagte doch, er würde es tun. Und – Nein. Nein, er nicht – Sie mußte es jemandem sagen. »Ich frage mich, ob er sterben wollte?« »Was?« Abram sah sie an, über den unendlichen Raum zwischen ihnen hinweg. »Ich frage mich, ob es Selbstmord war.« »Warum sollte er ...« Meta schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich dachte nur ... es hätte sein können. Er war nicht glücklich.« Sie gingen weiter. Blätter berührten sie. »Was –« »Ja?« »Nein, egal.« Abram schüttelte den Kopf. Was sagtest du ihm? Er schüttelte wieder den Kopf. Nein, nicht Meta, niemals. Aber er war da, der Gedanke, der Verdacht. Quälte ihn die ganze Zeit. Was, wenn. Was, wenn sie. Es war möglich. Oder nicht? Was hatte sie zu ihm gesagt? Nein – Meta? Aber es war möglich. Dennoch nur möglich, nicht wahrscheinlich ..., aber ..., da war dieser Gedanke ...
Sie folgten Wargraves zum Haus, zum alten Haus, oben auf dem Hügel, mit dem Friedhof. Wargraves hob das Grab aus, dieses Mal sechs Fuß tief, und legte die Leiche hinein. Er sagte einige Worte und schaufelte dann Erde auf den blassen, weißen Körper und bedeckte ihn damit. Keiner weinte am Grab. Hier waren zu viele andere weiße Kreuze, und jeder dachte denselben Gedanken, vielleicht war dieser die Tränen weniger wert als die anderen. »Ich denke, daß er nicht durch und durch schlecht gewesen sein konnte«, meinte Wargraves. »Er war ein Bastard«, erwiderte Meta. Abram sah sie über den Grabhügel hinweg an und wunderte sich. Er wollte es nicht denken, aber der Keim der Idee war da, nagte an ihm. Bitte – laß mich vergessen, daß ich es je gedacht habe! Aber er konnte es nicht. Jetzt war es da. Und wenn diese Hure ... Nein. Eine Zeitlang kam es ihnen seltsam vor, daß er nicht mehr am Rand ihres Gesichtsfeldes herumschlich. Aber mit der Zeit vergaßen sie ihn. Es ist der Weg, den wir alle gehen, nur Trostlosigkeit bleibt.
IV
Tagebuchaufzeichnungen von Wargraves XXIV Tag 186, Jahr 423 A.W. Seit einem Monat zum ersten Mal über Alex nachgedacht. Meta sagte etwas, daß er die Jagd nicht mochte. Das war, nachdem wir auf Hasenjagd waren. Komisch, aber ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, wie er ausgesehen hat. Ich habe eine unklare Vorstellung davon, wie er gewesen war, aber irgendwie scheint sie nicht richtig zu sein, nicht so, wie sie sein sollte. Hund hat sich seine Pfote an einer Glasscherbe aufgeschnitten. Abe hat sie verbunden, und eigentlich scheint alles in Ordnung zu sein, außer daß Hund dauernd mit den Zähnen an der Binde zerrt und wir ihn im Auge behalten müssen. Er denkt, wir hätten seine Pfote nur eingewickelt, um ihn zu ärgern. Abe klagte kürzlich über Kopfschmerzen. Das ist ungewöhnlich bei ihm. Vielleicht bekommt er eine Grippe oder so etwas. Das Wetter ist immer noch schön, Sonne und noch mal Sonne. UND JETZT!!! Ich glaube, Meta ist schwanger. Ich bin kein Arzt, aber Abe sagte, er wüßte ein wenig Bescheid über solche Dinge (er weiß eine Menge, wovon ich nie eine Ahnung hatte), und er sagte, daß er es auch annimmt. Er scherz-
te, ob es vielleicht Zwillinge werden. Doch er sollte damit nicht scherzen. Gott – wie gerne hätte ich Zwillinge! In letzter Zeit habe ich meine Arbeit ein wenig vernachlässigt, was Wunder bei all den Dingen, die dauernd passieren. Seit der Zeit, als Alex uns verlassen hat, war ich nicht mehr in der Stadt. Ich glaube, ich könnte es aufgeben. Ich habe es noch gegenüber niemandem erwähnt, ich überdenke es immer noch selbst. Aber es scheint, daß zu wenig Körper übriggeblieben sind. Ich könnte eines Tages auf den Hügel gehen und über die gesamte Stadt ein Gebet sprechen für alle die, die ich nicht gefunden habe, und sie dort lassen, wo sie sind. Sie haben jetzt lange Zeit dort geruht, scheint wenig sinnvoll zu sein, sie noch wegzubringen. Das Leben ist jetzt zu sehr von anderen Dingen erfüllt, um sich stets um die Toten zu sorgen. Abe hat einige wirklich schöne Bilder gemalt. Mich und Meta gleich ein paarmal. Gelegentlich stehen wir ihm nämlich Modell. Er malte uns nackt und in Kleidern; in altmodischen Kostümen, so eine Art Wargraves' durch die Jahrhunderte, und ich habe sie in die Bibliothek gehängt wie ein zusätzliches Stück meiner Journale. Er konnte nicht alle richtigen Kleider finden, aber er stellte sie einfach aus dem Kopf dar, und sie scheinen zu uns zu passen. Er ist wirklich ein großartiger Maler. Schade, daß niemand mehr da ist, der ihn berühmt machen könnte. Ich liebe die ganze Welt.
Abram versetzte Hund einen scherzhaften Stoß, und Hund sprang ihn in gespielter Wildheit an. Sie rollten übereinander, Hund bellte, und Abram schrie und lachte. Wargraves und Meta saßen auf einem Felsen und sahen schmunzelnd zu. Plötzlich hörte Abram auf umherzurollen und blieb still liegen. Hund knabberte an seinem Bein, aber er bewegte sich nicht, und Hund ging zurück, dann schnüffelte er an ihm. Er lag immer noch bewegungslos da, seine Augen, geweitet, starrten in den Himmel. Wargraves sprang von dem Felsen und rannte hinüber. »Abe? Was ist los, Abe?« Er sagte nichts, nickte nur ganz schwach. »Was ist mit dir?« Meta kniete neben ihm nieder. »Ich weiß es nicht. Es scheint ..., so eine Art von ...« Wargraves schüttelte den Kopf. Stirb nicht. Abe, bitte stirb nicht. Plötzlich schüttelte Abram sich. Sein ganzer Körper zitterte heftig, dann entspannte er sich. Er atmete tief aus, dann sagte er: »Waa-auh!« »Ist alles in Ordnung?« »Jetzt geht es mir wieder besser.« »Was war es?« Er schüttelte den Kopf, runzelte leicht die Stirn. »Ich fühlte mich einfach ... seltsam. Konnte mich überhaupt
nicht mehr bewegen. Nun ist es vorbei.« Er stand auf, Wargraves bot ihm seinen Arm als Stütze an. »Du willst zum Haus zurückgehen?« Abram nickte. »Ja, ich denke schon. Kannst du mir helfen ... ich bin immer noch ein wenig wacklig.« Wargraves legte seinen Arm um ihn und hob ihn auf, als sei er ein Baby. »Hey, so schlecht geht's mir auch nicht!« »Besser sicher als elend, wie meine –« Abram lachte, doch seine Müdigkeit zeigte sich. »Himmel, du bist großartig«, sagte er. Wargraves nickte bescheiden und trug ihn die Meile bis nach Hause. Er schleppte ihn die Treppe hinauf und legte ihn auf das Bett, wo er noch niemals zuvor gelegen hatte. »Ich gehe und mache dir etwas Tee. Meta wird bei dir bleiben, ja?« »Sicher.« Sie setzte sich auf die Bettkante und hielt Abrams Hand. Wargraves blieb einen Moment in der Tür stehen und lächelte die beiden an, dann verschwand er. »Wie fühlst du dich?« fragte Meta. »Müde. Komisch ... ich habe mich noch nie müde gefühlt. Nicht so. Eine Art von Schwere.« Sie streichelte seine Wange und küßte ihn auf das Augenlid. »Jetzt nicht, Liebling.«
Sie lachte hell. Abram sah in ihr Gesicht. »Bist du glücklich, Meta?« »Was ist das für eine Frage?« »Bist du?« »Sicher. Sehr glücklich.« Abram nickte. »Das ist gut.« »He! Sprich nicht so, ich mag das nicht. Das ist beängstigend.« Er lächelte. »Verzeihung. Wollte nur sichergehen.« Sie drückte seine Hand. Er schloß die Augen und atmete ganz langsam. Als Wargraves mit dem Tee kam, war er eingeschlafen. Wargraves stand am Fußende des Bettes und starrte auf Abrams entspanntes Gesicht, dann berührte er Meta sanft an der Schulter. Sie stand auf und warf sich an seine Brust. »Wird er wieder gesund werden, Gray?« »Sicher. Er ist zäher als wir beide zusammen.« »Ich hoffe es.« Er blickte auf sie herab, dann küßte er sie auf den Kopf. »Ich auch.« Sie gingen hinaus, schlossen leise die Tür und stiegen hinunter, um ihn schlafen zu lassen. Schlaf – Es war Dunkelheit. Es war Tod. Wie der erste Schlaf eines neugeborenen Babys, kein Unterschied
zu der Dunkelheit, der es gerade entflohen war. Vorbote der Dunkelheit, in der es enden wird. Sein erster Schlaf. Nichts. Einschließend. Da waren Stimmen; vertraut, unterschiedliche Sprachen, aber er verstand; Worte und Symbole, die einen Zusammenhang ergaben. Die ihn in seinem Vergessen befragten, und er erkannte, daß er nicht antworten konnte. Kirik kam mit Seekta den Fluß herauf. Die Herde blieb an der Mündung zurück und spielte in den Strömungen des frischen Wassers und der Brandung an den Sandbänken. Die beiden Delphine kämpften gegen die Flut an, beide aufgeregt und ernst. Da war noch ein anderer. Der Zweite. Wieder in ihrem Haus, züchtete das Mädchen Blumen und Gemüse; schwamm mit den Delphinen im Wasser; kümmerte sich um das neue Baby, als wäre es ihr eigenes. Irgendwie war es das auch. Eine Schwester. Aber sie brauchte mehr als das Kind. Sie brauchte einen Mann. Sie blieben stehen, als sie sich ihm näherten. Ihr Bewußtsein konnten seine schlafenden Gedanken fühlen, als er den ersten Schlaf seines Lebens schlief, während sein Körper die Veränderung durchmachte, die ihn zur Vollkommenheit führen würden.
Sie sprachen mit ihm, flüsterten Ratschläge, erzählten ihm, was er war, warum. Er entgegnete, sprach schweigend. Endlich wandten sie sich um und schwammen zu ihrer Herde zurück. In einem Monat würden sie zu ihm zurückkehren. Abram öffnete die Tür der Bibliothek und trat ein. Wargraves und Meta saßen vor dem Kamin auf dem Boden und machten aus Brot, das sie auf eine lange Gabel gesteckt hatten, Toast. Der Geruch erfüllte die Luft angenehm. »Für mich auch?« fragte er. Sie wandten sich um und sahen ihn an, eine Zeitlang sprach keiner von ihnen, weil sie zu überrascht waren, daß er da war. Endlich hustete Wargraves und sagte: »Du solltest doch im Bett sein. Wie geht's?« Er lächelte. »Großartig. Einfach großartig.« Wargraves und Meta runzelten die Stirn, und Abram setzte sich und erzählte ihnen, was passiert war. »Ich glaube nicht, daß ich das alles verstehe«, sagte Wargraves. »Heißt es, daß du weggehst?« fragte Meta. Sie konnte es verstehen. »Für eine Weile. Aber ich werde zurückkommen, wenn ihr es dann noch wollt.«
»Mit deinem Mädchen.« Er lächelte und sah auf seine Hände. »Vielleicht. Ich habe sie ja noch gar nicht getroffen. Ich weiß nicht, wie es werden wird. Vielleicht will sie mich überhaupt nicht.« »Sie muß«, erklärte Meta. »Ihr seid euch doch so ähnlich.« Du und Alex auch, dachte Abram, aber er sagte es nicht. »Ich vermute es«, erwiderte er. »Wir haben keine große Wahl, stimmt's? Wir sind die beiden einzigen.« »Ich wette, sie ist wunderschön«, sagte Meta. »Ich wette, sie ist eine alte Hexe«, sagte Abram, aber er lächelte dabei. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf, daß ihre langen Haare flogen. »Sie wird wie du sein, ihr werdet eins sein.« »Wann?« fragte Wargraves. »Eine Weile, bevor ich sie sehe. Sie sagen, ich werde lange Zeit schlafen, aber laßt mich einfach, wie ich bin. Mir wird es gutgehen, und ich werde aufwachen, wenn die Zeit gekommen ist.« Sie nickten beide. »Wann wird es anfangen?« fragte Wargraves. »Wann immer ich will.« Wargraves nickte. »Ich nehme an, es kann genausogut jetzt sein. Ich
werde zum Fluß hinuntergehen. Sie sagen, es ist das beste, wenn ich im Freien bin. Wollt ihr mit mir kommen?« Sie taten es. Er setzte sich ins Gras, in eine Mulde zwischen den Felsen, wo er aber vom Fluß aus zu sehen war. Meta kniete nieder und hielt ihn einen Moment fest, küßte ihn einmal. Wargraves kniete auch nieder. Es war in Ordnung. Alles. Sie lächelten sich an, dann sagte Abram: »Gute Nacht.«
6. Der Synergetiker Tagebuchaufzeichnungen von Wargraves XXIV Tag 200, Jahr 423 A.W. Ging heute hinunter, um nach Abe zu schauen. Er liegt immer noch zusammengerollt. Konnte ihn nicht atmen sehen, und als ich ihn berührte, war er kühl. Aber er sagte, es würde so sein. Trotzdem mache ich mir Sorgen. Als ich dort unten war, kamen ein paar Delphine ganz nahe ans Ufer und sahen erst ihn, dann mich an. Sie sangen eine Weile, aber ich wurde daraus nicht schlau. Ich weiß, daß Abe gesagt hat, daß sie so klug wie Menschen sind, aber es ist schwer, so von ihnen zu denken. Tag 205, Jahr 423 A.W. Heute gingen wir beide hinunter. Meta berührte ihn und sagte, daß sie auch fand, daß er sich kühl anfaßte. Sie küßte ihn auf seine geschlossenen Augen. Es war ganz süß. Später kamen die Delphine wieder, und Meta ging mit ihnen ins Wasser. Sie ließen sie auf ihrem Rükken reiten und schlugen Purzelbäume, während sie zusah. Meta holte mich auch ins Wasser. Ich war anfangs ein wenig ängstlich, aber sie waren so sanft, und ich konnte nicht glauben, daß sie jemals einem lebenden Wesen etwas antun würden. Auch ich ritt auf einem, als ich keine Angst mehr hatte. Wirklich ein wüstes Ge-
schwätz. Sie sind freundliche Leute, die Delphine. Ich denke jetzt so von ihnen. Abe hat recht. Seltsam, wenn man bedenkt, daß er genauso ein Teil von ihnen ist, wie er ein Teil von uns ist. Macht mich irgendwie stolz, sein Freund zu sein. Tag 207, Jahr 423 A.W. Meta benimmt sich manchmal wirklich komisch; es wundert mich und macht mir Sorgen. Gestern war sie prima und liebenswert, aber heute ist sie so weit weg. Als wäre plötzlich irgendeine Schranke zwischen uns. Ich glaube nicht, daß sie es wirklich so meint, denn wenn sie wieder da herauskommt, was auch immer es sein mag, gibt sie sich große Mühe, alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich weiß nicht, ob sie meinetwegen so ist, oder ob sie etwas beunruhigt. Ich glaube wirklich, sie kann nichts dazu. Und ich liebe sie zu sehr, um sie danach zu fragen. Tag 211, Jahr 423 A.W. Heute war eine ganze Horde Delphine unten. Wir gingen mit ihnen ins Wasser, jetzt überhaupt nicht mehr ängstlich. Wir machten Spiele, und ich brachte von zu Hause einen Ball mit, und wir spielten eine Weile damit. Sie sind nette Leute. Höflich. Manchmal scheint es fast, als könnte ich verstehen, was sie sagen. Später saßen Meta und ich am Ufer und beobachteten,
wie zwei von ihnen sich liebten. Es war wundervoll. Wie sie sich bewegten, im Wasser zusammen tanzten und sich dann vereinigten. Wir bekamen schon vom Zusehen Appetit, und wir liebten uns dort am Ufer. Komisch. Sie beobachteten uns, und es schien sie wieder anzuspornen. Wir wären wohl die ganze Nacht dort geblieben, wenn wir nicht einfach gegangen wären. Es war für uns beide mit die beste Zeit gewesen. Abe war immer noch in demselben Zustand, zusammengerollt. Tag 223, Jahr 423 A.W. Heute ging ich in die Stadt hinunter, zum ersten Mal seit Jahren. Ich ging, weil Meta in einer ihrer Stimmungen war – in einer wirklich miserablen. Sie nannte mich einen dummen Bastard, und ich sagte, ich verstünde sie oder auch irgend etwas an ihr überhaupt nicht. Junge, war die wild. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, daß ich einfach einmal eine Weile von ihr wegkommen müßte, also ging ich zu den Ruinen hinunter. Als ich dorthin kam, bemerkte ich, wie sehr ich sie vermißt hatte. Ich weiß, ich dachte daran, es aufzugeben und etwas anderes zu tun, einfach nur Familienvater zu sein, aber ich kann es nicht. Das ist mein Job. Das ist das Leben eines Wargraves! Die Körper in der Stadt. Wir könnten genausowenig damit aufhören, das zu tun, wie wir damit aufhören könnten zu atmen.
Hund und ich wanderten umher, fast wie in alten Zeiten, obwohl wir nicht wirklich gründlich suchten, sondern einfach nur wieder einmal diesen Ort fühlen wollten. Es scheint, als wären die Bäume und das Gras ziemlich gewachsen, seit wir zum letzten Mal hiergewesen waren, und die Pfade, die wir uns ausgetreten hatten, waren zugewuchert. Trotzdem ist das da unten ein angenehmer Ort, er beruhigt mich wie nichts sonst. Vielleicht ist es einfach nur Abe. Vielleicht. Meta macht sich Sorgen um ihn, und deshalb ist sie so, wie sie ist. Ich weiß, ich mache mir eine Menge Sorgen um ihn, und deshalb brauche ich jetzt die Stadt. Damit habe ich einen Ort, zu dem ich gehen kann, und an dem ich weiß, wer ich bin. Dort unten kann ich ein Stück meines verlorenen Ichs wiederbekommen. Wir fanden keine Leichen, aber wir versuchten es auch nicht wirklich und erwarteten es nicht. Als ich zurückkam, tat es Meta sehr leid, und sie weinte ein wenig. Ich sagte, es sei schon gut, ich verstünde sie, und wir gingen zu Bett. Ich liebe sie. Tag 230, Jahr 423 A.W. Dachte, Abe würde heute aufwachen, aber er tat's nicht. Die Delphine kamen und schienen dasselbe zu denken. Wir warteten mit ihnen. Keine Spiele heute. Als es dun-
kel wurde, verschwanden sie wieder flußabwärts, und wir gingen nach Hause zurück. Jetzt ist alles in Ordnung zwischen uns. Tag 231, Jahr 423 A.W. Er ist immer noch nicht aufgewacht. Meta sagte, ich soll mir keine Sorgen machen, aber das ist nicht so einfach. Ich liebe ihn zu sehr. Das wußte ich bis vor kurzem nicht, aber jetzt weiß ich es, ich liebe ihn. Wie einen Bruder oder einen Vater oder einen Sohn. Nicht zu beschreiben. Und ich weiß, daß Meta sich auch Sorgen macht. Sie liebt ihn. Genauso wie ich, aber auch als Mann. Ich bin nicht eifersüchtig. Es ist eben so. Die Delphine warteten dort. Ich glaube, sie machten sich auch Sorgen. Aber er muß noch am Leben sein, sie wissen das. Er sieht so friedlich aus, wie er daliegt, zusammengerollt wie ein Baby in der Gebärmutter. Die Blätter fallen schon von den Bäumen, und ich strich sie von ihm herunter. Tag 232, Jahr 423 A.W. Wird er nie mehr aufwachen? Die Delphine schienen sehr besorgt. Selbst Meta gab zu, daß sie sich sorgte. Wir gingen mit ihnen in den Fluß. Spielten nicht, lagen nur neben ihnen und umarmten sie. Ich glaube, sie waren dankbar dafür, weil sie wußten, daß wir uns mit ihnen Gedanken machen.
Tag 233. Jahr 423 A.W. Er bewegte sich! Es war nicht viel, aber die Delphine wurden verrückt, schlugen rückwärts Purzelbäume und sprangen ganze vierzig Fuß aus dem Wasser. Wir waren alle wirklich glücklich. Ich sollte Meta jetzt nicht mehr lieben, denn das Baby macht sich schon bemerkbar, aber wir konnten uns nicht helfen, es war die einzige Möglichkeit auszudrücken, wie gut wir uns fühlten. Wir taten es am Fluß und dann noch dreimal zu Hause. Todsicher wird es ein sexy Kind sein, wenn es kommt! Die Welt ist ein großartiger Ort. Tag 234, Jahr 423 A.W. Abe erwachte! Tag 236, Jahr 423 A.W. Himmel, waren das Tage. Ich war so beschäftigt und so glücklich. Wir nahmen Abe mit nach Hause, und ohne es recht zu bemerken, waren wir plötzlich alle zusammen im Bett. Es war seltsam, aber so gut. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal mit einem Mann ins Bett gehen würde, aber es kam einem nicht so vor. Meta war bei uns, alle drei zusammen und glücklich. Es war nichts Falsches dabei. Und dann gingen wir gestern hinunter und sahen die
Delphine. Heute morgen standen wir auf, und er war verschwunden. Hund winselte in der Küche. In der Scheune hatte er uns ein Selbstbildnis zurückgelassen. Er steht am Strand und sieht aus wie eine Art Gott oder Held, Sterne im Hintergrund. Meta und ich sind drauf, an der Seite, und beobachten. Und das Mädchen. Sie hat kein Gesicht, aber ich weiß, daß sie hübsch und genau richtig für ihn sein wird. An die Staffelei hatte er eine Nachricht gehängt, und ich habe sie hier als Urkunde eingefügt: Ich ging heute früh mit den Delphinen. Ich werde zurückkommen. Versprochen! Bringe auch meine Frau mit. Viele Grüße an euch beide (und Hund). Abe. Ich glaube, wir haben alle geweint. Wir werden ihn vermissen. Sie saß auf einem Felskamm oberhalb einer Klippe, die Hände im Schoß, und starrte auf den Ozean hinab, wo der Mann ans Ufer watete. Er drehte sich kurz um und winkte den Delphinen in den Wellen zu. Dann wandte er sich wieder um und sah zu ihr auf. Das Kind war unten am Strand und rannte auf ihn zu, platschte in dem seichten Wasser, und der Mann bückte sich und nahm es in die Arme, schleuderte es
im Kreis. Sie konnte das Mädchen lachen hören, auch das Lachen des Mannes. Er setzte sie auf seine Hüften und erklomm den Felspfad, und die Frau stand auf und ging ihn begrüßen. Sie traf ihn an der Tür, dicht vor dem Häuschen. Sie standen lange Zeit da, starrten sich an, das Kind lachte auf seiner Hüfte, umklammerte seine Brust und küßte seinen Arm. Die Frau lächelte: »Ich bin Lajal.« »Ich bin Abram.« Ja. All sein Schmerz war jetzt verschwunden. Er streckte die Arme aus, und sie trat neben ihn, legte den Kopf auf seine Schulter. »Du lebst hier?« Sie nickte. »Gefällt es dir?« »Ich liebe es.« Das Baby gluckste. Abram dachte, wir müssen noch ein eigenes haben.
Über den Autor »Einen Abend sagte sie: Wenn die Welt untergeht – mais je ne crois pas –, dann nehmen wir uns ein Zimmer und küssen uns, bis wir tot sind. Ich will mit meinem Liebling sterben, ah oui!« So schrieb vor mehr als drei Jahrzehnten unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs der deutsche Schriftsteller Wolfgang Borchert, eine der bemerkenswertesten und tragischsten Gestalten seiner Zeit. Wer hätte geahnt, daß diese wenigen Worte das Lebensgefühl noch der übernächsten Generation ausdrücken und einmal in die gleiche Kerbe schlagen würden wie eine Literatur, die in ihrer jetzigen Form nicht viel älter ist: die Science Fiction. Damals wie heute diese furchtbare Einsicht in das verwerfliche Streben des Menschen, dem in seiner Resignation und Hilflosigkeit nur die Flucht bleibt, in die Droge und den Sex. Es wundert daher nicht, daß gerade solche Motive in den letzten Jahren zu den dominierenden Themen der Science Fiction geworden sind. Viele Autoren haben sich ihrer angenommen, und eines der neuesten Talente auf diesem Gebiet ist der Engländer David G. Penny. All sein bisheriges Schaffen entstand vor dem Hintergrund der Verlorenheit des Individuums in unserer Welt. Keine Frage, daß er schon mit seinem ersten
Roman – Starchant – aus dem Jahre 1975 auf Anhieb das Interesse einer breiten Leserschaft weckte. Türme spielen darin eine bestimmende Rolle, babylonische Bauten, die älter sind als die Legende selbst und beharrlich der Schwerkraft und dem Verfall trotzen. Die in ihrem Schatten lebenden Menschen haben deren Vorhandensein aus dem Bewußtsein gestrichen, bis einer von ihnen in seiner Unschuld den sirenenhaften Bewohnerinnen der Türme erliegt. Niemand ahnt zu dem Zeitpunkt, daß gerade er ihrer zeitlosen Herrschaft ein Ende setzen wird. Ein tiefgründiges Werk über die Allmacht der Liebe und Lust, die der Autor wohl zu Recht als bedeutsamste Triebfeder menschlichen Seins ansieht. Das beweist auch The Sunset People, sein zweiter Roman, der noch in demselben Jahr erschien wie seine Debutarbeit. Wieder steht eine ermüdete Welt im Zentrum des Geschehens; neunzig Prozent der Erdoberfläche sind Wüste oder mutierter Wald, bevölkert von den Überlebenden der menschlichen Art, die ihren Planeten mit Wesen teilen, die sie noch nie zu Gesicht bekamen. Hier sind es Außerirdische, die der letzten Stadt – freilich zu ihren eigenen Bedingungen – das Heil bringen. Mit diesem Roman konnte David G. Penny zwar atmosphärisch überzeugen, aber nicht inhaltlich. Der alte Erlösergedanke, nur leicht verändert, wirkte denn doch zu banal. Um so enthusiastischer wurde das Erscheinen von
Sunshine 43 aufgenommen, einer Arbeit, die der Autor seinem britischen Hausverlag Robert Hale Limited nach einer Pause von drei Jahren vorlegte. Variantenreich und überzeugend erreicht er in ihr einen neuen Höhepunkt seines Bemühens, aus einer verderbten Welt das Beste herauszuholen. In einem Land, das nach dem Krieg im Dämmerschlaf dahinsiecht, wird an einem warmen Sommernachmittag von einem sonderbaren Wesen ein Kind ermordet. Der einzige Mensch, der dem Einhalt zu bieten versucht, ein Mutant, wird in der Folge seines Tuns selbst als Mörder behandelt. In der letzten Stadt der Erde gibt der alles kontrollierende Computer nach einem verzehrenden Anfall von Liebe seinen Geist auf und befiehlt sich Gott. Die sich auf ihn verließen, schaffen es nur zum Teil, ihre Abhängigkeit zu überwinden und ein neues Zuhause zu finden. In den Ruinen von London sucht ein einsamer Mann, wie es schon seine Vorväter taten, unbeirrt nach den Opfern des Krieges, um ihre Gebeine zur letzten Ruhe zu betten. Diese Dokumente menschlichen Seins bilden die Brennpunkte eines Geschehens, in dessen Verlauf die Welt sich zum Guten wandelt. Sunshine 43 liest sich wie ein Lehrstück, bei allen charakterlichen Mängeln seiner Protagonisten und ihrem Glauben an die leitende Hand eines Überwesens. Es beschreibt eine Gralssuche in moderner Form, das Sehnen nach et-
was, von dem niemand so recht weiß, was es ist und ob es überhaupt existiert. Seine nachdenkenswerte Erkenntnis läßt sich in dem einen Satz zusammenfassen: Das Erreichen des Ziels ist nichts, aber der Weg dorthin alles. Ein bedrückender, ängstlicher Roman, dessen Optimismus das Leben ist. Michael Nagula