Propyläen-Weltgeschichte Eine Universalgeschichte
Herausgegeben von Golo Mann, Alfred Heuß und August Nitschke
Digital...
209 downloads
1299 Views
6MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Propyläen-Weltgeschichte Eine Universalgeschichte
Herausgegeben von Golo Mann, Alfred Heuß und August Nitschke
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
XI. Summa historica
XI. Summa historica Die Grundzüge der welthistorischen Epochen Herausgegeben von Golo Mann, Alfred Heuß und Ernst Wilhelm Graf Lynar
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
Ernst Wilhelm Graf Lynar
Einleitung
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
11
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
Der Abschluß einer »Weltgeschichte«, die wie die unsere im Untertitel den Begriff der Universalität verzeichnet, wirft unvermeidlich die Frage auf nach Sinn und Einheit in der Vielfalt der geschilderten Ereignisse in den Jahrtausenden – oder verlangt doch nach einem Fazit. Ein solcher Versuch ließ sich offenbar nicht in einem einzigen Essay oder in bündigen Worten bewerkstelligen. So ist ein Band daraus geworden: Summa historica – ein zugleich anspruchsvoll und bescheiden klingender Titel. Anspruchsvoll, weil er behaupten könnte, die ganze »Summe« der Geschichte zu geben, und bescheiden, weil er Zurückhaltung anzeigt und nicht Einheit oder gar »Wesen« des Geschichtlichen zum Thema erhebt. Gleichwohl trifft beides ungefähr die Aufgabe, die diesem Bande zugedacht ist. In den vorangegangenen zehn Bänden unserer Weltgeschichte sind die Ereignisse, ist menschliches Schicksal von der Entstehung des Menschen bis auf die Gegenwart beschrieben, sind auch kausale Zusammenhänge in den Epochen und zwischen ihnen dargestellt worden. Doch machten sie nur Einzelnes verständlich, mag es noch so großartig gewesen sein oder lange nachgewirkt haben. Fragen nach dem Grunde der Geschichte drängen sich auf, nach ihrem Sinn und Ziel, die sich in philosophischer Spekulation zu verlieren drohen oder als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
13
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
13
moralischer Appell an die Gegenwart den Kontakt zum historischen Tatbestand preisgeben müssen. Einheit und Ziel der Weltgeschichte, jahrhundertelang der unbezweifelte, weil von Gott gegebene Rahmen menschlicher Existenz, werden heute nur noch von dogmatischem Denken in Anspruch genommen, so in dem scheinbar säkularisierten Gewand – obschon mit gleichem chiliastischen Pathos – der marxistischen Geschichtsauffassung. Auch die Vorstellungen von Einheit, die einer noch im christlichen Glauben wurzelnden »Geschichte als Heilsgeschehen« notgedrungen entsagten und sie in zyklischen Bewegungen der verschiedenen Kulturen oder Zivilisationen zu sehen meinten (Spengler und Toynbee), betonten über Gebühr die formale Vergleichbarkeit. Gewiß deutet der Umstand auf »Einheit« hin, daß zu allen oder doch fast allen Zeiten »Staaten«, Könige, Herrschaft waren, daß die Menschen ihrem Zusammenleben irgendeine Form gaben. Sobald aber Inhalt und Sinn, also das Selbstverständnis der Menschen in ihrer Zeit, in Frage steht, überwiegt die Vielfalt der menschlichen Hervorbringungen; ebenso stellen sich dann die Einflüsse, welche die Epochen miteinander zu verbeinden scheinen und sich oft über Jahrtausende hin verfolgen lassen, immer mehr als Teilaspekte heraus, während das »Ganze« um so unschärfer wird, je klarer sich seine einzelnen Bausteine abzeichnen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
Jenen Bausteinen der Geschichte aber, dem Einzelgeschehen mit seinen Ursachen und Folgen, gilt heute vornehmlich das historische Interesse, worüber das umfassende Ganze vernachlässigt wird, bisweilen auch völlig aus den Augen gerät. Der Spezialist und Fachmann in Einzelfragen scheint allenthalben zu dominieren und den universalen Forscher verdrängt zu haben. Es wären viele Gründe dafür anzuführen, die hier nicht alle aufzuzählen sind. Aber eines fiel auf in den Berichten der Weltgeschichte, nämlich daß immer noch Unkenntnis in Einzelheiten eingestanden wurde, und dies selbst in Epochen, denen sich bereits seit Jahrhunderten die Forschung widmet und, wie es schien, in ihnen ganz zu Hause war. Hinzu kamen dann noch Bereiche, die nur am Rande interessierten oder überhaupt noch unerschlossen waren: Indien, auch China und vor allem die bislang »stummen« Kontinente, welche die universalhistorischen Versuche bis zu Hegel und Ranke nicht kannten oder nicht angemessen einbezogen. Die moderne Geschichtswissenschaft hat mehr Stoff zu bewältigen und differenziertere Fragen zu beantworten als jemals zuvor. Als dann auch »Weltgeschichte« sowohl konkreter wie umfassender genommen wurde, schienen sich nur die zyklischen Theorien als Ausweg aus dem Dilemma anzubieten. Aber der menschliche Sinn für Einheit sträubt sich, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
14
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
die Konsequenzen daraus zu ziehen und sich mit einem historischen Pluralismus zu begnügen, der die Ereignisse an verschiedenen Plätzen der Welt und zu verschiedenen Zeiten der Geschichte säuberlich trennt, sofern keine kausalen Beziehungen feststellbar sind. Immerhin haben diese Ereignisse das eine gemeinsam, daß Menschen daran beteiligt waren, die vielleicht vage voneinander wußten und gelegentlich sogar miteinander in Berührung traten, auch wenn es zu keinem ständigen Austausch von Ideen und Sachen kam. Ein Überwinden jenes isolierenden Pluralismus setzt voraus, daß menschliches Dasein zu allen Zeiten im Guten wie im Bösen, in der Erfüllung wie im Scheitern sinnerfüllt abgelaufen ist. So ist denn das Thema dieses Bandes, der besonderen Weltauffassung, dem Verständnis von Zeit und Geschichte, von Religion und Recht und Gesellschaft nachzuforschen, die den Menschen einer Epoche diesen Sinnzusammenhang ihres Daseins vermittelten: den »Grundzügen«, die den Erscheinungen einer Epoche Einheit verliehen und sie für uns verstehbar machen. Ein solches Unternehmen zwang zu Beschränkung: Die »vorhistorischen« Kulturen mußten unberücksichtigt bleiben, ebenso die »stummen« Kontinente insgesamt, die erst unter dem Einfluß des modernen Europa-Amerika als politische Akteure in die Geschichte eingetreten sind; als beispielhaft für sie ist Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
14
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
nur Afrika miteingeschlossen worden. Indem die Summa historica den Grundzügen der verschiedenen Epochen nachgeht und die vielfältigen Sinnzusammenhänge nicht zugunsten einer äußeren Einheit verdeckt, sondern sie im einzelnen zu erfassen sucht, wird die gemeinsame Basis alles Geschichtlichen sichtbar: die schöpferische Qualität des historischen Menschen. Aber noch bleibt eine begriffliche Schwierigkeit zu beheben. Die Geschichte Indiens, Chinas, auch die Ostroms und des Islam sind nicht in dem Sinne »Epochen« wie etwa »Altertum«, »Mittelalter« und »Neuzeit«, so problematisch diese Begriffe heute auch sein mögen. Gleichwohl ist hier eine vergleichbare innere Einheit zu erkennen, nur war sie von größerer Dauer und nicht von immer wieder auftretendem Wandel unterbrochen. So schein es zulässig, sie gleichfalls unter dem Begriff »Epoche« zu verstehen: Epoche also nicht nur als zeitlich begrenzten Abschnitt, worin sie sich ja auch im allgemeinen Sprachgebrauch nicht erschöpft, sondern mehr im Sinne der Toynbeeschen »Zivilisation«. So gesehen, sind auch sie »welthistorische Epochen«, gemäß der Aufgabe unseres Bandes. Wir wollten uns hier nicht auf die Frage einlassen, wann Geschichte »beginnt«, was zum Entstehen der »Hochkulturen« geführt hat, zumal nachdem jüngste Funde im Vorderen Orient (Catal Hüyük) die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
14
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
bisherigen Kenntnisse und Vorstellungen darüber in Frage stellen. Genüge es zu sagen, daß die nur in Artefakten, Werkzeugen, Kultgegenständen und Gebäuderesten greifbaren Zeiten und deren Menschen auf unsere Fragestellung keine Antwort geben. Erst da, wo das Bild nicht mehr nur Kultgegenstand ist, sondern auch Mitteilung enthält und schließlich die Schrift hinzutritt, werden Beziehungen der Menschen zur Welt sichtbar, zum Göttlichen und – direkt oder indirekt – zu sich selbst. Jede Scheidelinie für diesen Beginn wirkt zufällig, und dies um so mehr, sobald man sich konkret auf die Sache einläßt und Fragen vorerst unbeantwortet bleiben müssen, wie sie Siegfried Morenz auf den ersten Seiten seines Beitrags aufwirft, Fragen etwa nach den Gründen dafür, daß in Ägypten und in Vorderasien nahezu gleichzeitig die ersten Hochkulturen entstehen, oder nach dem Zusammenhang zwischen diesen beiden Brennpunkten des Alten Orients. Und doch reichen die Kenntnisse von diesen Jahrhunderten aus, um das wahrhaft Neue dieser Reiche und ihrer Kulturen verständlich zu machen, eben das, was sie vom Vorhergegangenen grundsätzlich unterscheidet und eine Zäsur rechtfertigt, wie sie in der Chiffre »Beginn der Geschichte« bezeichnet ist. Schrift und Abbildung vermitteln das großartige Schauspiel einer nun einsetzenden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
15
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
Individualisierung – zuerst in großen Herrschergestalten, dann in Priestern, Gelehrten, Feldherren, Künstlern. Doch ihre Form ist fremd, ihr Gehalt nicht unmittelbar zugänglich; Begriffe und Vorstellungen müssen zu Hilfe genommen werden, die aus späteren Epochen stammen, aus eindeutig umrissenen Phänomenen gewonnen sind. Um aber das Besondere zu bewahren, wendet der Autor eine Methode an, die die Befangenheit moderner Sicht möglichst ausschalten soll: Er läßt den Alten Orient sich in der griechischen Antike spiegeln. Was uns in Griechenland gleichsam »voll entwickelt« entgegentritt, findet sich in Ägypten teils in Ansätzen und ähnlich, teils aber vom Grunde her verschieden. Die Schrift, noch ohne Vokale und deshalb für uns ohne Klang, verzeichnet erste Ereignisse und Gestalten, die in der Zeit fixiert werden: frühestes Bewußtsein von Geschichte, das später dann in der Gliederung der königlichen Dynastien eine feste Form findet. Das Königtum wirkt als ein Brennpunkt des ägyptischen Lebens, dessen anderer die Großgesellschaft ist. Vom Königtum geht alles Kultische, alles Recht aus, empfängt die Gesellschaft gleichsam ihr Dasein, und umgekehrt strömt im »Großen Haus« alles das zusammen, was im Gesellschaftlichen entsteht und was sich hier abspielt. Noch fehlt die Familie, das autonome Sippengefüge, das so entscheidend Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
15
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
dem griechisch-römischen Altertum das Gepräge gibt. Die zwischenmenschlichen Beziehungen bedürfen keiner sie heiligenden Weihen oder formalisierenden Rechtsakte. Weihe und Recht fließen aus dem göttlichen Recht, der göttlichen Ordnung und Wahrheit: aus der Maat, die nicht nur den König erhöht, sondern auch seiner Herrschaft Grenzen setzt. Von diesem göttlichen Grund und Zweck der Gesellschaft oder des »Staates« – über Bedeutung und Interdependenz von Königtum und Maat ist noch vieles offen – gehen Traditionen aus, die das tägliche Leben der Ägypter bis in die Einzelheiten hinein bestimmen, überwacht und bewahrt von einem Priesterstand, der im letzten ebenfalls im König seinen Ursprung hat und deshalb wie dieser streng geschieden von der Gesellschaft seines Amtes waltet. Auf diesen Tatbestand weist Morenz besonders hin, wenn er untersucht, weshalb die ägyptische Gesellschaft und Kultur fast über Jahrtausende hinweg den gleichen stilisierenden Formen verhaftet bleibt. Selbst die bisweilen auftauchenden Abweichungen von den durch Maat und Überlieferung geheiligten Normen – etwa in Amarna und auch sonst – zeugen von der Kraft der Tradition, nicht von mangelhafter Begabung oder Primitivität jener Kultur, die im Gegenteil zu den sublimsten Äußerungen fähig war – sofern man sie nur versteht. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
15
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
16
Anders als in Ägypten und in den Reichen des Vorderen Orients hat sich im antiken Griechenland schon früh und ohne Vorläufer ein »weltliches«, politisches und kulturelles Leben entwickelt, das nicht nur für das Altertum, sondern bis in die Gegenwart nachwirkend gänzlich neue Grundlagen schuf. Von der griechischen Polis ausgehend, grenzt Alfred Heuß die griechisch-römische Antike mit dem Begriff der »Stadt« ein und stellt sie unter das Spannungsverhältnis der Phänomene »Herrschaft« und »Freiheit«. Griechenland tritt nach der Dorischen Wanderung in einer Vielzahl von Stadtstaaten in Erscheinung, während sich das Stammesgefüge nur noch in den Randgebieten erhält. Auch Rom ist in seinen Ursprüngen eine Stadt und bleibt es, bis die städtische Freiheit des Civis Romanus im spätantiken Zwangsstaat verschwindet und sich das Schwergewicht der römischen Zivilisation auf das flache Land verlagert: Damit nimmt aber auch die Antike ihr deutlich sichtbares Ende. Die besonderen Herrschaftsformen der griechischen Staaten, zunächst als Geschlechterpolis, später sich zur Genossenschaft der Politen »demokratisierend«, erbringen Formen der »Freiheit«, die weder für die Inhaber der Macht – sie sind zugleich Subjekt und Objekt der Herrschaft, Herrschende und Beherrschte zugleich – noch für den Untertan durchdachter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
16
Sicherungen bedurften. Freiheit ist unreflektierter Tatbestand auch da, wo durch Areté, durch höheres Menschentum, legitimierte Herrschaft erduldet wird. Dies bedeutet nicht, daß jede Unterdrückung fehlte. Ganz im Gegenteil. Aber sie war niemals von Dauer. Selbst die mit allen Machtmitteln ausgestattete Tyrannis, eine fast regelmäßige Erscheinung in der griechischen Geschichte, konnte sich nur selten länger halten, als die innenpolitische Krise dauerte, der sie ihre Existenz verdankte. Der ständige Wechsel in den herrschenden Personen und Gruppen war es, der jenes wie von selber ausgewogene Verhältnis zwischen Herrschaft und Freiheit gewährleistete. Er durchzieht die ganze griechische Geschichte bis zum Beginn des Hellenismus, im Grunde sogar bis zum Auftreten der Römer im östlichen Mittelmeerraum, denn auch die hellenistischen Reiche hatten kaum zwei Jahrhunderte Bestand. Und er ist auch einer der Gründe, weshalb es keiner griechischen Stadt gelang, trotz aller außenpolitischen Unternehmungen eine Großmacht zu werden und etwa Griechenland zu einen. Im Gegensatz hierzu war die römische Expansion von Anbeginn auf Dauer angelegt. Die unterworfenen oder neugegründeten Städte wurden in ein enges, detailliert geregeltes Vertragsverhältnis genommen, das deren Bewohnern schließlich die Gleichstellung mit den Bürgern Roms einbrachte. Und die innere Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
Stabilität und Kontinuität der römischen Politik gewährleistete eine kraftvolle, in ihrer sozialen Position kaum je umstrittene Oberschicht, der Senatsadel, der sich bezeichnenderweise erst nach dem Ständekampf konsolidierte: in der Republik. Ihr Element der Freiheit bezog die römische Republik einerseits aus dem Gegensatz zum tyrannischen Königtum der Frühzeit und andererseits aus einem besonderen Schutz, den sie gegenüber der beträchtlichen Magistratsgewalt dem Individuum gewährte – erstmals in der Antike ausdrücklich. Diese Freiheit gab den Raum ab, innerhalb dessen sich die Macht des Senatsadels gegenüber dem »Volk« zu bewähren hatte. Sie verlieh der Republik einen Glanz, den sie auch noch in den Augen der Nachgeborenen behielt. Denn selbst das römische Kaisertum bedeutete nicht die völlige Preisgabe der Freiheit. Es war überhaupt keine selbsttragende Institution; stets hatte es sich gegenüber dem Senat – nach wie vor der Grundlage des Staates – und gegenüber einem öffentlichen Konsensus zu behaupten: »In der genuinen Überzeugung seiner Zeitgenossen gehörten, wie Tacitus sagt, principatus und libertas zusammen.« Diese innere Kraft der römischen Politik stieß im ersten Ausgriff auf ein wenig entwickeltes Völkergemisch, das zunächst unter Zwang, bald im Wandel der prägenden »Romanisierung« zu einer Einheit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
17
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
zusammenschmolz und zur Basis des Imperium Romanum wurde. In diesem letzten und vollendeten Großmachtgebilde der Antike haben die Römer nicht nur fast alle ihnen zu jener Zeit bekannten Völker unterworfen, sondern sie haben es darüber hinaus verstanden, die Unterworfenen von der Unvermeidlichkeit ihrer Herrschaft zu überzeugen: Das Imperium Romanum verkörperte die erste »Weltordnung« der Geschichte, deren Werden und Vergehen als Modell für das Geschichtsbewußtsein bis weit über das europäische Mittelalter hinaus wirksam blieb, deren Universalität jedoch seit Konstantin in ihrem eschatologischen Heilscharakter begründet lag und deshalb die nichtchristlichen Reiche und Kulturen, dazu aber auch das romfeindliche Byzanz ausschloß. Dem Grunde nach anders, doch kaum weniger entwickelt zeigt sich in dem Beitrag von Wolfgang Bauer die geschlossene Einheitlichkeit der chinesischen Geschichte. Die sporadischen Kontakte Europas mit China, das noch bis ins späte 19. Jahrhundert hinein als »gleichsam außerhalb der Weltgeschichte« (Hegel) liegend angesehen wurde, vermittelten gänzlich unzusammenhängende Kenntnisse von diesem riesigen Land und führten zu den seltsamsten Mißverständnissen, die von grenzenloser Bewunderung (Marco Polo, später Leibniz und Voltaire) bis zu spöttischer Verachtung reichten. Was von außen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
17
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
besehen als naturhafte, geschichtslose Unbeweglichkeit erscheinen konnte, erweist sich in der Darstellung Bauers als das Ergebnis einer ungewöhnlichen Beharrungskraft des chinesischen Geistes. Schon die Unterscheidung zwischen dem Begriff »Reich« als einem unzerstörbaren, wesentlich kulturellen Kontinuum und dem ständigem politischem Wechsel unterworfenen »Staat« zeugt davon und wirkte zugleich stabilisierend und erhaltend, zumal die geschützte geographische Lage die Kenntnis von fremden Kulturen fernhielt und die Vorstellung vom »Reich der Mitte« bestärkte. So war China in der Lage, sich das Fremde in Gestalt der verschiedenen Eroberer kulturell zu assimilieren, während es sich politisch in sich zurückzog, nachgab und auf diese Weise das spezifisch Chinesische durch alle politischen Fährnisse hindurch zu bewahren vermochte. Bewahrend wirkte auch die sehr alte chinesische Historiographie, die wie nirgendwo sonst mit dem Denken und der Welterfassung in China verwoben war. Die Vorstellung von Geschichte ist von einem besonderen Zeitbegriff geprägt, der sich auch in der Sprache ausdrückt. »Zeit« wird nicht wie im europäischen Abendland gleichsam »eindimensional« erfahren, als klare Scheidung zwischen einem Gestern und einem Morgen, die von dem gegenwärtigen »Zeitpunkt« getrennt sind, sondern als zweidimensionale Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
17
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
18
»Zeitfläche«, auf der die Gestalten und Ereignisse die zeitliche Orientierung ermöglichen und deshalb zur Bestimmung des Datums herangezogen werden. So ist Vergangenheit stets gegenwärtig und das Zukünftige immer schon in Ansätzen vorhanden. Anderes noch wird in dem an Gedanken so reichen Beitrag des Verfassers angeführt, das zu der Kontinuität der chinesischen Geschichte beitrug: etwa die Verankerung der Geschichtsbetrachtung in Kosmologie und Naturgeschehen, die Bedeutung der Sprache, der Schrift vor allem, schließlich die sozialen und politischen Strukturen, die in den Perioden der Fremdherrschaft das Eigenständige vor Überfremdung schützte. Und so drängt sich zum Abschluß die Frage auf, ob das moderne China nach der Überwindung des »Kolonialismus« und mit einem Regime, das von einer dem europäischen Abendland entlehnten Philosophie bestimmt ist, noch Gemeinsamkeiten erkennen läßt mit dem China der Geschichte. Zwar ist die politische Wirklichkeit des heutigen China um Welten von der des alten unterschieden, doch scheinen die in ihr mächtigen Ideale in neuer Form alter chinesischer Besitz. Auch Indien vermittelt den Eindruck von ungeschichtlicher Bewegungslosigkeit, zumal sich hier auch erst in jüngster Zeit eine bewußte Beziehung zur Geschichte herausgebildet hat – unter dem Einfluß der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
18
europäischen Kolonisatoren. In der Tat liegt das entscheidende Ereignis der ganzen indischen Geschichte in vorhistorischer Zeit: Es ist das Eindringen und Seßhaftwerden der Aryas in Nordindien und dann die Ausbreitung ihrer Kultur auf dem ganzen Subkontinent. Ihnen und ihren religiösen Vorstellungen ist zu danken, was später sich in den großen indischen Religionen und philosophischen Lehren entfaltete. Tief im Religiösen wurzelnd entwickelte sich eine Gesellschaftsordnung, die schließlich, wie Herbert Härtel als Fazit seines Beitrags herausstellt, der indischen Geschichte die den Eroberern widerstehende Kontinuität verlieh. Nicht allen Eroberern: Als einziger vermochte der Islam sich gegenüber der Assimilationskraft des Hinduismus zu behaupten und erzwang dann auch folgerichtig mit der Gründung des islamischen Staates Pakistan die Teilung des Kontinents. Hinduismus, ein europäischer, erst seit dem 19. Jahrhundert geläufiger Begriff, bezeichnet nicht eigentlich die indische Religion, sondern richtiger die Gesamtheit der indischen Kultur, also auch ihre Gesellschaftsordnung, in der bezeichnenderweise die Brahmanen, die Priesterschaft, den höchsten Rang einnahmen. Das indische Denken betätigte sich in großartigen philosophischen Spekulationen und mystischer Kontemplation, mißachtete darüber aber die aktuelle Wirklichkeit, deren Ablauf dem Kharman, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
der »fortwirkenden Tat« des Einzelnen, unterworfen ist. Das Dasein des Menschen, eingegrenzt in seiner Kaste, wird für ihn erfahrbar nur als moralisches Resultat seines Verhaltens im vorangegangenen Dasein: als Strafe in der Wiedergeburt in einer niedrigeren Kaste oder als Belohnung in einer höheren – nach der unerschütterlich gültigen Norm des Dharma. Vielleicht, so mag man fragend anfügen, liegt hier der Grund, weshalb gerade die indische Intelligenz sich im vorigen Jahrhundert so vorbehaltlos den säkularisierten Ideen aus Europa hingab, um darin ein Moment des Wandels und wohl auch der »Freiheit« zu erfassen, denen in der traditionsbestimmten indischen Gesellschaft kein Raum gewährt war. Ebenso aus Europa kamen die modernen Forderungen der Politik, die auf dem Grunde eines neuen Nationalgefühls zum ersten Widerstand gegen die englische Kolonialmacht führten. Europäische Autoren waren es auch, die in Indien das Bewußtsein von der eigenen Geschichte weckten. Alles dies gipfelte schließlich in der Gründung der Indischen Union, die – im Gegensatz zu Pakistan – eine rein weltliche Ordnung etablierte. Symbolhaft stellt der Autor den maßgebenden Exponenten dieser dramatischen Entwicklung, Mahatma Ghandi, mit dessen eigenen Worten heraus, in denen alle die Probleme einer Modernisierung der traditionellen indischen Ordnung wie in einem Brennspiegel Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
18
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
zusammengefaßt sind, einer Ordnung, die nun in neuen Formen in einem weltlichen Staat und in einem weltlichen Zeitalter zu bestehen hat. Die Preisgabe von Althergebrachtem, etwa dem Kastenwesen, stellt das moderne Indien vor Fragen von säkularer Tragweite. Gleichzeitig gewinnt es jedoch seine Selbstsicherheit zurück in einem Bewußtsein von indischer Nationalität und indischer Geschichte in bislang unbekannter Intensität. Auch die islamische Welt gründete auf einer religiös bestimmten Gesellschaftsordnung, der umma, die, wie Montgomery Watt hervorhebt, zwar dem Vorbild des arabischen Stammes folgend, sich aber in städtischer Umgebung aus der Anhängerschaft des Propheten Muhammad gebildet hatte und auch späterhin ihren städtischen Charakter behielt. Obwohl der Islam schon in den ersten zwei Jahrhunderten seines Bestehens im »Heiligen Krieg« sich die Länder bis weit nach Osten und die Küstengebiete des Mittelmeers bis nach Spanien unterwarf, legte sich die umma – anders als die oberen indischen Kasten über die Ureinwohner – nicht als geschlossene Herrenschicht über die Unterworfenen, sondern stand zumindest allen Arabern offen. Den Andersgläubigen wurde gegen Tribut ein mehr oder weniger ungestörtes Leben im Schutz der umma zugesichert. So gab es allenthalben im islamischen Reich nichtmuslimische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
19
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
Gemeinden wie etwa die »Schriftbesitzer«, die Christen verschiedenster Denominationen und die Juden, die erst im Laufe der Jahrhunderte, angezogen durch die politischen Vorrechte und das höhere Prestige, das die Zugehörigkeit zur umma mit sich brachte, dem Islam beitraten. Diese christlichen und jüdischen Gemeinschaften in Syrien und im Irak verwalteten jedoch das Erbe der hellenistischen Bildungstraditionen und wirkten damit unbeschadet ihres Glaubens in die zunächst rein arabische umma hinein; ebenso dann auch die persischen Bildungselemente, und es entfaltete sich auf der schmalen Basis des arabischen Kulturbeitrags die universale islamische Geisteswelt, die, seit den Kreuzzügen Partner des europäischen Abendlandes, ihm nicht nur Schriften der griechischen Philosophie weitergab, sondern es auch zu theologischen und philosophischen Auseinandersetzungen herausforderte. Im Innern der islamischen Welt behielt jedoch der arabische Konservativismus die Oberhand und schuf sich in der »Tradition« eine Instanz, die auf die umma gestützt und sie bestimmend, die über die Jahrhunderte reichende Kontinuität des Islams gewährleistete. So konnte es von außen scheinen, als sei diese Welt in formalistischer Spekulation erstarrt, zumal nachdem der Zusammenprall mit den europäischen Mächten im 19. Jahrhundert seine innere politische Schwäche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
19
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
20
offenbart hatte. Gleichwohl ist heute der Islam überall da im Vordringen begriffen, wo sich unter dem Einfluß der europäischen Kolonisation die alten ländlichen Religionen und die Stammes- und Sippenbindungen aufgelöst haben. Seine traditionelle Gegnerschaft zum Christentum könnte ihn den Bewohnern der ehemaligen Kolonialgebiete als die antieuropäische, antikolonialistische Religion schlechthin empfehlen, und der Autor möchte die Möglichkeit nicht ausschließen, daß der Islam eines Tages machtvoller wirken könnte als jeder arabische oder afrikanische »Nationalismus«. Das Byzantinische Reich und dann »Byzanz nach Byzanz«, seine Nachwirkungen also in der slawischen Welt, sind das Thema Berthold Rubins. Obwohl ebenso in der griechisch-römischen Antike wurzelnd wie das europäische Abendland, war Byzanz lange Zeit gleichsam am Rande der Weltgeschichte placiert. Die Teilung des Römischen Reiches und die Spaltung der Christenheit hatten gemeinsam dazu beigetragen, die fast tausendjährige Geschichte dieses Reiches aus der historischen Sicht Europas zu verdrängen. Es überrascht, wie spät hier die Forschung einsetzte, wie lang und nachhaltig das aus dem religiös-politischen Kampf der Spätantike und des Mittelalters resultierende Bild von Byzanz wirksam blieb, dessen Dahinschwinden die von Rubin dargestellte Geschichte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
20
dieser Forschung spiegelt. Das »griechische Rom«, wie sich Byzanz schon im 9. Jahrhundert verstand, bewahrte gleichwohl altrömische Traditionen, wie den Gottkaiser in christlicher Abwandlung, oder auch republikanische Elemente, etwa die Akklamation bei den Kaiserwahlen und die »Zirkusparteien«. Wenn der Autor sich nicht nur auf die Grundzüge des Byzantinischen Reiches beschränkt, sondern auch die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen behandelt, vielleicht ein wenig ausführlicher behandelt, als es in diesem Bande angemessen erscheint, so deshalb, weil er wohl nur die großen Ereignisse und das, was weithin sichtbar nach außen gewirkt hat, als bekannt voraussetzen durfte. Aber erst die inneren Bedingungen, oft Einzelheiten nur, ergeben ein ausgewogenes Bild. Besonders das Fremde daran ist häufig als dekadent, als »orientalisch« abgewertet worden. Hier erhält es einen neuen Sinn, indem es sich einfügt in die Überlieferungen des Altertums, dann in die slawische Kultur wie nach Europa hinein ausstrahlt und dort erhalten bleibt. In der Tat hat Byzanz den »Orient«, die islamische und die persische Welt im Abwehrkampf wie in der geistigen Berührung als gleichwertig anerkannt. Ebenbürtig waren sowohl die Sasanidenherrscher wie die arabischen und türkischen Kalifen. Und was die Kunstgeschichte als byzantinischen Stil bezeichnet, bleibt in der Vereinzelung, in der er überall Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
in Europa auftritt, abstraktes Zeichen, solange die Gründe für seine Verbreitung nicht gesehen werden, eben das Bleibende an der weltgeschichtlichen Leistung von Byzanz: »Der Herrschaftsbereich des byzantinischen Geistes«. In dem Beitrag von Herbert Grundmann »Über die Welt des Mittelalters« befinden wir uns wieder auf traditionsgesichertem Boden. Und doch verstanden die Menschen jener Jahrhunderte ihre Zeit nicht als »Mittelalter«. Sie glaubten, in einer Endzeit zu leben, im letzten Zeitalter aller irdischen Geschichte, das mit der Geburt Christi begonnen hatte und mit Seiner Wiederkunft enden würde. Gleichzeitig mit der Geburt Christi war auch das Imperium Romanum ins Leben getreten, das ihnen als das letzte Weltreich prophezeit war und dessen Tradition im fränkischdeutschen Kaisertum fortlebte: Die so eingegrenzte und auch politisch überschaubare Zeitordnung des Mittelalters wurzelte im Christentum und in der römischen Antike. Eine dritte Wurzel reichte in die eigene Vergangenheit, in die Überlieferungen der Germanen, der Kelten und Slawen. Aber sie war schriftlos, konnte nur in der Weitergabe von Mund zu Mund, in »Sagen« und Liedern wirken und wurde erst spät aufgezeichnet. Gleichwohl enthielt sie für die meisten die einzige Kunde von der eigenen Geschichte, denn das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
20
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
Geschriebene konnten nur Geistliche lesen, nicht die Laien, weder die Adligen noch gar die Bauern. Auch das Volksrecht wurde gesprochen, war nicht in Gesetzestexten festgehalten. Recht wurde »gefunden«, es war von Gott gewollt, ganz ebenso wie die Sitten und die soziale Ordnung: Weder vom Adel noch von Königtum und Geblütsrecht aber war etwas in der Bibel verzeichnet oder entsprach antiken Überlieferungen. Der landsässige Adel, der die erst spät entstehenden Städte immer gemieden hat, war in Ursprung und Eigenart nordeuropäisch. Er behauptete das ganze Mittelalter hindurch den ersten Rang – nicht nur im Sozialen, sondern ebenso im Geistlichen und im Politischen. Demgegenüber blieb das Kaisertum stets mehr universale Idee als alles umfassende Wirklichkeit, mehr Gegenstand endzeitlicher Sehnsucht als machtvolle Realität. Aber diese drei Wurzeln wuchsen nicht einfach ineinander, zu einem einheitlichen Ganzen; nicht am Beginn dieses Zeitalters und nicht in den späteren Jahrhunderten. Die Universalität des christlichen Glaubens durchdrang zwar das Weltverständnis der Menschen und ließ sie das konkret Erfahrbare geringschätzen: Auf den alten Karten ist Jerusalem, die heilige Stadt, als Mittelpunkt der Erde verzeichnet, und noch Kolumbus begab sich im Vertrauen auf den Missionsauftrag der Heiligen Schrift auf seine Fahrt. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
21
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
21
Aber schon die universale Idee vom Reich und vom römisch-deutschen Kaisertum bedeutete außerhalb der Reichsgrenzen, in Frankreich oder England, oft nur herausfordernde Anmaßung, und die partikularen Traditionen der Reichsfürsten und der in allen Stämmen verschiedenen Volksrechte bildeten bis ins Spätmittelalter hinein machtvolle Widersacher der Einheit im Innern. Latein, schon längst keine Volkssprache mehr, war Sprache der Bibel, des Gottesdienstes, an deren Gehalt die Laienwelt nur an Sonn- und Festtagen in den Predigten, in Altarbild und den Allegorien der Kirchenfenster teilhatte. Herbert Grundmann ergänzt, erweitert das vertraute Bild des Mittelalters der lateinischen Bücher und Geschichtsquellen um die ebenso vertrauten, aber häufig vor allem als Dichtung verstandenen Elemente der Traditionen aus Sage und Lied, die der überwiegenden Mehrheit der Menschen jener Zeit fast ausschließlich den Rahmen und Maßstab ihres Lebensalltags boten. Ohne zu vereinfachenden Formeln zu greifen, schildert uns Grundmann die bei aller universalen Geschlossenheit im Geistigen und Geistlichen oft bis in die Tiefen zerrissene Wirklichkeit einer Zeit, die auf das Ende der irdischen Welt und auf die Wiederkunft Christi wartete und gleichzeitig Voraussetzungen schuf für ein Neues, das sie nicht wollte und das ihr vom Grunde auf fremd war. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
22
Das Mittelalter hat nicht unter äußerem Druck sein Ende gefunden, wie Rom etwa oder Byzanz, es entwickelte von innen heraus Vorstellungen, die eine »neue Zeit« zuerst erahnten und schließlich zu erhoffen begannen. Schon früh war über mutabilitas geklagt worden, aber die zum Wandel drängenden religiösen Bewegungen konnten zunächst entweder in den Ordensgründungen aufgefangen oder als häretisch abgewehrt werden. Auch das Studium an den Universitäten, aus »christlicher Liebe zum Wissen« von frommen Gelehrten betrieben, ihr Nachdenken über die Vereinbarkeit des Widersprüchlichen, trug als erster Schritt zu rationaler Welterfassung den Keim des Wandels in sich und wirkte dann dank zunehmend sich differenzierendem Denken auf Veränderung hin. Und schließlich das immer selbstbewußter werdende Bürgertum mit Handel und Großgewerbe in nie gekannter Weite des Wirtschaftsdenkens. All dies und noch manches andere mußten zusammenkommen, ehe man überhaupt eine neue Zeit als irdische »Zukunft« und nicht mehr als Erfüllung der Heilserwartungen denken konnte, so die eigene Zeit erst zu einem »Mittelalter« machend. Abseits von diesen eigentlich »weltgeschichtlichen« Entwicklungen, hielten sich ganze Kontinente auf unter sich vergleichbarer, sich über Jahrhunderte gleichbleibender Zivilisationsstufe. Ihren Bewohnern Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
22
hatte sich »Zeit« noch nicht in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinandergelegt, sie unterschieden nicht irdisches Dasein und jenseitiges Sein, und erst in jüngster Zeit ist ihnen unter der Einwirkung Europas der Weg geöffnet worden, über sich selbst nachzudenken, sich als Menschen in der Welt zu begreifen und zu artikulieren, schließlich dank den Folgen zweier Weltkriege auch politisch agierend aufzutreten. Stellvertretend für sie steht in diesem Band Afrika, das der Essay Janheinz Jahns weltgeschichtlich einzuordnen unternimmt. Die neuen Staaten dieses Kontinents – ebenso wie die Asiens und wenig früher Lateinamerikas – treten erstmals als weltpolitische Partner auf, mit Entscheidungen und mit Taten, die auf die traditionellen Akteure der Weltgeschichte einwirken. Die Welt von morgen ist nicht mehr ohne diese Völker und Staaten zu denken, und das Verständnis ihrer Besonderheit wird das alte Europa, die vertrauten Weltkulturen in neuem Licht erscheinen lassen. Lange Zeit galt Afrika als bloßes Feld der Rasseforschung, wurden seine Bewohner nach biologischen Gesichtspunkten registriert und systematisiert: Ihr Verhalten erschien als Rasseverhalten. Als erster hat Janheinz Jahn gezeigt und entwickelt es hier in seinem Beitrag, daß hinter dem Schein des bloß Biologischen eine Kultur zu entdecken ist, deren elementares Lebensgefühl, noch ohne die Scheidung von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
Einzelmensch und Welt, von Leben und Tod bewußt zu vollziehen, ihre gemäßen und einzigartigen Ausdrucksformen fand. Die Berührung mit dieser fraglosen, widerspruchslosen Geschlossenheit eines Menschentums, das sich die Einheit mit der ungeteilten, als magisch durchwirkt empfundenen Natur erhalten hat, erweckt unser Interesse, nicht nur aus praktisch-politischen Erwägungen. Sie drängt auch zu der Frage nach den geistigen, kulturellen Bedingungen für »Zivilisation«, von der noch heute manche glauben, sie sei unvermeidlich entstanden und aus purem Zufall nur in Europa, sei beliebig und frei übertragbar. Wie immer die Antwort lautet, sie wird die ein wenig unkritische Abkehr von einem vermeintlich überholten Selbstbewußtsein Europas zu revidieren geeignet sein. Denn ohne Europa, so lautet Golo Manns erstes Resümee in seinem Beitrag, sähe der Planet etwa noch so aus wie vor fünfhundert Jahren, ohne Indien aber kaum anders als heute: Seit dem Beginn der Moderne ist Europa nicht mehr eine Kultur unter anderen. Was heute im weltpolitischen Vokabular geläufig ist, bezeichnete in den Jahrhunderten der europäischen Moderne prägende Phänomene oder Sehnsüchte der Völker: »Staat«, »Nation«, aber auch »Nationalismus«, die eifersüchtige, hochfahrende Leidenschaft der Völker, welche die durch Tradition und Konvention geordnete Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
22
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
23
Staatenwelt Europas zerstörte, ohne einstweilen etwas Festes an ihre Stelle zu setzen. Golo Mann hat denn also die fast unlösbare Aufgabe übernommen, den weltgeschichtlichen Beitrag des modernen Europa zu definieren, einen Beitrag, zu dem selbstverständlich auch die amerikanische Variante gehört. In den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt er den Begriff der Emanzipation: Der europäische Geist, der geschichtsbewußteste, den es je gab, war zugleich der, der durch seine kritischen ebensowohl wie durch seine schöpferischen Leistungen den radikalsten Bruch mit der Geschichte – seiner eigenen Geschichte – vollzog und eben damit zum erstenmal eine eigentlich weltgeschichtliche oder menschheitsgeschichtliche Situation schuf. In ihr, seiner eigenen Schöpfung, ist seine Macht und Würde stark reduziert worden. Arnold Toynbee nennt es the dwarfing of Europe, die »Verzwergung Europas«. Die »Vereinten Nationen« sind ein Ausdruck davon: Verwirklichung einer europäischen Idee par excellence; Formalisierung einer erstmalig menschheitsgeschichtlichen Situation, deren Präsenz in einem New Yorker Wolkenkratzer; Institut jedoch, in dem die Europäer, samt ihrer mächtigeren nordamerikanischen Schwester-Nation, gegenüber Asiaten und Afrikanern in eine nach demokratischen Spielregeln nicht mehr zu meisternde Minderheit geraten sind. Es ist Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
einstweilen eine Minderheit nur nach diesen Spielregeln, entsprechend der Zahl der Staaten. Aber den Bevölkerungszahlen entspricht sie auch; und nach noch ein paar Jahrzehnten mag sie zur Unterlegenheit im Bereich wirklicher, keinen Spielregeln gehorchender Macht werden. Selbst dies Ende aber, versucht Golo Mann zu zeigen, würde immer die Frucht von Europas eigenen Taten sein. Es ist seine Wissenschaft, kraft derer China zu einem neuen Energie-Zentrum wurde und zum stärksten der Erde zu werden hofft. Es sind die von ihm geschaffenen Begriffe – Nationalismus, Souveränität, Revolution, Sozialismus –, die ihm aus Asien, Afrika, Latein-Amerika bedrohlich entgegenklingen. So wie im 18. Jahrhundert jeder europäische Duodezfürst sein »Versailles« besitzen wollte, will heute jeder radikale, chaotische, despotische Neustaat sich mit den ältesten wie neuesten Äußerungen abendländischer Macht schmücken: Herrschaft über irgendwelche Gebiete, die ihm nicht zukommen, etwa auch verbunden mit der »Vernichtung« jener, denen sie zukommen, Raketenwaffen, die Atombombe, »Erdsatelliten«. – Es ist kein Wunder, daß, angesichts eines so enttäuschenden Ergebnisses der großen Befreiung, der Autor keinen eindeutigen Optimismus mitzuteilen vermag. Dem Leser wird auffallen, daß Golo Mann die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
23
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
23
»Emanzipation«, die im Endeffekt zu alledem geführt hat, für wesentlich unvermeidlich hält. Nicht in jedem ihrer ausschweifenden Details, aber im Kern. Keiner der Versuche der Mächtigen, sie abzubremsen, von der frühen »Inquisition« bis zu den späten »Censuren«, sei geglückt, es seien alles nur Rückzugsgefechte gegen etwas auf die Dauer Unaufhaltsames gewesen. Aber eben darin, daß er notwendig war und die ihm selber unbekannten Fernziele unvermeidlich erreichte, fehlte es dem Kampf um Befreiung von der Autorität selber an Freiheit; und darum hat er Freiheit bis heute nicht erreicht. Viele Versprechen haben sich erfüllt; nicht aber das von einer Weltgeschichte, welche die Menschen bewußt und in Freiheit machen würden. Noch immer werden sie von dem beherrscht und weitergetrieben, was sie selber schufen. Die »Entfremdung« zwischen dem menschlichen Schöpfer und seinen Geschöpfen ist bedrohlicher als je. Freiheit, schließt unser Autor, könnte erst dann sein, wenn der politische Machtkampf aufhörte, wenn die zerstörte »Katholizität« durch eine neue, erdumfassende ersetzt würde und die Vertreter der Menschheit, in wirklich »vereinten Nationen« versammelt, fragten, was dem Menschen gut sei, was nicht – selbst wenn es möglich wäre –, und entsprechend handelten. Natürlich weiß er, daß dies die gegenwärtige Situation nicht ist; ganz im Gegenteil. Vielleicht aber durfte zum Schluß einer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Ernst Wilhelm Graf Lynar: Einleitung
Summa historica doch skizzenhaft das Erfordernis angedeutet werden, zu welcher die Weltgeschichte sich endlich verdichtet hat: aus einer zum erstenmal wahrhaft weltgeschichtlichen Bedingung eine humane, nicht bloß im äußerlichen Sinn universale und damit auch – es gibt kein besseres Wort – eine religiöse zu machen. Der Autor sieht nicht, daß diese Bedingung schon im Werden ist, sieht höchstens blasse Ansätze dazu. Er sieht nur, daß sie werden muß, sollen nicht Katastrophen eintreten, nach denen kaum noch einer »Weltgeschichte« zu schreiben oder zu lesen Lust haben wird.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
24
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Siegfried Morenz
Der alte Orient. Von Bedeutung und Struktur seiner Geschichte Dem Andenken an Albrecht Alt
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
25
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
27
Die Grundlinien und ihre Bedeutung Es ist ein Wagnis besonderer Art, den Alten Orient in all seiner Vielfalt und in der Unwegsamkeit weiter Strecken seiner historischen Landschaft aus der Fernsicht zu beschreiben. Denn niemand ist heute imstande, das umfangreiche und tief differenzierte Handwerk allein zu meistern, mit dem die Geschichte der Völker und Kulturen zwischen Nil und Tigris oder gar dem iranischen Hochland, zwischen Bosporus und Persischem Golf erforscht werden kann. Anderseits würden auch einem braintrust von Philologen, Archäologen und Spezialhistorikern oft genug unüberwindliche Schwierigkeiten gegenüberstehen, weil die Quellen einer rund dreitausendjährigen Geschichte räumlich, zeitlich und sachlich viel zu dürftig oder doch ungleichmäßig aufsprudeln, als daß man diesen gewaltigen Acker auch nur einigermaßen ausreichend und ausgeglichen bestellen könnte. Unstreitig am ergiebigsten ist unsere Überlieferung aus Ägypten und dem Zweistromland, die denn auch seit gut hundertfünfzig Jahren in bewundernswerter Weise freigelegt und nutzbar gemacht worden ist. Doch statt ein wohlverdientes Loblied auf die Leistungen der Orientalistik zu singen, müssen wir hier die Kehrseite der Medaille ins Blickfeld rücken. Was Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
27
Ägypten betrifft, so klingt seine Sprache für unsere Ohren nicht, weil die Schrift nur Konsonanten abbildet; wir bemühen uns, durch Kombination von Hilfsmitteln mit den Vokalen auch den Klang des Ägyptischen der pharaonischen Zeit zu erschließen. In der Literatur tasten wir uns an deren innere Form, die Metrik, eben erst heran; nur die Stilistik als Außenseite ist zur Zeit einigermaßen bekannt. Die bildende Kunst läßt trotz unabsehbar reicher Dokumentation auf lange Strecken nur annähernde Datierung zu; bis heute kann auch der erfahrene Stilanalytiker keineswegs immer auf die Beischriften verzichten, die durch Eigennamen (und Stammbäume) ein Bildwerk zeitlich bestimmen helfen. Die Eigenart der Geschichtsschreibung sperrt uns vom wirklichen Hergang der Dinge eher ab, als daß sie zu ihm hinführte. Das Recht ist uns vorläufig nicht kodifiziert überliefert und muß aus dem Spiegelbild unzähliger einzelner Urkunden von Rechtsgeschäften zusammenbuchstabiert werden, die Quellen zur Religion zeigen eine starke, ebenso bezeichnende wie doch auch täuschende Bevorzugung der offiziellen Kulte und des Totendienstes. Für das Zweistromland gilt das gleiche mit einigen Varianten: Die hier beheimatete Keilschrift ist eine Silbenschrift, gibt also auch die Vokale wieder und führt uns damit, vorsichtig gesagt, mindestens auf akkadischer Seite nahe an den einstigen Klang der in ihr geschriebenen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Sprache heran. Günstiger liegen die Dinge auch im Gebiet des Rechts, wo uns aus sumerischem so gut wie aus akkadischem Bereich Rechtscorpora überliefert sind – hat doch der weltberühmte Codex Hammurabi in den letzten Jahrzehnten dreifache Gesellschaft bekommen (von mittelassyrischen und hethitischen Gesetzen zu schweigen). Diese Vorteile werden freilich mehr als aufgewogen im Hinblick auf die nach außen offene und daher ungleich kompliziertere Geschichte der Lande um Euphrat und Tigris, deren zusätzliche Komponenten noch immer schlecht genug faßbar sind. In diesem Zusammenhang darf daran erinnert werden, daß wir über den weltgeschichtlichen Vermittler des Alten Orients an die Moderne, über Israel, durch dessen literarische Hinterlassenschaft geradezu beispielhaft einseitig unterrichtet werden. Die in ihrer Art einzige Schatzkammer des Alten Testaments hat, indem sie das für ihre Zwecke Brauchbare in die Grenzen des Kanons einengte, zugleich die Fülle altisraelitischer Literatur der Vergessenheit preisgegeben. Das Bild von Geschichte und Religion aber wird dort nach ideologischen Gesichtspunkten gezeichnet, die zwar ihrerseits eine intensive Wirklichkeit bekunden, aber in ihrem Sieb allzuviel an Tatsachen und Umständen verschwinden lassen. Genug davon – trotz diesem in den Grenzen des einzelnen Forschers und in Beschaffenheit und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
28
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
28
Umfang seiner und seines Nachbarn Quellen begründeten Bedenken scheint uns das Wagnis der Fernsicht geboten. Nur müssen sich die Leser mit dem Verfasser darüber im klaren sein, daß es sich bei deren Ertrag nicht um Zusammenfassung ungezählter Einzelheiten, sondern allein um den Versuch der Einsicht in gewisse Grundlinien handeln kann, die das Phänomen von außen umschreiben und von innen kennzeichnen. Was eine solche Fernsicht letztlich braucht, ist ein geeigneter Hintergrund, vor dem sich die Konturen der gewaltigen historischen Landschaft abheben. Wie sich der Naturwissenschaftler des Verfahrens der Kontrastdiagnose bedient, so suchen wir Struktur und Bedeutung der Geschichte des Alten Orients im Kontrast zu seinen westlichen Nachbarn und Nachfahren, den Völkern der klassischen Antike und speziell den Griechen, in zweiter Linie auch im wechselseitig erhellenden Gegensatz seiner Glieder zu erkennen. Bei alledem bitten wir zu bedenken, daß unsere Aussagen über Sachverhalte dieser oder jener Kultur des Alten Orients meist der Präzision ermangeln, die für Hellas und Rom oft erreichbar und seit langem erreicht ist. Um Punkt für Punkt die gleichen Bereiche herauszugreifen wie oben: Die Sprache der Hellenen klingt für unsere Ohren, und manchem klingt sein Homer ein Leben lang darin; die Literatur liegt in ihrem metrischen Bau bis in ihre feinsten Verzweigungen frei; die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
28
Bildkunst, der helfenden Beischrift meist entratend, ist in ihrer Stilgeschichte so durchleuchtet, daß Datierungen aufs Jahrfünft genau keine Seltenheit sind, die Geschichtsschreibung strebt dem doppelten Ziele zu: zu sagen, was ist, und das Geschehene begreiflich zu machen; das Recht ist später nach bis heute wirksamen Gesichtspunkten aufgezeichnet und kommentiert worden, und nur die Religion entzieht sich, ihrem Wesen nach, dem für die Forschung wünschenswerten Zugriff von allen Seiten – wobei es die Situation kennzeichnet, daß wir hier mit größerer Zuversicht von der persönlichen Frömmigkeit (oder Gottlosigkeit) eines profilierten Einzelnen sprechen können als im Alten Orient abseits der Propheten des Alten Bundes oder Zarathustras. Wenn das Geschäft freilich so mühsam ist und seine Handhabung so problematisch, wird man mit gutem Recht nach seinem Ertrag fragen. Nur wenige dürften sich damit zufriedengeben, daß etwa die Meisterwerke ägyptischer Kunst, die Leistungen zweistromländischer Wissenschaft oder die Elementargewalt israelitischer Religion eine Unterrichtung über die innere Beschaffenheit der Gesellschaft fordern, aus der sie erwachsen sind. Dennoch soll diese Zufriedenheit nicht gering geachtet werden. Sie zeugt vom gesunden Sinn, ja von der Lebenstüchtigkeit dessen, der bedeutende Formenwelten geistig nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
29
brachliegen lassen, sondern sich im Rahmen des Möglichen erkennend aneignen will. Wer nach dem geschichtlichen Leben fragt, das noch heute sichtbare Formen hervorgebracht hat, bricht aus unangemessener Isolierung der Dinge aus und wandelt für sich selbst museale Petrefakten zu lebendigen Zeugen der Vergangenheit. Von dieser Vergangenheit aber muß bekundet werden, daß sie in einem zweifachen Sinne bedeutend ist: einmal durch die Größe und Mannigfaltigkeit ihrer historischen Beispiele, zum anderen durch das mittelbare Fortwirken des Alten Orients als des Urahns der europäischen und heute weltweiten Zivilisation. Historische Beispiele Was das Gewicht historischer Beispiele betrifft, so ziemt es uns – aus sachlichen noch mehr als aus chronologischen Gründen – mit dem Hinweis auf das Phänomen des Entstehens einer Hochkultur zu beginnen. Sowohl im südlichen Zweistromland wie am Nil hat sich dieser faszinierende Vorgang in kürzestem Nacheinander vollzogen. Nun läßt sich eine solche Erscheinung ohnedies nur beschreiben, aber nicht in ihrem jeweils besonderen Zustandekommen erklären, und es darf zudem nicht verschwiegen werden, daß sogar bei der historischen Beschreibung noch immer genug im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
29
argen liegt. Der Durchbruch im Zweistromland ist, wichtig vor allem im Hinblick auf den ältesten Gebrauch einer Schrift, nach derzeitigem Forschungsstande ein paar Generationen vor dem in Ägypten erfolgten anzusetzen. Aber über die Frage einer Verbindung dieser beiden Kulturen, die als solche durch Handelsaustausch sicher ist, bestehen bezüglich der Wege und des Umfanges Meinungsverschiedenheiten, die sich der Natur der Überlieferung nach vorläufig nicht ausräumen lassen. Das betrifft auch das kardinale Problem der Schrift: Haben die Ägypter gewußt, daß und wie der für damalige Verhältnisse weit entfernte Handelspartner mit Bildern Sprache wiederzugeben vermochte? Oder sind sie ihrerseits allein auf die bahnbrechende Idee der Schrifterfindung gekommen? Haben vielleicht Bewohner des Zweistromlandes zwar zuerst Wirtschaftstexte geschrieben, Ägypter aber als erste historische Begebenheiten schriftlich festgehalten? Oder sollte man den Mut haben, auch in Ägypten einfache Aufzeichnungen wirtschaftlicher Art vor den historischen Dokumenten der Reichseinigungszeit anzunehmen? Ferner: waren die Schöpfer der zweistromländischen Hochkultur einschließlich der dortigen Schrift die nachmals hochberühmten »Sumerer«, und wenn ja, lebten sie in der entscheidenden Phase am Ausgang des vierten Jahrtausends seit längerem im Lande oder nicht? Wir müssen noch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
gründlicher fragen: Was ist überhaupt eine Hochkultur, gehört der Besitz einer Schrift mit all seinen Folgen für Staat, Gesellschaft und Institutionen wesentlich dazu? Oder reicht für dieses Prädikat ein Grad von Arbeitsteilung aus, der es erlaubt, Menschen für zivilisatorische Leistungen freizustellen und zu Formen zusammenzufassen, die unter den Begriff der »Stadt« mit ihren Befestigungen und aufwendigen sakralen Bauten gestellt werden können? Gilt aber dieser bescheidenere Anspruch, wie steht es dann mit Vorformen und womöglich mit einer langen neolithischen Werdezeit der altorientalischen Hochkulturen? Führen die Städte des vierten Jahrtausends am Euphrat geradewegs auf die »sumerische« Hochkultur hin, und darf man gar zum Beispiel die aufsehenerregende älteste Stadtanlage von Jericho (um oder kurz nach 7000 v. Chr.) in diese Reihe stellen (Band II, S. 575 ff., besonders 591 ff.)? Endlich: wie verhält es sich mit Städten im vordynastischen Ägypten? Der Leser lasse sich durch diesen Stil der Fragesätze, der mir der einzig redliche zu sein scheint, weil er noch ungelöste Probleme als solche formuliert, nicht entmutigen. Denn was außer Frage steht, wiegt dennoch schwerer: daß in Tat und Wahrheit am Euphrat und am Nil die ältesten Hochkulturen der Erde frei entstanden sind und daß wir ihr Entstehen den Umständen entsprechend mit einigem Erfolg zu beobachten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
29
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
30
vermögen. Vor allem tritt das intensive Schöpfertum klar zutage, das mindestens am Nil, aber wohl ähnlich in Mesopotamien in kurzer Frist vor allem zur Schrifterfindung sowie zur Struktur bildender Kunst führt und das in seiner revolutionären Durchschlagskraft neben den langsam heranziehenden Evolutionen nicht unterschätzt werden darf. Zum Phänomen des Ursprungs gesellt sich als zweites das der Besonderheit: Unbeschadet der FragWürdigkeit früher Verbindungen ist sicher, daß beide Hochkulturen einen ganz eigenen Weg genommen und übrigens gerade deshalb ein Kraftfeld von weiter und tiefer Wirkung gebildet haben. Der Alte Orient, sagt man, erscheint infolgedessen als eine Ellipse, deren Brennpunkte Ägypten und das Zweistromland darstellen. Im gleichen Bilde hat man das Hethiterreich eine Tangente genannt, die sich auf relativ kurze Zeit an dieses dauerhafte Gebilde legte. In dieser Partnerschaft bietet die nachmalige ägyptische Geschichte den Anblick eines verhältnismäßig einfachen und von außen wenig gestörten Laufes bei einer entsprechenden landschaftlichen, ethnischen und kulturellen Geschlossenheit. Die Geschichte der offenen Landschaft Mesopotamiens dagegen ist primär von den Wellen semitischer Einwanderer aus der Wüste ins Kulturland bestimmt, die sich schon sehr früh dem kulturschöpferischen Element der »Sumerer« zugesellt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
30
haben oder sogar von vornherein eine Rolle spielten, sekundär noch von den Zügen und temporären Herrschaften der Bergvölker aus dem Osten und Norden kompliziert worden. Man hat angesichts dessen früher von einer historischen Pseudomorphose gesprochen, der die wesentlich sumerische Zivilisation durch semitische Aneignung unterworfen gewesen sei. Fruchtbarer, auch einfach richtiger ist gewiß ein anderer Aspekt, der die Prägung und innere Steigerung einstiger semitischer Nomaden durch die Teilhabe an einer Hochkultur ins Licht rückt. Indem soeben das Element der Landschaft spürbar wurde, öffnet sich ein dritter Sachkreis: geographische Bedingungen auch der höheren Formen von Geschichte. Wir zielen dabei weniger auf die Lebensspender Nil oder Euphrat und auf die zivilisierende Kraft der Bewässerungsaufgaben, die die alljährlichen Überflutungen dieser Ströme stellten, sondern wenden uns, die Fülle der Gestalten andeutend, nach Syrien. Dort finden sich überwiegend kleine politische Gebilde, deren viele mit dem Namen »Stadtstaat« zutreffend bezeichnet sind. Nun hängen derartige Formationen sicher mit der zerklüfteten Landschaft zusammen, die in diesem Charakter der griechischen ähnelt, und es ist sicher richtig, eine der Wurzeln für die kleinräumige Polis auf syrischem wie auf griechischem Boden in ihren natürlichen Lebensbedingungen zu sehen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
31
Aber die Geschichte des Alten Orients selbst warnt uns vor zu einfachen Lösungen. Denn auch in der zusammenhängenden Landschaft am unteren Euphrat hat in der »frühdynastischen« Blütezeit Sumers der Stadtstaat als Form dominiert – ganz gleich, ob er möglicherweise schon damals zeitweise von größeren Machtzentren erfaßt war oder nicht. Es mag sein, daß die Bewässerung der Euphratebene (auch) partikulare Regelungen erlaubt hat, aber von hier aus bietet sich keine echte Erklärung des Phänomens an, das vielmehr in der gesellschaftlichen und zugleich geistigen Struktur liegen wird, wie es ja mutatis mutandis auch für die Griechen gilt. Waren die drei ersten Punkte mit Anfängen, Weichenstellungen und Voraussetzungen befaßt, so mag ein etwas längerer vierter abschließend die Entfaltung vergegenwärtigen: geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Es ist die Fülle der Gesichte, die den Betrachter fasziniert und ihm vielfältige Einblicke in die als »Regel« erscheinende Partnerschaft von Freiheit und Gesetz in historischem Geschehen gewährt. Unter ihnen erscheint der Aufbau von gleichartigen Akkorden auf den verschiedenen Grundtönen von besonderem Reiz. So zeigen die einigermaßen erkennbaren Mächte – im Grundton so differenziert wie Ägypten, Babylonien, Israel – den Zug zur Intensivierung des Bewußtseins und zum Individualismus mit allen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
31
Folgen für innere Bereicherung und zugleich bis zur Krise wachsende Anfälligkeit. Oder: die Geschichte Ägyptens hält die Idee vom göttlichen König bis in den Ausgang des Heidentums fest, relativiert sie aber geistig durch die Heraufkunft der transzendenten Gottheit und praktisch durch tiefe gesellschaftliche Wandlungen, ohne doch eine Gleichberechtigung im Religiösen auf den politischen Weg zu einer Art »Demokratie« leiten zu können (die in den Anfängen determinierte Großgesellschaft bleibt spätestens in einer Technokratie der Verwaltung stecken). Ferner: Ägyptische und mesopotamische Bildkunst finden im Schwung begnadeter Werdezeit ihre jeweilige Gestalt, so daß es für alle Perioden noch heute unmöglich ist, ein ägyptisches Kunstwerk mit einem zweistromländischen zu verwechseln oder anderseits deren gemeinsame Ebene gegenüber einem griechischen zu verkennen – und doch tut sich vor unseren Augen eine vollständige Stilgeschichte auf, die mindestens im Falle Ägyptens beispielhafte Bedeutung besitzt. Da sei sogleich hinzugefügt, daß uns diese alten Bereiche die Erfahrung vom Wert der Kunstgeschichte für den Historiker bestätigen. Dort, wo die Dingen anschaulich sind, lassen sich Wesen und Wandel ablesen, sofern man nur die Grammatik dieser Formensprache erfaßt hat. Das Hohelied der Form als Kriterium von Sein und Werden klingt aus weiter Ferne unüberhörbar zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
31
uns herüber. Was aber den Inhalt betrifft, so steht der Zuschauer dieses gewaltigen Spieles betroffen vor der Einsicht, daß gewiß nicht alles, wohl aber vieles Elementare und Wesentliche schon einmal dagewesen ist und daß der Originalität geschichtlicher Selbstverwirklichung Grenzen gesetzt sind, nachdem der Reigen der Hochkulturen einmal eröffnet war. Von der wirtschaftlichen Revolution des Neolithikums, die die aneignende Wirtschaftsweise zugunsten der produzierenden in den Hintergrund drängt und in der die tiefsten Wurzeln der Kulturen im altorientalischen Fruchtland liegen, führt ein langer, überreich bestückter Weg bis zu der letzten Erfahrung, daß geschichtliche Formen ihre Grenze haben, daß sich tragende Kräfte verzehren und ganz Neues an die Stelle des Alten tritt. Nach manchen Vorboten war es dem großen Alexander beschieden, den weiten Gebieten und der kulturellen Vielfalt des Alten Orients diese bittere Erfahrung zu bereiten. Das soll wiederum nicht heißen, Gewesenes habe sich einfach auslöschen lassen oder auch nur ausgelöscht werden sollen – wir werden vielmehr alsbald vom Gegenteil hören. Auf der Strecke begleitet uns, neben dem schon angedeuteten gesellschaftlichen Wandel, vor allem der große Säkularisierungsprozeß, in dem die Hochkultur aus dem Schoß der Religion geboren wird und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
heraustritt, so daß Kunst und Wissenschaft, Recht und Politik ihren eigenen Stil entwickeln. Freilich muß hier zugleich einschränkend gesagt werden, daß in Ägypten und Mesopotamien, von Israel ganz zu schweigen, die Säkularisierung ihre Grenze findet an der Gotteswirklichkeit, die mit tausend Fäden Kultur an Religion gebunden hält. Die Rolle der ars sacra in bildender Kunst, Musik und Literatur, die Beschwörungspraxis in der Medizin, der Eid als Selbstverfluchung und überhaupt das Gottesurteil im Recht, Politik als königlicher Vollzug göttlichen Auftrages sind bekannt genug und mögen als Beispiele genügen. Die zentralen Bereiche des Denkens und der Welt-Anschauung waren auf besondere Weise gebunden – Philosophie blieb in Theologie, Physik in mythischer Sprache geborgen und zugleich befangen oder erscheint geradewegs als religiöse Realität (Blitz als Waffe des Wettergottes). Die eminenten Leistungen der Griechen auf beiden Gebieten wurden denn auch schwerlich von ungefähr mit einer Glaubenskrise bezahlt, die der Preis der mindestens in diesem geschichtlichen Raum bisher einzigartigen Befreiung war. Es ist kein Zufall, daß Griechen und Römer dann zur Stillung ihrer Sehnsucht nach Heil und Sicherheit zeitlichen und ewigen Lebens Anleihe auf Anleihe bei Göttern und Kulten Ägyptens und Vorderasiens genommen haben. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
32
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Zum eigenen Stil der Politik, von dem wir sprachen und noch ein wenig weitersprechen wollen, gehört dann auch die Herausbildung von Formen für die zwischenstaatlichen Beziehungen. Wenn hier auch die Ideologie kräftig waltete und in Ägypten etwa Handel tunlichst als Tribut des Partners, Feinde im allgemeinen als Verbrecher oder Elende darzustellen liebte, so tat doch die Macht der Tatsachen ihre Wirkung. Die Tatsachen aber, und wenigstens das soll kurz in Erinnerung gerufen werden, hatten selbst das verhältnismäßig abseitige Ägypten immer wirksamer in den Kreis einer Völkerfamilie hineingeführt, deren Glieder aufeinander Rücksicht nehmen mußten. Heiraten der Höfe, paritätische Verträge, Austausch von Gütern und Personen (darunter Spezialisten, zum Beispiel ägyptische Ärzte), vor allem aber Gesandte waren das äußere Zeichen dafür. Zweimal ist es zu einer internationalen Diplomatensprache gekommen; diesen Rang gewann nach der Mitte des zweiten Jahrtausends das Akkadische, in der Zeit der späteren assyrischen, dann der neubabylonischen und persischen Oberhoheit (wohl bereits im 8. Jahrhundert beginnend) das »Reichsaramäische«. Trotzdem versteht es sich aus der Natur der Dinge, daß die Großmächte am Nil, an Euphrat und Tigris und auch das bisher nur eben erwähnte Reich der Hethiter im großen Halysbogen Sonderstellungen einnahmen. Dabei kam es zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
32
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
recht verschiedenen politischen Formen und Konstellationen. Die kleinen Staaten Syriens zum Beispiel wurden um die Mitte des zweiten Jahrtausends von Ägypten in ein Satellitensystem unter Belassung ihrer Grenzen, ja sogar ihrer Herrscher oder doch Herrscherhäuser gefaßt, vom 9. Jahrhundert an jedoch in wachsendem Umfang dem Neuassyrischen, später dem Neubabylonischen Reich unter stufenweisem Eingriff schließlich als Provinzen einverleibt, wobei man die einheimische Oberschicht brutal deportierte. Koalitionen der Kleinen miteinander und gegeneinander taten ein übriges, um das Feld der Möglichkeiten abzurunden, und auf der Innenseite des Geschehens wird eine weite Skala von Treue und zum Teil schlecht honoriertem Vertrauen (beispielhaft: Haltung und Schicksal des Ägypten ergebenen Fürsten von Byblos in der Amarnazeit) bis zu stilechter Heuchelei und kalter Perfidie vernehmbar. Auch von innen gesehen gab es also eine »Diplomatensprache«. Die knappe Auswahl abschließend bringen wir das Verhältnis von Persönlichkeit und überpersönlichen beziehungsweise sachlichen Kräften der Geschichte zur Sprache. Es fehlt den Völkern des Alten Orients durchaus nicht an politischen Gestalten von Format, die dort naturgemäß als Könige erscheinen (legitime oder Usurpatoren). Wenn bei ungleicher Quellenlage auch an diesbezüglichen Monographien noch immer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
32
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
33
arger Mangel herrscht, so kennen wir vom Werk vieler hervorragender Herrscher doch genug, um sie als Figuren beurteilen zu können. Vom sagenumwobenen Machtgenie Sargon von Akkade über den landesväterlichen Organisator Hammurabi bis zu dem umfassend tätigen Restaurator Nebukadnezar (Nabukudurriussur) reicht eine stolze Reihe, in der die neuassyrischen Könige vom brutal-tüchtigen Assurnassirpal bis zu dem eher gelehrten Assurbanipal als Führer eines konzentrierten Militärstaates eine bezeichnende Sonderrolle spielen. An den Ufern des Nils ist die Fülle nicht geringer. Sie beginnt mit dem noch immer nicht sicher zu identifizierenden Reichseiniger »Menes« und führt über die machtvollen Bauherren des Staates und der Pyramiden Zoser, Snofru und Cheops, den energischen Reorganisator Amenemhet I., den zu kraftvollem Absolutismus vordrängenden Sesostris III., den planvollen Eroberer Thutmosis III. (dessen feine Züge einem Schachspieler, aber nicht einem Schlächter gleichen) und den tapferen, zähen Verteidiger Ramses III. bis zu dem klugen Restaurator Psammetich I. Dennoch wird man keinem der genannten und den vielen ungenannten altorientalischen Herrschern von Rang Unrecht tun, wenn man sie weit stärker in die Fläche ihrer politischen Landschaft eingebunden sieht als die überragenden Gestalten der klassischen Antike, von denen mindestens Alexander, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
33
Caesar und Augustus in einem Hochrelief heraustreten, das nicht allein in der weit besseren Überlieferung begründet sein kann, sondern auf den stärkeren Spielraum der Persönlichkeit weist, die sogar der andrängenden Veränderung der ganzen gesellschaftlichpolitischen Struktur ihren eigenen Stempel aufzuprägen vermag. Ich kann den Gedanken nicht unterdrücken, daß das eine wie das andere dem Reliefstil der Bildkunst in den betreffenden Bereichen entspricht. Das Erbe an die Nachwelt Neben der erzieherischen Kraft der Begegnung mit großen historischen Beispielen nannten wir die Rolle des Alten Orients als des Urahns der Gegenwart einen Grund zur Beschäftigung mit seiner Geschichte. Diese Rolle wird mindestens an Reiz möglicherweise noch dadurch gewinnen, daß zwar nicht die Menschwerdung selbst, wohl aber die Entstehung von Hochkulturen in den Gebieten zwischen Nil und Tigris ihren Anfang nimmt und eine Abstrahlung einerseits weit nach Asien, anderseits später tief nach Afrika hinein nicht von der Hand gewiesen werden darf. Wir können mit Rücksicht auf den Rahmen unserer Darstellung und in Ermangelung eigener Sachkenntnis nicht des Näheren davon sprechen, geben aber zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
bedenken, daß die vom Alten Testament konservierte und im Kern ja jedem Volk in seiner Frühzeit eigene Heraushebung seiner Urväter und seines Heimatlandes am ehesten hier einen Anhalt im tatsächlichen Hergang der Dinge hat. Es ist schon etwas Besonderes an Abrams Heimat »Ur in Chaldäa« (wenn wir sie ungeachtet möglicher Fixierung im einzelnen als Inbegriff Mesopotamiens nehmen), an Ägypten als dem Land der Formierung des Jahwevolkes unter Mose und an Kanaan selbst, das zwischen beiden eingebettet liegt und die uralte Stadt Jericho schon zu Josuas Zeiten längst in seinem Schoße barg! Ich bitte den Leser jedoch, diesen Gedanken nur als Anregung hinzunehmen und ihn nicht durch Dogmatisierung zu zerstören. Bleiben wir auf dem Boden gesicherter und kontrollierbarer Tatsachen, so gewahren wir ein dichtes Gewebe, das sich namentlich von den Vormächten am Nil und im Zweistromland und auf eigene Weise von dem einzigartigen Israel über Länder und Völker der klassischen Antike bis zu uns herüberspinnt und das noch heutigentags sogar unmittelbare Begegnungen erlaubt. Das in Rede stehende Formengut ist in Ägypten und Mesopotamien wesentlich im dritten und zweiten Jahrtausend geschaffen worden. Auf ägyptischer Seite stimmt diese schöpferische Periode ungefähr mit der Zeit politischer Macht oder doch Selbständigkeit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
34
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
34
überein. Im weit komplizierteren Zweistromland haben die Assyrer – zwar gute Überlieferer, Organisatoren und Techniker, aber geistig weniger fruchtbar, so daß man stark übertreibend hat sagen können, sie hätten zur heimischen Zivilisation nur ihren eigenen Gott Assur beigetragen – eine höchst fühlbare Macht noch bis tief ins 7. Jahrhundert ausgeübt und damit die politische Kontinuität zur neubabylonischen Restauration unter Nabupolassar und Nebukadnezar hergestellt. Als gelehrige Schüler von alters her und Träger der überwiegend von dem geistig expansiven Mesopotamien und dem zurückhaltenderen Ägypten geschaffenen Zivilisation treten im ausgehenden zweiten und im letzten Jahrtausend v. Chr. neben den Einheimischen selbst die Völker und Staaten Syriens hervor. Die Phöniker, dem Meer verbunden und weit nach Westen gewandt, waren gegebene aktive Mittler nach außen. Im Landesinneren aber vollzog sich in günstiger historischer Konstellation die Landnahme und Staatenbildung der Israeliten, auch ihrer Verwandten, und brachte einen neuen Ton zum Klingen. Als weder Ägypten noch eine vorderasiatische Potenz in diesem Raum wirksam war, schufen David und Salomo ihrerseits ein über Volksgrenzen hinausdrängendes absolut regiertes Großreich. Wir wissen, daß ihm politisch keine Dauer, religiös aber über die Idee vom Messias aus Davids Stamm Weltwirkung beschieden war. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Schaut man von heute aus auf das insgesamt Geleistete zurück, so möchte man Ägyptens Bildkunst, Mesopotamiens Wissenschaft und Israels Religion die Kronen zusprechen. Der tatsächliche Gang der substantiellen Überlieferung läßt sich aber keineswegs in dieser einfachen Weise trennen. Davon wird uns ein wiederum nur rascher Blick auf den Befund überzeugen. Um freilich überhaupt einen Befund erheben zu können, müssen wir uns vergegenwärtigen, daß die kulturelle Landnahme Europas vom Osten und Süden her erfolgte. In der Verdichtung geistiger Potenzen geht Europa daher von seinem Südostwinkel, also der Insel Kreta, aus. Deren ekstatische und tänzerische Formensprache weist nach Kleinasien und Nordsyrien; sie steht in starkem Gegensatz zur Ruhe und Monumentalität ägyptischer, auch mesopotamischer Bildkunst. Doch dürfen wir Kreta und seine dennoch vielfältigen Kontakte besonders mit Ägypten sogleich wieder aus dem Spiele lassen, da es aufs Ganze gesehen ebenso wie die festlandgriechische mykenische Zivilisation Episode blieb. Zu dauerhafter Wirkung sind Gaben aus dem Alten Orient erst gelangt, als sie zu den Griechen diesseits der Dorischen Wanderung, zu den Römern und, hauptsächlich der nordwestlichen Dominante folgend, in das sich räumlich und zeitlich hinter beiden aufbauende Europa im heutigen Vollsinn des Begriffes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
34
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
kamen. Unter der selbstverständlichen Voraussetzung äußerer Kontakte, die immer bestanden oder gesucht werden konnten und deren akzentuierter Reihe wir hier nachzugehen uns versagen müssen (sie wurde nicht einmal in der puristisch scheinenden Hochklassik ganz unterbrochen), war es die innere Bereitschaft und Fähigkeit der Hellenen, Bedeutendes aus der Fremde zu übernehmen und sich anzuverwandeln, die die Pforten für die Schätze aus dem Osten öffnete. Dieses begnadete Volk erfuhr, daß es nicht die Chance eines freien Anfanges hatte, sondern in den Bannkreis geprägter Zivilisation eingetreten war. Aber ihm blieb in dieser Ausgangslage genug schöpferische Freiheit, denn »alles, was Hellenen von den Barbaren übernommen haben, führten sie zu einem schöneren Ziel« (wie Platons Schüler Philipp von Opus sagt). So treffen wir hier auf das vielleicht entscheidende erste Scharnier im Gefüge des westlichen Teiles der alten Weltgeschichte, das, über Zeit und Raum, Volkstum und Struktur hinweg, deren trotz aller Zerklüftung unverkennbare Kontinuität wahrt. Vom Alten Orient kann man seither sagen: »Daß Du nicht enden kannst, das macht Dich groß«, und für die Griechen den Reim vollenden: »Und daß Du nie beginnst, das ist Dein Los«. Wie wir nur zu genau wissen, gilt freilich der erste Satz dann in noch weit höherem Grade für die Griechen, wenn wir ihn auf das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
35
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
35
nächste, die spätere europäische Zivilisation anschließende Scharnier beziehen. Was waren nun die Gaben, die solchergestalt in die Weltgeschichte einwuchsen? Aus ihrer Fülle heben wir zwei heraus, die zum eisernen Bestand unserer Zivilisation geworden sind: Buchstabenschrift und Zeitrechnung. In beiden Fällen liegt die Mehrzahl der Wurzeln in Ägypten. Was die Buchstabenschrift betrifft, so dürfte das freilich daheim nicht als Prinzip genutzte ägyptische Angebot von Einkonsonantenzeichen die geniale syrische Erfindung des Buchstabens als ausschließendem Mittel der Lautabbildung angeregt haben. Von Syrien aus ging diese zwingend einfache Schrift zu den Griechen, wurde entweder auf der Strecke oder von ihnen selbst durch Zeichen für Vokale vervollkommnet und breitete sich unter örtlichlautlichen Abwandlungen nach West und Ost ins Abendland aus – heute im Begriff, die Welt zu erobern (chinesische Versuche). Steht Ägypten in diesem Falle nicht simpel am Beginn einer evolutionären Kette (die Syrer gaben eine entscheidende neue Richtung), so kann man dies im Bereich der Zeitrechnung immerhin vom Jahresmaß mit gutem Gewissen behaupten. Das alte Bauernvolk am Nil, auf Beobachtung regelmäßiger Wiederkehr der Fluten des Stromes angewiesen, hatte frühzeitig die Einheit eines Jahres Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
36
von 365 Tagen und im Lauf der Generationen auch Kenntnis von einem zusätzlichen Vierteltag gewonnen. Aus dem alexandrinischen Kalender übernahm Caesar das annähernd richtig bestimmte Jahr von 365 1/4. Tagen und brach damit für Römer, Christen, Europäer Bahn. Dieser Julianische Kalender wurde 1582 auf Veranlassung Papst Gregors XIII. reformiert und bestimmt seither den Jahreslauf vollkommen ausreichend. Die große Jahreseinheit steht bekanntlich in Spannung zur kleinen Einheit der Woche, die in ihr nicht aufgeht. Nun stammt auch die Woche aus dem Alten Orient; sie ist aus dem Alten Testament mit dem Christentum zu uns gekommen und in ihrem Umfang vielleicht aus einer akkadischen, jedenfalls altassyrischen Sechstagewoche (Band II, S. 573) plus gefahrvoll-festlichem Ruhetag (Sabbat) zu erklären. Sei dem, wie ihm wolle: Wir Europäer haben auf breiter Front die Zeitmessung aus dem Alten Orient bezogen und spüren in ihrer Spannung bis heute die Vielfalt der Wurzeln, die aus seiner Vielfalt zu uns reichen. Was schließlich die Stundeneinteilung betrifft, so haben uns die Griechen der Zwiefältigkeit altorientalischer Praktiken enthoben, indem sie anscheinend bei den Ägyptern die Gliederung von Tag und Nacht in je zwölf Stunden, bei den Babyloniern die Gleichheit der Stunden unabhängig von den mit der Jahreszeit wechselnden Tageslängen entliehen und damit das bis Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
heute gebräuchliche Schema auf den Weg brachten. Diese wenigen Cardinalia mögen einen Begriff von der Fülle zivilisatorischer Formen geben, die im Alten Orient gewonnen und von den Griechen übernommen wurden – zum Teil verbessert, fast immer abgewandelt und mitunter dann ihrerseits zum Geber zurückstrahlend. Das Schwergewicht liegt hier auf den Gebieten der Mathematik und Astronomie (auch jenseits der Zeitrechnung) sowie der Medizin, wobei der griechische Geist die empirisch und praktisch gewonnenen, teilweise frühzeitig erstarrten Kenntnisse des Orients oft genug in logisch-theoretische Erkenntnisse von allgemeiner Gültigkeit erhöhte. Die Anregungen und Auslösungen in der bildenden Kunst (etwa monumentale Architektur und Plastik in Stein) oder in der (zweistromländischen, nicht ägyptischen) Literaturform des Epos mögen demgegenüber ebenso auf sich beruhen wie die vielfältigen Beziehungen in den religiösen Formen. Bei den letzteren scheint, um wenigstens dies zu sagen, der Einfluß der von hethitischer Überlieferung getragenen churritischen Mythen auf die Theogonie Hesiods in anfänglicher Begeisterung, über eine neue Kunde überschätzt worden zu sein. Nur eine religiöse Gestalt, die in den Zusammenhang zahlreicher Nachbarn gehört und sie doch alle weit überragt, sei hier hervorgehoben. Es ist das Christentum, das ebenso wie zahlreiche orientalische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
36
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Kulte vor und mit ihm – bereits von dem Apostel Paulus – nach Griechenland und Rom getragen wurde. Wenn der Historiker Gründe für den zunächst keineswegs selbstverständlichen Sieg dieser Religion angeben soll, dann darf er den Umstand nicht vergessen, daß sich die auf Geschichte gegründete und von da aus erhöhte Botschaft von Jesus als dem Christus mit dem Geiste einer Zeit in Übereinstimmung befand, der die historische Dimension Glaubensbedürfnis war. Historisierte man dementsprechend anderwärts die Mythen, so mußte eine Lehre unwiderstehliche Durchschlagskraft gewinnen, die aus der Geschichte kam und ins Übergeschichtliche ging. Hatte es Gott nach den Schriften des Alten Bundes im Hier und Jetzt gesagt, daß und wie Er der Herr sei, so hatte Jesus nach denen des Neuen Testaments in leiblicher Existenz die Gotteswirklichkeit in die Welt getragen und dabei Geschichte getan und erlitten. Damit ist zugleich in Erinnerung gerufen, daß das Christentum, unbeschadet aller unverächtlichen griechischen Züge, auf den Schultern der Religion Israels steht (ägyptische Beiträge wie die Denkbahn der Trinität seien daneben angedeutet), der wir an der Seite der zivilisatorischen Errungenschaften Ägyptens und Mesopotamiens eine der Kronen des Alten Orients zusprachen. Da es dem Historiker auch in der Religionsforschung nicht allein auf die Ermittlung von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
36
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Glaubensgehalten, sondern ebenso auf die Bestimmung von Formen ankommt, fügen wir hinzu, daß mit dem Christentum die vom Judentum im Gegensatz fast zur gesamten antiken Umwelt entwickelte Form der Buchreligion (mit Heiligen Schriften als dem Wort Gottes im Mittelpunkt) statt der üblichen Kultreligionen in die Weite vor allem der westlichen Welt gelangt ist. Wenn auch auf anderer, notwendig exklusiverer Ebene, ist das Christentum ebenso wie Buchstabenschrift und Zeitrechnung in die europäische Zivilisation und auch in die Weltgeschichte eingewachsen. Die unentrinnbare Gewalt seines Wortschatzes und damit des von ihm mitgeprägten Sprachdenkens sei daran verdeutlicht, daß die offizielle Hymne des ersten atheistischen Staatsgebildes im deutschen Sprachbereich mit dem Wort »Auferstanden« beginnt. Übrigens hat das Christentum später (im 6. Jahrhundert) den technischen Kreis der Zeitrechnung geschlossen, indem es gemäß seinem Glauben einen absoluten Punkt in der Relativität zeitlichen Geschehens festlegte und gedanklich wie praktisch auch durchsetzte, so daß in beträchtlichen Teilen der Welt die Jahre nach und vor der Geburt seines Stifters gezählt werden. Wir legten kurz Rechenschaft von dem, was als Gabe aus dem Orient über die klassische Antike und den Sonderstrang Judentum/Christentum zur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
37
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
37
Gegenwart gekommen ist, ließen aber Anregungen beiseite, die in der Antike auf formenschöpferische oder gläubige Menschen trafen, also für Kunst und Religion vor allem der Griechen und Römer Bedeutung gewannen. So soll jetzt wenigstens nachgetragen werden, daß Anregungen dieser Art auch nach dem Ende der Antike weiter ausgeübt worden sind. Die bildende Kunst Europas ist voll von Beispielen der Begegnung mit ägyptischen und altvorderasiatischen Werken, die sich auf verschiedene Epochen in für sie charakteristischer Weise verteilen. Mit der Wiedererschließung der alten Hochkulturen zwischen Nil und Tigris zeigen sie sich seit dem Klassizismus bis zur heutigen Kunst von der Kenntnis der Denkmäler absichtlich oder zwangsläufig mitbestimmt. Die ägyptische Linie ist im ganzen gut bekannt, im Falle Altmesopotamiens sei auf die mögliche, vielleicht überschätzte Bedeutung seiner Bildkunst für die Romanik, aber auch auf deren theoretische und praktische Wertschätzung in der Gegenwart hingewiesen (Henry Moore). Die Literatur tritt, von der Bibel und ihren unmittelbaren Wirkungen natürlich abgesehen, demgegenüber stark zurück, gewinnt jedoch in jüngster Zeit sowohl infolge der Erschließung der Quellen wie der Erweiterung unseres Weltbildes an Boden. Für die Religion schließlich, natürlich wiederum abseits der Bibel, sei an die orientalischen, speziell ägyptischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Elemente bei den Freimaurern erinnert, wovon die »Zauberflöte« ein allbekanntes Beispiel gibt. Lebenszusammenhang und Grenzen Wir haben bisher stillschweigend vorausgesetzt, daß der Alte Orient, bei im übrigen klaren Umrissen, im Osten durch das Hochland von Iran begrenzt werde, das schon deshalb dem Schauplatz der hier in Betracht gezogenen Geschichte zuzurechnen ist, weil Bewegungen der dortigen Bergvölker die Ereignisse im alten Zweistromland mitgestaltet haben (zum Beispiel Herrschaft und zugleich Zivilisierung der Gutäer, später der Kassiten) – Bewegungen, die zwar noch nicht durch die Meder, dann aber durch die Perser welthistorisches Format annahmen. Bekanntlich haben die Perser unter Kyros II. und seinem Sohn Kambyses II. zum ersten Male, übrigens unter gleichzeitiger bemerkenswerter Aufgeschlossenheit und Toleranz gegenüber den betroffenen Nationalkulturen, eine politische Einheit des Gesamtgebietes hergestellt, in die dann Alexander bis zu einem gewissen Grade eintreten konnte. Nun soll die fragliche Grenze die Welt nach dem ferneren Osten hin ganz gewiß nicht mit Brettern verschlagen. Wir kennen durchaus Tatbestände zugunsten einer Öffnung dieser Schranke: Im unteren Paläolithikum hat Indien mit dem Westen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
37
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
in Gestalt der Faustkeilkultur eine Einheit gebildet, in altorientalischer Frühzeit haben mindestens Handelsbeziehungen zwischen Mesopotamien und der (weiter nach Osten ausgreifenden) »Induskultur« von Harappa und Mohenjo-daro bestanden, aus der südrussischen Steppe als gemeinsamer Heimat sind in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends arische Stämme sowohl nach Vorderasien (Reichsbildung von Mitanni in Obermesopotamien) wie nach Indien gezogen, und das Hochland von Iran hat ein Gesicht nach Westen und nach Osten. Wenn Dareios und später Alexander zum Indus kamen, so bekundet zwar vor allem die Leistung des letzteren eine phänomenale, die Phantasie auf lange hinaus beschäftigende persönliche Kühnheit, läßt sich aber im sachlichen Bereich der Geschichte zur Not verankern. Bei alledem scheint uns die Öffnung der Schranke nicht unbegründet, obwohl wir uns in der »Sumererfrage« und ihren weitergreifenden östlichen und nördlichen Bezügen der gebotenen Zurückhaltung befleißigt haben. Trotzdem halten wir uns uneingeschränkt für berechtigt, den Alten Orient als eine eigene historische Wesenheit zu begreifen, sofern wir uns nur entschließen, Vielheit und Spannung als Motoren eines geschichtlichen Lebenszusammenhanges anzunehmen. Es ist die Landschaft selbst, die Einheit, Vielheit und Spannung ermöglicht hat und jedenfalls sinnenfällig Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
38
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
macht. Im Kern stellt sie sich als ein Fruchtlandgürtel dar, der sich vom Niltal über Syrien zum Zweistromland zieht – Fertile Crescent, »Fruchtbaren Halbmond«, pflegt man ihn seiner Form nach zu nennen – und von Südwest nach Nordost um die weite syrischarabische Wüste gelegt ist. Damit war von der Natur ein Spannungsfeld gesetzt, das sich in der Geschichte immer neu aktualisiert hat: Der Menschenüberschuß der semitischen Wüstenstämme strebte in einer akzentuierten historischen Kette ins Fruchtland (in Ägypten erscheint der Vorgang ethnisch und geographisch variiert und im wesentlichen in der Frühzeit zum Abschluß gekommen). Das große äußere Geschehen ist davon weitgehend bestimmt: Landnahme und Herrschaftsbildung der Akkader, der »Amoräer«, der Aramäer und Israeliten, später Ausgriff der muslimischen Araber. Innerlich kam es auf diese Weise zur Zivilisierung und Differenzierung der Semiten, wobei die Akkader durch ihre Symbiose mit den Sumerern die höchste Stufe erklommen. Was Geschichte als Erzieherin vermag, ist hier vorzüglich zu studieren. Das Bild wäre unvollständig, wollten wir nicht hinzufügen, daß der Fertile Crescent sozusagen auf der Rückseite in seiner nördlichen und östlichen Hälfte von Bergländern umgrenzt ist, deren Völker es ebenfalls oft genug in die blühenden Gefilde gezogen hat und die daher ihrerseits in die politische und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
38
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
zivilisatorische Geschichte des Alten Orients einbezogen wurden. Was das letztere betrifft, darf man sagen: Es gilt, soweit der Gebrauch der Keilschrift reicht – also mindestens bis zu den ostkleinasiatischen Hethitern, den Churritern in Obermesopotamien, später den Urartäern im Gebiet des Van-Sees und der armenischen Berge, den (ursprünglich wohl begrenzt eigenschöpferischen) Elamitern in Südwestiran und schließlich den Persern. Dabei sind die indogermanischen Hethiter, von den erst am Ausgang der altorientalischen Geschichte in Erscheinung tretenden Persern abgesehen, das einzige der in diesen Raum später zugewanderten Völker, das eine mehr als vorübergehende Großmachtsrolle gespielt und manch eigene Note in Politik und Kultur (beides vereinend: Staatsverträge und ihre Ethik) dieses längst geprägten geschichtlichen Schauplatzes eingebracht hat. Trotzdem ist das Urteil nur relativ gültig, denn auf die das Ganze determinierenden Brennpunkte Ägypten und Mesopotamien bezogen, kamen die rund sechshundert Jahre hethitischer Geschichte mit ihrem katastrophalen Ende über eine periphere Erscheinung von allerdings eigenem Schwergewicht nicht hinaus. Der hethitische Anteil wirkte sich vor allem in Syrien aus, das wir überhaupt als spezifisches Sinnbild der Einheit des in Rede stehenden Gesamtgebietes betrachten dürfen. Im Schnittpunkt der Interessen und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
39
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
39
Wirkungen zunächst aus Ägypten und dem südlichen Zweistromland, dann auch aus Obermesopotamien und Kleinasien gelegen, wurde es zum friedlichen wie kriegerischen Treffpunkt der vom Lauf der Geschichte zusammengefügten und dann auch innerlich universalistisch gemachten Völker und ihrer Hervorbringungen. Dieser allseitige innere Universalismus, zugleich eine Erscheinung heranrückenden Alters, ist die bewußtseinsgeschichtliche Vollendung der äußerlich hundertfach bestätigten historischen Einheit. Selbst das exklusive Israel wurde im Laufe der Zeit davon erfaßt, wie wir aus dem Munde des zweiten Jesaja hören. Der erste Jesaja aber gehört zu denen, die uns die ständige Praxis des Kalküls bezeugen, mit dem die Leitung eines syrischen Kleinstaates innerhalb des oft nur allzu dynamischen Gefüges lavieren mußte – in dauernder Sorge, daß die »Einheit« sich anschickte, in Kommißstiefeln über die Grenzen des engeren Vaterlandes einzumarschieren. Jesaja hat seinem Volke in solcher Situation ein Wort aus der Verankerung im Absoluten zugerufen, das die geistmächtigste Gabe aus dem Alten Orient an die Nachwelt in einer Mahnung zusammenfaßt: »Gläubet ihr nicht, so bleibet ihr nicht«. Der Historiker kann nicht leugnen, daß ein gläubiger Rest der also Gemahnten als einziger lebender Zeuge aus jener alten Welt bis heute geblieben ist.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Die Struktur Ägyptens Was wir bisher dargelegt haben und als einen zugleich einleitenden ersten Teil betrachten, sollte im Sinne unseres Versprechens – ohne den aussichtslosen Versuch einer »Zusammenfassung ungezählter Einzelheiten« – Einsicht in gewisse Grundlinien geben, die das Phänomen von außen umschreiben. Damit war nicht so sehr gemeint, daß der räumliche und zeitliche Schauplatz der Geschichte des Alten Orients abgegrenzt werde. Es ging uns vielmehr um dominante Linien des Gegenstandes, die seine Eigenart und damit auch seine Bedeutung sowohl durch historisches Beispiel wie durch wertbeständige Leistungen bestimmen. Im zweiten Teil sehen wir uns nun der unstreitig reizvolleren, aber zweifellos auch weit heikleren Aufgabe gegenüber, das Phänomen von innen zu kennzeichnen. Eben dafür bedürfen wir des einleitend gepriesenen Mittels der Kontrastdiagnose. Wenn wir die gewaltige historische Landschaft des Alten Orients transparent machen, das heißt aus ihrer staatlich-gesellschaftlich-institutionellen Konstellation heraus begreifen wollen, so läßt sich das noch am ehesten vor dem Hintergrund eines intensiv strahlenden Gegenbildes vollziehen. Indem wir damit freilich den äußeren historischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
40
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
40
Gesichtskreis erweitern und Hellas in ein fast ständiges Gespräch bringen werden, müssen wir uns anderseits im Bereich des Alten Orients selbst entschieden begrenzen. Hier ist ein einfaches Geständnis am Platze: Der Verfasser ist Ägyptologe, seine Kenntnisse jenseits des Pharaonenreiches sind allenfalls abgeleiteter Natur und wären für das Wagnis eines Vordringens in den inneren Aufbau einer anderen altorientalischen Kultur unzureichend. Glücklicherweise kommt der Sachverhalt dem persönlichen Manko ein Stück weit entgegen: Der Alte Orient ist, wie wir schon hörten, bei aller Dichte seines Lebenszusammenhanges doch wiederum nicht so einheitlich, daß seine Glieder in ihrer inneren Struktur homogen und auf einen vielleicht gesuchten Hauptnenner zu bringen wären. Im Unterschied zu der auf einem großen gemeinsamen Erbe aufgebauten nachantiken europäischen Zivilisation ist die Einheit dieser alten Welt nicht gesetzt, sondern im Rahmen des Möglichen ein Stück weit gewachsen. Für die folglich tiefen inneren Unterschiede gebe ich ein eindrucksvolles Beispiel, das uns mitten in unser neues Anliegen hineinführt: In Ägypten ist die Gesellschaft schon vor der Schrifterfindung durch die Gegenwart der Gottheit im König geprägt. Der Herrscher trägt die zunächst mit gar keiner Einzelperson verbundene Bezeichnung »Horus im Palaste«, die sich mit dem Beginn der schriftlichen Fixierung und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
damit der Schreibung von Eigennamen zur Verbindung des Titels »Horus« mit dem Namen des jeweiligen Königs (etwa »Skorpion«, »Kämpfer«, »[Schwingen-]Spreizer«) wandelt. Nichts kann deutlicher machen als dies, daß das göttliche Königtum, genauer: das Königtum als Verkörperung der Gottheit, bereits an der Schwelle zur ägyptischen Geschichte im engeren Sinne als Institution erscheint. Wir werden alsbald davon zu sprechen haben, wie sich das des Näheren verhält und was es für die Struktur Ägyptens bedeutet. Ganz anders dagegen, und zwar eben gerade von vornherein, liegen die Dinge bei den Israeliten. Man lese die Darstellung nach, die uns in 1. Samuelis 8 ff. überliefert ist und, von Einzelfragen der Überlieferung abgesehen, das Königtum aus einem verwerflichen und törichten Volksbegehren ableitet. Verwerflich ist es, weil Jahwe selbst der eigentliche König Israels ist, töricht aber, weil es dem Volke ungewohnte Lasten aufbürdet. Von zwei Flanken her, einerseits der unmittelbaren Herrschaft eines absoluten, auch willkürlich waltenden Gottes, anderseits der freien, Joch und Steuerlast ungewohnten Stammesordnung erscheint das Königtum als Fehlentwicklung. Tatsächlich ist es im Bereich der Stämme Israels dann auch zunächst nur zu einem charismatischen Heerkönigtum gekommen, das offenbar die außenpolitische Not der Bedrohung durch die letztlich wohl aus dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
40
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
41
Balkan zugewanderten, technisch weit überlegenen Philister erzwungen hatte – also zu einer lockeren Form, die in der Designation König Sauls durch Jahwe die Hände des eigentlichen Herrschers hinlänglich fühlbar macht. Als aber dann, mit David, die Erscheinung sich institutionalisierte, das heißt sowohl dynastisch wie absolut wurde (bei aller kunstvollen Differenzierung, deren Kenntnis wir vorzüglich Albrecht Alt verdanken), nahm man bezeichnenderweise Anleihe auf Anleihe bei der Umwelt auf, letztlich bei den Großreichen in Ägypten und Mesopotamien. Wo im eigenen Boden nichts gewachsen ist, da muß man bei Bedarf importieren, das war damals nicht anders als heute. Wenn wir also im folgenden von Ägypten sprechen und seinen inneren Aufbau dem von Hellas gegenüberstellen, dann wird von vornherein deutlich sein, daß Ägypten der Natur der Dinge nach keinesfalls repräsentativ für den ganzen Alten Orient stehen kann. Das kann es nicht im Hinblick auf Israel, wo sich für die ältere Zeit der lockeren Stammesorganisation im Gegenteil manches finden wird, das in Hellas Entsprechung hat (nicht nur das System der um ein gemeinsames Heiligtum gruppierten Amphiktyonie, »Umwohnerschaft«) und das im Laufe der Zeit unter der zwingenden Gewalt geschichtlicher und geographischer Umwelt abgedrängt worden ist. Scheint es zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
kühn, hier an erster Stelle die »Demokratie als Möglichkeit in Israel« zu nennen? Geschichte schreiben heißt ja nicht nur Fakten ermitteln, ordnen und deuten – es heißt oder sollte auch heißen: dem Nicht-Verwirklichten nachspüren, wenn anders man der Würde des Menschen als Trägers der Ereignisse gerecht bleiben will, die ihn nur allzuoft vergewaltigen. Ägypten kann aber sicher auch für die Gesamtheit der syrischen Kleinstaaten, für die Bergvölker einschließlich der Hethiter und für die stadtstaatliche Ordnung im alten Sumer nicht stellvertretend stehen. Am ehesten dürfen wir von ihm die Fähigkeit zu einer bedingten Repräsentation des akkadischen Großreiches und seiner strukturverwandten Nachfolgestaaten erwarten, mit jenem kräftigen granum salis freilich, das sich der Empiriker größer denken wird als der Systematiker – und wir achten beide und streben beiden nach. Gottkönigtum und Großgesellschaft Trotz ernster, unablässiger und auch erfolgreicher Forschung im Feld und am Schreibtisch liegt die Werdezeit dessen, was wir ägyptischen Staat, ägyptische Kultur und ägyptische Gesellschaft nennen, noch hinter dichten Schleiern. Gerade wer von den allgemeinen historischen Problemen herkommt, wüßte gern mehr, als er zur Zeit erfahren kann, vorab von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
41
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
41
der Rolle der Stadt als erstem Zentrum einer auf weitgehender Arbeitsteilung beruhenden Keimzelle und Trägerin höherer Zivilisation, in der sich zugleich das Phänomen »Herrschaft« institutionalisiert. Immerhin läßt sich beispielsweise sagen, daß Hierakonpolis, der in der Überlieferung unvergessene oberägyptische Vorort, bereits etwa an der Wende der ersten zur zweiten Negade-Kultur, also um die Mitte des vierten Jahrtausends, eine Ausdehnung von mindestens zweihunderttausend Quadratmetern hatte. Am gleichen Platz fand sich aus der mittleren Phase von Negade II, durch seine Wandmalereien längst berühmt, ein so mächtiges und prachtvolles Grab, daß die Konzentration bedeutender Macht in der Hand seines herrscherlichen Besitzers daran buchstäblich abgelesen werden kann. Als dann die Hieroglyphenschrift erfunden wurde, gab man das Wort für »Stadt« mit einem Zeichen wieder, das eine rechtwinklig gegliederte Häusermasse von einer runden Mauer umschlossen zeigt und jedenfalls die Erscheinung einer gehäuften, geordneten und gesicherten Siedlung bekundet. Auch dürfen wir möglicherweise aus lokalen Besonderheiten materieller Hinterlassenschaft der jüngeren Vorgeschichte auf die Rolle einzelner städtischer Zentren schließen. Dennoch fehlt jede Spur eines Systems ägyptischer Städte in der Struktur des nachmaligen Einheitsstaates. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
42
Dieser Staat stellt sich vielmehr als ein großräumiges Gebilde dar, dessen Mittelpunkt primär überhaupt nicht ein Ort, sondern ein Herrscher ist, der seine Residenz wechseln kann. Wenn anderseits die Orte ihre jeweiligen Götter haben und sich nicht zuletzt dadurch für uns als fixierte und differenzierte Größen bemerkbar machen, so erscheint doch – sit venia verbo – der König als »Hauptort« der Gottheit, die sich in ihm für die Großgesellschaft verkörpert. Wann deren Formation eine solche Ausdehnung erreichte, daß ganz Ägypten als Einheitsstaat bezeichnet werden kann, läßt sich allenfalls archäologisch ausdrücken: Es geschah, nachdem eine oberägyptische Zivilisation nach Unterägypten vorgedrungen war, und das ist gut hundert Jahre vor den ersten bekannten Schriftdenkmälern gewesen. Anderseits hat die politische Zusammenfassung auch diesseits der Dokumente der »Reichseinigungszeit« auf lange hinaus kämpfend behauptet werden müssen, weil sich mindestens die Oberschicht der unterworfenen Nordleute mit ihrem Schicksal nicht widerstandslos abfand. Der Schleier über der Tradition erlaubt uns kaum mehr als die Annahme, daß hinter dem langfristigen Aufwachsen des ägyptischen Gesamtstaates nomadische Impulse standen, wie sie sich ja bei den großstaatlichen Bildungen auch im benachbarten Vorderasien zeigen, etwa bei den Akkadern und den Israeliten. Nur scheint im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
42
Niltal die Begegnung von staatsbildenden Nomaden mit einer die Zivilisation tragenden seßhaften und auch schon in Städten konzentrierten Bevölkerung im wesentlichen abgeschlossen zu sein, als das Licht schriftlich fixierter Geschichte über die Szene hereinbrach. Die ägyptische Gesellschaft mit ihrer staatlichen Macht war demnach frühzeitig konsolidiert. Sie war konsolidiert als eine Großgesellschaft mit dem Gottkönig als Spitze und alles durchdringender Lebens- und Gestaltungskraft. So sicher es ist, daß kleinere Gemeinschaften am Anfang standen und die Einheit in langsamem Ausgriff gewonnen wurde, so wahrscheinlich ist es umgekehrt, daß das geschichtliche Ägypten vom Hof der Pharaonen aus durchorganisiert und dabei auch gegliedert wurde. Was aber im Zuge dieses Vorgangs die spätere Stadt betrifft – als Trägerin bürgerlicher Kultur neben und nach einer höfischen –, so ist ihre Rolle auch künftig auf charakteristische Weise begrenzt. Sie wird in der ersten Zwischenzeit, da die in den lokalen Hauptstädten als erbliche Feudalherren residierenden Gaulürsten im wörtlichen Sinne den Ton angeben, zum sozialen Bezugspunkt für die Rechenschaftsberichte, zu denen sich die Gaufürsten angesichts einer richtenden Gottheit in ihren Grabinschriften verpflichtet fühlen. Ja, sie erweist sich nach dem Zeugnis der Lehre für König Merikarê als Ausgangspunkt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
königlicher Hausmacht. Nachdem jedoch die Einheit Ägyptens wiederhergestellt ist, verschwindet die Stadt aus dem Gesichtskreis der sogleich wieder gesamthaft orientierten königlichen Ideologie. Der »Herr der beiden Länder« und »Horus der Lebenden« vertritt die Gesamtheit, für ihn ist die Stadt als Gebilde kein konstitutives Element. Wenn aber schon ein Bezug sichtbar wird, so nimmt er nun die umgekehrte Richtung. Nach Maßgabe der Ideologie liebt die Stadt den König und jubelt über ihn, oder man preist die Größe des Herrschers für seine Stadt. Wie schon im Alten so werden auch im Mittleren Reich Städte von offenbar begrenzter Lebensdauer im Zusammenhang mit der königlichen Grabanlage gegründet. Deutlich genug wird daran sichtbar, daß der König nicht zuletzt im Inneren die Wachstumsquelle des Landes ist. Wir haben diese Dinge ausführlicher zur Sprache gebracht (wenn auch längst nicht ausführlich genug, um wenigstens die reiche Bedeutungsgeschichte des ägyptischen Wortes njw.t »Stadt« einzufangen), weil sie im Positiven wie im Negativen Grundlegendes aussagen: Das historische und für den Gesamtverlauf charakteristische Einheitsreich beruhte auf der Partnerschaft von Gottkönig und Großgesellschaft. Für die Stadt war normalerweise in diesem Gefüge kein Platz, der über eine interne praktische Funktion hinausgegangen wäre. Daß die ägyptische Entwicklung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
43
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
an dieser frühen und entscheidenden Stelle zur griechischen, aber zum Beispiel auch zur syrischen gegenläufig gewesen ist, liegt klar auf der Hand. Es genügt vorerst, die Tatsache als solche festzuhalten. Die eigenwüchsige ägyptische Position war eben durch die Partnerschaft von Gottkönig und Großgesellschaft bestimmt. Dafür ist vorhin der Begriff »Staat« gebraucht worden. Aber diese Bezeichnung trifft von Haus aus nicht zu und kann erst nach vorheriger Klärung des Sachverhalts neu definiert und, faute de mieux, wieder in Umlauf gesetzt werden. Unser Begriff »Staat« ist, von der weiteren europäischen Wortgeschichte abgesehen, inhaltlich mit den antiken Bildungen politeia und vor allem res publica gefüllt. Sie bezeichnen im einen Falle etwa »Verfassung der in einer Polis zusammenlebenden Bürger«, im anderen, noch eindrucksvoller, einfach »die öffentliche Sache«. Nichts dergleichen findet sich in Ägypten, und es kann sich dort auch gar nicht finden. Denn wo in Griechenland die von der Bürgerschaft getragene Polis steht, in Rom schlicht »die Öffentlichkeit« der jeder Bürger mit einem Teil seines Lebens zugekehrt ist, da treffen wir in Ägypten ausschließlich auf die großformatige Figur des Königs, und so hat denn die ägyptische Sprache gar kein Wort für »Staat« in unserem Sinne, sondern spricht vom »König«, später Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
43
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
43
unter bestimmten Umständen auch von der »Königsherrschaft« (nswj.t, mit basileia wiedergegeben). Dabei haben wir mit Fleiß vermieden, spezifisch die »Person des Königs« zu zitieren. Denn es kommt nicht auf die Person, sondern auf die Institution, es kommt auf das Königtum, nicht auf den einzelnen Herrscher an. Gewiß zeigen die Phasen ägyptischer Geschichte das Verhältnis beider nicht unverändert, und ebenso gewiß ist Königtum nicht ohne Könige denkbar, die als Personen handeln und in ihrer Leiblichkeit von einem Zeremoniell umgeben sind. Aber Personen sind nur die auswechselbaren, zwangsläufig einander ablösenden Glieder einer Kette, die als solche das Wertbeständige und Wesentliche ist. Der jeweils regierende Herrscher erscheint als der in der Zeitlichkeit sichtbare Repräsentant einer zeitlosen und nur wie aus Verlegenheit in einer persönlichen Reihe aufsummierten Körperschaft. Sein Name und seine individuelle Gestalt gehen demzufolge in allgemeine Formen ein: in Titel und in einen Typenschatz geprägter Bilder. Seine Taten regeln sich im Spiegel der Überlieferung nach einer festen »dramatischen Rolle« im Weltgeschehen, wovon wir im Zusammenhang der Geschichtsschreibung noch einmal sprechen müssen. Wenn außerdem der einzelne Herrscher nicht so sehr Glied einer Dynastie (die wir schon als eine Art von wissenschaftlichem Ordnungsprinzip anzusprechen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
haben) als vielmehr Vollzugsorgan einer dauernden Gewalt gewesen ist, so leitet sich das im tiefsten daher, daß das institutionelle Königtum göttlichen Charakter trägt. Auch hier hat freilich die Geschichte die Aspekte gewandelt. Vom ägyptischen Königtum gilt zugunsten einer Heraufkunft des transzendenten Gottes, wohl dem Leitmotiv ägyptischer Religionsgeschichte, das Wort des Täufers Johannes: »Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen«. Trotzdem war in diesem traditionsgebundenen Land die Ausgangsposition vielleicht nicht einmal so stark wie in der Struktur wesentlich und daher unabänderlich, so daß ihre Form bei allem Wandel des Inhalts niemals abgebaut worden ist. Was moderner Systematisierungseifer, in der Deutung kultischer Funktion griechischer Könige übers Ziel hinausschießend, mitunter selbst an das frühe Griechentum herantragen will, was dort aber eine sekundäre, erst im Umbruch der gesellschaftlichen Struktur und in der Begegnung vorzüglich mit Ägypten entfaltete Erscheinung ist, dieses im alten Hellas nur als fluchwürdige Hybris denkbare Gottherrschertum, es ist auf ägyptischem Boden organisch gewachsen. Wir dürfen hinzufügen: Es ist auch im Blick auf den Gesamtbereich des Alten Orients nur hier so klar und dauerhaft ausgeprägt, daß es vom Forscher als gesichertes Gut angeboten werden kann. Man darf darüber hinaus zur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
44
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Sache sagen, daß es weder bei den sumerischen und den semitischen Staatenbildungen noch bei den Hethitern und Bergvölkern für die gesellschaftliche Prägung vergleichsweise kennzeichnend war. Im Gegenteil, im Falle des Akkaders Naramsin wird das Exzeptionelle und Unangemessene, im Verhalten des Babyloniers Hammurabi die Abwehr dagegen erkennbar (Band I, S. 550, 594). Nun hatten wir anfangs eine Partnerschaft von Gottkönigtum und Großgesellschaft als ägyptisches Kennzeichen in Aussicht gestellt, haben jedoch bisher ausschließlich vom ersteren gehandelt. Das hat seine guten Gründe. Denn die im weiten Raume des unteren Niltals und des Deltas zusammengefaßte Gesellschaft war, immer in dem radikalen Sinne der alten Königsideologie und daher durchaus der Korrektur bedürftig, an sich ein Nichts oder doch eine amorphe und handlungsunfähige Masse. Man ist versucht, sie Nullen zu vergleichen, die freilich sofort dadurch Stellenwert erhielten, daß der König als Eins vor sie hintrat. Aus seiner göttlichen Wesensfülle holte er das Leben in die Natur und in die Gesellschaft hinein. In der Praxis des sozialen und politischen Aufbaues heißt das: Er gab seiner menschlichen Umwelt, von innen nach außen vordringend, Form, gliederte das sicher ursprünglich schon einmal differenziert Gewesene neu, delegierte seine Allmacht über die eigene Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
44
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
45
Familie und den Hof hinaus ins Land und entließ aus sich heraus einen Stab von Amtsträgern in Verwaltung und Gottesdienst, der sich offenbar erst allmählich und dann auch nicht einander ausschließend in Beamte und Priester geschieden hat. Damit setzte der Feudalismus als Verselbständigung des Besitzes und der Herrschaft von Gaufürsten und Tempeln ein, aber das Pendel der Kräfte schwang weiter und hakte mit den gleichzeitigen Schicksalen von niederbrechender Königsmacht und Staatszerfall aus. Das Spiel begann im gleichen strukturbedingten Zusammenhang zwischen Herrschergewalt und Einheit von neuem, wobei neuaufgestiegene Schichten einbezogen und die strukturwidrigen, aber nichtsdestoweniger höchst realen Feudalherren wieder ausgeschaltet wurden. Genug – das Königtum blieb strukturell der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht, selbst wenn ein einzelner König jederzeit zum Spielball der Kräfte werden konnte und der Staat mit ihm um so tiefer absank. Soll man angesichts dessen den ägyptischen Gottkönig sagen lassen: L'état c'est moi? Selbstverständlich ist das eine unhistorische Frage; denn es gab eben keinen »Staat«, mit dem sich der Herrscher hätte identifizieren können oder müssen. Aber sie kann uns in ihrem provozierten Vergleich vor Augen führen, daß es zweierlei ist, ob König und Staat von Haus aus und für das Bewußtsein der Gesellschaft identisch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
sind oder ob der eine nachträglich vom anderen aufgeschluckt wird. Deshalb leuchtet es aus den geschichtlichen Prämissen ein, daß gegen die Ludwig XIV. zugeschriebene Staatstheorie sich alsbald Widerspruch erhob, die ägyptische Königslehre als solche jedoch bis zum Ende unangefochten blieb. Mochte sie sich auch wandeln und unter anderem das Moment der Herrscherpflicht im Laufe der Zeit stärker hervorkehren, so blieb in ihrem Sinne der König doch, was er seit eh und je gewesen: der Inbegriff der die menschliche Existenz überschreitenden und daher einzigartigen Mächtigkeit. Ehe wir einen neuen Blick nach Griechenland werfen, müssen wir der Potenz und Ideologie des Gottkönigtums das Prinzip der allumfassenden Ordnung zugesellen, die für den Ägypter Natur und Gesellschaft durchwaltete und die er mit dem kaum übersetzbaren Wort Maat bezeichnet hat. Recht besehen ist das Königtum selbst ein Herzstück der Maat und eben darum oberhalb jeder Diskussion legitim. Indem aber der einzelne König, sei es einfach kraft göttlicher Natur, sei es durch Eingebung oder Befehl der transzendent gewordenen Gottheit die Maat tat oder zu tun hatte (die ihrerseits auch zum Inbegriff ethischer Norm herausgebildet war), bestand für ihn eine Richtschnur und Kontrollinstanz. In der praktischen Politik hat Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
45
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
sich das mindestens gegenüber unerwünschter Fremdherrschaft geltend gemacht; so konnten die Hyksos, die nicht auf Grund eines »Gottesbefehls« regierten, rückblickend in die Illegitimität verwiesen werden. Leider wissen wir vorläufig nicht entfernt genug über die Rolle, die die Maat als Motiv oder doch als Argument in den häufig wiederkehrenden Spannungen zwischen der einfachen Idee fortlaufender Sukzession auf dem »Thron des Horus« vom Vater (Osiris) auf den Sohn (Horus) und der verwickelten Praxis wechselnder Dynastien, innerdynastischer Machtkämpfe (wie sie sogar in der monumentalen IV. Dynastie spürbar sind) oder, im Grenzfall, bei Königsmorden grundsätzlich und insgesamt gespielt hat. Aber das ist sicher: Der König war, von dieser zweiten Warte aus betrachtet, nicht absolut; Willkür auf seiner Seite war, immer im Sinne der Ideologie, durch Ordnung ausgeschlossen, in deren Autorität Herkommen, Erfahrung, praktische Vernunft und moralisches Gebot beschlossen lagen. Das blieb so, als die Gottheit sich auch über die Maat erhob und nun, wie der Weise sagte, nach freiem Ermessen mit ihr schalten konnte. Denn solche Freiheit in der Verfügung sogar über die Maat gelangte eben allein in die Hand der die Gesellschaft transzendierenden Gottheit. Für den König indes war sie unerreichbar und auch undenkbar. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
45
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
46
Von all den verschlungenen und doch auf die Maat als Mitte bezogenen Pfaden haben wir hier nur einen näher zu bezeichnen, weil er in die Breite der ägyptischen Gesellschaft und damit in unser Anliegen geradewegs hineinführt. Es ist die Erstreckung dieser Grundnorm auf Pflichten, aber auch auf Rechte des Einzelnen. Der Einzelne hat die Pflicht, Maat zu tun und zu sagen, hat jedoch ebenso das Recht auf Maat, die ja seinen Mitmenschen einschließlich des Königs in gleicher Verbindlichkeit als Richtschnur aufgegeben ist. Aus ihr fließen die Gesetze und auch die gesetzlich nicht faßbaren ethischen Gebote, wovon noch einmal zu sprechen sein wird. Indem nun die Gebote vielfache Hilfeleistungen für den Armen, den Bedrängten, den Schwachen erheischen, mildern sie schon im Alten Reich ein Stück weit die historische Differenzierung der Gesellschaft und geben der vom König aus institutionalisierten Herrschaft einen humanen Zug. Durch besondere Gunst der Überlieferung sind uns dann aus der Zeit der Krise und des Umbaues knappe Sätze über die Absicht des Schöpfergottes erhalten, die sich, natürlich im Sinne ihrer Zeit, auf die Sozialordnung beziehen und von denen man sagen kann: ex ungue leonem! Es lohnt sich, diese ägyptischen Gottesworte zu zitieren und etwas genauer anzusehen: »Ich machte die vier Winde, auf daß ein jeder Mensch (aus ihnen) atme in seiner Zeit... Ich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
46
machte die großen Flutenwasser, auf daß der Arme Verfügung darüber habe gleich dem Großen... Ich machte jeden Menschen seinem Nächsten gleich; nicht gebot ich ihnen, daß sie Übles täten, (sondern) ihre Herzen übertraten mein Wort.« Gewiß wird hier die Gesellschaft nicht eingeebnet. Arm und reich hören nicht auf, als Gegensatz zu existieren, sondern beide – also alle – sollen Anteil an den natürlichen Gottesgaben erhalten. Das elektrisierende Wort von der Gleichheit der Menschen aber, das in der klaren Gliederung des Textganzen mit dem darauffolgenden Satz zusammengefaßt ist, formuliert vielleicht nur die Gleichheit vor Gott im Angesicht seines Gebotes (wir dürfen sagen: der Maat) und auch der gemeinsamen Schuld durch Übertretung. Doch selbst in dieser zurückhaltenden Deutung bekundet das abseits aller Königsideologie in den damals emporgestiegenen Bevölkerungsschichten gewachsene Zeugnis noch immer genug. Wir spüren ihm das auf Gleichheit vor Gott gegründete Bewußtsein bestimmter Menschenrechte ab, dessen Auswirkungen sich denn auch in mehrfacher Hinsicht erkennen lassen: Der ägyptische Privatmann erhöht sich unter stufenweiser Aneignung königlicher Privilegien im Tode zu Osiris, also zum Königsgott. Der König umgekehrt wird im Leben zu Konzessionen an die Konkurrenz in harter Wirklichkeit gezwungen (Samtherrschaften von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
46
Vater und Sohn, die der Ideologie im Prinzip widersprechen, aber höchst praktisch die gefährdete Dynastie zusammenkitten). Das schon hervorgehobene Moment der Sorgepflicht des Herrschers tritt, überdies gern unter dem Bild des Hirten, in klare Konturen. Der »Bürger als Möglichkeit« in Ägypten stand hier vor den Toren, die zu öffnen ihm die Struktur der Gesellschaft freilich verwehrte; wir kommen sogleich noch einmal darauf zurück. Aber das darf gesagt werden: Die ägyptischen Menschen sind im Spiel der gesellschaftlichen Kräfte eben doch keine Nullen gewesen. Wir vergleichen sie besser mit einem Kraftfeld, das sich um die göttliche Mächtigkeit des Königs und um das dessen persönliche Willkür ausschließende Prinzip der Maat gruppiert, wobei es von beiden her seine Ordnung – fast hätten wir gesagt: seine »Verfassung« – findet. Daß es sich bei dieser Kennzeichnung um die Struktur als solche und keineswegs auch um die oft argen Abweichungen in einer unzulänglichen Praxis handelt, braucht nicht umständlich dargelegt zu werden. Die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit ist dem Historiker in ihrer Bitternis geläufig genug. Sie muß in einem starr festgehaltenen Gesellschaftskonzept wie dem ägyptischen besonders fühlbar werden. Wenn wir jetzt den Blick auf Hellas freigeben, wird die Aussicht ein Verweilen lohnen. Die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
ägyptische Großgesellschaft erweist sich als von oben her gegliedert, aber trotz dem auf göttlicher Mächtigkeit beruhenden Königtum als nicht der Willkür preisgegeben. In der Polarität oder auch Verschwisterung von König und Maat gründet eine Ordnung, die man »Verfassung« nennen mag, wenn man diese spezifische und ungewöhnliche Definition im Auge behält. Daß es dabei angesichts der nicht explizierten Grundnorm der Maat ausschließlich um den Geist und nicht um den Buchstaben geht, schon gar nicht um den geschriebenen, braucht weder als Einwand noch als Unglück zu gelten. Die kleinräumige griechische Polis dagegen baut sich auch noch aus mehr oder minder intakten kleinen gesellschaftlichen Einheiten auf. Ihre Herrschaft war nach der spartanischen Variante von den Adelsgeschlechtern, nach der athenischen vom versammelten Volk getragen. Man wird speziell das demokratische Athen als Gegenbild zu Ägypten ansprechen, doch haben die beiden rivalisierenden hellenischen Typen klärlich eine gemeinsame Grundlage gegenüber der so ganz anderen ägyptischen Struktur. In Athen, Sparta oder sonstwo auf griechischer Erde war der Einzelne ein Bürger und als solcher von Rechts wegen aufgerufen und praktisch in der Lage, bei der Leitung der Geschicke eines Gebildes mitzuwirken, das er überschauen und zugleich als eine Sache, eben als Sache der ihm noch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
47
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
überschaubaren Allgemeinheit, erfassen konnte. Was das eine für die Ausbildung des frei verantwortlichen Menschen, das andere für die Versachlichung des Denkens bedeutet haben muß, ist kaum zu überschätzen. Vieles von dem, was wir später in den Blick zu nehmen haben, leitet sich davon her. Das ägyptische Gegenbild aber macht uns bewußt, daß diese Wege von Hellas und ihre welthistorischen Folgen alles eher als selbstverständlich waren und gewiß nicht von ungefähr relativ spät in der Geschichte stehen. Im Niltal, wo sich eine von oben organisierte Großgesellschaft in der Landschaft zu behaupten und eine grundlegende Zivilisation erst zu stiften hatte, wo sie dabei aber auch einheitliche geistige Formen von Rang und Dauer für sich selbst wie für die Nachbarn und Nachfahren fand, gewöhnte der monumentale Regierungsstil die Menschen ans Gehorchen und hielt sie im Stand von Untertanen. Ich gestehe, daß es mir im Blick auf Griechenland leichter fällt, von einer ägyptischen »Verfassung« als von ägyptischen »Bürgern« zu sprechen, wenn dieser Begriff das Bewußtsein voraussetzt, in Rechten und Pflichten den Staat zu tragen, ja ihn zu verkörpern. Ein Bürger könnte innerhalb der ägyptischen Großgesellschaft allenfalls dort in Erscheinung treten, wo die kleine Einheit der Siedlungsgemeinde, Dorf oder Stadt, örtlich gebundene Rechte und Pflichten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
47
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
48
herausbildet, die nur lose und im einzelnen kaum spürbar, an der königlichen Zentralgewalt hängen. Das letztere ist gewiß beim Turnus der unteren Dienste am örtlichen Heiligtum geschehen. Für deren Körperschaften pflegt der Ägyptologe denn auch den griechischen Fachausdruck phyle zu gebrauchen – mit Recht, wenn an den (späteren) Sinn einer Einheit des Wohnsitzes gedacht ist. Es kennzeichnet daher die Lage, daß das »Bürgertum als Möglichkeit« erscheint, wann immer die Reichsgewalt erschlafft. Wir erinnern neben der Rolle der Stadt in der ersten Zwischenzeit an Bindungen, die mit bemerkenswerter Stärke im letzten Jahrtausend v. Chr. zwischen dem einzelnen, seinem Heimatort und speziell seinem Ortsgott sichtbar werden. Wenn es dennoch bei der Möglichkeit blieb, so deshalb, weil Struktur und bewußtseinsbildende Gewöhnung ihr den Eintritt in die Wirklichkeit verwehrt haben. Die Ansätze wurden abgedrängt und blieben verkümmert. Da wir in dieser Weise Bürgertum und Kleingesellschaft verbunden sehen, erhebt sich natürlich die Frage, wie es später zu dem Bürger in großräumigen Staaten gekommen ist. Im Römischen Reich mit seinem sprichwörtlichen civis Romanus sum beruhen die Dinge augenscheinlich auf Ausweitung der in einem Stadtstaat gewachsenen Form, deren gleichzeitige innere Aushöhlung deutlich genug auf das Recht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
unseres Ansatzes hinweist. In den modernen Staaten dürften die Breite geistiger Erziehung und die wachsende Dichte (und Penetranz!) der Nachrichtenmittel Bürgertum im großen Raum ermöglicht haben. Freilich bleibt dem nachdenklichen Beobachter der tiefe Unterschied etwa zwischen dem souveränen Volk eines Schweizer Kantons als Nachfahren der antiken Polis und dem der Obrigkeit Untertanen Bürger in einem von Fürsten oder Parteien in volle Regie genommenen Deutschland mit seinem Motto »Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand« keineswegs verborgen. Mir scheint indes, der Schuster müsse eilends zu seinem Leisten zurück. Also: Das unübersehbare Ausmaß der altägyptischen Großgesellschaft schränkte die Mitwirkung an der Staatsverwaltung und ein allfälliges Staatsbewußtsein von vornherein auf einen kleinen Kreis von Amtsträgern und Technokraten ein, dem seinerseits die Tendenz zum politischen Beruf und zum Stand innewohnte. Das alles konservierte sich in einer Fülle von Titeln, die oft genug eine tatsächliche Funktion lange überdauern. Es kommt hinzu, daß im allgemeinen nur die Funktionäre gereist sind, die Durchschnittsägypter aber ein Leben lang am Orte blieben, beruflich und zum Teil rechtlich an den Acker gefesselt. Man sagte sprichwörtlich, der Deltabewohner fühle sich im Angesicht Elephantines, an der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
48
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Südgrenze des Landes, ebenso fremd wie umgekehrt der Südbewohner bei einer Nordreise. Bisher kaum beachtete Umstände dieser Art, dazu die quantitativ so schmale Basis geistiger Ausbildung müssen die überwältigende Menge des Volkes von einem Horizont abgesperrt haben, der der äußeren Erstreckung und inneren Größe seiner Zivilisation entsprochen hätte. Die Reiselust des kontaktfreudigen griechischen Adels und später die Weltweite des griechischen Kaufmannes haben dagegen die rasch durchmessene Enge heimatlichen Raumes in jeder Hinsicht und auf breiter Front kompensiert. So wurde eine Haltung bekräftigt, in der ein selbstverständliches Staatsbewußtsein mit einer grenzenlosen Bereitschaft verbunden erscheint, von der Fremde zu lernen. Wenn wir jetzt dem Wesen politischer Expansion in Ägypten und Hellas nachfragen, so meinen wir nicht die frühen, den historischen Status hüben wie drüben erst konstituierenden Wanderungen, sondern die spätere Ausdehnung auf Grund dieses Status und seiner »zivilisatorischen Grunderfahrung« (Band III, S. 109 ff.). Diese vollzieht in Ägypten der König, zu dessen historisch-dramatischer »Rolle« in imperialer Zeit die Erweiterung der Grenzen gehört. Das Ergebnis ist die politische Unterwerfung (Syrien) oder auch die koloniale Angliederung (Nubien) geschlossener, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
48
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
den Großraum arrondierender, sichernder und versorgender Gebiete. In Hellas aber ziehen, ohne staatlichen Auftrag, wagemutige, zum Teil auch überzählige Leute aus und gründen Kolonien. Ihre Heimat gilt als »Mutterstadt« (metrópolis), die Töchter, oft viele an der Zahl, sind freie Wesen nach Art der Mutter und wurden locker, wenn auch nicht planlos über die (von den Phönikern nicht besetzten) Küstengebiete des Mittelmeeres und des Pontos Euxeinos verstreut. Es braucht kaum ausgesprochen zu werden, wie eng die jeweiligen Verfahren mit der inneren Struktur ihrer Träger zusammenhängen. Doch sollten wir erwägen, ob nicht ein anderer, innerer Wachstumsvorgang in Ägypten der griechischen Kolonisation besser entspricht als der imperiale Ausgriff: die schon angedeutete Gründung von Siedlungen im eigenen Land, die wir unter anderem im Zusammenhang mit den wechselnden Residenzen des Königs entstehen sehen und die in jedem Falle auf den Impuls der herrscherlichen Zentrale zurückgehen. Irgendwann in der Frühgeschichte entstand auf solche Weise übrigens die Stadt Memphis. Diese innere Erschließung hat in der weiträumigen Großgesellschaft eine gleich sinnvolle Funktion wie die der Zellteilung ähnliche »Vermehrung« der nach außen gewiesenen kleinformatigen Polis. Unser zweiter Vergleich hat überdies den Vorteil, daß er der historischen Position der Phasen im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
49
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
jeweiligen Bezugssystem gerecht wird. Sei dem, wie ihm wolle: In beiden Fällen wird die weichenstellende Grundstruktur von Ägypten und Griechenland im Geschichtsverlauf sichtbar. Als zweiten Kernpunkt heben wir hier Einheit, da Vielheit im politischen Gefüge hervor. Gewiß trägt die ägyptische Großgesellschaft einen Dualismus in sich, der im Prinzip der »beiden Länder« ständig zum Ausdruck kommt. Die Zwiefältigkeit kann sich auch im Gegensatz von Städten wie Memphis oder Tanis im Norden gegenüber Theben im Süden äußern und am Ende sogar die Trennung markieren. Aber für die bis zu dieser Sprengung reichende zweitausendjährige Blütezeit Ägyptens ist die Einheit in der Zweiheit, personell gesagt: der eine König der beiden Länder kennzeichnend und begründet die Größe der Zivilisation. Für Hellas jedoch erscheint die politische Vielheit als konstitutiv, die nur in höchster äußerer Gefahr kurzfristig zu gemeinsamem Handeln fähig ist. In verräterischer Absprache mit dem persischen Feind führt sie alsbald zu elender und empörender Perfidie gegeneinander, an der nichts beschönigt werden kann. Trotzdem, und mit vollem Recht, gehört die Zeit des Peloponnesischen Krieges in jeder, nicht nur in kultureller Hinsicht zur klassischen Zeit der Griechen. Die Frage, wie dieses begnadete Volk die Weltgeschichte verändert hätte, wäre es von vornherein den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
49
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
»makedonischen« Weg Philipps und Alexanders gegangen oder hätte es die ägyptische Struktur gehabt, ist zutiefst unhistorisch. Eine Gestalt mit ihren individuellen Grenzen kann nur sie selbst und nicht zugleich ihr Gegensatz sein. Das ist zusammen mit der Vergänglichkeit das Grundschicksal aller Individuation auf Erden.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
49
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
50
Frühe Institutionalisierung aller Lebensbereiche Nach dieser vor den hellenischen Hintergrund gestellten Skizze der um König und Maat gruppierten und von ihnen in Form oder auch Verfassung gehaltenen ägyptischen Großgesellschaft ist für das zweite Anliegen unseres Versuchs in der Hauptsache die Entscheidung schon gefallen. Wir meinen Anlage und Art, Spielraum und Grenzen wesentlicher Äußerungen der Zivilisation: Religion und Recht, Wissenschaft und Kunst, Erziehung und nicht zuletzt Wirtschaft. Für alle diese Zweige des gewaltigen Baumes darf nach dem bisher Dargestellten erwartet werden, daß sie von ihrer nährenden Wurzel und ihrem mächtigen Stamm bestimmt waren. Mit anderen Worten: Wir dürfen allenthalben schon frühzeitig einen hohen Grad von Institutionalisierung annehmen. Doch bleiben von der jeweiligen Sache her der Besonderheiten genug. Es scheint uns zweckmäßig, dabei von der Familie auszugehen, die ja zugleich als kleinster Baustein menschlicher Vergesellschaftung erscheint. Wenn wir zögern, sie mit einem modernen Gemeinplatz die Keimzelle des Staates zu nennen, so haben wir unsere guten Gründe. Denn diese Funktion ist in Ägypten, wie wir wissen, vom König besetzt, und so finden wir Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
keine Spur etwa einer Geschlechterordnung im Aufbau des ägyptischen Staates. Die Ideologie tut ein übriges und schreibt dem König in seiner göttlichen Mächtigkeit die Kraft der Fruchtbarkeit und mindestens die Bahnung des Lebensweges seiner Untertanen zu. Wir wollen deshalb den Akzent auf Sachverhalte legen, die umgekehrt eine Wirkung von oben nach unten, also das Eindringen des Königtums in die Familie und deren Einbindung in die Großgesellschaft sichtbar machen. Es beginnt natürlich damit, daß Schließung und (nach dem Ethos unerwünschte, in der Praxis aber vorgesehene und juristisch geregelte) Auflösung der Ehe Rechtsakte sind und damit nicht in der Regie derer stehen, die in sie eintreten. Man mag sich überdies wundern, daß in einer so weitgehend religiös gebundenen Welt eine sakrale Weihe dieses Aktes fehlt – oder sagen wir vorsichtiger: trotz fleißigem Suchen nicht entdeckt wurde. Aber das Rätsel löst sich mühelos, wenn man sich gegenwärtig hält, daß die Rechtsakte aus der Maat erfließen, vom König gedeckt werden und damit eo ipso auch in der Gottheit verankert sind. Was ferner die Kinder betrifft, so greift die auf Maat gegründete und vom König repräsentierte Gesellschaft im allgemeinen durch Normen der Erbfolge, im besonderen durch das Institut der Adoption ein, die bei Kinderlosigkeit empfohlen wird. Aus der Fülle der Sachverhalte sei Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
50
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
jetzt nur kurz erwähnt (wir kommen noch darauf zurück), daß die Stellung der Frau einer humanen und auch juristischen Gleichberechtigung mit dem Mann nahekommt und daß, vom Königshaus und seinen besonderen Bedingungen und Erfordernissen abgesehen, in pharaonischer Zeit eine Ehe unter Halbgeschwistern äußerst selten, unter Vollgeschwistern urkundlich gar nicht nachgewiesen ist. In den meisten, auch den hier nicht genannten Punkten werden die Sachverhalte den griechischen so stark ähneln, daß eine Kontrastdiagnose den Aufwand nicht lohnt. Das ändert sich von Grund auf, wenn wir in ihrer prinzipiellen Bedeutung kaum beachtete Kultbestände hinzuziehen. Hier erweist sich der Vergleich mit Hellas als besonders fruchtbar, weil er es erst ist, der sichtbar zu machen vermag, was in Ägypten augenscheinlich und bezeichnenderweise nicht ausgebildet war. Es findet sich dort ganz offenbar nichts, was sich auch nur annähernd mit der Rolle des Hausvaters, des Herdes (oder eines entsprechenden Symbols) und damit überhaupt des Familienkults messen könnte. Wohl aber läßt sich umgekehrt das Eindringen des Königtums in die intimsten Sphären der Familie, in den ansonsten durchaus auf die Rolle des Sohnes abgestimmten Totendienst beobachten. Unüberhörbar wird da der König, auf Grund alter Stiftungsverhältnisse, im geläufigsten Gebet ständig und überall als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
50
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Spender apostrophiert. Auch sei daran erinnert, daß im einzigen Falle, wo uns Hausaltäre erhalten sind (in Amarna), auf ihnen die königliche Familie, dem obligaten »Führerbild« ähnlich, in die vier Wände hereingeholt wird. Hier liegen freilich besondere Verhältnisse vor, die es uns ein Stück weit erlauben, den Vergleich mit dem »Personenkult« der Moderne zu ziehen, der prinzipiell übrigens in seiner zeitlichen Position diesseits alles von Griechentum und Christentum Errungenem geistig und moralisch tief unter dem steht, was im alten Ägypten geschichtlich gewachsen war. Denn dort befand es sich, von Maat und Gotteswirklichkeit begrenzt, mit der gesellschaftlichen Struktur und Bewußtseinslage in Übereinstimmung. Was den Kult selbst betrifft, so wird er auf besondere Weise vom König eingesetzt und getragen: Dank seinem göttlichen Wesen der Idee nach allein zum Umgang mit den Göttern berechtigt und imstande, überträgt der König die kultischen Verrichtungen an den zahlreichen Orten im Lande einem Personenkreis, der sich im Zuge sowohl gesamthistorischer wie religionsgeschichtlicher Entwicklung in charakteristischer Weise nicht nur erweitert, sondern auch verfestigt. Daß die Dinge König und Staat buchstäblich über den Kopf wachsen, daß die Tempel zu übermächtigen Größen, vor allem Wirtschaftsfaktoren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
51
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
werden und der Herrscher am Ende selbst die Titel der letztlich auf ihn gegründeten Priester zu führen sich veranlaßt sieht, um seine Vollmacht darzustellen, muß hier unerörtert bleiben. Das letztere hat übrigens in der Geschichte des werdenden Judentums eine bemerkenswerte Parallele, indem der weltliche und der priesterliche Leiter der Gemeinde gleichgeordnet werden und schließlich der Hohepriester den Sieg davonträgt. Doch wichtiger als das Schicksal, das sozusagen »einer Grundstruktur widerfahren kann«, ist im vorliegenden Rahmen deren Erfassung selbst. Dafür scheint uns zweierlei bezeichnend: die das Ganze durchdringende und organisatorisch zur »Kirche« zusammenfassende Kraft und die Formation dessen, was man einen »Stand« nennen kann. Beides gemeinsam gibt dem Gesamtbereich des Umgangs mit den Göttern ein Höchstmaß an Institutionalisierung. Was das erstere betrifft, so bleibt der König, der seine gottesdienstliche Funktion auf eine Vielzahl von Priestern übertragen hatte, doch der gemeinsame Grund ihrer aller, die nur stellvertretend für ihn tätig sind. In den Tempelbildern wird denn auch nur der König, nicht der tatsächlich amtierende Priester beim kultischen Handeln dargestellt. Wie man vom Urgott sagt, er sei »der Eine, der sich zu Millionen machte«, so kann man im König den Einen sehen, der die Hunderte und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
51
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
52
Tausende von Priestern machte und dabei so wenig wie der Urgott aufhört, als der Eine wirkend fortzubestehen. Dem entspricht, daß es in der Praxis, trotz allen lokalen Überlieferungen mythischer und kultischer Art, in den großen Zügen des Rituals und der Gottesgestalt beizeiten zu einer eindrucksvollen und anhaltenden Vereinheitlichung gekommen ist und daß auch die Organisation immer neu zur Einheit hindrängte. Solange die Königsmacht als Zentralgewalt und als Allgewalt in sämtlichen Ressorts erscheint, wird diese Einheit, weil sie sich von selbst versteht, in den Zeugnissen nicht in Einzelheiten sichtbar. Wenn aber im Interim der Gaufürstenzeit diese lokalen Dynasten »Vorsteher der Oberpriester« (in ihrem Herrschaftsbereich) heißen, so bildet das im kleinen den Zusammenschluß zu einer Kirche ab, die sich dann im großen mit den »Vorstehern der Oberpriester von Oberund Unterägypten« bis zu den bekannten Priestersynoden der Ptolemäerzeit klar genug abzeichnet. Einer der besten Kenner sakraler Organisation in der hellenistischen Zeit des Nillandes hat daher mit guten Gründen ein Kapitel seiner diesbezüglichen Darstellung »Die Kirche in Ägypten« überschrieben. Man könnte unter diesem Titel einen Längsschnitt durch die ganze pharaonische Geschichte geben. Dabei brauchte nicht unterdrückt zu werden, daß wir die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
ägyptische Kirche als lebendige Organisation zum Beispiel durch Wallfahrten und Weihungen reisender Amtsträger in den Tempeln ihrer Reiseziele und Durchgangsstationen zu erkennen vermögen. In ihrer sachlichen Allgemeinheit ist diese Erscheinung sicher noch charakteristischer als die bekannten Wallfahrten zu einzelnen hervorragenden Götterplätzen wie dem Sitz des Amun in Karnak. Auch das zweite, also die Formation der Priester zu einem Stand, schreibt sich letztlich von dem gemeinsamen Ursprung jeden Priestertums im König her. Denn hieran zeigt sich zunächst einmal, daß das Amt überhaupt nichts mit einer Art fachlicher Begabung seines Trägers zum Umgang mit den Göttern zu tun hatte. Visionen, Halluzinationen, Trancezustände und dergleichen, die einen Einzelnen über das normale Menschsein hinausheben und unmittelbar mit der Götterwelt in Verbindung bringen konnten, waren nicht gefragt. Sollte der Mensch am unteren Nil jemals in dieser Richtung begabt gewesen sein, dann ist die Begabung frühzeitig abgedrängt worden. Dem historischen Ägypten war jede Form von Ekstase fremd, und auch die fast bis zur Gegenwart berühmten »egyptischen Zauberer« haben einst mit denaturierten Kultpraktiken gearbeitet, hatten also auf ihre Weise an der Institutionalisierung des Gottesdienstes teil. Wo aber statt eruptiver Naturbegabung regulierbare Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
52
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Ernennung und Einsetzung die Grundlage des Priesteramtes bilden, da wird, wenn in der Gesellschaft die Gesamttendenz zur Vererbung von Ämtern besteht, auch in diesem Falle Vererbung geläufig werden. Tatsächlich bestand diese Gesamttendenz in Ägypten und tat auch hier ihre Wirkung. Die somit auf personeller Ebene eingeleitete Exklusivität wurde vom Gegenstand her in doppelter Weise gefördert: einmal durch die umfangreichen dienstlichen Anforderungen an den Priester, zum anderen durch die aus dem Verhältnis des Ägypters zur Gottheit folgende Sonderstellung des kultischen Dieners. Für die eine Seite der Sache verweisen wir auf den täglichen Vollzug eines reich ausgestalteten Rituals am Kultbild, für die andere auf die Gefährlichkeit und schließliche Transzendenz der Gottheit, deren Bild im Allerheiligsten jedes Tempels nur dem Priester der obersten Grade zugänglich war. Nach Rückschlüssen aus titularen Befunden des Alten Reiches bis hin zu Zeugenaussagen der letzten Spätzeit dürfen wir das Urteil wagen, daß sich selbständige, das heißt nicht in Ämterverbindung verwaltete Priestertümer im Alten Reich herausgebildet haben und, wenn auch nicht Gesetz, so doch Regel und jedenfalls Ideal wurden. Die Mitwirkung des schon erwähnten Laienelements der »Phylen-Priesterschaft« steht zwar außerhalb unserer Hauptlinie, verändert sie aber nicht; die Dinge sind Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
52
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
53
nicht einlinig, ihre historische Mannigfaltigkeit muß hier außer Betracht bleiben. Was dieser im übrigen zu einer Ämterhierarchie ausgebaute und differenzierte gesamtägyptische Priesterstand dann in Verbindung mit seinem geistigen Mutterboden, der Religion, für alle Lebensäußerungen und deren Institutionen bedeutet hat, wird uns bis zum Schluß in Bann halten. Zuvor aber mag er durch das griechische Gegenbild schärfer konturiert werden. Hellas hat auch in dieser Hinsicht Formen von bezeichnender Andersartigkeit ausgebildet. Statt des Königs und der Großgesellschaft finden wir hier am Anfang den Hausvater als Priester und die Familie als Kultgemeinde. Vielleicht dürfen wir anfügen: Möglicherweise waren sogar in Ägypten vor Ausbildung der gottköniglich regierten Großgesellschaft Familienkulte vorhanden, wurden dann aber von der sozialen Umgestaltung erdrückt. Die Rolle des »Sohnes« im Totendienst, für unseren Augenschein nur mythisch und rechtlich motiviert (Osiris-Horus; Sohn als Erbe mit Bestatterpflichten), könnte ein Überbleibsel davon sein – doch das bleibt Spekulation. Ferner fand sich das Priestertum auf griechischem Boden durchaus nicht in einer Atmosphäre, die begnadeter persönlicher Gotteserfahrung abträglich gewesen wäre. Wir erinnern nur an die Rolle des Sehers, der, wie Kalchas dem Völkerhirten Agamemnon, sogar dem König Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
schroff gegenübertreten konnte, oder dessen geachteten Rat der König annahm, wie kein Geringerer als Alexander von seinem Seher Aristandros. Zu einem Stand hat sich jedoch das Priestertum von dieser Grundlage aus nicht verfestigen können, zumal auch alle Bauelemente fehlten oder abgeschwächt waren, die in Ägypten hinzukamen. So rangierte vor begrenzten Fällen von Vererbung (wie in Eleusis) als häufigster Modus die Wahl der Priester durch das Los, seltener auch die durch das Volk. Die Amtszeit war oft auf ein Jahr befristet. In der Sache aber erscheinen die dienstlichen Anforderungen an den kultischen Amtsträger als gering; ausgelastet war er nur an den Festen, einen täglichen Dienst am Bild gab es nicht. Es gab aber auch nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen eine Art von Allerheiligstem, weil das Gottesverhältnis der Griechen die Begegnung mit dem Götterbild grundsätzlich jedem erlaubte. Bei alledem ist trotz kennzeichnender Heraushebung des Priesters (etwa in der Kleidung, die sich eben für seine Handlungen eignen mußte) eine echte Grenze zum »Laien« nicht auszumachen. Isokrates hat den Tatbestand prägnant formuliert: »Zum Priester ist jedermann gut genug« (wörtlich: »das Priesteramt ist jedermannes«). Daß auf dieser Basis vollends eine Kirche nicht hat erbaut werden können, leuchtet unmittelbar ein; dies um so mehr, als die vielen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
53
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
53
selbständigen Stadtstaaten sich zwar zu begrenztem Dienst an Heiligtümern von überstaatlicher Autorität (Delphi) zusammenfinden, ihre eigene sakrale Tradition aber nicht in ein imaginäres Sammelbecken einfließen lassen konnten. Erst diesseits der Ausbreitung des Christentums, und offenkundig ihm nacheifernd, ist die Stiftung einer Art »griechischer Kirche« versucht worden. Der Versuch scheiterte wie der begeisterte kaiserliche Dilettant von freilich tragischer Größe, der ihn unternahm und wegen seiner Abkehr vom Christentum als »Julian der Abtrünnige« in unsere historische Sprachregelung eingegangen ist. Insgesamt wird es uns keineswegs überraschen, wenn sich im weiteren herausstellt, daß in Hellas Priestertum und bis zu einem gewissen Grade sogar Religion auf kulturelle Lebensäußerungen und deren Institutionalisierung nicht entfernt den gleichen Einfluß ausgeübt haben wie in Ägypten. Die verhältnismäßig ausführliche Behandlung all dieser Dinge rechtfertigt sich dadurch, daß Ägypten wie von seiner politischen und sozialen Form, so auch von dem aus unversieglichem Urquell der Religion gespeisten Priestertum geprägt wurde. Dabei sind Staat und Gesellschaft für die Religion, Religion wiederum für Staat und Gesellschaft die Bedingungen, unter denen das jeweils andere Phänomen erscheint. Das zu beiden gehörende Priestertum mag man einem Kind Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
vergleichen, das der Mutterschoß der Religion dem eine geistliche Gestalt begehrenden Staat geboren hat. Für alles Weitere können wir uns kurz fassen. Das Recht, von dem zunächst die Rede sei, gründet wie der Staat selbst in der Maat. In schlichtester Philosophie darüber könnte der Ägypter sagen, daß der Staat (= König) das Recht (= Maat) verkörpere und das Recht den Staat am Leben erhalte. Die von uns schon vielfach berufene Grundnorm der Maat liegt nicht expliziert vor, wie etwa die einzelnen Gesetze als Gottesgabe oder Gotteswort in Babylonien und Israel erscheinen. Der König, Geschwister und institutioneller Treuhänder der Maat, ist dafür als eine Art nomos empsychos, als lebendig gegenwärtiges Gesetz mitten unter dem Volke. Er erläßt aus dem Geist der Maat allgemeine Gesetze so gut wie besondere Verfügungen, und wenn er auch die Rechtsprechung bis auf Ausnahmefälle seinem höchsten Beamten, dem Wesir, überträgt, so liegt der Ursprung doch auch hier bei ihm. Der Wesir seinerseits führt den Titel eines »Oberpriesters der Maat«, zelebriert demnach sein Amt im Dienste der personifizierten Rechtsnorm. Solchergestalt von den beiden Brennpunkten des Staates bedingt, stehen er und sein Büro buchstäblich im Mittelpunkt der Rechtspflege und machen deren durchgreifenden Zentralismus sinnfällig – müssen doch die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
54
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
54
unzähligen Urkunden für das ständig und überall wiederkehrende Geschäft privater Eigentumsübertragungen in der Zentrale vom Wesir gesiegelt werden. Die obligatorische und sich bekanntlich vom älteren römischen Befund scharf abhebende Schrittlichkeit der Verfahren bekundet deren Formenstrenge und zugleich die vollkommene Institutionalisierung. Beider Sogkraft wird übrigens in der seltsamen Form von »Scheinprozessen« fühlbar, in denen man private Geschäfte aktenkundig macht. Wir begnügen uns für den Rest mit einigen Sachverhalten, die das Recht noch mannigfaltiger im Wesen der ägyptischen Struktur verwurzelt zeigen. Da ist zunächst der einheitliche Charakter aller juristischen Vorgänge, ohne die uns vom römischen Bereich geläufige Sonderung in öffentliches und privates Recht. Er findet wohl seine Erklärung darin, daß die ägyptische Großgesellschaft zugleich eine Art Großfamilie war, wodurch private Binnengrenzen unerheblich und damit rechtliche Scheidungen von privater und öffentlicher Sphäre nicht vollziehbar waren. Dann fällt der hohe Grad von Rechts- und Geschäftsfähigkeit der Frau ins Auge, der sich vielleicht gleichfalls auf den eben genannten Nenner bringen läßt. Frau wie Mann waren demnach nicht im familiären Verhältnis gesehen, sondern auf die königlich-staatliche Zentrale der Gesellschaft bezogen und in diesem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Bezug einander gleichwertig. Es liegt auf der Hand, daß die Verhältnisse von der römischen patria potestas polweit entfernt sind (unser Gedanke soll weitere Grundlagen für die Stellung der Frau in Ägypten keineswegs beiseite schieben). Wenn ferner Sklaven – in einem dem römischen Recht angenäherten Sinn – auf lange hinaus allenfalls nur eine Rolle am Rande spielen, so erklärt sich das zum guten Teil daher, daß jedem Glied der Gesellschaft in seiner Partnerschaft zum wesens-anderen König das Prädikat eines »Sklaven« oder »Dieners« zukam und denn auch oft genug sogar von hohen Würdenträgern gebraucht wurde. »Sklaven« im engeren Sinn waren oder wurden nur Fremde, die später von außen in die bereits fixierte und gegliederte ägyptische Gesellschaft, vorzugsweise als Kriegsgefangene, hereinkamen. Die heikle Frage des privaten Besitzes oder gar Eigentums endlich läßt sich am ehesten so beantworten, daß der König Eigentümer mindestens allen Bodens ist, aber bald nach Art von Lehen den Besitz überträgt. Das führt freilich schon recht früh zur rechtsgeschäftlichen Verfügung darüber und hat in letzter Instanz den Feudalismus als historische Erscheinung eingeleitet. Requirierungen durch den König, die stets möglich waren, würden dann auf alte Verhältnisse zurückgreifen. Daß sie in Grenzen blieben oder notfalls durch Dekrete in die Schranken Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
55
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
gewiesen wurden, kennzeichnet den ägyptischen Rechtsstaat, in dem die Maat dem König Willkür verbot – oder positiv: ihn zu ihrem Vollzieher bestellte. Selbstverständlich galt auch in Ägypten das als Recht, was der Gesellschaft, genauer: ihrem Herrschaftssystem frommte. Aber der großartige Begriff der Maat, in dem Absolutes und Bedingtes aufgehoben waren, nahm dem Prinzip der Nützlichkeit ein gut Teil seines sonst ordinären Beigeschmackes. In ihm liegt sicher das Wesentliche dessen beschlossen, was Griechen über bedingtes Recht und unbedingte Gerechtigkeit philosophiert haben. Wenn wir uns im übrigen diesmal auf knappeste Kontraste im Vergleich zu Rom beschränkt haben, so ist das im persönlichen Mangel an Information über Hellas, aber glücklicherweise auch sachlich in dem erdrückenden Schwergewicht des römischen Rechts begründet. Zusammen mit den Keilschriftrechten ermöglicht es uns der ägyptische Stoffkreis, der historisch bedingten Selbständigkeit vorklassischer Rechtskulturen nachzufragen. Je weniger wir sie in das Prokrustesbett einer unangemessenen Begriffssprache zwingen, desto mehr werden wir von ihnen selbst und ihrer universalgeschichtlichen Bedeutung erfahren, die über Hellas zu Rom führte – auch dies ein Stück Lebenskontinuität vom Alten Orient über die klassische Antike bis zur Gegenwart. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
55
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Die geistigen Äußerungen in Kunst und Wissenschaft sowie deren Zustandekommen und Vermittlung durch Erziehung können zusammengefaßt werden. Sie können es wenigstens in dem Sinne, daß Kunst und Wissenschaft zwar nicht mit Überlieferung beginnen – jede Tradition fängt einmal an und setzt Schöpferkraft voraus –, aber in hohem Grade auf Überlieferung beruhen, die in besonderer Weise Erziehung einschließt und fordert. Da freilich die Kunst, vorab die bildende, als eigentlicher Bereich der Form von jenem stetigen Wandlungsschicksal getragen wird, das aller Form immanent ist, hat die bildende Kunst der Ägypter im Rahmen des Gesetzes, nach dem sie angetreten, einen freien und großen Höhenweg genommen. Wir dürfen uns wiederholen: Ihr gebührt eine der Kronen, die die Gesamtheit des Alten Orients zu vergeben hat. Bei einer glücklichen Begegnung von Handwerk und Idee erfuhr sie zudem die Gnade der geprägten Form, die lebend sich entwickeln darf. Die Lebendigkeit der Stilgeschichte bildender Kunst im Pharaonenreich ist eine einzige Kette von Beweisen dafür und bezeugt über die Jahrtausende hin, daß der gesellschaftliche Auftrag seine Grenze am eigenen Gewicht der künstlerischen Form findet. Die Form ihrerseits wird zudem nicht von irgendeinem, sondern von jenem tiefsten Auftrag bestimmt und gehalten, der auf »Kultur« zurückgeht und erst mit ihr erlischt. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
55
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Bei alledem war es nur gesund, daß die an materiellen und organisatorischen Aufwand gebundene bildende Kunst innerhalb der ägyptischen Gesellschaft, abgesehen allenfalls von Teilen des Kunstgewerbes, in denkbar hohem Maße Auftragskunst gewesen ist. Es ist auch noch zu erkennen, daß sich die soziale Funktion günstig auf den Rang des bildenden Künstlers, auch des Musikers ausgewirkt hat. So ist die Frage berechtigt, ob ohne die Disziplin des Auftrags und seiner herkömmlichen Aufgaben (Bauten für Götter, Könige, Tote und deren Ausschmückung) das feste Gefüge der künstlerischen Form gelockert worden wäre. Gewisse Eigenheiten der Provinzkunst abseits der Residenz (nicht nur Qualitätsunterschiede betreffend), manch frei hingeworfene Skizze (Handwerkersiedlung von Der el-Medîne) und nicht zuletzt der die schlummernden Ausdruckskräfte freilegende »Sonderauftrag« Echnatons (Kunst von Amarna) geben uns Veranlassung, die Frage zu bejahen. Hier wie überall sollte der Historiker nicht aus dem Auge verlieren, daß das tatsächlich Verwirklichte mögliche Ansätze nur abdrängt, aber als Möglichkeiten nicht ausschließt. Da er indes anderseits von der verwirklichten Gestalt – im Falle der Kunst identisch mit dem Innersten der »Kultur« – auszugehen hat, muß auch der Vergleich mit anderen Bereichen von hier aus geführt werden. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
56
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Schauen wir nach Hellas, so ist das bunte Bild sowohl der kleinen Landschaften wie der individuellen Prägungen, die ungeachtet einer großen Gemeinsamkeit zur Sprache kommen, als griechisches Phänomen bekannt und gerühmt genug. Vielleicht ist es mehr als geistreiche Spielerei, wenn man darüber hinaus die flächenhafte und kristallinische Struktur der ägyptischen Kunst mit der weiten und klaren Fläche ihrer Gesellschaft, die plastische und organische Form der griechischen hingegen mit der Körperschaft (im wörtlichen Sinne) vergleicht, die die Polis darstellt. Sahen wir die bildende Kunst von der materiellen und thematischen Seite des Auftrags her in offenbar glücklichen gesellschaftlichen Bindungen stehen, so haben die offiziellen Teile der Literatur durch das besondere Erfordernis schriftlicher Ausbildung eine in ihrer geistig-thematischen Kombination eher hemmende Fessel getragen. Sie wirkte sich gleichzeitig als Grenze des sachlichen Spielraums und als Regulierung der Gedanken aus. Ein freilich krasses Beispiel mag das Gemeinte verdeutlichen. Der Kultus hat mit einer Verquickung von Mythos und Ritual in Ägypten die dramatische Form geschaffen, aber sie blieb mit eng umschriebenem Themenkreis und bescheidensten sprachlichen Ausdrucksmitteln allzeit an diesen ihren Sitz im Leben gebunden. Sie hatte mythisches Geschehen der Götterwelt für den Menschen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
56
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
57
darzustellen; dabei genügten knappe Andeutungen der Handlung. Es fehlt daher jeder Hinweis und spricht auch gegen alle Wahrscheinlichkeit, daß von da aus ein Weg auch nur annähernd ähnlich dem beschritten worden wäre, wie er in Hellas bei immerhin gleichem kultischem Ansatz zur Ausbildung der attischen Tragödie führte. Um zu dieser einzigartigen Erscheinung zu gelangen, hätte es zunächst einer Erweiterung des Mythos auf den Menschen und dann einer bestimmten Art des Menschseins bedurft, die beide in Ägypten nicht gegeben waren. Was für die gesellschaftlichen und institutionellen Bindungen der Kunst in unverächtlichen Teilen gilt, das trifft auf die Wissenschaft im vollen Umfang zu. Hier, wo es keine entfernt vergleichbare Eigenständigkeit der Form gab, war die Tradition so beengend, daß man sich immerhin fragen kann, ob es eine »ägyptische Wissenschaft« überhaupt gegeben habe – was im Hinblick mindestens auf die bildende Kunst unvorstellbar scheint. Nun, vom Gegenstand her hat es sie zweifellos gegeben, in Frage stehen nur die Methoden. Gerade hier liegen freilich Aufgabe und auch Reiz unserer Darstellung. Zwei Dinge haben den Schicksalsweg der Wissenschaft am Nil bestimmt: die Macht der Praxis und die Macht des Priestertums. Sie waren es, die das Herz der Wissenschaft, also das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
57
Denken, in den Fesseln der Zweckgebundenheit gehalten haben. Um das Gemeinte klarzumachen, beginnen wir im gewohnten Blick auf Hellas mit einer mehrschichtigen vergleichenden Betrachtung. Da fallen uns hüben und drüben Erzieher ins Auge, die ihre Zeitgenossen rechte Lebensführung lehren wollten. Wir schauen auf Ptahhotep und Sokrates. Beide stimmen, indem sie als Tugendlehrer auftreten, offenbar darin überein, daß Tugend lehrbar sei. Dies, wohlgemerkt, versteht sich nicht von selbst und bekundet einen rationalen Zug, der demnach dem Ägypter nicht weniger zu eigen war als dem Griechen und der sich ja unter anderem auch im ägyptischen Prinzip der (unperspektivischen) Denkbilder eindrucksvoll äußert. Jedenfalls darf Mangel an rationaler Kraft keineswegs als Ursache für den Stand der Wissenschaft in Ägypten angesetzt werden. Doch zurück zu unseren beiden Gestalten: Sie unterscheiden sich trotz ihrer bedeutenden Gemeinsamkeit grundsätzlich in dem, was bei ihnen jeweils zum Ethos des Tugendlehrers hinzutritt. Das ist ganz unverkennbar auf seiten des Ägypters (Ptahhotep wie aller seiner Nachfolger) die praktische Erfahrung, auf seiten des Griechen die Lehre vom Denken und Erkennen. Ptahhotep will mit seiner praktischen Erfahrungsweisheit den Ägypter seiner Zeit in seiner Umwelt »richtig«, also der Maat gemäß verankern, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Sokrates aber will mit Logik und Dialektik die menschliche Situation überhaupt erkennend entlarven. Nun wäre es gewiß zu billig, Ptahhotep deshalb einer bedingten, Sokrates einer unbedingten Sphäre zuzuweisen; denn die Maat, die der Ägypter vertritt, ist als solche prinzipiell (kasuell sind nur die einzelnen Sätze des Weisen), und umgekehrt kam die Lehre des Sokrates als Antithese aus dem historischen Raum der Sophistik und führte in den anderen Platons hinein. Aber der entscheidende Vorrang des Denkens vor Erfahrung und Abzweckung, ja die selbständige Pflege dieser alles überragenden Kategorie des menschlichen Geistes bringt im Kontrast die Konturen heraus, die das Bild der ägyptischen Wissenschaft bestimmen. Bevor wir es an zwei Einzeldisziplinen zeichnen, sei ein Wort zur Philosophie gesagt, der ja das Denken in erster Linie obliegt. Man wird in einer Geschichte der Philosophie nicht ohne Grund vergeblich nach einer altägyptischen Abteilung suchen. Dennoch ist über philosophische Fragen wie der Identität zweier Wesen, der Vielheit oder Mehrheit in der Einheit, des Urbildes und der Abbilder in Ägypten bemerkenswert oft nachgedacht worden. Nur haben sich die Denkprobleme dort ausschließlich den Priestern gestellt und sind von ihnen zwar in eindrucksvoller und auch folgenreicher Weise, aber stets an die Zwecke bestimmter Glaubensinhalte gebunden beantwortet Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
57
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
58
worden. So hat sich alles in allem auf ägyptischem Boden eine Theologie von Rang ausgebildet, zu einer freien Philosophie jedoch ist es nicht gekommen. In Hellas dagegen sehen wir diese schon bei Hesiod ansetzen und den Menschen im Erkenntnisstreben der Natur, sich selbst und dem Göttlichen gegenüberstellen. Dafür fehlt hier vor der späten intensiven Begegnung mit dem Osten eine Theologie als geistige Bewältigung der Götterwelt durch den Menschen, weil die Priester die Götter nur zu bedienen und nicht zu be-denken, die Philosophen wiederum nur mit dem »Göttlichen«, aber nicht mit dem geschichtlich gewachsenen Pantheon zu tun hatten. Im Hinblick auf die Wissenschaft kann die Besetzung, um nicht zu sagen: Beschlagnahme, des ordnenden Denkens durch die ägyptischen Priester schwerlich überschätzt werden. Nehmen wir die Macht der Praxis hinzu, in der sich Tradition als Erfahrungswert geltend macht, so haben wir die hauptsächlichen Existenzbedingungen der Wissenschaft im Pharaonenreich beisammen. Aus deren Kreis wählen wir nun zwei kennzeichnende Beispiele aus: Geschichtsschreibung und Mathematik. Was die erstere betrifft, so ist der Staats-Auftrag als Grundlage und Formprinzip mit Händen zu greifen. Von der frühen Annalistik an wird aufgezeichnet, was der König als Gestalter des Geschehens getan Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
hat, und alsbald ist zu beobachten, daß von Fall zu Fall im Bild auch Dinge dargestellt werden, die der einzelne König historisch gar nicht getan, wohl aber im Sinne der Ideologie zu tun gehabt hat. Die Geschichtsschreibung läßt infolgedessen zwar hie und da Krisensituationen erkennen, arbeitet aber gerade dann den König als unfehlbaren Herrn über die Dinge heraus. Wenn Kalchas dem Agamemnon trotzt und Alexander auf Aristandros hört, so weist umgekehrt der Hyksosvertreiber Kamose den offenbar institutionellen Rat seiner Beamten zurück und besiegt, dem Befehl seines recht ratenden Vaters Amun gehorsam, dann auch die Feinde. Wo aber die Sache Ägyptens beinahe schiefgegangen wäre, wie im Falle der Schlacht von Kadesch, da reißt der König (Ramses II.) persönlich das schon fast verlorene Spiel herum und rettet, aufs tatsächliche gesehen, ein Unentschieden. Die Lagekritik, die sich hier offenkundig findet und die wir ebenso im Bezug auf das Heer Thutmosis' III. vor Megiddo antreffen – es hatte durch Plünderung des feindlichen Lagers die Eroberung der Stadt unnötig verzögert –, zeigt uns auf einen Blick die Ansätze zu einer Wiedergabe des tatsächlichen Geschehens und zugleich ihre Abdrängung oder allenfalls Indienstnahme zugunsten der Ideologie. Im ganzen kann man (mit E. Hornung) Geschichte im Verständnis ihrer ägyptischen Aufzeichner als Kult ansehen, den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
58
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
58
der Pharao als Bevollmächtigter der Götter und daher als Garant der rechten Ordnung ausführt. Die Wiedergabe historischer Taten auf den Wänden der Tempel, von Fall zu Fall austauschbar mit rein kultischen Szenen, bekräftigt aufs schönste diese Sicht und findet umgekehrt darin ihre tiefer gehende Erklärung. Ob die Amtspersonen, denen die Aufzeichnung oblag, Priestertitel trugen, stehe dahin. Vielleicht kennzeichnet es die Lage, daß der einzige (freilich hellenisierte) ägyptische Historiker, unter dessen Namen wir einige Fragmente kennen, Priester war; er hieß Manetho und schrieb die Geschichte seines Landes für einen der beiden ersten Ptolemäer. Wenn man sich zum Vorstehenden noch das zyklische Element mit seinem Nachdruck auf dem Typischen und Wiederkehrenden hinzudenkt, das der mit jedem Herrscher von neuem beginnenden dramatischen Rolle entspricht, so rundet sich nicht nur das Bild der ägyptischen Geschichtsschreibung mit der epischen Breite ihrer sich nur begrenzt wandelnden Phraseologie, sondern es wird auch möglich, sie zunächst zu der israelitischen in einen heuristischen Gegensatz zu stellen. Denn in Israel ist es trotz Auftrag und Dogmatik von gleicher Verbindlichkeit offenbar deshalb zu einer Historiographie von höchstem Rang und stärkster Fernwirkung gekommen, weil die Geschichte sub specie Jahwe linear verlief und daher Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
den Aufbau tiefer Prospekte erlaubte (Beispiel im kleinen: die Geschichte von der Thronfolge Davids, Beispiel im großen: das ganze Alte Testament). Die Griechen aber haben – zwar keineswegs ohne Bindung und innere Leidenschaft, doch ohne zweckbestimmten Auftrag – die Geschichte bewußt und alsbald mit hoher Meisterschaft in den Bereich der Forschung geholt (historia heißt zunächst »Forschung«). Sie haben sich als erste das Ziel gesetzt, wenn möglich durch Augenschein festzustellen, wie es denn eigentlich gewesen ist. Es waren gewaltige Paukenschläge, mit denen Herodot und Thukydides innerhalb eines Menschenalters diesen unerhörten Klang hörbar machten, und sie mögen denen im Gewissen dröhnen, die einem uralten ideologischen Instrumentarium verfallen und das Rad der Geschichtsschreibung um Jahrtausende zurückdrehen. Die Pforten der Mathematik, vor denen mit anderen Ungeweihten auch wir recht gern vorüberschlichen, sollen nur auf einen Augenblick durchschritten werden. Nach fachkundigem Urteil beruhten die mathematischen Kenntnisse der Ägypter ausschließlich auf Erfahrungswerten. Der Sache nach handelt es sich um bloßes Rechnen, worin eine beachtliche Fertigkeit ausgebildet wurde. Die Grundlagen müssen frühzeitig gelegt worden sein: Alte Bauwerke setzten die Verwendung fester Maße voraus, das Zahlensystem mit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
59
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
59
seiner Dezimalteilung (aber ohne Stellenwert-Schreibung, wie sie das mesopotamische Sexagesimalsystem verwendet) war zu Beginn der historischen Zeit voll ausgebildet, auch Bruchrechnung darf man früh ansetzen. Schließlich wurde eine Näherungslösung für die Zahl π gefunden, man konnte einen Pyramidenstumpf berechnen und manches andere mehr. Das alles blieb indes im Bereich des Empirischen, wie es nicht zuletzt auch die ihrerseits einfache Wirtschaft erforderte; das Forschen nach der Ursache bestimmter mathematischer Zusammenhänge war den Ägyptern ebenso fremd wie das nach dem Grund historischer Ereignisse und ihres Gefüges. So gehören die Schöpfungen der Rechenkunst in die Werdezeit und Frühgeschichte der ägyptischen Zivilisation und wurden dann nur überliefert, kaum weiterentwickelt. Die Befreiung des Denkens vom Priestertum und von der Praxis fehlte, und nicht zuletzt an diesem Schicksal der Mathematik können wir wie in einem Negativ das Hohelied des um seiner selbst willen gepflegten Denkens und der zweckfreien, aber keineswegs zwecklosen Forschung ablesen. Griechenland hat auch hier das eine wie das andere in die alte Welt gebracht und damit Tore aufgestoßen, die weder der praktische Materialismus der westlichen noch der ideologische der östlichen Moderne wieder schließen können. Ägyptische Wissenschaft in ihrer bloßen Praktizität Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
60
trug die lastende Fessel ihrer Gesellschaft und konnte sogar, ihrem Mangel an prinzipieller Methodik zufolge, in den Schoß bestimmter Erscheinungen der Religion zurücksinken, wie die ursprünglich respektable Medizin in Zauberwesen und Heilgottglauben. Mit dem Befreiungswerk der griechischen Wissenschaft aber ist ein Weg gebahnt worden, der in letzter Linie zur weltweiten Einheit der Wissenschaft geführt hat, die zwar gesellschaftliche Aufträge erfüllt, aber methodisch in sich selbst ruht. Übrigens gab es in Griechenland trotz allem noch eine Fessel: die Philosophie. Sie, die das Denken freigemacht und zugleich in Zucht genommen hatte, hinderte es dann, seinerseits die Erfahrung ausreichend in Dienst zu nehmen. Es muß unsäglich schwer gewesen sein, die vom Denken geleitete Erfahrung zum Prinzip der Wissenschaft schlechthin zu erheben. Daß die starken Kräfte der Tradition Erziehung und Ausbildung in Ägypten eine hervorragende Rolle zuweisen mußten, liegt auf der Hand. Freilich ist auch von vornherein anzunehmen, daß sie diese Rolle in besonderer Weise prägten. Wir beschränken uns auf einige Linien, die die Funktion des Phänomens im Ganzen des ägyptischen Gesellschaftsaufbaues kennzeichnen. Entscheidend ist zunächst das Junktim von Bildung und Schrift, das bei der Schwierigkeit des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
60
Schriftsystems zugleich die Anzahl der »Gebildeten« in Grenzen hält, die wir uns schwerlich eng genug vorstellen können. Ob man die Schreiber deshalb einen »Stand« nennen soll, stehe dahin; aber die Bedeutung dessen, was sie handhaben, rechtfertigt mehr als die bloße Kennmarke »Beruf«. Keinesfalls liegt einfache Erblichkeit vor, denn das Geschäft muß erlernt werden, und zwar hart genug. Als Ausbildungsziel wird, völlig unverhohlen, das lohnende Amt genannt, und so haben die ägyptischen Schulen primär nicht Menschen, sondern Amtsträger ausgebildet. Kein Wunder, daß der Ägypter sich immer als Amtsträger empfunden hat und mit einer Fülle von Titeln vorstellt. Wir fügen jedoch mit allem Nachdruck hinzu, daß die Weisheitslehrer, besser: Lebenslehrer (wie der obengenannte Ptahhotep), auch den Menschen selbst erziehen wollten: zu einem Wesen, das sich in der ägyptischen Gesellschaft und durch sie hindurch vor der im Unbedingten verankerten Norm der Maat bewähren könne. Diese tiefer greifende Erziehung blieb auch nicht auf die kleine Anzahl der Schreibkundigen beschränkt, sondern wandte sich an alle, die »hören« konnten oder wollten. Was sie vermittelte, war eine Eigenschaft, die mit »Haltung« vielleicht am besten bezeichnet ist, und Haltung hat denn auch die ägyptische Kultur im ganzen ausgezeichnet. Was die Schulen als Vermittler der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Wissenssubstanz betrifft, so hielten sie im Sinne bloßer Überlieferung und mittels Gedächtnistraining zum Auswendiglernen, aber nicht zum Denken an. So bilden sie ein Geschehen ab und bestimmen es wesentlich mit, das nach großen, für uns meist dunklen Einsätzen in der Frühzeit trotz vielem äußeren Dazulernen schon auf der Höhe der Geschichte zu Erstarrung und Absinken führt. Als Träger und Präger der Schule erscheinen folgerichtig der Hof beziehungsweise die Residenz und die Tempel – vielleicht mit einer fortschreitenden Verlagerung des Schwergewichts von den ersteren auf die letzteren, wie es der historischen und religiösen Gesamtlinie entspräche. Die Institution des »Lebenshauses«, in dem zunächst die Rituale für das Leben des Herrschers erstellt wurden (daher der Name) und die zu einem Hort der höheren und speziellen Wissenspflege in bisher nicht ausgemachtem Umfang geworden sind, zeigt vollends das vom Priestertum für König und Gesellschaft verwaltete und entsprechend geprägte Bildungsmonopol. Seinen Platz zwischen Tempel und Palast, so jedenfalls in Amarna, dürfen wir als räumliches Sinnbild des sozialen Sachverhalts ansehen. Die Gleichförmigkeit von Unterricht und Lehrstoff im ganzen Lande folgt notwendig aus der einheitlichen Regie. Wieder liegen die Dinge in Hellas vom Ursprung her ganz anders. Der Kontrast beginnt mit dem späten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
60
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
61
Aufkommen der von auswärts bezogenen Schrift, die dann in ihrer einfachen Form jedermann zugänglich ist, führt im Innersten zum sprichwörtlichen Begriff der paideia als umfassender Ausbildung der menschlichen Anlagen und ermöglicht in ironisch gezeichnetem Grenzfall den »theoretischen« Denker. Dieser nimmt sich in seiner praktischen Hilflosigkeit als Vorläufer unseres zerstreuten Professors aus (Band III, S. 611 f.) und steht in einem schreienden Gegensatz zum tauglichen Beamten, den die ägyptische Erziehung heranzubilden gewillt und imstande war. Was abschließend zur Wirtschaft gesagt werden kann, muß sich erst recht auf eine Ableitung der Gestalt aus ihrer Funktion in der Gesamtstruktur beschränken. Das erlaubt uns, die gerade hier so bunte Fülle sich geschichtlich wandelnder Erscheinungen mit ihrer starken Spannung zwischen Theorie und Praxis auf wenige Hauptlinien zurückzuführen. Daß der grundsätzliche Zentralismus zunächst strukturwidrig aufgeweicht und dann in neuer Form wiederhergestellt, ja womöglich noch verstärkt wird, daß in der Wirklichkeit oft einzelne Grundherren an die Stelle des Königs treten, daß der König eines Tages als spezifischer Eigentümer neben dem von ihm verkörperten Staat sozusagen noch ein zweites Mal erscheint, daß die Tempel offenbar sogar auch der Idee nach Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
selbständige Wirtschaftsmächte sind – dies alles können wir hier nicht zur Sprache bringen. Der Leser muß es aber jeweils in Rechnung stellen. Um so deutlicher mag das Wesentliche hervortreten: Die ägyptische Wirtschaft wurde bis ins kleinste Detail und in der üblichen Schriftlichkeit vom König durch seine Verwaltung geleitet. Die Wasserwirtschaft als allgemeine Grundlage der Landwirtschaft, die Aufsicht über die Bestellung der Felder, die Lagerung des Erntegutes und nicht zuletzt die Abgaben in Form direkter Naturalsteuern lagen in der Regie des Königs und in der Hand seiner Beamten. Die Ausbeutung der Bodenschätze war selbstverständlich Sache dessen, der in so großer Hoheit das Land regierte. Der Außenhandel erscheint als königliches Monopol; im Innern herrschte die Verteilung, daneben bestand nur ein simpler Tauschhandel auf den Märkten der Siedlungen. Wenn das Staatsgefüge in Ordnung war, besaß diese monumentale Wirtschaftsform eine Krisenfestigkeit, die auch Naturkatastrophen durch Hochwasser oder Dürre abfangen konnte. Davon zeichnet uns die biblische Josephsgeschichte ein kulturgeschichtlich zutreffendes Bild. Kaufleute hat es erst im Neuen Reich gegeben. Sie waren Ausländer, man könnte sie fremde Spezialisten nennen. In ihrer meist syrischen Heimat war ja das Metier des Kaufmannes zu Hause, das in Mesopotamien schon sehr früh ausgebildet Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
61
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
62
worden und dann zu hochentwickelten Formen gelangt war. Das gleiche gilt für Hellas. Wir finden hier eine bewegliche und freie Wirtschaft mit dem Kaufmann als tragender Figur und der Münze als Symbol. Staatliche Eingriffe, wie Solons Ausfuhrverbot für Bodenprodukte zwecks Preissenkung im Inneren oder des Tyrannen Peisistratos Widerspiel von großen öffentlichen Aufträgen und ungewöhnlicher direkter Besteuerung (Band III, S. 175, 181), sind Einzelmaßnahmen. Als solche zeigen sie zugleich gewisse Empfindlichkeiten eines Systems, das zwischen hohem Wohlstand für viele und alarmierenden Notständen schwankt. Aufs ganze gesehen gründen sich also enorme Aufwendungen für Kulturgüter von höchstem Rang im einen Falle auf eine großartig konzipierte, aber auf die Dauer einfallslos gelenkte und dabei stets aufs äußerste geschröpfte, im anderen auf eine langsam wachsende, elastische und leistungsfähigere Wirtschaft. Daß auch in diesem Punkte beide Formen dem Ganzen des jeweiligen Gesellschaftsaufbaus entsprechen, bedarf keines Beweises. Im Ergebnis unserer strukturvergleichenden Betrachtungen stehen Gebilde von imponierender innerer Folgerichtigkeit. Die ägyptische Großgesellschaft und die kleinräumige Polis der Griechen hatten beide eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
62
alle Lebensbereiche umgrenzende wohlproportionierte Form. Sie zeigen eine einheitliche Haltung und eben darin Kultur. Wenn wir aus dem Bereich des Alten Orients Ägypten ausgewählt haben, so war unsere Wahl sachlich dadurch berechtigt, daß man hier und nur hier die vollkommene Antithese zu Hellas trifft. Wer eine Folie für die Geschichte Griechenlands sucht, findet im ägyptischen Hintergrund eine ungebrochene Farbe von der größten Leuchtkraft. Die syrischen Kleinstaaten gehören demgegenüber in vielem eher auf die Seite der griechischen Struktur. Die Phöniker könnten, gegen Ägypten abgesetzt, als Hellenen des Ostens erscheinen; nur kamen sie, im Banne übermächtiger Nachbarn und unstreitig auch weniger begabt, geistig nicht weit über eine Vermittlerrolle hinaus. Mesopotamien läßt mindestens anfänglich die Stadt als Strukturelement erkennen und hat auf die Länge der Zeit mit dem freien Händler und einer reicheren Erfahrungswissenschaft Beweglichkeit und Einfallsreichtum gezeigt, die es ein Stück weit an Griechenland heranrücken. Der weitgereiste »Vater der Geschichte« folgte also einer richtigen Spur, als er gerade in den Ägyptern das Gegenbild zu den übrigen Völkern, das heißt zu der ihm vertrauten und zunächst griechisch bestimmten Welt sah. Was Herodot als Augenzeuge und Sammler Punkt für Punkt vorführt, sind Einzelheiten und meist Kuriositäten. Aus weiter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
62
Ferne haben wir umgekehrt nur die großen Umrisse wahrnehmen können. Indem wir zur Ferne nun die Höhe gesellen, bietet sich unseren Augen ein reizvolles Bild. Ägyptens Gesellschaft beruhte auf einem idealistischen Konzept. Setzungen großen Wurfes bestimmten in früher Zeit das künftige Geschehen. Zähes Beharren hielt Formen aufrecht und nahm stärkste Spannungen zum Inhalt in Kauf, die nur in der ihrerseits idealistischen bildenden Kunst bewältigt erscheinen – daher ihre bis heute faszinierende Haltung. Das Große liegt am Anfang, alles Weitere ist teils Entfaltung und Bereicherung, teils Erstarrung und Abstieg. Kein Begriff träfe den Lauf der ägyptischen Geschichte weniger als der des »Fortschritts« im landläufigen Sinne. Die Griechen dagegen hatten viel zuviel Vorgefundenes zu übernehmen, als daß sie ihr Haus in ein paar großen Würfen hätten erbauen können. Bei allem schuldigen Respekt vor Homer bleibt Jahrhundert auf Jahrhundert, Generation auf Generation Gewaltiges zu tun übrig und möglich. Der Schwerpunkt liegt in der klassischen Mitte des hellenischen Tages, Daten und Namen nennen hieße Eulen nach Athen tragen. Stetiges und freies, mitunter planlos und gefahrvoll scheinendes Wachstum führte zur Ausbildung aller menschlichen Kräfte. Plan und Freiheit sind Kennworte, die Größe und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Elend einerseits der ägyptischen, anderseits der hellenischen Kultur und ihrer Geschichte umschreiben. Wir stellten am Anfang die Frage, ob die Geschichte des Alten Orients noch zu uns Heutigen sprechen könne. Im Blick auf Größe und Elend unseres Zeitalters beantworten wir sie am Ende mit einem uneingeschränkten Ja. In einem Tiefsten erscheinen uns Ägypten und Hellas freilich in Übereinstimmung: Sie hatten bei einem Minimum an Technik ein Maximum an Kultur. Ist es denkbar, daß wir auf die Dauer im umgekehrten und offenbar verkehrten Verhältnis leben können?
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
63
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und Struktur seiner
Anhang: Abbildungen ¤ Mitglieder einer ägyptischen Expedition in Punt Bemaltes. Relief in der Punt-Halle des Totentempels der Königin Hatschepsut in Deir el Bahri, 18. Dynastie, um 1490 v. Chr. ¤ Gesandte aus den Stadtstaaten im südlichen Zweistromland während ihres Aufenthaltes in Ägypten. Bemaltes Relief im Grab des Puinrê bei Theben, 18. Dynastie ¤ Geometrische Zeichnung und mathematischer Text zu einem »Euklidischen Axiom«. Kopie einer altbabylonischen Tontafel aus Tell Harmal, nach 1830 v. Chr. Bagdad, Iraq Museum ¤ Der Welteroberer Mencheperrê Thutmosis III. Bemaltes Relief aus den Trümmern seines südlich vom Hatschepsut-Heiligtum gelegenen Tempels in Deir el Bahri bei Theben, 18. Dynastie, nach 1481 v. Chr. ¤ Die Pyramide des Königs Chephren bei Gise und Reste vom Totentempel des Königs Mykerinos, 4. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Siegfried Morenz: Der alte Orient. Von Bedeutung und
Dynastie ¤ Ägyptischer Zeitmesser Die sogenannte Wasseruhr des Hofbeamten Amenemhet Kopie des Tongefäßes aus dem Bezirk des Amun-Tempels bei Theben, 18. Dynastie, um 1400 v. Chr. Wuppertal-Elberfeld, Historisches Uhren-Museum
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
56
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Alfred Heuß
Herrschaft und Freiheit im griechisch-römischen Altertum
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
65
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
67
Die Anfänge »Herrschaft« und »Freiheit«, in ihrer formalen Allgemeinheit zwar dem Verdacht der Trivialität ausgesetzt, sind nichtsdestoweniger Grundkategorien des politischen und sozialen Lebens und wohl schon deshalb geeignet, eine Vielfalt welthistorischer Phänomene aufzuschließen. Im folgenden werden sie zudem auf einen geschichtlichen Komplex angewandt, der kraft seiner Homogenität gestattet, ein solches Experiment verhältnismäßig mühelos durchzuführen, das heißt ohne die Notwendigkeit, die Elemente, die es zu erhellen gilt, allzuoft auswechseln zu müssen. Insofern ist das Verfahren umgekehrt geeignet, dank seiner spezifischen Durchführbarkeit die Einheit der in Frage stehenden Epoche gleichsam indirekt zu erweisen und in Ansehung einer solchen durchgehenden Thematik auch einem Stück derjenigen Aufgabe zu seinem Recht zu verhelfen, die in einer übergreifenden Überlegung ihre Ansprüche stellen darf: Einen Wesenszug dieses großen historischen Zusammenhanges zu erfassen. Herrschaft stellt sich nach ihrem Umfang dar, und hier in zweierlei Hinsicht. In der einen bestimmt sie sich im Verhältnis zu dem ihr im Rahmen des gleichen politischen Verbandes unmittelbar Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
67
Unterworfenen, in der anderen nach außen zu anderen politischen Körpern der gleichen Art. Ihre Grenze in jeglicher Hinsicht bezeichnet den Ansatz der Freiheit, die sich infolgedessen in einem Komplementärverhältnis zu ihr befindet. Der Ausgangspunkt des griechisch-römischen Altertums ist nun durch eine offensichtliche Armut an Herrschaftsvermögen gekennzeichnet. Die Welt, die ihr räumlich und zeitlich benachbart war, die des alten Orients, hielt es damit ganz anders und kannte große, um nicht zu sagen gewaltige Herrschaftsgebilde (Babylon, Ägypten, Hethiter und später Assur). Nichts dergleichen wurde der neuen, mit dem ersten Jahrtausend beginnenden Ära im Raume der Mittelmeerküste in die Wiege gelegt. Nicht einmal als ein »Erbe«, das einen »renaissanceartigen« Rückbezug erlaubt hätte. Es ist eigentümlich, in welch radikaler Weise hier die Traditionen abgeschnitten waren; denn gegeben hat sie es einmal. Die gewaltigen Burgen der mykenischen Zeit sind nicht vorstellbar ohne eine breite Schicht von fronenden Hörigen auf der einen Seite und einer starken Königsgewalt auf der anderen. Sie sind sowohl militärische Befestigungsanlagen als auch die Hülle eines zentralen Wirtschaftsorganismus, eines oikos (Haus), wie die Wirtschaftsgeschichte schon des längeren einen solchen Typus zu bezeichnen pflegt. In der Tat sind in den zahlreichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
68
Tontafeln von Linear B, die man seit zwanzig Jahren lesen zu können glaubt, auch entsprechende Magazinverzeichnisse entziffert worden. Das griechische Festland war überspannt von einem weiträumigen Netz solcher oikos-förmigen Herrschaftszentren, die wahrscheinlich auf Anregung entsprechender kretischer Urformen entstanden sind und damit einen Ableger vorderorientalischer Sozialorganisation bildeten. Denn es besteht kein Zweifel, daß die urtümliche Weise, in der die spätneolithische Frühgeschichte den Schritt zur »Hochkultur« vollzog, eben in der Herausstellung eines derartigen arbeitsteiligen und von außen in Regie genommenen Zusammenhangs bestand und die früheste Form städtischer Siedlung von daher geprägt wurde (am evidentesten zu erkennen an den sumerischen Tempelstätten Mesopotamiens). Der frühen, mit der Wende vom zweiten zum ersten Jahrtausend beginnenden griechischen Geschichte ist solche Akkumulation von ökonomischer und politischer Macht in einer Hand völlig unbekannt. Das ist um so bemerkenswerter, als sie ihrerseits den Keim für eine städtische Lebensform gelegt hat und diese für die gesamte Antike zur zivilisatorischen Grundlage werden sollte. Die Frage nach der Entstehung von Macht und Herrschaft im griechisch-römischen Altertum spitzt sich deshalb auf den Tatbestand der Genesis der Stadt im griechischen Sinne zu. Es ist einer der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
leidigsten Mißstände der historischen Wissenschaft, daß wir gerade bei der Erörterung dieser Wurzeln unserer Epoche völlig im dunkeln tappen und dies nur durch Vermutungen zu erhellen vermögen. Eines ist aber sicher: Die große Völkerumschichtung und -überschichtung der Ägäischen Wanderung, die in so vielem den Rahmen der späteren griechischen Geschichte bestimmte, trug in diese Welt kein eigenes zukunftsträchtiges Aufbauprinzip hinein. Das war ganz anders als anderthalb Jahrtausende später bei der mittelalterlichen Völkerwanderung, als der fränkische Staat beziehungsweise das fränkische Königtum sich in der fremden Umgebung des Römischen Reiches nicht nur behauptend, sondern aus der Auseinandersetzung mit ihr neue Kräfte ziehend, dem politischen Organisationstyp, welchem die Zukunft gehören sollte, den Weg wies. Das griechische Heeresund Stammeskönigtum der Wanderzeit dagegen war nach der Ägäischen Wanderung allenthalben zum Absterben verurteilt. Nur in ganz peripheren Bezirken hielt es sich, bei den Makedonen, bei den Molossern (in Epirus) und in einigen anderen kleinen Stämmen in der Nähe, wahrscheinlich deshalb, weil dort an der Grenze die Kampfsituation gegen bedrohliche Nachbarn noch nicht aufgehört hatte und die ethnische Konsolidierung in dem dortigen Raum noch nicht abgeschlossen war. Sparta ist ein Sonderfall, der dieses Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
68
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Bild in keiner Weise modifiziert. Sein Königtum stammte gewiß aus der Zeit der Landnahme, wurde aber durch seine Institutionalisierung als Doppelkönigtum (wie dies zugegangen war, ist noch immer ein ungeklärtes Rätsel) seines ursprünglichen Charakters derartig entkleidet, daß es als Quelle eigenständiger Herrschaftsbildung fürderhin nicht mehr in Betracht kam. Auf das Ganze der griechischen Geschichte besehen, blieb der Stammesverband politisch steril, seine späte Rolle, die er in Gestalt von Makedonien und der achaiischen und aitolischen Bundesstaaten, Abkömmlingen der alten Stammesorganisation, spielte, war zumindest hinsichtlich ihrer strukturellen Bedeutung zweitrangig und deshalb alles andere als imstande, dem politischen Organisationsprinzip des Griechentums eine neue Gestalt zu geben. Bezeichnenderweise hat in dieser Hinsicht Italien mit Griechenland erhebliche Ähnlichkeit. Auch hier war dem alten Stammestum keine Zukunft beschieden. Es verschwand so gründlich, daß sich von ihm im Fortgang der antiken Geschichte nicht die geringsten Spuren mehr erhielten. Freilich mußte hier der Sieg über den Stammesstaat von Rom im offenen Kampf errungen werden. Die Samniten verstanden es, auf einer anderen Basis, durch föderativen Zusammenschluß mehrerer Einzelstämme, ein stabiles Widerstandszentrum aufzubauen, aus dem heraus sie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
68
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
(mit kurzen Unterbrechungen) einen fünfzigjährigen Krieg führten. Es sah zeitweise so aus, als ob die Herrschaft über Italien der zwischen beiden Parteien strittige Kampfpreis wäre, und in der Tat besaßen die Samniten wohl die Chance, wenn auch nicht selbst die dauernde Herrschaft über Italien zu erringen, so doch ihre Gegner daran zu hindern, es ihrerseits zu tun. Es gehört zu den Paradoxien der griechischen Geschichte, daß ihr scheinbares Analogen hierzu ein umgekehrtes Bild zeigt: Philipps Kampf gegen Griechenland könnte als Sieg des Stammesstaates über den Stadtstaat aufgefaßt werden, in Wirklichkeit aber handelt es sich dabei doch nur um einen – zwar folgenschweren – Scheineffekt, denn das Kräfteverhältnis der beiden Potenzen wurde im Zusammenhang der gesamtgriechischen Geschichte keineswegs in ihr Gegenteil verkehrt und die Summe der Entscheidungen, welche die bisherige griechische Geschichte hinsichtlich dieser Thematik gezeitigt hatte, nicht im geringsten annulliert. Das Stammeskönigtum verschwand, weil es sich nach der Seßhaftwerdung und der entsprechenden Pazifierung der Verfassung keine neuen Machtquellen zu eröffnen wußte. Ihm fehlte nicht zuletzt auch das ökonomische Übergewicht, der Überschuß an erobertem Land, über den es hätte frei verfügen können. Das Sondergut, das für ihn als »Amtsperson« reserviert Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
69
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
69
war (témenos) – oder auch für die Götter –, bedeutete wegen seiner geringen Größe nichts. Wenn sich ein Grieche in den ersten Jahrhunderten nach der Wanderung einen mächtigen und reichen Herrscher vorstellen wollte, mußte er vage Phantasiebilder aus der mykenischen Zeit beschwören. Da gab es dann Könige, die es sich leisten konnten, mit einer Handbewegung sechs Burgen oder Städte (der Ausdruck ist im Griechischen synonym) an einen grollenden Gefolgsmann wegzuschenken (Ilias 9, 149 ff.) und ihm die dazugehörigen Grundhalden, die ihn »wie einen Gott ehren und ihm ihre Abgaben zahlen werden«, in verlockender Aussicht zu schildern. Die Wirklichkeit selbst kannte solche Möglichkeiten nicht. Das Milieu ist da viel begrenzter. Es gibt zwar Könige, aber die sind nicht mehr als der erste unter einer Anzahl ihresgleichen, die ihrerseits auch den Königstitel führen. Sie halten sich gemeinsam an einem Ort auf, leben dort zusammen, beratend, beschließend und herrschend. Im Hintergrund gibt es selbstverständlich noch andere Menschen, weniger vornehme, also einfache Leute, denen jedoch Homer zutraut, daß sie, sofern sie hierzu aufgefordert werden, ebenfalls zu seltenen Versammlungen zusammentreten. So könnte es wenigstens gewesen sein, aber es wäre zu weit gegangen, dies unbedingt in jedem Fall zu erwarten. Im Grunde kennen wir die genaue Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
69
Rechtslage dieser Schicht nicht. Nur eines ist klar: Wenn sich in dieser Art ein Gemeinwesen gebildet hat, so war es das Verdienst des Adels. Er ist der Begründer der griechischen Stadt, der Polis, oder, wenn man nicht so will, ihrer Urform, aus der sie sich dann entwickelt hat. Daß ein »König« von sich allein aus dies bewerkstelligt hätte, ist gar nicht denkbar. Woher hätte er die Macht hierzu nehmen sollen? Er war von Anfang an (sofern man die Geschichte mit der Großen Wanderung beginnen läßt) mehr oder weniger mediatisiert und brauchte nicht erst im Verlauf einer Auseinandersetzung mit seinen Standesgenossen mediatisiert zu werden. Die Kraft und der Wille zur städtischen Konzentration gingen von den vornehmen Geschlechtern aus. Die »Geschlechter-Polis« bezeichnet nicht nur ein frühes Stadium der antiken Stadt, sondern gibt sich auch als ihren Ursprung zu erkennen. Die Motive des Adels erraten zu wollen, wäre bei einem so hypothetischen Zusammenhang Anmaßung. Man kann sich nur beiläufig fragen, was er denn sonst hätte tun sollen, nachdem es einen größeren politischen Verband nicht gab, in den er seine Energien hätte investieren können. Die abendländische Stadt des Mittelalters kann man auf ökonomische Antriebe zurückführen (unter anderem wenigstens), etwa auf das Bedürfnis, eine günstige Marktsituation zu stabilisieren und auszunützen, und es ist dann meistens Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
auch einer, der hieran ein begreifliches Interesse nimmt, der Stadtherr. Wenn eines für das Altertum feststeht, dann die Abweichung zu diesem Vorgang. Nicht nur fehlt es am »Stadtherrn«. Mit dem »Markt« steht es nicht besser: Man kann ihn vielleicht da und dort vermuten, aber als Generalindex taugt er nicht. Die wirtschaftlichen Kräfte waren am Anfang des ersten vorchristlichen Jahrtausends noch nicht so entwickelt wie im Hoch- und Spätmittelalter. Wahrscheinlich ist der Sachverhalt viel primitiver, nur kennen wir ihn nicht. Wer herrschen will und nicht die persönlichen Kräfte dafür besitzt, der tut sich mit anderen zusammen, die ähnlich denken; aber natürlich muß er hierzu schon auf dem Sprung gewesen sein, und eine gewisse Differenzierung der Gesellschaft setzt ein solcher »Entschluß« gewiß voraus. Doch wie dem auch sei: Stadtbildung ist stets Zusammenschluß, und der hier zur Diskussion stehende ist sicher von gleichartigen und gleichmächtigen Partnern vorgenommen worden: also Zusammenschluß zu einer »Genossenschaft«. »Familien«, »Sippen« verbanden sich, verbrüderten sich, schufen wiederum Unterverbände, die sich als solche des Blutes ausgaben, Phylen (Aufstämme), Phratrien (Bruderschaften), alles dem Ansehen nach sehr urtümlich, aber doch nichtsdestoweniger menschliche Schöpfungen einer bestimmten Situation, denn »selbstverständlich« waren sie eben Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
70
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
doch nicht, weshalb die Griechen, die in ihrem alten Stammesgehäuse verblieben, sie auch nicht kannten. Derartige Verbände traten nur da auf, wo es Städte gab, und weisen damit auf den Träger der Stadtgründung hin. Schon in der Ilias (2, 362) wird erwähnt, daß diese soziale Gliederung auch der militärischen Gruppierung im Kriege zugrunde lag. Es könnte sein, daß das Bedürfnis nach einer Ordnung der Kämpfer, damals in erster Linie noch Ritter, ein Faktor bei der Entstehung dieser Einheiten war, und sofern man überhaupt die Skala der denkbaren Motive bei der Stadtentstehung durchgehen will, so ist gewiß der Wunsch, im Rahmen der damaligen Möglichkeiten für eine schlagfertige Korporation und damit für eine Erhöhung des Kampfpotentials zu sorgen, das noch am ehesten Wahrscheinliche. Das Zentrum einer Stadt war in der Regel der Burgberg oder Burghügel, in der späteren Terminologie die Akropolis, ursprünglich einfach die Polis, von der dann die ausgewachsene Stadt ihren Namen ableitete (freilich ohne daß die alte Bedeutung verschwunden wäre). Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß solche Siedlungen an Lokalitäten anknüpften, die schon in der mykenischen Zeit als Burghügel erprobt waren. Darüber hinaus wird kaum eine Tradition mitgewirkt haben, es sei denn die Bewahrung der Akropolis als Ort bestimmter Kulte. Die Basis der neuen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
70
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
griechischen Stadt war das kollektive Unternehmertum einer kriegerischen Adelsgesellschaft, nicht die eines mächtigen Herrschers. Die militärpolitische Zweckhaftigkeit bedeutet freilich nicht, daß der Effekt nun ein zielbewußtes Expansionsstreben gewesen wäre und sich diese Art der konzentrierten Vergesellschaftung in einer eindeutigen und einseitigen Einstellung auf eine rational gesteuerte Eroberungspolitik ausgemünzt hätte. Gerade das Gegenteil war der Fall. Der nach außen gerichtete Tätigkeitsdrang wurde alsbald von den benachbarten Städten, die genauso strukturiert waren, aufgefangen, so daß sich nicht mehr als zeitweilige Fehden, wenn auch in steter Wiederholung, ergaben. Sparta, das die militärische Bereitschaft für die Aufrechterhaltung seiner auf der Helotisierung der alten achaiischen Bevölkerung beruhenden Herrschaft benötigte, war schon hier eine Ausnahme und hat allenfalls eine Analogie in Kreta, wo bis zu einem gewissen Grad vergleichbare Verhältnisse herrschten. Im übrigen hielt sich der Tätigkeitsdrang des städtegründenden Adels in einem automatischen Gleichgewicht. Inwieweit hierbei eine gewisse Solidarität der Gesinnung ins Spiel kam, die einen Kampf bis aufs Messer gegen die Standesgenossen verbot, ist nicht mehr genau festzustellen. Gefehlt hat sie bestimmt nicht. Ein Reflex davon findet sich in der Bestimmung der (späteren) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
71
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
delphischen Amphiktyonie, die eben den schonungslosen Kriegseinsatz verbot, und in dem Verbot bestimmter Waffen im »Lelantischen Krieg« (zwischen Chalkis und Eretria auf Euboia). Innere Schranken stellten sich auch sonst entgegen. Das gesellige Dasein der Geschlechterstadt vertrug keine Vergrößerung über ein bestimmtes Maß hinaus. Jedenfalls scheint dies die herrschende Anschauung gewesen zu sein. Die Überzeugungen der Menschen sind die Kräfte, welche die Geschichte bestimmen, und der berühmte Pluralismus der griechischen Geschichte ist viel eher der Ausdruck solcher Grundeinstellung als das Ergebnis geopolitischer Voraussetzungen, wie uns die meisten Historiker immer glauben machen wollen. Natürlich ist das gebirgige Griechenland in unzählige Kammern zerklüftet, und selbstverständlich bildet die Inselwelt der Agäis eine Summe unüberschaubarer Einheiten; trotzdem wäre der Gegenbeweis leicht anzutreten. Zahlreiche Nachbarschaftsverhältnisse selbständiger griechischer Staaten sind geographisch gar nicht präfiguriert und scheinen im Gegenteil geradezu die Einheit zu provozieren, ohne daß sie dies in Wirklichkeit getan hätten, und umgekehrt ist in Einzelfällen doch demonstriert worden, daß von der Natur gesetzte Schwellen von Menschen überwunden werden können: Die beiden Antagonisten der klassischen Zeit bieten bereits in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
71
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
ihrer frühen Geschichte das schlagendste Beispiel. Messenien ist von Sparta gegen die Natur erobert und Attika von Athen gegen sie geeint worden. Hieran gemessen ist nicht einzusehen, warum es ähnlich nicht etwa auf der Argolis oder gar in Thessalien hätte zugehen können, von Boiotien ganz zu schweigen, wo es tatsächlich versucht wurde, aber nie richtig gelang. Die städtische »Vergesellschaftung« des griechischen Adels oder vielleicht sogar die Urbanisierung, in deren Vollzug sich ein griechischer Adel erst bildete (die beiden Vorgänge werden sich wohl sehr oft ineinander verschmolzen haben), ist nichts anderes als ein genossenschaftlicher Zusammenschluß, eine ganz unverfängliche Terminologie, solange man sie nicht mit den spezifischen deutsch-rechtlichen Vorstellungen Gierkes belastet. Er bedeutet ganz gewiß eine Art von Machtkonzentration, verteilte sie aber wiederum auf ihre Träger, die so zugleich Objekt und Subjekt der Herrschaft waren. Institutionen trat dies vor allem in der Pluralität der politischen Ämter in Erscheinung, die den einzelnen Genossen vor der Versuchung und auch vor der Möglichkeit, zu mächtig zu werden, bewahrte. Der nächste Schritt, die Befristung der Ämter (schließlich bis auf ein Jahr), schloß sich zwangsläufig an. Dieses Prinzip der Annuität bot den einzelnen die ziemlich gleiche Chance, einmal an die Kommandostelle zu kommen. Annuität wie Pluralität der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
71
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Beamten-Stellen bildeten die Basis der Gleichheit. Daß beides die »Freiheit« für die aktiven Teilhaber solcher Ordnung gewährleistete, ist evident, auch wenn es den Zeitgenossen nicht zum Bewußtsein kam. Der Tatbestand war viel zu selbstverständlich, als daß man ihn zu formulieren Anlaß gehabt hätte. Das kam erst später, als der Zustand kritisch geworden war. Da sprach man dann, wenigstens in einem fortgeschrittenen Stadium, von »Gleichheit«. Freiheit und Gleichheit bedingten sich hier in durchsichtiger Weise gegenseitig, ohne daß man Veranlassung gesehen hätte, die Korrelation auch vorzunehmen und die wechselseitige Begrenzung ins Licht zu heben. Die – begrifflichen – Grenzen dieser Freiheit und Gleichheit lagen ganz woanders, nämlich da, wo der Untertan ins Spiel kam und das, was auf der einen Seite »Freiheit« war, sich ihm gegenüber als Herrschaft und Ungleichheit entpuppte. Die Situation des Nichtadligen war im früharchaischen Griechenland sehr verschieden. Es ist hier nicht der Platz, die verschiedenen Formen im einzelnen aufzuzeigen. Auf der einen Seite gab es die rechtlich institutionalisierte Verknechtung (die lakedaimonische Helotie mit ihren Analogien anderswo) und die politische Depossedierung, unter Wahrung der persönlichen Freiheit (die spartanische Perioikie), auf der anderen die verschiedenen sozialen Figurationen einer rechtlich zwar Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
72
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
freien, faktisch aber politisch entmündigten Bevölkerung. In den Hörigkeitsstatus war sie zwar nicht herabgedrückt, aber ihre ökonomische Inferiorität konnte sie durch Verschuldung und durch die Unausweichlichkeit eines kleinen, bescheidenen Pächterdaseins sozial und wirtschaftlich so abhängig machen, daß sie als unterdrückte Klasse in Erscheinung trat (in Athen die Hektemorier. Ein anderer Ausdruck war Pelatai und Theten). Daneben darf man mit einer starken Gruppe von ökonomisch zwar unabhängigen, trotzdem aber vom Regiment ausgeschlossenen Personen rechnen. Ihre »Unfreiheit« bestand darin, daß sie an der Macht des Adels keinen Anteil hatten und ihr sich praktisch fügen mußten. Solange freilich von dieser Seite her die Superiorität des Adels anerkannt wurde und man ihm glaubte, daß er allein die menschliche Areté, das heißt das eigentlich potente und überlegene Menschentum kraft Abstammung (die in entfernter Aszendenz stets eine göttliche war) besaß, mit anderen Worten das »Gentilcharisma« (Max Weber) geglaubt und für legitim gehalten wurde, bestand keine Ursache, diesen Zustand der Unterlegenheit negativ und polemisch zu apostrophieren. Eine Herrschaft, die ich bejahe und damit in meinen eigenen Willen aufnehme, stellt sich mir nicht mehr als fremder Wille entgegen und kann infolgedessen keine wirkliche Gegensätzlichkeit enthalten. Trotz des Thersites Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
72
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
73
vermittelt Homer noch heute den Eindruck einer Welt, die ein im Gegensatz zum Knecht formuliertes Herrentum gar nicht zu kennen scheint, weil sie im Grunde nur von »Herren« erfüllt ist und keinen echten sozialen Gegenspieler hat. Wenn die Geschichte des Altertums auf die »Stadt« als die primäre Sozialform gestellt wurde, so war daran gewiß das Griechentum in entscheidender Weise beteiligt. Ohne seine wiederholten Phasen geradezu hektischer Urbanisierung und Gründung zahlreicher neuer Städte wäre der Mittelmeerraum nicht zu der uns vertrauten historischen Landschaft des Altertums geworden. Aber die Griechen haben diesen Zustand nicht allein herbeigeführt, und wir sind auch nicht einmal berechtigt, sie für die Inauguratoren zu halten, von denen die anderen gelernt hätten. Viel eher ist man versucht zu sagen, daß die Griechen in den ersten Anfängen ihrer Stadtentstehung von einer Welle erfaßt wurden, die nicht nur über sie hinausgriff, sondern vielleicht auch ihnen gegenüber die Priorität beanspruchen darf. Städte vom gleichen Ansatz aus gründeten nämlich nicht nur Griechen, sondern gleichzeitig auch die Phöniker und die Etrusker. Es ist sogar nicht ganz ausgeschlossen, daß der hier in Rede stehende Typus bereits in den syrischen Städten des ausgehenden zweiten Jahrtausends, von denen wir aus den Tel-Amarna-Urkunden des Neuen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Reiches in Ägypten hören, angedeutet war (in den Spuren eines Kriegeradels, der als maßgebende Schicht hinter dem Stadtkönigtum stand), obgleich leider gerade die wichtigsten von ihnen, Tyros und Sidon, hierüber jede Auskunft verweigern. Aber die lyrische Kolonie Karthago gehört gewiß zu dem »modernen« Typus – einen starken König hat es da ebensowenig wie bei den Griechen gegeben –, und der Lucumo der Etruskerstädte kann auch nicht als solcher gelten. Nach allem, was wir wissen, war er ein Strohmann der Adelsgeschlechter, und von der wichtigsten etruskischen Stadtgründung, von Rom, ist wenigstens das eine sicher, daß es sich bei ihrer ursprünglichen Verfassung um eine Variante des späteren patrizischen Staates handelte, deren »König« gerade deshalb offenbar ohne große Mühe beseitigt werden konnte. Für die Römer nun, von denen die ganze politische Zukunft des Altertums abhing, war es nicht weniger als für die Griechen eine ausgemachte Sache, daß die einzige praktisch denkbare Staatsform die Stadt war, und dementsprechend sind sie dann in ihrer Kolonisationspolitik auch verfahren. Sie setzten die Urbanisierung im Westen des Mittelmeeres überall da durch, wohin die Griechen nicht gekommen waren. Auch sie machten die Erfahrung, daß damals die Stadt in ihrem sozialen und politischen Potential ohne Konkurrenz dastand. Selbst die (im griechisch-römischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
73
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
73
Sinne) städtelosen Kelten, die über gewisse Elemente wirklicher Feudalität verfügten, änderten daran nichts. Sie waren nicht weniger zum politischen Untergang verurteilt als alle anderen Stammesverbände, die mit Rom in Konflikt gerieten.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Der entwickelte griechische Stadtstaat Die Geschlechterpolis ist eine beinahe schematische Illustration des dialektischen Verhältnisses von Herrschaft und Freiheit. Nicht nur, daß sie wie jedes Herrschaftsverhältnis Herrschaft als Begrenzung der Freiheit der Unterworfenen definiert, so daß immer das Ende der einen den Beginn der anderen bedeutet, sie weist auch die Herrschaft selbst, auf ihren aktiven Träger bezogen, als Verwirklichung der Freiheit aus. Wenn sich der griechische Adel in dieser Ordnung selbst verwirklichte, dann tat er dies in freier Darstellung seiner selbst, gerade auch im politischen Bereich, in dem er seine eigene Macht in persönlicher Machtausübung und damit in den unmittelbaren Gebrauch seiner Freiheit umsetzte. Dieser urwüchsige oder auch primitive Geschlechterstaat war arm an politischen Institutionen. Das meiste erledigte sich in den kleinen und übersichtlichen Verhältnissen von selbst. Soweit jedoch Institutionen entwickelt wurden, ging es darum, sie gegen die Versuchung, Gehäuse eines der adligen Gesellschaft fremden Willens zu werden, immun zu machen. Nur deshalb kam es überhaupt zur Bestallung von »Beamten«, das heißt von gewählten politischen Funktionsträgern. Zuerst wurde der erbliche König zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
74
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
einem auf Lebenszeit gewählten Beamten degradiert, dann ihm zur Seite ebenfalls lebenslänglich gewählte Beamte gestellt, in Athen der Archon und der Polemarchos, sodann wurde die Amtszeit auf zehn und schließlich auf ein Jahr beschränkt. So wenigstens stellte man sich die Dinge später in Athen vor, und unbeschadet dessen, daß hier eine Konstruktion vorliegt, wird es mit der zugrunde gelegten Ratio wohl seine Richtigkeit haben. Der negativen Absicht, Amtsträger nicht zu mächtig werden zu lassen, entsprach die positive Ordnung, die Ämter jedem Adligen zugänglich zu machen und ihn in den partiellen Besitz der Herrschaft zu setzen. Dabei war mit »Herrschaft« im Grunde nur das Minimum gemeint, das einem Angehörigen der herrschenden Schicht gegenüber in Anschlag zu bringen war und seine Schranken weniger in den Statuten als in der Macht der Lebensverhältnisse besaß. Eine scheinbare Ausnahme von dem »Prinzip« war lediglich »der Rat der Alten«, auch in Athen nach seinem Sitzungsort auf dem Areshügel Areiopag genannt. Seine Mitglieder waren lebenslänglich bestellt, mit gutem Grund, denn ursprünglich war er eine Vereinigung der Geschlechterhäupter und damit ein Gremium, das die adlige Gesellschaft nicht nur repräsentierte, sondern in ihrer Existenz geradezu darstellte, das heißt als die äußere Form ihres Auftretens gelten konnte. Dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
74
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
74
Wesen des Rates entsprach es zudem, weniger zu handeln, als Gespräche zu führen und den Willen der Gesamtheit zu klären. Ganz gleichgültig, wie es dann im einzelnen um die formelle Sanktion dieses Willens stand, es mußte einem nur kurzfristigen Amtsträger, der selbst Mitglied dieses Rates war, schwerfallen, sich dessen Votum zu entziehen. Das Verhältnis von Freiheit und Herrschaft, das sich in der Geschlechterpolis ausgebildet hatte, blieb für den entwickelten Stadtstaat des klassischen und auch des hellenistischen Griechentums konstitutiv. Das ist einigermaßen paradox, denn der Übergang war bekanntlich alles andere als reibungslos und bedeutete eine soziale Auseinandersetzung und eine Krise von säkularem Ausmaß, wie später sie niemals mehr in der griechischen Geschichte stattfand. Trotzdem läßt sich der im einzelnen verwickelte Prozeß doch auf einen sehr einfachen Nenner bringen: Gegenstand des Kampfes war die Öffnung dieser adligen Geschlechterordnung für diejenigen, die bislang als Herrschaftsobjekte ausgeschlossen waren und nun einfach das beanspruchten, was ihre Herren bislang für sich monopolisiert hatten. Der Dynamik der Kräfte nach war es eindeutig die Erhebung einer unteren Schicht gegen die obere in der Absicht, diese zu entthronen, also ein Kampf von im Grunde schonungsloser Radikalität. Das Leitbild jedoch war nicht die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Zerstörung einer klassenmäßig bestimmten Ordnungsidee, sondern ihre Aneignung. Daß die Sache selbst bei solcher Transposition nicht genau die gleiche bleiben konnte, kann nicht verwundern. Noch weniger merkwürdig war freilich, daß der Zusammenhang, der sich ja in einen jahrhundertelangen Vorgang auseinanderlegte, den Akteuren kaum selbst zum Bewußtsein kam und diese als Sieger eher geneigt waren, ihren Triumph im Zeichen des Neuen (was es in vieler anderen Hinsicht auch wirklich war) zu sehen, als in ihren Idealen die Muster des Alten zu erkennen. Schließlich kam es sogar so heraus, daß die Formulierung der neuen Ordnung beinahe nichts anderes leistete, als das zum Ausdruck zu bringen, was früher nicht minder vorhanden war und lediglich der Worte, es ins distanzierende Bewußtsein zu heben, entbehrt hatte. Die »Demokratisierung« (in dem allgemeinen Sinn der modernen Terminologie verstanden) der Geschlechterpolis war die Ersetzung der Adelsgenossenschaft durch die Genossenschaft der Politen (Bürger). Was unter den Politen im Einzelfall zu verstehen war, lag von Hause aus nicht fest und wurde im Laufe der Geschichte auch verschieden beantwortet. Nur die negative Abgrenzung war klar: Durch blutsmäßige Vornehmheit, durch die besondere Würde adliger Abstammung sollte der neue Bürger nicht bestimmt sein, und in der Tat wurde mit diesem Privileg auch auf der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
75
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
75
ganzen Linie gebrochen, auch dort, wo die Bewegung scheinbar wieder rückwärts lief und man sich an der verlorenen Vergangenheit orientierte. Von adliger Blutlegitimation allein wagte man auch in diesem Fall nicht mehr zu sprechen, das große Vermögen mußte als Index hinzutreten (plutinden neben aristinden). Die alte Zeit war nicht mehr herbeizuzaubern, auch wenn man es noch sosehr wünschte. In der (uns heute noch geläufigen) Terminologie, deren Alter freilich unbekannt ist und die wahrscheinlich noch nicht auf die Jahrhunderte des gärenden Umbruchs (im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr.) zurückgeht, spricht man bekanntlich von den beiden Modellen der Oligarchie und der Demokratie. Was sie nach Zeit und Ort zum Inhalt haben, ist keineswegs immer dasselbe, und die Auskünfte, die uns schon die antiken Theoretiker geben, verdecken mehr das Problem, als daß sie es klären. Nur eines ist sicher: Genetisch und sachlogisch sind beide Staatsformen samt ihren Variationen auf der Linie anzusiedeln, auf der sich die Ersetzung der Adelsgenossenschaft durch die Genossenschaft der Politen vollzog. Beide setzen den Begriff des Bürgers voraus, der einfach durch die Zugehörigkeit zur Polis, als deren Genosse, definiert ist. In der Oligarchie ist ihr Kreis enger, beschränkt sich auf die Leute von Besitz und Vermögen, in der Demokratie ist Armut kein Hindernis für die Zugehörigkeit zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
75
ihm. Manche Figuration, die später als oligarchisch galt, mußte zu ihrer Zeit als bemerkenswerter Vorstoß in der »demokratischen« Richtung angesehen werden. Am wirkungsvollsten wurde die politische Depossedierung des Adels zu Anfang von den Schichten betrieben, die kraft ihrer ökonomischen Fähigkeit, ihre Rüstung selber zu bezahlen, den neuen Heerbann der Phalanx stellten. Als man später hierauf keine Rücksicht mehr nahm, konnte dann der Vermögensstand als Voraussetzung für das aktive Bürgerrecht gelten und gewissermaßen als »oligarchisch« verstanden werden. Und selbst Solon, den das Altertum, nicht mit Unrecht, als Vater der athenischen Demokratie feierte, mußte sich unter bestimmten Konstellationen gefallen lassen, daß man zur ideologischen Orientierung ihm (gemessen an der damaligen attischen Demokratie) ausgesprochen »reaktionäre« Bestrebungen unterschob, ohne daß einem solchen Manöver nicht doch eine gewisse Berechtigung zuzugestehen wäre. Und gar Sparta, von dem wir heute zu wissen glauben, daß es Ende des 7. Jahrhunderts eine recht radikale »demokratische« Reform durchführte: Es war später in Politik und Theorie das Sinnbild eines aristokratischoligarchischen Staates. In die Fluchtlinie von »Entwicklungen« eingeordnet, wird eben jede historische Erscheinung doppeldeutig und erhält ein Janusgesicht. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Die Begründung des Politenstatus bedeutete soviel wie eine Neugründung des Staates und war schon ihrem sachlichen Gewicht nach ein revolutionärer Vorgang, wie immer er sich im einzelnen abgespielt haben mag (wir sind über die konkreten Erscheinungen ganz ungenügend informiert). Wenn es auch praktisch zumeist darauf hinauslief, daß den Mitgliedern des Geschlechteradels andere Stadtbewohner als neue Herrschaftssubjekte zur Seite traten, so involvierte diese manchem vielleicht unscheinbar dünkende Tatsache, daß damit eine neue Größe, eben der Bürger-(Politen-)verband in Erscheinung trat. Es war nicht nur eine neue Schicht, die das Bürgerrecht erhielt, sondern es wandelte sich auch der bisherige Status der adligen Geschlechtsangehörigen, das heißt er ging jetzt in der Zugehörigkeit zu dem Bürgerverband auf. Inwieweit man hierbei an alte, längst obsolet gewordene Vorstellungen von einem Verband Gemeinfreier, von »Volk«, anknüpfen konnte, richtete sich gewiß nach den jeweiligen örtlichen Verhältnissen und war eben abhängig von der Intensität der Erinnerung und der Greifbarkeit verschütteter oder depravierter Institutionen. In Sparta, dessen Entstehung durch die Dorische Wanderung nicht allzu weit zurück lag und das infolge seines dann noch lange dauernden Kampfes gegen das achaiische Amyklai quasi in der ursprünglichen Okkupationshaltung verharrte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
76
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
scheint solche Anknüpfung an einen früheren Zustand nicht schwergefallen zu sein. Die Rede vom Damos von Sparta und die sehr urwüchsig anmutende Bezeichnung seiner Versammlung, der Apella, legen diese Vermutung nahe. In Attika wird es anders gewesen sein. Der Synoikismos, die Einigung Attikas, kann sich vorerst nur in Geschlechtern vollzogen haben. Nur diese waren Athener geworden (indem sie zu den Bewohnern des Stadtgebietes und dessen näheren Umgebung hinzutraten). Die nichtadligen Kreise der ferneren Gebiete waren geblieben, was sie bis dahin gewesen waren, Einwohner der nichtathenischen Landschaften Attikas. Ihre Integration in den attischen Politenstaat hatte wahrscheinlich auch Solon nicht völlig bewerkstelligt, sondern sie war möglicherweise erst das Werk des Kleisthenes. In diesem Fall bedeutete der Bürgerverband eine wirkliche Neuschöpfung. Erst durch sie war jeder freie Mann aus Attika in den Stand gesetzt, sich Athener zu nennen. Wenn Solon prinzipiell das Bürgerrecht auf die Einwohnerschaft stellte (nach dem obigen vorerst auf die Athens und seiner Umgebung), wie deren Einteilung in die vier Vermögensklassen zu erkennen gibt, so ging er wahrscheinlich ziemlich weit, weshalb es mit der Identifikation von »Athener« und dem neuen politischen Körper sein Bewenden haben konnte. Anderswo herrschte das Bedürfnis vor, den durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
76
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
77
Ablösung des Geschlechterstaates geschaffenen neuen Kreis der Politen – ebenso wie die Adelspolis – als geschlossene Einheit erscheinen zu lassen. Um sie zu bezeichnen, griff man zu den Hilfsmitteln runder, also fiktiver Zahlen und sprach etwa von »den Tausend«, »den Fünftausend« oder auch von den »hundert Häusern«, wobei diese Zahlen sowohl die Vielheit, und damit die Vergrößerung des Kreises gegenüber früher, wie die Begrenzung und Gestalthaftigkeit zum Ausdruck brachte, die der neue Zustand mit dem vorangehenden gemeinsam haben sollte. Der alte Geschlechterstaat scheint in Griechenland eines solchen signifikativen Schematismus entbehrt zu haben (sofern man von der Konstanz der drei dorischen und der vier ionischen Phylen als Geschlechterorganisation absieht). Das patrizische Rom dagegen legte von Anfang an seiner gentilizischen Gesellschaft ein dreiteiliges Schema zugrunde (300 Geschlechter, gentes, daher 300 Senatoren, 30 curiae, 3 – gentilizische – tribus). Im Neuen das Alte in veränderter Form wiederzufinden, entsprach durchaus der »Idee« oder einem der »idealen« Durchblicke der Wandlung, die sich im Übergang von der archaischen zur klassischen Zeit vollzog. Wir werden gleich sehen, daß man bei dieser Prozedur mit erstaunlicher Konsequenz verfuhr. Nur in einem Punkt setzte sich die Wirklichkeit zu ihrem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
77
»Prinzip« in einen gewissen Widerspruch. Der lebenslängliche Rat, zur Zeit der Adelsherrschaft als Geschlechtsrepräsentation durchaus legitimiert, hatte in dem neuen Rahmen nach der »Sachlogik« so gut wie keine Berechtigung mehr, da seine Voraussetzung, die alleinige politische Relevanz der Geschlechter, doch gerade hinfällig geworden war. Wo man konsequent dachte, wurde deshalb mit dem lebenslänglichen Rat aufgeräumt. Man kann sagen, das war in Griechenland nahezu die Regel. Aber es gab Ausnahmen, nach unserem Quellenstand nicht sehr zahlreiche, die diese Folgerichtigkeit vermissen lassen: Bei ihnen wurde das »System« durchbrochen und der lebenslängliche Rat, der schon vorher mitunter ein mittelbar gewählter Rat gewesen war (zusammengesetzt aus den ehemaligen Beamten), beibehalten. So hielt man es vor allem in Sparta, aber auch in Massalia, und auf Kreta ging man sogar so weit, selbst in der klassischen Zeit die Wählbarkeit zum Rat auf einzelne Geschlechter zu beschränken. Der »Logik« nach war das nicht folgerichtig, denn wenn der Kreis der Politen sich vervielfachte, mußte ihm auch die gleiche Chance geschaffen werden, in den Rat aufgenommen zu werden. Das war aber bei lebenslänglicher Ratszugehörigkeit ganz ausgeschlossen. In Athen hat schon Solon der Unausbleiblichkeit einer solchen Folgerung Rechnung getragen (Rat der Vierhundert) und damit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
auch, auf das Prinzip besehen, wie es sich bei dem Gros der griechischen Staaten durchsetzen sollte, gewiß recht behalten. In den seltenen Fällen, wo dies nicht so war, handelte es sich um einen bewußten Konservativismus. Er hätte, ungeachtet seiner Prinzipienwidrigkeit, eine große Anzahl von Argumenten für sich haben können. Wahrscheinlich brachte er sie aber so, wie wir sie heute konstruieren würden, gar nicht zur Geltung, und sie waren auch für den Geist der Griechen nicht zu konzipieren. Er hätte sich nämlich hier gewissermaßen verleugnen und zu einer ganz anderen Kategorie als der einer rationalen Gleichheit greifen müssen. Die faktische Lebenstüchtigkeit, die politische Erfahrung, die Rücksicht auf das Bestehende, also die Tradition, das heißt die Vermeidung eines völligen Bruches mit der Vergangenheit und was für »opportunistische« Gesichtspunkte mehr hätten dann die Überlegungen bestimmt und die politische Praxis unter das Gebot der Anpassung an die Wirklichkeit und ihre geheimen, nicht disponierbaren Kräfte gestellt. Diese Richtung des Denkens, die sich weniger durch Einsichtigkeit als durch effektiven Erfolg ausweist, also in dem Ahnungsvermögen des Handelns beheimatet ist, hätte eine Einstellung verraten, die dem griechischen Denken weder in der Theorie noch in der Praxis eigentlich kongenial war, im Gegensatz zu dem Pragmatismus der Römer, die aus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
77
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
ihm ihre wesentlichsten Kräfte zogen und damit ihre Erfolgschancen gewannen. Die Nachbildung der adligen Genossenschaft im klassischen Stadtstaat wurde am klarsten und durchsichtigsten von der attischen Demokratie durchgeführt. Das fing bereits mit Solon an, obgleich der solonische Staat nach den späteren Vorstellungen wohl kaum als Demokratie gelten konnte, ungeachtet dessen, daß diese ihn nicht mit Unrecht ihren »Vater« nennen durfte (was ebenso möglich war wie seine Inanspruchnahme durch antidemokratische Bestrebungen später) und sich über Kleisthenes und die Reformen des frühen 5. Jahrhunderts hinfortsetzte. Die hierbei verfolgte Tendenz dieses wichtigsten Abschnitts der attischen Verfassungsgeschichte ist »logisch« derartig einhellig, daß sie einem wie die Verwirklichung einer präfigurierten Idee vorkommen könnte. Solon zerbrach den athenischen Geschlechterstaat nicht nur, indem er den Verband der Politen schuf, sondern er ging in der Übernahme des adligen Genossenschaftsprinzips sogar so weit, daß er in bestimmter Hinsicht die neuen Bürger zu fiktiven Adligen machte und ihnen erlaubte, den bis dahin adligen Kult des Zeus Herkeios und des Apollon Patroos auch ihr eigen zu nennen. Später, wahrscheinlich durch Kleisthenes, wurde in Verfolgung dieser Linie verfügt, daß die unter anderem für die Anerkennung der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
78
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
legitimen Geburt zuständigen Phratrien (eine alte Institution des Geschlechterstaates) zwangsweise auch für Nichtadlige geöffnet wurden. Am hellsten spiegelt sich jedoch der »ideale« Grundsatz in der Bemühung Solons wider, die Gesinnung gemeinsamer politischer Interessen und gemeinsamer Verantwortung, wie sie bisher den engeren Kreis der adligen Geschlechtergenossen erfüllt hatte, der neuen Gesellschaft der Politen einzupflanzen. Deshalb die dringende Warnung in seinem großen Staatsgedicht (der sogenannten Eunomie), nicht die Augen vor einem allgemeinen Notstand zu verschließen und einfach innerhalb seiner vier Pfähle, wie wir sagen würden, seinen Kohl anzubauen: Solcher Art kommt das Unglück des Volkes in das Haus eines jeden, Und die Tore des Hofes halten es nicht mehr zurück. Über die höchsten Zäune hinüber springt es, und findet sicherlich jeden, auch den, der sich im Inneren verkriecht. (Übersetzung Hermann Fränkel) Institutionen kamen diese Gedanken Solons vor allem in den zwei berühmtesten seiner Gesetze zum Ausdruck. Das Gesetz über die Popularklage Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
78
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
ermächtigte und verpflichtete (moralisch) jeden attischen Bürger, wo er öffentliches Unrecht erblickte, als freiwilliger Ankläger aufzutreten, und das »Stasisgesetz« gebot, in politischen Krisen offen Partei zu ergreifen. Wenn Solon das Generalthema angab, so ist alles Weitere gleichsam die Durchführung, sofern man eben von der pragmatischen Verknüpfung absieht und sich lediglich an den sachlichen Motivzusammenhang hält; die moderne Forschung neigt zu Unrecht dazu, diesen vor jenem zurücktreten zu lassen. Solon selbst hatte schon mit der Seisachthie (»Schuldenabschüttelung«) eine wichtige soziale Voraussetzung für das Funktionieren der Politenpolis geschaffen. Um ihr Funktionieren und die Lenkung des sozialen Körpers auf dieses Ziel hin ging es auch weiterhin. Selbst Peisistratos, der selbst ganz andere Ziele verfolgte, mußte sich von der »List der Vernunft« am Gängelbande führen lassen, als er die Sozialpolitik Solons fortführte (finanzielle Unterstützung des kleinen Bauernstandes). Bei Kleisthenes ist aber das Thema ganz bewußt aufgegriffen, obgleich er mit seiner Verfassungspolitik selbstverständlich auch persönliche Ziele verfolgte. Die Durchorganisierung von Attika nach Demen (Einzelgemeinden) und vor allem deren Eingliederung in die neuen zehn lokalen Phylen sollten die Bürger zu innerlich unabhängigen, das heißt nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
78
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
mehr den Adelsgeschlechtern unterstehenden Subjekten machen. Und damit jeder gleichsam gezwungen war, seine öffentliche Pflicht zu tun und sich nicht mehr hinter dem breiten Rücken der sozial Höhergestellten verkriechen konnte, wurde die materiell als unfrei deklarierte Wahl zu den öffentlichen Funktionen (vor allem für den Rat, noch nicht für die Archonten) durch das unbeeinflußbare Los ersetzt. Ostrakismos und Erstreckung des Loses auch auf die Archonten (die damit ihrer realen Führungsfunktion entkleidet waren) setzten diesen Kurs fort. Der Schlußstein war die Ausstattung des kleinen Mannes mit der ökonomischen Abkömmlichkeit, dem bisherigen Vorrecht des Reichen und Vornehmen, durch die Diäten des Perikles. So konnte es also scheinen, als ob nun die lediglich formale Demokratie in eine reale überführt und der Polite nicht weniger als der frühere Adlige imstande wäre, in souveräner Muße eine politische Existenz zu führen. Die Genossenschaft freier Bürger war damit verwirklicht. Jeder stand für den anderen und das Ganze. Daß man sich auch mit seinem Vermögen dafür einzusetzen habe (in den »Leiturgien«, individuellen, ursprünglich freiwilligen, dann aber in einem besonderen Verfahren erzwingbaren Leistungen), war an sich ein selbstverständlicher und ganz urwüchsiger Grundsatz und nahm sich lediglich im Rahmen von viel größeren und differenzierteren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
79
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Verhältnissen »radikal« aus. Aristoteles hebt hervor, daß die Tugend des Politen in der Fähigkeit besteht, zu herrschen und sich beherrschen zu lassen. Er unterscheidet dieses ambivalente Verhältnis von der alleinigen Herrscherposition, welche lediglich zu herrschen nötigt und die Dienste der Beherrschten in Anspruch nimmt (etwa bei der handwerklichen Tätigkeit des Sklaven). Beim Politen geht es jedoch um die Herrschaft über solche, die der Abstammung nach gleich und frei sind. Also die Herrschaftsfunktion, die zwischen Gleichen und Freien ausgeübt wird, beruht auf der Identität von Herrschen und Beherrschtwerden. Das ist genau die Formel, die das Wesen des Polisstaates in dem Stadium, in dem er auf die Gleichheit und damit auf die Freiheit seiner Bürger gestellt ist, zum Ausdruck bringt. Aktive und passive Herrschaft halten sich in ihm also im Gleichgewicht. Dies macht die Freiheit des Staates aus, oder, wie es an einer anderen Stelle heißt, »ein Wesenszug der Freiheit besteht darin, abwechselnd beherrscht zu werden und zu herrschen« (Pol. 1317 b). Man kann nach Aristoteles das Verhältnis auch noch anders definieren. Dann bedeutet die Identität von Herrschen und Beherrschtwerden, keinem fremden Willen unterworfen zu sein oder »überhaupt keine Herrschaft zu kennen« (von keiner Seite, und wenn schon, dann nur wechselseitig), nur zu »leben, wie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
79
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
80
jeder will« (ebenda). Die absolute Gleichheit verbunden mit dem Mechanismus der extremen Demokratie, die im Prinzip jeden Bürger um die in ihrer Bewegungsfreiheit ohnehin bis zum äußersten beschnittenen Leistungsfunktionen bringt, bewirken das Wunder, daß jegliche Herrschaft sich selbst aufhebt. Der Mehrheitsbeschluß der Volksversammlung, die für alles zuständig auch alles entscheidet, ändert hieran nichts. So wird auch ohne die Rousseauschen Begriffe etwa das gleiche Resultat erzielt, wie bei dem Begründer der modernen Theorie der Demokratie, nur daß wahrscheinlich ein athenischer Demokrat gesagt hätte, er brauche die volonté générale gar nicht: sie sei immer identisch mit der volonté de tous. Der Mensch ist also in der Demokratie als politisches Wesen sich selbst unmittelbar zurückgegeben. Er kennt keine »Entfremdung« (um mit Marx zu sprechen). Oder: da der Mensch im Verhältnis zu anderen als Gleicher bestimmt wird und damit seine wahre und wirkliche menschliche Verfassung deklariert ist, ist der Staat nichts als die Bestätigung seines Status, indem er ihm die Freiheit über sich selbst verleiht. Daß hier keine Grenze zwischen Staat und Individuum gesetzt wird, ist evident. Den einzelnen mit einem persönlichen Freiheitsreservat ausgestattet zu sehen, hieße den Gedanken auf den Kopf stellen. Die Freiheit verwirklicht sich vielmehr Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
80
in der kollektiven Kooperation, das heißt ausschließlich im öffentlichen Bereich. Nur das Individuum als politisches Wesen – und nicht anders – gelangt in ihren Besitz. Wenn der Staat lediglich die Aufgabe hat, die menschliche Freiheit in ihrer sinnfälligsten Form, nämlich als individuell empfundene, zu verwirklichen, müßte man vermuten, daß er im Grunde ohne jede Handhabung äußerer Macht den gesellschaftlichen Kräften freien Lauf läßt und hinter ihrer selbständigen Entfaltung zurücktritt. Der Gedanke wäre mit nicht allzu großer Mühe aus den Prätentionen heraus zu entwickeln, die hier die Demokratie erhebt (Aristoteles gibt da sicher keine eigenen Konstruktionen, sondern nimmt eine ihm geläufige Argumentation auf, wie er das mit einer anderen demokratischen Theorie auch tut). Aber je eindrucksvoller die Doktrin sich darstellt, um so mehr provoziert sie kritische Distanz. Hat sich tatsächlich in der politischen Form und der politischen Praxis Athens und seiner Demokratie und schließlich in der griechischen Demokratie überhaupt die gesellschaftliche Wirklichkeit ebenmäßig ausgebildet? Diese Frage ist – auf ihre Art – im Grunde schon von der griechischen Staatsphilosophie gestellt und, wie bei ihrer kritischen Haltung gerade gegenüber der Demokratie nicht verwunderlich, in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
unmißverständlicher Deutlichkeit negativ beantwortet worden. Die »Gleichheit nach der Zahl«, so wandte sie ein, sei, weil eine unwahre, fiktive Größe, eine Chimäre. Die eigentliche Wirklichkeit sei jedoch der persönliche Wert des Menschen, und da er offenbar sehr verschieden verteilt sei, bedeute die Demokratie eine Vergewaltigung dieser, der wahren Realität. Um die wahre Gleichheit zu schaffen, müßte die Proportion von dieser Ungleichheit ausgehen, indem sie den Ungleichen das Gleiche als Ungleiches, entsprechend ihrer verschiedenen Bedeutung zumißt. Andere – und für uns vielleicht plausiblere – Einwände sind massiver. Da heißt es dann etwa: Die Demokratie ist völlig hemmungslos und setzt jede beliebige Willkür, die sie beschließen kann, dem Recht gleich. Da nun aber die Masse in der Regel arm ist, kann die vermögende Minorität zwangsläufig nur vergewaltigt werden. Und schließlich bleibt auch für uns die Frage offen, inwieweit und in welchem Umfang Rechtsgarantien zum Schutz der Minorität vorhanden waren, angesichts einer Verfassung, die ihren Entscheidungsapparat von vornherein daraufhin eingestellt hatte, jeder individuellen Qualifikation die politische Relevanz zu nehmen, und ihn daher weitgehend in Fesseln geschlagen hatte (durch die Mechanisierung kraft des Loses). Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
81
Die demokratische Ideologie hat diese Fragen ohne Einschränkung im positiven Sinn beantwortet und sich dafür eine besondere Theorie zurechtgelegt. Sie sah die Legitimation der Demokratie darin, daß die Vielzahl des Souveräns, die Menge, die maximale Akkumulation menschlicher Werte verbürge. Der Einzelne als Teilstück dieser Menge mag ja wohl bisweilen einem Oligarchen unterlegen sein, aber dieser Rückstand werde reichlich ausgeglichen durch die mengenmäßige Addition sämtlicher Wertpartikel kraft der großen Zahl, so daß auf Grund dieser Summierung in jedem Falle eine Überlegenheit über jede andere Staatsform zustande kommen müssen. Wo es sich nur um wenige berechtigte politische Subjekte handele, könne immer nur ein Teil des Wertganzen zur Geltung kommen. Wo aber alle politisch in Erscheinung träten, da wäre notwendigerweise das Ganze möglicher Werte realisiert. »In der Menge steckt das Ganze drin«, war schon im 5. Jahrhundert behauptet worden, wie wir bei Herodot lesen. Diese Auffassung läßt sich nur in dem Sinn verstehen, daß eben gerade in der durch die große Zahl herbeigeführten Vielfältigkeit die Chance liege, daß alles Wertvolle in der Demokratie hervorträte und gegenüber anderen politischen Ordnungen nichts unterdrückt werde. Wenn man es recht versteht, erhält der demokratische Freiheitsbegriff auf diese Weise zu seiner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
81
ursprünglichen logischen Ableitung aus dem Prinzip der Identität von Herrschen und Beherrschtwerden eine neue Deutung, nämlich als die Freiheit zur Entfaltung des Universums möglicher menschlicher Werte. Das war nun in der Tat nicht lediglich eine luftige Spekulation, sondern konnte eine gewisse Berührung mit der Wirklichkeit nachweisen. Man braucht nur die völlig undoktrinäre Wesensanalyse der attischen Demokratie zu lesen, die Thukydides in der berühmten Leichenrede Perikles in den Mund legt, um zu wissen, daß die Selbstvergewisserung des Prototyps griechischer Demokratie sich tatsächlich in dem Bewußtsein von einem durch Freiheit entbundenen inneren Reichtum äußerte. Und wer unbefangen die Wirklichkeit Athens in allen ihren Erscheinungen wahrnimmt, wird nicht bestreiten, daß ungeachtet aller Unzulänglichkeit im engeren politischen Bereich eine solche ideale Zeichnung doch in erheblichem Maß der geschichtlichen Realität entsprach. Natürlich wird niemand bestreiten, daß es auf seiten der nichtdemokratischen Kreise eine Menge Verdrossenheit gab, zumal nachdem Perikles mit seinem Versuch, diese Elemente an den demokratischen Staat heranzuführen, gescheitert war oder besser: nachdem die Ansätze hierzu durch die außenpolitischen Paroxysmen des Peloponnesischen Krieges mit Stumpf und Stiel untergepflügt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
worden waren. Doch auch später war dieser Wesenszug nicht völlig verschüttet. Welche Vorbehalte man immer gegenüber den führenden Politikern des 4. Jahrhunderts haben mag, daß sie eine terroristische Minderheit aus der Hefe des Volkes repräsentierten, wird niemand behaupten wollen. Die berühmte Bemerkung Platons, er habe keine Möglichkeit zu politischer Betätigung gesehen, darf man nicht überschätzen. Schließlich war er durch seine Verbindung mit den dreißig Tyrannen kompromittiert, und zudem bedeutete die politische Leistung seiner Gesinnungsfreunde, zumal seines Onkels Kritias, nicht gerade eine überzeugende Gegeninstanz zu den Exzessen der demokratischen Politik. Wie Platon selbst am besten zeigt, ließ man jedoch in Athen die Feinde der Demokratie ungeschoren und betrieb keine Gesinnungsverfolgung. Ein berühmtes, dem Solon zugeschriebenes Gesetz garantierte hier Koalitionsfreiheit. Von ihr wurde vor und während des Peloponnesischen Krieges gerade von den Feinden der Demokratie der stärkste Gebrauch gemacht, als sich allenthalben oligarchische Clubs (Hetairien) bildeten. Der demokratische Staat war, wenigstens in Athen und was die Kritik an ihm selbst betraf, wirklich nicht kleinlich. Einschränkung der Meinungsfreiheit für die politische Komödie gab es nur vorübergehend. Eine Erscheinung wie Aristophanes wäre ohne diese Liberalität überhaupt nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
81
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
denkbar gewesen. Ebensowenig die freimütige Publizistik, von der wir uns an Hand der zufällig überlieferten pseudo-xenophontischen Schrift vom »Staat der Athener« eine Vorstellung machen können. Doch Athen ist ein Sonderfall und deshalb wohl in der Lage, bis zu einem gewissen Grade die ideologische Erhöhung der Demokratie zu rechtfertigen; es ist aber außerstande, die Kritik an der griechischen Demokratie überhaupt aus den Angeln zu heben. Was die griechische Staatstheorie über sie äußert, ist ebensowenig aus der Luft gegriffen. Sie wird nicht müde, die Demokratie als eine Klassenherrschaft der Unbemittelten, um nicht zu sagen des besitzlosen Pöbels, über das anständige Besitzbürgertum anzuprangern. Ihr Fundament sei der Haß von jenen gegen diese, und wenn man die Demokratie als die Herrschaft der vielen über die wenigen bezeichne, so könne man genauso gut von der Herrschaft der Armen über die Reichen sprechen. Dieser Standpunkt wird sogar so weit verfolgt, daß die soziale Kategorie über die arithmetische prävaliere und, dem Begriffe nach, auch dann von Demokratie die Rede sein müsse, wenn aus besonderem Grund einmal »die Vielen« im Sinne demokratisch gesonnener Armer zahlenmäßig geringer seien als ihre Gegenspieler, also der Wortsinn »Menge«, »die Masse«, »die Vielen«, »Volk« (Demos) gar nicht erfüllt sei. Der Kampf zwischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
82
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
beiden Gruppen werde schonungslos geführt bis zur gegenseitigen Vernichtung und zum absoluten Ausschluß der einen durch die anderen. Das Bild jedoch, welches das demokratische Athen während seiner ganzen Geschichte bot, kann, abgesehen von einigen kurzen Episoden, die zudem meist zu Lasten der antidemokratischen Partei gingen, und auch unter Berücksichtigung aller Voreingenommenheit, von der die antike Staatstheorie zumeist bestimmt war, hier nicht maßgebend gewesen sein. Doch es gab genug andere Fälle. In der Tat war die Situation in den kleinen griechischen Staaten – und wie viele gab es nicht von ihnen – viel spannungsreicher. Da war es denn sehr oft so, daß sich die Demokratie (wie umgekehrt die Oligarchie) nur dann halten konnte, wenn sie den Gegner nicht nur politisch, sondern ihn auch sozial vernichtete. Deswegen das große Heer der politischen Flüchtlinge, welches die politische Landschaft vor allem des klassischen Griechenlandes charakterisierte. Die Intransigenz, mit der hier vorgegangen wurde, war natürlich kein Zeichen der Stärke. Die obsiegende Gruppe konnte sich eben die Gegenwart innerpolitischer Feinde nicht leisten, die Gefahr einer Gegenrevolution wäre viel zu groß gewesen. Die geradezu konstitutive Labilität der innerpolitischen Verhältnisse verbot jede Großzügigkeit, und es ist kein Wunder, wenn Oligarchen, wie uns Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
82
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
83
überliefert ist, geradezu einen feierlichen Schwur leisteten und dem »Volk« unversöhnlichste Feindschaft gelobten. Freilich war mit solchen Präventivmaßnahmen das Übel keineswegs an der Wurzel gepackt. Ganz im Gegenteil. Man dokterte lediglich an den Symptomen herum. Die tiefere Ursache blieb; selbst nach der Vertreibung der innerpolitischen Gegner (und Konfiskation ihres Vermögens) war es um die Labilität um kein Jota besser bestellt, und es war nur eine Frage der Zeit, wann ein neuer Gegenstoß kam. Die von hier sich geradezu aufzwingende Unbeständigkeit der politischen Ordnung übte einen nachhaltigen Eindruck auf die Staatstheorie aus und ist die objektive, sozusagen soziologische Voraussetzung für einen ihrer zentralen Problemkomplexe: die Lehre vom Wechsel der Staatsverfassungen (metabolé tés politeías). Diese strukturelle Lage wurde dadurch nicht besser, daß innerpolitische Konstellationen zumeist mit außenpolitischen verkoppelt waren. Keine der sich bekämpfenden Parteien lebte in der Regel aus eigener Stärke. Sie hatte jeweils einen auswärtigen Bundesgenossen, der ihr zum Siege verhalf, und war von dessen Einfluß und Stand in der internationalen Politik abhängig. Setzte sich der Bundesgenosse auf dem Parkett der Außenpolitik durch, so war der »Sieg« seiner Parteigänger in den einzelnen Staaten sicher. Deren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
innerpolitische Gegner waren nun selbstverständlich der Feind des obsiegenden Staates und dieser deshalb daran interessiert, daß ihnen die Chance, die Macht wiederzugewinnen, möglichst versperrt blieb und sie räumlich entfernt wurden. Umgekehrt fand die vertriebene Partei ohne Mühe Aufnahme bei dem äußeren Feind desjenigen Staates, welcher der anderen Seite innerpolitischen Sukkurs geleistet hatte. So war im Grunde das innerpolitische Widerspiel zumeist von einem außenpolitischen begleitet, wobei dieses jenes in der Regel an Eigengewicht übertraf. Die treibende Kraft lag also zumeist in der Außenpolitik, und die Verbindung von innerpolitischer Partei und auswärtiger Macht bedeutete deshalb kein Bündnis zwischen gleichwertigen Partnern, sondern eine societas leonina zwischen einem starken und einem schwachen Kontrahenten, also die Herrschaft des einen über den anderen. Nach diesem »Gesetz« waren sowohl die Herrschaft Spartas wie die Athens, die größten »imperialistischen« Schöpfungen der klassischen Zeit, aufgebaut. Aber nach ihrem Dahinschwinden wurde es damit keineswegs besser, weder im 4. Jahrhundert noch gar während des Hellenismus. Nur Alexanders Weltmonarchie konnte den Versuch riskieren, diese strukturelle Grundverfassung des politischen Griechenlands aufzuheben, als Alexander im Jahre 324 durch einen Machtspruch verkündete, daß alle Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
83
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Verbannten in Griechenland in ihre Heimatstadt zurückkehren sollten. Aber dies blieb, wie das ganze Reich Alexanders, Episode. Auf die durchschnittliche Situation besehen hatte sich weder vorher noch nachher viel an der Tatsache geändert, daß die griechische Innenpolitik eine Funktion der Außenpolitik war und äußere Herrschaft durch staatliche Parteigänger von einer bestimmten innerpolitischen Couleur abgestützt werden mußte. Die Prävalenz der Außenpolitik über die Innenpolitik ist nicht zufällig. Sie hängt, wie leicht zu sehen, nicht nur mit der inneren, sondern ebenso auch mit der äußeren Schwäche der Mehrzahl der griechischen Staaten zusammen. Die wenigsten besaßen die Kraft, einen selbständigen Kurs in ihrer Außenpolitik durchzuhalten. Irgendwie gerieten sie immer ins Kraftfeld eines mächtigeren Partners, und dann war es zumeist auch um die innere Selbstbestimmung geschehen. Die Sachlage wurde auch keineswegs anders, wenn, was nicht selten vorkam, dieser Mechanismus, daß sich nämlich die (mächtigere) Außenpolitik in der Innenpolitik (des Schwächeren) niederschlug, durch die innerpolitische Partei (eben dieses Schwächeren) ausgelöst wurde, indem sie von sich aus den »Freund« heranholte, um mit den innerpolitischen Widersachern fertig zu werden. Die Innenpolitik hatte dann nur scheinbar die Führung. In Wirklichkeit hing alles von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
83
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
dem Expansionsstreben des Mächtigeren ab oder seiner Neigung, sich zu engagieren; und es unterlag keinem Zweifel, daß auch dann der außenpolitische Effekt einer Einflußerweiterung (sofern man nicht direkt von Machtausdehnung sprechen will) gegeben war, wenn die subjektiven Motive mehr durch Sympathie mit den innerpolitischen Idealen des Hilfesuchenden oder Hilfsbedürftigen gefärbt waren als durch das rationale politische Machtkalkül. Wenn demnach die griechische Innenpolitik kraft ihrer politischen Schwäche nach außen zumeist nicht autonom war, so erhellt daraus, daß selbständige Innenpolitik sich nur verhältnismäßig große, also starke Staaten leisten konnten. Das sind dann Staaten, die genug Senkblei in sich hatten, um ihre Ordnung mit eigener Kraft zu bestimmen, die äußere wie die innere, oder, wie Aristoteles sagt, »große Staaten, die weniger gegen Bürgerkrieg anfällig sind, weil die Mitte in ihnen die Oberhand hat« (Pol. 4, 1296 a). Sie besitzen dann kraft ihrer Größe auch genug Spielraum, um den innerpolitischen Gegner in ihren Grenzen tolerieren zu können. Das demokratische Athen, das auch nach der Katastrophe von 404, nach griechischen Maßstäben, ein Großstaat blieb, konnte sich deshalb diese Großzügigkeit leisten, die vielen kleinen Staaten verwehrt war. Nur auf dem Tiefpunkt seiner Existenz mußte es sich ebenfalls diesem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
84
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
84
demoralisierenden Gesetz beugen, aber damals handelte es sich bezeichnenderweise um das oligarchische Athen der »Dreißig« (404/403). Später, im Hellenismus, als Athens eigentlicher Machtverfall eintrat, rangierte es dann allmählich auch unter der Zahl der schwächlichen Duodezstaaten, wenigstens zeitweise, angefangen mit der Herrschaft Antipaters nach Alexanders Tod und in den folgenden Jahrzehnten noch öfters in analoger Weise wiederholt. Der Verlust der äußeren Freiheit ist eben sehr oft (nicht unbedingt immer) mit dem der inneren verknüpft. In bezug auf das klassische Athen könnte man deshalb den Satz wagen, daß die innere Freiheit des klassischen Athens eine Resultante auch seiner äußeren Freiheit war. Man muß also den attischen Staat – trotz allem doch wohl die bedeutendste politische Schöpfung des Griechentums – gerade im Zusammenhang solcher kritischen Überlegungen gegen seine Verächter, die antiken wie die modernen (J. Burckhardt), in Schutz nehmen, aber die Feststellung bleibt nichtsdestoweniger bestehen, daß sein Selbstverständnis, sofern er für sich die Verwirklichung der menschlichen Freiheit in einem »absoluten« Sinn beanspruchte, gleichsam als ihre sich dicht anschmiegende Hülle, die historische Wirklichkeit doch nicht eigentlich trifft. Seine immanente Idee war zwar, ihn auf die Freiheit einer Genossenschaft zu gründen und als Basis die »Gleichheit« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
85
oder, wie man sich auch ausdrückte, die »Gleichrangigkeit« (isonomía) seiner Mitglieder zu gründen, doch war er, im Gegensatz zu dem alten Geschlechterstaat, seiner sozialen Struktur nach viel zu sehr differenziert, als daß dieses Ziel sich hätte verwirklichen lassen. Der politisch-staatsrechtliche Zuschnitt Athens und der Aufbau seines gesellschaftlichen Gefüges fielen nicht nur auseinander, sondern die staatliche Ordnung nahm auch, soweit die politische Willensbildung, die Verwaltung und ebenso die Einrichtung der Rechtsfindung in den Volksgerichten in Betracht kamen, wenigstens in ihren praktischen Konsequenzen wenig Rücksicht auf die gesellschaftliche Gliederung. Sie stellte zwar keine Despotie der von ihr begünstigten niederen Volksschichten über die höheren dar – darin liegt die notwendige Einschränkung gegenüber der Kritik durch die antike Staatstheorie –, institutionell war aber doch deren überwiegender Einfluß auf den betreffenden Gebieten des Staates weitgehend gewährleistet. Obgleich die soziale Substanz nicht eigentlich angerührt wurde, vor allem nicht ökonomisch, kam in der Politik der Staat mehr zur Geltung als das Ganze der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Selbst die attische Demokratie war entgegen ihren eigenen Prätentionen nicht unmittelbar Ausdruck eines gesellschaftlichen Zustandes, sondern Herrschaft des Staates, das heißt des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Herrschaftsapparates über die Gesellschaft und deshalb schließlich über den Menschen. Dieses Verhältnis trifft erst recht und in einem geradezu extremen Ausmaß auf die Demokratie in den kleinen griechischen Staaten zu, in denen sie nun tatsächlich nur mit Hilfe der Gewalt etabliert wurde, sei es nun gewaltsame Bedrückung und Entmachtung des Gegners oder gar zusätzlich die militärische Gewalt des auswärtigen Verbündeten beziehungsweise der herrschenden Macht. Das Bild ist selbstverständlich da nicht viel anders, wo von vornherein und ohne jede Verstellung die politische Macht in den Händen von wenigen monopolisiert war, das heißt in den Oligarchien mit ihren Beschränkungen des aktiven Bürgerrechts. Auch hier vertrug sich die prätendierte Freiheit und Gleichheit insofern mit der Tatsache einer bewußten Herrschaft, als der ihr unterstellte Kreis eben beschränkt war und außerhalb seiner eine große Gruppe von Herrschaftsobjekten beließ. Zieht man das Fazit, so kommt man nicht um die Feststellung herum, daß bei allen Spielarten des griechischen Stadtstaates Gesellschaft und Staat auseinanderfielen. Trotzdem ist das doch nicht die ganze Wahrheit. Man muß das Problem noch ein wenig umstellen und etwa folgendermaßen fragen: Verbirgt sich nun hinter der »Freiheit« des griechischen Stadtstaates ein Zustand dauernder Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
85
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Unterdrückung der einen Gruppe durch die andere und war deshalb die Gesellschaft des alten Griechenlands in einen ehernen Panzer gepreßt, der keinerlei eigene Bewegung erlaubte? Beim ersten Zusehen könnte man in der Tat so denken, denn massive Gewalttätigkeit gehörte offenbar routinemäßig zur politischen Praxis und könnte deshalb durchaus als Index für eine Verfassung gelten, die auf Zwang und Herrschaft gegründet war. Der Eindruck besteht tatsächlich zu Recht, und wenn man das antike Griechenland auf einen beliebigen Zeitpunkt hin fixieren würde, dürfte gegen ein solches Urteil auch wenig einzuwenden sein, das zu sehr von den vielfältigen Gewalttaten und den unzähligen durch sie betroffenen Schicksalen bestätigt wird. Trotzdem wäre ein solches Urteil nur die halbe Wahrheit. Seine Revision stellt sich von selbst ein, sobald man die Dinge in der Zeit auseinanderzieht. Sie geraten dann nämlich unter ein anderes Gesetz, unter das des Wandels, und dies ist gleichbedeutend in Griechenland mit dem Gesetz des ständigen Wechsels. Die schier konstitutive Unterdrückung des einen durch den anderen in der griechischen Geschichte war niemals von Dauer. Immer wieder gab es neuen Wechsel, neuen Umsturz, und immer wieder wurde das Rad den Weg, den es vorgelaufen war, zurückgedreht. Der Mangel an Stabilität, der die Außenpolitik der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
85
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
griechischen Welt kennzeichnet, ist infolge seiner Verkopplung mit der Innenpolitik zugleich ein Gradmesser für die Labilität der inneren Ordnung. Die griechische Geschichte kennt im einzelnen viel Machteinsatz und deshalb auch viel Herrschaft, aber dieses beides nur immer widerruflich, vorläufig und auf kurze Zeit, niemals für die Dauer. Niemals bot sich infolgedessen die Chance zur Verfestigung, weder nach außen noch nach innen. Der Historiker ist im allgemeinen geneigt, hierin das Debakel des politischen Griechentums zu erblicken, und wahrscheinlich hat er damit nicht ganz unrecht. Aber das Phänomen hat auch eine Kehrseite. Die Kurzfristigkeit und Zersplitterung der politischen Unternehmungen und ihrer Resultate machten jeden Zustand alsbald reversibel. Über eine Generation hinaus hat kaum einer gehalten (sofern man vom Ersten Attischen Seehund absieht). Damit ging der Herrschaft ein Element verloren, das sie so nötig hat wie der Fisch das Wasser, die Zeit, in der sie sich hätte eigentlich verwirklichen können. Wenn der Grieche von der Politik auch noch so hart geschlagen wurde, er wußte sozusagen, daß dies jedesmal nicht endgültig war. Das brachte zwar Not und Entbehrung und manches Ungemach, aber ein Schicksal im Sinne unwiderruflicher Fatalität war es niemals. Der Grieche konnte bleiben, was er war. War er ein Oligarch, ein Oligarch, war er ein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
86
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Demokrat, ein Demokrat, kurz: er brauchte sich in seinen Einstellungen nicht zu verändern, es gab immer einen Platz, wohin er ausweichen konnte, und immer einen Zeitpunkt, der die Dinge für ihn wieder ins Gleichgewicht brachte. Der Staat, das heißt der politische Gegner, packte zwar im Moment heftig zu, doch der Griff lockerte sich bald. So mußte sich die gesellschaftliche Ordnung zwar die mannigfaltigsten Störungen gefallen lassen, aber es waren doch nur Störungen. Im Grunde war die Gesellschaft Griechenlands, aufs ganze besehen, viel stärker als die von außen in einem ewigen Oszillieren auf sie einwirkende staatlich-politische Macht. Und im Effekt blieb der Grieche sogar ein freies Wesen, wenn man unter »Freiheit« versteht, daß der Mensch nicht in seiner Grundverfassung und seinem Habitus einem fremden Willen unterworfen wird. Die griechische Freiheit besitzt mannigfache Wurzeln und stellt sich in recht verschiedener Weise dar, aber sowohl zu ihrer Erscheinung wie zu ihrer Herkunft gehört die nur fragmentarische Konsolidierung jeder griechischen Herrschaft – und damit auch jeder äußeren Ordnung – in Raum und Zeit.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
86
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Die Tyrannis Das augenfälligste Machtphänomen des vorhellenistischen Griechentums ist die Tyrannis. Sie gehört zu den fast ständigen Erscheinungen der archaischen und der klassischen Geschichte. Kaum eine Generation, in der es in dem weiten Umkreis der griechischen Welt nicht irgendwo einen oder mehrere Tyrannen gegeben hätte. Und auch mit dem Hellenismus traten sie von der politischen Bühne nicht ab. Das war erst der Fall, als die Römer dort die Hauptfigur wurden, also mit dem Beginn des 2. vorchristlichen Jahrhunderts. Dieses Faktum ist kein Zufall und gibt bei näherem Zusehen gleich die allgemeinste Bestimmung dieser politischen Gestalt in die Hand. Die Tyrannis ist nämlich nicht minder als der häufige Wechsel politischer Ordnung Ausdruck der strukturellen Labilität des griechischen Staatslebens. Nur auf dessen wenig gefestigtem Boden konnte sie erwachsen, nicht anders als unter ganz analogen Verhältnissen die italienische Signorie des Spätmittelalters. Nachdem durch die Etablierung der römischen Vorherrschaft im griechischen Osten die Kontinuität in dessen Politik Eingang gefunden hatte, war es mit ihr denn auch vorbei. Ferner ist die Tyrannis ein Kind des griechischen Stadtstaates. Nur in ihm hat es sie gegeben und nur in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
87
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
87
seinem Rahmen ist sie überhaupt vorstellbar. Dies gehört nahezu zu ihrer Begriffsbestimmung. Sie ist auf diejenigen Elemente angewiesen, die – in Griechenland – nur dort vorhanden waren. Infolgedessen fehlt sie dem Stammesstaat, gleichgültig, ob mit oder ohne monarchische Spitze und ebenso dem noch nicht ausgereiften Polisstaat der ungebrochenen Geschlechterherrschaft. Die Tyrannis ist weiterhin stets ein Krisensymptom. Ohne politische Krise ist sie nicht möglich, niemals vermag sie die Krise längere Zeit zu überdauern; es gehört zu ihrem »Wesen«, vorüberzugehen. Sie ist also in besonderer Weise situationsgebunden, gebunden an eine Situation, die, unter anderem, durch ihre Unbeständigkeit definiert ist. Die griechischen Staatstheoretiker rechneten sie zu den regulären Staatsformen, was angesichts ihrer Häufigkeit begreiflich ist. Wenn man jedoch unter »Staatsform« die Ordnung der Machtverhältnisse versteht, welche als schlechthin gültig, ohne Ansehung der augenblicklichen personalen Verhältnisse, also als sachliche Ordnung gedacht wird, dann ist die Tyrannis keine »Staatsform«, denn Tyrannis ist nicht nur stets auf eine bestimmte Lage hin improvisiert, sie erhält von ihr auch ihren objektiven Sinn. Deshalb ist sie stets persönliche Herrschaft, ohne Auswechselbarkeit des Herrschers, es sei denn, der Nachfolger versteht es, sie quasi wieder von sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
87
aus neu zu schaffen (was eigentlich nie recht gelang. Die Ausnahmen sind nur scheinbar: Gelon-Hieron gehörten der gleichen Generation an und waren insofern eine zeitliche Einheit). Die Aufstiegschance des Tyrannen liegt in der zeitweiligen Unfähigkeit des Staates, seine Macht zu aktualisieren. Wenn dessen Kräfte gelähmt sind – die Umstände, die dazu führen, können sehr verschieden sein – und sich nicht mehr in der Lage befinden, eine unbestrittene Herrschaft aus sich heraus zu stellen, schießt die Initiative des Tyrannen in dieses Vakuum ein und schafft wieder öffentliche Macht, indem sie zu einer Konstellation hinzutritt, in der verschiedene Willensrichtungen sich gegenseitig paralysieren. Die Tyrannis entsteht deshalb oft durch Akklamation einer Gruppe, an deren Spitze sich der künftige Tyrann stellt und ihr zum Sieg verhilft. Sein leitender Einfluß und bisweilen sein taktisches Geschick, auch die beruhigende Wirkung, die von seiner Person ausgeht, vermögen unter Umständen die andere Partei zu besänftigen und einen Kompromiß herbeizuführen. Dann fällt dem Tyrannen die Usurpation nicht schwer, da er sich zwar auf keine formalisierte Zustimmung, aber doch auf einen verbreiteten Willen, ihn zu dulden, zu stützen vermag. Das Motiv der Gegenseite ist die Angst, wieder der Misere zu verfallen, der man gerade entgangen war. Zum Tyrannen wird der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
88
Betreffende im Grunde erst dadurch, daß er sich von dieser Basis aus eine Herrschaft schafft, die ihn von solcher Zustimmung unabhängig macht. Bei dieser mehr oder weniger »legalen« Usurpation ist der entscheidende Schritt der, daß die Herrschaft über die Billigung der durch sie Betroffenen die Oberhand gewinnt. Nicht selten wird sie auch in Form eines Putsches gewonnen. Die beiden Arten können sich natürlich auch gegenseitig durchdringen, und gerade solche »Mischungen« entsprechen am ehesten der Vielfalt politischer Vorgänge, die keiner Regel gehorchen. Die Macht des Tyrannen als spezifisch »tyrannisch« zu begreifen heißt also in einem exakten Sinne, sie auf den Kreis zu beschränken, innerhalb dessen sie sich von den eigenen Machtmitteln der Tyrannen ableiten läßt, ein Unternehmen, das sich nur auf dem Wege strenger Abstraktion durchführen läßt. Je nachdem wird man den Anteil zu bemessen haben, den die verschiedenen Faktoren beanspruchen, also die objektive Bereitwilligkeit, den Tyrannen zu ertragen, und die von ihm in Szene gesetzte Gewalt. Die hier in Frage kommende Relation ist von den historischen Umständen abhängig. Unter diesem besonderen Gesichtspunkt fällt es auch nicht schwer, die Berechtigung einer modernen Differenzierung anzuerkennen, den Unterschied zwischen der »früheren« und »späteren« Tyrannis, der eben damit nicht nur als ein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
chronologischer, sondern auch und vor allem als ein sachlicher statuiert wird. Die »frühere« Tyrannis ist in erster Linie die der archaischen Zeit und bedeutet wohl den wichtigsten Transformator der elementaren sozialen und politischen Auseinandersetzungen jener Epoche, in der sich der alte Geschlechterstaat in den Stadtstaat der Politen verwandelte. Kraft ihrer säkularen Funktion innerhalb eines allgemeinen geschichtlichen Prozesses war damals die Tyrannis zum Schicksal fast der gesamten griechischen Welt (außer Sparta) geworden, soweit diese eben von der großen Auseinandersetzung erfaßt worden war. Man kann sie beinahe als unvermeidlich bezeichnen und wird sich deshalb nicht wundern, daß die Zustimmung zu dieser Tyrannis, die gleichsam den Stempel der Notwendigkeit trug (und nicht bloß den einer okkasionellen Unvermeidlichkeit), sehr weit reichte und daß selbst das spätere griechische Geschichtsbewußtsein ungeachtet seiner Neigung, vom eigenen Standpunkt aus die Tyrannis in Grund und Boden zu verurteilen, dem durch ausdrückliche Anerkennung einzelner Tyrannenfiguren Rechnung trug (etwa Perianders von Korinth, eines der Sieben Weisen). Diese Tyrannen verfolgten eine fruchtbare Politik, die im öffentlichen Bewußtsein ein helles Echo fand. Die Regierung des Atheners Peisistratos, um ein besonders greifbares Beispiel zu nennen, wurde als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
88
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
das Goldene Zeitalter des Kronos gepriesen. Die politische Gestalt des Tyrannen war damals auch noch nicht so klar modelliert wie späterhin, abgesehen davon, daß ihre eindeutige Diffamierung noch nicht eingesetzt hatte. Daß Solon die Tyrannis für seine Person ausdrücklich ablehnte, war wahrscheinlich einer sehr individuellen Entscheidung erwachsen. Die Freunde, die ihm zugeraten hatten, waren sicher keine Schmeichler und Ohrenbläser, sondern vertraten gewiß sachliche Argumente, und daß sie mit ihnen nicht ganz unrecht hatten, bewies die anschließende Geschichte Athens deutlich genug. Trotzdem kann man in diesem Bilde den persönlichen Herrschaftswillen nicht fortlassen, auch wenn man zugibt, daß eigene Machtbehauptung und objektive Aufgabe (mit der ihr innewohnenden Rechtfertigung und immanenten Anerkennung) sich zu einer schwer zu trennenden Einheit verschmolzen und man den einen oder den anderen Zug sowohl in dieser wie in jener Richtung verstehen kann. So gestattet die häufig zu beobachtende Tendenz der älteren Tyrannis zur Apolitisierung auch der aufsteigenden Bürgerschichten eben sowohl die eine Deutung, daß der Tyrann den inneren Reifungsprozeß abwarten wollte und die wirtschaftlich-soziale Beruhigung für vordringlicher hielt, als auch die andere, daß er in der politischen Indifferenz eine Stütze seiner Herrschaft Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
88
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
89
erblickte. Wahrscheinlich ist beides richtig und miteinander verträglich. Desgleichen ist die Baupolitik der Tyrannen ein Ausdruck der Selbstdarstellung und Machtverwirklichung und dabei nicht weniger ein rationaler Zweckzusammenhang, und dieser wiederum nicht nur technisch verstanden im Sinne der Aufgabe dieser Bauten, sondern ebenso sozialpolitisch, auch als Antrieb für die gewerbliche Arbeit. Aber schon die frühen Tyrannen haben mit der Versachlichung der Machtmittel begonnen, die dann später der Kernpunkt der Tyrannis überhaupt wurde, und hierin ist Analyse und Abstraktion nun nicht blockiert. Die Aufstellung von Soldtruppen und die Einrichtung von Leibgarden lagen keineswegs auf dem Weg zu einer Durchbildung des damaligen griechischen Stadtstaates und wurden auch von ihm in der archaischen Zeit keineswegs aufgenommen, selbst später nur zögernd. In der Aufstellung eines solchen Gewaltapparats – das bezahlte und jeder Zeit und für jeden Zweck verfügbare Heer ist der elementare Fall einer Instrumentierung der politischen Macht beziehungsweise der Machtmittel – verbirgt sich kein Zweck, der außerhalb der Tyrannenexistenz damals sinnvoll gewesen wäre. Das rein mechanisch disponible Herrschaftswerkzeug ist dasjenige Element aus dem ganzen vielseitig verästelten Tyrannenkomplex, das sich als Ausdruck des spezifisch Tyrannischen in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
89
der Tyrannenherrschaft begreifen läßt und auch so begriffen werden muß. Denn wenn die Tyrannis innerhalb der griechischen Herrschaftsphänomenologie eine eigene Größe ist, dann ist sie es nur insofern, als sie damit einen besonderen Typus von Herrschaft herausstellte, für den sonst alle Voraussetzungen fehlten. Das Wesen der späteren Tyrannis läßt sich geradezu dahin bestimmen, daß das Gewicht mechanisierter Herrschaft für sie immer größer wurde und infolgedessen ihr objektiver funktionaler Wert, das heißt ihre Rolle als Schrittmacher eines breiten und verbindlichen geschichtlichen Fortschritts (oder, zur Vermeidung von Mißverständnissen, vielleicht besser Fortschreitens), demgegenüber mehr zurücktrat. Nach den Voraussetzungen, die hierbei im Spiele sind, muß sich der Übergang mit dem Ende der archaischen und dem Anfang der klassischen Zeit vollzogen haben, denn damals war das Ringen um den neuen Staat der Politen, soweit es dabei um ihn als eine hinfort allgemeine, in dieser oder jener Spielart gültige Größe ging, beendet. Der archaische Geschlechterstaat war definitiv abgetan. Seine Überwindung konnte nicht mehr die geringste Aktualität beanspruchen, und für die Tyrannis war es hinfort nicht mehr möglich, ihre Lebenssäfte aus einem geschichtlichen Vorgang zu ziehen, den es nicht mehr gab. Das machte sich gleich auf der Scheidelinie der beiden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
90
Phasen bemerkbar. War bis dahin die Tyrannis der Steigbügelhalter der in »demokratische« Richtung drängenden Kräfte, so präsentierte sich die Tyrannis Anfang des 5. Jahrhunderts als Verbündeter »konservativer« Kreise. Es waren nicht die alten Geschlechter, wenigstens nicht die mit längst vergangenen Ansprüchen, sondern die Leute von Großgrundbesitz, die die Staatsführung gern auf ihren engeren Kreis beschränkt gesehen hätten: die Oligarchen. Sowohl die Tyrannis der Deinomeniden in Syrakus wie die Tyrannen im persisch gewordenen Kleinasien basierten auf einer solchen Allianz, wenn man so will, »reaktionären« Charakters, vorausgesetzt daß man die an beiden Stellen schon erreichte Demokratie für »fortgeschrittener« hält als das Regime von Großgrundbesitzern (Gamoren). Verwunderlich war nicht, daß die Tyrannis zum Zug kommen wollte, sondern lediglich, daß sie dies als Helfer der schwächeren Partei konnte. Die andere, im Besitz der Macht befindliche Partei hatte sie nicht nötig, und da nach der Dynamik der jetzt beginnenden klassischen Zeit die Demokratie (in welcher Form auch immer) im allgemeinen die Zeit für sich hatte, war der Tyrannis die »oligarchische« Interessenverbindung gleichsam vorgeschrieben (was unter besonderen Umständen keineswegs eine Umkehrung des Verhältnisses ausschließt). Die herrschende Tendenz war freilich jetzt, da sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
90
die inneren Verhältnisse nach Abschluß des alten Klassenkampfes stabilisiert hatten, die Tyrannis ad acta zu legen. Im Grunde konnten ihr jetzt nur außerordentliche Verhältnisse (gemessen an der innerstaatlichen Struktur des damaligen griechischen Staates) den Boden bereiten. Das Reich der »Außerordentlichkeit«, das heißt des nicht auf überschaubare interne Faktoren Zurechtlegbaren, ist aber von jeher die Außenpolitik gewesen, und deshalb gehört die »Vorgeschichte« der beiden genannten Tyrannisbereiche auch primär zur Außenpolitik. Im Osten war das betreffende Datum die persische Herrschaft, im Westen auf Sizilien zuerst der Gegensatz von Gela und Syrakus und dann vor allem der große Abwehrkrieg gegen Karthago mit seinem großen Sieg (an der Himera 480 v. Chr.), welcher der Deinomenidentyrannis erst ihre eigentliche Basis verschaffte. Nachdem durch den Peloponnesischen Krieg die überstaatliche politische Ordnung Griechenlands so heillos durcheinander geraten war, setzte dank dieses Konkurses eine neue Periode der Tyrannis ein, eben der »jüngeren Tyrannis«. Ihre Kraftquelle war das allgemeine Debakel, und da niemand von ihren Vertretern das Vermögen oder den Willen besaß, es zu beheben, lebte diese Tyrannis sozusagen von der Beständigkeit des defekten Status und war daher darauf angewiesen, ihre Macht auf einen methodischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
90
Ausbau der äußeren Gewalt zu gründen. Ein Virtuose dieser Technik scheint der ältere Dionys von Syrakus gewesen zu sein, der hierbei allem Anschein nach auf gewisse von den Deinomeniden entwickelte Verfahren zurückgreifen konnte. Es ist lehrreich, die Schilderung dieses Systems bei Aristoteles (Pol. 5, 1313 a, 341314 a, 29) nachzulesen. Es besteht aus drei ineinandergreifenden Gesichtspunkten: Erstens muß der Tyrann die Menschen demoralisieren, indem er ihnen das Selbstbewußtsein und die Möglichkeit, an die sittliche Kraft des anderen zu appellieren, also das »Vertrauen« raubt, dann soll er sie ökonomisch auf einen kleinen Fuß setzen – vor allem durch Abgaben –, damit sie nicht mehr imstande sind, ein höheres Wesen in sich auszubilden, und drittens soll er die Menschen in ihrem Zusammenleben stören, die Gesellschaft also desintegrieren. Dem letzten gilt die Hauptaufmerksamkeit, denn sehr richtig ist hier der beste Weg zu dem Ziel erkannt, die Eigenständigkeit der Menschen zu schwächen. Mit bestimmten technischen Vorkehrungen ist da viel zu erreichen. Man braucht nur mit genauen Kontrollen die Fremden, die Partner eines offenes Worts, von den Einheimischen zu isolieren, ferner in die Gesellschaft Spitzel als agents provocateurs einzuschleusen und überhaupt die Menschen durch Verleumdung und Mißtrauen gegeneinanderzuhetzen. Schließlich dürfen sie gar keine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Zeit mehr zur Besinnung haben, sondern müssen ständig in Gang gehalten werden, wozu sich vor allem der Krieg eignet; daneben auch der durch künstliche Verarmung herbeigeführte Zwang, einem Broterwerb nachzugehen und sich durch wirtschaftliche Unternehmungen des Tyrannen füttern zu lassen. Dem Niederdrücken der selbstbewußten Schichten entspricht als Korrelat, den dienenden Elementen, Sklaven und Frauen, die Zügel zu lassen und sich sozusagen in ihrer Minderwertigkeit eine Stütze der Herrschaft zu verschaffen. Solchen Anweisungen kann man das Kompliment einer gewissen zeitlosen Gültigkeit nicht versagen. Wo immer vergleichbare Herrschaftsformen existierten – bis hin zu den modernen Diktatoren –, wird ihre Richtigkeit bestätigt. Die Sache hat ja auch ihre gute Logik. Wenn die Voraussetzung dieser Machtordnung die sozial-moralische Destruktion ist, dann muß sie künstlich bewahrt werden, wenn nicht die Gefahr beschworen werden soll, daß der Tyrann durch eine produktive Politik sich selbst überflüssig macht. Sofern Macht als Selbstzweck, also Herrschaft lediglich als die Aufgabe verstanden wird, alle anderen zu beherrschen, bleibt schließlich kein anderer Ausweg, als die Gesellschaft durch Terrorisierung und Bewegung in einem radikal herrschaftsempfänglichen Zustand zu erhalten. Wie lange und in welchem Umfang sich das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
91
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
91
Verfahren durchführen läßt, ist dabei eine andere Frage. Irgendwie pflegt eine in diesem Sinn »totale« Herrschaft (bis jetzt wenigstens) an ihre Grenze zu kommen. In Griechenland war sie bei der Beschränktheit der Verhältnisse und der starken Interdependenz der zahlreichen Staaten sehr bald erreicht, und ungeachtet der Häufigkeit der Tyrannis, hat sie niemals in einem höheren Sinne »Geschichte gemacht«, sondern blieb dazu verurteilt, jedesmal Episode zu sein. Die Tyrannis als die gewalttätigste Form der Machtausübung in Griechenland war deshalb paradoxerweise auch die schwächste. Das hängt damit zusammen, daß zu ihrer politischen Impotenz noch das Unvermögen hinzukam, sich im öffentlichen Bewußtsein der Griechen irgendwelche Geltung zu verschaffen, wie sie denn nicht einmal imstande war, den Begriff Tyrannos – von Hause aus als nichtgriechisches Lehnwort verhältnismäßig unverfänglich – als offiziellen Titel durchzusetzen. Bei der älteren und ältesten Tyrannis mag diese Unsicherheit noch nicht deutlich sein. Die Bildung der »Staatsformen« war damals noch im Fluß und die Tyrannenpolitik so eng mit den übergreifenden Problemen des sozialen Lebens verflochten, daß sie von ihrer Stellung in diesem Zusammenhang von Fall zu Fall ihre Rechtfertigung erhalten konnte. Ihre Gegner waren damals vor allem der Adel, dem die Tyrannen in der Regel selbst entstammten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
92
und dem nicht nur deren volksfreundliche Politik zuwider war, sondern die begreiflicherweise ebenso darüber erbost waren, daß ein einzelner aus ihren Reihen mehr als die anderen zu sagen beanspruchte und damit gegen den Comment der Standessolidarität verstieß, ganz abgesehen davon, daß sie die in erster Linie Geschädigten waren, denn das Regiment lag ja bislang bei ihnen. Ob und in welchem Umfang es der aristokratischen Opposition gelang, ihren Standpunkt mit einiger Werbekraft zu formulieren, ist leider unbekannt. Sie hatte es auch nicht leicht, Posten zu fassen, da sie selbst von verschiedenen Seiten her bedroht war; nicht nur der Tyrann machte ihr zu schaffen, sondern die ganze, auf Nivellierung des alten Standesunterschiedes ausgehende Tendenz der Zeit. Von aristokratischer »Gleichheit« zu sprechen war gefährlich, denn dieser Begriff besaß im Zusammenhang mit den neu angetretenen Schichten eine viel explosivere Zündfähigkeit, und bei denjenigen, die der Demokratie am nächsten kamen, mußte von ihm die größte Sprengwirkung ausgehen. Auf diese Weise wurde die klassische Gegenposition gegen die Tyrannis die Demokratie. Die führende Stellung Athens in der demokratischen Entwicklung des 5. Jahrhunderts tat das Ihrige dazu, der tyrannenfeindlichen Ideologie ein Profil zu geben. Auf breiter Front wurden der Tyrannis gleich mehrere Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
92
Gleichheitsbegriffe entgegengehalten: »Gleichberechtigung« (Isonomie), gleicher Herrschaftsanspruch (Isokratie), gleiches Recht für alle (Isodikie), gleiche Chance der politischen Meinungsäußerung (Isegorie). Die Position war um so überzeugender, als sich ihr Gegenverhältnis in sinnfälligster Weise auf den Gegensatz von Freiheit und Knechtschaft hinausspielen ließ. Der Freiheitsbegriff, in seiner Allgemeinheit wie überall, wo er begegnet, nicht aus einer einzigen Wurzel hervorgegangen, verschaffte sich in der griechischen Demokratie seine eindringlichste Lebendigkeit, so daß er schließlich zum Kardinalbegriff der Demokratie schlechthin wurde. Das hatte verschiedene Gründe, aber als einer von ihnen ist die besondere Stilisierung dazuzuzählen, die Athen seiner »freiheitlichen« Tyrannenfeindschaft gab. Bei den Griechen färbte der Repräsentant des Typus immer auf den Typus ab. Das war hinsichtlich Sparta und der Aristokratie oder der Oligarchie ähnlich. Bei beiden war es übrigens nicht der Reflex eines historischen Sachverhalts, denn weder war Sparta von Hause aus eine Musteraristokratie im üblichen Sinn, noch konnte sich Athen auf die Vertreibung seiner eigenen Tyrannen etwas Besonderes einbilden. Das hinderte nicht, daß Athen damit geradezu einen Kult trieb und sich als der tyrannenfeindliche Staat par excellence gerierte, so daß noch im 4. Jahrhundert der Historiker Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
92
Kallisthenes, ein Zeitgenosse Alexanders des Großen, sagte, wenn einer einen Tyrannen getötet habe und deshalb überall verfolgt würde, dann könne er sicher damit rechnen, daß ihm in Athen kein Leid geschähe. In Athen war geächtet, wer Tyrann zu werden versuchte, und jeder konnte ihn töten. Der Schwur der Ratsherren bei Amtsantritt enthielt das Gelöbnis, jeden Tyrannen oder Tyrannis-Aspiranten in Athen zu beseitigen. Athen konnte dann noch in seine programmatische Tyrannenfeindschaft das Pathos des griechisch-persischen Freiheitskrieges einfließen lassen, denn seine eigene Tyrannensippe hatte die Perser tatkräftig unterstützt, und der vorausgegangene Ionische Aufstand war gegen die kleinasiatischen Tyrannen als Platzhalter der persischen Herrschaft gerichtet gewesen, was dann wiederum zur Beteiligung des sich seiner Demokratie bewußt werdenden Athens an ihm geführt hatte. Doch der Zusammenhang zwischen Persern und Tyrannis ging noch weiter. Es war für die Griechen eine ausgemachte Sache, daß die Herrschaft des Großkönigs, der nur »Sklaven« neben sich duldete, und die des Tyrannen von gleicher Natur waren und man die Wesenszüge des einen beim anderen wiederfände und umgekehrt. Mit diesem Prospekt war der Bezug auf eine gemeingriechische, im Spiegel des hellenischpersischen Gegensatzes sich ausbildende Begriffswelt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
hergestellt, und die Tyrannenapostrophierung gehört wohl auch von Anbeginn dazu, unabhängig von der besonders nachdrücklichen Akzentuierung, die ihr Athen zu geben vermochte und die ihre Glaubwürdigkeit doch wesentlich dem Umstand verdankte, daß sie eine durchgehend hellenische Vorstellungswelt berührte. Was dann weiter folgte, mag man politische Ideengeschichte nennen, obgleich der Begriff auf die antiken Verhältnisse nicht ganz paßt. Jedenfalls hatte es die Staatsphilosophie nicht schwer, nach solchem in die Breite und Tiefe vorgedrungenen »Vorurteil« das Verdikt über die Tyrannis zu systematisieren und damit bis heute das politische Denken zu beeinflussen. Aber diese »negative« Tyrannisideologie ist – im Gegensatz zu manchen anderen Aufstellungen der Staatsphilosophie – primär kein Kind der Spekulation, sondern insofern echte »Ideologie«, als sie nicht nur unmittelbar der politischen Wirklichkeit entstammte, sondern sie auch ihrerseits schon geprägt hatte. Bereits um die Mitte des 5. Jahrhunderts konnte Herodot ganz selbstverständlich schreiben, daß es nichts Ungerechteres und Abscheulicheres gäbe als die Tyrannis, und für die antagonistische Ideenbeziehung von Demokratie und Tyrannis ging das geflügelte Wort »Besser (oder stärker) als die Tyrannis ist die Demokratie«, das man witzigerweise dem Tyrannen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
93
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
und »Weisen« Periander in den Mund legte. Er mußte ja Bescheid wissen. Die Tyrannis war demgegenüber, wie gesagt, ohnmächtig und konnte sich allenfalls hinter Idealen verstecken, die sie von anderswoher geborgt hatte. Das ging freilich nur in besonderen Fällen, nämlich dann, wenn es der betreffende Tyrann als individuelle Persönlichkeit verstand, als ein anderer zu erscheinen, als er qua Tyrann war. Die Deinomeniden in Syrakus besaßen anscheinend in dieser Hinsicht ein erhebliches Geschick und ließen sich in der griechischen Welt als Inkarnation altadliger Werte und »dorischer« Gesinnung feiern. Sie hatten es hierbei nicht schwer, denn sie waren Sieger über die Barbaren (Karthago und Etrusker) und kokettierten ungeachtet einer höchst revolutionären Innenpolitik nicht nur mit den konservativen Kreisen, sondern auch mit aristokratischen Idealbildern. Dazu fanden sie Pindar als Verkünder ihres Ruhmes. Doch war das eine Ausnahme, der für die Tyrannis als politischer Begriff sonst nicht das geringste bedeutet. Nicht nur, weil die Vorstellung von ihr dabei stillschweigend ausgeklammert war und schon deshalb sich der goldene Schimmer über sie nicht ausgießen konnte, sondern die Elemente dieses Sonderfalls teilten sich auch den anderen konkreten Tyrannenphänomenen nicht mit und konnten dies auch gar nicht. Man lebte nur ein Mal im Jahre 480. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
93
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
93
Die spätere italienische Signorie hat sich bekanntlich »feudalisiert« und ist in die Hülle der europäischen Territorialmonarchie von Gottes Gnaden geschlüpft. Dieser Ausweg war der griechischen Tyrannis versperrt, und als dann im Hellenismus die griechische Welt schließlich doch »monarchisch« wurde, glückte der Versuch der Tyrannis, hiervon zu profitieren, auch nicht. Agathokles von Syrakus nannte sich zwar König und war ein großer und erfolgreicher Politiker, aber seine Tyrannis wurde kein Königtum, sondern blieb eine Tyrannis. Der Monarch selbst gab das selbst zu, als er sie mit seinem Tode für beendet erklärte.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
94
Die außenpolitischen Herrschaftschancen des griechischen Staates Der Hellenismus Die Frage nach den Herrschaftsmöglichkeiten des griechischen Staates nach außen stellen heißt im Grunde das Fazit der griechischen Geschichte bis zum Beginn des Hellenismus zu ziehen, mit anderen Worten, ihren politischen Pluralismus als historisches Problem aufzuwerten. Dieses auffällige Phänomen hat eine strukturelle und eine pragmatische Seite. Um mit jener zu beginnen, so ist auf die Entstehung des griechischen Stadtstaates zurückzugreifen. Seine Gründung als genossenschaftlicher Verband von Adelsgeschlechtern und das Fehlen jeder überlegenen herrschaftlichen Direktive und vor allem jeder Machtbasis ließen nur einen beschränkten Umfang der »Vergesellschaftung« zu, eben so weit, daß die auf menschliche Überschaubarkeit und geselligen Kontakt gestellte politische Form verwirklicht werden konnte. Das Bewußtsein, daß ein Stadtstaat eine normale Größe haben müsse und darüber nicht hinauswachsen könne, hat die Adelspolis auf den Politenstaat vererbt. Es ist als eines der konstitutiven Elemente in ihn eingegangen und wurde auch von der griechischen Staatstheorie anerkannt. Platon sagt ausdrücklich, daß ein Staat Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
94
nicht mehr als etwa fünftausend Bürger (genau 5040) zählen dürfe. Gerade die Demokratie benahm sich hierin merkwürdig. Sie gab mehr als einmal den Anstoß dazu, daß neue Städte geschaffen wurden und auf dieser Grundlage neues Bürgerrecht entstand. Vor allem war sie es, welche die Urbanisierung förderte, indem sie in der klassischen Zeit und auch später Dörfer zusammenschloß. Aber die Aufnahme neuer Bürger in einen bestehenden Staatsverband lehnte sie im allgemeinen ab. Nur wenn sie sich letal bedroht fühlten, dann waren auch die Demokraten bereit, ihre Tore den Fremden zu öffnen. Kurz vor dem Ende des Peloponnesischen Krieges bekamen so die Samier das attische Bürgerrecht, und 392 v. Chr. verfügten die Demokraten in Korinth und Argos, daß beide Städte hinfort als eine einzige zu gelten hätten. Doch das waren flüchtige Ausnahmen ohne jede praktische Konsequenz. Sie zeigen aber, was möglich war, wenn der Demokratie die Angst im Nacken saß. In gewöhnlichen Zeiten und besonders, wenn sie sich stark fühlte, war sie in diesem Punkt kleinlich und kurzsichtig. Sie sah im Bürgerrecht einen ideellen wie materiellen Besitztitel und wollte ihn nicht mit Neubürgern teilen. Selbst einer Landschaft wie Oropos, die geographisch im Grunde ein Teil von Attika war und viele Jahre zu Athen gehörte, enthielt man das Bürgerrecht vor. Da Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
94
war der alte Geschlechterstaat viel großzügiger gewesen, andernfalls wäre es nie zur politischen Einigung Attikas gekommen. Wichtiger und mehr in der Sache angelegt war allerdings die Methode, fremde Staaten an sich zu binden, das heißt der Anschluß unter formeller Wahrung des Gemeindecharakters beider Kontrahenten. Auf dieser Ebene lagen an sich die imperialistischen »Möglichkeiten« des antiken Stadtstaates und damit auch des griechischen. Die Gründung politischer Superiorität auf ein solches Verhältnis kam denn auch in Griechenland unzählige Male vor. Aber es entbehrte einer durchsichtigen Systematik und jeder klaren juristischen Gestalt, so daß hier sich keinerlei feste Tradition bilden konnte, auch nicht auf der naheliegenden Basis eines nominellen Bundesverhältnisses. Der Attische Seebund, aus einer Schwurgenossenschaft zu Schutz und Trutz hervorgegangen und damit von Hause aus im Besitz eines völkerrechtlichen Modells, entbehrte jeglicher Legitimation durch ein Statut, nachdem er nicht mehr glaubhaft versichern konnte, daß er die alte Form realisieren werde und es tatsächlich auch gar nicht versuchte. Die alte Rechtsbasis war nach übereinstimmender Ansicht aller Beteiligten, der Hegemonialmacht wie der Unterworfenen, geborsten, die Bundesversammlung hatte sich aufgelöst. Daher bot sich dieser verstümmelte Rechtsorganismus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
95
der öffentlichen Kritik dar. Als Sparte nach dem Peloponnesischen Krieg ein Imperium zu organisieren suchte, verfuhr es in der völkerrechtlichen Fundamentierung übrigens nicht viel glücklicher als sein einstiger Rivale Athen und fand ebensowenig einen plausiblen Modus, seiner Herrschaft eine feste juristische Gestalt zu geben. Auch in dieser Hinsicht war die archaische Zeit fruchtbarer gewesen. Sie hatte es immerhin fertiggebracht, die abhängigen Perioikengemeinden Spartas als Lakedaimonier zu Angehörigen eines Staatsverbandes zu machen und sie auf diese Weise einem Herrschaftsorganismus zu integrieren. Das wurde von allen Seiten anerkannt. Niemals ist die Rechtmäßigkeit dieses Untertanenverhältnisses in Zweifel gezogen worden, weder von den Betroffenen noch von den politischen Gegnern Spartas. Was hier gleichsam als formales Unvermögen erscheint, ist wahrscheinlich nur der Ausdruck eines allgemeinen politischen Verhaltens und rührt damit an die okkasionell-pragmatische Seite des ganzen Problems. Wenn nämlich die politischen Verhältnisse eindeutig genug sind, dann pflegen sich in der Geschichte auch die genuinen Reflexe für eine Institutionalisierung einzustellen. Umgekehrt verhindert der Ausfall einer klaren politischen Linie von vornherein die Entstehung eines formalen Musters, weil es eben nur aus einer bestimmten Praxis erwachsen kann. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Offenbar war nun diese Praxis nicht möglich, oder aber ihre Chance wurde durch menschliches Versagen verspielt. In der Tat gab es in Griechenland für eine Machtakkumulation erhebliche Schwierigkeiten. Da war einmal das hohe Maß an politischer Homogenität. Der Stadtstaat blieb keine singuläre Erscheinung, sondern bildete sich zwar nicht überall, doch in einer unüberschaubaren Vielzahl aus, und dies zumeist in der archaischen Epoche. Bei – in der Regel – gleichen Startbedingungen bedeutete dieser Zustand, daß jegliche Expansion, sobald sie über die nächste Umgebung hinausgegriffen hatte, unvermeidlich paralysiert wurde. Im besten Fall brachte sie ein paar unbedeutende Nachbarn in Abhängigkeit. Alle Versuche, über den beschränkten Radius hinauszudringen, mußten damit rechnen, alsbald aufgefangen zu werden. Man wird dagegen vielleicht einwenden, daß es darauf angekommen wäre, solche Hindernisse zu überwinden. Doch ist der Historiker berechtigt, bestimmte Einstellungen des Willens zu postulieren? Er hätte es zwar hier vielleicht nicht einmal schwer, seine Phantasie spielen zu lassen und sich Möglichkeiten auszudenken, die solche Hindernisse hätten umgehen können, etwa eine politische Expansion in Richtung auf die unterentwickelten nordwestgriechischen Stammesgebiete, die die längste Zeit der griechischen Geschichte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
95
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
das im Grunde »unverdiente« Glück genossen, im Windschatten der großen Politik sich kaum gefährlichen Angriffen stellen zu müssen. Doch Ziele werden nicht von ungefähr gesetzt. Sie pflegen zumeist einem Druck oder wenigstens dem Bewußtsein, einem solchen ausgesetzt zu sein, zu erwachsen. Für die archaische Zeit war das politische Abenteuer die Kolonisation. Aber gerade hier sehen wir ungefähr, wie die Dinge sich entwickelten. Sie folgten dem Prinzip des geringsten Widerstandes und der billigen Gelegenheit. Der Kolonisationsraum war so unermeßlich groß, daß das an sich konvergente Streben vieler Gemeinwesen nicht zu einem ernsthaften Konflikt untereinander führen mußte und dies in der Regel auch nicht getan hat. Soweit die griechische Kolonisation einer »Methode« folgte, bestand sie gerade darin, möglichen Friktionen aus dem Weg zu gehen. So war dieses Weltphänomen in erster Linie ein sozialer Vorgang, in den sich nur wenige politische Impulse einmischten. Korinth war im Verhältnis zu seinen Kolonien eine ganz singuläre Ausnahme, herbeigeführt durch den Sonderfall, daß dort die Tyrannis sehr früh die Regie führte. Im allgemeinen jedoch erlaubte es damals die weltpolitische Situation den Griechen, bei der größten Kraftanstrengung und Energieleistung gleichsam »unpolitisch« zu verfahren, und dieses Volk, das so viel Antriebe in sich verspürte, ließ die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
96
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
96
Gelegenheit nicht vorbeigehen, sich von der Einseitigkeit des politischen Engagements zu distanzieren. Gewiß stellte man bisweilen Erwägungen an, daß in dieser Sphäre auch rational, im Hinblick auf Machtsteigerung, verfahren werden könnte. Als durch den Aufstieg des persischen Großreiches die Lage für die kleinasiatischen Griechen bedrohlich wurde, gab Thales von Milet den Ionern den Rat, eine große Stadt (an Stelle der vielen kleinen) zu gründen, also einen Synoikismos durchführen, aber das war, wie nicht anders zu erwarten, in den Wind gesprochen. Wo die innere Disposition fehlt, verwandeln sich Vorschläge zu keinem Willen und zu keiner Tat. Doch wäre es verkehrt, die Existenz jeglicher nach außen gewandter Herrschaftsinstinkte in Griechenland bestreiten zu wollen. Aber in der früheren Zeit, als die Verhältnisse noch modellierbarer waren als später, waren sie tatsächlich selten, was schon Thukydides festgestellt hat. Und an der einzigen Stelle, wo sie sich in einem etwas großen Zuschnitt verdichteten, da nahmen sie Formen an, die zugleich sehr starre Grenzen setzten. Sparta arbeitete mit zäher Kraft, getrieben von der Not eines zu engen Nahrungsspielraums und infolge seiner geographischen Lage ohne bequeme Kolonisationsmöglichkeiten, auf das Ziel hin, sich durch Unterwerfung seiner Nachbarn eine breitere Ernährungsbasis zu verschaffen, und bekanntlich gelang Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
96
ihm dies auch mit Messenien. So entwickelte es sich in der Tat zum mächtigsten Staat des späteren archaischen Griechentums und wurde als solcher auch anerkannt. Aber dieser Ausbau zu einer »Großmacht« (nach griechischen Maßen) geschah auf nahezu atavistisch-antiquierte Weise – das Herrschaftsschema stammte noch aus der Einwanderungszeit – und beraubte Sparta damit aller größeren Entfaltungsmöglichkeiten. So war seine Stärke zu einem wesentlichen Teil durch die Aufgabe absorbiert, mit den Mitteln roher Polizeigewalt die innere Ordnung zu stützen, und es vermochte deshalb seine Überlegenheit in einem weiteren Umkreis nur mit großer Umsicht und Zurückhaltung auszuspielen. Unter den gegebenen Bedingungen war die Gründung des »Peloponnesischen Bundes« gewiß ein Meisterstück, aber die klug taktierende Hegemonie ließ sich innerhalb des nur lose zusammengefügten Systems selbständiger Staaten (sogar mit eigener Außenpolitik) nicht weiter ausdehnen. Der nur durch besondere, im Grunde außerhalb Spartas liegende Umstände aufgedrängte Sieg von 404 führte dann zu dem verspäteten und unzulänglichen Versuch, aus diesem völkerrechtlichen System eine straffe Herrschaft zu organisieren. Die Kräfte reichten dazu aber bei weitem nicht aus, nicht zuletzt wegen der archaischen Sozialordnung, und so konnte ein Tag, der von Leuktra (371 v. Chr.), den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
97
Beweis erbringen, daß dieser Staat, von vielen Griechen noch mit Ehrfurcht bewundert, auf tönernen Füßen stand und von einem Gegner zur Strecke gebracht wurde, der selbst keineswegs über ein allzu großes Potential verfügte und infolgedessen, wie die Geschichte Thebens ja sehr klar beweist, auch nicht im Stande war, die Nachfolge Spartas anzutreten. Aber Theben, der Sieger, hatte sich selbst seit hundertfünfzig Jahren bemüht, aus Boiotien auf diese oder jene Weise eine aktionsfähige Einheit und ein Machtzentrum zu machen. Dieser Versuch verrät eine für griechische Verhältnisse beinahe einmalige Konsequenz. Immer wieder wurde er, ungeachtet seines Scheiterns, aufgenommen. Hier war wirklich ein stetiger Wille am Werk, aber das Ergebnis war schließlich doch negativ, obwohl die griechische Geschichte des 4. Jahrhunderts eine thebanische Ära kennt, die jedoch weniger das Werk Thebens als das des Epameinondas war. Man sieht auch, woran das lag. Die Unterwerfung und Einung Boiotiens wurde zu spät angepackt. Die archaische Zeit wäre dafür das richtige Klima gewesen. Aber damals war Boiotien noch durch die Tradition des alten Stammesstaates bestimmt. Als dann Theben mit seinen Zielen hervortrat, waren erstens die Orte Boiotiens zu eigenwilligen Städten herangewachsen, und zweitens hätte eine solche Politik sich stets im Koordinatennetz der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
97
allgemeinen politischen Verhältnisse Griechenlands verfangen, wovon sie sich unmöglich befreien konnte. So wurde Boiotien, das mit Hilfe der Politik Thebens als Machtfaktor in Griechenland zur Geltung kommen sollte, schon als politische Einheit ständig durch die Faktoren beherrscht, auf die es aktiv einwirken wollte. Immer war es ihr Objekt und Subjekt zugleich. Aus dieser Zwickmühle war vor allem dann nicht mehr herauszukommen, nachdem sich in seiner Nachbarschaft so mächtige Staaten wie Sparta, Athen und später Makedonien etabliert hatten. Es hätte der Gunst ganz besonderer Umstände bedurft, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Oder der Initiative eines besonderen politischen Ingeniums. Beides kam – in verhältnismäßig später Stunde – Athen zu Hilfe: in Gestalt des großen persischen Angriffs und in der Person des Themistokles. Mehrere Glücksumstände verbanden sich da: die panhellenische Legitimität einer freien Assoziierung vieler Staaten, infolgedessen die Abschützung dieser Machtbildung gegen griechische Intervention gerade während der kritischen Anfangsphase und schließlich ein schnell entwickeltes Machtpotential Athens, welches die Kräfte freigab, auf den Bund ein Imperium aufzustocken, als seine Kohäsionsfähigkeit erschöpft war. Es lag nicht an diesem Geschenk des Schicksals, wenn Athens Politik es nicht zu nutzen verstand und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
97
das groß angelegte Experiment mit der Katastrophe des Peloponnesischen Krieges endete. Daß es Widerstände zu brechen gab, ließ sich nicht vermeiden. Es war auch hinzunehmen, daß diese erste und größte Herrschaftsbildung, die Griechenland jemals sah, bei dem reifen Bewußtsein der griechischen Öffentlichkeit vorerst weniger dem Ruhm Athens als dem nun auch zum erstenmal programmatisch gefaßten Begriff der völkerrechtlichen Freiheit zugute kam. Ein Verhängnis wurde vielmehr, daß der lebendige Geist Athens außerstande war, diesen gegen ihn ausgespielten Freiheitsbegriff dialektisch zu bewältigen. Das hatte natürlich wieder seine Gründe, und man mag mit Recht bezweifeln, ob sich in der damaligen geistigen Situation Griechenlands und zumal unter seinen wissenssoziologischen Bedingungen, also bei der inneren Distanz der intellektuellen Schichten – gerade auch der athenischen – zur Politik Athens daran viel ändern ließ. Wahrscheinlich fiel mehr ins Gewicht und war in einem weit höheren Grade vor der politischen »Vernunft« zu verantworten, daß die attische Politik es nicht verstand, mit Hilfe der Zeit zu siegen, die doch so viel in der Geschichte zuwege bringt. So blieben als Erbschaft des attischen Imperialismus, ungeachtet aller Versuche im 4. Jahrhundert, das entstandene Machtvakuum von anderswoher zu füllen, nur eine Art Orthodoxie der völkerrechtlichen Freiheit übrig – Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
wie jede Orthodoxie in kritischen Momenten der Politik von abstoßender Unehrlichkeit – und ein abgrundtiefes Mißtrauen gegen jegliche Verbindung von Föderalismus und Herrschaft. Daß Philipp seine Politik mit Hilfe panhellenischer Floskeln zeitgemäß drapierte und unter Berufung auf ein allgemeingriechisches Friedensstatut seinen Sieg noch einmal in dieses Gewand kleidete, macht die Sache nicht besser, denn dieser Sieg war zwar die Voraussetzung für all die großen Veränderungen der Zukunft, schuf aber selbst nicht die Grundlage für eine Neuordnung Griechenlands. Diese föderative Form des von einem einzelnen Stadtstaat getragenen Imperialismus hatte nun endgültig abgewirtschaftet, und mit ihr dankten auch die »historischen Mächte« ab, die bislang die griechische Geschichte bestimmt hatten. Soweit Griechenland im Hellenismus noch eine aktive politische Rolle spielte – und das war in gewissem Umfange durchaus noch der Fall –, trat an die Stelle der Hegemonie eines einzelnen Stadtstaates ein anderes Organisationsprinzip, nämlich der »Bundesstaat«, wie man sich in der Wissenschaft gewöhnlich ausdrückt (da der griechische Terminus Koinón ganz nichtssagend ist); er gewährte jedem Gliedstaat auf dem Wege der Repräsentation gleiche Rechte und gleichen Einfluß; möglicherweise war diese neue politische Form aus dem alten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
98
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
98
Stammesstaat erwachsen. Die Hauptvertreter dieses neuen Typus waren der Achaiische und der Aitolische Bund. Daß damit »Herrschaft« im völkerrechtlichen Raum zu existieren aufgehört hätte, dies zu glauben wäre jedoch glatter Selbstbetrug gewesen. Es gab genug Mitglieder dieser Bünde, die sich nur gezwungen beteiligten und die ungeachtet ihrer Gleichberechtigung ihren Status nur als fremde Herrschaft empfinden konnten. Trotzdem gewann der griechische Stadtstaat mit diesem neuen Modell eine neue Existenzform, die offenbar für die Griechen erträglicher war als die früheren Hegemonien, um die politische Vereinzelung des griechischen Staates zu modifizieren. Es ist nicht ganz auszuschließen, daß sich damit ein Weg hätte finden lassen, Freiheit und Bindung in der äußeren Staatssphäre auf eine für griechisches Empfinden tragbare Weise miteinander zu verknüpfen und die politischen Kräfte Griechenlands schließlich in einem neuen Gefäß zusammenfließen zu lassen. Freilich wäre es auch dann nicht ohne Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Bünden abgegangen, denn sie standen sich kaum friedlicher gegenüber als einst die griechischen Einzelstaaten. Die Geschichte hat jedoch diese wichtige Frage gekappt; sie blieb unbeantwortet. Die Bundesstaaten wurden mit der makedonischen Monarchie, deren Gegenspieler sie abwechselnd waren, nicht fertig; und anschließend Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
kamen die Römer, die ohnehin alle politischen Probleme der Griechen entwerteten und ihnen ihre eigene »Lösung« brachten. Freilich bezeichnet der »Bundesstaat« ohnehin nur einen Teilausschnitt der Problematik des politischen Hellenismus. Dessen eigentliches Zentrum ist die hellenistische Monarchie, die das Problem von Freiheit und Herrschaft nun auf ganz eigene Weise aufwarf. Niemals in der griechischen Geschichte hat sich so viel Macht zusammengeballt wie wenigstens unter den beiden repräsentativsten Monarchien, den Ptolemäern und den Seleukiden. Sie sind, gemessen an den bisherigen griechischen Größenverhältnissen, ein ganz inkommensurables Phänomen. Dies mit gutem Grund, denn sie sind aus Wurzeln erwachsen, die in der griechischen Geschichte bis dato überhaupt nicht angelegt waren. Die Herkunft der politischen Form der Monarchie weist nach Makedonien und nach dem Orient (wie sich beides durchdrang, kann hier auf sich beruhen). Der griechischen Geschichte gehört im Grunde nur die Frage an, wie sich die Griechen, die unter ihre Herrschaft gerieten, mit ihr abfanden und wie umgekehrt diese Könige den Griechen begegneten. Beide Fragen lassen sich für unsere Zwecke verhältnismäßig leicht beantworten. Prinzipiell wurde das hellenistische Königtum, ganz anders als vorher die Tyrannis und das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
99
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
achaimenidische Großkönigtum, von der griechischen Öffentlichkeit als politische Größe akzeptiert. Diese hatte richtig erkannt, daß es trotz seiner im einzelnen revolutionären oder usurpatorischen Herkunft als Typus dem legitimen Königtum – wie es früher im homerischen Königtum exemplifiziert war – näher stand als der Tyrannis. Dafür hätten sich verschiedene Gesichtspunkte vorbringen lassen können, aber es bedurfte gar keines analytischen Verfahrens. Überzeugend genug war die unmittelbare Anschauung der neuen politischen Realität, und sie sah die neue Königsmacht ziemlich genau an der gleichen Stelle plaziert, an der man sie schon immer erlebt hatte, eben in Ägypten und in Asien. Auf jeden Fall handelte es sich nicht um ein Stadtkönigtum, und damit bestand keine Veranlassung, es unter die Kategorie der Tyrannis zu stellen. Dazu hatten die Staatstheorie und die rhetorische Publizistik schon während des 4. Jahrhunderts dafür gesorgt, daß man auch einem Monarchen eine Menge sittlicher Werte ansinnen konnte, der sich so dem Begriffe nach von einem Tyrannen abheben ließ. Die philosophische Fürstenspiegelethik sah im hellenistischen Herrscher ein willkommenes Objekt und leistete das Ihrige dazu, daß dieser König als eine legitime Größe empfunden wurde. Wichtig wurde ferner, daß bereits vor Beginn des Hellenismus der urwüchsige griechische Glaube reaktiviert wurde, daß Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
99
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
99
hohes Menschentum und vor allem der mächtige Herrscher göttliche Kraft in sich tragen. Die Vergöttlichung des hellenistischen Herrschers ist trotz der altägyptischen Parallele eine griechische Erfindung und ging auch ursprünglich aus der freien Akklamation der griechischen Öffentlichkeit hervor. Der Menschlichkeit des hellenistischen Königs tat übrigens diese Verehrung nicht den geringsten Abbruch. Ebensowenig erhielt die politische Herrschaft des hellenistischen Königs durch diese Göttlichkeit eine höhere Weihe. Jedenfalls kam es niemals vor, daß aus ihr besondere politische Prärogativen abgeleitet worden wären. Der Herrschaftsapparat der hellenistischen Könige, also ihre Beamten und der königliche Hof, lebten in erster Linie von seiner Unvermeidlichkeit, das heißt aus technischer Notwendigkeit. Er war selbstverständlich griechisch, und die ihm zugehörigen Griechen fanden es völlig unanstößig, hier ihre Stellung zugewiesen zu bekommen. Damit ist freilich noch nicht das Verhältnis der Herrscher zu den griechischen Städten präjudiziert. Daß sie ihm unterlegen waren – eine Binsenwahrheit –, wußten beide Seiten, und insofern bestand Einverständnis darüber, daß die eine vom anderen beherrscht wurde. Die Frage ist nur, ob die Herrschaftserfahrungen, die die griechische Stadt jetzt machte, sich strukturell von den bisherigen unterschieden. Für Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
100
den Durchschnittsfall ist die Frage zu verneinen. Wie zuvor war Herrschaft auch fernerhin ein außenpolitisches Faktum, das man auf Grund seiner Tatsächlichkeit zu akzeptieren hatte. Wie zuvor fehlte es auch weiterhin an einer Rechtsform für die Untertänigkeit. Sieht man von den ganz wenigen innerägyptischen Griechenstädten ab, so waren die griechischen Städte für die hellenistischen Herrscher Außenposten, ganz evident bei den Ptolemäern hinsichtlich ihrer Besitzungen in der Agäis. Aber auch für die Seleukiden war es im Grunde nicht anders, nur daß bei ihnen kaum zwischen »außen« und »innen« unterschieden werden konnte. Ihr ganzes Reich bestand eigentlich aus Herrschaftsannexen, jedenfalls was die Städte anging. Das heißt jedoch keineswegs, daß sie für die Seleukiden keine Bedeutung gehabt hätten. Im Gegenteil: Sie waren der wertvollste Bestandteil ihrer Herrschaft, denn in ihnen steckte das gesellschaftliche Substrat, mit dessen Hilfe der König, selbst ebenso ein Landfremder, die Herrschaft über einen von Haus aus orientalischen Raum aufrechterhielt. Deshalb kam viel auf ein gutes Verhältnis zu den griechischen Städten an, und so war die Herrschaft der Seleukiden über sie auch nicht sehr schwer. Die griechische Stadt hörte nicht auf, ein sich selbst verwaltender Körper zu sein, darin lediglich durch gelegentliche Eingriffe des Königs gestört. Prinzipiell galt das ebenso für das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
100
Verhältnis der anderen hellenistischen Könige zu den griechischen Städten. Die städtische Macht reichte so weit, wie der König es gestattete. Inkorporiert in einen festen Herrschaftsverband waren die Städte jedoch ebensowenig wie in der Zeit zuvor. Man könnte eher das Gegenteil annehmen, denn der Attische Seebund hatte doch von Haus aus wenigstens eine juristische Basis gehabt. Wo in diesem Sinne Herrschaft als eine von außen wirkende Einschränkung einer selbständigen Rechtspersönlichkeit gedacht wird, gibt es auch »Freiheit« als Aufhebung dieses Zustandes, wie das den Griechen seit dem 5. Jahrhundert geläufig war. Nicht anders als damals wurde auch jetzt diese Freiheit meist nicht selbst erkämpft, sondern stellte sich durch die Hilfe Dritter ein. Sie konnte dann, nicht minder verlogen als im 4. Jahrhundert, lediglich die Umschreibung für die Herrschaft des Befreiers sein, war also – wie vieles in einer Welt der Abhängigkeit – zweideutig. Dies nun um so mehr, als die Herrschaftsverhältnisse des Hellenismus, zu ihrem Schaden, alles andere als stabil waren. Sie waren die Resultate einer ständig wechselnden internationalen Politik. Durch die wechselseitige Blockierung der hellenistischen Herrscher war ihre Macht eben wegen dieser Relativität viel geringer, als sie von ferne erschien. Die weitgehende innere Selbständigkeit der griechischen Stadt hat zum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
100
Teil hierin ihre Ursachen. Einen prinzipiellen Einschnitt bedeutete deshalb der Hellenismus für das Verhältnis von äußerer Herrschaft und städtischer Freiheit nicht. Die Stadt hatte lediglich aufgehört, ein aktiver Faktor der großen Politik zu sein, natürlich auch hier mit Ausnahmen. Doch das galt für die Mehrzahl der griechischen Städte auch vorher schon. Exakter sollte man sagen, diese oder jene Stadt, die bis zum Hellenismus eine Rolle gespielt hatte – es waren im Grunde immer nur wenige –, hörte auf, dies zu tun. In Kleinasien gab es sie wegen der persischen und der athenischen Herrschaft schon lange nicht mehr. Andererseits besaßen einige Staaten im Hellenismus durchaus einen gewissen und nicht unerheblichen außenpolitischen Spielraum, etwa Byzanz und vor allem Rhodos. In Griechenland lagen die Dinge noch eindeutiger, denn die Herrschaft, die Philipp über Griechenland aufgerichtet hatte, löste sich bald nach dem Tod seines Nachfolgers auf und erstand später in diesem Umfang niemals wieder. Das hellenistische Makedonien vermochte das griechische Festland stets nur partiell zu beherrschen. Es selbst war in seinem Innern dem Städtewesen gegenüber mißtrauisch und zurückhaltend und förderte es nicht, ganz im Gegensatz zu den Seleukiden, die ausgesprochen stadtfreundlich waren. Soweit es überhaupt makedonische Städte gab, scheinen sie aus dem Rahmen der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
griechischen Städte herauszufallen. Offenbar waren sie nicht genug entwickelt, um deren Gestalt in vollem Umfang zu entsprechen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
101
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
101
Herrschaft und Freiheit in der römischen Republik Die römische Republik fordert in mannigfacher Hinsicht zum Vergleich mit dem griechischen Stadtstaat heraus. Rom ist von Hause aus nicht weniger ein Stadtstaat als die griechischen Stadtrepubliken und obendrein ziemlich genau nach dem gleichen Gesetz angetreten wie sie. Die ältere römische Verfassungsgeschichte läßt sich in Parallele zur griechischen verfolgen. Zu Anfang steht die Geschlechterherrschaft der Patrizier, wahrscheinlich in der Königszeit kaum mehr eingeschränkt durch den rex als in Griechenland der Adel durch den basileus. Die Ablösung des Geschlechterstaates in Rom gehorchte dann ungefähr den gleichen Prinzipien. An die Stelle der von den adligen Sippen getragenen Verbände (der Curien und der alten Tribus) traten neue Einheiten, die nicht nur Adlige (Patrizier) und Nichtadlige (Plebejer) ohne Rücksicht auf ihre ständische Qualität erfaßten, sondern auch andere personale Merkmale aufwies. Es sind einmal die Zenturien der Zenturiatskomitien – Abstimmungs- und Wahlkörperschaften –, deren Stimmrecht jeweils nach dem Vermögen differenziert ist, und die Tributkomitien, denen jeder Bürger nach Maßgabe seines Wohnsitzes angehört. In jenen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
101
kommt das solonische Prinzip der Schatzung (Timokratie) zum Ausdruck, nur daß es hier auf der Grundlage des aktiven (bei Solon des passiven) Wahlrechts durchgeführt ist. Den (neuen) Tribus entspricht die Kleisthenische Phyleneinteilung. In beiden Fällen ist unter Beibehaltung der alten Bezeichnung etwas völlig Neues geschaffen und dem Grundsatz Geltung verschafft, daß jemand auf Grund seiner Ansässigkeit Bürger ist. Ferner kennt der römische Staat, genau wie der griechische, das Prinzip der Annuität der Beamten, ist also ebenso von dem Bestreben geleitet, die Macht der Beamten möglichst zu beschneiden und unter Kontrolle zu halten. Zenturiats- und Tributkomitien sind im Grunde »demokratische« Institutionen, diese im höheren Grade als jene (gewisse Modifikationen können hier außer Betracht bleiben). Dagegen hat Rom den Rat nicht demokratisiert, das heißt ihn nicht dem Annuitätsprinzip unterworfen. Die Zugehörigkeit zu ihm ist nach wie vor lebenslänglich, wenn er sich auch, wie selbstverständlich, in seiner Zusammensetzung änderte und sowohl Patrizier wie Plebejer umfaßte. Aber Lebenslänglichkeit des Rates kam ja auch mitunter in Griechenland vor. Ferner gab es in den Abstimmungskörpern kein freies Initiativrecht. Vorschläge mußten von den Magistraten unterbreitet werden, die die Versammlung einberiefen und leiteten. Doch auch dies Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
102
war dem griechischen Staat wohl nicht völlig unbekannt. Institutionen entsprach die römische Verfassung etwa dem, was man in Griechenland eine gemäßigte Demokratie genannt hätte, das heißt eine Demokratie ohne die Kennzeichen des Extremen wie dem Losverfahren oder gar dem Diätensystem. Trotzdem war Rom bekanntlich keine Demokratie. Woran lag das? Die antike Staatstheorie hat diesen Tatbestand durch den Begriff der »gemischten Verfassung« erklären wollen (gemischt aus Elementen der Monarchie, Aristokratie und Demokratie), es ist aber sehr die Frage, ob diese Analyse, die sich eng an die Institution hält, richtig ist. In Wahrheit weisen die Institutionen, für sich betrachtet, gerade in die Richtung der Demokratie, und der römische Magistrat ist ganz bestimmt nicht mit dem Königtum zusammenzubringen, wie es diese von Polybios aufgebrachte Analyse will. Der römische Magistrat war zwar stark, wenn er der Verwaltungsroutine folgte und es lediglich mit dem Bürger als deren Objekt zu tun hatte. Er war jedoch schwach, sobald er auf ein Politikum stieß, also wenn er als regierende Instanz auftrat. Da war er (wie auch sonst) auf das Einvernehmen mit seinen Kollegen angewiesen (wenn einer von ihnen sein Veto einlegte, war seine Verfügung ungültig), ganz abgesehen davon, daß die Annuität den Spielraum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
102
selbstherrlichen Waltens von vornherein einengte. Politik konnte er in Wirklichkeit nur dann machen, wenn er den Senat hinter sich hatte und dessen Autorität auch die Handlungen der anderen Magistrate mit der seinigen koordinierte. Im Grunde besaß ein römischer Magistrat, was seine faktische Bewegungsfreiheit betraf, nicht mehr Macht als ein griechischer Beamter, sogar bedeutend weniger, wenn man ihn mit einem griechischen Amtsträger, der zugleich der anerkannte »Demagoge« war, zusammenhält. Das »Geheimnis« der römischen Verfassung lag anderswo: Es lag in dem Auseinanderfallen von formeller und realer Verfassung. Die moderne Soziologie und Staatslehre sind mit diesem Phänomen auf Grund des Studiums des liberalen Rechtsstaats gut vertraut. Sie haben richtig gesehen, daß unsere Verfassungsnormen zwar gelten, daß sie aber in ihrer Allgemeinheit und mit ihren zahlreichen rein formellen, des Inhalts bedürftigen Bestimmungen keineswegs über die ganze Wirklichkeit Auskunft geben. Diese siedelt sich erst innerhalb des großen Raumes an, den die Statuten freigeben. Staat und Gesellschaft besitzen jeweils eine eigene Gestalt und unterscheiden sich infolgedessen in einem erheblichen Maße. In Rom war es ähnlich, nur daß hier das Mißverhältnis der beiden Größen wahrscheinlich noch erheblicher war. Wenn deren Relation in der modernen Welt noch im Sinne einer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
102
gegenseitigen Ergänzung aufgefaßt werden kann (sofern man sie nicht gerade marxistisch interpretiert), da von der einen Instanz etwas dargestellt wird, was nicht gerade im eklatanten Widerspruch zum Inhalt der anderen steht, sondern eher einen von vornherein ausgesparten Raum ausfüllt, so stehen in Rom diese beiden Größen in einem unübersehbaren Widerspruch zueinander: Die formelle Verfassung gibt sich zwar als moderierte Demokratie zu erkennen, doch die politisch-soziale Wirklichkeit erweist sich eindeutig als Aristokratie; wenn es je eine Aristokratie gegeben hat, dann war es die der römischen Republik. Worauf beruhte nun diese Aristokratie, wenn sie nicht rechtssatzmäßig abgestützt war? In bezug auf die Verfassungsnormen ist die Frage leicht beantwortet. Da diese von sich aus nichts (oder sehr wenig) enthielten, was ein aristokratisches Regime hätte hervorrufen können, war die Ordnung in erster Linie ihrer praktischen Handhabung anvertraut. Es liegt also nahe, deshalb die römische Verfassung als eine im aristokratischen Sinne manipulierte Demokratie zu bezeichnen. Woher stammte aber die Macht zu dieser höchst eindeutigen Manipulation (deren technischer Hergang hier auf sich beruhen mag)? Man kann nicht gut sagen, die Nobilität (das heißt die führende Schicht nach dem Ständekampf) hätte sie eben besessen. Es war ja im Gegenteil so, daß sich erst mit dem. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
103
Entstehen dieser Macht die Nobilität bildete, ein Vorgang, der sich eben in der gleichen Zeit vollzog wie die Demokratisierung der äußeren Verfassung, mit anderen Worten, der Abbau des alten Ständestaates. Nachdem die Zeit des Gentilcharismas vorüber war, konnte die Konsolidierung einer führenden Klasse, sofern es zu einer solchen kam, sich nur auf Autorität und Prestige stützen, und beides ist nur ein anderes Wort für die freiwillig anerkannte Superiorität, die sich durch sich selbst ausweist. Natürlich ist sie irgendwie einmal entstanden, und der Historiker muß diesen Vorgang, der uns völlig verborgen ist, irgendwie rekonstruieren. Wahrscheinlich wird er Kombinationen zu Hilfe nehmen, die sich aus dem Faktum ergeben, daß die Patrizier die vornehmen Plebejer an sich heranzogen und daß eben dadurch diese neue Klasse zustande kam. Wir kennen nur das Ergebnis dieses Prozesses und die Begriffe, die man auf Grund dieses Resultates dann zur Erhärtung dieser gesellschaftlichen Abstufung benutzte. Nachdem nämlich einmal die Nobilität da war, konnte man sich auf die Heiligung durch die Zeit, auf das Herkommen, auf die Tradition oder, wie die Römer sagten, den mos maiorum berufen; und nicht zufällig ist denn auch dies einer der wichtigsten Begriffe der politischen Praxis in der römischen Republik gewesen. Aber ohne die festgründende Überzeugung, daß die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
103
Regierungsgewalt nicht jedermann zugänglich ist und man sich hierfür durch Zugehörigkeit zu dieser Klasse und entsprechende Kooptation qualifiziert, wäre die Berufung auf das Herkommen sehr fadenscheinig gewesen. Die Legitimität einer Honoratiorenschicht, die von dem Ansehen lebt, das sie genießt, will immer neu erworben sein, denn sie kennt keine Privilegien, hinter denen sie sich verschanzen und die Blöße ihrer etwaigen Kümmerlichkeit verstecken kann. Es mag sein, daß die Bestätigung der nobilitären Vorrangstellung an die alte feudale Klientel anknüpfte. Nachdem diese aber mit Stumpf und Stiel ausgerottet war, konnte man von ihr im Grunde nur den Namen ausborgen und war darauf angewiesen, sie als eine Größe sui generis zu entwickeln. Diese neue politische Klientel, das heißt die Anlehnung des Volkes an die Familien der Nobilität, realisierte sich jedes Jahr bei den Magistratswahlen, wenn die Wähler als der formelle Souverän zu den vorgebrachten Vorschlägen ja oder nein sagten und, je nach der Konkurrenzsituation, den einen oder anderen Kandidaten desavouierten. Niemals aber stand dann zur Diskussion, daß der Betreffende ein Mitglied der Nobilität oder wenigstens einer ihrer Novizen war. Die Option erfolgte gewissermaßen zwischen einem vorher sorgfältig ausgewählten Sortiment, auf dessen Zusammensetzung der Wähler keinerlei Einfluß ausübte. Die Klasse der Nobilität Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
104
war prinzipiell offen – wie es beim Fehlen einer statutarischen Zugehörigkeit zu ihr auch nicht anders sein konnte –, und bis zum Hannibalkrieg ergänzte sie sich nicht selten aus nichtnobilltären Kreisen. Eine Herrschaft, die auf keiner erzwingbaren Anerkennung beruht, ist also auf tägliche Zustimmung angewiesen, sie integriert sich, um mit Renan zu reden, durch tägliches Plebiszit. Sie existiert nur, soweit es zustande kommt, und es kommt zustande durch die freiwillige Entscheidung der Herrschaftsobjekte, die gleichsam in der Herrschaft ihren eigenen Willen wiederfinden und ihn als ihr eigenes Geschöpf aus sich herausstellen. Die politische Wirklichkeit wird auf diese Weise nicht als institutionell »entfremdet« angetroffen, sondern als autonome gesellschaftliche Wirklichkeit. Indem sie das Maximum menschlicher Selbstdarstellung leistet (soweit der Mensch als Kollektivum in Betracht kommt), ist sie infolgedessen diejenige Form der Freiheit, deren Begriff sich die attische Demokratie nur mit halbem Recht zuschrieb. Der römische Staat verfügte wie jeder Staat über erzwingbare Normen, aber diese Normen entsprachen weniger als anderswo seiner Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit kam nur zustande, weil die Anwendung dieser Normen aus der Mitte des sozialen Körpers heraus gesteuert war und in Freiheit Gestalt gewann. Es kann nicht verwundern, daß ein solcher in freier Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
104
Regenerierung sich vollziehender Prozeß nichts anderes war als ständige Bewährung, Bewährung in erster Linie derjenigen, die das tägliche Plebiszit auf sich vereinigten. Daß dem nun auch so war, dafür braucht der Historiker angesichts der Geschichte der römischen Republik im einzelnen keine Illustration. Nur selten findet er eine strukturelle Analyse in gleicherweise durch die äußere Pragmatik bestätigt. Bestätigt wird dieser Eindruck aber ebenso durch die Solidarität der Nobilität. Ohne sie, nämlich ohne das Eingespieltsein auf ein bestimmtes soziales Verhalten und eine bestimmte politische Einstellung, ohne die Verwirklichung eines bestimmten Stils, hätte die Selbststeuerung, auf die das Volk eingestimmt war, nicht stattgefunden. Auch sie war nur in »Freiheit«, das heißt nur durch Selbstkontrolle, ohne Inanspruchnahme formeller Gewalt, zu erreichen. Die Zensur, eine amtliche Instanz, vermochte hieran nur leichte Korrekturen vorzunehmen. Im wesentlichen mußte die Kontrolle von innen heraus erfolgen. Eine Macht, die so tief sitzt, daß sie täglich erworben werden kann, verfügt über bedeutende Kraftquellen. Der römische Staat ist zu einem guten Teil von daher geprägt worden, in erster Linie auf dem Gebiet, wo sich die Leistung der Nobilität am sichtbarsten manifestierte und wo sie auch von drängender Notwendigkeit provoziert wurde. Der römische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
104
Magistrat, der (wenn auch nicht ausschließlich) für die Kriegführung zuständig war, der Magistrat cum imperio, übte über die römischen Soldaten ein drakonisches Regiment aus. Gewiß, sie war ein Erbstück des patrizischen Staates, aber ohne das große Kapital Autorität, das die Nobilität angesammelt hatte, wäre diese Tradition der Disziplin nicht fortzuführen und den neuen Verhältnissen anzupassen gewesen. Umgekehrt bewies der römische Adel seine sachliche Potenz gerade auch im Krieg, und seine Erfolge darin waren ein Motor eben für den sozialen Prozeß, der seine politische Position fundamentierte. Aber auch im Frieden ging die Polizeigewalt des römischen Magistrats weit über das hinaus, was man sonst im antiken Stadtstaat kannte, ein Reflex seiner starken sozialen Position und ein Analogen zu der Kommandogewalt, die er im Felde gewonnen hatte. An dieser Stelle jedoch wurde ihm in dem berühmten Provokationsrecht eine Barriere gesetzt. Dessen Vorgeschichte ist außerordentlich kompliziert und muß hier beiseite gelassen werden. Die Provokation stammte ursprünglich aus dem Ständekampf und fungierte da als Instrument zum Schutz der Plebejer gegenüber der patrizischen Obrigkeit. Nach dem Ständekampf wurde sie umgeformt. Wozu? Institutionen gesehen zu einer Art Rechtsschutz gegen die starke Polizeigewalt des Magistrats. Aber es sind so gut wie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
105
keine Fälle bekannt, in denen sie zum Zuge kam. Als handliches und zu jeder Zeit für jeden Bürger verfügbares Verfahren fand die Provokation keinen Eingang in die staatliche Praxis der Römer. Ihre Funktion war vielmehr, dem Magistrat die Grenzen seiner Gewalt vor Augen zu halten. Das Wesen der Provokation war deshalb in der Hauptsache ideologischer Natur. Sie sollte den Begriff der Freiheit in die römische Republik einfügen und hat dies auch erreicht, denn seitdem enthält sie ein Freiheitspathos, das geradezu an die Provokation anknüpft. Mit gutem Grund verlegt die (irrige) römische Tradition das »Provokationsrecht« bereits in das erste Jahr der Republik, um es dort als eine Art Grundgesetz zu verankern. Die Freiheit, die hier gemeint ist, hat freilich mit der komplexen Verzahnung von Herrschaft und Freiheit innerhalb der Gesamtstruktur des römischen Staates nichts zu tun. Sie ist viel partieller, aber trotzdem vielleicht weniger dem römischen Staat als dem römischen Bewußtsein von ihm als ein wesentliches Stück zuzurechnen. Sie verlieh der römischen Republik den Glanz der Freiheit und fügte deren eher schablonenhafter Fassung als Negation des tyrannischen Königtums eine ganz besondere Nuance hinzu. Sie erscheint als eine eigentümliche Freiheit, denn sie galt dem Wortlaut nach eindeutig dem Individuum (natürlich nur, soweit es Bürger war), was sonst nirgends in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
105
der Antike begegnet. Ganz begreiflich, denn nirgends war ein Magistrat dem Bürger gegenüber mit so viel Macht ausgestattet wie in der römischen Republik. So figuriert sie in der Vorstellung als eine Art von Gegenpol der starken Amtsgewalt und steht infolgedessen in einem innigen Rapport zu ihr, aber ihr Zweck war nicht, diese zu lähmen, sondern vor Mißbrauch zu schützen, wobei in erster Linie an den Verstoß gegen Gesetzesnormen gedacht war, und keineswegs jedem beliebigen Querulanten ein Freibrief ausgestellt wurde (dessen Provokation hätte ein Volkstribun, ausgestattet mit einem eminenten Ermächtigungsspielraum, nicht ernst genommen). Als Rom später sein Weltreich gründete, wurde die Provokation zum Privileg des römischen Bürgers gegenüber dem Untertanen, wenn er sich vor dem Statthalter mit dem berühmten Civis Romanus sum auf sie berief. Die römische »Freiheit« kontrastierte hier mit der römischen Herrschaft an einer Stelle, wo diese am massivsten in Erscheinung trat. Aber ebensowenig stellte sie diese natürlich in Frage, wie sie in Rom auch nicht als ein politischer Begriff gegen die Nobilitätsherrschaft ausgespielt werden konnte. Die Herrschaft der Nobilität wurde von unten überhaupt niemals ernsthaft in Zweifel gezogen, auch nicht während der hundertjährigen Revolutionsepoche. Was sich hier vollzog, war kein Aufstand des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
106
»Volkes« gegen die Nobilität, sondern in erster Linie ein verwickelter Desintegrationsvorgang, der sich innerhalb der herrschenden Klasse abspielte. Nicht das Zutrauen des Volkes zu ihr war damals erschüttert – man folgte nach wie vor den Parolen, die von oben kamen –, sondern es ging die Solidarität innerhalb der Nobilität in die Brüche. Das »Volk« gab in diesem destruktiven Prozeß nur den Statisten ab. Aber auch das war schlimm genug, denn damit gingen nicht minder die Grundlagen verloren, auf denen das politische Leben beruhte: Das von innen gebändigte freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte, also die Wirklichkeit des römischen Freiheitsbegriffs, der bis jetzt fähig gewesen war, eine Verfassung allein aus sich heraus zu schaffen und zu erhalten. Die ungeschriebenen Spielregeln, denen sich die Nobilität unterworfen und mit deren Hilfe sie einen im Grunde wenig zweckmäßigen äußeren Verfassungsmechanismus gemeistert hatte, wurden nun in wiederholten Alleingängen einzelner Politiker außer Kurs gesetzt, bis schließlich die latente Anarchie in offenen Bürgerkrieg überging und an Stelle von Recht und Gesetz das Schwert regierte. Wenn in diesen Kämpfen viel von »Freiheit« die Rede war, so ist das nicht weiter verwunderlich, ebensowenig, daß sie mangels einer ihr adäquaten Situation in den verschiedensten Farben schillerte und infolgedessen jeder Verbindlichkeit des inneren Sinnes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
106
entbehrte. Sie paßt hierin durchaus zu dem übrigen Begriffsarsenal der Epoche, das im Grunde ganz konservativ war, aus dem Inventar der republikanischen Verfassung stammte und nur durch die Willkür seiner Anwendung den »revolutionären« Effekt hervorrief (berühmtestes Beispiel die Bekämpfung des Notstandsrechts mit der Provokationsfreiheit).
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
106
Das römische Kaisertum Das römische Kaisertum war von Hause aus eine usurpierte Herrschaft, eine Diktatur im modernen Sinn, in der antiken Redeweise eine Tyrannis, und ist dies auch geblieben. Im Grunde gelang es niemals, diese Institution so weit zu versachlichen, daß sie über die Lebenszeit des einzelnen Kaisers hinaus eine zuverlässige Funktionsfähigkeit behielt. Grundsätzlich war jeder Regierungswechsel in Rom eine politische Krise, und es bedurfte höchst umsichtiger Vorkehrungen, um ihr zu entgehen. Andererseits war das Kaisertum unvermeidlich. Daß es keine Alternative gab, war spätestens in der zweiten Generation nach dem Tode des Augustus eine ausgemachte Sache. Seine Legitimität lag in der Notwendigkeit seiner Existenz, und diese wiederum ergab sich aus der Regierungsunfähigkeit der alten regierenden Schicht, wie sie sich im letzten Abschnitt der Revolutionszeit unwiderleglich gezeigt hatte. Auch der radikalste Kritiker des römischen Kaisertums hätte kaum zu bestreiten gewagt, daß anders nicht mehr auszukommen war. Das Kaisertum war von der historischen Notwendigkeit getragen, und ebendies unterscheidet es von der griechischen Tyrannis. Diese wurde ausnahmslos durch die Republik ersetzt, sobald die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
106
Augenblickskonstellation, der sie ihre Existenz verdankte, nicht mehr bestand. Das römische Kaisertum war nicht auf eine flüchtige Situation bezogen und mußte deshalb bleiben, nachdem es einmal ins Leben getreten war. Die Unvermeidlichkeit des römischen Kaisertums bedeutete freilich nicht, daß es darauf allein seine Macht hätte gründen können. Es gab noch andere Faktoren. Im Gegensatz zu jener Basis, die es in den faktischen Verhältnissen vorfand, begrenzten diese Umstände nun seine Herrschaft und schrieben ihm einen bestimmten Gebrauch seiner Macht vor. Dies war schon klar in dem Grundriß angelegt, den Augustus der neuen »Verfassung« gegeben hatte. Augustus hatte den republikanischen Adel aus der Regierung verdrängt, er hatte ihn jedoch nicht vernichtet. Als soziale Größe blieb dieser Adel bestehen und nicht nur das, er behielt auch seinen bisherigen Rang. Nach wie vor war er der erste Stand, ohne jede Konkurrenz, was Ansehen und Prestige betraf. Das Kaisertum hat diesen Tatbestand nicht nur anerkannt, sondern sogar gefördert und ihm in seiner Regierungspraxis Rechnung getragen. Die höchsten (wenn auch nicht immer die einflußreichsten) Beamten, ebenso die des kaiserlichen Dienstes, wurden aus dem Senatorenstand (so jetzt der offizielle Ausdruck) genommen. Die obersten Offiziersgrade waren nur ihm Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
107
zugänglich. Die Verantwortung für kriegerische Operationen trugen (soweit der Kaiser von seiner Stellung als Oberkommandierender des gesamten Heeres keinen Gebrauch machte) Angehörige des ordo senatorius. Augustus hatte zu einem Kernstück der kaiserlichen Etikette erhoben, daß der Kaiser in den Senatoren seine Standesgenossen und nicht seine Untertanen zu sehen hätte. Die Bezeichnung des Kaisers als princeps, was allerdings kein offizieller Titel war, hat hierin seinen Ursprung. So konnte es auch nicht ausbleiben, daß normalerweise das gesellschaftliche Leben in der Umgebung des Kaisers von der Senatsaristokratie bestimmt war. Die vornehmste Körperschaft des Reiches war nach wie vor der Senat, dem auch der Kaiser als ordentliches Mitglied angehörte. In ihm wurden sämtliche Gesetze verabschiedet. Über seine Mitglieder übte der Kaiser eine Art Pairs-Gerichtsbarkeit aus; sie genossen den Vorzug, daß über sie gewisse Strafen nicht verhängt werden durften. Der senatorische Stand war also wie auch sonst sichtbar privilegiert. Allerdings waren hier weder durch Gesetz noch durch sonst eine Ordnung die Machtsphären gegeneinander abgegrenzt. Der Mangel eines solchen »konstitutionellen« Interesses muß den modernen Betrachter befremden. Doch bestand für eine solche Regelung gar kein Bedürfnis, eine Merkwürdigkeit, die sich aus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
107
der äußeren Machtrelation und der politischen Einstellung der Senatoren erklärt. Der Senat war wie die Beamten, die von der Republik übernommen wurden (wie die Konsuln, Prätoren), ein Stück Republik, das in das Kaisertum eingebaut war, aber kein eigenständiges Leben mehr besaß. Es fehlten die Impulse, die den Senat zu einem konstitutionellen Gegenspieler des Kaisers hätten machen können. Das Kaisertum selbst hatte begreiflicherweise kein Interesse daran, für einen solchen Antagonismus Sorge zu tragen. Durch ein verdecktes System kaiserlicher Kompetenzen war im Gegenteil Vorkehrung getroffen, daß im Senat Entscheidungen nicht ohne den Kaiser fielen, und gegen ihn schon gar keine. Nach dem Tode des Kaisers versinnbildlichte sich in dem Senat, wie schon vorher in der Republik, die Kontinuität des Staates; der neue Kaiser mußte von ihm erst wieder anerkannt werden. Darin hätte sich vielleicht so etwas wie ein Wahlrecht des Senats verbergen können, aber im materiellen Sinne konnte davon keine Rede sein. Die Entscheidung über die Nachfolge fiel in der Regel außerhalb des Senats. Nur unter ganz besonderen Umständen mochte es, eigentlich eher zufällig, dazu gekommen sein, daß der Senat als echte Wahlkörperschaft fungierte. Als politische Institution unterlag das Kaisertum, wie jede Institution, gewissen Bindungen – eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
108
Blanko-Vollmacht ist ihm nie ausgestellt worden und wurde auch von ihm während des Prinzipats nicht ernsthaft angestrebt –, aber diese Bindungen waren elastisch und sahen nirgends formelle Sanktionen für Ihre Verletzung vor. Das faktische Risiko, das Jede aus dem Rahmen fallende Politik läuft, ist selbstverständlich etwas ganz anderes. Insofern war der sachliche Umfang der kaiserlichen Gewalt eminent, und man braucht deshalb kaum Anstand zu nehmen, den Kaiser einen Autokraten zu nennen. Doch auch der mächtigste Autokrat gerät irgendwo an die Grenze seiner Macht. Dieser Satz gilt auch für das römische Kaisertum, allerdings in einem spezifischen Sinn. An drei Punkten läßt sich dies am deutlichsten vergegenwärtigen. Erstens einmal ist dem römischen Kaisertum nach den Vorstellungen, die es von sich hatte, eigen, daß es um die Begrenztheit der Macht weiß und das Verschwimmen ihrer Grenzlinien nicht als Unendlichkeit mißversteht. Diese innere Haltung hatte schon Augustus dem Kaisertum eingeimpft, der hierbei einem politischen Pragmatismus folgte, wie er sich aus den Bedingungen seines Aufstiegs ergab. Später öffneten sich dem Kaisertum noch andere Quellen, die sein »Gewissen« speisten und das Bewußtsein seiner inneren Schranken nährten. Zweitens hat der Kaiser mit einer öffentlichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
108
Meinung zu rechnen. Ihr Gefäß ist in erster Linie die Senatsaristokratie. Sie war durch einen verhältnismäßig hohen Bildungsstand ausgezeichnet und hatte infolgedessen auch die Intellektuellen für sich. Zudem verbreitete sie sich mit der Zeit über das ganze Reich oder gewann aus ihm seine Angehörigen. Sofern die Aristokratie des Kaiserreiches eine reale Macht ausübte, lag sie in dieser Publizitätsfunktion. Sie hatte der Kaiser zu fürchten, nicht irgendwelche handfeste Aktion. Von ihr hing das Klima ab, in dem die Regierung eines Kaisers verlief, ein Faktor, der unter Umständen nicht weniger wirksam sein konnte als gegen ihn gerichtete Handlungen. Drittens waren die Herrschaftsmittel des Kaisers beschränkt. Das lag einfach an den gigantischen Ausmaßen des Römischen Reiches. Ein griechischer Stadttyrann konnte durch einen Haufen von Funktionären seine Mitbürger unter Druck setzen. Der römische Kaiser war hierzu nicht imstande. Erst allmählich schuf sich das Kaisertum einen eigenen differenzierten Beamtenapparat. In diesem Vorgang zeichnet sich eine stetig fortlaufende Linie der Entwicklung ab, und in der Spätantike war es dann wirklich so weit, daß der römische Kaiser – wenigstens dem Schema nach – bis zum letzten Untertanen in der äußersten Provinz durchgreifen konnte. Da war der Apparat freilich so angeschwollen, daß er sich schon nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
108
mehr zuverlässig steuern ließ. Aber davon einmal abgesehen: In jedem Falle mußte die Größe des Reiches jeglicher Gewaltanwendung immanente Grenzen setzen. Es war schon viel, daß diese Ländermasse von einer einzigen Stelle aus nicht nur regiert, sondern auch verwaltet wurde. Sie wurde bekanntlich durch die römische Herrschaft auch nachhaltig verändert. Aber ihre Energiequelle war begreiflicherweise nur zu einem Teil der Kaiser. Das Kaisertum hatte ja auch nicht das Römische Reich geschaffen. Wenn es jetzt sein Herr geworden war, so verwaltete es nicht nur das Ergebnis einer jahrhundertealten fremden Arbeit, sondern war ebenso darauf angewiesen, daß die Kräfte, die zu seiner Entstehung geführt hatten, weiter fortwirkten. Das römische Kaisertum war also von einem inneren, unsichtbaren Regulator seiner Macht abhängig, dessen Kenntnis lediglich der innerpolitischen Bildung des Kaisers anvertraut war, und eben dies enthielt eine große Versuchung. Wie die Geschichte lehrt, ist ihr eine ganze Anzahl von Kaisern erlegen, gerade zu einer Zeit, als das Kaisertum noch jung war. Die beiden charakteristischen Fälle sind Caligula und Nero, die dann hundertfünfzig Jahre später eine Replik in Commodus erhielten. Die Lage ist bei allen dreien ähnlich: Jugendliche Unreife, Mangel an Intelligenz und politischem Urteilsvermögen und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
109
Arbeitsunlust trafen als psychologische Prämissen zusammen. Das Ergebnis war, daß diese unfähigen Kaiser vom Anblick der Macht überwältigt wurden und sich rauschhaft ihrem Schein hingaben. Einer wie der andere wurde aus dem Gleichgewicht geworfen und erging sich in einer Art von Allmachtsdelirium. Es äußerte sich, je nach der Natur des Betreffenden, verschieden; am »harmlosesten« vielleicht noch bei Nero, der in seinem Infantilismus glaubte, er könne sich kraft seiner äußeren Macht in einen großen Künstler verwandeln. Caligula scheint die Macht als Auslauf für gewisse pathologische Perversitäten betrachtet zu haben. Alle drei fanden eine »ideologische« Stütze in einem mißverstandenen Gottherrschertum, das als Institution aus dem Hellenismus in den dort und auch in der Kaiserzeit angelegten Schranken im Grunde unverfänglich war. Hatten nun solche Naturen einmal den Boden unter den Füßen verloren, dann gab es keinen Weg zurück. Es blieb nur die Steigerung der Exzesse, die automatische Dynamik jeder auf sich selbst gestellten Gewalt. Die Nichtigkeit der Figuren beschränkte diesen Prozeß auf einen verhältnismäßig engen Kreis, er griff nicht auf die große Politik über. An ihr aber versuchte sich Caracalla, eine verwandte Erscheinung. Domitians Verhalten war rationaler angelegt. Er hatte es auf eine echte Auseinandersetzung mit dem Senatsadel Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
109
abgesehen. Das klägliche Fiasko, mit dem jeder von ihnen endete (Nero hatte auch noch die Zeche für die Sünden seiner Vorgänger zu zahlen), bewies den Irrtum, dem sie bei ihrer Einschätzung des Kaisertums verfallen waren. Die Gewaltmöglichkeiten des Kaisertums waren nicht unerschöpflich, im Gegenteil, sie waren bedeutend geringer als die einer traditionellen Monarchie. Das Kaisertum mußte sich jeweils durch seine Vertreter ausweisen und war von sich aus nicht imstande, diese über einen verhältnismäßig beschränkten Spielraum hinaus zu tragen. Das römische Kaisertum (hier immer als Prinzipat verstanden) negierte die politische Freiheit der Senatsaristokratie im Sinne der Regierungssouveränität. Es negierte auch die des »Volkes«, nur hatte das Volk als souveräne Entscheidungsinstanz realiter nie so recht bestanden und war zudem, selbst in der reduzierten, ihm von der Republik zugestandenen Form, in deren letzter Generation außer Kurs gesetzt worden. Trotzdem war das Kaisertum keine absolute Negation der Freiheit. In der genuinen Überzeugung seiner Zeitgenossen gehörten, wie Tacitus sagt, principatus und libertas zusammen. Wurde diesem Satz zuwidergehandelt, so quittierte dies die Geschichte jedesmal mit einer Katastrophe. Libertas war die Norm, die derartige Unfälle verhindern sollte, und hinter ihr verbarg sich in erster Linie der Respekt, den das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
109
Kaisertum vor der Senatsaristokratie und der öffentlichen Meinung haben sollte. Sie konnte deshalb als Indiz für die kaiserliche Macht gelten und brachte damit für ihren Teil zum Ausdruck, daß wenn das Kaisertum auch infolge seines revolutionären Ursprungs auf unbeschränkte Macht angelegt war, die Welt, in der und von der es lebte, ohne ein bestimmte Quantum Freiheit nicht zu existieren vermochte. Als die Aristokratie infolge Veränderung ihres sozialen Aufbaus und der allgemeinen Wandlung des Reiches ihre Bedeutung verlor, konnte begreiflicherweise von »Freiheit« nicht mehr die Rede sein. Trotzdem verkündete auch die Spätantike in ihren offiziellen Äußerungen keineswegs die absolute Herrschaft der Despotie. Wenn die Praxis sich von der früheren wesentlich unterschied, so lag das weniger an den subjektiven Absichten der späteren Kaiser als vor allem an der grundlegenden Veränderung der sozialen Verhältnisse. Die Aristokratie war nun nicht mehr imstande, als moralische Instanz der kaiserlichen Regierungsmethode gegebenenfalls Paroli zu bieten; sie duldete die kaiserliche Terror- und Zwangsbürokratie nicht nur, sondern forderte sie durch ihren erbärmlichen Zustand geradezu heraus.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
110
Imperium Romanum Das Römische Reich ist die einzige Großmachtbildung der griechisch-römischen Antike von Dauer und Bestand, und wenn man Dauer und Bestand zum Wesen einer Großmacht zählt, dann war es überhaupt die einzige Großmacht, die das Abendland im Altertum hervorgebracht hat. Die griechischen Erscheinungen dieser Art halten den Vergleich nicht aus. Der Attische Seebund kam über zwei Generationen nicht hinaus, und auch die hellenistischen Großreiche gelangten im Grunde nie zu der Konsolidierung, die ihnen eine unangefochtene Existenz gewährleistet hätte. Zudem waren sie ebenfalls schon nach rund zwei Generationen in eine Phase getreten, die ihnen den Untergang bringen sollte, als sie am Beginn des 2. vorchristlichen Jahrhunderts vom Sog der römischen Expansion erfaßt wurden. Dieser Vergleich ist noch in anderer Hinsicht lehrreich. Athens Reich scheint zu beweisen, daß auf der Grundlage des Stadtstaates Macht in großem Format nicht zu stabilisieren war. Umgekehrt zeigen die hellenistischen Monarchien, daß sie von ihrer monarchischen und im Grunde ungriechischen Ausgangsposition aus das politische Potential der antiken Stadt nicht auszuschöpfen vermochten und daß Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
110
infolgedessen die Kräfte des leistungsfähigsten antiken Sozialgebildes unvollständig in ihren Herrschaftsbau einflossen. Im Gegenteil: dank dem Mangel an Integration wurde die Stadt zu keiner Zeit ein tragendes Element der Herrschaft und bei gegebener Gelegenheit sogar ihr Hemmschuh (etwa wenn sie in kritischen Situationen abtrünnig wurde). Da drängt sich denn die Frage auf, welcher Ansatz den Römern zu ihrem von keinem ihrer Konkurrenten erreichten Erfolg verhalf. Von Anbeginn hatte Rom eine der römisch-griechischen Zivilisation angemessene Position eingenommen. Die Geschichte Roms ist von Hause aus die Geschichte der Stadt Rom, und sein Imperialismus ist zweifellos städtischer Imperialismus. Man kann den Satz gleich fortsetzen: Damit teilte Rom die Ausgangsstellung mit all den griechischen Staaten der klassischen Zeit, die sich auf äußere Herrschaft eingelassen hatten, nur daß deren Versuche allesamt mit einem Mißerfolg endeten. Das führt gleich zu der weiteren Überlegung, inwiefern Rom auf der gleichen Basis etwas gelang, was den griechischen Anstrengungen versagt blieb, oder (anders formuliert) ob Rom ungeachtet des gleichen Ausgangspunktes etwa spezifische, nur ihm eigene Mittel zu Gebote standen. Demnach wäre von der Herrschaftsorganisation auszugehen, und eben sie bietet am leichtesten einen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
111
Einblick in vergleichbare Verhältnisse. Die Grundlage des römischen Weltreiches war die römische Herrschaft über Italien, und so ist in erster Linie das römische Vorgehen hier mit dem der griechischen Staaten in der klassischen Zeit zu vergleichen. Einvergleich ist denn in der Tat nicht allzu schwer anzustellen, denn die erste und sofort ins Auge fallende Beobachtung gibt die Auskunft, daß wirklich eine Typengleichheit der Phänomene vorliegt. Bei Römern wie Griechen gibt es Kolonisation, und zwar städtische Kolonisation, also Gründung von Tochterstädten, die eigene staatliche Gemeinwesen bildeten. In Rom gab es Inkorporation von fremden Gemeinwesen; auch sie war in Griechenland nicht unbekannt. Vor allem jedoch wurde hier wie dort das föderative Prinzip der Angliederung zu Herrschaftszwecken benutzt. Die Grundelemente können, wenn man sie aus dem historischen Zusammenhang herauslöst, demnach als gemeinsam gelten. Diese Feststellung, so allgemein sie ist, empfiehlt sich, denn sie erlaubt, mit einiger Schärfe die Unterschiede und damit auch die Eigenart der römischen Herrschaftspraxis innerhalb eines Rahmens aufzuzeigen, der sowohl für Griechenland wie Rom gilt und wahrscheinlich nichts anderes ist als eine sich aus den Möglichkeiten des antiken Stadtstaates überhaupt ergebende Konsequenz. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
111
Die römische Kolonisation, das heißt die Gründung von »latinischen« Kolonien (von den »römischen« kann abgesehen werden, sie spielten während der Unterwerfung Italiens eine nur untergeordnete Rolle), war niemals nur ein »sozialer« Vorgang wie zumeist in Griechenland. Ein sozialer Vorgang war sie hier wie dort, aber Rom stellte Kolonien niemals politisch auf sich selbst, sondern benutzte sie als Herrschaftsstützpunkte, indem es sie durch ein ewiges Bündnis an sich band. Was also in Griechenland Ausnahme war, bildete in Rom die Regel. Die Versuchung, wie die Griechen zu verfahren, bestand auch gar nicht, denn die Kolonien wurden zumeist im italischen Binnenland angelegt, nicht an der Küste, und hatten gar nicht die Chance, ohne römische Rückendeckung zu existieren. Sie waren nicht wie die griechischen in einem politischen Unterdruckgebiet gegründet, sondern auf einem Territorium, das dem Gegner in hartem Kampf abgerungen war. Bei der Regelung seiner Beziehungen zu den latinischen Kolonien hatte Rom richtig erkannt, daß ein dauerndes Verhältnis zwischen zwei Stadtgemeinden sich am besten auf vertragliche Abmachungen gründen ließ. Dieser Einsicht blieb es treu, auch wenn es sich um bereits bestehende Staatswesen handelte, die es beherrschen wollte. Auch sie wurden durch ein ewiges Bündnis an Rom geknüpft, das sie zur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
111
Waffenhilfe verpflichtete, womit das Verhältnis eine feste Grundlage erhielt. Dabei war es gar nicht nötig, daß der gesamte Inhalt der politischen Realität, das heißt die überlegene Partnerschaft Roms, bis in die Einzelheiten fixiert, zum Ausdruck kam. Die Vertragsformulare waren ziemlich uniform, und selbst wenn verschiedene Kategorien darin vorkamen, ergab das kaum wesentlich voneinander abweichende Situationen. Wichtig war lediglich, daß das Minimum an Verpflichtung eindeutig festgelegt war, nämlich die Wehrgenossenschaft. Dabei kam es nicht zuletzt darauf an, daß sich dabei ein unbefristeter, also perennierender Status ergab. Was dann alles im Laufe der Zeit von selbst in ihn einfloß, brauchte nicht präjudiziert zu werden. Ein verhältnismäßig einfaches Modell für die Beziehungen, aber die Konsequenz, mit der es gehandhabt wurde, stiftete eine haltbare Ordnung. Dem griechischen Bundesrecht waren solche Möglichkeiten an sich nicht unbekannt, aber niemals hat es einen Vertragsinhalt so eindeutig auf den Zweck eines festen, unwiderruflichen Führungsanspruchs hin stilisiert. Athen war von einem genossenschaftlichen Bundesverhältnis ausgegangen (was das römische nie war), ließ es aber absichtlich verkümmern – die Bundesversammlung wurde niemals einberufen –, sorgte dann auch nicht für eine andere Form an Stelle der obsolet gewordenen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
112
Am auffälligsten ist der Unterschied zur griechischen Praxis bei der Anwendung der Inkorporation. Sie findet sich in Griechenland selten und verträgt sich auch nicht mit dem Wesen eines Stadtstaates, der im Grunde nur so weit wachsen kann, wie seine Bürger von ihrem Bürgerrecht Gebrauch machen können. Rom erkannte diesen Satz auch an, war aber viel eher geneigt, ihn großzügig auszulegen, um nicht zu sagen, sich von ihm geradezu zu dispensieren. Es inkorporierte nämlich des öfteren selbst dann, wenn nicht mehr im entferntesten unterstellt werden konnte, daß die in den Selbstverwaltungskörpern (mit niedrigen Verwaltungsfunktionen), den municipia, organisierten Neubürger zur Abstimmung nach Rom kommen würden. Die dem zugrunde liegende eigenartige Einstellung hat verschiedene Voraussetzungen, denen wir leider nicht mit der wünschenswerten Klarheit auf die Spur zu kommen vermögen. Sie hängen mit den allgemeinen Umständen zusammen, welche die Expansionspolitik in Italien ermöglichten, und führen über die reine Technik der Herrschaftsorganisation hinaus. Wenn solchen Neubürgern im Grunde nur ein theoretisches Bürgerrecht zugemutet wurde, so kam es nicht nur auf die Liberalität von Rom an, sondern ebenso auf die Bereitschaft der anderen, damit zufrieden zu sein. Letztere wird sich nicht von ungefähr eingestellt haben. Rom hatte es in Italien zu einem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
112
großen Teil mit einer Bevölkerung zu tun, die sich zur Höhe eines ausgebildeten Städtewesens noch gar nicht entwickelt hatte und infolgedessen auch den spezifischen politischen Reiz der urbanen Zivilisation nicht kannte, als sie durch Rom in den Genuß einer, an das normale Ausmaß gehalten, reduzierten Urbanität gelangte. Hinzu kam, daß diese Verfassung wahrscheinlich einen spürbaren Fortschritt gegenüber einer vorangegangenen bildete, bei der die betreffenden Gemeinden lediglich mit ihrem Militärwesen in Rom eingegliedert waren, im übrigen aber Fremde blieben (die civitates sine suffragio). Demgegenüber war das – praktisch gekürzte – Bürgerrecht ein erheblicher Gewinn und ist wohl auch so empfunden worden. Immerhin brachte es prinzipiell die Gleichstellung mit den römischen Bürgern. Daß diese nun hierbei mitmachten, braucht freilich keineswegs selbstverständlich zu sein und war es in der griechischen Demokratie tatsächlich auch nicht. Aber Rom war keine echte Demokratie, und die in unsichtbarer Observanz des Adels gehaltenen römischen Bürger waren in dieser Hinsicht bedeutend weniger empfindlich. Der Nobilität wiederum war es gleichgültig, wie viele Bürger die Abstimmungsversammlung nicht besuchen konnten; sie hatte schließlich zum Abschluß des Ständekampfes eine besondere Bestimmung durchgesetzt, welche den auswärtigen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
113
Bürgern die Teilnahme an den Comitien erschwerte. Italien war keine Nation wie Griechenland. Auf den ersten Blick mag man darin eine Erschwerung für die Etablierung der römischen Herrschaft sehen. In Wirklichkeit entpuppte sich dies bei den hier zur Sprache kommenden Problemen als ein Vorteil. Das Völkergewirr, mit dem es Rom zu tun hatte und das sich zum erheblichen Teil erst auf dem Wege zur Urbanisierung befand, besaß eine ganz andere Plastizität als die griechischen Staaten, die etwa Athens Kontrahenten waren. Der griechische Imperialismus hätte sich schon auf die weniger zivilisierten nordwestgriechischen Stämme erstrecken müssen, um auf entfernt ähnliche Bedingungen zu stoßen. Das ist ihm jedoch bezeichnenderweise nie eingefallen. Ausdruck der italischen Plastizität ist vor allem das Faktum der Romanisierung. Sie ist nun sicher kein Werk irgendwelcher »Organisation« (jedenfalls soweit erkennbar; wir sind sehr schlecht informiert), sondern der soziale Niederschlag der politischen Superiorität Roms insgesamt, und hat sich infolgedessen in der Breite all der Kontakte vollzogen, die sich notgedrungen in dem Zusammenleben einstellten. Daß dieses Zusammenleben lediglich den Einfluß der römischen Führungsmacht spüren ließ, war das Werk einer Politik, deren Überlegenheit sich in ihren erstaunlichen Erfolgen sinnfällig auswies. Nichts Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
113
überzeugt so sehr wie der Erfolg, zumal wenn man selbst mitgeholfen hat, ihn herbeizuführen. Der »Italische Bund« (wie man die Organisation Italiens nennt) war seinem institutionellen Aufbau nach alles andere als »genossenschaftlich«, aber die Gesinnung, die in dieser allmählich sich romanisierenden Zwangsgemeinschaft aufkam, wurde mit der Zeit die einer Genossenschaft, in der ein Sinn für Solidarität über die Empfindlichkeit der eigenen Interessen siegte. Als die Römer über Italien hinausgriffen – es geschah unmittelbar nach der letzten Etappe in der Unterwerfung Italiens –, da erschienen den Fremden die Angehörigen des italischen Wehrverbandes als eine Einheit, als »Togamänner« (togati); in ihren Augen waren die Herren der Welt nicht weniger diese Gesamtheit als die Römer für sich. So wurde der Eigenwille der Fremden in eine umfassende Einheit aufgenommen und sehr viel weniger mit Fremdherrschaft konfrontiert als in der Lage freier Bestimmung gehalten, zumal wenn die Ausgangsposition in ihren Grundlagen unversehrt blieb. Die föderierten Gemeinden waren im Inneren autonom und bekamen die Grenzen ihrer Freiheit nicht zu spüren, weil auf sie, anders als zumeist in Griechenland, wegen der Gefahr außenpolitischer Unzuverlässigkeit kein Druck ausgeübt zu werden brauchte. Das italische Herrschaftssystem wurde von Rom Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
113
nicht auf das Weltreich übertragen, jedenfalls nicht als Ganzes. Hatte Rom in Italien den Willen seiner Gegner gebrochen und ihm eine neue Richtung gegeben, um ihn als Energiequelle für seine Politik zu gebrauchen, so wandte es als Weltreich diese Methode nur gelegentlich an. In der Regel war es zufrieden, wenn die anderen sich – gleichgültig in welcher Form – seiner Herrschaft fügten. Lange Zeit über verfolgte Rom dieses Ziel auf dem Wege des freien völkerrechtlichen Verkehrs, durch Krieg und Diplomatie. Nur zögernd wurde organisiert. Rom war lange Zeit einer Institutionalisierung seiner Herrschaft abgeneigt. Deshalb erhielt das Römische Reich eine durchgehende Organisation erst durch Augustus. Im Gegensatz zu Italien kaschierte es jedoch jenseits von dessen Grenzen den Tatbestand Herrschaft nicht mehr, sondern sprach offen aus, daß es Herr über die »Welt«, den »Erdkreis« sei. Im Westen erbrachte die römische Herrschaft schließlich die Romanisierung, und als sie einmal erreicht war, war alles Weitere lediglich eine Frage der Verwaltung. Herrschaft verstand sich, da es sich ja um Römer handelte, von selbst. Im griechischen Osten wurde dieses Stadium auch erreicht, aber hier verstand es sich keineswegs von selbst. Die römische Herrschaft hatte erst Wurzeln zu schlagen, und die Griechen mußten sich, ohne Römer zu sein, als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
114
Römer fühlen oder doch die römische Herrschaft für etwas Unproblematisches halten. Im Osten waren die Römer vielerorts die Nachfolger der hellenistischen Könige und übernahmen von ihnen auch diese oder jene Einrichtung. Nicht übernehmen konnten sie jedoch ein Griechentum, das nur weiter zu verwalten gewesen wäre. So weit war der politische Hellenismus noch nicht gekommen (Ägypten, was die Griechen betraf, natürlich ausgenommen). Er hatte nur über die Griechen geherrscht und nicht in dem Maße seine Herrschaft verfestigt, daß sie sich schon in bloße Verwaltung verwandelt hätte. Die Frage ist deshalb, inwiefern die Römer etwas erreichten, was ihren Vorgängern nicht erreichbar gewesen war. Nicht zielstrebige Maßnahmen führten die Römer dahin. Bei ihrer Abneigung gegen jeden Herrschaftsapparat ist das nicht verwunderlich. Für die sehr zögernd vorgenommene Einrichtung von Herrschaftssprengeln (den »Provinzen«) waren, zu Anfang wenigstens, in erster Linie militärische Gesichtspunkte maßgebend. Unter besonderen Umständen war es angezeigt, an bestimmten Stellen der römischen Politik durch eine ständige Kommandantur Nachdruck zu verschaffen, sei es, daß die internationale Situation (etwa infolge Bedrohung aus angrenzenden Gebieten), sei es, daß ein noch nicht berechenbares Verhältnis zu den Untertanen dieses Sprengels es erforderte. Der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
114
römische Provinzialgouverneur war deshalb in erster Linie Offizier, ein Prätor mit militärischem Imperium. Erst allmählich kristallisierten sich an diese occupatio bellica auch zivile Funktionen an, ein Vorgang, der je nach den örtlichen Verhältnissen selbstverständlich verschiedene Gestalt annahm (über die Einzelheiten sind wir übrigens so gut wie gar nicht informiert). Man könnte auch sagen, daß von Hause aus die dortigen Untertanen unter »Kriegsrecht« standen (dies im modernen, nicht im antiken Sinne), nur daß eben Kriegsrecht, sobald es zum Dauerzustand wird, notwendigerweise den Ausnahmecharakter verliert und infolgedessen nicht mehr so verstanden wird. Da es Rom fernlag, gegenüber einer friedlichen Bevölkerung dieses Kriegsrecht zu praktizieren, nahm im Grunde das Leben in den Städten weiter seinen gewohnten Gang, und deren Selbstverwaltung war unmittelbar nicht betroffen. Unter der hellenistischen Königsherrschaft differierte die Situation in den Städten nur unwesentlich. Der Unterschied lag anderswo, weniger im System als in seinen tatsächlichen Begleiterscheinungen. Ein römischer Prätor war im Grunde mächtiger als ein monarchischer Funktionär, der nur eine (vom Herrscher) abgeleitete Macht besaß. Im Prätor, einem römischen Adligen, trat gewissermaßen der neue Herrscher in Person in Erscheinung. Er war, was sein Verhältnis Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
114
zu den Untertanen betraf, praktisch niemandem verantwortlich. Bei wem sollte man sich auch über ihn wirksam beschweren? Übergriffe waren denn auch, je länger desto mehr, an der Tagesordnung, so daß die Römer schließlich ein Rechtsverfahren gegen erpresserische Bereicherung einrichteten (die »Repetundengerichte«), aber ihre Wirksamkeit war von Fall zu Fall verschieden, je nach der Chance, welche die augenblicklichen Verhältnisse in Rom boten. Ohne Protektion war dort für die Provinzialen nichts zu erreichen. Sie hat gewiß nicht immer gefehlt, zumal wenn eine Gemeinde das Patronat eines Adelsgeschlechts über eine Provinz oder Stadt mobilisieren konnte. Daß die Sikelioten im Jahre 70 in Cicero einen ehrgeizigen und fähigen Mann fanden, der sich einen Namen machen wollte, war ein außerordentlicher Glücksfall. Während der Republik war deshalb die Lage der Provinzialen wenig beneidenswert und gewiß im Durchschnitt ungünstiger als vorher unter den hellenistischen Herrschern. Trotzdem tat diese moralische Belastung der Festigkeit der römischen Herrschaft keinen Abbruch. Der Grund war einfach genug. Die römische Herrschaft war zu einem unwiderruflichen Schicksal geworden. Die Aussicht, sie mit einer anderen zu vertauschen, gab es nicht. Als Mithridates die Fata Morgana herbeizauberte, dies könne doch geschehen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
115
erhielt er großen Zulauf. Aber das war eine ganz singuläre Konstellation, die sich späterhin nur in Andeutungen wiederholte. Da der Mensch sich Situationen ohne Veränderungschancen anzupassen pflegt, konnte gar nicht ausbleiben, daß mit der Zeit die Tatsache der römischen Herrschaft als eine unerschütterliche Weltordnung das Bewußtsein der Untertanen und damit auch der Städte hinsichtlich ihrer eigenen Stellung bestimmte und man sich daran gewöhnte, den eigenen Status nicht mehr als originären und lediglich durch Umstände bedingten zu betrachten, sondern als eine Funktion der gleichsam naturgegebenen römischen Herrschaft. Wenn den Griechen schon in den offiziellen Vertretern des römischen Staates die fremde Macht in besonderer Eindeutigkeit entgegentrat, so tat sie dies noch stärker in einem anderen Phänomen, für das der politische Hellenismus überhaupt nichts Vergleichbares besaß. Das war die personale Anwesenheit des römischen Volkes im Osten. In großer Anzahl traten Römer auch als Privatleute dort auf, in erster Linie als Kaufleute, aber auch als Vergnügungs- und Bildungsreisende. Der junge Mann von Stand war in Rom ohne eine Studienreise in die griechische Welt nicht mehr vorstellbar. Die Ausländer aus Rom und Italien bildeten in den griechischen Städten geradezu eine eigene soziale Schicht. Man kann sich denken, daß sie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
115
sich nicht als die Niedrigsten vorkamen. Sie waren viel besser gestellt als andere Fremde; man kann fast von Privilegien sprechen, die sie in Anspruch nahmen und unschwer durchsetzten. Meistens wird man sie ihnen freiwillig geboten haben. Am römischen Statthalter hatten sie einen selbstverständlichen Rückhalt. Nach römischem Staatsrecht war dieser als magistratus cum imperio auch Gerichtsherr. Als solcher nahmen ihn die Römer in Anspruch, und zwar nicht nur, wenn sie untereinander etwas auszutragen hatten, sondern ebenso, wenn der Kontrahent ein Grieche war. Schließlich konnte sich auch ergeben, daß ein Grieche von sich aus sich an den römischen Statthalter wandte. So legte sich die römische Macht in all ihren Äußerungen immer dichter um die griechischen Städte. Diese und jene offizielle Berührung gab es natürlich, nicht zuletzt die von den Städten zu zahlenden Abgaben (sie unterlagen sehr verschiedenen Gesichtspunkten). Ursprünglich entwickelten sich diese Verhältnisse ganz zwanglos, später wurden sie statutarisch geregelt (durch »Provinzgesetze«), und dabei kam dann eben heraus, wohin die Geschichte geführt hatte, daß nämlich die griechische Stadt innerhalb einer von Rom für ein bestimmtes Territorium verfügten Ordnung ihren Platz zugewiesen bekam, wenn auch einzelne Städte durch Exemtion von der Provinz Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
116
privilegiert werden konnten. Alle diese Umstände brachten es zuwege, daß die Reste ihres früheren souveränen Daseins, welche die griechische Stadt noch besaß, mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurden. Trotzdem hat das Römische Reich die griechische Stadt nicht erstickt. Ganz im Gegenteil: Es bejahte sie als Selbstverwaltung genauso, wie es in den römischen Städten Italiens und der Provinzen das Prinzip der Selbstverwaltung gelten ließ. Rom schuf so als Erbe der großen griechischen gemeindestaatlichen Tradition die kommunale Autonomie. In ihr war das Beste dieser Überlieferung aufgehoben, der genossenschaftliche Gemeinsinn, das Bewußtsein, mit seiner persönlichen Kraft für das Gemeinwesen einstehen zu müssen, die Freiwilligkeit der Leistungen, im Ehrenamt und als Stifter von gemeinnützigen Spenden. Die blühende Zivilisation der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte ist eine Frucht dieses von Rom aufgefangenen Städtewesens. Rom gründete auch neue Städte, was selbstverständlich war für die römischen, aber ebenso verdanken ihm zahlreiche griechische ihre Entstehung. Die griechische Stadt war immer »frei« gewesen, da sie nie aufgehört hatte, eine auf Selbstbestimmung angelegte Körperschaft zu sein. Sie wurde in ihrer Bewegungsfreiheit nur sehr oft von außen beschnitten und betrachtete dies als Verlust ihrer »Freiheit«. Im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
116
Römischen Reich jedoch deklarierte sie selbst ihre Verfassung als »frei« und brachte sich auf diese Weise, unter einem neuen Freiheitsbegriff, ihren realen Status unwillkürlich zum Bewußtsein. Es war die Freiheit, die bei Zugehörigkeit zu dem allmächtigen Herrschaftsverband in modifizierter Form weiterlebte oder neu erstand, eben weil die Stadt nicht aufgehört hatte, Stadt zu sein. Aber sie tat noch mehr: Die Stadt bejahte auch die römische Herrschaft. Aus verschiedenen Gründen konnte sie es tun, vor allem, weil das Reich Friede und Wohlfahrt verbürgte, weil die pax Augusta für Ruhe und Ordnung sorgte und die felicitas temporum ein warmes Licht und einen belebenden Hauch auf die städtische Zivilisation ausgoß. Obendrein verstand sie sich auch als einen aktiven Träger des Reiches, dieses Reiches, das, wie ein Rhetor des 2. nachchristlichen Jahrhunderts sagte, im Grunde selbst nur wieder eine große Stadt sei, mit den Angehörigen der einzelnen Städte als ihren Bürgern, denn – und darauf läuft diese Behauptung hinaus – auch der griechische Stadtbürger hatte an der Regierung der »Weltstadt« Anteil. Und dies war nun im 2. Jahrhundert wirklich keine leere Phrase. Auf Grund bestimmter Einrichtungen, die hier nicht zur Diskussion stehen, rekrutierte sich die Reichsaristokratie, welche die höchsten Beamten des Reiches stellte, auch aus den Notabeln der griechischen Städte, so daß es Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
116
in jenem Literaturwerk heißen kann, »die Harmonie einer politischen Ordnung habe alle Menschen zusammengeschlossen; was bisher unmöglich gewesen sei, nämlich daß sich Herrschaftsmacht und Menschenliebe zusammenfänden, das sei jetzt eingetreten.« Die Stadt bildete also den anderen Pol der Freiheit, der neben der aristokratischen den Kontrapunkt zur gigantischen Macht des Kaisers und des Reiches ausmachte. Beide Freiheiten beruhten auf der Selbstbeschränkung der vorhandenen Machtfülle, wie sie in einem Weltreich und seiner monarchischen Spitze zusammenfließen mußten. Das war aber in beiden Fällen keine politische Freiheit und entbehrte deshalb jedes kämpferischen Impulses, sondern spiegelte einen sozialen Zustand wider, den das Kaisertum vorerst keinen Grund hatte zu ändern. Es wollte vielmehr selbst diesen Zustand, denn es hatte nicht die geringste Absicht, der Welt ein neues Gehäuse zu geben. Sie zu erhalten, wie sie war, dahin ging sein primäres Interesse, und es wollte die städtische Freiheit, sofern sie sich immer wieder regenerierte und in ihr sich auch die individuelle Selbstbestimmung des antiken Stadtbürgers realisierte, mit einem Wort, weil die auch vom Kaisertum als gültig angesehene Lebensform in ihr existierte. Allerdings war die Lebensdauer dieses Zustandes begrenzt. Die Vitalität des Städtewesens ließ bereits Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
117
im 2. Jahrhundert nach. Im 3. Jahrhundert erlosch sie unter der Einwirkung der weltweiten Krise, deren Ausdruck die große Anarchie des Römischen Reiches war. Als sie schließlich überwunden war, hatte das Römische Reich ein anderes Aussehen. Der spätantike Zwangsstaat war aufgetreten, und mit ihm das differenzierte politische und gesellschaftliche System des Haut Empire liquidiert. Der Einzelne wurde zum Roboter für einen Staat, der einem erschlafften Sozialkörper immer größere Opfer abforderte und abfordern mußte. Für Freiheit war da kein Platz mehr, und die Stadt hörte zwangsläufig auf, ihre Stütze zu sein. Sie wurde, wie manches andere, zu einem Zwangsverband, nur dazu da, die ungeheuren Kosten für den angeschwollenen Staatsapparat aufzubringen. Aber diese Spätantike ist auch das Ende der Antike. Daß sie nicht mehr imstande war, die Kräfte zu erhalten, von denen sie bisher gelebt hatte, bezeichnet (unter anderem) eben den Abschluß der Epoche des griechisch-römischen Altertums.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
117
Die Einheit des griechisch-römischen Altertums Man kann das griechisch-römische Altertum unter verschiedenen Gesichtspunkten als Einheit begreifen, am besten wohl unter Verknüpfung mehrerer, was sich hier freilich verbietet. Eine dieser Möglichkeiten besteht darin, die Einheit dieser welthistorischen Phase als die Herrschaft eines durchgängigen Typus von sozial-politischer Ordnung zu definieren, nämlich der okzidentalen Stadt, verstanden als autokephal-genossenschaftlicher Verband. Das soll allerdings nicht besagen, daß hierbei von der Antike alle denkbaren Variationen dieses Typus durchprobiert worden wären (die spätmittelalterliche Stadt erbrachte Spielarten, die der Antike unbekannt waren), aber etwas anderes ist klar und rechtfertigt die Behauptung: Die Stadt war der zentrale Träger der Geschichte, Geschichte als die Entwicklung der damals herrschenden menschlichen Organisationsform betrachtet. Was sich daneben noch zu Worte meldete, hält dem historischen Stellenwert nach die Konkurrenz mit ihr nicht aus. Der Leser braucht sich nur der verschiedenen Daten, auf die in den vorangehenden Betrachtungen aufmerksam gemacht wurde, im Rückblick zu erinnern, um diese Feststellung bestätigt zu finden. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
118
Am Anfang schon steht die Stadt, und ihr älterer Rivale, der Stammesverband, wird zusehends zurückgedrängt und verfällt, ein Schicksal, das ihn sowohl in Griechenland wie in Italien trifft. Die aus nichthellenischen Wurzeln erwachsene hellenistische Monarchie vermag die Stadt nur zu beschatten, nicht aber zu verdrängen. Ein neuer Weg wird erst durch Rom gefunden, indem es den Stadtstaat munizipalisiert, und zwar sowohl in Italien (vor allem durch den Bundesgenossenkrieg und durch Caesar, der aus seinem Ergebnis die Folgerung zog) wie im Osten hinsichtlich der griechischen Stadt. Dieser Schritt erst bedeutet die Überführung der Stadt in einen neuen Aggregatzustand und strukturell den entscheidenden »Fortschritt«, nachdem ihre Überdachung durch den »Bundesstaat« in Griechenland wegen der außenpolitischen Entwicklung ebenfalls nur Episode blieb. Er war eine Konsequenz des römischen Imperialismus und keineswegs von Hause aus gewollt, sondern der zwangsläufige Umschlag einer Politik, die nicht nur von einer Stadt getragen war, sondern die auch ihre Herrschaft primär auf Städte erstreckte. Wie auch sonst führte hier die römische Reichsbildung die Geschichte der Antike weiter. Nachdem so die ursprüngliche Stadtfreiheit in eine munizipale Autonomie verwandelt war, fand sie ihren endgültigen Untergang im Zwangsverband des spätantiken Staates. Im Gange Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
118
der gleichen Entwicklung, als deren Kehrseite, löste sich Rom selbst als Stadtstaat auf und setzte damit schließlich den zur Bürokratie gewordenen Obrigkeitsstaat frei. Auch dieser Prozeß zog ebenso aus der überdimensionalen römischen Herrschaft seine Kraft, wie er sich erst im Hinblick auf sie ausbildete. Auf beiden Seiten verwandelte sich »Freiheit« in Herrschaft, und es blieb von jener gerade noch so viel übrig, wie ihr im größeren Verband von dieser gelassen wurde, um schließlich ihren definitiven Untergang zu finden. Soweit die Stadt der dominante politische Körper der Antike war und die Geschichte der Antike infolgedessen die Geschichte von Städten ist, ist die griechisch-römische Antike die Geschichte organisierter Freiheit, städtischer Freiheit. Städtische Freiheit läßt sich natürlich verschieden organisieren, aber der zur Verfügung stehende Spielraum ist innerhalb dieses okzidentalen Typus von seinen immanenten Bedingungen her doch ziemlich begrenzt. Im Grunde war nicht viel mehr möglich, als ein Hin- und Herpendeln zwischen mehr oligarchischen und mehr demokratischen Formen, also lediglich ein Verschieben auf einer Skala, gewiß mit manchen Differenzierungen, aber eben stets auf ein und derselben Skala, allenfalls dann und wann unterbrochen durch ein tyrannisches Zwischenspiel. Das Ausmaß der Freiheit, als eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
118
politische Größe gefaßt, konnte je nach der Stellung auf der Skala verschieden sein, aber der Grundform nach änderte sich deshalb an ihr nichts, und die Gestalt blieb die gleiche, dies um so mehr, als extreme Oligarchien mit der Zeit immer seltener wurden und der Spielraum sich im Grunde auf Variationen eines demokratischen Grundmodells einengte. Dies stellte sich vor allem dann heraus, als die Stadtverfassung unter den Einfluß Roms geriet und das Bürgerrecht zwar nicht nach Aktiv- und Passivbürgern, sondern nach aktiver und passiver Wahlberechtigung differenziert wurde, natürlich zu dem Zweck, die Ämter den gehobenen Schichten zu garantieren. »Typisch« war die Stadt auch insofern, als sie sich in einer schier unendlichen Vielfalt repräsentierte und infolgedessen ihrer Wirkungsmöglichkeit im einzelnen enge Schranken gesetzt waren. Singuläre Figurationen ihrer inneren Gestalt, sofern es sie gab, waren deshalb dazu verurteilt, von der Masse des Gewöhnlichen und Typenmäßigen absorbiert zu werden. Man begreift also, warum die antike Geschichte, soweit es auf die äußere menschliche Verfassung ankommt – und Geschichte besteht in ihrem wesentlichen Teil aus deren Wechsel –, auf weiten Strecken einen ausgesprochen stationären Charakter besitzt. Ob wir einen Menschen in seinem Dasein im 5., im 3. oder im 1. vorchristlichen Jahrhundert fixieren, sehr groß sind Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
119
die Unterschiede seines Status, soweit er ein Stadtbürger war, nicht. Stets wird man ihn auf das gleiche Koordinatennetz einer Öffentlichkeit bezogen finden, die durch Ehrenämter, politische Funktionen und Leiturgien (unentgeltliche finanzielle und sonstige Leistungen für die Bürgerschaft) bestimmt war, und immer wird man die Macht des Staates unter mehrere aufgeteilt und in unmittelbarer menschlicher Begegnung hervortretend antreffen. Die städtische Freiheit gehört zur Grundstruktur der Stadt und besagt einfach, daß konzentrierte Machtbildung sich mit ihrem Wesen nicht verträgt. So ist die »Entwicklungsfähigkeit« ihrer inneren Ordnung auf einen verhältnismäßig engen Raum beschränkt und vermag unter Wahrung ihrer Gestalt nur in wenigen Richtungen auszulaufen. Sehr bald kommt sie an die Grenze, und es bleibt ihr dann lediglich, wiederum zurückzufließen. Eben dies lehrt die griechische Stadtgeschichte mit ihrem Oszillieren und dabei doch beständigen Beharren, wenn nicht gar eine Versteinerung der Form (wie in Sparta) erreicht wird. Die von innen her gezähmte Macht vermag auf dieser Grundlage nur nach außen hin zu erscheinen, sei es, daß sie als fremde willentlich eindringt, sei es, daß das Wachstum der eigenen Macht sich in der Überlegenheit gegenüber anderen Städten von selbst erweist. Entwicklung im Sinne des Gestaltwandels ist daher Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
119
für den antiken Stadtstaat nur von der äußeren Sphäre her denkbar und ist infolgedessen nachweisbar nur auf diese Weise erfolgt. Solchen Begegnungen ist die griechische Stadt, wie es nicht anders sein kann, in zahlreichen Fällen ausgesetzt gewesen, aber wenn man von dem »Bundesstaat« absieht, so reichte weder Eindringlichkeit noch Nachhaltigkeit solcher Erfahrungen aus, um die Stadt über ihren vorgegebenen Gestaltkreis hinauszubringen. Das Gesetz der Freiheit blieb ihr trotz aller Beschneidung durch äußere Umstände erhalten. Einzig dem römischen Stadtstaat war es beschieden, seine Geschichte über die eigene Begrenzung hinauszuführen, auf die einzige Weise, die nach den strukturellen Voraussetzungen möglich war, durch ungewöhnliche Akkumulation äußerer Macht. Indem Rom mit der unterlegenen Kraft fremder Stadtstaaten zusammentraf, wurde es ihr Schicksal und zwang ihnen am Ende den Wandel zur Munizipalität auf. Aber auch für Rom selbst wurde die eigene Macht zur höheren Gewalt. Unter der Rückwirkung seiner Herrschaft konnte es nicht mehr das bleiben, was es ursprünglich war. Die Tage der alten Stadtrepublik waren schon gezählt, als Rom Herr über Italien wurde, erst recht, als seine Heere in Spanien, in Afrika und in Kleinasien kämpften. Deshalb war es schließlich allein Rom beschieden, nicht nur seine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
119
eigene Geschichte, sondern die der ganzen antiken Welt in eine wahrhaft neue Phase hineinzusteuern. In seinen Händen fand sich ein solches Ausmaß an Macht und Herrschaft zusammen, daß sich dies nur in einer Neuordnung der bislang grundlegenden Lebensverhältnisse niederschlagen konnte. Deren Nerv jedoch war noch nicht so weit ertötet, daß die römische Politik, innen wie außen, nicht darauf hätte Rücksicht nehmen müssen. Deshalb die erste Ära der Kaiserzeit, in der sich zwar Herrschaft und Freiheit nicht das Gleichgewicht hielten (das wäre eine sehr problematische Idealisierung), aber jene doch dieser innerhalb ihres Körpers einen Platz einräumte. In einem gebrochenen Licht spiegelte sich ihre frühere, ursprüngliche Existenz wider. Als denn auch diese Tage vorbei waren, hatte mit der Spätantike die griechisch-römische Welt ein derartig verändertes Aussehen angenommen, daß die moderne Wissenschaft die nicht unberechtigte Frage aufgeworfen hat, ob es sich hier überhaupt noch um antike Geschichte handelt. Als es schließlich so weit war und sich mit der Herrschaft des Christentums noch manches andere geändert hatte, war die Schwelle überschritten, hinter der die antike Freiheit zur Vergangenheit wurde und nur noch historischen Rückwendungen zugänglich war. Vor dem Hintergrund von Erfahrungen, die der Epoche der griechisch-römischen Stadt vorenthalten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
120
geblieben waren, konnte sie nun in einem Umfang begriffen werden, der ihren Schöpfern niemals zum Bewußtsein gekommen war und auch niemals hätte zum Bewußtsein kommen können. Was selbstverständlicher Besitz ist, pflegt nicht problematisch zu sein und hat es deshalb meistens nicht nötig, zur aktuellen Vorstellung zu werden. Auf diese Weise blieb dem Altertum sehr viel von den denkbaren Aspekten seiner Freiheit verborgen, unter anderem auch diejenige Erscheinungsform, die im Spiegel späterer Geschlechter die größte Leuchtkraft entfaltete, die Freiheit des Geistes. Das ist nicht verwunderlich. Die Freiheit des Denkens war für die griechisch-römische Antike ein derartig elementarer Zustand, daß er nicht zur Norm erhoben zu werden brauchte. Sie hätte erst prinzipiell in Frage gestellt werden müssen, um als ein objektivierter Begriff zu erscheinen. Aber eben diese Erfahrung hat die Antike bekanntlich nicht gemacht. Was im republikanischen Rom an flüchtigen Polizeiaktionen gegen griechische Intellektuelle oder religiöse Vereinigungen begegnet, betrifft ein Übergangsstadium und verhärtete sich auch da niemals zu einer grundsätzlichen Position. Die Einhelligkeit des Bildes wird dadurch jedenfalls nicht gestört. Die Gründe hierfür sind nicht leicht anzugeben. Man wird zunächst an die Indifferenz der antiken Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
120
Gemeindereligion zu denken haben, die in der Hauptsache Kultreligion war und immer blieb. Damit käme man zumindest in die Nähe des Ursprungs der antiken Freiheit überhaupt. Eine politische Genossenschaft von so konsequenter Durchbildung ihrer Prinzipien, das heißt eine Gesellschaft, welche die Herrschaft durchgehend dem Prinzip der Gleichheit und Gleichartigkeit unterwarf, konnte keine privilegierten Außenseiter dulden. Jeder Priester, der mit dem Anspruch eines besonderen Wissens und damit einer eigenständigen Autorität aufgetreten wäre, hätte notgedrungen entsprechend figurieren müssen. Auf diese Weise verkümmerten schon die Ansätze zu einem irgendwie gearteten amtlichen religiösen »Spezialistentum«. Ausnahmen, wie die Eumolpiden in Eleusis und die Priester in Delphi (die übrigens mit der trotz allem nicht allzu großen Dosis Autorität, die sie erworben hatten, sehr vorsichtig umgingen), bestätigen die Regel. Priester waren Gemeindebeamte, beinahe wie die anderen Beamten auch. Auf jeden Fall waren sie in unserem Sinne »Laien«, das heißt jeder sakramentalen Weihe und der Autorität monopolisierter Kenntnisse entbehrend. In Rom war ihre Position wohl ursprünglich stärker gewesen, aber im Ständekampf wurde dieser Einstellung ebenfalls zum Sieg verholfen. (Gewisse Einschränkungen können hier auf sich beruhen.) Auf keinen Fall ließ sich die politische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
121
Gewalt vom Pontifikalkollegium dirigieren, und im Grunde wurde das auch gar nicht versucht, denn hier wie dort waren die Leute gleichen Standes und damit auch mit gleichen politischen Interessen vertreten. Prinzipiell wurden in Rom die Gemeindepriester gewählt, nicht anders als in Griechenland. Nur der Grundsatz der Annuität galt für sie nicht. Ein Intellektuellenstand hat sich deshalb in das Priestertum nirgends einkristallisieren können, nicht in Griechenland und in Rom nur mit einigen geringfügigen Modifikationen, und infolgedessen war die geistige Spontaneität in einem derartigen Umfang für die »Laien« freigelegt, daß diese nicht einmal Veranlassung hatten, sich von irgendwelcher »Priesterweisheit« als Widerpart abzusetzen. So kennt die Antike begreiflicherweise auch nicht das Phänomen der Säkularisation – bezeichnenderweise nimmt das begriffliche Denken der Antike seinen Ausgang von weltimmanenten Alltagsbegebenheiten – und hatte auch keinen Anlaß, eine betont weltliche »Geistigkeit« zu entwickeln. Über Gott, die Götter und das Göttliche ist zwar von den Griechen viel spekuliert worden, aber dies war nie »Theologie« in unserem Sinn, weil jegliche Institution fehlte, auf deren Autorität sich eine derartige »Religionsphilosophie« hätte stützen können. Das Christentum mußte große Mühe darauf verwenden, solche »antiken Triebe« in seinen Reihen zu unterdrücken Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
121
(Gnosis). Die »Freiheit des Geistes« war in der Antike noch von einer anderen Seite her gewährleistet. Die Politik war nämlich nicht am »Geist« als Instrument einer Herrschaftsstabilisierung interessiert. Das soll nicht heißen, daß die Macht darauf verzichtet hätte, sich »geistig« zu legitimieren und auf bestimmte rechtfertigende Vorstellungen zu berufen. Wann täte dies der Mensch nicht, sowohl wenn er selbst mit Ansprüchen hervortritt als auch wenn er ihnen stattgibt oder sie bekämpft. Doch solche Argumente sind dann in den Handlungsablauf und in das tätige Verhalten von vornherein eingeschmolzen als immanente Sinnstruktur, ohne welche die praktische Einstellung gar nicht denkbar ist. Von hier ist aber noch ein ziemlich weiter Weg zur objektiven Exposition solcher Gedanken, zu ihrer Verselbständigung und Weiterentwicklung zu einem System, das als System die Möglichkeit hat, dem Menschen als geschlossener Gedankenzusammenhang gegenüberzutreten und seinerseits eine Herrschaft über das Handeln auszuüben, ohne dem konkreten Vollzug unmittelbar entsprungen zu sein. Derartige geschlossene Konzeptionen setzen ein gehöriges Maß eigenständiger Reflexion voraus und sind ohne einen Weltentwurf irgendwelcher Art kaum denkbar. Deshalb ist denn zumeist auch die Theologie (neben der Rechtswissenschaft) die Mutter politischer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
121
Ideologien, in unmittelbarer oder mittelbarer Filiation, und deshalb hat in diesem Sinn das griechisch-römische Altertum keine »Ideologien« gekannt und war zu seinem Glück nicht imstande, die Menschen auf sie festzulegen und zu bestimmten »Überzeugungen« zu zwingen. Die ersten Ansätze zu einer so verstandenen Ideologie bietet bezeichnenderweise die Reaktion auf das Christentum, als – mit ganz ungenügenden Mitteln – eine Art von »Dogma« des Heidentums aufgestellt wurde (bei Julian in bizarrer Nachahmung sogar christlicher Formen). Die Ideologienfeindlichkeit des Altertums muß auf den ersten Blick befremdend erscheinen, denn schließlich gibt es nicht nur eine entwickelte griechische Staatstheorie, sondern sie hat später nachantiken Geschlechtern lange genug als Steinbruch für ihre Ideologien gedient. Aber die politische Philosophie der Griechen war insofern indifferent gegenüber der Praxis, als zwar ihre personalen Vertreter eine politische Position einnahmen, aber die Theorie selbst nicht in ein konkretes Handlungsfeld hineinmeditierte, und, was nicht minder wichtig ist, die Praktiker haben niemals versucht, bei ihr Anleihen zu machen. Der Antrieb, das Seiende in seinem Zusammenhang zu erkennen, war also stärker als der Wille, es auf eine bestimmte aktuelle Situation hin zu verdichten, die reine »Theoria« (die Schau) siegte in der Regel über die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
122
»Ideologie«. Infolgedessen verharrten die Gedankenelemente des Handelns zumeist in einer fragmentarischen, unreflektierten Begrifflichkeit; ihre Aussagen sind nur partielle Reflexe einer Wirklichkeit, die nicht im entferntesten das Ganze darstellt. Auch waren die verschiedenen Situationen keineswegs originell genug, um mit einer neuen Formel aufzutreten. Alte Prägungen wurden bedenkenlos verwandt, um einen eigenen Standpunkt zu erhärten, und erhielten erst durch diese Aktualität einen besonderen, zeitgemäßen Sinn. Der Fragmentcharakter solcher Gedankenelemente ließ es nicht zu, daß sie sich in einen geschlossenen Kreis auseinanderlegten. Sie waren im Gegenteil auf die Situation angewiesen und erhielten erst von hier aus ihre Bedeutung. Daß dabei höchst merkwürdige Effekte herauskommen konnten und sogar scheinbar feststehende moralische Begriffe in bestimmten Konstellationen einen völlig veränderten Realitätsgehalt gewannen, hat schon Thukydides an gewissen Erscheinungen von Massenhysterie während des Peloponnesischen Krieges beobachtet. Am geläufigsten ist dem Historiker jedoch dieses Begriffsschicksal bei dem proteusartigen Charakter der »Freiheit«; freilich braucht er sich hierbei keineswegs nur an die Antike zu halten. Vor dem Hintergrund der hier angestellten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
122
Überlegungen ist es nicht schwer, diesen Tatbestand für das griechisch-römische Altertum anzugeben, zumal gerade bei der »Freiheit« dem Leser nun schon längst vertraut ist, daß Realität und Vorstellung auseinandergehen. Entdeckt wurde die »Freiheit« bei den Griechen verhältnismäßig spät. Die Freiheit, die sie schon in homerischen Zeiten besaßen, kam ihnen gar nicht zum Bewußtsein. Die damalige Gesellschaft war am Herrschaftsanspruch des Adels orientiert, nicht aber an der Selbständigkeit, die er besaß und die ihn die Tradition der antiken Stadtfreiheit begründen ließ: Deshalb der Preis seiner angeborenen und von den Vätern und Göttern ererbten Blutstugenden. Als nun seine Herrschaft in die Krise geriet und abgebaut wurde, war diese Bewegung wieder nicht von Freiheitsvorstellungen inspiriert. Es war vielmehr »das Gesetz«, auf das man sich als objektive (gegenüber der subjektiv menschlichen) Instanz berief. Objektive, bisher unbekannte Tatbestände, wie Befleckung durch Mord (nicht nur des Mörders, sondern der ganzen Gemeinde), wurden im Zeichen dieses »Legalismus« (Nilsson) aufgegriffen und schließlich fixiert. Im Zuge einer Entpersönlichung, Versachlichung der menschlichen Ordnung wurde der Gentiladel entthront und der schließlich zur Demokratie führende Weg eingeschlagen. Das alles war damals revolutionär, im Vokabular Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
122
des 19. Jahrhunderts »fortschrittlich« und der »gute Gesetzesstatus« (eunomía) ein Ideal, auf das sich die Reformer beriefen (Ende 7., Anfang 6. Jahrhundert). Hundert Jahre später wurde der Begriff das Palladium der oligarchischen Kreise (nicht identisch mit dem alten Adel) gegenüber der Demokratie, wurde die einst im Vorstoß gegen die alte Blutsaristokratie gegründete Verfassung als »Verfassung der Väter« zur Gegennorm gegen die Demokratie erhoben. So »erfand« erst die Demokratie die politische »Freiheit«, offenbar in der besonderen, durch die Vertreibung der Tyrannen und durch die Perser eingetretenen Konstellation, aber keineswegs als alleinige »Idee«. Daneben steht der Begriff der Gleichheit, der zwar auch gegen die Tyrannis formuliert war, dessen Abstammung aber bis zur Egalisierung des Blutadels mit den oberen Schichten des Demos zurückreicht. Die eigentliche Domäne der »Freiheit« ist jedoch ihre Konfrontierung mit der eben erst am Ausgang der Archaik als Tyrannis entlarvten Tyrannis. In dieser Relation wäre sie natürlich auch von den Oligarchen zu gebrauchen gewesen, obgleich das faktisch nur selten vorgekommen sein mag. Dagegen nahm die Oligarchie keinen Anstand, im spartanisch-attischen Spannungsfeld die äußere »Freiheit« aufzugreifen, die nun seit dem Ersten Attischen Seebund nicht mehr aus dem griechischen Vokabular verschwindet. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
123
In Rom sind die Dinge viel weniger zu überschauen. Ob man ursprünglich Tarquinius Superbus im Zeichen der »Freiheit« verjagte (sie wäre dann ein Begriff des noch ausschließlich patrizischen Staates gewesen), ist sehr zweifelhaft. Später wurde es natürlich behauptet und damit der Gegenbegriff gegen das tyrannische Königtum in die Republik einzementiert. Gespeist wurde der Begriff jedoch durch die Provokation, und diese gab es erst als Ergebnis des Ständekampfes um 300 v. Chr. Es ist sehr wohl begreiflich, daß die stabile Situation der klassischen Republik keiner pointierten Begriffe bedurfte. Sie orientierte sich an den gängigen Sozialnormen (wie mos maiorum, honor, dignitatis, fides). Erst die späte Revolutionszeit mußte auch die begrifflichen Vorstellungen in Bewegung bringen. Sie tat es, aber produktiv war sie ganz und gar nicht, was sich leicht an dem Wesen dieser Auseinandersetzung erklärt, die sich lediglich – mitunter – als Klassenauseinandersetzung gab, es in Wirklichkeit aber nicht war. Mit der »Freiheit« standen beide Seiten, Optimaten wie Populäre, auf vertrautem Fuße, nur bedeutete sie jeweils etwas Verschiedenes. Die Popularen hielten sie ihren Gegnern als Instanz gegen deren Machtmißbrauch vor, während umgekehrt die Optimalen, also die Vertreter der Senatsoligarchie oder besser einer auf sie allein gestützten Politik, die »Freiheit« ihren Gegnern als den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
123
künftigen Usurpatoren und Tyrannen vorhielt. Auch Augustus nahm keinen Anstand, mit Hilfe eines ziemlich schamlosen Kniffs an dieser pseudo-ideologischen »Freiheitstechnik« anzuknüpfen. Dann jedoch wurde »Freiheit« naturgemäß der Begriff, das ideale Verhalten zwischen Kaisertum und der einzigen noch politischen Schicht des Kaiserreiches, dem senatorischen Stande, zu kennzeichnen, worin sich am Anfang noch Vorstellungen der republikanischen Freiheit (im Gegensatz zu Tyrannis und Kaisertum) mischte. Der Freiheitsbegriff war von seiten des Kaisertums besonders in Ausnahmesituationen zu gebrauchen, in denen es sich von seinen entarteten Vertretern distanzierte. Das verfing jedoch nur unter einem sehr exponierten Gesichtswinkel. Positivere Vorstellungen als der Begriff der Freiheit waren begreiflicherweise wirkungsvoller. Augustus etwa umgab das neu geschaffene Kaisertum mit einer künstlichen altrepublikanischen Aura, indem er es auf die zu aktivierenden »altrömischen Werte« bezog. Das hatte selbstverständlich keinen Bestand. Und so wurde das Kaisertum mit der hellenistischen Herrscherethik verknüpft, ein Prozeß, der ziemlich lange Zeit in Anspruch nahm und unter Claudius-Nero begonnen, erst im 2. Jahrhundert verwirklicht war. Die Herrschaftsethik des Hellenismus nämlich, die relativ am stärksten abgerundete quasiideologische Leistung des Altertums, hatte es Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
124
vermochte im Gegensatz zur Tyrannis (kein Wunder, denn sie setzt diese voraus) die »Freiheit« insofern zu absorbieren, als sie ihr den Wert einer absoluten Gegenposition nahm. Der äußeren Machtbildung waren die Römer – im Gegensatz zu den Griechen – von früh an mit umkleidenden Vorstellungen auf der Spur. Der Ansatz war das römische »Völkerrecht«, das auf einem bestimmten Ritual beruhend, für Rom nur »gerechte« Kriege kannte. Die rücksichtsloseste Expansion, die das griechisch-römische Altertum erlebt hat, wurde von seinen Initiatoren gern (und gewiß mit gutem Gewissen) als arglose Nachbarschaftshilfe und Sühnung fremden Unrechts vorgestellt, ihnen aber von den Griechen mit Recht nicht abgenommen. Doch wer die Macht besitzt, hat wenigstens den Schein der Wahrheit für sich. Jedenfalls war es nicht schwer, in diese sehr urwüchsige Selbstauslegung später sublimere Gedankengänge einzuschmelzen, etwa die Fürsorge für die Untertanen und anderes mehr – alles übrigens griechischer Provenienz –, eine Tradition, die in den bekannten Vergilschen Worten vom parcere subiectis et debellare superbos (»Die Unterworfenen schonen und die Hochmütigen bekämpfen«) kulminiert. Die Praxis stand hierzu meistens in schreiendem Widerspruch, und erst die geordneten Verhältnisse der Kaiserzeit vermochten eine echte und korrespondierende Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
124
Resonanz bei den unterworfenen Griechen zu wecken. Freilich, die Unvermeidlichkeit der römischen Herrschaft, in unseren Augen der einzig stichhaltige Rechtfertigungsgrund, wurde bar jeder realistischen Induktion allein im Spiegel einer griechischen Herrschermetaphysik erfaßt (Seneca). Das traf die Sache zwar ganz und gar nicht, aber dem Kaisertum als dem Souverän über das Weltreich war damit immerhin eine Strebe eingezogen, die seiner unbezweifelbaren Faktizität ein höheres Maß an innerer Glaubwürdigkeit verliehen hätte, wenn die Frage nach ihr gestellt worden wäre. Solch kritisches Verhalten gegenüber der Existenz des Kaisertums war freilich gerade von seiten der Reichsbevölkerung im griechischen Osten am allerwenigsten zu erwarten. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, daß die Macht in der Welt nicht in ihren Händen lag, und konnte gar nicht mehr auf den Wunsch verfallen, sie zurückzuerhalten. Wenn es bei ihnen eine Zielvorstellung gab, dann war es der »ideale« Gebrauch der Macht. In dieser Hinsicht brachte nun das Kaisertum bestimmt einen Fortschritt, nicht nur, was die Beurteilung der tatsächlichen Herrscherpraxis betraf, sondern auch hinsichtlich ihres Charakters als Monarchie, der die Phantasie der Untertanen viel eher anregte als die Herrschaft der Vorgänger des Kaisertums, und zwar einfach schon deswegen, weil sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
124
hier auf die leichteste Weise die Verbindung zur Tradition der hellenistischen Fürstenspiegelethik und des Gottkönigtums herstellen ließ. Die griechisch-römische Antike mithin als der Raum der Freiheit? Dies könnte man als Formel vielleicht gelten lassen, denn wie jede Formel kann sie nicht beanspruchen, einen Tatbestand wirklich adäquat wiederzugeben. Sie gibt nur die Richtung an, in der man ihn zu finden hofft, und es ist dabei von vornherein klar, daß es ohne erhebliche Modifikation nicht abgeht, daß eine »absolute« Freiheit als politisch-soziales Phänomen eo ipso schon gar nicht denkbar ist und daß zur Freiheit stets der Komplementärbegriff »Herrschaft« hinzugedacht werden muß, wie die hier angestellten Überlegungen wohl gezeigt haben dürften. Verhalten die Dinge sich aber so, dann bliebe diese Skizze unvollständig, genauer, noch unvollständiger, als sie nach den Umständen ohnehin sein muß, wenn nicht wenigstens ein flüchtiger Blick noch auf zwei Punkte gerichtet würde, an denen die unvermeidliche Begrenzung der »Freiheit« in besonderer Weise sichtbar wird: Es sind dies innerhalb der Stadt das Phänomen der antiken Sklaverei und außerhalb der Stadt die Lage des flachen Landes. Der Sklave ist nach antiken Begriffen der konträre Gegensatz zum Freien; insofern ist die marxistische Theorie einleuchtend, als sie in diesem Verhältnis die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
125
kardinale soziale Schichtung der antiken Gesellschaft erblickt und deshalb von ihr als der »Sklavenhaltergesellschaft« spricht. Der Sklave erscheint damit als eine antagonistische Klasse gegenüber allen Nichtsklaven, als eine homogene Gruppe, die durch Herrschaft, und zwar absolute Herrschaft, zustande kommt. Die Freiheit des Bürgers setzt sich demnach in ein Herrentum über die Sklaven um, eine Situation, die natürlich einen entsprechenden Herrschaftswillen impliziert. Nichts scheint evidenter als diese Feststellung, zumal wenn man sie in Parallele zu der wirtschaftlichen Korrelation stellt, daß die einen arbeiten, die anderen die Produkte der Arbeit verzehren, womit der betreffenden Sozialordnung von vornherein das Stigma der Ausbeutung aufgebrannt ist. Die Gesellschaft stellt, um existieren zu können, die Sklaverei aus sich heraus. Der Sklave ist also der notwendige Partner des Freien, er gibt dessen ökonomische Basis ab und tritt damit in einen realdialektischen Gegensatz zu ihm. Dies bestechende Bild ist jedoch nicht richtig. Die Verhältnisse sind komplizierter, und gerade der Ausgangspunkt, nämlich die Homogenität des Sklavenstandes als alleiniger, die Produktion schaffender Sozialschicht ist problematisch, denn diese Gleichförmigkeit ist eine juristische, keine eigentlich soziale. Die primäre Ursache der Sklaverei, ihr Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
125
Entstehungsgrund, der sie als Institution hervorrief, ist denn auch gar kein ökonomischer, sondern ein »anthropologischer«. Das will besagen, zuerst war der Sklave da, und aus seiner Existenz folgte dann erst seine wirtschaftliche Nutzung. Der Ursprung der Sklaverei liegt in der elementaren Auffassung, daß jeder Stammes- oder Staatsfremde als Nicht-Rechtsgenosse rechtlos ist, es sei denn, er wird durch besonderen Titel wie Gastrecht oder anderes geschützt. »Rechtlos« heißt aber, daß ihm gegenüber die Gewalt des Stärkeren ohne jede Einschränkung gilt, daß er also im »Normalfall« getötet werden kann. Der Verzicht auf dieses »Tötungsrecht« ist die absolute Verfügung über ihn als Lebenden: die Sklaverei. Der Grundsatz gilt vor allem im Kriege, zumal wenn es sich um Kriege gegen Volksfremde handelt – für das Verhältnis der Griechen untereinander entstanden mit der Zeit modifizierte, allerdings praktisch nicht durchgängig herrschende Anschauungen –, und der Krieg ist denn auch zumeist der ertragreichste Sklavenlieferant, was allerdings keineswegs heißt, daß, um Sklaven zu gewinnen, in der Regel Kriege geführt worden wären. Von männlichen Kriegsgefangenen als Sklaven hielt man, vor allem in der frühen Zeit, nicht allzuviel (sie seien für die Arbeit zu störrisch), im Gegensatz dazu fanden Frauen verständlicherweise für vielerlei Zwecke Verwendung. Es mußten erst ganz Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
125
unabhängig von diesen Verhältnissen bestimmte ökonomische Bedingungen erwachsen, damit sowohl ein Aufnahmevolumen für Sklaven als auch eine entsprechende Nachfrage entstand. Beides traf in höherem Maße eigentlich nur in Ausnahmesituationen der Geschichte zu, am notorischsten im Zusammenhang mit dem römisch-italischen Kapitalismus zu Anfang und während der Revolutionszeit. Damals stand als Folge der großen Kriege ein starkes Angebot billiger Sklaven zur Verfügung, das dann, als seine Absatzchancen einmal erkannt waren – vergleichbar dem Verfahren im Afrika des 18. Jahrhunderts –, in systematischen Sklavenjagden vergrößert wurde. Lediglich für diese Konstellation (sie hat in Griechenland nur sehr vereinzelte und für den Durchschnitt keineswegs repräsentative Analogien) ließe sich allenfalls die Sklaverei als ein ökonomisch relevantes Klassenphänomen ansprechen, und dem entspricht, daß es in der ganzen Antike nur hier zu wirklichen Sklavenaufständen gekommen ist. Klassenkämpfe waren diese Erhebungen trotzdem nicht. Keiner der Anführer, Spartakus am allerwenigsten, wollte die Gesellschaft revolutionieren oder reformieren. Die aufständischen Sklaven waren einfach Menschen, die um ihre persönliche Freiheit kämpften und denen es am liebsten war, wenn sie in ihre alte Heimat zurückkehren konnten (so ganz deutlich bei Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
126
Spartakus); in anderen Fällen dachte man an die Gründung eines Staatswesens neben dem Römischen Reich, eine ziemlich phantastische Vorstellung zwar, aber für Motive und Ziele dieser gequälten Menschen, die lediglich ihre persönliche Situation verändern wollten, doch sehr bezeichnend. Ernst genommen im Sinne einer sozialen Revolution wurden diese Sklavenaufstände von niemandem. Die Institution der Sklaverei wurde durch sie nicht im entferntesten in Frage gestellt; sie blieb nach wie vor gleichsam tabu, und der Gedanke, sie aufzugeben, wäre als Verrücktheit erschienen. So wurden die aufständischen Sklaven einfach wie asoziale Elemente, wie Räuber, bekämpft. Selbst diese extreme Situation schuf also keine Klassenbewegung, obgleich in gewissen uniformen Bedingungen wie Gleichartigkeit der Arbeit und auch dem Gefühl ethnischer Zusammengehörigkeit, am ehesten die Voraussetzungen dazu gegeben gewesen wären. Außerhalb dieses Bereichs war noch viel weniger daran zu denken, denn die Homogenität der ökonomischen Funktion fehlte da dem Sklavenstand auf der ganzen Linie. Die Arbeit, die Sklaven verrichteten, war von sehr verschiedener Art und vor allem auch von sehr unterschiedlichem Rang. Keineswegs war sie nur industrieller Natur. Und obendrein war sie als Sklavenarbeit keineswegs spezifiziert; es gab im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
126
Grunde wenig Tätigkeiten, die man ausschließlich den Sklaven zurechnen konnte. In zahlreichen Gewerben standen Sklaven Seite an Seite mit freien Arbeitern. Eine auf die Arbeitssituation gegründete Solidarität hätte auf diese übergreifen müssen; das war jedoch im Altertum ganz undenkbar und galt, wo sie gelegentlich – aus besonderen politischen Gründen, die mit dem Klassenproblem in gar keinem Zusammenhang stehen – vorkam, durchweg als verbrecherische Felonie. Es war die typische ultima ratio des politischen Hasardeurs. Homogenität ging der Sklavenschaft aber auch wegen deren fremder Herkunft ab. Sie bildete ein buntes Gemisch, das selten landsässig war. Sklaven wurden nur selten aufgezogen, da dies viel zu teuer war. Ethnische Gleichartigkeit importierter Sklaven ergab sich nur bei den Massen der ausgehenden römischen Republik, und da führte sie denn auch zu den bekannten Reaktionen. In noch höherem Maße fehlte es an einer strukturellen Homogenität in sozial-ökonomischer Hinsicht. Dieser Mangel schloß jede Solidarität der Interessen und überhaupt einen gemeinsamen Antagonismus gegenüber den Freien aus. Den einen Sklaven ging es (etwa im Bergwerk) erbärmlich schlecht, andere führten ein erträgliches Leben, und manche hatten es materiell besser als viele Freigeborene. Und dann vor Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
127
allem: Sklave sein brauchte kein Dauerzustand zu sein. Definiert man die Sklaverei als »Stand«, so war es ein Stand mit ausgesprochen zahlreichen Aufstiegschancen, auch hierin nicht selten besser gestellt als die Situation mancher Freien. Nicht nur, daß persönliche Neigung des Herrn zu gnadenweiser Freilassung führte, Freilassungen entsprachen sogar insofern einer gewissen Regelmäßigkeit, als sie dem wirtschaftlichen Nutzen des Herrn diente. Eine faktische oder manchmal auch begrenzt rechtliche Vermögensfähigkeit erlaubte es den Sklaven, durch eigenen Fleiß das Lösegeld selbst aufzubringen und damit dem Herrn einen größeren Profit zu verschaffen, als er bei routinemäßiger Sklavenarbeit aus ihnen gezogen hätte. Daß freigelassene Sklaven dann zu beachtlichem Wohlstand gelangten, war weder in Griechenland noch in Rom eine Seltenheit. Zu einer von der städtischen Bevölkerung abgehobenen homogenen Gruppe von klassenmäßigem Charakter (wenn auch nicht mit dem entsprechenden Bewußtsein) wurde dagegen im griechisch-römischen Altertum, und zwar je länger, desto mehr, die auf dem Feld arbeitende Bevölkerung, und da sie in der nichtindustriellen Welt (das Altertum zählt trotz einzelner entwickelter Gewerbezweige dazu) den Hauptteil der wirtschaftlichen Produktion erbrachte, war sie im eigentlichen Sinne diejenige Schicht, welche die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
127
wirtschaftlichen Werte schuf, von denen die anderen lebten. Die hochzivilisierte antike Stadt war zum großen Teil Rentnerstadt. Ein – nicht nur rechtlich, sondern auch ökonomisch – freier Bauernstand existierte wohl in Griechenland wie in Rom lange genug, um bestimmten frühen Epochen das ökonomische Gesicht zu geben, allerdings in Rom stärker als in Griechenland, wo die soziale Umschichtung in der archaischen Zeit nicht überall ein freies Bauerntum geschaffen hatte. Weite Gebiete, wie Sparta, Thessalien und Kreta, waren von dieser Entwicklung nicht berührt worden und hatten die alte, noch auf die Einwanderungszeit zurückgehende Hörigkeit der einst eingeborenen Schicht bewahrt. Ähnliche Verhältnisse bildeten sich in einzelnen Kolonien, wie in Syrakus (wo sie im 5. Jahrhundert verschwanden), in Süditalien (wenn eine flüchtige Andeutung in unseren Quellen richtig verstanden wird), in Byzanz, in Herakleia (am Pontos). Es werden aber mehr gewesen sein; wir sind ganz ungenügend über diese Dinge unterrichtet. Doch diese archaisch-atavistischen Erscheinungen sind es nicht, die für das Ganze des Altertums Epoche machten. Epoche machte vielmehr ein allgemeiner Trend, der seit dem Hellenismus sowohl den griechischen Osten wie den lateinischen Westen erfaßte und allmählich den freien Bauernstand, wo es ihn gab, zum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
127
Verschwinden brachte. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die weiten, nur teilweise griechischen Gebiete des Ostens, vor allem Kleinasien, Syrien und Ägypten hinzunimmt, wie dies der Gegebenheit des Hellenismus auch entspricht. Die Formen, in denen sich der Prozeß vollzog, waren sehr verschieden. Man muß unterscheiden zwischen dem, was sich auf den städtischen Territorien abspielte, und den großen – exterritorialen – Ländermassen, einer Erbschaft der hellenistischen Monarchie und andererseits (teilweise anknüpfend daran) des ager publicus in den römischen Provinzen. Führend war wohl die Entwicklung in den außerstädtischen Gebieten. Einmal gab es im Orient eine regelrechte Hörigkeitstradition auf Königsland, zum anderen fiel dank der Konzentration des ager publicus in den Händen der Kaiser (kaiserliche Domänen) dort die ökonomische Abhängigkeit und die staatliche Obrigkeit zusammen, wodurch auf dem Wege des Verwaltungsrechts sich die Bindung der Bauern an das Land verstärkte. In Italien, wo der ager publicus am Ende der Republik konsequent aufgelöst worden war und die Mammutlatifundien unabhängig davon ohnehin verschwanden, war es in erster Linie die ökonomische Abhängigkeit freier, aber kleiner Pächter von ihren Pachtherren, die den Bauernstand niederhielt. Kurz und gut, das flache Land sank ungeachtet Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
128
entgegenarbeitender Bemühungen der Kaiser im 2. Jahrhundert während der Kaiserzeit zusehends ab und wurde zur Welt einer wie immer gearteten Unfreiheit, bis dieser Zustand dann schließlich in der Spätantike durch das Kolonat systematisiert wurde. Als das geschah, war es freilich auch mit der städtischen Freiheit längst vorbei, und nicht nur das: Das Schwergewicht der Zivilisation hatte sich obendrein von der Stadt auf das Land verlagert. Dort waren immerhin noch einige Magnaten »frei«, und angesichts der allgemeinen Misere von Staat und Gesellschaft bedeutete deren Macht für viele kleine Leute Trost und Zuflucht vor dem unbarmherzigen Griff der allmächtigen Staatsbürokratie. So ist auch unter diesem Blickpunkt der Abschluß der Antike bezeichnend genug: Die Domäne der Unfreiheit, das Land, siegte auf der ganzen Linie über die einstige Stätte der Freiheit, die nun ebenfalls versklavte Stadt.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im griechisch-römischen Altertum
Anhang: Abbildungen ¤ Zweikampf zwischen Menelaos und Hektor um den gefallenen Euphorbos Episode aus der »Ilias« auf einem rhodischen Teller, Ende 7. Jahrhundert v. Chr. London, British Museum ¤ Die Akropolis von Athen. Blick von der Pnyx, dem Ort der Volksversammlung, auf das Zentrum der Stadt ¤ Die Fundamente eines Raumes vom Gerichtshof auf der Agora in Athen mit den Resten einer Wahlurne, Ende 5. Jahrhundert v. Chr. ¤ Der untere Teil einer »Maschine« zur Bestimmung der Schöffen durch das Los, 3. Jahrhundert v. Chr. ¤ Der Persische Großkönig Dareios I. Relief am Felsdenkmal des Königs in Bisutun/Medien, nach 520 v. Chr. ¤ Das Gesetz gegen die Tyrannis aus dem Jahr 336 v. Chr. Oberteil einer Steinstele aus Athen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
104
¤ Römischer Bürger bei der Comitienwahl. Rückseite eines stark vergrößerten Silberdenars des P. Licinius Nerva, 114-104 v. Chr. Hamburg, Kunsthalle ¤ Agitator zur Zeit Sullas. Bronzestatue aus Umbrien. Florenz, Museo Archeologico ¤ Ruinen der römischen Stadt Glanum bei St.-Rémy. Blick auf die römische Mauern aus dem zweiten Jahrhundert über teilweise hellenistischen Fundamenten ¤ Wartender Sklave mit einer Sturmlaterne. Römisches Bronzegefäß aus der Kaiserzeit. Mainz, Römisch-Germanisches Zentralmuseum
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im griechisch-römischen Altertum
Anhang: Facsimile ¤ »Der Staat der Athener«. Eine Kolumne (Kap. 2123) der Schrift des Aristoteles. London, British Museum
Die im Altertum hochberühmte, zwischen 327 und 324 v. Chr. verfaßte Schrift des Aristoteles vom Staat der Athener (Athênaiôn politeia, De republica Atheniensium) war seit dem 5. Jh. n. Chr. verschollen. Sie bildete den wichtigsten Teil der Sammlung von 185 Staatsverfassungen, die der Philosoph zur Vorbereitung und als Illustration seiner »Politik« veranstaltet hatte. Im Jahre 1891 publizierte F. G, Kenyon aus vier Papyrusrollen, die nicht lange vorher ins British Museum gelangt waren, fast die gesamte Schrift, die nur am Anfang geringfügig verstümmelt und am Schluß schwer zu entziffern ist. Die Veröffentlichung eines so umfangreichen und bedeutenden Textes erregte sogleich allgemeines Aufsehen, und bis heute haben die Forscher verschiedener Fachrichtungen nicht aufgehört, sich damit zu beschäftigen. Wir haben hier einen der seltenen Fälle vor uns, wo ein Denker auch auf Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
das Gebiet des realen Geschichtsprozesses hinüberblickt, zudem unter einem Gesichtspunkt, der heute besondere Aufmerksamkeit verdient: Wachstumsbedingungen und Gefährdungen einer demokratischen Staatseinrichtung. Aristoteles behandelt sein Thema in zwei Teilen, einem historischen (Kap. 1-41) und einem systematischen (Kap. 42-69), bemüht sich jedoch in beiden nur um die Rekonstruktion und Darstellung von Fakten, deren philosophische Auswertung der »Politik« vorbehalten bleibt. Die hier wiedergegebene Großkolumne (9) stammt aus dem historischen Teil; sie ist die drittletzte der ersten Rolle. In der Umschrift ist sie zeilengetreu wiedergegeben unter Auflösung der zahlreichen Abkürzungen. Beibehalten sind einige Fehler, die jedoch in der Übersetzung stillschweigend korrigiert wurden. Der Papyrus erweist sich durch seine Beschaffenheit und durch den Duktus der Schrift als eine private Kopie aus der Zeit um 100 n. Chr.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
[Transkription] [Dia men oun tautas tas aitias episteuen ho dêmos tô Kleisthenei. tote de tou plêthous proestêkôs, etei tetartô meta tên tôn tyrannôn katalysin, epi Isagorou archontos, prôton men syneneime pantas eis deka phylas anti tôn tettarôn, anameixai boulomenos, hopôs metaschôsi pleious tês politeias; hothen elechthê kai to mê phylochrinein,] pros tous exetazein ta genê boulomenous. epeita tên boulên pentakosi[ou]s anti tetrakosiôn katestêsen, pentêkonta ex hekastês phylês; tote d' êsan hekaton. dia touto de ouk eis dôdeka phylas synetaxen, hopô[s] autô mê symbainê merizein kata tas prouparchousas trittys; êsan gar ek d' phylôn dôdeka trittyes, hôst' ou [syn]epeipten anamisgesthai to plêthos. dieneime de kai tên chôran kata dêmous triakonta merê, deka men tôn peri to asty, deka de tês paralias, deka de tês mesogeiou, kai tautas eponomasas trittys eklêrôsen treis eis tên phylên hekastên, hopôs hekastê metechê pantôn tôn topôn. kai dêmotas epoiêsen allêlôn tous Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
oikountas en hekastô tôn dêmôn, hina mê patrothen prosagoreuontes exelenchôsin tous neopolitas, alla tôn dêmôn anagoreuôsin; hothen kai kalousin Athênaioi sphas autous tôn dêmôn. katestêse de kai dêmarchous, tên autên echontas epimelian tois proteron naukrarois; kai gaph tous dêmous anti tôn naukrariôn [ep]oiêsen. prosêgoreuse de tôn dêmôn tous men apo tôn topôn, tous de apo tôn ktisantôn; ou gaph hapantes hypêrkon [eti] tois topois. ta de genê kai tas phatrias kai tas hierôsynas eiasen echein hekastous kata ta patria. tais de phylais epoiêsen epônym[ou]s ek tôn prokrithentôn hekaton archêgetôn, hous aneilen hê Pythia deka. toutôn de genomenôn dêmotikôtera pol[y tês S]olônos egeneto hê politeia; kai gar synebê tous men Solônos nomous aphanisai tên tyrannida dia to mê chrêsthai, k[ain]ous d' allous theinai ton Kleisthenê stochazomenon tou plêthous, en hois etethê kai ho peri tou ostrakis[mo]y nomos. prôton men oun etei pemptô meta tautên tên katastasin, eph' Hermoukreontos archontos, tê boulê tois pentakosiois ton Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
horkon epoiêsan, hon eti kai nyn omnyousin. epeita tous stratêgous hêrounto kata phylas, ex hekastês phylês hena, tês de hapasês stratias hêgemôn ên ho polemarchos. etei de meta tauta dôdekatô nikêsantes tên en Marathôni machên, epi Phainippou archontos, dialipontes etê dyo meta tên nikên, tharrountos êdê tou dêmou, tote prôton echrêsanto tô nomô tô peri ton ostrakismon, hos eteth, dia tên hypopsian tôn en tais dynamesin, hote Pisistratos dêmagôgos kai stratêgos ôn tyrannos katestê. kai prôtos ôstrakisthê tôn ekeinou syngenôn Hipparchos Charmou Kollyteus, di hon kai malista ton nomos ethêken ho Kleisthenês, exelasai boulomenos auton. hoi gar Athênaioi tous tôn tyrannôn philous, hosoi mê synexamartanoien en tais tarachais, eiôn oikein tên polin, chrômenoi tê eiôthyia tou dêmou praotêti; hôn hêgemôn kai prostatês ên Hipparchos. euthys de tô hysterô etei, epi Telesinou archontos, ekyameusan tous ennea archontas kata phylas ek tôn prokrithentôn hypo tôn dêmotôn pentakosiôn tois meta tên tyrannida Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
prôton; hoi de proteroi pantes êsan hairetoi. kai ôstrakisthê Megaklês Hippokratous Alôpekêthen. epi men oun etê g' tous tôn tyrannôn philous ôstrakizon, hôn charin ho nomos etethê, meta de tauta tô tetartô etei kai tôn allôn ei tis dokoiê meizôn einai methistanto; kai prôtos ôstrakisthê tôn apôthen tês tyrannidos Xanthippos ho Ariphronos. etei de tritô meta tauta Nikodêmou archontos, hôs ephanê ta metalla ta en Marôneia kai periegeneto tê polei talanta hekaton ek tôn ergôn, symbouleuontôn tinôn tô dêmô dianeimasthai to argyrion, Themistoklês ekôlysen, ou legôn ho ti chrêsetai tois chrêmasin, alla daneisai keleuôn tois plousiôtatois Athênaiôn hekaton hekastô talanton, eit' ean men areskê to analôma, tês poleôs einai tên dapanên, ei de mê, komisasthai ta chrêmata para tôn daneisamenôn. labôn d' epi toutois enaupêgêsato triêreis hekaton, hekastou naupêgoumenou tôn hekaton mian, hais enaumachêsan en Salamini pros tous barbarous. ôstrakisthê d' en toutois tois kairois Aristeidês ho Lysimachou. tetartô d' etei katedexanto Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
pantas tous ôstrakismenous archontos Hypsichidou, dia tên Xerxou strateian; kai to loipon hôrisan tois ostrakizomenois entos Geraistou kai Skyllaiou katoikein, ê atimous einai kathapax. tote men oun mechri toutou proêlthen hê polis, hama tê dêmokratia kata mikron auxanomenê; meta de ta Mêdika palin ischysen hê en Areiô pagô boulê kai diôkei tên polin, oudeni dogmati labousa tên hêgemonian, alla dia to genesthai tês peri Salamina naumachias aitia. tôn gar stratêgôn exaporêsantôn tois pragmasi kai kêryxantôn sô[z]ein hekaston heauton, porisasa drachmas hekastô oktô diedôke kai enebibasen eis tas naus. dia tautên dê tên aitian [pa]rechôroun autên tô axiômati, kai epoliteuthêsan Athênaioi kalôs kai kata toutous tous kairous. synebê gar autois peri ton chronon touton ta te eis ton polemon askêsai kai para tois Hellêsin eudokimêsai kai tên tês thalattês hêgemonian labein akontôn Lakedaimoniôn. êsan de prostatai tou dêmou kata toutous tous kairous Aristeidês ho Lysimachou kai Themistoklês ho Neokleous, ho men ta polemia askôn, ho de ta politika deinos einai kai dikaiosynê tôn kath' heauton Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
diapherein; dio kai echrônto tô men stratêgô, tô de symboulô. tên men oun tôn teichôn anôkodomêsin koinê diôkêsan, kaiper diapheromenoi pros allêlous, epi de tên apostasin tên tôn Iônôn kai tên tôn Lakedaimoniôn symmachian Aristeidês ên ho protrepsas, têrêsas tous Lakônas diabeblêmenous dia Pausanian. dio kai tous phorous houtos ên ho taxas tais polesin tous prôtous, etei tritô meta tên en Salamini naumachian, epi Timosthenous archontos, kai tous horkous ômosen tois Iôs[in], [hôste ton auton echthron einai kai philon, eph' hois kai tous mydrous en tô pelagei katheisan.] Übersetzung [(Kap. 31) Aus diesen Gründen vertraute das Volk dem Kleisthenes. Jetzt nun, wo er der Vertreter des Volkes war, im vierten Jahre nach dem Sturz der Tyrannen, unter dem Archontat des Isagoras, teilte er erstens die gesamte Bevölkerung in zehn Phylen ein anstatt der vier, in der Absicht, sie zu vermischen und eine größere Zahl am Bürgerrecht teilhaben zu lassen. Daher stammt auch die Redensart »Keine Phylen-Schnüffelei!«] Sie richtete sich gegen Leute, die die Abstammung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
untersuchen wollten. Sodann richtete er einen Rat von Fünfhundert statt der Vierhundert ein, fünfzig aus jeder Phyle; bis dahin waren es hundert (aus jeder Phyle). Daher teilte er auch nicht in zwölf Phylen ein, um nicht genötigt zu sein, entsprechend den vorher bestehenden Trittyen aufzugliedern: Die vier Phylen bestanden nämlich aus zwölf Trittyen, und bei dieser Einteilung wäre ihm die Durchmischung der Bevölkerung nicht gelungen. Er teilte aber auch das Land auf, nach Demen, in dreißig Teile: zehn im Bereich der Stadt, zehn an der Küste und zehn im Binnenland. Diese nannte er Trittyen und verloste sie, drei auf jede Phyle, damit eine jede Anteil hätte an allen (drei) Landstrichen. Und zu Demengenossen machte er die Bewohner der einzelnen Demen, damit sie sich nicht mit Vatersnamen anredeten und (so) die Neubürger bloßstellten, sondern sich nach den Demen nannten. Daher nennen sich die Athener auch nach den Demen. Er setzte auch Demenvorsteher (Demarchen) ein mit derselben Befugnis wie früher die Naukraren, da er ja die Demen an die Stelle der Naukrarien gesetzt hatte. Er benannte aber die Demen teils nach Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
80
den Örtlichkeiten, teils nach den Gründern; denn nicht alle (von diesen) waren noch (?) mit den Orten verbunden. Aber die Familienverbände, Bruderschaften und Kultbräuche ließ er jeden beibehalten nach der Väter Sitte. Den Phylen wies er heroische Namengeber (Archegeten) zu, die die Pythia aus vorher ausgewählten hundert bestimmt hatte, zehn (an der Zahl). (Kap. 22) Nach diesen Maßnahmen wurde die Verfassung viel demokratischer als die Solons. Es ergab sich ja auch, daß Solons Gesetze durch die Tyrannis infolge Nicht-Anwendung außer Gebrauch gekommen waren, und daß Kleisthenes andere, neue erließ mit dem Blick auf die Menge, worunter auch das Gesetz über das Scherbengericht (den Ostrakismos) war. Zuerst nun, fünf Jahre nach diesem Verfassungswerk, unter dem Archen Hermokreon, führten sie für den Rat der Fünfhundert den Eid ein, den sie auch jetzt noch schwören. Dann wählten sie die Strategen nach Phylen, aus jeder Phyle einen; und über das Gesamtheer hatte der Polemarch den Oberbefehl. Danach im zwölften Jahre, unter dem Archontat des Phainippos, als sie die Schlacht bei Marathon gewonnen hatten und noch zwei Jahre vergangen waren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
und das Volk sich schon stark fühlte, da wandten sie das Gesetz über den Ostrakismos zum ersten Male an, das aus Mißtrauen gegen die Mächtigen geschaffen war, da sich Peisistratos als Volksführer und Stratege zum Tyrannen aufgeschwungen hatte. Ostrakisiert wurde als erster einer seiner Verwandten, Hipparchos, Sohn des Charmes aus dem Demos Kollytos; besonders um seinetwillen hatte Kleisthenes das Gesetz gegeben, da er ihn vertreiben wollte. Die Athener nämlich ließen die Tyrannenfreunde, soweit sie sich in den Wirren nichts hatten zuschulden kommen lassen, in der Stadt wohnen, in der beim Volke gewohnten Milde. Deren Anführer und Haupt war Hipparchos. Sogleich im nächsten Jahre, unter dem Archontat des Telesinos, bestimmten sie erstmalig seit der Tyrannis phylenweise durchs Bohnenlos die neun Archonten aus den von den Demenbewohnern vorgeschlagenen Fünfhundert. Die früheren (Archonten) waren alle gewählt worden. Und es wurde durch Ostrakismos verbannt Megakles, der Sohn des Hippokrates, aus Alopeke. So verbannten sie drei Jahre lang die Tyrannenfreunde, um derentwillen das Gesetz erlassen worden war. Darauf aber, im vierten Jahre, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
vertrieben sie auch andere, wenn ihnen einer zu mächtig zu sein schien, und zwar wurde als erster von denen, die der Tyrannis ferngestanden hatten, Xanthippos, der Sohn des Ariphron, ostrakisiert. Im dritten Jahre danach, unter dem Archontat des Nikodemos, als man in den Silbergruben von Maroneia fündig wurde und die Stadt einen Ausbeute-Überschuß von hundert Talenten erzielte, gaben einige den Rat, das Geld unter das Volk zu verteilen, Themistokles aber widersetzte sich dem, und ohne zu sagen, wofür er das Geld verwenden wollte, schlug er vor, jedem der hundert reichsten Athener ein Talent zu leihen und dann, wenn seine Verwendung gefiele, die Stadt mit der Ausgabe zu belasten, wenn jedoch nicht, von den Schuldnern die Summen einzufordern. Daraufhin erhielt er (das Geld) und ließ hundert Trieren bauen, wobei jeder der Hundert ein Schiff baute. Mit diesen kämpften sie bei Salamis gegen die Barbaren. In jener Zeit wurde ostrakisiert Aristeides, der Sohn des Lysimachos. Aber im vierten Jahre darauf, unter dem Archen Hypsichides, ließen sie alle Verbannten zurückkehren, wegen des Feldzuges des Xerxes. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
Für die Folgezeit bestimmten sie, daß die durch Ostrakismos Verbannten nicht diesseits (der Vorgebirge) Geraistos und Skyllaion Wohnung nehmen dürften: andernfalls würden sie unwiderruflich ihre politischen Rechte verlieren. (Kap. 23) Damals gedieh der Staat bis zu diesem Grade, zusammen mit der Demokratie allmählich erstarkend. Nach den Perserkriegen aber gewann wieder der Rat auf dem Areopag an Einfluß und lenkte die Stadt. Er hatte die Macht nicht durch förmlichen Beschluß erhalten, sondern dadurch, daß er für die Seeschlacht bei Salamis verantwortlich war. Als nämlich die Strategen der Lage ratlos gegenüberstanden und verkündet hatten, jeder möge sich selbst retten, brachte (der Rat) acht Drachmen für einen jeden auf, verteilte sie und bemannte so die Schiffe. Aus diesem Grunde also gaben sie seinem Ansehen nach, und das öffentliche Leben der Athener war auch in dieser Zeit wohlgeordnet; denn damals traf es sich, daß sie sich in der Kriegführung übten, bei den Hellenen in Ansehen standen und die Hegemonie zur See erlangten trotz den Lakedaimoniern. Es waren aber Vorsteher des Volkes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
80
PWG Bd. 11
Alfred Heuß: Herrschaft und Freiheit im
80
zu damaliger Zeit Aristeides, der Sohn des Lysimachos, und Themistokles, der Sohn des Meokles. Der eine galt im Kriegswesen, der andere in der Politik als besonders tüchtig und als einer, der unter den Zeitgenossen durch seine Gerechtigkeit hervorragte. Darum verwandten sie den einen als Feldherrn, den andern als Ratgeber. Die Errichtung der Mauern nun brachten sie gemeinsam zuwege, obgleich sie politische Gegner waren; aber den Abfall der Ionier vom Bündnis mit den Spartanern bewirkte Aristeides unter Ausnutzung des Verlustes an Ansehen, den die Lakonier durch Pausanias erlitten hatten. Daher war er es auch, der die ersten Tribute für die Städte festsetzte, im dritten Jahre nach der Seeschlacht bei Salamis, unter dem Archen Timosthenes, und der die Eide mit den Ioniern schwor, [daß sie Feind und Freund gemeinsam haben wollten, woraufhin sie auch die Metallklumpen ins Meer versenkten.]
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 129
Wolfgang Bauer
China Verwirklichungen einer Utopie
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 131
Die Entdeckung Chinas durch Europa Wert und Unwert historischer Gesamturteile In dem Kapitel »Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte«, das den letzten Teil seiner »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« bildet, spricht Jacob Burckhardt über die Ungeduld des Historikers, die ihn nicht selten dazu verleite, eine bestimmte Epoche in der Entwicklung eines Landes als glücklich oder unglücklich zu bezeichnen oder die Taten dieses oder jenen Volkes als heil- oder unheilbringend zu beurteilen. Diese »Ungeduld« sei aber im wesentlichen ein Zeichen der »Ignoranz«; denn eine genauere Kenntnis der Geschichte lasse meist die wechselseitige Verknüpfung »glücklicher« und »unglücklicher« historischer Ereignisse deutlich werden. Die Bewertung, die China im Lauf der Jahrhunderte in der abendländischen Welt erfahren hat, war – wohl notwendigerweise – in besonderem Maße von dieser »Ungeduld« des Historikers bestimmt, weil eben die Kenntnisse für ein wie immer geartetes Urteil nicht ausreichten und durch Einbildungskraft ersetzt werden mußten. Das gilt nicht nur für die verschiedenen Auffassungen über die glückliche oder unglückliche Rolle, die China als Ganzes in der Welt, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 131
oder die die eine oder andere Periode in der chinesischen Geschichte selbst spielte (so wurde zum Beispiel viel über die »Tragik« im Geschick des modernen China geredet), sondern ebenso für die Darstellung der Geschichte Chinas überhaupt. Gerade die Tatsache, daß China, das machtvollste Reich des »Fernen« Ostens, am weitesten von den Zentren westlicher Kultur getrennt entstand, konnte den Gedanken nähren, daß man durch diesen »Abstand« ein klareres Bild von den wesentlichen Faktoren der Geschichte gewinnen könne, als es dem Chinesen selbst oder auch dem Abendländer bei Betrachtung mancher Erscheinungen seiner eigenen Geschichte möglich sei. Dieser Gedanke mochte zwar ganz vereinzelt einmal zutreffen, in der Mehrzahl der Fälle jedoch führte er dazu, daß weniger versucht wurde, die chinesische Geschichte als solche zu verstehen, als vielmehr, sie als Vehikel für die verschiedensten Ideen zu benutzen. Und doch muß man sich fragen, ob diese »Ungeduld« des Historikers, die darauf ausgeht, eine allgemeine Formel, ein besonderes Charakteristikum für die Geschichte eines Volkes oder einer Epoche zu finden, nicht auch ihr Gutes habe. Nicht zuletzt ist ja die Herausschälung solcher Charakteristika das – vermutlich unerreichbare – Ziel einer jeden Beschäftigung mit der Geschichte. Das Ergebnis wird allerdings in einem Sinne immer »falsch« sein, denn unsere Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 132
historische »Ignoranz« wird sich nie selbst nur annähernd beseitigen lassen; es kann aber in einem anderen Sinn gleichzeitig vielleicht auch »richtig« sein, wenn es nämlich einige neue, bis dahin noch nicht erkannte Facetten des Geschichtsablaufs zum Aufleuchten bringt oder für eine altbekannte Erkenntnis neue Erklärungen bietet, die sie auf eine höhere Ebene heben. Ja selbst eine definitiv falsche Theorie, vehement vorgetragen, kann durch den Widerspruch, den sie mit Sicherheit erregen wird, neues Wissen zum Vorschein bringen. Ein allgemeiner Consensus über das Wesen einer historischen Einheit – sei es ein Volk oder eine Epoche – wird sich freilich nie erzielen lassen, ja er ist vielleicht nicht einmal erstrebenswert. Denn in der Tat »sagen wir alles, was wir von der Vergangenheit aussagen, von uns selbst aus« (E. Friedell). Unausweichlich werden daher alle historischen Darstellungen nicht nur nach der Zeit, in der sie entstehen, variieren, sondern auch nach der Persönlichkeit der einzelnen Historiker. Das Ausmaß, in dem sie voneinander abweichen, braucht also keineswegs von der unterschiedlichen Kenntnis historischer Fakten abhängen – obgleich dies natürlich einer der Gründe sein kann –; viel entscheidender ist, wer die Geschichte schreibt. In diesem Sinne hat jede wissenschaftliche Beschäftigung mit einem historischen Phänomen in sich wieder eine Geschichte. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 132
Die Entstehung des europäischen Chinabildes Die wechselvolle Geschichte der westlichen Sinologie – wie wir mit einem Kunstwort des frühen 19. Jahrhunderts die Chinawissenschaft im allgemeinsten Sinn benennen – ist nicht sehr alt, aber doch wesentlich älter als ihr Name. Sie war von jeher, gerade wegen des dem Altertum zugewandten Charakters der chinesischen Kultur, in all ihren Zweigen durch die historische Methodik bestimmt und spiegelt daher die Entwicklung der europäischen Vorstellungen von der Geschichte Chinas am besten wider. Der uns geläufige unscharfe Begriff »Orient« verschleiert zunächst eines der wichtigsten Merkmale dieser Entwicklung: daß sie nämlich so spät erst einsetzte. Anders als die Kulturen des Nahen Ostens und Indiens, die auf das Abendland ständig befruchtend einwirkten und dort auch einen festen Begriff darstellten, blieb nämlich die ostasiatische Hochkultur bis in die jüngste Zeit hinein ohne Verbindungen zu Europa. Nicht die ominöse »Chinesische Mauer«, die später in Europa fälschlich geradezu zum Symbol steifköpfiger kultureller Eigenbrötelei der Chinesen wurde, sondern natürliche Hindernisse zwischen den beiden Hemisphären – die schier unendlichen Steppen und gefährlichen Gebirgszüge Mittelasiens – waren es, die einen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 132
direkten ideellen und materiellen Austausch verhinderten. Die klassische Antike und das frühe Mittelalter besaßen jedenfalls, im Gegensatz zu den Arabern, die durch den Seehandel in unmittelbare Berührung zu Ostasien kamen, gar keine oder nur sehr unbestimmte Vorstellungen von China. Man kannte es allenfalls als Herkunftsland der Seide, aber auch hierin war man sich nicht ganz sicher: der Begriff »Serer« (Seres) wurde unterschiedslos ebenso auf die Chinesen selbst angewendet wie auf die zahlreichen Völker, die als Zwischenhändler den Transport der Seide durch ganz Asien organisierten. Bezeichnend für die Selbstgenügsamkeit beider Kulturen, der europäischen wie der ostasiatischen, in der damaligen Zeit war es, daß die ersten unmittelbaren Kontakte weder den Europäern noch den Chinesen zu danken waren, sondern den Mongolen, die im 13. Jahrhundert durch die Gründung ihres Weltreiches und die Einrichtung eines glänzenden Nachrichtenund Transportsystems für eine begrenzte Frist die Weite Innerasiens überwanden. Die Ergebnisse dieser direkten Berührung waren letzten Endes jedoch überraschend spärlich, zumindest was die Kenntnis der chinesischen Geschichte angeht. Das lag vor allem daran, daß die westlichen Reisenden wohl hauptsächlich mit ihren mongolischen Gastgebern verkehrten, die als Besatzungsmacht weitgehend in einer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 133
selbstgewählten Isolierung von der chinesischen Bildungsschicht lebten. Marco Polo gab daher zwar seine aufsehenerregenden Schilderungen von der Pracht des Landes »Cathay«, die Eigentümlichkeit der chinesischen Schrift aber, die allein ja den Schlüssel zu jeder historischen Forschung bildet, übersah er völlig. Erst der Franziskaner-Frater Wilhelm Rubruk, der 1253 bis 1255 als Abgesandter des Königs von Frankreich Ostasien besuchte, machte auf sie aufmerksam – dreihundert Jahre nach den Arabern –, aber auch er hatte noch keinen Begriff von den Dimensionen der chinesischen Geschichte. Im Grunde war das abendländische Denken dieser ungeheuren, von außen herangetragenen Erweiterung des Weltbildes noch nicht gewachsen. Das ergibt sich schon aus den wundersamen Beschreibungen von phantastischen Weltrandvölkern, die sich noch bei Marco Polo gelegentlich in die sonst realistische Darstellung einschleichen. Als daher die Ost-West-Verbindung mit dem Zerfall des Mongolenreiches abriß, geriet auch das Interesse an China rasch wieder in Vergessenheit. Die zweite Entdeckung Chinas stand bereits unter dem Zeichen der europäischen Erforschung und Eroberung der Welt. Sie geschah zu Beginn des 16. Jahrhunderts zunächst durch portugiesische und spanische, später holländische und englische Kaufleute. Die Berichte von einer Europa ebenbürtigen Kultur – Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 133
»di nostra qualità«, wie sich der Seefahrer Andreas Corsali in einem Brief 1515 ausdrückte – wurden zwar wie zu Marco Polos Zeiten mit Skepsis und Verwunderung aufgenommen, sie führten diesmal aber durch den ernsten Fleiß der Jesuitenmissionare, die als erste die Kaufleute auf ihrer gefahrvollen Reise nach dem Osten begleiteten, zu einer wissenschaftlichen, wenngleich nicht ganz zweckfreien Chinaforschung. Die Identität des Seidenlandes »Sina« der Antike und des »Cathay« des Marco Polo mit diesem neu entdeckten Reich wurde allerdings erst vergleichsweise spät durch die von Nordindien ausgehende Überlandreise des portugiesischen Missionars Benito de Goës 1602 bis 1605 nachgewiesen. Um diese Zeit aber hatten schon längst andere Jesuitenmissionare durch ihre naturwissenschaftlichen Kenntnisse am Hof der einheimischen Ming-Dynastie festen Fuß gefaßt und die Vermittlerrolle zwischen China und dem Abendland übernommen. Viel besser als den Patres dreihundert Jahre früher, und besser auch als den anderen christlichen Orden (Dominikanern und Franziskanern), die sich mehr der Missionierung der einfachen Volksschichten zuwandten, gelang es ihnen, mit der chinesischen Bildungsschicht, den LiteratenBeamten, ins Gespräch zu kommen und sich bei ihnen über die Geschichte des Landes zu informieren. Während sie die Chinesen mit den Grundlagen der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 133
europäischen Mathematik und Physik vertraut machten und dabei mitunter wichtige Ämter (etwa als Hofastronomen) errangen, gaben sie Europa in umfangreichen Darstellungen, Briefen und Übersetzungen den ersten differenzierten Eindruck vom Geistesleben Chinas. In dieser Frühzeit der Jesuitenmission, die am eindrucksvollsten in der Gestalt Matteo Riccis (15521610) repräsentiert ist, finden sich bereits nicht nur Schilderungen nach der Art von Reisebeschreibungen (wie Trigaults berühmtes Buch De christiana expeditione apud Sinas, Lyon 1616), sondern auch schon eindeutig historische Werke, allen voran J. Gonzales de Mendoza Historia de las cosas mas notables, ritos y costumbres del Gran Reyno de la China, das zuerst 1585 in Rom erschien und an das allerälteste europäische Werk anknüpfen konnte, das auch die chinesische Geschichte streifte: die postum erschienene »Geographie« des portugiesischen Hofbeamten João de Barros (1496-1570). Die Ablösung der Ming-Dynastie durch die manchurische Fremd-Dynastie der Ch'ing im Jahre 1644 beeinträchtigte die fruchtbare Arbeit der Jesuiten keineswegs, weil sich die Manchus – anders als die Mongolen – den Chinesen kulturell rasch assimilierten. So wurden auch im 17. und 18. Jahrhundert zahlreiche, zum Teil prachtvoll ausgestattete Werke über die verschiedensten Aspekte der chinesischen Kultur veröffentlicht, bis Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 134
1769 in einer Schrift bereits die Behauptung aufgestellt werden konnte, daß »man China besser kenne als einige Provinzen Europas«. Diese »Sinomanie« vor allem des 18. Jahrhunderts, die sich bekanntlich auch in der Kunst (Chinoiserien und ähnliches) niederschlug, war zugleich Ursache und Folge einer maßlosen Idealisierung Chinas, die ihrerseits wieder verschiedene Gründe hatte: Auf der einen Seite scheinen die Jesuiten tatsächlich tief von dem Vorhandensein jener scheinbar natürlich gewachsenen konfuzianischen Sittenordnung beeindruckt gewesen zu sein. Die Lehre des Konfuzius, dieses wie sie ihn einmal nannten, sapientissimus et moralis philosophiae pariter ac politicae magister et oraculum, den sie aus ihrer Stellung bei Hofe als fast einzige Gestalt der chinesischen Geistesgeschichte in den Blick bekamen, schien ihnen ein Zeugnis unverschütteter natürlicher Offenbarung. Selbst ihre Auffassung vom Gang der chinesischen Geschichte ordnete sich dieser Überzeugung unter. So schrieb zum Beispiel Matteo Ricci: »Unter allen in Europa bekannten Heidenvölkern kenne ich keines, das in den frühesten Tagen seiner Vergangenheit weniger in Irrtümer verfallen ist als das chinesische... Man darf zuversichtlich hoffen, daß mit der Gnade Gottes viele der alten Chinesen im Naturgesetz die Erlösung fanden,... die niemandem versagt wird, der sich nach der Erkenntnis Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 134
seines Gewissens darum bemüht. Daß sie danach strebten, ist deutlich durch ihre mehr als viertausendjährige Geschichte bezeugt, die in der Tat einen Bericht von guten Taten darstellt, vollführt zum Nutzen des Landes und des Allgemeinwohls.« Dieses (wie R. Dawson schreibt) möglicherweise auch aus missionspropagandistischen Gründen idealisierte Bild des konfuzianischen China hatte nun in Europa nicht nur die beabsichtigte erbauliche Wirkung im Rahmen des Katholizismus, sondern es lieferte unvermutet auch den Vertretern der Aufklärung eine Waffe, den Beweis nämlich für die Möglichkeit eines vorbildlich funktionierenden Staates, der sich auf eine durch Vernunft und nicht durch göttliche Offenbarung gewonnene »natürliche« Ethik gründete. Unter den führenden Gestalten des 18. Jahrhunderts begeisterten sich vor allem Voltaire und Leibniz für die konfuzianischen Lehren des großen Reiches im Osten, die seit 1662 auch bereits in Übersetzungen bekannt wurden. In seinem Essay sur les Mœrs schreibt Voltaire: »Man muß nicht auf das Verdienst der Chinesen versessen sein, um doch anzuerkennen, daß die Einrichtung ihres Reiches in Wahrheit die vorzüglichste ist, die die Welt je gesehen hat.« Und Leibniz vertrat in seinen Novissima Sinica (1697) die Ansicht: »Derart scheint mir die Lage unserer Verhältnisse zu sein, daß ich, da die Sittenverderbnis ins Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 135
Unendliche anschwillt, es fast für notwendig halte, daß chinesische Missionare zu uns geschickt werden, welche uns den Zweck und die Übung der natürlichen Theologie lehren, wie wir Missionare zu ihnen schicken, um sie in der geoffenbarten Theologie zu unterrichten« (nach A. Reichwein, »China und Europa im 18. Jahrhundert«). Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß somit die aus Missionseifer erwachsene Kunde vom Reich der Mitte in Europa eine in umgekehrter Richtung wirkende Bewegung förderte, die in ihrer Ausbreitung dem Erfolg der Jesuiten in China zumindest ebenbürtig war. Nur in dieser Atmosphäre einer aus zwei völlig gegensätzlichen Motiven herrührenden Chinabegeisterung konnten solche vielbändigen Monumentalwerke entstehen wie J. B. du Haldes Description de l'Empire de la Chine (1735), Lettres édifiantes et curieuses (1702-1776), Mémoires concernant l'Histoire, etc. des Chinois (1776-1814) und J.A.M. de Moyria de Maillac Histoire générale de la Chine (1777-1783). In diesen immer noch lesenswerten Untersuchungen trat, wie zum Teil schon die Titel erkennen lassen, die Geschichte mehr und mehr in den Mittelpunkt. Vor allem das letztgenannte, annalistisch angelegte Werk hatte wegen seiner selbst heute kaum erreichten Stoffülle einen ungeheuren Einfluß; noch bis in die Anfänge unseres Jahrhunderts diente es – genannt oder ungenannt – vielen Gesamtdarstellungen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 135
der chinesischen Geschichte zur Grundlage. Gerade dieses Werk aber, das eigentlich nichts anderes ist als die freie Übersetzung eines umfassenden chinesischen Geschichtswerkes, illustriert ausgezeichnet den dritten Grund für die Festlegung des Westens auf gewisse Klischeevorstellungen; er hatte nichts mit der Geisteshaltung des damaligen Europa zu tun, sondern direkt mit dem Wesen der Sinologie als Wissenschaft. Während nämlich andere Fächer der »Orientalistik« im wesentlichen europäische Schöpfungen sind, ist die Sinologie, und hier wieder ganz besonders der historiographische Zweig, in China selbst erwachsen; die chinesische Geschichtswissenschaft (einschließlich der Geschichtskritik) bestand schon viele Jahrhunderte, als Matteo Ricci die europäische Sinologie begründete. Nicht nur in der Beherrschung von Sprache und Schrift waren daher die europäischen Sinologen den chinesischen zunächst hoffnungslos unterlegen, sondern auch im Ordnen und in der kritischen Behandlung des vorgelegten Schrifttums. Der ideographische Charakter der Schrift erforderte bei der philologischen Arbeit auch ganz andere Methoden, als sie in den europäischen Philologien bis dahin entwickelt worden waren. Vor allem aber bot die überreiche, bereits seit dem 10. Jahrhundert v. Chr. im Druck verbreitete Literatur keinen Ansatzpunkt für das eher analytische europäische Denken, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 135
das sich etwas später auf anderen Gebieten der Orientalistik in Schriftentzifferungen und Texteditionen so glänzend bewährte. Die europäischen Sinologen hatten keine Literaturwerke ans Licht zu ziehen oder zu rekonstruieren, sie befanden sich viel eher in der Gefahr, in der unübersehbaren Masse des Stoffes zu ertrinken. So wurde ihnen der Ariadnefaden chinesischsinologischer Werke – vornehmlich in Gestalt von Enzyklopädien, Anthologien und ähnlichen Kompendien – schlechthin unentbehrlich, desgleichen oft auch die direkte Hilfe chinesischer Literaten. Nicht zufällig ist bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Mehrzahl der großen sinologischen Werke europäischer Gelehrter in China selbst entstanden. Erst viel später, zum Teil erst zu Beginn unseres Jahrhunderts, trat indes zutage, daß durch diese zwangsläufige Vernachlässigung der Primärquellen nicht das unmittelbare Bild Chinas nach dem Westen übertragen worden war, sondern nur ein recht verengtes Idealbild, wie es sich die konfuzianische Literatenschicht selbst entworfen hatte. Eine Reaktion auf diese Überbewertung Chinas konnte nicht ausbleiben. Schon bei Rousseau begegnen wir leidenschaftlicher Ablehnung. Für seine Überzeugung, daß die Kultur die Sitten verdürbe, scheute er sich nicht, gerade China als Beispiel heranzuziehen. »Wenn die Wissenschaften wirklich die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 136
Sitten reinigten«, so schrieb er, »wenn sie wirklich die Menschen lehrten, ihr Blut fürs Vaterland hinzugeben, wenn sie den Mut belebten, dann müßten die Völker Chinas weise, frei und unbesiegbar sein. Aber es gibt kein Laster, das sie nicht beherrschte, kein Verbrechen, das nicht unter ihnen verbreitet wäre. Wenn weder die Vernunft der Minister noch die angebliche Weisheit der Gesetze noch auch die zahllose Menge der Menschen in diesem Reich vor dem Joch grober und unwissender Barbaren (gemeint sind die Manchus) schützen konnte, wozu haben ihm dann all seine Weisen gedient?« (nach A. Reichwein). Hier zeichnet sich bereits in charakteristischer Weise der jähe Umschwung in der Beurteilung Chinas ab; das Pendel schwang in die entgegengesetzte Richtung, dem Staunen folgte der Zweifel. Die eigentliche Ursache hiervon bestand darin, daß allmählich ein anderer Personenkreis Europa über den Fernen Osten zu informieren begann: Im »Ritenstreit« zu Anfang des 17. Jahrhunderts konnten sich die Jesuiten mit ihrer Auffassung, daß das Christentum in einer den Konfuzianismus und Ahnenkult tolerierenden Form verbreitet werden müsse, gegenüber dem Vatikan nicht durchsetzen. Die seit 1723 vertretene puristische Form des Christentums schwächte die Mittlerstellung der Jesuiten nach beiden Seiten hin entscheidend. Als dann der Orden 1773 gänzlich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 136
aufgehoben wurde, hatten bereits mehrere Christenverfolgungen der mißtrauisch gewordenen chinesischen Obrigkeit auch das Urteil der Missionare selbst nüchterner werden lassen. In dem so entstandenen Vakuum konnten sich nun die schon von jeher kritischen Ansichten der Kaufleute ungehindert ausbreiten. In einem zeitgenössischen französischen Brief heißt es zum Beispiel: »Herr S. ist nicht der einzige, der den Berichten der Missionare durchaus nicht traut, obgleich sie natürlich die Sitten, Gesetze und Gebräuche dieses Landes besser kennen müßten, da sie sich ja lange dort aufgehalten haben. Seit einiger Zeit ist es üblich, ihren Zeugnissen auch die solcher Reisender vorzuziehen, die das Land nicht durchquert und sich mit dem Volk nur durch Zeichen und Dolmetscher verständigt haben.« Diese Tendenz wurde weiter dadurch verstärkt, daß sich mit der Entwicklung der Technik die Kräfteverhältnisse zwischen China und dem Abendland immer mehr zuungunsten Chinas verschoben, so daß das Land in zunehmendem Maße als Objekt der Wirtschaftspolitik und des expansiven Imperialismus – und damit vielleicht unbewußt doch als Gegner – betrachtet wurde. Endlich ließ auch die wieder erwachende Begeisterung für die griechisch-römische Antike das Bild von China verblassen. Bezeichnend hierfür ist ein Ausspruch Goethes, der sich eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 136
Zeitlang (vor allem in den Jahren 1813-1815 und 1827 bis 1828) mit chinesischen Studien befaßt hatte: »Möge das Studium der römischen und griechischen Literatur immerfort die Basis der höheren Bildung bleiben... Chinesische, indische, ägyptische Altertümer sind immer nur Kuriositäten; es ist sehr wohlgetan, sich und die Welt damit bekannt zu machen, zur sittlichen und ästhetischen Bildung aber werden sie uns wenig fruchten.« Die wissenschaftliche Beschäftigung mit China und seiner Geschichte blieb indes, trotz der Niederlage des Jesuitenordens, zunächst weiter in der Hand der Missionare, freilich nicht mehr der katholischen allein, sondern auch der evangelischen, die seit 1840 von England (später auch Amerika) aus Missionen gründeten und das Land in einem völlig anderen Licht sahen: China, das damals freilich bereits in langsamer Auflösung begriffen war, erschien ihnen keineswegs mehr als das von einer natürlichen Offenbarung geordnete Reich, das die Jesuiten darin erblickt hatten, sondern als ein wegen seiner heidnischen Religion gerechterweise dem Westen unterlegenes, von innerer Fäulnis befallenes Land, dessen einzige Rettung in der Bekehrung zum Christentum liegen konnte. Selbst Konfuzius wurde nicht von herber Kritik verschont: So schrieb der englische Missionar James Legge, der sich gerade durch seine bahnbrechenden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 137
Übersetzungen der konfuzianischen Klassiker (London 1860-1872) höchste Verdienste erwarb: »Ich hoffe, daß ich ihm (Konfuzius) nicht Unrecht getan habe. Aber nachdem ich mich lange Zeit mit seinem Charakter und seiner Persönlichkeit beschäftigt habe, sehe ich mich außerstande, ihn als einen großen Mann zu betrachten.... Auf keines der Probleme, die weltweites Interesse beanspruchen können, warf er neues Licht, er gab der Religion keinerlei neue Impulse, er war kein Freund des Fortschritts. Der Einfluß, den er hatte, ist verwunderlich, aber er wird in Zukunft schwinden.« An die Seite der Missionare traten jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts auch andere Chinaforscher. Vor allem waren es manche Konsulatsbeamte und gebildete Kaufleute, die ausgezeichnete Untersuchungen, nicht zuletzt auf dem Gebiet der chinesischen Geschichte, vorlegten. Viel entscheidender noch war aber die durch Gelehrte wie Abel Rémusat und H. J. Klaproth ins Leben gerufene akademische Sinologie, die schon Leibniz (wenn auch vergeblich) in seiner Berliner »Sozietät der Wissenschaften« angestrebt hatte. Sie läßt sich in ihren Anfängen, aber auch später noch, nicht ganz klar von der »Laien-Sinologie« der Missionare, Konsulatsbeamten und Kaufleute trennen, weil sie oft mit dem Unterricht an staatlichen Sprachschulen oder Missionsschulen verbunden war Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 137
und nicht selten ihre ersten Repräsentanten ursprünglich dem Personenkreis der »Laien-Sinologie« angehört hatten, wie etwa Legge, der 1875 die Sinologie an der Universität Oxford begründete. Der wesentliche Unterschied bestand aber darin, daß die akademische Sinologie zwangsläufig in Europa betrieben werden und dadurch weitgehend ohne chinesische Hilfe auskommen mußte. Das Erscheinen vieler Wörterbücher, Grammatiken, aber auch biographischer und bibliographischer Nachschlagewerke seit der Errichtung des ersten europäischen Lehrstuhls für Sinologie 1814 in Paris am Collège de France legt davon beredtes Zeugnis ab. Die Früchte dieses beharrlichen Gelehrtenfleißes, der die Chinawissenschaft vom Lettré unabhängig machte und ihr den Zugang zu den Primärquellen eröffnete, begannen um die Wende des 19. Jahrhunderts zu reifen, als eine ungleich erweiterte Literaturkenntnis, planvolle Grabungen und neue, aus der westlichen Wissenschaftsmethodik gewonnene Fragestellungen das bisherige Bild von der Geschichte Chinas allmählich umgestalteten. Dieser Prozeß, der etwa mit dem französischen Sinologen E. Chavannes (1865-1918) anhebt und im Grunde auch heute noch nicht abgeschlossen ist, wirkte in ungemein fruchtbarer Weise auch auf die ostasiatische sinologische Geschichtswissenschaft zurück. In erstaunlicher Schnelligkeit kombinierten zuerst Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 138
japanische (Kuwabara Jitsuzo und andere) und dann chinesische (Hsi Tseng-yu und andere) Gelehrte westliche Forschungsmethoden mit den traditionell überkommenen und gelangten damit zu brillanten Ergebnissen, die wiederum die westliche Sinologie anregten. Das Schwergewicht der Forschung liegt denn auch heute, nachdem vor allem der letzte Weltkrieg die Arbeitsbedingungen der Missionen, Gesandtschaften und Handelsgesellschaften entscheidend eingeengt hat, mehr denn je bei der akademischen Sinologie. Chinas Rolle in universalhistorischen Theorien Überraschenderweise ist jedoch – zumindest bis vor ganz kurzem – das neue von der Fachwissenschaft beider Hemisphären erarbeitete, zwar bei weitem nicht vollständige, aber doch immerhin bereits differenziertere Chinabild in der Öffentlichkeit fast unbekannt geblieben. Das liegt nur zum Teil an der bekannten Scheu vieler Gelehrter, ihr Wissen populär zu machen. Vielmehr scheint das im 18. und 19. Jahrhundert gewonnene Chinabild trotz oder wohl besser wegen seiner Widersprüchlichkeit auch heute noch eine besondere Faszinationskraft auszuüben. Ein weiteres Moment, in dem sich, wie so oft, Ursache und Wirkung berühren, besteht darin, daß die geschichtsphilosophischen Arbeiten des 19. und frühen 20. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 138
Jahrhunderts, die naturgemäß eine sehr große Breitenwirkung besaßen, hinsichtlich Chinas direkt oder indirekt noch auf den unter chinesischem Einfluß geschriebenen Veröffentlichungen der Jesuiten beruhten; es ist dabei interessant festzuhalten, daß wiederum manche von ihnen, ins Chinesische übersetzt, viele modernere Chinesen bei der Beurteilung der Geschichte ihres eigenen Landes leiteten. Den nachhaltigsten, wenngleich hauptsächlich indirekten Einfluß übten die Ansichten Hegels (in »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte«) aus. In seiner universalhistorischen Theorie von der allmählichen Entfaltung von Geschichte und Staatsidee sieht er den Beginn der Weltgeschichte (ein Ex oriente lux in abgewandelter Form) im Fernen Osten anheben. China bedeutet für ihn – nicht etwa bloß in einer bestimmten Periode seiner Vergangenheit, sondern in seiner ganzen »Geschichte«, die Gegenwart mit eingeschlossen – der sich »im Kindesalter der Geschichte« befindliche Staat, dem dann zunächst mit Griechenland das »Jünglingsalter«, mit Rom das »Mannesalter« folgt. Ähnlich also wie das Dasein des Kindes noch ausschließlich vom unhistorischen Naturablauf bestimmt sei, so sei China wie auch die anderen Reiche Asiens im Grunde noch geschichtslos. Hegel ordnete in diese Gruppe bewußt sowohl China als auch Indien ein, obwohl, ja gerade weil er sich über das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 138
diametral entgegengesetzte Geschichtsbewußtsein beider Kulturbereiche völlig im klaren war: »Die Chinesen«, so schreibt er, »haben die genaueste Geschichte ihres Landes... Das Gegenteil ist in Indien der Fall.« Und doch: »China und Indien liegen gleichsam noch außerhalb der Weltgeschichte, als die Voraussetzung der Momente, deren Zusammenschließung erst ihr lebendiger Fortgang wird.« Was China betraf, so konnte er seine angebliche Geschichtslosigkeit freilich nur durch die Formulierung eines Paradoxes aufrechterhalten; de Maillas schon erwähnte MonsterÜbersetzung eines chinesischen Geschichtswerkes, das aus der verengten Weltansicht der Konfuzianer geboren worden war und ursprünglich innerhalb Chinas die Unwandelbarkeit der konfuzianischen Staatsidee historisch belegen sollte, lieferte ihm dafür die Grundlage. So entdeckte er in China »den ältesten Staat, der doch keine Vergangenheit« hat, »ebenso heute existiert, wie wir ihn in alten Zeiten kennenlernen«, und »insofern eigentlich keine Geschichte« besitzt. Diese Auffassung Hegels hatte etwas Bestechendes, auch dann, wenn man seine universalhistorische Theorie als Ganzes ablehnte. Denn sie exkulpierte sowohl den Historiker, der den gesamten riesigen Komplex der chinesischen Geschichte außer acht ließ, als auch den, der aus der Kenntnis einer kurzen Periode Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 139
(etwa des relativ oft dargestellten Jahrhunderts des Konfuzius oder der zeitgenössischen Politik) allgemeine Schlüsse ziehen wollte. Unzählige »Weltgeschichten«, in denen China entweder völlig fehlt oder mit anderen »orientalischen« Kulturen als eine Art Vorspiel zur Menschheitsgeschichte figuriert, übernahmen hier unbewußt die Ideen Hegels. Ja selbst Ranke war überzeugt, daß man die »innere Bewegung der Weltgeschichte« nur an den europäischen Nationen und nicht an den orientalischen Völkern des »ewigen Stillstands«, zu denen er auch China rechnete, beobachten könne. Viel folgenreicher war indessen der Einfluß der Hegelschen Theorie auf Marx, der ja dessen historisches Ablaufschema weitgehend übernahm, wobei er allerdings an die Stelle der Selbstverwirklichung einer Idee als der treibenden historischen Kraft die Wandlungen der Ökonomie setzte. Das erste der fünf von ihm angenommenen Stadien der Menschheitsgeschichte entsprach Hegels Auffassung von den im »Kindesalter« befindlichen orientalischen Völkern, ja es wurde ursprünglich auch ausdrücklich als die auf der »asiatischen Produktionsweise« (charakterisiert durch große, staatlich gelenkte Arbeiten, Bürokratie, Dorfkommunen und Gewaltherrschaft) beruhende Gesellschaftsform bezeichnet. Als in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts der Marxismus in Ostasien Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 139
Fuß zu fassen begann, ergab sich die Notwendigkeit, diesen Begriffskomplex unter den Marxisten selbst neu zu überdenken. Während die europäischen unter ihnen die Einordnung – mit oder ohne Annahme des Gesamtschemas – zunächst noch im wesentlichen akzeptierten, freilich unter Heranziehung ungleich reicheren und moderneren Materials, lehnten sie die chinesischen und japanischen (denen sich dann auch die Parteiführung in Moskau anpaßte) gefühlsmäßig von vornherein ab; denn sie konnten sich verständlicherweise aus nationalen Gründen weder mit der Auslegung abfinden, erst am Anfang dieses postulierten historischen Prozesses zu stehen, noch viel weniger aber damit, an der gesamten Evolution überhaupt nicht teilzunehmen. So weist E. G. Pulleyblank mit Recht auf die wichtige Tatsache hin, daß »1927 das Zentralkomitee der KPG noch verkündete, daß es die ›asiatische‹ Gesellschaft bekämpfe, was in darauffolgenden Jahren in ›feudale‹ revidiert wurde«, und daß »in ähnlicher Weise Dr. Kuo Mo-jo, dessen Theorien im heutigen China als orthodox gelten, zuerst erklärte, China befände sich in einem Stadium der ›primitiven‹ (einem anderen Ausdruck für ›asiatischen‹) Gesellschaft, wenig später aber sich eines Besseren besann und in der chinesischen Geschichte dieselben einander ablösenden Stadien entdeckte, die es nach marxistischer Auffassung in der westlichen Geschichte gab.« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 140
Das Problem ist innerhalb der marxistischen Bewegung bis heute noch keineswegs eindeutig geklärt, ja es hat, bisher freilich noch nicht offen ausgesprochen, in unseren Tagen sogar an Brisanz gewonnen. Die scheinbare Unbeweglichkeit der chinesischen Geschichte konnte aber auch anders gedeutet werden, als Hegel es getan hatte: nicht als ein Uranfang, der schließlich an einer Stelle die historische Bewegung entließ, sondern umgekehrt als »Erstarrung«, das heißt als das Endstadium einer früher stattgehabten Bewegung. Diese Idee wurde im Rahmen einer universalhistorischen Theorie zuerst von Spengler (in »Untergang des Abendlandes«) vertreten. Ihr Vorzug bestand vor allem darin, daß sie der chinesischen Kultur als einer unter vielen aufblühenden und abwelkenden »Kulturseelen« wenigstens das Eigenleben echter Geschichtlichkeit zugestand, ein Leben freilich, das nach Spengler schon mit dem Ende der Han-Zeit zu Ende gegangen war und die Kultur seitdem nur in einem gleichsam mumifizierten Zustand hatte weiterbestehen lassen. Das Unbefriedigende, das dieser Ausdeutung immer noch anhaftete, wurde von Toynbee, der mit seiner Kultur-»Phänomenologie« an Spenglers »Morphologie« anschloß, deutlich empfunden. Er sah daher die Geschichte Ostasiens in zwei in sich geschlossenen Lebensbogen verlaufen, von denen der erste (Sinic Civilization) sich auf China Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 140
beschränkte und mit der Han-Dynastie abschloß, der zweite, (Far Eastern Civilization) den gesamten durch den Buddhismus zu einer Einheit verschmolzenen Fernen Osten umfaßte und ungefähr bei der Berührung mit Europa zu Ende ging. Aus dem Vergleich dieser Ansichten wird bereits eines deutlich: Die Mythe vom »ewigen Stillstand« der chinesischen Geschichte hat sich unter dem Eindruck einer besseren Kenntnis allmählich immer mehr verflüchtigt. Eine Überzeugung aber blieb doch hartnäckig bestehen: daß sich nämlich China, im Gegensatz zu Europa, in den letzten Jahrhunderten seiner Geschichte langsamer entwickelt habe als in den früheren, ja daß deswegen sogar – wie es Max Weber in seinen »Aufsätzen zur Religionssoziologie« formulierte – »je weiter zurück man in der Geschichte gehe, desto ähnlicher die Chinesen und ihre Kultur dem erschienen, was man auch bei uns fände«. Es erhebt sich die Frage, ob dieser Beobachtung lediglich die Tatsache zugrunde liegt, daß die chinesische Kultur mit der westlichen zwar die »Achsenzeit« (Jaspers) um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends gemeinsam hatte, nicht aber mehr das wissenschaftlich-technische Zeitalter, oder ob nicht wirklich, auch ohne Relation zur europäischen Geschichte, eine Verlangsamung des historischen Geschehens im neueren China eintrat. Die Beantwortung dieser Frage Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 140
hängt zunächst von einer anderen ab, ob nämlich unser Wissen von den einzelnen Perioden der chinesischen Geschichte im großen Ganzen ausgeglichen ist, denn nur dann wäre ja ein Vergleich zwischen den verschiedenen Epochen möglich. Diese Frage muß man im wesentlichen verneinen. Es läßt sich nicht einmal behaupten, daß – was in diesem Zusammenhang wichtig wäre – die späteren Jahrhunderte besser durchforscht seien als die früheren. Der Historiker, der sich mit der chinesischen Geschichte beschäftigt, hat nämlich mit einem eigenartigen Phänomen zu kämpfen, das für alle ihre Perioden, namentlich aber für die letzten gilt: ihm stehen, um es einmal überspitzt zu formulieren, nicht zuwenig, sondern zu viele Quellen zur Verfügung. Aus diesem Grunde ist zum Beispiel die Ming-Dynastie in vieler Hinsicht weit mehr eine terra incognita als etwa die Han-Dynastie, obwohl von ihr sogar noch die staatlichen Regestensammlungen (Shih-lu) erhalten sind. Immer wieder muß sich der Historiker mit den – oft durchaus nicht objektiven – Sekundärquellen begnügen, auch wenn ihm Primärquellen zu Gebote stehen, weil er sonst mit keiner auch nur ein wenig breiter angelegten Fragestellung zu einem Ende käme. Das trifft um so mehr zu, als sich ihm (was übrigens für den chinesischen Sinologen nicht minder gilt als für den nichtchinesischen) auch noch Sprachschwierigkeiten in den Weg Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 141
stellen. Der Einwand, daß man eine Verlangsamung des Bewegungsablaufs in der Geschichte des neueren China nur deshalb festzustellen glaube, weil man über sie weniger wisse als über die des älteren, ist also nicht gar so absurd, wie er zunächst erscheint. Auf der anderen Seite lassen sich aber auch recht starke, objektive Kriterien anführen, die für eben diese Theorie sprechen: So etwa die Tatsache, daß nach Gründung des Sung-Kaiserhauses das Reich nie mehr in Einzelteile zerfiel und daß alle Dynastien sich seitdem als relativ langlebig erwiesen; sie konnten offenbar nur noch durch Fremderoberungen oder umgekehrt durch nationale Erhebungen gegen die Fremdherrschaft gestürzt werden, nicht mehr durch einheimische Kräftegruppen, die sich gegen andere, ebenfalls einheimische, stellten. Im Zentrum der Probleme, die die chinesische Geschichte aufgibt, steht also immer noch oder immer wieder das Rätsel ihrer Bewegung und das ihrer Verharrung. Daß Chinas Geschichte an einer Entwicklung teilhatte, wird in unseren Tagen niemand mehr bestreiten, ja es wird das neuerdings so unablässig betont, daß man dabei vielleicht wieder gerade das Spezifische der chinesischen Kultur aus den Augen zu verlieren beginnt. Denn auch das alte Mißverständnis vom Stillstand der chinesischen Geschichte war nicht von ungefähr entstanden, und wenn wir heute wissen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 141
daß sich darin bloß eine Idealvorstellung der konfuzianischen Literaten-Beamten spiegelte, so bleibt doch noch immer dieses Ideal als interessantes Phänomen zu deuten übrig. Eine wirkliche »Summa« aus der chinesischen Geschichte zu ziehen, wäre heute, da mit unserer erhöhten Kenntnis auch das Bewußtsein unserer faktischen Unkenntnis um ein Vielfaches zugenommen hat, freilich noch ungleich verwegener als vor einem Jahrhundert, und im Grunde nur das Zeichen jener Ungeduld und Ignoranz, von der eingangs die Rede war. Es soll genügen, einige Erscheinungen zu betrachten und zu überdenken.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 141
Die Tendenz zur Verharrung Sprache, Zeitbegriff und historisches Argument Nicht nur der Einfluß konfuzianischer Historiographie, auch die Konfrontierung mit dem Alter der chinesischen Kultur überhaupt begründete und festigte den Glauben an die Geschichtslosigkeit der chinesischen Geschichte – als sei auch in diesem Bereich die Zeit das Maß der Bewegung. Tatsächlich ist die chinesische Kultur die älteste der Erde, nicht die am frühesten entstandene, aber die am längsten bestehende und immer noch lebendige, nicht etwa bloß künstlich wieder zum Leben erweckte wie etwa die griechische oder die ägyptische. Diese wahrhaft staunenswerte Kontinuität läßt sich primär auf zwei Ursachen zurückführen, von denen dann wieder eine Reihe sekundärer abhängen: die Sprache und die geographische Lage. Das Chinesische ist bekanntlich, in vielem auch heute noch, eine monosyllabische und »isolierende« Sprache. Die Einsilbigkeit hat für die Entwicklung der Kultur keine bisher deutlich erkennbaren Folgen gehabt, um so mehr aber die wahrscheinlich damit zusammenhängende »Isolation«. Es ist damit gesagt, daß die Gestalt der Wörter durch die Rolle, die sie in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 142
einem Sinnzusammenhang (etwa einem Satz) spielen, völlig unberührt bleibt: ohne Endungen, Präfixe, Flexionen steht ein schweres, volles Wort – jedes den Kosmos all seiner Bedeutungsmöglichkeiten in sich bergend – neben dem anderen. Die altchinesische Grammatik kennt daher im Prinzip keine Formenlehre – es gibt keine Kasus, keine Tempora, keine Modi –, ja kaum eine Wortbildungslehre, denn die Wortklassen (wie Verbum, Substantiv, Adjektiv) sind zunächst nicht voneinander geschieden; nur durch die Verwendung des Ablauts (nach dem Schema »Band«: »Bund«), nicht durch Ableiter (»decken«: »Gedeck«, »Deckung«) konnten gelegentlich neue Worte und damit Wortfamilien entstehen. Der Zusammenhalt der in dieser Weise wahrhaftig voneinander »isolierten« Wörter ist bloß durch die ziemlich strikt eingehaltene Syntax und durch einige Hilfswörter, die ursprünglich ebenfalls volle Wörter waren und von den Chinesen bezeichnenderweise »Leerwörter« (Hsü-tzu) genannt werden, gewährleistet. Es ist verwunderlich, daß eine Sprache, in der somit jedes Wort einen Bedeutungsumfang besaß, der im Deutschen etwa in den Grenzen von »dichten, er hat gedichtet, wir würden gedichtet haben – dichterisch – der Dichter, den Dichtern – Gedicht – Dichtung; abdichten, dichtet ab! – Dichtung« läge, überhaupt je verständlich sein konnte. In der Tat hat die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 142
chinesische Geisteswelt mit echten »Sprachkrisen« (A. Waley) zu kämpfen gehabt, vor allem in der Formungsperiode der chinesischen Zivilisation, als die Tendenz der Sprache zu immer größerer Vereinfachung der stürmischen Entfaltung der Kultur direkt zuwiderlief; das Chinesische in der hier geschilderten Form ist nämlich nachgewiesenermaßen nicht etwa »primitiv«, sondern eher das Gegenteil, nämlich »abgeschliffen«, daß heißt erst durch allmähliche Rückbildung, die am ehesten der Entwicklung des heutigen Englisch-Amerikanischen entspricht, aus einem ungleich komplizierteren, wahrscheinlich sogar noch flektierenden Stadium entstanden. Für den chinesischen Geschichtsbegriff waren nun vor allem zwei Eigentümlichkeiten – man könnte auch sagen Mängel – der Sprache von Bedeutung: erstens das Fehlen jeglicher Tempora oder Zeitaspekte, zweitens die Unmöglichkeit, Abstrakta zu bilden, oder präziser: den abstrakten Begriff von dem zugrunde liegenden konkreten eindeutig abzulösen und ihm dadurch Eigenständigkeit zu verleihen. Der Zeitbegriff, den wir selbst durch unsere reinlich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidende Sprache unbesehen übernommen haben, ist sozusagen eindimensional: Wie ein Lichtpunkt auf einer Linie, so bewegt sich das »Jetzt« – selbst ohne eigene Ausdehnung, immer aber Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 142
Vergangenheit und Zukunft voneinander trennend – voran. Es ist schwer, sich aus dieser Vorstellung in die Welt einer Sprache zu versetzen, in der bei jeder einzelnen Aussage nicht etwa eine abstrakte Verb-Endung deutlich macht, ob sie auf die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft bezogen ist, sondern einzig und allein der konkrete »Zusammenhang«: das heißt die Erwähnung eines bekannten Namens oder Ereignisses. Nicht daß hierdurch das Gefühl für den Unterschied von Vergangenheit und Zukunft verlorenginge; aber der Zeitbegriff wird dadurch gleichsam zweidimensional: es entsteht eine Art Zeitfläche, besetzt von allerlei Gestalten und Geschehnissen, die die Orientierung ermöglichen, durch den Zeit-»Punkt« des »Jetzt« aber nicht mehr grundsätzlich in zwei Lager, das vergangene und das zukünftige, zerfallen. Gerade diese, wenn man so sagen kann, ständige »Präsenz« des Vergangenen und des Zukünftigen, die die Ereignisse des Altertums nicht nur mit der Gegenwart, sondern auch mit der noch nicht mit Ereignissen besetzten Zukunft verschmolz, war paradoxerweise für den vielgerühmten historischen Sinn der Chinesen verantwortlich: das Entscheidende dabei, nämlich die Datierung von Ereignissen – das heißt die zeitliche Anmessung eines menschlichen Geschehens an das Geschehen in der Natur –, die die Chinesen schon in ihren ältesten Schriftdokumenten niemals ausließen, war ja Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 143
die einzige Möglichkeit, ein an nichts Bekanntes anknüpfbares Geschehnis erst einmal als gegenwärtig, vergangen oder zukünftig zu bestimmen. Alle Daten bedeuteten freilich ebenfalls nur Orientierungspunkte auf einer Zeitfläche, nicht auf einer Zeitlinie. Ohne diese Orientierungspunkte aber geriet die Darstellung immer unversehens ins absolut Zeitlose und damit ins Lyrische. Es ist nicht unmöglich, daß die gewaltige Rolle, die die Lyrik gespielt hat, darauf zurückzuführen ist: Sie (und nicht etwa die Epik) bildete dem Umfang und der ihr zugemessenen Bedeutung nach das Gegenstück zur Geschichtsliteratur und wurde neben dieser zu einem der beiden Grundpfeiler der chinesischen Literatur überhaupt. Nur von hier aus läßt sich auch die bekannte Neigung aller chinesischen Denker zu jenen ausgedehnten historischen Argumentationen erklären, die sich für den Europäer in der Übersetzung so grenzenlos ermüdend lesen. Bei jedem neuen Gedanken werden soundso viele Beispiele aus der Geschichte – nicht etwa bloß zeitlose Parabeln – aufgeführt, denn in der Tat: sie sind die einzige Möglichkeit, einen komplizierteren Sachverhalt unmißverständlich darzustellen. Da die Sprache nämlich – und damit sind wir bei dem zweiten, hier relevanten Charakteristikum des Chinesischen – nicht mit grammatikalischen Formantien klare Abstrakta bilden kann, schafft sie sie mit Hilfe Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 143
der historischen Beispiele: In der älteren Literatur werden die verschiedenen Paradigmata oft noch ausführlich erzählt, in der späteren bezeichnenderweise meist nur mehr mit einer kurzen Redewendung ins Gedächtnis zurückgerufen. Die historischen Beispiele sind im Grunde also gar nicht mehr in ihrem ursprünglichen historischen Zusammenhang zu verstehen (ja sie können sogar, wie viele unserer »geflügelten Worte«, in gänzlich verdrehter Weise gebraucht werden), sondern sie sind entweder selbst bereits reine Abstrakta oder sie machen den Gedanken, an den sie gehängt werden, abstrakter und dadurch allgemeingültiger. Anders ausgedrückt: historische Anspielungen sind im Chinesischen selten lediglich Beispiele, die in ihrer geschichtlichen Eigenständigkeit verstanden und nur wegen gewisser Analogien gebraucht werden, sondern sie sind meist von dem historischen Einzelfall abstrahierte Denkstrukturen. Die historischen Beispiele, mit denen ein Argument vorgetragen wird, geben ihm also erst seine eigentlich logische Beweiskraft, nicht etwa bloß im Sinne einer historischen »Begründung«, sondern geradezu auch im Sinne eines abstrakten Syllogismus. Die Ausbildung einer formalen Logik, wie sie das Abendland und mehr noch Indien dank ihrer hochgradig durchkonstruierten Sprachen hervorgebracht haben, mußte demgegenüber, trotz der hartnäckigen Versuche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 144
einiger kleiner Philosophenschulen, zwangsläufig scheitern. Wie eng diese durch die Sprache vorgegebene geistige Situation das Verhältnis des Chinesen zu seiner geschichtlichen Vergangenheit bestimmte, die auf diese Weise ja nicht etwas Totes, sondern etwas ständig weiter in die Gegenwart hinein Wirkendes war, ist nicht hoch genug zu veranschlagen. Die Beschäftigung mit der Geschichte vermittelte nicht bloß Kenntnisse, sondern auch schlechthin alle höheren Begriffe, alle Kategorien, die zur Strukturierung des Weltbildes notwendig waren; nur was in der Vergangenheit gesehen oder notfalls in sie hinein gesehen werden konnte, war überhaupt denkbar. Hieraus erklärt sich zum Teil auch ein verwunderliches Merkmal der chinesischen Historiographie, das mit für die drückende Last überreichen Quellenmaterials verantwortlich ist, die Zitiersucht: Es ist gewiß nicht übertrieben zu sagen, daß die Mehrzahl aller historischen Werke ganz oder fast ganz aus Zitaten besteht, das heißt entweder aus zusammengestrichenen Primärquellen oder aus Sekundär- und Primärquellen, die in dieser oder jener Weise neu kompiliert wurden. Jede originale historische Darstellung ist eben im Rahmen dieses Denkens nicht nur die Beschreibung eines vergangenen Ereignisses, das ebensogut in etwas andere Worte gefaßt werden könnte, sondern es ist gleichzeitig, zumindestens Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 144
potentiell, auch ein neuer Begriff, eine neue Kategorie, ja möglicherweise ein ganzer Komplex von solchen; eine auch nur geringfügige Veränderung entspräche hier sozusagen einem orthographischen Fehler, eine etwas tiefergreifende der Prägung eines neuen Begriffes. Diese eigentümliche Verschränkung von Historiographie und Ideenbildung, auf die noch zurückzukommen sein wird, ist auch die Ursache dafür, daß nach unserem Gefühl Gedankengänge, die an sich rein theoretischer Natur sind, so »konkret« vorgetragen werden, während umgekehrt Darstellungen ganz lebensnaher Themen, wie etwa Biographien oder Reisebeschreibungen, durch die Überfrachtung mit Klischees (die man freilich nicht immer sofort als solche erkennt) von des Gedankens Blässe angekränkelt erscheinen. Die Sprache als Ursache einer zeitlosen Schrift Neben den beiden soeben geschilderten Erscheinungen ist aber von der chinesischen Sprache noch eine dritte ableitbar, die für das hohe Alter und die Kontinuität der chinesischen Kultur noch weit mehr von Bedeutung war: die Schrift. Wir wissen, daß die chinesische Schrift seit nahezu viertausend Jahren (in der jetzt gebräuchlichen Form seit rund zweitausendzweihundert Jahren) existiert und die einzige noch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 144
heute gebrauchte Begriffsschrift darstellt. Natürlich erhebt sich sofort die Frage, warum gerade China, trotz seiner immensen Literatur, über diese typologisch sehr altertümliche und umständliche Schriftform nie hinauskam. Es geschah keineswegs aus Traditionsliebe, sondern, wie sich leicht zeigen läßt, aus innerer Notwendigkeit: Eine Sprache, wie es das Chinesische war, konnte ohne Einfluß von außen nur eine solche Schrift hervorbringen und keine andere. Bekanntlich geht der Entwicklung jedes echten Schriftsystems ein Stadium der Bilderschrift voraus, in der die Zeichen jeweils nicht für einen bestimmten gesprochenen Satz, sondern direkt für eine bestimmte gemeinte Situation (etwa nach Art unserer Verkehrsschilder) stehen; eine solche Bilderschrift kann noch nicht eigentlich gelesen, sondern nur interpretiert werden. Der nächste Schritt besteht bereits in dem Versuch, Bildzeichen und Sprache in Parallele zu setzen. Hier ergeben sich die ersten Schwierigkeiten, nämlich bei der Wiedergabe abstrakter Begriffe oder grammatikalischer Elemente, für die sich kein Bild finden läßt. Der bei den meisten Schriftsystemen – auch dem chinesischen – angewandte Trick bedeutet an sich bereits den Übergang zur phonetischen Schrift: Für das bildlich nicht ausdrückbare Wort oder Wortstück setzt man ein bereits geläufiges Bildzeichen, das mit dem anderen entweder völlig gleich oder in den als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 145
wesentlich empfundenen Teilen ähnlich ist, oder man erfindet für einfache, häufig wiederkehrende Lautelemente neue einfache Zeichen (etwa einen Haken). Den grammatikalischen Elementen (Suffixen, Affixen) fällt dabei eine besonders wichtige Rolle zu: Ihre phonetische Umschreibung bedeutet nämlich nicht nur den Übergang zur phonetischen Schrift, sondern den noch viel entscheidenderen ersten Schritt von der Wortschrift zur Silben- oder Buchstabenschrift. Dieser Schritt aber ist zwangsläufig nur in den Sprachen vollziehbar, in denen sie auch wirklich vorkommen, weil sie allein die Begegnung mit völlig sinnfreien Lautkörpern ermöglichen und damit die Voraussetzung für die Entdeckung geben, daß auch die vollen Worte in sich durch eine Abfolge von Einzellauten strukturiert sind. Schreitet die Schriftentwicklung auf diesem Wege fort, so werden alsbald auch Wortwurzeln mit mehreren dieser aus grammatikalischen Elementen gewonnenen phonetischen Schriftzeichen wiedergegeben. Allmählich geraten dadurch die Bildzeichen in Vergessenheit: der Übergang zur rein phonetischen Silben- oder Buchstabenschrift ist vollzogen. Natürlich muß nicht jedes Volk in seiner Schriftentwicklung diesen Weg zu Ende gehen; es kann – etwa aus Achtung vor den überkommenen Bildzeichen – bei einer Wort-Schrift stehenbleiben, umgekehrt aber hat, eben auf Grund seiner Sprache, auch nicht jedes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 145
Volk die Möglichkeit, alle diese Stadien der Schriftentwicklung zu durchlaufen. Denn aus dem bisher Gesagten leitet sich die Regel ab, daß jede Sprache aus sich selbst heraus höchstens bis zu einem Schriftsystem vorzustoßen vermag, in dem die Schriftzeichen dem kleinsten in der betreffenden Sprache auftretenden austauschbaren Element entsprechen. Die Folgerungen, die sich für das Chinesische ergeben, liegen auf der Hand: Da China, als sich seine Kultur formte, eine nahezu isolierende und obendrein einsilbige Sprache besaß, konnte es nur eine Wortschrift hervorbringen. Einen indirekten, aber durchaus schlagenden Beweis hierfür liefert die Schriftentwicklung in Japan, das eine mit Suffixen arbeitende Sprache besitzt: Es übernahm und behielt auch bis heute die chinesische Schrift, destillierte aber gleichzeitig daraus zwei Silbenschriftsysteme (Kana), die neben der chinesischen Schrift selbst ihren Platz fanden, in der Regel zur Notierung der auftretenden Suffixe, aber gelegentlich auch zur Niederschrift ganzer Texte. Die chinesische Schrift dagegen mußte in ihrer Umgebung nach dem ersten Schritt zur Phonetisierung – der »Lehnschreibung« nach dem Prinzip des WortRebus – stehenbleiben. Die chinesische Schrift trägt also, aus ihrer historischen Entwicklung heraus, phonetische Komponenten in sich, sie ist aber trotzdem eine reine Wortschrift und als solche von der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 146
Aussprache des einzelnen Wortes nicht weniger unabhängig als unsere Zahlen. Über die eminent verbindende Wirkung, die die Schrift sowohl in geographischer wie in historischer Hinsicht besaß, waren sich die chinesischen Intellektuellen stets im klaren. Sie ist, wie auch bereits Voltaire gesehen hat, einer der wesentlichsten, wenn nicht gar die wesentlichste Ursache für die Langlebigkeit der chinesischen Kultur gewesen, zu bekannt und auch zu evident, als daß wir die einzelnen Aspekte hier noch einmal aufführen müßten. Viel notwendiger ist es, darauf hinzuweisen, daß die verbindende Wirkung der Schrift auch ihre Grenzen hatte. So war sie zwar unabhängig von den Veränderungen, die die Sprache hinsichtlich der Aussprache der Wortwurzeln durchmachte, nicht aber von anderen Umgestaltungen zum Teil recht schwerwiegender Art, wie zum Beispiel den Wandlungen in der Wortbildung, in der Grammatik und in dem Bedeutungswert unzähliger Begriffe. Von den beiden Alternativen, die sich infolgedessen boten, nämlich entweder die Schrift (nicht die Form der Einzelzeichen, sondern ihren Gebrauch – wie ja auch bei uns eine Schriftreform nicht die Abänderung der Buchstaben, sondern die der Orthographie im Auge hat) von Zeit zu Zeit der Rede anzupassen oder aber sie starr beizubehalten auf die Gefahr hin, daß sich ihr Abstand zur gesprochenen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 146
Rede immer mehr vergrößerte, wurde in der Regel die zweite gewählt. Das Verbindende der Schrift über Raum und Zeit konnte also in steigendem Maße nur noch auf den seine Wirksamkeit ausüben, der sowohl die Schriftzeichen selbst als auch die obsolete Sprache beherrschte, die sie wiedergaben. Ohne die Kenntnis dieser »Schriftsprache«, die man in ihrer kulturellen Funktion nicht zu Unrecht mit dem Latein des europäischen Mittelalters verglichen hat, besaß die Schrift nicht viel mehr vereinende Kraft, als sie das lateinische Alphabet für einen Europäer hat, der nur seine eigene Sprache spricht, und damit zwar andere europäische Sprachen und auch das Lateinische mehr oder weniger gut zu »lesen«, aber eben nicht zu begreifen vermag. Der schriftkundige, aber sonst ungebildete Chinese konnte (und kann) im analogen Fall zwar die Bedeutung des einen oder anderen Wortes in einem schriftsprachlichen Text verstehen, aber schon kaum mehr den Inhalt eines Satzes oder gar den eines ganzen Buches. Dies galt um so mehr, als die Schriftsprache, nachdem sie den Kontakt mit der Umgangssprache endgültig verloren hatte, damit zu einer Kunstsprache geworden war und bald das Schicksal aller Kunstsprachen teilte, sich zunehmend in änigmatischen Wendungen zu gefallen. Nur solange es also eine soziale Führungsschicht gab, die die Möglichkeit und den Willen hatte, Schrift und Schriftsprache zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 146
erlernen, war die Kontinuität der Kultur durch die Schrift gesichert. Gerade diese Voraussetzung wurde aber durch die chinesischen »Literaten« erfüllt, die infolgedessen in der Geschichte des chinesischen Reiches eine Schlüsselrolle gespielt haben. Ihr Schicksal war mit dem der Schrift so eng verknüpft, daß es, obwohl die Schrift zweifellos das Primäre war, schwerfällt zu entscheiden, ob sie ihre Langlebigkeit als soziale Schicht der Starrheit der Schrift verdankten, oder ob nicht – vor allem zur Gegenwart hin – auch das Umgekehrte gilt. Die einzigartige Position der Literaten beweist jedenfalls, daß Schrift und Schriftsprache durch ihre im Lauf der Zeit ständig zunehmende Kompliziertheit eine zwiespältige Wirkung hatte; sie »einten Regionen, aber sie trennten soziale Klassen« (Wittfogel). Sie gestatteten zwar auf einer ganz niederen Ebene eine Art gleitenden Analphabetismus, das heißt auch der ärmste Kuli kannte wohl noch eine Handvoll Zeichen, wohingegen die Vorstellung, daß ein Europäer etwa nur die Buchstaben M und E zu lesen imstande wäre, absurd ist. Aber die wirkliche Beherrschung von Schrift und Schriftsprache verlangte stets ein lebenslanges Studium. Die wichtige Tatsache, daß es jede »dritte Kraft« zwischen Kaiser und Literatenschicht auf der einen und der Masse der Bauern auf der anderen Seite im Laufe der Geschichte immer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 147
schwer hatte, sich zu konstituieren, hat hier eine ihrer wesentlichsten Wurzeln; sie soll uns später noch beschäftigen. Geographische Lage, Wirtschaftsstruktur und »Orientalische Despotie« Es ist vorher aber kurz zu betrachten, inwiefern neben der Sprache die geographische Lage Chinas auf das hohe Alter seiner Kultur einen Einfluß ausgeübt hat. An diese Frage darf man nur mit äußerster Vorsicht herangehen, denn nirgends ist die Gefahr grober Verallgemeinerungen größer. Zunächst gilt es einige Allgemeinplätze zu wiederholen, die nichtsdestoweniger richtig und wichtig sind: China liegt am östlichsten Rand des eurasischen Kontinents in einem durch natürliche Barrieren – die fast halbkreisförmige Meeresküste im Osten und Süden sowie die ebenfalls fast halbkreisförmigen Dschungel- und Gebirgsgrenzen im Süden und Westen – recht geschützten, aber dadurch auch etwas isolierten Gebiet. Die einzige offene Grenze, Bedrohung und Chance zugleich, ist im Norden markiert, aber niemals wirklich geschlossen durch die »Große Mauer«. Es ist wohl kaum ernsthaft zu bestreiten, daß diese etwas unzugängliche, kontinentale, im wahrsten Sinne des Wortes »abgerundete« Lage Chinas wesentlich zur Ausbildung, mehr aber Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 147
noch zur Konservierung seiner Kultur beigetragen hat, nur wurde diese alte Erkenntnis so lange überstrapaziert (namentlich in den oben erwähnten universalhistorischen Theorien des 19. Jahrhunderts), daß die moderne Forschung sie schließlich mit einem gewissen Recht gelegentlich wieder in Frage stellte. Und doch liefert weder Chinas lange Küstenlinie noch seine stets hochentwickelte Binnenschiffahrt noch auch der erstaunlich hohe Stand der Seeschiffahrt zu Beginn der Ming-Zeit einen echten Gegenbeweis, denn nicht eine Küstenlinie verlockt zur Schiffahrt, sondern ein auf der anderen Seite des Meeres liegendes, oft erst nur vermutetes und in märchenhaften Berichten geschildertes »größeres« und »reicheres« Land. Vor Chinas langer Küste aber gab es kein solches Land, das dazu einlud, kühn in See zu stechen, um etwas Besseres als die eigene Heimat zu finden. Die Binnenschiffahrt – namentlich auf dem nord-südlichen »Kaiserkanal« parallel zur Ostküste – liefert geradezu den Beweis für die grundsätzlich kontinentale Einstellung der Chinesen, die sich durchaus mit nautischer Geschicklichkeit auf Binnengewässern verbinden konnte. Freilich gilt all das mehr für Nord- als für Südchina: Nicht nur spielte in Südchina die Binnenschiffahrt auf dem Geflecht unzähliger schiffbarer Flüsse seit jeher eine wichtigere Rolle als im eher trockenen Norden, die Süd- und Südwestküste hatte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 147
auch mit seinen Häfen schon in frühesten Tagen Verbindung zu Korea und spätestens seit der T'ang-Dynastie durch Vermittlung der Araber zu Indien und zum Nahen Orient. Die Südwärtsverlegung des Zentrums der chinesischen Kultur zu Beginn der Süd-Sung war sicherlich eine Hauptvoraussetzung für die chinesischen See-Expeditionen des 15. Jahrhunderts. Aber gerade dieses »Durchlässigwerden« der früher als etwas absolut Festes empfundenen Meeresgrenze, das darin in positiver Weise ebenso deutlich wurde wie in negativer Weise in der Bedrohung durch Japan und später den Westen, war eine Komponente, die mithalf, das alte chinesische Weltbild aufzulösen, nicht, es zu prägen. Jedenfalls gibt es kein Analogen für die gleichzeitig trennende und verbindende Rolle, die das von Inseln übersähte östliche Mittelmeer in so fruchtbarer Weise bei der Herausbildung der abendländischen Kultur spielte, indem es bewirkte, daß eine Vielzahl kleiner Kulturzentren sich zwar gegenseitig befruchten, aber nicht allzuleicht und allzusehr ineinander verlaufen konnte. Auf der anderen Seite war China freilich auch niemals so monolithisch, wie es von Europa her oder aus dem Blickwinkel der konfuzianischen Literaten den Anschein hatte. Eine der wertvollsten neuen Entdeckungen der Sinologie ist der »Regionalismus«, der sich in der kulturellen Eigenständigkeit und dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 148
ständigen Autonomiestreben einzelner Gebiete des chinesischen Reiches ausdrückte. Die Abgrenzung dieser Gebiete war oft, aber nicht immer, durch ihre geographische Lage bedingt; Zentren waren zum Beispiel stets die von Chi Ch'ao-ting herausgearbeiteten vier wirtschaftlichen Schlüsselgebiete (Key Economic Areas): 1. das Lößland und das Huang-ho-Tal in Nordchina, 2. das Yang-tzu-Tal in Zentralchina, 3. die Provinz Ssu-ch'uan im Westen und 4. das von Sikiang im Süden durchflossene Küstengebiet. Der Regionalismus wirkte bis in die Sung-Zeit hinein als eine oft auch politisch recht erfolgreiche historische Kraft, von der das nur zögernde Zusammenwachsen der Stadtstaaten, Regionalstaaten und Territorialstaaten zur jeweils höheren Einheit während der Shangund Chou-Zeit ebenso Zeugnis ablegt wie der wiederholte Zerfall des von Ch'in Shih Huangti zum ersten Male verwirklichten Einheitsreiches. Nach der SungDynastie tritt der Einfluß des Regionalismus nicht mehr so klar zutage (weswegen er auch so lange übersehen werden konnte), aber er war gleichwohl in vielem weiter bestimmend. Er ist indirekt an den zahlreichen gegen ihn gerichteten Verwaltungsmaßnahmen und kriegerischen Aktionen der Zentralregierung erkennbar, aber auch direkt an der wachsenden Zahl der Lokalchroniken. Wie sehr er noch lebendig war und sicherlich auch heute noch ist, haben die turbulenten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 148
Jahre zwischen 1912 und 1927 bewiesen. Und doch stellt das chinesische Herrschaftsgebiet stets einen so geschlossenen Lebensraum dar, daß (trotz mancher sonstiger Parallelen mit der europäischen Geschichte, vor allem in den älteren Perioden) die Einheit des Reiches als Ideal niemals in Frage gestellt war, auch nicht in den Zeiten größter Zersplitterung. Denn anders als Europa, das immer wieder als Alternative zu seiner eigenen Kultur die des »Orients« im allgemeinsten Sinn vor Augen gestellt bekam, erhielt China durch seine geschützte geographische Lage nie einen unmittelbaren Eindruck von fremden, ebenso hochstehenden, aber doch andersartigen Kulturen. Nur unter diesen Voraussetzungen konnte der Begriff des »Reiches« entstehen, der, einmal geschaffen, wieder zurückwirkte und selbst zu einer starken einigenden Kraft in der Politik wurde. Der chinesische Ausdruck für »Reich«, T'ien-hsia, »(das) unter dem Himmel (Befindliche)«, läßt sich mindestens bis in die frühe Chou-Zeit zurückverfolgen und liegt in seiner Bedeutung eigentlich zwischen »Reich« und »Ökumene«. Er bezeichnet die »Kulturwelt«, das Gebiet, in der Kultur besteht oder sich ausbreiten kann. Unter dem Aspekt, daß es nur eine Kultur – eben die chinesische – gab, konnte T'ien-hsia mit China in seiner geographischen Ausdehnung zusammenfallen, aber auch nur unter diesem, denn T Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 149
ien-hsia war weder ein politischer noch ein geographischer Begriff, sondern ein kultureller, ja nicht selten, namentlich im Munde der Konfuzianer, ein ethischer und als solcher selbstverständlich auch unteilbar. Auf einer viel tieferen Ebene steht der Begriff Kuo, dessen Schriftzeichen sich aus den Elementen »Hellebarde« (für »Schutz mit der Waffe«) und »Mund« (für »Sprache« beziehungsweise »Dialekt« oder vielleicht auch nur als phonetischer Bestandteil [H. Franke]) zusammensetzt. Er nun bedeutet tatsächlich ganz nüchtern »(Lehns-) Gebiet«, »Staat«, »Dynastie« im politischen und geographischen Sinn. Während Kuo, »Staaten«, in einem ständigen Hin und Her, Auf und Ab neben- oder nacheinander bestehen konnten und auch als außerhalb der chinesischen Kultur existent akzeptiert wurden, gab T'ien-hsia die Idee eines unzerstörbaren Kontinuums. Der Begriff Chung-kuo, »Staat der Mitte«, war demgegenüber bis in die jüngste Zeit hinein eher sekundär. Er bezeichnete in der Chou-Zeit ursprünglich bloß eine zentral gelegene Krondomäne und später, als seit der Ch'inDynastie wiederholt der politische Machtbereich eines einzigen Herrscherhauses mit den Grenzen der kulturellen Ausdehnung zur Deckung kam oder über sie hinauswuchs, auf einer rein politischen (nicht einer kulturellen) Ebene den chinesischen Staat inmitten der ihn umlagernden Barbarenstaaten. Die historische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 149
Bedeutung des T'ien-hsia-Begriffs bestand darin, daß er das Ideal von der Einheit des chinesischen Reiches über die Teilungen hinweg wach erhielt, bis er sich dann am Ende, für fast ein volles Jahrtausend, auch politisch verwirklichen ließ. Der Einbruch Europas war deshalb freilich um so verheerender: Anders als jeder bis dahin erlebte Angriff von außen, richtete er sich nicht nur, ja nicht einmal so sehr, gegen den Staat, Kuo – diesen hatten im Grunde schon die Manchus besiegt –, als gegen T'ien-hsia, indem er den Glauben an die Identität von chinesischer Kultur, Kulturwelt und Welt überhaupt untergrub. Die chinesische Geistesgeschichte der letzten hundert Jahre zeigt (wie J. R. Levenson in einer Reihe faszinierender Untersuchungen gezeigt hat) den verzweifelten Versuch der wachen chinesischen Intelligenz, T'ienhsia aufzugeben, um Kuo zu retten, einen neuen Nationalismus gegen den alten »Kulturalismus« einzutauschen und aus China, dem einst nach allen Seiten ausstrahlenden »Staat der Mitte«, eine lernende Nation inmitten anderer, kulturell fortgeschrittenerer Nationen zu gestalten. Die geographische Lage beeinflußte die Geschichte Chinas aber nicht nur wegen der starken äußeren Grenzen, sondern viel mehr noch wegen der Art der Bewirtschaftung, zu der das von diesen Grenzen umschlossene Land nötigte. Es ist immer wieder gesagt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 149
worden, daß China seit Urzeiten ein Land der Bauern war und daß es dadurch, gleichsam an den ewigen Rhythmus der Natur gebunden, seine Stabilität bewahrte. Dieser Gedanke ist (mit gewissen Einschränkungen für die älteste Zeit) gewiß nicht falsch, wenn er in differenzierter Weise verstanden und nicht als Schlüssel zur Erklärung von allem und jedem herangezogen wird: der Ackerbau verlangt tatsächlich – anders als etwa die Jagd oder der Fischfang – Beharrlichkeit statt Kühnheit, langes Warten statt einmaligen Handelns, geduldiges Verharren am Ort statt suchenden Umherschweifens, Ruhe und Frieden statt Rastlosigkeit und Abenteuer. Auch der Zeitbegriff wird davon geprägt sein: Er rundet sich in gewissem Sinn, Bemühung und Gewinn fallen nicht zusammen wie bei der Jagd, die ein Ernten ohne Säen ist, sondern sie sind eingespannt in den Kreislauf der Jahreszeiten, der eben nur einen einzigen Herbst kennt. Die Existenz der Bauern, deren Leben tatsächlich über die Jahrtausende hinweg unverändert verlief, hat gewiß allein als Tatsache, aber auch als Ideal eine konservierende Wirkung auf die chinesische Geschichte ausgeübt, aber das gilt wohl für jedes andere Land nicht minder. Unmittelbar in den Geschichtsverlauf eingegriffen haben die Bauern niemals, obgleich sie sich unzählige Male erhoben; sie waren nur immer die mächtige Waffe, mit der sich alle politischen Gegner, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 150
welcher Partei sie auch jeweils angehören mochten, gegenseitig bekriegten. Viel schwerwiegender, weil unmittelbar für die Organisation des Staates von Bedeutung, ist die Frage, ob die chinesische Wirtschaft wegen bestimmter geographischer Voraussetzungen nur bei Bewältigung riesenhafter Arbeiten funktionieren konnte, die wegen ihrer Komplexität bürokratisch und mit Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden mußten. Diese These, die auf Marx' erst Anfang der zwanziger Jahre offiziell abgelehnte Theorie von der »asiatischen Produktionsweise« zurückgeht, wird heute hauptsächlich von K. A. Wittfogel vertreten, der sie zunächst nur für China, dann auch für alle anderen großen östlichen Kulturen ausarbeitete. Ihr Grundgedanke läßt sich etwa folgendermaßen skizzieren: Sämtliche »orientalischen Gesellschaften« entstanden an großen Strömen (Nil, Euphrat und Tigris, Indus, Huangho) und hatten mit dem Problem der Bewässerung und der Anlage von Dämmen zu kämpfen. Da Arbeiten dieses Ausmaßes weder von einer Familie noch von einem Dorfverband geleistet werden konnten, war die Herausbildung einer Hochkultur nur unter der Voraussetzung denkbar, daß diese kleineren, natürlichen Einheiten unter der Gewalt eines despotischen bürokratischen Systems, das ganz dem Willen der höchsten Führungsspitze unterworfen war, zu einer riesigen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 150
dirigierbaren Masse zusammengeschweißt wurden. Dieser Prozeß fand allerdings nicht immer statt; es bedurfte vielmehr erst »einer Wirtschaft, die über dem Niveau des Raubbaus, außerhalb des Einflusses starker Zentren von Regenanbau und unter dem Niveau einer auf Privateigentum gegründeten Industriezivilisation stand, ehe der Mensch, als Reaktion auf die Wasserarmut des Landes, die spezifisch hydraulische Lebensordnung anzunehmen« begann (Wittfogel Oriental Despotism). Die Starrheit einer derart organisierten »orientalischen«, »asiatischen«, »hydraulischen«, »agrobürokratischen« oder auch »wirtschaftsgelenkten« (agromanagerial) Gesellschaft ergab sich dann daraus, daß die Führungsspitze nicht nur das Auftauchen jeder »dritten Kraft« brutal zu verhindern suchte, sondern daß auch das Staatswesen nur auf diese und keine andere Weise funktionieren konnte: Entweder es blieb, samt der dazugehörigen Kultur, so, wie es war, als Ganzes erhalten, oder es ging als Ganzes unter. Auch das kommunistische China steht angeblich bis heute unter diesem ehernen Gesetz. Die deutlich politischen Implikationen dieser Theorie haben ihre Diskussion erschwert und wohl mitunter auch beeinflußt. Gewiß darf sie nicht in Bausch und Bogen abgelehnt werden, es scheint aber, daß sie auf bestimmte Perioden der chinesischen Geschichte, namentlich auf die Ming- und Ch'ing-Dynastien Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 150
eingeengt werden muß; erst von dieser Zeit an wurde die theoretisch freilich schon seit mindestens der Ch'in-Dynastie institutionierte Staatskontrolle über alle Zweige der Gesellschaft (gegenseitige Haftbarkeit von Familien- und Straßenverbänden, Spitzelsysteme, Überwachung von Gilden und ähnliches) in beklemmender Weise Wirklichkeit. Allerdings spielte der Wasserbau schon in den frühesten Tagen der chinesischen Kultur, die ja am Huangho und Wei-Fluß entstand und sehr bald nach dem Süden zum Yangtzu ausgriff, eine Hauptrolle; auch die sicherlich nicht zuletzt deswegen betriebene expansive Bevölkerungspolitik liegt auf der Linie der »Orientalischen Despotie«. Aber daneben gab es doch stets ein Gewirr von »dritten Kräften«, die das Bild auflockerten und dem Geschichtsverlauf mitunter eine unerwartet neue Richtung verliehen. Selbst die hohe Bevölkerungszahl, die sicherlich in vielem der »Vermassung«, der Schaffung des total »vergesellschafteten« Menschen, der Bildung von Klischees auf allen Gebieten und damit der Erstarrung geistigen Lebens Vorschub leistete (im Westen allerdings selbst wieder eine Klischeevorstellung erzeugte, nämlich die vom chinesischen Volk als einer wesenlosen Masse menschlicher Roboter, die die Individualität des europäischen Menschen auszulöschen droht), selbst sie konnte bipolar wirken: denn die vielen dadurch ausgelösten Hungerrevolten gaben Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 151
nicht selten auch neuen Ideen, neuen Kräften eine Chance. Generell läßt sich also, wenn wir noch einmal zusammenfassen wollen, über die Gründe für das hohe Alter der chinesischen Kultur sagen, daß aus der Besonderheit der Sprache ein nichtlinearer Zeitbegriff, das »historische Argument« als einzig mögliches Abstraktum und die »zeitlose« Begriffsschrift folgten, und aus der geographischen Lage eine gewisse Isolierung von anderen Hochkulturen sowie ein bestimmtes seinem Wesen nach konservativ-despotisches Wirtschafts- und Staatssystem. All diese Ursachen haben nun aber nicht nur auf den Geschichtsverlauf, sondern auch – und das macht die Beurteilung der chinesischen Geschichte um eine ganze Dimension komplizierter – auf die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung eingewirkt und sich dort nicht selten potenziert. Die moderne Geschichtsforschung in West und Ost weiß zwar – im Gegensatz zu der älteren – um die Existenz dieser möglichen Fehlerquellen und versucht, sie aufzuspüren und nötigenfalls zu eliminieren. In vielen, in sehr vielen Fällen wird sie dennoch über ein Non liquet nicht hinauskommen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 151
Geschichtsschreibung und Geschichtskritik Anfang, Dauer und Umfang der eigenständigen Geschichtsschreibung eines Volkes sind die zuverlässigsten Kriterien für den Beginn, die Kontinuität und die Stärke seines Selbstbewußtseins in des Wortes doppelter Bedeutung: die Geschichtsschreibung eines Volkes ist in gewissem Sinne seine Autobiographie. Sie kann vieles schildern, was von außen gesehen niemals erkannt werden könnte, ja, sie ist nicht nur in dem, was sie darstellt, sondern auch in dem, wie sie es tut, in hohem Maße aufschlußreich. Sie ist aber aus eben demselben Grunde auch die denkbar unobjektivste Quelle, die es deshalb immer wieder an anderen Kriterien zu kontrollieren gilt. Angesichts des ungeheuren Umfangs der einheimischen chinesischen Geschichtsschreibung besteht hier denn auch der enorme Wert schriftlicher Primärquellen (wie zum Beispiel der Knocheninschriften der Shang-Zeit oder der in Tunhuang ans Tageslicht geförderten Dokumente), die es in China ebenso spärlich gibt wie anderswo, nicht so sehr darin, daß sie – wie bei der Kultur weniger geschichtsbewußter Völker – etwas Neues bringen, sondern in der Tatsache, daß sie Gelegenheit bieten, etwas durch die Historiographie grundsätzlich bereits Bekanntes nachzuprüfen und dadurch nicht nur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 152
den Einzelsachverhalt vielfach richtigzustellen, sondern auch das Prinzip der Deformierung überhaupt kennenzulernen. Der Ausdruck »Autobiographie eines Volkes« bedarf natürlich einer Präzisierung: Es sind ja immer Menschen, die die Geschichte schreiben und ihr nicht nur den Stempel ihrer Nationalität, sondern auch den ihrer übrigen Persönlichkeit aufprägen. Trotzdem gilt das für China weniger als etwa für Europa: einmal wegen der bereits geschilderten Zitierleidenschaft der Chinesen, die ganze Seiten, Abschnitte und Bücher entweder in völlig ungekürzter oder in derart komprimierter Form, wie sie nur in der künstlichen chinesischen Schriftsprache möglich ist, durch so viele Hände gehen läßt, daß der ursprüngliche Autor eines historischen Textes im Gegensatz zu dem Kompilator meist anonym bleibt; zum anderen, weil jener Personenkreis, der die Geschichte schrieb und damit das historische Bewußtsein der chinesischen Kultur dokumentierte, die Literatenklasse nämlich, in sich weitgehend homogen war; und drittens, weil es eine aufwendige »offizielle«, das heißt staatlich organisierte Geschichtsschreibung gab, die trotz vieler anderer Entwicklungen den allgemeinen Maßstab setzte. In der Tat liegen die Anfänge der chinesischen Historiographie bei den Fürstenhöfen. Das chinesische Wort für »Geschichte«, shih (das mit einem anderen, jedoch erst in der moderneren Form davon Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 152
differenzierten Schriftzeichen auch die Bedeutung »Ereignis«, »Sache« hat), bezeichnet nicht nur wie bei uns Geschichtsschreibung und Geschichtsablauf gleichermaßen, sondern auch den Historiographen und den Priesterschreiber beziehungsweise Astrologen in einem. Diese begriffliche Verbindung, die sich auch aus der Literatur bestätigt, ist ziemlich eindeutig: Die Historiographie entwickelte sich aus der Tätigkeit der Priesterschreiber am Hof der Shang-Dynastie, die den Kalender aufstellten, für die zeitgerechte Darbringung der Jahresopfer sorgten (durch die ja auch der Feldanbau geregelt wurde!), die Orakel befragten und die Entwicklung der Ereignisse damit verglichen. In der Chou-Dynastie, in der der König weitgehend die Funktionen der Priester, vor allem beim Opfer, übernommen hatte, wirkten sie als Kalendermacher und Astrologen weiter. Ihre Tätigkeit konzentrierte sich nun aber mehr darauf, für den Fürsten die Geschehnisse in der Natur und unter den Menschen zu beobachten und einander gegenüberzustellen, um nach und nach die ihrer Vermutung nach wesensnotwendige Interrelation zwischen beiden aufzudecken. Die genaue Datierung bildete dafür eine der Grundvoraussetzungen; denn hier kam der »zweidimensionale« Zeitbegriff, von dem oben bereits die Rede war, zum Tragen: Die Zeit-»Ebene« war strukturiert und gleichzeitig auch ringsum begrenzt durch eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 152
endliche Zahl darauf plazierter Situationen; erlebtes Geschehnis, Zeitpunkt und notwendige Reaktion darauf bildeten (wie es am besten im I ching, dem »Buch der Wandlungen« symbolisiert ist) eine unauflösliche Einheit. Eine Anekdote in dem Werk des Philosophen Han Fei (VII, 2-22) beleuchtet die Bedeutung, die demjenigen zugestanden wurde, der das »Datum« kannte: »(Der Tyrannen-König) Chou hatte die ganze Nacht hindurch gezecht und bei seinen Ausschweifungen vergessen, was das Datum des Tages war. Er fragte seine Diener, aber auch von ihnen wußte es niemand. Also schickte er Leute zum Baron von Chi, um ihn danach zu fragen. Der aber sagte zu seinen Begleitern; ›Wenn der Herrscher des Reiches so regiert, daß alle im Lande das Datum des Tages vergessen haben, dann ist das Reich in Gefahr. Und wenn, außer mir selbst, es keiner mehr im Lande weiß, dann muß auch ich selbst in Gefahr sein!‹ Und er gab keine Auskunft, sondern stellte sich betrunken und tat so, als wüßte er nichts.« Wir wissen, daß an den verschiedenen Fürstenhöfen der späteren Chou-Zeit bereits genaue Chroniken geführt wurden, vor allem in Form von Annalen und Genealogien. Daneben bestand zweifellos eine reiche mündliche Tradition, in der Geschichten und Anekdoten überliefert wurden, aber diese Tradition tritt für uns naturgemäß erst da zutage, wo sie (wie etwa im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 153
Tso chuan) die Astrologen-Historiographen aufgriffen. Freilich schrieben sie sie nicht in der Form nieder, in der sie ihnen zu Ohren kamen, sondern glichen sie ihren eigenen Geschichtsvorstellungen an. Dasselbe gilt noch ungleich mehr für Mythen- und Sagenkreise, die es mit Sicherheit seit Beginn der chinesischen Kultur gegeben hat: Sie wurden von den Historiographen so gründlich euhemerisiert, daß sie heute nur noch schattenhaft hinter den Berichten über die Taten scheinbar historischer Herrscher und Beamter zu erkennen sind. Die früh gesehene Tatsache, daß China (im Gegensatz zu Indien) eine bis in die ältesten Zeiten zurückreichende Geschichtsschreibung hervorbrachte, aber kein großes Nationalepos, hat sicherlich in der Vorstellungswelt dieser allein schriftkundigen Historiographen seine Ursache, die dann auch auf das Volk zurückwirkte: Was nicht datiert, in Annalenform gebracht und damit gleichsam als parallel zu dem Walten der Natur geschehen vorgetragen werden konnte, hatte keinen geordneten Platz im Kosmos und damit überhaupt keine Existenz. Der berühmte chinesische Gelehrte Hu Shih (18911962) zog in einer recht plausiblen Hypothese eine direkte Verbindung zwischen diesen noch aus der Shang-Dynastie stammenden Priesterschreiber-Historiographen und Konfuzius, dem die Tradition ja die älteste erhaltene Chronik, das Ch'un-ch'iu, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 153
zuschreibt; tatsächlich wuchs der Stand der konfuzianischen »Literaten«, der im Laufe der Zeit immer mehr die Stellung des schrift- und verwaltungskundigen Beamten einnahm, zu nicht geringem Teil aus dem Personenkreis der Historiographen heraus. Das wesentlich Neue aber, das der Konfuzianismus der chinesischen Historiographie hinzufügte, war die Moralisierung der Geschichte, die auf dem Axiom von der Interrelation zwischen Naturgeschehen und Geschichtsablauf weiterbaute. Hatte die Aufgabe der Astrologen-Geschichtsschreiber vordem nur in der Pflicht bestanden, die Zeitsituation zu erkennen oder wiederzuerkennen, damit das rituell »Richtige« getan werden konnte, so seit Konfuzius in zunehmendem Maße darin, an Hand derselben Kriterien Anhaltspunkte für das moralisch »gute« Handeln zu geben. Zum erstenmal wird das ganz deutlich in Ssu-ma Ch'iens großem Geschichtswerk Shih-chi, das am Ende eines jeden Abschnitts eine kritisch-moralische Würdigung hinzufügt. So hat also einerseits die Überzeugung der Astrologen von der grundsätzlichen Identität und Anmeßbarkeit von Menschheits- und Naturgeschichte die chinesische Geschichtsschreibung begründet und andererseits der Einfluß der konfuzianischen Ethik ihr den moralischen Akzent verliehen. In der Späteren Han-Dynastie ging die offizielle Historiographie von den Hofastrologen in die Hände Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 153
anderer, nicht mehr so amtsgebundener Literaten über. Gleichzeitig bürgerte sich die Regel ein, daß jede neu an die Macht gekommene Dynastie die Geschichte der vorhergehenden Dynastie zu schreiben und durch Aufbewahrung von Aktenauszügen der nachfolgenden dieselbe Gelegenheit zu geben hatte. Die endgültige Kompilation wurde bis zur T'ang-Dynastie meist einzelnen Gelehrten, später Gelehrtenkommissionen anvertraut; die letzte dieser Gelehrtenkommissionen trat aus konfuzianischem Pflichtgefühl in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts zusammen und verfaßte den vielbändigen »Entwurf« einer Geschichte der Manchu-Dynastie. Im Ganzen gesehen entwickelte sich die staatsgelenkte Geschichtsschreibung aus recht vielversprechenden Ansätzen bei Ssuma Ch'ien zu einer trockenen, dem Umfang nach monströsen Berichterstattung über unzählige politische Maßnahmen, Kriegszüge, Verwaltungsakte und Beamtenkarrieren. Das lag sicherlich nur zum Teil daran, daß das von Dynastie zu Dynastie anwachsende Quellenmaterial zu immer rigoroserem Zusammenstreichen nötigte, bis eben vielfach nur noch Handlungsskelette übrigblieben; denn man kann sich durchaus fragen, ob nicht die Auswahl des Stoffs, wenigstens nach unseren Begriffen, oftmals hätte geschickter getroffen werden können. So schrumpften zum Beispiel die Biographien, die in allen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 154
»Reichsgeschichten« den weitesten Platz einnahmen, aus ehemals farbigen Persönlichkeitsschilderungen zu dürren Abrissen von Beamtenkarrieren zusammen. Gerade hier zeigt sich aber am besten, daß wir es fast bei der gesamten offiziellen Historiographie mit einer »Geschichtsschreibung von Beamten für Beamte« (E. Balázs) zu tun haben, die geschaffen war aus der Weltsicht der Literaten. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die künftige Forschung etwa in der ermüdenden Aufzählung von Beamtentiteln in den Biographien eine verborgene Struktur entdecken wird, die ehedem den damit vertrauten Literaten-Beamten so wichtig und aufschlußreich erschien, daß sie meinten, auf ihre Wiedergabe nicht verzichten zu können. Die offizielle Historiographie stellt freilich nur einen winzigen Bruchteil des gesamten historischen Schrifttums dar. Besteht ihr Wert in der Sanktionierung, die sie seitens des Staates erfuhr, was sie freilich in der Regel mit dem Verlust einer eigenen persönlichen Note bezahlen mußte, so gilt das Umgekehrte von der nahezu unübersehbaren Masse privater und halbprivater Beiträge zur Geschichtsliteratur. Sie nehmen, vor allem seit der Sung-Zeit, an Zahl und Bedeutung zu. Es fallen darunter sowohl Schriften, in denen der Autor genannt ist, zum Beispiel Tagebücher, Eingaben, Biographien (vor allem als Grabinschriften und Nekrologe), als auch die oft anonymen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 154
Berichte in Lokalchroniken und Familiengenealogien. All diese Erzeugnisse privater Geschichtsschreibung dienten freilich (neben den Originalakten und regelmäßig geführten Hoftagebüchern) auch der offiziellen Geschichtsschreibung nicht selten als leicht einschmelzbares Rohmaterial. Denn private wie offizielle Historiker sprachen, oder besser schrieben, als Angehörige derselben konfuzianischen Gelehrtenschicht dieselbe Sprache, selbst wenn sie sich als Privatleute ausführlicher, farbiger und lebensnäher äußern durften. Daneben hat es allerdings auch eine buddhistische und taoistische Geschichtsschreibung gegeben, die aus einer völlig anderen Weltsicht entstand. Sie ist aber bisher noch praktisch unbekannt und spielte, zumindest quantitativ, eine ganz untergeordnete Rolle, obwohl der Einfluß, den sie auf die Vorstellungen der breiten Volksmassen besaß, vermutlich viel schwerwiegender war, als wir heute ahnen. Eine Geschichtskritik, die unter anderem auch die private und offizielle Historiographie in ein Verhältnis zueinander zu bringen versuchte, entwickelte sich seit Beginn der T'ang-Dynastie. Ihr Gründer war Liu Chih-chi (661-721), der lange Zeit in einer staatlichen Geschichtskommission arbeitete. Die Geschichtskritik beschäftigte sich vornehmlich mit formalen Problemen der Historiographie, etwa mit den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 155
Schwierigkeiten bei der Abfassung offizieller Geschichten durch die Einmischung mächtiger Familien und durch den Leerlauf der Bürokratie, mit der Kollationierung voneinander abweichender Quellen und mit den Vor- und Nachteilen verschiedener Einteilungsarten bei der Kompilierung von Geschichtswerken. Das letztgenannte Problem hat in China stets eine maßgebliche Rolle gespielt. Der überwiegende Teil der historischen Literatur ist ja, wie schon in anderem Zusammenhang erwähnt, alter Wein in neuen Schläuchen: Vielbändige Werke wurden zum Beispiel (teilweise ohne die geringste Veränderung des Wortlauts!) aus der annalistischen Form in die systematische übertragen und umgekehrt. Die bloße Stoffanordnung konnte unter Umständen eine Idee, eine Kritik, ein Bekenntnis ausmachen, ohne daß dies in dem Stoff selbst zum Ausdruck kommen mußte. Wie so oft in China waren auch hier die gängigen Einteilungsformen an alte Vorbilder geknüpft: das Ch'un-ch'iu stand als Musterbeispiel für das knappe, annalistische, Wertmaßstäbe setzende Geschichtsbuch; das Tso-chuan, nur scheinbar ein Kommentar dazu, für das ebenfalls annalistisch angelegte, aber breit erzählende; das Shih-chi für die systematische Universalgeschichte, in der durch die Einführung der Biographie der Mensch zum erstenmal als bewegende historische Kraft betont wird; das sonst dem Shih-chi Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 155
nachgebildete Ch'ien-Han-shu für die systematische Darstellung der Geschichte einer einzigen Dynastie; und das (allerdings viel spätere) T'ung-tien des Tu Yu (735-812) für die historische Enzyklopädie, in der der »Staatsapparat« als das wichtigste Kontinuum bei der Entwicklung des Reiches aufgefaßt wird. Die Neigung zu einer bestimmten äußeren Form der Geschichtsschreibung war also immer gekoppelt mit einer entsprechenden Weltanschauung. Bis zur Sung-Zeit stand etwa der Typ der offiziellen Dynastiegeschichte nach dem Vorbild des Ch'ien-Han-shu eindeutig im Vordergrund: Er betonte die Gegliedertheit der Geschichte in Gestalt einer Kette in sich geschlossener Dynastienzyklen sowie das Gewicht des persönlichen Individuums. Ssu-ma Kuang's (111986) annalistische Universalgeschichte Tzu-chih t'ungchien, die mit ihren Fortsetzungen die Dynastiegeschichten seit der Sung-Zeit an Beliebtheit bei weitem überflügelte, wie auch das daran angelehnte T'ungchien kang-mu des Chu Hsi (1130-1200) (die Vorlage von de Maillas Histoire générale de la Chine [1777/83]) entstanden dagegen eher aus den Bemühungen der Geschichtsphilosophen als aus denen der Historiographen: Sie versuchten vor allem nachzuweisen, daß sich die chinesische Reichsidee und das konfuzianische Staatsideal unverändert durch die Stürme der Dynastiewechsel erhalten hätte, und wurden damit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 155
selbst zu einer historischen Kraft. Als umgekehrt der Vorläufer einer modernen chinesischen Geschichtsschreibung, Chang Hsüeh-ch'eng (1738-1801) den (allerdings nie durchgeführten) Entschluß faßte, das Tso-chuan in die Einteilung des Shih-chi umzugießen, bewies er damit, daß er die seit der Sung-Zeit implicite immer mehr geleugnete Bedeutung des Individuums als historischen Faktor neu herausheben wollte. Das Problem der »Periodisierung« und die Rückwirkung der Geschichtsschreibung auf die Geschichte Die »Periodisierung« der chinesischen Geschichte, um die es sich hier ja bis zu einem gewissen Grade dreht, ist jedoch erst seit etwa den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts in Ostasien zum Thema hitziger Diskussionen geworden. Die traditionelle Periodisierung, die (soweit man eine Periodisierung überhaupt gelten ließ) nie in Zweifel gezogen wurde, war die nach Dynastien. Sie basierte auf der zu Beginn der Chou-Zeit entstandenen Auffassung, daß jede Dynastie durch Entgegennahme eines »himmlischen Auftrags« (Ming) an die Macht kam, diesen Auftrag aber an andere, ihr dann folgenden Dynastien verlieren konnte. Ursprünglich offenbar als Rechtfertigung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 156
einer selbst gerade neu errichteten Dynastie gedacht und moralisch interpretiert, wurde die Theorie seit der Han-Zeit auch kosmologisch begründet – ein weiterer Beweis für das Fehlen einer grundsätzlichen Trennung von Menschheits- und Naturgeschichte: Danach sollten das Entstehen und Vergehen der Dynastien auf das Walten der seit alters angenommenen fünf Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Holz, Metall) zurückgehen, die sich in ihrer aktiven Herrschaft reihum ablösten. Über die Einordnung der Dynastien in dieses Schema bestand zwar schon zur Han-Zeit, als es sich erst um ein paar Dynastien handelte, ebensowenig Einigkeit wie darüber, welches der verschiedenen existierenden Ablaufschemata zugrunde gelegt werden sollte; aber das Gefühl, daß hier ein fester Mechanismus tätig war, ging auch dann nicht mehr verloren, als die wiederholte Zersplitterung des Reiches die Anwendung der Theorie weiter kompliziert hatte. Da die für die orthodoxe Beurteilung einer Dynastie maßgebliche »offizielle Dynastiegeschichte« erst nach deren Zusammenbruch abgefaßt wurde, bestand durchaus Gelegenheit, durch bestimmte Akzentsetzungen oder Einschiebsel den Lebensbogen einer jeden Dynastie vor Augen zu führen: Glück verheißende Omina in der Natur und das Herrschen integrer Persönlichkeiten markierten ihren Beginn, Naturkatastrophen und die Usurpierung der Macht durch Schurken und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 156
Verbrecher ihr Ende. Wichtig ist hier die enge Verschmelzung von Moral- und Naturvorstellungen; denn der unfähige oder bestialische Herrscher, für den der oben einmal erwähnte Tyrann Chou, der letzte König der Shang-Dynastie, ein Musterbeispiel war, galt gleichzeitig als Ergebnis und Ursache des Niedergangs einer Dynastie. Noch wichtiger aber ist, daß damit implicite die These aufgestellt wurde, die Geschichte wiederhole sich beständig nach einem klar erkennbaren Modell. Bis zu einem gewissen Grade ist dieser Gedanke auch noch in den modernen zyklischen Periodisierungen von J. S. Lee (1931) und Chi Ch'ao-ting (1936) enthalten: Lee unterteilt die chinesische Geschichte in Epochen von etwa achthundert Jahren (Einschnitte: 11. und 3. Jahrhundert v. Chr., 6. und 14. Jahrhundert n. Chr.), die in sich jeweils in eine kurze, starke und in zwei langlebige Dynastien sowie in eine Endperiode des Zerfalls unterteilt sind. Chi dagegen sieht, von der Wirtschaftsgeschichte ausgehend, seit 255 v. Chr. fünf Perioden einander ablösen, die abwechselnd eine »Zeit der Einheit und des Friedens« (255 v. Chr. bis 221 n. Chr., 589-907, 1280-1912) und eine »Zeit der Trennung und des Kampfes« repräsentieren. Die Idee, daß Bewegung nur im zyklischen Sinne vollziehbar sei, war, wie wir bei der Betrachtung des damit verwandten Zeitbegriffs gesehen haben, dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 156
chinesischen Denken durchaus nicht als einzige Möglichkeit vorgegeben. Zwar ist die »Zeitfläche« geschlossen, aber in ihr kann die Bewegung völlig frei verlaufen: Jede Situation trägt (wie es in den Hexagrammen des I-ching dargestellt ist) alle anderen Situationen potentiell in sich; welche davon aktualisiert wird, regelt sich danach, an welcher Stelle die Bewegung, die Veränderung beginnt. Die ungleich simplere Zyklus-Theorie bestach demgegenüber durch die festen Voraussagen, die sich mit ihr machen ließen, und durch den Gedanken eines verharrenden Mittelpunkts, den sie zwangsläufig mit einschloß. Die Vorstellung von solch einer unbewegten Bewegung hat auf das gesamte chinesische Geistesleben eine hohe Faszination ausgeübt. Sie findet sich in dem besonderen Augenmerk, das die chinesische Astronomie dem Nordstern und den zirkumpolaren Sternbildern (und nicht so sehr, wie die Ägypter, Griechen und später die Europäer, den in der Ekliptik jahreszeitlich am Horizont auftauchenden und verschwindenden Sternbildern) zuwandte, ebenso aber auch in der davon abgeleiteten Idealvorstellung vom rechten Herrscher, der, dem Nordstern gleich, ohne sich selbst zu regen, gleichwohl die Richtung allen Bewegens bestimmt, und schließlich in der besonderen Wertschätzung der Harmonie, der Ausgeglichenheit, des »Maßes und der Mitte«, die namentlich die konfuzianische Moral Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 157
kennzeichnet. Die Überlegung, daß die chinesische Geschichte sich im Sinne einer Evolution geradlinig fortentwickelte, konnte erst unter europäischem Einfluß entstehen. Sie fand seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zunächst in Japan Eingang: Man bemühte sich nicht nur, das Schema »Altertum, Mittelalter, Neuzeit« zu übertragen, sondern auch sonst Parallelen zur westlichen Geschichte zu ziehen. Die Versuche waren vielleicht in manchem etwas forciert, aber ungemein anregend. Das gilt insbesondere von den Theorien des Sinologen Naito Torajiro (18661943), die nicht nur nach China, sondern auch nach dem Westen ausstrahlten. Seine Hauptentdeckung war die von der beginnenden Sung-Zeit als einem Wendepunkt in der chinesischen Kultur. Wesentlich weniger fruchtbar sind dagegen bis heute die seit mehr als vierzig Jahren gleichzeitig in Japan und China rastlos vorangetriebenen Bemühungen gewesen, die chinesische Geschichte in das marxistische Ablaufschema einzupassen; die verschiedenen Meinungen, wann zum Beispiel die »feudalistische« Periode begonnen haben soll, differieren um bis zu zweitausendfünfhundert (!) Jahre. Die hohe Beachtung, die man der Diskussion über diese »Periodisierungen« schenkt, zeigt erneut den Wert, der im heutigen China wie seit eh und je dem äußerlich Formalen bei der inhaltlichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 157
Interpretation der Geschichte zugemessen wird. Die traditionelle Vorstellung vom zyklischen Charakter der Geschichte gab dem Grundsatz historia docet in China natürlich besondere Bedeutung: Die Geschichte war nicht nur – wie wir bei Betrachtung des »historischen Arguments« gesehen haben – wichtigstes Ausdrucksmittel der Logik und Rhetorik, sondern auch jedes politischen und moralischen Wertsystems. Das führte zu Konsequenzen, wie sie sich in diesem Ausmaß und in dieser Unmittelbarkeit wohl kaum in einem anderen Land zeigten: Die Geschichtsschreibung wirkte auf den Geschichtsverlauf zurück. Natürlich hat es die Historiographie als Mittel der Politik überall gegeben, aber selten war der Personenkreis, der die Geschichte schrieb, zugleich der, der die Politik in der Hauptsache machte, und nirgends wohl hatte man gerade das zu einer Institution werden lassen: Denn wenn vielleicht auch nicht direkt die Autobiographie des chinesischen Volkes, so ist die einheimische Geschichtsschreibung doch im wesentlichen die Autobiographie der Literatenschicht gewesen, die – von den Priesterschreibern der Shang-Dynastie angefangen über die Astrologen-Historiographen der Chou- und Han-Dynastie bis herab zu den in offiziellen Geschichtskommissionen zusammengefaßten oder privatim Geschichte schreibenden Beamten der Folgezeit – unmittelbaren Einfluß auf politische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 158
Entscheidungen hatte. Es gab zwei Arten, durch die der Geschichtsschreiber auf die Geschichte einwirken konnte: Die direktere spielte vor allem in den früheren Perioden bis gegen Ende der Han-Dynastie eine Rolle, solange die Historiographie noch hauptsächlich in der Hand der Astrologen lag. Da sie nicht nur historische Ereignisse, sondern auch günstige und ungünstige Omina zu registrieren hatten, bot sich ihnen, wie übrigens auch den Priesterschreibern der Shang-Zeit, beim Stellen der Orakel, die Gelegenheit zu mannigfachen Manipulationen, die diese oder jene Aktion oder Persönlichkeit unterstützten oder bekämpften, und das durchaus nicht immer im Sinne des Kaisers. Vor allem in der Frühen Han-Dynastie vermochten sie damit (wie W. Eberhard gezeigt hat) den Herrscher regelrecht in Schach zu halten, wobei ihnen der Umstand zustatten kam, daß der zeitliche Abstand zwischen einem Omen und dem Ereignis, auf das es sich angeblich bezog, nicht feststand. Man kann ihre diesbezügliche Tätigkeit noch heute an manchen Berichten über Sonnenfinsternisse, die nachweislich niemals stattfanden, nachweisen. Erst in späterer Zeit, als sie auch ihre Schlüsselposition als Historiographen verloren hatten, wurden die Astrologen immer mehr zu willfährigen Propagandisten der kaiserlichen Obrigkeit. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 158
Die Literaten, die ihnen folgten, kamen aus zu verschiedenen Tätigkeitsbereichen, als daß sie so unmittelbar hätten wirksam werden können, außer sie waren selbst politische Beamte. Hier war es das in die Historiographie eingeführte Prinzip des »Lob und Tadels« (Pao-pien), das die Obrigkeit zwar nicht zu bestimmten Aktionen, wohl aber zur Einhaltung gewisser Spielregeln zwang. Bei Mencius wird berichtet, daß »die rebellischen Minister«, mit denen aber gleichzeitig auch die Fürsten gemeint sind, »erschraken, als Konfuzius sein Ch'un-ch'iu vollendet hatte«, weil sie sich plötzlich einem unbestechlichen Urteil der Geschichte gegenübersahen. Dieses Urteil brauchte nicht in der wahrheitsgetreuen Berichterstattung zu bestehen; es konnte im Gegenteil – nach konfuzianischer Auffassung völlig legitim – durch Verschweigen, Wortwahl, ja selbst Namensänderungen eine höhere Wahrheit als die der Realität zum Ausdruck bringen. Hier tritt ein wichtiges Motiv der chinesischen Historiographie zutage: Die Geschichtsschreibung soll nicht nur berichten und belehren, sie soll auch erziehen, und zwar gerade und vor allem den Herrscher. Eine alte Tradition, die bis zur Ming-Zeit zwar oft umgangen, aber nicht gebrochen wurde, verbot dem Kaiser die Einsichtnahme in die Hoftagebücher, um dem Historiographen ein freies Urteil zu ermöglichen; dasselbe bezweckte ja auch die Regel, daß jede Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 158
Dynastie nur die Geschichte der vorangegangenen Dynastie und nicht die eigene abfassen durfte. Die Tatsache, daß dennoch von der Späteren Chou-Zeit an bis hinein in die Ch'ing-Zeit zahlreiche Historiker ihre Unbestechlichkeit mit Degradierung, Verbannung, ja mit dem Tode bezahlten, beweist nur einmal mehr, wie sehr jeder, selbst der Kaiser, unter dem Druck der unablässig registrierenden Geschichtsschreibung stand. Die normative, ja klischeebildende Kraft, die sie darüber hinaus seit den frühesten Tagen auf die Ausbildung sämtlicher Wertsysteme und Denkkategorien ausgeübt hat, ist in ihrem ganzen Ausmaß kaum vorstellbar. Eines der wichtigsten Probleme, das die moderne Geschichtsforschung zu bewältigen hat, ist daher nicht nur die eine Frage, inwieweit die chinesische Historiographie durch die ständige Orientierung an der Vergangenheit echte neue Ideen und Bewegungen in der chinesischen Geschichte unverfälscht (wenn überhaupt) zu registrieren vermochte, sondern auch die andere, inwieweit sie nicht, allein durch ihre Existenz, solche neuen Ideen und Bewegungen erschwerte oder unmöglich machte. Daß sie, alles in allem, einerseits eine Kontinuität in manchen Erscheinungsformen der chinesischen Geschichte vortäuschte, die gar nicht bestand, andererseits zu den Kräften gehörte, die sie bisweilen tatsächlich bewirkten, ist Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 159
sicher. Die chinesischen Historiker waren jedenfalls von der Unvergänglichkeit der Vergangenheit tief überzeugt, denn sie lehrten, wie einer von ihnen (Wang O im 13. Jahrhundert) es formulierte: »Seit alters kann zwar ein Staat zerstört werden, aber nicht seine Geschichte.«
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 159
Die Kräfteverspannung an der Staatsspitze Der Zwiespalt in der monarchistischen Idee Es gibt zwei Konstanten in der Geschichte einer Kultur: das tatsächlich Dauernde an ihr, das sie durch alle Ausbildungsphasen hindurch unverändert begleitet; und eine gewisse Stetigkeit, die die Richtung und den Charakter all ihrer Veränderungen und Bewegungen kennzeichnet. Insofern als »die Wandlung das Wesen der Geschichte ist« (Burckhardt), kommt diesem Regelmäßigen in der Bewegung natürlich noch höhere Bedeutung zu als dem schlechthin Dauernden, aber es ist gleichzeitig auch schwieriger zu erfassen; denn jede neue Erkenntnis kann hier mehr noch als dort das bereits gewonnene Gesamtbild wieder entscheidend verändern. Das gilt auch für die chinesische Geschichte, über die wir ja immer noch sehr wenig wissen. Dennoch lassen sich auch auf diesem Gebiet einige Feststellungen treffen, die wohl in Zukunft modifiziert, aber wohl kaum gänzlich umgestürzt werden dürften. Die Bewegung in der chinesischen Geschichte verlief auf zwei Ebenen, die sich in vieler Hinsicht überschnitten: einer horizontalen, die durch die fortschreitende Ausbreitung des Kulturgebietes gesetzt war, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 159
und einer vertikalen, auf der sich die Auseinandersetzung zwischen einzelnen Persönlichkeiten, Gruppen und Klassen vollzog (Hulsewé). Auf der vertikalen, der wir uns zunächst zuwenden wollen, liefen die Spannungslinien wiederum in zwei völlig getrennten Richtungen: Sie traten einmal zutage in den – oft recht spektakulären – Kämpfen der Obrigkeit (Herrscher und Beamte) gegen bestimmte neben den Bauern bereits von jeher existierende oder neu aufkommende »dritte Kräfte«, zum anderen in dem stillen Ringen zwischen Herrscher und Beamten, das die ganze Geschichte hindurch das Wesen dieser Obrigkeit kennzeichnete, ihr aber gerade wegen des dahinter stehenden Konflikts eine innere Lebendigkeit und Dauer verlieh. Die Prinzipien, nach denen China regiert wurde, seit es von Ch'in Shih Huang-ti (221-206 v. Chr.) zum ersten Male zu einem Imperium zusammengeschweißt worden war, enthüllen eine Art Schizophrenie des Denkens, die sich aus dem zwiespältigen Charakter dieser Prinzipien selbst erklärt. In der ShangDynastie war, soweit wir heute erkennen können, die Regierungsgewalt noch aufgeteilt gewesen zwischen dem König, der offensichtlich aus dem Stammeshäuptling herausgewachsen war, und den Priestern, die den Kontakt zur Welt des Übernatürlichen garantierten. Die Errichtung der Chou-Dynastie veränderte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 160
das Bild: Beide Funktionen wurden vom König übernommen, die Priester verschwanden entweder völlig, oder sie traten, dank ihrer Kenntnisse von Astronomie, Schrift und Verwaltung, in profane Stellungen ein. In der ersten Hälfte des 8. vorchristlichen Jahrhunderts verlor der Chou-König nun aber seine militärische und damit seine politische Oberherrschaft; das auf einem Familien-Feudalismus aufgebaute Reich brach faktisch auseinander. Die festgefügte Idee des T'ien-hsia blieb jedoch erhalten und erlaubte es dem Chou-König, trotz Verlust der weltlichen eine geistige Autorität über das Gesamtreich zu bewahren und damit in die Rolle eines Oberpriesters einzutreten. In dieser Periode, der »Späteren Chou-Dynastie«, die schließlich in ein turbulentes Chaos sich unablässig bekriegender Staaten einmündete und im Grunde nichts anderes war als das lange Sterben der Idee des Feudalismus, wurde der Konfuzianismus geboren. In einer Umwertung aller Werte, die er gleichwohl mit Überzeugung als eine Überlieferung des Alten bezeichnete und dadurch in die Vergangenheit zurückprojizierte, deutete er das überlebte ritualistische und feudalistische Begriffssystem in ein moralistisches und ästhetisches um. Aus dem Chün-tzu, dem »Fürstensohn«, der seine Privilegien aus der Geburt herleitete, wurde der ganz rational begriffene »Edle«, der (dem Ideal des gentleman nicht unähnlich) seine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 160
Führungsstellung auf Grund seiner charakterlichen Integrität und seines äußeren Wohlverhaltens beanspruchte: Der Adel des Geistes trat an die Stelle des Adels der Geburt. Er war von Anfang an mit der (unausgesprochenen) Idee der Freiheit in doppelter Weise verknüpft: Er stand einem jeden offen, der danach strebte, und er bedingte zwar ein aus der Kenntnis des Altertums gewonnenes ethisches, aber kein eigentlich fachliches Wissen; denn der »Edle« ist – wie es die Tradition Konfuzius formulieren läßt – »kein Gerät«. Der Adel dieser neuen Art war nach konfuzianischer Ansicht dazu berufen, dem König bei der Verwaltung des Reiches zu helfen; aber auch der König selbst mußte diesem Adel angehören. Die Erhaltung und Erringung des »Reiches«, des T'ien-hsia, das ja eher eine geistige als eine politische Größe darstellte, konnte nur auf geistige Weise gelingen; ein ethisches Charisma statt des überkommenen magischen mußte den König – wie vor allem Mencius immer wieder gepredigt hat – des Thrones würdig erweisen. Neben der konfuzianischen stand nun aber die etwas später entstandene, in dem Buch Shang-yangtzu und in den Schriften des Han Fei-tzu formulierte Philosophie der »Legalisten«. Sie wurzelte sehr stark im Taoismus und war infolgedessen auch in ihrer Staatslehre amoralisch und traditionsfeindlich. Sie hatte mit dem Konfuzianismus höchstens eines Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 160
gemeinsam: die Tendenz, das alte feudalistische Wertsystem aufzulösen, aber sie tat es auf eine ungleich direktere, brutalere Weise; sie füllte es nicht mit einer neuen Bedeutung, sondern sie hob es völlig auf – sowohl in seiner ursprünglichen Form als auch in seiner konfuzianischen Umdeutung. Nicht ein ewiges, aus der Vergangenheit überkommenes Moralgesetz, dem sich jeder, auch der König, zu unterwerfen hatte, postulierten die Legalisten als Grundlage der Regierung, sondern ein willkürlich, wenn auch planvoll gesetztes positives Recht, das unterschiedslos alle unter sich zwang und alle Menschen zu gleichen Größen machte, mit einer einzigen Ausnahme: den Herrscher selbst. Die Verwaltungsorgane, durch die dieses Gesetzessystem zu verwirklichen war, sollten sich nicht etwa als moralisch gut qualifizieren, sondern eher im Gegenteil als moralisch schlecht, damit das Gesetz um so deutlicher in Erscheinung trete und nicht vielleicht durch die Interferenz mit einem gleichsam höheren Gesetz, etwa dem der »Menschlichkeit«, das die Konfuzianer so sehr pflegten, verwischt würde; die Beamten sollten Spezialisten sein, sonst nichts. Die Gegenüberstellung des Begriffes fa, »Gesetz« (nach dem die »legalistische Schule« Fa-chia ihren Namen erhielt), mit dem in analoger Weise ebenso zentralen Begriff li, »Rite«, bei den Konfuzianern macht deutlich, wie in dem legalistischen System Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 161
der Herrscher alle existierende Freiheit an sich zog: Das »Gesetz« verlangt von dem Untertan keinerlei selbständige geistige Reaktion (nicht einmal besondere Zustimmung), sondern ausschließlich blinden Gehorsam. Es soll so stark werden, daß es, nachdem es einmal vom Herrscher in Gang gesetzt worden ist, wie eine Naturgewalt auch von ihm getrennt selbständig weiterwirken und ihm am Ende Gelegenheit zur Erfüllung des (hier taoistisch gewendeten, im Prinzip aber, wie wir an dem Beispiel des Nordsterns gesehen haben, urchinesischen Ideals des) »Nicht-Tuns« (Wu-wei) geben kann. Die »Rite«, die »gute Sitte« dagegen, mit der die Konfuzianer die Menschheit zu lenken hofften, basiert auf dem Prinzip des »Überzeugens«. Man muß die gute Sitte zunächst kennenlernen – das ist die Bewegung, die als unmittelbare Lehre oder als Vorbild des Altertums auf den Einzelnen zukommt; er muß sie dann aber auch freiwillig annehmen und damit die Bewegung wieder zurückfließen lassen. Der Legalismus konnte sich verständlicherweise zunächst nur in einem »Pioniergebiet« der damaligen chinesischen Kultur durchsetzen, wo die harten Notwendigkeiten, die sich aus der enormen Ausdehnung des Reiches für jede prospektive Gesamtregierung zwangsläufig ergaben, deutlicher gesehen wurden, ungetrübt durch den Schleier einer in historischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 161
Vorstellungen befangenen Tradition: Die Ch'in-Dynastie, die den Legalismus zur Grundlage der Verwaltung machte und damit China zum ersten Male wirklich einigte, wurde daher nicht zufällig im äußersten Westen des Reiches gegründet. Es war dies zwar durchaus nicht das einzige Mal, daß China unter einem despotischen System stand, aber das einzige Mal, daß man das offen zugab. Während der ersten achtzig Jahre der Han-Dynastie, die der kurzlebigen Ch'in-Dynastie folgte (und in ihrem Namen in Ostasien zum Synonym für »China« schlechthin wurde, ebenso wie Ch'in im Westen), entstand nämlich jener innere Zwiespalt im Regierungssystem, jene »Schizophrenie«, von der oben die Rede war: Der Legalismus hatte sich durch seine Brutalität so viele Feinde unter allen geistigen Strömungen geschaffen, daß er ein für allemal desavouiert war; bezeichnend dafür ist, daß die Geschichtsphilosophen, die damals die Dynastien in ihr »Fünf-Elemente«-Schema einordneten, sich sogar darüber uneinig blieben, ob die Ch'in als eigene Dynastie zu gelten hätte oder nicht. Der Kampf, der im Namen des Feudalismus gegen den Legalismus geführt worden war, konnte jedenfalls offiziell nicht gut mit der Errichtung eines zentralistischen, legalistisch regierten Reiches enden. Der Konfuzianismus vermittelte unter diesen Umständen den einzigen Kompromiß: Er bot mit seiner Terminologie, seiner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 162
Ideenstruktur und seiner Anlehnung an ein Goldenes Zeitalter die Verbindung zum Feudalismus, und mit seiner Schar hochgebildeter Anhänger gleichzeitig eine Personengruppe, die zum Aufbau einer ihrem Wesen nach eben doch legalistischen Staatsmaschinerie unentbehrlich war. So wurde die Han-Dynastie unter einem Gesetz, das schon Montesquieu auf die simple Formel gebracht hatte, große Staaten lebten unausweichlich unter einer Despotie, mittlere unter einer Monarchie und kleine unter einer Republik, zu einem legalistischen Staatswesen mit nur scheinbar konfuzianischer Ideologie. Als die konfuzianischen Literaten sich als Beamte anstellen ließen, begaben sie sich in das Abenteuer dieses Jahrhunderte währenden inneren Kampfes mit dem Kaiser nicht, weil sie dieses Paradox als solches nicht erkannten, sondern weil sie dem Konfuzianismus, auch unter diesen Umständen – wie sich zeigen sollte zu Recht – eine nicht geringe Wirkkraft zutrauten. Der Kaiser besaß zwar die Regierungsgewalt, die ihm von den Konfuzianern auch zugestanden, ja in vielem sogar erst ermöglicht wurde, aber in ihrer Ausübung war er durch die eigentlich anachronistischen, vom feudalen in den moralischen Sinn übertragenen Denkkategorien der Konfuzianer erheblich eingeengt; das Tabu, das auf der legalistischen Staatstheorie lag, beraubte den Herrscher wiederholt der Möglichkeit, den vollen Einsatz Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 162
des Despotismus vor anderen und vor allem vor sich selbst zu rechtfertigen. Diese Verspannung an der Spitze des Staates lief nicht auf eine starre Pattstellung zwischen den beiden, neben den Bauern dauerhaftesten Komponenten der chinesischen Gesellschaft, dem Herrscher und der Literatenschicht, hinaus, sondern sie konnte sogar im Optimalfall zu etwas Ähnlichem wie einer Trennung der Gewalten führen. Beide Seiten wachten eifersüchtig darüber, daß die andere ihre Kompetenz nicht überschritt und ihr Amt auch wirklich ausfüllte. Beide Seiten versuchten aber auch, sich soweit wie möglich von der anderen unabhängig zu machen. Davon profitierten, wie wir noch sehen werden, mitunter »dritte Kräfte«, die vor allem der Kaiser, der ja sonst völlig isoliert stand, an sich zog, um die Literaten-Beamten in Schach zu halten. Aber es gab auch ebensolche Kräfte, gegen die beide Seiten gemeinsam vorgingen; denn die Institutionen zu ihrer gegenseitigen Kontrolle waren zwar nie lückenlos, aber doch gut genug, um über längere Perioden die Balance auch ohne ein Ausgreifen nach außen zu ermöglichen. Freilich bildete sie sich erst ganz allmählich im Laufe einer über tausend Jahre währenden Entwicklung heraus; denn das Han-Reich hatte diese Polarität, wie sie geschildert wurde, zwar zum ersten Male Wirklichkeit werden lassen, sie war aber dann bis zur Sung-Dynastie durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 162
das Aufkommen eines sekundären Feudalismus die meiste Zeit hindurch nur noch eine bloße Fiktion, wenngleich auch selbst als solche noch wirksam. Die Legitimation von Kaiser und Beamten Das allgemein akzeptierte Kriterium dafür, ob ein Herrscher oder Beamter sich in seiner Stellung bewährte oder nicht, war prinzipiell in beiden Fällen das gleiche: Es bestand ganz schlicht in dem Erfolg oder Mißerfolg, den die Amtstätigkeit nach sich zog, freilich nicht nur auf der profanen Ebene der Verwaltung und Politik, sondern – je höher das Amt, desto mehr – auch auf der des Naturgeschehens: Für eine Naturkatastrophe konnte ein Beamter, wenn sie sich in seinem Bezirk zutrug, ebenso verantwortlich gemacht werden wie der Kaiser, wenn dasselbe in einem größeren Ausmaß geschah. Interessant waren aber die Unterschiede in der Legitimation, die zur Übernahme des Amtes – sei es das des Kaisers oder das des Beamten – für notwendig erachtet wurden: Hier läßt sich das Ineinanderspielen feudalistischer, konfuzianischer und legalistisch-despotischer Strömungen am deutlichsten ablesen. Was den Herrscher angeht, so verwies die Geschichtstradition, die ja in ihren Präzedenzfällen die Denkmöglichkeiten erkennen läßt, sowohl auf das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 163
Erb- als auch auf das Wahlkönigtum als Grundlage einer legitimen Machtübernahme. Das Wahlkönigtum wurde von den Historiographen an den Anfang der Geschichte, in ein Goldenes Zeitalter verlegt und damit in seinem Wert besonders hervorgehoben. Die Wahl lag hier jedoch charakteristischerweise nicht etwa in der Hand des Volkes oder des Adels, sondern in der des scheidenden Herrschers: So soll der heilige Kaiser Yao, der der Überlieferung nach zu Beginn der chinesischen Kultur regierte, den tugendhaften Shun an Stelle seines eigenen, unwürdigen Sohnes auf den Thron gehoben haben, und Kaiser Shun soll dasselbe mit dem trefflichen Yü, der als erster die Fluten des Huangho bändigte, getan haben. Erst danach beginnt für die Historiker das Zeitalter der Erbmonarchie, in dem nicht Einzelpersönlichkeiten, sondern Familien sich in der Herrschaft ablösen. Aber auch hier kam man nicht ganz ohne den Begriff der »Wahl« aus, obgleich er dort nurmehr in viel größeren Intervallen eine Rolle spielte: der Gedanke der Kontinuität des T'ien-hsia verlangte nämlich ein verbindendes Drittes, das das Charisma der Herrscherwürde beim Dynastienwechsel unbeschädigt von einer Familie auf die andere übergehen ließ. Dieses Verbindende sahen die ersten Chou-Könige (über die Verhältnisse bei der Gründung der Shang-Dynastie sind wir nicht unterrichtet) in einem T'ien-ming, einem »himmlischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 163
Auftrag«, den sie vom T'ien, »Himmel«, der damals noch eindeutig als persönlich – aber offensichtlich nicht transzendent – gedacht war, entgegennahmen. Die »Wahl« wurde also auf eine höhere Ebene verlegt, was durch den langen zeitlichen Abstand zum Goldenen Zeitalter eines Yao gerechtfertigt schien: Nicht der letzte Herrscher einer abgelebten Dynastie, sondern der Himmel selbst entschied darüber, welche tugendhafte und fähige Familie statt der alten dekadenten an die Spitze des Reiches zu stellen sei. Die Idee vom »himmlischen Auftrag«, den die oberste Staatsgewalt angeblich besaß, hielt sich dem Namen nach die gesamte chinesische Geschichte hindurch, ja sie geisterte sogar noch durch das Vokabular der republikanischen Revolutionäre zu Beginn unseres Jahrhunderts. Aber schon zur Ch'in- und Han-Zeit hatte sich damit – wie die Verquickung mit der FünfElemente-Theorie zeigt – die Vorstellung von dem spontanen Wirken einer allumfassenden, unbewußten Naturkraft verbunden, im gleichen Maße wie auch der Begriff T'ien, »Himmel«, nach und nach alles Persönliche eingebüßt hatte; denn schon Konfuzius verneinte, daß der Himmel hören und reden könne. Darüber hinaus mochte es den Han-Gelehrten auch widerstreben, den Erfolg der gehaßten Ch'in-Dynastie auf die Entscheidung einer persönlichen überirdischen Macht zurückzuführen. So durften sich denn die Han-Kaiser Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 163
zwar im Besitz eines T'ienming glauben, für den unzählige Naturphänomene zeugten, aber sie waren nicht durch eine »Wahl« im alten Sinn an die Regierung gekommen. Sie konnten sich allenfalls auf die »Meinung des Volkes« berufen, die nach Mencius die Bewußtwerdung des Himmels – vox populi, vox Dei – darstellte; aber das war doch recht vage und auf die Dauer angesichts ihres recht despotischen Regimes auch nicht ganz ungefährlich. Das Verfahren, das die nächste, offiziell allerdings nicht anerkannte Dynastie, die Hsin-Dynastie des Wang Mang einschlug, um sich zu legitimieren, wies den Ausweg aus dem Dilemma: Wang Mang ließ sich vom letzten Kaiser der vorausgegangenen »Früheren Han-Dynastie«, einer Marionette in seiner Hand, die Regierungsgewalt in einer Abdankungszeremonie (Shan-jang) feierlich übertragen – eine, freilich ernst genommene Parodie auf den Thronverzicht der heiligen Kaiser. So kurz sein Staat bestand, so sehr er von der Geschichte verurteilt wurde, dieses Beispiel Wang Mangs machte Schule: Bis in die Sung-Zeit hinein versuchten die meisten Dynastien ihre Regierungsgewalt nicht nur durch die Erlangung der Kaiserinsignien (namentlich des Reichssiegels) formell zu legitimieren, was ehedem ausgereicht hatte, sondern möglichst auch durch eine Shan-jang-Zeremonie, vorher freilich mußten sie ihre Ansprüche noch durch den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 164
Nachweis entsprechender Naturerscheinungen glaubhaft machen. Natürlich war dieses System nicht dazu geeignet, die Einheit des Reiches oder die Langlebigkeit einer Dynastie zu stärken, im Gegenteil: in unruhigen Zeiten konnte die Jagd nach der politischen Macht auf der einen Seite und den dazugehörigen Legitimationen (Shan-jang, Reichsinsignien) auf der anderen groteske Formen annehmen: Ein neuer Kaiser konnte zum Beispiel das eine haben und das andere nicht und umgekehrt. In der Periode der »Sechs Dynastien« und vor allem in der Wu-tai-Zeit war so die Shan-jang-Idee mit ein Glied in jenem circulus vitiosus, der zum. Zerfall des Reiches, zur zunehmenden Erstarkung des lokalen Adels und zur Bildung ephemerer Staatsgebilde führte. Die konfuzianisch gesinnten Historiker der Sung-Dynastie (deren erster Kaiser selbst noch durch eine Shan-jang-Zeremonie auf den Thron gebracht wurde) hatten größte Mühe, den »Faden der Legitimität« (Cheng-t'ung) durch ein Gewirr von neben- und hintereinander regierenden Dynastien zurückzuverfolgen, als sie sich daranmachten, die Kontinuität des T'ien-hsia nachzuweisen. In ihrer Sicht erscheint das »Mandat des Himmels« fast wie ein priesterliches Sakrament, das von Herrscher zu Herrscher und dann wieder von Dynastie zu Dynastie auf gültige oder ungültige Weise übertragen werden konnte – eine eigentümliche Mischung aus der uralten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 164
Idee einer Wahlmonarchie, die von den Königen selbst vollzogen wurde, und der Chou-zeitlichen Auffassung, daß der Himmel die ihm zusagende Herrscherfamilie bestimme. Die eifrige Tätigkeit dieser konfuzianischen Geschichtsphilosophen der Sung-Dynastie, unter denen der Name Ou-yang Hsiu (100772) hervorgehoben zu werden verdient, verknüpfte die Kulturidee des T'ien-hsia so eng mit einer politischen Staatsidee, daß sich die innere Widerstandskraft des Reichsgedankens von der kulturellen auch auf die politische Ebene übertrug: Seit dem 10. Jahrhundert hat es in der Tat keine Dynastiewechsel im engeren Sinn mehr gegeben: Entweder wurde das Kultur- und das Nationalgebiet in einem (T'ien-hsia und Kuo) von außen (Mongolen oder Manchus) unterworfen, so daß es sich erübrigte, über Legitimität zu reden – oder es gelang, eine Fremddynastie wie die der Mongolen zu stürzen, so daß die Legitimität der darauffolgenden einheimischen Dynastie evident war. Ein überzeugender Beweis hierfür ist die Errichtung der Süd-SungDynastie, die im Grunde keine Fortsetzung der NordSung darstellte, sondern eine Neugründung war. Vor Ou-yang Hsiu hätte 1127, als ganz Nordchina an die Jurchen verlorenging, sicherlich eine andere Dynastie die Macht übernommen. Auf gleicher Linie liegt auch, daß Sung-Loyalisten bei der Vertreibung der Mongolen aus China und Ming-Loyalisten sogar noch bei Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 165
der Beseitigung der Manchu-Dynastie äußerst aktiv waren. Der Loyalismus, der seit der Sung-Zeit indirekt für die Legitimation des Kaisers wesentlich wurde, obwohl er unmittelbar ja bloß den Beamten betraf, zeigt am deutlichsten die im Laufe der Jahrhunderte immer engere Beziehung zwischen Kaiser und Beamten. In gewisser Weise, nämlich in bezug auf die Legitimation, bestand sie natürlich schon zu Beginn der chinesischen Kultur: Unter dem Chou-zeitlichen Feudalismus scheinen die meisten Beamtenstellen erblich gewesen zu sein, ja selbst die Orakelpriester der ShangDynastie gaben ihr Amt an Kind und Kindeskinder weiter. Viele Chou-Beamte namentlich der späteren Zeit entstammten dem langsam verfallenden Adel. Daneben bürgerte es sich auch allmählich ein, Beamte auf Grund der Empfehlung einflußreicher Familien oder wegen ungewöhnlicher geistiger oder körperlicher Fähigkeiten anzustellen. Dieses etwas heterogene System wurde zunächst auch von der Ch'in- und der Han-Dynastie übernommen. Etwas entscheidend Neues gelang erst unter der Regierung Kaiser Han Wu-tis (Regierungszeit: 14086 v. Chr.) mit der Errichtung staatlicher Schulen zur Ausbildung von Beamten und der Einführung von Staatsprüfungen für die unteren Beamtenkarrieren. Dies geschah an sich auf Drängen der Konfuzianer, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 165
die zur selben Zeit auch den Konfuzianismus erstmalig als Staatsreligion durchsetzten. Und doch war die Idee einer »Prüfung« ihrem Wesen nach unkonfuzianisch: nicht, weil sie etwa ausschließlich technische Kenntnisse erforderte – es wurde gerade kein Spezialwissen, sondern eher eine Art humanistische Bildung erwartet –, sondern wegen des Formalismus überhaupt, der die Wahl von einem System, einem Prüfungsstoff statt von menschlicher Kommunikation abhängig machte. Die Staatsexamina spiegelten einen gleichsam säkularisierten Konfuzianismus wider, der schon weitgehend vom Legalismus geprägt war; bezeichnenderweise wurden gerade unter Kaiser Wu-ti die letzten legalistischen Philosophen vom Hofe entfernt, sie waren überflüssig geworden. Der Prüfungsbetrieb ist daher zu Recht immer wieder von hervorragenden Konfuzianern kritisiert worden, denn er sicherte weniger den Konfuzianern einen Einfluß auf den Thron als umgekehrt dem Thron einen Einfluß auf die Konfuzianer, da sich ja durch die Auswahl des Prüfungsstoffs die Vorstellungswelt der Intelligenz beliebig lenken ließ. Trotzdem wurde die Staatsprüfung als eine Art Kompromiß zwischen Konfuzianismus und Legalismus angesehen: Sie garantierte ja eine Staatsstellung nicht automatisch, sondern machte sie nur möglich. Die endgültige Entscheidung darüber hing meist doch wieder – ganz konfuzianisch – von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 165
der persönlichen Bürgschaft bereits installierter Beamter ab. Für den Adel waren die Staatsexamina dagegen völlig unannehmbar; tatsächlich wurden sie von Kaiser und Literaten ganz bewußt als Waffe gegen ihn benutzt. Während der folgenden Jahrhunderte gab es daher um die Prüfungsfrage zwischen Adel und Kaiser eine zähe Auseinandersetzung, bei der oft mit gezinkten Karten gespielt wurde. Die groteskeste Entwicklung auf diesem Gebiet, die sich etwa im 4. Jahrhundert zeigte, war das System der »Neun Grade« (Chiu-p'in), in das alle Beamtenanwärter nach ihren moralischen Qualitäten eingestuft werden sollten – eine Einrichtung, die nach außen hin wesentlich konfuzianischer wirkte als eine staatliche Prüfungsordnung, in Wirklichkeit aber allein dem Adel diente. Eine Rückentwicklung anderer Art waren die patriarchalisch organisierten »Examensfamilien« mit dem Prüfer als »Vater« und den Prüflingen als »Söhnen«. Wirklich durchgesetzt haben sich die Staatsexamina jedenfalls erst in der Sung-Zeit, als der selbständige Adel endgültig zerschlagen war. Die Zirkelbewegung, die sie der chinesischen Geistesgeschichte gegeben haben, beruhte sowohl darauf, daß das »Altertum«, das heißt das klassische Schrifttum, zum Prüfungsstoff und damit natürlich auch zum fast ausschließlichen Lehrstoff gemacht wurde als auch darauf, daß Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 166
immer weitere Kreise, vor allem seit der Ming-Zeit, gezwungen waren, sich auf einen immer engeren Ausschnitt der Gesamtkultur festzulegen, dessen Kenntnis den einzigen Weg zu sozialem Aufstieg bot. In der Sung-Zeit überwogen noch ohne Zweifel die positiven Auswirkungen des Examenswesens: Der Drang etwa, eine Art Bestandsaufnahme dessen zu machen, was es an Kultur überhaupt gab, führte zur Kompilierung riesiger Enzyklopädien (wie schon, ebenfalls unter dem Einfluß der Prüfungen, aber in weit geringerem Grade, in der Han- und T'ang-Dynastie) und zur Errichtung von Schulen. Es war ein kühlerer, wissenschaftlicher Geist, der diese Zeit durchwehte, auch in der Betrachtung des Altertums, das ja als Synonym für Kultur stand, nüchterner, aber nicht ernüchtert: Das Goldene Zeitalter wurde nicht bloß in seinem vermeintlichen Glanz verehrt, sondern ernsthaft untersucht. Archäologie, Epigraphik, das Interesse für Historiographie und Archivalien in jeder Form nahmen an Bedeutung zu, eine Art Sammlerleidenschaft befiel die gesamte neue Bildungsschicht, die aus dem alten Kleinadel und einer konfuzianisch eingestellten Grundbesitzersschicht zur sogenannten »Gentry« zusammengewachsen war. Schon in der Ming-Zeit zeigte das Examenssystem jedoch immer mehr unerfreuliche Seiten: Alle aufgeschlossenen Geister empörten sich über seine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 166
schematische Durchführung, die viele Unterschleife, vor allem aber über die Art der Prüfungsthemen, die – da die sinnvollen bald ausgingen und von gerissenen Repetitoren bald im voraus erraten werden konnten – zunehmend abstruser wurden. In der Manchu-Zeit waren dann oft selbst die Prüfungskommissionen ihrer Sache so unsicher geworden, daß sie die Kandidaten weitgehend nach ihrer Kalligraphie benoteten. So fingen sich die Literaten am Ende selbst in der Schlinge des Prüfungswesens, die sie im Bündnis mit dem Kaiser seit der Han-Dynastie immer wieder ausgelegt hatten, um den Adel lahmzulegen: Ihr geistiger Horizont ward abhängig von der Willkür der Führungsspitze. Der Manchu-Kaiser Yung-cheng, der 1726 für zwei Jahre die Prüfungen in der Provinz Chekiang ausfallen ließ, weil er in zwei der Arbeiten eine Kritik an seinem Vorgänger, Kaiser K'ang-hsi, entdeckt hatte, dozierte in unangenehmem Ministerialton, daß »der Staat die Literaten nicht unterstütze, bloß um literarische Talente zu fördern, sondern um den schuldigen Respekt gegenüber dem Herrscher und seinen Vorfahren zu sichern«. Ein in ähnlicher Weise zweischneidiges Schwert war die, wie bereits erwähnt, in der Sung-Zeit entstandene Idee des »Loyalismus«, die gleichfalls zuerst von den Literaten auf Grund vereinzelter historischer Beispiele entdeckt worden war, sich am Ende aber Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 167
gegen sie selbst richtete. Sie forderte, daß der anständige Beamte – wie eine anständige Witwe (das Beispiel war tatsächlich en vogue) – seinem Herrscher, mindestens aber seiner Dynastie über die Regierungszeit hinaus die Treue halten und daher bei jedem Wechsel zurücktreten müsse. Diese Festlegung des Beamten auf die Treue zu einer begrenzten Herrscherperiode statt auf die Treue zu der zeitlich und räumlich unbegrenzten Kulturidee des T'ien-hsia, die noch einem Konfuzius die moralische und faktische Möglichkeit der Freizügigkeit zwischen den einzelnen chinesischen Staaten gelassen hatte, ist auf dem Hintergrund der oben behandelten Cheng-t'ung-Lehre zu sehen, wo die Begriffe Kuo, »Staat« (und Dynastie!), und T'ien-hsia bereits näher aneinandergerückt wurden. Die Übertragung des »himmlischen Auftrags« war nicht zu etwas Unmöglichem, aber zu etwas nicht mehr Selbstverständlichem geworden, in einer Reaktion auf das »würdelose« Spiel, das sich in der Vergangenheit, vor allem in der Wu-tai-Zeit (907-960), als Adel, Militär und Fremdvölker die verschiedensten Dynastien manipulierten, zugetragen hatte; die Anhänglichkeit gegenüber einem Herrscherhaus wurde nun, im Gegensatz zu vorher, zu einem Ausdruck der Anhänglichkeit gegen über der chinesischen Reichsidee, ja zu einem Symbol für die Dauerhaftigkeit dieser Reichsidee selbst. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 167
Der legalistische Aspekt dieser neuen Auffassung bestand darin, daß die Entscheidung dem einzelnen Beamten nicht mehr freistand, daß sie namentlich nicht mehr davon abhing, ob er sich mit seiner »Zeit« in Einklang fühlte oder nicht, sondern daß sie einfach formalisiert wurde. Der Loyalismus, der im Lauf der Zeit immer mehr religiöse Elemente annahm, stärkte daher den Thron nicht nur im Sinne einer Zentralisierung und sozialen Stabilisierung, an der auch den Literaten-Beamten gelegen war, sondern auch in dem Kampf gegen die Literaten selbst. Der freiwillige Loyalismus älterer Prägung hatte für neugegründete Dynastien immer eine latente Gefahr dargestellt, die man zum Teil dadurch zu bannen suchte, daß man die zurückgetretenen Intellektuellen mit der Kompilierung der offiziellen Geschichte des vorangegangenen Herrscherhauses beauftragte; das bot zugleich den Vorteil, daß damit das wirkliche Ende der alten Dynastie und die Rechtmäßigkeit der eigenen Nachfolgeschaft demonstriert wurde. Der erzwungene Loyalismus dagegen wirkte in seiner potentiellen Form, das heißt in der Aussicht jeder revolutionierenden Gruppe, zunächst ohne die eingearbeitete Beamtenschicht auskommen zu müssen, viel eher stabilisierend als in seiner aktualisierten Form bedrohend, nämlich in den Auswirkungen der Revanchegelüste zurückgetretener Beamter; das galt zumindest für die einheimischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 167
Dynastien. Der Grund, weswegen der Loyalismus sich so machtvoll entwickelte, lag zum großen Teil daran, daß er sich zum ersten Male in größerem Stil beim Einbruch der Mongolen zu bewähren hatte. Er verschmolz dadurch mit einem recht handfesten Patriotismus und später, unter der Manchu-Dynastie, sogar mit einer Art Rassismus, die beide zu Vorläufern des modernen Nationalismus wurden. Freilich war der Loyalismus der Mongolenzeit zum großen Teil auch eine aus der Not geborene Tugend; denn die Mongolen warfen ja mit ihrer neuen Sozialhierarchie (Mongolen-Fremdvölker-Nordchinesen-Südchinesen) im Gegensatz zu allen früheren Barbaren die meisten Beamten ohnehin aus ihren Ämtern. Die Ming-Kaiser verstanden es dann aber sehr geschickt, die Kraft der loyalistischen Idee für ihre eigenen Zwecke einzuspannen, als sie darangingen, die Balance zwischen Herrscher und Beamtentum, die in der Sung-Zeit ihre feste Ausprägung erlangt hatte, zu ihren Gunsten zu verschieben.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 168
Die Zerstörung der Balance Den Ansatzpunkt hierzu bot die Auffassung, daß der Kaiser das Reich gleichsam privatim besitze, eine Vorstellung, die der Loyalitäts-Idee zwar keineswegs zugrunde lag, allmählich aber doch immer mehr mitgedacht wurde. Der erste Ming-Herrscher Chu Yüanchang (Hung-wu, Regierungszeit: 1368-1399), als sozialer Emporkömmling in einem fatalen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Literaten befangen, zog daraus eine Konsequenz, die für die Verlangsamung der chinesischen Geschichtsentwicklung seit dem 15. Jahrhundert (die in so auffallendem Gegensatz zu der etwa zur selben Zeit einsetzenden Akzeleration der europäischen steht) weitgehend verantwortlich gemacht werden kann: Er schaffte nach der Niederschlagung einer angeblich von der Regierungsspitze ausgegangenen Verschwörung das traditionsreiche Amt des Ministerpräsidenten ab und gleich auch die dazugehörende »Zentralkanzlei« (Chung-shu-sheng), der alle »Sechs Ministerien« unterstanden hatten. Damit war die Beamtenschaft gleichsam geköpft: Alle Ministerien wurden direkt dem Kaiser unterstellt, die gesamte Verwaltungsarbeit nur mehr von »Großsekretären« geleistet, die keine selbständige Exekutivgewalt besaßen. Chu Yüan-chang ließ auch in den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 168
Schriften des Mencius alle Stellen entfernen, in denen er von dem Recht des Volkes sprach, den »himmlischen Auftrag« des Herrschers zu bestätigen oder zu widerrufen. Auf der gleichen Linie liegt, daß von der Ming-Zeit an bis 1911 alle Regierungsdevisen, nach denen ja die Zeitrechnung erfolgte, nicht mehr in kürzeren Abständen nach Anzeichen in der Natur oder sonstigen für die Regierung bedeutsamen Ereignissen erteilt wurden, sondern nur noch jeweils einmal bei der Thronbesteigung des Kaisers. Das Leben des Kaisers und seine Zeit wurden dadurch institutionell so eng miteinander verknüpft, daß die Regierungsdevise (wie Hung-wu oder K'ang-hsi) gleichermaßen zum Namen des Kaisers und seiner Regierungszeit wurde. Diese ganze Entwicklung war erst durch die vorangegangene »Brutalisierung« der Regierungsmethoden seit der Mongolenzeit möglich geworden, die auch in der Ming-Dynastie ihren Fortgang nahm: Jeder Widerstand gegen die Zentralgewalt des Kaisers wurde mit unerhörter Grausamkeit (regelmäßige körperliche Züchtigung höchster Beamter selbst bei öffentlichen Audienzen, Folterungen und Sippenhaft, die oft Tausende von Personen umfaßte) gebrochen. Eine gewisse Rolle spielte wohl auch, daß der Adel als eine selbständige Kraft, gegen die sich Kaiser und Literaten-Beamte samt der dahinterstehenden Gentry bis zur Sung-Zeit oft hatten zusammenschließen müssen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 168
ausgefallen war. Die einzige Opposition, die nie völlig beseitigt werden konnte, kam vom Zensoratsamt her, das selbst die Mongolen (Khubilai Khan nannte es das Mittel, das seine beiden »Hände« – Zivil- und Militärverwaltung – bei Gesundheit erhielte) nicht beseitigt hatten. Gerade unter ihnen war es allerdings im Interesse des Monarchen endgültig aus zwei ursprünglich getrennten Ämtern zu einem einzigen verschmolzen worden. Bis dahin hatte es nämlich (und zwar schon seit der Ch'in- und Han-Dynastie) einerseits Zensoren (Yü-shih) gegeben, die sich von der Durchführung der kaiserlichen Befehle überzeugten, andererseits solche (Chien-i ta-fu und andere), die das Verhalten des Kaisers selbst nach moralischen Gesichtspunkten überwachten. Die Zusammenlegung des Amtes ermöglichte es nun zwar, es nahezu völlig in ein Instrument zur Verfügung des Kaisers zu verwandeln, ja fast in eine Vorform der Geheimen Staatspolizei, da aber auch die Legitimation der Ming-Herrscher offiziell von der Moral her begründet wurde – in dieser Prämisse wurzelte ja immer schon die Stärke der konfuzianischen Literaten-Beamten –, konnten sie den Zensoren die Berechtigung zur Kritik auch an der Obrigkeit nicht völlig verwehren. Es gibt jedoch viele Beispiele dafür, daß die Zensoren ihre Kritik am Kaiser (wie übrigens gelegentlich schon in der Vor-Ming-Zeit) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 169
mit Relegierung, Verbannung oder mit dem Tode bezahlen mußten. In der Manchu-Zeit gerieten die Literaten-Beamten immer tiefer in das Gravitationsfeld der zentralistischen, legalistisch-despotischen Herrscheridee. Während Ming-Loyalisten, wie WangFu-chih (16191692) und Ku Yen-wu (1613-1682), dem sich abzeichnenden Dilemma in ihren Werken entgegenzuwirken versuchten, indem sie gegenüber den Sungzeitlichen Philosophen und Historikern die Eigenständigkeit geschichtlicher Perioden und geographischer Regionen herausarbeiteten, fanden jene Literaten-Beamten, die mit den Manchus kollaborierten und sich damit auf die Seite des Zentralismus stellten, keinen Ansatzpunkt für einen Widerstand gegen den Kaiser. Die Manchus übernahmen nämlich anders als die Mongolen von vornherein die konfuzianisch gefärbte chinesische Kulturidee, ja sie betrachteten sich als ihre eigentlichen Verwirklicher in einem dekadenten China. So gelang es den Beamten nur noch selten, ihre konfuzianischen Prinzipien wie bisher gegen die zwangsläufig immer schon (und natürlich auch jetzt noch) eher legalistischen des Kaisers zu setzen. Nach außen hin gaben sich die Manchu-Herrscher päpstlicher als der Papst, »ihre Taktik, die Literaten davon abzubringen, sie, die Monarchen, zu belehren, bestand darin, selbst den Literaten ununterbrochen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 169
moralische Lehren zu erteilen« (D. Nivison). Der staatlich geförderte Puritanismus, der sich schon unter den Sung bemerkbar gemacht und namentlich die Freiheit der Frauen entscheidend beschnitten hatte, trieb unter diesen Umständen die üppigsten Blüten: Man trieb zum Beispiel die Beamten immer mehr zur Arbeit an (Verkürzung des Urlaubs, längere Dienststunden) und setzte Hunderte von Büchern als unanständig auf den Index. Umgekehrt war auch eine zunehmende Arroganz der Beamten gegenüber der Bevölkerung ein Zeichen für die schwindende Polarität zwischen Kaiser und Beamtentum. Der Taiping-Aufstand, traditionsfeindlich und obendrein in einer fremden, westlichen Ideologie begründet, trieb die Literaten-Beamten dann endgültig auf die Seite der absoluten Monarchie, obwohl die Taiping das Ziel der nationalen Befreiung für sich ins Feld führen konnten. Gerade hier erweist sich aber, daß die innere Schwächung des LiteratenStandes eigentlich in der Auflösung der Begriffseinheit Nation-Kultur-Tradition-Konfuzianismus bestand. Konfuzianer wie Tseng Kuo-fan (1811-1872), die das chinesische Beamtentum mit neuem konfuzianischem Geist erfüllten, um für die Manchus eine chinesische Revolte niederzuschlagen, taten das, um durch Zurückstellen des Nationalen die alte konfuzianische Kulturtradition zu retten. Reformer – Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 169
angefangen von dem Monarchisten K'ang Yu-wei (1858 bis 1927), der noch lediglich die Tradition bekämpfte, um dem angeblich jahrhundertelang mißverstandenen Konfuzianismus neue, aber eben nicht bloß autochthone Ideen zu unterschieben; oder den Patrioten, die in verschiedenster Weise die chinesische Kultur einer Dichotymie unterzogen und zwischen ihrer unentbehrlichen »Essenz« (t'i) und ihrer entbehrlichen, durch westliche Methoden zu ersetzenden »Anwendung« (yung) unterschieden; bis zu den radikalen Nationalisten, die die gesamte konfuzianische Geisteswelt als einen Klotz am Bein empfanden, den es so rasch wie möglich loszuwerden galt – sie alle versuchten umgekehrt, wie schon einmal erwähnt, durch Aufgabe der traditionellen Kultur die »Nation« zu retten, die ja erst durch die Begegnung mit dem Westen zu einem Schlagwort geworden war. Der alte, in der Sung-Zeit geprägte Loyalismus galt zwar immer noch dem Begriff Kuo, aber nicht mehr in seiner ehemaligen Bedeutung als »Dynastie«, sondern in seiner neuen als »Nation«. Die Abschaffung des Prüfungssystems 1904 war dann die endgültige Kapitulation des Kaisertums und der Literaten-Beamten voreinander und vor dem Westen: Beide hatten ihre Rolle ausgespielt. In unseren Tagen erhebt sich allerdings die Frage, ob nicht der chinesische Beamte in all seiner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 170
bürokratischen »Verzopftheit« in der »neuen Klasse« des kommunistischen Parteifunktionärs wiedererstanden sei. Der Vergleich hat etwas Bestechendes, ja er ist insofern nicht einmal völlig falsch, als der Funktionär die unvermeidliche Bürokratie repräsentiert, ohne die die Verwaltung des Riesenreiches niemals möglich war. Auch in den beim Volk angewandten Erziehungsmethoden – zum Beispiel der theoretischen Präferenz der »Überredung« vor dem »Gesetz« – finden sich gewisse Parallelen. Selbst die Gegensätzlichkeit der beiden Ideale, dem des »Spezialisten« bei den Kommunisten und dem des »Generalisten« und »Dilettanten« bei den Konfuzianern, ist nicht so entscheidend, wie oft behauptet wird; denn es hat offensichtlich auch in dem traditionellen Staat feste Karrieren gegeben, während andererseits in dem kommunistischen der »Marxismus-Leninismus«, die Wissenschaft katexochen, als Grundlage aller sonstigen Kenntnisse von jedem Funktionär erwartet wird. Hier aber endet der Vergleich. Denn der Funktionär ist durch die Verwendung der ungleich einfacheren »Umgangssprache« im amtlichen Schriftverkehr nicht mehr so exklusiv wie der Literaten-Beamte, er wurzelt auch nicht mehr, wie früher fast ausschließlich, in einer besitzenden Gentryschicht, und vor allem: es fehlt jene polare Spannung zwischen zwei im Grunde unvereinbaren Weltanschauungen (dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 170
Konfuzianismus und Legalismus) und zwei ihnen entsprechenden sozialen Positionen (Literaten-Beamten und Kaiser); gerade sie aber ist nicht erst 1949, sondern schon vor der Jahrhundertwende unwiderruflich zusammengebrochen. Berücksichtigt man den Einfluß, den der Beamtenstand auf den Gang der chinesischen Geschichte gehabt hat, so ist es überraschend festzustellen, daß die Zahl der Beamten im engeren Sinn erstaunlich klein war. Im 19. Jahrhundert gab es zum Beispiel (nach C. K. Yang) in ganz China nicht mehr als etwa 40000 besetzte Stellen. Daß die Verwaltung trotzdem über lange Perioden recht gut funktionierte, war zunächst einmal der Arbeit der vielen Unterbeamten zu danken, die in der Regel nicht von der Zentrale, sondern von einem einzelnen höheren Beamten in Dienst gestellt wurden. Die Bürokratie war in Wirklichkeit also wesentlich verzweigter, als es die Zahl der vollen Beamtenstellen erkennen läßt, sie bildete nur die Spitze einer Pyramide, deren breite Basis sich aus den Scharen jener neunundneunzig Prozent Gelehrter rekrutierte, die in einer der fatalen Prüfungen gescheitert waren. Auf der anderen Seite kalkulierte das gesamte Beamtensystem die Fähigkeit der Gesellschaft ein, sich auf echt konfuzianische Weise mit Hilfe des Moralkodex (Li) weitgehend selbst zu regieren. Von größter Bedeutung waren hier die Großfamilien, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 171
nahezu ein eigenes Gerichtswesen besaßen, mit dem der Einzelne viel öfter in Berührung kam als mit dem des Staates. Während sich also an der Spitze des Reiches der Legalismus, um nicht zu sagen der Despotismus, auf die Dauer betrachtet immer mehr durchsetzte, hielt sich auf der niedereren Ebene die konfuzianische Verwaltungsform, wobei die zunehmende Betonung der Rechte des Vorgesetzten und der Pflichten des Untergebenen freilich ebenfalls das allmähliche Durchschlagen des legalistischen Elementes verdeutlichte. Die Beamten, wie auch überhaupt die Zentralregierung, wußten diese Situation in der Regel gut auszunutzen. Sie sorgten – wie aus vielen ihrer Berichte und Anweisungen deutlich hervorgeht – nicht so sehr für die strikte Durchführung der Gesetze als vielmehr für die Aufrechterhaltung einer gewissen Balance der Kräfte in ihrem Amtsbereich mittels des Gesetzes und der konfuzianischen Moral, wobei die Moral recht wohl auch einmal das Gesetz aufheben konnte. So schrieb zum Beispiel ein berühmter Beamter der Manchu-Zeit, Wang Hui-tsu (1731-1807): »Wenn es sich bei zwei Parteien, die wegen einer Lappalie in Streit geraten sind, um Verwandte handelt, so wird der Fall entschieden sein, wenn man einfach bestimmt, wer recht hat und wer unrecht. Jede zusätzliche Bestrafung würde nur den Keim zu weiteren Konflikten legen.« Es ist klar, daß diese Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 171
Verwaltungsform mehr als jede andere von der Persönlichkeit des Beamten abhing: Im günstigen Fall führte sie zu einer leicht beweglichen, kompromißbereiten, kurz, zu einer menschlichen, aber in wesentlichen Dingen doch festen und wirkungsvollen Regierung, im ungünstigen zu Nepotismus und Korruption. Der Beamtenstand konnte sich aber nicht nur seit der Sung-Zeit in der Dienstausübung auf das Familiensystem stützen, er war auch von jeher mit ihm recht eng verknüpft. Hier tritt ein Problem in den Vordergrund, das wir bereits einmal kurz gestreift haben: In welchem Wechselverhältnis standen die unteren Schichten der Bevölkerung, wie Bauern, Handwerker, Kaufleute, Soldaten, Sklaven, und die Führungsschicht, das heißt Adel (soweit es ihn gab), Gentry und Beamte zueinander, und besonders: inwiefern bestand eine »soziale Beweglichkeit« zwischen diesen Gruppen. Bot etwa das Examenssystem tatsächlich die Aufstiegschance für jeden talentierten Menschen, die man zunächst darin vermutet?
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 171
Die Ansatzpunkte historischer Bewegung Natürliche Feinde der Zentralregierung: Adel und Militär Die klassische, etwa aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert stammende Einteilung der Gesellschaft, die die Chinesen stets akzeptiert haben, unterscheidet vier feste Ständegruppen: »Ritter« oder »Gelehrte«, »Bauern«, »Handwerker« oder »Künstler« und »Händler«. Die oberste und wichtigste Gruppe, die ganz allgemein die Führungsschicht unmittelbar unter dem Herrscher bezeichnet, läßt sich generell nicht definieren, weil der entsprechende chinesische Ausdruck shih (nicht identisch mit dem oben behandelten Homonym der Bedeutung »Priesterschreiber«, »Astrologe«) einen grundlegenden Bedeutungswandel durchgemacht hat. Dieser Wandel ist allerdings charakteristisch: Das Wort bezeichnete ursprünglich einen niederen Adelsrang, zugleich aber auch den Militärführer, zielte also auf den Feudal- und Militäradel, der in der früheren Chou-Zeit den Ton angab. Die allmähliche Erweiterung des Gesamtreiches während der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends, namentlich aber die Verlegung des Kulturzentrums von den kleinparzellierten Tälern des Lößlandes den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 172
Huangho abwärts in die große Ebene am Unterlauf, brachte die feudale Hierarchie zum Einsturz: Ein kleiner Teil des Adels konnte sich von den königlichen Lehnsherren unabhängig machen, Rivalen aus dem Felde schlagen und seine Domäne erweitern – eine Entwicklung, aus der die Königreiche des 6. bis 3. vorchristlichen Jahrhunderts entstanden –, der weitaus größere Teil jedoch erlebte einen sozialen Abstieg und begann sich mit den Angehörigen niederer Bevölkerungsschichten zu vermischen, die in dem Chaos nach oben zu steigen versuchten. Nachdem die Ch'inDynastie den Landkauf legalisiert und damit das Ende des Feudalsystems besiegelt hatte, konnten aus diesem Konglomerat die ersten Ansätze einer grundbesitzenden und patriarchalisch organisierten Gesellschaftsgruppe entstehen, die dem Fürsten als Reservoir gebildeter Männer bei der Besetzung von Verwaltungsposten zur Verfügung stand, die »Gentry«: Auf sie ging in der Han-Zeit die Bezeichnung shih über; denn die alte Chou-Aristokratie war in der Ch'in-Dynastie endgültig untergegangen. Die recht heterogene Zusammensetzung der Gentry wie auch die zwiespältige Haltung, die die Han-Kaiser dem Feudalismus gegenüber einnahmen, verhinderten es jedoch, daß die fast ausschließlich aus der Gentry stammenden Literaten ihren Einfluß auf die Politik ungestört ausüben konnten: Es entwickelte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 172
sich nämlich sehr rasch, noch während der späteren Han-Dynastie, eine neue Aristokratie, die sowohl den alleinigen Machtanspruch des Kaisers als auch die Stellung der Literaten-Beamten bedrohte. Zum einen Teil waren diese Adligen von der Gentry selbst abgesplittert, zum anderen aus einer Art Schwertadel erwachsen, in beiden Fällen gab ihnen jedenfalls die Schenkung reicher Ländereien und ein eigentümliches Steuersystem, das sie nicht nur von jeglichen Abgaben freistellte, sondern auch die freien Bauern derart expropriierte, daß sie sich gern als Leibeigene unter ihren Schutz stellten, die wirtschaftliche Basis zu einer ständig wachsenden Unabhängigkeit gegenüber dem Thron. Der Zerfall des Reiches in verschiedene kleinere Staaten im 3. nachchristlichen Jahrhundert war nur eine äußere Folge der allmählichen Herausbildung »protofeudalistischer« Züge im Inneren. In der Tat hat die Periode zwischen der Han- und SuiDynastie manche Ähnlichkeiten mit der der »Kämpfenden Reiche«: Hier wie dort treffen wir zum Beispiel den heldenhaften Vasallen, der nicht etwa dem ganzen Reich, sondern nur einer adligen Familie, einem adligen Herrn die Treue hält. Es kam aber noch ein neues Moment hinzu: Der durch die Schwäche Chinas ermöglichte Einbruch vorwiegend aristokratisch organisierter Fremdvölker im Norden (vor allem der T'o-pa) gab dem aristokratischen Gedanken Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 172
frische Impulse. Der auf diese Weise sekundär entstandene und an die Macht gelangte Adel läßt sich allerdings von der Gentry nicht ganz sauber trennen. Von den offiziellen Dynastiegeschichten enthält nur die erste, das Shihchi, das mit dem Beginn der Han-Zeit abbricht, eine eigene Abteilung für die »erblichen Adelshäuser«, die späteren nicht mehr; auch der Gebrauch von Familien- und Klannamen, den sich in der Früheren ChouDynastie der Adel vorbehalten hatte, war schon längst von der gesamten Gentry (und nicht nur von ihr) übernommen worden. Die Aristokratie distanzierte sich dafür aber inoffiziell von den weniger vornehmen Gentry-Familien durch die Aufstellung regelrechter »Gothas« (der erste datiert 508 n. Chr.) (W. Eberhard), in denen, nach Gebieten geordnet, alle gleichrangigen Sippen verzeichnet waren. Natürlich versuchte der Adel – und zwar bis zur Sung-Zeit in der Regel mit Erfolg –, sowohl vom Kaiser unabhängig zu bleiben, als auch die Schlüsselstellungen in der Zentralregierung zu besetzen. Mit Hilfe der Shanjang-Zeremonie vermochte er eine Zeitlang tatsächlich ohne allzuviel Mühe eine neue Dynastie aus der Taufe zu heben, wenn ihm die alte nicht zugesagt hatte, und seine Anhänger auf einflußreiche Posten zu schieben, gleichgültig, ob die Auswahl der Beamten nach dem Prinzip der »Neun Grade moralischer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 173
Vollkommenheit« erfolgte oder nach dem der Staatsprüfung; in beiden Fällen besaßen die vornehmen Familien solche Vorteile, angefangen von den besseren Ausbildungsmöglichkeiten bis herab zu den Empfehlungen und Bürgschaften, die für die Zulassung zur Prüfung nicht minder notwendig waren als für die endgültigen Bestallung, daß demgegenüber ein Außenseiter praktisch keine Chance hatte. Der eigentliche Kampf um die Macht wurde also fast tausend Jahre lang (um 100 v. Chr. bis 900 n. Chr.) zwischen dem Thron und einer aristokratisch gewordenen Gentryspitze ausgetragen. Die aus dem unteren Stratum der Gentry oder sogar gelegentlich aus der Bauernschicht stammenden Literaten-Beamten fehlten zwar nie, aber sie erfüllten eher die Funktion von Spezialisten, was ihrem Selbstverständnis ja gerade zuwiderlief. Die wohl wichtigste Aufgabe, die sie dabei versahen, war die Geschichtsschreibung: Sie setzte und erhielt Wertmaßstäbe, die eine endgültige Machtübernahme des Adels verhinderten. Die Einigung des Reiches unter der Sui- und T'angDynastie stellte dank der Zentralisierung der Verwaltung zwar eo ipso eine Gefahr für den Adel dar, die die Wiedereinführung der Staatsprüfungen und die Neigung mancher Herrscher (namentlich der Kaiserin Wu [Regierungszeit: 684-705]) zu den nichtadligen Gentryschichten noch verstärkte. Trotzdem konnte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 173
sich die Aristokratie bis gegen Ende der T'ang-Zeit behaupten. Der rasche Niedergang, den sie dann allerdings erlebte, lag im wesentlichen an der Einführung einer neuen Bodensteuer, der »Doppelsteuer« im 8. Jahrhundert, die nicht mehr wie bisher eine Art Kopfsteuer auf Grund einer theoretisch angenommenen, gleichmäßigen Bodenverteilung war (»Gleich-LandSystem«), sondern direkt vom Eigentümer je nach der Größe seines Besitztums eingefordert wurde. Landbesitz in allzu großem Stil erwies sich dadurch auf die Dauer als unrentabel. Zwar wurde die T'ang-Dynastie durch diese Maßnahme nicht mehr gerettet, weil sich der etablierte Adel notfalls mit seinen Privatarmeen gegen die Steuereintreibung wehrte; als er aber durch die anhaltenden Unruhen, die das lang hingezogene Ende der T'ang-Dynastie begleiteten, geschwächt worden war, fand er hinterher keine Möglichkeit mehr, sich neu zu organisieren. So sank er unaufhaltsam in die rasch erstarkende, ungleich breiter gestreute Schicht der mittleren Grundbesitzer hinein. Viele Historiker datieren erst von diesem Zeitpunkt an (Ende T'ang, Anfang Sung) die Existenz einer »Gentry« im eigentlichen Sinn: das ist insofern berechtigt, als die Gentry vorher doppelt repräsentiert war: durch eine äußerst einflußreiche, dünne Schicht aristokratischer reicher Landbesitzer und eine eher von ihr abhängigen Gruppe, die die Masse der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 174
Beamtenschaft stellte. Erst danach bildete sie jene homogene, breite Grundlage des chinesischen Beamtenstaates. Das hieß freilich nicht, daß jeder Gentry-Angehörige automatisch auch Beamter wurde; dafür war die gesamte Schicht zahlenmäßig viel zu groß. Innerhalb der Gentry nämlich eine Art freien Wettbewerb zu schaffen, darin bestand der Hauptwert der Staatsprüfungen, weit mehr jedenfalls als darin, den in den Ausbildungsmöglichkeiten unendlich benachteiligten Bauern eine Aufstiegschance zu geben. Natürlich versuchten auch später noch einzelne Familien Grundbesitz zu akkumulieren, den Steuerzahlungen zu entgehen und sich auf diese Weise eine Sonderstellung zu verschaffen; das Steuersystem war aber derart stark, daß so etwas höchstens für kurze Zeit gelang und keine neue freie Aristokratie mehr aufkommen ließ. Gleichzeitig mit dem Adel und gewiß nicht ohne inneren Zusammenhang dazu verschwand in dieser Periode auch eine andere »dritte Kraft« für ein ganzes Jahrtausend aus der chinesischen Geschichte: das selbständige Militär. Die kulturelle Bewertung des Kriegertums verlief fast genau parallel mit der sozialen Bewertung des Adels. Auch hier ist wieder der Begriffswandel des Wortes shih, das seit der Han-Zeit in der Regel »konfuzianischer Gelehrter«, »GentryAngehöriger« bedeutete, ursprünglich aber »Krieger«, aufschlußreich: Der wenigstens im Prinzip egalitäre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 174
Konfuzianismus war grundsätzlich auch pazifistisch; »Literatur«, »Bildung« (wen) stand für ihn in scharfem Gegensatz zu »Kriegertum« (wu). Das Dilemma ergab sich nun aber daraus, daß auch ein konfuzianisch regierter Staat innen- und außenpolitisch eine Armee brauchte, um sich zu behaupten. Die Soldaten bestanden in der Regel aus zwei Gruppen: den üblicherweise verachteten Berufssoldaten und den in Form einer Miliz oder nach einem schon uralten Gestellungssystem organisierten Bauernsoldaten. Verwickelter waren die Verhältnisse bei der Armeeführung: in der Früheren Chou-Zeit hatte sie noch unangefochten in der Hand des Adels gelegen, in der Späteren wurde sie mehr das Metier von allerhand Abenteurern; die Ch'in-Dynastie, die das Heer ungemein verstärkte, schuf einen neuen, traditionslosen Offiziersstand, der sich auch im allgemeinen als loyal erwies, obwohl der Untergang der Dynastie gerade durch eine Militärrevolte – die allerdings nicht an der Spitze begann – ausgelöst wurde. Der eigentliche Zwiespalt entstand erst in der Han-Zeit, als ausgerechnet Kaiser Wu-ti (zu deutsch: der »KriegsKaiser«), der diesen postumen Ehrennamen wegen seiner kühnen Eroberungen bis nach Zentralasien hinein zu Recht trug, den Konfuzianismus zur Staatsreligion erhob. Es bestand seither immer die Gefahr, daß die Armeeführung als ein aus der Sicht des überzeugt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 174
konfuzianischen Literaten-Beamten im Grunde schmutziges Geschäft in die Hand von Außenseitern geriet. Tatsächlich läßt sich nachweisen, daß der Aufstieg in die recht exklusive Gentry durch eine glanzvolle Militärkarriere stets leichter zu bewerkstelligen war als durch das Bestehen von Prüfungen. Der Begriff »Außenseiter« darf aber nicht nur in sozialer, sondern auch ganz wörtlich in geographischer, ja nicht selten sogar ethnischer Hinsicht gelten: Die ausgedehnten Kriegsexpeditionen der Han- und T'angDynastie verlegten zwangsläufig das Schwergewicht der Macht an die Peripherie des Reiches. Die Militärführer wurden dadurch der Zentrale entweder allmählich entfremdet oder sie bestanden schon von Anfang an aus Nicht-Chinesen, denen man eine bessere Kenntnis der Verhältnisse zutraute. Viele Generäle betrachteten die ihnen unterstellten Streitkräfte als ihre Privatarmee, deren persönliche Bindung an sich selbst sie oft durch die Adoption der Unterführer zu verstärken trachteten. Die T'ang-Kaiser konnten dieses Problem nie ganz bewältigen. Der Versuch, durch Eunuchen als Militärinspektoren eine Kontrolle auszuüben, ließ sie nur auch noch die Macht in der Zentrale selbst verlieren. Im Chaos des Untergangs der Dynastie und in der anschließenden, ein halbes Jahrhundert währenden Zerspaltung des Reiches lernte die Monarchie eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 175
Lektion, die ihr zu Beginn der Sung-Dynastie zustatten kam: Sie nahm die Armeeführung selbst in die Hand und konzentrierte sie in der Hauptstadt. Der konfuzianische Pazifismus siegte damit in gewisser Weise über den Militarismus, allerdings so, daß gerade manche militärischen Methoden auf den zivilen Bereich übertragen wurden. China war jedenfalls seither – von Fremddynastien abgesehen, die einen natürlichen zweiten Schwerpunkt jenseits der sonst bedrohten Nordgrenze besaßen – außenpolitisch eher schwach, dafür aber innenpolitisch recht stabil. Das eigentümliche Schauspiel, das China in der Sung-Dynastie – diesem wahrhaft Goldenen Zeitalter des Konfuzianismus – darbot, indem es sich von den in jeder Hinsicht weit unterlegenen Nordvölkern (Khitan, Jurchen, Mongolen) immer mehr in die Enge treiben und schließlich besiegen ließ, ist nur auf diesem Hintergrund zu verstehen. Auch die Ming-Dynastie reagierte in vielem ähnlich. Als der Konfuzianismus und das mit ihm verbundene Beamtentum endlich um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts ihren allmählichen Niedergang erlebten – nicht zuletzt gerade wegen des inhärenten Pazifismus, der ihnen nach außen Niederlage, nach innen Verachtung eintrug –, erschienen zum letztenmal (vor allem zu Anfang der Republik) die starken war-lords an der Peripherie des Reiches, die seit der Sung-Zeit nur noch in dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 175
temporären Gravitationsausgleich zwischen zwei einander ablösenden Dynastien ein ephemeres, im Grunde eben anachronistisches Dasein geführt hatten. Gefährliche Freunde des Monarchen: Eunuchen und fremde Hilfsvölker Die Ausschaltung des Adels und des Militärs, der beiden wichtigsten unabhängigen Kräfte mit einer eigenen geistigen Tradition, die dem Thron nach einigen wenigen dauerhaften Erfolgen im 10. Jahrhundert endgültig glückte, bedeutete zwar wie schon in früheren Fällen eine Stärkung der Zentrale – der Hauptstadt, des Hofes –, aber durchaus noch nicht eine Stärkung des Kaisers als Person. Je mehr es nämlich gelang, den Staat zu zentralisieren, desto gefährlicher wurden die Machtkämpfe, die sich in unmittelbarer Nähe des Kaisers abspielten. Die fast unlösbare Aufgabe, die in der chinesischen Geschichte nur die stärksten Monarchen zuwege brachten, bestand darin, eine doppelte Balance herzustellen: zwischen der Zentralregierung und den über das ganze Reich verstreuten Lokalverwaltungen auf der einen Seite und innerhalb dieser Zentralregierung zwischen ihm, dem Kaiser selbst, und den Beamten auf der anderen. Die bereits geschilderte latente Spannung zwischen Herrscher und Literaten und jede äußere Bedrohung (wie eben Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 176
die durch Adel und Militär in der Han- und T'angZeit) veranlaßte nicht wenige Kaiser, namentlich die schwächeren Charaktere, sich an eine scheinbar zuverlässige Parteigruppe innerhalb des Palastes anzulehnen, die Eunuchen. Dadurch wurde aber fast immer ein Circulus vitiosus in Gang gesetzt, der die Dynastie binnen kurzem ruinierte. Die Eunuchen nahmen nämlich, sofern sie auch nur die geringste Bildung genossen hatten oder die Macht über die Leibgarden besaßen, das Heft selbst in die Hand, oder sie ließen sich als Instrument mächtiger Gentrysippen, meist der Familien von Kaiserinnen, mißbrauchen. Das Hervortreten der Eunuchen ist daher tatsächlich stets ein Menetekel für den drohenden Untergang einer Dynastie gewesen, nicht nur, weil es die natürlichen Gegner der Eunuchen, die Literaten-Beamten, in der von ihnen kontrollierten Geschichtsschreibung so darstellten. Eunuchen gab es schon an den Fürstenhöfen der Späteren Chou-Dynastie; zu ihrer ersten politischen Wirksamkeit gelangten sie bezeichnenderweise aber erst in der Ch'in-Dynastie, dem ersten rein bürokratisch-zentralistisch gelenkten Staat, als der berüchtigte Eunuch Chao Kao den zweiten und den letzten Kaiser unter seinen Einfluß brachte, alle bewährten Führungskräfte kalt stellte und so den Zusammenbruch des Reiches herbeiführte. Ähnliches geschah gegen Ende der Späteren Han-Dynastie, als die Eunuchen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 176
die um diese Zeit schon (wie später noch oft) durch Adoption Familien gegründet hatten, Tausende von Beamten abschlachteten, und gegen Ende der T'ang, als sie die Kaiser nach Lust und Laune einsetzten oder beiseite schafften. Dem konfuzianischen Beamtenstaat der Sung blieb dieses Schicksal erspart, aber die bewußte Schwächung der Literaten durch den ersten Ming-Herrscher Chu Yüan-chang barg bereits die alte Gefahr in sich. Chu erkannte sie wohl, denn er ließ die Zahl der Eunuchen drastisch beschränken und verbot für sie jede Art höhere Ausbildung; ja er ließ sogar eine riesige Metalltafel im Palast anbringen mit der Aufschrift: »Eunuchen haben mit der Verwaltung nichts zu tun!« Dennoch wuchs die Zahl der Eunuchen und der von ihnen abhängigen oder ernannten Beamten rasch ins Ungemessene, bis schließlich 1625 Wei Chung-hsien, der mächtigste Eunuch in Chinas Geschichte, unter den opponierenden Beamten (der »Tung-lin-Gruppe«) ein ähnliches Blutbad anrichtete, wie es knapp eineinhalb Jahrtausende vorher schon einmal stattgefunden hatte. Die Eunuchen sind nie eine wirkliche, schöpferische politische Kraft gewesen, sie erwiesen sich aber oft als eine Art Ferment, das latente Spannungen zur Explosion brachte und sie dadurch erst eigentlich wirksam werden ließ. Ihre Sonderstellung leitete sich aus ihrer familiären Ungebundenheit her (sie wurden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 176
absichtlich aus der niedrigsten Bevölkerung ausgewählt), die sie zu einer leicht bewegbaren, aber gleichzeitig auch leicht selbst in Bewegung geratenden Masse machte. Ihr Aufstieg war aber stets bloß ein Kennzeichen dafür, daß sich an der Spitze des Staates ein Vakuum gebildet hatte: wenn nämlich schwache Persönlichkeiten auf einen Thron kamen, den Despoten aufgerichtet hatten. In den letzten dreihundert Jahren spielten die Eunuchen keine so bedeutende Rolle mehr, weil den Manchu-Herrschern der Versuch, die beklemmende Isolierung, unter der alle chinesischen Kaiser litten, in der Gesellschaft gleichfalls isolierter Personen zu ertragen, auf andere Weise glückte, nämlich mit Hilfe ihrer manchurischen Stammesgenossen. Sie stellten nicht nur eine wirklich reale Macht dar, weil sie – was man mit den Eunuchen niemals hätte wagen dürfen – legaliter alle Schlüsselstellungen (oft parallel mit Chinesen) besetzt hielten, sondern ihre Loyalität war auch viel gesicherter, denn sie befanden sich ja selbst in Feindesland und besaßen kaum Kontakt zur Bevölkerung. Die mongolischen Kaiser hatten im 13. und 14. Jahrhundert eine ähnliche Personalpolitik in noch viel größerem Maßstabe betrieben: Von ihren eigenen Stammesgenossen abgesehen, stützten sie sich auf eine Reihe zentralasiatischer und nahöstlicher Hilfsvölker. Dasselbe hatten, allerdings in ganz anderer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 177
Art, mehrmals auch schon die chinesischen Herrscher getan, so etwa in der T'ang-Zeit, als die Dynastie im 8. Jahrhundert nur durch die Uiguren gerettet werden konnte. Für sie aber machte sich ein solches Bündnis nicht nur optisch ungleich schlechter als für die Fremddynastien, es bedrohte sie mitunter auch noch viel mehr als das mit den Eunuchen: Fast alle Fremdvölker, die in China an die Macht kamen, waren zunächst einmal ins Land gerufen worden oder sonstwie Bündnispartner gewesen. Das letzte, geradezu klassische Beispiel war der Entschluß des Ming-Generals Wu San-kuei, 1644 die Manchus über den Shanhaikuan-Paß zu Hilfe zu rufen, um die Rebellion des Li Tzu-ch'eng niederzuschlagen. Freiheitsbestrebungen der Kaufleute Adel und Militär, Beamtenschaft und Palastpersonal waren die wesentlichen Kräfte neben dem Herrscher, die auf einer höheren politischen Ebene der chinesischen Geschichte ihre Impulse verliehen. Obwohl es nur wenige Personengruppen gab, die sich zwischen allen sozialen Schichten bewegen konnten – wie etwa die Soldaten oder die taoistischen Priester, die manchmal als Vertraute des Kaisers eine ähnliche Rolle wie die Eunuchen spielten –, so wirkte doch stets jede Spannung, jede Erschütterung an der Spitze Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 177
unvermeidlich auch nach unten weiter und vermengte sich mit den auf der niedereren Ebene selbständig entstandenen oder durch eine frühe Welle von oben ausgelösten Bewegungskräften. Es gab zwar sicherlich in manchen Zeiten politische Kämpfe und Veränderungen in der Regierung, die die Bauern beispielsweise kaum registrierten oder unter deren vorübergehenden Stürmen sie sich höchstens ducken mußten, aber das Beben konnte auch mit Aufständen gegen eine korrupte Lokalverwaltung oder religiösen Erhebungen von ganz unten ausgehen. Organisatoren solcher Bewegungen waren freilich nie die Bauern selbst, sondern meist Angehörige einer kleinen, völlig heterogenen Mittelschicht, bestehend aus stellungslosen Amtskandidaten, Mönchen, Wahrsagern, Magiern, Handwerkern und Kaufleuten, die sich aber geschlossen, als Schicht, nie zu etablieren vermochten. Darin, daß sie nur in Zeiten des Umsturzes wirksam wurden, danach aber die Macht unweigerlich wieder an die Beamtenschaft abgeben mußten, liegt einer der wichtigsten Gründe für die Stagnation der chinesischen Geschichte an einem gewissen Punkt ihrer Entwicklung. Die Kaufleute, die am ehesten berufen gewesen wären, dieser Schicht ein Zentrum zu geben, rangierten seit jeher – mit wenigen Ausnahmen – in der chinesischen Sozialhierarchie ganz unten, noch unter den Handwerkern. Wahrscheinlich war die freie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 178
Beweglichkeit, die sich mit diesem Beruf im tatsächlichen wie im sozialen Sinn verband, für das Mißtrauen sowohl des Feudaladels im Altertum als auch der Führungsschicht des zentralisierten Staates seit der Ch'in-Zeit verantwortlich: Konfuzianismus und Legalismus beschrieben die Kaufleute jedenfalls unabhängig voneinander als Parasiten der menschlichen Gesellschaft. Eine gewisse Daseinsberechtigung wurde ihnen höchstens in unmittelbarer Verbindung zu den Bauern bei der Verteilung der Agrarerzeugnisse zugestanden. Den wirklich einträglichen Großhandel mit notwendigen Massengütern über weite Entfernungen suchte dagegen der Staat wenn möglich selbst in die Hand zu bekommen. Der beste Beleg dafür ist die Einführung von Staatsmonopolen für die Erzeugung und Vermittlung von Salz und Eisen, die schon auf das 7. Jahrhundert v. Chr. zurückgeht und zwar immer wieder durchbrochen, aber auch immer wieder erneuert wurde. Den gleichen Zweck, nämlich den Kaufmannsstand zu entmachten, verfolgten Maßnahmen, die die Bewegungsfreiheit der Handelsleute beschnitten und sie mit immensen Kapitalsteuern belegten. Reichtum war in den Augen des konfuzianischen Staates, der dem. Ideal des gentleman anhing, eo ipso etwas Verächtliches, aber auch Verdächtiges, ja sogar mitunter Verbrecherisches. Es gibt zahlreiche Beispiele aus der Geschichte (eines der früheren ist das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 178
eines gewissen Yang Yün aus dem 1. vorchristlichen Jahrhundert, der wegen seiner zur Schau getragenen Wohlhabenheit hingerichtet wurde), die beweisen, daß übermäßiger Reichtum von der Obrigkeit als ein todeswürdiges Vergehen angesehen und entsprechend geahndet werden konnte. Die allgemeine Tendenz ging dahin, alles Kapital, das sich nicht in Staatshand befand, durch amtliche Oberaufsicht auf den Märkten, durch amtliche Passierstationen an wichtigen Handelsstraßen und ähnliches unter ständiger Kontrolle und damit »schwach« zu halten. Da Reichtum mit Recht als um so gefährlicher galt, in je größerer Entfernung von der Zentrale er sich entwickelte, konnte er in der Zentrale selbst noch am ungestörtesten entstehen: Die »Freunde« des Kaisers, von denen oben die Rede war, also die Eunuchen und die Nicht-Chinesen (wie der sagenhaft-berüchtigte Manchu-Beamte Ho-shen [1750-1799], eine Art Krösus der chinesischen Geschichte) stellten nicht selten auch die wohlhabendste Schicht im Lande und standen mit den Kaufleuten zumeist in enger Fühlung. Zu echter politischer Wirksamkeit gelangten die Kaufleute aber nur in Zeiten des Umsturzes, so etwa im Stile der schillernden Figur des Lü Pu-wei (gestorben 235 v. Chr.), der sogar der illegitime Vater Ch'in Shih Huang-tis, des ersten Kaisers des geeinten Reiches, gewesen sein soll. Gerade er ist aber mit seinem letztlichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 178
Schicksal – er wurde zum Selbstmord gezwungen-exemplarisch für die Stellung der Kaufleute im zentralistischen chinesischen Staat. Trotzdem vermochte der Zentralismus auf der anderen Seite in einem ständig wachsenden Reich den Handel nicht völlig zu verdrängen, ja er förderte ihn sogar, indirekt und ungewollt, durch den steigenden Güterverkehr, der nur durch Privatinitiative bewältigt werden konnte. Viele Beamte, namentlich Steuereinnehmer und Transportkommissare, glitten geradewegs in die Stellung privater Handelsherren hinein. Die Wasserscheide ist auch hier wieder die Periode zwischen Mitte der T'ang- und Beginn der Sung-Dynastie: Seitdem erlebte der Außenhandel sowohl über die Landroute durch Zentralasien als auch (vor allem nach Behinderung und Sperrung der westlichen Landverbindungen durch Nordvölker in der Sung-Zeit) über den Seeweg im Süden einen ebenso phantastischen Aufstieg wie der allgemeine Geldumlauf, der schließlich zur Erfindung des Papiergeldes (erste Ansätze bereits für das Jahr 811 nachweisbar) führte. All das war nur dadurch möglich, daß der Niedergang des Adels ein Vakuum hinterlassen hatte, in das nicht nur die Gentry, sondern zum Teil auch der Kaufmannsstand einströmte. Die Verteidigung durch Geld, das heißt durch Tribute, anstatt durch Waffen, die sich die Sung als Prinzip ihrer konfuzianisch-pazifistischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 179
Politik gegen die Fremdvölker erkoren, wäre ohne die ungeheure Bereicherung des Landes durch die Ausdehnung des Handels niemals möglich gewesen. Trotzdem blieben die Kaufleute bei den Literaten-Beamten geächtet: Sie waren samt ihren Familien von den Staatsexamina und Bestallungsprüfungen entweder völlig ausgeschlossen oder auf eine verschwindend geringe »Quote« von Kandidaten beschränkt, eine Regelung, die zwar gelegentlich durchlöchert, aber nie grundsätzlich aufgehoben wurde. Das hinderte nicht, daß die Schicht der Kaufleute wie auch die der mit ihnen relativ eng verbundenen Handwerker im Laufe der Jahrhunderte unmerklich an Bedeutung gewann. In der Ming-Zeit finden sich bereits gewisse Ansätze zu Frühkapitalismus und Industrie, allerdings in viel zu geringem Ausmaß, als daß man daraus einen »Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus« ableiten dürfte, wie es manche chinesischen Historiker getan haben. Auch läßt sich – nachdem schon der Übergang der Führungsstellung von der Aristokratie auf die Gentry im engeren Sinn seit dem 9. Jahrhundert eine gewisse »Verbürgerlichung« bedeutet hatte – seit der Yüan-Zeit analog dazu eine weitere »Verbürgerlichung« feststellen, die die reichen Kaufleute erfaßte und sie schließlich auch den Geschmack und die Moralprinzipien der konfuzianischen Gentry soweit wie möglich nachahmen ließ. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 179
Daß diese Entwicklung so langsam voranschritt und allein vielleicht nie zu einem Umkippen der Gesellschaftsstruktur geführt hätte, hing wohl einerseits mit der Kompliziertheit der Eigentumsverhältnisse (zum Beispiel der Verzahnung von Individual- und Familienbesitz) überhaupt zusammen, andererseits mit dem Charakter der chinesischen Stadt, die, wenngleich stets von Mauern umgeben, von jeher nur die Verwaltungszentrale des sie umgebenden Landes und von diesem nicht einmal terminologisch klar abgegrenzt war. Die Städte erschienen wegen der Großräumigkeit der chinesischen Landschaft wie die gleichmäßig geknüpften Knoten in dem weit ausgeworfenen Netz der staatlichen Administration, nicht wie die stark individuell gestalteten, voneinander deutlich abgesetzten Zentren einer nicht vom Land geprägten, sondern umgekehrt auf das Land ausstrahlenden Kultur, wie wir sie in Europa kennen. Selbst die Hauptstadt, die noch am ehesten der europäischen »Stadt« nahekam, war bis zur T'ang-Dynastie vorwiegend ein Konglomerat aus zusammengewachsenen Kreisstädten, was sich schon an der Existenz von Mauern und Toren zwischen den einzelnen Stadtteilen ablesen läßt. Die Legalisierung des Großgrundbesitzes durch das T'ang-zeitliche »Doppelsteuer«-System führte dann allerdings zu entscheidenden Wandlungen, da sich die Grundbesitzer nun nicht mehr, wie vorher der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 179
Adel auf dem Lande, verschanzen mußten: Die Städte gewannen gewaltig an individuellem Eigencharakter, sie entwickelten sich jetzt erst zu den Haupthandelsplätzen, die sie seither geblieben sind, und zu echten Blütestätten geistiger Ideen. Trotzdem wurden die Kaufleute nicht weniger scharf überwacht als ehedem; auf dem Handel mit einträglichen Produkten, wie Salz, Tee, Seide, lagen enorme Steuern. Die Händler suchten sie zwar durch eine umfangreiche Schmuggeltätigkeit zu umgehen, sahen sich dadurch aber wiederum den Erpressungen der Lokalbeamten ausgesetzt. Aus diesem Spannungsverhältnis erwuchsen seit der ausgehenden T'ang-Zeit immer wieder kleinere und größere Rebellionen, die, obgleich an sich von vermögenden Kaufleuten in erster Linie gegen die Steuerbeamten organisiert, mit allgemein egalitären Schlagworten operierten und damit die Bauernmassen in Bewegung brachten. Der bekannteste Aufstand dieser Art war der des Huang Ch'ao (gestorben 884), der den endgültigen Zusammenbruch der T'ang-Dynastie einleitete. Aber auch an dem Sturz der Manchu-Dynastie 1911 haben die Kaufleute entscheidenden Anteil gehabt, nämlich in Gestalt der »Auslandschinesen«, die vor allem in Südostasien große Macht besaßen und die Revolution finanzierten. Bei ihnen konnte sich – bisher zum letztenmal – jenes »starke«, unkontrollierte Kapital an der Peripherie des Reiches sammeln, das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 180
alle Zentralregierungen mit Recht als die größte Bedrohung ihrer eigenen Stellung betrachteten. Religiöse Aufstände und der eschatologische Gedanke Egalitäre und andere Schlagworte, die Umsturzbewegungen eine Ideologie gaben, wurden von den Kaufleuten freilich nur benutzt, nicht erfunden; meist stammen sie auch schon aus einer Zeit, die ganz erheblich vor dem 8. Jahrhundert liegt. Maßgebend für sie waren die taoistischen, später auch buddhistischen Priesterschaften und Mönchsgemeinden. Die Taoisten und Buddhisten hatten, wie schon kurz erwähnt, bis in die T'ang-Zeit hinein und dann noch einmal unter den Mongolen einen starken Einfluß auf den Thron, weil sie sich mit ihren besonderen Kenntnissen (Alchemie, Lebensverlängerungspraktiken und ähnlichem) unentbehrlich zu machen verstanden und sich zudem vom Kaiser, ähnlich wie die Eunuchen, als Gegengewicht gegenüber den Literaten-Beamten verwenden ließen. Eine »Revolution von oben« ist ihnen aber, falls sie sie je ernstlich angestrebt haben sollten, nie gelungen – eine derartige Revolution glückte allerdings überhaupt nur einmal in der chinesischen Geschichte, nämlich den Legalisten im 4./3. vorchristlichen Jahrhundert; alle späteren Versuche, von Wang Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 180
An-shih (1021-1086) angefangen bis zu K'ang Yuwei (1858 bis 1927) scheiterten an der vereinten Macht der Beamtenschaft und der Gentry. Aber auch an Palastrevolutionen, wie sie von den Eunuchen immer wieder erfolgreich angezettelt wurden, haben sie sich nie maßgeblich beteiligt: Ihre eigentliche Domäne waren die einfacheren Volksschichten, die sie im ständigen Umgang als Priester, Wahrsager, Magier und Ärzte mit ihren Ideen unmittelbar beeinflussen und zu machtvollen Aktionen bewegen konnten. Der Taoismus hat im Laufe seiner Entwicklung einige merkwürdige Metamorphosen durchgemacht, die für den Gang der chinesischen Geschichte nicht ohne Bedeutung geblieben sind. Vom Philosophischen her eine Art anarchistischer Individualismus, der das Ideal des »Nicht-Tuns« (Wu-wei) der sozialen Betriebsamkeit des Konfuzianismus entgegensetzte, verband er sich schon früh mit allerlei Jogapraktiken, die auf Verlängerung oder Verewigung des Lebens zielten. Den gemeinsamen Nenner bildete der Gedanke der Purifikation: Ebenso wie durch Atemübungen, Diätetik und sonstige Askese der Körper von schweren, »schmutzigen« und damit vergänglichen Elementen gereinigt werden sollte, so der Geist durch die Abkehr von aller menschlichen Kultur und Zivilisation, die bei jeder Berührung das eigene Selbst besudelten. Der Taoismus steht also nicht (wie der Buddhismus) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 181
der Welt, sondern der Kultur – also aller Zeitlichkeit, aller Moral, aller Sozialordnung – ablehnend gegenüber, er bejaht dagegen enthusiastisch die unberührte, reine Natur, die der Einzelne nur in sich selbst voll zu repräsentieren habe, um mit ihr den Zustand zeitlosen ewigen Lebens zu teilen. Die Idee der »Reinheit« besaßen übrigens auch die Konfuzianer – sie bildet sicherlich eine der gemeinsamen Wurzeln beider Weltanschauungen –, aber sie ist bei ihnen in die Geschichtlichkeit transponiert und dadurch zwangsläufig ins Moralische übersetzt: Der konfuzianische »Edle« soll gleichfalls der Zivilisation den Rücken kehren, wenn das die Erhaltung seiner inneren »Reinheit« verlangt, aber nur, wenn ihn die »Zeit«, das heißt die politische Lage, aus moralischen Erwägungen dazu zwingt: Statt des taoistischen Eremiten, der die Kultur als Ganzes verachtete, entsteht so der aus Protest gegen ein Regime zurücktretende konfuzianische Beamte. Die Konfuzianer (vor allem der Sung-Zeit) meinten darüber hinaus, daß die Kausalität auch in umgekehrter Richtung wirke, was für die Entwicklung des »Loyalismus« bedeutsam war: Die moralische Reinigung des einzelnen Selbst nämlich führe unweigerlich auch zur inneren Ordnung des Staates. Diese Vorstellung wäre nun wieder im Taoismus niemals möglich gewesen, obwohl der Taoismus seine ursprüngliche Zeitabgekehrtheit zusehends verlor und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 181
damit gleichsam säkularisiert wurde: Im 3. und 4. nachchristlichen Jahrhundert war die Alchemie, die hektische Suche nach der »Pille der Unsterblichkeit« bereits weithin an die Stelle des beschaulichen, Ewigkeit verleihenden Versenkens in die Natur getreten, der banale Alkoholrausch, die Betäubung massenhaft abgebrannten Weihrauches ersetzte die mystische Ekstase, schockierendes »nonkonformistisches« Betragen und das »reine Gespräch« das Streben nach Einsamkeit und Purifikation. In der Tradition der höheren sozialen Schichten verlor sich der Taoismus wenig später im Buddhismus und in einer etwas vagen, ästhetisierenden Naturliebe; bei der einfachen Bevölkerung wurde er in vergröberter und gleichfalls mit buddhistischen Elementen durchsetzter Form zu einer Volksreligion, die im täglichen Leben, aber auch in der Politik eine nicht unwichtige Rolle spielte. Sie lieferte nämlich den Geheimgesellschaften, die – angefangen von den »Roten Augenbrauen« des 1. vorchristlichen Jahrhunderts bis hin zu den »Boxern« gegen Ende der Manchu-Dynastie – eine ungemein starke, freilich nur selten an die Oberfläche tretende Unterströmung der chinesischen Geschichte bildeten, ihr ideologisches Gerüst. Der chinesische Terminus für »Geheimgesellschaft«, hui (eigentlich: »Sammlung«), schließt zwar an sich die Bedeutung »geheim« nicht mit ein, wird aber doch zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 181
Recht in dieser Weise übersetzt. Denn alle Organisationen, die nicht entweder vom Staat inspiriert oder zumindest laufend kontrolliert wurden, waren a priori verboten. Das gleiche galt übrigens in der Regel auch auf der höheren Ebene der Gentry und Beamtenschaft für alle »Parteien«, tang (das Zeichen, mit dem Element »schwarz« geschrieben, deutet vielleicht auf Tätowierungen als geheime Erkennungszeichen), wobei der vieldeutige Ausspruch des Konfuzius »Der Edle ist nicht partei(-gebunden)« als Argument gebraucht wurde. In der Illegitimität der Geheimgesellschaften haben wir wohl auch den äußeren Grund für ihre nicht nur militante, sondern geradezu militaristische Einstellung zu suchen. Sie vertrug sich aber merkwürdigerweise überhaupt recht gut mit der meist taoistischen Grundhaltung jener Organisationen: Von frühesten Zeiten an läßt sich eine eigentümliche Wechselbeziehung zwischen Taoismus und Militarismus feststellen, die einen interessanten Gegensatz zu dem Begriffspaar Konfuzianismus – Pazifismus bildet. Diese innere Verbindung wäre eine eigene Untersuchung wert: Einen gewissen Ansatzpunkt würde die Assoziationskette Individualismus – Heldentum – Kriegertum – soziale Ungebundenheit – Amoralität – Zerstörung – Vergessen geben. Jedenfalls steht fest, daß sich schon im Legalismus der ausgehenden Chou-Zeit militaristische und taoistische Ideen eng verflochten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 182
und daß die meisten klassischen Strategiehandbücher taoistischen Persönlichkeiten zugeschrieben wurden. Der Kampf war in der Tat das Metier der Taoisten: sowohl der Kampf gegen Geister, Dämonen, wilde Tiere und Krankheiten, von dem unzählige Talismane, Beschwörungsformeln (auch in der Medizin) und in Holz nachgebildete Waffen in den Tempeln Zeugnis ablegen, als auch der Kampf gegen Menschen, der gleichzeitig in zwei Welten ausgetragen wurde: mit Strategie und Fechtkunst in der diesseitigen, mit geistiger Einfühlungskraft und Magie in der jenseitigen Welt. Die furchtbare Vehemenz, mit der sich die von Geheimgesellschaften geführten Volksaufstände in China in gewissen Zeitabständen immer wieder Bahn brachen, läßt sich indes nicht nur auf rein chinesische Gedankensysteme zurückführen, sondern auch auf fremde, namentlich auf solche, die aus dem Buddhismus und Manichäismus bruchstückhaft in der Volksreligion Eingang gefunden hatten. Am folgenreichsten war die Idee einer »Endzeit«, die sowohl Buddhismus wie Manichäismus besaßen: der Manichäismus in der Überzeugung von einem »Weltbrand«, der als endgültiger Sieg des Lichtes über die Finsternis am Ende der Tage stünde, der Buddhismus mit dem Glauben an periodisch ablaufende Weltzeitalter (Kalpa), insbesondere an das Erscheinen eines neuen Buddha, des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 182
Bodhisattva Maitreya. Der Gedanke eines nicht etwa durch Menschenwerk herbeigeführten, sondern unausweichlichen, im Kosmos selbst angelegten Weltendes ist in keiner älteren, in China selbst entstandenen Philosophie enthalten. Er läßt sich auch weder in den oben skizzierten, von der Sprache abhängigen Zeitbegriff noch in das immanente Weltbild einpassen, das alle chinesischen Denksysteme gemeinsam hatten – trotz der noch von der Shang-Dynastie herrührenden Vorstellung eines »Gottes in der Höhe« (Shang-ti), die sich aber schon im Laufe des ersten vorchristlichen Jahrtausends immer mehr verflüchtigte. Dieses immanente Weltbild erschwert schon die Vorstellung eines Weltbeginns, einer Schöpfung, die den Schritt vom absoluten Nichts zum Sein bedeutet. Immerhin finden wir den Begriff eines Uranfangs schon seit der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends, sowohl in philosophischen Schriften (Tao-te-ching, I-ching, Huai-nan-tzu) als auch in volkstümlichen Legenden. Der Anfang ist aber kein eigentlicher Schöpfungsakt, kein »Es werde Licht!«, sondern die innere Gestaltung einer als solcher bereits bestehenden chaotischen Masse, die mit der Differenzierung, der Separierung zwei darin eingeschlossener Kräfte anhebt: »Die Eins erzeugt die Zwei« oder »Himmel und Erde trennen sich«. In Mythen ist diese immanente Weltvorstellung in starke Bilder gefaßt: Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 183
Das ursprüngliche »Chaos« (Hun-tun) wird etwa als Riesenci geschildert, das Himmel und Erde in sich birgt, oder als gelbes, sackartiges Wesen ohne Gesicht und Augen, das von vier Flügeln getragen auf sechs Füßen einhertanzt; in einer anderen typisch pantheistischen Legende liegt der »Schöpfergott« P'an-ku in dem Weltei zwischen Himmel und Erde, wächst Tag für Tag, bis beide weit genug voneinander getrennt sind, und zerfällt dann, um mit den Teilen seines Körpers die Natur zu bilden (W. Eberhard, »Lokalkulturen«). Der Schritt zurück ins Nichts oder zumindest zurück ins Chaos war unter diesen Bedingungen gedanklich nahezu unvollziehbar, nicht aber die Vorstellung, daß eines Tages die bestehende Welt nach einer schrecklichen Periode des Übergangs ersetzt würde durch eine völlig neue Welt. Diese apokalyptische Hoffnung auf eine zukünftige, utopische Welt, die sich mit der ahistorisch-zeitlosen Grundauffassung der Taoisten ohne Schwierigkeiten verband, trennte die taoistisch-buddhistischen Anhänger der Geheimgesellschaften fast immer von den konfuzianisch bestimmten Literaten. Nur schattenhaft vermögen wir bis heute zu erahnen, daß alle Kategorien – Individuum, Gesellschaft, Staat, Welt und Geschichte – unter diesen Massenbewegungen einen völlig anderen Wert besessen haben müssen, als aus den bisher fast ausschließlich beachteten Schriften der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 183
regierenden Literaten-Beamten hervorgeht. Daß also die Geheimgesellschaften (wie auch jetzt noch manche buddhistische Sekten in Südostasien und Japan), soweit sie diese Lehren propagierten, zu einem natürlichen Sammelbecken revolutionärer Erhebungen wurden, liegt auf der Hand. Freilich hegten auch die Konfuzianer, wie wir noch sehen werden, die Hoffnung auf eine bessere künftige Welt. Aber sie bedeutete für sie allenfalls eine Spiegelung der Vergangenheit, nicht etwas Neues, sondern etwas Uraltes, das sich ebenso, wie es allmählich Vergangenheit geworden war, Schritt für Schritt wieder verwirklichen ließ. Nach den eschatologischen Erwartungen der Geheimgesellschaften dagegen sollte nicht allmählich ein neues Goldenes Zeitalter wiedererstehen, sondern mit einem Donnerschlag, der die alte Ordnung einstürzen ließ, eine neue Welt. Wie diese Welt aussehen sollte, können wir bis heute nur ungefähr vermuten, denn ein Staatswesen, das auf diesen Ideologien aufbaute, hat in China nie für längere Zeit bestanden, und fast alle historischen Quellen sind vorher durch die Hand der konfuzianischen Literaten gelaufen, die ja selbst Partei waren. Das einschlägige Schrifttum ist aber von der modernen Forschung noch nicht einmal oberflächlich gesichtet. Erst seit wenigen Jahren wird ihm – aus guten Gründen selbst im kommunistischen China, das gerade den Taoismus und die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 183
Geheimgesellschaften am rücksichtslosesten bekämpfte – zunehmend Beachtung geschenkt, weil sich hier die nie verwirklichte Alternative zum konfuzianischen Staat abzuzeichnen scheint. Wir wissen nur so viel, daß einige starke Bewegungen seit dem 6. Jahrhundert die angestrebte utopische Welt mit Maitreyas Tusita-Paradies verbanden. Andere, zum Teil noch frühere und wichtigere Bewegungen, die vorübergehend vor allem im 2./3. und dann im 19. Jahrhundert eine Regierung aufstellten, knüpften dann an den Begriff des T'ai-p'ing, des »Höchsten Friedens« oder der »Höchsten Ausgeglichenheit« (das chinesische Wort p'ing bedeutet ursprünglich »eben«), an, einen Begriff, der allerdings auch bei den Konfuzianern als Ausdruck für »harmonische Regierung« Verwendung fand. Die Geheimgesellschaften verstanden darunter aber einen zeitlos-entrückten Zustand, in dem die Aufhebung der traditionellen Sozialordnung Ruhe und Frieden sicherte. An die Stelle der nach Familieneinheiten strukturierten Gesellschaft trat stets eine straffe militärische Organisation auch im zivilen Bereich, Führer und Unterführer trugen militärische Amtsbezeichnungen, in Extremfällen töteten die Mitglieder daher sogar ihre ganze Familie, um ihre Anhänglichkeit zu beweisen. Darüber hinaus trat auch hier, wie so oft, die merkwürdige Wechselbeziehung von militärischen und egalitären Ideen in Erscheinung: Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 184
primitiver Kommunismus, Gleichberechtigung der Frauen, Sozialfürsorge, Puritanismus (Fast- und Abstinenzgebote), öffentliche Selbstbekenntnisse, Arbeit gleichzeitig als Ideal und Strafe – all das waren weitere auffallende Kennzeichen der Geheimgesellschaften. Manches davon mag sich sogar noch von der strengen Ideologie der Mo Ti Schule (5.-3. Jahrhundert v. Chr.) herleiten, aber erst seit der Gründung der taoistischen Kirche durch Chang Tao-ling (2. Jahrhundert n. Chr.) und dem Eindringen fremder Religionen aus dem Westen gewannen solche Sozialideen feste Gestalt, um dann seit der Sung-Zeit egalitäre Tendenzen immer mehr ins Spiel zu bringen. Die Geheimgesellschaften sind trotz der vielen Aufstände, in denen sie die Führung übernahmen, vielleicht deshalb nie zu einer wirklich historisch gestaltenden Kraft geworden, weil sie selbst im Grunde nie historisch, sondern nur endzeitlich dachten. Sie vermochten zwar mehr als einmal die Welt in apokalyptischen Stürmen untergehen zu lassen – aber die neu erstehende Welt war doch stets wieder die alte. So zerrannen die fieberhaften Hoffnungen auf ein völlig neues Leben, an die sich die vorher meist durch Naturkatastrophen und Mißwirtschaft verzweifelten Menschen als letztes klammerten, immer wieder in Strömen von Blut. Wahre Orgien im Abschlachten Hunderttausender, ja Millionen von Menschen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 184
begleiteten all diese Volksaufstände: Nicht nur die Regierungstruppen gingen auf brutalste Weise gegen die Aufrührer vor, auch diesen selbst galt weder das fremde noch das eigene Leben viel. So gab etwa Fang La, der Führer einer buddhistischen Geheimsekte, die sich 1120 erhob, der Nirwana-Lehre eine eigentümliche Interpretation, die ihn zum Massenmord autorisierte: Die Menschen könnten vom »Weg des Leidens« nur erlöst werden, indem man sie töte. Auf der anderen Seite glaubten sich viele Aufständische durch taoistische Zaubermittel gegen Verwundungen gefeit und ließen sich blindlings niederhauen. Am Ende aber ging die Regierungsgewalt, selbst wenn sich ein Angehöriger der Geheimgesellschaften durchsetzen konnte, wie selbstverständlich wieder in die Hände der nüchternen, an historischen Vorbildern orientierten Literaten-Beamten über. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Vorgänge bei der Gründung der MingDynastie: Chu Yüan-chang errang als Buddhistenmönch mit Hilfe der mächtigen buddhistischen Geheimgesellschaft »Weißer Lotos« den Thron, stritt aber später ab, ihr je angehört zu haben. Jede auf Stabilität bedachte Regierung suchte daher nicht nur die Geheimgesellschaften an sich zu bekämpfen, sondern auch alles eschatologisches Denken überhaupt, da es die Bevölkerung dem geistigen Zugriff des Staates entzog. Die Maitreya-Lehre zum Beispiel, im 6. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 184
Jahrhundert erst nach China gelangt, wurde schon 715 zum ersten Male verboten. Dasselbe Schicksal teilte wiederholt eine aus sechzig (der klassischen chinesischen Zykluszahl!) eigentümlichen Bilddarstellungen und ebenso vielen änigmatischen SiebenWort-Versen bestehende Schrift mit dem Titel T'uipei-t'u (»Vorgeschlagene und abgelehnte Bilder«), die den Lauf der Menschheitsgeschichte von ihren ersten Anfängen bis zu ihrem unvermeidlichen Ende in der Zukunft schildern sollen. Dieser chinesische Nostradamus, der zwei Astrologen des 7. Jahrhunderts zugeschrieben wird, aber erst seit der Sung-Zeit sicher belegt ist, wurde natürlich trotzdem eifrig gelesen und in Kommentaren mit dem tatsächlichen Geschichtsablauf bis in unser Jahrhundert hinein (es sind jetzt nur noch fünf Bilder und fünf Verse übrig) verknüpft. Alle »dritten Kräfte« in der chinesischen Gesellschaft besaßen, da sie sich in die konfuzianisch-legalistische Beamten-Monarchie nicht dauerhaft integrieren ließen, eine eigentümliche zentrifugale Tendenz: Sie äußerte sich beim Adel und Militär in den Machtballungen an der Peripherie des Reiches, bei den Kaufleuten und fremden Hilfsvölkern in der engen Verbindung zum Ausland, ja paradoxerweise selbst noch bei den Eunuchen (der größte Seefahrer der chinesischen Geschichte, Cheng Ho [erste Hälfte des 15. Jahrhunderts] war ein mohammedanischer Eunuch aus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 185
der Südwest-Provinz Yünnan!) in dem Interesse am Überseehandel. Diese Tendenz machte sich auch bei den Geheimgesellschaften geltend: einerseits im Übernehmen fremder Ideen, andererseits im Versuch ihrer Führer, zu zeigen, daß sie selbst und das von ihnen angestrebte Reich nicht von dieser Welt seien. So machte sich der taoistische Rebell Sun En (gestorben 402) offenbar die verschwommene Überlieferung von einer vor der Ostküste Chinas liegenden Götterinsel zunutze, als er mit seinen Schiffen den YangtzuFluß zum Angriff hinauffuhr, und der blutrünstige Aufrührer Chang Hsien-chung (gestorben 1646), der vorgab, der Rächer des Himmels an der undankbaren Menschheit zu sein, betrachtete sich gar als die Inkarnation eines Sterns. Umgekehrt wurde das taoistische Götterparadies in allen Legenden an die äußerste Westgrenze des Reiches, auf den Berg K'un-lun, verlegt, ja es finden sich sogar, wie R. Stein jüngst herausgestellt hat, interessante Parallelen zwischen einem kurzlebigen Taoistenstaat des 3./4. Jahrhunderts und der etwa gleichzeitigen, offensichtlich utopischen Beschreibung des fernen Landes Ta-Ch'in, das sonst mit Ost-Rom gleichzusetzen ist. Hier tritt wohl am klarsten hervor, daß die auf der »vertikalen Ebene«, das heißt zwischen den sozialen Schichten, ablaufende historische Bewegung ständig mit jener auf der »horizontalen Ebene« interferierte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 185
auf der sich die geistige oder machtpolitische Auseinandersetzung zwischen China und dem Ausland oder auch zwischen den einzelnen Landesteilen innerhalb Chinas selbst abspielte. Begegnungen mit fremden Völkern Es ist durchaus nicht ganz einfach zu definieren, was über die Zeiten hinweg in politischem oder kulturellem Sinn als »China« oder »Nicht-China« zu gelten hat. Mit dem Begriff »China« verbindet sich ja stets – wie mit dem des »Römischen Reiches« – eine politische und eine kulturelle Idee. In der ältesten Periode der chinesischen Geschichte wäre eine solche Unterscheidung auch völlig sinnlos; denn die chinesische Kultur ist nicht aus einem Guß entstanden, sondern erwachsen aus der gegenseitigen Durchdringung verschiedener »Lokalkulturen« (Eberhard), deren Träger in Rasse, Sprache und Lebensgewohnheiten stark voneinander abwichen. Die ersten kleinen Staatsgründungen, die sich etwa zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends zeigten, lagen an den geographischen Schnittpunkten dieser Kulturen, namentlich am Unterlauf des Huangho und am Wei-Fluß, möglicherweise aber, wie jüngere Grabungen vermuten lassen, auch noch wesentlich südlicher. Ansätze zu einer Reichsidee sind aber frühestens seit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 186
Konstituierung der Shang-Dynastie feststellbar, die bereits systematisch die umliegenden, noch etwas lockeren Staatsverbände bekämpfte, aufsaugte oder direkt vernichtete. Wirklich begründet wurde diese Idee jedoch erst, als gegen Ende des zweiten Jahrtausends die Chou im Westen an die Macht kamen und ihr großes Feudalreich begründeten. Die Existenz einer Krondomäne inmitten der sie umlagernden Lehen ermöglichte den Gedanken einer Mitte, eines Kreises und damit auch eines »Innen« und »Außen«, einer einzigen Kultur und einer vielgestaltigen Unkultur. Die Gründung der Chou-Dynastie hatte aber noch eine weitere Folge: Durch die Zusammenschließung des ursprünglichen Herrschaftsgebietes der Chou im äußersten Westen mit dem der Shang im Osten waren erstmals zwei Zentren einer höheren Kultur, die wie zwei Inseln in dem Medium niedrigerer Kulturen gelegen hatten, zu einem einheitlichen Streifen zusammengewachsen, der sich west-östlich über das ganze heutige China erstreckte und auf beiden Seiten an absolute Grenzen stieß: an die Berge Tibets im Westen, an das Meer im Osten. Die kulturellen Spannungen zwischen West und Ost, die bei den Shang ein außenpolitisches Problem dargestellt hatten, wurden nun, soweit sie fortbestanden, zu einem innenpolitischen. Gleichzeitig zerfielen aber auch die »Barbaren« geographisch in zwei klar voneinander abgegrenzte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 186
wenngleich jeweils in sich durchaus heterogene Gruppen: die im Norden und Nordwesten und die im Süden und Südwesten. Diese Zerteilung des »Auslandes« in zwei Sphären ließ einen für die Formung der chinesischen Kultur wesentlichen Prozeß stärker hervortreten, der schon Jahrhunderte früher eingesetzt hatte: den der Dissimilierung und Assimilierung bei der Berührung mit anderen Kulturen. Die Ausgangssituation war im Süden und Norden von jeher völlig verschieden. Wie Owen Lattimore im Verfolg einer recht überzeugenden Theorie über die Entstehung der chinesischen Zivilisation gezeigt hat, scheinen zu Anfang des zweiten Jahrtausends v. Chr. die ethnischen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Trägern der beginnenden chinesischen Kultur im Norden und den nordwärts angrenzenden Steppenvölkern noch nicht allzu stark empfunden worden zu sein. Beide stützten sich gleichzeitig auf eine primitive Form des Ackerbaus und auf Jagd- und Weidewirtschaft. Erst im Laufe der Zeit trat dann eine immer tiefer greifende Differenzierung ein, als nämlich die Bewohner des fruchtbaren Lößlandes und der Gegenden am Unterlauf des Huangho die komplizierte Bewässerungswirtschaft aufnahmen und dabei seßhaft wurden, während ihre nördlichen Nachbarn, die hier nicht gleichziehen konnten, umgekehrt sich mehr und mehr der Ungebundenheit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 186
eines reinen Nomadenlebens hingaben. Die Grenzen der auf diese Weise entstehenden Wirtschaftszonen verschwammen aber in einem breiten Geländegürtel nördlich des Huangho und mußten sich zu allen Zeiten nach den jeweiligen Machtverhältnissen im Süden und Norden stets von neuem einpendeln. Sie waren deshalb so fließend, weil die Nomaden, ohne ihre Gesellschaftsstruktur aufgeben zu müssen, so weit noch im Süden von dem Land dauerhaften Besitz ergreifen konnten, als die Bevölkerungsdichte gering genug war, um auch ohne Bewässerungswirtschaft auskommen zu können, umgekehrt aber die einzelnen chinesischen Bauern zur Not auch ohne Bewässerung noch ziemlich weit im Norden ihr Leben zu fristen vermochten. Die Unbestimmtheit dieser Nordgrenze war natürlich für China als Agrarland wesentlich unangenehmer als für die beweglicheren Nomaden. Schon seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert bauten daher die einzelnen chinesischen Nordstaaten Wälle und Befestigungsanlagen, die in ihrem oft moränenartig mehrfach gestaffelten Verlauf von dem Hin- und Herwogen der Kämpfe Zeugnis ablegen. Die Wälle wurden erstmalig im 3. vorchristlichen Jahrhundert von Ch'in Shih Huang-ti in der »Großen Mauer« zusammengefaßt, aber bis in die Ming-Zeit hinein haben viele Dynastien diese Linienführung geändert und neue Wallanlagen südlich und nördlich davon Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 187
gezogen. Das Wesentliche bestand jedoch darin, daß die »Große Mauer« (ganz ähnlich wie der Limes) nicht so sehr eine Grenze befestigte, als vielmehr eine Grenze setzte – in einem Gebiet, wo zwei unvereinbare Lebensformen einander gegenüberstanden, ohne doch durch eine natürliche Barriere klar geschieden zu sein. Die Große Mauer markierte also die Linie, über die die chinesische Kultur nicht hinauszudringen vermochte, ja vielleicht nach der Vorstellung ihrer Erbauer nicht einmal hinausdringen sollte. Insofern trennte sie zeitweilig tatsächlich nach beiden Seiten – ein Stein gewordenes Monument der Vorsicht auf der politischen und des Verzichts auf der kulturellen Ebene. Nahezu umgekehrt lagen von jeher die Verhältnisse im Süden. Zwar war die südliche Urbevölkerung, die offenbar aus austroasiatischen, austronesischen und Tai-Völkern bestand, von den damaligen (und den heutigen) Chinesen ethnisch ungleich verschiedener als die Nomadenbevölkerung im Norden, aber es entwickelten sich hier trotzdem schon ganz früh sekundäre chinesische Kulturzentren. Denn anders als die Steppe setzte das Land im Süden der am Huangho entstandenen Lebensweise keinen grundsätzlichen Widerstand entgegen, mochten auch Klima und Krankheiten unzählige Schwierigkeiten und Gefahren mit sich bringen. In immer neuen Wellen drangen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 187
daher die Chinesen weiter und weiter nach dem Süden vor in ein Gebiet, das ihnen ganz natürlich zuzugehören schien. Der Bau einer »Großen Mauer« in dieser Richtung wäre als absurd empfunden worden. Denn einerseits bestand hier in Gestalt des Yang-tzu-Flusses eine starke natürliche Grenze zwischen Nord und Süd, die sich in einem geeinten Reich nur allzuoft als eine fatale, nie ganz kittbare Bruchstelle auswirkte und jede zentralistische Regierung dazu bewog, sie durch eine ebenso starke Nord-Südverbindung wettzumachen (durch den »Kaiserkanal« seit dem 6. Jahrhundert, durch die direkten Straßen- und Eisenbahnverbindungen seit 1957 nach einem technisch komplizierten Brückenschlag über den Yangtzu bei Wuhan); andererseits stellte die dunkelhäutige Urbevölkerung niemals einen ernst zu nehmenden Gegner dar, sie wurde von den zivilisatorisch weit überlegenen Chinesen mühelos aufgesogen oder in unzugängliche Regionen abgedrängt. Alle Reichsberichte, von der Hanbis zur späteren T'ang-Zeit, schildern den Süden als eine wegen ihrer Fruchtbarkeit, ihres bunten Völkergemischs und ihrer Farbenpracht zugleich faszinierende und furchteinflößende Gegend, die aber trotz aller Fremdartigkeit als ein fester Bestandteil Chinas angesehen wurde: Sie mußte nie eigentlich mit Macht erobert, sie mußte bloß kolonisiert und kultiviert werden. Die chinesischen Beamten, Adligen und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 188
Militärführer aus dem Norden betrachteten sich bis etwa ins 8. Jahrhundert hinein nicht selten als Kulturbringer in einer rückständigen Ecke des Reiches, ja als wahre Missionare: Sie gaben den nackten Eingeborenen Kleider, machten sie mit dem konfuzianischen Heiratssitten bekannt, lehrten sie zum Teil lesen und schreiben und unterrichteten sie, um sie von ihren alten Schamanengesängen und »abergläubischen« Vorstellungen abzubringen, in den klassischen »Elegien von Ch'u«, die für nordchinesische Ohren offenbar bereits recht sinnlich-südlich klangen. Wie jede Berührung zwischen verschiedenen Kulturen, so wirkte natürlich auch diese nicht nur einseitig: Die Chinesen aus dem Norden übernahmen sowohl manche Bräuche und Vorstellungen der Urbevölkerung, da sie mit den häufig als Unterbeamte eingesetzten Häuptlingen in täglichem Kontakt standen, ja sogar Heiratsverbindungen eingingen, sondern sie machten sich auch viele religiöse (namentlich taoistisch-buddhistische) und gesellschaftliche Auffassungen der bereits früher angesiedelten Chinesen zu eigen. Das Ergebnis dieser Entwicklung war jedoch keineswegs, wie im Norden, eine der chinesischen als Alternative gegenübergestellte fremde Kultur, sondern eine oft durchaus fruchtbare Spannung innerhalb der chinesischen Kultur selbst. Daß im Süden die Selbständigkeitsbestrebungen immer sehr stark waren, ist Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 188
durchaus nicht als Gegenbeweis zu werten, denn es äußerten sich darin stets nur partikularistische, nie wirklich separatistische Tendenzen: Sie bedeuteten eine Abkehr von der jeweiligen Zentralregierung, nicht eine Abkehr von »China«, wie es in dem Begriff T'ien-hsia, »Reich«, zum Ausdruck kam. Die stetig fortschreitende Kolonisierung und kulturelle Assimilierung des Südens erhielt dadurch eine besondere Note, daß sie in indirekter Verbindung zu der notwendigerweise feindseligen Auseinandersetzung mit den gänzlich andersartigen Nomadenkulturen im Norden stand: Sie empfing ihre wichtigsten Impulse durch wiederholte Flüchtlingsbewegungen, vor allem im 2./3. und noch einmal im 12. Jahrhundert, als beide Male ganz Nordchina an fremde Nomadenvölker verlorenging und sich Millionen von Nordchinesen im Süden ansiedelten. Insofern war der wechselvolle Kampf im Norden für Chinas Außenpolitik stets in doppelter Weise entscheidend. Die Chinesen standen dort gewöhnlich in der Defensive; selbst die ausgedehnten Feldzüge im 2. vorchristlichen und 7. nachchristlichen Jahrhundert, die China zeitweilig die Herrschaft über ganz Innerasien einbrachten, waren Präventivkriege, die China im einen Fall von den gefährlichen Hsiung-nu, im anderen von den Türken befreien sollten. Brach die militärische Verteidigung zusammen, so bedeutete das immer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 188
noch keine endgültige Niederlage; denn die fremden Eroberer sahen sich in China selbst einer ungeheuren, in diesem Falle von unten nach oben wirkenden Assimilierung ausgesetzt. Sie bestand nicht nur dank der überlegenen Bevölkerungszahl, sondern auch dank der Kompliziertheit des Wirtschaftssystems, das meist unfehlbar wieder die zur Kollaboration bereiten Literaten-Beamten in die Schlüsselstellungen brachte: Wo die Waffen nicht hatten siegen können, siegte die Kultur. Erst die Khitan, Jurchen und die Mongolen verstanden es, durch Einführung eigener Schriftsysteme und Bestallung zentral- und westasiatischer Helfer sich für eine begrenzte Frist von dieser sanften Unterwanderung frei zu halten; aber auch sie vermochten bloß, sich von der chinesischen Kultur, soweit sie staatsbildend war, zu isolieren, nicht, sie zu zerstören. Allerdings scheint auch dies gelegentlich erwogen worden zu sein, so etwa von Tschinghis Khan, der angeblich aus China eine Pferdeweide machen wollte. Eine grundlegende Umgestaltung dieser Kultur wäre aber nur durch den doppelten Sieg einer fremden Ideologie und einer fremden Staatsmacht gleichzeitig möglich gewesen. Die Eroberer besaßen jedoch nie ein geschlossenes Weltbild, das von China in toto hätte übernommen werden können. Die einzige fremde Religion, die tief in das chinesische Wesen eindrang, der Buddhismus, wurde auf friedlichem Wege Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 189
eingeführt und blühte während des 4. bis 6. Jahrhunderts, in der Zeit der Spaltung des Reiches in einer von Chinesen und von »Barbaren« beherrschten Hälfte, auf beiden Seiten. Seine pessimistische Einstellung paßte gerade in diese durch Kriegszüge, Völkerwanderungen und politische Zersplitterung gekennzeichnete, unruhige Epoche. Im geeinten T'ang-Reich erwies er sich aber nicht nur wegen der wachsenden wirtschaftlichen Macht der Klöster, sondern auch wegen seiner Weltfeindlichkeit überhaupt immer mehr als eine staatsbedrohende Idee, die zuerst die Konfuzianer in der Ku-wen-Bewegung mit geistigen Mitteln und dann die Staatsorgane in den scharfen Buddhistenverfolgungen der Jahre 844/845 mit brutaler Gewalt bekämpften. Ähnlich wie früher der Taoismus, so zerfiel dann auch der Buddhismus in zwei Richtungen, von denen die philosophisch-abstrakte in das Kräftefeld des Konfuzianismus geriet, die religiöse in das der taoistisch gestimmten Volksreligion, wodurch beide gründlich sinisiert wurden. Es scheint, als sei das 9. Jahrhundert auch hier ein geschichtlicher Wendepunkt: Die chinesische Kultur verlor im politisch-militärischen wie im geistigen Bereich etwas von ihrer Selbstsicherheit und suchte dies gerade durch Überbetonung des autochthon Chinesischen, wofür der Konfuzianismus in gewisser Weise als Symbol stand, wettzumachen. Eine geistige Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 189
Toleranz und eine Weltoffenheit, wie sie noch die erste Hälfte der T'ang-Zeit kennzeichnete, hat eine einheimische Dynastie seither jedenfalls nie wieder erreicht. Die erstmalige Besetzung des gesamten China durch ein Fremdvolk – die Mongolen im 13. Jahrhundert – hinterließ ein Trauma gegenüber allem Fremden, das sich in der Ming-Zeit in dem (praktisch freilich undurchführbaren) generellen Verbot aller Auslandsbeziehungen (außer dem Empfang von Tributgesandtschaften) widerspiegelte und doch nicht die abermalige Unterwerfung unter eine Fremddynastie im 17. Jahrhundert verhindern konnte. Das größte Unbehagen aber bereitete psychologisch, daß sich an der Ost-Flanke des Reiches unerwartet eine neue Grenze aufzutun begann, mit der die Chinesen vordem nie hatten rechnen müssen, die Seeküste. Die Plünderung der am Meer gelegenen Städte und Ortschaften durch japanische (aber auch chinesische) Seeräuber im 16. Jahrhundert war der Auftakt zu einem geographischen Frontwechsel, auf den sich weder die Ming-Dynastie noch auch die Manchu rasch genug einzustellen vermochten, weil er gleichzeitig auch einen Frontwechsel auf geistigem Gebiet bedeutete: die Auseinandersetzung mit dem Westen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 190
Die chinesische Geschichte als Torso Feste Welt und sich wandelnde Welt im Konfuzianismus Die Kraft einer Kultur ist nicht immer daran erkennbar, daß sie starke Einflüsse von außen abzuwehren vermag, sondern bisweilen umgekehrt an der Fähigkeit, sie mühelos anzunehmen und dem eigenen Gebäude einzufügen. Freilich ist die Möglichkeit dazu den einzelnen Kulturen a priori in verschiedenem Maße gegeben: Sie bemißt sich danach, ob die jeweilige Kultur aus sich selbst heraus entstand oder unter dem Einfluß einer älteren, auf sie einwirkenden Zivilisation. Im einen Fall, der für China zutrifft, wird sie schwerer, im anderen, der für Japan gilt, leichter fremdes Kulturgut assimilieren können. Mindestens ebenso wichtig ist aber ein anderer Faktor: Ob nämlich die Kultur von ihren wichtigsten Vertretern als etwas in sich Abgeschlossenes betrachtet wird oder als etwas noch Unfertiges, das sich in einem ständigen Umformungsprozeß erst seiner Vollendung nähert und infolgedessen das Fremde nicht nur erträgt, sondern geradezu benötigt. Als im Lauf der Späteren Chou-Zeit der natürlich gewachsene Familien-Feudalismus sich als Staatsidee Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 190
als immer weniger tragfähig erwies, war das gesamte politische und geistige Leben von der Sehnsucht nach einer besseren Zukunft erfüllt, die freilich nur die Legalisten wirklich in der Zukunft suchten, indem sie erklärtermaßen neue Wege beschritten; für die Taoisten lag sie in der Zeitlosigkeit einer anarchistischen, naturbeherrschten Welt, für die Konfuzianer in der Vergangenheit. Die konfuzianische Auffassung von der Zukunft als einer Art Spiegelung des Vergangenen scheint jedoch sogar eine messianische Idee, typischerweise allerdings »zyklischer« Art, nicht ausgeschlossen zu haben, wie sie sich in Andeutungen bei Mencius findet: die Überzeugung nämlich, daß alle fünf hundert Jahre ein wahrer Herrscher erscheine, um das Reich zu erneuern. Diese Verheißung geht (wie Hu Shih annahm) möglicherweise noch auf die Priester (shih) der Shang-Dynastie zurück, wurde offenbar zuerst auf den »Herzog von Chou« (Ende des 11. Jahrhunderts v. Chr.), den niemals inthronisierten, »eigentlichen« Gründer der Chou-Dynastie, und später auf Konfuzius (551-479) bezogen, der sie wahrscheinlich selbst mit sich in Verbindung brachte. In der Han-Dynastie, die den Konfuzianismus in einer merkwürdigen Verschränkung mit dem Legalismus zur Staatsideologie machte, wurde Konfuzius allmählich zu einer Art göttlichem, die Welt geistig regierendem König. Die ihm zugeschriebene Chronik Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 190
Ch'un-ch'iu wurde nicht mehr als ein historisches Werk aufgefaßt, sondern als eine symbolische Beschreibung dreier Evolutionsstadien der Menschheitsgeschichte: der »Wirrnis«, des »sich entwickelnden Friedens« und der »Großen Gemeinschaft« (Ta-t'ung: die verschiedenen Ansätze der Lehre im Ch'un-ch'iu fan-lu, Li-chi und Kung-yang-chuan wurden in Ho Hsiu's [129-182] Kommentar zum Kung-yang-chuan zusammengefaßt). Gegen diesen religiösen Konfuzianismus, der unter dem Namen »Neu-Text-Schule« in die Geschichte einging, erhob sich etwa 10 n. Chr. die »Alt-TextSchule«, die wieder auf die vor-konfuzianischen, Chou-zeitlichen Schriftüberlieferungen zurückging. Sie führte Konfuzius, der bereits als Ziel und Ausgangspunkt allen historischen Geschehens vor ihm und nach ihm betrachtet wurde, wieder auf die Dimensionen eines menschlichen »Vermittlers« zurück, im Sinne der Lehre von der alle fünfhundert Jahre wiederkehrenden Erneuerung der Welt durch einen geistigen König. Das geschah nicht ohne politische Absicht, denn Liu Hsin (gestorben 23 n. Chr.), der Führer der »Alt-Text-Schule«, scheint im Auftrag des Usurpators Wang Mang gehandelt zu haben, der sich schon vor seiner Thronbesteigung als »Herzog von Chou« porträtieren ließ und danach in grotesker Weise alle angeblichen Institutionen der Älteren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 191
Chou-Dynastie wieder einführte, wobei ihm eine halb-utopische Beschreibung dieses versunkenen Staates, das Chou-li (»Ritual der Chou«) als Vorbild diente. Diese naive, rein äußerliche Verwirklichung einer Idealen Staatsordnung hat Wang Mang freilich nicht den erwarteten Ruhm einer geistigen Reinkarnation des »Herzogs von Chou« und des Konfuzius eingebracht, sondern bloß den Vorwurf der Blasphemie; aber die Grundidee der »Alt-Text-Schule«, daß der Idealstaat hier und jetzt verwirklicht werden müßte, nicht erst in einer fernen Zukunft, und daß die Geschichte nicht ein einziges Ziel habe, sondern sich höchstens in rhythmischen Zyklen von einem halben Jahrtausend bewege, hat sich im orthodoxen Konfuzianismus durchgesetzt. Die Anhänger der »NeuText-Schule« dagegen gingen teilweise in den ja noch viel stärker eschatologisch bestimmten volkstaoistischen Bewegungen des 2./3. nachchristlichen Jahrhunderts auf, die freilich nicht eine allmähliche, sondern eine plötzliche Verwandlung der Welt erhofften. Erst im 9. und 10. Jahrhundert konnte sich der Konfuzianismus gegenüber allen anderen Weltanschauungen durchsetzen und seitdem auch der Geschichte seinen Stempel aufdrücken. Dieser Sieg bedeutete, wie wir gesehen haben, im Grunde den Sieg einer sozialen Gruppe – der Gentry und der aus ihr erwachsenden Beamtenschaft –, den nicht so sehr die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 191
Stärke dieser Gruppe selbst, als vielmehr die Schwächung aller »dritten Kräfte« neben ihr ermöglicht hatte: In der Sung-Zeit waren selbständige Adlige und Heerführer verschwunden, Eunuchen, fremdländische Berater, Buddhisten und Taoisten besaßen am Hofe keinen Einfluß mehr, und mit der vollständigen Kolonisierung des Südens war auch eine Art frontier zu Ende gegangen. Die rationalistische Richtung des »Neo-Konfuzianismus«, die vor allem durch die Bemühungen Chu Hsi's (1130-1200) fast ein Jahrtausend lang zur Staatsreligion wurde, übernahm zwar neben einer Unzahl anderer buddhistischer und taoistischer Ideen vom Buddhismus in der Kosmologie den Gedanken zyklischer kosmischer Perioden (jeweils 129600 Jahre), im politisch-historischen Bereich aber glaubte sie an eine feste Welt, die von einer unwandelbaren Ordnungsidee geprägt war. »Fünfzehn Jahrhunderte lang«, so schrieb Chu Hsi, »ist das Tao (das übernatürliche Staatsprinzip), so wie es von (den heiligen Königen) Yao und Shun... und Konfuzius überliefert wurde, auch nicht an einem einzigen Tag verwirklicht worden. Und doch besteht es immerdar weiter, jenseits allen menschlichen Einflusses. Es ist einfach das, was es ist, ewig und unvergänglich, es kann nicht zugrunde gehen, wenngleich es der Mensch während der verflossenen fünfzehnhundert Jahre ständig vergewaltigt hat.« Dieser Gedanke Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 191
stand in Zusammenhang mit Chu Hsis Lehre von einem Kosmos ewiger Prinzipien (li), der sich der Materie (ch'i) aufprägt und dadurch die Dinge entstehen läßt, eine Lehre, die er zwar durchaus nicht erfand – sie geht unmittelbar auf Cheng I (1033-1108) zurück, der sich wiederum auf Ideen der »NamenSchule« (4./3. vorchristlichen Jahrhundert), des SpätTaoismus und des Buddhismus stützte –, wohl aber erstmals eng mit Staat und Geschichte verband: Das Reich war für ihn ein Abbild des Kosmos, der Kaiser das Äquivalent des höchsten, einzigen »Universalprinzips« (T'ai-chi), das der ganzen Welt seine Gestalt gab. Noch mehr als bei der Alt-Text-Schule war damit die Auffassung von einem Ziel, auf das sich die Geschichte hinentwickelte, ausgewischt; die Geschichte wurde nicht, sie war, die Zukunft fiel in die Gegenwart hinein, denn das Ziel, die Verwirklichung des ewig präsenten »Tao«, konnte in jedem Augenblick durch die Tat jedes einzelnen erreicht oder verfehlt werden. Daher beginnt auch in der »Großen Lehre« (Ta-hsüeh), der kurzen Schrift, die Chu Hsi eigens als Klassiker herausstellte, die in logischer (nicht chronologischer) Reihenfolge geschilderte, heilbringende Handlungskette beim »Untersuchen der Dinge« und »Festigen der Gedanken«, um dann unfehlbar beim »Frieden der Welt« zu enden. Inwieweit Chu Hsi daneben noch die Verheißung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 192
vom regelmäßigen Auftreten eines geistigen Reichserneuerers aufrechterhielt, ist schwer zu sagen; die Betonung der »fünfzehnhundert Jahre«, die angeblich seit der letzten Verwirklichung des »Tao« vergangen seien, obwohl ihn etwa sechzehnhundertfünfzig Jahre von Konfuzius trennten, läßt, wenn er dabei nicht Mencius (372-289 v. Chr.) im Auge hatte, sogar daran denken, daß er sich selbst als einen solchen betrachtete. Seine seit der Ming-Dynastie für orthodox erklärte Lehre hat aber im Endeffekt sowohl durch die Einordnung des »Universalprinzips« als auch durch die Proklamierung eines unwandelbaren Staatsprinzips der legalistischen Idee, und damit der monarchistischen Despotie, viel mehr geholfen, als der konfuzianischen und entscheidend zu der fortschreitenden Verfestigung des geistigen Lebens beigetragen. Eschatologische Erwartungen wurden nur noch in der Volksreligion, namentlich in den Geheimgesellschaften, weitergetragen. Der »Große Frieden« Diese geistige Situation wurde für die Begegnung mit dem Westen entscheidend. Denn keine der von dort eindringenden Weltanschauungen rechnete wie die Alt-Text-Schule, der Neo-Konfuzianismus oder auch der originäre Taoismus mit einer »festen« Welt, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 192
die sich allenfalls zyklisch oder innerhalb einer endlichen Zahl von Möglichkeiten bewegte; sie alle sahen die Geschichte in einer geradlinigen, nichtzyklischen Entwicklung auf ein erkanntes oder nicht erkanntes Ziel hin begriffen, gleichgültig, ob es sich um das Christentum, die Entwicklungslehren Herbert Spencers und Darwins oder den Marxismus handelte, um nur die wichtigsten zu nennen. Es war daher nur eine tragische Konsequenz, daß der erste und einzige spektakuläre Erfolg des Christentums in China nicht am konfuzianischen Kaiserhof in Erscheinung trat, wo die Missionare schon seit Jahrhunderten arbeiteten, sondern im Aufstand der christlichen Geheimgesellschaft der Taiping, deren Führer nur einmal durch Zufall einen frommen christlichen Traktat zu Gesicht bekommen hatte. Wie eine Mißgeburt, zu der sich angesichts des zutage tretenden unbändigen Fanatismus weder die Chinesen noch die Abendländer bekennen mochten, wurde diese Erhebung von beiden gemeinschaftlich vernichtet. Dem seit der Sung-Zeit etwas hölzern gewordenen Konfuzianismus fiel es viel schwerer, sich auf eine neue, plötzlich in Bewegung geratene Welt einzustellen, in der sowohl im Politischen wie im Geistigen alle Grenzen aufzuweichen begannen. Und als er schließlich reagierte, tat er den Schritt in die falsche Richtung, zurück nämlich in die Vergangenheit, wie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 193
eh und je, statt in die Zukunft. Die revolutionären Geister entdeckten plötzlich in den Neo-Konfuzianern und vor allem in den ehemaligen Anhängern der AltText-Schule die Verfälscher eines ursprünglichen Konfuzianismus, geistige Falschmünzer nicht bloß im philosophischen, sondern auch im philologischen Sinn; denn tatsächlich war es schon früher gelungen, den Klassikereditionen des Liu Hsin allerlei unzulässige Veränderungen und Hinzufügungen nachzuweisen. So wurde die Neu-Text-Schule wiederentdeckt und damit die Vorstellung einer Welt, die ursprünglich ein Paradies gewesen war, dann allmählich verfiel, bis Konfuzius ihr seine Lehren verkündete und bewirkte, daß sie sich seither, erst nur China, künftig aber den ganzen Erdkreis umfassend, auf dem Weg zu ihrer neuerlichen Vollendung befindet. Der erste – und, wegen seines langen Lebens (1852-1932), merkwürdigerweise auch letzte – Philosoph, der diese Ideen vertrat, war Liao P'ing, der auch sein eigenes Dasein als einen stetigen Neubeginn betrachtete und die These aufstellte, daß jeder geistige Mensch alle zehn Jahre einen großen und alle drei einen kleinen Wandel durchmachen müsse. Er gab den Führern der »Reform-Partei« die entscheidenden Anregungen, vor allem K'ang Yu-wei (1858-1927) und T'an Ssu-t'ung (1865-1898, hingerichtet), die 1898 vergeblich versuchten, eine Restauration des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 193
Staates auf monarchistischer und konfuzianischer Grundlage durchzusetzen. Das Oeuvre K'ang Yuweis, der nach 1898 zu keiner echten politischen Wirksamkeit mehr gelangte, ist exemplarisch für das Schicksal des Konfuzianismus: In der frühesten Periode, die etwa bis zu seiner »Reform der hundert Tage« 1898 reichte, entstanden die Schriften, in denen Konfuzius als ein Revolutionär ins Licht gerückt wird. Kurz danach (1902) veröffentlichte er seine große (zum Teil allerdings schon früher ausgearbeitete) Utopie, das »Buch über die Große Gemeinschaft« (Ta-t'ung-shu), das die endzeitliche Welt des Konfuzianismus als einen Weltstaat schildert, in dem alle Unterschiede zwischen Völkern und Rassen, Geschlechtern und Klassen ihre Bedeutung verloren haben. Von Mitte der zwanziger Jahre bis zu seinem Tod reichte seine letzte Schaffensperiode, in der er seine »Himmelserklärungen« (Chu-t'ien chiang) schrieb: eigentümliche Schilderungen, in denen sich mystische Erlebnisse bei ekstatischen »Himmelswanderungen«, die deutlich buddhistische, taoistische und idealistisch-konfuzianische (von Lu Chiu-yüan [1139-1193] stammende) Einflüsse zeigen, mit Erkenntnissen und Beobachtungen der westlichen Astronomie mischen, die zeitlebens K'angs Leidenschaft waren: Jenseits einer Menschenwelt, die sich aus ihrer Zeitgebundenheit, ihrer Geschichtlichkeit doch nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 193
so leicht in die Verklärung der »Großen Gemeinschaft« überführen ließ, wurde er so – wie alle Taoisten vor ihm – zu einem enthusiastischen Wanderer zwischen zeitlosen Himmeln, die er aber nicht nur religiös in sich, sondern durch die Naturwissenschaft – mit dem Fernrohr von Stern zu Stern reisend – auch über sich zu entdecken meinte. Diese Konfundierung von religiösem, historischem und naturwissenschaftlichem Denken auf der einen Seite und das Vertrauen auf eine kommende bessere Welt auf der anderen kennzeichneten indes nicht nur die Weltanschauung K'ang Yu-weis, sondern auch die der meisten anderen Intellektuellen der damaligen Zeit. Ein vergleichsweise belangloses, aber doch viel zuwenig beachtetes Anzeichen dafür ist die begeisterte Aufnahme, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute die technischen Zukunftsromane (Science fiction), allen voran die von Jules Verne, in China fanden; der berühmteste Schüler K'ang Yu-weis, der Geschichtsphilosoph und Politiker Liang Ch'i-ch'ao (1873-1929), übersetzte selbst einen von ihnen, Vernes Cinq semaines en ballon. Wichtiger war, daß dadurch alle Weltanschauungen, die den naturwissenschaftlichen Bereich methodologisch oder inhaltlich ausklammerten – und das galt nach dem Einbruch der westlichen Technik für sämtliche herrschenden religiösen und philosophischen Systeme einschließlich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 194
des Konfuzianismus, aber auch des Christentums –, ihre Anhänger verloren. Fast unvermeidlich gerieten so die meisten Intellektuellen, wie etwa der Kommunistenführer Wu Yü (1871-1949), der ursprünglich Liao P'ing als Lehrer hatte, in das Gravitationsfeld der einzigen Weltanschauung, die nicht in zwei Ebenen dachte, in das der marxistischen: Sie schien ganz Philosophie, aber auch ganz Wissenschaft, ja, was noch wichtiger war, in ihrem historischen Materialismus ganz Naturwissenschaft zu sein; den Marxismus zu übernehmen, verletzte das Nationalgefühl am wenigsten, denn er war nicht, wie das Christentum, im Westen geschaffen, sondern nur, wie etwa die Gesetze der Schwerkraft, im Westen ein wenig früher entdeckt worden. In Wirklichkeit freilich bedeutete die Annahme des Marxismus einen viel entscheidenderen Bruch mit der geistigen Tradition als die Annahme jeder anderen Weltanschauung. Doch er war, da er bloß als eine Teilbewegung in einem weltweiten Prozeß aufgefaßt wurde, in dem der »Idealismus« gegen den »Materialismus« unterlag, trotzdem nicht demütigend. Die Geschichte Chinas zeigte sich plötzlich – nicht anders aber als die Geschichte aller anderen Länder, ja als die der ganzen Welt – als ein Torso in des Wortes doppelter Bedeutung: als zur Hälfte zerstört aus dem Blickwinkel der Vergangenheit gesehen, als zur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 194
Hälfte vollendet aus dem Blickwinkel der Zukunft. Die im historisch-soziologischen (nicht im kosmologischen) Bereich fertige, feste Welt des Sung-Konfuzianismus lag in Trümmern, aber aus diesen Trümmern würde eines Tages eine neue, echte, unzerstörbar-feste Welt entstehen. Es ist in jüngster Zeit viel darüber gerätselt worden, inwieweit das kommunistische China mit dem China der Geschichte noch etwas gemeinsam habe. Die einen betrachten die kommunistische Revolution bloß als den üblichen »Bauernaufstand«, der nach dem Sieg und der Gründung einer neuen »Dynastie« auch dieses Mal wieder in ein ruhigeres Fahrwasser einlenken werde; sie ziehen Parallelen zwischen der alten Trennung zwischen Kaiser und Regierung und der neuen zwischen Partei und Regierung, und sie glauben, wie schon erwähnt, in den Funktionären eine »neue Klasse« der Literaten-Beamten heranwachsen zu sehen. Die anderen sind überzeugt, daß sich all diese Ähnlichkeiten bei eingehenderer Betrachtung als rein formal erweisen, ja daß gerade dieses Hereinnehmen verschiedenster Schemata, die ihres ursprünglichen Sinns entleert sind, dieses »Verdauen« der überkommenen Kultur (um es in der drastischen Sprache Mao Tse-tungs zu sagen), eine viel gründlichere Auflösung bedeute als jede bloße Verdammung; und sie bezweifeln, gerade angesichts der übernationalen und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 194
in der Geschichte oft genug über den Nationalismus gestellten, kulturbestimmten Reichsidee des alten China, daß das neue je im Konfliktfall den nationalen Gedanken über den internationalen stellen werde. Für die eine wie für die andere Auffassung lassen sich viele weitere Argumente anführen, denn die Gestaltung des heutigen China ist tatsächlich durch eine Reihe gegensätzlicher Motivationen bestimmt. Welche von ihnen sich mehr, welche sich weniger durchsetzen wird, ist kaum zu beantworten: Der Historiker kann allenfalls bestimmte Entwicklungen als Möglichkeiten ausschließen, niemals, Entwicklungen voraussagen. Wesentlich substantieller ist die Frage, ob die sachlichen Voraussetzungen, die die chinesische Kultur formten und ihr das hohe Alter gaben, auch heute noch bestehen. Da ist zunächst die geographische Lage, die sich natürlich nicht verändert, aber an Bedeutung doch entscheidend eingebüßt hat. Die moderne Technik läßt für China nicht nur alle Entfernungen des In- und Auslands zusehends schrumpfen, sondern sie verändert auch immer mehr die Produktionsweise; sie wird vielleicht eines – allerdings noch fernen – Tages die gelenkten Menschenmassen der »Orientalischen Despotie« selbst beim Wasserbau und ähnlichen Riesenprojekten entbehrlich machen, obgleich die Bodengestaltung den Einsatz von Maschinen erschwert. Einem noch interessanteren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 195
Wandlungsprozeß unterliegt die chinesische Sprache: Sie hat bereits im Laufe der Jahrtausende den Charakter des rein Monosyllabisch-Isolierenden verloren; aber erst in unseren Tagen wechselt sie in atemberaubender Schnelligkeit ihre Gestalt, nachdem sie unter den Einfluß einer mächtigen Übersetzungsliteratur und einer staatlichen Agitation geraten ist, die sich gegen die (in dieser Weise wissenschaftlich allerdings nie vertretene) Meinung wendet, daß das Chinesische isolierend und damit »primitiv« sei. So hält denn über einen künstlichen Übersetzungsstil nicht nur ein riesiges neues Vokabular übersetzter Fremdworte, sondern auch eine echte neue Grammatik in der Sprache ihren Einzug. Die Vereinfachung der Schrift, die den Grundcharakter des Schreibsystems bisher unangetastet gelassen hat, ist demgegenüber fast belanglos. Die Beachtung dieser Umformungsprozesse, die auch in der heutigen offiziellen Historiographie wirksam sein dürften, ohne daß wir freilich über deren Organisation bis jetzt genügend wissen, ist deswegen so wichtig, weil sie indirekt auch das Selbstverständnis der chinesischen Kultur beeinflussen können. Wenn wir nach einer allgemeinen Formel suchen, die in der Vergangenheit einem solchen Selbstverständnis im Bereich der Geschichte, des Staates und der Gesellschaft als Grundlage diente, so werden wir sie gewiß nicht in der verwirrenden Vielgestalt realer politischer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 195
Erscheinungen finden, sondern, wenn überhaupt, in den Idealen, denen die mannigfachen historisch wirksamen Kräfte anhingen. Und hier entdecken wir etwas wirklich Erstaunliches. Das »Ziel der Geschichte«, das alle, auch die gegensätzlichsten geistigen Richtungen, anstrebten, war in gewisser Weise überall dasselbe: die in gleißendes Licht getauchte Utopie einer im »Großen Frieden« lebenden Welt. Konfuzianer, Legalisten und Taoisten bezeichneten diesen durch seine Ruhe eigentlich geschichtslosen Zustand manchmal mit verschiedenen, oft aber auch mit gleichen Ausdrücken, als T'ien-hsia p'ing, »Frieden in der Welt«, T'ai-p'ing, »Höchsten Frieden« (der Dynastie-Name der Taiping-Rebellion), oder als Ta-t'ung, »die Große Gemeinschaft«. Für die Legalisten bestand der »Große Friede« hauptsächlich in der Herrschaft des »Gesetzes«: einer alles durchdringenden, dem Chaos der Natur abgerungenen Ordnung; für die Konfuzianer im sanften Walten von »Menschlichkeit« und »Ritual«, die der Menschheit gleichfalls eine kristallene, aber doch von der Natur hergeleitete Ordnung gaben. Hier wie dort entsteht eine Welt, in der »Frauen und Männer auf getrennten Straßenseiten gehen und verlorene Gegenstände nicht von Fremden aufgelesen werden«. Für die Taoisten ist der »Große Friede« der Friede einer unberührten Natur, die keine sozialen und moralischen Unterschiede und keinen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 196
kulturellen Ehrgeiz kennt, wo »die Länder klein sind und wenig Bewohner haben,... Schiffe und Wagen zur Verfügung stehen, aber niemand da ist, der darin führe«, wo »die Nachbardörfer in Sehweite liegen, so daß man den Laut der Hähne und Hunde auf beiden Seiten hören kann, und doch die Leute im höchsten Alter sterben, ohne hin- und hergereist zu sein«. Diese Unterscheidung in eine legalistische, konfuzianische und taoistische Vorstellung von der idealen Welt des Friedens ist im Grunde aber immer noch etwas künstlich. In Wirklichkeit fügten sich bei jedem einzelnen Denker, bei jeder neuen Ideologie Komponenten aus allen dreien wie die Steine eines Kaleidoskops zu einer neuen Einheit zusammen. Nicht sosehr die Utopie selbst war es, wodurch sie sich voneinander unterschieden, als vielmehr der Weg, den sie einschlugen, um sie zu verwirklichen. Die buddhistischtaoistischen Geheimgesellschaften hofften, mit kriegerischer Gewalt im plötzlichen Inferno einer untergehenden Zivilisation die bessere Welt herauszuläutern, indes die pazifistischen Konfuzianer in stetigem Bemühen danach strebten, die Möglichkeit des »Großen Friedens«, die der bestehenden Welt beständig innewohnte, allmählich zu verwirklichen. Eins war aber all diesen Bemühungen gemeinsam: Die ideale Welt blieb fast nie in einer fernen, unerreichbaren Zukunft, sondern sie rückte – wohl wegen jener »Präsenz« von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 196
Vergangenheit und Zukunft im Horizont des chinesischen Denkens – eng an die Gegenwart heran, ja in die Gegenwart hinein: Sosehr ein gleichsam bäuerliches, in einen Zyklus eingespanntes Warten dem chinesischen Geist entspricht, sowenig entspricht ihm ein wahrhaft eschatologisches, das sich in der Unendlichkeit einer unbestimmten Zukunft verliert. Die Welt des »Großen Friedens« stand immer unmittelbar bevor, besser noch, sie war irgendwie immer schon angebrochen; sie verlangte nicht den gläubigen Sinn eines »Oblomow«, sie verlangte die Tat: die Vernichtung der bestehenden Weltordnung oder den Aufbau einer alles erfassenden Beamtenbürokratie, die Verbreitung einer Morallehre oder die Unterrichtung der Fremdvölker, ja vielleicht sogar das »Nicht-Tun«, das ja nie ein Warten war. Auch heute wird China, eine neue Idealwelt vor Augen, die der alten doch recht ähnlich ist, in einem kühnen Bogen versuchen, die Grenzen Utopias zu durchbrechen; denn Hoffnung und Erfüllung sind in den Seelen der Völker verschieden gemischt.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie
Anhang: Abbildungen ¤ Der Jesuitenmissionar Matteo Ricci neben einem Literaten-Beamten. Stich in der 1667 erschienenen Ausgabe des Werkes »China... illustrata« von Athanasius Kircher ¤ Titelseite des »T'ung-chien kang-mu«, einer einflußreichen Geschichte Chinas von Chu Hsi, in einem chinesischen Exemplar ¤ Titelseite des »T'ung-chien kang-mu«, einer einflußreichen Geschichte Chinas von Chu Hsi, in der französischen Übersetzung von de Mailla ¤ Kaiser Chia-ch'ing bei einer Audienz im winterlichen Jehol. Aus einem Gemälde, Ch'ing-Dynastie, Ende 18. Jahrhundert. London, Victoria & Albert Museum ¤ Lößhügellandschaft in der Provinz Honan im nördlichen Zentralchina ¤ Reisfelder in der Provinz Hunan im südlichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 145
Zentralchina ¤ Kampf gegen Aufständische. Wandgemälde in Grotte 120 N des Felsheiligtums von Tun-huang, Wei-Dynastie, um 538 ¤ Chinesischer Krieger in Rüstung. Bemalte Tonplastik, erste Hälfte der T'ang-Dynastie. Berlin, Staatliche Museen, Ostasiatische Sammlung ¤ Bild und Sieben-Wort-Vers im chinesischen »Nostradamus«. Eine Seite in einer aus der Manchu-Zeit stammenden Handschrift des Werkes »T'ui-pei-t'u« ¤ Bild und Sieben-Wort-Vers im chinesischen »Nostradamus«. Eine Seite in einer aus der Manchu-Zeit stammenden Handschrift des Werkes »T'ui-pei-t'u« ¤ Bild und Sieben-Wort-Vers im chinesischen »Nostradamus«. Eine Seite in einer aus der Manchu-Zeit stammenden Handschrift des Werkes »T'ui-pei-t'u« ¤ Bild und Sieben-Wort-Vers im chinesischen »Nostradamus«. Eine Seite in einer aus der Manchu-Zeit stammenden Handschrift des Werkes »T'ui-pei-t'u« ¤ Raum 135 in den »Grotten der Tausend Buddhas« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 188
von Tun-huang, Wei-Dynastie, Anfang 6. Jahrhundert ¤ Gesandte fremder Völker mit Tributgeschenken für den T'ang-Hof. Kopie einer dem Yen Li-pen zugeschriebenen Malerei auf einer Querrolle. Taichung/ Taiwan, National Palace and Central Museums
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie
Anhang: Facsimile ¤ Der chinesische Literaturgott K'uei-hsing. Verkleinerter Abklatsch von einem Steinrelief in Lung-men bei Lo-yang, 1864
K'uei-hsing ist eine der fünf chinesischen Literaturgottheiten. Wie sein Name besagt, war er ursprünglich eine Astralgottheit, die vier Sterne Alpha bis Delta im Sternbild des Großen Bären. In der vorliegenden Bildaufschrift ist das erste Zeichen seines Namens mit dem gleichlautenden Namen eines Sternbildes der sieben westlichen von den achtundzwanzig Mondstationen geschrieben, des Patrons über Schrifttum und Gelehrsamkeit. In der üblichen Schreibung ist K'uei zusammengesetzt aus der Bezeichnung des Sternbildes tou (= »Scheffel«) und dem Phonetikum k'uei, das als separates Zeichen die Bedeutung »Dämon« hat, worauf die äußerliche Häßlichkeit des Literaturgottes K'uei-hsing hindeutet, die auch in einer Legende erwähnt wird: K'uei-hsing war als bester Prüfling aus dem Staatsexamen hervorgegangen, aber der Kaiser versagte ihm wegen seiner Häßlichkeit die ihm zukommende Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 160
Auszeichnung und verletzte ihn dadurch so tief, daß er sich im Meer ertränken wollte; er wurde jedoch von einem Wundertier gerettet und in den Himmel versetzt, wo er seitdem amtiert und im Auftrag des höchsten Literaturgottes Wen-ch'ang die Namen derjenigen niederzuschreiben hat, die dazu ausersehen sind, literarischen Ruhm zu erwerben. Eine Anspielung auf seine Funktion und ein Symbol der Gelehrsamkeit überhaupt ist sein Attribut, der Pinsel, den er in der rechten Hand hält. Die Gestalt des K'uei-hsing ist aus dem aus vier Schriftzeichen bestehenden Spruch »i cheng wu ssu« (= »ganz korrekt und ohne Selbstsucht«) gebildet, der sich in der Bildaufschrift wiederholt. Wenn die vierundzwanzig Zeichen umfassende Bildaufschrift in sechs Wortgruppen zu je vier Zeichen angeordnet wird, ergeben die Anfangszeichen der Zeilen 1 bis 4 von oben nach unten gelesen den gleichen Spruch. Sein Inhalt hebt die Eigenschaften des Literaturgottes K'uei-hsing hervor, die von dessen Schützlingen, den Männern von Bildung, deren Fähigkeiten sie zur Beamtenlaufbahn qualifizieren, erwartet werden, da von ihrer Kenntnis und Tugend das Wohl des Volkes abhängt.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11 Wolfgang Bauer: China. Verwirklichungen einer Utopie 160
Übersetzung der Bildaufschrift Den Pinsel hochhaltend Aufrechte und lautere Gesinnung Himmelsgleiches Verhalten Selbstlosigkeit und Rechtschaffenheit So stellt sich K'uei-hsing dar Der ewige Schutzgott der Literatur Im Frühling des Jahres 1854 (= Zykluszeichen chiatsu der Regierungsdevise T'ung-ch'ih) vom Meister Ling-ch'üan (»Drachenquelle«) ehrfurchtsvoll verfaßt, von Lo-p'u yü-che (»Fischer vom Lo-Strand«) ehrfurchtsvoll gemalt, gestiftet vom Abt Hai-yü, graviert vom Steinmetz Liu T'ien-yu.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
Herbert Härtel
Indien
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
197
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
199
Im Jahre 1947 ist Indien nach Jahrhunderten fremder Herrschaft eine unabhängige Nation geworden. Der Preis dieser Unabhängigkeit war die Abtrennung der überwiegend von muslimischen Indern bewohnten Landesteile im Nordwesten und Nordosten des Subkontinents, die trotz großer räumlicher Entfernung zum Staatsgebiet der neuen islamischen Republik Pakistan erklärt wurden. Obgleich die Teilung nicht absolut notwendig war und die Diskussion über damals mögliche befriedigendere Lösungen anhalten wird, ist sie historische Tatsache und als solche eine Folge der langdauernden islamischen Herrschaft in Indien. Sie drückt gleichzeitig den Erfolg und den Mißerfolg dieser Herrschaft aus: Ihr Erfolg lag in der Gewinnung eines beträchtlichen Teiles der indischen Bevölkerung für den Islam, ihr Mißerfolg in dem Unvermögen, das indische Staats- und Gesellschaftsgefüge zu durchdringen. Die Unvereinbarkeit der Weltanschauungen von Muslimen und Hindus war ungeachtet aller in den Unabhängigkeitsverhandlungen auftauchenden Streitfragen der tiefere Grund der unversöhnlichen Haltung beider Parteien. Die unterschiedlichen Auffassungen spiegeln sich nachträglich in den Staatsformen Pakistans und Indiens wider: Während sich Pakistan ausdrücklich als islamischen Staat bekennt, der demnach nur von einem Muslim geführt werden kann, ist die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
199
Indische Union gemäß ihrer Verfassung ein »weltlicher Staat«, der allen seinen Bürgern die Freiheit der Religionsausübung garantiert, ohne sich mit irgendeiner Religion zu identifizieren. Der geringe zeitliche Abstand zu dem Ereignis der Gründung dieser beiden Staaten und die fortdauernde Kontroverse zwischen ihnen könnten zu dem Schluß verleiten, daß die islamische Herrschaft in Indien das folgenschwerste Ereignis der indischen Geschichte gewesen sei. Da überdies der Islam nach rund sechshundertjähriger Präsenz seine letzten Positionen nicht an die Inder, sondern die Engländer als neue Fremdmacht verlor, mag indische Geschichte manchem als eine Geschichte von Eroberungen, Kriegen, Unterdrückungen, kurz: der Zerrissenheit in allen Bereichen erscheinen. Und doch wären beide Urteile falsch. Die Aktivitäten der Herrscher und Dynastien haben Kerben geschlagen, manche Großen haben Meilensteine gesetzt, aber die zeitgebundenen Ereignisse machen nicht das Wesen der indischen Geschichte aus. Das tragende Fundament war vielmehr die über Jahrtausende intakt gebliebene indische Gesellschaftsordnung, deren Gesetzlichkeit für die indischen Herrscher ebenso wie für ihre Völker verpflichtend war. Wenn man begreift, wie sehr diese nicht nachahmbare, typisch indische Gesellschaftsordnung das Leben und somit auch die Ereignisse in diesem Lande bestimmte und noch immer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
200
bestimmt, dann wird deutlich, daß die indische Geschichte im Grunde so kontinuierlich wie kaum eine Geschichte eines anderen Landes verlaufen ist. Oft wird gesagt, das Denken und Handeln der Inder werde in einem von uns schwer vorstellbaren Ausmaß von der Religion beherrscht. Dies darf nicht so verstanden werden, als trage jeder Inder vom Morgen bis zum Abend den Namen Gottes auf den Lippen; sie umschreibt nur etwas überspitzt die Auswirkungen der Tatsache, daß die indische Gesellschaftsordnung und deren Gesetze in der Religion wurzeln. Im Ergebnis war und ist diese Ordnung wesentlicher Bestandteil, ja Träger einer umfassenden, eigenständig indischen, spezifisch hinduistischen Kultur von bemerkenswerter Geschlossenheit. Die aufeinanderfolgenden Wellen fremder Erobererheere sind dem Sog dieser Kultur erlegen, ohne Spuren zu hinterlassen. Erst mit den muslimischen Eindringlingen gelangte ein fremdes Element nach Indien, das der Assimilierung erfolgreich widerstand und das, wie festzustellen war, in Gestalt einer beträchtlichen muslimischen Minderheit die Entwicklung der Unabhängigkeitsverhandlungen so wesentlich beeinflußte. Daß die indische Kultur und Gesellschaftsordnung die oft mit unterlegenen Mitteln geführte jahrhundertelange Auseinandersetzung mit dem Islam überstanden, macht jenes Ereignis, das zur Begründung dieser Kultur führte, zum wichtigsten der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
200
indischen Geschichte: die Einwanderung und Ausbreitung der indogermanischen Arya, deren religiöse Konzeption die Keimzelle der indischen Geisteskultur und damit ihrer großen Religionen und philosophischen Lehrsysteme wurde.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
200
Die Entstehung der indischen Kultur Als die Aryas um 600 v. Chr. im mittleren Gangesgebiet weitgehend seßhaft geworden waren, kam eine fast tausendjährige geschichtliche Entwicklung zum zeitweiligen Stillstand, in deren Verlauf sich jene zunächst auf Nordindien begrenzte indo-arische Kultur herausbildete, auf der die spätere gesamtindische Kultur basiert. Obgleich wir uns in der hier herausgegriffenen Zeit noch in der vorhistorischen Periode der indischen Geschichte bewegen und wenig Genaues über die staatlichen Verhältnisse und politischen Vorgänge wissen, sind wir dank der getreuen Überlieferung zahlreicher in Sanskrit verfaßter religiös-philosophischer Werke in der Lage, die kulturelle Entwicklung von der Ankunft der Aryas bis herauf in die Zeit um 600 v. Chr. einigermaßen authentisch, wenn auch nicht lückenlos verfolgen zu können. Da der Leser dieser Weltgeschichte über die Werke, deren Aussagen den hier zu ziehenden Schlußfolgerungen zugrunde liegen, im einzelnen informiert ist, mag eine skizzenhafte Erinnerung genügen, um die Situation im ganzen zu erfassen. Das literarische Hauptwerk der Aryas ist der vierteilige Veda, das heilige, geoffenbarte »Wissen«, das in vier großen Sammlungen überliefert ist. Die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
200
ältesten Partien der Veden wurden vor 1000 v. Chr. konzipiert, die jüngeren reichen bis etwa 800 v. Chr. herab. An jede der vier Sammlungen schließen sich Erläuterungstexte, sogenannte Brahmanas an, in denen theologische Betrachtungen und Spekulationen über das Opfer, seinen Vollzug und seine Bedeutung angestellt werden. Die Brahmanas wieder haben Anhänge oder Einschübe: die Aranyakas oder »Waldtexte«, die zum Studium in den Einsiedeleien bestimmt waren. Diese wurden ergänzt durch die Upanishads oder »Geheimlehren«, in denen die in den Brahmanas begonnenen Spekulationen fortgesetzt und oft kühne Gedanken über das Wesen des Universums, der Menschen und ihres gegenseitigen Verhältnisses zum Ausdruck gebracht werden. Brahmanas, Aranyakas und Upanishads entstanden zwischen 800 und 550 v. Chr. und bildeten zusammen mit den Veden und einigen jüngeren Sutras, den »Leitfäden« zum Gebrauch der Priester beim Opfer, die als Hauptquelle unserer Kenntnis so wichtige »vedische Literatur«. Bei dem angedeuteten Charakter dieser Schriften ist klar, daß sich mit ihrer Hilfe nur Teilbereiche des Lebens in jener Zeit erhellen lassen und die religiöse Seite möglicherweise allzu stark in den Vordergrund gerückt wird. Dennoch können wir nicht umhin, eine sehr starke religiöse Lebensausrichtung als gegeben zu akzeptieren, die in Einzelheiten schon anderweitig Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
201
aufgezeigt wurde. Konfrontiert man die ältesten mit den jüngsten vedischen Texten, dann wird man sich bewußt, wie stark sich das Denken und das Handeln der vedischen Menschen im Laufe eines Jahrtausends geändert haben. Die Aryas des 6. Jahrhunderts hatten nur noch wenig gemein mit den halbnomadischen, in Trecks das Land überflutenden, waffenschwingenden Recken des zweiten Jahrtausends, die unter dem Schutze ihres göttlichen Vorkämpfers Indra gegen die dunkelhäutigen Barbaren (dasa) und Unholde (dasyu) zum Kampf angetreten waren. Allmählich nur, aber stetig machten indisches Klima, indische Landschaft und indische Menschen die Aryas selbst zu Indern. Je weiter der Eroberungszug nach dem Osten fortschritt, desto mehr gerieten sie unter den Einfluß der ihnen zwar nicht an militärischer Kraft, wohl aber an Zahl überlegenen Eingeborenen. Bald waren sie gezwungen, einen Modus vivendi mit den zuvor rauh beschimpften, dann mit stiller Verachtung bedachten Nichtaryas zu finden, in deren Masse sie sich gewiß ein wenig verloren vorkamen und ein Gefühl des Selbstschutzes entwickeln mußten. Ein am Anfang des ersten Jahrtausends konzipierter vedischer Hymnus enthält eine in typisch jungvedischer, spekulativer Manier begründete soziale Rangordnung, mit der diesem Problem zu Leibe gerückt wurde. Bei der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
201
Opferung des Purusha, des »Urmenschen«, seien – so wird erläutert – aus dessen edelstem Glied, dem Haupt, der Priester (Brahmane), aus den Armen die Krieger (Kshatriya), aus den Hüften die Massen der arischen Viehzüchter, Bauern und Handelsleute (Vaishya), aus den Füßen jedoch die (eingeborenen) Hörigen oder Shudras entstanden. Da die oberen drei Stände ausdrücklich den Aryas vorbehalten blieben, die gesamte Vorbevölkerung jedoch den untersten, niederste Dienste verrichtenden Stand zugewiesen erhielt, hatte diese Ordnung einen rassentrennenden Charakter. Dennoch deutet manches darauf hin, daß eine allmähliche Angleichung der gehobenen Schichten der einheimischen Bevölkerung an die Aryas stattgefunden hat. Beachtenswert ist, wie deutlich die Brahmanen als oberster Stand dem Kriegeradel, der zum Stand der Kshatriyas gehörte, vorangestellt wurde. In der ersten Zeit der Eroberung, als der Adel die Waffen führte und praktisch herrschte, waren die Brahmanen als beratende Priester wichtig; denn nur sie vermochten in Notlagen überirdische Mächte zur Hilfe herbeizurufen. Erst in ruhigeren Zeiten konnten sie die privilegierte Stellung erlangen, die sie zwar nicht zu Staatsmännern, wohl aber zu den geistigen Führern machte, die sie bis in die jüngste Zeit hinein geblieben sind. Da die indo-arische Kultur ganz wesentlich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
202
brahmanische Kultur war, der man mit Recht den Namen »Brahmanismus« gegeben hat, müssen wir die besondere Stellung dieses Standes innerhalb des ganzen Volkskörpers zu erfassen versuchen. Das den Brahmanen eingeräumte Vorrecht fiel diesen nicht durch die Gunst der Situation in den Schoß, sondern war durch systematische geistige Beeinflussung des Volksglaubens und mehr noch durch eine Art opferwissenschaftliche Diktatur geradezu erzwungen worden. Mancher mag fragen, wieso derartige Dinge mehr als religiöse Randerscheinungen seien und inwiefern sie als so lebensbestimmend herausgestellt werden können. Tatsächlich liegt in diesem Problem der Schlüssel nicht nur für das Verständnis des späteren, allbeherrschenden hinduistischen Systems, sondern auch für das Aufkommen neuer Glaubensrichtungen, wie zum Beispiel des Buddhismus, der in Reaktion auf die unerträgliche und unglaubwürdig gewordene brahmanische Bevormundung entstand. Die vedischen Brahmanen waren, anders als in späterer Zeit, ganz überwiegend noch Priester oder mit religiösen Ämtern betraute Männer, die in sehr besonderer Weise eine Mittlerstellung zwischen Göttern und Menschen einnahmen. Ihre Funktion wurde bestimmt durch den Charakter der polytheistischen Religion der Aryas. Die vedischen Menschen sahen ihre Welt von Mächten und Kräften durchdrungen, deren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
202
Wirken für sie nicht ohne weiteres günstige Folgen zu haben brauchte. Solche Mächte standen nach ihrem Empfinden hinter allen primären Erscheinungen in der Natur und im Leben und machten zusammengenommen die ewige Ordnung der Welt aus, in der man zu leben hatte. Diese zu Gottheiten erhobenen, persönlich vorgestellten oder abstrakt empfundenen Mächte flößten Respekt und oft auch Angst ein, so daß es gut schien, sich vor ihnen in acht zu nehmen. So wurden zum Beispiel Vorsichtsmaßnahmen zum Schutze der eigenen Person, der Familie und des Besitzes erforderlich, um möglichen schlechten Auswirkungen der in ihren Gesetzlichkeiten nicht faßbaren Kräfte zu begegnen. Da es dem einzelnen Menschen nicht gegeben war, dieses so komplizierte Dasein zu erfassen und aus sich heraus den rechten Weg zu beschreiten, bedurfte er des Beistands der Wissenden, das hieß: der in den altüberlieferten, Pflicht und Gesetz vereinenden Verhaltensvorschriften erfahrenen Brahmanen. Als Sachwalter der überkommenen Vorstellung, daß Opferhandlungen und Riten die heilsamen Mächte kräftigen und die unheilvollen Kräfte beschwichtigen können, waren sie die berufenen Opferpriester und Zeremonienmeister. Groß ist die Zahl der in den vedischen Texten beschriebenen Opfer; denn es gibt kaum ein Ereignis oder Alltagsgeschehen, für das kein Ritus erdacht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
202
worden wäre. Da gab es beispielsweise das morgendliche und abendliche Feueropfer, die Manenopfer, die Neu- und Vollmondsopfer, die Jahreszeitenopfer, ferner Opfer, die durch Geschehnisse in der Familie (etwa Geburt, Initiation, Hochzeit, Tod), durch Staatsereignisse (Königsweihe, Kriegsglück und -leid und dergleichen) veranlaßt wurden, und schließlich Opfer, die man darbrachte, um die Erfüllung bestimmter Wünsche zu erreichen. Sinn der Opfer war es, die göttlichen Mächte günstig zu stimmen und ihre Hilfe zu erlangen. Die Texte zeigen aber auch, wie der ursprüngliche Gedanke, die Götter durch Hymnenrezitation und manuelle Opferverrichtungen zur Speisung herbeizubitten, bald der Vorstellung wich, sie könnten durch magische Beschwörung herangezwungen werden. Diese ungeheuerliche Spekulation degradierte die Götter zu Statisten, die den regieführenden Brahmanen zu gehorchen hatten. Das Opfer und die es vollziehenden Priester wurden zu Herrschern über Götter- und Menschenwelt. Die Sonne ginge nicht auf, behauptet ein Text, wenn die Priester nicht zur rechten Morgenzeit das Feueropfer darbrächten. Nicht nur Zeit, Platz und Opfersubstanz waren für die einzelnen Darbringungen vorgeschrieben, auch jede Bewegung folgte im Zusammenhang mit der gesprochenen Formel den Richtlinien. Der Brahmane war einerseits der alleinige Kenner der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
203
Opferwissenschaft, andererseits übte er die Funktion eines Medizinmannes aus. Wen wundert es da noch, daß sich die absurde Vorstellung entwickelte, auch die Götter bedienten sich des Opfers, um sich durch seine Zauberkraft gegen bösartige Rivalen zu behaupten. Das Opfer hatte seinen ursprünglichen Sinn verloren und war zu einer selbständigen magischen Potenz geworden. Im gleichen Maße, in dem die Bedeutung des Opfers zunahm, eroberten sich die Brahmanen mehr und mehr die dominierende Stellung in der indischen Gesellschaft. Zwar mögen die Fürsten meistens noch die reale Macht in den Händen gehalten haben, als Individuen aber unterstanden auch sie der im Opfer manifestierten religiösen Macht. Ob Götter und Geister in den Dienst gezwungen werden konnten, hing allein von dem guten Willen der Brahmanen und ihrer Kunst ab, die Riten zu vollführen. Unmittelbaren politischen Einfluß besaß die Priesterschaft in der Person des Hauspriesters des Königs, der eine der wichtigsten Stellungen am Hofe einnahm. Das Verhältnis zwischen dem König und seinem Priester läßt sich nicht besser umreißen als mit den Worten von E. Waldschmidt: »Im König und seinem Hauspriester schließen sich weltliche und geistliche Macht zu einer Verbindung zusammen, die im Zeremoniell wie eine Eheschließung eingegangen wird. Der Hauspriester Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
203
salbt den König, wenn er den Thron besteigt, und ist ihm ein ständiger Berater. Wichtig ist sein Amt indes vor allem, weil er nicht nur private Opfer für den König zu vollziehen hat, sondern auch die Opfer für den Staat zum Wohle des ganzen Stammes. Er hat die Naturkräfte zu lenken, den Regen herbeizuzaubern, Unglück abzuwenden und vor der Schlacht Opfer für deren glücklichen Ausgang darzubringen. Seine magischen Kräfte müssen jeder Konkurrenz gewachsen sein. In Ergänzung ist es Aufgabe des Königs, nach außen für die Sicherheit und Machterweiterung seines Stammes zu sorgen, nach innen die Rechtsordnung zu wahren; dafür schulden ihm die Untertanen Steuern und Gehorsam.« Das von brahmanischen Theoretikern entwickelte Opferschema hatte mittels des erzwungenen Ansehens der es praktizierenden Opferpriester der Brahmanenschaft die privilegierte Stellung in der indischen Gesellschaft eingetragen. Ohne Zweifel waren die Brahmanen schon durch ihre geistige Überlegenheit in der Lage, sich auf Dauer zu behaupten und mißliche Zeiten zu überstehen. Natürlich darf man sich nicht alle Brahmanen als große Denker und Philosophen vorstellen, die gemeinsam wirkten und ihre Interessen ohne Fehl vertraten. Wie in jeder größeren geistigen Gemeinschaft gab es auch unter ihnen führende Gruppen von Theoretikern und Praktikern, die nicht selten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
203
um die rechte Lehrmeinung stritten und, wenn notwendig, sich auch spalteten und gegeneinander kämpften. Das brahmanische Fußvolk, insbesondere die nach Routine praktizierenden Priester hinkten der inneren Entwicklung häufig nach. Nie jedoch wirkte sich die Verranntheit der Praktiker so verheerend aus wie in jener Zeit der höchsten Macht der Opferpriester. Das von vedischen Vorstellungen geprägte, im Laufe der Jahrhunderte aber von vorarischen Kultbestandteilen durchsetzte und allmählich veränderte Opferritual konnte die Massen der Bevölkerung nicht auf die Dauer befriedigen. Die literarischen Quellen machen deutlich, daß der Opferkult im 7./6. Jahrhundert v. Chr. in der Tat ein hochgezüchteter Anachronismus gewesen sein muß. Die Zeichen kündeten einen Umbruch an, der sich als folgenschwerstes Ereignis der geistigen und religiösen Geschichte Indiens vor der islamischen Herrschaft erweisen sollte. Im Ergebnis war dies die Zeit, in der die verschiedenen schon ineinander verflochtenen Wurzeln der indischen Kultur zu einem Wurzelstock zusammenwuchsen. Drei Elemente vor allem waren der Verschmelzung nahe: der auf niedere Gottheiten und Dämonen gerichtete, sich nicht in Opfern, sondern in Verehrung (puja) ausdrückende Volksglaube, der vedische Götterglaube, und schließlich die geistigen Vorstellungen in den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
204
jungvedischen Aranyakas und Upanishads. Da der im wesentlichen primitive Volksglaube immun war gegen höhere Glaubensvorstellungen, nicht aber die höheren Glaubensvorstellungen gegen den Volksglauben, stand der Unterwanderung seit langem Tür und Tor offen. Die Wirkung zeigte sich nicht nur in der wachsenden magischen Komponente im Ritual, sondern auch in der immer spekulativer werdenden Denkweise der Brahmana-Texte. Man kann mit einigem Recht sagen, daß die Aryas der Zeit um 600 v. Chr. zwar die geistige Potenz ihrer Vorfahren bewahrt hatten, aber nicht mehr arisch, sondern indisch dachten. Wahrscheinlich aber steckt in dieser Aussage auch ein beachtlicher Denkfehler, da sie auf einem Klischeegedanken beruht: Wer nämlich vermag zu sagen, ob diese Aryas überhaupt noch reinrassig waren? Lag wirklich nur eine durch die Umwelteinflüsse bedingte Änderung der Denkweise vor, oder waren nicht vielmehr die Denkenden selbst bereits ganz andere Menschen geworden? Wie immer die Antwort auf diese Frage lauten mag, die parallel und teilweise auch in bewußtem Gegensatz zum herrschenden Ritualdenken in den Aranyakas und Upanishads entwickelten höheren Ideen waren nicht mehr nur vedischen Geistes, sondern enthielten auch autochthon-indisches Gedankengut. Wie es zu diesen, die spätere einheitliche indische Kultur durchziehenden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
204
Ideen kam, läßt sich nur schlußfolgernd vermuten. Zauber und Magie hatten im Opferkult und in den Riten eine so starke Bedeutung erlangt, daß die älteren, helleren Vorstellungen vom Leben und vom Tode stark getrübt gewesen sein müssen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Schicksal nach dem Tode bewegte zunehmend die Gemüter der denkbegabten Menschen. Die Götter waren – degradiert durch die eigentümliche Wandlung des Opferbegriffs – keine zuverlässigen Instanzen mehr. Götter, Menschen und alle anderen Wesen unterlägen, so begann man zu glauben, dem Sterben und Wiedergeborenwerden. Jeder kehre nach dem Tode auf die Erde zurück, durchlebe das ihm gemäße Leben und werde wieder eine Beute des Todes. So bildeten sich nach und nach immer klarer die Vorstellungen von der Wiedergeburt, dem Kreislauf der Existenzen und in Ergänzung hierzu der Glaube an die Folgewirkung des Tuns (Karman) eines jeden Wesens heraus. Diese Gedanken, auf die wir ihrer folgenschweren Bedeutung wegen in anderem Zusammenhang noch zurückkommen müssen, begründeten eine so trübe Lebensschau, daß die Frage nach der Erlösung aus dem circulus vitiosus nicht ausbleiben konnte. Über verschiedene andere Konzeptionen gelangten die Denker zu den zwei großen philosophischen Begriffen des Brahman (die weltschaffende und weltbewahrende Potenz, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
205
das Urprinzip) und des Atman (das Ich, die »Seele«). Die Erlösung lag in der intuitiven Erkenntnis der Identität von Urprinzip und Seele. Da hiernach alle Wesen identisch und gleichsam Teile eines einzigen Ganzen sind, ist ein Einswerden mit dem absoluten Brahman möglich. Mit diesem unzureichenden Hinweis sei die Art eines Denkens angedeutet, das zwar keine direkten Auswirkungen auf den Glauben der Menschen haben konnte, wohl aber die großartigsten Möglichkeiten für philosophisch-theologische Erklärungen bestehender Zustände in sich barg. Das überragende Beispiel hierfür liefert die Erläuterung, warum jeder Inder sich bis auf den heutigen Tag Gott vorstellen und ihn verehren darf, wie er will: Alle vom Menschen erdachten Formen und Wesenszüge Gottes sind – so lautet die Erklärung – Aspekte des unvorstellbaren Einen. Die praktische Wirkung des upanishadischen Denkens bestand in der Abwertung des Opferwesens. Nicht opfern, sondern rechtes Wissen um die höchsten Dinge führe zur Erlösung, wurde von den Avantgardisten unter den Denkern verkündet. Daß die Brahmanen die neuen Ideen nicht rechtzeitig aufgriffen, sondern noch lange Zeit am hergebrachten Ritual festhielten, brachte das brahmanistische Glaubensgebäude zum Einsturz. Denn schon befleißigten sich berufene Denker, die neuen Gedanken zu praktischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
205
Lehren zu verarbeiten und diese im Lande zu verbreiten. Der herausragende Gründer einer neuen Lehre war der Buddha (563-483 v. Chr.), über dessen Erfolg gewiß kein Wort zu verlieren ist. Indem er die Gedanken von der Folgewirkung der Tat, dem Befangensein im Kreislauf des Daseins und der Wiedergeburt in seine Lehre aufnahm und einen Heilsweg aufzuzeigen verstand, legte er die Wurzeln für die Weltreligion des Buddhismus, die in der Zeit vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. die beherrschende Religion in Indien war. Fast gleichzeitig mit dem Buddhismus entstand die Glaubensbewegung des Jinismus, die zwar nicht annähernd die Bedeutung der Buddhalehre erlangte, diese aber in Indien bis auf den heutigen Tag überlebte. Obgleich beide Lehren sehr eigene Wirkungen auf Indien ausübten, fragt man sich fast betroffen, welche Elemente der indischen Kultur wohl buddhistisch und welche jinistisch seien. Nichts deutet darauf hin, daß diese Religionen anders denn als Katalysatoren im hinduistischen Entwicklungsprozeß gewirkt haben. Existenz und Erfolg vor allem des Buddhismus zwangen allerdings die Brahmanenschaft zum Umdenken. Sehr rasch waren die Reaktionen nicht, und je länger sie auf sich warten ließen, desto mehr erschwerte der Aufstieg des Buddhismus ein erfolgreiches Wirken der Brahmanen. Doch muß man Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
205
sich vor der Annahme hüten, sie hätten im buddhistischen Indien kein Wirkungsfeld mehr gehabt. Zu allen Zeiten haben die verschiedenen Bewegungen – mit Ausnahme des im 12. Jahrhundert in Indien erloschenen Buddhismus – fortbestanden und zahlreiche Anhänger gehabt. Dennoch scheint es, als hätten die Brahmanen in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten die Zügel aus den Händen geben müssen. Wir hören von verschiedenen Sekten und Bewegungen, die einzelne Götter wie Shiva, Krishna und andere zu ihrer Gottheit erhoben, ohne daß eine einheitliche Lenkung bestanden zu haben scheint. Tatsächlich wurden die Brahmanen erst in dem Augenblick wieder zu einer Macht, als sie es verstanden, die divergierenden Kräfte zu sammeln. Durch Anerkennung der Götter Shiva und Vishnu als Hauptgottheiten, von denen zumindest Shiva vorarischen Ursprungs war, und durch die Identifizierung anderer Glaubensheroen, zum Beispiel Krishnas mit Vishnu, wurde der erste Schritt zum Hinduismus getan, der sich nach theologischer und volkstümlich-legendarischer Fundierung zwar erst allmählich, aber unbeirrt über ganz Indien auszubreiten begann. Der wesentliche Unterschied zwischen Brahmanismus und Hinduismus liegt nicht so sehr in der Herausstellung bis dahin untergeordneter Gottheiten als Hauptgötter, als in der Konzeption dieser Götter und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
206
der Ersetzung des bilderlosen und nicht auf Tempel angewiesenen Opfers durch die Verehrung (puja) von Götterbildern. Beachtet man, daß in orthodoxen Brahmanenkreisen die alte Opferweise beibehalten wurde, so wird klar, wie sehr die neue Entwicklung den innersten Überzeugungen dieser Orthodoxie widersprach. Der Hinduismus war in der Tat eine Volksbewegung, und es war ein kluger Zug der Brahmanen, daß sie dem Volke gaben, wonach es verlangte. Entsprechend dieser Entwicklung entstand eine volkstümliche Literatur, die in epischen Werken und religiösen Legenden die Herzen der Menschen erreichte. Obwohl die meisten Hindus bis auf den heutigen Tag den Veda als ihre Heilige Schrift betrachten, sind die im Erzählstil geschriebenen Puranas die eigentlich grundlegenden Werke für die hinduistische Göttergläubigkeit. Diese Bücher sind wahrscheinlich nicht von Brahmanen, sondern von umherwandernden Barden konzipiert und danach von niederen Priestern für die Rezitation in den Tempeln, also für den Kult benutzt worden. Die Puranas sind heilige Bücher zweiten Grades, die »nur zur Reinigung von Sünden führen«. Der Wandel vom bilderlosen Brahmanismus zum idolgläubigen Hinduismus hatte aber noch eine ganz andere, überaus wichtige Folge: der Bedarf an Kultbildern und Stätten für ihre Aufstellung und Verehrung befruchtete die schon für den Buddhismus, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
206
Jinismus und verschiedene Sekten tätigen Künstler in einem Maße, daß die indische Kunst der indischen Kultur ganz neue Wesenszüge verlieh. Als im 4. Jahrhundert die große Periode des hinduistischen Tempelbaus begann, war die Renaissance des Brahmanismus in der für die damalige Zeit fortschrittlichsten Weise vollzogen. Die hinduistische Götterkonzeption, die religiöse Kunst und die religiöse Literatur waren ebenso untrennbare, voneinander abhängige Bestandteile des Hinduismus, wie die auf sozialem Gebiet sich entwickelnde, im Kastenwesen gipfelnde Gesellschaftsordnung und das in ihr verankerte, reformierte Ritualwesen. Der vor fünfzehnhundert Jahren in seinen Grundzügen voll ausgebildete Hinduismus war somit das Ergebnis eines sich stufenweise ergebenden Kompromisses zwischen vedischem Brahmanismus und nichtarischen indischen Glaubensformen. Das nahezu heilige, allindische Medium war die Hochsprache des Sanskrit, in der die primäre und sekundäre religiöse Literatur verfaßt und im ganzen Lande verbreitet wurde. Die im Laufe der folgenden Jahrhunderte naturgemäß sich ergebenden, entwicklungsbedingten Veränderungen haben das Gesicht des Hinduismus nicht mehr wesentlich wandeln können, denn die geistigen Grundgedanken, auf denen nicht nur das gehobene religiöse Denken, sondern auch die alles Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
bestimmende Gesellschaftsordnung beruhte, hatten dieses weltanschaulich-religiöse System unvergänglich fundiert. Inwiefern der Hinduismus auch die bedeutendste geschichtliche Macht in Indien darstellte, muß auf den verschlungenen Pfaden indischen Denkens verfolgt werden.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
207
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
207
Grundbegriffe indischer Weltanschauung Einige Grundgedanken des vorbuddhistischen Philosophierens sind von allen großen indischen Religionen akzeptiert und auf diese Weise zu selbstverständlichen Wahrheiten geworden. Da diese Gedanken das geistig-religiöse Fundament der Gesellschaftsordnung bilden, haben sie das gesellschaftliche und politische Leben in starkem Maße beeinflußt. Ohne das Verständnis dieser mentalitätsgestaltenden Ideen sind viele Verhaltensweisen der Inder nicht zu begreifen und viele Geschehnisse nicht objektiv erfaßbar. Die drei wesentlichsten in diesem Zusammenhang zu erörternden Begriffe sind Karman, Samsara und Dharma. Der Begriff des Karman, der »fortwirkenden Tat«, drückt die Selbstverantwortlichkeit des Individuums für seine vergangene, gegenwärtige und zukünftige Existenz aus. Die guten oder bösen Taten eines Menschen bestimmen nicht nur seinen künftigen Zustand, sondern auch sein gegenwärtiges Leben ist die Folge früherer Taten. Es steht in seiner Macht, durch sittliches Handeln sein Los zu verbessern; denn er selbst produziert sein Karman. »Wie man handelt und verfährt, so wird man nach dem Tode. Wer gut verfährt, dem geht es gut; wer Böses tut, wird elend«, heißt es in der Brihadaranyaka-Upanishad. Das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
207
Karman wird als eine feinmaterielle Potenz gedacht, die sich an den Wesenskern, die Seele (Atman), des Individuums heftet und an ihr bleibt, wenn die Bestandteile des Körpers beim Tode vergehen. Der angesammelte Wert alles Tuns in einem Leben wird also nicht von dem Verantwortlichen getrennt, sondern wandert mit ihm und bestimmt den Zustand, in den hinein er wiedergeboren wird. So erlebt das Selbst, die »Seele«, immer wieder neue Existenzen, sei es als Mensch, Himmelswesen, Dämon oder als Tier, je nach dem zuvor produzierten Karman. Nach populärer Auffassung bewirkt das Karman auch eine Belohnung oder Strafe in der Zwischenzeit bis zur Wiedergeburt in Form eines Aufenthalts in einem Himmel oder einer Hölle. Solange der Mensch Karman produziert, gibt es kein Entrinnen aus dem Strom (Samsara) der Ereignisse, ist er allem Widerwärtigen ausgesetzt und von zerstörerischer Begierde gequält, die seinen Willen zu sittlichem Tun untergräbt. Die Karman-Theorie ist also von dem Begriff des Samsara nicht zu trennen. Unter Samsara ist der ständige Kreislauf aller Wesen, das »Immer-Wiedergeborenwerden« in neuen Existenzen zu verstehen. In diesem zirkulierenden Strom sind nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter, Dämonen, Tiere und Höllenwesen einbegriffen. Der Gedanke der Wiedergeburt ergibt sich im Grunde erst aus der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
207
Kombination von Karman und Samsara, er ist die positive Version der noch älteren Vorstellung von einem Wiedertod, dem eine Geburt und neuer Tod im Jenseits folgte. Es ist nicht unsere Aufgabe, die sich aus dem Karman-Samsara-Denken zwangsläufig ergebenden Erlösungsvorstellungen zu verfolgen. Von Interesse bleibt jedoch die Frage, wodurch der Wert einer Karman produzierenden Tat bestimmbar ist. Die Antwort ist in dem Begriff des Dharma enthalten, der als dritter wesentlicher Grundfaktor den Gedankenkreis schließen hilft. Bewußt oder unbewußt lebt der Inder in der Überzeugung, daß sein Glaube, seine Gesetze, seine soziale Stellung und die ihm darin auferlegten Verhaltensweisen Ausfluß einer ewigen, so und nicht anders gültigen universellen Norm sind. Er, der Mensch, ist Bestandteil des Alls und somit an dessen Gesetzlichkeit gebunden, von der ein Teil auch ihm zugeordnet ist. Die alles Bestehende und Seiende, alle Bewegungen und Verhaltensweisen tragende und regulierende Macht ist der Dharma. Dieses Wort ist nicht übersetzbar, Verdeutschungen wie Ordnung, Satzung, Sitte, Recht, Gesetz, Norm, Pflicht, Religion reichen zur Erklärung nicht aus. Der Dharma hält nicht nur die Ordnung im All aufrecht, er ist auch der Maßstab des Rechts und des rechten Verhaltens der Menschen als Einzel- und als Gemeinschaftswesen. Die Geschehnisse in Natur und Menschenwelt müssen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
208
ihrem Dharma gemäß ablaufen: die Sonne muß täglich auf- und untergehen, die Pflanzen müssen wachsen, die Kuh Milch geben, ein König muß seine Untertanen schützen, der Mensch muß die Wahrheit reden, die Frau muß dem Manne dienen. Solange ein Mensch sich »normal« verhält, das nach der Tradition Rechte tut, den Obliegenheiten gegenüber der Familie und Gesellschaft pflichtgemäß nachkommt, solange handelt er gemäß seinem Dharma. In der Praxis folgt aber der Mensch nicht einem moralischen Gesetz, einer »Stimme des Dharma« in ihm selbst, sondern den zahlreichen verbindlichen Vorschriften, die seine sozialen und sittlichen Verpflichtungen gegenüber anderen und dem Staat, insbesondere die Pflicht zur Einhaltung von religiösen Zeremonien, Riten und Kultverrichtungen festlegen. Diese Vorschriften sind in den Dharmabüchern, den eigentlichen Gesetzesbüchern Indiens, enthalten, deren Geltungsbereich sich auf Religion, Moral, allgemeines Recht und Sitte in Anwendung auf den Staat, die soziale Gemeinschaft und den Einzelmenschen erstreckt. Da das von Brahmanen niedergeschriebene allgemeine Recht von den Indern als altüberliefertes, heiliges, der universellen Ordnung zugehöriges Recht – eben als Dharma – erachtet wird, ist es Bestandteil des religiösen Lebens. Dem Dharma gemäßes Handeln ist gut, dharmawidrige Taten sind böse, über das Karman kommen sie in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
208
der nächsten Existenz zur Geltung. Dharma, Karman und Samsara bilden also eine Einheit, ein weltanschauliches System. Angesichts der nach diesem System überall lauernden Gefahren für die nächste Existenz ist der sündige Mensch im Grunde nicht in der Lage, ein leidvolles Dasein von sich abzuwenden. Religiöse Sühnezeremonien können helfen, das Übel zu beschwichtigen und schlimmen Folgen unbeabsichtigter Vergehen vorzubeugen. In den Dharmabüchern finden sich daher Sündenklassifizierungen und Sühnungsvorschriften. Opfer, Gebete, Waschungen, Fastenübungen, Geschenke an Brahmanen sind einige der Sühnungspraktiken, die zur Entfernung des »Schmutzes«, als der die Sünde aufgefaßt wird, angewendet werden. Alle diese Vorstellungen und ihre Zusammenhänge erklären das oft nicht begreifliche Verhalten der Inder, insbesondere ihr Erdulden einer Gesellschaftsordnung, deren »Kastensystem« nach westlicher Auffassung auf dem Prinzip der sozialen Ungleichheit der Menschen beruht; sie verdeutlichen aber auch schon ein wenig, was unter dem die indische Geschichte so beeinflussenden »Hinduismus« zu verstehen ist.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
209
Religion und Gesellschaftsordnung Das Wort »Hinduismus« bezeichnet nicht eine Religion, sondern die Gesamtheit der indischen Kultur. Schon der Sinngehalt des Wortes belehrt uns, daß der Hinduismus keine Religion in unserem Sinne sein kann. »Buddhismus«, »Jinismus«, aber auch »Christentum« und die Bezeichnungen vieler anderer Bekenntnisse enthalten den Namen ihres Schöpfers, Stifters oder einer göttlichen Gestalt; auch der arabische Ausdruck »Islam«, der etwa »Eintritt in den Stand des Heils« bedeutet, hat eindeutig religiösen Gehalt. »Hinduismus« hingegen ist ein ganz profanes Wort nichtindischer Prägung: Hindu ist die iranisierte Form des von den vedischen Aryas als Sindhu bezeichneten Hauptflusses des Fünfstromlandes im Nordwesten des Subkontinents, und Indos beziehungsweise Indus schrieben die Griechen und Römer den Namen dieses Flusses. Mit dem daraus abgeleiteten geographischen Begriff »Indien« war also ursprünglich nur das Gebiet des Indus, der so oft unter Fremdherrschaft geratenen Nordwestprovinz, gemeint. Durch die unklaren Vorstellungen, die man im Westen von dieser Weltgegend hatte, wurde der Name nicht nur auf den ganzen Subkontinent übertragen, sondern auch in Bezeichnungen wie Hinterindien, Indochina und Indonesien Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
209
bis zur Sinnlosigkeit strapaziert. Auch »Hindustan«, das »Indusland« oder »Land der Hindus« meint Indien im heutigen Sinne, nur Indien selbst hat sich nie so genannt, der offizielle Name ist Bharat. Die Bezeichnung »Hindu« für einen Anhänger des Hinduismus ist also nicht älter als der Hauptausdruck selbst. Der Begriff »Hinduism (Hinduismus)« ist tatsächlich erst ab 1830, und zwar in englischen Fachbüchern nachweisbar. Er ist somit ein europäischer, das Gesamtphänomen der indischen Kultur- und Gesellschaftsverhältnisse umreißender Begriff. Und doch liegt für Indien etwas Richtiges in dem Wort Hinduismus, sofern man es ganz allgemein als »Ismus der Hindus« interpretiert. Hinduismus ist begrenzt erfaßbar durch Nennung der von den Hindus generell anerkannten, wenngleich nicht absolut gültigen Prinzipien. Da ist zunächst der Glaube an das Brahman, das alles einschließende Absolute, den Urgrund, aus dem alles Seiende sich herleitet und mit dem es für ewig verbunden bleibt. Nur die geistig hochstehenden Inder vermögen diesem aus dem Philosophieren ältester Zeit hervorgegangenen Gedanken zu folgen; für die meisten, denen ein solcher Begriff überhaupt etwas sagt, ist das Brahman die dreifältige Kraft, die alles schöpferisch erzeugt, es erhält und wenn notwendig ändert oder zerstört. Diese Kräfte sind gestalthaft verkörpert in der Götterdreiheit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
209
Brahman – Vishnu – Shiva. Weniger anspruchsvoll ist die von der Hindu-Orthodoxie geforderte Anerkennung der Offenbarungsnatur der vedischen Schriften und der geistlichen Suprematie der Brahmanen. Einiger als in diesen beiden Punkten war man bis in die jüngste Zeit über die Notwendigkeit, sich vegetarisch zu ernähren; denn Gott ist in allen Lebewesen. Wie weit diese Anschauungen auch verbreitet sind und akzeptiert werden, die wichtigsten Grundsätze des Hinduismus sind die drei undiskutierbaren, von uns besprochenen »Wahrheiten«: die furchtvolle Erkenntnis der Folgewirkung jeder Tat in Verbindung mit dem Glauben an eine Wiedergeburt und die alles ordnende Macht des Dharma. Was der Hindu im einzelnen glaubt, welche Kulte er ausübt, ist für das Hindusein unerheblich. Ob er höhere oder niedere Gottheiten des Hindu-Pantheons verehrt, ob er Idole anbetet oder Stein-Fetischist ist, ob er dem Atheismus huldigt oder sektarische philosophische Lehrmeinungen vertritt: es steht jedem frei, wie er sich das höchste Wesen vorstellt und welchen Namen er ihm gibt; denn alle Wege führen nur zu dem Einen, alle Formen sind nur Aspekte dieses Einen. Diese scholastische Definition hat etwas Großartiges: indem sie die absolute Freiheit in der Wahl der Glaubensweise sanktioniert, eint sie alle geistigen Systeme, Konfessionen, Kulte, Riten und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
210
Verehrungsformen unter dem einen Dach des Hinduismus. Die allgemeiner gültigen hinduistischen Grundsätze brauchen nicht denkend anerkannt zu werden, sie wirken durch die Tradition und die sie verkörpernde Gesellschaftsordnung gegebenenfalls in das Unterbewußtsein hinein: auch der geistig unzureichend begabte Mensch ist von Kind auf in einer Gruppengemeinschaft heimisch, in der ihm durch die Mittel der Legende, des Kultes, des Rituals und vieler Kastenvorschriften das Empfinden der »Wahrheiten«, wie beispielsweise der Vergeltungskraft der Tat, anerzogen wird. Die philosophischen Grundsätze des Hinduismus sind eher weltanschaulicher als religiöser Natur, sie geben dem Hindu einen Leitfaden durch das Leben an die Hand. Aber niemand kann durch Denkentscheidung Hindu werden; es gibt keinen »Beitritt« zum Hinduismus. Man wird Hindu durch die Geburt in einer Hindukaste, die gleichzeitig den Platz in der Gesellschaftsordnung unverrückbar bestimmt. Diese Gesellschaftsordnung ist gewissermaßen das Verwaltungsorgan, die Exekutive des Hinduismus, deren tiefgreifende Wirkung auf der Einrichtung der Kasten beruht. Das Wesen der außerhalb Indiens oft verurteilten Kastenordnung kann nur begriffen werden, wenn ihre unlösliche Verflechtung mit den hinduistischen Grundanschauungen vom Dharma, Karman und Samsara erkannt wird. Nach der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
210
Definition von J. Gonda sind die Kasten »die irdischen, gesellschaftlichen Kader, in denen sich das Karman ausgleicht. Die gegenwärtige Stellung in der Gesellschaft ist durch eigene Taten im früheren Leben erlangt oder verschuldet worden und kann auch wieder durch genaue Pflichterfüllung oder Unzulänglichkeiten in diesem oder in einem späteren Dasein verbessert oder verscherzt werden«. Der in eine Kaste hineingeborene Hindu weiß, daß ihm dieser Platz gemäß einer unabänderlichen Ordnung zukommt. Wir müssen uns jedoch bewußt bleiben, daß unsere Feststellung, ein Hindu werde in einer Kaste geboren, ein von unserer eigenen Mentalität bestimmtes Urteil ist. Dem Inder ist der Begriff »Kaste« in diesem Zusammenhang nicht verständlich; wenn er der für ihn so selbstverständlichen Einordnung in das Gesellschaftssystem überhaupt einen Namen gibt, so lautet er Jat (Sanskrit: Jati), wörtlich »Geburt«, im erweiterten Sinne »Geburtsgruppe«. Casta (Rasse, lateinisch castus) nannten erst die Portugiesen dieses ihnen als ersten neuzeitlichen Abendländern in Indien begegnende Phänomen, das sich zu ihrer Zeit bereits in unzähligen solcher Kasten manifestierte. Die große Zahl der Kasten – es sind heute etwa dreitausend – und die in ihnen wirksamen, von Kaste zu Kaste variierenden Vorschriften haben das ganze System ungeheuerlich kompliziert und nahezu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
210
undurchschaubar gemacht. Jede Aussage über dieses System kann durch Verweise auf Ausnahmen widerlegt werden, seine Charakterisierung bleibt deshalb immer nur Versuch. Das Kastenwesen entwickelte sich über mehr als zweitausend Jahre durch Vergemeinschaftung vieler unterschiedlicher Rassen-, Berufs- und Religionsgruppen und durch Spaltung auf Grund von Verstößen gegen die Gruppenordnungen zu dem umspannenden, aber auch rigorosen hinduistischen System des späten Mittelalters, das bis in die jüngste Zeit hinein weiterexistierte. Über den Ursprung des Systems gibt es manche Theorien, eindeutig erkennbar ist er nicht. Nach verbreiteter Auffassung der Hindus sind die vielen Einzelkasten auf die vier großen Klassen oder Stände der vedischen Zeit: die der Brahmanen, des Adels, der Handelsleute und Bauern sowie der Shudras, der untergeordnete Dienste verrichtenden Bevölkerungsgruppen, zurückzuführen. Obgleich diese vier Stände schon in alter Zeit gewisse Untergliederungen erlebten, ist es jedoch praktisch gewiß, daß sie nicht der Ausgangspunkt des Kastensystems waren. Vielleicht bietet die sorgfältige Aufzählung von Handelssparten und Berufen in der späteren vedischen Literatur einen Anhaltspunkt für die Ursachen des Kastenwesens. Palitexte berichten von getrennt lebenden Berufsgruppen, von Dörfern, in denen jeweils nur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
211
Brahmanen, Töpfer, Jäger oder Räuber leben. Basham eist auf eine Inschrift aus dem 5. Jahrhundert hin, in der von einer Seidenwebergilde die Rede ist, die geschlossen nach Mandasor emigriert und dort viele Handwerke und Berufsgruppen verschiedenster Art – von Soldaten bis zu Astrologen – inkorporiert und dennoch ihre Gildenbewußtheit bewahrt. Hier scheint das Kastenwesen im Werden begriffen, zumindest ist der gleiche starke Korporationsgeist vorhanden, der die heutigen Kasten auszeichnet. Ein Hindu der weniger gehobenen Berufskasten fühlt sich nicht als Angehöriger des dritten oder vierten Standes, nicht als Vaishya (Gemeinfreier, Kaufmann) oder Shudra (Handwerker, Diener), sondern als Hirte, Schreiber oder Goldschmied. Entsprechendes gilt für Mitglieder von Kasten, deren bindendes Element nicht der Beruf, sondern die Rasse, Stammesherkunft oder Konfession ist. Die Entstehung neuer Berufe, die Vereinigung von Stämmen zu neuen Stammeseinheiten, die Aufnahme primitiver Volksgruppen in die große Gemeinschaft mögen einige der Gründe für das Anwachsen der Kasten gewesen sein. Andere Kasten wiederum entstanden als Ergebnis unterschiedlicher Praktiken und Sitten innerhalb einer Kaste. Welch groteske Untergliederungen hierbei auftreten können, belegt Ludwig Alsdorf mit dem Beispiel von den zwei Töpferkasten, die sich dadurch unterscheiden, daß die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
211
eine die Scheibe links, die andere rechts herum dreht. Auch geistige Meinungsunterschiede führten oft zur Bildung neuer Kasten: Selbst Sekten, deren Ziel die Beseitigung des Kastenwesens war, sind schließlich zu neuen Kasten geworden. Weil Gandhi als Student nach England fuhr, spaltete sich seine Kaste in Konservative, die am Verbot der Überseereise festhielten, und Fortschrittliche, die sie billigten. Von den ursprünglich vier Ständen tritt nur einer im Kastensystem deutlich in Erscheinung: der Stand der Brahmanen. Auch diese mindestens zwanzig Millionen Menschen umfassende Gruppe gliedert sich in zahlreiche Unterkasten höchst unterschiedlichen sozialen Ranges. Die Vorstellung, alle Brahmanen seien noch immer Priester oder Lehrer, gehört in das Reich der Fabel und wird schon in alten Rechtsbüchern widerlegt, in denen Brahmanen mit sehr weltlichen Berufen erwähnt werden, zum Beispiel als Köche; in diesem Beruf sind sie auch heute noch in den Brahmanen-Restaurants sehr gern gesehen, denn jeder darf die von ihnen bereitete Speise essen. Mit dieser Bemerkung ist das Problem der Kastenvorschriften angesprochen. Wir haben oben den Begriff des Dharma als eine religiös-philosophische Maxime, als die allem immanente Ordnungskraft besprochen. Da im hinduistischen System die philosophischen Grundsätze zu Lebensgrundsätzen werden, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
212
müssen sie auch im profanen Alltag wirksam sein. So war von der Brahmanischen Dharmaliteratur zu reden, und so ist zu bemerken, daß die sehr unterschiedliche Rangordnung der Kasten auch sehr differenzierte Vorschriften erforderlich macht. Jede Kaste besitzt ihren Sonderdharma, der nicht verletzt werden darf. Die Kastenregeln legen die Sitten und Gebräuche fest und haben sozialrechtliche Geltung. Zu den wichtigsten Kastenregeln gehören die Speisegebote, die den verschiedenen Kasten unterschiedliche Tabus auf bestimmte Speisen und Getränke auferlegen. So ist beispielsweise den Brahmanen jeglicher Fleischgenuß einschließlich Fisch und zumeist auch Eiern verboten, den unteren Kasten aber – mit Ausnahme von Rindfleisch – gestattet. Darin liegt kein Vorteil für die unteren Kasten, denn Fleisch ist unreine Speise. Andere, noch wichtigere Speisevorschriften verbieten die Annahme von Speisen und Getränken aus der Hand von Mitgliedern niedrigerer Kasten und das gemeinschaftliche Mahl mit ihnen. »Der zwanglose Verkehr miteinander, besonders mit niederen Gruppen, wird durch ›Reinheitsvorschriften‹, die die Grenzen des Umgangs festlegen, unterbunden. Jeder Kontakt (körperliche Berührung, sexueller Verkehr, Gaben, Speisen usw.) zwischen Kasten, die in Rang und Ansehen differieren, verunreinigt den Angehörigen der jeweils höheren Gruppe. Reinigungsriten und in ernsteren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
212
Fällen Exkommunikation sind notwendig, um dadurch verursachte ›Sünde‹ zu sühnen. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste bestimmt somit die Nahrungsaufnahme und die Heiratswahl« (Gonda). Im allgemeinen darf nur innerhalb einer Kaste geheiratet werden (Endogamie), doch wird unter Umständen die Verbindung eines Mannes mit einer Frau niedrigerer Kaste, nie aber umgekehrt, gebilligt (Hypergamie). Aus besonderen, zumeist totemistischen Rücksichten kann auch Exogamie vorgeschrieben sein. Diese Beispiele mögen als Nachweis der Gebundenheit des Kastenangehörigen an seine Gesetze genügen. In allen Fragen untersteht der Hindu dem von einem Oberhaupt geleiteten Kastenrat, der über die Einhaltung der Regeln wacht. Die von Regierungen unabhängige, mit eigner sozialer Gerichtsbarkeit versehene Kastenorganisation hat dem Hinduismus durch alle Zeiten der Gefahr hindurchgeholfen; die Kasten waren die unzerstörbaren Zellen des Systems: alle Versuche, das Kastenwesen auszurotten, blieben vergeblich. Die Absorptionskraft war so groß, daß verschiedentlich selbst Muslime Kasten bildeten und sogar die von den katholischen Missionaren zum Christentum Bekehrten ihre Kastenvorurteile beibehielten und sich von Konvertiten ehemals niederer Kaste fernhielten. Erst in neuester Zeit sind ernsthafte Versuche unternommen worden, die Rigorosität des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
212
Kastensystems zu mildern und es der Zeit entsprechend zu ändern. In der indischen Geschichte der letzten zweitausend Jahre jedoch war die hinduistische, vom Kastenwesen getragene Gesellschaftsordnung ein politischer Faktor von kaum zu unterschätzender Bedeutung.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
213
Tradition und Herrschaft Die eigenartige, über innerindische Landesgrenzen hinweg gültige Lebensordnung in der nachvedischen Zeit und das ihr zugrunde liegende Denken mußten nach und nach auch in dem Verhältnis des indischen Menschen zu seinem Staat und zur Geschichte zum Ausdruck kommen. Menschen, für die ihr gegenwärtiges Dasein nur eines von vielen bedeutet und die bewußt oder unbewußt alles geschichtliche Geschehen als Auswirkung des gesammelten Karman aller Wesen ansahen, sind nicht als Kämpfer für eine Staatsidee, sondern in der Masse nur als Beauftragte vorstellbar. So war die Fähigkeit zum hinnehmenden Erdulden im indischen Volke weit ausgeprägter als die Fähigkeit und die Bereitschaft zur praktischen, lebensgestaltenden Tat. Dem widerspricht nicht, daß viele Herrscher eine höchst kriegerische Gesinnung zeigten und manche indische Stämme überaus kampfesmutige Soldaten stellten; denn es ist der Dharma des Königs, Eroberungen zu machen, und der Dharma des Soldaten, tapfer zu kämpfen, wie es der Dharma der Frau ist, dem Manne zu dienen und Kinder zu gebären. Der Einsatz im Krieg oder die Tätigkeiten für den Staat sagen nichts über die Beweggründe der handelnden Menschen aus. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
213
Tatsächlich kann nichts darüber hinwegtäuschen, daß es im indischen Volke bis zur Zeit der englischen Herrschaft weder ein Nationalbewußtsein noch ein Geschichtsbewußtsein in unserem Sinne gegeben hat. Diese Feststellung stützt sich nicht zuletzt auf das nahezu gänzliche Fehlen einer Geschichtsschreibung, das um so auffälliger ist, als die Inder auf dem Felde reinen Denkens und Theoretisierens, etwa in Grammatik, Philosophie und Theorie der Politik, großartige Leistungen vollbracht haben. Der Hang zur Kombination und Spekulation, der Drang, Ideallösungen zu finden und festzulegen, wie etwas sein soll, war im indischen Denken so vorherrschend, daß demgegenüber der Sinn für die Wirklichkeit, für das – ja doch gemäß dem Karman – Geschehene und Geschehende verkümmerte. Sehr kritische Leser werden diesen Zug sogar in manchen heutigen indischen Veröffentlichungen und Verlautbarungen wiedererkennen: die Schilderungen der gegenwärtigen Situation eilen oft in die Zeit der Erfüllung gerade gefaßter Pläne voraus. In Kenntnis der eigenartigen Denkweise der Inder und der ebenso eigenartigen indischen Sozialordnung wird es verständlich, warum die historischen Ereignisse das innere Gefüge Indiens nicht zu erschüttern und bis in die Neuzeit hinein nicht gänzlich zu lockern vermochten. Wenn das indische Volk aber kein eigentliches Nationalgefühl besaß und die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
213
Herrscher zwar gelegentlich Großreichspolitik, aber keine indische Nationalpolitik trieben, welches waren dann die Gesichtspunkte, unter denen die Könige und die Regierungen ihre Staaten lenkten? Liest man die literarischen und inschriftlichen Erzählungen von Krieg und Sieg und Herrscherglanz, so wird klar, daß sich indische Geschichte äußerlich nicht anders ausnahm als die Geschichte vergleichbarer Länder. Pompöse Hofhaltung, Machtstreben, Militarismus, Despotie, Demokratie, Spionage, Finanzmiseren und Wohlstandszeiten, alles dies gab es, wie die Geschichte lehrt, in den kleinen Staaten und großen Reichen Indiens. Wer sich gar das berühmteste Staatslehrbuch Indiens – das sich vor allem den praktischen Belangen: der Technik, Wirtschaft, Verwaltung und Politik widmet – zu Gemüte führt, wird begründet fragen dürfen, welche Rolle denn die angeblich alles durchdringende Religiosität in der aktuellen Politik gespielt habe. Jenes berühmte Lehrbuch, das Arthashastra des Kautilya, ist in der Tat ein Produkt des reinen Machiavellismus, ein Werk der kalten Wissenschaft von richtiger Politik, die auch jenseits von Moral und Recht stehen darf. Dieses für die Kenntnis der allgemeinen Zustände wichtigste aller indischen Bücher kann uns zunächst jedoch nur lehren, daß in den Jahrhunderten um die Zeitwende eine Schule von Politikern und Staatsrechtlern in Erscheinung trat, die dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
214
Absolutismus das Wort redete. Man geht aber sicher nicht fehl in der Annahme, daß die theoretischen Lehren in gewissen Grenzen auch die tatsächlichen Zustände der Zeit widerspiegeln. Es gab gewiß auch zuvor und, wie wir wissen, danach nüchterne politische Lehrbücher, die dem Geist ihrer Zeit entstammten und das politische Handeln beeinflußten. Man darf jedoch nicht übersehen, wie sehr das inoffizielle, althergebrachte Recht der immer wieder revidierten zahlreichen Dharmabücher die Staatsentscheidungen direkt und indirekt mitbestimmte. Dieses ausschließlich von Brahmanen gesetzte, von der religiösen Überlieferung getragene Recht konnten auch die Herrscher nicht leicht übertreten. Will man sich ein Bild vom Staatsapparat in Indien machen, müssen daher weltliche und religiöse Quellen gleichermaßen berücksichtigt werden. Das indische Königtum hatte seit vedischer Zeit eine lange Entwicklung durchgemacht und unterschiedliche Bedeutung besessen. In der Frühzeit wurde der König aus den Kreisen des Adels gewählt und als primus inter pares mit der Führung im Kriege, mit dem Vollzug der Staatsopfer und der Rechtsprechung betraut. »Jene, die keinen König haben, können nicht kämpfen«, heißt es auch noch in der Zeit der Upanishaden, aber das Königtum scheint bereits eine von Gott gesetzte Institution zu sein. Noch vor Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
214
den Tagen des Buddha stand der König hoch über den gewöhnlichen Sterblichen, begabt mit magischen Kräften, die in der zeremoniellen Königsweihe auf ihn übergegangen waren. Während sich in den verschiedensten Gebieten Indiens der Anspruch des Königs auf Göttlichkeit mit Unterstützung der opferleitenden Brahmanen bis zur Identifizierung mit Gott und selbst zur Verehrung als Gott führte, findet sich andererwärts die zunächst buddhistische, nüchterne Vorstellung vom König als dem großen Erwählten, der als Raja die Ordnung herzustellen und zu erhalten hatte und dafür einen Anteil an den Produkten von Feld und Vieh bekam. Die weitere Entwicklung des Königtums in Indien tendierte jedoch weniger zu einem solchen vertraglich gebundenen König als zum mythischen Herrscher, der als deva, »Gott«, angeredet wurde. Dies zeigte sich in den Titeln. Der einfache Titel eines Raja, der Ashoka noch genügte, wich stärkeren Formen, als die Griechen, Saken und Kushanas sich unter dem Einfluß der Seleukiden zumeist Maharaja, »Großkönig« und, persischem Vorbild folgend, Rajatiraja, »König der Könige« nannten. Die Kushvanas traten auch als devaputra, »Göttersohn«, in Erscheinung, bis in der Guptazeit die Titelei aus den Fugen geriet und zu Formen wie Maharajadhiraja-paramabhattaraka, »Oberkönig der Könige, Oberster Kaiser«, führte, während der Titel eines Maharaja nur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
214
noch für kleine Vasallenfürsten ausreichte. Diese Bedeutungswandlung ist zu beachten, will man nicht falschen Vorstellungen erliegen. Große praktische Bedeutung hatte der Göttlichkeitsanspruch der Könige allerdings nicht; denn in einem Lande wie Indien, in dem selbst die Brahmanischen Priester in gewissem Sinne Götter waren und die Wanderasketen im Rufe der Heiligkeit standen, war Göttlichkeit billig. Buddhisten und Jainas leugneten diesen Anspruch ohnehin; der Hofpoet König Harshas durfte es wagen, den ganzen Zauber um die königliche Göttlichkeit als das Werk von Kriechern und Speichelleckern zu charakterisieren, die zwar den Verstand von schwachen und stupiden, nicht aber den vernünftiger Monarchen benebeln könnten. Gewiß wurde den Herrschern Respekt erwiesen, doch geschah dies kaum mit großer Unterwürfigkeit. Obgleich die Könige Autokraten waren und nicht eingeengt von konstitutionellen Kontrollen, gab es in der Praxis doch viele Bindungen. Zwar stellt das Arthashastra in seiner totalitären und weltlichen Tendenz die Behauptung auf, daß königliche Anordnungen allen anderen Rechtsgrundsätzen übergeordnet seien, aber ein zu krasses Vorgehen gegen althergebrachtes, religiöses Recht barg große Gefahren in sich; nur wenige Könige konnten sich erlauben, die Brahmanenschaft gegen sich aufzubringen, die sowohl in der Person des Hauspriesters wie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
215
in den zumeist brahmanischen Ministern und Richtern unmittelbaren Einfluß besaß und oft genug den Sturz von Herrschern herbeiführte. Man sollte auch die Wirksamkeit der öffentlichen Meinung im Falle der Verletzung geheiligter Überlieferung oder bei Verstößen gegen das Gewohnheitsrecht nicht unterschätzen. Manchen erzählenden Berichten über Massenrevolten gegen Könige dürften, auch wenn die Geschichtlichkeit nicht gesichert ist, wahre Begebenheiten zugrunde liegen. Vor allem in den Städten war der Mob schnell aufgebracht, wenn von der Regierung allzu arg gegen die öffentliche Meinung entschieden wurde. Man muß stets im Auge behalten, daß die Gesellschaft ihren eigenen Gesetzen unterlag und vom Staate unabhängig war. Der König hatte die Funktion, die Gesellschaft zu schützen, und der Staatsapparat war gewissermaßen die Institution zur Erfüllung dieser Aufgabe. Der Schutzauftrag bezog sich nicht nur auf die Sicherung des Königreiches gegen Angriffe von außen, sondern auch auf die Bewachung von Leben, Besitz und Brauchtum gegen innere Feinde. Die religiösen Gemeinschaften waren durch Zuwendungen an die gelehrten Brahmanen und für die Tempel zu unterstützen, und vielfach blieben auch heterodoxe Sekten nicht ungefördert. Nichts kann das Wirken pflichtbewußter und frommer Herrscher deutlicher veranschaulichen als die ungeheure Zahl der Tempel und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
215
Kultstätten in Indien, die auf Initiative der Herrscher errichtet worden sind. Im allgemeinen lief die Erfüllung der Schutzpflicht auf die Wahrung des Status quo hinaus, doch war sie nichtsdestoweniger drückend, da sie sehr praktische Pflichten, wie zum Beispiel die Aufrechterhaltung und Entwicklung des Bewässerungssystems, die Linderung von Hungersnöten und die Überwachung des Wirtschaftslebens im Königreich, einschloß. Wenn das Arthashastra sogar eine Zeittafel für den Tagesablauf des Königs vorsieht, in der diesem nur viereinhalb Stunden Schlaf und drei Stunden für Essen und Kräftesammeln zugestanden werden, wird man eine strikte Befolgung nicht für sehr wahrscheinlich halten, doch wird manchen Herrschern eine überaus ernste Pflichtauffassung nachgesagt. Alle Quellen stimmen in dem Rat überein, daß der König Rechtsangelegenheiten rasch zu erledigen habe und stets für das Volk zu sprechen sein müsse. Die zu allen Zeiten außerordentlich zahlreichen Wächter, Pförtner und anderen Bediensteten dürften die Erfüllung gerade dieser letzten Auflage beträchtlich genutzt haben, da die Forderung eines Bakshish wohl eine sehr alte Sitte ist. Die hervorragendsten Könige haben die regelmäßige öffentliche Audienz (darbar) als eine wichtige Regierungsaufgabe angesehen. In der Theorie sollte der König dem Adels- oder Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
216
Offiziersstand entstammen, doch gab es viele Ausnahmen, und nicht selten waren die Herrscher Brahmanen, gelegentlich auch Angehörige des dritten Standes. Die Dynastie der Nandas und möglicherweise auch die der Mauryas entstammten der verachteten Shudraklasse. Gelegentlich, so vor allem in mittelalterlicher Zeit, haben auch Frauen die Königswürde getragen. Im allgemeinen war die Nachfolge durch Erstgeburtsrecht geregelt, doch die Dharmabücher untersagen die Thronbesteigung durch kranke, mißgebildete oder schwächliche Erben. Dieser Passus dürfte manchem stärkeren Bruder die Rechtfertigung für die Beseitigung des rechtmäßigen Nachfolgers geliefert haben. Die Prinzen wurden mit großer Sorgfalt ausgebildet, und der Kronprinz nahm oft schon zu Lebzeiten des Vaters an der Regierung teil. Daß Thronerben auch eine Gefahr für den König sein konnten, war nicht nur eine voraussagende Lehrbuchwarnung – »...denn Prinzen fressen gleich Krabben ihre eigenen Eltern« –, sondern erwies sich oft genug durch Vatermord am herrschenden Monarchen. Wenn ein König ohne Erben starb, sollten die Großen des Reiches, die Adelshäupter, Minister, religiösen Führer und einflußreichen Kaufleute, zusammentreten und einen Nachfolger bestimmen. Obgleich es auch Oligarchien in Indien gab, blieben sie doch auf verhältnismäßig kleine Stammesgebiete und Staatsgebilde beschränkt. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
216
»Weil ein Rad allein nicht vorwärtsrollt« – so bemerkt das hierin nicht kluge Arthashastra, muß der König Ratgeber und Beamte von Fähigkeit wählen, die ihn bei der Erfüllung seiner Aufgaben unterstützen sollen. Mit besonderer Sorgfalt waren die Mitglieder des Geheimen Rates zu wählen, deren Zahl zwischen sieben und siebenunddreißig betragen haben soll. Aufgabe des Rates war es, dem König in seinen Entscheidungen behilflich zu sein und frank und frei die Meinung zu sagen. Je nach der Persönlichkeit des Herrschers schwankte die Bedeutung dieses Gremiums zwischen beträchtlicher Macht und völliger Ohnmacht. Obgleich diese Ratgeber entsprechend ihren Fähigkeiten ausgewählt werden sollten, bildete sich oft eine ministeriale Erbfolge heraus, die nahezu Gewohnheitsrecht wurde. Die Bezeichnungen und Funktionen der Räte oder Minister wechselten mit den Zeiten und Gegenden. Im allgemeinen gab es einen Ersten Minister, dem mehrere Ressortminister zur Seite standen. Einer der einflußreichsten Männer bei Hindukönigen war der Purohita, der »Hauspriester«, gewissermaßen der Vertreter der Orthodoxie bei Hofe. In der Theorie hatten weder der König noch das beratende Gremium das Recht, Gesetze zu beschließen und zu erlassen; königliche Dekrete waren im allgemeinen auch nur Anordnungen, denn der Dharma und das Gewohnheitsrecht galten generell als unverletzbar Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
216
und des Königs Befehle nur als Anwendung dieses Rechts. In der Praxis war die Regierung in der Außenpolitik weniger gebunden als bei der Erledigung der inneren Affären. Natürlich gab es ein Heer höherer und mittlerer Verwaltungsbeamter für die verschiedenen Ressorts, gab es vor allem den großen militärischen Apparat, den Geheimdienst und Sonderbeauftragte der Zentralregierung. Auch die Verwaltung der Distrikte, Städte und Dorfgemeinden erfolgte nach festgelegten Regeln, denen hier im einzelnen nicht nachgegangen werden kann. Bei einem Vergleich des Herrschaftswesens in Indien mit ähnlichen Systemen in anderen Ländern treten die charakteristisch indischen Züge deutlich in Erscheinung. Das bei weitem wichtigste Kennzeichen ist der Umstand, daß Herrschaft als im Auftrag eines überkommenen, nicht von einer weltlichen Legislative erlassenen Gesetzes stehend aufgefaßt wurde. Obgleich die Rechtsgrundsätze der von Brahmanen verfaßten Dharmabücher, die immer wieder überarbeitet und kommentiert wurden, in den alten Königreichen nicht regelmäßig und vollständig befolgt wurden, wuchs ihre Autorität im Laufe der Zeit doch wesentlich. Ihre Wichtigkeit beruhte auf ihrer Verbindung mit Religion und Ethik und auf der Überzeugung, daß sie überirdisches Recht lehrten. Die Dharmabücher beschränkten sich auch nicht auf simples Recht, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
217
sondern enthielten viele Dinge, die wir nicht leicht in einem Gesetzbuch suchen würden, so etwa Angaben über religiöse Reinigungen und Bußen, Gebete und Opfer, Speise- und Trankverbote, Höllenqualen und Wiedergeburt, Philosophie, Eschatologie und Weltschöpfung, Totenbestattung, Vedastudium und Askese, Lebensweise und Sitten der Brahmanen und Könige und vieles andere mehr. Der Begriff des Dharma umfaßt ja weit mehr als bloßes irdisches Recht; er ist im höchsten Sinne die weltordnende Potenz, für den einzelnen Menschen hingegen die moralische Richtschnur. Des Königs Pflicht, Schutz zu gewähren, ist im geistigen Sinne die Pflicht, den Dharma zu schützen, das heißt: die Befolgung des Dharma in allen Bereichen sicherzustellen. Von Ashokas Zeit an haben sich verschiedene Herrscher daher auch den Titel Dharmaraja zugelegt. Da die Dharmabücher seit ältester Zeit Vorschriften für das Verhalten des Königs enthielten, war er theoretisch in seinen Maßnahmen festgelegt. Zur Veranschaulichung seien einige Paragraphen aus dem Gesetzbuch des Yajñavalkya (3./4. Jahrhundert) in der Übersetzung Helmuth von Glasenapps angeführt: Von großer Ausdauer, kenntnisreich oder freigebig, eingedenk der geleisteten Dienste, die Alten ehrend, bescheiden, von festem Charakter, von edler Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
217
Familie, wahrredend, rein,... (I, 308) Seine Schwächen verbergend, in der Logik und in der Straflehre... und in den drei Vedas bewandert soll der König sein. (I, 310) Er wähle zu Räten weise Männer von guter Herkunft, standhafte, reine; mit ihnen überlege er die Herrschaft, darauf mit einem Brahmanen und dann (überlege) er selbst. (I, 311) Zum Hauspriester wähle er einen Mann, der des Schicksals kundig, in den Lehrbüchern bewandert, erfahren in der Straflehre.... (I, 312) Wenn der König Land geschenkt oder eine Stiftung gemacht hat, so lasse er eine Schrift anfertigen zur Benachrichtigung für künftige gute Herrscher,... (I, 317) Auf ein Stück Zeug oder ein Stück Kupferplatte, oben mit seinem Siegel gesiegelt. (Vergleiche Band 6, Abbildung neben Seite 137!) (I, 318) Die Kasten, Stämme, Gilden, Schulen und Völker, welche von ihrer Pflicht abweichen, soll der König züchtigen und auf den rechten Weg führen. (I, 360) Diese willkürlich herausgegriffenen Artikel machen deutlich, daß sowohl generelle wie spezielle Punkte bedacht und nahegelegt wurden. »Wenn auch diese Werke«, so schreibt Moriz Winternitz über die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
217
ältesten Dharma-Lehrbücher, »nur Lehrbücher einer oder der anderen vedischen Schule waren, dazu bestimmt, von den Angehörigen dieser Schule auswendig gelernt zu werden, so gewannen sie mit der Zeit doch eine über die betreffende Schule hinausreichende Bedeutung. Es war nämlich von alters her Pflicht und Recht der Brahmanen, in allen Rechtsfragen – im sakralen und im weltlichen Recht – als Schiedsrichter aufzutreten und nach ihren Büchern zu urteilen. So erhielten diese Werke doch eine gewisse Rechtskraft, obgleich sie nicht als Gesetzbücher verfaßt waren.« Da die Autorität der Dharmabücher in späterer Zeit beträchtlich wuchs und ein nicht leicht verletzbares Gewohnheitsrecht schufen, taten Herrscher und Staatsbeamte gut daran, nicht zu stark gegen den Strom zu schwimmen. Zudem war der König als Schützer des Dharma oberster Gerichtsherr, umgeben von rechtserfahrenen Männern, die zumeist Brahmanen waren: »Wenn der König die Rechtshändel untersuchen will, begebe er sich in Begleitung von Brahmanen und erfahrenen Räten in würdiger Haltung in die Gerichtsversammlung. Dort soll er sitzend oder stehend, die rechte Hand ausstreckend, bescheiden in Anzug und Schmuck, die Anliegen der Kläger prüfen«, heißt es in Manus Gesetzbuch. Da eine ständige persönliche Ausübung des Richteramtes durch den König sicher nur selten möglich war, ist auch die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
218
Vertretung geregelt: »Wenn aber der König nicht persönlich die Untersuchung der Rechtshändel vornimmt, so soll er einen gelehrten Brahmanen mit der Prüfung der Prozesse beauftragen.... Wo immer drei vedakundige Mitglieder der Priester-(Brahmanen-) Kaste und ein Gelehrter (Brahmane), den der König (zum Richter) ernannt hat, zu Gericht sitzen, da heißt dies ein Gerichtshof des (Gottes) Brahman.« (Jolly). Wie autokratisch die Herrscher auch regiert haben mögen, so lehren doch alle diese Beispiele, daß ihre Bindung an das Brahmanenrecht erheblich gewesen sein muß. Die Idee vom Dharma war eine der wirksamsten der ganzen indischen Geistesgeschichte. Sie hat auch in Zeiten geringerer Beachtung dem Staatswesen schon deshalb ein Mindestmaß an Traditionsrücksichten abverlangt, weil die Gesellschaft ganz in dieser Tradition lebte: Die Gesellschaft war nicht vom Staat, sondern der Staat von der Gesellschaft abhängig. Beide standen vor der großen Bewährung, als am Anfang des zweiten Jahrtausends der militante Islam über Indien hereinbrach und über das militärische Ziel hinaus die religiöse Unterwerfung der Inder erstrebte.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
218
Hindus und Muslime Was immer sich auf der politischen Bühne Indiens in den letzten zweitausend Jahren abspielte, ob große Reiche gegründet oder zerschlagen, ob Staatengrenzen beseitigt oder neu errichtet wurden, die religiösweltanschauliche Gesellschaftsordnung blieb das tragende Fundament ganz Indiens, die große »nationale« Komponente dieses Landes, in dem gerade dieser Ordnung wegen ein Nationalgefühl nicht aufkommen sollte. In der gleichen Weise hatten die großen Glaubensbewegungen und geistigen Vorstellungen über alle Grenzen hinweg ihre Anhänger und Verfechter im Norden und Süden, im Osten und Westen des Subkontinents gefunden. Tempel und Götterbilder, Kulte und Riten, Legenden und Volksgesänge kündeten trotz ihrer Verschiedenheit von der einen gesamtindischen Kultur, die in unlösbarer Verbundenheit mit der sozialen Ordnung die dauerhafte Einheit Indiens verkörperte. Bis zum Ende des ersten nachchristlichen Jahrtausends sind alle Fremdvölker von dieser Kultur aufgesogen und indisiert worden, haben alle Herrscher Indiens mehr oder weniger dem geschriebenen und ungeschriebenen Gesetz dieser Kultur Folge geleistet. Erst mit den islamischen Eroberern konstituierte sich eine Macht auf indischem Boden, die nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
219
nur der Einschmelzungskraft widerstand, sondern mit rigorosen Mitteln die Ausrottung des »Unglaubens« in Indien anstrebte. Mit dem Islam kam nicht nur eine junge, in ungestümem Siegeslauf sich ausbreitende Religion, sondern eine der indischen an Kraft ebenbürtige fremde Kultur nach Indien. Hätten diese beiden Kulturmächte nur in einigen wesentlichen Anschauungen übereingestimmt oder wenigstens Berührungspunkte aufgewiesen, so wäre auch der Islam dem Schicksal früherer fremder Eroberer nicht entgangen. Doch sind kaum zwei andere Kulturen von so grundsätzlicher Verschiedenheit vorstellbar wie Islam und Hinduismus. Die einzige Übereinstimmung bestand in der gegenseitigen Überzeugung, daß jeweils nur die eine Auffassung allein wahr und die andere »unrein« sei beziehungsweise den Unglauben verkörpere. Der monotheistische, rationalistische, priesterlose und militant demokratische Islam traf auf den polytheistischen, mystisch-philosophischen Spekulationen aufgeschlossenen, unter priesterlicher und gesellschaftlicher Führung der Brahmanen im Kastenwesen seine Ordnung behauptenden Hinduismus. Der indischen Lehre von der Wiedergeburt der Wesen, der Vergeltung der Tat mittels des produzierten Karman und der Vorstellung von einer anfanglosen und ewigen Ordnung im Weltall stellte der Islam eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
219
historische Gottesoffenbarung, eine einmalige Schöpfung und ein Jüngstes Gericht gegenüber. Den Hindus waren ihre Kultbilder und die überaus reich mit Götterfiguren geschmückten Tempel heilig, die Muslime verdammten den Bilderkult. Die lockeren Heiratsvorschriften der Muslime, die eine Scheidung und Wiederverheiratung leicht machten, mußten die Hindus zutiefst empören. Die Muslime begruben, die Inder verbrannten ihre Toten, jene verzehrten Rindfleisch, diesen war das Rind heilig; die einen schätzten Kultmusik, die anderen fanden sie anstößig. Man kann verstehen, daß den stets in der Überzahl gebliebenen Hindus diese Muslime als »unreine Barbaren« (mlecchas) gegolten haben, doch trugen sie durch die ihrerseits errichtete geistige Mauer zur Entwicklung eines Gemeinschaftsbewußtseins der Muslime in Indien bei. Wer wollte ernsthaft die dramatische Auseinandersetzung dieser so konträren Kulturen für geschichtlich weniger bedeutsam halten als die oft so kurzlebigen militärischen und politischen Begebenheiten in der Periode islamischer Herrschaft auf indischem Boden. Politisch-militärisches Machtstreben und Kulturkampf waren die untrennbaren Komponenten eines mehr als sechshundertjährigen wechselhaften Geschehens, das Islam und Hinduismus im Kern ungebeugt, in Teilbereichen aber nicht unberührt überstehen sollten. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
219
Als im Jahre 712 arabische Heere das Gebiet von Sindh und das untere Panjab im Nordwesten des Subkontinents eroberten, entstand der erste islamisch regierte Staat in Indien. Ein kleiner Bevölkerungsteil erlebte dort Jahrhunderte vor dem weiterreichenden Vorstoß türkischer Muslime nach Nordindien die Methoden und Praktiken einer bekehrungswütigen, im ersten Schwunge überaus grausamen Herrschaftsmacht, wie sie in Kampfzeiten bis in das 18. Jahrhundert hinein in den verschiedensten Gegenden Indiens immer wieder vorkamen. Und doch ist das Verhältnis der muslimischen Herrscher zu den Hindus im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich gewesen, so unterschiedlich nämlich wie die Charaktere der Herrscher und der politisch-militärische Erfolg ihrer Feldzüge. Bei der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Muslimen und Hindus darf auch nicht vergessen werden, daß Indien niemals ganz unter islamische Herrschaft geriet, sondern hinduistische Staaten weiterbestanden oder in Zeiten gegnerischer Schwäche neu errichtet wurden. Die Existenz dieser Hindudomänen stärkte nicht unwesentlich die Widerstandskraft der Inder in den muslimischen Gebieten. Ein Unterschied ist auch zu machen zwischen den vormogulischen Verhältnissen vor 1500 und jenen in der Zeit der großen Mogulkaiser im 16. und 17. Jahrhundert. Es wäre töricht zu glauben, die hinduistische Bevölkerung habe in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
220
einmütiger Geschlossenheit den Islam bekämpft und sei nach der Parole »lieber tot als Muslim« gefolgt. Die Wirklichkeit nahm sich anders aus: Mit dem Aufkommen des Islam wurde die Solidarität der hinduistischen Gesellschaft einer ungeheuren Belastungsprobe ausgesetzt, der ein Teil dieser Gesellschaft nicht standhielt. Gerade in den Anfangszeiten seiner Herrschaft gelang dem Islam ein tiefer Einbruch, denn eine beträchtliche Zahl Hindus wurde auf verschiedenste Weise für die neue Religion gewonnen. Der Bekehrungserfolg veränderte die Situation insofern, als sich nun nicht mehr eine Fremdmacht und eine einheimische Bevölkerung gegenüberstanden, sondern eine Islam- und eine Hindu-Gemeinschaft, die hinsichtlich der religiösen und sozialen Ideen sowie der politischen und zivilen Rechte zwei getrennte Gebilde darstellten. Doch gab es einen ganz wesentlichen Unterschied: die muslimische Gemeinschaft nahm nicht nur jeden bereitwilligst auf, sie erzwang sogar den Übertritt. Das Resultat war, daß die Hindus sich in wachsender Zahl dieser Religion zuwandten. Die Hindugesellschaft verhielt sich umgekehrt: Obgleich anfänglich reuige Rückkehrer wieder aufgenommen wurden, verschloß sie sich später in zunehmendem Maße auch den früheren Hindus, als seien diese niemals Hindus gewesen. Ein Hindu konnte also jederzeit Muslim werden, ein Muslim aber, selbst wenn er einmal Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
220
Hindu gewesen war, niemals Hindu. Die Folge war ein Anwachsen der islamischen und eine Verminderung der hinduistischen Bevölkerung. Zunächst verstärkte auch der Zufluß fremdländischer Muslime das islamische Element, aber im Laufe der Zeit bestand die Masse der Muslime aus konvertierten Hindus. Berücksichtigt man die fortwirkende Kraft der Gewohnheit bei den einstigen Hindus, so wird deutlich, wieviel stärker der Islam indischen Einflüssen ausgesetzt war als umgekehrt der Hinduismus den islamischen. Die Gründe für den Übertritt und die Methoden der Bekehrung waren verschiedener Art. Das nach den demokratischen Prinzipien des Islam sehr viel freiere Leben der Muslime dürfte gerade vielen Menschen niederster Hindukasten so verlockend erschienen sein, daß sie ihr Los gern gegen das einer absoluten religiösen und gesellschaftlichen Gleichheit eintauschten, welches der Islam ohne Ansehen der Kaste jedem Hindu, der sich bekehren lassen wollte, anbot. Obgleich den indischen Muslimen auf lange Zeit die politische Gleichheit vorenthalten wurde, befanden sie sich doch in einer weitaus besseren Position als die Hindus, so daß auch dieser Umstand manchen zum Übertritt bewogen haben mag. Insbesondere höhere Hindu-Beamte durften ihr Amt nur unter der Bedingung des Glaubenswechsels weiter ausüben, aber auch eine große Zahl niederer Stellen in der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
220
Verwaltung und die meisten militärischen Positionen wurden soweit wie möglich mit indischen Muslimen besetzt. Wie sehr müssen solche Möglichkeiten den gewöhnlichen Mann in Versuchung geführt haben, dem die Eroberer als Hindu alle Rechte verweigerten, als Bekehrten aber mit offenen Armen aufzunehmen bereit waren. Niemandem wird entgehen, daß Übertritte dieser Art aus Nützlichkeitserwägungen, oft wohl auch aus Angst erfolgten und daß auf geistiger und religiöser Überzeugung beruhende Entscheidungen viel seltener den Ausschlag gaben. Die Kinder und Kindeskinder der Konvertiten waren wahrscheinlich bessere Muslime als diese, obgleich auch sie auf dem. Umweg über die häuslichen Traditionen immer im Bannkreis des hinduistischen Indien mit seinen altüberlieferten Gebräuchen und Lebensgewohnheiten standen. Gewiß ist eine nicht schätzbare Anzahl von Hindus missionarisch bekehrt worden und aus Überzeugung zum Islam übergetreten. Zu allen Zeiten haben »heilige« und weise Männer in Indien eine hohe Wertschätzung genossen, so daß auch der heilige Charakter mancher muslimischer Prediger und somit ihre Lehren gehörigen Eindruck auf die Inder gemacht haben dürften. Dennoch ist das bislang gezeichnete und aus der Perspektive der indischen Muslime gesehene Bild noch einseitig, denn nicht nur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
221
indirekter Zwang, sondern auch harte Gewalt trieb viele Hindus gleichsam mit dem Schwert der neuen Religion zu. Muhammad ibn-Kasim, dem ersten islamischen Eroberer in Indien, wird der Ausspruch nachgesagt: »Wer die Ehre des Islams erfuhr und daraufhin konvertierte, war von Sklaverei und der Zahlung einer Kopfsteuer (dschizja) ausgenommen und blieb unversehrt. Jene aber, die nicht den wahren Glauben annahmen, unterlagen dem Zwang, die festgelegte Kopfsteuer zu zahlen.« Tatsächlich wurde allen Hindus, die sich dem Islam verschlossen, eine Kopfsteuer auferlegt und jeglicher Schutz gegen Willkürakte der Bürokratie und Soldateska vorenthalten. Doch oft war die Situation der Hindubevölkerung sehr viel bedrohlicher. In Zeiten fanatischer Herrscher litt sie unter der unduldsamen Glaubensverfolgung, der willkürlichen Vernichtung von Tempeln, der Erniedrigung ihrer Götter und Verachtung ihrer Sitten und Gebräuche. Auf den Rückseiten von Steinquadern der verfallenden alten Moscheen finden sich noch heute oft Reste älterer indischer Tempelreliefs als beredte Zeugen einer der Methoden, mit denen die Muslime die Glaubensgefühle der Inder zutiefst verletzten. Solche Demütigungen bildeten zudem nur Begleiterscheinungen von Kampagnen, in denen das Leben der Menschen ebensowenig galt wie alles das, was sie verehrten. Zahlreich sind die Berichte islamischer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
221
Hofschreiber, in denen blutige Greueltaten von Herrschern geschildert werden, deren Alternative nicht Annahme des islamischen Glaubens oder Kopfsteuer, sondern »Islam oder Tod« lautete. Wenn diese Schilderungen stimmen, und daran ist angesichts der Akribie der Berichterstattung nicht zu zweifeln, so sind Hunderttausende von Hindus umgebracht und ebenso viele in die Sklaverei abgeführt worden. Wie sehr solche Vernichtungskampagnen, die sich im Laufe der Jahrhunderte in kleinerem oder größerem Maßstab in der einen oder anderen Gegend Indiens wiederholten, die »Bekehrung« vieler Hindus beschleunigten, läßt sich leicht vorstellen. Die von dem Haß der Muslime gegen Andersgläubige diktierten Anti-Hindu-Feldzüge entfachten andererseits bei den getreuen Hindus ein diesen sehr artfremdes Gegen-Haßgefühl, das die Lage nur noch verschlimmerte. Man mag sich bei der häufig zu lesenden Feststellung, daß die Hindus ihrer Weltanschauung gemäß überaus tolerant sind, manchmal fragen, wie diese Behauptung mit der Tatsache der Religionskämpfe im Jahre 1947 und der auch heute zwischen Muslimen und Hindus gelegentlich aufflackernden Haßausbrüche in Einklang zu bringen sei. Wer so fragt, muß das friedliche Nebeneinander von Hindus und Gläubigen aller anderen Religionen in Indien in Betracht ziehen und beachten, daß die Antipathien vor allem gegen die jetzt pakistanischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
222
Muslime gerichtet sind. Die Wurzeln des Ressentiments liegen zum Teil in den gerade erwähnten Ereignissen, die in der Vor-Mogulzeit und später noch einmal unter Aurangzebs Herrschaft die Trennung zwischen Hindu- und Muslimgesellschaft verschärften. Die Sultane von Delhi mögen noch geglaubt haben, ganz Indien unterwerfen und die gesamte Bevölkerung islamisieren zu können. Wie hätte man auch erwarten sollen, daß die große Mehrheit der so seltsam lebenden Inder ihren Unglauben hartnäckig verteidigen würde. Was die Fanatiker unter den Herrschern aber geradezu in Raserei versetzte, war die Art des Widerstandes, war jene nicht greifbare, verachtungsvolle passive Resistenz, die sich viel schwerer bekämpfen ließ als eine HinduArmee eines Hindu-Staates. Wie sich die Hindus verhielten, läßt sich an einem Zitat aus dem Indien-Bericht des iranischen Gelehrten Al Biruni ermessen, den dieser schon um das Jahr 1030 niederschrieb. Die Inder, so heißt es dort, »richten all ihren Fanatismus gegen jene, die nicht zu ihnen gehören – gegen alle Ausländer. Sie schimpfen sie mleccha, das heißt unrein, und verbieten jede Verbindung mit ihnen, sei es durch Heirat oder irgendeine andere Art von Verwandtschaft oder durch bloßes Zusammensein und gemeinsames Essen und Trinken; denn dadurch, so glauben sie, würden sie verunreinigt. Sie betrachten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
222
alles als unrein, was mit dem Feuer und dem Wasser des Ausländers in Berührung kommt, obgleich doch kein Haushalt ohne diese Elemente auskommen kann. Darüber hinaus wünschen sie niemals, daß ein einmal befleckter Gegenstand gereinigt und damit wieder unschädlich gemacht werde.... Es ist ihnen nicht erlaubt, irgendwen zu empfangen, der nicht zu ihnen gehört, selbst wenn dieser es (sehr) wünscht oder (gar) ihrer Religion zuneigt. Das macht jede Verbindung mit ihnen ganz unmöglich und verursacht die weiteste Kluft zwischen uns und ihnen«. Al Biruni war einer der wenigen Muslime jener Zeit, die echte Sympathie für die Hindus hegten. Aber er erkannte auch, daß »die Aversion der Hindus gegen die Ausländer mehr und mehr anwuchs, je weiter die Muslime in ihr Land eindrangen«. »(Sultan) Mahmud«, so fährt er fort, »beseitigte den Wohlstand des Landes völlig und... die Hindus wurden gleich Staubkörnchen in alle Richtungen verstreut.... Ihre auseinandergejagten Überreste hegen natürlich einen nicht auszurottenden Widerwillen gegen alle Muslime.« Was für den Inder der mleccha, war für die Muslime der zimmi, der inferiore und hilflose Unterworfene, der ihnen in jeder Weise Respekt schuldete. Nach dem Urteil der Rechtskundigen waren die Herrscher gehalten, den zimmis Gebote und Verbote aufzuerlegen, deren Nichteinhaltung die Hindus Leben und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
222
Besitz kosten konnte. So war es diesen beispielsweise untersagt, neue »Idol-Tempel« zu errichten oder zuvor zerstörte Tempel wieder aufzubauen, ihre Toten in der Nähe muslimischer Grabstätten zu bestatten und mit lauten Klagegesängen zu betrauern, Häuser und Hütten in der Nachbarschaft von Muslimen zu bauen und polytheistische Sitten und Gebräuche unter der islamischen Bevölkerung zu verbreiten. Kein Zweifel also, daß beide Seiten an den friedlosen Zuständen der ersten dreihundert Jahre der Islamherrschaft ein gerüttelt Maß Schuld trugen, kein Zweifel aber auch, daß die unterworfenen Hindus ein größeres moralisches Recht zur Verteidigung ihrer altererbten Sitten und Anschauungen besaßen als die Eindringlinge. Da es weder möglich war, die gewaltige Überzahl der Hindus in toto zum Islam zu bekehren noch gar sie mit dem Schwert auszurotten, blieb Indien ein innerlich gespaltenes Land. So ergab sich hier, was in allen anderen islamischen Ländern undenkbar gewesen wäre: Islamische Eroberer herrschten über Gebiete, deren Bevölkerung sich in der Mehrheit nicht vom Islam beherrschen ließ. Diese Feststellung ist um so gewichtiger, als die Herrscher und ihre Streitkräfte nicht abgeschnitten auf sich allein gestellt waren, sondern in enger Verbindung zur gesamten islamischen Welt standen und sich überdies auf eine beträchtliche Minderheit islamisierter Inder Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
223
stützen konnten. Anders als in der Selbstisolierung hätte das hinduistische Indien diese schwerste Zeit seiner Geschichte nicht überstanden, doch ohne ihre von der Gesellschaftsordnung getragene Kultur wiederum wäre die praktizierte Abschließung gar nicht möglich gewesen. Die Ereignisse von 1947 waren mutatis mutandis die Folgen der aufgezeigten und niemals wesentlich geänderten Grundhaltung der zwei so unterschiedlichen religiösen Kulturgemeinschaften. Ein Aufgehen des Hinduismus im Islam erwies sich als ebenso unmöglich wie ein Aufgehen des Islam im Hinduismus. Dennoch konnte trotz der Gegensätzlichkeit in den Anschauungen das Verhältnis zwischen Muslimen und Hindus natürlich nicht immer so gespannt bleiben wie in den Zeiten der ersten Eroberungen und unter besonders fanatischen Herrschern. Konnte ein Muslim zwar nicht Hindu werden, so war er doch auch Inder, ein Bürger des gleichen Landes und den gleichen, durch Klima, Landschaft, Fauna und Flora bedingten Lebensumständen unterworfen. Viele einfach praktische Alltagsgewohnheiten sind daher nicht nur von den Konvertiten beibehalten, sondern auch von den fremdländischen Muslimen übernommen worden. Im Laufe der Zeit wurden alle Schichten der islamischen Gesellschaft im Äußerlichen indisiert, wie andererseits manche Gewohnheiten der »Ausländer« bei den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
223
Indern Anklang fanden. Der Aufbau der Verwaltung war nach einigen Generationen in Indien hierarchischer als in den anderen islamischen Ländern. Die Anstellung einheimischer Muslime, deren Verhalten trotz des Glaubenswechsels vom Kastendenken beeinflußt blieb, mag hierzu ebenso beigetragen haben wie das verständliche Bemühen der Führungsschicht, sich von den indischen Untertanen zu distanzieren. Die kostbaren goldbestickten Herrschergewänder, die edelsteinbesetzten indischen Schwerter und Dolche, die verschiedenfarbigen Schirme, insbesondere die prachtvoll aufgezäumten Elefanten, die als Herrschaftsembleme in der Darbar-Halle stationiert wurden und die Staatskavalkaden begleiteten, waren typisch indische Elemente königlichen Pomps. In der gleichen Weise ließen sich viele andere Gewohnheiten der Menschen aller Schichten als indisch herausstellen. Gewiß haben solche Äußerlichkeiten keinen direkten Einfluß auf die Beziehungen zwischen den bewußten Muslimen und den Hindus gehabt, doch hat diese Indisierung manche ausländische Fremdartigkeit beseitigt und so den Boden geebnet für Zeiten, in denen sich Herrscher mehr als Inder denn als Vertreter einer fremden Macht fühlten. Wie zu erwarten ist, waren die Spannungen im Verhältnis zwischen den einfachen indischen Muslimen und Hindus im Alltagsleben ohnehin geringer. Da viele Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
223
Bekehrte allerlei Hindu-Bräuche und -Institutionen beibehielten und ohnehin eine gemeinsame Sprache sprachen, war die Kluft nicht unüberbrückbar; in manchen Gegenden wurden von den Bekehrten sogar die alten Kastenbräuche weiter befolgt, so daß sie dort geradezu als Muslimkaste neben den Hindukasten lebten. Bis auf den heutigen Tag nehmen viele Muslime in Indien an Hindufesten teil. Neben den echten Muslimen hat es zu allen Zeiten viele andere gegeben, die im Kern Hindus geblieben waren. Die Betrachtung wäre unvollständig, wollte man die geistige Situation in der ersten Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrtausends außer acht lassen. Obgleich die meisten vormogulischen Herrscher zu Grausamkeiten neigten, waren sie alles andere als unzivilisierte Barbaren. Selbst die furchtbarsten der Sultane besaßen oft eine umfassende persische Bildung und gefielen sich als Mäzene von Kunst, Literatur und Wissenschaft. Hofpoeten – unter ihnen Amir Khusrau, der berühmteste persische Dichter in Indien – erfreuten sich hoher Wertschätzung, und Werke persisch schreibender Historiker entstanden auf Geheiß der Herrscher. Sichtbarer und eindrucksvoller noch waren die Leistungen der bildenden Künstler, deren Bauwerke vielfach noch heute den Beschauer entzücken. Da es verschiedentlich notwendig war, einheimische indische Künstler zu beteiligen, finden sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
224
in der islamischen Architektur jener Zeit nicht nur rein islamische Formen, sondern oft auch interessante muslimisch-indische Mischstile, ja sogar Bauten, die eher indisch als islamisch zu nennen sind. Die islamischen Bauwerke sind die wohl wertvollsten Gaben, die Indien dem Islam zu danken hat, ein sehr fragwürdiger Ausgleich allerdings für die zerstörten indischen Tempel, deren Steine für den Bau von Moscheen und Denkmalen mitverwendet wurden. War der Zusammenklang muslimischer und indischer Vorstellungen in der Architektur formaler Natur, so ergaben sich auf ganz anderer geistiger Ebene zeitweilig Berührungspunkte zwischen Islam und Hinduismus, die zu erwähnen nicht unterlassen werden darf. Sowohl im Hinduismus als auch im Islam hat es Denker gegeben, die in der mystischen, hingebungsvollen Liebe zu Gott, ganz gleich, welchen Namen man ihm geben und wie man ihn sich vorstellen mochte, den rechten Weg der Gottesverehrung und -erkenntnis sahen. Im Islam vertraten die pantheistischen Sufis, die »heiligen Männer«, im Hinduismus die mystischen Heiligen des Mittelalters, diesen Gedanken in ähnlicher Form. Der mittelalterliche, in der ganzen islamischen Welt einflußreiche Sufiismus hatte seine Impulse von den indischen Sufis empfangen, deren Ideen von indischen Vorstellungen beeinflußt waren. Einige indische Mystiker haben den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
224
Versuch gemacht, Hinduismus und Islam in einen einzigen monotheistischen Kult zu verschmelzen. Der Weber Kabir (1440-1518), der bekannteste jener Mystiker, bedichtet seine Idee in vielen Versen, deren berühmtester lautet: Hindus und Muslims ist ein Weg gewiesen, Der wahre Meister lehrt ihn uns erkennen. Kabir spricht: Hört, Ihr Brüder, hört auf diesen, Ihr mögt ihn Allah oder Rama nennen. Obgleich Kabirs Verse große Verbreitung unter dem Volke fanden und die von ihm vertretene Idee auch in der Folgezeit von anderen Dichtern und Denkern aufgenommen wurde, blieb die entfachte Bewegung nur eine Randerscheinung, die in die Gründung einer Sekte der Kabirpanthis mündete. Das wichtigste Ergebnis solcher Ideen war das Entstehen der religiösen Gemeinschaft der Sikhs im Panjab. Ihr Stifter Nanak (1469-1539), der in mancher Hinsicht als geistiger Erbe Kabirs gelten kann, lehrte die Existenz eines einzigen Gottes und die Identität der höchsten Gottheiten in Islam und Hinduismus. Die von ihm gegründete muslimisch-hinduistische Gemeinschaft der Sikhs sollte später, und gewiß nicht im Sinne der Lehren Nanaks, zu einer bedeutenden politischen und militärischen Macht werden. Die Eigenwilligkeit und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
225
das Selbstbewußtsein der Sikhs lassen manchen ihrer führenden Geister noch heute den Gedanken an einen eigenen Staat Sikhistan denken und gelegentlich auch auf drastische Weise verkünden. In der Gründungszeit war die Gemeinschaft der Sikhs zwar ein lebendiger Beweis der Wirkungskraft unifizierender Ideen, doch zeigt ihre beschränkte Verbreitung über ein verhältnismäßig kleines Gebiet auch die Grenzen ihrer Wirkung. Man darf nicht vergessen, daß zur gleichen Zeit, da solche Ideen aufkamen und mit Schwung gepredigt wurden, die harte Politik der Herrscher gegen die Hindus fortgesetzt und auch auf hinduistischer Seite versucht wurde, das innere Gefüge der HinduGemeinschaft durch Reformen zu festigen. Da der indische Kriegeradel durch die besonders gegen sie gerichteten Maßnahmen der Herrscher stark geschwächt war, nahm der Einfluß der Brahmanen auf das Hinduvolk deutlich zu. Die Orthodoxie systematisierte in neuen Büchern und Kommentaren die altüberlieferten sozial-religiösen Vorschriften und verstärkte die Bindung der Hindus an ihre Gemeinschaften. Aus verschiedenen Gründen kamen zur gleichen Zeit innerhalb des Hinduismus neue große Glaubensbewegungen zur Geltung, die eine monotheistische Verehrung der beiden größten indischen Götter, Vishnu und Shiva, forderten. Zentrum dieser orthodoxen und religiös-philosophischen Aktivitäten war vor allem der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
225
islamfreie Süden, der ein Bollwerk gegen die Überfremdung blieb. Die Skala der Begebenheiten reichte, wie wir sahen, von brutaler Hinduverfolgung bis zum herausfordernden Hinduwiderstand, von unifizierenden Lehren bis zu Reformbewegungen im Hinduismus, von der totalen Absonderung der beiden großen Gemeinschaften bis zu kastenähnlichen Muslimgruppen und teilweiser Verwischung der Gegensätzlichkeiten. Die scheinbaren Widersprüche sind Ausfluß einer verwirrenden politischen Situation in einem nur zum Teil von einer Fremdmacht regierten Land, die als Träger einer fremden Kultur die große Auseinandersetzung heraufbeschworen hatte. Im gleichen Maße, in dem die islamische Herrschaft sich zu Beginn der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends ausdehnte, wurde sie »indischer« und – unter einigen hervorragenden Kaisern – auch erträglicher. Daß sich die islamische Herrschaft in Indien weiter ausbreiten würde, war keineswegs selbstverständlich und – urteilt man auf Grund der militärischen und politischen Situation des 15. Jahrhunderts – auch kaum zu erwarten. Nachdem Timur der Lahme, die »Geißel Asiens«, nach Brandschatzung und Plünderung von Delhi am 1. Januar 1399 mit seinen Mongolenhorden den Rückmarsch angetreten hatte, war der unter den letzten Sultanen ohnehin schon gefährdete Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
225
Zusammenhalt des Islamreiches auf indischem Boden gänzlich dahin. Die Situation schien hoffnungslos. Im kaum betroffenen Süden bildete sich das Hindureich von Vijayanagar heraus, im Dekhan kam die islamische Bahmani-Dynastie zur Macht, im Osten machten das hinduistische Gondwana und das noch nie vom Islam unterworfene Orissa von sich reden. Um 1500 zerbrach das Bahmani-Reich in die fünf Dekhan-Sultanate, im Norden bemühten sich die Sultane aus der Familie der turko-afghanischen Lodis im Kampfe gegen Nachfolgestaaten des Delhi-Sultanats und unabhängige Hindufürsten um Wiedererrichtung eines Delhi-Reiches. Unter den übrigen Staatsbildungen ragten Gujarat und das hinduistische Rajputana hervor. Um die gleiche Zeit traten die ersten Europäer auf indischem Boden auf: nach der Entdeckung des Seeweges durch Vasco da Gama ließen sich hier Anfang des 16. Jahrhunderts die Portugiesen nieder; sie erwarben Handelsplätze, machten Goa zum Sitz ihres Vizekönigs und beherrschten ein Jahrhundert lang den Handel zwischen Europa und Indien, ehe ihnen die Holländer dieses Vorrecht streitig machten. Um 1500 bestand also kein islamisches Reich in Indien mehr. Weder die muslimischen noch die hinduistischen Staaten besaßen die Kraft zu überregionaler Herrschaft. Einmal mehr wurde die Entscheidung von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
226
außerindischen Kräften herbeigeführt. Am 21. April 1526 erschien Muhammed Zahir ud-Din Babur, ein Nachfahre Timurs und Tschinghis Khans, mit zwölftausend Mann an der Pforte von Delhi. Seine Siege legten den Grundstein für das Reich der Mogulkaiser Indiens, deren Stammvater dieser Babur wurde. Die Mogulkaiser stehen in dem geschichtlichen Ruf, das »goldene Zeitalter« der islamischen Herrschaft in Indien heraufgeführt zu haben. Man mag dabei an die großartigen Bauten, an den Taj Mahal und die Residenz Fatehpur Sikri, oder an die überaus reizvollen Mogulminiaturen mit ihren lebensvollen höfischen Szenerien denken. Aber wie prächtig sich diese und viele andere sichtbare Zeugnisse jener Zeit auch ausnehmen, weit größere Bedeutung kam dem erstaunlichen geistigen Wandel der islamischen Herrschaft unter einigen der Mogulkaiser zu. Mit Recht wird man fragen, ob denn der Islam selbst sich so wesentlich geändert hatte, daß die neuen Herrscher eine verständigere Politik betreiben konnten. Die Antwort ist einfach: Nicht islamische Einsicht, sondern kühle, unbeirrbare Vernunft eines einzigen großen Mannes hat den Umschwung bewirkt. Nicht die von den allmächtigen Mullahs geführte Orthodoxie, sondern Kaiser Akbar, der Enkel Baburs, hielt das Zepter in der Hand. Als dieser Herrscher 1556 den Thron bestieg, war von einem allgemeinen Herrschaftsgebiet nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
226
mehr zu reden, und der islamische Einfluß in Indien beschränkte sich nur noch auf die Sultanatsreiche. Als Akbar 1605 nach neunundvierzigjähriger Regierung starb, hinterließ er ein Reich, das fast drei Viertel des indischen Landes umfaßte und eines der mächtigsten und angesehensten der damaligen Welt war und in dem die Bevölkerung echte Freiheiten genoß. Was war geschehen? Zunächst nur dies: Ein großer Stratege hatte sich als ein noch größerer Politiker erwiesen. Alle islamischen Herrscher vor ihm hatten gemäß dem Gesetz regiert, unter dem der Islam zur Eroberung Asiens angetreten war. Akbar hingegen erkannte, daß ein Reich, in dem die regierende Minderheit die Masse der Bevölkerung haßte und unterdrückte, niemals ein stabiles Reich sein konnte. Aber auch die ihm eigene Gerechtigkeit wird sein Urteil gelenkt haben: Eine Regierung konnte sich nicht allein auf eine Minderheit stützen, sie mußte allen Untertanen gerecht werden. Aus solchen Einsichten ergaben sich Entscheidungen, die mit bislang unumstößlichen islamischen Grundsätzen kollidieren mußten. Die überkommenen Zustände machten Akbar die Aufgabe nicht leicht. Er mußte seine politischen Einsichten in einer Atmosphäre des Mißtrauens in Taten umsetzen, die ihn selbst verdächtig machten. Nichts wäre einfacher für ihn gewesen, als die alten Traditionen fortzuführen und dem Beispiel seiner Vorgänger Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
227
in Indien zu folgen. Doch Akbar scheint von Anbeginn einen anderen Weg eingeschlagen zu haben: Die meisten islamischen Herrscher hatten als »Ausländer« regiert, und ihre Schicksale waren lehrreich. In den vorangehenden dreihundert Jahren waren sieben Dynastien zur Macht gelangt und mit verblüffender Leichtigkeit auch wieder gestürzt worden. Akbar sah deutlich, daß es die Hindu-Bevölkerung nicht interessierte, wer auf dem Thron saß und was für ein Mensch ihr Herrscher war: Für sie waren es Ausländer, Nicht-Hindus und daher Unreine. Da sich in Akbar ein starkes Einfühlungsvermögen mit immensem Wissensdrang und tiefschürfender Gründlichkeit verband, war er gegen jegliche Art von religiösem Fanatismus gefeit. Die Uneinigkeit unter den islamischen Großen konnte Akbars Reformwillen nur bestärken. Beiram Khan beispielsweise, sein einstiger Vormund in der Regentschaft, war ein Schi'it und für die Mehrzahl der Muslime in Indien ein Häretiker. Daß dieser Mann einen anderen Schi'iten zum Minister für kirchliche Angelegenheiten berufen hatte, machte die religiöse Situation nur noch verworrener. Auch Humayun war zuvor des Hanges zur Schi'a verdächtig gewesen. Alle diese Vorgänge hatten die Position des sunnitischen Islam in Indien geschwächt und Akbar den Boden für seine Experimente bereiten helfen. Sechs Jahre nach der Thronbesteigung schloß Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
227
er die ersten einer ganzen Reihe von Ehen mit hinduistischen Rajputenprinzessinnen und gestattete ihnen die Ausübung hinduistischer Riten im Palast. Das war ein unerhörter Vorgang und mußte seine Auswirkungen haben: Wenn der Idolkult im Palast gestattet wurde, wäre es unvernünftig gewesen, ihn dem Volke draußen zu verbieten. Akbar selbst gab sich nicht damit zufrieden, ein Muslim zu sein und die islamischen Riten zu vollziehen, er wollte seinen Glauben auch begreifen. So ließ er eine Disputationshalle errichten und lud Theologen aller islamischen Schattierungen, Gesetzesgelehrte, Sufis und hochgestellte Beamte zu ausgedehnten Diskussionen ein. Zu seinem Erstaunen mußte er feststellen, daß selbst in fundamentalen islamischen Fragen keine Einigkeit bestand und die führenden geistlichen Männer sich bitter befehdeten. Im Laufe der Jahre bemächtigte sich Akbars eine kräftige Antipathie gegen die engstirnigen Mullahs, aus der heraus er einen weiteren kühnen Schritt wagte: Da die islamischen Gelehrten ihn nicht zu überzeugen vermochten, zog er nach und nach prominente Vertreter aller anderen Bekenntnisse hinzu und ließ sich so von Hindus, Sikhs, Jainas, Parsen und einige Male sogar von Jesuitenpatres aus Goa über ihre Lehren unterrichten. Die gewonnenen Einsichten formten Akbars Politik immer stärker zu einer Politik der Toleranz gegenüber allen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
227
Religionsgemeinschaften. Mit steigender Empörung verfolgte die islamische Orthodoxie den ihrer Meinung nach verräterischen Kurs ihres Herrschers und inszenierte verschiedene Revolten. So ergab sich die groteske Situation, daß die Toleranzpolitik gelegentlich zu intoleranten Maßnahmen gegen Muslime zwang. Ruft man sich die Lage im vormogulischen islamischen Indien ins Gedächtnis zurück, dann wird die Bedeutung der von Akbar vollzogenen Änderungen deutlich sichtbar. Der erste und wichtigste Schritt war die Abschaffung der verhaßten Kopfsteuer und – wenig später – der Hindu-Pilgersteuer. Diese Steuern waren mehr als Symbol der Inferiorität denn als materielle Last verhaßt gewesen. Sie hatten die vermeintliche Überlegenheit des Islam über den Hinduismus proklamiert und allein die Muslime zu rechtlichen Bürgern in einem religiösen Staat erhoben. Mit der Steuerabschaffung stellte Akbar die Gleichberechtigung aller Bürger ungeachtet ihres Glaubensbekenntnisses her. Die Beseitigung der Pilgersteuer hatte nicht nur die Folge, daß die Hindus fortan ihre Feste und Zeremonien in aller Öffentlichkeit abhalten durften, sie führte auch zur Aufhebung des Bauverbots für Tempel und Kirchen. Um die bürgerlichen Rechte für Nicht-Muslime auch im Staatsdienst wirksam werden zu lassen, öffnete Akbar ihnen den Weg zu allen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
228
auch den höchsten Ämtern im Reich. Mögen diese Maßnahmen – einschließlich der Heiraten mit Rajputenprinzessinnen – noch aus kühler politischer Überlegung getroffen worden sein, so enthüllen andere Anordnungen ein tiefergehendes Bemühen Akbars. Rechtsfälle, in denen die streitenden Parteien Hindus waren, kamen vor ein Gericht, das aus brahmanischen Richtern bestand. Muslime, die einen anderen Glauben annehmen wollten, durften konvertieren. Das Studium der Schriften anderer Konfessionen wurde empfohlen, und Akbar selbst ordnete die Übersetzung hinduistischer Werke ins Persische an. Die Teilnahme von Muslim- und Hindu-Offiziellen an religiösen Festen beider Konfessionen wurde durch des Kaisers persönliches Vorbild allmählich zur höflichen Gewohnheit. Akbars Toleranz hatte jedoch dort ihr Ende, wo es offensichtliche Mißstände zu beseitigen galt. Ohne Rücksicht auf islamische oder hinduistische religiöse Vorstellungen schritt er beispielsweise gegen Kinderheiraten ein, verbot er die unfreiwillige Selbstverbrennung junger Hinduwitwen im Leichenfeuer ihrer Männer und erlaubte er die Wiederheirat der Witwen. Diese Eingriffe und auch viele andere Maßnahmen zeugen von der Konsequenz, mit der Akbar seine humanitären Einsichten in die Tat umsetzte. Obgleich dieser Kaiser ein asiatischer Despot war und blieb und man ihm manche Fehler und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
228
Schwächen – selbst Grausamkeiten während der Feldzüge – nachweisen kann, ist er in seiner geschichtlichen Bedeutung für Indien nur noch mit Ashoka vergleichbar. Es kann nicht verwundern, daß die islamische Geschichtsschreibung diesem Kaiser nicht sehr wohlgesonnen ist, ja daß sie von Muslimverfolgung im Akbarreich spricht. In der Tat bleibt es fraglich, ob man überhaupt noch von einer islamischen Herrschaft in Indien sprechen darf, denn Akbar strebte nicht mehr ein muslimisches, sondern ein nationalindisches Reich an, das auch von den Hindus als das Ihre betrachtet werden konnte. Seine religiöse Einstellung kam in dem Versuch zum Ausdruck, eine eigene monotheistische, idolfreie »Göttliche Religion« (din-ilahi) zu verkünden, mit der er Islam und Hinduismus zu überwinden und ein einheitliches Indien zu schaffen hoffte. Daß ihm Muslime und Hindus auf diesem Wege nicht folgen würden, scheint er nicht vorausgesehen zu haben. Da Akbars Toleranzpolitik von Jahangir fortgeführt und von Shahjahan nicht gänzlich außer acht gelassen wurde, lebten Generationen indischer Menschen verschiedener Konfessionen nach dem Staatsrecht gleichberechtigt nebeneinander. Unter diesen Umständen mußte sich das Verhältnis zwischen Hindus und Muslimen wesentlich bessern. Viele sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
228
damals festigende gemeinsame Lebensformen haben auch die Schreckenszeit der Herrschaft Aurangzebs überstanden und bestimmen noch heute das Miteinander von Hindus und Muslimen in der Indischen Union, das schließlich ein selbstverständliches Miteinander von Indern verschiedener Religiosität geworden ist. Es erwies sich, daß Akbars Weg der einzig mögliche war, um Muslime und Hindus friedlich in einem Reich zu vereinen. Im Grunde genommen heißt das: Ausländische und andersgläubige Herrscher konnten in Indien nur dann dauerhaft erfolgreich sein, wenn sie die hinduistische Bevölkerung respektierten und sich in diesem Respekt auch geistig zu Indern wandelten. Selbst Akbar konnte es nicht wagen, gegen die bestehende indische Gesellschaftsordnung anzugehen. Es ist wahrlich keine Sophisterei, wenn man den Schluß zieht, daß letzten Endes nur diese Hindu-Gesellschaft eine konstante Größe geblieben war und der Islam als Macht auf die Orthodoxie beschränkt blieb. Nur die Art des Miteinanderlebens der Menschen änderte sich gemäß den Herrschaftsgrundsätzen der Regenten. Immer aber bildete die indische Gesellschaft als geordnete Körperschaft einen religiösen Staat im weltlichen Staate.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
229
Das Eindringen Europas Mit dem Zusammenbruch des Mogulreiches unter Aurangzeb war trotz zeitweiligen nominellen Fortbestehens des Mogulkaisertums die Zeit der islamischen Herrschaft in Indien faktisch beendet. Die Hinterlassenschaft bestand in einer beachtlichen Minderheit von Muslimen, die ganz überwiegend von konvertierten Hindus abstammten. Obgleich es eine Rolle spielte, ob sie in einem hinduistisch oder einem islamisch geführten Fürstentum lebten, war das Miteinanderleben der Menschen unterschiedlicher Religion zwangloser geworden. Kein Muslim wäre auf die Idee gekommen, er sei seines anderen Glaubens wegen kein Inder, und kein Hindu sah seine muslimischen Landsleute als Ausländer an. Beide Gruppen lebten gemäß ihrer gesellschaftlichen und religiösen Tradition und tolerierten einander. Die Masse des hinduistischen Volkes war noch rigoroser als in früheren Zeiten der Kastenordnung unterworfen und besaß nach wie vor die Freiheit, glauben und anbeten zu können, was und wen sie wollte. Der Islam hatte es trotz Anwendung härtester Mittel nicht vermocht, die hinduistische Front aufzubrechen, wie andererseits der Hinduismus trotz zahlenmäßiger Überlegenheit seiner Anhänger die religiöse Kraft des Islam nicht überwinden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
229
konnte. Eher hatte das aufreibende Kräftemessen und die geistige Verhärtung auf beiden Seiten zu einem müden Formalismus geführt, der die gemeinsame Widerstandskraft beeinträchtigte. Aber gegen die jetzt emporstrebende englische Macht hätte ohnehin nur einheitliche militärische Stärke etwas ausrichten können, und diese hat Indien in Zeiten politischer Zerrissenheit nie aufzubringen vermocht. Da das Land wieder einmal in zahlreiche größere und kleinere Fürstentümer aufgeteilt war und indisches Nationalbewußtsein noch immer keine Rolle spielte, fiel es wie eine reife Frucht den ursprünglich als Handelsleuten nach Indien gekommenen Engländern in den Schoß. Dabei hätte die Gefährlichkeit des neuen Gegners durchaus rechtzeitig erkannt und ihm erfolgreich begegnet werden können; denn Erfahrungen mit Europäern im allgemeinen und Engländern im besonderen hatte man seit langem sammeln können. Von 1505 an gab es einen portugiesischen Vizekönig in Indien, der über Niederlassungen in Cochin, Kananur und Colombo auf Ceylon verfügte. Das Jahr 1530 sah Goa bereits als Hauptstadt Portugiesisch-Indiens. Anno 1600 privilegierte Königin Elisabeth von England den »Gouverneur und die Kompanie der nach Ostindien Handel treibenden Kaufleute von London«. Seit 1603 war diese »Ostindienkompanie« durch Diplomaten am Mogulhofe vertreten und erreichte unter Jahangir die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
230
Errichtung von Faktoreien im westlichen Indien. Zur gleichen Zeit hatten die Holländer in Indonesien Fuß gefaßt und an den Küsten Indiens Handelsniederlassungen gegründet. Während die anfängliche Zusammenarbeit der Engländer mit den Holländern bald gestört wurde, erleichterte eine Konvention mit den Portugiesen (1635) die Errichtung weiterer englischer Stützpunkte. 1661 begannen die Engländer mit dem Ausbau des Hafens von Bombay und gründeten schließlich 1690 Calcutta in Bengalen. Ein sehr unbequemer Rivale erstand ihnen, als 1673 auch Frankreich mit der »Compagnie des Indes Orientales« (1664 bis 1769) in den Indienhandel eingriff. Die nun sich mehrenden, ja ständigen Kämpfe der Europäer untereinander führten zur Bildung kleiner, aber für indische Verhältnisse außerordentlich kampfstarker Truppeneinheiten, und Engländer wie Franzosen traten oft als Hilfskräfte indischer Fürsten in Erscheinung. Die Uneinigkeit der Europäer untereinander ließ sie verhältnismäßig ungefährlich erscheinen, und in der Tat wandelte sich die Situation erst, als sich die Franzosen nach einer vernichtenden Niederlage (1760) mit dem ihnen im Frieden von 1763 zurückgegebenen Gebiet von Pondichéry begnügten. Durch die zielbewußte, nicht immer in Einklang mit den Weisungen der Krone befindliche Politik militärisch begabter Generalgouverneure gelang England im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
230
Verlaufe der nächsten fünfzig Jahre die Eroberung des größten Teiles dieses gewaltigen Landes, das schließlich 1858 zum ersten Male in seiner Geschichte vollständig unter einer Herrschaft stand. Die Begegnung der indischen und der abendländischen Kultur erfolgte unter völlig anderen Voraussetzungen als die vorangegangene zwischen Hinduismus und Islam. Den Zielen der Engländer entsprechend bot sich die von ihnen vertretene Kultur den Indern recht materialistisch dar, so daß der ohnehin vorhandene Gegensatz zur erlebten religiösen Fremdkultur des Islam überbetont in Erscheinung trat. Die neuen Herrscher waren nicht daran interessiert, die religiösen Verhältnisse zu ändern, sondern wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen. Indien war Englands wertvollster Kolonialbesitz, den zu sichern höchstes Anliegen der englischen Politik wurde. So ergab sich zwangsweise, daß die englische Indienpolitik die beherrschende Rolle in der gesamten Orientpolitik Englands zu spielen begann. Der Besitz Indiens rückte ferner die Grenzen des britischen Empires in die Nachbarschaft russischen Einflußgebietes und schuf damit ein neues Spannungsfeld in der Weltpolitik. Jenseits der wirtschaftlichen und weltpolitischen Belange war Indien, waren Geschichte und Kultur dieses Landes für die Engländer höchstens wissenschaftlich interessant. Die Inder sahen sich einer Herrschaft gegenüber, die alle Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
230
wesentlichen indischen Institutionen unangetastet ließ und daher im herkömmlichen Sinne gar nicht feindlich war. Im Grunde genommen wurden die Engländer von den indischen Massen noch gleichgültiger ertragen als die islamischen Herrscher. Die in einer Art geistiger Resignation befangene indische Intelligenz hingegen zeigte ein natürliches, vielfach geradezu neugieriges Interesse an den Errungenschaften abendländischen Geistes, sei es, um neue Ideen und Anregungen für Reformen im eigenen Gedankensystem zu gewinnen, oder sei es auch nur, um sich durch Vertrautmachen mit Kultur und Sprache der Fremdherren materielle Vorteile zu sichern. Sucht man jedoch eine Erklärung für die schwächlichen Reaktionen von Volk und Führungsschicht der Inder, dann gelangt man wieder zu der Erkenntnis, daß die indische Gesellschaftsordnung als dezentralisierendes und defensives System keine nationalen Empfindungen vermitteln konnte, weil es selbst a-national war. Auch für die politisch interessierten Kreise hatte die englische Herrschaft zunächst keine nationale Bedeutung. Wie wichtig die Berührung mit westlicher Kultur, Wissenschaft und Technik für Indien auch gewesen sein mag, der von den Engländern importierte Nationbegriff mußte das indische Denken und Handeln doch am stärksten beeinflussen. Da die Kastenordnung der Verbreitung eines Nationalempfindens Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
231
hemmend im Wege stand, blieb die Heranbildung des nationalen Gedankens für längere Zeit das Privileg einer kleinen Schicht weitsichtiger Gebildeter. Das Ringen um einen Ausgleich der beiden Mächte »Gesellschaft« und »Nation« sollte sich jedoch als das bewegende Ereignis im weiteren, bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozeß Indiens erweisen. Obgleich die Masse des Volkes nicht rasch mitzureißen war, genügte eine organisierte, auf die Verständigen beschränkte Nationalbewegung, um unmittelbare Wirkungen gegen die englische Herrschaft zu erzielen. Die indische Geschichte des 19. Jahrhunderts läßt die stufenweise Entwicklung dieser Nationalbewegung erkennen, an deren Zustandekommen die Engländer durch ihre mit allerdings anderen Absichten eingeleiteten Erziehungsmaßnahmen wesentlich beteiligt waren. Es ist interessant zu verfolgen, welch wichtige Rolle scheinbar nebensächliche Ereignisse in diesem Zusammenhang spielten. Da die Ostindienkompanie von den Moguln die persische Verwaltungssprache übernommen hatte, bestand für sie kein Anlaß, sich um das indische Schulwesen zu bemühen und englische Bildung zu vermitteln. Um den Bedarf an persisch gebildeten indischen Angestellten zu decken, gründete Warren Hastings, der erste englische Generalgouverneur, 1781 eine muslimische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
231
Hochschule in Calcutta. Weil noch kein Europäer Sanskrit verstand, ließ Hastings von indischen Gelehrten ein Kompendium des Hindu-Rechts zusammenstellen und ins Persische übertragen. Gleichzeitig regte er das Studium der Sanskritsprache durch Europäer an und förderte die von dem englischen Richter Sir William Jones 1784 gegründete Royal Asiatic Society of Bengal, die bedeutendste wissenschaftliche Gesellschaft Indiens. Sir Jones war einer der Pioniere der europäischen Indologie, die sich bald mit Begeisterung dem Studium der indischen Literatur und Kultur hingaben. Unter dem Einfluß der für die indische Kultur aufgeschlossenen Engländer in der Royal Asiatic Society wurde 1813 erstmals eine sehr bescheidene Summe zur Förderung der Wissenschaft und Erziehung in Indien ausgeworfen. An der Frage, wie diese Gelder am sinnvollsten zu verwenden seien, entzündete sich bald ein folgenschwerer Streit zwischen den englischen »Orientalisten« und »Anglizisten«. Die Orientalisten traten für die Pflege der einheimischen Tradition ein und verlangten, man solle die »Eingeborenen ihren jetzigen Bildungsweg beibehalten lassen und anstreben, die europäischen Wissenschaften darauf aufzupfropfen«. Die Anglizisten dagegen wiesen solche Vorstellungen entrüstet ab und forderten, die Gelder nur für die Verbreitung englischer Bildung zu verwenden. Der Streit gipfelte in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
232
einer Denkschrift des mit der Sanskritkultur überhaupt nicht vertrauten liberalen Historikers Macaulay, in der er indische Wissenschaft und Literatur als Unfug bezeichnete und die europäische Wissenschaft und Bildung als unvergleichlich überlegen hinstellte. Aus dieser Geisteshaltung wurde 1835 der in seiner Bedeutung gar nicht zu überschätzende Erziehungsbeschluß gefaßt, der die Einführung des Englischen als Amtssprache bewirkte und englische Bildung zur alleinigen Grundlage des höheren Erziehungswesens machte. »Kein Hindu«, verkündete Macaulay 1836, »der eine englische Erziehung empfangen hat, bleibt jemals ein aufrichtiger Anhänger seiner Religion.« Man hoffte, englische Bildung werde sich nach und nach im indischen Volke ausbreiten und es auch geistig anglisieren. Diese Hoffnung schien zunächst gar nicht so abwegig, denn die indischen Intellektuellen zeigten sich als gelehrige Schüler, und in kurzer Zeit entstand eine zahlenmäßig zwar kleine, aber in allen Gegenden Indiens vertretene Oberschicht englisch erzogener Inder, die sich geeint wußte durch das Band der englischen Sprache, durch die Begeisterung für die englischen Bildungsideale und durch einen unbändigen Stolz auf die anerzogene liberale Gesinnung. Ohne Zweifel waren diese Inder glühende Verehrer der europäischen Kultur und willige Befürworter der englischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
232
Herrschaft in Indien, und es kann nicht verwundern, daß sie ihre eigene indische Kultur geringschätzten. So mußte es ihnen unverständlich bleiben, daß gerade der Erziehungsbeschluß von 1835, dem sie ihre Bildung verdankten, unter der brahmanischen Orthodoxie Haßgefühle gegen England aufkommen ließ. Aber auch durchaus positive Reaktionen, wie die Versuche westlich gebildeter, doch nicht englandhöriger bengalischer Denker, den Hinduismus zu reformieren, fanden bei ihnen zunächst keinen Anklang. Der größte Schock für die gebildete Oberschicht, die sich auf Grund ihrer Ausbildung und im Vertrauen auf englische Versprechungen zur Annahme verantwortlicher Regierungsposten prädestiniert glaubte, war der bewaffnete Aufstand gegen die englische Herrschaft, der im Jahre 1857 von unzufriedenen indischen Söldnern unter Führung bengalischer Brahmanen ausgelöst wurde. Die wichtigste Folge dieses Ereignisses war die Proklamation vom 1. November 1858, welche die Übernahme der Regierung Indiens durch die englische Krone verkündete. Die Ostindienkompanie, der bereits 1833 die Handelstätigkeit untersagt und allein die Aufgabe der Verwaltung Indiens verblieben war, löste sich auf. Im englischen Kabinett gab es hinfort einen »Staatssekretär für Indien«, aus dem Generalgouverneur wurde ein Vizekönig. Ab 1876 führte der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
232
Träger der englischen Krone den Titel eines Kaisers von Indien. Diese Reaktionen machen deutlich, wie sehr der Aufstand die englische Regierung erschreckt hatte und wie ungeheuer wichtig der Besitz Indiens für die Krone geworden war. »Die Notwendigkeit« so erläutert Ludwig Alsdorf die Situation, »alle denkbaren See- und später auch Luftwege von England nach Indien zu beherrschen, sie durch ein immer dichter werdendes System von Stützpunkten, Kolonien, Mandaten und Einflußsphären zu sichern, hat das ganze Mittelmeer, den Vorderen Orient, Arabien, West-, Süd- und Ostafrika in den Bannkreis der englischen Indienpolitik gezogen; die stete Rücksicht auf den so wertvollen und so fernen indischen Besitz, der Wunsch, zu seiner Verteidigung in Europa den Rücken freizuhalten, frei von der Drohung einer den Kontinent beherrschenden Vormacht, stand darüber hinaus im Hintergrund fast aller Entscheidungen der großen englischen Politik.« Aus der Perspektive dieser Politik mußte der Aufstand die Hoffnungen der indischen Intelligenz, verantwortliche Posten in der Regierung zu erhalten, vorerst zunichte machen. Daher war es nur ein hinhaltender Schachzug, wenn diese Hoffnungen in der Proklamation der englischen Krone von 1858 mit den Worten am Leben erhalten wurden: »Und es ist weiter Unser Wille, daß, soweit möglich, Unsere Untertanen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
233
welcher Rasse und welchen Glaubens auch immer, frei und unparteiisch zugelassen werden zu den Ämtern in unserem Dienst, deren Pflichten sie durch ihre Bildung, Fähigkeit und Unbestechlichkeit richtig zu erfüllen geeignet sind.« Tatsächlich wurde dieses freiwillig gegebene Versprechen nie voll eingelöst, so daß sich der englandfreundlichen Inder bald eine tiefe Enttäuschung bemächtigte. Die Engländer sollten nun in ganz anderer Weise erfahren, wie wirkungsvoll die englische Erziehung gewesen war: Stolz auf ihre Vertrautheit mit den Spielregeln der angelsächsischen Politik nutzten die Inder die legalen Mittel und brachten Resolutionen und Petitionen gegen die nach ihrer Auffassung allein schuldige Bürokratie der Kolonialregierung in Indien ein. Die Schüler begannen sich gegen die Lehrer zu wenden, und daß sie dabei eine gemäßigte Haltung bewahrten, brachte ihnen die maßgebliche Unterstützung sympathisierender Engländer bei der 1885 erfolgten Gründung jener Organisation ein, die hinfort ein wesentliches Instrument der indischen Politik sein sollte: dem »Indischen Nationalen Kongreß«. Seine Ziele waren: »Erstens die Verschmelzung aller der verschiedenen und einander widerstrebenden Elemente, die die Bevölkerung Indiens bilden, zu einer nationalen Einheit; zweitens die allmähliche Erneuerung der so gebildeten Nation in geistiger, moralischer, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
233
sozialer und politischer Hinsicht; drittens die Festigung der Verbindung zwischen England und Indien durch Herbeiführung der Änderung derjenigen Bedingungen, die für Indien ungerecht oder schädlich sind.« Die Kongreßgründer lehnten also noch keineswegs die englische Herrschaft selbst ab, sondern beanspruchten nach wie vor nur die Beteiligung an der Regierung. Obgleich sehr bald nationale Töne zu vernehmen waren und auch die Gemäßigten um der indischen Sache willen offen gegen die Engländer fochten, ist westlicher Geist bis auf den heutigen Tag in der indischen Politik mitbestimmend geblieben. So bekannte Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister des freien Indien: »Persönlich verdanke ich England zuviel in meiner geistigen Ausbildung, um mich ihm jemals ganz fremd zu fühlen. Und ich mag tun, was ich will, so kann ich doch von den Denkgewohnheiten und den Maßstäben der Beurteilung anderer Länder sowohl als des Lebens im allgemeinen nicht loskommen, die ich in der Schule und auf der Universität in England erworben habe. Alle meine Neigungen sprechen für England und das englische Volk, und wenn ich geworden bin, was man einen kompromißlosen Widersacher der englischen Herrschaft in Indien nennt, so geschah das fast gegen meinen Willen.« Gewiß hätte auch die auf längere Sicht planende Politik der gemäßigten Kongreßführer die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
233
Forderungen nach und nach höher geschraubt; aber Indien hätte kein altes Kulturland sein dürfen, wenn die englandfreundliche Gruppe allein die indischen Belange vertreten sollte. Der große Aufstand hatte in krassester Form deutlich gemacht, daß es unterschwellige, negative Strömungen gab, die nicht zu unterschätzen waren. Neben vielen anderen Gründen führte auch die zunehmende Tätigkeit christlicher Missionsgesellschaften zu immer stärkeren Ressentiments der Orthodoxie, die in der Europäisierung einen Angriff auf die überlieferten religiösen Wahrheiten zu sehen begann. Die nach dem Aufstand einsetzende Verschärfung der Verwaltungsmaßnahmen öffnete vielen westlich gebildeten Intellektuellen die Augen und führte nach dem ersten begeisterten Überschwang zu Gegenreaktionen, die in einer verstärkten Besinnung auf die Werte der eigenen Kultur zum Ausdruck kamen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß die Tätigkeit der europäischen Indologie den Indern ihre große Vergangenheit erst so recht bewußt machte und einen Stolz in ihnen weckte, der vielfach eher in radikalen als in gemäßigten Reformen Befriedigung fand. So ist denn der Wandel, der von der Europa-Begeisterung bis zur Veda-Renaissance reicht, an jenen geistigen Reformen ablesbar, die neben den rein politischen Strömungen einen gar nicht zu überschätzenden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
234
Einfluß auf die innerindische Entwicklung unter der englischen Herrschaft gehabt haben und den politischen Kampf erneut religiös untermauerten. Schon vor dem Erziehungsbeschluß von 1835 hatte in Bengalen, der am intensivsten »europäisierten« Provinz, die von Ram Mohan Roy (1772-1833) gegründete Sekte des Brahma Samaj (etwa »Gemeinde der Brahman- und Gottsucher«) ihre Tätigkeit aufgenommen, in deren Lehre sich bestimmte einheimische Traditionen mit englischen Aufklärungsideen und christlichen Vorstellungen verbanden. Die Absicht war, den Hinduismus zur bilderlosen Urreligion zurückzuführen und eine zukünftige, alle bestehenden Bekenntnisse überbrückende Weltreligion anzubahnen. In diese Zeit des Wirkens Ram Mohan Roys, der als »Vater des neuen Indien« bezeichnet wird, fiel der fast widerstandslos hingenommene Erlaß des Generalgouverneurs Bentinck, durch den die Witwenverbrennung in Britisch-Indien verboten wurde. Wie zu erwarten war, rief die »europäisierte« Hindu-Lehre die Orthodoxie auf den Plan, die Ram Mohan Roy vorwarf, er mißverstehe die vedische Tradition. Die Kontroversen regten weitere Reformen an: Die geistige Entwicklung innerhalb des Hinduismus ist seit Ram Mohan Roy nicht mehr zum Stillstand gekommen. Die politische Entwicklung nach 1850 führte jedoch zu wesentlich kritischeren, deutlich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
234
antieuropäischen Ideen, die in der 1875 von dem Brahmanen Dayanand Sarasvati (1824 bis 1883) in Bombay gegründeten »Gemeinde der Arier« (Arya Samaj) ihr mächtigstes Sprachrohr fanden. Mit den Losungen »Zurück zum Veda« und »Indien den Aryas« verfolgte der Arya Samaj religiöse und nationale Ziele. Indem er den Veda als die alleingültige Offenbarung herausstellte, bekämpfte Dayanand Sarasvati die unvedischen Entstellungen im Hinduismus; vor allem der Bilder- und Tempeldienst seien aufzugeben, Lobpreis, Gebet und Meditation müßten an deren Stelle treten. Die Grundsätze des Karman und Samsara waren in seinem System ebenso enthalten wie Vorstellungen von verschiedenen Erlösungswegen. Antichristliche und antiislamische Polemiken, vor allem aber eine übersteigerte Glorifizierung der altindischen Weisheit trugen dazu bei, daß die Lehre des Arya Samaj das Selbstvertrauen und das Nationalbewußtsein unzähliger Inder stärkten. Wie der Arya Samaj, so haben auch andere gleichzeitige und spätere Reformen, vor allem die Erneuerungsbewegung des bengalischen Dorfheiligen Ramakrishna und das Wirken seines Schülers Vivekananda, die anfänglichen Minderwertigkeitsgefühle kompensieren helfen und den westlich gebildeten Indern bewußt gemacht, daß sie ihr Hindutum durchaus nicht zu verleugnen brauchten. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
235
Die politischen Folgen der neuen religiös-nationalen Strömungen zeigten sich überraschend schnell. Noch vor der Jahrhundertwende trat außerhalb und innerhalb des Nationalen Kongresses neben der proenglischen eine anti-englische Gruppe auf, deren Mitglieder mit allen Mitteln die Beseitigung der englischen Herrschaft anstrebten. Unter der Führung des bedeutendsten Nationalistenführers vor Gandhi, des Marathen Bal Gangadhar Tilak (1856-1920), stieg der Einfluß der »Extremisten« im Kongreß so erheblich, daß sich auch die »Gemäßigten« zu schärferen und ungeduldigeren Forderungen veranlaßt sahen. Die Verschmelzung politischer und religiöser Ideen hatte eine völlig neue Situation geschaffen, und es erhebt sich die Frage, wie sich die indischen Muslime zu dieser Entwicklung stellten und welchen politischen Einfluß sie während der englischen Herrschaft besaßen. Für die Hindus war die neue Fremdherrschaft nur die Ablösung einer anderen, der des Islam, gewesen. Die Muslime, insbesondere die islamische Orthodoxie hingegen lebte noch immer in der Erinnerung an das Mogulreich und hegte die Hoffnung, der von den Engländern aus politischen Gründen »anerkannte« und erst 1862 verbannte Mogul-»Kaiser« in Delhi werde eines Tages doch wieder ihr Herrscher sein. Die Einführung des Englischen an Stelle des Persischen als Amtssprache bedeutete für die Hindus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
235
nur das Erlernen einer neuen Fremdsprache, ein Umlernen also, das ihnen auf Grund ihrer universellen Denkart nichts ausmachte. Der im Kern konservative Islam jedoch stellte sich dagegen. Wichtig war auch, daß der indische Islam in dieser Zeit der arabischen, wahhabitischen Reformbewegung folgte, die von den Engländern aus politischen Gründen mißbilligt wurde. So ergab sich ein recht gespanntes Verhältnis zwischen Briten und Muslimen, das die Abneigung der islamischen Orthodoxie in Indien gegen das englische Bildungssystem noch verstärkte. Während die Muslime an ihren Religionsschulen festhielten, erwarben sich die Hindus einen immer größeren Vorsprung, der sich auch in der Besetzung der im Wirtschafts- und Verwaltungsleben zugestandenen Stellen durch englisch geschulte Inder, und das waren fast nur Hindus, deutlich ausdrückte. Auch die Niederschlagung des Aufstandes von 1857, die den Muslimen die letzte Hoffnung auf Wiedereinsetzung des entthronten Mogulherrschers nehmen mußte, trug ihren Teil dazu bei, dem gläubigen Muslim die englische Herrschaft und die englische Sprache lange Zeit verhaßt zu machen. Es bedurfte eines Mannes wie Sayyid Ahmed Khan (1817-1898), um den indischen Islam gegen Ende des 19. Jahrhunderts von dieser verkrampften Einstellung abzubringen. Als hochgebildeter Muslim erkannte er, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
235
wie das aus seiner Sicht bedenkliche Ansteigen des hinduistischen Einflusses in der Politik die islamischen Inder zu benachteiligen drohte. In der Absicht, auch den Muslimen den Zugang zur englischen Bildung zu ermöglichen, gründete er 1875 das Mohammedan Anglo-Oriental College zu Aligarh. Um den politischen Vorsprung auszugleichen, trat er für eine weitgehende Unterstützung der Engländer durch die Muslime ein. Diese Haltung mußte in einer Zeit, in der die Hindus immer ungeduldiger ihre politischen Forderungen stellten, auf englischer Seite mit Wohlgefallen registriert werden. Sayyid Ahmed lehnte nicht nur die gesamtindischen Bestrebungen des Kongresses, sondern auch die zu seiner Zeit in den islamischen Ländern spürbar wachsenden panislamischen Bestrebungen ab. England war für ihn die Schutzmacht der muslimischen Minderheit in Indien, und dieser politische Grundsatz blieb für ihn maßgebend. Gleichlaufende Interessen machten die Muslime zu Bundesgenossen der Engländer, zumindest soweit es darauf ankam, die Übermacht und das steigende Selbstbewußtsein der Hindus einzudämmen. Sollten politische Zugeständnisse an die »Eingeborenen« unvermeidlich werden, so bestand nun die Möglichkeit, den Muslimen eigene Minderheitenrechte zu gewähren und sie en bloc als eine selbständige konfessionelle Gruppe eigenen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
236
politischen Rechts der Hindu-Mehrheit entgegenzustellen. Die englische Politik war fortan eine Politik des divide et impera, die sie virtuos handhabte. Obgleich der »Nationale Kongreß« als überkonfessionelle, politische Einrichtung einige bedeutende Muslime zu seinen Mitgliedern zählte, blieb die Orthodoxie abseits und schuf sich im Jahre 1906 mit der »Allindischen Moslem-Liga« eine eigene Interessenvertretung. Den Auftakt ihrer politischen Tätigkeit bildete die Forderung, bei künftigen Wahlen nach eigenen, muslimischen, von den Hindus getrennten Listen wählen zu lassen. Die Erfüllung dieser Forderungen in den Reformen von 1909 schuf die Voraussetzungen für die Teilung von 1947. Gleichwohl war diese Entwicklung nicht selbstverständlich und unabänderlich, wie die Ereignisse in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts bewiesen. Schon die englische Politik in den islamischen Ländern während des Ersten Weltkriegs hatte ihre Rückwirkung auf das Verhältnis zwischen Engländern und Muslimen in Indien. Nationaler Kongreß und Moslem-Liga standen sich nicht immer als feindliche Brüder gegenüber, sondern kämpften zu verschiedenen Zeiten Seite an Seite für die gesamtindische Sache und gegen die Kolonialregierung. Die Hoffnung, daß es einmal zu einem Ausgleich zwischen Hindus und Muslimen in dem einen Staate Indien kommen würde, wuchs Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
236
beträchtlich, als Indien in Mohandas Karamchand Gandhi die große nationale Führergestalt vor der Unabhängigkeit erstand. Gandhi, in dem sich alle Strömungen des nationalen Indiens zu vereinen schienen, hat wie kein anderer die Volksmassen zu begeistern vermocht und zeitweilig selbst die Muslime in seinen Bann geschlagen. Aber auch er, der mit seinen neuartigen politischen, aber zutiefst religiös fundierten Kampfmethoden der »Gewaltlosigkeit« (ahimsa), des »Beharrens auf der Wahrheit« (satyagraha) und der Nichtzusammenarbeit (asahayoga) mit den Engländern seine Erfolge erzielte und die britische Regierung oft ratlos machte, konnte die von ihm so sehnlich gewünschte und aktiv angestrebte Einigkeit zwischen Muslimen und Hindus nicht herbeiführen. Gerade weil er ein Mann der Gewaltlosigkeit war und die Muslim-Hindu-Verbrüderung anstrebte, muß ihn die Teilung und müssen ihn die blutigen Ausschreitungen zwischen Muslimen und Hindus trotz des gegen die Engländer errungenen Erfolges tief erschreckt haben und als Fiasko seiner Politik erschienen sein. Der Gedanke vom Pakistan kam zwar erst 1930 auf, und der Pakistan-Plan wurde nicht früher als 1940 von der Moslem-Liga zum Programm erhoben, aber er war nur die konkrete Formulierung aller geheimen Wünsche der islamischen Orthodoxie. Wie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
237
wichtig die einzelnen, zeitbedingten Ereignisse auch gewesen sein mögen, der alte Gegensatz zwischen Muslimen und Hindus ließ sich nicht überbrücken und erwies sich im entscheidenden Augenblick als stärker denn alle Gemeinsamkeiten. An anderer Stelle dieser Weltgeschichte findet sich der Satz: »Als die Engländer Indien eroberten, war der kulturelle Gegensatz zwischen Hindus und Muslimen verschwunden, und der religiöse war nicht größer als zwischen den christlichen Konfessionen.« Merkwürdigerweise hat auch diese Aussage ihre Berechtigung. Denn sie umreißt ebensogut das jetzige Verhältnis der Hindus zu den trotz der Teilung im heutigen Indien gebliebenen Muslimen, die immerhin rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung der Indischen Union ausmachen. Daß es aber doch zur Teilung kam, macht deutlich, wie wenig die Geschichte Indiens von den Massen bestimmt worden ist und wie stark die orthodoxen Kräfte dennoch geblieben waren. »Die Errichtung des Pakistan-Staates« schreibt Ludwig Alsdorf, »beruht ideologisch auf der Zwei-Nationen-Theorie, nach der Indiens Hindus und Mosleme verschiedene Nationen sind. Von national-indischer Seite wird diese Gleichziehung von Religion und Nation heftig bestritten. Dem Deutschen liegt ein Vergleich mit deutschen Katholiken und Protestanten, der Gedanke an gelegentliche Pläne eines süddeutschen Katholikenstaates nahe. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
237
In einer Zeit, in der der Vordere Orient seine säkularisierten Staaten zunehmend auf Volkstum statt auf Islam gründet, während Europa sich anschickt, auch das Nationalitätenprinzip zu überwinden, mag die Neubegründung eines Staates auf einem mit Nationalität gleichgesetzten Islam als Anachronismus erscheinen. Freilich, wenn eine Idee sich in der Praxis als tragkräftig bewährt – wie es in Pakistan der Fall zu sein scheint –, so ist ihre theoretisch-historische Anfechtbarkeit belanglos.« Die Frage, ob die im entscheidenden Augenblick spürbare Resignation bei den verantwortlichen Kongreßführern, von der schließlich auch Gandhi ergriffen wurde, nicht ein Fingerzeig des Schicksals war, Indien vor den Gefahren der inneren Zerstreitung in einem einzigen unabhängigen Staat zu bewahren, bleibt des Nachdenkens wert.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
237
Ausblick Indien ist für den heutigen Europäer als Land Gandhis, Rabindranath Tagores und Nehrus eine selbstverständliche und anerkannte politische Macht, ein »modernes« asiatisches Land, eine große Nation von mehr als vierhundertfünfzig Millionen Indern. Die Modernisierung, die Industrialisierung und die hervorragende Rolle, die Indien in der Weltpolitik spielt, machen in eindruckvollster Weise die Veränderungen deutlich, die innerhalb eines Jahrhunderts in diesem Lande vor sich gegangen sind. Die religiösen und sozialen Reformbewegungen, das Aufkommen von Nationalbewußtsein und politischer Parteienarbeit, das Gleichziehen in den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kenntnissen seitens der technischen Intelligenz haben Indien in den Stand gesetzt, diese Rolle aus eigener Kraft zu übernehmen und zu behaupten. Die Probleme des indischen Staates sind in vieler Hinsicht die gleichen wie die anderer Nationen in West und Ost. Die offiziellen Tätigkeitsberichte sprechen von den Aktivitäten der Legislative, Exekutive, der Verteidigung, der Erziehung, des Gesundheitswesens, der ökonomischen und industriellen Planung und so fort. Man muß sich jedoch bewußt bleiben, daß trotz aller einschneidenden Wandlungen nur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
238
eine Minderheit der Inder modernisiert oder gar säkularisiert ist. Die Masse der Bevölkerung lebt auch jetzt noch dem Brauchtum und dem Glauben des 18. und 19. Jahrhunderts gemäß. Der Hinduismus umschließt den Atomforscher ebenso wie das Gewerkschaftsmitglied und den primitiven Dschungeldorfbewohner. Während die einen den Hinduismus in bestimmten Reformideen oder althergebrachten geistigen Lehren fundiert sehen, hängen die anderen weiter dem Glauben an böse und gute Mächte an und vollziehen die gleichen Riten wie ihre Vorfahren. Das Familienleben unzähliger Millionen unterliegt wie eh und je dem Dharma und den entsprechenden religiösen Vorschriften. Die ungeheure Vielfalt der Bräuche und Riten, der Gelübde, Kultbildverehrungen und Anbetungsformen kündet von dem Fortbestehen der alten, vom Kastenwesen beherrschten hinduistischen Gesellschaft. So sieht sich ein moderner Nationalstaat vor der unbeschreibbar schwierigen, lebenswichtigen Aufgabe, ein Gesellschaftssystem zu verändern, das den neuzeitlichen Anforderungen nicht mehr voll gerecht wird. Die Beschränkung der Erziehung auf eine kleine Minderheit der Intelligenz und des Mittelstandes in der Zeit der englischen Herrschaft erweist sich jetzt als ein schwer wieder gutzumachendes Versäumnis. Die Aufgabe besteht nicht unbedingt darin, das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
238
Kastenwesen im ganzen abzuschaffen, sondern in der Notwendigkeit, eine den Bedürfnissen der Neuzeit entsprechende Sozialordnung herbeizuführen. Hierüber gibt es jedoch so viele Meinungen, wie es Parteien gibt. Die Phalanx reicht von den Anhängern eines unorthodoxen Sozialismus bis hin zu denen, die eine Rückkehr zu den Urtugenden der Hindu-Religion predigen. Daß die Auseinandersetzung über das für Indien geeignetste Gesellschaftssystem an religiösen Grundsätzen rüttelt, wird durch Gandhis hochinteressantes Plädoyer für ein gereinigtes Kastenwesen eindringlich ins Bewußtsein gerufen: Die Kasten haben nach meiner Ansicht den Hinduismus vor der Auflösung bewahrt. Aber wie jede andere Einrichtung, hat das System unter Auswüchsen zu leiden. Ich betrachte nur die vier Hauptkasten als grundlegend, natürlich und wesentlich. Die zahllosen Unterabteilungen sind manchmal bequem, oft hinderlich. Sie sollten je eher je lieber wieder verschmolzen werden. Von jeher haben sich stillschweigende Auflösung und nachfolgender Zusammenschluß von Zwischenkasten vollzogen und werden sich auch künftig vollziehen. Es mag der sozialen Notwendigkeit und der öffentlichen Meinung überlassen bleiben, mit dem Problem fertig zu werden. Ich aber bin Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
238
gegen jeden Versuch, die ursprünglichen Teilungen aufzugeben. Die Kasten beruhen nicht auf Ungleichheit. Die Frage der Minderwertigkeit spielt dabei keine Rolle, wo sie es aber doch tut,... sollte dem Übel sofort Einhalt geboten werden. Der Mißbrauch des Systems aber scheint mir kein genügender Grund, das System selbst zu beseitigen. Es läßt sich leicht verbessern. Der Geist der Demokratie, der Indien und die übrige Welt zu erobern im Begriffe ist, wird das Kastenwesen sicher von jedem Geist der Vorherrschaft und Unterordnung befreien. Ich neige zu der Ansicht, daß das Gesetz der Vererbung ein ewiges Gesetz ist, und daß jeder Versuch, es zu mißachten, zu größter Verwirrung führen müßte, wie es schon immer geschehen ist. Ich sehe nur Vorteile in der Tatsache, daß ein Brahmane zeit seines Lebens ein Brahmane zu bleiben hat. Wenn er sich nicht wie ein Brahmane benimmt, wird er der Achtung verlustig gehen, die einem wirklichen Brahmanen gebührt. Was für Schwierigkeiten müßten sich erheben, wollte jeder zu Gerichte sitzen und Strafen und Belohnungen, Erniedrigungen und Erhöhungen austeilen! Die Hindus aber, die ihrer Religion gemäß an die Reinkarnation und an die Seelenwanderung glauben, wissen, daß die Natur in unfehlbarer Sicherheit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
239
das Gleichgewicht wiederherstellt, in dem sie einen Brahmanen, der sich unwürdig benommen, in einer niedrigeren Kaste reinkarniert, während sie den Brahmanen, der in seiner gegenwärtigen Inkarnation als Brahmane lebt, auch in der nächsten der Brahmanenschaft für würdig hält. Wenn ich also auch geneigt bin, für die vier Kasten der Hindus einzutreten, betrachte ich doch, wie ich schon oft ausgeführt, die Unberührbarkeit als ein abscheuliches Verbrechen an der Menschheit. Sie ist nicht ein Zeichen von Selbstbeherrschung, sondern ein anmaßender Anspruch auf Überlegenheit. Sie hat keinem nützlichen Zweck gedient und hat wie nichts sonst im Hinduismus eine große Zahl von Gliedern der Menschheit unterdrückt, die nicht nur in jeder Faser so gut sind wie wir selber, sondern auch in mannigfachen Berufen dem Lande wichtige Dienste erweisen. Es ist eine Sünde, von der sich der Hinduismus je eher je lieber befreien sollte, wenn er noch länger als eine ehrenhafte und hochstehende Religion angesehen werden will (v. Glasenapp). Gandhi selbst hatte einen erbitterten Kampf gegen die Auswüchse des Systems geführt und sich vor allem für die Unberührbaren eingesetzt. Die Gründung des unabhängigen indischen Staates bot eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
239
gute Gelegenheit, die notwendigen Änderungen konstitutionell zu verankern. So enthält die im Jahre 1950 in Kraft gesetzte Unionsverfassung einige wichtige, die Grundrechte der indischen Bürger betreffende Bestimmungen, die uns selbstverständlich erscheinen mögen, für Indien aber revolutionär sein mußten, da sie im Gegensatz zu dem altüberlieferten Brauchtum und der Kastenordnung standen. Die wesentlichsten Paragraphen sind folgende: Der Staat darf keiner Person Gleichheit vor dem Gesetz oder den Schutz durch das Gesetz verweigern. (Paragraph 14) Der Staat darf keine Bürger benachteiligen aus Gründen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, Rasse oder Kaste oder seines Geschlechts oder seiner Geburtsstellung wegen. Keinem Bürger darf aus diesen Gründen der Zutritt zu Läden, zu öffentlichen Gasthäusern und Unterkünften oder Vergnügungsstätten verweigert werden, noch die Benutzung von Brunnen, Teichen, Bade-Ghats, Straßen und anderen Plätzen, die der Allgemeinheit dienen. (Paragraph 15) Alle Bürger haben zu den Staatsämtern den gleichen Zugang und die gleiche Möglichkeit. (Paragraph 16) Die »Unberührbarkeit« ist abgeschafft und ihre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
239
Aufrechterhaltung in irgendwelcher Form ist verboten. Die Durchsetzung irgendwelcher aus Unberührbarkeit sich ergebenden Rechtsnachteile soll ein gemäß den Gesetzen strafbares Vergehen sein. (Paragraph 17) Man kann nicht erwarten, daß eine gedruckte Verfassung die Mißstände allein schon beseitigt. An der Ausrottung der Unberührbarkeit ist dennoch kein Zweifel erlaubt. Das Kastenwesen jedoch wird weiter ein Streitpunkt der verschiedenen politischen Richtungen bleiben. Manche im heutigen technisierten Leben sich einstellenden Gewohnheiten, das Miteinander in Eisenbahn und Autobus, die Emanzipation durch die Arbeit in den Industriewerken und gewerkschaftliche Bindungen, die geistige Loslösung von traditionellen Vorstellungen seitens der »westlich« ausgerichteten Studenten haben weite Breschen geschlagen; aber die Masse des Volkes lebt in den unzähligen Dörfern, und dort ist das Kastenwesen oft noch völlig unerschüttert. Große Bedeutung kommt daher den Fünfjahresplänen zu, die auf dem Wege der Industrialisierung, der wirtschaftlichen Erschließung des Landes und der Sozialisierung der Dörfer bewußt revolutionär ausgerichtet sind und trotz aller konservativen Strömungen die Umwandlung der bisherigen Sozialstruktur in eine dynamische Gesellschaftsordnung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
240
zum Ziele haben. Viele wirtschaftliche Maßnahmen müssen jedoch notwendig einen zweiten Schritt vor dem ersten bedeuten, solange das Schulwesen mit der stürmischen Entwicklung nicht Schritt halten kann. In Anbetracht der gewaltigen Größe des Landes und der sich ständig noch vermehrenden Bevölkerungszahl sind die bisherigen Fortschritte zwar erheblich, aber doch immer noch Anfangsschritte. Die große Auseinandersetzung der indischen Kultur mit dem technischen Zeitgeist hat erst am Rande begonnen. Man glaubt, daß der Hinduismus dank seiner oft bewiesenen Assimilationsfähigkeit mit den Problemen der modernen Zeit besser fertig werden kann als dogmatische Geistesrichtungen. Die notwendige Anhebung des geistigen Niveaus der Massen bietet dem in den Gliedern sich ständig reformierenden Hinduismus in der Tat die Chance, seine uralten Traditionen mit den wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Forderungen der Neuzeit in Einklang zu bringen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Herbert Härtel: Indien
Anhang: Abbildungen ¤ Der Buddha. Oberkörper einer Sandsteinskulptur aus Sarnath, 5. Jahrhundert. Archaeological Museum ¤ Decke in einem der Delwara-Marmortempel auf dem Mount Abu, 12. Jahrhundert ¤ Vierarmiger Vishnu. Bronzestatuette, 7. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ Tötung des Stierdämonen Mahisha durch Durga, die Gattin Shivas. Steinskulptur von einem Schrein, 9. Jahrhundert. Amber, Archaeological Museum ¤ Prinz und Einsiedler. Islamische Miniatur, um 1700. Berlin, Staatliche Museen, Islamisches Museum ¤ Das Tschar Minar. Stadttor im Haiderabad, 1591 ¤ Shiva und Parvati mit ihren Kindern Ganesha und Karttikeya und mit den Symboltieren Stier, Löwe, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
228
Ratte und Pfau. Indische Miniatur der Kangra-Schule, Anfang 18. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatl. Museen, Indische Kunstabteilung
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Herbert Härtel: Indien
Anhang: Facsimile ¤ Bericht über die Situation in Calcutta im Jahr 1757. Robert Clive an den Lordkanzler Earl of Hardwicke, 23. Februar 1757. London, British Museum ¤ [2. Seite] ¤ [3. Seite] ¤ [4. Seite]
Mit achtzehn Jahren kam Robert Clive nach Madras als Schreiber in die Zivilverwaltung der Ostindischen Kompanie. Nach der Einnahme der Stadt durch die Franzosen unter Dupleix floh Clive nach Fort St. David in Südindien, wo er zum Fähnrich avancierte. Der Machtkampf auf den europäischen Kriegsschauplätzen zwischen England und Frankreich während des österreichischen Erbfolgekrieges wirkte sich auf die Stellung der Europäer in Indien ungünstig aus. Dort war die Macht der Mogulkaiser an Vizekönige gefallen, von denen der Nawab von Bengalen Siraj ad Daula 1756 die Stadt Calcutta eroberte. Im gleichen Jahr wurde Clive als Gouverneur von Fort St. David erneut nach Indien beordert. Von der englischen Flotte unterstützt, konnte er mit einem kleinen Heer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
232
Calcutta und das Fort William zurückerobern, die weit überlegenen Streitkräfte des Nawab am 4. Februar 1757 in die Flucht schlagen und einen günstigen Vertrag für die Ostindische Kompanie aushandeln. Über diese Ereignisse berichtet der wiedergegebene Brief Clives. Einige Monate später errang er am 23. Juni 1757 den entscheidenden Sieg über den Nawab bei Plassey und wurde der Begründer des englischen Empire in Indien. [Transkription] My Lord The Countenance Your Lordship was pleas'd to shew me when in England has embolden'd me to address a few Lines to your Lordship on the Subjeet of the East India Comp(an)y – No doubt your Lordship has been accquainted with the Capture of the Town of Calcutta & of Fort W(illia)m by the Moors, the principal Settlement of the Kingdom of Bengal; & of the utmost Consequence to the East India Comp(an)y, to give your Lordship some Idea of the Richness of the Place, the Loss of private Property only is valued at more than 2 Millions Stirling, When this unfortunate News arriv'd at Madrass, the President & Council apply'd to Vice Admiral Watson Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
232
for his Assistance, in recovering the Comp(an)ys Rights Priviledges, & Possessions in the Province of Bengal and for the same purpose, order'd a large Body of Land Forces to embark under my Command, & I have the Pleasure to inform Your Lordship this Expedition by Sea & Land, has been crown'd with all the Success that could be wish'd – The Town of Calcutta & Fort W(illia)m were soon retaken with several other Forts belonging to the Enemy, & last of all Hughiey, the 2d. City in the Bengal Dominions, this News brought down the Nabob, or Prince of the Country himself at the Head of 20,000 Horse, & 30,000 Foot, 25 pieces of Cannon, with a great Number of Elephants, our little Army consisting only of 700 Europeans & 1200 Blacks, arm'd and disciplind after the English Manner, lay encamp'd about 5 Miles distant from the Town of Calcutta, on the – – – the Nabobs Army appear'd in Sight and past our Camp at about the Distance of 1 1/2 Miles, & encamp'd at the Back of the Town about the like distance from Fort W(illia)m several parties of Horse past within 400 Yards of our adv(ance)d Battery, but as we entertain'd great Hopes of a Peace from the Nabob's Promises, we did not fire upon them – On the – – – agreable to the Nabob's desire I dispatchd two Gentlemen to wait upon him, in hopes every thing might be settled without drawing the Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
232
Sword, but the Haughtiness & Disrespect with which he treated them, convinc'd me nothing could be expected by mild Measures, this determin'd me to attack his Camp in the Night time, for which purpose I apply'd to Vice Admiral Watson for 500 Sailors to draw our Canon & which he very readily comply'd with, and at 3 oClock in the Morning our little Army consisting of 600 European 800 Black, 7 Field pieces & the Sailors above mention'd, set out for the Attack, a little before day Break, we enter'd the Camp and receiv'd a very brisk fire, this did not stop the Progress of our Troops who march'd through the Enemy's Camp upwards of 4 Miles in Length, we were more than 2 Hours in passing & what escap'd the Van was destroyd by the Rear, we were oblig'd to keep up a constant fire of Artillery & Musketry the whole time, a Body of 300 Horse made one Gallant Charge, & were rec(eive)d with so much Coolness by the Military that few escap'd, several other brisk Charges were made upon our Rear but to no manner of Purpose, and we return'd safe to our Camp having kill'd by the best Accounts 1300 Men & between 5 & 600 Horse with 4 Elephants, the Loss on our Side amounted to 200 Men kill'd and wounded including Soldiers, Sailors and Blacks, this Blow had its Effect, for the next day the Army decamp'd, and the Nabob sent me a Letter offering Terms of Accommodation, & I have the Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
232
Pleasure to accquaint Your Lordship) a firm Peace is concluded greatly to the Honor & Advantage of die Comp(an)y – & the Nabob has enterd into an Alliance Offensive & defensive with them & is return'd to his Capital of Muxadavad. As your Lordship heretofore honour'd me with your favour and Protection, I flatter myself with the hopes of a Continuance of it & that if your Lordship thinks me deserving Your Lordship will recommend me to the Court of Directors. I am with the greatest Respect. Your Lordship's most devoted hum(ble) Serv(ant) Robert Clive Camp near Calcutta 33d Feby. 1757 Übersetzung Mylord, die Gesinnung, die Sie mir bei meinem Aufenthalt in England bewiesen haben, ermutigt mich, ein paar Zeilen über die Ostindische Kompanie an Euer Lordschaft zu richten. Ohne Zweifel ist Euer Lordschaft die Einnahme der Stadt Calcutta und des Fort William, der Hauptniederlassung im Königreich Bengalen, durch die Mohren bekannt. Sie ist für die Ostindische Kompanie von folgenschwerster Bedeutung, und um Euer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
232
Lordschaft einen Begriff von dem Reichtum der Stadt zu geben, so wird der Verlust an privatem Eigentum auf mehr als 2 Millionen Pfund Sterling geschätzt. Als die Unglücksnachrichten in Madras eintrafen, wendete sich der Präsident des Rates an Vizeadmiral Watson um Hilfe, um die Rechte, Privilegien und Besitzungen in der Provinz Bengalen wiederzuerlangen, und befahl die Einschiffung einer großen Truppenmacht von Landstreitkräften unter meinem Befehl. Ich habe das Vergnügen, Euer Lordschaft mitzuteilen, daß diese See- und Landexpedition von allem wünschenswerten Erfolg gekrönt worden ist. Die Stadt Calcutta und das Fort William waren mit mehreren anderen Forts, die dem Feind gehörten, bald zurückerobert, zuletzt auch Hughley, die 2. Stadt der bengalischen Gebiete. Diese Nachrichten riefen den Nabob oder Fürsten des Gebietes an der Spitze von 20000 Reitern, 30000 Mann Fußvolk, 25 Kanonen mit einer großen Zahl von Elefanten auf den Plan, während unser kleines Heer nur aus 700 Europäern und 1300 Schwarzen bestand, bewaffnet und ausgebildet nach englischem Muster. Sie lagen in ungefähr 5 Meilen Entfernung von der Stadt Calcutta in einem Lager. Am – – – kam das Heer des Nabobs in Sicht, marschierte in einer Entfernung von 1 1/2 Meilen an unserem Lager vorbei und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
232
kampierte im Rücken der Stadt ungefähr gleich weit entfernt von Fort William. Mehrere Reitertrupps zogen 400 Yards von unserer vorgeschobenen Batterie entfernt vorbei. Da wir durch die Versprechungen des Nabobs große Hoffnung auf einen Frieden setzten, feuerten wir nicht auf sie. Am – – – schickte ich auf Wunsch des Nabobs zwei Herren zu ihm, die ihm ihre Aufwartung machen sollten in der Hoffnung, alles werde sich ohne Schwertstreich schlichten lassen. Aber der Hochmut und die Nichtachtung, mit denen er sie behandelte, überzeugten mich, daß von milden Maßnahmen nichts zu erwarten war. Dies bestimmte mich zum Nachtangriff auf sein Lager, wozu ich von Vizeadmiral Watson 500 Seeleute erbat, die unsere Kanone ziehen sollten, wozu er sehr bereit war. Um 3 Uhr morgens brach unser kleines Heer, 600 Europäer, 800 Schwarze, 7 Feldkanonen und die erwähnten Matrosen zum Angriff auf, kurz vor Tagesanbruch betraten wir das Lager und erhielten lebhaftes Feuer. Dies hielt den Vormarsch unserer Truppen nicht auf, die durch das feindliche Lager von über 4 Meilen Länge marschierten. Wir brauchten mehr als 3 Stunden für den Durchzug, und was den ersten entging, wurde von der Nachhut vernichtet. Wir mußten während der ganzen Zeit ein dauerndes Artillerie- und Musketenfeuer unterhalten. Ein Trupp Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Härtel: Indien
232
von 300 Reitern machte einen tapferen Angriff und wurde mit so viel Kaltblütigkeit durch die Soldaten empfangen, daß wenige entkamen. Mehrere lebhafte Angriffe wurden ohne Erfolg auf unsere Nachhut gemacht, so daß wir sicher in unser Lager zurückkehrten, nachdem wir nach bester Schätzung 1300 Mann, zwischen 5 und 600 Pferde und 4 Elefanten getötet hatten; der eigene Verlust betrug 200 Mann tote und verwundete Soldaten, Matrosen und Schwarze. Dieser Schlag tat seine Wirkung, denn am nächsten Tag brach das Heer das Lager ab, und der Nabob schickte mir einen Brief mit dem Angebot von Friedensvorschlägen, und ich habe das Vergnügen, Euer Lordschaft mitzuteilen, daß ein gesicherter Friede sehr zur Ehre und zum Vorteil der Kompanie abgeschlossen worden ist, daß der Nabob ein Offensiv- und Defensivbündnis mit ihr vereinbart hat und daß er in seine Hauptstadt Murshidabad zurückgekehrt ist. Da Euer Lordschaft mich bisher mit Ihrer Gunst und Ihrem Schutz geehrt haben, schmeichle ich mir mit der Hoffnung auf ihre Fortsetzung und hoffe, daß Euer Lordschaft, wenn Sie mich für würdig halten, mich dem Court of Directors empfehlen werden. Mit dem größten Respekt bin ich Euer Lordschaft ganz ergebener Diener Robert Clive Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Lager bei Calcutta 23. Februar 1757
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Herbert Härtel: Indien
232
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
Montgomery Watt
Der Islam
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
241
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
243
Ursprünge und erste Expansion Wenn man das Wesen der islamischen Kultur und ihrer Geschichte verstehen will, muß man sich vor Augen halten, daß das religiöse Element und die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten eng ineinander verwoben sind. In der islamischen Kultur spielte die Religion eine beherrschendere und sichtbarere Rolle als in jeder anderen; das kommt schon in dem Begriff »islamisch« zum Ausdruck. Zwar gab es Zeiten, in denen auch das Christentum eine ähnliche Rolle spielte und als politische und kulturelle Größe angesehen wurde. Doch das gilt heute nicht mehr; wir bezeichnen die gegenwärtige Kultur als »europäisch« oder »westlich«. Das große Gewicht der Religion in der islamischen Welt besagt jedoch nicht, daß die Muslime etwa religiöser wären als die Menschen in anderen Kulturen. In Indien etwa stand die Religion in gewisser Hinsicht immer über allem anderen. Der heutige Soziologe kann auch nicht finden, daß der Religion in der islamischen Welt eine wesentlich andere Funktion zukäme als in den übrigen Kulturen. Vielleicht ergab sich die einzigartige Stellung der Religion in der islamischen Welt aus der besonderen Art und Weise, in welcher der Muslim die Religion begreift. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
243
Wer mit diesen Dingen vertraut ist, weiß, daß das arabische Wort din einen ganz anderen Inhalt hat als das Wort »Religion« im Deutschen, Englischen oder Französischen. Der Europäer betrachtet die Religion als seine Privatangelegenheit, in die sich der Staat nicht einzumischen hat, solange sie nicht die öffentliche Ordnung stört; Religion ist hauptsächlich Kultausübung und Quelle bestimmter ethischer Normen. Für den Muslim dagegen hat die Religion stets auch eine öffentliche und sogar offizielle Seite und bestimmt von Grund auf seine individuelle Lebensweise. Diese besondere Auffassung von Religion tritt klarer hervor, wenn wir die Geschichte des frühen Islam betrachten. Der politische Hintergrund Der Islam entstand und entfaltete sich in einer Umwelt, die – politisch gesehen – in erster Linie von dem gigantischen Ringen zwischen dem Byzantinischen und dem Persischen Reich und als dessen Folge von politischer und militärischer Schwäche beider Reiche geprägt war. Dieser Gesichtspunkt ist für das Verständnis der weiteren Entwicklung von grundlegender Bedeutung, wenn er auch in den arabischen Quellen und den älteren Biographien Muhammads nicht zum Ausdruck kommt. Ist man sich jedoch dessen einmal Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
244
bewußt geworden, dann werden viele geringfügige Einzelheiten bedeutsam, an denen man sonst vorübergegangen wäre. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Reichen spielte sich innerhalb eines weiten Gebietes ab. Beide hatten Einflußsphären über ihre gemeinsame Grenze hinaus, die sie mit allen Mitteln zu vergrößern suchten. Das Byzantinische Reich war mit dem Abessinischen oder Äthiopischen Reich zu einem gewissen Einverständnis gelangt, obwohl ihre offiziellen Theologien nicht miteinander harmonisierten, und die Byzantiner sahen es zweifellos nicht ungern, daß Abessinien im 6. Jahrhundert Anstalten machte, den Jemen und Südarabien zu annektieren. Weiter im Norden zahlten die Byzantiner den halbnomadischen Ghassanidenfürsten im Südosten Palästinas Tribut, damit sie ihre Raubzüge in das besiedelte Land unterließen. Manches spricht dafür, daß die Byzantiner gern einen ihnen ergebenen kleinen Fürsten in Mekka unterstützt hätten, falls einer dort an die Macht gekommen wäre. Auch die Perser waren in Arabien nicht untätig. In mehreren Städten am Persischen Golf und an der Südküste Arabiens lag die Regierung in den Händen einer pro-persischen Partei, die das Prestige der Perser auf ihrer Seite hatte und wahrscheinlich auch finanzielle und militärische Unterstützung erhielt. Für die Perser war es ein großer Erfolg, daß auf ihre Veranlassung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
244
hin um 570 die Abessinier von den Jemeniten vertrieben wurden und daß 597 eine See-Expedition den Jemen annektierte. Obwohl von ihrem Stützpunkt praktisch abgeschnitten, behauptete sich diese persische Truppe, später dann allerdings unter Schwierigkeiten, bis sie sich um 630 Muhammad ergeben mußte. Während die beiden großen Reiche bestrebt waren, ihren Einfluß in Arabien zu vergrößern, suchten die Handelsherren von Mekka ihre Neutralität zu wahren, dies wahrscheinlich deshalb, weil durch die Kriege zwischen den beiden Reichen der Handel zu großen Teilen auf die Landwege Westarabiens gelenkt worden war, den die Mekkaner fast vollständig in der Hand hatten. Die benachbarte Handelsstadt Ta'if, die eher geneigt war, mit den Persern zusammenzuarbeiten, wurde um 590 von den Mekkanern besiegt und unterworfen. Manche Handelsherren von Mekka hätten sich lieber an die Byzantiner gehalten, andere waren Persien wohlgesonnen, aber die überwiegende Mehrheit verfolgte standhaft eine Politik der Neutralität. Der Ruf Mekkas als einer neutralen Stadt inmitten der Auseinandersetzungen zwischen Byzanz und Persien mag später Muhammad geholfen haben, seine Macht in Arabien auszubreiten. Sicher ist jedenfalls, daß die bedrohten pro-persichen Gruppen Muhammad um Unterstützung baten, nachdem das Persische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
244
Reich im Jahre 628 zusammengebrochen war und die Mekkaner im Januar 630 Muhammad als Führer anerkannt hatten. Die unablässigen Kriege zwischen den beiden Reichen wirkten nicht nur auf die Verhältnisse in Arabien ein, sondern schufen auch in den umliegenden Gebieten eine der arabischen Expansion förderliche Situation. Obwohl die Byzantiner 628 einen entscheidenden Sieg über Persien davontrugen, hatte sie die Abwehr des persischen Feldzugs, der 614 zum Verlust Jerusalems führte, militärisch und finanziell geschwächt. Überdies herrschte in der Bevölkerung Syriens und Ägyptens schon seit über einem Jahrhundert wachsende Unzufriedenheit. Zwei häretische christliche Sekten, die Monophysiten und die Nestorianer, waren zu Sammelbecken der politischen Hoffnungen der syrisch und der koptisch sprechenden Christen geworden – ein Anzeichen mehr dafür, daß selbst bei den Christen im Nahen Osten die Religion eine gänzlich andere Rolle spielte als im modernen Europa. Die Unzufriedenheit war in den Kriegsnöten noch gewachsen, und offensichtlich haben die syrischen und ägyptischen Christen die Araber als Befreier von der verhaßten Griechenherrschaft begrüßt. Im Persischen Reich hatten die Kriegsanstrengungen nicht nur Erschöpfung, sondern schließlich den Zusammenbruch zur Folge gehabt. 628 wurde ein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
245
Kaiser ermordet, und auch der ihm nachfolgende Sohn war seines Lebens nicht mehr sicher. Als die Reste des Heeres von den Arabern entscheidend geschlagen wurden, zerfiel die gesamte Herrschaftsordnung. Auch im Volk herrschte Unmut. Die offizielle Religion des Reiches war der Zoroastrismus, aber seine Priesterschaft hatte sich im Laufe der Zeit zu bloßen Handlangern der Herrscher herabgewürdigt und so Respekt und Zuneigung weiter Teile der Bevölkerung verloren. Sie zögerten schließlich nicht, den Zoroastrismus gegen den Islam einzutauschen. In dieser politischen Situation entstand der Islam. Sie war dadurch gekennzeichnet, daß die bisherige Machtstruktur in dem ganzen Gebiet zusammengebrochen war. Die Zukunft gehörte derjenigen Gruppe oder politischen Größe, die eine neue Ordnung, das heißt einen Verwaltungsapparat zu schaffen imstande war, der sich auf ausreichende Militärmacht stützen konnte, wobei es jedoch hauptsächlich auf die Verwaltung ankam. Wo gab es eine solche politische Größe? Die Nomaden der arabischen Steppe hatten stets einen niedrigeren Lebensstandard als die seßhaften Bewohner Syriens und des Irak und waren deshalb ständig zu Raubzügen in die besiedelten Gebiete bereit, um sich dort die ihnen abgehenden Luxusgüter zu verschaffen; zudem waren sie dank dem harten Steppenleben die weitaus besseren Krieger. Ein Sieg Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
245
über reguläre persische Truppen im frühen 7. Jahrhundert hatte den Arabern Selbstvertrauen eingeflößt. Auch ohne Muhammad und seine religiöse Bewegung hätte ein Zusammenschluß arabischer Stämme ein Heer in das wankende Persische Reich entsenden können. Derartige Zusammenschlüsse zerfielen jedoch leicht, sobald ihr Anführer, der sie zusammengebracht hatte, starb; und ein solches Heer hatte oft kein anderes Ziel als Plündern. Es ist also höchst unwahrscheinlich, daß ohne die von Muhammad geschaffenen politischen Grundlagen eine arabische Macht erstanden wäre, die das Vakuum jenseits der Grenzen Arabiens hätte ausfüllen können. Die neue politische Größe Die neue politische Größe Muhammad entstand nicht unter Nomaden. Man hat oft das romantische Bild eines Arabers vor Augen, der allein durch die endlose Wüste zieht, überwältigt von dem Gefühl seiner Nichtigkeit und der Unendlichkeit des Seins, das alles beherrscht und deshalb von ihm als eine nackte, abstrakte Einheit erfaßt wird. Dieses Bild ist völlig falsch. Obwohl das Nomadentum einen indirekten Beitrag zum Islam leistete, war der Nomade in der Wüste selten ein guter Muslim. Der Islam wurde in der Handelsstadt Mekka konzipiert und in der Oase Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
246
Medina geboren, deren Bewohner vom Dattel- und Getreideanbau lebten. Der Islam entstand also als eine städtische Religion und ist in erster Linie eine städtische Religion geblieben, eine Religion der Kaufleute und nicht der Bauern. Wie hätten Bauern einen Kalender einführen können, der die Jahreszeiten nicht berücksichtigt? Das islamische Jahr von zwölf Mondmonaten oder 354 Tagen verschiebt sich aber fortgesetzt im Verhältnis zu den Jahreszeiten. Wenn auch diese Faktoren vom Denken Muhammads nicht direkt erfaßt worden sind, so reagierte er doch auf sie in seinem Handeln und seinen Lehren. Strenggenommen müßte man zwischen der Lehre des Koran und den eigenen Vorstellungen Muhammads unterscheiden, denn Muhammad erklärte, der Koran sei ihm aus einer Sphäre jenseits seines Bewußtseins eingegeben worden, und rein historisch gesehen, hat der moderne Gelehrte keinen Grund, an Muhammads Aufrichtigkeit in diesem Punkt zu zweifeln. Hier spielen auch theologische und psychologische Fragen mit hinein, die aber in diesem vor allem historischen Essay beiseite bleiben können. Selbst wenn man aber einräumt, daß der Koran nicht das Werk von Muhammads Bewußtsein war, dann hat Muhammad sich doch die Ideen des Koran vollkommen zu eigen gemacht, und so kann man getrost den ganzen Ideenkomplex, den man im frühen Islam findet, für die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
246
Lehre Muhammads nehmen. Muhammad war auch in dem Sinne aufrichtig, daß er bestimmte Ideen verkündete, weil er sie für wahr hielt und nicht weil er hoffte, sie würden eine Lage herbeiführen, wie er sie sich wünschte. So lehrte er, daß die Menschen am Jüngsten Tag einzeln vor Gott hinzutreten hätten, um entsprechend ihren Taten Belohnung oder Strafe zu empfangen. Der Gelehrte erkennt aber auch, daß diese Lehre im Zusammenhang mit den in Mekka herrschenden sozialen Mißständen zu sehen ist, denn sie machte im Rahmen einer Individualethik die Existenz eines Gerichts zur Gewißheit, und man konnte erwarten, daß dies jene reichen Mekkaner veranlassen würde, die Pflichten oder Sanktionen der nomadischen Gemeinschaftsethik nicht länger zu beachten. Als Muhammad um 610 in Mekka zu predigen begann, hatten die großen Kaufleute den einträglichen Handel über die Karawanenwege nahe der Westküste Arabiens vollständig in der Hand. Waren aus Südarabien, Abessinien und sogar aus Indien gelangten nach Gaza und Damaskus und andere im Austausch dagegen in die entsprechenden Länder. Die Stadt blühte, aber die Prosperität hatte dank der besonderen Sozialordnung Mekkas zu Mißständen geführt, denn noch galt die Stammesordnung der Wüste. Die Angelegenheiten der Stadt wurden von einem Rat geregelt, der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
246
sich aus den Oberhäuptern der in Mekka wohnhaften Unterstämme und Klans zusammensetzte. Auch diese Stammesoberhäupter waren Kaufleute, von unterschiedlichem Wohlstand zwar, aber wegen ihrer gemeinsamen kommerziellen Interessen häufig der gleichen Ansichten; überhaupt waren die Mekkaner bekannt für die Nüchternheit und Vorsicht ihrer Entschlüsse. Doch besaß der Rat keine Exekutivgewalt. Ein Häuptling übte eine gewisse Macht über seinen eigenen Klan aus, aber die Beziehungen der Klans untereinander standen immer noch unter dem Gesetz der Blutrache. Die Wurzeln der Mißstände scheinen in dem Umstand gelegen zu haben, daß die großen Handelsherren dann an der Stammesordnung festhielten, wenn es ihnen zum finanziellen Vorteil gereichte, sie aber ignorierten, sobald sie lästige Verpflichtungen mit sich brachte, etwa die Unterstützung von Witwen und Waisen und anderer weniger begünstigter Angehöriger ihres Klans. Statt dessen widmeten sie sich skrupellos der Mehrung des eigenen Reichtums. Wer von den einträglichsten Handelsgeschäften ausgeschlossen war – etwa die jüngeren Brüder und Söhne der reichen Leute –, war natürlich unzufrieden. Auch Muhammad als Waise mußte das erleben, denn Waisen kamen nicht in den Besitz des väterlichen Erbes. Erst nach seiner Eheschließung mit der wohlhabenden Chadidscha besserte sich seine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
247
finanzielle Lage. Die sozialen Mißstände in Mekka waren also hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß die Sitten des Nomadentums in einer Gesellschaft beibehalten wurden, die das Nomadenleben aufgegeben hatte und sich im Handel betätigte. Auch in Medina herrschten soziale Mißstände, die ebenso auf einer Wandlung der Wirtschaftsform beruhten. Aber hier handelte es sich um den Übergang von Nomadentum zur Landwirtschaft (mit nur wenig Handel). In dem halben Jahrhundert vor der »Auswanderung« Muhammads nach Medina im Jahre 622 (der hidschra oder hegira) hatte es in der Oase eine Reihe immer heftiger werdender Kämpfe zwischen Stammesbünden oder Klans gegeben. So viel Blut war dabei geflossen, daß eine Aussöhnung schwierig wurde, und so herrschte um 622 kein eigentlicher Friede in der Oase, sondern eher eine Waffenruhe aus Erschöpfung. Die Blutrache als Ausdruck gemeinschaftlicher Verantwortung und das harte Gesetz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« vermögen unter bestimmten Umständen durchaus ein gewisses Maß an Achtung vor Leib und Leben zu gewährleisten. Bei den Nomadenstämmen in der Wüste, die nur gelegentlich und flüchtig miteinander in Berührung kamen, erfüllte es einigermaßen diesen Zweck. Wenn aber Menschen auf wenigen Quadratkilometern in einer Oase zusammenleben müssen, versagt dieses System, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
247
da sie sich nicht über die Vergleichbarkeit der Werte verständigen können. Und selbst in der Wüste war einmal lange Krieg geführt worden, weil sich zwei Stämme nicht darüber einigen konnten, ob das Leben eines Jungen ebensoviel wert wäre wie das eines großen Häuptlings. Medina brauchte also dringend eine unparteiische Persönlichkeit, die in solchen Streitfragen zu entscheiden imstande war. Vor 622 hatten einige Klanoberhäupter diese Position angestrebt, doch keiner war allgemein akzeptiert worden. Im wesentlichen ging es also um den unparteiischen Schiedsrichter, als fast alle Klans von Medina Muhammad aufforderten, sich bei ihnen niederzulassen. Anfangs war er auch keineswegs der Herrscher in Medina, sondern lediglich Oberhaupt eines Klans unter vielen, nämlich des seiner mekkanischen Anhänger. Aber als Fremder war er in den Rivalitäten innerhalb Medinas nicht Partei und genoß zudem das Ansehen eines anerkannten Propheten. Darüber hinaus jedoch besaß er keinerlei politische Autorität. Nur sein Takt in der Menschenbehandlung, seine strikte Unparteilichkeit und seine militärischen Erfolge gewannen ihm das Vertrauen der meisten Bewohner Medinas und schließlich die Alleinherrschaft über die Stadt. Der Gegensatz zwischen Muhammads Scheitern in Mekka und seinem Erfolg in Medina ergab sich hauptsächlich aus den unterschiedlichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
247
Verhältnissen in den beiden Städten. In Mekka verband die meisten großen Handelsherren ihr gemeinsames Geschäftsinteresse, das zuweilen stärker war als alle Stammesbindungen. Sie glaubten sich von Muhammad in ihrer Stellung bedroht, und zwar nicht wegen der Zahl seiner Anhänger, wahrscheinlich nicht einmal wegen seiner Angriffe auf den Polytheismus, sondern einfach deshalb, weil alle Araber Weisheit respektieren; ein Mann aber, dem übernatürliche Offenbarungen zuteil wurden, war selbstverständlich in außerordentlichem Maße mit Weisheit begabt. So fürchteten sie, er könnte sie aus ihrer beherrschenden Position verdrängen, und schlossen sich gegen ihn zusammen, um ihm den weiteren Aufstieg zu verwehren. In Medina dagegen ließen die Rivalitäten der führenden Männer und der beiden mächtigsten Klanverbände Raum genug für einen unparteiischen Schiedsrichter, und Muhammad erwies sich als der geeignete Mann, diesen Raum auszufüllen. Die großen Handelsherren Mekkas erkannten Muhammad erst an, nachdem er sich deutlich sichtbar als erfolgreicher und mächtiger als sie selbst erwiesen hatte und außerdem bereit war, alle ihre Fähigkeiten seiner neuen politischen Größe dienstbar zu machen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
248
Die politische Bedeutung der Lehre Muhammads Muhammads öffentliche Predigten befaßten sich auch mit der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation in Mekka und Medina, was natürlich nicht besagt, daß er diese Aspekte bewußt analysiert hätte. In sozialen Mißständen haben Ideen eine doppelte Funktion: Sie geben ein »Bild« von der tatsächlichen Lage, und sie geben Hinweise auf die Mittel und Wege, den ihr inhärenten Problemen – also den Ursachen der Mißstände – beizukommen. Im Gegensatz zu der Meinung der mekkanischen Kaufleute, sie hätten ihren Besitz und Wohlstand hauptsächlich ihrer eigenen Geschicklichkeit und dem ererbten Kapital zu danken, betont der Koran (vor allem in der 106. Sure), daß Wohlstand und Sicherheit allein von Gott kämen, woraus folgt, daß sie ihm dankbar zu sein und ihn zu verehren hätten. Der Koran betont darüber hinaus, Gott habe den Menschen befohlen, nicht geizig zu sein und keine Reichtümer anzuhäufen, sondern den Elenden zu helfen. Und er droht den Selbstsüchtigen mit harten Strafen am Jüngsten Tag. Das wäre, sofern die Menschen daran glaubten, ein triftiger Grund, sich großzügig zu erweisen. Vom heutigen Standpunkt aus enthielt also die Lehre vom Jüngsten Gericht eine Heiligung von Tugenden wie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
248
der Freigebigkeit und der Fürsorge für die Armen, die unter den individualistischen Bedingungen in Mekka vernachlässigt wurden, das heißt konkret: vernachlässigt von den reichen Mekkanern, die sich über die Prinzipien der Gemeinschaftsmoral des Nomadentums erhaben dünkten. Politisch gesehen war die wichtigste der in Muhammads Lehre enthaltenen Ideen die der Gemeinschaft, der umma. Diese Idee nahm schon in Mekka Gestalt an, prägte sich jedoch erst nach der Auswanderung nach Medina deutlicher aus. Die Gemeinde eines Propheten bestand aus den Menschen, denen er gesandt war und die ihm anhingen; und in Medina war es recht einfach, die Anhänger Muhammads, also seine Gemeinde, von denen zu unterscheiden, die sich nicht zu ihm bekannten. Formell entstand die Gemeinschaft bereits in Mekka durch ein Abkommen zwischen Muhammad und Vertretern Medinas. Einige Artikel dieser ersten Übereinkunft mögen in dem Dokument erhalten sein, das man gelegentlich »Gemeindeordnung von Medina« genannt hat. Bemerkenswerterweise kann man sie entsprechend älteren arabischen Vorstellungen als Bündnis von Sippen interpretieren; und als solches wird es Geltung gehabt haben. Was diesen Bund jedoch zur islamischen Gemeinschaft machte, war der Umstand, daß er auf einer religiösen Basis beruhte. Die Sippen, aus denen sich der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
249
Bund zusammensetzte, bekannten sich denn auch zum Islam und zum Prophetentum Muhammads. Kurz: die Gemeinschaft war ein Sippenbund, aber ihre Grundlage war nicht die Sippe, sondern die Religion. Diese Stammesstruktur bewahrte Ihre Bedeutung auch im islamischen Staat, und zwar über einen längeren Zeitraum, als man gemeinhin angenommen hat. Während der ganzen Umajjadenzeit (also bis 750) bestand das Heer vorwiegend aus Stammesaufgeboten, die gewöhnlich in Lagern oder Lagerstädten zusammengefaßt waren. Der Stamm oder die Sippe war auch die Basis für die Verteilung der Anteile, die der Staat den Kriegern auszahlte. Die Vorstellung, der Stamm habe seine Bedeutung verloren, mag auf die häufigen Berichte zurückgehen, daß Einzelne zum Islam übertraten und sofort von den Muslimen als Brüder aufgenommen wurden. So wird zwar der Glaubenswechsel im allgemeinen vor sich gegangen sein, aber zum Funktionieren eines differenzierten Verwaltungsapparats gehörte mehr. Wenn der Neubekehrte nicht schon einem Stamm innerhalb des Bundes angehörte, mußte er sich einem solchen anschließen. Dies geschah dadurch, daß man ihn zum »Klienten« (maulà, Plural mawali) eines Mitgliedsstammes machte. In der ersten Zeit in Medina wurden Muslime nichtverbündeter Stämme, die sich dort niederließen, Klienten von Muhammad selbst und seinem »Stamm« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
249
von Emigranten. Auch dies entsprach einem vorislamischen Brauch, und es stärkte überdies die Stellung Muhammads in Medina. Später galten gemeinhin alle arabischen Stämme außer den christlichen als mit Muhammad verbündet. Das war nun offensichtlich nicht der Fall, denn einige Stämme standen Muhammad als ganze feindselig gegenüber, doch man gab sich alle Mühe zu beweisen, daß mindestens ein Teil der einzelnen Stämme mit Muhammad verbündet war, und die Zeugnisse dafür, so unzureichend sie oft waren, mögen stillschweigend als gültig akzeptiert worden sein. Als dann noch später nichtarabische Stämme zum Islam übertraten, war es selbstverständlich, daß sie zugleich Klienten eines arabischen Stammes werden mußten. Die Unzufriedenheit der nichtarabischen Muslime mit diesem Status, der sie zu minderwertigen Gliedern der Gemeinschaft stempelte, war einer der Faktoren, die dann zum Untergang der Umajjaden und zur Machtergreifung der 'Abbasiden führten. Die islamische umma kann also nach den älteren arabischen Vorstellungen als Stammesverband – oder eben als Überstamm – aufgefaßt werden. Eine andere Art politischer Einheit konnten sich die Araber nicht vorstellen. In ihren Geschichten über den byzantinischen Kaiser und seinen Hofstaat geht es genauso zu wie unter den Würdenträgern eines arabischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
249
Stammes. Was jedoch die umma von anderen Bündnissen unterschied, war die Leichtigkeit, mit der ihr neue Gruppen beitreten konnten. Sobald ein Stamm oder auch eine kleinere Gruppe sich zum Glauben an Gott und an das Prophetentum Muhammads bekannte und sich bereit erklärte, gewisse kultische und finanzielle Pflichten zu erfüllen, war sie in die umma aufgenommen. Das bedeutete, daß sie an der pax Islamica teilhatte. Sie war vor Überfällen anderer Mitglieder der umma sicher und konnte auf Unterstützung rechnen, wenn sie von außen angegriffen wurde. Ebenso boten die alten Stammesvorstellungen eine einfache Methode für die Behandlung nichtmuslimischer Gruppen. In der Wüste konnte ein mächtiger Stamm – gegen Geldzahlungen oder aus anderen Gründen – einen schwächeren in seinen Schutz nehmen. Noch zu Lebzeiten Muhammads wurden kleine jüdische und christliche Siedlungen unter die Fittiche der islamischen Gemeinschaft genommen, wofür sie Tribut zahlten. Als der islamische Staat Gebiete in Syrien, im Irak und in entfernteren Gegenden annektierte, wurden die nichtmuslimischen Gruppen in gleicher Weise behandelt. Die Einzelheiten wurden mit jedem Stamm oder jeder Religionsgemeinschaft gesondert ausgehandelt, wobei der Tribut und die sonstigen Verpflichtungen glimpflicher ausfielen, wenn sich die Gruppe kampflos ergeben hatte. Gewöhnlich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
250
erhielt sie dann die volle innere Autonomie unter ihrem geistlichen Oberhaupt, das der Regierung in Medina gegenüber für die Erfüllung der Verpflichtungen der Gruppe verantwortlich war. Dieses System der »Hirsekörner« blieb im Vorderen Orient bis zur Auflösung des Osmanenreiches bestehen und ist noch heute in Spuren erkennbar, da keine andere befriedigende Minderheitenpolitik gefunden wurde. Nach dem Buchstaben des Koran hätte dieses System nur gegenüber den »Schriftbesitzern« angewandt werden dürfen, das heißt gegenüber Monotheisten, die heilige Schriften besaßen. Aber die diesbezüglichen Bestimmungen wurden großzügig ausgelegt und in Indien sogar auf die Hindus angewandt. Es war für den mächtigen Stamm eine Ehrensache, dem schwächeren, das heißt dem »Hirsekorn«, wirksamen Schutz zu gewähren. So standen im allgemeinen die islamischen Herrscher in einem besseren Ruf als die christlichen, andere Glaubensrichtungen zu tolerieren und zu beschützen. Gelegentlich mochte zwar der muslimische Herrscher Gewalttätigkeiten stillschweigend dulden, normalerweise aber galt es als unehrenhaft, wenn er seine Schutzpflichten vernachlässigte. Soweit die umma mit einem Stamm vergleichbar war, entsprach Muhammads Stellung der eines Stammesoberhaupts. Während aber ein Stammeshäuptling ein Viertel der Beute bekam, die Stammesmitglieder Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
250
bei einem Raubzug an sich gebracht hatten, erhielt Muhammad ein Fünftel aus der Beute seiner Anhänger. Sein Prophetentum verlieh ihm Ansehen, aber keine besonderen politischen Rechte. Er konnte nicht anordnen, was ihm gefiel. Obwohl nur durch ihn das geoffenbarte Recht, wie es im Koran niedergelegt ist, in die umma Eingang fand, war er selbst diesem Recht und dessen Sachwaltern unterworfen, sofern er die Angelegenheiten der umma versah. In die Position des obersten Verwalters der umma folgten ihm die »Kalifen« nach – chalifa bedeutet »Nachfolger« oder »Vertreter«. Ihnen fehlte das Ansehen des Prophetentums, und da sie im wesentlichen nur das geoffenbarte Recht ausführten, besaßen sie anfangs keine absolute Macht. Das sollte sich jedoch im Laufe der Zeit ändern. In der Konzeption der umma liegt auch das Geheimnis der großen arabischen Expansion. Es wurde bereits vermerkt, daß es für außenstehende Stämme leicht war, sich der umma anzuschließen. Zudem war es bei den arabischen Verhältnissen praktisch unvermeidlich, daß sich die umma weiter ausbreitete, nachdem sie einmal mit der Expansion begonnen hatte, und zwar wegen der bedeutsamen Rolle, die der Raubzug im Leben der arabischen Nomaden spielte. In der Wüste war jeder Stamm eine souveräne politische Einheit und befand sich potentiell mit allen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
250
anderen Stämmen im Kriegszustand; nur solche Stämme waren ausgenommen, mit denen sie – sei es von gleich zu gleich oder in einem Schutzverhältnis – ein Bündnis eingegangen war, und üblicherweise auch die verwandten Stämme, wenn sich auch einige der erbittertsten Kämpfe gerade zwischen eng verwandten Stämmen abspielten. Man enthielt sich auch feindseliger Akte gegenüber solchen Stämmen, deren Rache man zu fürchten Grund hatte. Dennoch blieben genügend Gruppen, gegen die man einen Raubzug zu unternehmen bereit war. Ein Raubzug war ein überraschender Überfall auf einen anderen Stamm mit dem Ziel, dessen Kamele, Schafe und zuweilen auch Frauen wegzuschleppen, wobei es oft ohne nennenswerten Kampf abging. Der Raubzug war unter Nomaden fast eine Art Sport, aber soweit er Menschenleben forderte, bedeutete dies auch, daß der Druck auf die spärlichen Wasser- und Lebensmittelvorräte vermindert wurde. Nun entsprach die islamische umma einem Stamm oder einem Bund, und deshalb durften ihre Mitglieder keine Raubzüge gegeneinander unternehmen. Raubzüge durften sich nur noch gegen Andersgläubige richten, also gegen Stämme, die sich noch nicht Muhammads Bund angeschlossen hatten: Aus dem vorislamischen Raubzug wurde der dschihad, der »Heilige Krieg«. Das bedeutete jedoch nicht, daß die daran Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
251
Beteiligten unbedingt religiöse Fanatiker waren. Es war eher eine Frage der Stoßrichtung, die muslimischen Raubzüge hatten sich auf Andersgläubige zu beschränken. Anfangs war die Schlagkraft der umma nicht größer als die vieler anderer Stämme in der Nachbarschaft von Medina. Aber sie nahm allmählich zu, und gleichzeitig wuchs auch die Reichweite der pax Islamica, die Raubzüge innerhalb ihres Geltungsbereichs verbot. Schwachen Gruppen an der Peripherie dieses Gebietes, nach wie vor den muslimischen Überfällen ausgesetzt, blieb, wollten sie bestehenbleiben, kaum etwas anderes übrig, als um Aufnahme in die umma zu bitten. Zwischen dem Sieg von Hunain im Januar 630 kurz nach dem Einzug Muhammads in Mekka und dessen Tod im Juni 632 erweiterte sich der Bereich der pax Islamica rasch und umfaßte bald nahezu die gesamte arabische Halbinsel. Muhammad hatte vermutlich schon einige Jahre zuvor die Notwendigkeit eingesehen, die kriegerische Energie der Araber nach außen zu lenken, die sie schließlich über Arabien hinaus in den Irak und nach Syrien führen mußte. Er hatte einer besonders starken Kampfgruppe den Auftrag gegeben, in Syrien einzufallen, und wahrscheinlich auch mit den Stämmen an der irakischen Grenze verhandelt. Abu Bakr, der erste Kalif, erkannte, daß die Expansion nicht aufzuhalten war, und entsandte trotz der bedrohlichen Situation in Medina Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
251
nach Muhammads Tod die schon bereitstehende Kampfgruppe nach Syrien. Als der Kalif 'Umar im Jahre 634 die Nachfolge antrat, waren die inneren Schwierigkeiten überwunden, und der neue islamische Staat, stärker denn je, stand bereit, den Zusammenbruch der Machtgebilde im Irak, in Syrien und Ägypten zu eigenem Vorteil zu nutzen. Zudem war das Gleichgewicht der Kräfte innerhalb der umma derart labil, daß dieser Staat nur weiterbestehen konnte, wenn er sich dieser Gebiete bemächtigte: Die große arabische Expansion begann, und aus dem bisher Gesagten wird klar, weshalb sie fortschreiten mußte, bis die Kräfte der Araber erlahmt waren. Die entscheidende Wende trat ein, wenn neues Land erobert wurde, und besonders, wenn die Grundbesitzer geflohen waren und nur diejenigen, die das Land tatsächlich bebauten, zurückgelassen hatten. Dem alten arabischen Brauch (ihm wären die Stämme an der irakischen Grenze treu geblieben, hätten sie sich nicht mit Medina verbündet) hätte es entsprochen, das Land aufzuteilen und die Privilegien eines Grundbesitzers zu genießen oder alles bewegliche Gut zu plündern und sich wieder in die Wüste zurückzuziehen. Es waren zweifellos Männer aus der mekkanischen Händlerschicht, an ihrer Spitze der Kalif 'Umar, die den weitreichenden Entschluß faßten, das Land Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
252
ungeteilt zu lassen und es als gemeinschaftliches Eigentum aller Muslime zu verwalten. Was immer das Land einbrachte, wurde in einen gemeinsamen Fonds einbezahlt, und alle muslimischen Kämpfer – im Grunde also alle erwachsenen Männer – erhielten eine jährliche Pension. So wandelten sich die räuberischen Stämme dank der Institution des diwan, wie die Einrichtung dieses Verfahrens genannt wurde, in ein stehendes Heer, ja sogar in die Militäraristokratie eines Staates, der bald zu einem Reich werden sollte. Nach der Eroberung Syriens versperrte Byzanz die Expansion nach Norden, wenn es auch weiter unablässig bedrängt wurde. Doch im Osten und Westen gab es wenig, das die Muslime hätte aufhalten oder ihr Vorrücken auch nur verzögern können. Im Osten fielen sie nach Persien ein, dessen Zentralregierung sich aufgelöst hatte, und stießen in nordöstlicher Richtung nach Samarkand und weiter im Südosten in den Panjab vor; in westlicher Richtung ergossen sie sich von Syrien aus über Ägypten und Nordafrika bis nach Marokko und Spanien. Die Expansion vollzog sich stets nach dem gleichen Schema. Auf ihren Raubzügen drangen die Muslime immer tiefer in nichtmuslimisches Gebiet ein. Dort richteten sie Stützpunkte ein, bisweilen regelrechte Lagerstädte, die die weiten Reisen zu den Ausgangsbasen überflüssig machten. So konnten ihre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
252
nächsten Expeditionen von da aus weiter vorstoßen. Inzwischen nahm in den für die Muslime leicht erreichbaren Gebieten der größte Teil der Bevölkerung den Status von Schutzbefohlenen unter muslimischer Herrschaft an. Einige nichtarabische Gruppen, vor allem im östlichen Persien und unter den Berbern Nordafrikas, wurden Muslime im Klientenstatus, beteiligten sich an den Feldzügen und vermehrten dadurch das verfügbare Menschenpotential, denn es war ein Grundprinzip des islamischen Staates, daß die Teilnahme am »Heiligen Krieg« allein den Muslimen als Privileg und Pflicht zustand, nicht aber den Andersgläubigen im Schutzverhältnis. Nur hin und wieder stießen die Muslime auf ernsthaften Widerstand, der jedoch rasch gebrochen wurde. Die Richtung des Vorstoßes scheint weitgehend von den Beutechancen bestimmt gewesen zu sein, und der Vormarsch kam sehr schnell zum Stehen, sobald die erstrebte Beute den Aufwand nicht mehr lohnte, sei es, weil örtlicher Widerstand zu überwinden war oder sei es, daß irgendwelche Härten, etwa als Folge klimatischer Unbilden, erschwerend einwirkten. Es war ein Raubzug dieser Art, der von Karl Martell 732 bei Tours und Poitiers besiegt wurde; seitdem sind die Muslime nie wieder so weit nach Westeuropa vorgedrungen. Zweifellos wurde diese Expedition nur deshalb nicht wiederholt, weil ein zureichender Anreiz dafür fehlte. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
252
Man muß auch bedenken, daß die Macht, die die Muslime in den Randgebieten ihres Reiches auszuüben vermochten, von Zeit zu Zeit von Spannungen im Inneren ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen war. Die Behauptung, der Islam sei mit Hilfe des Schwertes verbreitet worden, muß also sorgfältig modifiziert werden. Für das erste Jahrhundert seines Bestehens etwa läßt sich der islamische Staat am ehesten als Militäraristokratie umschreiben. Die Muslime dienten – wenigstens in der Theorie – ausnahmslos im Heer oder in der Verwaltung und bezogen vom Staat Pensionen, während die Nichtmuslime dem Schutzverband angehörten und Tribut zahlten. Der Staat dehnte sich zwar dank kriegerischer Aktionen aus, doch als deren unmittelbare Folge wuchs nicht etwa die Zahl der Muslime, sondern die der Schutzbefohlenen. Die Bewohner eines eroberten Gebietes wurden also vor die Wahl gestellt, entweder das Schwert oder das Schutzverhältnis. Nur in Arabien, wo man es mit »Götzendienern« zu tun hatte, galt die Alternative Islam oder das Schwert, da nur die »Schriftbesitzer« in ein Schutzverhältnis genommen werden konnten. Es gab allerdings auch in Arabien Christen – Nomaden wie Seßhafte – und seßhafte Juden, denen man ihre Religion beließ, wenn sie auch später die arabische Halbinsel verlassen mußten, vermutlich weil diese weitgehend von kampffähigen Muslimen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
253
entblößt war. In einigen wenigen Fällen nur kamen bereits unmittelbar nach der Eroberung eines Gebiets Übertritte zum Islam vor, meistens vollzog sich jedoch die Islamisierung erst im Laufe von mehreren Jahrhunderten und ging auf das Zusammenwirken verschiedener Sozialfaktoren zurück. Die Expansion des islamischen Staates beruhte also auf der Verbindung von religiösem Eifer und dem höchst irdischen Streben nach Beute. Diese beiden Motive waren so eng ineinander verflochten, daß wahrscheinlich keiner der Beteiligten sie zu unterscheiden vermochte. Es war keine Rede von gerissenen Politikern, die mit Hilfe religiöser Ideen die Massen zu gewinnen suchten. Das kam zwar in der islamischen Welt ebenso vor wie anderswo, zum Beispiel im Jahre 1914, als der osmanische Sultan den »Heiligen Krieg« gegen die Briten und Franzosen erklärte, in der Hoffnung, ihnen ihre muslimischen Untertanen abspenstig zu machen. Aber im ersten Jahrhundert des Islams gab es derartige Mißbräuche nicht. Auch die Anführer glaubten an die Idee; und die Idee kam sowohl bei den Anführern wie bei ihren Anhängern einem tiefen religiösen Bedürfnis entgegen. Nur ein krasser Materialist könnte behaupten, das »eigentliche« Motiv sei der wirtschaftliche Nutzen, also die Beute gewesen, und die religiösen Ideen hätten nur als Vorwand gedient. Das wirtschaftliche Moment spielte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
253
gewiß eine grundlegende Rolle; aber wenn auch der Grundriß einem zu errichtenden Bauwerks Grenzen setzt, seinen Stil bestimmt es nicht, das tut der Plan des Architekten. Es scheint eine unleugbare Tatsache, daß die wirtschaftlichen Gründe den Arabern der Frühzeit nicht bewußt waren, es sei denn vermittelt durch islamische Vorstellungen. Der Araber war einfach nicht imstande, den Beutezug und den »Heiligen Krieg« als zwei verschiedene Phänomene zu begreifen. Er dachte konkret und war von Wesen unfähig, die abstrakte Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen, politischen und religiösen Tatbeständen vorzunehmen, was dem modernen Gelehrten völlig selbstverständlich ist. Die stupenden Ereignisse der frühen islamischen Geschichte lassen sich nur in den Kategorien des Koran erfassen. Dafür spricht auch, daß sogar Gegner die islamische Weltsicht übernahmen. Der Gedanke, daß sie die islamische Religion nach heutigen Vorstellungen als Privatangelegenheit betrachten, die mit Politik kaum etwas zu tun hatte, wäre ungeschichtlich. Die Opposition gegen die zunehmende Zentralisierung des islamischen Staates, die sich in Arabien schon vor Muhammads Tod bemerkbar machte und auch unter Abu Bakr (632-634) weiter existierte, leugnete nicht etwa Muhammads Prophetentum, sondern behauptete, es gäbe außer ihm noch andere Propheten, nämlich einen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
254
in jedem der wichtigsten Unruheherde. Eine Reihe bewaffneter Aufstände, die hier ausbrachen, werden deshalb als Kriege der »Abtrünnigen« (ridda) bezeichnet; die religiöse Form war ihnen wesentlich und nicht bloß Vorwand. Das gleiche ist auch späterhin zu beobachten, als gläubige Muslime mit dem jeweiligen Kalifen unzufrieden waren. Sie scheinen Menschen gewesen zu sein, die sich nach dem einfachen Leben in der Wüste zurücksehnten und nach der Sicherheit, die aus einem Leben in der kleinen, eng verflochtenen Gruppe erwuchs. Nur waren die Gruppen, die man nun bildete, nicht auf Verwandtschaft gegründet, sondern auf gemeinsamen religiösen Vorstellungen, nämlich auf einer rigorosen, asketischen Interpretation bestimmter islamischer Lehren. Dementsprechend galten derartige kleine Gruppen, die nur einige Dutzend oder Hundert Menschen umfaßten, als die wahre islamische Gemeinschaft, alle übrigen Muslime dagegen als Ungläubige, deren Blut bedenkenlos vergossen werden durfte – wie der alte arabische Stamm, der in allen Stammesfremden potentielle Feinde sah. Solcherart waren auch die Sektierer, die als Charidschiten bekannt sind und sich wiederum in zahlreiche Untergruppen gliederten. Das entgegengesetzte Extrem bildeten Dissidenten, die man insgesamt als Schi'iten bezeichnet. Sie kritisierten, daß das Haupt der islamischen Gemeinschaft nur Sachwalter des geoffenbarten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
254
Rechts sein sollte, und wünschten an seiner Statt einen Mann mit religiösem Charisma. Religiöse Denkformen – die Ideen des Koran – stellten also für die Araber und die nichtarabischen Muslime den Rahmen her, in dessen Zusammenhängen allein sie ihr Leben und nicht zum geringsten auch die historischen Ereignisse zu sehen vermochten. Natürlich spielten ebenso wirtschaftliche, politische und andere Faktoren mit hinein und besaßen eine gewisse Prägekraft, doch es war – um bei dem Bild des Bauwerks zu bleiben – die Prägekraft des Fundaments und des verwendeten Baumaterials: Der Plan des ganzen war eindeutig von islamischen Denken bestimmt. Ob diese Sachlage auf eine besondere Konstitution des arabischen Denkens zurückgeht oder lediglich auf geistigen Traditionen beruht, braucht den Historiker nicht zu beschäftigen; er muß sich aber darüber im klaren sein, daß die angedeuteten Tatsachen der islamischen Kultur nicht nur den Namen, sondern auch den besonderen Charakter verliehen. Er muß wissen, daß die Weltsicht der Muslime derart eng in die Ereignisse verwoben war, daß man sie nicht herauslösen kann, ohne das ganze Gewebe zu zerstören.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
254
Die islamische Kultur Die politische Expansion des islamischen Staates, vor allem die nach Syrien und in den Irak, hatte eine entscheidende kulturelle Seite. Die Kultur der arabischen Eroberer stand materiell wie geistig auf einem niedrigeren Niveau als die der unterworfenen Völker. Ihre wichtigste literarische Form, überhaupt die wichtigste Form ihrer ästhetischen Äußerungen war die Dichtung. Die Rhetorik wurde zwar gepflegt und geschätzt, aber es wurden keine Reden niedergeschrieben. Der Islam hatte ein einziges Buch hervorgebracht – den Koran. Das war das ganze literarische Erbe der Araber, als sie sich anschickten, ein Reich zu erobern. Der Irak und Syrien dagegen besaßen eine lange Tradition hellenistischer Bildung, die über neun Jahrhunderte bis in die Zeit Alexanders des Großen zurückreichte und überdies noch von den neuerrichteten christlichen Schulen bereichert wurde. Besonders die Nestorianer gründeten nach ihrer Vertreibung aus dem Byzantinischen Reich auf persischem Boden neue Stätten höherer Bildung oder bauten die bestehenden aus, vor allem gilt dies von Gundischapur im südlichen Irak. Gelehrt wurde in syrischer Sprache, aber viele griechische Werke, philosophische wie theologische, waren bereits ins Syrische übertragen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
255
worden; auch Medizin und andere »griechische Wissenschaften« wurden gelehrt. Obwohl Ägypten, ebenfalls ein Zentrum griechischer Gelehrsamkeit, etwa zur gleichen Zeit erobert wurde, hatte es wesentlich geringeren Anteil an der späteren geistigen Entwicklung unter dem Islam – dies vermutlich deshalb, weil den Kopten das griechische Denken nicht in dem Maße kongenial war wie den Bewohnern des Irak. Eben diese Unvereinbarkeit der Denkstile, zusammen mit der Tatsache, daß die griechischen Philosophen sich in Ägypten als Fremde empfanden, mag sie dazu bewogen haben, Alexandreia um 718 zu verlassen und nach Antiocheia überzusiedeln. Wie dem auch gewesen sei, fest steht jedenfalls, daß im Irak und in Syrien viele ehemalige Mitglieder jener Schulen und manche andere im ganzen Land einen gewissen Anteil hatten an der Verbreitung höherer Bildung. Dies berührte die muslimischen Araber in zweierlei Hinsicht: Entweder hatten sie sich in den Disputen gegen die geistig höher stehenden Christen oder Juden zu behaupten, oder sie veranlaßten sie zum Übertritt zum Islam – gewöhnlich weniger aus religiösen Motiven im heutigen Sinne, als um in den Genuß der sozialen Privilegien eines Muslims zu gelangen – und nutzten dann ihre intellektuellen Methoden für die innerislamische Diskussion. Die paradoxe Folge dieser Aufnahme von Gebieten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
255
mit höherer Bildung in das arabische Reich war nicht nur, daß nun die Araber und ihre Religion das Band darstellten, das dieses vielfältige Reich zusammenhielt, sondern daß auch ihre undifferenzierte Kultur den Nährboden abgab, auf dem sich eine relativ homogene höhere Kultur entfaltete: die islamische Kultur. Dieser Vorgang ist in der Weltgeschichte natürlich nicht ganz ohne Parallele. Ähnliches geschah, als die Römer Griechenland unterwarfen und »das gefangene Griechenland seinen wilden Eroberer gefangennahm«. Die Römer waren jedoch zum Teil schon vor der Eroberung mit griechischer Kultur in Berührung gekommen. Und wenn sie auch den politischen Rahmen schufen, in dem dann die griechische Kultur dominierte, hatte das sich ergebende Kulturgefüge den Römern wahrscheinlich weniger zu verdanken als die islamische Kultur den Arabern. Eine andere Parallele bietet die Eroberung Spaniens mit seiner relativ hohen Kultur durch ein primitives Bergvolk, die Almohaden (al-muwahhidun), im 12. Jahrhundert. Auch hier nahmen die Eroberer vieles von der höheren Kultur an und gaben selbst nur wenig an sie ab. Schon nach kurzer Zeit zerfiel die Almohaden-Bewegung politisch und verschwand. Im Lichte derartiger Parallelen ist es interessant, den arabischen Beitrag zur islamischen Kultur und die Gründe, weshalb er so bedeutend war, eingehender zu untersuchen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
256
Die geistigen Elemente der islamischen Kultur Von Anbeginn enthält der Islam insofern ein geistiges Element, als der Koran bestimmte kosmologische Vorstellungen voraussetzt. Dieses Element wird jedoch erst dreißig bis fünfzig Jahre nach Muhammads Tod im Jahre 632 bewußt weiterentwickelt. Um 660 finden sich die ersten Spuren zweier bedeutender häretischer Sekten, der Charidschiten und der Schi'iten. Die Schi'iten waren Anhänger des vierten Kalifen 'Ali und glaubten, er besitze als Mitglied des Klans des Propheten eine bestimmte charismatische Qualität. Manche behaupteten auch, Muhammad habe seine von Gott verliehene Autorität ausdrücklich auf 'Ali übertragen. Bezeichnend dagegen für die Schi'iten in ihrer ganzen Geschichte ist ihr Glaube an eine Kette charismatischer Herrscher aus dem Klan Muhammads, den Haschim. Im ersten Jahrhundert des Islam trugen jedoch die Charidschiten mehr zur geistigen Entwicklung bei. Sie tauchen zuerst als politische Gegner des Kalifen 'Ali und dann der Umajjaden-Kalifen auf. Sie waren von einer Stadt oder einem Lager ausgezogen – das arabische Wort charidsch bedeutet »ausziehen« – und hatten sich in abgelegenen Gebieten niedergelassen, nicht viel besser als Räuberbanden. Ihren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
256
Widerstand und ihre Gehorsamsverweigerung begründeten sie damit, daß die Kalifen bestimmte Vorschriften des Koran mißachtet hätten, folglich aus der Gemeinschaft der Muslime ausgeschlossen seien und straflos getötet werden könnten. Jede einzelne Gruppe – oft als Untersekten der Charidschiten bezeichnet – betrachtete sich als die einzige wahrhaft islamische Gemeinschaft und sah in den »Ungläubigen«, das heißt allen übrigen Muslimen, ihre Feinde. Eine mehr akademische Betrachtung der theologischen Streitfragen, die dieser politischen Bewegung zugrunde lagen, setzte kurz vor 690 in Basra ein. Sie war das Werk von Männern, die die wahre islamische Gemeinschaft als eine Gemeinde der Gerechten verstanden und deshalb eine Möglichkeit suchten, mit den nichtcharidschitischen Muslimen in Frieden zu leben. Auf diese Weise führten politische Fragen in Basra und anderswo zu subtilen theologischen Auseinandersetzungen, doch scheint es noch andersartige Dispute gegeben zu haben, die sich mehr mit Fragen des individuellen Verhaltens, also auch mit Kultformen befaßten, aber ebenso mit der Praxis der islamischen Gerichtshöfe und Richter. Man könnte diese Dispute als eine »allgemeine religiöse Bewegung« bezeichnen, da sie von einem ursprünglichen Interesse am Religiösen getragen waren. Eine Zeitlang war jedoch Medina der Mittelpunkt dieser Bewegung, und ihre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
256
Anhänger dort wurden zuweilen als »fromme Opposition« gegen die Umajjaden charakterisiert. In der späteren Umajjadenzeit unterstützten sie gelegentlich die 'Abbasiden, die wiederum, als sie 750 zur Macht kamen, den Ansichten der »allgemeinen religiösen Bewegung« in Rechtsfragen, zumindest soweit sie mit ihnen übereinstimmten, ein gewisses Maß an Anerkennung zuteil werden ließen. Etwa zur selben Zeit jedoch tauchten in dieser Bewegung, neben abweichenden Vorstellungen in politischen Fragen, auch zwei entgegengesetzte Ansichten über die Zulässigkeit von Vernunftbeweisen im Bereich von Recht und Theologie auf. Eine bedeutende Denkrichtung, in der wiederum einige Nuancen zu unterscheiden sind, trat für das rationale Denken ein. Auf dem Gebiet des Rechts stellten sich immer wieder neue Probleme, die in den Vorschriften des Koran und in anderen traditionellen Rechtsnormen nicht recht vorgesehen waren. Bei der Anwendung dieser Vorschriften und Normen hielt man deshalb den Vernunftbeweis in bestimmten Formen für erlaubt, ja sogar für unvermeidlich. Die in den wichtigsten Städten sich nun bildenden Rechtsschulen – wie man die »allgemeine religiöse Bewegung« nach 750 nennen kann – suchten genau festzulegen, welche Formen der rationalen Beweisführung zulässig seien. Führend darin war die Hanafitenschule in Kufa um Abu Hanifa (gestorben 767). Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
257
Eine andere Gruppe, die aus jener Bewegung hervorging und den Vernunftbeweis billigte, war die Mu'tazila, die zwar an juristischen Dingen nicht uninteressiert war, jedoch vor allem durch ihre Bemühungen um die theologische Lehre bekannt wurde. Kurz vor 800 verwendeten ihre Führer in der religiösen Diskussion zum erstenmal Begriffe der griechischen Philosophie. Das griechische Denken ergriff sie derart intensiv, daß es im frühen 9. Jahrhundert zu einem fast rauschhaften Aufschwung geistiger Aktivität kam, dessen Zentrum die Mu'tazila war. Die Mu'taziliten besaßen aber auch politische Ziele; offenbar haben sie theologische Lehren gefördert, die darauf abzielten, zwischen zwei Richtungen zu vermitteln, die man in der Politik »Konstitutionalisten« und »Absolutisten« nennen könnte. Im Jahr 833 versuchten die herrschenden Kreise, einen solchen Kompromiß zur Grundlage der Regierungspolitik zu machen, was sich jedoch schon 849 als undurchführbar erwiesen hatte; die »konstitutionelle« oder sunnitische Richtung wurde offiziell anerkannt. Die Mu'taziliten entwickelten sich nun zu einer recht akademischen Körperschaft, bis um das Jahr 900 ein junger Mann, der von den Mu'taziliten erzogen worden war, einen Sinneswandel erlebte und daraufhin beschloß, mit Hilfe der mu'tazilitischen Methodik die Grundposition der Sunniten zu verteidigen. Es war al-Asch'ari Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
257
(gestorben 935), dessen Anhänger, die Asch'ariten, im 11. Jahrhundert die bedeutendste Schule der rationalen oder philosophischen Theologie innerhalb des Islam wurden. Diese erste Berührung mit griechischem Denken kam also zustande, weil man glaubte, die griechischen Ideen den eigenen Zwecken dienstbar machen zu können, und die griechischen Ideen wiederum waren verfügbar, weil sie von den Christen und von vielen nur nominell muslimischen »Schreibern« oder Beamten kultiviert wurden. Von 765 an war der Arzt am Hofe ein Christ; zu der Zeit gehörten ja Medizin und Philosophie eng zusammen. Übersetzungen griechischer Werke wurden angefertigt, besonders unter alMa'mun (813-833) und nach ihm während des ganzen 9. und 10. Jahrhunderts. Auch die griechischen Wissenschaften wurden gepflegt, und zwar von Männern, die nicht Theologen, sondern in erster Linie Philosophen waren und deren theologische Ansichten überdies den Sunniten verdächtig erschienen. Eigenständige Werke von höchstem Rang wurden von al-Farabi (gestorben 950) und Ibn Sina (Avicenna, gestorben 1037) verfaßt. Dies ebnete der zweiten Berührung mit dem griechischen Denken den Weg. Diesmal war es das Werk eines hervorragenden Gelehrten, al-Ghazali (gestorben 1111). Die Philosophen hatten zu der Zeit nur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
258
wenig unmittelbaren Kontakt zu den meisten übrigen muslimischen Gelehrten, auch zu denen, die sich für philosophische Theologie interessierten: al-Ghazali entdeckte die Werke großer griechischer Philosophen und beherrschte sie derart meisterhaft, daß er in der Lage war, ihre Gedanken klarer darzulegen als alle seine Zeitgenossen. Bald darauf erregte er neues Aufsehen mit einem Buch, in dem er nachwies, weshalb die Philosophen Häretiker seien; aber er verfaßte auch eine Reihe von Werken, die der Aufnahme der aristotelischen Logik und anderer philosophischer Ideen in die sunnitische Theologie den Weg bahnten. Nach ihm konnte in den wichtigsten Zentren der islamischen Welt praktisch keine Philosophie mehr um ihrer selbst willen getrieben werden; mehr und mehr forderte die Einführung in die Logik und Metaphysik auch die Aufmerksamkeit der Theologen. Ein bekannter theologischer Kommentar, entstanden um 1400 (der des al-Dschurdschani über die Mawakif des al-Idschi), befaßt sich nur zu etwa einem Achtel mit reiner Theologie und widmet sich im übrigen philosophischen Vorstudien. Manche moderne Kritiker haben geltend gemacht, daß hier der rationale oder philosophische Aspekt der sunnitischen Theologie extrem überwog, was neben anderen Faktoren zur Erstarrung des islamischen Denkens in den letzten drei oder vier Jahrhunderten geführt habe. Die griechischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
258
Wissenschaften wurden auch weiterhin studiert, nun aber zumeist unter den Fittichen der Theologie, mit dem Ergebnis, daß sich die Aufmerksamkeit auf die für die Theologie bedeutsamen Gebiete konzentrierte, wogegen alles übrige vernachlässigt wurde und allmählich in Vergessenheit geriet. Während also die eine Schule die Entwicklung der islamischen Theologie und Rechtstheorie in eine rationale Richtung lenkte, bevorzugte eine andere Schule, oder besser: Strömung das Konkrete und betrachtete Vernunft und abstrakte Begriffe mit Mißtrauen. Sogar Juristen, die in Rechtsangelegenheiten logische Argumente durchaus billigten, wendeten viel Zeit daran, das konkrete, nichtrationale Moment in den geistigen Grundlagen des Islam weiterzuentwickeln. Dies konnte jedoch erst geschehen, nachdem der »Tradition« ein bedeutender Platz in der Rechtstheorie zugewiesen worden war. »Tradition« (arabisch hadith) bezeichnet Überlieferungen über das, was Muhammad gesagt oder getan hat, die von einer Kette von im einzelnen bekannten Gewährsleuten überliefert waren. Im frühen 8. Jahrhundert genügte es, um eine Ansicht in einer Rechtsfrage zu begründen, wenn man sich auf die Lehre seiner Schule berief, sei es nun Medina, Kufa, Basra oder Damaskus. Als später jedoch Differenzen zwischen den Schulen ausgeglichen werden mußten, rechtfertigten manche ihre Ansicht in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
258
einer bestimmten Frage mit dem Argument, sie befinde sich in Übereinstimmung mit der »Tradition«. Und nach dem Werk des Rechtsgelehrten asch-Schafi'i (gestorben 820) mußte unumgänglich jede juristische Meinung mit der Tradition gerechtfertigt werden. Das hatte jedoch zur Folge, daß Traditionen erfunden wurden, die Muhammad allerlei unislamische Vorstellungen unterschoben, oder Lehren rechtfertigen sollten, die allgemein als häretisch galten. Die muslimischen Gelehrten verlangten deshalb, daß jedes Glied in der Kette der Überlieferung als zuverlässige Persönlichkeit bekannt war. Diese Kritik der Tradition führte vor allem in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts zum Entstehen einer Sammlung der echten Traditionen; und dieser Corpus galt schließlich als eine Art von sekundär geoffenbarter Heiliger Schrift des Islam, die etwas von dem konkreten, nichtrationalen Charakter der ursprünglichen Schrift, des Korans, besaß. Dieser Corpus von Traditionen war der gemeinsame Besitz aller Sunniten, auch derer, die bis zu einem gewissen Grade den Gebrauch der Logik in Jurisprudenz und Theologie guthießen. Als Gegner des Rationalismus sahen sie die »Wurzeln« des Rechts im Koran und in der sunna (die Tradition). Der führende Kopf einer extrem antirationalistischen Gruppe war Ahmad ibn Hanbal (gestorben 855). Seine Anhänger, die Hanbaliten, bildeten nicht nur eine Rechtsschule Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
259
und entwickelten einen bestimmten Ritus, sondern vertraten auch eine ausgeprägt doktrinäre Position. Das vielleicht bedeutendste Mitglied dieser Schule war Ibn-Tajmijja (gestorben 1328), ein Mann mit außerordentlichen Fähigkeiten, der seine Vorliebe für das konkrete Denken gegenüber dem abstrakt-rationalen paradoxerweise höchst vernünftig zu begründen wußte. Die islamischen Wissenschaften entwickelten sich also im wesentlichen während der zwei oder drei Jahrhunderte nach 700 und brachten ein System höherer Bildung hervor, dessen Ergebnis die 'ulama' waren, wörtlich »Gelehrte« oder »Männer des Wissens«, heute würde man sagen: »Intellektuelle«; man könnte sie auch als »Rechtsgelehrte« bezeichnen, denn im Mittelpunkt ihres Bildungsplans stand die Jurisprudenz. Die auf diese Weise ausgebildeten Männer formten einen wichtigen Stand im islamischen Reich, aus dessen Reihen die Richter, die mufti (Rechtsgutachter), und ähnliche Beamte gewählt wurden. Eine Zeitlang gelang es zwar den »Schreibern« (kuttab, den Beamten der Reichsverwaltung) die 'ulama', in denen sie emporgekommene Eindringlinge sahen, vermutlich dank ihres eigenen Bildungssystems von den meisten Verwaltungszweigen fernzuhalten. Es scheint jedoch, daß nach 1100 die beiden Stände ineinander aufgingen oder zumindest daß auch die Beamten der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
259
Reichsverwaltung die normale Rechtsausbildung erhielten. Die islamischen Wissenschaften wuchsen organisch um den bescheidenen arabischen Beitrag, der im wesentlichen aus dem Koran bestand. In ihrem Mittelpunkt standen Fragen des privaten und des öffentlichen Verhaltens (einschließlich der Kultausübung), wie sie in der »allgemeinen religiösen Bewegung« aufgeworfen worden waren. Hieraus entwickelten sich die Anfänge des Rechts und der Rechtswissenschaft, und mit der Frage nach den religiösen Implikationen politischer Dispute führten diese Diskussionen außerdem zu einem gründlicheren Studium des Koran und zu einer systematischen Koranexegese (tafsir), die in ihrer frühesten Form sich damit beschäftigte, die im Koran berichteten oder angedeuteten Erzählungen auszuarbeiten, aber auch Überlieferungen über die Offenbarung bestimmter Textstellen zu sammeln. Die juristischen und theologischen Beweisführungen stießen aber auch auf Probleme der Grammatik und Lexikographie, was zur Folge hatte, daß beide Fächer sich zu speziellen »Wissenschaften« entwickelten. Diese wiederum, vor allem die Lexikographie, erforderten das Studium der vorislamischen Dichtung als der reinsten Quelle des arabischen Sprachgebrauchs, überhaupt des gesamten historischen Materials, das zum Verständnis der Dichtung beitragen konnte. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
259
Die Rechtslehre im engeren Sinne befaßte sich zu Anfang hauptsächlich mit dem Problem, wie man sich in bestimmten, konkreten Fällen zu verhalten habe und welche sachlichen Entscheidungen dementsprechend zu fällen waren. Allmählich mußte man sich aber auch über die allgemeinen Prinzipien klarwerden, die dem einzelnen Urteil zugrunde lagen. Deshalb wurden die »Wurzeln des Rechts« (usul al-fiqh) ein besonderes Studienfach. Als im Rechtsdenken dann die Tradition in den Vordergrund trat, entstanden wieder neue Studienzweige. Die Traditionen selbst mußten aufgezeichnet werden, bisweilen in verschiedener Form. Dann hatte die Kritik der Tradition zwischen »echter« und »unechter« Überlieferung zu unterscheiden, was die Kenntnis der Biographien der vielen hundert Gewährsleute notwendig machte. Da die Tradition aus Überlieferungen über Muhammad bestand, mußte man mit seinem Leben (sira) wenigstens in Umrissen vertraut sein, ebenso, wenn auch aus etwas anderen Gründen, mit der Geschichte des islamischen Staates. Das historische Interesse mag auch aus purer Neugierde erwachsen sein oder aus dem alten Brauch, daß die Herrscher wichtige Ereignisse aufzeichnen ließen. Immerhin gab es gewisse Beziehungen zu den anderen islamischen Wissenschaften; die ersten Geschichtsschreiber befaßten sich auch mit Jurisprudenz, der Tradition und mit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
260
Koranexegese. Die Theologie wurde häufig als ein Zweig der Rechtswissenschaft angesehen, da ihre Lehren in gewissem Sinne Weiterentwicklungen der beiden Formeln aus dem Glaubensbekenntnis (schahada) waren: »Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Gott, und Muhammad ist der Sendbote Gottes.« Die Verpflichtung, das Glaubensbekenntnis abzulegen, galt als ein Teil des Gesetzes. Man studierte erst dann Theologie, wenn man sich die Grundkenntnisse des Koran, der Tradition und der Rechtswissenschaft angeeignet hatte. Eine Unterabteilung der Theologie betraf die Lehren verschiedener häretischer Sekten. So entstand eine ganze Reihe geisteswissenschaftlicher Disziplinen, die eng miteinander verbunden waren und zusammen ein vollständiges Bildungssystem ausmachten. Die griechischen Wissenschaften (einschließlich der Philosophie) gehörten allerdings nicht dazu, sondern wurden bis nach 1100 von gänzlich anderen Kreisen getragen. Obgleich auch sie nominell Muslime waren, wurden sie häufig der Häresie verdächtigt und befanden sich in vielen Fällen auch tatsächlich in einem gewissen Gegensatz zum allgemein akzeptierten Glaubensinhalt. Das Werk al-Ghazalis hatte bewirkt, daß das griechische Denken in beträchtlichem Umfang in der islamischen Bildung Eingang fand, und was nicht aufgenommen wurde, verlor Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
260
sich nach und nach, da es die islamische Welt nicht mehr interessierte. In diesem Fall nahm Griechenland also seine Eroberer nicht gefangen; um das Bild etwas abzuwandeln: Vielleicht bewog es sie nur, ein griechisches Gewand anzulegen. Der arabische Denkstil Die geistige Seite der islamischen Kultur entwickelte sich nicht nur um den Kern, den die Araber beisteuerten, sondern sie wurde auch in vieler Hinsicht von der arabischen Denkweise geprägt. Da ist zunächst der Konservativismus der Araber. Das gefährliche Leben der Wüste mußte dem Araber den Gedanken nahelegen, daß es nur dann Sicherheit gäbe, wenn er den herkömmlichen Verhaltensformen seines Stammes folgt; im Koran begründen die Gegner Muhammads ihre Haltung gern auf diese Weise. Die Verhaltensnormen des Stammes waren seine sunna, wörtlich »der ausgetretene Pfad«. Der ausgetretene Pfad bedeutete Sicherheit, während jedes Abirren den Tod bringen mußte. Nicht zufällig bezeichnet das Koranwort dalal, wörtlich »Irrtum«, zugleich auch einen Seinszustand, in dem der Mensch von der Erlösung ausgeschlossen ist. Ob nun der arabische Konservativismus zu Recht mit den Wüstenzügen in Verbindung gebracht wird: Nicht zu bezweifeln ist, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
261
daß die Araber jeden Wandel im Verhalten verabscheuten, was am besten das Wort beweist, das üblicherweise für einen häretischen Glauben oder Brauch benutzt wurde: Es lautet bid'a, »Neuerung«. Diese konservative Haltung beruht im wesentlichen auf dem Glauben, daß jeder Wandel im Prinzip schlecht sei, und hat bis in die Gegenwart hinein die Muslime vor manche Schwierigkeiten gestellt. Die von Muhammad selbst eingeführten Änderungen wurden zwar ohne Zögern hingenommen, wahrscheinlich weil er den Arabern als Sendbote Gottes galt. Doch sogar von Muhammad hieß es, er habe keine neue Religion verkündet, sondern habe nur die Menschheit, vor allem die Araber, zur reinen Lehre Gottes zurückgeführt, wie sie von allen Propheten verkündet worden war und (nach Ansicht der Muslime) bereits in Mekka von dem fernen Vorfahren Abraham und dessen direkten Nachkommen ausgeübt wurde. Unglücklicherweise aber mußten die Veränderungen in den ersten Jahrhunderten des Islam ebenso gerechtfertigt werden. Man mußte behaupten- und beweisen –, daß ein offensichtlich neuer Brauch in Wirklichkeit uralt war, oder daß es Muhammad selbst so gehalten hatte, aber von späteren Generationen verfälscht worden war und nun wiedereingeführt wurde. Es war einer der Triumphe der Traditionalisten, daß sich in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
261
dem Corpus der allgemein anerkannten Traditionen ein Mittel fand, der Praxis innerhalb der Gemeinschaft eine legitime Grundlage zu verschaffen. Moderne westliche Gelehrte glauben, daß auch ein Teil der »echten« Tradition erfunden worden ist, und diskutieren über das Ausmaß dieser Erfindungen. Entscheidend bleibt aber, daß die Muslime davon überzeugt werden konnten, daß das Leben in den städtischen Zentren eines großen Reiches im 9. Jahrhundert genau den gleichen Normen folgte, nach denen sich Muhammad in der arabischen Kleinstadt Medina gerichtet hatte. Zweifellos hatte die islamische Gesellschaft seitdem einen Anpassungsprozeß durchlaufen. Indem aber die Muslime die echte Tradition akzeptierten, unterstellten sie zugleich, daß sich nichts Wesentliches geändert hatte. So gesehen kam es geradezu einem Gewaltakt gleich, die generelle Anerkennung der bis um 850 eingetretenen Veränderungen zu erreichen. Dies vollzog sich aber auf eine Weise, die es späteren Generationen schwer machte, weitere Änderungen zu rechtfertigen. Man kann darüber streiten, inwieweit die prinzipielle Abneigung gegen jeglichen Wandel für die seit dem 16. Jahrhundert herrschende Stagnation im Islam verantwortlich ist. Möglicherweise war sie in der Theorie stärker als in der Praxis. Gleichwohl bereitet es den Muslimen zweifellos beträchtliche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
261
Schwierigkeiten, sich den Verhältnissen des 20. Jahrhunderts anzupassen. Zu dem geringsten noch gehört das Widerstreben der muslimischen Gelehrten, der These ihrer westlichen Kollegen beizupflichten, daß die islamischen Institutionen evolutionäre Veränderungen erlebt haben. Schwerwiegender jedoch war der Widerstand, der sich gegen eine neue Sozialgesetzgebung erhob. Man hat zwar in den letzten Jahren Mittel und Wege gefunden, sie schließlich doch einzuführen, aber es bedurfte großer Mühen und beträchtlichen Einfallsreichtums. Immerhin sollte nicht vergessen werden, daß die islamische Rechtswissenschaft ein regelrechtes Fach mit dem Namen hijal kannte, was mit »Rechtskniff« zu übersetzen wäre, und daß sich in der frühen islamischen Geschichte einige wenige Präzedenzfälle für die Übernahme von Neuerungen finden lassen. Eine andere Besonderheit im arabischen Denken ist der eigentümliche Erkenntnisbegriff. Der moderne Mensch des Westens begreift Erkenntnis im wesentlichen auf griechische, genauer auf aristotelische Art. Es ist die Einsicht in eine Tatsache und deren Gründe (in logische Form gebracht), die von allen Menschen mit ausreichender logischer Fähigkeit nachvollziehbar ist. Für den Araber dagegen ist Erkenntnis die in Worte gefaßte Weisheit hervorragender Männer, Worte, die bisweilen einprägsam und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
262
erinnerungswürdig sein können, aber stets einen gewissen ästhetischen Genuß bieten müssen. Der Araber legte großen Wert auf die gesprochene Form und hielt es für außerordentlich wichtig, Aussprüche zu erlernen und sie wortgetreu weiterzugeben. Das bedeutete jedoch nicht, daß er glaubte, papageienhaftes Hersagen weiser Sprüche führe zu Weisheit und Einsicht. Aber er mag empfunden haben, daß in diesen Worten, wenn sie als sicherer Besitz im Gedächtnis hafteten, einiges von dem geheimen Wissen der Urheber auf die Epigonen überging. Das bemerkenswerteste Beispiel für diese Haltung gegenüber der Weisheit der Vergangenheit ist die Tradition; in den ausgeklügelten Vorkehrungen, die eine exakte Wiedergabe gewährleisten sollten, kommt die hohe Achtung vor der Identität des Wortes zum Ausdruck. Doch auch die Aussprüche von Asketen und Mystikern wurden gleichermaßen bewahrt, überhaupt die Äußerungen eines jeden, von dem man annehmen durfte, daß er auf seinem Gebiet Weisheit hatte erkennen lassen. Da man den Worten der Weisen einen so hohen Wert beimaß, gehörte es zu den bedeutungsvollsten Dingen im Dasein eines Muslims, sich dem Studium und der Weitergabe dieser Weisheit zu widmen. Dadurch ging gewissermaßen ein Widerschein des Ruhms auch auf ihn über, und er wurde einer biographischen Notiz in den Verzeichnissen der Überlieferer für wert Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
262
befunden. Während also nach aristotelischen Begriffen jedermann fähig sein sollte, die Wahrheit der Dinge zu erkennen, vermag nach arabischen Vorstellungen die große Mehrheit der Menschen nur insoweit zu Erkenntnis gelangen, als sie in Erkenntnis und Weisheit einiger weniger überragender Persönlichkeiten eindringt. Und obwohl die Existenz überragender Menschen sehr wohl auch in Gegenwart und Zukunft für möglich gehalten wird, kann man sie gewöhnlich nur dann als überragend werten, wenn sie der Vergangenheit angehören. So neigt die islamische Welt, weit entfernt von jedem Fortschrittsdenken, eher dazu, die Höhen menschlicher Weisheit in alter Zeit verwirklicht zu glauben. Ein Mensch mag unter das Niveau seiner Vorväter absinken; daß er sie aber übertrifft, wird kaum in Erwägung gezogen. Das kommt in der Bezeichnung Muhammads im Koran als des »Siegels der Propheten« zum Ausdruck, ebenso in der Auffassung vom Islam als der endgültigen Religion, was schon im Koran selbst angedeutet und von späteren Apologeten betont wurde. Die qualitative Endgültigkeit des Islam schloß natürlich das, was man sein quantitatives Wachstum nennen könnte, nicht aus, also die Erweiterung des islamischen Staates, die ja von selbst aus dem Konzept des »Heiligen Krieges« folgte. Und dem Muslim war der Gedanke stets Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
263
gegenwärtig, daß die pax Islamica, die »Sphäre des Islam« (dar al-Islam), auch weiterhin wachsen würde, während die übrige Welt, die »Sphäre des Krieges« (dar al-harb), dahinschwinden müßte. Die Achtung, die der Araber der überragenden Persönlichkeit entgegenbringt, mag vielleicht auch sein Geschichtsverständnis geprägt haben, obwohl dieser Zug nicht so deutlich zum Ausdruck kommt wie auf den Gebieten, die wir schon berührt haben. Geschichte, könnte man sagen, wurde von den Arabern als die Geschichte der Weisheit, Ehrwürdigkeit und anderer Vorzüge hervorragender Männer angesehen. Die vorislamische Geschichte war – wenn wir den vorislamischen Teil des um 750 entstandenen grundlegenden Werkes über das Leben Muhammads als typisch nehmen können – in einen genealogischen Rahmen gespannt. Jede darin genannte Person war mit rühmenswerten Geschichten über sie angeführt. Obwohl die Genealogien eine wenn auch nur grobe chronologische Ordnung abgaben, interessierten sich die Araber wahrscheinlich mehr für die Abstammung als für die Chronologie, da sie glaubten, daß Vornehmheit dem Stamm oder der Sippe anhaftete. Die im Koran erwähnten Propheten sollten hauptsächlich die Sendung Muhammads verbürgen, indem sie ihm gleichsam eine geistliche Genealogie verschafften. Von diesem Standpunkt aus gesehen entwertet das Fehlen einer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
263
Chronologie diese Geschichten in keiner Weise. Der Mangel an chronologischem Interesse – wegen der zeitlosen Gültigkeit der Beispiele von menschlicher Größe – erklärt wahrscheinlich auch den Mangel an Ordnung in vielen islamischen Werken, die zum größten Teil aus aneinandergeknüpften Überlieferungen bestehen. Vielleicht der bedeutsamste Zug in der Mentalität der Araber war ihr Selbstvertrauen. Man erzählt sich den Ausspruch eines Mannes, der sagte: »Ich bin der edelste aller Araber, denn ich bin der edelste meines Klans, mein Klan ist der edelste meines Stammes, und mein Stamm ist der edelste aller arabischen Stämme.« Und natürlich gelten die Araber als die edelsten aller Menschen. Das ist die Karikatur eines Sachverhalts, der jedoch eine wichtige Wahrheit enthält. Etwas von diesem übertriebenen Glauben an die eigene Überlegenheit ging vom arabischen Stamm auf die gesamte islamische Gemeinschaft über. Ebenso wie der Einzelne all das von seinem Stamm empfing, was in seinem Leben von Bedeutung war – Ehre, Adel, ganz abgesehen von der bloßen physischen Existenz –, so verlieh dem Muslim die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft das für ihn Ausschlaggebende – die ewige Erlösung. Was die Mehrzahl der Muslime zur Annahme der sunnitischen Form des Islam bewog, war das tiefe Empfinden einer Treuepflicht, das die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
263
Konzeption von der Gemeinschaft in ihnen weckte. Eifersüchtig wachten sie über der Erhaltung der sunna, der Praxis Muhammads, weil sie ein Aspekt der schari'a war, des geoffenbarten Rechts, und Existenz und Anerkennung der schari'a wiederum waren, auch wenn diese nicht getreulich befolgt wurde, ein Zeichen dafür, daß ihre Gemeinschaft von Gott begründet und beschützt war. Die Hingabe an die Gemeinschaft veranlaßte die Menschen, der schari'a Zeit und Kraft zu widmen und sie im Hinblick auf Dinge auszubauen, die sich in der Praxis wahrscheinlich niemals ergeben würden. Dieses Gemeinschaftsgefühl ist die Ursache für das hohe Maß an Integration, das die islamische Gesellschaft entwickelte. Es ist auch einer der Gründe dafür, daß es der christlichen Mission nicht gelang, Einzelne der islamischen Glaubensgemeinschaft zu entfremden. Auch in den modernen politischen Schriften von Muslimen ist dieser Zug immer wieder zu finden. Und wahrscheinlich erweist er sich am Ende als tiefer und mächtiger als der eher oberflächliche Nationalismus, der seit einiger Zeit große Teile der islamischen Gesellschaft zu beherrschen scheint. Die Folge dieses islamischen Selbstvertrauens ist der unbeirrbare Glaube an die eigene Auffassung von Wahrheit, wobei fast alles, was außerhalb der islamischen Sphäre vorgeht, ignoriert wird, sogar das Leben Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
264
der nichtmuslimischen Minderheiten innerhalb des islamischen Staates. Hier und da mag vielleicht ein Gelehrter die Bibel gelesen oder sogar die verschiedenen Spielarten der christlichen Trinitätslehre erforscht haben, doch das schlug sich nirgends im geistigen Erbe der Muslime nieder. Die islamischen Wissenschaften übten schließlich, wie bereits beschrieben, einen fast totalitären Druck auf die geistige Einstellung der Muslime aus, und zwar nicht durch offizielle Dekrete, gestützt auf Polizeimaßnahmen, sondern durch die einfache Methode, alles Nichtmuslimische unbeachtet zu lassen. Die Behandlung des Christentums ist wohl das sprechendste Beispiel dafür, denn es fand sich in einer besonderen Lage. Das Kernland des islamischen Reiches war ursprünglich von Christen bewohnt gewesen, und die Christen hatten im großen ganzen ein höheres Bildungsniveau als die Muslime. Der Gefahr, daß der einfache Muslim durch christlichen Einfluß in seiner Bindung an den Islam irregemacht würde, begegnete man mit der Lehre von der »Verfälschung« (tahrif) der Heiligen Schrift durch Christen und Juden. Diese Lehre war nicht ganz eindeutig und wurde auch in widersprechenden Versionen vorgebracht. Doch gerade dies wirkte als zusätzlicher Schutz, denn wenn eine Version in einem bestimmten Zusammenhang nicht paßte, dann paßte eben eine andere. So war der gewöhnliche Muslim Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
264
vor der christlichen Kritik an seiner Religion gefeit, während die Christen sich die Art der Auseinandersetzung von den Muslimen vorschreiben lassen mußten. Der gewöhnliche Muslim war deshalb fest davon überzeugt, daß es völlig wertlos sei, sich mit der christlichen Lehre auseinanderzusetzen, denn sie sei gänzlich verfälscht, wenn nicht darin sogar eine Gefahr für ihn läge, da dies zur Sünde verleiten konnte. Was der Koran über die Christen sagte, genüge vollauf. Es kam dem Muslim gar nicht in den Sinn, daß die Kenntnis eines fremden Volkes ihm die Macht verleihen könnte, es zu beeinflussen und zu beherrschen. In vorislamischer Zeit besang der Dichter die Vorzüge seines Stammes und geißelte die Verderbtheit der Rivalen. Die muslimischen Autoren dagegen verfaßten apologetische und polemische Schriften gegen andere Religionen und betrieben im übrigen eine Politik des Totschweigens. Die Mißachtung des geistigen Lebens der Christen über die Jahrhunderte hinweg und die ständige Erinnerung daran, daß sie Menschen zweiter Klasse seien, bedrückte die Christen erheblich und hat viele dazu veranlaßt, zum Islam überzutreten. Die gleiche Konzentration auf die eigene Gemeinschaft, gepaart mit der Mißachtung alles übrigen, ist auch in der islamischen Geschichtsschreibung zu beobachten. Um 900 verfaßte der Historiker Tabari eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
264
»Universalgeschichte«, und es ist aufschlußreich zu sehen, wie sie aufgebaut ist. Ihren Rahmen erhält sie vom Koran; biblisches Material und die Chronologie sind nur insoweit berücksichtigt, als sie Hinweise des Koran auf biblische Gestalten illustrieren, andernfalls werden sie übergangen. Von der außerarabischen Geschichte wird die der Perser recht eingehend behandelt, wahrscheinlich deshalb, weil sie Muslime geworden waren und viel zur Entwicklung des Islam beigetragen hatten. Das Römische und das Byzantinische Reich dagegen werden nur ganz oberflächlich skizziert. Ihre Geschichte erhält weniger Platz eingeräumt als die Josephs, der allerdings auch im Koran ziemlich eingehend behandelt wird. Der Muslim liebt es, die großen Taten der Vorfahren von Angehörigen der islamischen Gemeinschaft zu verherrlichen, er ist aber nicht geneigt, die Ahnen von Nichtmuslimen ebenfalls mit Ehren zu bedenken. Hinzu kommt, daß er sich in erster Linie für Menschen interessiert. Abstrakte Gegebenheiten berühren ihn nicht, selbst wenn sie eine Herausforderung darstellen, die in der Reaktion des Islam auf sie die islamische Geschichte geprägt haben.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
265
Die nichtarabischen Kulturen unter islamischer Herrschaft Wir haben in dieser Schilderung der Ausstrahlungskraft der arabischen Geisteshaltung bis jetzt hauptsächlich die Kernländer der islamischen Welt – den Fruchtbaren Halbmond und Ägypten – betrachtet. Doch die starke Vitalität, die Quelle dieser Ausstrahlungskraft, war auch anderswo am Werk. In diesem Zusammenhang ist vor allem Persien interessant. Die arabischen Eroberer fanden das Persische Reich im Stadium des Zerfallens vor. Der Zentralregierung war die Macht entglitten, im Angesicht des arabischen Angriffs löste sie sich praktisch in nichts auf. Die zarathustrische Geistlichkeit hatte sich fast zu einem Regierungsorgan aufgeschwungen mit dem Ergebnis, daß die große Mehrheit des Volkes das Vertrauen zu ihr verloren hatte und führungslos geworden war. So ist es kein Wunder, daß im Laufe des 7. und frühen 8. Jahrhunderts viele, wenn nicht die meisten Perser zum Islam übertraten. Dies gilt vor allem für die nichtchristlichen Bewohner des Irak, die man als iranisierte Aramäer bezeichnen könnte; Konversionen gab es aber auch bei den Christen, die vor der Eroberung ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. Sie alle brachten ihr reiches geistiges Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
265
und geistliches Erbe mit, das in der geschilderten Weise in den Islam aufgenommen wurde. Eine Zeitlang mußte es scheinen, als wäre alle Kultur, die bislang mit Persien und der zarathustrischen Religion verknüpft war, unwiederbringlich verloren. Doch um das Jahr 1000 geschah das Unerwartete. Der Dichter Firdausi (gestorben um 1020) sammelte in seinem »Buch der Könige« (Schah-Nama) Erzählungen der verschiedenen Regionen Persiens und half damit, das Bewußtsein von einer gemeinsamen Kultur, ja fast von einer persischen Nation wiederzubeleben. Doch all dies vollzog sich in dem vom Islam gesetzten Rahmen. Ein persischer Staat, der zum islamischen Staatensystem in einem Gegensatz gestanden hätte, wäre undenkbar gewesen. Firdausi weckte wieder den Glauben an die alte Sendung des Iran, gegen »Turan« zu kämpfen, Kultur und Zivilisation gegen das Barbarentum der asiatischen Steppen – und dessen Inbegriff, die »Türken« – zu verteidigen, das sie zu verschlingen drohte. Dieses Sendungsbewußtsein war mit dem muslimischen Glauben durchaus vereinbar, und wenn man – Zoroaster folgend – diesen Kampf als einen Kampf zwischen Gut und Böse auffaßte, so konnte er sogar als Kampf der islamischen Bekenner Gottes gegen alle die gelten, die ihm widerstanden. Aus diesem Grunde und gefördert in den Perioden regionaler politischer Unabhängigkeit kam es Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
266
zu einer einzigartigen Blüte des persischen Geistes, die große Dichtung und andere bedeutende Werke der Literatur hervorbrachte, und zwar in einer neuen Form der persischen Sprache, die tiefgreifend vom Arabischen beeinflußt war. Der gleiche Geist manifestierte sich in wundervollen Miniaturen und Keramiken, in prächtigen Bauwerken und in anderen Meisterstücken der Kunst. Diese überschwengliche Verwirklichung der Schöpferkraft Persiens verdient mehr Beachtung, als ihr bis jetzt zuteil wurde. Hatte der Islam diese schöpferische Energie freigesetzt, und wenn ja, wodurch? War es die Besinnung auf die alten Werte Persiens, wie den Kampf des Guten gegen das Böse? Oder war es die Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft, die Selbstvertrauen und ein Gefühl der Sicherheit verlieh? Welche Antwort immer diese Fragen finden, fest steht jedenfalls, daß im islamischen Persien einer der Höhepunkte menschlicher Hervorbringungen zu verzeichnen ist. Die Ausstrahlungskraft der arabischen Geisteshaltung zeigte sich auch in einer völlig andersgearteten Landschaft: im maurischen oder islamischen Spanien. Hier gab es unter den muslimischen Eindringlingen nur relativ wenige Araber, in der Mehrzahl waren sie Berber. Doch die Kultur der Araber im frühen 8. Jahrhundert zog auch die Einheimischen in ihren Bann, die männliche Jugend war fasziniert vor allem von der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
266
arabischen Dichtung. Obwohl sich von der Zeit Isidors von Sevilla an in Spanien eine hohe Geisteskultur ausgebildet hatte, vermochte sie nie richtig Fuß zu fassen. Die arabische Kultur dagegen schlug rasch Wurzeln und entfaltete sich bald zu voller Blüte. Anfangs war es im Grunde eine arabische Kultur, doch im Laufe der Zeit wurden auch die »islamischen Wissenschaften« wie sie sich im Ursprungsland entwickelt hatten, nach Spanien verpflanzt. Die Araber vermischten sich mit den Einheimischen, vor allem den höheren Schichten. Es bildete sich ein neuer Stand, der sich von den Berbern und den sakaliba, den »Slawen« aus Europa, deutlich abhob und deren Angehörige man Arabo-Andalusier nennen könnte. Sie waren die maßgeblichen Träger der Kultur. Aber wenn man diese Kultur thesenhaft als im wesentlichen islamisch bezeichnet, so muß man hinzufügen, daß viele Christen an den nichtreligiösen Aspekten dieser Kultur, etwa an der Dichtung und der Architektur, teilhatten. Hier stellen sich Fragen, über die sich die Gelehrten noch nicht einig sind. Wahrscheinlich ist die kulturelle Blüte des islamischen Spanien zum Teil den einheimischen Elementen zu verdanken, die, wie in Persien, mit einer günstigen Umwelt gesegnet waren. Im Gegensatz zu den Persern aber schufen sie keine eigene literarische Sprache, ja manche fühlten sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
266
sogar von der islamischen oder besser: von der arabischen Welt derart angezogen, daß sie sich Araber nannten und von arabischer Herkunft zu sein behaupteten. Ähnliches wird vermutlich auch von den islamischen Gebieten Afrikas und Südostasiens zu berichten sein, wenn diese Fragen erst eingehender erforscht sein werden. In Indien lagen die Dinge etwas anders, da der Islam dort mächtige Rivalen hatte. Aber die sogenannte arabische Kultur Ostafrikas beispielsweise scheint in Wirklichkeit eine einheimische Kultur gewesen zu sein, die nur von arabischen Einflüssen genährt war: Wieder ein Beispiel für die Ausstrahlungskraft des arabischen Geistes.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
267
Macht, Loyalität, Recht Religion und Politik waren, wie wir gesehen haben, von Anfang an in der islamischen Gemeinschaft aufs engste miteinander verknüpft. Man hat deshalb den Islam häufig, wenn auch zu Unrecht, als eine politische Religion bezeichnet, die sich mit Hilfe des Schwertes ausbreitete. Es war aber eher so, daß der Islam von einem bestimmten Zeitpunkt an – etwa seit 800 – in weiten Bereichen des politischen Lebens nur noch geringen Einfluß ausübte. Genau besehen ist das nicht weiter verwunderlich. Der Islam entstand in einer kleinen Handelsstadt inmitten einer vorwiegend nomadischen Kultur, und seine Grundideen entsprachen den Bedürfnissen einer Kleinstadt. Das erstaunliche dabei aber war, wie sehr sie dann auch den Bedürfnissen eines großen Reiches gerecht wurde, vor allem wenn man sich die konservative Einstellung der Araber und ihre Abneigung gegen jeden Wandel vor Augen hält. Denn dies bedeutete, daß die Ideen oder die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien nur unter großen Schwierigkeiten den neuen Verhältnissen anzupassen waren, in denen sich die Araber nach ihren Eroberungen vorfanden. Mehr und mehr kamen die für Herrschaft und Verwaltung verantwortlichen Männer zu der Einsicht, daß die im Koran niedergelegten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
267
Prinzipien ihre Probleme nicht förderten und sie deshalb berechtigt seien, ihre Entschlüsse sozusagen nach Nützlichkeitserwägungen oder aus Gründen der »Staatsraison« zu fällen. Die Geschichte der politischen Probleme in der islamischen Welt ist die Geschichte der Versuche, eine in sich geschlossene und funktionsfähige Herrschaftsordnung für einen riesigen Staat mit heterogener Bevölkerung zu schaffen. Als erster politischer Schritt nach dem Tod Muhammads war das Kalifat entstanden. Muhammad selbst war das unbestrittene Oberhaupt des Staates gewesen, aber seine Stellung hatte, wie man glaubte, mindestens teilweise auf seiner Eigenschaft als Prophet und Sendbote Gottes (rasul Allah) gegründet. Eine derart religiöse Qualifizierung für die Position eines Staatsoberhauptes konnte jedoch kein Nachfolger für sich in Anspruch nehmen, zumindest nicht in den Augen der großen Mehrheit der Muslime, wenn auch die Schi'iten später behaupteten, daß bestimmte Mitglieder von Muhammads Klan Haschim charismatische Eigenschaften besessen hätten. Als Abu Bakr 632 die Nachfolge Muhammads antrat, nannte er sich einfach chalifa – »Nachfolger« oder »Vertreter« (des Sendboten Gottes). Obwohl er und seine Nachfolger auch andere Titel trugen, etwa »Fürst der Gläubigen« (amir al-mu'minin), war der des »Kalifen« am gebräuchlichsten. Man kann ihn getrost als den Titel des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
267
Oberhaupts des islamischen Staates in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens ansehen. Das Amt des Kalifen erwuchs aus dem religiösen Verständnis der im Koran festgelegten politischen Grundlagen, jedoch in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der aktuellen Situation. Ebenso wie ein Stamm brauchte die islamische Gemeinschaft ein Oberhaupt, das im Namen des Ganzen bestimmte praktische Entscheidungen traf, womit der Kalif eine Seite im Wirken Muhammads fortsetzte. Vergleichbar mit der Ernennung eines Stammesoberhaupts war also, daß man einen qualifizierten Mann wählte, der genügend Rückhalt besaß, und ihn dann von der Gesamtheit anerkennen ließ. Was aber das Amt des Kalifen vor allem anderen von dem eines Stammeshäuptlings unterschied, war, von der Größe der Gemeinschaft abgesehen, die religiöse Ausrichtung der ihm unterstehenden Körperschaft. Obwohl der Kalif nicht wirklich als ein religiöser Würdenträger zu bezeichnen ist, leitete er normalerweise alle ordentlichen Gottesdienste und Gebetsverrichtungen, bei denen er zugegen war, und sein Name wurde im ganzen Reich an jedem Freitag während des Mittagsgottesdienstes genannt. Ebenso gehörte es zu seinen Obliegenheiten, dafür zu sorgen, daß jeder einzelne Muslim ungestört seine Religion ausüben konnte, mit anderen Worten »den Glauben zu bewahren und zu verteidigen«. Der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
268
religiöse Charakter der Gemeinschaft bedeutete gleichzeitig, daß sie sich da, wo es anwendbar war, nach dem geoffenbarten Recht richtete. Und dies bedeutete wiederum, daß der Kalif nicht als absoluter Herrscher regierte, sondern wie alle übrigen Muslime den Rechtsvorschriften des Koran unterworfen war. Wenn auch einige der Verschwörer gegen 'Uthman im Jahre 636 vielleicht aus persönlichen Motiven gehandelt haben, ging es den meisten vor allem um die Suprematie des geoffenbarten Rechts, auch über den Kalifen. Die Verwaltung eines riesigen Reiches ist fast ebenso schwierig wie seine Eroberung. Die Araber trafen jedoch nicht unerfahren auf derartige Probleme. Die führenden Kaufleute von Mekka waren wohlvertraut mit der Organisierung ausgedehnter Handelsunternehmungen, was ihnen dann später sehr zustatten kam. Schon zu Lebzeiten Muhammads gab es zumindest einen rudimentären Verwaltungsapparat. Die Verteilung der Beute nach der Schlacht bei Hunain (im Januar 630) unter zwölftausend Mann muß eine recht komplizierte Angelegenheit gewesen sein; offenbar wurde sie aber glatt bewältigt. Die Eroberung byzantinischer und persischer Provinzen vermehrte anfangs nur unwesentlich die verwaltungstechnischen Probleme, da die verschiedenen nichtmuslimischen Gruppen autonom waren. Dadurch hatte es der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
268
muslimische Statthalter einer Provinz hauptsächlich mit den Muslimen in seiner Armee und deren Familien zu tun, während er daneben lediglich mit den Oberhäuptern der Minderheiten verhandelte, wenn er dafür zu sorgen hatte, daß sie ihre Steuern bezahlten und ihren anderen Pflichten nachkamen. Fragen wie die Festsetzung der Steuern wurden auf die einfache Weise gelöst, daß man die byzantinischen und persischen Beamten einfach zurückbehielt. Mindestens bis 750 wurde ein Neugläubiger normalerweise einem arabischen Stamm als Klient (maula) zugeteilt und dadurch in die bestehenden Verwaltungsverfahren eingereiht. Unter der Umajjadendynastie, das heißt bis 750, regelte sich das Verhältnis des Kalifen zu seinen führenden Beamten und Offizieren im wesentlichen nach älteren arabischen Vorstellungen. Vom Kalifen erwartete man, daß er sich mit diesen Männern beriet, wie es der Häuptling mit den Würdenträgern seines Stammes gehalten hatte. Als sich das Reich jedoch weiter ausdehnte und die Zahl der Muslime zunahm, erwies sich diese Methode als zu schwerfällig und als unbefriedigend. Es fehlte die Zeit, um alle möglichen Fragen von Männern diskutieren zu lassen, die für diese Dinge nicht verantwortlich waren, und so trugen sich denn einige der späten Umajjaden mit dem Gedanken, einzelne Züge der jahrhundertealten persischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
268
Staatskunst zu übernehmen. Doch ehe in diesem Punkt Entscheidungen gefallen waren, wurden die Umajjaden von den 'Abbasiden abgelöst. Die neue Dynastie hatte sich in ihrem Machtkampf weitgehend persischer Unterstützung bedient, und als sie das Heft in der Hand hielt, verwirklichte sie nicht nur die zuvor theoretische Gleichberechtigung arabischer und nichtarabischer Muslime, sondern übernahm auch viele Ideen und Gepflogenheiten aus der persischen Tradition. Der Kalif wurde autokratischer in seinen Entscheidungen, und es bildete sich um ihn eine Schicht von »Schreibern«, also Beamten, die ihm gegenüber verantwortlich waren und ihm gewöhnlich auch ihre Ämter zu verdanken hatten. Schließlich wurde es üblich, einen Mann – mit dem Titel Wezir (wazir) – einzusetzen, der die Arbeit der Beamten koordinieren und beaufsichtigen sollte. Als Folge des neu eingeführten persischen Hofzeremoniells rückte die Person des Kalifen in eine größere Distanz zu den Gläubigen, so daß der Zugang zu ihm für gewöhnliche Muslime beträchtlich erschwert wurde. Unter einem fähigen Wezir wie Jahja dem Barmakiden bewährte sich dieses System ausgezeichnet, aber fähige Wezire waren nicht allzu häufig. Die Bedeutung des persischen Elements zeigt sich auch darin, daß die späteren »Fürstenspiegel« viele Überlieferungen vom persischen Hof aus vorislamischer Zeit enthielten. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
269
Die Herrschaft der frühen 'Abbasiden unterschied sich von der der Umajjaden durch ein deutlicheres Bekenntnis zum Islam. Man sollte den Unterschied jedoch nicht überbewerten. Die Herrschaft der Umajjaden wird gewöhnlich als weltliches Regiment (mulk) charakterisiert, eine Bezeichnung, die freilich nicht ganz ohne den Einfluß 'abbasidischer Propaganda zu verstehen ist. Auch die Kalifen und andere führende Persönlichkeiten der Umajjadenzeit praktizierten ihre Religion nach den Bräuchen, doch die rechtlichen und theologischen Aspekte der Religion waren so wenig ausgebildet, daß sie kaum als Grundlage der Regierungsarbeit dienen konnten. Als dann aber die »fromme Opposition« oder »die allgemeine religiöse Bewegung« die 'Abbasiden in ihrer Mehrheit unterstützte, anerkannte die Dynastie, nachdem sie zur Macht gekommen war, deren noch kaum entwickeltes Rechtssystem, mußte aber gleichzeitig auf die verschiedenen Rechtsschulen – etwa in Medina, Basra und Kufa – einen gewissen Druck ausüben, damit sie sich einigten. Diese ausdrückliche Annahme der schari'a war der Grund für den Anspruch der 'Abbasiden, ihre Herrschaft beruhe auf religiöser Basis. Diese beiden Momente – die Übernahme persischer Staatskunst und die Achtung vor dem islamischen Recht – bilden die Pole des politischen Lebens im ersten Jahrhundert Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
269
und, wenn auch in geringem Maße, in den folgenden etwa zweihundert Jahren der 'Abbasidenzeit. Es mag vielleicht seltsam erscheinen, daß unter einer »orientalischen Despotie« überhaupt ein politisches Leben existiert. Aber es gibt nur wenige Gesellschaften, in denen nicht Interessengegensätze zu Spaltungen und Gruppierungen führen. Vor allem herrschte unter den 'Abbasiden beträchtliche Rivalität zwischen den »Schreibern« und den 'ulama', den Rechtsberatern und religiösen Gelehrten. Andere Interessen verbündeten sich mit einer dieser beiden Parteien und bildeten schließlich zwei gegnerische Lager, die man die »Absolutisten« und die »Konstitutionalisten« nennen könnte. Die »Absolutisten« forderten für den Kalifen und seinen Regierungsapparat mehr absolute autokratische Macht; zu ihnen gehörten außer den »Schreibern« auch Männer von gemäßigter schi'itischer Gesinnung und Förderer des persischen Elements. Die »Konstitutionalisten« dagegen wollten eine Verminderung der autokratischen Praktiken durch die Unterordnung des Kalifen und seiner Regierung unter das geoffenbarte Recht des Korans und der Tradition. In diesem Lager standen natürlich die 'ulama', die von sich behaupteten, die einzigen qualifizierten Rechtsinterpreten zu sein; außerdem neigten ihm die Anhänger der sunnitischen Richtung ebenso zu wie diejenigen, die den arabischen Primat aufrechtzuerhalten suchten. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
270
Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Lagern äußerte sich auf eine Weise, die dem heutigen Leser merkwürdig vorkommen mag. So wurde beispielsweise über historische Ereignisse aus der frühesten Zeit des Islam debattiert. Erbitterte Streitgespräche (im 9. Jahrhundert) sollten ergründen, was im Jahr 632 oder 656 geschehen war, und zwar nicht etwa, um die objektive historische Wahrheit zu finden, sondern lediglich, um die politischen Prinzipien zu rechtfertigen, die die eine oder andere Seite in der gegenwärtigen Situation angewendet wissen wollte. Ein anderes Kampffeld war die Theologie. Revolutionäre Bewegungen haben ja unter Bedingungen wie die im islamischen Reich, wenn sie auch meistens peripherer Natur sind, häufig religiöse Motive. In einem Fall jedoch geriet die Theologie in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen, und zwar, als die 'Abbasiden einen Kompromiß zwischen den beiden Lagern zustande zu bringen suchten. Dies geschah in der sogenannten »Inquisition«, besser »Glaubensprüfung« (mihna), 827 durch ein Dekret eingeführt, das von den höheren Verwaltungsbeamten sowohl in der Hauptstadt als auch in den Provinzen ein öffentliches Bekenntnis zum »geschaffenen Koran« verlangte. Dies widersprach der Überzeugung vieler 'ulama', daß der Koran das ungeschaffene Wort Gottes darstelle. Mit diesem Dekret, das geeignet war, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
270
Ansprüche der 'ulama' zu entkräften, hofften die Herrscher zweifellos, die Gunst der »Absolutisten« zu gewinnen, ohne gänzlich den Rückhalt bei den »Konstitutionalisten« zu verlieren. Aber dieser Kompromiß konnte kaum halten, selbst wenn die Verhältnisse unverändert geblieben wären. Kurz nach 833 nahm jedoch der Kalif türkische Soldaten und Offiziere in seine Leibwache auf, und schon nach wenigen Jahren wurden diese Türken zu einem gewichtigen politischen Faktor. Um 850 gab man dann die Politik der Inquisition wieder auf, und die Herrscher suchten fortan vor allem bei den »Konstitutionalisten« Unterstützung. Damit gewann die sunnitische Form des Islam die Oberhand in der islamischen Gesellschaft, nachdem sie im vorangegangenen halben Jahrhundert rasch eine verbindliche Lehre und ein geschlossenes Rechtssystem entwickelt hatte. Der wachsende Einfluß der türkischen Offiziere war nur eines der Symptome für den Niedergang des Kalifats. Ein anderes war der Verlust der Kontrolle über die Randprovinzen. Die 'Abbasiden hatten Spanien niemals wirklich beherrscht, denn schon 755, noch ehe ihre Truppen bis dorthin vordringen konnten, hatte ein Angehöriger der Umajjadendynastie, der dem Massaker unter seinen Verwandten entronnen war, in Spanien ein unabhängiges Emirat errichtet. Nach 787 hatten die 'Abbasiden auch im Nordafrika Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
270
westlich Ägyptens praktisch keinen Einfluß mehr. In Tunesien etablierte sich eine halbunabhängige Dynastie, die Aghlabiden, die sich nur scheinbar zum Kalifen bekannte und für ihn betete, aber keinerlei Anordnungen von ihm annahmen. Marokko stand unter der Herrschaft der schi'itischen Idrisiden, die nicht einmal dies taten. Im Jahre 820 wurde ein General namens Tahir zum Statthalter von Chorasan ernannt. Dieses Amt blieb über ein halbes Jahrhundert lang im Besitz seiner Familie, die schließlich nicht vom Kalifen abberufen, sondern von einem anderen Militärmachthaber besiegt wurde; dieser wiederum mußte der Samanidendynastie weichen, die ungefähr hundert Jahre lang bis um 1000 Transoxanien, Afghanistan und einen großen Teil Persiens beherrschte. Während der gleichen Zeit war auch Ägypten mehr oder weniger unabhängig. Das Verfahren war in den meisten Fällen das gleiche: Ein kriegerischer Abenteurer ergriff irgendwo die Macht und bat dann den Kalifen, ihn zum Statthalter für das betreffende Gebiet zu ernennen. Es ist jedoch bemerkenswert, daß man derartige Ernennungsurkunden überhaupt erstrebte. Wahrscheinlich hielt man sie für notwendig, um die Herrschaft in den Augen der Untertanen zu legitimieren. Weshalb allerdings die Kalifen so machtlos waren, ist nicht ganz klar. Vermutlich spielten die riesigen Entfernungen eine Rolle, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
271
denn bei dem langsamen Verkehr mußte ein großer Teil der Verantwortung den Männern an Ort und Stelle überlassen werden. Außerdem scheint die Energie im Zentrum des Reiches nachgelassen zu haben, vielleicht als Folge der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern, die zweifellos viel Kraft gekostet haben werden. Und die Hinwendung zur sunnitischen Lehre um 850 war möglicherweise eine Reaktion der Schwäche im Angesicht einer drohenden Militärherrschaft. Eine neue und gefährliche Bedrohung ging von der Fatimidendynastie aus, die zu Beginn des 10. Jahrhunderts in Tunesien in Erscheinung trat. Ihr Name stammte von Muhammads Tochter Fatima, die dessen Vetter 'Ali geheiratet hatte, und sie erhoben damit den Anspruch, von deren Söhnen abzustammen. Das Neue aber war, daß diese Dynastie ihre Herrschaft auf die Verbreitung der isma'ilitischen Form des Schi'ismus gründete. Eine entsprechende, auf einen Umsturz abzielende Agitation war im letzten Viertel des 9. Jahrhunderts unter den Unzufriedenen in Syrien, im Irak, in Arabien und anderswo weit verbreitet gewesen. Die Fatimiden waren jedoch nicht die einzigen Träger dieser Bewegung, aber ihre Etablierung in Tunesien im Jahre 909 und ihre anschließende Eroberung Ägyptens 969 verliehen ihnen eine beherrschende Position. Und nur wenig später sahen sich die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
271
Herrscher in Bagdad der Möglichkeit einer Revolution mit Unterstützung bewaffneter Interventionen aus Ägypten gegenüber. Was diese Bedrohung so gefährlich machte, war der Umstand, daß die Fatimiden ein ausgeklügeltes theologisches und philosophisches System besaßen, mit dessen Hilfe sie ihren Anspruch, die rechtmäßigen Herrscher der gesamten islamischen Welt zu sein, zu begründen vermochten. Nach dem Sturz der Bujiden im Jahr 1055 schien es eine Zeitlang, als würden ihre Ambitionen Wirklichkeit, da Bagdad fast ein Jahr lang in ihrem Namen von einem türkischen General besetzt gehalten wurde. Als dieser jedoch keine Unterstützung aus Ägypten erhielt, zeigte sich, daß die anfängliche Energie der Fatimiden erlahmt war. Vielleicht rührte das Scheitern der Fatimiden im Grunde daher, daß sie, wie die Isma-'iliten im allgemeinen, von einer politischen Theorie ausgingen, die zu akademisch war und zur praktischen Regierungsarbeit wenig taugte. Ein ständiges Problem etwa war die Sorge dafür, daß im Herrschaftszentrum die fähigen Männer das Heft in der Hand behielten, was wenig später auf einfallsreiche Weise gelöst wurde. Das eine jedoch erreichte ihre Theorie: Sie rechtfertigte den Übergang der höchsten Gewalt in der islamischen Welt von den 'Abbasiden auf die Fatimiden, doch sie selbst entwickelten kein neues Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
271
Nachfolgeprinzip und erst recht keine Methode, die leitenden Minister unter Kontrolle zu halten, falls der Kalif, was zuweilen vorkam, ein Mindestmaß an Fähigkeiten vermissen ließ. Da der Kalif oder Imam als von Gott inspiriert galt und daher stets überlegenes Wissen und höhere Weisheit besitzen mußte, widersprach es der Theorie, wenn die höchste Macht tatsächlich von den Ministern ausgeübt wurde. Doch ehe noch die ganze Größe der Fatimidengefahr deutlich wurde, hatten die 'Abbasiden auch im Zentrum des Reiches alle wirkliche Macht verloren. 945 hatte sich eine Familie persischer Militärmachthaber, die einer gemäßigten Form des Schi'ismus anhingen, die Bujiden, zu den tatsächlichen Herrschern in Bagdad und den Zentralprovinzen aufgeschwungen und waren von den Kalifen anerkannt worden. Ihnen folgten 1055 die türkischen Seldschuken, die das Kalifat über ein Jahrhundert lang kontrollierten, aber in den letzten Jahrzehnten untereinander zerstritten waren. Während dieser Vorgänge im Zentrum dehnte ein kleiner Staat, der 962 in Ghazna in Afghanistan gegründet worden war, seine Herrschaft bis nach Nordwestindien, zeitweise sogar auch nach Transoxanien und über Teile Persiens aus. Die herrschende Familie dieses Staats sind als die Ghaznawiden bekannt und waren, wie die Seldschuken, türkischer Herkunft und der sunnitischen Sache ergeben. Sie erkannten die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
272
'abbasidischen Kalifen in Bagdad an und herrschten über zwei Jahrhunderte lang. Außer diesen Dynastien gab es noch zahlreiche kleinere, die zu verschiedenen Zeiten einzelne Gebiete regierten und mehr oder weniger unabhängig waren. Die Erfolge der Kreuzzüge in Syrien und Palästina sind wohl nur wegen der Zerwürfnisse und Rivalitäten unter den teilweise unabhängigen Lokalherrschern möglich gewesen. Die mächtigeren der unabhängigen Militärmachthaber bezeichnet man heute gewöhnlich als »Sultane«, um sie von den Kalifen zu unterscheiden. Ihre Zeitgenossen gaben ihnen jedoch verschiedene Titel und nannten oft auch den Kalifen selbst »Sultan«, was im Arabischen einfach »Autorität« bedeutet. Interessant daran ist, daß praktisch unabhängige Herrscherwert darauf gelegt haben sollten, Ernennungsschreiben von jemandem zu erhalten, der bedeutend weniger Macht besaß als sie selbst. Wie schon erwähnt, verlieh dies ihrer Herrschaft einen Anschein von Legitimität und erhöhte wahrscheinlich auch die Bereitschaft ihrer Untertanen, sie anzuerkennen. Aber die Erhaltung des Kalifats scheint nicht nur den materiellen Interessen der Militärmachthaber wie der 'Abbasiden gedient zu haben. Die sunnitische Form das Islam enthält im Grunde eine tiefe Bindung an die Gemeinschaft, in der und durch die der Einzelne Inhalt und Sinn seines Lebens findet, und zwar, weil sie eine von Gott Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
272
gegründete Gemeinschaft ist, deren Kennzeichen die Tatsache ist, daß sie auf dem geoffenbarten Recht, der schari'a, beruht. Die Gültigkeit des Rechtssystems in der Praxis jedoch leitete man vom Kalifen her. Gerichtsurteile waren beispielsweise deshalb gültig, weil die Richter entweder direkt vom Kalifen oder von einem von ihm ernannten »Sultan« beauftragt waren. Dieses Argument benutzte zumindest al-Ghazali um 1095, was als Hinweis auf tief religiöse Gründe für die Erhaltung des Kalifats zu verstehen wäre. Die Linie der 'Abbasiden-Kalifen endete 1258, als der Kalif bei der Eroberung Bagdads durch die Mongolen getötet wurde. Dies bedeutete das Ende des Kalifats in der Form, in der es seit 945 bestanden hatte. Die osmanischen Sultane beanspruchten Titel und Amt mit der Begründung, das Kalifat sei ihnen von dem letzten einer Reihe von 'Abbasiden-Kalifen übertragen worden, die nach 1258 in Kairo residierten. Diese zweite 'Abbasidenlinie war jedoch nicht wie die erste allgemein anerkannt gewesen, und der Kalifentitel verlieh den Osmanen keinerlei Macht oder Autorität, die sie nicht als Sultane ohnehin schon besaßen. Man kann also sagen, daß das Kalifat nach 1258 nur noch geringe historische Bedeutung hatte. Dieses faktische Verschwinden des Kalifats änderte jedoch nichts an den Grundproblemen, denen die Herrscher der islamischen Welt gegenüberstanden. Es Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
273
war erstens der innere Zusammenhalt der dynastischen Familien oder regierenden Gruppen, zweitens die Schwierigkeit, kompetente Verwaltungsbeamte zu finden, die entweder aus der herrschenden Gruppe hervorgingen oder darin aufgenommen wurden, und drittens das Problem, die Loyalität des Heeres zu den Herrschern zu gewährleisten. Die wichtigsten Versuche, diese Probleme – sowohl vor als auch nach 1258 – zu lösen, sollen nun eingehender untersucht werden. Das Problem, das Heer loyal zu erhalten, war im ersten Jahrhundert des Islam unschwer zu bewältigen, denn während der fast ununterbrochenen Expansion herrschten sowohl religiöse Begeisterung als auch eine gewisse Lust auf Abenteuer – nicht ohne ein Streben nach materiellem Gewinn. Doch im Laufe der Zeit ließ der religiöse Eifer nach. Die Umajjaden konnten sich wegen der Rivalität zwischen den beiden großen Stammesgruppen kaum mehr auf das arabische Heer verlassen. Anfangs waren viele Perser treue Anhänger der 'Abbasiden gewesen, aber um 835 hielt es ein Kalif für sicherer, sich eine Leibwache aus türkischen Söldnern zu schaffen – vielleicht auch als Gegengewicht gegen das Sektierertum, das unter den Muslims überhand genommen hatte. Die 827 eingeleitete Kompromißpolitik der »Inquisition« ist ein deutliches Zeichen für die tiefe Beunruhigung der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
273
Herrscher jener Zeit über die im Entstehen begriffene Spaltung des Islam in Sunniten und Schi'iten. Schon seit mindestens anderthalb Jahrhunderten war es innerhalb der islamischen Gemeinschaft zu Meinungsverschiedenheiten gekommen, die sich schließlich verschärft hatten. Die Kalifen setzten nun türkische Truppen ein, weil sie sich nicht zwingen lassen wollten, sich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen, oder weil es überhaupt unmöglich schien, beiden Parteien zu vertrauen. Anfangs hielten der Sold und die Tatsache, daß sie Fremde in einer ihnen fremden Umgebung waren, die Türken bei der Stange. Bald aber wurden sie sich ihrer Macht bewußt und folgten in erster Linie ihren eigenen Anführern. Diese Entwicklung zeigt, daß die Frage der Loyalität des Heeres die Geschichte des Kalifats entscheidend bestimmt hat. Islamische Gläubigkeit in jedweder Form war immer weniger in der Lage, das Heer dem Kalifen treu zu erhalten. Selbst wenn der Kalif genügend finanzielle Mittel besaß, um ein Heer aufzustellen, konnte er sich damit dessen Verläßlichkeit nur bis zu einem gewissen Grade versichern, da stets die Möglichkeit bestand, daß ein Gegner mehr bezahlte. Die erfolgreichen Militärmachthaber dagegen verfügten dank der Stammesbindungen oder anderer Traditionen über eine große, ihnen treu ergebene Gefolgschaft. Ob es nun Perser, Türken oder Mongolen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
273
waren – ein loyales und folgsames Heer war ausschlaggebend für den Erfolg. In diesem Zusammenhang kann man in der Politik der persischen Safawiden den Versuch erblicken, der Loyalität ihrer Untertanen wieder eine religiöse Grundlage zu verschaffen. 1502 erhob Schah Isma'il in seinem Herrschaftsbereich, der sich etwa mit dem modernen Persien deckte, die imamitische Schi'a zur offiziellen Religion. So bekamen die Perser eine eigene Religion, was den inneren Zusammenhang stärkte und, da die imamitische Schi'a die Stellung und Gaben des Imam – also des Herrschers – besonders betonte, außerdem eine Bindung zwischen dem Sultan und seinem Heer knüpfte. Dem Experiment der Safawiden war jedoch kein überaus großer Erfolg beschieden, der sie in den Stand gesetzt hätte, ein sich weit über Persien hinaus erstreckendes Reich zu schaffen. Immerhin war es erfolgreich genug, um den Bestand des Safawidenstaates zwei Jahrhunderte hindurch zu sichern, und danach hielt sich dieser Staat noch unter verschiedenen Dynastien weitere zweihundertfünfzig Jahre lang. Die besondere religiöse Lehre bedeutete in gewissem Sinne die Vorbereitung des dann im 19. Jahrhundert aufkommenden Nationalismus. Schließlich zum Problem des Zusammenhalts der dynastischen Familie oder herrschenden Gruppe. Es war mit anderen Worten das Problem, unter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
274
denjenigen, die dem Inhaber der Macht nahestanden, einen Streit um die Verteilung der einflußreichen Positionen zu verhindern. Als erstes war da die Frage der Nachfolge. In der arabischen Tradition verlieh die Erstgeburt keine besonderen Privilegien. Gewöhnlich folgte das fähigste Mitglied der Familie in der Führung nach. Die Araber hatten offenbar ihre eigene Art, sich darüber einig zu werden, wer der Fähigste war. Vielleicht hatten die Umajjaden deshalb so wenig Schwierigkeiten in der Nachfolgefrage, weil sie noch in der arabischen Tradition standen, wenn es auch manchmal nicht leicht war, einen Nachfolger von den übrigen Arabern anerkennen zu lassen. Die 'Abbasiden dagegen waren bald untereinander zerstritten. AlHadi und sein Bruder Harun ar-Raschid liebten sich nicht besonders, und zwischen den Brüdern al-Amin und al-Ma'mun kam es zu offenem Kampf. Zweifellos hat auch die luxuriöse Atmosphäre am Hofe ihren Teil zu einer derart weitgehenden Lockerung der Familienbande beigetragen. Einige Dynastien von Militärmachthabern wiederum, die aus recht einfachen Verhältnissen zu riesiger Machtfülle gelangt waren, bewahrten sich mindestens für eine Generation ein starkes Familiengefühl. Da in der islamischen Welt den Provinzgouverneuren Vertrauen entgegengebracht und beträchtliche Autonomie zugestanden werden mußte, hielten es einige Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
274
Dynastien für das sicherste, die wichtigsten Ämter mit Familienmitgliedern zu besetzen. Die Bujiden begannen ihre Herrschaft um 932 mit einer recht freundschaftlichen Aufteilung der Macht unter drei Brüdern. Aber schon in der nächsten Generation waren die Beziehungen innerhalb der Familie nicht mehr die besten. Auch die Seldschuken-Sultane vergaben zu Anfang die Machtpositionen in entfernteren Provinzen an Mitglieder ihrer eigenen Familie. Doch im Laufe der Zeit wurden diese Verwandten und ihre Nachkommen so gut wie völlig unabhängig. Ähnliches ist auch in anderen Dynastien zu beobachten. Man kann aber nicht sagen, daß die islamische Welt eine generelle Lösung für dieses Problem gefunden hat, wenn es auch zahlreiche Beispiele dafür gibt, daß Familienmitglieder harmonisch zusammengearbeitet haben, vor allem dann, wenn sie eben an die Macht gekommen waren. Daher bestand die Lösung gewissermaßen darin, daß die streitsüchtige Dynastie an Macht einbüßte und von einer neuen Familie abgelöst wurde. Es mag seltsam erscheinen, daß die Muslime, die ein wirkungsvolles Schema für das Vererben individuellen Besitzes entwickelt hatten, keinen Weg fanden, den Übergang politischer Macht zu regeln. Der Hauptgrund ist wahrscheinlich der, daß die Macht nicht als Besitztum des Herrschers angesehen wurde. Die Umajjaden bildeten darin eine Ausnahme, denn Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
275
von ihnen sagte man, sie hätten mulk gehabt, ein arabisches Wort, in dem sich die Vorstellungen »Herrschaft« und »Besitz« verbinden. Mit der Machtergreifung der 'Abbasiden trat jedoch die religiöse Grundlage des Kalifats stärker hervor, und das bedeutete, besonders für Menschen, die den Sunniten zuneigten, daß der Kalif eine besondere Funktion für die Gemeinschaft erfüllte. Deshalb mußte eine Person gefunden werden, die dieser Aufgabe auch tatsächlich gewachsen war. Die gleiche Sorge um wirkungsvolle Führung hatte in vorislamischer Zeit die Wahl des Scheichs eines Nomadenstammes bestimmt. Die nomadische Nachfolgeregelung hatte im großen ganzen funktioniert; sie setzte aber eine intuitive Haltung voraus, die sich nicht kodifizieren oder verallgemeinern ließ, und darüber hinaus vor allem den Zusammenhalt der Familie oder des Klans, aus dem der Herrscher hervorgehen sollte, und die Bewährung eben jener intuitiven Haltung. Nach 750 führten die Verhältnisse im 'Abbasidenstaat zum vollständigen Verlust dieser Haltung. Nun war es nicht nur unmöglich, die Nachfolge im Kalifat auf islamische Prinzipien zu gründen, sondern selbst die Beziehungen der Männer in den Herrschaftsinstitutionen ließen sich nicht mehr gerecht ordnen. Häufig wurde ein gestürzter Minister, obwohl keines ernsthaften Vergehens schuldig, von seinem Nachfolger grausam »bestraft«. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
275
Dies führt uns zur Erörterung des letzten Punktes, nämlich dem. Problem, fähige Verwaltungsbeamte zu finden. Einige wenige Herrscherfamilien scheinen eine erbliche Begabung für die Verwaltung besessen zu haben; sie brachten eine Reihe hochbefähigter Männer hervor. In den meisten Familien aber gingen solche Anlagen, falls sie überhaupt vorhanden waren, früher oder später wieder verloren. Deshalb galt es, tüchtige Männer ausfindig zu machen und sie als treue Untertanen an die Herrscherfamilie zu binden. Dies fiel den 'Abbasiden, solange sie die politische Macht in Händen hielten, nicht schwer, denn sie besaßen ein Charisma, das kein noch so fähiger Wezir für sich beanspruchen konnte. Für eine Sultansfamilie jedoch, der dieses Charisma fehlte, war ein tüchtiger Wezir stets ein möglicher Nachfolger. Eine Methode, Kompetenz verbunden mit Ergebenheit zu erlangen, bestand darin, einen älteren Beamten, der sich bereits in der Verwaltung bewährt hatte, einem jungen Anwärter auf das höchste Amt beizugeben. Einige der 'Abbasidenkalifen etwa teilten den Prinzen Männer aus dem Stand der »Schreiber« zu, und wenn der Prinz Kalif wurde, erhielt der »Tutor« das Amt des ersten Wezirs. Ein Beispiel dafür war alFadl ibn Sahl, der 803 (als Nachfolger von Dscha'far al-Barmaki) der Tutor al-Ma'mans wurde und dessen Ratschlag wohl im wesentlichen für den Sieg Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
275
al-Ma'muns in dem Kampf gegen seinen Bruder alAmin (810-813) zu verdanken war; danach war alFadl ibn Sahl bis 818 Wezir. Eine ähnliche Praxis wurde später unter den Seldschuken gang und gäbe. Männer, häufig von Sklaven abstammend, die ihre Fähigkeiten als Offiziere und Verwaltungsbeamte bewiesen hatten, wurden zu Hütern junger Familienmitglieder ernannt und erhielten den Titel atabeg (Vormund). Bei den Seldschuken jedoch bewährte sich dieses System im ganzen gesehen nicht. Einige Atabegs, im Besitz der konkreten Macht, sahen keinen Grund, weshalb sie den Anschein, im Namen eines seldschukischen Schwächlings zu regieren, aufrechterhalten sollten, und machten ihre eigene Familie zur herrschenden Dynastie. Vor allem bei den Türken wurde es allgemein üblich, die höchsten Verwaltungsstellen mit Sklaven zu besetzen; viele der von den Seldschuken ernannten Atabegs waren ursprünglich Sklaven gewesen. Ägypten wurde von 1250 bis 1517 von Mamluken ausgezeichnet regiert, einer Reihe – man kann sie kaum als Dynastie bezeichnen – ehemaliger Sklaven türkischen oder tscherkessischen Ursprungs. Gelegentlich ging die Herrschaft vom Vater auf den Sohn über, häufiger vom Herrn auf den Sklaven oder einfach von einem Mitglied der herrschenden Mamluken-Gruppe auf ein anderes. So wurde Ägypten zweieinhalb Jahrhunderte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
276
hindurch von einer Gruppe verwaltet, deren Mitglieder allesamt – bis auf eine oder zwei Ausnahmen – ehemalige Sklaven waren. Dieses System wurde unter den osmanischen Türken bis zur Perfektion entwickelt. Die osmanischen Sultane unterhielten einen riesigen Sklavenhaushalt, den sie in sorgfältiger Auswahl bei Völkern wie den Tscherkessen ergänzten. Intelligente Jungen oder Jugendliche wurden aus ihrer heimatlichen Umwelt herausgenommen, erhielten in den Palastschulen die beste Erziehung ihrer Zeit und wurden dann in geeigneten Stellen im Heer oder der Zivilverwaltung untergebracht. Für den heutigen westlichen Leser hat die Verwendung von Sklaven in höchsten Regierungsämtern etwas Phantastisches. Doch nach einigem Nachdenken zeigt sich, weshalb dieses System, besonders in seiner osmanischen Form, so gut funktionierte. Im Grunde handelte es sich um ein wohldurchdachtes Erziehungssystem, das darüber hinaus noch den Vorteil hatte, daß der Einzelne durch Erziehung und Sklavenstatus von seiner Familie und seinen Ursprüngen völlig abgeschnitten war. Deshalb galt seine Loyalität in erster Linie dem Regierungsapparat, dessen Teil er war, zumal die Zugehörigkeit zu ihm seinem Leben die entscheidende Sicherheit verlieh. In der Zeit, als die Osmanen noch energische Herrscher stellten, verhielten sich die im Palast erzogenen Beamten dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
276
Sultan gegenüber loyal. Als aber die Macht vom Sultan auf die Palastverwaltung überging, wendete sich die Loyalität der Einzelnen gern dieser Verwaltung oder der herrschenden Gruppe zu. So gewann das osmanische Herrschaftssystem eine gewisse Zeit ein hohes Maß an Kompetenz und Zusammenhalt. Schwierigkeiten ergaben sich nur, wenn Söhne früherer Verwaltungsbeamter oder Personen außerhalb des Palastsystems ernannt wurden. Der Niedergang der Osmanen im 19. Jahrhundert darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihr Verwaltungs- und Erziehungssystem über einen langen Zeitraum hin außerordentlich wirksam funktioniert hatte. Während also die Herrscher die Regierungsprobleme in der islamischen Welt zu lösen versuchten, bildete sich im Volk eine relativ stabile Gesellschaftsordnung heraus. Die Herrscher akzeptierten im großen ganzen die Ansicht der politischen Theoretiker, daß Zweck des Staates sei, dem gemeinen Muslim die ungestörte Erfüllung seiner religiösen Pflichten zu ermöglichen. Seit der frühen 'Abbasidenzeit anerkannten die Herrscher auch die Suprematie der schari'a. Da dies jedoch ideales Recht und nicht, wie es der moderne Westen versteht, positives Recht darstellte, waren selbst die Teile davon, die nach heutiger Vorstellung der Rechtssphäre (im Gegensatz zur religiösen und ethischen Sphäre) angehören, nur teilweise Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
277
wirksam, das heißt, sie wurden nur dann wirksam, wenn der Herrscher Richter oder Gerichte ernannte, die sich mit bestimmten Fällen zu befassen hatten. Fast immer stellte die schari'a bei Heirat, Scheidungen und in Erbangelegenheiten entsprechende Bestimmungen zur Verfügung. Das bedeutete, daß sich das Privatleben in der gesamten islamischen Welt nach feststehenden Normen vollzog und von Herrschaftswechseln wenig berührt wurde. Im ganzen gesehen kannte der gemeine Mann seinen Ort, sowohl in bezug auf seine Mitmenschen als auch gegenüber der Staatsverwaltung. Ebenso konnten sich Handelsgeschäfte und Grundbesitz nach der schari'a richten; doch dies wurde häufig entsprechend den örtlichen Gepflogenheiten abgewandelt. Im 19. Jahrhundert führte man dann weithin ein stärker europäisiertes Handelsrecht ein. Andererseits spielte sich in den höheren Rängen der Verwaltung und in Hofkreisen zuweilen ein nackter Machtkampf ab, in dem der Einzelne praktisch keinerlei Rechtsschutz genoß. Zweifellos gehört die schari'a zu den Elementen, die der islamischen Welt ihren unverwechselbaren Charakter verliehen haben. Die Tatsache, daß sie ideales Recht und keinen Corpus positiver Rechtsentscheidungen darstellt, ist Teil ihrer Stärke. Sie enthält Aspekte – etwa über die Pflicht hinausgehende religiöse Praktiken oder Ratschläge für moralische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
277
Vollkommenheit –, die der fromme Muslim mit Eifer in seinem Leben zu verwirklichen trachtet, obwohl kein Gericht jemals Sanktionen gegen ihn verhängen kann, wenn er seine Bemühungen in dieser Richtung vernachlässigt. Wegen der allgemein verbreiteten Treue zur schari'a insgesamt kann es sich kein Herrscher erlauben, ihr in Dingen zuwiderzuhandeln, an denen der gemeine Mann interessiert ist. Deshalb ist Herrschaft in der islamischen Welt, selbst wenn sie autokratisch erscheint, stets Beschränkungen unterworfen und determiniert bei weitem nicht total das Leben der Gesellschaft. Dies ist auch der Grund, weshalb sich die Struktur der islamischen Gesellschaft inmitten von Aufstieg und Fall der Dynastien fast unverändert erhalten hat.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
277
Der Islam und die moderne Welt Die Expansion geht weiter Als die islamische Kultur mit der des modernen Europa in engere Berührung kam, hatte sie sich weit über das Gebiet der Umajjaden- und frühen 'AbbasidenKalifen hinaus ausgedehnt. Die sozusagen ursprüngliche Expansion des Islam war 750 im wesentlichen vollendet. Zu dieser Zeit erstreckte sich die islamische Herrschaft von Spanien und Marokko bis nach Nordwestindien. Im Süden verlief ihre Grenze etwa in der Sahara und am Indischen Ozean, und im Norden war sie an Taurus und Kaukasus zum Stehen gekommen, hatte sich aber auch in Transoxanien etabliert. Die Gebiete innerhalb dieser Grenzen kann man als die Kernländer des Islam bezeichnen. Mit Ausnahme Spaniens, das allmählich von den kleinen nördlichen Staaten zurückerobert wurde, gehören sie im wesentlichen noch heute dazu. Weder die Kreuzzüge noch der spätere europäische Kolonialismus vermochten den islamischen Charakter der Kultur in diesen Ländern zu beeinflussen. Dagegen setzte, nachdem der Islam und die islamische Herrschaft mehrere Jahrhunderte hindurch grob gesehen in den Grenzen von 750 verharrt hatte, eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
278
zweite Expansionswelle ein, die heute noch andauert. Die türkischen Seldschuken richteten sich im späten 11. Jahrhundert in Kleinasien ein. Ihnen folgten die türkischen Osmanen, die sich nicht nur ganz Kleinasien unterwarfen, sondern auch eine Zeitlang Südosteuropa einschließlich Ungarns beherrschten; ein Autor des 17. Jahrhunderts nannte den Islam eine europäische Religion. Weiter im Osten konnte sich die islamische Religion und Kultur dank der Bekehrung der Mongolen weiter ausdehnen und sogar bis nach China vordringen. Auf dem indischen Subkontinent setzte im 11. und 12. Jahrhundert die Ghaznawidendynastie die Expansion fort, und man kann sagen, daß dort die muslimische Macht unter den MogulKaisern am Ende des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. In den Randgebieten Ost- und Westafrika, Malaya und Indonesien sickerte der Islam nur allmählich ein, bis er von kleinen Lokalherrschern angenommen und in ihren Gebieten zur offiziellen Religion erhoben wurde. Diese Infiltration ist noch im Gange, und die Gebiete, in denen der Islam dominiert, erweitern sich ständig. Die verschiedenen Völkerbewegungen des 20. Jahrhunderts brachten es mit sich, daß Muslime in die meisten Länder der Erde kamen, ein Umstand, der vor allem deshalb bedeutsam ist, weil dadurch die Kontakte zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen beträchtlich zunahmen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
278
Einer der entscheidenden Gründe für diese erfolgreiche Ausbreitung des Islam muß in der Tatsache gesehen werden, daß es den Muslimen gelang, eine stabile Gesellschaftsordnung zu schaffen; dies gilt besonders für die städtische Bevölkerung. Die von der schari'a herbeigeführte Sozialstruktur verlieh, wie bereits erwähnt, dem gemeinen Mann die Gewißheit, von der ihm übergeordneten Autorität fair und gerecht behandelt zu werden, und vermochte sich in allen Wechselfällen der Geschichte zu erhalten. Außenstehende konnten nicht umhin, die Vorteile dieser Gesellschaftsform zu bemerken. Hinzu kamen schließlich das ausgeprägte Selbstbewußtsein der Muslime und ihr Stolz auf ihre Gemeinschaft. Andersgläubige, die mit all dem in Berührung kamen, mußten sich, falls ihnen ein vergleichbares Vertrauen in die eigene Gemeinschaft abging, unterlegen fühlen und den Wunsch verspüren, dieser »höheren« Gemeinschaft anzugehören. Der Übertritt von Anhängern höherer Religionen zum Islam ging normalerweise jedoch nur langsam vonstatten. Die Christen in der arabisch sprechenden Welt waren als Folge der wenn auch nur vereinzelten Konversionen in den Jahrhunderten zu einer Minderheit geworden. Die meisten waren zwar stolz auf ihre Zugehörigkeit zur Kirche, doch immer wieder wurden sich Einzelne der Nachteile eines Daseins als Bürger Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
278
zweiter Klasse bewußt und bekannten sich zum Islam. Es ist also hauptsächlich dem allmählich wachsenden sozialen Druck zuzuschreiben, wenn der Islam in der ursprünglichen Heimat der Christenheit schließlich dominierte. Ein ähnlich langsamer, aber unnachgiebiger sozialer Prozeß förderte die Ausbreitung des Islam auch in anderen Gebieten und gegenüber anderen Religionen. Politische und militärische Erfolge haben natürlich ebenfalls ihren Teil zur Expansion des Islam und der islamischen Kultur beigetragen, freilich nicht in der simplen, handgreiflichen Art und Weise, die manche als selbstverständlich voraussetzen. Fast immer war das Leben der Andersgläubigen unter muslimischer Herrschaft erträglich und geruhsam, oft sogar angenehm. Gleichzeitig jedoch wurden ihnen ständig die politische Vorrangstellung der Muslime und die Vorteile der islamischen Sozialstruktur vor Augen geführt. Auf diesem indirekten Weg förderten die politischen Erfolge die Ausbreitung des Islam, was normalerweise die Annahme auch der islamischen Gesellschaftsordnung zur Folge hatte. Dieser Prozeß vollzog sich aber sehr langsam und kam erst nach mehreren Jahrhunderten zum Abschluß. Die Stärke der islamischen Gesellschaftsstruktur war – und ist noch heute – vor allem in den Randgebieten wie Ost- und Westafrika, Malaya und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
279
Indonesien ein mächtiger Faktor bei der Ausbreitung des Islam. Als eine der Folgen des europäischen Einflusses löste sich die traditionelle Agrargesellschaft auf, da zunehmend mehr Menschen in den Handel oder in andere städtische Berufe abwanderten. Die alten ländlichen Religionen, die man üblicherweise allzu vereinfachend als »animistisch« zusammenfaßt, vermochten den Menschen in der neuen Situation, in der sie sich vorfanden, nicht mehr Stütze und Anleitung zu geben. So war es nur natürlich, daß sie sich dieser Weltreligion der Kaufleute und der urbanen Gesellschaftsschichten zuwandten, zumal sie Kultformen und Denkgehalte besaß, die auch den Bedürfnissen einer ehemals ländlichen Bevölkerung entgegenkamen, die sich jetzt einem neuen Lebensstil anzupassen hatte. Selbst in Gebieten, in denen bereits weite Bevölkerungskreise dem Islam zugehörten, hatte er seinen Teil zu dem Anpassungsprozeß beizutragen. Die sogenannten »theokratischen Staaten« Westafrikas – vor allem der des Usman dan-Fodio (regierte 1804-1817), des Schehu Ahmadu Lobbo (18101844) und des aj-Hajj Umar (1854-1864) – können als Versuche angesehen werden, Inseln einer neuen Ordnung inmitten der Unordnung zu schaffen, welche die Ankunft europäischer Händler an den Küsten und der ansteigende Sklavenhandel hervorgerufen hatten. Auch der Mahdi-Staat im östlichen Sudan Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
279
(1881-1898) gehört in gewissem Sinne hierher. Islamische Zielsetzungen und Konzeptionen waren es, die hinreichend geschlossene politische Grundlagen konstituieren sollten, um einiges von der alten Lebensweise gegen die europäischen Eingriffe zu bewahren. In manchen Gebieten gab es bis 1950 keine Möglichkeit, einen islamischen Staat zu gründen, der imstande gewesen wäre, sich eine relative Unabhängigkeit in einer Welt zu sichern, in der die Großmächte des Westens (einschließlich Rußlands) ihre Kontrolle nach allen Seiten hin ausweiteten und befestigten. Aber sogar in diesen Ländern spielte der Islam als Kristallisationspunkt der antieuropäischen Gefühle allmählich eine bedeutsame Rolle. Immerhin hatte er eine lange Tradition – zurückreichend bis ins erste Jahrhundert seines Bestehens – im Widerstand gegen das Christentum; und wenn ein Afrikaner oder Südostasiate zum Islam übertrat, so bedeutete das für ihn, daß er sich einer Gemeinschaft anschloß, die einst der europäisch-christlichen Welt zumindest ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen gewesen war. Das Selbstbewußtsein und der Glaube in die eigenen Werte des Islam zerstreuten überdies die Minderwertigkeitsgefühle und verliehen neues Selbstvertrauen. So war die islamische Welt, vom 16. Jahrhundert an mehr und mehr den Einflüssen Europas ausgesetzt, eine Welt, die, selbst wenn sie in den Kernländern Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
280
erstarrte und zum Tode verurteilt schien, an der Peripherie lebendig blieb und sich weiter ausbreitete. Aber auch im Innern herrschte nach Ansicht mancher Gelehrter mehr Leben, als die starre Unbeugsamkeit nach außen hin vermuten ließ. Zar Nikolaus I. nannte 1853 das Osmanische Reich den »kranken Mann am Bosporus«, der bald das Zeitliche segnen würde. Doch in unserem Jahrhundert zeigte es sich, daß alle derartigen Diagnosen auf den Islam als Ganzes nicht zutreffen. Trotz aller politischen Zwietracht und Schwäche war die islamische Kultur in ihren ganzen Verästelungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts im wesentlichen noch intakt. Der Einfluß des modernen Europa Die ersten Einflüsse Europas auf die islamische Welt können mit einem Ereignis angesetzt werden, das in der Hauptsache der Wirtschaftssphäre zugehört – der Entdeckung des Seeweges nach Indien durch die Portugiesen im Jahr 1498. Die unmittelbare Folge davon war, daß der blühende Überseehandel, den muslimische Kaufleute an den Küsten des Indischen Ozeans entlang von Ostafrika bis nach Ostindien betrieben hatten, so gut wie völlig aufhörte. Teilweise wurde er von den Portugiesen übernommen, die jedoch so ungeschickt vorgingen, daß er schließlich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
280
ganz eingestellt wurde. Statt dessen konzentrierte sich der Handel auf neue Güter und auf neue Wege – von Indien und Ostindien nach Europa –, und es beteiligten sich auch britische, französische und holländische Kaufleute daran. So wurden die Muslime, seit je eine Gemeinschaft von Kaufleuten, gerade aus dem Felde verdrängt, auf dem sie immer schon erfolgreich waren, ein Umstand, der bislang wahrscheinlich noch nicht angemessen gewürdigt worden ist. Auch nach 1498 blieben diese Verhältnisse etwa drei Jahrhunderte lang unverändert bestehen: Ausweitung des Handels zwischen Europa und Indien, aber ausschließlich auf europäischen Schiffen, während zwischen den französischen und italienischen Häfen und den osmanischen Häfen im östlichen Mittelmeer der Handel spürbar nachließ. Im frühen 19. Jahrhundert erhielt diese Situation dank der industriellen Revolution erhöhte Bedeutung. Europa – vor allem England – suchte Absatzmärkte für die Produkte der neuen Maschinen und gleichzeitig billige und ergiebige Rohstoffquellen. Die islamischen Länder gerieten ebenso wie andere außereuropäische Gebiete als Absatzmärkte und Rohstofflieferanten rasch in den Bereich der europäischen Wirtschaft. In Ägypten beispielsweise ging man zum Baumwollbau über, der sich so einträglich entwickelte, daß die Baumwolle schließlich einen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
280
grundlegenden Faktor der ägyptischen Wirtschaft abgab und den Lebensstandard in Ägypten je nach ihrem Weltmarktpreis beträchtlich schwanken ließ. Andere Länder, die ebenfalls Rohstoffe für den Weltmarkt erzeugten, wurden gleichermaßen in das europäische und amerikanische Wirtschaftssystem einbezogen und von ihm abhängig. Die Erzeugung derartiger Waren leitete einen Prozeß ein, der nicht wieder rückgängig gemacht werden konnte, und er brachte für die gesamte Bevölkerung einen grundlegenden Wandel in der Lebensweise mit sich. Vorher war der Umfang des Fernhandels relativ klein gewesen, und die Waren hatten im wesentlichen aus Luxusgütern von geringem Volumen und hohem Wert bestanden. Nur ein kleiner Teil der landwirtschaftlichen Produktion war von diesem Handel erfaßt worden. Zumeist wurde nur für den Eigenbedarf angebaut, und lediglich ein unbedeutender Überschuß ging zum Verkauf in die Stadt. Im 19. Jahrhundert jedoch gab man die Selbstversorgung zugunsten einer verkaufsfähigen Produktion auf. Die Bauern produzierten nicht mehr ihren Eigenbedarf an Lebensmitteln selbst, sondern kauften ihn mit dem Erlös aus dem Verkauf ihrer Baumwolle oder anderer Produkte. Als im 19. Jahrhundert dank der Erfindung des Dampfschiffs der Kontakt mit Europa enger wurde, wünschten die reichen Muslime (ebenso wie die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
281
reichen Hindus, Japaner und andere) an dem neuen Luxus teilzuhaben, den die europäischen Erfindungen ermöglichten. Besonders die muslimischen Herrscher nahmen riesige Darlehen bei europäischen Banken auf, um ihre Paläste in ihren Ländern und manches andere zu modernisieren. Ob die Zinsen für solche Kredite nun durch besondere Einnahmen, etwa Zölle, gedeckt waren oder nicht – in jedem Falle fanden sich die Länder in den Netzen der europäischen Finanz verstrickt. Und als der einfache Muslim in Kairo, Istanbul oder Teheran politisch erwachte, mußte er feststellen, daß sein Land bereits schwer bei den Europäern verschuldet war. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts begannen sich die Dinge zu wandeln, denn die beiden neu entstandenen Machtblöcke wurden zu Konkurrenten in der Unterstützung der islamischen und anderer »unterentwickelter« Länder. Dies führte Zuwirtschaftshilfen in dieser oder jener Form, wobei die Machtblöcke anfangs Gegenleistungen auf politischem Gebiet erwarteten. Aber es zeigte sich mehr und mehr, daß man Wirtschaftshilfe ohne Bedingungen gewähren und auf den guten Willen der unterstützten Länder vertrauen mußte. Die reichen und mächtigen Länder hatten erkannt, daß ihr Wirtschaftssystem nicht richtig arbeiten konnte, wenn der Lebensstandard von Land zu Land ein allzu großes Gefälle aufwies. Die islamische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
281
Welt aber gehörte mehr denn je zum europäisch-amerikanischen Wirtschaftssystem – und zu dem teilweise von ihm unabhängigen der Kommunisten –, wenngleich die Gefahr einer Fremdherrschaft nachgelassen hatte. Die politischen und militärischen Einflüsse Europas auf die islamische Welt folgten gewissermaßen den wirtschaftlichen nach. Die Wirtschaftsinteressen der europäischen Mächte in Indien etwa hatten anfangs geringfügige Eingriffe in die Lokalpolitik zur Folge gehabt, die sich schließlich zur Beherrschung ganz Indiens durch Großbritannien und des größten Teils von Ostindien durch die Niederlande auswuchsen. Bemerkenswerterweise begann die politische Vorherrschaft Europas über die islamische Welt in Indien und breitete sich erst später auf das Osmanische und das Persische Reich aus. In gewissem Sinne spürten die Osmanen den Einfluß Europas bereits, als sie sich am Ende des 17. Jahrhunderts aus Ungarn zurückziehen mußten. Der russische Sieg über die Osmanen und der Vertrag von Kütschük-Kainardsche (1774) machte den herrschenden Schichten bewußt, wie gebrechlich ihr Reich geworden war. Alle Versuche, diese Schwäche zu beheben, mißlangen, und das Reich löste sich langsam auf. Napoleons ÄgyptenFeldzug vom Jahre 1798, obwohl nicht gegen die Osmanen gerichtet, führte ihnen und der ganzen arabisch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
281
sprechenden Welt die Stärke Europas vor Augen. Während Rußland – immerhin noch gezügelt von der Eifersucht der übrigen europäischen Mächte – sich an Osteuropa gütlich tat und den christlichen Minderheiten im Osmanenreich die Autonomie verschaffte, setzte das Vordringen Europas in den arabischen Ländern mit der Besetzung Algeriens durch die Franzosen im Jahre 1830 ein. Bis zum Jahre 1914 geriet die gesamte Südküste des Mittelmeers unter europäische Kontrolle, und diese Entwicklung gipfelte – wenn auch bald mit den Amerikanern als den Hauptakteuren – in der Errichtung einer nationalen Heimstatt für die Juden in Palästina im Jahre 1919 und der Gründung des Staates Israel 1948. Die Jagd nach dem übrigen Afrika im ausgehenden 19. Jahrhundert gehört nicht mehr ausschließlich in die Geschichte des Islam, war aber doch höchst bedeutsam für sie. Einige Punkte wurden schon erwähnt. Was vielleicht am stärksten hervorgehoben zu werden verdient, ist die Tatsache, daß das Eindringen der Europäer ins Innere Afrikas den Zerfall der traditionalen Lebensformen und Sozialstrukturen noch beschleunigte und daß dadurch der Islam dort, wo er bereits bekannt war, sich weiter ausbreiten konnte. Es mag sehr wohl sein, daß der Islam auf weite Sicht die dominierende Religion ganz Afrikas werden wird. Die wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
282
der Konfrontation mit Europa liegen am deutlichsten zutage. Aber es gab auch soziale und geistige Folgen. Die Kontakte zwischen der islamischen Welt und Europa nahmen zu. Zwar hatten schon lange zuvor Europäer in kleinen Gemeinden inmitten der islamischen Welt gelebt, doch sie waren, zumindest bis ins 20. Jahrhundert hinein – dank dem muslimischen Sozialverhalten –, weitgehend von ihrer Umwelt abgeschnitten. Und muslimische Studenten lernten mehr und aus größerer Nähe vom gesellschaftlichen Leben Europas kennen, vor allem die so andersgeartete Stellung der Frau. Die Kontakte mehrten sich im 20. Jahrhundert erheblich und vervielfachten sich, als der Film Millionen städtischer Muslime einen flüchtigen – und keineswegs zutreffenden Einblick – in das gesellschaftliche Leben des Westens vermittelte. Das gab vielen zu denken, und sie fragten sich, ob die eigene Sozialordnung sich nicht in der Richtung wandeln sollte, in welche die europäischen und amerikanischen Vorbilder wiesen. Gleichzeitig begann sich die islamische Gesellschaft von sich aus zu verändern. Vor der Begegnung mit Europa hatte es in den meisten kultivierten islamischen Ländern im Grunde nur zwei Schichten gegeben: die herrschende Schicht, zu der auch die Grundbesitzer und großen Kaufleute gehörten, und die Bauern, eingeschlossen die für sie arbeitenden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
282
Handwerker; daneben dann ein sozial unbestimmbares städtisches Proletariat. Kaum existierte eine Schicht, die man als Mittelstand hätte bezeichnen können. Der Kontakt mit Europa ließ nun eine westlich gebildete Schicht von Angehörigen gehobener Berufe, von Beamten und anderen Verwaltungsspezialisten, später dann auch von Facharbeitern und Ingenieuren entstehen. Dank dieser neuen Schicht entwickelten sich die fortschrittlicheren islamischen Länder allmählich zu modernen Staaten. Betrachten wir abschließend die geistigen Aspekte. Im frühen 19. Jahrhundert hatten Männer wie die Osmanen-Sultane und Muhammad 'Ali von Ägypten erkannt, daß die militärische Überlegenheit der Europäer nicht zum geringsten von deren besonderer Bildung herrührte. Nach und nach erfaßten die Generäle, Regierungsbeamten, Diplomaten und Geschäftsleute die Bedeutung des riesigen Bereichs der Erkenntnis, der bislang dem traditionsverbundenen muslimischen Gelehrten verschlossen war. Im 19. Jahrhundert standen natürlich die Naturwissenschaften – vor allem Physik und Chemie – im Vordergrund. Schon aus militärischen Gründen, wenn sonst aus keinem anderen, schien es den Muslimen unerläßlich, sich mit den europäischen Erfindungen vertraut zu machen. Studenten wurden nach Europa geschickt, und Lehrer kamen in den Mittleren Osten. Eine Zeitlang waren die nach Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
283
europäischem Maßstab gebildetsten Kreise in Kairo, Teheran und Istanbul die Offiziere. Aber auch Europäer bemühten sich, westliche Bildung unter den Muslimen zu verbreiten. Zu den frühesten Bestrebungen dieser Art gehören die Tätigkeiten der christlichen Missionsgesellschaften. Obwohl in erster Linie an der Bekehrung der Nichtchristen zu ihrem Glauben interessiert, vermochten sie in beträchtlicher Naivität nicht zwischen dem rein christlichen Element ihrer Lebensweise (und also ihrer Botschaft) und den Aspekten der europäischen Zivilisation zu unterscheiden. Deshalb verbreiteten sie am Ende vor allem die europäische Bildung und andere weltliche Seiten der europäischen Kultur. Man nimmt allgemein an, daß die literarische Renaissance in der arabisch sprechenden Welt – sowohl der muslimischen wie der christlichen – hauptsächlich dem Umstand zu verdanken war, daß die europäischen und amerikanischen Missionare das Evangelium in der Landessprache predigten, denn die offizielle Sprache war damals türkisch. Es ist schwer, die spezifisch religiösen Einwirkungen der christlichen Mission abzuschätzen; mindestens dem Äußeren nach zu urteilen, war sie gering, das heißt, nur wenige traten vom Islam zum Christentum über. Aber selbst europäische Politiker waren an der Ausbreitung europäischer Bildung interessiert. Vor Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
283
allem die Franzosen betrieben in ihrem Stolz auf die angebliche Überlegenheit ihrer Kultur in den Kolonien eine Bildungspolitik mit dem Ziel, die dortige Bevölkerung zu Franzosen zu erziehen. Im französisch besetzten Nordafrika war praktisch die einzige Bildung, die es gab, durch und durch europäische Bildung, die etwa den Schätzen der klassischen arabischen Literatur keinerlei Beachtung schenkte. Nach dem Ersten Weltkrieg suchte man auch in der islamischen Welt den verschiedenen politischen Strömungen Europas wie dem Faschismus und dem Kommunismus Geltung zu verschaffen. Vor allem Rußland machte es den jungen Muslimen leicht, sich europäisch zu bilden – wenn auch in sowjetischer Schattierung. Selbst der bescheidene Orientalist hat ein wenig dazu beigetragen, die wissenschaftliche Betrachtungsweise Europas zu verbreiten. Seine Schriften, die häufig recht kritisch mit den orientalischen Kulturen umgingen, provozierten bisweilen die Muslime zu Studien nach europäischem Muster, schon um die Kritik entsprechend erwidern zu können. Auch sonst gewannen die Muslime neues Interesse an ihrer eigenen Kultur und ließen sich anregen, sie mit europäischen Methoden zu erforschen. Alles in allem war der Einfluß Europas – und später auch Amerikas – auf die islamische Welt derart vielfältig und tiefgreifend, daß er die größte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
283
Herausforderung darstellt, die ihre gesamte Geschichte zu verzeichnen hat. Die Reaktion der islamischen Welt Auf wirtschaftlichem Gebiet wurde die Einbeziehung in das europäische Wirtschaftssystem im allgemeinen völlig akzeptiert. Während örtlicher Konservativismus sich häufig bestimmten Einzelheiten der Europäisierung widersetzte, gab es keinen ernsthaften Widerstand gegen die europäischen Methoden, der mit dem von Gandhi in Indien organisierten vergleichbar wäre. Grundbesitzer stellten ihr Land bereitwilligst auf den Anbau verkaufsfähiger Produkte wie der Baumwolle um. Im 20. Jahrhundert wurde man sich deutlicher der unselbständigen Position gegenüber dem europäischamerikanischen Wirtschafts- und Finanzsystem bewußt und versuchte daher, diese Abhängigkeit einzuschränken, etwa durch die Entwicklung eigener Industrien wie in der Türkei Atatürks oder im Persien Reza Schahs, und die Auslandsdarlehen vor allem aus den mächtigeren Staaten zu begrenzen. Nach dem Auftreten der Spaltung zwischen dem atlantischen und dem sowjetischen Block suchte man die Unabhängigkeit durch wirtschaftliche und finanzielle Beziehungen zu beiden Seiten zu vergrößern. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
284
Das Bild in der politischen Sphäre wird ebenfalls von dem Bemühen bestimmt, die Unabhängigkeit zu erlangen oder wiederzugewinnen. Für manche Länder bedeutete dies die Wiederherstellung des Zustandes vor dem Beginn der europäischen Herrschaft, anderswo dagegen entstanden neue Staaten, in Grenzen freilich, die von den Europäern ohne Rücksicht auf historische oder ethnische Gesichtspunkte gezogen waren. In den Unabhängigkeitsbewegungen spielte der Nationalismus eine entscheidende Rolle, obwohl er paradoxerweise eine wesentlich europäische Idee ist. Nationalismus ist zwar eine von Teilen der Bevölkerung, vor allem der westlich gebildeten, redlich übernommene Konzeption; zugleich dient er aber auch als Prügel für die Europäer, die ja selbst die nationale Selbstbestimmung gepredigt haben. Die Künstlichkeit vieler gegenwärtiger Grenzen wird plastisch klar, wenn man überlegt, auf welche »Nation« sich denn eine nationale Gesinnung beziehen soll. Kann man von einer irakischen, syrischen, ägyptischen, algerischen Nation oder von einer arabischen Nation sprechen? Was hält die Syrer zusammen? Oder was selbst die Araber, die Christen unter ihnen eingeschlossen? Die Funktion der islamischen Ideen in der politischen Unabhängigkeitsbewegung ist schwer zu bestimmen. Traditionsgemäß muß ein islamisches Land einen Muslim als Staatsoberhaupt haben – deshalb Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
284
mußte Pakistan eine islamische Republik im Rahmen des britischen Commonwealth werden, da Muslime das christliche Oberhaupt des Commonwealth nicht anerkennen konnten wie etwa die Kanadier. Dies verlangte die Konzeption des dar al-Islam. Derartige Vorstellungen machten die Muslime natürlich von vornherein geneigt, sich konsequent für die Unabhängigkeit einzusetzen. So ist es kein Wunder, daß Muslime in den verschiedenen afrikanischen Bewegungen des späten 18. und fast des ganzen 19. Jahrhunderts die Führung übernahmen – von Usman dan-Fodio bis zur Mahdibewegung im Sudan. Diese Bewegungen entstanden zunächst als Versuche, Macht anzusammeln, wo europäischer Einfluß zu Schwäche geführt hatte, und entwickelten sich allmählich zu planvollem Streben, dem weiteren Vordringen der Europäer Widerstand entgegenzusetzen. Im Grunde aber waren sie noch immer religiöser Natur. Im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts jedoch entstand ein gewissermaßen »weltlich-islamischer« Nationalismus, das Bewußtsein eines gemeinsamen Erbes islamischer Kultur und Geschichte, verbunden mit dem Verlangen nach Unabhängigkeit von nichtmuslimischer Herrschaft. Als dieser Artikel geschrieben wurde (1964), hatte sich dieser islamische Nationalismus jedoch noch nicht als ein wirksamer Faktor erwiesen, die Differenzen zwischen den muslimischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
285
Ländern auszuräumen. Da er aber im wesentlichen dieselben politischen Ziele vertritt, wie sie die eher religiös geprägte Haltung der Massen erkennen läßt, liegen in ihm latente Möglichkeiten, die später einmal von größter Bedeutung werden können. Das höchste Ziel des Unabhängigkeitsstrebens war vor 1939 die Aufnahme in den Völkerbund und ist seit kurzem – und in weit größerem Ausmaß – die Zulassung zu den Vereinten Nationen; das Entstehen eines islamischen Blockes ist heute nicht mehr auszuschließen. Auch die Innenpolitik der einzelnen Länder ist nicht unberührt geblieben. Als Folge der wirtschaftlichen Veränderungen hatte sich eine neue Klassenstruktur gebildet, deren Kennzeichen vor allem ein neuer westlich geprägter Mittelstand war; die traditionellen politischen Vorstellungen und Praktiken hatten sich als unzulänglich erwiesen, und es gab Bestrebungen, das so entstandene Vakuum mit europäischen Ideen und Institutionen zu füllen. In den Gebieten mit starkem britischem Einfluß wurde deshalb die britische parlamentarische Demokratie in ihren Äußerlichkeiten nachgeahmt. Denksysteme wie Sozialismus, Kommunismus und Faschismus fanden ebenfalls ihre Anhänger. Doch Ideen wie Institutionen wandelten sich unmerklich in der islamischen Atmosphäre und paßten sich den Verhältnissen in den verschiedenen Ländern an, um deren Problemen praktische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
285
Lösungen zu bieten. Zuerst wurde Europa oft einfach imitiert, doch im Laufe der Zeit kamen auch ältere islamische Vorstellungen wieder zu einer gewissen Geltung. In der politischen Sphäre gibt es also eine echte Reaktion der islamischen Welt auf den Einfluß Europas und Amerikas. In der sozialen Sphäre dagegen ist die Unterscheidung zwischen europäischem Einfluß und islamischer Reaktion einigermaßen willkürlich. Man hält den neuen Mittelstand für eine Folge und in gewissem Sinne auch für einen Teil des europäischen Einflusses, doch dieser neue Tatbestand führt wiederum zu neuen Problemen und zu beträchtlich andersgearteten Lösungsversuchen. Schon zu Beginn des Zweiten Weltkrieges spielte der Mittelstand in vielen islamischen Ländern eine ausschlaggebende Rolle in deren Entwicklung zu modernen Staaten, aber er hatte keinen entsprechenden Anteil an der obersten politischen Kontrolle und am finanziellen und sonstigen Ertrag. Die Grundbesitzer, überhaupt die alte herrschende Schicht, oder doch diejenigen Kreise, die sich den gewandelten Verhältnissen angepaßt hatten, verfügten noch immer über den größten Teil von Reichtum und Macht, und die traditionelle Einstellung der Muslime unterstützte eher die alte Oberschicht. Daher herrschte im Mittelstand erhebliche Unzufriedenheit. Oft waren es die Offiziere, die seine Interessen in politischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
285
Aktionen vertraten, so bei der ägyptischen Revolution von 1952, denn als Teil dieser Schicht besaßen sie nicht nur eine gute europäische Bildung, sondern darüber hinaus ein gewisses Maß an Macht und dazu die Möglichkeit, noch mehr Macht an sich zu reißen. In verschiedenen muslimischen Ländern gibt es Anfänge von Gewerkschaftsbewegungen, aber sie lassen sich nicht recht mit den europäischen und amerikanischen vergleichen, denn Facharbeiter gehören dank ihrer modernen Ausbildung zum Mittelstand, während ungelernte Arbeiter des traditionellen Typs auf einer zu niedrigen Stufe stehen, um sich gewerkschaftlich zu organisieren. In den sozialen Gärungen in den islamischen Ländern spielte die Frauenbewegung eine entscheidende Rolle. Sie folgte ziemlich eng ihren europäischen und amerikanischen Vorbildern, und heute sind Frauen in vielen Berufen tätig. Auch neue Ehegesetze wurden eingeführt, die nicht nur Polygamie sehr erschwerten und oft sogar untersagten, sondern auch das Verstoßen der Frau durch den Mann einschränkten und das Heiratsalter heraufsetzten. So rückte die muslimische Frau rasch in eine gesellschaftliche Position, die durchaus der ihrer europäischen und amerikanischen Schwester vergleichbar ist. Auf geistigem und religiösem Gebiet schließlich findet man allenthalben eine höchst zwiespältige Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
286
Einstellung gegenüber dem Westen, zwischen Anziehung und Abstoßung hin- und herschwankend. Einerseits bewundert man die Macht und den materiellen Wohlstand des Westens und bis zu einem gewissen Grade auch deren geistige Grundlagen. Gleichzeitig fürchtet man jedoch das intellektuelle Übergewicht Europas und Amerikas und hegt ein jahrtausendealtes Mißtrauen gegenüber der Christenheit, weshalb man die nicht direkt brauchbaren Seiten des westlichen intellektuellen Lebens vernachlässigt. Die Bildung ist ein gutes Beispiel für den besagten Zwiespalt, denn hier sind für die beiden Haltungen verschiedene Gruppen repräsentativ. Herrscher wie Muhammad 'Ali von Ägypten gründeten und förderten Einrichtungen, die Bildung nach europäischem Muster vermittelten, so daß ein völlig europäisches Bildungssystem von der Grundschule bis zur Universität entstand. Daneben aber blühte nach wie vor das traditionelle islamische Bildungswesen, und es reichte von der dörflichen Koranschule bis zu Hochschulen wie der al-Azhar-Universität in Kairo. Diese so verschiedenen Bildungssysteme spalteten das geistige Leben der islamischen Länder wie des einzelnen Muslim. Am europäischen System interessierte man sich, schon aus dem Mißtrauen gegen das Christenturn heraus, vor allem für die weltlichen und antireligiösen Seiten des europäischen Denkens, und so waren die in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
286
diesem Sinne ausgebildeten Menschen, selbst wenn sie dem Islam verbunden blieben, praktisch außerstande, ihre Religion mit ihrem sonstigen Leben in Einklang zu bringen. Versuche, beides wieder zu vereinigen, setzten bereits im 19. Jahrhundert ein und gingen im 20. Jahrhundert weiter, aber bis jetzt hat sich noch kein geistiger oder religiöser Führer gefunden, der unter den Massen eine große Anhängerschaft hätte sammeln können. Europäische und amerikanische Ideen – Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Faschismus – haben viele Muslime auf der Suche nach Lösungen für die Probleme ihrer Länder angezogen und dadurch die Richtung ihrer Politik beeinflußt; aber auch hier wieder keine neuen Ideen von mehr als lokaler Bedeutung. In den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts stehen die islamischen Länder drei Hauptproblemen gegenüber: dem äußeren Problem, einen anerkannten und befriedigenden Platz im politischen System der Welt einzunehmen und zu bewahren; dem inneren Problem, ein neues Gleichgewicht zwischen den sozialen Schichten herzustellen; und dem geistigen Problem, die einem islamischen Staat im 20. Jahrhundert angemessenen geistigen Grundlagen zu schaffen, die das moderne wissenschaftliche Denken mit der Loyalität gegenüber den moralischen, sozialen und religiösen Werten des Islam zu versöhnen vermögen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Montgomery Watt: Der Islam
Anhang: Abbildungen ¤ Berittene Beduinen in der arabischen Wüste ¤ Der Gipfel des Berges Hira', Stätte der religiösen Versenkung Muhammads ¤ Muhammads Abstieg in die Hölle und seine Begegnung mit den Steuersündern. Türkische Miniatur, 1436. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ Ein Portal der Umajjaden-Moschee in Córdoba, 10. Jahrhundert ¤ Portal der Mustansirijja, einer der alten Universitäten von Bagdad. Bau aus der Zeit des AbbasidenKalifen al-Mustansir, 1227-1234 ¤ Hof im Moristan, dem von dem Kalifen Qala'un errichteten Krankenhaus in Kairo, um 1284. Holzschnitt in einer Beschreibung Ägyptens von Georg Ebers, 1879/80 ¤ Die Moschee Ahmeds I., die sogenannte »Blaue Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Montgomery Watt: Der Islam
Moschee« in Istanbul, 1609-1614. Blick in die Kuppel ¤ Die Unabhängigkeitserklärung von Pakistan. Eidesleistung des ersten Präsidenten Mohammed Ali Jinnah in Karachi am 15. August 1947 ¤ Die Gründung der Vereinigten Arabischen Republik in Kairo am 1. Februar 1958. Ovationen der Menge vor den Staatspräsidenten Nasser (Ägypten) und Kuwatly (Syrien)
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
276
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
Berthold Rubin
Byzanz
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
287
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
289
Das Nachleben Ostroms in Geschichte und Forschung Antike und Gegenwart – eine vertraute Fragestellung für das geschichtliche Selbstverständnis der Neuzeit. Wie Rom für den Staat und Jerusalem für die Kirche, bedeutet Athen für den europäischen Geist Ursprung und bleibende Heimat. Für das Studium der Antike bedarf es keiner Legitimation oder Erklärung. Ihr Beitrag ist unumstößlich als immer wiederkehrendes Leitmotiv unserer siegreichen Kultur und Zivilisation anerkannt. Demgegenüber erscheinen dem Zeitgenossen, der in den fast zur Mode gewordenen Ikonenbüchern blättert, Byzanz und seine Welt des mittelalterlichen Griechentums wie ein Schnörkel, wie eine exotische Randerscheinung, deren Studium etwa auf der Linie der Wiederentdeckung des Eigenwerts der Aztekenkultur liegt. Daran ist immerhin richtig, daß Byzanz ebenso wie jede Kultur der Antike über einmalige, unverwechselbare, nie mehr wiederkehrende Züge verfügt. Freilich ist dieses 1453 verblichene Byzanz uns zeitlich nicht so entrückt wie die Antike. Man hat längst entdeckt, daß seine Hinterlassenschaft in Bereiche von unbequemer Aktualität reicht. Doch hat gerade diese Aktualität zur Isolierung der geschichtlichen Erscheinung Byzanz im europäischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
289
Bewußtsein beigetragen. Das begann im Mittelalter mit der Ostwestspaltung der christlichen Kirche. Das Schisma zwischen Ost- und Westkirche spiegelt die Spaltung der alten Einheit der Mittelmeerwelt, deren Epochenjahre, die Gründung Konstantinopels, die römische Reichsteilung von 395 und der Untergang Westroms 476, unser Geschichtsbild maßgeblich bestimmen. Die tödliche Bedrohung durch Mohammed und seine Nachfolger versöhnte die feindlichen Brüder nicht, sondern vertiefte die Spaltung der Mittelmeerwelt durch einen Graben zwischen Norden und Süden. Schon zuvor hatte der illusionäre Charakter des Wiedervereinigungswerks eines Iustinian mit seinen Opfern auf Kosten Italiens schonungslos enthüllt, wie es um das alte Römerreich stand. Im Zeitalter Karls des Großen waren der Abfall des Papsttums und die politische Emanzipation des Westens längst vollendet. Das Griechentum eroberte dafür in erbittertem Wettbewerb mit den päpstlichen Missionaren die slawische Welt für Religion und Kultur von Byzanz. Es war wie ein weltgeschichtlicher Revancheakt. Selbst der Verlust weiter Teile des Vorderen Orients an den Islam konnte ausgeglichen werden. Doch geschah alles um den Preis weiterer Vertiefung der Ostwestspaltung. Die lateinischen Chroniken des Westens spiegeln die Entfremdung von der aus gleicher Wurzel stammenden byzantinischen Kultur nicht nur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
290
durch ihre Polemik, sondern mehr noch durch bewußtes Verschweigen. Die Malerei der romanischen Epoche bringt auch im Westen fast byzantinische Kirchenräume hervor. Gleichzeitig steht man politisch und religiös Rücken an Rücken. Man nimmt sich entweder nicht zur Kenntnis oder schnellt zu heftiger Auseinandersetzung, wenn nicht zum tödlichen Duell gegeneinander. Die Versuche zur Wiedervereinigung der getrennten Brüder kamen zu spät und zeitigten nur vorübergehende, keine dauernden Erfolge. Dem Haß und den überkompensierten Minderwertigkeitskomplexen des mittelalterlichen Westens entsprach in Byzanz ein Staatshochmut, der zwar mit Recht auf Konstantinopels Rolle als zweites Rom verweisen konnte, dafür aber an Volkskraft, Herrschaftsraum und kulturellem Schöpfergeist immer mehr in Rückstand geriet. Das heutige Verständnis der byzantinischen Dinge bedrohen Mißverständnisse von ähnlicher Wechselseitigkeit. Sie werden dadurch verschärft, daß die politischen Nachwirkungen von Byzanz vor allem im Orient und in Osteuropa bis in die Gegenwart reichen. So erzeugt das geheime Byzanz, das bei jeder Analyse der Sowjetideologie als deren integrierender Bestandteil zutage tritt, sowohl Interesse wie innere Abwehr. Wenn das Mittelalter nur zu gern vergaß, daß auch Ostchristen Christen sind, vergißt die Gegenwart, daß auch Osteuropäer Europäer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
290
sind. Man schreibt Rußland und den Balkan ab, man übersieht geflissentlich, daß Rassen europäischen Typs bereits in der Steinzeit bis zum Baikalsee tonangebend waren. Dem Westeuropäer hat nicht nur die »schismatische« Ostkirche, sondern mit ungleich größerer Abschreckungskraft der Bolschewismus jedes Verwandtschaftsgefühl mit Osteuropa fragwürdig gemacht. Nach der Oktoberrevolution versuchten die Beherrscher der Sowjetunion, den byzantinischen Ursprung der russischen Kultur gewaltsam zu vergessen. Erst als Stalin unter der Parole des »Sozialismus in einem Lande« die Nation wiederentdeckt hatte, konnte der Grundwasserspiegel so weit gesenkt werden, daß das byzantinische Fundament wieder sichtbar wurde. Doch blieb die Interpretation der byzantinischen Dinge durch die sowjetischen Historiker so gewaltsam, fremdartig und abstoßend, daß sie allenfalls den Stützpfeiler einer parteigebundenen Geschichtskonstruktion, niemals das Fundament einer gesamteuropäischen Gemeinsamkeit abgeben können. Man suchte das Gemeinsame nicht im humanistischen und christlichen Erbe von Byzanz, sondern in marxistischen Konstruktionen von paradoxem Wunschcharakter. Als Beispiel diene etwa der rückwärtsgewandte Wunschtraum vom gemeinsamen Siegeslauf des germanischen und slawischen Brüderpaars gegen den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
290
Sklavenhalterstaat Byzanz, um dort die Unterdrückten zu erlösen. Unter solchen angeblich fortschrittlichen, in Wirklichkeit zutiefst reaktionären Chiliasmen liegt heute noch die Wahrheit über die Ursprünge Osteuropas begraben, zumindest in Osteuropa selbst. Nicht einmal die Begegnung mit dem rassischen, räumlichen und kulturellen Herrschaftsanspruch Chinas kann die träumende Sowjetwissenschaft zur Besinnung auf das gemeinsame Europäertum zurückrufen. So muß die westliche Forschung einspringen, wenn es um die Erkenntnis der Rolle von Byzanz in der Weltgeschichte geht. Rußland sieht sich einstweilen noch durch die marxistischen Scheuklappen daran gehindert, seine Mutterkultur unvoreingenommen zu würdigen. Und das, obwohl die Bande, die Rußland und Südosteuropa mit Byzanz verknüpfen, noch enger sind als das geistige Band zwischen Byzanz und dem westlichen Abendland. Um dieses paradoxe Mißverhältnis auszugleichen, wollen wir versuchen, das wissenschaftliche Bemühen um Byzanz zunächst aus der Sicht des unmittelbarer beteiligten (wenn auch nicht des bolschewistischen) Osteuropa und anschließend aus dem Blickwinkel des übrigen Abendlandes zu betrachten. Welches Phänomen enthüllt das Bleibende, das Wesen einer Kultur mit größerem Anspruch auf Wahrheit als ihre Nachwirkung, als das, was von ihr Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
291
bleibt, wenn ihr Knochengerüst, die schützende Schale, der Staat, der sie trug, nicht mehr existiert? Dieses unsterbliche »Byzanz nach Byzanz«, wie der geniale Nikolai Jorga es formulierte, begegnet uns vor allem im slawischen Kulturbereich mit bestürzender Aktualität. Das soll nicht heißen, das griechische Herz von Byzanz sei tot und es pulsiere nur noch etwas verdünntes Blut in den Adern des slawischen Missionsgebiets. Weder der heutige griechische Staat noch seine Kirche sind ohne die Nabelschnur zu denken, die sie über die Türkenzeit hinweg mit Byzanz verbindet. Noch singen die Mönchschöre auf Athos und Sinai wie in Griechenlands Kathedralen. Aber der griechische Volksraum hat sich seit dem grauen Altertum kaum verändert, eher rückläufig entwickelt. Der endgültige Verlust Kleinasiens gehört fast noch der Zeitgeschichte an. Ohne die Slawen wäre Byzanz wie sein »Kaiserreich« Trapezunt eine Schrulle der Geschichte, nicht aber ein unüberhörbares Leitmotiv in der weltgeschichtlichen Symphonie des globalen Zeitalters. Darüber hinaus sind die Wechselbeziehungen zwischen der Welt des Griechentums und Osteuropa zu alt und zu vielfältig, um eine isolierende Betrachtungsweise zu gestatten. Schon Herodot steuerte mit dem vierten, dem Skythenbuch seines Geschichtswerks die erste historische Landeskunde Osteuropas Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
291
zur wissenschaftlichen Forschung bei. Anderthalb Jahrtausende später vollbrachte der oströmische Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos mit seinen Handbüchern für Geographie und Verwaltung eine zumindest wissenschaftlich vergleichbare Leistung. Der Druck von Norden lastete zu schwer, um den Byzantinern Unkenntnis oder Hochmut zu gestatten. Andererseits sah sich schon der Kiewer Staat mit allen Wurzeln dem byzantinischen Erdreich verhaftet. Das ostchristliche Schrifttum war weitgehend Übersetzungsliteratur aus der griechischen Ursprache. Die ersten russischen Chroniken konnten als Fortsetzung der byzantinischen Geschichtsschreibung gelten, auch wenn man von ihren Anleihen aus Georgios Monachos und anderen byzantinischen Chronisten absieht. Die Kontinuität der »griechischen« Chronographie dauerte hier bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, also länger als in Griechenland selbst. Die wissenschaftlichen Wechselbeziehungen zwischen Rußland und Byzanz blicken auf eine bewegte Vorgeschichte zurück. Schon früh mischte sich in den Stolz auf die eigene Ausprägung der slawischen Liturgie die Unsicherheit, ob man sich bei der Übertragung der griechischen Originale nicht Übereilungen hatte zuschulden kommen lassen. Im 14. Jahrhundert versuchte man, verderbte russische Texte des Neuen Testaments und der Liturgie durch Vergleich mit den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
291
Originalen zu berichtigen. Am Anfang des 16. Jahrhunderts mußte sich der Großfürst von Moskau dieser Frage annehmen. Er verschrieb sich aus dem Athoskloster Vatopedi den Mönch Maximos, bekanntgeworden als Maxim Grek. Doch führten seine Bemühungen um verbesserte Übersetzungen zu scharfer nationalrussischer Reaktion und zu seiner Verurteilung zu schwerem Kerker auf dem Konzil von 1525. Schließlich verschuldeten gerade die Verteidiger der Schönheit der altslawischen Liturgie durch kanonartiges Durcheinandersingen Degenerationserscheinungen, ja sogar Schändung des Gottesdienstes durch sinnloses Geschnatter und unfreiwillige Komik. Eine Partei der Ordnungs- und Griechenfreunde suchte die Harmonie wiederherzustellen und rollte in diesem Zusammenhang auch die Übersetzungsfrage von neuem auf. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts kam es unter Iwan IV. zu Kämpfen, deren wissenschaftliche Begleiterscheinungen an Renaissance und Humanismus Westeuropas erinnern. Mit der lebhaften Drucktätigkeit dieses Zeitalters wurde die Frage der Fehlerquellen immer brennender. Man ging ihr zunächst zu Leibe in Bemühungen um altslawische Handschriften, die einen Teil der weit späteren Aktivität der Rumjancew und Stroew bereits vorwegnahmen. Vor allem erhielt der Abt Suchanow den Auftrag, auf dem Athos und in Griechenland alle erreichbaren griechischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
292
Handschriften aufzukaufen. Auch hier führte jedoch die humanistische Bücherkorrektur zu einer Art Reformation. Aber es ging nicht wie im Westen um Persönlichkeit und Gewissen, sondern um die Auseinandersetzung zwischen Staatskirche und altslawischem Traditionalismus. Die Raskolnikibewegung der russischen Altgläubigen beschäftigt uns hier nicht um ihrer selbst willen, wohl aber als Reaktion auf die erste Welle der russischen Rückbesinnung auf die griechischen Ursprünge und damit auf Byzanz. Inzwischen hatte nicht nur die dynastische Verbindung mit dem entmachteten byzantinischen Kaiserhaus, sondern auch die chiliastische Verkündung, daß Moskau sich als das dritte Rom betrachten dürfe, zur Unterstellung von Thron und Altar in Rußland unter die Heilszeichen von Byzanz geführt. Das Sendungsbewußtsein des Zarismus und seiner Kirche nahm byzantinische Züge an, die politisch im Traum von der Wiedererrichtung des Kreuzes über der Sophienkirche von Konstantinopel gipfelten. Kein Wunder, daß die Erfolge der russischen Historiographie des 18. und 19. Jahrhunderts auch eine von oben wohlwollend geförderte Byzantinistik zeitigten. Nur den Fernerstehenden überrascht die Tatsache, daß die zaristischen Byzanzforscher vom Range eines Wasiliewskij bereits materialistische Positionen der späteren Sowjetwissenschaft vorwegnahmen. Das lag an Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
292
Zeitströmungen der damaligen Intelligenz, die der Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte zugute kamen, die krampfhafte Blickverengung der Sowjetforschung aber vermieden. Beim Umbruch des Jahres 1917 verschwand die russische Byzantinistik als vermeintliches Zubehör des Zarismus in der Rumpelkammer. Der extreme Marxismus der PokrowskijSchule kannte keine Traditionen. Erst in den dreißiger Jahren kam es im Zuge der Bekehrung Stalins zum allrussischen Nationalismus und Patriotismus zur Belebung des Interesses an der Geschichte. Unter Führung Grekows profitierten Urgeschichte, Archäologie und nicht zuletzt die Byzanzforschung. Hier gruppierten sich Lewtschenko und seine Kollegen um die Fachzeitschrift Vizantijskij Vremennik, ein Organ der Zarenzeit, das nach langer Unterbrechung wieder erscheinen durfte. Selbst der seit 1914 unterbrochene Druck der »Geschichte des Byzantinischen Reiches« von Uspenskij wurde fortgesetzt. Dem Wirken der Emigranten vom Range Wasiliews und Rostovtzeffs trat eine nationalbolschewistische Schule an die Seite. Weitere Zäsuren brachten Stalins Sprachbriefe von 1951 und das ideologische Tauwetter nach seinem Tode, so daß die sowjetische Byzantinistik zur Zeit trotz des marxistischen Klotzes am Bein mit voller Kraft arbeitet. Ihre unvermeidlichen Auflagen verweisen sie nach wie vor mehr auf Quellenanalyse als auf Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
293
Synthese. Wissenschaftsgeschichtlich versteht es sich von selbst, daß die russische Byzantinistik trotz der Eigenständigkeit der Byzanzüberlieferungen Osteuropas im wesentlichen westliche Züge aufweist. Selbst in ihrer heutigen »östlichen« Isolation kann sie es sich leisten, den marxistischen Import aus dem Westen durch Übertreibung bis zur Paradoxie gleichsam ad absurdum zu führen. So sollte der Blick nach Osten vor allem dem unmittelbaren Weiterleben von Byzanz in diesem Raume gelten. Für die Wissenschaft von Byzanz sind die Entwicklungen im Westen wichtiger. Hier war es vor allem die Renaissance, die zwar von Byzanz ausgelöst wurde, jedoch ihrerseits zurückwirkte. Die Emigranten aus dem Ostreich stellten schon vor der Eroberung Konstantinopels nicht nur kirchliche Würdenträger vom Range eines Bessarion, sondern Lehrer der Wissenschaften wie Emmanuel Chrysoloras, der als kaiserlicher Gesandter im Westen blieb und durch seine Vorlesungen in Venedig mehr als jeder andere dazu beitrug, die in Italien seit sieben Jahrhunderten verstummte griechische Literatur und Wissenschaft dort wieder heimisch zu machen. Er starb am 15. April 1415 in Basel. Auf der gleichen Linie lag die Tätigkeit des Johannes Argyropulos, der in Florenz und Rom lehrte. Durch ihn erhielt der Deutsche Johannes Reuchlin Zutritt zur Welt des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
293
Thukydides. In Italien arbeiteten Grammatiker, wie Theodoros von Gaza, Konstantinos Laskaris und Demetrios Chalkokondyles, um die Wette. Die Namen der byzantinischen Flüchtlinge nach dem Sieg der Türken sind Legion. Sie belebten nicht nur die Kenntnis des Griechischen und die Sehnsucht nach dem klassischen Ideal. Sie zeichnen dafür verantwortlich, daß Byzanz und seine Geisteskultur darüber mitbestimmte, in welchen Formen das Altertum vom Abendland wiederentdeckt wurde. Schon die griechische Handschriftenkunde verwandelte die Humanisten unfreiwillig in Byzanzforscher, da die klassischen Autoren ausschließlich in byzantinischen Handschriften überliefert waren. Aber schon früh sah man sich aufgerufen, Byzanz auch um seiner selbst willen zu studieren. Das Oströmische Reich war nicht aus der Welt verschwunden, sondern es lebte in der Gestalt des Osmanischen Reiches weiter. Machtpolitisch, wenn auch nicht kulturell, bedeutete die Türkenherrschaft die Wiedergeburt des weltumspannenden Römerreichs. Erst recht gewann die Hauptstadt trotz des neuen Namens Stambul nicht nur ihren Rang als Zentrum der griechischen Welt zurück, sondern erneuerte die im späten Byzanz nur noch als Wunschtraum lebendigen Funktionen als Herz eines Weltreiches. Toleranz und Anpassung der Türken erleichterten den Griechen, allen voran den Phanarioten, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
293
die Kollaboration mit den Türken gegen das christliche Europa. Die Wellen des Islam brandeten von neuem gegen das Abendland, bis zu der Sturmflut, die 1689 Wien erreichte. So sicherte nicht nur die Humanistenneugier am Schicksal des griechischen Geistes im Mittelalter, sondern auch nackte Angst dem Raum des ehemaligen Oströmischen Reiches und seiner Geschichte die Aufmerksamkeit des Abendlandes. In Deutschland hielt im 16. Jahrhundert ein Werk wie die Turcograecia des Crusius das Interesse an Ostrom und seinen Nachfolgern wach. Über die geistigen Interessen hinaus verbanden auch geistliche Anliegen die Welt des deutschen Humanismus und die Protestanten mit der östlichen Christenheit. Die wissenschaftliche Wiederbelebung von Byzanz erfolgte ein Jahrhundert später in Frankreich, das seine Kreuzfahrertraditionen niemals vergessen hatte. Der Stolz auf die Gesta Dei per Francos und das Herrscherideal des rex christianissimus verhinderten jedoch nicht, daß die byzantinischen Studien in Frankreich ebenfalls dazu beitrugen, die Zusammenarbeit von Paris und Stambul gegen das Kaisertum der Habsburger wissenschaftlich zu untermauern. Die Vormachtstellung des französischen Handels im Orient, bezeugt durch die Kapitulationen Franz' I. (1536) und durch Höhepunkte wie die Durchsetzung des französischen Protektorats über die Christen im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
294
Orient (1740), ermöglicht dieses fragwürdige Verhältnis zum damaligen Kaisertum und nützt es skrupellos aus. Die Kreuzfahrergeschichte des Bongars rief schon 1611 die Traditionen französischer Chronisten jener Ära wie des Geoffroi de Villehardouin wieder wach. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts schossen die byzantinischen Studien in Frankreich förmlich aus dem Boden. Zwischen 1648 und 1711 entstand das durch vorangegangene Einzelausgaben bereits gründlich vorbereitete Pariser Corpus der Historiker Ostroms unter Leitung des Jesuiten Philipp Labbé. In diesen Jahren setzte sich einer der umfassendsten Polyhistoren, Charles du Fresne Du Cange, an die Spitze der Byzanzforscher. Er schuf mit seinen Wörterbüchern zur mittleren Latinität und Gräzität heute noch unentbehrliche Hilfsmittel. Seine Geschichte des Reiches von Konstantinopel unter den französischen Kaisern und seine Byzantinische Geschichte mit doppeltem Kommentar ergänzten die philologische Initiative um entsprechende, historisch kritische Bemühungen. Im gleichen Jahrhundert begannen die Bemühungen der Bollandisten des Benediktinerordens um die byzantinischen Lebensbeschreibungen der Heiligen. Das 18. Jahrhundert sah die bedeutsamsten technischen Fortschritte auf dem Gebiet der Urkundenforschung. Dafür zog der übersteigerte Fortschrittsgedanke das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
294
Werk in Mitleidenschaft, das wie kein zweites die Summe aus der Kleinarbeit der Franzosen zog. Edward Gibbon beleuchtete in seiner vielbändigen Synthese Decline and Fall of the Roman Empire zwar ohne das seiner Zeit kaum gegebene Verständnis des Ostchristentums, dafür mit dem Talent des großen Historikers und dem weltweiten Blick für die Nachbarkulturen den dramatischen Ablauf der byzantinischen Geschichte. Während Napoleons Ägyptenexpedition ihre eigentlichen Siege im Bereich der Wissenschaft errang und die französische Verflechtung mit dem Orient erneut bestätigte, erwies sich die Blüte der klassischen Philologie Deutschlands auch für die werdende Byzantinistik als fruchtbar. Im 19. Jahrhundert leisteten fast alle führenden Nationen ihren Beitrag, doch blieb das im Rahmen von Einzelbemühungen, bis in den achtziger und neunziger Jahren zunächst in Deutschland, aber fast gleichzeitig auch in Rußland, Frankreich, Griechenland und anderen beteiligten Nationen die Byzantinistik als selbständiger Wissenschaftszweig und Universitätsfach ins Leben trat. Schon der Zosimos-Entdecker Löwenklau (1576) leistete Erstaunliches für die Durchbrechung gewisser Vorurteile des Humanismus. Die klassizistischen Strömungen des Geisteslebens verhinderten dafür den Durchbruch der Wahrheit über die nachklassischen Zeiten bis zu dem Punkt, an dem das Gesetz des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
294
wissenschaftlichen Fortschritts die Geschmacksdiktatur der Goethezeit und zugleich das sprachliche Verdikt der klassischen Philologie über das späte Griechisch endgültig durchbrach. In Frankreich waren es die Symbolisten der Jahrhundertwende, die von ihrem literarischen Standort her das Studium der Spätantike beeinflußten. Mit der Neubewertung des späten Latein eines Commodianus, Ammianus Marcellinus und Augustinus wurden auch Maßstäbe für die gerechtere Würdigung des byzantinischen Griechisch gewonnen. Ohnehin ging die französische Forschung in der umfassenden geistigen Erschließung des Raumes Byzanz voran. Ihre Forscher verstanden es, bei aller rationalen Kühle und Akkuratesse, die sie von Du Cange ererbt hatten, das in der Hauptstadt am Bosporus pulsierende geistige Leben des ostchristlichen Mittelalters und darüber hinaus die politischen Verflechtungen des gesamten Orients in Werken festzuhalten, die das wissenschaftliche Anliegen mit den Ansprüchen der angeborenen romanischen Geisteskultur zu vereinen wußten. In die Reihe der Vorläufer gehörten Rambaud und vor allem Schlumberger mit seiner eindrucksvollen Monographie: L'épopée byzantine au dixième siècle. Die Summe aller Bemühungen Frankreichs um diese Welt zog Charles Diehl in einer unübersehbaren Reihe glanzvoller Werke. Er war der Meister der kleinen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
295
Form, des Essays, und veröffentlichte zahlreiche Sammlungen, von denen die Figures byzantines am bekanntesten wurden. Für die große Form der kulturgeschichtlichen Zusammenschau bleibt seine Monographie Justinien et la civilisation byzantine au sixième siecle ein Vorbild. Die wissenschaftlichen Fundamente seiner Spezialstudie L'Afrique byzantine reichen freilich noch tiefer, umfassen auch in staunenswerter Weise das archäologische Material. Vor allem legte Charles Diehl auch die Grundlagen der byzantinischen Kunstgeschichte (Manuel d'art byzantin). Hier unterstützte ihn sein Zeitgenosse Gabriel Millet, der einer der frühesten Kenner der Kunst der Balkanländer und der byzantinischen Ikonographie war. In England erlebte nicht nur das klassische Werk Gibbons eine kritische Neuausgabe durch J. B. Bury, sondern wurde von diesem besonnenen Forscher in fruchtbaren Studien zur Verwaltung Ostroms und vor allem in einer Reihe von Handbüchern fortgeführt (History of the Later Roman Empire und anderes), die zwar nicht Gibbons Genialität, dafür um so mehr die Nüchternheit der englischen Forschung spiegeln. In Rußland standen am Anfang der Byzanzforschung die Deutschbalten, darunter Krug und Kunik, die von den Russen der Schule Wasiliewskijs überflügelt wurden. Mit Wasiliewskij kommt zugleich eine Richtung zum Durchbruch, die nicht nur die russische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
295
Forschung der zaristischen Ära, sondern erst recht die sowjetische kennzeichnet. Es geht diesen Forschern um die sozialen und wirtschaftlichen Probleme, um Fragen des Bauerntums und nicht zuletzt um die russisch-byzantinischen Beziehungen des Mittelalters. Die russische Byzanzforschung begann also nicht mit dem Lobgesang auf Thron und Altar, sondern verriet schon früh den Einfluß der Intellegentsija und ihrer sozialen Opposition. Doch gewannen diese Stimmen erst unter den Sowjets ihre selbstzerstörerische Alleinherrschaft. Solange das russische Kaiserhaus sich dynastischer Verbindungen mit dem oströmischen Kaisertum rühmte und Moskau, am untergründigsten in den Kreisen der Raskolniki und der Slawophilen, als das zweite Byzanz oder das dritte Rom betrachtet wurde, blieb der oppositionelle Beigeschmack der byzantinischen Studien in Rußland eine Randerscheinung. Im Mittelpunkt des Interesses standen vielmehr die kirchlichen und kulturellen, vor allem die künstlerischen Beziehungen. Als slawischer Kunstforscher von Weltrang befaßte sich Kondakow mit der byzantinischen Miniaturmalerei. An kaiserlich russischen Instituten in Konstantinopel erarbeitete der Deutsche Oskar Wulff die Grundlagen seiner »Geschichte der altchristlichen und byzantinischen Kunst«. Die großen Traditionen einer solchen russischen Byzanzforschung gipfelten kurz vor dem Abbruch in den freilich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
296
mehr breit als stark konzipierten Gesamtgeschichten Ostroms, aus der Feder von Kulakowskij und Uspenskij, deren Erscheinen die Revolution von 1917 unterbrach. Diese Linie wurde weitergeführt von Emigranten wie Alexander A. Vasiliev, dem Verfasser der besten politischen Geschichte Ostroms von mittlerem Umfang. Er bezog die arabischen Studien und die Frühgeschichte Osteuropas mit Erfolg in den Kreis seiner Forschungen ein. Er trug mehr als jeder andere zur Verpflanzung der byzantinischen Studien nach den Vereinigten Staaten bei, wo er das Institut von Dumbarton Oaks (Washington) begründete. Ein ähnliches Schicksal hatte Michail I. Rostovtzeff, der als unbestrittener Meister der Altertumsforschung seines Zeitalters auch für die Byzanzforschung bleibende Grundlagen in Richtung auf eine künftige Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gab. Mit seinen Untersuchungen über Skythien und den Bosporus, über die Iranier und Südrußland, über die Wirtschaftsgeschichte, insbesondere den Kolonat, und vor allem mit seiner glänzenden Kenntnis der Archäologie Südrußlands (der Norden »gehörte« Tallgren) legte Rostovtzeff auch für die Beziehungen zwischen Byzanz und Osteuropa sichere Fundamente. Solche Forscher konnten natürlich niemals mit der breiten Phalanx der jungen sowjetischen Forschergeneration wetteifern, wenn es um die planmäßige Erschließung der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
296
Quellenmaterialien ging, sie konnten aber Beispiele für objektive Forschung geben und allseitige Synthesen vollziehen, die stellvertretend zeigten, wozu eine freie russische Byzanz- und Altertumsforschung der Zeit zwischen den Weltkriegen imstande gewesen wäre. Die zahlenmäßige Schwäche und die lange Unfreiheit des griechischen Volkes wirkten sich auf das unbestritten nationale Anliegen seiner Byzanzforschung verzögernd aus. Gegenwärtig arbeiten dort zahlreiche Gelehrte mit verteilten Rollen und glänzendem Erfolg an der Erforschung der byzantinischen Phase ihrer nationalen Geschichte. Das vergangene Jahrhundert erlebte die griechischen Gesamtgeschichten von Paparrhegopulos und Lampros sowie wichtige Sprachuntersuchungen und Quellensammlungen. Später legte Andreades unentbehrliche Grundlagen für die Wirtschaftsgeschichte, verfaßte Kukules sein Kompendium der Kulturgeschichte. Auch in der übrigen Staatenwelt Südosteuropas kümmerte man sich zugleich mit der Nationalgeschichte um ihre byzantinischen Grundlagen. Was Jirecek für Serbien leistete, vollbrachte Zlatarski für Bulgarien und Jorga nicht nur für Rumänien, sondern für eine umfassende, wenn auch von Flüchtigkeiten nicht freie Analyse und Synthese aller Erscheinungen rings um Byzanz und Südosteuropa. Überflüssig zu bemerken, daß im gesamten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
296
Südostraum einschließlich der Tschechoslowakei die Byzantinistik heute mit größtem Eifer betrieben wird. Das gleiche gilt für Italien, einen geistigen Raum, der zwar auf eine ruhmvolle Tradition von Historikern und Philologen, jedoch auch über stärkere humanistische und religiöse Vorbehalte gegenüber dem mittelalterlichen Osten verweisen kann. In Deutschland war es Karl Krumbacher, der die Begründung der mittel- und neugriechischen Philologie als Universitätsfach durchsetzte. Mit seiner »Geschichte der byzantinischen Literatur« wiederholte er die Initiative eines Du Cange, er schuf das unentbehrliche Rüstzeug für alle weiteren quellenkritischen Bemühungen der Philologen und Historiker. Zweifellos verfügte er über Vorgänger von Format wie den Gräzisten und Arabisten Reiske, dem wir das Zeremonienbuch Kaiser Konstantins VII. Porphyrogennetos verdanken. Fallmerayer, Hopf und Hirsch deckten wichtige Zusammenhänge der Geschichte, der Staatsverwaltung des byzantinischen Mittelalters auf. Der Klassiker des griechischen Rechts, Zachariä von Lingenthal, sah sich ohnehin der Tradition eines Savigny verpflichtet. Krumbacher hat nicht nur eine Schule gestiftet, sondern eine Wissenschaft begründet. Seine persönliche Interessenrichtung und die Erfordernisse der ersten Stunde fielen in glücklichster Weise zusammen. Das Fach benötigte nichts dringender als ein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
297
Handbuch, das über die Quellenlage Auskunft gab. In Einzelforschungen leistete Krumbacher weitere Beiträge zur Sprach- und Literaturgeschichte, zur historischen Quellenkunde. Vor allem Südosteuropa und Italien gerieten in den Sog der mächtigen Antriebe, die von Krumbachers Wirkungsstätte München ausgingen. Auch sein Nachfolger Heisenberg setzte diese Linie fort, verstarb aber früh und gab den Lehrstuhl an Dölger weiter. Dieser fühlte sich dem inzwischen für Deutschlands einschlägige Bemühungen bezeichnend gewordenen Begriff der »mittel- und neugriechischen Philologie« verpflichtet, legte aber das Hauptgewicht seiner erstaunlichen Aktivität auf das Studium der Kaiserurkunden. Mit seinen Regesten, seinen Aktenpublikationen vom Berge Athos und den tiefdringenden Studien zur Verwaltungsgeschichte, darüber hinaus auch mit Untersuchungen historischer Spezialfragen hat er nicht nur als Philologe, sondern auch als Historiker Grundlegendes geleistet. Sein Zeitgenosse Henri Grégoire, der reine Sprachforscher und Literarhistoriker, entsprach dem Krumbacherschen Leitbild fast noch getreuer. Gleichwohl ließ die deutsche Byzantinistik, vergleicht man sie mit den Traditionen Frankreichs, aber auch anderer Forschernationen, die Ausgewogenheit zwischen Philologie und Geschichte stets etwas vermissen. Gegenwärtig dürften die teils persönlich, teils Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
297
durch die Tradition bedingten Differenzen sich international immer mehr ausgleichen. Doch bestand eine solche Ausgewogenheit der Forschung und Lehre schon in den dreißiger Jahren, zumindest für den, der die vorhandenen Möglichkeiten nutzte. Vor allem sei an die Historiker Ernst Stein und Wilhelm Enßlin erinnert. Wir verdanken Enßlin nicht nur bessere Kenntnisse der frühbyzantinischen Verwaltung, sondern auch ideengeschichtliche Beiträge von Rang. Besondere Möglichkeiten bot damals der Standort Berlin, der an Vielseitigkeit sogar das Münchener Forschungszentrum übertraf. Hier konnte man unter Leitung von Kalitsunakis, dem Wanderer zwischen Berlin und Athen, Mittel- und Neugriechisch studieren. Der Papyrologe Wilhelm Schubart führte nicht nur das Erbe Wilckens fort, sondern pflegte bewußt die frühbyzantinische Geistesgeschichte. Als Sprachforscher führten Schwyzer für die historische Grammatik, und der von neugriechischen Studien ausgegangene Slawist Vasmer für die slawischen Ortsnamen Griechenlands. Ostkirche und christliche Archäologie hatten in der Person Lietzmans die kompetenteste Vertretung. Endlich lehrte in Berlin der führende Kunsthistoriker jener Byzantinistengeneration, Oskar Wulff, dem später Schweinfurth folgte. Die Überfülle der Anregungen dieser nie zu einem Team vereinigten Persönlichkeiten bündelten sich gleichsam in der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
297
Schule des mitreißenden Althistorikers Wilhelm Weber, der in den von ihm veranlaßten Dissertationen mit Vorliebe Probleme der frühbyzantinischen Geschichte behandeln ließ. Auch Leipzig, wo Gustav Soyter das Neugriechische betreute, verfügte über alte Lehrbeziehungen zu Griechenland, Byzanz und Südosteuropa. Von Breslau nahm die Laufbahn Georg Ostrogorskys ihren Antang, des zur Zeit führenden Geschichtschreibers des byzantinischen Staates. Heute lehrt er in Belgrad, ein grand old man der Forschung, ähnlich wie Moravcsik, der in Budapest wirkt und mehr als jeder andere für die Quellenkunde Ostroms geleistet hat. Gleichen Rang beanspruchen Namen wie Guillard und Dvornik.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
298
Der Kaiser und das Reich Wer die Oströmer als Byzantiner und ihren Staat als Byzantinisches Reich bezeichnet, darf nicht vergessen, daß es sich hier um gelehrte Kunstwörter handelt, die im Mittelalter noch unbekannt waren. Richtiger, sie wurden in einem wesentlich engeren Sinn gebraucht. Es handelt sich hier um nichts anderes als um die archaische Bezeichnung von Konstantinopel, das vor Konstantin dem. Großen Byzantion hieß. Die Oströmer selbst bezeichneten sich als Rhomäer und ihr Reich als das Rhomäische Reich. Darin lag ein bewußtes Bekenntnis zur Herkunft vom Römischen Reich, und zwar nicht im Sinne der Nachfolgeschaft, sondern der Identität. Schon im 9. Jahrhundert konnte das zu der naiven Vorstellung führen, daß die Kaiser seit alters griechisch gesprochen hätten. Die Selbstverständlichkeit der griechischen Nationalität des Ostens kennzeichnete bereits das Bild, das Konstantins Hoftheologe Eusebios von Kaisareia von Kaiser und Reich zeichnete, selbst wenn bis ins Zeitalter Iustinians die Fiktion vom Latein als »unserer Sprache« des Römerreiches aufrechterhalten wurde. Eusebios hat durch seine theologische Sicht der Geschichte ungewöhnlichen Einfluß auf die mittelalterlichen Chronisten des Ostens wie des Westens gewonnen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
298
Gleichzeitig spiegelt er, obwohl erst Zeitgenosse der Gründung von Konstantinopel, bereits wesentliche theologische Züge des byzantinischen Kaiserbildes. Jeder Versuch, die lebendige Substanz Ostroms zu analysieren, um zu einer wertenden Wesensbestimmung zu gelangen, wird den »Herrscherkult« dieses Reiches und gewisse Geheimnisse seines östlichen Christentums als die gleichsam nuklearen Verdichtungen dieses Wesens, die als Kern alles übrige enthalten, herausstellen müssen. Als Zeitgenosse der Entscheidung über das Schicksal des Christentums und als Verkünder des Bündnisses von Thron und Altar erblickt Eusebios das neue Wort, das seinem Zeitalter zu sprechen beschieden war, in der Vereinigung des Heilsgedankens der jüdischen Gottesoffenbarung mit der geistigen Überlieferung des Griechentums und der politischen Wirklichkeit des römischen Staates zum Idealgebilde eines christlichen Römerreiches. Der Universalismus des jüdischen Auserwähltheitsglaubens begegnet hier dem ökumenischen Anspruch der griechischen Kultur und der Allgegenwärtigkeit des römischen Machtanspruchs. Aus solcher Dreiheit erwächst die neue Einheit und das Sendungsbewußtsein des christlichen Römervolks. Mit der Zeit wird der jüdische Beitrag zum Geschichtsbild des Eusebios von dem handfesten theologischen Antisemitismus in den Hintergrund Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
299
gedrängt. Erst recht versinken das alte Rom und sein Latein für das historische Bewußtsein. Was allein zählt, was im historischen Läuterungsprozeß allein überleben wird, das wird das christliche Rhomäertum griechischer Nation sein: die dem Osten eigentümliche mittelalterliche Synthese des Erbes der Antike. Das Sendungsbewußtsein der neuen Phase, deren Entstehen Eusebios mitgestaltend beobachtete und nicht nur für die Nachwelt festhielt, sondern bewußt propagierte, gipfelt im Glauben an die Möglichkeit eines Gottesstaates auf Erden. Anders als Augustinus und der Westen, die der Verwirklichung des Ideals auf Erden mit Skepsis gegenüberstehen, bekennt man sich im geistigen Bereich Ostroms zum optimistischen Glauben an die Möglichkeit der institutionellen Verwirklichung des christlichen Ideals innerhalb des gesamten Bereiches der praktischen Politik. Vom äußeren Auftreten des Kaisers in den Formen einer Prozession, die niemals endet, über das Geheimnis des byzantinischen Kunststils mit seiner penetranten Eigenart bis zu den geistigen Reservaten der ostchristlichen Mystik bestimmt der vielleicht nirgends in der Welt so vorbehaltlos gelebte Glaube an die Verwirklichung eines Ideals das innere und äußere Erscheinungsbild der von Byzanz geprägten Räume unserer Erde. Der byzantinische Kaiser von Gottes Gnaden setzt das Programm der römischen Gottkaiser mit den vom Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
299
Christentum gebotenen Abänderungen fort. Der angedeutete Übergang von der eigenen Göttlichkeit zum Stellvertretertum bedeutet nicht einmal eine Machtminderung. Schließlich sah man sich auch in der Antike gezwungen, dem Gedanken der Göttlichkeit eines Sterblichen cum grano salis zu huldigen. Eine Statthalterschaft Gottes auf Erden kannte bereits der augusteische Staatsgedanke. Wichtiger war die Tatsache, daß die Macht der Kaiser trotz der beachtlichen Auswüchse, die man schon im 1. Jahrhundert erlebte, mit der Entfernung von der römischen Republik zunahm. Die byzantinische Kaisertheologie mit ihren christlichen Bindungen schafft sogar gewisse Voraussetzungen für eine Renaissance des Gedankens, daß auch der Kaiser nur der erste Bürger seines Reiches ist und daß ihm unter den neuen Aspekten zivile Rücksicht und christliche Demut besonders gut anstehen. Zu den Streitfragen der Geschichte der Monarchie gehört die Frage, welchen Anteil der Alte Orient am Übergang vom Prinzipat zum Dominat hatte. Immerhin wissen wir, daß Griechen das Ritual der 251 v. Chr. noch bezeugten babylonischen Anuprozession mit eigenen Augen gesehen haben. Auch durch persisch-sasanidische Vermittlung sind Teile des Zeremoniells nach Rom und Byzanz gelangt. Ebensowenig darf man vergessen, daß der Alte Orient nicht nur durch das Christentum auf die Mittelmeerwelt einwirkte, sondern für Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
299
Ostrom nichts anderes als die historische Überlieferung seiner Hauptbestandteile, vor allem Kleinasien, bedeutete. Manche Anregungen können auch verhältnismäßig spät, in mittelbyzantinischer Zeit, der Vermittlung arabischer Autoren zu danken sein, die damals Auszüge aus dem sasanidischen Schrifttum brachten. Doch kann hier an die durch zahlreiche Arbeiten geförderten Bemühungen um die Erkenntnis der oströmischen Herrscherideologie im Rahmen einer Geschichte der Monarchie nur erinnert werden. Das Ideal und sein Wächter, die Opposition, kulminieren politisch im Wahlakt des Kaisers. Der geheime, von Zeit zu Zeit in Revolutionen sich entladende Machtkampf der Führungsgruppen untereinander und mit dem jeweiligen Kaiser entfaltet sich hier legitim. Zumindest solange es sich um eine echte Wahl und nicht um eine Scheinwahl bei tatsächlich monarchischer Erbfolge handelt. Aber selbst, wenn die Tendenz zur Erbmonarchie sich durchzusetzen scheint, bleiben freie Wahlen nicht nur als Trugbild, sondern als ein Bestandteil des Zeremoniells erhalten, der seine Bedeutung niemals restlos einbüßen wird. Für den Zeitraum von 337 bis 450 war die Wahl des Kandidaten ausschließlich Sache der Heeresversammlung. Etwas von diesem Erbe des römischen Soldatenkaisertums blieb in Byzanz immer erhalten, auch wenn in der folgenden Periode (450-610) die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
300
Reihenfolge der ausschlaggebenden Machtgruppen lautet: Senat, Heer und Volk. Auch in dieser Zeit begegnen, wenn auch nur bei einschneidenden Wechseln des Regimes, Fälle einer faktischen Vorherrschaft des Militärs unbeschadet der Wahrung des Scheins der rechtlichen und zeremoniellen Vorzugsstellung des Senats. In der mittleren Periode (610-1081) ändert sich grundsätzlich nichts, doch kommt es immer häufiger vor, daß je nach den Machtverhältnissen eine der Führungsgruppen allein das Wort führt. Unbeschadet der Vorzugsstellung des Hauptkaisers setzt sich die Praxis des Mitkaisertums immer häufiger durch. Seit Leon I. (457) war die Mitwirkung des Patriarchen bei der Wahl obligatorisch, wenn auch niemals ausschlaggebend. In der Spätzeit wächst nicht nur die politische Bedeutung der Krönung durch den Patriarchen, sondern auch der Zug zur Erbmonarchie, der durch die Bestellung des ältesten Sohnes zum Mitkaiser in der Verfassungspraxis verankert wird. Die letzte und am längsten regierende Dynastie von Byzanz, die der Palaiologen, spiegelt auch in ihrer Erbfolgeordnung den Einfluß der feudalistischen Gesellschaft des Abendlandes. Trotz des schon mit Augustus einsetzenden Zugs zur Erbmonarchie konnte es bei den Kaiserwahlen zu dramatischen Auseinandersetzungen zwischen Senat, Offizierskorps und dem durch die Zirkusparteien Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
300
vertretenen Volk kommen. Doch war der Streit in der Regel vergessen, sobald einer der Kandidaten sich durchgesetzt hatte. Die anwesenden Truppen und die Massen des Hippodroms brachen in Beifallsbezeigungen aus. Je stürmischer das vorangegangene Ringen war, desto gewisser offenbarte sich in den aufbrandenden Akklamationen das Gottesurteil. Gott hatte gesprochen, Gott selbst verlieh seinem irdischen Stellvertreter die Weihe des Kaisertums von Gottes Gnaden. Auch dieser Gedanke geht ebenso wie das Gottkaisertum bis in das alte Babylon zurück, doch kann man die beiden Vorstellungskreise weder vor noch nach der Christianisierung sauber trennen. Selbst der allerchristlichste Theodosius der Große ließ es sich gefallen, von seinem Panegyriker als Gott gepriesen zu werden. Die göttliche Autorisation des Kaisers von Gottes Gnaden wirkte sich staatsrechtlich als eine Legitimation aus, die jede schriftliche Rechtsordnung überflüssig machte. Noch Iustinian benutzte daneben die Fiktion einer lex regia, eines angeblichen Senatsgesetzes, das die kaiserlichen Rechte regelte, weniger um seine Stellung zu stärken, als um der römischen Vergangenheit eine Reverenz zu erweisen, die nichts kostete, aber auch nicht schaden konnte. Die Krönung spielt sich in einem genau festgelegten Zeremoniell ab. Die Wurzeln sind nicht ausschließlich im Orient und in der Antike zu suchen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
300
Germanischen Einflüssen dürften die Torqueskrönung (Belehnung mit einer Halskette) und vor allem die Schilderhebung entstammen. Es ist nicht uninteressant, daß die allmählich in Vergessenheit geratene Schilderhebung sich während der Frankenherrschaft (1204-1261) in abgewandelter Form wieder durchsetzt. Erst nach dieser militärischen Vorkrönung erhielten die Kaiser der Frühzeit das eigentliche Diadem. Mit der Zeit lief die kirchliche Krönung der militärischen Vorkrönung den Rang ab und ersetzte sie. Der Patriarch vollzog auch die Salbung, ohne damit das Recht der Approbation zu erhalten. Später wurden die Zeremonien vom Marsfeld und Hippodrom in die Sophienkirche verlegt, für die, wenn die Umstände es erforderten, auch eine andere Kirche eintreten konnte. Zu den Hauptquellen der Kenntnis des Kaiserzeremoniells gehört das Zeremonienbuch, das Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos zur Unterrichtung des Thronfolgers verfaßte. Reiske, einer der frühesten deutschen Kenner der byzantinischen und arabischen Dinge, versah seine Aufgabe mit einem heute noch richtungweisenden Kommentar. Der Kaiser stützte sich bei der Abfassung auf Unterlagen des diplomatischen Protokolls, die bis ins 5. Jahrhundert zurückreichen. Wir erleben hier nicht nur eine Reihe von Kaiserkrönungen, die offensichtlich als Vorbild für spätere Ereignisse dieser Art benutzt wurden. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
301
Darüber hinaus erhalten wir einen kaiserlichen Jahreslauf, eine Art Festkalender, der uns erlaubt, den Herrscher bei seinen unzähligen Repräsentationspflichten zu beobachten. So gibt etwa das Pfingstfest immer erneut Anlaß, die mystische Krönung des Kaisers durch die Heilige Dreifaltigkeit zu erneuern. Der Gotterwählte auf dem Thron muß jedoch nicht nur Freiheit und Leben des Staates im Kampf des politischen Alltags täglich neu erobern, er hat auch die durch Wahl und Krönung empfangene Sonderstellung weltlicher und geistlicher Natur bei jedem offiziellen Auftreten sichtbar vorzuleben. Jedes Auftreten des Kaisers vollzieht sich in den Formen einer Epiphanie der göttlichen Sphäre. Das wird äußerlich sichtbar als Prozession, als feierliches Schweigen, das über den Palastgemächern liegt, als eine Fülle von opernhaften Bühnentricks wie der improvisierten Himmelfahrten, brüllenden Löwen und zwitschernden Vögeln, die auf das Gemüt der Gesandten von Barbarenvölkern zu wirken bestimmt sind. Wenn der Kaiser offiziell auftritt, grüßen ihn beifällige Akklamationen der Würdenträger wie des Volkes. Und doch steckt in diesen Akklamationen ein Rest demokratischer Mitarbeit des Volkes. Der Beifall ist nicht selbstverständlich, er kann, wie die zahllosen Revolutionen und Unruhen zeigen, auch verweigert werden. Der Kaiser wandelt trotz seiner Gottähnlichkeit auf vulkanischem Boden. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
301
Der staatliche und religiöse Festkalender spannt die Herrscher von Byzanz in das Joch eines liturgischen Dienstes, der hohe Anforderungen stellt. Ihm werden die höchsten Ehren erwiesen. Die fußfällige Verehrung der Proskynese gehört dazu. Sie wurde zunächst aus Resten des republikanischen Stolzes heraus mißfällig aufgenommen. Später verstand man sie nur noch als Ehrung der Ehrenden. Erst die Nachwelt hat dem Titelwesen der Byzantiner seinen bekannten Beigeschmack gegeben; trotz seiner inflationistischen Erscheinungen zweifellos mit Unrecht. Das galt erst recht für Demutshandlungen der Kaiser, die mit Fußwaschungen, persönlicher Armenspeisung und zahlreichen anderen symbolischen Handlungen nach dem Vorbild Christi ihre Nächstenliebe und humilitas bekundeten. Die Titel der frühbyzantinischen Kaiser entstammen teilweise noch dem Vorstellungskreis der Antike und des orientalischen Sonnenkults. Der Festkalender, der vom Neujahrsempfang bis zu den Weihnachtsfeierlichkeiten reicht, gehört mit Ausnahme der Diplomatenempfänge dem nach innen gerichteten Kreis der Führungsaufgaben des Herrschers an. Auch das Titelwesen sucht zwar die unübertrefflichen persönlichen Eigenschaften der Regierenden herauszustellen, enthält aber vielleicht noch stärkere Bekundungen der Herrschaft nach außen. In diesen Titeln verbindet sich der popularphilosophische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
302
Phrasenschatz von Hellenismus und Spätantike mit einem christlichen Schlagwortregister, das alles in seinen Bann zieht. So werden etwa in den feierlichen Prooimien der Gesetze Iustinians die vier platonischen Tugenden auf den Kaiser, seine Absichten und Eigenschaften bezogen. Die vorausschauende Sorge des Kaisers, sein unermüdlicher Einsatz für das Wohl der Untertanen werden gepriesen. Mit der kaiserlichen aeternitas und der Roma aeterna werden theologische Register gezogen, die dem christlichen Gedankengut nicht immer harmonisch entsprechen, aber gewaltsam mit ihm vereinigt werden. Dasselbe gilt für so stark »heidnisch« vorbelastete Titel wie pius und felix. Mit dem Glück wird die Tyche und ihr Füllhorn spätantiker Popularphilosophie beschworen. Militärische Siegertitel wie inclitus victor ac triumphator verkünden eine förmliche Siegestheologie, die sich am hörbarsten in der Kaiserakklamation der Zirkusmassen manifestiert: »Du wirst siegen!« So ist es kein Wunder, daß wir auf einer Schaumünze, die den Kaiser mit Speer und Rüstung hinter der geflügelten victoria reiten läßt, vom »Heil und Ruhm der Römer« erfahren. Mit solchen Mitteln veranschaulicht Iustinian die Siegesglorie der Wiederherstellung des ungeteilten Römerreiches. Das Glück der Römer entspricht in solchen Fällen mit schöner Selbstverständlichkeit dem. Glück der Unterworfenen. Die Kaiser Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
302
fühlten sich noch in den Zeiten äußerer Machtlosigkeit als die Herren der Oikumene und als die von Gott bestimmten Träger des römischen Weltherrschaftsanspruchs. Einem solchen Glauben lagen zweifellos die höchsten Erkenntnisse der griechischen Philosophie wie des Christentums zugrunde. Für die politischen Gegenspieler Ostroms bedeutete es freilich einen geringen Trost, wenn man dort erklärte, daß es nur einen Gott, nur einen Kaiser und somit auch nur ein Reich gäbe. Und dieses Reich sei deshalb das letzte und endgültige Wort der menschlichen Heilsgeschichte, weil seine vor undenklichen Zeiten den Waffen Roms unterworfenen Bewohner jetzt alle gleiches Recht genießen. Das kulturelle Sendungsbewußtsein, das hier durchscheint, konnte auf eine stolze Geschichte pochen. Der politische Anspruch stieß jedoch schon während der römischen Kaiserzeit auf den geistigen Widerstand der gesamten Welt. Erst recht führte der unaufhaltsame Schrumpfungsprozeß von Byzanz den versteinerten Anspruch auf Weltherrschaft ad absurdum. Als besonders leidenschaftliche und gefährliche Gegner von Rom und Byzanz trugen sich die nationalbewußten und fanatisch gläubigen Juden in das Buch der Geschichte ein. Sie verstanden dem christlichen Reichsgedanken nicht nur propagandistisch im Inneren und politisch von außen her zu schaden, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
302
sondern sie wußten sich auch gewisser handelspolitischer Schalthebel mit Geschick zu bedienen. Damit hängt ihre zweideutige Rolle beim Verlust des christlichen Orients an die Araber zusammen. Dem Judentum verhalf nicht nur der Widerspruch zwischen äußerer Ohnmacht und heimlicher Macht, sondern auch seine Rolle in der christlichen Heilsgeschichte zu unwilliger Beachtung. Die realpolitisch ernstzunehmenden Gegner Ostroms verfügten gewöhnlich nur über einen Bruchteil der jüdischen Geistesschulung. Eine Ausnahme bildeten die Araber, die sehr rasch aufzuholen verstanden. Aber auch sie dachten sowenig wie die echten »Barbaren« daran, die Weltbeglückungslehren der Byzantiner mit gehorsam gebeugtem Rücken entgegenzunehmen. Iustinian und seine Nachfolger, aber auch noch Barbarossas Zeitgenosse Manuel können als Schulbeispiele für wirklichkeitsfremde Versuche zur Durchsetzung des römischen Weltherrschaftsgedankens durch das Rhomäertum gelten. Byzanz hätte sich kaum ein Jahrtausend lang unter den schwierigsten Verhältnissen behauptet, wenn seine Regierungen über so wenig realpolitisches Verständnis verfügt hätten, wie die Verlautbarungen des Staates und der Schriftsteller vermuten lassen. Doch zeigen nicht nur die erwähnten Beispiele, daß die großen Worte oft weniger glückliche Taten auslösten. Am ehesten wußte man sich mit einem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
303
Gebilde von verwandtem geschichtlichem Adel, ja sogar Weltreichsanspruch zu arrangieren. Doch bewahrte die durch den Gedanken der »Familie der Könige« bestätigte Verwandtschaft Byzanz und Persien nicht vor dem jahrhundertelangen Vernichtungskrieg, der schließlich zur Erschöpfung beider Kontrahenten führte. Weniger rücksichtsvoll behandelte man die über das Reichsgebiet verstreuten germanischen, später auch slawischen Völkerschaften. Iustinian vernichtete mit Siegerpose die zumindest in Italien zukunftsreichen Ostgermanen, tauschte dafür Franken und Langobarden als erst recht unversöhnliche Gegner ein und zerstörte sein eigenes diplomatisches Meisterwerk, nicht zuletzt durch Öffnung Südosteuropas für den slawischen Zustrom. Nicht viel Federlesens machte man mit den echten Barbaren in Südrußland und dem Kaukasusvorland sowie im afrikanischen Raum. Aber auch dort erlebte die dem Teilen und Herrschen verschworene Politik oftmals ihre Rückschläge. Die Ideologie der Weltbeglücker verlor jeden Bezug auf die Wirklichkeit, wenn sie an solche Adressen gerichtet wurde. Glücklicherweise sprang hier die gute diplomatische Schule Ostroms in die Bresche. Zum kostbarsten Erbe, das uns die erstaunliche Kontinuität der byzantinischen Geschichtsschreibung überliefert hat, gehören die Gesandtschaftsberichte. Es ist kein Zufall, daß derselbe Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
303
Kaiser, dem wir das Zeremonienbuch verdanken, eine reiche Sammlung von Gesandtschaftsberichten aus inzwischen verlorengegangenen Geschichtswerken hinterlassen hat. Hier finden wir krasse Beispiele für das Zusammenprallen der römischen Phrasen mit der Wirklichkeit. Andererseits können wir uns davon überzeugen, daß die Rezepte für Alltag und Hausgebrauch sich durch einen Realismus auszeichneten, der nicht nur den von keiner Verantwortung gebundenen Literaten und der feierlichen Staatsrhetorik, sondern auch den Männern am weltpolitischen Hebelwerk manchmal mangelte. So hatten die Nachbarn Ostroms vielfachen Grund zur Unzufriedenheit. Der Hochmut dieser rhomäischen Herrenkaste war kaum zu brechen. Und doch konnte es geschehen, daß die Schwächen und Versäumnisse der Reichspolitik am klarsten von zeitgenössischen Reichsuntertanen kritisiert wurden. Prokops Geheimgeschichte liefert dafür das eindrucksvollste Beispiel. Die Überlieferung des einzigartigen Pamphlets würde zu den Rätseln der Geschichte gehören, wenn nicht einige Kapitel voll handfester Pornographie schmunzelndes Verständnis für die treuen Wächter solcher Geistesgüter erweckten. Was der freimütige Anfang für die Sittengeschichte Ostroms und der trockene Schluß für seine Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte bedeutet, das besagen in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
303
vielleicht noch höherem Maße Prokops außenpolitische Bemerkungen für die Reichsideologie und ihren Weltherrschaftsgedanken. Hier wird das Erlösungswerk, das der allerchristlichste Kaiser Ostroms an den Völkern des Erdkreises zu vollbringen berufen wurde, kurz abgetan als absichtlicher Mord an den Untertanen und darüber hinaus an der gesamten Menschheit. Gott allein weiß, warum der Autor sich so überschrien hat, daß er unglaubwürdig wurde. Andererseits kritisierte er nicht die Ziele, sondern ausschließlich die Methoden seines Kaisers. Er selbst zählt ja als Sekretär des bedeutendsten Feldherrn zur Militärpartei, die jede Phrase der Reichspropaganda noch mit einem Dutzend Schwerthiebe zu unterstreichen geneigt wäre. Sicher ist, daß dem fanatischen Haß dieser Apokalypse Prokops unheimliche Kräfte zuwuchsen aus der Welt des Judentums, der Häretiker und aller sonstigen Unzufriedenen, Iustinian, nicht minder seine Gemahlin Theodora, erscheint hier als Vampir und menschenfressender Dämon: »Daß Iustinian, wie gesagt, kein Mensch, sondern ein Dämon in Menschengestalt war, mag man aus der Größe der Unbill ermessen, die er den Menschen zugefügt hat. Im Übermaß der Taten wird die Gewalt des Täters offenbar. Die genaue Zahl seiner Opfer weiß Gott allein. Schneller könnte man, glaube ich, den ganzen Sand zählen als die Schlachtopfer dieses Kaisers. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
304
Wenn ich das von der Entvölkerung betroffene Gebiet im großen und ganzen zusammenrechne, stelle ich fest, daß eine Billion umgekommen ist. Libyen, das ja so weiträumig ist, richtete er so zugrunde, daß einem selbst bei einer längeren Wanderung nur selten die Überraschung widerfährt, einen Menschen zu treffen... Italien, das nicht weniger als dreimal so groß ist wie die Provinz Africa, wurde durchweg noch mehr von Menschen entblößt, so daß der Rückschluß auf die Zahl der Menschen, die auch dort umkamen, kein Kunststück ist.« Prokops Billion will natürlich als temperamentvoller Aufschrei, als entsetzte Gestikulation, nicht als Versuch einer Zahlenangabe verstanden sein. Wir wissen nicht, wie die Handschriften dieses Kompendiums der Kaiserkritik in den Besitz der westlichen Bibliotheken gelangt sind. Sollte das im Falle des Vatikans in verhältnismäßig früher Zeit geschehen sein, dann würde ein politisches Interesse am oppositionellen Charakter des Werks sicherlich mitsprechen. Das Papsttum gehörte zu den Mächten, die der Heilsbotschaft Ostroms nicht vorbehaltlos lauschten. Doch wüßten wir auch ohne den Glücksfall der Erhaltung der Geheimgeschichte nicht gerade wenig von der Oppositionsliteratur der Byzantiner. Es versteht sich von selbst, daß die dortige Konstellation nicht nur gegen die Überlieferung, sondern gegen das Entstehen einer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
304
solchen Literaturgattung sprach. Insbesondere Prokops Geheimgeschichte kann für Antike und Mittelalter fast als einmalig gelten. Dagegen begegnen nicht nur in den offiziellen Werken Prokops, sondern in einem großen Teil der historischen Literatur kritische Passagen, die nicht nur in der Frühzeit ganz im Geist der Anekdota gehalten sind, sondern bis ins 13. Jahrhundert hinein Reste einer oppositionellen Gedankenwelt bewahren. Andererseits steht Prokop selbst in einer Tradition, die bis auf die Kampfschriften Theopomps gegen Philipp II. von Makedonien zurückgeht. Wir können auch literarisch eine oppositionelle Linie der Kritik an den Kaisern, nicht etwa der grundsätzlichen Kritik am Reich und seinen geistigen Grundlagen, bis in die Spätzeit verfolgen. Wichtiger sind freilich die Zeugnisse der politischen Aktion, die Nachrichten über Revolutionen, Aufstände und gewaltsame Umstürze. Ein großer Prozentsatz der Kaiser starb eines gewaltsamen Todes. Wer den gefährlichen Weg zur Macht überlebt hatte, mußte auch nach dem Siege mit allem rechnen. So verhalten sich Herrscherideal und Opposition wie Kette und Einschlag eines geschichtlichen Gewebes, in dem allen Dunkelheiten zum Trotz die leuchtenden, mitreißenden Farben überwiegen. Gewiß sprach sich in Darstellungen wie dem Diptychon eines byzantinischen Kaisers als Barbarenbesieger etwas Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
305
von der schroffen Haltung aus, die auf assyrischen Reliefs den überdimensionalen Herrscher beim Abschlachten seiner klein und verächtlich gezeichneten Gegner zeigt. Trotz der gefährlichen Einflüsse eines auf unvordenkliche Zeiten zurückgehenden Traditions- und Sendungsbewußtseins regierte in der Praxis die Nüchternheit des diplomatischen Geschäftsverkehrs. Und selbst durch die Überschreitung seiner geschichtlichen Möglichkeiten stellte Byzanz Leitbilder auf, die weithin anerkannt wurden. Auch Ebenbürtige wie die Sasanidenherrscher und die arabischen Kalifen ließen sich vom Reiz der byzantinischen Kultur betören. Erst recht strahlte das verführerische Paris des Mittelalters vom Bosporus bis nach Skandinavien, zum Baikalsee und zumindest, bis der Islam seinen Riegel vorschob, tief nach Afrika hinein. Wie die Germanen der Völkerwanderung, so brachten die Wikinger die Kunde vom goldenen Miklagard bis in die Eiswelt von Thule. Theoderich der Große, der nach dem Geständnis des Byzantiners nur dem Namen nach ein Tyrann, in Wirklichkeit ein echter Kaiser war, wird auf dem Totenstein von Rök mit einer Siegeskraft begabt, die das Mana-Orenda urtümlicher Stammesführer mit dem Königsheil des germanischen Führertums vereint, eine nicht uninteressante Sonderentwicklung einer Gestalt im angelsächsischen Raum, die ebensogut der orientalischen Siegestheologie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
305
römischer Kaiser verschworen war. Doch bedurfte es solcher Überschneidungen kaum. Auf den frühbyzantinischen Münzen wird der Kaiser in der Heldenpose des Siegers bis in die fernsten Winkel der Erde weit außerhalb des Einzugsgebiets der Mittelmeerkultur getragen. Von dem Reichtum an symbolischen Themen der kaiserlichen Siegestheologie bleibt unter Herakleios (610-641) zwar kein einziges übrig. Dafür gehen in um so wirksamerer Vereinfachung, ja in abstrakter Rückführung auf das Ornamentale, die Symbole der Einheit von Kaisertum und Christentum um die Welt: Kaiserbild, Kreuz und Christusbild. Die Sprache der Münzen wird wirksam begleitet von der leicht zu transportierenden Kleinkunst, die eine Stärke der Byzantiner war: Reliquiare, Ikonen, Schmuck aller Gattungen. Die Schatzkammer des Doms von Limburg und die Sammlungen des japanischen Kaiserhauses stehen nicht mit späten Erwerbungen, sondern mit Zeugnissen echter zeitgenössischer Beziehungen auf verschlungesten Pfaden als extreme Beispiele für die Reichweite der byzantinischen Kleinkunst. Wenn schon der Großkunst viel vom verspielten Glanz des Schmuckkästleins eignet, um wieviel mehr mußte die eigentliche Juwelierkunst das weltliche Timbre einer christlichen Zivilisation ausstrahlen. Denn diese Kultur vergaß über ihrem christlichen Ideal niemals das Leben. Es war kein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
305
Zufall, daß von allen Herrschertugenden mit der Zeit immer mehr die Menschenliebe, die Philanthropie, in den Mittelpunkt rückte, auch das ein Beispiel für das echt griechische Verständnis eines christlichen Wertes wie der Nächstenliebe. In der Person des Kaisers bündelt sich der die Welt in ihrer ganzen Fülle umfassende Strahlenkranz des byzantinischen Lebens. Der Stellvertreter des Allmächtigen soll aber nicht nur passiver Schnittpunkt der Kraftlinien sein. Sein majestätisches Auge schleudert die Strahlen als Blitze zurück. Der Tradition unterworfen wie kein zweiter vollstreckt er als Lenker des Staatsschiffs den göttlichen Wink. Man verzeihe die poetischen Vergleiche, die jedoch nicht weit hergeholt sind, denn die Sonnentheologie des spätantiken Herrschers hielt sich zumindest als poetische Metapher bis zum. Untergang von Byzanz. Bevor wir jedoch den Kaiser verlassen und uns den Institutionen der Staatsverwaltung zuwenden, die nichts als seine verlängerten Arme sind, fassen wir die eigentümliche Verbindung von Politik und Theologie, die zum Schlagwort vom »Cäsaropapismus« Veranlassung gab, nochmals kurz ins Auge. Die Bedeutung dieses Bereichs geht weit über die Religionspolitik hinaus, weil die priesterköniglichen Funktionen der Kaiser Ostroms auch ihr weltliches Amt durchdringen. Schon die Salbung mit Öl bei der Krönung und der Ruf des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
306
Patriarchen: axios (würdig) erinnert an die Taufzeremonien mit ihrer Myron-Salbung, darüber hinaus an die Priester- und Bischofsweihe. In der Spätzeit veranschaulichte man die Zugehörigkeit des Kaisers zum Klerus, die das Recht zum Empfang der Kommunion in der den Priestern vorbehaltenen Form einschloß, durch Übertragung eines Amtes an der Sophienkirche. Schon Papst Gelasius (492-496) trat vergeblich für die Gewaltentrennung ein. Das blieb dem Westen vorbehalten, obwohl auch dort die Auffassungen des Ostens Schule machten. So verband sich das östliche Herrscherbild mit dem germanischen Königsheil zur Ausstattung des westlichen Königs und Kaisers mit dem Nimbus des »Gesalbten des Herrn«, dessen Weihe den Charakter eines Sakraments erhält. Für das Priesterkönigtum der Byzantiner zog man Melchisedek und ähnliche Gestalten als Vorbilder heran. Der Kirchenrechtler Demetrios Chomatianos formuliert im 13. Jahrhundert: »Der Kaiser übt, wenn er rechtmäßig und kanonisch handelt, alle priesterlichen Funktionen aus mit Ausnahme des Dienstes am Altar.« Den Westen retteten auch die Königssalbungen nicht vor den mörderischen Kirchen- und Kulturkämpfen. Der Investiturstreit brachte dort den Höhepunkt des Streits zwischen Kirche und Staat. In Byzanz war eine solche Auseinandersetzung auf Leben und Tod schon von der Struktur des Staates her unmöglich. Obwohl Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
306
gerade dort gewisse unsoziale Eigenschaften von Kirche und Mönchtum besonders verhängnisvolle Auswirkungen hatten, konnte es die im Westen üblichen Zusammenstöße nur bis zu einem gewissen Punkt geben. Sobald die Grenze des für den Staat Erträglichen überschritten war, setzte sich die Kaisermacht im. Osten mit erbarmungsloser Folgerichtigkeit durch. Die das Oströmische Reich kennzeichnende Einheit von Religion und öffentlicher Gewalt läßt sich kaum, wie ein katholischer Interpret es wollte, als Fortbestehen der auf primitiver Kulturstufe und in der ganzen Antike herrschenden Ordnungen, kurz gesagt, als Überrest der »heidnischen« Vergangenheit deuten. Das spannungsärmere Verhältnis zwischen Kirche und Staat, das im historischen Einflußgebiet Ostroms bis in das Zeitalter der Nationalstaaten anhielt, dürfte religionssoziologisch den idealen Normalfall, nicht aber den Überrest einer zu überwindenden Vergangenheit darstellen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
307
Der Staat und seine Diener Bevor wir den Staatsapparat in seiner Eigenschaft als technisches Werkzeug der Regierungsmacht ins Auge fassen, erscheint die Frage angebracht: Gibt es auch in Byzanz bestimmende Mächte, die soziologisch die Dauer im Wechsel der vorüberziehenden Erscheinungen verbürgen? Gibt es so etwas wie ein establishment, eine nicht immer in Erscheinung tretende Gruppe von Hintermännern, die in Wirklichkeit das Heft in der Hand haben? Wir dürfen diese Fragen unbedenklich mit Ja beantworten, obwohl einerseits der konservative Zug Ostroms seinen Führungskreisen erlaubte, sich offen als solche zu deklarieren, andererseits eine ganze Reihe von Machtgruppen während der geschichtlichen Phasen einander ablösen konnte. Die Auseinandersetzung der Gruppen untereinander und mit dem Kaisertum, das keineswegs immer eine dieser Gruppen ausschließlich repräsentiert, stellt die Probleme der Innenpolitik und gipfelt in gewaltsamen Umstürzen. Im Vordergrund des historischen Interesses steht die den Staat tragende und gleichzeitig zutiefst gefährdende Kaste der Großgrundbesitzer. Aus diesen Kreisen rekrutieren sich die oberen Zehntausend, die führenden Familien, der Adel. Es handelte sich freilich schon in normalen Zeiten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
307
nicht um eine geschlossene Gesellschaft, die ihren Klassencharakter durch hermetische Absperrung gegen jeden Eindringling bestätigte. Die Alltagspraxis dieser exklusiven Adelsgesellschaft bot vielmehr überraschende Aufstiegsmöglichkeiten. Nicht nur der Soldat, auch der zivile Beamte trugen hier den Marschallstab im Tornister. Die ständige Blutzufuhr von unten, die erst im hohen Mittelalter nachläßt, erinnert an die sozialen Gepflogenheiten im späteren England. In frühbyzantinischer Zeit führte das Latifundienwesen zur Ausbildung wahrer Staaten im Staate, für deren großfürstliche Geschlechter etwa die Apionen Ägyptens als Beispiel dienen können. Nicht nur der Nikaaufstand (532), sondern Iustinians gesamte Regierungszeit bedeutete für die privilegierte Kaste einen schweren Aderlaß. Schon damals geriet die Kontinuität zwischen den Adelskreisen von Spätrom und denen von Byzanz in Gefahr. Eine weit einschneidendere Zäsur bedeutete das Regime des Wüterichs Phokas (602-610). Unter ihm erlebte der Adel eine Art »Französischer Revolution«, was freilich nur für die Vernichtungstätigkeit, nicht für die schöpferische Zukunftsrolle dieser Umbruchszeit gilt. Erst unter Herakleios und seinen Nachfolgern begannen neue Ansätze zu keimen, die jedoch nicht nur der Ausbildung eines freien und wehrtüchtigen Bauerntums dienten, sondern wiederum zur Konzentration des Bodens und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
307
der Macht in den Händen weniger führten. Die Kaiser des 10. Jahrhunderts leisteten dieser Entwicklung, die sie nicht verhindern konnten, wenigstens Widerstand. Später ließ man sich treiben und endete bei einem Feudalismus, der noch um die sozialen Importe der Kreuzzugsära bereichert wurde. Aus den Häuptern der führenden Familien und damit aus den Großgrundbesitzerkreisen rekrutierte sich der Senat. Militärische und zivile Emporkömmlinge, die ihm angehörten, kamen von selbst zu Reichtum und schlossen sich dem privilegierten Adel an. Von der römischen Kaiserzeit erbte Byzanz den Gegensatz von Militär und zivilen Senatskreisen. Die radikale Umbildung des Senats unter Iustinian und die Katastrophenpolitik des Phokas führten zu demokratischen Rückschlägen. Die großen Kaiser nach Iustinian regierten mit dem Senat wie Maurikios, und des Phokas Nachfolger Herakleios verdankte seine Macht dem Senat. Der Brief Iustinians II. an Papst Johannes vom 11. Februar 687 wirft ein Schlaglicht auf die Zusammenarbeit des Kaisers mit Senat, Volk und Armee. Wir erfahren in diesem Schreiben interessante Einzelheiten über die ständische Gliederung des byzantinischen Staatswesens. Auch im 8. Jahrhundert besaß der Senat bedeutenden Einfluß. So hat er im Jahre 717 den großen Soldaten Leon III., den Syrer, an die Macht berufen, der dann freilich so autoritär Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
308
wie nur wenige regierte. Gegen ihn und seinen Sohn Konstantin V. richtete sich nachträglich die demonstrative Zusammenarbeit Leons IV. mit Senat, Volk und Ständen im Jahre 776. Nach dem waffenklirrenden Zeitalter der makedonischen Kaiser bricht dann im 11. Jahrhundert eine neue Senatsära an. Auch der Senat selbst wird demokratisiert, indem man die Zahl seiner Mitglieder drastisch erhöht. Je kleiner das Reich wird, desto intensiver werden die Wechselwirkungen mit dem Ausland. Der Senat der Palaiologenzeit hat nicht nur Einflüsse des westlichen Lehnssystems erfahren, sondern wirkt selbst als Vorbild nach Serbien und Rumänien hinein. Wie zuvor Serbien mit seinen feudalen Generalständen, verrät die Staatsmaschinerie Rumäniens im 15. und 16. Jahrhundert das oströmische Muster. Auch die Ständeversammlung Rußlands, der Zemskij Sobor, nahm erst im 17. Jahrhundert westlichen Charakter an. In Frühbyzanz waren es die Zirkusparteien, die das demokratische, das »zivile« Prinzip der Staatsverwaltung am drastischsten verkörperten. Es handelte sich bei diesen »Demen« mit ihren Hauptfunktionen der Blauen und Grünen von Haus aus um die sportlich interessierten Zuschauergruppen des Hippodroms. Es läßt sich denken, mit welcher Vehemenz die Leidenschaften der Rennbahn und ihrer Zuschauermassen aus der sportlichen Sphäre in die politische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
308
herüberbrandeten. Darüber hinaus fungierten die »Parteien« der Blauen und Grünen, deren Organisation sich nicht etwa auf Konstantinopel beschränkte, sondern das ganze Reich überzog, als eine Art Miliz und Bürgerwehr, die bei nationalen Notständen zwar gute Dienste leisten konnte, in Zeiten innerer Spannungen dafür einen höchst gefährlichen Waffenträger abgab. Unvergessen waren Einsätze dieses jugendlichen Landsturms etwa in Antiocheia 540, als die Jugend der Stadt sich nach dem Abzug der regulären Truppen den einrückenden Persern mit vaterländischen Liedern auf den Lippen entgegenwarfen. Ebenso waren aber auch die Knüppelgarden, die Stadt und Land terrorisierten, eine Folge der in den Hippodromen der oströmischen Großstädte geweckten Leidenschaften. Auch die religiösen Streitigkeiten der Zeit, insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Staatskirche und Monophysitismus fanden in derartigen Ersatzparteien unbegrenzt einsatzbereite Kämpfergruppen. Vor allem dienten die Parteien als ständische Interessenvertretungen. Damit erfüllten sie gewisse Funktionen heutiger Gewerkschaften und Berufsverbände. Zu all diesen Leidenschaften kam noch der Lokalpatriotismus der Stadtteile hinzu, da die einzelnen Berufsgruppen damals wie heute noch im Orient das Zusammenleben in bestimmten Straßen, Quartieren und Stadtvierteln bevorzugten. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
308
Erst vom Sieg des Islam ab verloren die Parteien ihre Bedeutung. Das hing mit den sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen zusammen, die mit der vom Verlust der Südostprovinzen an die Araber ausgelösten Wirtschaftskrise verbunden war. Die Leiter der Demen behielten ihre Ämter auch in späterer Zeit, verwandelten sich aber aus Größen der Tagespolitik, mit denen man rechnen mußte, in bedeutungslose Hofchargen, die nur noch dekorativen Zwecken dienten. Dafür bestand das Zunftwesen bis zum Ende des Reiches weiter. So hat etwa Kaiser Alexios III. 1197 mit Vertretern der Zünfte nicht nur über Steuerfragen diskutiert, sondern sich ihren Forderungen gebeugt. Senat und Hippodrom, die beiden zivilen Elemente der Kaiserwahl, verhalfen dem einstmals weltüberschattenden Sigel SPQR (Senatus Populusque Romanus) zu gespenstischem Nachleben. Die solidere Macht verkörperte sich von Anfang an in der Kriegsmaschine Ostroms und in der sie beherrschenden Generalität. Schon die Analyse der Kaiserwahl ergab, daß während der Anfänge Ostroms das Erbe des Soldatenkaisertums den Ton angab. Im Grunde traf das auch für die folgende Ära der angeblichen Senatsherrschaft zu. Erst recht erhielten die Militärs das Übergewicht während der »dunklen Jahrhunderte«, in denen Byzanz dem Ansturm der Araber als die Südostbastion Europas standhalten mußte. Erst jetzt wurden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
309
die Konsequenzen aus der Entwicklung der Schweren Reiterei mit letzter Folgerichtigkeit gezogen, erst jetzt wurde eine Kriegsflotte, die diesen Namen verdient, und mit ihr eine eigene Seeoffizierslaufbahn geschaffen. Im 11. und 12. Jahrhundert konnte die zivile Bürokratie zum Gegenschlag ausholen und die Herrschaft der Militärs zu brechen versuchen. Das bedeutete freilich nicht viel anderes als Selbstmord. Die Quittung war der Zusammenbruch des Oströmischen Reiches von 1204. Einen tragbaren Mittelweg zwischen Zivil- und Militärherrschaft haben nur die Kaiser der makedonischen Dynastie im 9. und 10. Jahrhundert gefunden. Die wichtigsten Quellen der Machtausübung von unten nach oben wären damit gestreift. Immer wieder muß betont werden, daß im oströmischen Staat trotz seines autoritären Zuschnitts erhebliche Reste der republikanischen Freiheiten weiterwirkten. In den Akklamationen steckte so etwas wie eine permanente Kaiserwahl; sie konnten auch verweigert werden. Wie steht es nun um die Machtausübung von oben nach unten? Hier ist zunächst daran zu erinnern, daß der Kaiser als die viva vox legis galt. Seinem Mund entströmten gleichsam Orakelsprüche, er war die lebendige Stimme des Gesetzes, die rechtschöpferische Instanz schlechthin, nicht etwa nur Berufungsinstanz. Es versteht sich von selbst, daß eine so weitgehende Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
309
Herrschaftsauffassung nicht nur für den Zuständigkeitsbereich des Justizministeriums von Belang war. Eine geistige Haltung wie diese drückte dem gesamten Staatswesen einen Stempel auf, den wir als totalitär bezeichnen würden, wenn nicht die grundsätzliche Unvergleichbarkeit der heutigen Massengesellschaft mit der christlich verankerten Gesellschaftspyramide Ostroms solche Parallelen verbieten würde. Der Gedanke der viva vox legis entsprach zwar einem Unfehlbarkeitsdogma, doch wurde eine solche Unfehlbarkeit ex cathedra nicht nur vom politischen und intellektuellen Erbe der Antike, sondern erst recht vom christlichen Sittengesetz in Grenzen verwiesen, die den Kaiser Ostroms, vergleicht man ihn mit den Volksführern unserer Tage, fast als den besseren Demokraten legitimieren. Den konservativen Kräften der Gegenwart dürfte Byzanz Paradigmen für die schöpferische Überwindung des Gegensatzes zwischen Freiheit und Bindung bieten. Doch soll im Augenblick nicht die Frage nach dem Wesen, sondern die nach den Formen der Herrschaft im Vordergrund stehen. Wie sieht der Staatsapparat dieser Gesellschaft aus? Die Fäden der Macht laufen im Kaiserpalast zusammen, der bis ins 12. Jahrhundert am Marmarameer liegt und dann zu den Blachernen in der Nordostecke der Stadt übersiedelt. Er beherbergt ausgedehnte Verwaltungstrakte, als deren Herzstück die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
310
Kanzlei gelten kann, in der die Kaiserurkunden ihre Form erhalten. Von hier gehen alle Entscheidungen aus, deren Gegenstand wichtig genug ist, um das Sieb der zahlreichen untergeordneten Instanzen der oströmischen Bürokratie zu passieren und bis zum Kaiser selbst vorzudringen. Vom allgemeinsten Gesetzestext, etwa einer Neuregelung des Eherechts, bis zu speziellsten Verfügungen an Private und vom Kirchengesetz bis zur Provinzialreform reicht das Spektrum der Zuständigkeiten der kaiserlichen Regierungstätigkeit in ihrem schriftlichen Niederschlag. Es versteht sich von selbst, daß es strenge Kategorien gab, daß für den Schriftverkehr mit Nachbarstaaten, für reichswichtige Gesetze und für Regierungsakte ohne normative Bedeutung nicht ein und dasselbe Urkundenschema benutzt wurde. Ebenso liegt auf der Hand, daß die nachgeordneten Instanzen, die »Reichsminister« und sonstigen Würdenträger die meisten Entscheidungen schon getroffen hatten, zumindest aber die vorbereitenden Arbeiten durchführten und das Dokument mit allen benötigten Unterlagen unterzeichnungsfertig vorlegten. Es konnte allerdings vorkommen, daß ein eigenwilliger Herrscher wie Iustinian nicht nur seine Generäle an den Reichsgrenzen in Detailfragen schulmeisterte, sondern auch seine Arbeitsstäbe dadurch schockierte, daß er alles selbst machen wollte. Der Mann, der nie eine Front gesehen hatte, balancierte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
310
nicht nur auf der Grenze von Politik und Strategie, sondern glaubte, daß er in Ehren ergraute Hauptleute und Oberste in Routinesachen beschämen könnte. Mit gleicher Selbstverständlichkeit hielt er sich für den größten Theologen, Juristen und Architekten seiner Zeit. Er scheint auch seine Minister und Kanzleibeamte dadurch in Verzweiflung gebracht zu haben, daß er seine Gesetze und nicht zu vergessen ihre salbungsvollen und propagandistischen Vorreden höchstselbst verfaßte. Doch kann das als eine Ausnahme gelten, die gerade durch das unwillige Kopfschütteln, das sie hervorrief, bestätigt, daß die Dinge in der Regel anders gehandhabt wurden. Als oberste Beratungs- und Verwaltungsinstanz fungierte eine Art Ministerrat oder Reichskabinett, das gleichzeitig als oberster Appellationshof diente. Das Gremium entsprach dem concilium der Kaiserzeit und erscheint nach den unter Konstantin abgeschlossenen Reformen der Reichsverwaltung als consistorium principis. An der Spitze stand eine Art Ministerpräsident, doch war diese Stellung anders als heute nicht Institutionen geregelt, sondern dem freien Kräftespiel überlassen. Wie die »Minister« ausschließlich vom persönlichen Vertrauen des Kaisers getragen und seine »Diener« waren, so wurde auch die Persönlichkeit, die dem Kaiser am nächsten stand, an ihre Spitze berufen, ohne daß ausdrücklich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
310
festgelegt war, welchem Ministeramt diese Ehrenstellung zustand. Dem Wechsel, der sich daraus ergab, standen allerdings auch gewisse Tendenzen zu kontinuierlicher Entwicklung entgegen. Wie sahen nun die »Ministerien« des oströmischen Staates aus? Hier muß vor allem die lebhafte Entwicklung in diesem Bereich während der immerhin tausend Jahre der Existenz des Staates betont werden. Das sah in der Praxis so aus, daß die einzelnen Ämter sich munter entwickelten, bis sie vor Hypertrophie förmlich platzten, so daß eines Tages aus den bisherigen Subalternen selbst Minister wurden. Gewöhnlich kam es dann zur Explosion der Superministerien und ihrer Ämterkumulation, wenn der Inhaber sich in umstürzlerische Bewegungen hatte verstricken lassen oder aus anderem Anlaß in Ungnade gefallen war. Dann konnten mit der Person auch Amt und Titel in der Versenkung verschwinden oder bedeutungslos werden. Aber auch auf evolutionärem Wege konnten scheinbar unangreifbare Ämter und Titel durch Schaffung noch höherer Stellungen allmählich in den Hintergrund gedrängt werden. Am Anfang der Entwicklung steht die gewaltige Ämterkumulation, die Diokletian und Konstantin trotz der Trennung von Zivil- und Militärgewalt bewirkten. Die damals neugeschaffenen Ministerämter zeichneten sich durch ihre ungewöhnliche Machtkonzentration aus. Bezeichnend war auch, daß die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
311
Zugehörigkeit zur Zentralverwaltung oder zur Provinzialverwaltung noch nichts über die Bedeutung des betreffenden Amtes aussagte. Der »Prätorianerpräfekt des Ostens« konnte in frühbyzantinischer Zeit kraft Amtes als Ministerpräsident gelten, gehörte aber paradoxerweise nicht in den Bereich der Zentralverwaltung. Soweit die frühere Allmacht der Prätorianerpräfekten den Kaisern gefährlich werden konnte, wurde sie freilich durch die Überführung des einstigen Chefs der Leibgarde in ein rein ziviles Amt gebrochen. Um zunächst die Zentralverwaltung zu mustern: Eine der gewaltigsten Stellungen war die des magister officiorum, der als Außenminister (Leiter des diplomatischen Dienstes), Innenminister, Postminister und Chef der Geheimagenten fungierte; darüber hinaus unterstanden ihm Grenztruppen, Leibgarde und Waffenarsenale. Von den heutigen Zuständigkeiten eines Innenministers oblag allerdings der Löwenanteil dem praefectus praetorio Orientis. Von höchster Bedeutung war dank der zentralen Rolle der Gesetzgebung das Amt des Justizministers (quaestor sacri palatii). Sein prominentester Inhaber war Tribonian, der im Auftrag Iustinians die Sammlung und Auslese der römischen Rechtsüberlieferung durchführte. Das Finanzministerium gliederte sich in den eindeutig öffentlichen Zuständigkeitsbereich des comes sacrarum largitonum und in den die Privatschatulle des Kaisers Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
311
betreffenden, in Wirklichkeit ebenso öffentlichen Bereich des comes rerum privatarum, der unter anderem die kaiserlichen Güter verwaltete. Ungewöhnlich einflußreich war die Stellung des Palastkämmerers (praepositus sacri cubiculi), der als einziger Beamter unangemeldet beim Kaiser eintreten durfte. Er stand den Palasteunuchen vor, verfügte aber über solchen Einfluß, daß er sogar dem Prätorianerpräfekten seine »Reichskanzlerstellung« streitig machen konnte. Andererseits konnte der nominelle Hüter der kaiserlichen Schlafzimmer ohne weiteres zum Reichsgeneralissimus avancieren. Narses gab das eindrucksvollste Beispiel einer solchen Karriere. Ein weiteres, namentlich für den designierten Nachfolger des Kaisers wichtiges Amt war das des kuropalates, der die Palastgarde kommandierte. Besondere Bedeutung hatte auch der Stadtpräfekt, dessen Funktionen weit über die eines »Oberbürgermeisters« von Konstantinopel hinausgingen. Er behauptete nicht nur für Handel und Verkehr eine zentrale Stellung, sondern vertrat den Kaiser bei dessen Abwesenheit. Die Fäden der Provinzialverwaltung liefen von den Provinzgouverneuren über die Vikare bei den Prätorianerpräfekten zusammen, deren wichtigster Kleinasien und den Orient verwaltete. Das Amt spiegelt die Bedeutung der Ostprovinzen von Byzanz. Mit seinem Einfluß auf die Gesetzgebung stand der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
311
Prätorianerpräfekt des Orients unter seinen Kollegen einzigartig da. Iustinian hat die Stellung des Orientpräfekten noch hervorgehoben, indem er die ägyptische Diözese zerschlug und ihre Provinzen an den Bereich Orient anschloß. Überhaupt hat Iustinian in den Ostprovinzen die Stellung der Gouverneure gestärkt und dem nicht nur durch neue Titel, sondern darüber hinaus durch Vereinigung der zivilen und militärischen Kommandogewalt Ausdruck gegeben. Damit gehört er zu den ausschlaggebenden Wegbereitern der Themenverfassung, die im 7. Jahrhundert der Reichsverwaltung ihr Siegel aufdrückte. Der Gürtel aus militarisierten Provinzen, den Iustinian geschaffen hat, diente der Schwerpunktbildung in besonders gefährdeten Grenzzonen. Beispiele dafür gab es – namentlich in Ägypten – schon lange vor Iustinian. Die »Themen«, deren Entwicklung zu Großprovinzen erst im 8. Jahrhundert abgeschlossen war, sind also nicht etwa, wie man früher glaubte, von Herakleios »erfunden« worden, sondern können als Ergebnis einer langen Entwicklung gelten. Der notgedrungene Verzicht auf ausländische Söldner und die dadurch bedingte Nationalisierung der byzantinischen Armee gehören zu den Voraussetzungen der Themenverfassung. Die tiefgestaffelten Limeszonen an den Grenzen des Reiches waren seit alters mit Truppen besetzt, die sich vorwiegend aus Reichsuntertanen rekrutierten. Es Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
312
war daher verständlich, daß die Organisationsformen dieser Gebiete allmählich Schule machten. Nicht das mit Fremden durchsetzte Angriffsheer, sondern das zur hinhaltenden Verteidigung bestimmte Grenzheer stellte dem von den Arabern überfluteten Oströmischen Reich für den militärischen wie für den zivilen Bereich rettende Organisationsmodelle. Übrigens zeigen schon die Brittonensiedlungen der Antoninischen Ära, daß man dort einen Teil der Limesbesatzungen in seßhafte Milizen verwandelt hat. Unter Severus Alexander war das System der »neuen Grenze« bereits voll ausgebildet. In nicht viel spätere Zeit können die parallelen Erscheinungen zurückreichen, die man in der römischen Provinz Africa beobachtet hat. Die Soldatengüter gehören zu den wichtigsten und kennzeichnendsten Merkmalen der mittelbyzantinischen Wehrverfassung. Doch hat man sich nach neueren Forschungen davor zu hüten, einen engen Zusammenhang zwischen ihnen und der Themenorganisation zu sehen. Unter einem thema verstand man zunächst nur das Protokoll des Kanzleischreibers der Provinz, später bezeichnete man damit die dort stationierten Truppen und schließlich die ganze Provinz. Die Themen kamen dadurch zustande, daß der Standortälteste gewisser Provinzstädte in Notzeiten auf Weisung von oben dem Zivilpräfekten die Verwaltung aus der Hand nahm und damit zum Militärgouverneur wurde. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
312
Eine nach und nach durchgeführte Verwaltungsreform sanktioniert dieses, zunächst wohl in Einzelfällen geübte Verfahren und legt es dem neuen Staatsapparat zugrunde. Anfangs gab es nur wenige Themen von großem Umfang, die jeweils mehrere Provinzen der Diokletianischen Ära aufsaugten. Bei dieser Lösung konnte es aber nicht bleiben. Die Geschichte der Usurpationen und Generalsfronden zeigt, daß das Amt eines »Themenstrategen« kein schlechtes Sprungbrett zur Kaiserwürde war. Als Gegenmaßnahme wurden die Themen von der Zentrale wieder in kleinere Einheiten unterteilt. Die charakteristische Vereinigung von Zivil- und Militärgewalt blieb aber bestehen. Die Tradition der Themen geht teilweise auf alte, unter dem Tyrannen Phokas aufgelöste Truppenteile der byzantinischen Armee zurück. Wir erkennen das mit Leichtigkeit an Namen mit historischem Klang wie Opsikion (das in der Nähe Konstantinopels lag und nach dem dort untergebrachten Begleitkommando – obsequium – des Kaisers hieß) sowie Bukellarion (nach der Gefolgschaft, den Bukellariern). Am Anfang des 8. Jahrhunderts waren zehn Themen bezeugt, während an dessen Ende schon fünfundzwanzig und im 11. Jahrhundert achtunddreißig Themen existierten. Bei neugegründeten oder abgespaltenen Themen suchte man ihre Kommandanten in einem niederen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
313
Rang zu belassen. So kam es zur Gründung der Katepanate und ähnlicher Gebilde, über deren Charakter man lange gerätselt hat, die aber jetzt eindeutig als Themen minderen Ranges erkannt sind. Noch rascher als die Provinzialverwaltung änderten die zahllosen Ämter der Reichsorganisation ihr Gesicht. In mittelbyzantinischer Zeit verschwinden die Superminister, die der Verwaltung von Diokletian bis über Herakleios hinaus das Gepräge gegeben haben: Die ehemaligen Bürochefs machen sich selbständig und rücken zu unmittelbaren Befehlsempfängern des Kaisers auf. Die Liste des Philotheos (das Kletorologion von 899) kennt etwa sechzig hohe Funktionäre, die man als Minister bezeichnen könnte. Durch die hohe Zahl der Funktionäre und das Fehlen von Zwischeninstanzen wurde natürlich die Macht des Kaisers, aber auch seine Verantwortung und Arbeitslast außerordentlich gesteigert. Die alten Ministerien wurden im 7. und 8. Jahrhundert unter dem Zwang der äußeren Notwendigkeiten radikal umgebildet. Seither unterschied man streng zwischen den zwar ranghöheren, aber nur der Repräsentation dienenden Ehrenämtern einerseits, den eigentlichen Regierungsämtern andererseits. Wobei sich von selbst verstand, daß zu jedem Amt ein Rang gehörte, weil nur der Rang seinem Träger Zutritt bei Hofe verschaffte. Keineswegs aber gehörte zu jedem Rang ein Amt, denn die Kaiser Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
313
benötigten einen Überschuß von Ehrenrängen, um gewisse Kreise mit dekorativen, aber ungefährlichen Titeln abzuspeisen. Auch der Respekt vor der Tradition gehörte zu den Antrieben, die beim Weiterleben der Titel etwa der Vorsteher der längst verblichenen Zirkusparteien mitsprachen. Diese Zweigleisigkeit der byzantinischen Rangliste war sicherlich ein innenpolitischer Meisterstreich, bot sie doch dem Kaiser stets die Möglichkeit, unbequeme Gruppen oder Einzelpersönlichkeiten ohne Verletzung von Form und Tradition auf Distanz zu halten. Man verfügte über ein Mittel, zu teilen und zu herrschen, ganz zu schweigen von der Funktion des Titelwesens als Ordensvorrat. Die Ehren- oder Diplomämter (axíai diá brabeíon) wurden durch Übergabe von Insignien verliehen und lauteten auf Lebenszeit. Die Regierungsämter mit staatlicher Funktion wurden durch Edikt (diá lógu) verliehen und waren widerruflich. Die Gruppe der mit Amtsgewalt ausgestatteten Funktionäre stellte die Minister jener Ära, deren jeder über ein officium, ein Ministerialbüro, verfügte. Die zeitgenössischen Listen führen die Ediktbeamten oder Fachminister in sieben Klassen auf. Im Erfinden, Steigern und Übersteigern von Titeln überhaupt entwickelten die Byzantiner jene Produktivität, die sich einmal im spöttischen Schlagwort vom »Byzantinismus« niederschlagen sollte. Um 900 gab Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
313
es achtzehn Rangstufen, die vom stratelates und Expräfekten bis zum ersten Senator, dem magistros, aufstiegen. Schon um 1000 gab es nicht weniger als vierundzwanzig Magister, die Stellung war damit entwertet, und es mußten neue Formen gefunden werden. Die Zerschlagung der spätrömischen Superministerien in die Büros von spezialisierten Sonderministerien und die Unsitte, daß jeder Provinzgouverneur unmittelbar an den Kaiser zu berichten hatte, führte zum Verzicht auf den Instanzenzug des frühbyzantinischen Staates. Es gab nicht allzu viele Kaiser, die Übermensch genug waren, solchen Anforderungen gerecht zu werden. Den gordischen Knoten dieser umfänglichen, aber ohne das Auge des Herrschers hilflosen Bürokratie zu durchhauen, gab es nur zwei Wege: neue Zentralisierung oder Mitwirkung einer Hofkamarilla an der Regierung. Man kann sagen, daß beide Wege beschriften wurden. Eine Hofkamarilla war nichts Neues. Schon Augustus hatte mit Freigelassenen regiert, und die Eunuchen des Kaiserpalastes stellten zu allen Zeiten eine Art Ministerium zur besonderen Verwendung dar. Die Hofeunuchen unterstanden dem praepositus sacri cubiculi, der noch im 6. Jahrhundert die kaiserliche Domänenverwaltung leitete, also mit dem Finanzminister konkurrieren konnte. Im 10. Jahrhundert verlor er seinen Einfluß an den parakoimómenos. In der mit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
314
Intrigen geschwängerten Luft der privaten Trakte des Kaiserpalastes fanden auch die Kaiserinnen und die weibliche Verwandtschaft des jeweils regierenden Kaiserhauses die politischen Kanäle, die zu Einfluß verhalfen. Nicht nur dämonische Gestalten wie Pulcheria und Theodora, sondern erst recht Gestalten wie Eirene und Zoë zeigten, daß die Verfassung Ostroms dem weiblichen Element zu allen Zeiten nicht nur Einfluß, sondern sogar Vorherrschaft einräumte. Im 11. Jahrhundert, vor allem unter Alexios I. Komnenos (1081-1118), machte die Umbildung des Ämter- und Titelwesens rasche Fortschritte. Die Zweigleisigkeit fällt weg, und es werden, namentlich für die Verwandtschaft des Kaiserhauses, bombastische Titel geschaffen. Aber auch für niedere Ränge wird mit Superlativen (etwa panhypersebastatos) nicht gespart. Dieser Titelinflation entsprach aber eine Minderung der tatsächlichen Regierungsfunktionen. Man war gezwungen, den Apparat zu verkleinern, weil das Reich kleiner und schwächer wurde. So kehrte man in der Not zum Gedanken der Zentralisation zurück. Im 12. Jahrhundert war das Reich schon beträchtlich zusammengeschrumpft, trotzdem besaß man eine größere Zahl von Themengouverneuren als jemals zuvor. Das brachte eine Entwertung des Strategenamtes mit sich, die durch Bestallung von Feldmarschällen und Admiralen mit Kriegsministerfunktionen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
314
wettgemacht wurde. Auch in der Zivilverwaltung setzten sich die zentralistischen Tendenzen durch: der logothétes ton sekréton rückte zum allmächtigen Innenminister auf. Das lateinische Kaisertum bedeutete ein Zwischenspiel, das zwei Menschenalter währte (1204-1261). Die Zeit der religiösen und kulturellen Überfremdung durch den Westen konnte zwar die griechischen Grundlagen Ostroms nicht antasten, öffnete aber dem sozialen und wirtschaftlichen Einfluß des Abendlandes Tür und Tor: Der Einfluß des fränkischen Feudalismus ist nach der Wiederherstellung des Byzantinischen Reiches unverkennbar. Die Staatsverwaltung stand im 14. Jahrhundert unter dem Zeichen straffer Zentralisierung. Es gab einen Innenminister, einen Oberbefehlshaber der Wehrmacht und einen zentralen Flottenchef. Der westliche Einfluß verrät sich im Titel eines Großkonnetable. In den Jahren vor dem endgültigen Zusammenbruch gingen die Titel und Funktionen durcheinander. Wichtige Funktionen wurden plötzlich an Leute von niedriger Stellung übertragen. Auch darin drückte sich die bis zum letzten Tag ungebrochene Kaisermacht Ostroms aus. Es war den Herrschern vorbehalten, ihre Vertrauten aus dem Kreis der Hofchargen zu wählen und kleine Ämter plötzlich durch Auszeichnung ihrer Träger in den Mittelpunkt der Macht zu rücken. Kein Herrscher des mittelalterlichen Europa Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
315
verfügte über eine Verwaltung, die sich mit dem eingespielten, ebenso traditionsreichen wie wandlungsfähigen Machtapparat des oströmischen Kaisertums im entferntesten hätte vergleichen lassen. Kontaktstellen der kulturellen Begegnung zwischen Byzanz und Abendland, wie Venedig und Sizilien, leisteten der modernen Staatenwelt beachtliche Entwicklungshilfe. Als besonders gelehrige Schüler erwiesen sich die Normannen in Süditalien. Die Fülle der Begegnungen auf dem Boden Siziliens trug im Zeitalter Friedrichs II. Früchte, die über das Mittelalter hinauswiesen. Aber auch mit dem Orient bestanden Wechselbeziehungen, die den Einfluß des oströmischen Vorbilds in diesen Räumen bestätigten. Ein solcher Strahlenkranz, der nicht nur rückständige Gebiete erleuchtete, sondern selbst die Brennpunkte eines Weltalters überstrahlte, bestätigt gleichsam von außen her alles, was wir von dem mystisch überhöhten Kaisertum in seinem irdischen Gottesreich wissen. Doch wird es Zeit, die andere Seite, die retardierenden Momente, die solcher Gottähnlichkeit ihre Schranken setzten, nochmals herauszuheben. Von der Opposition ist schon gesprochen worden. Aber auch der Machtapparat selbst, dessen sich der Kaiser bediente, leistete einen gewissen Widerstand. Je größer er war, desto mächtiger setzte sich die Schwungkraft der Beharrung jeder lebendigen Initiative entgegen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
315
Auch in solcher Friktion konnte der Wille eines Kaisers erlahmen. Wenn es auch gerade für letzte Lebensfragen des Staates keine geschriebenen Vorschriften gab, bedeutete das noch lange keine Freiheit für Willkür, da die Hürden der ungeschriebenen Gesetze schwerer zu überwinden waren als reale Hindernisse. Im übrigen zeigen Schriftsteller von der Art Konstantins VII., wenn auch nur in Andeutung zu lehrhaften Zwecken, daß es ein förmliches Protokoll und Unmengen an historischen Unterlagen für den Ablauf der Staatszeremonien gab. Die Verwaltung bestand nicht nur aus vergänglichen, wenn auch mit Eigenwillen ausgestatteten Menschen, sondern aus dauerhaften Institutionen und deren Aktenbergen. Über Zivilbeamte und Militärs, die übrigens durch die gleiche Dienstauffassung der militia Christi verbunden waren, wurden genaueste Stammrollen geführt. Die Steuerbehörden verfügten über Kataster, die jeden Quadratmeter Boden erfaßten. Auch über Familienverhältnisse, Grundbesitz, Handel und Gewerbe der Untertanen standen dem Staat Unterlagen zur Verfügung. Bei ihrer Bearbeitung waren Regeln zu beobachten, die sowenig der Willkür unterlagen wie das Tatsachenmaterial, zumindest im Normalfall. Die Allmacht war dem prüfenden Auge des Allmächtigen, des pantokrator, vorbehalten. Der Kaiser stand als Selbstherrscher, als autokrator, an der Spitze der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
315
Gesellschaftspyramide, doch er war eben nur die Spitze der Pyramide, nicht die Pyramide selbst, die ihn trug. Neben gewaltigen Möglichkeiten schloß eine solche Spitzenposition Bindungen ein, die jede Sklaverei in den Schatten stellten. Der stoische Gedanke vom Fürsten als dem ersten Diener des Staates, den Kaiser Markus, Julian Apostata und Friedrich der Große vorzuleben wußten, verpflichtet jeden Herrscher des Rhomäerreichs. Bei aller Selbstherrlichkeit waren die Kaiser nicht nur an die Prinzipien von Recht und Gesetz gebunden, sondern, unbeschadet ihrer Macht, zu verwerfen, abzuändern oder neuzuschöpfen, berufenste Hüter des umfangreichen Rechtserbes der römisch-byzantinischen Tradition. Auch dadurch wurde die Willkür der Selbstherrscher in Schranken gehalten. Abgesehen von den anonymen Kräften der Geschichte und Tradition gab es spezielle Hemmnisse der Zentralgewalt. In Frühbyzanz spielten die Zirkusparteien eine gefährliche Rolle als Hebelarme der öffentlichen Meinung. Bei der Behandlung der Armee, der kirchlichen Hierarchie, der herrschenden Klassen, des gesamten Volkes war eine Mischung von energischem Zupacken und größter Behutsamkeit zu beobachten. Volksversammlungen gab es bis in die letzten Tage des Reiches, sie konnten als eine Art Generalstände, als Vorstufe heutiger Parlamente betrachtet werden. Der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
316
Senat war alles andere als ein stummer Befehlsempfänger, er hat auch in Zeiten schwindenden Einflusses mit Rat und Kritik in die Politik eingegriffen. Die Sitte der sogenannten Ekboëseis in den Provinzen zeigt uns ein die Allmacht der Zentrale zugleich bestätigendes und einschränkendes Zeichen der Volksfreiheit: Die Sitte gab den Bauern der Provinzen in Notfällen die Möglichkeit zur unmittelbaren Anrufung kaiserlicher Gewalt. Gewiß konnte der Kaiser als letzte Instanz aller Entscheidungen eine Art Unfehlbarkeit für sich in Anspruch nehmen. Für die Praxis galt das ungeschriebene Gesetz, daß er die Entscheidung erst nach gründlicher Beratung mit den zuständigen Fachleuten traf. Es verstand sich von selbst, daß im Ministerrat des consistorium hitzige Debatten geführt wurden. Auch die bürokratische Umständlichkeit bei der Ausfertigung von Erlassen, der komplizierte Dienstweg, die bis in die Sprache hinein mächtige Tradition mußten rasche selbstherrliche Entschlüsse erschweren. Eine bedeutsame Rolle als stabilisierender Ballast des Staatsschiffs spielte das nicht nur schriftlich überlieferte, sondern darüber hinaus kodifizierte Rechtsgut. Bei den Gesetzessammlungen der römischen Kaiserzeit handelte es sich noch um Privatunternehmen. Der frühe Oströmer Theodosius veranstaltete bereits eine offizielle Sammlung der Kaisergesetze. Noch größere Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
316
Initiative entwickelte Iustinian mit der autoritativen Auswahl und Kodifizierung der unübersichtlich gewordenen Rechtsmasse. Beide suchten mit wachsendem Erfolg, durch Zitiergesetze ihre Sammlungen zum allein geltenden Recht zu machen. Vor allem hat Iustinians Versuch zur Konzentration des Rechts in Byzanz und seinen Tochterkulturen Schule gemacht, Iustinians Corpus iuris civilis ist zwar mehrmals neugestaltet worden, doch haben auch spätere Sammlungen wie die Basiliken das römische Erbe in griechischen Übersetzungen, vor allem aber in zeitgemäßer Anpassung an die Bedürfnisse des griechischen Mittelalters treu gepflegt. Solche amtlichen Rechtssammlungen hatten natürlich weit mehr bindende Kraft als die Privatsammlungen, die das römische Rechtsleben beherrscht hatten. Auch darin lag eine gewisse Einschränkung der kaiserlichen Willkür. Das Stichwort »Cäsaropapismus« wurde bereits auf seinen Kern, die in Byzanz wie in der gesamten Antike gültige Einheit von Kirche und Staat, zurückgeführt. Solche Identifizierung bedeutete jedoch nicht nur lockende Herrschaftsmöglichkeiten, die sich aus der Gewalt über die Seelen der Untertanen ergaben, sondern tausendfache Bindung an eine christliche Tradition, die sich anfangs gleichwertig neben die römischen Überlieferungen des Staates stellte und mit zunehmender Ausschließlichkeit allen seinen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
316
Lebensäußerungen ihren Stempel aufprägte. Das Ideal einer stillschweigenden Zusammenarbeit von Kirche und Staat hat sich auch im Osten trotz der konstantinischen Nachbarschaft von Thron und Altar nicht verwirklichen lassen. Der ungeheure Einfluß der Kaiser auf die Kirche ist unbestritten; er ist ihnen aber auch teuer zu stehen gekommen. Es gab im Oströmischen Reich, und nicht zu vergessen im benachbarten Ausland, zu allen Zeiten religiös Andersdenkende, die als Häretiker verfemt und verfolgt wurden. Die Staatsgewalt hat sich hier von Anfang an nicht gleichgültig verhalten. Schon Konstantin bewahrte in solchen Auseinandersetzungen keine Neutralität. Theodosius I. bezeichnete sich auf dem zweiten ökumenischen Konzil (380) als Verteidiger der Orthodoxie und legte den Begriff des Häretikers ein für allemal fest. Eine noch eindeutigere Stellung nahm das Kaisertum auf dem Chalkedonense (451) ein. Damals vollzog sich das erste große Schisma, die erste Kirchenspaltung, die diesen Namen verdient. Die bis heute bestehenden Orientkirchen der Kopten und Jakobiten legen davon Zeugnis ab. Gewiß war die von den Kaisern übernommene Rolle als Verteidiger der Orthodoxie ehrenvoll. Sie mußten aber in Kauf nehmen, daß durch die Einmischung des Staates in die kirchlichen Angelegenheiten aus konfessionellen Gegnern Staatsfeinde wurden. Daraus ergaben sich Konstellationen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
317
Machtgruppierungen von innen und außen, die mit dazu führten, daß das immer noch als Vielvölkerstaat imponierende Römische Reich des Ostens unter schwersten Einbußen zu einem Rhomäerreich vorwiegend griechischer Nation zurechtgestutzt wurde. Die im Konzil von Chalkedon ein für allemal festgelegte Orthodoxie hat sich in Byzanz durchgesetzt. Aber es war kein echter Sieg. Eine wirkliche Entscheidung in diesem geschichtlichen Ringen zwischen Griechenland und dem Orient ist durch den Verlust der Monophysiten von Syrien und Ägypten an den Islam vereitelt worden. Jene Kaiser, die noch ein Oströmisches Weltreich beherrschten, mußte ihre Stellung als Schutzherren der Kirche nicht nur mit einer mächtigen Opposition im Inneren bezahlen, sondern darüber hinaus mit dem Separatismus der Südostprovinzen und ernsthaften außenpolitischen Schwierigkeiten. Gewiß hat es Kaiser gegeben, die selbst zu einer Häresie neigten; so hat einer der Vorgänger Iustinians, Kaiser Anastasius, die Monophysiten begünstigt, und man sagte ihm sogar manichäische Neigungen nach. Doch konnte er es sich niemals leisten, der herrschenden Orthodoxie offen entgegenzutreten; es ging ihm nur um den Versuch, die unruhigen Ostprovinzen mit vorsichtiger Diplomatie auf dem römischen Reichskurs zu halten. Iustinian und Theodora bezichtigte man des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
317
Doppelspiels. Nach geheimer Abrede hätte der Kaiser die herrschende Kirche, die Kaiserin dafür die häretischen Monophysiten begünstigt. Iustinian fiel mit seiner Politik der Bevormundung der Kirche auch seinen Freunden auf die Nerven, nicht zuletzt den Päpsten, die ihm viel verdankten. Im höchsten Alter wechselte er die Partei und ging zum radikalsten Flügel seiner ehemaligen Gegner über. Solche und auch weniger harmlose Kurzschlußreaktionen spiegeln die Unsicherheit des Staates gegenüber Gewalten, die dem Befehl und Verbot entzogen sind, weil sie in der Gewissenssphäre wurzeln. Kaiser wie Zenon und Herakleios haben verzweifelte Versuche unternommen, Vermittlungsformeln zu finden und diese dann mit Staatsgewalt durchzusetzen. Es blieb vergeblich. Erst die Nachfolger Mohammeds haben den gordischen Knoten der oströmischen Religionspolitik mit dem Schwert zerhauen und die rebellischen Provinzen amputiert. Aber schon im 8. Jahrhundert entfesselte der Bilderstreit gewaltige Leidenschaften gegen die Kaiser. Die gestrengen Führer einer abermals sich spaltenden Kirche sahen ihren von weltlichen, namentlich sozialen Erwägungen nicht unbeeinflußten Versuch, den Glauben nach dem Vorbild der bilderfeindlichen Juden und Muslime umzugestalten, immerhin für ein Jahrhundert von Erfolg gekrönt. Damals flammte nicht nur die kaiserfeindliche Sprache der römischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
318
Senatsopposition wieder auf. Die fanatischen Mönche holten sogar den Wortschatz der Lebensbeschreibungen der christlichen Märtyrer aus der Versenkung hervor. Ein Retter des Reiches vor dem Arabersturm wie Leon III. wurde nicht nur zum nachträglichen Opfer der Lüge- und Schweigetaktik ganzer Historikergenerationen, er mußte sich schon zu Lebzeiten als neuer Nero und Diokletian, als heimtückischer Verfolger des Christentums schmähen lassen. Den Nachfolgern ging es nicht viel anders. Um so mehr wurde dann die moralisch schwer belastete Kaiserin Eirene gefeiert, die den Sieg der Bilderverehrung entschied und für Jahrhunderte die Ruhe wiederherstellte. In der Spätzeit kam es zu Auseinandersetzungen der Reichskirche mit dualistischen oder mystischen Bewegungen wie denen der Bogomilen und Hesychasten. Das beherrschende Thema der Spätzeit war aber die Frage der Kirchenunion. Das Schisma zwischen Ostkirche und Papsttum bestand offiziell seit 1054; spiegelte freilich eine seit Jahrhunderten gereifte Entfremdung. Der Kampf um die Überwindung der Spaltung war gleichbedeutend mit der Entscheidung über Sein oder Nichtsein. Aus dieser Erkenntnis heraus hat Kaiser Michael VIII. 1274 in Florenz gegen den Willen seines Patriarchen und gegen die Mehrheit des Volkes die Kirchenunion durchgesetzt. Kein Wunder, daß die Einheitsformel bei den ersten innenpolitischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
318
Schwierigkeiten dem Moloch des Volkszorns geopfert werden mußte. Die Devise »Lieber türkisch als papistisch« bedeutet den extremsten Ausschlag solcher Leidenschaften. Auch der Westen stellte konfessionelle Gesichtspunkte über die Sache des christlichen Abendlandes. Byzanz bezahlte seinen Starrsinn mit dem. Untergang, weil durch beiderseitiges Verschulden die Hilfe des Westens zu spät kam. Volk und Kirche konnten also auch konservativer sein als der Kaiser, bei dem alle Fäden der Tradition zusammenliefen. Solche Spielregeln galten schon im Bilderstreit, der die Studitenmönche als die Cluniazenser Ostroms sah. Auch das Privatleben der Kaiser gab zu Spannungen zwischen Staat und Kirche Anlaß. Bei Scheidungsfällen im Kaiserhause, bei zweiten und dritten Eheschließungen sowie Verwandtenehen kam es zu energischen Kirchenprotesten, wenn nicht zur Exkommunikation eines Kaisers. Andererseits wurde der mächtige Patriarch Michael Kerullarios, der den heute noch gültigen Bruch zwischen Ost- und Westkirche vollzog, von seinem Kaiser einmal regelrecht geschulmeistert. Wegen eines Konflikts mit den Studitenmönchen unterschlug er in der Sonntagsliturgie den Namen ihres illustren Ordensgründers und wurde daraufhin vom Kaiser angehalten, an einem der nächsten Sonntage den Namen Theodoros Studites »mit lauter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
318
und deutlicher Stimme« anzusagen. So bleiben auch dem theokratischen Herrschertum Ostroms Konflikte zwischen Anspruch und Wirklichkeit ebensowenig erspart wie der Streit mit konkurrierenden Gewalten. Die Erben der römischen Gottkaiser beriefen Konzilien ein und führten dort den Vorsitz, wußten mit harter Hand oder unmerklich zu lenken. Die apostelgleichen Stellvertreter Christi fühlten sich als oberste Schiedsrichter über dogmatische Streitfragen der Kirche. Auch nach außen hin galten sie als berufene Vorkämpfer des Christenglaubens, den ihre Missionare weit über die Reichsgrenzen hinaustrugen. Aber gerade solche Selbstherrlichkeit verwickelte die Herrscher Ostroms in Kämpfe, die ihren politischen Zielen Abbruch taten. Auch hier endet mancher Versuch des Abwägens von Vorteilen und Nachteilen auf den Klippen der Ambivalenz. Dem Bischof von Münster entschlüpfte in einer nachdenklichen Betrachtung zum zweiten Vatikanum das Wort: »Die mittelalterliche Vermengung des religiösen und des profanen Bereiches war kein christliches Ideal.« Auf den ersten Blick betrifft dieses Wort auch die soeben behandelten Probleme der Einheit von Kirche und Staat im Kräftefeld Byzanz. Bei näherem Zusehen entpuppt sich die Äußerung jedoch als eine dem Westen vorbehaltene Selbstkritik. Sie zieht die Bilanz des dem Westen eigentümlichen Versuchs Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
319
einer totalen Beherrschung des Staates durch den Klerus. Die von Byzanz beeinflußte Gesellschaftsstruktur vereitelte selbst in so weiträumigen und dementsprechend von Zentrifugalkräften bedrohten Gebilden wie dem russischen Kolonialreich jene tragischen Katastrophen, die im Herzen Europas an der Tagesordnung waren. Die Deutschen verspielten ihre nationale Einheit zuerst im Investiturstreit und dann in den Stürmen, die der Reformation folgten, weil das Erbe Roms ihnen die Lösung der westlichen Lebensfrage auferlegte. Auch in Byzanz hatten wir eine Kettenreaktion religiösen Starrsinns beobachtet, die ihm den Tod brachte. Es gab im späten Byzanz zwar Parteien, sogar solche von »fortschrittlichen« Westlern und Konservativen, doch kamen deren Tageskämpfe nicht im entferntesten gegen die ererbte Einheit des oströmischen Gottes-Staates auf. Daher vermochten die Ostkirchen nach dem Untergang des Reiches das byzantinische Erbe nicht nur in griechischer Gestalt, sondern in unzähligen nationalen Ausprägungen weiterzutragen. Jeder Nachfolgestaat fand bei seiner Kirche eine Hilfestellung zur Wiederauferstehung, die den westlichen Beobachter mit Neid erfüllen könnte.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
319
Die Wirtschaft Ostroms Auch die Bürger eines Gottesstaates waren keine körperlosen Wesen wie jene Seraphime, die im lichtflimmernden Himmel der Sophienkirche das Flügelrauschen der Ewigkeit sichtbar machen sollen. Die Kaiser und ihre verlängerten Arme, ihre Diener und Werkzeuge vom Minister bis zum letzten Zöllner, waren Sünder allzumal, dem nackten Selbsterhaltungstrieb und den Gesetzen von Hunger und Liebe nicht anders unterworfen als die Masse der Untertanen. In der Geheimgeschichte Prokops besitzen wir eine literarische Aussage, die an Hüllenlosigkeit in Altertum und Mittelalter ihresgleichen sucht. Es ist bezeichnend, daß diese Schrift mit den Lastern eines Kaiserpaars beginnt und mit einem Katalog ihrer Wirtschaftsverbrechen endet. Sogar die Laster und Gebrechen eines Regimes konnte sich diese restlos auf den Herrscher ausgerichtete Gesellschaft nur in sichtbarer Personifizierung durch den Kaiser und seine Werkzeuge deutlich machen. Und selbst da geraten wir in den religiösen Strahlungsbereich der Apokalypsen einer Zeit, da die gemeinsame Vergangenheit von Juden und Christen, nicht zuletzt ihr Haß gegen die Kultur der Antike noch jung und frisch war. Selbst in ausgemachter Pornographie der Byzantiner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
320
schwingt immer noch mehr religiöse Leidenschaft als in unseren Lippenbekenntnissen zur christlichen Moral. Die letztmögliche Entzauberung, die gewisse heutige Sozialparolen säkularisierter Nächstenliebe kennzeichnet (»Erst kommt das Fressen, dann die Moral«), wäre selbst für den Urwelthaß fanatisierter Volksmassen einer oströmischen Revolution unvollziehbar gewesen. So verraten die berüchtigten Anfangskapitel dieser Schrift nicht säuerlichen Sexualneid, wie mancher Seelenkenner gemeint hat, sondern spiegeln jene Dämonie, die den Seelenkämpfen gewisser Asketen einen Zug verzweifelter oder lächerlich verschrobener Lüsternheit verleiht. Mit solchem Blocksberggetümmel einer religiösen Volksphantastik, das unter den Füßen der Gläubigen aller Zeiten sein ungezügeltes Leben führte (inzwischen wurde das Terrain von der Psychoanalyse besetzt), steht in nüchternstem Gegensatz der Schluß der Geheimgeschichte, in dem der brenzlige Höllengeruch eines kaiserlichen Unterweltshofes gleichsam in den Aktengeruch der Verwaltungsbürokratie umschlägt. Wenn die Gesamtschrift dem mit solchen Zeugnissen nicht gerade verwöhnten Historiker wie ein Kompendium der (vorwiegend senatorischen) Opposition gegen die Kaiser erscheint, so erfüllt der Schluß bei bescheidenen Ansprüchen auch noch die Aufgabe einer zeitgenössischen Sozial- und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
320
Wirtschaftsgeschichte der oströmischen Frühzeit. Sehen wir genauer zu, so entpuppt sich freilich auch diese nüchterne Überschau als ein Haßgesang, der bis in dämonische Gefilde reicht und den Kaiser als den allgegenwärtigen Bedrücker seiner Untertanen verteufelt. Vom Soldaten und Offizier bis zu den betriebsamen Händlern, den Gewerbetreibenden und dem duldenden Volk läßt der Autor alle Berufsgruppen und Stände Revue passieren. Auch in jenen Tagen ereilten zwei Dinge den Menschen mit untrüglicher Sicherheit: der Tod und die Steuern. Ohne die Anklagen der Geheimgeschichte stünde es um unsere Kenntnis des byzantinischen Steuerwesens schlechter, damit aber auch um unser Wissen über die Zusammenhänge des damaligen Wirtschaftslebens. So lebhaft zu allen Zeiten über die Steuern geklagt wird, sowenig läßt sich leugnen, daß staatlicher Anspruch und private Wirtschaftsleistung sich aufeinander einspielen und einander entsprechen. Je weniger wir über die Wirtschaft wissen, desto lauter redet ihr Spiegelbild aus dem, was wir über Steuern, Zölle und andere Wirtschaftsbereiche des Staates erfahren. Aus naheliegenden Gründen hören wir über Sondersteuern, die natürlich unliebsames Aufsehen erregten, zumeist mehr als über die alltäglichen Abgaben. So verliert die erwähnte Geheimgeschichte kaum ein Wort über die wichtigste Steuertechnik, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
320
sogenannte iugatio-capitatio (kombinierte Kopf- und Grundsteuer). Wenn hier von Kopfsteuer und von Grundsteuer die Rede ist, gewinnen wir freilich für die Interpretation der vorliegenden Nachrichten über die Praxis der Steuerveranlagung noch keinen Universalschlüssel. Zweifellos war das iugum eine Schätzungs- und Steuereinheit für den Bodenertrag, dafür ging die capitatio über den ihr zugrunde liegenden Begriff der Kopfsteuer weit hinaus, da sie nicht nur den Menschen als Arbeitskraft bewertete, sondern ebenso einen Steuermaßstab für die Bewertung von Nutzvieh und Bodenwert abgab. Dank dem Mangel an vollständigen Quellenunterlagen sind wir noch weit von der Kenntnis der genauen Handhabung solcher Steuern entfernt. Soviel läßt sich aber sagen, daß wir mit dem Terminus Kopf- und Grundsteuer nur einen ungefähren Anhaltspunkt für ein in Wirklichkeit kompliziertes, weitverzweigtes und fast in modernem Maße abstrahierendes und verallgemeinerndes System der proportionalen Besteuerung erfassen. Offensichtlich wurden bei dieser Hauptsteuerart auch die verbindlichen Maßstäbe für die Erhebung ganz anderer Steuern, darunter der aus besonderem Anlaß erhobenen Sondersteuern, gewonnen. Natürlich diente alles dem Endzweck konkreter Zahlungen des Steuerpflichtigen. Zur Berechnung bediente man sich irrealer Steuereinheiten, die vom Boden- und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
321
Kopfsteuerprinzip bis zu einem gewissen Grade abstrahieren und alle Arten von Besitz und Einkommen umfassen. Einen Fortschritt über solche Grundordnungen der diokletianisch-konstantinischen Ära hinaus brachte erst die progressive Besteuerung der Neuzeit. Eine Voraussetzung für die exakte Erhebung der Grundsteuern bildete natürlich das Vorhandensein genauester Kataster, zunächst der primären und lokalen Kataster der unteren Ebene, dann der Unterlagen auf Provinzialebene und schließlich des zentralen Reichskatasters im Kaiserpalast. Nicht nur als Zeiteinheiten für die grundlegende Steuereinschätzung, sondern darüber hinaus als Rückgrat des Kalenders sind die fünfzehn Jahre umspannenden Indiktionen berühmt geworden. Nicht jeder, der ihnen bei der Lektüre mittelalterlicher Chronisten begegnet, denkt an ihre Rolle als Steuerzyklen. Macht man sich klar, daß es sich hier um die Zeitrechnung der Finanzämter handelt, so dürfte die Exaktheit der Indiktionen gegenüber anderen Zeiteinheiten nicht verwundern. Eine historische Betrachtung der Grund- und Kopfsteuer ergibt, daß die Wurzeln im Orient, speziell in Syrien zu suchen sind. Viel wichtiger sind die Folgerungen, die sich aus der Bedeutung der Grundsteuer für den gesamten Ablauf der Geschichte Ostroms ergeben. Die Vorzugsstellung der Grundsteuer spiegelt nichts anderes als die Vorherrschaft des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
321
Grundbesitzes und bezeugt damit, wie wenig selbst im wirtschaftlich überlegenen Ostmittelmeerraum das mobile Kapital bedeutete. Die großen Vermögen der damaligen Zeit bestanden nun einmal aus Grundbesitz. Sogar die germanischen Königshäuser waren von der Sucht nach Ländereien angesteckt. Ein Beispiel gab der unwürdige Amaler Theodahad, der nicht nur als philosophierender Schwächling, sondern als ein Länderraffer, der es nicht ertragen konnte, Nachbarn zu haben, in die Geschichte einging. Beständiger Reichtum setzte damals in weit höherem Maße als heute die Möglichkeit zum Landerwerb voraus. Kein Wunder, daß den Mächtigen jedes Mittel recht war, um den Grund und Boden zumindest indirekt in ihren Besitz zu bringen. Die Riesenlatifundien mit ihrem angemaßten Schutz von Einzelbauern und ganzen Dorfgemeinschaften, dem patrocinium, wuchsen von Konstantin bis Iustinian unaufhaltsam, Iustinian machte nicht zuletzt durch seinen Kampf gegen die Übermacht der senatorischen Großgrundbesitzerclique böses Blut. Seltsamerweise ist weder der Sowjetwissenschaft noch ihrem Nachbeter Jack Lindsay aufgegangen, woher die Leidenschaften stammen, die aus der Geheimgeschichte Prokops auch ein wirtschaftspolitisches Pamphlet machen. Die Grundsteuer par excellence, die laut iugatiocapitatio erhoben wurde, hieß annona und war, wie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
321
angedeutet, in Wirklichkeit eine allumfassende Vermögenssteuer. Sie verleugnete nie ihre Abkunft von ursprünglich außerordentlichen Naturallieferungen der Kaiserzeit, konnte aber später in Geld abgelöst (»adäriert«) werden. Mit ihr war eng verbunden die ebenfalls aus Notmaßnahmen entstandene coemptioSynone, das heißt der staatliche Zwangsankauf von Lebensmitteln zu vorgeschriebenen Preisen und mit Verrechnung auf die annona. Auch die Maßeinheiten für die Berechnung der Beamtengehälter und des Solds für die Dienstgrade der bewaffneten Macht wurden in annonae ausgedrückt. Ferner gab es in frühbyzantinischer Zeit eine Reihe von ordentlichen und außerordentlichen Steuern teils für solche Gruppen der Gesellschaft, die von der agrarischen annona nicht oder nur unvollständig erfaßt wurden, teils für bevorzugte Stände wie Senatoren. Dazu gehörte das von Anastasios I. abgeschaffte, aber bald durch die chrysoteleia ersetzte chrysargvron, eine Art Umsatzsteuer, der auch kleine Gewerbetreibende unterworfen waren. Ihr entgingen nicht einmal die Vertreterinnen des ältesten Gewerbes. Zu den Sondersteuern gehörten auch die Goldkränze, die von den Senatoren und vor allem von dem immer härter bedrückten Stand der städtischen Honoratiatoren (Kurialen) zu stiften waren. Ein Sitz im Senat bezeugte nicht nur Reichtum, sondern auch die Möglichkeit, ihn dank Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
322
politischem Einfluß zu vermehren. Die in der Antike so glanzvolle Stellung der autonomen Stadtverwaltungen verblich von Tag zu Tag. Unter Iustinian erpreßte der Staat diese Kreise so unbarmherzig, daß manche nur in der Flucht den Ausweg aus Ruin und Verzweiflung fanden. Etwas mehr Respekt bezeigte der Staat vor den städtischen Gewerbetreibenden, Handwerkern und Arbeitern. In Konstantinopel führte der Stadtpräfekt die Aufsicht über diese Kreise. Handel und Gewerbe wurden staatlich gefördert und verfügten in Korporationen und Zünften über Organe der Selbstverwaltung, die nicht nur in der Frühzeit über so starke Hebel der Macht wie die Zirkusparteien verfügten, sondern bis in die letzten Tage von Byzanz Einfluß besaßen. Während des ersten Halbjahrtausends von Byzanz konnte das Abendland mit seinem autarken Gutsbetrieb nicht im entferntesten mit der durch Handel und Gewerbefleiß aufgelockerten Landwirtschaft des Ostens wetteifern. Eine Hauptquelle der Staatsfinanzen waren die indirekten Steuern, denen unsere Gewährsleute freilich wenig Beachtung schenken, weil sie zumeist verpachtet waren. Namentlich die Verbrauchssteuern setzen eine lückenlose Organisation voraus. Schließlich gab es eine Klasse von Dienstleistungen an den Staat, die in körperlicher oder geistiger Arbeit, seltener in Geldleistungen bestanden. Für das Volk bedeuteten diese Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
322
munera eine Art Frondienst. Die einst so begehrten Ehrenämter der Stadtverwaltungen hatten ihre Anziehungskraft eingebüßt. Das Verbot der Steuerbefreiung wurde vor allem aus sozialen Motiven häufig durchbrochen. Die Anlässe geben Einblick in Maßnahmen der sozialen Fürsorge. Es gab Steuererleichterungen für Provinzen oder Städte bei Naturkatastrophen, selbstverständlich auch bei Plünderung durch feindliche Armeen. Soziale Steuerbefreiungen wurden etwa der Armee, den Beamten und dem Klerus gewährt. Vor allem genossen die Kirchen Steuerfreiheit, und zwar ausdrücklich zur Förderung ihrer karikativen Tätigkeit, und Wohlfahrtpflege. Zu den von Prokop mit verdächtiger Leidenschaft kritisierten Maßnahmen der frühbyzantinischen Steuerpolitik gehört die kollektive Steuerverantwortung, deren Wurzeln tief in das ptolemäische Ägypten zurückreichen. Zuerst ging das in der Form der Übertragung der Steuerschulden, nicht aber des Landes vor sich. Der finanzkräftigere Nachbar hatte, solange er zahlte, allenfalls ein zeitlich begrenztes Recht auf Nutznießung zu beanspruchen. Später scheint mit der Zunahme des Brachlandes und der Erscheinungen von Landflucht auch die Zwangsaufteilung zur Regel geworden zu sein. Im 6. Jahrhundert bürgerte sich für diese Praxis der Name epibolé ein. Die epibolé homodúlon betraf die Kollektivverpflichtungen der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
323
Großgrundbesitzer und ihrer Gutsbezirke. Die epibolé homokénson bezog sich entsprechend auf Dorfgemeinschaften freier Bauern und ihre Ländereien. Die Unterscheidung beider Formen ist vom Codex Theodosianus für das Jahr 393 bezeugt und von größter Tragweite für die Sozialgeschichte geworden. Wir verdanken solchen Steuernachrichten das sehr viel wichtigere Wissen um die Existenz freier Bauern In frühbyzantinischer Zeit. Die These, daß es ausschließlich slawische Siedler waren, die das freie Bauerntum wiederbelebten, wird damit hinfällig. Ferner lehrt das Studium dieser interessanten Erscheinung, daß sie nicht nur den harten Zwangscharakter hat, den ihr Prokop zuschreibt. Vielmehr bedeutete sie einerseits einen Schutz der freien Bauern vor dem Zugriff der Gutsbesitzer, andererseits zeigt sich, daß die damit verbundenen Landweisungen den geheimsten Wünschen der Großgrundbesitzer entgegenkamen. Obwohl die Fälle sicherlich nicht immer klar lagen, mag die Annahme berechtigt sein, daß auch durch die epibolé die Konzentration des Landbesitzes in den Händen weniger gefördert wurde. Doch dürfen wir auch das Zeugnis eines so leidenschaftlichen Verfechters der Großgrundbesitzerinteressen wie Prokop nicht unterschätzen. Er betont das Überraschungsmoment der zusätzlichen Steuern, die mit dem Landzuschlag verbunden waren, und ohne die Fülle vorhandener Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
323
Härtefälle hätte er seine Anklagen zweifellos auf andere Punkte konzentriert. Zum Steueraufkommen gehörten auch die Binnenund Grenzzölle, für die namentlich die Regierung Iustinians epochemachend wurde. Er verwandelte die Kontrollstellen, die jedes ins Goldene Horn einfahrende Schiff passieren mußte, in Zollstationen. Weitere Blüten trieb der frühbyzantinische Zwangs- und Verwaltungsstaat im Monopolwesen. Auch hier erhebt sich die Frage, ob der scharfe Ton der Anklagen Prokops gegen den Staatskapitalismus seiner Zeit berechtigt war. Der Staat konnte nicht von den Steuern allein leben. Eigentlich spricht das nicht für übertriebene Steuerpolitik. Dafür betätigte sich die öffentliche Hand als Unternehmer und Monopolherr, teils um Geld zu verdienen, teils aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Durchsichtig waren die Gründe für das Purpurmonopol, da dem Kaiser allein das Recht zustand, Purpur zu tragen. Das Waffenmonopol verhinderte nicht nur Rüstungsgeschäfte, sondern diente der Sicherheit. Das Seidenmonopol sicherte die Versorgung des Hofes mit einem Stoff, der vor dem Übergang in staatliche Regie weltpolitischen Handelskrisen ausgesetzt war. In die Kasse des comes sacrarum largitionum flossen die Einkünfte aus den kaiserlichen Webewerkstätten und Purpurfärbereien. In Tyrus gab es Färbereien mit einer Fischerflotte. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
323
Staatliche Fabriken und Werkstätten existierten in den wichtigsten Städten des Reiches. Endlich war der Salzhandel streng monopolisiert. Dem Kaiser und seinen Zentralkassen taten es mit entsprechendem Abstand die Verwaltungsorgane der Provinzen gleich. Nicht uninteressant sind in diesem Zusammenhang die Klagen, die Prokop über die Monopolwirtschaft eines Militärgouverneurs von Lazika führte. Sie zeigen, welche Möglichkeiten es im Vorfeld des Reiches für Übergriffe gab. Es besteht kein Grund, solchen Angaben des Historikers über Mißbräuche in weit von der Zentrale entfernten Kaukasusgebieten zu mißtrauen, zumal sie in seinem Hauptwerk stehen, dessen Angaben der Kritik durch unterrichtete Zeitgenossen ausgesetzt waren. Nicht nur dieser Umstand, sondern alles, was wir auch sonst über den Charakter der spätantiken Wirtschaft wissen, spricht dafür, die Mitteilungen über Staatskapitalismus und Monopole nicht allzu leicht zu nehmen. Der Seidenhandel lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf das farbenprächtige Treiben bei Hofe, sondern erst recht auf die Verflechtungen des Welthandels der byzantinischen Mittelmeerländer. Die Gründung von Konstantinopel führte zwangsläufig dazu, die Landund Seeverbindungen des Ostens sich auf die neue Hauptstadt als ihren Knotenpunkt einspielten. Die Ausrichtung auf das neue Rom des Ostens verstärkte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
324
sich noch, als die arabische Eroberung den konkurrierenden Schwerpunkt Alexandreia endgültig aus dem Gesichtskreis Ostroms rückte. Im 4. und 5., sogar im 6. Jahrhundert spielten Großstädte wie Antiocheia und Alexandreia noch eine beherrschende Rolle. Es gab dort uralte Handwerkerinnungen, Werften und Reedereien, die eifriges Wirtschaftsleben, Handel und Verkehr bezeugten. Namentlich in Ägypten unterlag die wirtschaftliche Zusammenarbeit von Griechen und Orientalen komplizierten Regeln und reichte weit in die Ptolemäerzeit zurück. Für handelspolitische Erwägungen der frühbyzantinischen Zeit kann der Seidenhandel als symptomatisch gelten. Bis zu seiner Ablösung durch oströmische Eigenproduktion gehörte Alexandreia zu den wichtigsten Umschlagplätzen. Hier war die Kontaktstelle der Seewege von Ostmittelmeer und Indischem Ozean. Hier endete der südlichste Weg nach Indien, der als Seeweg jeder Konkurrenz überlegen war. Selbst der Transport einer relativ leichten Ware wie der Seide wurde auf dem Karawanenweg unverhältnismäßig verteuert. Allerdings kam die Seide nicht nur aus China via Ceylon, sondern auch aus Sogdiana, das heißt der Gegend um den Aralsee, wo es ebenfalls große Kulturen gab. Von dort führten nur Landwege nach Ostrom, allenfalls mit einer Schwarzmeerstrecke kombiniert. Die mittleren und nördlichen Wege gewannen immer mehr an Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
324
Bedeutung, was zum Teil eine Folge der unsicheren politischen Verhältnisse am Roten Meer war. Allerdings wurde die Ware durch den von den Persern erhobenen Zoll empfindlich verteuert. Der Hauptkarawanenweg aus China führte seit dem 1. Jahrhundert vor Christus über den Lop-nor, Sven Hedins berühmten »Wandernden See«, nach dem Westen. Seit dem 2. nachchristlichen Jahrhundert gab es aber weiter nördlich einen Weg über die Oase Turfan. Alle diese Wege führten über das Perserreich und seine Zollstationen. Zwar konnten Gesandtschaften und zur Not auch Handelskarawanen Persien über das Nordufer des Kaspisees umgehen, doch kamen solche Umwege der Kosten halber und erst recht aus Sicherheitsgründen nur für Kriegszeiten in Betracht. Als normale Umschlagsplätze für den Landhandel werden grenznahe Städte, wie Petra, Palmyra, Edessa und Nisibis, in damaligen Friedensverträgen erwähnt. Die Versuche, die persischen Zollbarrieren zu durchbrechen, die zwischen dem Fernen Osten und dem Mittelmeer lagen, mußten sich naturgemäß auf das Rote Meer beschränken. Den Indischen Ozean und Persischen Golf beherrschten persische Schiffe, die ihre Kontrolle auch auf das Rote Meer auszudehnen suchten. Die oströmische Handelspolitik stützte sich vor allem auf Äthiopien, das im 6. Jahrhundert auf Veranlassung seines Verbündeten die südarabische Gegenküste Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
324
unter seine Kontrolle brachte. Damit wurden die Reste des einst blühenden Handels auf der Weihrauchstraße durch Arabien den Interessen der Byzantiner dienstbar gemacht. Bei den Kriegen zwischen Byzanz und Persien, die auch Wirtschaftskriege waren, ging es nicht nur um Luxuswaren, wie Seide, Gewürze und Spezereien, sondern erst recht um Geldforderungen. Der Druck der hunnischen Hephtaliten brachte Großkönig Kawadh I. auf den Gedanken einer Staatsanleihe in Byzanz. Sie wurde abgelehnt, und es kam darüber zum Krieg. Natürlich hatte man auch Tribute gefordert, und zwar unter dem Namen einer finanziellen Beteiligung der Oströmer an den Sicherungsmaßnahmen im Kaukasus. Vorangegangen waren Einfälle persischer Heere in die Ostprovinzen, bei denen ein Herrscher wie Chusro Anoscharwan förmlich von Stadt zu Stadt zog, um zu kassieren. Eroberte Städte wurden geplündert und in einzelnen Fällen sogar Teile der Bevölkerung als Facharbeiter zwangsweise in die Fremde geführt. Die Beträge, um die es ging, spielten im Staatshaushalt der Sasaniden freilich nur eine geringe Rolle. Auch das war ein Zeichen, daß es in solchen Auseinandersetzungen mehr um Machtdemonstrationen, Prestige und gegenseitige Erpressung ging. Aber erst der zweite Perserkrieg, der 540 mit der Zerstörung Antiocheias einsetzte, brachte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
325
Wirtschaftsdepressionen mit sich, die zu bleibenden Veränderungen der Struktur des damaligen Welthandels führten. Der oströmische Staat sah sich genötigt, der Krise dadurch zu begegnen, daß er den freien Seidenhandel monopolisierte und zwangsbewirtschaftete. Das Zeitalter Iustinians erlebte einen Fall klassischer Werkspionage, als zwei nestorianische Mönche in ihren ausgehöhlten Wanderstecken die Eier der Seidenraupe aus Asien nach Europa schmuggelten. Damals wurden die Grundlagen für den oströmischen Seidenbau gelegt, wenn auch die Früchte erst allmählich reiften. Völlige Autarkie war nicht zu erreichen, so daß Iustinians Nachfolger Iustinus II. dankbar die Hand der Westtürken ergriff und mit ihrer Hilfe das persische Handelsmonopol von Norden her umging. In mittelbyzantinischer Zeit betraf die schon erwähnte Umbildung der Ministerien nicht zuletzt das Finanzministerium bzw. jene zahlreichen Ämter, deren Gesamtheit ein Finanzministerium im modernen Sinne ergeben würde. Die enge Verflechtung von Grund- und Kopfsteuer wurde am Anfang des 8. Jahrhunderts gelöst. Als Grundsteuer figurierte jetzt die ehemalige Sonderauflage der Synone, während das kapnikon die alte Kopfsteuer ersetzte. Sondersteuern gab es weiterhin in reichem Maße. Kaiserin Eirenes Versuch, die städtischen Abgaben aufzuheben, ließ freilich die Lauterkeit der Motive vermissen, erinnerte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
325
vielmehr an moderne Wahlgeschenke. Ihr Nachfolger, Kaiser Nikephoros (802-811) erhielt vom Chronisten Theophanes, einem fanatischen Parteigänger der Mönche, die schlechtesten Zensuren für Maßnahmen, die angesichts der Bulgarengefahr unerläßlich waren. Unter ihm wurde die epibolé durch das allelengyon ersetzt. Die gegenseitige Haftung blieb, doch kehrte herrenloses Land an den Staat zurück. Antifeudalistische Maßnahmen wie diese kamen der bei ihrer Rekrutierung immer mehr auf die nationalen Kraftquellen angewiesenen Armee des Oströmischen Reiches zugute. Wie die Sondersteuern behielten auch die indirekten Steuern und die Zölle ihren Charakter zumindest bis in eine Zeit, in der wie einst das Weltreich nunmehr die Großmacht zu zerbröckeln begann und von einem Kleinstaat abgelöst wurde, der unbeschadet seiner mit fast erheiternder Unbekümmertheit vorgetragenen »Weltreichs«-Ideologie von den Kennzeichen eines souveränen Staates eines nach dem anderen entweder vertraglich an die italienischen Stadtstaaten oder faktisch an die Türken verlor. Namentlich die Regierung des verdienstvollen ersten Paläologen (Michaels VIII., 1261-1282) bezeichnet den endgültigen Zusammenbruch der Staatsfinanzen. Die Überfremdung staatlicher Hoheitsrechte an Mächte wie Venedig, Genua und Pisa hatte zwar lange vor der katastrophalen Lateinerherrschaft begonnen, doch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
326
wollte es der tragische Fluch der Erben (wie im Grunde schon im Zeitalter Iustinians), daß gerade die besten und energischsten Herrscher durch ihre Erfolge den Staat, zumindest finanziell, zugrunde richteten. Die legendäre Härte der byzantinischen Währung gehörte längst der Vergangenheit an. Jetzt wurde das Defizit zur Dauererscheinung. In der Paläologenzeit lebte man von Schulden. Schließlich mußten die Kaiser persönlich Werbereisen durch das Abendland unternehmen, um nicht nur Verbündete, sondern vor allem Geldgeber zu finden. Im 14. Jahrhundert war es so weit gekommen, daß die einst so reich fließenden Zolleinnahmen der Passagen von Bosporus und Hellespont sich in fremden Händen befanden. So scheffelte das genuesische Zollamt Galata am Goldenen Horn das Siebenfache der Einnahmen des kaiserlichen Zollamts. Erst recht vergrößerten die Tribute an die Türken das Loch in der Reichskasse. Ohne das Stimulans der religiösen Leidenschaften hätten die geplagten Untertanen ein Ende mit Schrecken als Erlösung empfunden. Der Kampf mit dem inneren Feind, den der byzantinische Staat und seine Herrscher führten, nur zu oft aber vernachlässigten, galt dem weltlichen und geistlichen Großgrundbesitz. Das unsoziale Erbe Roms stempelt das historische Schauspiel, das hier abrollte, von vornherein zu einer Tragödie, deren Peripetie in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
326
die Zeit der Makedonier fällt (867-1057). Ein Blick auf den Nómos Georgikós (Bauerngesetz) muß hier längere Ausführungen über den freien Bauernstand und sein Schicksal vertreten. Der in diesem Gesetz erwähnte Kaiser Iustinian wurde vom grundlegenden Erforscher des byzantinischen Rechts, Zachariä von Lingenthal, mit Iustinian II. gleichgesetzt, doch stellte schon Heimbach, der Herausgeber der Basiliken, fest, daß es sich nur um einen Auszug aus dem Corpus iuris handeln könne. Offensichtlich handelt es sich um eine private Gesetzessammlung, die auf Grund einer kommentierten und mit Übersetzungen versehenen Ausgabe des Corpus iuris angefertigt wurde, und zwar niemals Gesetzeskraft besaß, doch als vielbenutztes Handbuch eine große Rolle spielte. Mit der heute allgemein anerkannten Datierung stimmt die der sowjetischen Forscher im wesentlichen überein. Dafür halten sie nach wie vor daran fest, daß im sozialen Milieu des Nómos Georgikós sich eine Form des Gemeineigentums freier Bauern am Boden spiegele, die slawischen Einfluß (mir, obšcina) verrate. Daraus ergeben sich eine Reihe unhaltbarer Beweise für die auch aus anderen Gründen vertretene These von der sozialen Erlösung der Sklaven und Kolonen Ostroms durch ein freies Bauerntum slawischer Herkunft. Dagegen sprechen nicht nur die freien Bauern der frühbyzantinischen Ära, sondern neben vielen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
326
Einzelgründen auch die Unwahrscheinlichkeit der Funktion ausgerechnet von Zwangsumsiedlern als soziale Vorbilder. Der Kampf gegen die Araber unter den Nachfolgern des Herakleios hatte dem ständig tobenden Kampf zwischen Mächtigen und Kleinbauern neue Akzente aufgesetzt. Vom Wehrsiedlertum der Grenzzonen waren Anregungen auf die gesamte Wirtschaft übergesprungen. Die sozialen Leidenschaften des Bilderstreits verraten freilich, daß trotz der arabischen Gefahr das alte Spiel der feudalen Gewalten weiterging. Vor allem erwies sich der Sieg der Bilderfreunde als soziale Katastrophe. Unter den Makedoniern stand diese Entwicklung auf einem ersten Höhepunkt, ebenso aber die Versuche staatlicher Selbsthilfe. Schon Basileios I. (867-886) versuchte die Mächtigen zu zähmen. Unter Romanos I. Lekapenos (919-944) begann der eigentliche Kampf der Zentralgewalt mit dem Großgrundbesitz. Romanos publizierte 922 seine erste große Gesetzesnovelle zur Landveräußerung. Darin wurde der Grundstückshandel genau geregelt und das Bauernlegen praktisch unmöglich gemacht. Eine Reihe noch strengerer Gesetze folgte, doch erwiesen sich die Maßnahmen auch der nächsten Nachfolger als unwirksam. Dann versuchte vor allem Nikephoros Phokas (963-969) mit allen Mitteln, die Militärlehen in der Hand der Soldaten und ihrer Familien Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
327
zu sichern. Aber auch er trug den feudalen Grundlagen des Staatswesens Rechnung mit seiner Novelle von 967, die den Großgrundbesitzern ein Vorkaufsrecht mit Ausschluß der Kleineigentümer sicherte. Er hatte freilich die Rechtsgleichheit der sozialen Gruppen im Auge: Die Großen sollten nur von Großen, die Kleinen nur von Kleinen, Soldaten nur von Soldaten kaufen. Unter dem Nachfolger Johannes Tzimiskes (969-976) gingen die feudalen Gewalten zum Gegenangriff über. Bei seiner Krönung stellte Patriarch Polyeuktes die Bedingung, daß der Kaiser sich als Sühne für den Mord an seinem Vorgänger zur Aufhebung der Kirchengesetze des Nikephoros Phokas bereit erkläre. Kurz vor dem Feldzug nach Bulgarien stellte sich Bardas Phokas in Kaisaraia an die Spitze einer regelrechten Feudalfronde Kleinasiens. Die Rebellion wurde zwar niedergeschlagen, doch gab der vorzeitige Tod des Johannes Tzimiskes und die Minderjährigkeit der Thronerben den Adelskreisen abermals Gelegenheit zum Losschlagen. Während der Regentschaftszeit löste ein Bürgerkrieg den anderen ab. Erst die Hilfe von außen, die das sechstausend Mann starke Warägerkorps Wladimirs von Kiew brachte, entschied das Ringen zugunsten der Zentralgewalt. Darüber hinaus sicherte sich der junge Kaiser Basileios II. die Hilfe der Kirche, indem er am 4. April 988 die Novelle des Nikephoros Phokas über den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
327
Baustopp für Kirchen und Klöster widerriet. Michael Psellos überliefert den dramatischen Einzelkampf zwischen Kaiser Basileios II. und Bardas Phokas, dem Führer der feudalen Fronde. Der Triumph der Zentralgewalt schien vollständig, zumal auch Bardas Skleros rasch ausgeschaltet werden konnte. Im Jahre 996 erließ Basileios II. eine Novelle, die gegenüber dem Großgrundbesitz ungewöhnlich energische Töne anschlug, darüber hinaus auch der Kirche eine unmißverständliche Warnung erteilte. Um der immer stärker einreißenden Steuerbegünstigung der »Toten Hand« zu steuern, wurde die Umwandlung von Landkirchen in Klöster strikt verboten. Bei den Grundbesitzern wurden sämtliche unrechtmäßigen Erwerbungen seit 934 annulliert. Das kam einer sozialen Vergangenheitsbewältigung gleich, die zwei Menschenalter umspannte. Eingriffe von solcher Tragweite stellten die Existenz des Standes in Frage. Als der Kaiser 1001 von einem Feldzug nach Georgien zurückkam, bereitete ihm der armenische Feudalherr Maleinos in der Nähe der Festung Charsianon einen Empfang, der solche Macht zur Schau stellte, daß Maleinos für den Rest seines Lebens in Ehrenhaft gehalten wurde. Nach seinem Tode fielen die Güter an den Staat. Gleichzeitig diente die Steuerpolitik als Mittel zur Vernichtung der Oberschicht. Patriarch Sergios faßte 1018 die allgemeine Mißstimmung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
327
gegen das allelengyon (die Steuerhaftung der Reichen für die Armen) in einem lebhaften Protest zusammen, doch blieb der Kaiser hart. Er konnte noch eine gefährliche Revolution der Mächtigen zerschlagen und regierte mit preußischer Sparsamkeit. Dennoch bedeutete sein Tod die Peripetie nicht nur der äußeren Erfolge, sondern auch der Sozialgeschichte Ostroms (1025). Der Kampf gegen die Großgrundbesitzer hörte schlagartig auf; er wich der Auseinandersetzung zwischen Zivil- und Militärpartei. In diesem Kampf der Verwaltungsbürokratie von Konstantinopel gegen die Aristokratie der Provinzen ging es nicht mehr um soziale Entscheidungen, da alles auf dem Rücken der kleinen Leute ausgetragen wurde. Schon unter Romanos III. Argyros (1028-1034) wurde das allelengyon abgeschafft. Allerdings stürzte die Niederlage von 1030 in Syrien das Reich in eine Finanzkrise, die selbst für die begünstigten Stände die Steuererleichterungen in ihr Gegenteil verkehrte. Zwei weitere Maßnahmen richteten sich speziell gegen den Militäradel. Die europäischen Regimenter wurden nach Asien versetzt und damit dem Einfluß der Territorialherren entzogen. Ferner wurde die steuerliche Ablösung des Militärdienstes eingeführt und die Zahl der ausländischen Söldner erhöht, was zweifellos der Zentralgewalt in ihrer Auseinandersetzung mit den Regionalinteressen zugute kam. Der Militärhaushalt wurde Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
328
drastisch gekürzt. Noch schärfere Maßnahmen ergriffen die Nachfolger, unter denen der nach den Angaben des Michael Attaleiates auf etwa zehntausend Personen zu beziffernde »senatorische« Adel ständig an Bedeutung gewann. Der Ziviladel stellte sich trotz vielfacher Verwandtschaftsbeziehungen dem Militäradel als offen um die Macht rivalisierende Partei gegenüber. Die mißtrauische Überwachung der Generäle, die unter Konstantin IX. Monomachos (10421055) einriß, sollte die äußeren Machtpositionen Ostroms rasch untergraben. Zunächst kam es zu einer Reihe gefährlicher Militärrevolten. Als erster sah sich der glänzende General Georgios Maniakes, ein turanischer Emporkömmling, zur Rebellion gegen einen Kaiser gezwungen, der ihm seine bescheidene Herkunft nicht verzeihen konnte. Der überraschende Tod des Usurpators rettete Konstantin die Krone. Ebenso glücklich endeten für den Kaiser die Revolten des Theophilos Erotikos und des gefährlichen Leon Tornikios. Die Zivilregierung Konstantins IX. wird durch Namen gekennzeichnet wie Michael Psellos, der vom »Konsul der Philosophen« zur Ministerwürde aufstieg. In den Kreis der humanistisch inspirierten Freunde des Psellos gehörten Patriarch Konstantinos Lichudes und der Minister und spätere Patriarch Johannes Xiphilinos. Dank ihnen durfte der Kaiser sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
328
eines Musenhofes rühmen, der das wissenschaftliche Renommee Athens oder wenigstens Alexandriens erneuerte. Das soziale Programm dieses Kreises verriet sich in der Erweiterung des senatorischen Adelsstandes durch Aufnahme zahlreicher Neulinge, die den Konservativen ein Dorn im Auge waren, vor allem aber halfen, den Einfluß des Militärs zu brechen. Obwohl Michael VI. Stratiotikos (1056/7) einen militärischen Beinamen trug, brachte auch sein Regime keine Änderung. Erst unter Isaak Komnenos (1057-1059) errang die Fronde der Militärs einen Erfolg, der sich zwar als kurzlebig herausstellte, immerhin aber das glanzvolle Zeitalter der Komnenen ankündigte. Mit Romanos IV. Diogenes (1067-1072) ergriff wieder das Militär die Zügel. Die Gegenpartei ließ nichts unversucht, um den Kaiser zu stürzen. Verrat und Sabotage führten zum Verlust der Schlacht bei Mantzikert, ein Schlag, von dem das Reich sich kaum mehr erholen konnte. Wieder einmal siegte die Zivilpartei, die dem Psellosschüler Michael VII. Dukas (formell 1067-1078) die Alleinherrschaft sicherte. Die Revolte des Nikephoros Bryennios, die Usurpation des Nikephoros Botaneiates und die Machtübernahme Alexios' I. Komnenos (1081-1118) bezeichneten die Stufen zum Siegesthron der großen Militäraristokratie. Aber dieselben feudalen Kreise, die den ersten Komnenen und seine Dynastie auf den Thron erhoben, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
329
mühten sich in einer endlosen Kette von Revolten ab, als sie das Adelsregiment vom Erstarken der Zentralgewalt bedroht fühlten. So ungewöhnliche Erfolge den Komnenen bei der Wiederherstellung des äußeren Glanzes der Rhomäer beschieden war, sowenig vermochten sie der feudalen Hydra ihre Häupter abzuschlagen. Der tödliche Prozeß der Feudalisierung des Reiches war nicht aufzuhalten. Von solchen Widersprüchen war namentlich die Wirtschaft der Komnenenzeit geprägt. Unter der Herrschaft Alexios' I. wurden nicht nur Voraussetzungen für das Überleben geschaffen, sondern ebenso die Weichen für zahlreiche tote Geleise der Spätzeit gestellt. In der Makedonierzeit hatten Soldatengüter mit Majorats- oder Erbhofcharakter eine wichtige Rolle in der Reichsverteidigung gespielt. Das einst so nützliche Wehrsiedlertum trat jetzt hinter dem neuen Stand der Pronoiarier zurück. Unter den pronoiai verstand man ebenfalls unveräußerliche Lehen, die zumindest in der Frühzeit dieser Institution an die Person gebunden waren, die vor allem aber nicht an freie Bauern, sondern an Feudalherren verliehen wurden. Der Pronoiarier ließ das Land durch abhängige Leute bearbeiten, übte staatliche Hoheitsrechte aus und hatte dafür voll ausgerüstete Soldaten zu stellen. Die neue Institution förderte nicht nur die feudale Zersplitterung und den Ausverkauf staatlicher Zuständigkeiten, sondern verfügte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
329
zweifellos auch über positive Seiten. So wurde die Ausbildung hochqualifizierter Spezial- und Elitetruppen der östlichen »Ritterzeit« gefördert und das Überleben von Exklaven und Grenzgebieten erleichtert. In gewissen Situationen konnte territoriale Selbständigkeit den mangelnden Zentralismus aufwiegen. Unter Alexios I. war über Schwäche der Zentralgewalt noch nicht zu klagen. Gerade sein Regime ist zudem durch systematische Enteignung von Großgrundbesitzern und Klöstern gekennzeichnet. Mit nicht viel geringerer Unbefangenheit handhabte er die Waffe der Geldverschlechterung und die Steuerschraube. Die Klöster wurden in großem Umfang an weltliche Herren als Lehen vergeben. Zumindest in der Theorie, wenn auch nicht immer in der Praxis ging das geistliche Leben solcher Klöster weiter, ohne Schaden zu nehmen. Um so enger wurde dafür die Wirtschaftskraft der Klöster und ihrer weitläufigen Gutsbezirke an die weltlichen Kanäle angeschlossen und nicht zuletzt für die Reichsverteidigung nutzbar gemacht. Die Geldverschlechterung, über die der Chronist Zonaras berichtet, stellt sich bei näherem Zusehen als ein staatlicher Kunstgriff heraus, der einer Steuererhöhung um das Vierfache gleichkam. Das ganze Geheimnis bestand darin, daß der Staat seine Verpflichtungen in Kupfer erledigte, aber die Steuern in Gold verlangte und an diesem Manöver Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
329
kräftig verdiente. Die durch territoriale Gewalten teils gemilderte, teils verschlimmerte Staatsallmacht erwies sich rasch als Voraussetzung für den hektischen Versuch der Komnenen, nochmals mit dem weltpolitischen Führungsanspruch vergangener Zeiten hervorzutreten. Wenn auch das Ende der Regierung Alexios' I. an den Zustand der öffentlichen Kassen beim Abtreten Iustinians erinnerte, ließ sich nicht leugnen, daß sein Nachfolger Johannes II. (1118-1143), soweit es überhaupt noch möglich war, den Staatshaushalt auszugleichen verstand. Damit lieferte er Friedrich Barbarossas Zeitgenossen Manuel I. (1143-1180) die Mittel zu einer Restaurationspolitik, die erheblich unwirklicher anmutet als die entsprechenden Leistungen Iustinians. Die Politik der Einmischung im Westen und die damit zusammenhängenden Kriege ruinierten die Finanzen ebenso wie die fast noch kostspieligere Diplomatie, insbesondere die Bestechungssummen an die byzantinischen Parteigänger in den Stadtrepubliken Italiens. Dazu kamen die Aufwendungen für Repräsentation, Luxus und die Befriedigung der Baulust. Der Empfang Konrads III., Ludwigs des Heiligen in Konstantinopel verschlang Unsummen. Manuel ließ den Blachernenpalast mit großen Mosaiken schmücken, die unsterbliche Taten seiner Dynastie verherrlichten. An solche Aufwendungen konnte man Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
330
nur denken, weil in diesem Augenblick der Mittelmeerhandel noch funktionierte und Häfen wie Konstantinopel und Thessalonike erhebliche Zolleinnahmen abwarfen, von denen einstweilen nur Venedig befreit war. Alle übrigen Handelspartner und der Transitverkehr zahlten zehn Prozent. Gleichwohl schien der Steuerdruck dieser großen Zeit so lästig, daß die Untertanentreue der Provinzen zu leiden begann. Manuel ließ noch über Alexios I. hinaus kein Mittel unversucht, um die Kassen zu füllen. Auch die Klöster bekamen das zu spüren. Gleichwohl gingen die Gedanken der Reichsbevölkerung in den Stürmen, die nun folgten, und erst recht unter der Lateinerherrschaft mit Bewunderung zu der ritterlichen Gestalt des Komnenen Manuel I. zurück. Weder der zeitweilige Sieg der zivilen Bürokratie noch das Lasten der weltlichen Hand auf Kirchen und Klöstern vermochte die Wirtschaft zu retten. Robert de Clari beziffert die Zahl der Mönche allein in Konstantinopel auf dreißigtausend. Steuererleichterungen zugunsten der feudalen Herren konnten als Regel, nicht als Ausnahme gelten. In Gestalt der charistikia gingen sie zwar zu Lasten noch gefährlicherer Schmarotzer vom Schlage der klösterlichen Territorien, doch wurden die zentrifugalen Kräfte des Feudalismus nur leicht gebremst. Um so vernichtender traf das ausgeklügelte System der Ausbeutung die nicht vom Glück Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
330
Begünstigten. Während der lateinischen Eroberung und danach setzte sich die unter den Komnenen eingeleitete Entwicklung fort. Die Herren aus dem Westen fanden in der prónoia, in den charistikia und dem Immunitätenwesen recht vertraute Erscheinungen vor. Vor allem verrieten die Assisen des Königreiches Jerusalem, die auch im Fürstentum Achaia befolgt wurden, die Konsequenz, mit der das feudalistische Regime seinem Hang zur Dezentralisation nachging. Die byzantinische Herrenschicht wurde von den Franken nicht angetastet. Sie beschränkten sich auf die Verteilung der einstmals kaiserlichen Ländereien sowie der Güter von Besitzern, die geflohen waren. Die Tragfähigkeit und Dauer der östlichen Gesellschaftsordnung zeigte sich vor allem im byzantinischen Reststaat Nikaia. Unter den Palaiologen entwickelte sich die prónoia zur Hauptform des weltlichen feudalen Großgrundbesitzes. Die Pronoiarier verstanden es, ihre bedingten und zeitweiligen Belehnungen in erblichen unumschränkten Besitz zu verwandeln. Das System der Immunitäten spielte ihnen nicht nur gerichtsherrliche Kompetenzen, sondern auch die Steuereintreibung in die Hand. Verwaltungsformen der fränkischen Zeit, wie die sogenannten Parlamente Thessaliens, waren noch während der Paläologenzeit in Funktion. Die Entwicklung führte zwangsläufig zu fast völliger Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
331
Unabhängigkeit der örtlichen Feudalherren von der Zentralverwaltung. Andererseits besaß das Kaiserhaus gerade in Griechenland eine umfangreiche Hausmacht, so daß gewisse Vorzüge des sozialen Systems auch der Zentralverwaltung zugute kamen. Reste des freien Bauerntums und freie Lohnarbeiter gab es bis in die letzten Tage von Byzanz. Der Druck, der auf den kleinen Leuten lastete, darüber hinaus religiöse Streitfragen mit nationalem Hintergrund führten zu sozialen Krisen, die im 14. Jahrhundert in einer Kette von Bürgerkriegen und Revolutionen zum Ausbruch kamen. In Städten wie Thessalonike setzten sich die Zeloten an die Spitze der revolutionären Bewegung. Sie hatten dort sieben Jahre lang (1342-1349) die Macht in der Hand. Bei der Beurteilung ihres Programms, das Historiker wie Nikephoros Gregoras und Johannes Kantakuzenos überlieferten, darf man die gleichzeitigen Entwicklungen im Abendland nicht vergessen. Bauernkriege und die Auseinandersetzung der städtischen Stände mit dem Adel waren eine weltweite Erscheinung. Auch die religiöse Bewegung der Bogomilen, die im Westen als Patarener und Albigenser bekannt wurden, verweist auf die geistigen und sozialen Verflechtungen zwischen dem Torso des Oströmischen Reiches, Italien und Westeuropa. In dieselbe Richtung weisen die internationalen Verflechtungen des Großadels, die seit dem Zeitalter der Kreuzzüge Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
331
Byzanz und den Orient vielfältig mit Frankreich, Deutschland und Italien verketteten. Der Egoismus der Feudalherren triumphierte beim Zerfall des Reiches und in der Türkenzeit. Mit besonderer Begeisterung sind die bosnischen Magnaten dem Islam zugefallen. Der Bogomilismus spielte dort eine ähnliche Rolle wie der Monophysitismus im Zeitalter der islamischen Welteroberung. Auf derselben Stufe stand der Volksverrat, den der christliche Adel der Phanarioten trieb, der nach der türkischen Eroberung im Bunde mit den Osmanen die christliche Bevölkerung (Radscha) systematisch ausplünderte und bei der griechischen, slawischen und armenischen Bevölkerung tödlichen Haß erzeugte. Das tausendjährige Überleben des angeblich so dekadenten spätrömischen Reiches in der Gestalt Ostroms verrät uns die Kraftreserven der antiken Welt, die namentlich im Bereich der Ostmittelmeerwelt noch verfügbar waren. Die adlige Herrenschicht, die als Feind im Innern an diesen Reserven zehrte, errang ihre endgültigen Triumphe erst spät. Darüber hinaus waren selbst diese Kreise durch das Interesse der Selbsterhaltung an den Staat gebunden. Während der entscheidenden Jahrhunderte Ostroms herrschte zwischen den sozialen Schichten ein Kreislauf, der zumindest eine gewisse Blutserneuerung sicherte. Die Gesellschaft reichte vom Lumpenproletariat bis in die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
331
dünne Luft des Kaiserhofes. Die geistig interessierten Kreise erreichten niemals die erforderliche Breite. Schon eher galt das für die Schichten des tätigen Bürgertums, die das Erbe des östlichen Hellenismus zumindest wirtschaftlich übernahmen und vermehrten. Handel und Gewerbe Ostroms schienen unschlagbar. Die ungebrochene Kraft der oströmischen Kleinkunst in den Jahrhunderten des wirtschaftlichen Verfalls beweist das zur Genüge. Doch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß der wirtschaftliche Kreislauf von der Seeherrschaft abhing. Das Funktionieren des Handels zur See half Ostrom über die Stürme der Völkerwanderung hinweg. Die arabische Konkurrenz brachte den Torso des weltherrschenden Roms nicht um, sondern machte ihn stärker. Erst die Stadtrepubliken Italiens verurteilten die alte Metropole der Weltpolitik zu provinzieller Bescheidung. Sie nahmen damit einen Spruch vorweg, den das Zeitalter der Entdeckungen ohnehin vollstreckt hätte. Doch darf man über solchen Feststellungen ex eventu nicht vergessen, was ein christliches Konstantinopel für die Neuzeit bedeutet hätte.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
332
Das Alltagsleben Ostroms Gewiß waren es die bewegenden Kräfte der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die sich zum Knoten der innenpolitischen Tragik Ostroms verstrickten. Und doch ließ sich die plutokratisch verfeinerte Gesellschaft nicht anders als ihre Geistesverwandten aller Zeiten und Völker vom Reiz des Augenblicks über vieles hinwegtäuschen, so daß es wohl zu Krisen, aber nicht zur vernichtenden Explosion kam. Es gab wenige Zivilisationen der Geschichte, die auf ihre Nachbarn und Zeitgenossen solchen Reiz ausübten wie die byzantinische. Selbst der nachträgliche Betrachter unterliegt diesem Reiz, wenn er die steinernen Zeugnisse von Glanz und Größe Ostroms auf sich wirken läßt. Es ist, als spiegele jeder Stein die innere Sicherheit eines Lebens, das den Menschen von der Geburt bis zum Grabe trotz aller Fragwürdigkeiten in den Tageslaut eines christlichen Gottesreiches einspannte. Selbst die bescheidenste Geburt sicherte diesen Menschen zumindest ihre Statistenrolle in dem pompösen Schauspiel, dessen Hauptakteure der Kaiser und sein Hof waren. Die Verzückungen der Religion und die Demokratie der Kirchenkunst sicherten auch dem Geringsten einen Anteil an den letzten Geheimnissen dieser Welt. Der Mönchsstand öffnete als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
332
ein weiteres Refugium der Armen noch seine Tore, auch das ein Akt der Demokratie und des sozialen Ausgleichs, den wir bei allen berechtigten Klagen über die Kirche nicht übersehen wollen. Patriarch und Bischöfe waren die Sozialminister ihrer Tage, und ihr Budget diente keineswegs nur der Schaustellung kirchlicher Macht. Die oströmische Welt war für ihre Bürger eine Heimat, für die Fremden ein Gegenstand der Bewunderung und des Verlangens. Die Lage der Hauptstadt am Kreuzweg von Orient und Okzident bestimmt das Gesicht der materiellen Kultur. Byzantion hatte sich in Jahrhunderten zur Handelsmetropole entwickelt. Seine Erhebung zur Welthauptstadt dauerte nur Jahre. Der Orient stand bei der Überentwicklung des Kaiserpalastes Pate, der mit seinen Eunuchenschwärmen, Leibwachen und Beamtenheeren sich zu einer Stadt in der Stadt auswuchs. Auch sonst verriet der Grundriß wenig von der hellenistisch römischen Schachbrettplanung. Nach dem ersten Gründungsfieber schritt die Baupolizei ein. Um den Gegensatz von Palästen, Villenstädten und Elendsquartieren kümmerte sie sich kaum. Dafür reglementierte der Stadtpräfekt mit Sorgfalt das Leben in den Handwerksvierteln. Korporationen und Innungen spannten Industrie und Gewerbefleiß in den Rahmen der Tradition. Nicht zuletzt drückte der Hafenbetrieb mit seinen Licht- und Schattenseiten der Stadt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
332
am Bosporus ihren Stempel auf. Die Neugründung Konstantinopels, gleichbedeutend mit explosionsartiger Erweiterung des alten Byzantion, erfolgte als kaiserlicher Willkürakt, was immerhin den Vorteil hatte, daß zumindest die Anfänge frei von einem Lumpenproletariat kaiserzeitlicher Prägung waren. Dieses entstand noch früh genug, um den Revolutionen des 6. und 7. Jahrhunderts ihr Kolorit zu verleihen. Der Seeverkehr mit Ägypten diente bis zum endgültigen Verlust der reichsten aller Ostprovinzen nicht zuletzt dem Zweck, die hungrigen Mäuler der Hauptstadtmassen zu stopfen. Die annona bezeichnete nicht nur eine drückende Steuer, sondern mehr noch eine echte soziale Leistung des Staates, die in Gestalt eines gerechten Brotpreises arm und reich zugute kam. Zu den sozialen Leistungen, deren auch der Geringste sich erfreuen konnte, gehörten die staatlichen und kirchlichen Bauwerke, die allen zur Verfügung standen. Ein Bettler von Byzanz verbrachte sein Leben in einem Milieu, von dem Barbarenfürsten allenfalls träumten. Für das Heil seiner Seele mühten sich Priesterschwärme in Kirchen, die mit dem Glanz des Kaiserpalastes wetteiferten. Der reichhaltige Festkalender des Jahres bereitete selbst dem Ungebildeten jedes erwünschte Maß intellektueller Freuden und musikalischen Genusses. Zur geistlichen Erbauung traten die Festspiele des Hippodrom und zahllose andere Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
333
Zerstreuungen der Großstadt. In den Bräuchen des Familienlebens wirkten ähnlich wie in den Volksliedern und Sagen zahllose antike Überlieferungen fort. Die Stellung der Frau erinnerte teils an orientalische Haremsbräuche, teils an die freiere Auffassung des klassischen Altertums. Das Eunuchenwesen und die von den Eltern getroffene Gattenwahl illustrieren die östliche, das komplizierte Eherecht die westliche Linie des oströmischen Ehelebens. Die Namengebung setzte antike Bräuche fort, gewann aber um 1000 in der Erblichkeit individueller Zunamen und Spitznamen eigene Züge. Hochgebildete Frauen wie die Kaisertochter Anna Komnene waren seltene Ausnahmen. Gleichwohl verfügten auch Bürgertöchter über eine gewisse Allgemeinbildung. Handarbeiten, Bibellektüre und die Anfangsgründe des Wissens galten auch für sie als unerläßlich. Die Sakramente der Kirche umspannten das Leben von der Geburt bis zum Grabe. Der demokratische Grundzug des Christentums vertrug sich hier mit provozierenden Schaustellungen der irdischen Ungerechtigkeit. Auch die Mode betonte und verwischte wie zu allen Zeiten die sozialen Unterschiede. Die antiken Trachten wurden namentlich vom Priesterstand konservativ bewahrt und bestimmen noch das heutige Erscheinungsbild der Geistlichkeit. Dafür geriet die Mode schon im 6. Jahrhundert bei der extravaganten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
333
Jugend der unteren Stände, im 7. Jahrhundert dann in weitesten Kreisen unter barbarischen Einfluß. Die kurze, eng anliegende Reiterkleidung der hunnischen Völkerschaften machte auf dem Weg über das Militär auch bei der Zivilbevölkerung Schule. Die weiten Mäntel der Vornehmen wirkten dem entgegen. Im übrigen wechselte die Mode bei Männern und Frauen ebenso wie Haar- und Barttracht. Besonderes Augenmerk schenkte man den kleinen schönen Dingen des Lebens. Die handwerkliche Kunst der Balkanländer und der Türkei mit ihren Silberfiligranarbeiten, ihren kunstvollen Lederverzierungen und dem Reichtum der Goldschmiedekunst spiegeln die materielle Kultur des byzantinischen Alltags ebenso wie die Glasindustrie Venedigs, die auf östliche Traditionen zurückgeht. Von den Produkten der Goldschmiedekunst, die bis in die Schatzkammern des fernen Westens und Ostens vordrangen, war schon die Rede. Wunder der Dekoration wurden in Palästen und Kirchen vollbracht. Nicht nur für die vielberufene Seide, sondern auch für andere Stoffe wurde Byzanz das erste Erzeugerland und der vornehmste Umschlagplatz. Auch diese Kunst gipfelte im Kaisergewand, wie es etwa im Menologion Basileios' II. vor uns erscheint. Die christlichen Balkanherrscher wetteiferten damit, es genügt, an die zahllosen Darstellungen serbischer Herrscher oder an bulgarische Denkmäler wie den Konstantin Asen der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
334
Kirche Bojana bei Sofia und an die verwandten Fresken des Klosters Batschkovo bei Plovdiv zu erinnern. Besonders lehrreiche Proben byzantinischer Webekunst bergen Bamberg und Passau. Die Kreuzzüge machten nicht nur den Westen mit dem Luxus des Orients bekannt, sondern brachten auch dem überlieferten Fernosthandel Ostroms neuen Aufschwung. Doch wird dieser Handel nicht zuletzt durch eine Moschee bezeugt, die in Konstantinopel schon im 10. Jahrhundert arabischen Kaufleuten diente. Die Beutestücke des Kaisers Nikephoros II. Phokas aus Kreta (961) und Palästina nahmen die Schätze der Kreuzfahrer vorweg. Die Großkunst der Architektur verfügte über zahlreiche Zweigindustrien. Es genügt, an die technischen Voraussetzungen der Mosaik- und Freskomalerei und an den Bedarf an kostbaren Marmorarten zu erinnern. Die öffentliche Bautätigkeit wirkte sich nicht nur als Arbeitsbeschaffung größten Stiles aus, sondern stellte den Massen auch soziale Einrichtungen zu unmittelbarem Gebrauch zur Verfügung. Neben den geistlichen Einrichtungen sei hier namentlich an die öffentlichen Bäder erinnert, die immerhin bis ins 10. Jahrhundert die Tradition des antiken Badelebens fortsetzten. Dann war es erst wieder den Türken beschieden, mit ihren Dampfbädern neue Methoden der Körperkultur einzuführen. Auch die Kochkultur der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
334
Byzantiner hinterließ ihre Spuren in Balkan und Türkei, wo Einflüsse der byzantinischen Küche noch heute zu spüren sind. Die Freizügigkeit des modernen Lebens waren dem Altertum und Mittelalter und damit auch Byzanz weitgehend unbekannt. Trotz der Blüte von Handel und Verkehr kannte man kaum Vergnügungsreisen im heutigen Sinne. Eine Ausnahme stellten die Pilgerreisen dar, die zeitweise großen Umfang annahmen und zweifellos nicht nur religiöse Bedürfnisse befriedigten. Den Berufszwang hatten die Korporationen Ostroms vom Altertum übernommen. Die Erblichkeit zahlreicher Berufe entsprach dem Zwangsstaat der Spätantike. Wie stand es überhaupt mit der persönlichen Freiheit? Hier fällt der Blick in erster Linie auf die Bindung an die Scholle, die bei den Paroiken-Kolonen und ähnlichen Angehörigen des halbfreien Bauernstandes üblich war. Aber auch die antike Sklaverei hielt sich trotz aller christlichen Erleichterungen bis in die letzten Tage Ostroms. Es handelte sich hier um eine internationale Erscheinung, die im damaligen Stand der Technik begründet war und uns nur wenig über das Wesen des byzantinischen Staates verrät. So viel war sicher, daß schon unter Konstantin dem Großen Verhältnisse herrschten, die keinen Vergleich mit den Ungeheuerlichkeiten der römischen Sklaverei aushielten. Wenn Gregor von Nazianz seine Sklaven Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
334
freiließ und Theodoros Studites ihre Verwendung in Klöstern untersagte, so handelte es sich zwar um gutherzige Einzelaktionen, erläutert aber immerhin den Geist der Zeit, der die Sklaverei zwar nicht abzuschaffen, wohl aber zu mildern verstand. Die Unterscheidung von Sklavenhalterstaaten und Feudalismus wird nicht nur durch das Zusammenfallen beider Erscheinungen in Byzanz prekär, sondern erübrigt sich mehr aus technischen denn aus sozialen Gründen. Wenn die Sklaverei sich in Byzanz trotz betonter Christlichkeit des Staates länger als im Westen behauptete, so verrät das ein Weiterleben antiker Wirtschaftsformen, das in Wirklichkeit komplizierter, moderner und fortschrittlicher war als der gleichzeitige Westen. Dieser mittelalterliche Staat starb ab, bevor der Ingenieur der Neuzeit seine sozialen Probleme zu lösen imstande war. Wenn es der Wettlauf von Hunger und Liebe ist, der den Alltag ausmacht, so müßte der Blick sich auch noch der Sittengeschichte von Byzanz zuwenden. Es mag stellvertretend genügen, daß schon am Anfang des Mittelalters jenes merkwürdige pornographische Pamphlet geschrieben wurde, das einen Kaiser und seine Frau nach allen Regeln der apokalyptischen Kunst zu verteufeln sucht. Das Werkchen hat allen Zeitaltern als Hauptquelle der Sittengeschichte Ostroms gedient. Aus Historikern und Chronisten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
335
ließen sich zahllose Zeugnisse des Allzumenschlichen zur Bekräftigung anführen. Der raffinierte Luxus der feudalen Oberschicht gestattete dieser manche Libertinage. Doch besäßen wir zweifellos eine weitaus größere Zahl von Zeugnissen der erwähnten Gattung, wenn nicht die christliche und die ritterliche Kultur des oströmischen Mittelalters den Mächten der Verfeinerung und Entnervung Paroli geboten hätten – und zwar erheblich wirksamer als in Spätrom. Die heiligende Kraft des Gedankens vom Gottesstaat gab den Geschlechterfolgen Stärke, sie durchdrang Familie und Ehe der Byzantiner.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
335
Der Herrschaftsbereich des Geistes Wenn auch die höhere Bildung nicht nur während der dunklen Jahrhunderte der arabischen Bedrohung zu den Seltenheiten gehörte, so läßt sich nicht leugnen, daß in Byzanz zu allen Zeiten zumindest für die Elementarbildung günstigere Voraussetzungen gegeben waren als in der übrigen Welt. Sicherlich war es kein Zufall, daß der Unterricht im Lesen und Schreiben zumeist von Klerikern und vorzugsweise in kirchlichen Räumen erteilt wurde. Vornehme Familien verfügten über Hauslehrer, doch gab es auch zahlreiche Internatsschüler in den Klöstern. Wandsprüche in den Klassenräumen hielten zur Ehrfurcht gegenüber Gott, dem Kaiser und den Eltern an. Die Grundschule dauerte drei Jahre. Als pädagogische Hilfsmittel spielten Deklamation und Gesang eine besondere Rolle. Der Lehrer sollte den Schüler zum guten Christen und nützlichen Staatsbürger, zu einem moralisch gefestigten Menschen erziehen. Als elementarer Lehrstoff diente der Psalter. Die höhere Bildung verzichtete niemals auf Homer, der lebendiger als jedes andere Buch Urzeit und Mittelalter verband. Die Universitäten standen nur einer dünnen Oberschicht offen. Sie hatten sich von Anfang an auf die Ausbildung zuverlässiger Staatsdiener zu konzentrieren. Diese Aufgabe Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
335
erfüllte namentlich die juristische Fakultät, doch schufen Grammatik und Rhetorik die Voraussetzungen für jede öffentliche Wirksamkeit. An der Spitze des öffentlichen Unterrichts stand die 330 von Konstantin gegründete Universität, deren erster Sitz das Kapitol des alten Byzantion war. Sie wurde von Theodosius in großem Umfang erneuert. Unter Phokas (602-610) erlitt das Bildungswesen einen Rückschlag, ebenso im Bilderstreit. Die Ausschaltung von Rom, Athen und Beirut spielte der Universität Konstantinopel auch für die juristischen Studien das Bildungsmonopol zu. In den geistigen Hungerjahren des Arabersturms schloß die geistliche Hochschule manche Lücke. Die Universität erlebte nach den Reformen des Bardas von 863 einen neuen Aufschwung, der zur Ausstrahlung des Zeitalters eines Photios und der Slawenapostel beitrug. Leon der Mathematiker und Arethas von Kaisaraia gehörten zu ihren glänzendsten Namen. Im 10. Jahrhundert glänzte Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos als Schriftsteller wie als Freund der Studien. Dann scheint erst wieder das Zeitalter des Humanisten Psellos neue Voraussetzungen für die Pflege des Universitätslebens geschaffen zu haben. In der damaligen Gestalt dauerte die Universität offenbar bis zum Ende des Reiches. Zumindest existieren bis zu diesem Zeitpunkt Listen von Trägern der Titel »Konsul der Philosophen« und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
336
»Wahrer des Rechts« (nomophylax), also der Dekane der philosophischen und juristischen Fakultät. Die Studien fanden auch im Reich von Nikaia und erst recht unter den Paläologen ihre Pflege. Literatur und Wissenschaft standen damals so wenig wie heute in ausschließlicher Abhängigkeit vom offiziellen Bildungswesen. Dafür zeugt schon die Existenz einer Literatur in der Volkssprache, die bei den Gebildeten verpönt war. Das leidige Sprachenproblem verhinderte freilich den Einsatz der Besten für die natürliche Frische der Volkssprache und ließ andererseits das Mühen der Gelehrten immer von des Gedankens Blässe angekränkelt sein. Auch das gehört zu den Gründen, warum Byzanz zwar Historiker und Theologen von hohen Graden, aber kaum Dichter von Weltrang hervorgebracht hat. Die Fragwürdigkeit der humanistischen Wertkriterien ergibt sich vor allem bei der Betrachtung der theologischen Literatur. Das altchristliche Schrifttum geht ohne Naht und Fuge in das Schaffen der Byzantiner über. Das entspricht dem unmerklichen Übergang von den Himalajahöhen der Anfänge zu den sanfteren Höhen von Mittelalter und Neuzeit. Es liegt auf der Hand, daß solche Wertmaßstäbe religiösen, aber nicht literarischen Ordnungen entstammen. Sicher ist nur eines: Wer die Literatur des 4. und 5. Jahrhunderts bewerten will, setzt falsche Maßstäbe, wenn er die großen Kappadoker und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
336
Johannes Chrysostomos von der weltlichen Literatur abtrennt und dem methodisch durchaus nützlichen Sonderfach Patrologie zuweist. Kunst und Leben lassen sich nicht in die Schubladen von Fachdisziplinen einordnen. Die von Ranke beschworene Unmittelbarkeit der Epochen zu Gott manifestiert sich im Bereich des oströmischen Lebens nur dann, wenn wir ohne Voreingenommenheit die Leistung jeder Epoche würdigen, eine Leistung, die nebenbei bemerkt nicht nur in geistigem Schaffen, sondern ebenso im kämpferischen Bewahren von Glauben und Überlieferung in den Strudeln der Weltpolitik bestehen konnte. So lautet die Regel, die über jedem Versuch des Verständnisses der Generation Konstantins des Großen steht, daß diese Menschen noch Spätrömer waren. Konstantin setzte eine gewaltige Zäsur, der Strom der Geschichte wie des geistlichen und geistigen Lebens passierte aber das Wehr mit unverminderter Kraft. Das politische Generalthema der frühbyzantinischen Zeit, Auseinandertrift und Restaurationsversuche der Mittelmeerhälften, darf auch im Geistesleben nicht übersehen werden. Griechische und lateinische Welt grenzen sich in dieser Zeit voneinander ab, bewahren aber noch Reste ihrer früheren Einheit. Wie für den Staatsgedanken, so hat Eusebios von Kaisareia auch für die Geschichtsschreibung Epoche gemacht. Seine Weltchronik hat über Hieronymus den Westen nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
337
weniger beeinflußt als den Osten. Das Verständnis der Weltgeschichte als Heilsgeschichte ist nicht zu denken ohne die von Eusebios vollzogene Usurpation der jüdischen Vergangenheit als Vorgeschichte schlechthin. Auch das Fach der Kirchengeschichte dankt seine Begründung Eusebios, der zahlreiche Fortsetzer fand. Als Panegyriker nicht nur Konstantins, sondern des christlichen Romgedankens der Byzantiner formulierte Eusebios ein politisches Leitmotiv. Das verleiht ihm seinen Rang als wegweisender Historiker der Geburtsstunde von Byzanz, ein Ruhm, dem die theologische und menschliche Fragwürdigkeit seiner Leistungen nicht im Wege steht. Doch mutet es wie ein merkwürdiger Akt des Ausgleichs an, daß Konstantin der Große trotz der Fernwirkungen eines Eusebios sowenig wie Trajan einen seiner würdigen Historiker gefunden hat. Die großartige Kontinuität der Geschichtsschreibung Ostroms setzt erst im 5. Jahrhundert mit vollem Akkord ein. Auch in der Theologie herrschte, verglichen mit der Schicksalsträchtigkeit dieser Jahre, eine Flaute des Geistes, die wie Sattheit der Siegerkirche anmutet. Das Zeitalter Konstantins kannte keine Geistesfürsten vom Range eines Origenes. Die von dem großen Alexandriner vollzogene Verschmelzung von Platonismus und Prophetismus fand ihr konstantinisches Gegenstück im aufkeimenden christologischen Streit, mit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
337
seinen politischen und völkerpsychologischen Hintergründen. Um so mehr holte die folgende Generation nach, die nicht nur in Libanios einen Gipfel der antiken Rhetorik, sondern in Julian Apostata einen der lebendigsten Autoren der Spätantike erlebte. In der Theologie jener Tage glänzten die drei großen Kappadoker, die von der Mystik bis zur Praxis des Mönchslebens den höchsten dichterischen Geistesflug mit der zum Unglück der Ostkirche bald verlorengegangenen Einsicht in die Pflichten der christlichen Gesellschaft vereinten. Der jüngere Zeitgenosse Evagrios Pontikos (gestorben 399) fühlte sich nicht so sehr dem Beispiel dieser universalen Doktoren der Kirche als der Wüstenaskese seines Lehrers und Freundes Makarios des Ägypters verpflichtet. Der Einfluß seiner Mystik reicht bis in die Lichttheologie Symeons und der Hesychasten. Der größte Historiker jener Tage war der lateinisch schreibende Ammianus Marcellinus, der aber sein geheimes Griechentum in Sprache und Stil sowenig verleugnen konnte, wie Julian sein heimliches Christentum. Noch zogen die Ströme der klassischen und der christlichen Antike von einer immer schmaler werdenden Landzunge getrennt nebeneinander dahin. In Ost und West ergötzte man sich an literarischem Kunstgewerbe. Die Prosaromane des Heliodoros und Achilles Tatius setzten die Tradition der entzückenden Liebesgeschichte des Longos fort, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
337
dessen Schäferidyll Daphnis und Chloë das galante Jahrhundert begeisterte. In dieser Zeit entstanden aber auch die syrischen Hymnen des Ephraim von Edessa, die auf dem ebenfalls edessenischen Bardesanes des 2. Jahrhunderts fußten und die ruhmreiche Geschichte der rhythmischen Kirchenpoesie Ostroms vorbereiten halfen. An der Wende zum 2. Jahrhundert steht Johannes Chrysostomos als der gewaltigste Redner, den die Kirche jemals hervorgebracht hat. Ihm verdankt Byzanz die täglich im Gottesdienst benutzte Liturgie. Ihre Schönheit erwies sich als eine strahlende Waffe im geistigen Wettkampf der Völker. Im Wettbewerb mit dem päpstlichen Westen, aber auch mit Weltreligionen wie Judentum und Islam entschied die Überzeugungskraft des Gottesdienstes, die von der Liturgie abhing. So eroberten nicht nur Konstantin-Kyrill und sein Bruder Methodius die slawischen Völkerschaften, sondern auch Johannes Chrysostomos, dessen Liturgie die Übersetzung ins Kirchenslawische glänzend bestand. Von Johannes Chrysostomos schweift der Blick zu Augustinus, dessen Gestalt auch den Osten überschattete. Die Geschichtsauffassung des Hoftheologen Eusebios fand in seinem Gottesstaat und in der historiographisch weiterzeugenden Geschichtsteleologie seines Schülers Orosius ein ungeahntes, wenn auch überlegenes Echo. Dafür schrieb im Osten der letzte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
338
Heide Zosimos, dessen Wiederentdeckung durch Löwenklau das christliche Konstantinbild revolutionierte. Noch über Ammianus hinaus gehört er zu den leidenschaftlichen Parteigängern Julians. Das schon Hesiod und Polybios nicht unbekannte Abendrot seines Dekadenzgedankens verbindet ihn zumindest als Schicksalsgenossen mit den Christen seiner Zeit. Als Historiker großen Stils schlug ihn Priskos, der zweihundert Jahre nach Dexippos ein farbenreiches Bild der römischen Nordfront entwarf. Das Werk ist verloren, doch verdanken wir dem Sammlereifer des Kaisers Konstantinos VII. Porphyrogennetos den pittoresken Bericht über die Gesandtschaftsreise an den Hof Attilas. Die Rhetorik eines Priskos und Prokop erwies sich angesichts der klassizistischen Dionysiaca des Nonnos als das solidere Versprechen der Kontinuität. Nicht nur Talent, sondern Originalität verriet der Versroman der Kaiserin Athenais-Eudokia. Einen Gipfel erreichte Frühbyzanz mit dem Werk des Pseudo Dionysius Areopagita, der vielleicht mit dem Patriarchen Severus oder mit Petros dem Walker identisch ist. Der Schüler der Neuplatoniker eröffnet die himmelstürmende Mystik der Byzantiner. Für ihn stehen an der Spitze der himmlischen Hierarchie die Engel, jene schönheitstrunkenen Geister, von denen die Gottheit in unmittelbarer Weise erkannt und gepriesen wird. Dionysios prägt zum erstenmal das Bild Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
338
von der Hierarchie (Heilsordnung), die von den kirchlichen über die himmlischen Ehrenränge zu Gott aufsteigt. In seinem Geist verschmolzen die äußeren Anregungen des Altardienstes und seiner strengen Rangordnungen mit der platonischen Lehre vom Urbild zu jener Ruhmesleiter der irdischen und himmlischen Hierarchie, deren zweite historische Stufe wir in dem handfesteren Lehrwerk des Johannes Klimax (580) betreten. Solche mystische Schau präsentiert sich als Doppelgipfel, wenn wir den berühmtesten Meloden der Byzantiner, den Meister der rhythmischen Poesie, Romanos, ins Auge fassen. Seine dichterische Form ist das Kontakion, eine einfache Strophe von großer Schönheit. Fern aller Rhetorik feiert hier, wenn nicht die Volkssprache, so doch ein Griechisch, das jedem verständlich war, einen Triumph, den freilich in seiner ganzen Tragweite nur ermessen kann, wer die Musik als das eigentliche Lebenselement dieser Kunst würdigt. Das berühmte Weihnachtslied, das Kardinal Pitra wieder ans Licht zog, schildert unnachahmlich das Geschehen der Weihnachtsnacht. Das »Jüngste Gericht« inspirierte den Schöpfer des Dies irae. Mit solchem Ruhm wetteifert nur die Akathistoshymne des 7. Jahrhunderts, die noch heute in der fünften Fastenwoche zu Ehren Marias gesungen wird. Der Doppelgipfel verweist die sonstige Theologie des 6. Jahrhunderts in den zweiten Rang. Das gilt nicht für Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
338
Johannes Klimax (525-605) mit seiner mehr praktischen als spekulativen Mystik, die getreu der Devise des heiligen Athanasius nur für den Tod lebt; gleichwohl schuf Klimax mit seiner fast sportlichen Schule der Askese nicht nur für die östlichen Mönchsorden eine Lebensregel. Wohl aber kennzeichnet eine gewisse Mittelmäßigkeit die keineswegs verdienstlosen theologischen Zeitgenossen Iustinians, nicht zuletzt diesen selbst als Theologen. Es genügt an Leontios von Byzanz zu erinnern, der in die Christologie den Aristotelismus einführte, aber auch Platons Welt der Ideen nicht fremd gegenüberstand. Weniger abstrakt als das Werk dieses Scholastikers repräsentieren sich die theologischen Schriften Kaiser Iustinians, dem es (wenn auch mit geringerem Glück als auf dem juristischen Sektor) um die Kodifikation des Glaubensgutes von Chalkedon (451) ging. Schon das 6. Jahrhundert lehrt uns, daß abgesehen vom Sternenflug der Theologie und ihrer Dichter das Herz des byzantinischen Geisteslebens in der Geschichtsschreibung schlug. Nicht nur die Historiker, selbst die bescheidensten Chronisten waren sich ihrer Rolle als Gedächtnis der Ewigkeit bewußt. Prokopios von Kaisareia kann als der Herodot und Polybios, wenn nicht als Thukydides, so doch als maßgebender Historiker Ostroms gelten. Wie Herodot die Geschichtsschreibung und Polybios den Hellenismus, so Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
339
eröffnet er die mit China wetteifernde Kontinuität der oströmischen Historiographie. Deren Stärke lag nicht in den geistigen Eisregionen theologischer Himmelsstürmer, sondern im lückenlosen Zug einer Mittelgebirgskette, zu deren sanft gerundeten Gipfeln Prokop, mit geringem Abstand aber auch Psellos und andere gehören. Mit seiner ebenso christlichen wie antikisierenden Popularphilosophie erwies sich Prokop als Kind seiner Zeit. Das Schwanken zwischen Vergottung und Verteufelung seiner Helden leuchtet Abgründe geschichtlicher Tragik aus und findet seine Lösung in der erst recht tragischen Ambivalenz der Menschen und Dinge. Als Muster großer Rhetorik, nicht zuletzt mit dem Vokabular seiner senatorischen Kaiserkritik, rückte Prokop zum Vorbild der späteren Historiker auf, zumindest bis er der Wiederbelebung der antiken Vorbilder zum Opfer fiel. Bezeichnend genug für die Barockisierung des Stils konnte der unmittelbare Fortsetzer Agathias ihm diese Rolle streitig machen. Noch schwülstiger geriet der Marinismus des Theophylaktos Simokattes. Aber auch die Volkssprache kündigte sich im Zeitalter Iustinians mit der ebenso schlichten wie inhaltlich bizarren Chronik des Malalas an. Als Dichter glänzten Agathias und Paulos Silentiarios mit gekonnten Epigrammen und einer Beschreibung der Sophienkirche. Die literarische Leistung des Zeitalters wäre nur unvollständig Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
339
angedeutet, wenn die Gesetzessammlungen Iustinians und nicht zuletzt seine eigenen Gesetze mit Schweigen übergangen würden. Wenn auch Sprache und Stil einige Kritik herausfordern, so ist doch der große geistige Atem, der die Gesetzesurkunden des Kaisers und seiner Kanzlei durchweht, noch heute zu spüren. Zwar konnte man die Fiktion vom Latein, das nicht nur als Fachsprache der Juristen, sondern als Muttersprache der Oströmer galt, damals noch aufrechterhalten, doch bekräftigten die Übersetzungen des Corpus iuris und erst recht die griechischen Novellen Iustinians, wie es in Wirklichkeit um die Kenntnis des Latein stand. Zwischen dem 6. und 10. Jahrhundert liegt eine literarische »Hyksoszeit«. Die »Reitervölker« dieser Dunkelzone nahmen als Awaren, Araber und andere Byzanz nur zu oft in die Zange. Unter den Waffen schwiegen die Musen. Immerhin wissen wir über Kaiser Herakleios erheblich mehr als über Trajan. Wir verdanken diesen Vorzug dem Georgios Pisides, dessen bescheidene Verschronik die Lücke einigermaßen füllt. Klio war den Griechen untreu geworden, und sie war nicht die einzige Muse, die es mit den toleranten und aufgeschlossenen Arabern hielt. Die Hauptschuld an diesem Niveauverlust dürften jedoch nicht die toleranten Araber, sondern die Byzantiner selbst tragen. Die Fanatiker des Bilderstreits leisteten sich nicht nur eine Geschichtsschreibung nach Rezepten des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
340
»Großen Bruders«, sondern ließen alle ihnen unbequemen Dokumente in Flammen aufgehen. So stellen sich die vermeintlich dunklen Jahrhunderte nicht nur politisch als große Kampfzeit, sondern auch geistig keineswegs als Wüste heraus. Doch erreichte Byzanz selten die Gipfelhöhen der Weltliteratur, wenn man von seinen Theologen absieht. Zu diesen zählt zumindest für Eingeweihte Maximos Konfessor, der zur Zeit des Herakleios mit der dichterischen Inbrunst des Gregor von Nazianz, darüber hinaus mit der neuplatonischen Mystik des Areopagiten dem unbequemen kaiserlichen Schützer des Kirchenfriedens entgegentrat. Das am päpstlichen Westen orientierte Bekennertum des Märtyrermönchs Maximos kann als Voraussetzung für das Cluniazensertum der späteren Studitenmönche gelten. Freilich konnte weder Mut noch Fanatismus der Mönche die Grenzen überschreiten, die das Gottesreich Byzanz jeder Opposition setzte. Dem Geist eines Maximos war es beschieden, andere Himmel zu stürmen. Als Meister des östlichen Spiritualismus, erleuchteter Mystiker in der Nachfolge des Areopagiten, feierte er gleichwohl seine eigentlichen Triumphe im Bereich der wissenschaftlichen Systematik des erneuerten Aristotelismus. Mehr als jeder andere hat er dazu beigetragen, den aristotelischen Schritt vom Mythos zum Logos im Raume der Synthesen von Platonismus und Prophetismus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
340
nachzuvollziehen. Sein Beitrag zur Ontologie des geschaffenen Seins nimmt vielleicht noch folgenreicher, als Johannes von Damaskos beschieden war, die Scholastik eines Thomas von Aquino vorweg. Mit seinem Symbolismus des Kirchenbaus, der nicht nur die Geheimnisse der Orientation der Kirche (wie schon der Pyramide und des Tempels) deutet, erreichte Maximos weit über den Areopagiten hinaus die kosmische Eingliederung des Kirchenbaus in das von Gott erfüllte Weltall. Als paradoxe Frucht des universalen Höhenflugs ergab sich eine Steigerung des ostkirchlichen Heilsweges der liturgischen Repräsentation ein Weg, den die russische Kirche bis zu den Grenzen des Möglichen weiterging. Der Abschluß der östlichen Theologie, wenn auch keineswegs die Abdankung des weiterstürmenden Geistes, knüpft sich an den Namen des Johannes von Damaskos (um 675 bis um 753). Der wissenschaftliche Geist seiner Theologie bewährte sich in einem eklektischen, gleichwohl aber von großartiger Architektonik getragenen System, das einer theologischen Summa der Ostkirche gleichkam. Seine temperamentvolle Verteidigung der Bilder ruft die Ungerechtigkeit der Überlieferung ins Gedächtnis. Die Konzile von 787 und 843 verfügten die Vernichtung des ikonoklastischen Schrifttums. Die Bestimmungen der bilderfeindlichen Synoden von 754 Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
340
und 815 lassen sich nur aus Konzilsakten und der Chronik des Patriarchen Nikephoros rekonstruieren. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß die historische und theologische Literatur des Ikonoklasmus ohne reformatorisches Verdienst war, ganz zu schweigen von der reichsrettenden Rolle des Militärs und der Sozialpolitiker dieser Ära. Es bleibt immer merkwürdig, welche umfassende Bildung sich Johannes von Damaskos in einer dem Griechentum wie dem Christentum fremd gewordenen Umwelt anzueignen vermochte. Die Tat Alexanders des Großen war im Vorderen Orient noch nicht so gründlich rückgängig gemacht, wie man gemeinhin annimmt. Die umfassende Synthese der Vätertheologie, die wir dem Hauptwerk des schöpferischen Sammlers (Pege gnoseos, Quelle der Erkenntnis) verdanken, überrascht durch die Allgegenwärtigkeit Platons in einer solchen Summa des christlichen Denkens. Leontios und andere Vorgänger übermittelten dem Damaszener die aristotelischen Bausteine seiner Theologie. Doch geht es dem Leser nicht anders als dem Betrachter der heiligen Erz- und Mutterkirche Ostroms: Wie dort das zentralbauliche Erlebnis des Kuppelraums über die unvermindert basilikale Dominante des Grundrisses hinwegzutäuschen scheint, so tritt im Werk des Johannes von Damaskos der goldfunkelnde Lichtdom der Ideenlehre Platons an die Spitze der intellektuellen Beseligungen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
341
und religiösen Aufschwünge dieses letzten griechischen Kirchenvaters. Er bedeutet nicht etwa das Ende der bis heute ungebrochenen Schöpferkraft der Ostkirche, wohl aber den Gipfel und Abschluß ihrer schöpferischen Begegnung mit der antiken Philosophie. In seiner Lehre vereinigten sich die beiden Hauptströme des oströmischen Geisteslebens zum letzten Male. Philosophie und Theologie traten nach ihrer Sternstunde wieder auseinander, ein Vorgang, der zur östlichen Vorgeschichte der Renaissance, darüber hinaus zur »permanenten Renaissance« des oströmischen Geisteslebens beitrug. Nicht nur eine geschickte Hand, sondern literarisches Genie verriet Johannes von Damaskos mit dem Roman »Barlaam und Joasaph«, der die Jugendgeschichte des Buddha in die Welt Ostroms und seiner christlichen Heiligenlegenden übertrug. Gewiß war auch Georgien an der Formung des dankbaren Stoffes beteiligt. Aber erst das griechische Gewand verwandelte das Buch in das für Byzanz recht rare Beispiel eines internationalen Erfolgsromans. Der Kampf des letzten großen Kirchenlehrers für die Verehrung der Bilder fand einen noch leidenschaftlicheren Fortsetzer in dem Reformator des Mönchtums Theodoros Studites. Seine Stärke lag zwar in der Praxis des Kirchenkampfes, doch übten auch seine Schriften gewaltigen Einfluß aus. Seine Epigramme über das Klosterleben Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
341
belebten nicht nur eine in Vergessenheit geratene Form, sondern erst recht den Widerstand gegen die grassierende Trockenheit und Pedanterie. Wie die Milchstraße den mondlosen Nachthimmel, so erleuchten die Heiligenscheine der Hagiographie das literarische Dunkel dieser Jahrhunderte. Die Gattung, die im Grunde die Evangelien und die Geschichte der Apostel fortsetzt, entwickelte sich von den echten Martyrerakten über die in Ägypten entstandene Mönchsbiographie bis zu einer geistlichen Autobiographie. Den sammlerischen Abschluß, wenn auch nicht das Ende der Gattung, brachte die berühmte Kompilation des Symeon Metaphrastes. Zu den Objekten der historisch so aufschlußreichen Bemühungen der Geistlichkeit gehörte dank seiner Bekennerschaft im Bilderstreit der Chronist Theophanes, dessen eigenes Werk uns die Geschichtsschreibung zweier Jahrhunderte ersetzen muß. Er setzt die Chronik des Georgios Synkellos fort, die von Adam bis Diokletian reicht. Von da ab liefert uns Theophanes brauchbare Nachrichten über Frühbyzanz und rückt von Herakleios bis ins Zeitalter Karls des Großen zum Alleinberichterstatter auf. Ergänzungen verdanken wir allenfalls dem Machwerk des Georgios Monachos und der kurzen, aber inhaltsreichen Chronik des Patriarchen Nikephoros. Noch größere Bedeutung als den Nachrichten kommt der Chronologie des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
341
Theophanes zu. Ohne seine pedantischen Regierungsjahre, deren Exaktheit höchstens seine Indiktionenrechnung übertrifft, fehlte der Überlieferung der mittelbyzantinischen Krisenzeiten gleichsam das Skelett. Die Märtyrerkrone des Mannes, der einen solchen Eckstein der Überlieferung setzte, schließt freilich die Krone objektiver Berichterstattung aus. Die Wahrheit muß in der Regel erst mühsam vom schäumenden Eiter des geistlichen Fanatikers gereinigt werden. Die zumeist anonymen »Fortsetzer des Theophanes« lieferten eine Art suetonischer Kaiserbiographien, doch verrät auch das von einem Mönch des Psamathiaklosters verfaßte Leben des Patriarchen Euthymios fast weltlichen Memoirencharakter. Den Titel des ersten Humanisten teilt Michael Psellos vielleicht mit jedem Gelehrten Ostroms, ganz gewiß aber mit dem gewaltigen Polyhistor der dunklen Jahrhunderte, dem Patriarchen Photios. Sein Ringen mit den Päpsten gehört der Weltgeschichte an, was erst recht für das Werk der Sendlinge des universalen Kirchenlehrers, der Slawenlehrer Kyrillos und Methodios gilt. Als Theologe verkörpert ein solcher Kämpfer den Gegenpol der Mystik, doch trug auch seine Gelehrsamkeit dazu bei. Mit ihm beginnt die Ära der Kompilatoren und Sammler, die von Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos gekrönt wurde. Der Sammler und Sichter des Vergangenen gab seiner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
342
der geistigen Breitenarbeit entwöhnten Generation entscheidende Antriebe. Das Beste steht sicher in seinen theologischen Kampfschriften und den lebendigen Briefen. Ein Werk wie die »Bibliothek« zeigte mit seinen Referaten und klugen Urteilen, daß man den Schatz der Vergangenheit neu erwerben mußte, um ihn zu besitzen. Es vereinigt zur Hälfte das weltliche, zur Hälfte das geistliche Schrifttum zu einer Art von kritischer Literaturgeschichte, die dem Bedürfnis nach geistiger Orientierung entsprach. Für seinen Versuch der Erneuerung des Textverständnisses nach besten alexandrinischen Traditionen schuf sich Photios das praktische Hilfsmittel seines Lexikons. Den Rezepten der Blütenlese-Schriftstellerei folgt das Hauptwerk der zweiten Lebenshälfte des Photios, die ebenfalls recht kompilatorische, aber für die Bibelexegese richtungweisende Amphilochia. Mit dem Zeitalter der Makedonier setzt die Geschichtsschreibung großen Stils wieder ein. Die zweite Folge der Historiker Ostroms wird von Leon Diakonos angeführt, der sich zu seinem Schaden nicht Prokop, sondern den blumigeren Agathias zum Vorbild wählte. Gleichwohl verdanken wir ihm ein farbiges Bild der vorweggenommenen Kreuzzugsstimmung unter Kaisern wie Nikephoros Phokas (963-969) und Johannes Tzimiskes (969-973). Die Kontinuität der Geschichtsschreibung Ostroms sollte nun nicht mehr abreißen. In diese Zeit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
342
geht auch die Satire Philopatris zurück, die in die Handschriften des in Byzanz geschätzten Lukianos eingeschmuggelt wurde. Die Stelle der Abhandlung, die den literaturbeflissenen Kaisern Ostroms zu widmen wäre, mag die Erwähnung der erstaunlichen Tätigkeit Konstantins VII. Porphyrogennetos (912-959) vertreten. Wenn auch nicht als Schöpfer und Gestalter, so steht er zumindest als Sammler und Anreger an der Seite des Patriarchen Photios. Das Verdienst seiner historischen Exzerptensammlung wetteifert mit der sehr viel kritischeren »Bibliothek« des Patriarchen. Ohne das »Zeremonienbuch« wäre das Sendungsbewußtsein Ostroms eine terra incognita der Wissenschaft. Das Werk über die »Staatsverwaltung« ersetzt uns eine historische Landeskunde Südost- und Osteuropas. Nicht viel geringeren Dank schulden wir dem »Themenbuch« über die militärische und administrative Einteilung des Reiches. Als die lebendigste, freilich auch parteilichste Verlautbarung des Kaisers kann sein Beitrag über den Dynastiegründer Basileios I. im Corpus der Fortsetzer des Theophanes gelten. Der geistige Interessenkreis dieses Erhalters und Bewahrers ist damit nur angedeutet. Weit über alle Historiker und Literaten hinaus ragt die beherrschende Gestalt der Jahrtausendwende: Symeon der neue Theologe (um 949-1022). Der größte Mystiker Ostroms läßt die Universalität Maximos des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
343
Bekenners vermissen. Die Theologie hatte unter Johannes von Damaskos einen Abschluß erreicht. Die christozentrische Lichttheologie, die Symeon in seinen Hymnen der Gottesliebe lehrt, läßt ihn als Vorläufer des Hesychasmus erscheinen. Geistesverwandte der Vergangenheit, wie Gregor von Nazianz und Johannes Chrysostomos, gingen in das Werk ein. Dagegen stand er der Technik der Askese im Sinne des Johannes Klimax mit der Überlegenheit des Erleuchteten gegenüber. Umstritten bleibt, ob die Schrift über die Gebetstechnik ihm zuzuweisen ist. Sie würde ihn erst recht zum Wegbereiter des Hesychasmus stempeln. Der lichten Palette und letzten Konzentration dieses literarischen Fra Angelico setzt das Weltkind Michael Psellos die universelle Schaffensfreude des ersten Humanisten entgegen. Als Historiker setzt er Leon Diakonos fort, freilich mit anderen Mitteln. Die Hochsprache der Literatur verdankt ihm ihre Renaissance in des Wortes europäischer und weltgeschichtlicher Bedeutung. Denn Psellos kehrte nicht zu Prokop und Agathias, sondern zur Kastalischen Quelle der attischen Klassiker zurück. Gewiß war es dem Epigonen nicht vergönnt, das letzte Maß, die elegante Einfachheit eines Lysias zu erreichen. Gleichwohl konnte kein Zeitgenosse mit der Süße und Sanftheit seines Stils, mit den rhythmischen Wunderklängen seiner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
343
Wortmusik wetteifern. Er wechselte die Stilarten wie der Orgelspieler die Register und steigerte durch lebendige und gescheite Vergleiche die Verführungskraft seiner Rede. Platon ging ihm als Vorbild über alles, er folgte ihm auch im dichterischen Schmuck, in der nicht ungefährlichen Wortwahl, die dem Mittelmäßigen zur Fallgrube wird. Doch hat Psellos nicht ohne gelegentliches Stirnrunzeln von Zeitgenossen wie Xiphilinos mit den Worten auch die Lehre Platons zurückerobert. Die Ideenlehre war schon vom Nazianzener, vom Areopagiten und Maximos, endgültig von Johannes von Damaskos in ihren kristallenen Eisdomen für immer eingefroren. Psellos begnügte sich nicht mit der interpretatio christiana, sondern kehrte zu den unverfälschten Werken Platons, aber auch des Proklos und anderer Neuplatoniker zurück. Damit vollzog er einen Akt europäischer Geistesgeschichte, der Renaissance und Aufklärung beeinflußt hat. Symeon der neue Theologe und der Humanist Psellos schreiten trotz ihrer Universalität auf den getrennten Wegen, die der letzte Kirchenvater gerade durch seine Vollendung provoziert hat. Der gescheiteste aller Byzantiner verstand Platon als den wahren Vorläufer Christi, als den Entdecker der geistigen Voraussetzungen der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Mit solcher Selbstrechtfertigung verschleierte er sich und seiner Zeit den Griff nach dem Apfel der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
343
Erkenntnis, ohne den säkularisierenden Folgen seiner Tat Einhalt zu gebieten. Die nachhaltigsten philosophischen Anregungen gingen nicht von dem Schriftsteller, sondern vom Lehrer Psellos aus, der in der Geschichte der Universität Konstantinopel Epoche macht. Plethon und Bessarion gaben den Anstoß nach Italien weiter. Die künstlerische Gesamtpersönlichkeit des Mannes leuchtet in keinem seiner philosophischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Werke so einprägsam auf wie in der Meisterleistung seiner Chronographie. Das Werk eroberte für die Geschichtsschreibung wieder den Leistungsstand der Zeiten Prokops zurück. Damit hat er als Persönlichkeit zu Entscheidungen beigetragen, die gewöhnlich nur Sache anonymer Mächte sind. Sie betrafen nichts weniger als das Schicksal des Griechischen, dessen Spaltung nach dem neuen Aufschwung der Gelehrtensprache nicht mehr rückgängig zu machen war. Man hat Psellos den Polyhistoren der Welt vom Range der Albertus Magnus, Roger und Francis Bacon zugeordnet. Auf einem anderen Blatt steht das Levantinertum des Menschen und Politikers, des verantwortlichen Staatsmannes. Wenn in Deutschland Kirche und Kultur ihre besten Kräfte in Verfallszeiten des Staates entfalteten, dann galt dieses fragwürdige Gesetz auch für das späte Byzanz, und Psellos dürfte das früheste Beispiel Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
344
liefern. So überrascht die Gleichzeitigkeit der literarischen Ausformung der edelsten Rittergestalt Ostroms, des Digenis Akritas, mit dem Wirken des schillernden Höflings, ja sie berührt fast peinlich. Doch hat auch dieses grandiose Versepos seine Liedertheorie, die seine Bestandteile in weit frühere Zeiten datiert, und damit der soldatischen Dynastie der Makedonier zuweist. Dazu kommt natürlich, daß nicht die Zivilisation der Hauptstadt, sondern die östliche Militärgrenze den Schauplatz des Romans stellt. Die Urfassung lag schon um 900 vor, und zwar in der Volkssprache. Von ihrer naiven Frische ging für byzantinische Verhältnisse ungewöhnlich viel in die späteren gelehrten Fassungen über. In der Schlußredaktion stellt sich das Epos von Digenis Akritas an den Anfang der Ritterdichtungen, die in Byzanz ähnlich wie im Westen und nicht ohne dessen Einfluß die Literatur der Kreuzfahrerzeit beherrschten. Im Spiegel dieser herrlichen Poesie erleben wir gleichsam in Verklärung das Beste der oströmischen, nicht minder aber der arabischen Welt eines wiedergeborenen homerischen Zeitalters. Der Zwiegeborene (Digenis) gehörte der Geburt nach beiden Bereichen zu. Bei aller Treue zu Ostrom und seinen Kaisern galt der Kampf, wie ihn das Epos schildert, mehr den Räubern und Glücksrittern des »wilden Westens« jener Tage als dem arabischen Erbfeind an der Ostfront. Die Verdrießlichkeiten der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
344
Beschäftigung mit der gelehrten wie der Volksdichtung der Byzantiner werden allein durch diese Ilias des Mittelalters aufgewogen. Ein zweites Zeugnis des anonymen Volksgeistes wie der Begegnung von Byzanz und Orient offenbart sich uns in der Bewegung der Bogomilen. Mag sie auch einem Popen Bogomil ihr Leben verdanken und über wohlumrissene Kämpferpersönlichkeiten verfügen – ihr Wesen und ihre Geschichte stempeln sie zu einer Massenströmung der Tiefe. An der Wiege dieser Lehre stand der Paulikianismus und damit die im Raume Armenien noch lebendigen Nachwirkungen der gnostischen Häresie. Die sattsam bekannten Zwangsumsiedlungen des oströmischen Staates verpflanzten die Anhänger der dualistischen Sekte in den günstigen Nährboden Bulgariens. Dort gedieh sie selbst und zeugte den wesensverwandten Bogomilismus. Die Lehre zerfiel später in mehrere Richtungen, reicht mit ihren Wurzeln in das Persien Zarathustras und in die Geisteswelt der altjüdischen Apokryphen zurück. Ihr Wesen liegt in der Ablehnung jeder Theodizee, in der unerbittlichen Scheidung zwischen der teuflischen Welt und dem göttlichen Geist. Damit erhielten nicht nur die slawischen Reichsfeinde, sondern auch das Volk eine Waffe gegen das Sendungsbewußtsein des byzantinischen Gottesreiches. Byzanz hatte dank dem ostwestlichen Kulturgefälle das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
345
ritterliche Hochmittelalter vorweggenommen, sowohl geschichtlich wie im Bereich des schönen Scheins: im Heldenlied vom Digenis Akritas. Das gleiche galt für das Aufbegehren der kleinen Leute, der Bauern und Bürger, die im Bogomilismus die Heilslehre ihrer nationalen und sozialen Wünsche fanden. Die sozialen Erdbeben der ersten »Bürgerzeit« erreichten Ostrom, relativ früh. Gleichwohl war das Reich der Bogomilen nicht von dieser Welt, und man sieht in ihnen mit Recht die letzte große religiöse Bewegung auf der klassischen Einzugsstraße der Religionen von Osten nach Westen. Ihre dem slawischen wie dem griechischen Geist angemessene Volksfrömmigkeit verriet sich nicht nur in Legenden von Schönheit und Wärme, sondern brachte auch eine hausbackene Mystik hervor, die dem staatlich geförderten Luxus von Kirche und Mönchtum mitunter den Rang ablief. Der Scholastik und Mystik des Väterglaubens traten die sozial aufgewühlten Massen der Bogomilen als dritte Kraft gegenüber. Den Aufschwung, den die Theologie im Zeitalter der Komnenenkaiser nahm, bezeichnet als erster Euthymios (um 1100), der sich in seiner Panoplía dogmatiké auch mit den Bogomilen auseinandersetzte. Die Philosophie betonte dagegen ihren weltlichen Charakter immer schärfer. Johannes Italos, der 1077 den Lehrstuhl des »Konsuls der Philosophen« bestieg, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
345
erregte mit seinem Neuplatonismus spätantiker Observanz den Unwillen der Kirche. Auf der Gegenseite standen die Scholastiker, die auf Aristoteles schworen. Die Katastrophe von 1204 brachte ihnen eine geistige Hilfestellung der westlichen Welt, die sie im Osten nur kompromittieren konnte. Während dieser Zeit der Überfremdung schuf Nikephoros Blemmydes (1197-1272) im byzantinischen Reststaat Nikaia seine für die Zukunft maßgeblichen Aristoteleskommentare. Auch das gehörte zur geistigen Selbstbehauptung Ostroms gegenüber dem doppelten Ansturm der westlichen und der arabischen Methoden bei der Rückeroberung der klassischen Geistesschätze. Ohne Byzanz den Rücken zu weisen und doch auf selbständigen Wegen hatte längst das arabische Dreigestirn der Aristoteleskommentatoren seinen Beitrag zur Wissenschaft geleistet: al-Farabi (950/1 gest.), Ibn Sina (Avicenna, 980-1037) und Ibn Ruschd (Averroës, 1126-1198). Ein Staatsmann Ostroms, der seine Nächte den Studien opferte, war Theodoros Metochites (1260-1332), der trotz umfassender Kenntnis des Stagiriten zur platonischen Ideenwelt neigte. Mit seinem Hauptwerk, den Miscellanea, schuf er eine Art philosophischer Enzyklopädie. In der Mathematik sah er das zweckmäßigste Werkzeug der Erkenntnis der Wirklichkeit und feierte sie als die Königin aller Wissenschaften. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
345
Nicht nur mit seinem Sinn für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Methoden, für eine von astrologischem Humbug gereinigte Astronomie, sondern auch mit seinen psychologischen Urteilen mutet Theodoros Metochites modern an. Er bezweifelte die menschliche Befähigung zu unparteiischen Urteilen, insbesondere die Möglichkeit, objektive Gedanken wahrheitsgemäß zu reproduzieren. Er leistete damit einen Beitrag zur kritischen, wenn nicht skeptischen Haltung von Historikern und Juristen. Theodors Schüler Nikephoros Gregoras trat nicht nur als produktiver Historiker, sondern als umfassender Humanist hervor. Zum profiliertesten Vertreter der Scholastik westlicher Prägung entwickelte sich jedoch der Mönch Barlaam, der mit Kaiser Johannes Kantakuzenos und Nikephoros Gregoras für die Sache der Kirchenunion eintrat. Den extremsten Flügel dieses »Westlertums« verkörperten die reinen Platoniker wie Plethon und Bessarion, die den letzten Jahrzehnten Ostroms angehörten. Die Mystik hatte sich im Hesychasmus längst einen Weg zu Gott gebahnt, der den Epigonen Platons verhaßt war. Weder die humanistische Philosophie noch die zweite Periode der Geschichtsschreibung Ostroms sind ohne den mächtigen Anstoß durch Michael Psellos zu denken. Als Historiker wetteiferte mit ihm wenn nicht formal, so doch sachlich der Parteigänger Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
346
des Militäradels, Michael Attaleiates. Auch die besseren Chronisten verraten formale Fortschritte. Dem 11. Jahrhundert gehört die Chronik des Johannes Skylitzes an, die an der Wende zum 12. Jahrhundert von Georgios Kedrenos Wort für Wort übernommen und dadurch im Original verdrängt wurde. Dafür reicht Johannes Zonaras um die Mitte des 12. Jahrhunderts fast an die Historiker heran. Zu den seltenen Zeugnissen eines Geistes von unverbildeter Natürlichkeit gehörte das Büchlein des Kekaumenos, das die Zwecke eines Fürstenspiegels mit einem Knigge für den jungen Höfling, einer kleinen Garnisons- und Felddienstordnung und nicht zuletzt einer ergötzlichen Anekdotensammlung aus dem eigenen Leben glänzend zu vereinen wußte. Für die Geschichtsschreibung gingen die Früchte des Bahnbrechers Psellos im Zeitalter der Komnenen auf. Die Krone der glänzenden Geschichts- und Memoirenwerke gebührt der Kaisertochter Anna Komnene, die den Meister fortsetzt. Der Griff ins menschliche Leben, dem der byzantinische Roman immer und zumeist auch die Poesie ängstlich auswichen, hier ist er endlich gelungen, wenn auch jede Spur von sozialem Realismus vermieden wird und die feudalen Herrenkreise, wenn nicht der Familienklan der Komnenen, die Kosten der Unterhaltung bestreiten. Verlangt man aber nicht Unzeitgemäßes von der Zeit und ihrer illustren Autorin, so kann man Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
346
nur Schiller zustimmen, der die Alexias für seine Sammlung historischer Memoiren der Mühe der Übertragung ins Deutsche würdigte, sicherlich nicht ohne die Nebenabsichten, die solch ein Zauberspiegel der Ritterzeit in einem Dramatiker seines Ranges auslösen mußte. Der Verfasserin wird große Klarheit und Wahrheit nachgerühmt, die aber echte Poesie und eindringlichste Seelenkennerschaft nicht ausschließen. Wie jede Zeitgeschichte lebt das Werk von der Tendenz. Bestechend wirkt die nationalgriechische Durchschlagskraft, die das oströmische Sendungsbewußtsein in ihrem Munde erhält, sympathisch die töchterliche Liebe, mit der das Denkmal des Helden errichtet wird. Die Rolle der Alexias als Familienchronik eines Kaiserhauses schließt sogar Selbstkritik nicht völlig aus. Sprache und Stil dieses historischen Gegenstücks zum Digenis Akritas liegen weit über dem Durchschnitt. Die Mängel der Chronologie entsprechen, wenn auch häufiger als entschuldbar, einer Schwäche der oströmischen Historiographie, die auf das mangelnde Zeitgefühl der Antike zurückgeht. Auch darin verrät sich die erstaunliche Kontinuität des griechischen Geistes. Die Zeit von Manuel I. bis zu den Angeloi umspannen die Werke der Historiker Johannes Kinnamos und Niketas Choniates. Mit der treffsicheren Knappheit des einen rivalisiert die künstlerische Lebendigkeit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
346
des anderen. Beide verfügten über hohe Staatsämter und damit über Augenzeugenschaft. Niketas schließt nach einer vor Empörung bebenden Schilderung der Plünderung Konstantinopels durch die sogenannten Kreuzfahrer (1204) sein Werk mit dem Jahre 1206 ab. Vorausgegangen war die Plünderung von Thessalonike durch die Normannen (1185), die in Eustathios von Thessalonike einen ebenso aufrechten wie sarkastischen Beobachter fand. Seine Kritik galt weniger den Feinden, von denen man nicht viel anderes erwarten konnte, als dem feigen Verrätergesindel in den eigenen Reihen, dem er das Pindarzitat entgegenschleuderte: »Eine verwünschte Freiheit, wo man sich jeden beliebigen Ort als Abtritt aussuchen kann.« Als dichtender Vielschreiber teilte Theodoros Prodromos das Vagantenschicksal der Villon und Verlaine, wenn auch nicht deren Genie. Die Lebensgeschichte des Betteldichters (Ptochoprodromos) ersetzt eine Soziologie des byzantinischen Geisteslebens dieser Jahrhunderte. Die Zuweisung der zahlreichen »Werke« an ihn und einen Namensvetter bleibt ein Rätsel der Wissenschaft. Es handelt sich um Gedichte in Volksund Schriftsprache, die immerhin den Zeitgeschmack befriedigten. Aber auch die höfische Ritterdichtung, die auf den Spuren der fränkischen Eindringlinge wandelte, und die volkssprachliche Dichtung, soweit sie nicht in die gelehrten Werke eingeschmolzen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
347
wurde, standen kaum auf höherem Niveau. Zur Ritterdichtung gehört die in griechischer Volkssprache und auf altfranzösisch erhaltene »Chronik von Morea«, einer der wertvollsten Quellen zur Geschichte des Peloponnes. Die Geschichtsschreibung wurde im. Kaiserreich von Nikaia von Georgios Akropolites (1217-1282) fortgesetzt. Die Zeit von 1255 bis 1308 fand in Georgios Pachymeres einen Historiker von enzyklopädischer Bildung. Stärker als bei Niketas Choniates überschatten bei ihm theologische Interessen den Sinn für die große Politik. Das gleiche gilt für die umfangreichen Werke des Nikephoros Gregoras und Johannes Kantakuzenos in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Nikephoros machte auf den Spuren seines Lehrers Theodoros Metochites in der Geschichte der byzantinischen Astronomie Epoche und trug sich mit dem Plan einer Kalenderreform. Seine »Römische Geschichte« artet stellenweise zur Aktensammlung aus. Die vier Bücher »Geschichten«, die Kaiser Johannes Kantakuzenos nach seiner Abdankung verfaßte, besitzen die Vorzüge und Schwächen der Memoirenliteratur. Die letzte Historikergeneration Ostroms reicht bereits über das Ende des Reiches hinaus. Laonikos Chalkokondyles erreicht mit dem Anschluß an Herodot und Thukydides den Gipfel des sprachlichen Purismus. Als Resultat ergibt sich ein etwas kraftloses »Neulatein« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
347
griechischer Observanz. Dem komplizierten Schauspiel der versinkenden Überreste Ostroms im orientalischen Völkerstrudel waren die damaligen Informationsmöglichkeiten nicht gewachsen. Noch größere Unkenntnis verraten die Vorstellungen des Autors von den Verhältnissen in Mittel- und Westeuropa. Gleichwohl liefert dieser »einzige Athener, den die byzantinische Literaturgeschichte kennt«, eine unersetzliche Geschichte einer Weltepoche, die das Werk Konstantins des Großen und seiner Nachfolger prunkvoll zu Grabe trug. Über den gleichen Gegenstand berichtet der von kaiserlicher Familie stammende Dukas, der volkstümlicher schrieb. Das dritte Werk über das Ende von Byzanz verfaßte Georgios Sphrantzes nach einem bewegten Leben im Klosterrefugium von Korfu. Auch er hatte in der Politik Erfahrungen gesammelt, die ihn berechtigten, das Wort zu ergreifen. Diesen drei Emigranten steht Kritobulos gegenüber, der nicht mehr die Geschichte des sterbenden Byzanz, sondern den Erfolgsbericht Sultan Mehmeds des Eroberers schrieb (1451-1467). Sprachlich versucht auch er mit geringem Glück Thukydides zu folgen, sachlich verfügt er über verläßliche Informationen. Er teilte als einziger Historiker der Untergangszeit das Schicksal der Besiegten und wählte statt der Freiheit die Zusammenarbeit mit den Osmanen. In Rußland endete die Orientierung der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
348
sogenannten Chronographen am byzantinischen Vorbild erst im 18. Jahrhundert. Damit umspannt die Kontinuität der griechischen Geschichtsschreibung zweieinviertel Jahrtausende. Nicht die einprägsamen Feuerzeichen, die von den Gipfeln des langsam abflachenden Höhenrückens der Historiker Ostroms herab gegen Nacht und Vergessenheit ankämpfen, nicht die Volksdichtung des Balkan, noch erst recht die gelehrte Poesie, sondern allein die Theologie und ihre ungebärdige Magd, die Philosophie, bestätigen in der Untergangszeit den Satz von der Unmittelbarkeit der Epochen zu Gott. Die anonyme Volksbewegung des Bogomilismus gewann von Byzanz aus europäische Bedeutung, wenn auch nur als Irrlicht aus dem Osten. Dafür entzündete der Hesychasmus nicht in Europa, um so mehr im Herzen der Ostkirche ein Feuer besonderer Art: den Glauben an das ungeschaffene Licht vom Berge Tabor. Über den psychotechnischen Erfahrungen, die hinter der neuen Formel der Erlösung aus den Banden der Sterblichkeit stehen, dürfen wir weder die Mitverantwortung der Vergangenheit noch ihren Ort in der Glaubenswelt des Hesychasten Gregorios Palamas übersehen. Seine gescheite und umfassende Theologie ist noch längst nicht genügend erforscht. Die sensationelle Wirkung seiner Lichtvisionen auf Freund und Feind verrät keineswegs eine allumfassende Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
348
Lichttheologie nach dem Vorbild des neuen Theologen. Gleich ob als blitzartige Erfüllung oder Dauerekstase, waren diese Visionen das Zentrum eines Kreises, aber eines Kreises von gewaltiger Peripherie. Das fast über Christus hinweg forcierte Studium Gottes und des Menschen weist den Palamiten als Mystiker ohne Verengerung aus. Zu den historischen Vorgängern gehören Makarios der Ägypter, Evagrios Pontikos und Johannes Klimax, also Männer, die den intellektuellen Bahnen der Neuplatoniker die steilsten Nordwände persönlicher Askese und Mystik vorzogen. Die geistige Situation am Vorabend der Renaissance, deren drastischer Ausdruck das Heidentum Plethons wurde, trug zur theologischen Neubesinnung der Hesychasten bei. Gregorios Palamas, der über unmittelbare Vorgänger verfügt, begründete die Bewegung nicht, setzte sich aber an ihre Spitze. Der Sieg, den der Meister 1341 und dann endgültig 1351 über Barlaam, den Parteigänger der Päpste, errang, besiegelte das politische Schicksal Ostroms, dem der Westen den Triumph der konservativen Theologie nicht verzieh. Dafür konnte das längst gesicherte Weiterleben der Ostkirche in Rußland nicht entschädigen. Man hat wohl mit Recht den agnostischen Nominalismus Barlaams mit der Lehre Wilhelm Okhams, mit vorreformatorischen und noch moderneren Tendenzen in Zusammenhang gebracht. Die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
348
vornehme Distanz Gottes gegenüber Welt und Menschen sprach den Intellektualismus und das Westlertum der östlichen Humanistenkreise zweifellos sympathisch an. Worin bestand nun das Siegesgeheimnis der Hesychasten? Kurz gesagt, der östliche Mensch erkannte in diesem Spiegel sich selbst. Nicht nur die wohlgeordneten Sektoren des Großkreises, auch das Zentrum dieser Theologie entsprach seinem Wesen. Dieses Zentrum war die eigentümliche Gebetstechnik der Hesychasten. Die Vorstufen der Sammlung des Geistes zu klarer ungetrübter Reinheit der Anschauung Gottes entsprachen alten Überlieferungen der asketischen Technik. Dieser negativen Phase folgte jedoch eine positive, die selbst den spiritualistisch und meditativ wohlvorbereiteten Byzantinern Neues bot. Den Zugang zur Gnade und zum Leben in Jesus Christus erzwingt hier ein ununterbrochener Gebetsmonolog, eine Vergegenwärtigung Gottes, die sich in der Gesamtpersönlichkeit nicht als passiver Zustand, sondern als bewußte Aktion im Sinne des paulinischen Dauergebets darstellt. Palamas will mit der Intensität seines Dauergebets Gott weder überzeugen noch sein in Wirklichkeit spontanes Handeln erzwingen. Als Preis der Gebetsaktion winkt vielmehr die eucharistische Kommunion der Seele mit dem persönlichen Gott. Die Intensität und Technik seines Bemühens wurde zur Quelle von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
349
Mißverständnissen. Die Behauptung, daß Palamas das Gebet zur mechanischen Zauberformel vom Range der Gebetsmühlen herabwürdige, stellt sich als Verleumdung heraus. Schon der heilige Gregor vom Sinai lehrte: »Setze dich auf einen niederen Sitz, ziehe dein Bewußtsein vom Kopf ins Herz hinunter und fixiere es dort. Wenn du in dieser gebeugten Haltung, durch die Spannung der Muskeln, in Brust, Schultern und Nacken heftige Schmerzen empfindest, so rufe im Herzen und im Geist: Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner! Dabei sollst du den Atem anhalten.« Die willentliche Beeinflussung der Herztätigkeit durch Konzentration und Atemtechnik ist in Indien wohlbekannt. Das Mantram-Yoga hat vergleichbare Gebetstechniken herausgearbeitet. Die oft mit Gymnastik verwechselten Übungen des Hatha-Yoga können ähnliche Resultate der Steuerung unwillkürlicher Vorgänge erreichen, verwandt ist auch der dhikr des Islam. Die höheren Stufen des Yoga übertreffen den Hesychasmus in der Geistigkeit ihrer Methoden. Für den Zusammenhang der indischen wie der islamischen Mystik mit dem Hesychasmus bedarf es kaum des Hinweises auf die psychischen Ursachen spontaner Erscheinungen von solcher Art. Die vergleichende Religionswissenschaft beschränkt sich auf die Frage nach den »Einflüssen«, die sowohl für Indien wie die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
349
islamische Welt positiv beantwortet werden dürfte. Die nähere Aufklärung der Zusammenhänge bleibt den entsprechenden Sparten der Orientalistik überlassen. Als Krönung der positiven Askese und Herzensmystik entdeckte der Anachoret dieser Prägung den inneren Christus, das Königreich Gottes im Menschen. Die Rilkesche Introvertierung des Ringens um Gott gipfelte in dem vielberufenen Lichterlebnis, das psycho-physische Tatsachen der menschlichen Aura der privaten Erlebnisphäre der Gottesstreiter von Jahrtausenden entriß und gleichsam zum ersten Male popularisierte, wenn auch nur als unerreichbares Fernziel oder als Selbstbetrug der Massen. Es bleibt denkwürdig, daß der östliche Mensch in Gedanken von solcher Esoterik sich selbst zu entdecken glaubte. Man bekannte sich zu Denkmethoden, die dem Christen einen persönlichen Weg zur Vereinigung mit Gott eröffneten. Dabei spielt ähnlich wie auf volkstümlicher Stufe bei den Bogomilen der Wunsch mit, der Materie mit anderen als neuplatonischen Mitteln Verachtung zu bezeigen. Die Wiedergeburt des Apostaten am Vorabend der Renaissance ließ sogar die neuplatonischen Trakte der theologischen »Summen« der Vergangenheit verdächtig erscheinen. Mit der Bezwingung der verhaßten Materie durch persönlichste Askese und Mystik erteilte man dem Dualismus der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
349
Bogomilen, erst recht aber dem Platonismus eine Absage, die den Reichtum an theologischen Gipfelrouten der byzantinischen Ostkirche aber auch den Mut sie zu begehen bezeugt. Ein östliches Gegenstück zur Imitatio Christi des Thomas von Kempen verdanken wir dem letzten großen Mystiker Ostroms, nicht der Ostkirche, Nikolaos Kabasilas. Mit der Christozentrik seiner Schriften »Über das Leben in Jesu« und »Erklärung der göttlichen Liturgie« setzte er Akzente, die Gregorios Palamas ergänzten und berichtigten. Die Himmelsleiter der Askese trägt den enthusiastischen Christusjünger in die Hochregionen der Mystik, ohne den Sinn für die Vergötterung des Alltags im Zeichen christlicher Liebe zu verdunkeln. So gehörte Nikolaos Kabasilas zur Minderheit derer, die sich auch in der Ostkirche der sozialen Frage nicht verschlossen. Damit verlassen wir den Höhenweg der extremen Gottsucher von Byzanz und werfen noch einen kurzen Blick auf die Straßen weltlicher Erkenntnis, die nach der Spaltung der Fronten die griechische Überlieferung weitertrugen. Auch die Wegbereiter der Renaissance im Osten verraten etwas von der Leidenschaft der Hesychasten. Mit der Philosophie des Georgios Gemistos Plethon stieg Kaiser Julian Apostata aus dem Grabe, um mit dem Christentum Abrechnung zu halten. Nur als Politiker, nicht als Christ stand Plethon auf der Seite der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
350
Orthodoxie, weil er glaubte, daß Kirchenunion und Kreuzzüge für den Osten neue Sklaverei bedeuteten. Dafür schwebte ihm ein griechisches Reich vor, das nichts mehr mit dem orthodoxen Byzanz gemein haben sollte. Sein revolutionäres Ideal zielte auf die Wiedervereinigung des griechischen Vaterlandes vom Peloponnes, dem damaligen Morea her. Ein um so erstaunlicheres Programm, als Plethon in Konstantinopel geboren war und erst nach Schwierigkeiten mit der Kirche nach Morea übersiedelte, um dort über fünfzig Jahre seines Lebens zu verbringen. Die romantische Gründung Villehardouins (um 1150-1213), Mistra am Fuße des Taygetos unweit der Ruinen von Sparta, wurde seine zweite Heimat. Im Platonismus von Mistra widerrief der griechische Geist die Schließung der Akademie durch Iustinian und schuf Voraussetzungen einer Renaissance, deren Früchte dank dem gewaltsamen Tode Ostroms nur im Westen reifen durften. Am Ende einer Überschau der geistigen Hinterlassenschaft von Byzanz vermag sich der Blick des Betrachters nicht auf das theoretische Werk Plethons zu beschränken. Seine politischen Projekte blieben zwar auf dem Papier stehen, verraten aber eine in der tausendjährigen Geschichte Ostroms völlig vereinzelt dastehende Einsicht in das, was nottat, zumindest aber den Versuch, eine rettende Lösung zu finden, obwohl Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
350
es bereits zu spät war. Das politische wie philosophische Bemühen Plethons wurzelt in jenem griechischen Nationalgefühl, das Kaiser Julian für die Antike zu spät, für Byzanz zu früh beschworen hatte. Wir finden seine politische Diagnose und Therapie in zwei Denkschriften für den Despoten Theodoros und für Kaiser Manuel II. Hellas konnte von Morea aus nur mit Hilfe eines schlagkräftigen Heeres erobert werden. Zur Wahl standen heimattreue Bauern ohne militärische Erfahrung und wohlausgebildete Söldner ohne Patriotismus. Die Gesellschaftsordnung trug die Verantwortung für die prekäre Lage, also mußte sie reformiert werden. Der Feudalismus hatte zwar nicht nur Nachteile, sondern immerhin den Vorteil, daß man im weit entfernten Mistra der Zentralgewalt entrückt war, eine unerläßliche Voraussetzung der Gedankenfreiheit Plethons und seiner Schüler. Die wirtschaftliche Grundlage der Freiheit war die lockere Aufsicht des Staates über die Lehnsgüter (Prónoiai). Plethon selbst als Gouverneur (képhalis) und seine adligen Schüler verdankten dem System ihre wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit. Damit verband sich aber auch die Kenntnis seiner Schwächen. Es geht keineswegs nur auf Anregungen Platons zurück, wenn der Philosoph eine Art von ständisch modifiziertem Kommunismus und eine gründliche Bodenreform als Vorbedingung für die künftige Rekrutierung einer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
351
Volksarmee vorschlägt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß im Lehnswesen der Boden nicht nur theoretisch dem Staat gehörte, sondern auch in der Praxis regelmäßig neu verteilt wurde. Natürlich war dafür gesorgt, daß den großen Familien nicht zu nahegetreten wurde. Immerhin folgerte der Philosoph, daß die Erde von Natur Gemeinbesitz derer sei, die darauf wohnen. Eine Sensation bedeutet für Byzanz sein Versuch, ein wissenschaftlich begründetes Steuerrecht auszuarbeiten. Das wirft auch Licht auf seinen »Kommunismus«: Vom Nationaleinkommen sollte ein Drittel an die Arbeiter, ein Drittel an die Eigentümer der Produktionsmittel, ein Drittel an Armee und Verwaltung gehen. Die neue Helotenklasse der vom Wehrdienst freigestellten Bauern sollte mit den Heloten Spartas den Namen, nicht die Behandlung teilen. Zwei Drittel des Einkommens waren als unantastbares Privateigentum vorgesehen. Der »Kommunismus« Plethons stellt sich also als Bodenreform und Versuch einer gerechten Besteuerung heraus. Die Emanzipation Griechenlands von der Herrschaft der osmanischen Türken gehört zu den Fanfarenstößen, die das Zeitalter des Nationalismus eröffneten. Den Ausschlag gab jedoch nicht das Weiterzeugen des patriotischen Hellenismus von Männern wie Julian Apostata und Georgios Gemistos Plethon, sondern die fromme Bewahrung des nationalen Erbes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
351
durch die Kirche und der spontane Aufbruch der unter der Asche glimmenden Volkskraft. Die Sozialutopie und der patriotische Eifer Plethons verpufften wie die verwandten Bemühungen Platons. Um so epochemachender wirkte der Platonismus von Mistra auf Geistesgeschichte und Philosophie. Das Erscheinen Plethons besiegelt den Übergang von der lokalen Frührenaissance Italiens zur Weltepoche der Renaissance. Der gelehrte Ratgeber seiner Landesherren auf dem Konzil zu Florenz schlug Cosimo di Medici die Neugründung der Platonischen Akademie vor. In Plethon gipfelte der griechische Beitrag zu den westlichen, jüdischen und arabischen Grundlagen der Renaissance. Gleichwohl deckte sich sein persönlicher Anteil weder mit dem Lauf der Entwicklung noch mit dem Geschmack des Abendlandes. Einen Teil seiner Wirkung erzielte er gleichsam wider Willen. So wird die geistige Spannweite des Mannes nicht zuletzt durch die undoktrinäre Färbung seines Platonismus bestimmt. Obwohl Platoniker durch und durch, verriet er strengste aristotelische Begriffsschulung und damit eine Nüchternheit, die der Nachwirkung der Lehre im Abendland zustatten kommen sollte. Plethon suchte zwar die platonischen Ideen fast isoliert herauszupräparieren, spannte sie dann aber noch über Aristoteles hinaus in den Rahmen nüchternster Kausalität. Die »Gesetze« Plethons verraten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
351
eine neuplatonische Anschauungswelt, die im Gefolge der Jamblichos und Proklos nicht einmal auf Götter und Dämonen verzichtet. Von »heidnischem« Aberglauben kann hier nicht die Rede sein, da es sich um die Etiketten vorhandener Ideen und Lebensmächte handelt. Eigentümlich berührt der radikale Determinismus, wenn nicht Fatalismus Plethons, mit dem er die Popularphilosophie Prokops und anderer Historiker erneuert, aber dank seiner christlichen und muslimischen Erfahrungen auch überwindet. Was in der Spätantike noch unbestimmt in der Luft lag, was später als Kismet und christliche Prädestinationslehren mannigfache religiöse Form gefunden hatte, erscheint bei Plethon in einem künstlichen neuplatonischen Gewand, das in Wirklichkeit nicht der Vergangenheit, sondern dem idealistischen Rationalismus der Moderne angehört. Nicht zuletzt die unplatonische Nüchternheit Plethons überzeugt uns von der Belanglosigkeit seiner Etiketten, mag er von Gott oder vom sogenannten Zeus sprechen, denn dieser Gott und diese Götter sind nichts anderes als Sklaven der Vorsehung, Spielbälle der Kausalität. Wenn für einen Gelehrten des 15. Jahrhunderts die Lebensprozesse sich mit der Gesetzmäßigkeit chemischer Reaktionen vollziehen, führt sein Weg weder zu Platon noch zu Aristoteles zurück, wohl aber mit der Hilfe beider in das Zeitalter der Naturwissenschaft. Die »heidnischen« Rückfälle Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
352
Plethons nahmen in Wirklichkeit das Zeitalter der Aufklärung vorweg. Auch das war nichts Neues, sondern lediglich die Fortsetzung der schon unter Psellos vollzogenen Emanzipation der Philosophie von der Vormundschaft des christlichen Denkens. Das Studium des platonisierenden Aristotelikers Plethon verlohnt nicht nur für Fragen der Philosophiegeschichte, sondern erst recht für den, der gewissen Funken nachgeht, die während der Renaissance auf Europa übergriffen. Die neuheidnische Einkleidung der Lehren Plethons ließen es weder im Osten noch im Westen ratsam erscheinen, seine Werke offen zu zitieren. Selbst der prominenteste seiner Schüler, der Kardinal und spätere Titularpatriarch Bessarion, mußte fürs erste schweigen und zeigt damit, daß diese Werke von ihren Lesern nicht nur aus Respekt, sondern aus Vorsicht wie das Schrifttum einer Geheimsekte behandelt wurden, ein Umstand, der die Einsicht in ihre zeitgenössische Bedeutung erschwert. Das Leben Plethons endete wenige Monate vor dem Untergang Ostroms (1452). Das Bekenntnis zum Katholizismus rettete Bessarion nicht nur als Gelehrten und Staatsmann der Kirche vor den Gefahren, denen der Freundeskreis Plethons ausgesetzt war, sondern versah ihn überreichlich mit Geld und Macht. Seine Handschriftensammlungen bilden den Grundstock der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
352
Markusbibliothek von Venedig. Im Jahre der endgültigen Verwirklichung des Planes einer Platonischen Akademie durch Marsilio Ficino (1479) erschien Bessarions Traktat »Gegen die Verleumder Platons«, der die Abrechnung mit den Gegnern Plethons brachte. Der oströmische Staat starb im 15. Jahrhundert den gewaltsamen Tod, zu dem ihn das mit der Ostkirche rivalisierende Christentum westlicher Observanz bereits am Ende des 12. Jahrhunderts verurteilt hatte. Das Urteil war im Jahre 1204 von Henkern aus eigener Vollmacht vollstreckt worden, jedoch ohne endgültigen Erfolg. Die Welt erlebte das Wunder der Palaiologen und nicht nur den grundlegenden Beitrag des Ostens zur Renaissance im Westen, sondern das noch stolzere Versprechen einer genuinen Renaissance im Osten. Das bedeutet keinen Widerspruch zur Tatsache, daß Byzanz einer sogenannten Renaissance überhaupt nicht bedurfte, weil seine Existenz zu allen Zeiten mit einer solchen gleichbedeutend war. Wir umreißen damit lediglich den Beitrag zur Moderne, den der Osten auf zahllosen Gebieten, nicht zuletzt der bildenden Kunst, ankündigte, aber nicht mehr verwirklichen durfte. Den letzten Aufschub des Urteils hatte der Mongolensturm bewirkt. Vergessen wir aber darüber nicht, daß weder die mit knapper Not erreichten Aufschübe der Hinrichtung nach 1204 noch das Jahr 1453 als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
353
endgültiges Todesjahr Ostroms in Tafeln geschichtlicher Vorbestimmung von plethonischer Unerbittlichkeit verzeichnet standen. Verhängnis und Zufall besitzen in gewissen Grenzen einen gewissen Spielraum. Eigentlich endete mit dem Jahre 1204 der fünfte Akt der Geschichte Ostroms. Das Wunder der Palaiologen ging als Zugabe über die weltpolitische Bühne. Die eifrigen Dacapos der Humanisten des erwachenden Europa erschollen weder früh noch wirksam genug, um die getrennten Brüder von Osten und Westen rechtzeitig zur Preisgabe des Eigensinns zu bewegen. Doch ist es mit der Feststellung der Katastrophe von 1453 nicht getan. Ein weiterer Aufschub – und sei es nur um wenige Generationen – lag in der Möglichkeit. In der Geistesgeschichte vor allem der Renaissance hätte der Strom der Wiedergeburt des griechischen Geistes erheblich früher jene Dämme niedergerissen, die den Logos des Abendlandes von der befruchtenden Begegnung mit dem griechischen Ursprung trennten. Die bildende Kunst, das eigentliche Anliegen des Renaissancemenschen, lenkt den Blick auf Bereiche einer noch herberen Tragik. Weder die Theologie eines Gregorios Palamas noch das Hellenentum des Geisteshelden Plethon noch der Wunderquell der Volkspoesie der Türkenzeit können für das entschädigen, was wir an Architektur und vor allem an Malerei Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
353
dank der kraftlosen oder verräterischen Hilfe Europas für seine Südostbastion Byzanz verloren haben. Alles sprach dafür, daß die byzantinische Kunst in jenen tragischen Tagen neuen Höhepunkten zustrebte. Das bezeugen die Wunder von Mistra, erst recht aber die Kontinuität und gleichwohl erstaunliche Lebendigkeit dieser Kunst während eines Jahrtausends. Auch die sichtbaren Schöpfungen gehören zum Geistesleben Ostroms, und sie belegen trotz Stilwechseln und Ablösung gemächlicher und eruptiver Phasen die Existenz eines geisterfüllten und volksnahen byzantinischen Stils vielleicht noch zwingender als die bisher gemusterten Höchstleistungen. Die vielgescholtene, wenn auch immer mehr bewunderte Kontinuität der byzantinischen Geistesgeschichte verfügt, wie wir sahen, gleichwohl über ein Auf und Ab, ja über dramatische Akzente, über berühmte Namen, die häufig genug begegnen, um neben dem zeitüberdauernden Mittelmaß eine lückenlose Kette von Gipfelleistungen dem Gedächtnis zu überliefern. Das gleiche gilt für die bildende Kunst, wenn auch mit dem Unterschied, daß die von der Gesellschaft in der Regel über Maler und Architekten verhängte Anonymität uns eine entsprechende Kette von Werken, nicht von Namen vor Augen führt. Denn es kam nicht auf den Schöpfer, sondern auf den Stifter an, eine Kausalkette, die, je wichtiger das Werk, auf um so kürzerem Wege zum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
353
Kaisertum als der universalen Quelle alles höheren Lebens zurückführt. Trotz der Bescheidenheit ihrer Schöpfer, die man ebenso für gewisse Leistungsschwächen wie für die unbewußte Sicherheit der Form verantwortlich machen könnte, fehlt der oströmischen Reichskunst die Naivität, die etwa die romanische Bauplastik auszeichnet. Hier versteckte man nicht Meisterwerke ohne Rücksicht auf Perspektive, Beleuchtung und Beschauer zum Preise Gottes in unzugänglichen Winkeln. Die führenden Meister und Schulen verfügten vielmehr mit der vom Altertum überlieferten Mathematik, Geometrie und Optik über Methoden, die ihnen gestatteten, mit dem Beschauer nach der Art des barocken Illusionismus umzuspringen. Vielleicht hatten sie noch weniger »Entdeckung« zu fürchten als die Meister des Barock, weil der byzantinische Stil die Natur nicht kopierte, sondern sich absichtsvoll mit Teilresultaten des (so lange von der Forschung bezweifelten) perspektivischen Könnens begnügte. Solche Selbstbescheidung fiel um so leichter, je weniger diese Kunst dem Programm des »offenen Fensters« huldigte: Für sie vermittelt der Rahmen eines Bildes nicht einen Blick nach draußen, einen Ausschnitt der Wirklichkeit, er hat vielmehr die geistige Aussage, den Bedeutungsgehalt dem Beschauer zuzuleiten. Die Perspektive (skenographía) dient weder der Perfektion als Selbstzweck noch dem der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
354
Antike so vertrauten Realismus, sondern sie hat erstens dafür Sorge zu tragen, daß der Bedeutungsgehalt den Beschauer ohne unbeabsichtigte Perspektive Beeinträchtigung erreicht, und zweitens, daß er durch perspektivische Mittel noch gesteigert wird. Die Summe sinnvoller Abweichungen von der perspektivischen Richtigkeit bildet das Geheimnis der byzantinischen Form und ihres vor allem religiösen Wahrheitsanspruchs. Theologie und bildende Kunst wetteifern um die Krone der Veranschaulichung höherer Wahrheiten. Für die nur einzelnen Auserwählten zugänglichen Gipfelleistungen sei der Theologie der Vorrang unbestritten. Um so schwerer wiegt die Leistung der bildenden Kunst für die breite Streuung der von den geistlichen Vorkämpfern dem Jenseits entrissenen Trophäen der Erkenntnis. Was sich zeitgenössisch als Demokratie des Geistes bewährte, schlägt im Gesamtablauf der byzantisch-ostchristlichen Geistesgeschichte alle Mitbewerber um die Palme unaufhörlicher Dauer aus dem Felde. Die Künstler, denen wir den Stil des östlichen Christentums verdanken, verfügten in der Gedankenwelt des Neuplatonismus über den gleichen Verbündeten wie die Theologie. Plotins Gedanken zur Kunstästhetik teilten das Schicksal seinerwerke, die Proklos aus dem Bewußtsein der Gebildeten verdrängte; sie können gleichwohl als symptomatisch gelten. Wir Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
354
finden in ihnen die philosophische Vorwegnahme der Unterdrückung der räumlichen Dimensionen zur Entmaterialisierung der Wirklichkeit, die Verkürzung der Figuren, die Verkehrung der Perspektive und den Gebrauch der Horizontlinie. Platonische Unterströme waren es auch, die Künstler und Intellektuelle in einen Kult der Farbe und des Lichts, der lebendigen Schönheit der Bewegung mitrissen. Wenn diese Kunst sich vermessen durfte, nicht nur das Pneuma des geisterfüllten Menschen, sondern den Heiligen Geist, der aus der Christusgestalt leuchtet, mit irdischen Mitteln sichtbar zu machen, so rührt sie an das Geheimnis der Geheimnisse, das sie gleichwohl den Ärmsten im Geiste begreiflich macht. Doch darf man angesichts der hier angedeuteten theoretischen Möglichkeiten und praktischen Ausübung nicht den gewaltigen Spielraum vergessen, über den die byzantinische Kunst im Laufe ihrer mehr als anderthalbtausendjährigen Entwicklung verfügte. Diese Spannweite reichte von der technischen Perfektion eines erneuerten hellenistischen Illusionismus bis zur hieratischen Starrheit oder akademischen Nüchternheit mönchischer Askese. Der monumentale Porträtkopf des Kaisers Konstantin im Konservatorenpalast, die weit aufgerissenen Augen ägyptischer Mumienbilder der Spätantike und die Philosophie Plotins verraten die Absage jenseitsbezogener Geister an die Lebendigkeit der Antike Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
354
und ihrer Götterwelt, die bereits den nichtchristlichen Monotheismus des 3. Jahrhunderts kennzeichnete. Die Welt entstofflicht sich, ein dramatischer Vorgang, der von der spätrömischen und altchristlichen zur byzantinischen Kunstübung führt. Am Ende der Entwicklung steht der über und über mit Goldgrundmosaiken oder Fresken geschmückte und weithin entmaterialisierte byzantinische Kirchenbau. Die triumphierende Christenwelt bemächtigt sich des antiken Tempels und stülpt ihn gleichsam um. Das Götterbild wird vom Altar verdrängt, an dem sich das Mysterium der Wandlung vollzieht. Die altchristliche Basilika entstand in rascher Improvisation aus vorhandenen Elementen (Marktbasilika, Thronsaal, Synagoge) und rückte zur architektonischen Leitform der Siegerkirche auf. Der Zerfall der Einheit der Mittelmeerwelt beschleunigte die Ausbildung lokaler Varianten der konstantinischen Urform. Trotz der großartigen Stiftungen Konstantins im Heiligen Lande gipfelte die Kirchenkunst des 4. und 5. Jahrhunderts weiterhin im alten Rom. Die syrischen Sonderformen der Basilika standen unter dem Einfluß des Hellenismus. Rückfälle in eine christliche Antike verriet auch die Kunst der Sarkophage. Vor allem die ravennatischen Beispiele zeigen den verhängnisvollen Einfluß des neuen Kunstwollens auf die Reliefplastik. Die oströmische Plastik versucht mit repräsentativen Statuen das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
355
Fludium der christlichen Herrscher und ihrer Beamten einzufangen, doch gehört die Zukunft der Malerei. Die schemenhafte Nachtkunst der Katakomben bevorzugte Symbole und Geheimzeichen. Die Goldmosaiken der triumphierenden Kirche verwandeln die Basiliken in Bilderbibeln des einfachen Mannes, in Demonstrationssäle der Christologie. Es waren nicht so sehr die römischen Prunkbasiliken, die für die Einheit der Reichskunst zeugten, als die Bauten des 5. und 6. Jahrhunderts in Ravenna. Die Erklärung liegt nahe: Die Sprache der Zukunft wurde am Sitz des weströmischen Kaiserhofes und ebenso in der Königsresidenz der germanischen Nachfolger gesprochen. Der Ausstrahlung einer Pulcheria wie der Hofathmosphäre Theoderichs des Großen verdanken wir die intimen Baptisterien und großen Basiliken Ravennas, die der pneumatische Atem der Überwindung und Vergeistigung der Materie durchweht. Wenn die erste Phase der christlichen Reichskunst in den Konstantinsbasiliken, die zweite im Mausoleum der Galla Placidia, im Farbenrausch von Sant' Apollinare Nuovo und im beispielgebenden Zentralbau von San Vitale gipfelt, kann es keinen Zweifel geben, daß im dritten Anlauf das Spektrum der Möglichkeiten voll ausgeschöpft, vielleicht sogar überschritten wurde. Das geschah nicht zufällig im künftigen Zentrum aller Macht, am Sitz des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
355
oströmischen Kaiserhofes. Und es war auch kein Zufall, daß die Sophienkirche Iustinians nur in ihren Bestandteilen, nicht als Ganzes nachgeahmt wurde. Sei es, daß hier demütige Bescheidung der Nachwelt oder ein absichtliches Tabu gegenüber der heiligen Erzkirche des Reiches und Palastkirche des Kaisertums waltet: Erst die Osmanen ahmten den Gesamtbau der Hagia Sophia nach und übertrafen sie zumindest äußerlich. Aus der theologischen Senke des iustinianischen Zeitalters steigt die religiöse Architektur zu ihrem Gipfel auf: nicht der einzige Beitrag der byzantinischen Kunst zur Unmittelbarkeit der Epochen zu Gott. Die Ekphrasis Prokops und das Gedicht des Paulos Silentiarios beweisen, daß die Zeitgenossen das Werk ästhetisch zu würdigen verstanden. Neben den Farben- und Lichteffekten legen sie das Hauptgewicht auf die magischen Wirkungen einer angewandten Mathematik, die Isidor von Milet als Schüler des Altertums meisterte. Schon der ersten Generation der Betrachter schien die Kuppel am goldenen Seil zu schweben, da es dem Meister gelungen war, die verräterischen Zeugen der Schwerkraft förmlich hinwegzuzaubern. Im Dienste der Überwirklichkeit des Mysteriums wurden die Grenzen zur Unwirklichkeit überschritten. Das galt freilich nur für den Innenraum. Die Rückentwicklung des Außenbaus zur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
356
reichgegliederten Tektonik der Antike blieb der Zukunft überlassen. Hier lag mit der von Prokop übergangenen Rivalin der Sophienkirche, San Vitale von Ravenna, der Westen in Führung. Ihm verdankt der Osten vermutlich die Wölbungstechnik, die seit den Kathedralen Iustinians die oströmische Architektur kennzeichnet. Der trotz des Zentralbaus beibehaltene basilikale Grundriß unterstreicht den magischen Neuerungen zum Trotz einen reichsrömischen Konservatismus, der als Basilika alten Stils auch in den Balkanprovinzen weiterleben sollte. Als die zweite, dafür aber stärker schulbildende Spitzenleistung Iustinians in Konstantinopel stellt sich uns die Apostelkirche dar, die von den Osmanen abgerissen, gleichwohl in der Johanneskirche von Ephesos, vor allem aber in der Markuskirche von Venedig weiterlebt. Wir fassen darin eine Vorform der späteren Kreuzkuppelkirchen, die sich sowenig wie die eigentlichen Kuppelbasiliken Iustinians (St. Irene) vom überlieferten Grundriß löst. Namentlich die kleineren Kuppelkirchen dieser Zeit (St. Sergius) belegen ihre Übernahme aus der profanen Palastarchitektur römischer Provenienz. Die vorbereitenden Leistungen und das Vorprellen der Architekten Iustinians treffen sich gleichsam auf mittlerer Linie in der Kreuzkuppelkirche der mittelbyzantinischen Ära. Dieser Punkt wird mit der »Neuen Kirche« (Nea) Kaiser Basileios' I. (867-886), des Begründers Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
356
der mazedonischen Dynastie, erreicht. Die Steigerung der konstruktiven Wechselbeziehungen aller Bauteile beruhigt sich endlich im Superlativ der bis in den letzten Winkel ausgemalten Innenräume, die dem optisch-musikalischen Gesamtkunstwerk der Liturgie als Schauplatz unaufhörlicher Apotheosen dienen. An der Kontinuierlichkeit dieser Entwicklung änderten die »dunklen Jahrhunderte« des Existenzkampfs und der Bürgerkrieg des »Bilderstreits« so gut wie nichts. Eher könnte man sagen, daß islamische Bedrohung und Sozialunruhen sogar im Bereich der bildenden Kunst als anfeuernder Stachel wirkten. Sosehr die Verluste der Malerei durch den Bildersturm zu beklagen sind, sowenig läßt sich die Befruchtung der Ornamentik, der weltlichen Kunst, aber auch ein neues und tieferes Verständnis der religiösen Malerei als Resultat der Kämpfe leugnen. Zum attischen Salz der Krise gehört, daß gerade das Proletariat, dem der soziale Umschwung zugute kommen sollte, den Bildern auf Tod und Leben ergeben war. Dafür griffen die Patrioten in ihrem Kampf gegen die soziale Hydra auf Vorstellungen des Landesfeindes zurück und handelten sich den Spitznamen »Sarazenen« ein. In der Tat bedeutet das Wechselfieber des Bilderstreits nichts anderes als eine Ansteckung des Orients an sich selbst. Der Alte Orient, der unter dem hellenistischen Stuck der Kernlande Ostroms schlummerte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
356
gewann in einem Ausbruch neue Virulenz. Der Osten der Christenheit sah sich plötzlich mit einem verspäteten Heilfieber des echten Orients gegen die halb vergessene, aber um so heftiger im Untergrund wirksame Götzenwelt Babylonien-Assyriens und Ägyptens konfrontiert. Die Krise der jüdisch-islamischen Bilderstürmerei mobilisierte die griechische Abwehr und festigte das neuplatonische Verständnis der religiösen Kunst. Schon in iustinianischer Zeit hatten die »nicht von Hand gefertigten« Bilder Christi eine Macht bedeutet, die der späteren Herrschaft der Ikone vorarbeitete. Mit dem Sieg der Bilderverehrer schwanden die letzten Zweifel an den Qualitäten der Ikone, die schon dem »abtrünnigen« Überchristen Julian geläufig waren, der das Gottesbild definiert: weder Holz noch Stein noch der Gott selbst. Vielmehr ein Bild, ein Symbol, dessen Verehrung auf den Prototyp übergeht, wie es die Parteigänger eines Theodor von Studion formulierten. Zu der neuen Vergeistigung und Intensität trat nun der enzyklopädische Drang nach der Versinnlichung des religiösen Kosmos in den Kirchenräumen. Die großen Zyklen der Malerei, die solche Baugesinnung und ihren eigentümlichen Horror vacui verraten, überdauerten den Untergang Ostroms vor allem in Griechenland und den Balkanländern: Hosios Lukas, Nea Moni und Daphni, um nur die wichtigsten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
357
griechischen Zentren zu nennen. Sie sind Zeugnisse einer repräsentativen Reichskunst mit ihren Strömungen und Schulen, mit ihrer unleugbaren Entwicklung von einer mehr hieratischen zu einer schönen und rhythmisch lebendigen, immer aber geisterfüllten Beseeltheit im Sinne der pneumatischen Theologie. Die technischen Hilfen, die das Altertum gab, wurden immer stärker in Anspruch genommen, eine Entwicklung, die sich namentlich an der Buchmalerei ablesen läßt. Einen frühen Höhepunkt der neuen Aneignung des Altertums bedeutete das Zeitalter des Kaisers Konstantinos VII. Porphyrogennetos. Der Samen, der von den esoterischen Hofkreisen jener Tage gesät wurde, trug in der Großkunst der Komnenen und Palaiologen reiche Frucht. Wie neben der offiziellen Theologie aller Zeiten die Volksdämonologie, so verläuft neben der höfischen Reichskunst, die vor allem in den kaiserlichen Stiftungen brilliert, aber sich selbstverständlich auch in die Kultstätten von lokaler Bedeutung weiterverbreitet, ein untergründiger Strom erheblich derberer Mönchskunst, die wir die kappadokische nennen, weil der Zufall dort die reichsten Zeugnisse auf unsere Tage gerettet hat. Den Durchbruch brachte die Entdeckung der Höhlenklöster Kappadokiens, doch konnte man sich bald davon überzeugen, daß es ähnliche Monumente in den Latmoshöhlen bei Milet, auf Cypern und in der Grabkirche von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
357
Hosios Lukas, vor allem aber im byzantinischen Unteritalien gab. Und nicht nur die Fresken von Nea Moni zeigen, wie lebhaft die Auseinandersetzung zwischen der konservativen Mönchskunst und der »modernen« Renaissancebewegung sein konnte. Die in der feindlichen Umwelt rührend anmutende Palaiologenblüte setzt das Wunder der Komnenen, ja der gesamten oströmischen Reichskunst fort. Kreuzzüge und Islam eröffneten eine Ära weltweiter Begegnung, die in Sizilien ihre Triumphe und noch in den Palästen Venedigs ihre Spätblüte feiern sollte. Die Einflüsse von außen sind kaum zu zählen. Die umfassendsten Eindrücke vermittelt das Bergstädtchen Mistra oberhalb Spartas, ein byzantinisches Pompeji. Die Vorhalle der Pantanassakirche mutet wie eine Loggia, der Glockenturm wie ein Campanile an. Und doch verarbeitet die Palaiologenkunst alle Einflüsse, auch die des Islam, zu unverwechselbar byzantinischen Schöpfungen. Erst jetzt gewinnen die Bauten den unerhört verfeinerten Charakter von Reliquiaren. Erst jetzt verzichtet diese Kunst auf die rauhe Schale, die selbst das Raumwunder der Sophienkirche noch verbirgt. Das Äußere spiegelt den tektonischen Aufbau der Kreuzkuppelkirchen und nicht nur dieser bis ins letzte. Die Tamboure der Kuppeln gewinnen an Schlankheit, das Dach schwingt mit chinesischer Eleganz in Kurven, die dem Bogenschwung der Fenster Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
357
und Lisenen folgen. Die Stein- und Ziegelalteration besiegt mit ihrer rhythmischen Folge die Schwere. Die eigentlichen Triumphe feiert der neue Stil in den Kunstprovinzen der polychromen Ziegelornamentik und Glasur. Die rätselhafte Palastanlage Konstantinopels, der Teldur Serai unweit der Mauer (13. Jahrhundert), liefert das historisch wichtigste Zeugnis. Die schönsten Beispiele finden wir in Mesembria, einer Halbinsel Südbulgariens, mit der polychromen Fassade der Johannes-Aleiturgitos-Kirche (14. Jahrhundert). In nationaler Abwandlung steigert sich der byzantinische Farbenrausch bis zu den bunten Fassaden serbischer Kirchen nach dem Muster von Kruschewatz (14. Jahrhundert) und Kalenitsch (15. Jahrhundert). Die äußersten Konsequenzen zieht dann die rumänische Kirchenkunst, die der Malerei den Weg zur Eroberung der Außenflächen freigibt. Die Malerei der Palaiologenzeit verrät vielleicht am deutlichsten die modernen und gleichzeitig antiken Tendenzen. Ihren vielfältigen Strömungen kann hier nicht nachgegangen werden; genug, daß gewisse Werke den Beschauer geradezu brutal mit dem Verlust konfrontieren, den die Beschränkung der Renaissance auf Italien, Mittel- und Westeuropa bedeutet. Weder das bläßliche Griechenbild Winkelmanns noch der wiedererstandene Nationalstaat des 19. Jahrhunderts konnten die in solcher Kunst und in Männern Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
358
wie Plethon angedeutete Entfesselung der geistigen Gewalten einer rechtzeitigen gräkobyzantinischen Wiedergeburt ersetzen. Das einseitige Lateinertum der westlichen Renaissance und der Schnitt durch die byzantinischen Wurzeln des neugriechischen Volkes waren der Preis für die Überflutung Ostroms durch die Türken. Der Maler El Greco, den der Westen trotz seines Namens gedankenlos usurpiert, vermag eine geringe Vorstellung von der Quellkraft des östlichen Samens zu erwecken. Es ist ohnehin verdächtig, daß das letzte Jahrhundert der oströmischen Kunst das fruchtbarste war, ganz zu schweigen von der bis zum heutigen Tage noch nicht gebrochenen Nachwirkung der Ikonenkunst. Freilich bestätigt ein Name vom Range des Erbauers der Sophienkirche, Isidor von Milet, bis zum letzten Atemzug Ostroms nur die Regel der Anonymität der Künstler. Wer den Höhepunkt der Palaiologenkunst im Schaffen Theophanes' des Griechen für Rußland erblickt, der stellt nur einen der Namen ins Rampenlicht, die eine östliche Renaissance unsterblich gemacht hätten. Die Erklärungsversuche der trotz der Okulierung des Slawenstamms paradoxen Kraft der Nachwirkung Ostroms befriedigen weder mit nationalem noch mit religiösem Akzent, am ehesten noch als die Unio mystica der griechischen und der christlichen Entelechie. Die novellistische Erzählkunst der Malerei der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
358
Komnenen- und Palaiologenzeit schwelgt in den gewagtesten Effekten der Optik und Perspektive und übersteigert sich in einem Farbenrausch, der an Expressionismus und abstrakte Malerei gemahnt. Der Einfluß der zeitgenössischen Geistesströmungen, des Hesychasmus und des Neuplatonismus von Mistra, harrt noch der Erforschung. Die immer moderner anmutende rhythmische Bewegtheit erfährt in der Farbenharmonie eine Steigerung, die über alle Grenzen der Kategorien hinweg der Sphärenmusik Platons zustrebt. Dem wohl alles andere als unbewußten Platonismus dieser Kunst fliegen expressionistische Funken aus der Mystik des Berges Athos zu. Die Lichteffekte der Peribleptosfresken von Mistra und erst recht die »Rembrandttechnik« Theophanes' des Griechen in der Verkündigungskirche von Nowgorod weisen in die Richtung jener Lichtmystik, die Evagrios Pontikos und Symeon der Neue Theologe weder begonnen noch abgeschlossen hatten. Auch der Hesychasmus bedeutet nur den Höhepunkt, nicht das Ende religiöser Erfahrungen, die nach ihrem Mißbrauch als Sensation in den Schoß der östlichen Mystik zurückkehrten. Wie der Expressionismus den Schwung der serbischen Fresken von Sopotschani, so setzen die Lichtorgien El Grecos und anderer Meister des Westens das »hesychastische« Programm der oströmischen Lichtekstatik fort. Die wichtigste Erfahrung, die dem Betrachter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
359
etwa vor einem späten Fresko des Nationalmuseums Sofia, in der spätbyzantinischen »Gemäldegalerie« von Mistra und wo immer in die Augen springt, bleibt fraglos die Einsicht in gewisse michelangeleske Ansätze der byzantinischen Kunst, die ihren Untergang noch schmerzlicher machen. Wir versuchen noch weiteren Abstand von den Einzelheiten des oströmischen Lebens zu gewinnen. Trotz Iustinian bedeutete das Ende der Einheit der Mittelmeerwelt die Geburt des Oströmischen Staates. Konstantinopel trat zunächst als neues Rom und neues Alexandreia in die Arena der Geschichte. Über Rom als die Stadt der Cäsaren bedarf es hier keines Wortes, allenfalls über Alexandreia, die Schöpfung Alexanders des Großen und heimliche Hauptstadt Caesars. Nach der Spaltung des Mittelmeers, gegen die Iustinian noch erfolgreich aufzubegehren schien, folgte als zweiter Schritt der Schrumpfungsprozeß des Hellenismus im Ostmittelmeerraum. Städte wie Alexandreia und sogar Antiocheia enthüllten sich als Wachstumsspitzen Europas auf verlorenem Posten, Konstantinopel trat offen ihre Nachfolge an. Das gebirgige Kleinasien bewährte sich als Rückzugsgebiet, unterstützt durch den noch unzugänglicheren Kaukasus. Dagegen bewies das Gebirge im südosteuropäischen Bereich seine auflösende Kraft zumindest an der politischen, wenn auch nicht an der kulturellen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
359
Erscheinung Ostroms. Gleichwohl wirkte Konstantinopel in der Auseinandersetzung mit den Arabern als ein Magnet, der, aus den Energien des hellenistischen Kleinasien gespeist, immer noch die Kraft hatte, Europa und Asien zu verklammern. Die halbkolonialen Vorstöße, die Iustinian noch einmal in den Westen unternommen hatte, hinterließen nach dem endgültigen Zusammenbruch der Weltreichspläne immerhin eine Brücke von Inselpfeilern und Küstenpositionen, die dem Handel zustatten kamen. So strömten die Schätze der Welt in die einzige Großstadt des Mittelalters. Welch ein Widerspruch zwischen der militärisch-handelspolitischen Gunst und der weltpolitischen Ungunst der Lage Konstantinopels. Von den Wehrtürmen seiner dreifachen Mauer herab bezeigt die Stadt dem Lande, der Staat den Barbaren eine Verachtung, in der sich extreme Hybris mittelalterlicher Festungsbauer und das Vertrauen auf die »lebende Mauer« – und sei es einer Söldnerarmee – seltsam mischen. Am meisten überrascht die Unbekümmertheit, mit der man die exzentrische Lage eines solchen Weltreichszentrums hinnahm, vor dessen Toren sich schon im goldenen Zeitalter Iustinians die Barbaren tummelten. Kemal Atatürks Eingebung, die ihm gebot, sich inmitten Kleinasiens zu verschanzen, war für die Kaiser Ostroms offenbar unvollziehbar. Konstantinopel ragt als Denkmal der Treue zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
359
dem. Gesetz, nach dem die altgriechischen Kolonisten von Byzantion angetreten waren, es bezeugt die griechische Symbiose mit dem Meer. Thessalonike, die zweite Stadt des Reiches, sollte in dem schmalen Uferstreifen, der Byzanz verblieb, ähnlicher Unsicherheit ausgeliefert sein. Das lateinische Kaisertum und die fränkischen Herrschaften konnten es nicht einmal mit dem sterbenden Byzanz aufnehmen. Die Kaiser geboten als koloniale Vorreiter des venezianischen Imperiums über einen schmalen Küstenstaat, während die unbotmäßigen Feudalherren die geographische und politische Zersplitterung Griechenlands betrieben. Für das Restbyzanz von Nikaia war es bezeichnend genug, daß seine Hauptstadt so nahe wie möglich an Konstantinopel heranrückte. Noch einmal gönnte die Geschichte den Byzantinern Wiedervereinigung der Staatstrümmer und Heimkehr der Vertriebenen. Aber gleichzeitig schwanden die Reste des Hellenismus von Kleinasien wie Schnee an der Sonne. Und das nur scheinbar Paradoxe geschah: Griechenland, das mehr als ein Jahrtausend geschwiegen hatte, besann sich in einem ergreifenden Nachglanz der Größe und in der Vorahnung der Wiedergeburt auf seine europäische Rolle. In der Initiative Mistras steckt der Versuch einer Verlagerung des Schwerpunkts von der hoffnungslos gewordenen Position Konstantinopel nach dem Westen zurück. Der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
360
Kreis hatte sich geschlossen, Konstantins stolze Gründung konnte nur noch vom alten Rom, von Italien her gerettet werden. Die wirtschaftlichen Ursachen solcher Gewichtsverlagerungen konnten nur angedeutet werden. Schon die Begleiterscheinungen des Arabersturms könnten Bände der Wirtschaftsgeschichte, nicht zuletzt der jüdischen, füllen. Der Verlust Kleinasiens und die westlichen Erpressungen zeitigten schon im 11. und 13. Jahrhundert die Vorboten tiefgreifender Änderungen der wirtschaftlichen Struktur. Man exportierte statt der gewohnten Fertigerzeugnisse Getreide nach Italien. Die berühmte Kleinkunst der Konstantinopler Werkstätten starb nicht aus, erlitt aber Substanzverluste durch Abwanderung nach Griechenland und Italien. Die Feudalisierung verbreiterte die Möglichkeiten der Provinzen. Wir erinnern uns der gespenstischen Szene, die Ammianus Marcellinus beschwor: Sein Constantius trat in den Provinzen als Gottkaiser, im Weichbild Roms als jovialer Senator auf. Die Spätzeit Ostroms kehrte auch dieses Verhältnis um: Der kaiserliche Feudalherrscher betrachtet sich in seiner Hauptstadt bis zum letzten Atemzug als Träger der Weltherrschaft. Für die Magnaten der Provinz bedeutet er bestenfalls den Primus inter Rares. Je kleiner Ostrom wurde, desto verwickelter lagen seine Probleme. Der Vorgang der Schrumpfung und die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
360
Zersplitterung als Erbschaft der Franken führten eine Ära der Atomisierung aller Macht herauf. Also trägt nicht nur die zeitliche Nähe, sondern auch die von den Zeitgenossen freilich unbewältigte Kompliziertheit der Verhältnisse zur Fülle der Überlieferung bei. Wie verhalten sich äußere Macht und geistige Schöpferkraft der byzantinischen Elite am Anfang und am Ende des Reiches? Über die Konsequenz, mit der ein zum Tode verurteilter Liliputstaat das Erbe Roms und des Hellenismus schöpferisch verwaltete, kann man nur staunen, selbst wenn Rußland und Balkan als Resonanzboden berücksichtigt werden. Das Verhältnis oder, wenn man will, das Mißverhältnis zwischen Körper und Geist nahm bestürzende Ausmaße an. Gewiß gehört nicht alles der Gegenwart der letzten Tage von Byzanz an. Die Welt der Oströmer verfügte über einzigartige Bestände für geistige Mangeljahre. Schwunderscheinungen, Leistungsabfall konnten durch den Rekurs auf die Antike ausgeglichen werden. Man hat darunter nicht nur die Bibliotheken und ihre Manuskripte zu verstehen, sondern erst recht die Menschen mit ihren Anlagen, unter denen das sprachliche Erbe und die Traditionen der bildenden Kunst an erster Stelle stehen. Wer schwankt, ob es Italiener waren, die das beste Mittelund Neulatein schrieben, sieht sich bei den Byzantinern jeden Zweifels enthoben, denn sie hatten als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
360
Meister des Griechischen keine Konkurrenz. Auch aus diesem Grunde war hier der Rekurs auf die Antike nicht nur Brücke, Lückenbüßer, sondern Leistung von Rang und Wert für die eigene Sache und die Welt. Die Griechen verstanden wie wenige die Zeit zu relativieren. Die »Gleichzeitigkeit« eines Julian Apostata und Plethon beweist es zur Genüge. Nicht nur die Historiker, die gesamte Kultur der Byzantiner wetteiferten mit der Kontinuität, in der Kunst übrigens auch mit der Eleganz der Chinesen. Am erstaunlichsten berühren so unzusammenhängende Ausbrüche griechischer Schöpferkraft wie die homerischen Epen, Digenis Akritas im Mittelalter und die Volkskunst der Klephtenlieder aus der Türkenzeit. Die »Philosophie« der Ostkirche überspannte die Jahrtausende als eine nicht nur für die Gebildeten bestimmte Brücke zwischen Antike und Gegenwart. Mit den Theologen, Gelehrten und Künstlern wetteiferte das Volk, das weder den Rhythmus der altgriechischen Lieder noch die Naturgeister der Frühzeit völlig vergessen hat. So war es den Griechen beschieden, im Altertum den Wechsel in der Dauer, in ihrer »byzantinischen« Verkapselung die Dauer im Wechsel jeweils bis zum Extrem der geschichtlichen Möglichkeit zu verkörpern. Und wir fragen zum letztenmal: Welchen entscheidenden Dienst hat Byzanz der Weltkultur geleistet? Gewisse pedantische Antworten der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
361
Schulmeister, die sich mit Grausen von einer Epoche abwandten, in der apó den Akkusativ regieren konnte, sind längst dem verdienten Gelächter überliefert. Von der Ikonenmode der Gegenwart wäre eher das Gegenteil, eine mystisch beweihräucherte Überschätzung zu befürchten. Die Rolle des byzantinischen Staates als Südostbastion Europas ist unbestreitbar. Man sollte sie nicht Vergötzen, da Byzanz seine Rechtfertigung in sich selbst trägt. Zu den moralischen Leistungen Ostroms gehört die Integrität seiner Herrscher, die trotz gewaltiger Versuchungen relative Seltenheit totalitärer Willkürherrschaft. Im funkelnden Panzer des christlich-römischen Reichsgedankens offenbarte sich die sichtbarste, nicht die einzige Verklammerung der auseinanderstrebenden Mächte zu Einheit und Dauer. Der Alte Orient und Völker der Vorzeit wie die Illyrer und Thraker trugen ebenso anonym wie folgenschwer zur oströmischen Synthese bei. Was germanische und andere Reisläufer für Gesamtrom, bedeuteten Slawen, Hunnen und Waräger für Ostrom. Auch die Grenzen zu den Arabern und Türken erwiesen sich als durchlässig für Volkskräfte und Völkergeist. Bei den Slawen und Armeniern fand der griechische Samen den fruchtbarsten Boden. Darüber darf man Ostroms Beitrag zur »christlichen Häresie« des Islam und die persisch-hellenistischen Vorzeichen der arabischen Kultur nicht übersehen. Im Altertum hatten die Hellenen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
361
vergeblich mit der romanisierenden Kraft der Römer zu wetteifern versucht. Unter »oströmischem« Vorzeichen setzte sich die assimilierende Kraft der Griechen politisch und kulturell um so widerspruchsloser durch. Mit der römischen und christlichen Verankerung des Reichsgedankens stellten die Herrscher Ostroms ein Vorbild für jede Umsetzung konservativer Werte in die Wirklichkeit. Die anspruchsvolle Demut ihrer Kunst der Menschenführung blieb unerreicht. Die Vielfalt der Facetten ihrer Traditions- und Geistverbundenheit war vielleicht nur an der Nahtstelle von Orient und Okzident möglich. Gleich welcher Herkunft, verkörperten sie ein Rhomäertum, dessen nationalgriechischer Kern sich im geschichtlichen Erosionsprozeß der Weltreichshybris immer deutlicher enthüllte. So wird die Antwort auf die Frage nach der eigentlichen Leistung Ostroms vermutlich eine griechische Antwort sein. Am hartnäckigsten hat das geistige Erbe Ostroms die Zeiten überdauert, wo es dem Geheimnis des griechischen Geistes am nächsten kam. Um die Palme ringen die byzantinische Kunst mit ihrer Welt der unverwechselbaren Zeichengebung und eine Theologie, die das griechische Abenteuer des Geistes fortsetzte. Noch in den Visionen Dostojewskijs spüren wir das Wetterleuchten der geistigen Eruptionen der byzantinischen Mystik. Wer die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
362
Aussagekraft der spontanen und weltüber bezeugten Gottbegeisterten der Mystik für gegebene Räume bezweifelt, fasse die offizielle Theologie der Byzantiner ins Auge. Die Dogmatik des Johannes von Damaskus belehrt uns über die Durchschnittslehre, das allgemein Anerkannte in der Gottsuche der östlichen Christenheit. Der Kirchenlehrer verschmäht nicht die Sprache der Skeptiker und Agnostiker, um die Bescheidenheit als erste Pflicht des Geistes anzurufen. Er beginnt den Versuch einer Aussage über Gott mit negativer Theologie, denn es ist leichter zu sagen, was Gott nicht ist. Aber dann folgen begriffliche Qualifikationen Gottes, an denen Jahrtausende gearbeitet haben. Die griechische und die christliche Philosophie begegnen sich im Bemühen um das Verständnis der Unkörperlichkeit Gottes, der negativ als ungeschaffen, unsichtbar, ohne Anfang und Ende gedacht wird und der dem positiven Verständnis Begriffe wie das Ewige, Immerwährende, Unwandelbare, Unendliche, Uneingeschränkte als geistige Hilfen leiht, die über die Schriftaussage hinausführen. Der byzantinische Thomas von Aquino warnt die Welt: Überschreiten wir die ewigen Grenzen nicht, die der Erkenntnis gesteckt sind. Eine solche Distanzierung vom Fortschritt um jeden Preis entspricht der kostbaren Keuschheit, die das Altertum von ernsthaften Versuchen der technischen Anwendung der Mathematik zurückhielt. Die antike Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
362
Philosophie und die östliche Theologie seit Origenes teilen sich den Lohn der griechischen Keuschheit: Die Fähigkeit zur Eroberung von Erkenntnissen ohne Apparaturen, die Kraft des reinen Denkens. Vergessen wir nicht, daß am Vorabend der Moderne auch Griechen bereitstanden, um diese Kraft an den neuen Fragen des Menschengeistes zu erproben. Das geschichtliche Verhängnis, das über Ostrom waltete, hat nicht zuletzt den Beitrag des griechischen Geistes zum Zeitalter der Naturwissenschaft vereitelt. Er wäre kaum so verhängnisvoll ausgefallen wie der Beitrag der »keuschen« Theologie zum Untergang Ostroms.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Berthold Rubin: Byzanz
Anhang: Abbildungen ¤ Ein byzantinischer Kaiser als Sieger über die Barbaren und als Schirmherr der Zirkusspiele. Elfenbeindiptychon, um 500. Paris, Louvre ¤ Das Heils- und Glaubenszeichen des Christentums. Goldschmiedearbeit für Kaiser Justinus II., um 570. Città del Vaticano, Tesoro di S. Pietro ¤ Das bulgarische Zarenpaar Konstantin Asen und Irene. Wandgemälde eines Künstlers der Schule Tirnovo im Narthex der Kirche in Bojana, 1259 ¤ Segelschiff. Bemalte Tonschale von der Peloponnes, 13. Jahrhundert. Korinth, Museum ¤ Leon V. auf der unter Vorsitz des Patriarchen Theodotos Melissenos abgehaltenen Synode von 815 zur Wiederaufnahme der bilderfeindlichen Konzilbestimmungen des Jahres 754. Randminiatur auf einer Seite im Psalter Barberini. Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Berthold Rubin: Byzanz
¤ Byzantinische Nischengräber an einer Straße in Syrakus, einem der westlichen Reservate emigrierter Bilderverehrer ¤ Das Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna. Blick in das Innere des kreuzförmigen Zentralbaus, zweite Hälfte 5. Jahrhundert
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
337
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
Herbert Grundmann
Über die Welt des Mittelalters
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
363
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
365
»Mittelalter« und »Weltgeschichte« Wie einfach, wie gradlinig sah sich der Lauf der Weltgeschichte an für Europäer, die aus ihrer »Neuzeit« stolz oder wehmütig zurückblickten über ein »Mittelalter«, das ihr voranging, mißachtet oder romantisch verklärt, auf das »Altertum«, in dem fast alles zu beginnen schien, was denkwürdig und vorbildlich noch weiterwirkte: das philosophische Denken und die Wissenschaften, die Künste und die Literatur in den noch immer geschriebenen und lesbaren, nicht erst zu entziffernden Schriften, auch die Staatskunst und Staatslehre, nicht zuletzt die wahre, monotheistische, christliche Religion und Kirche. Das »klassische Altertum«, aus dem alles das kam, mochte »Vorstufen« gehabt haben im Orient, in Ägypten, Babylon, Palästina. Mancherlei war gewiß von dort zu den Griechen gekommen, von ihnen an die Römer weitergegeben worden. Auch Überlieferungen aus germanischer Heidenzeit, aus antiken Autoren bekannt, mochten sich dann mit griechisch-römischem und christlichem Erbe verbunden haben. Der »Strom der Geschichte« hatte wohl verschiedene Quellflüsse, er hatte auch Nebenflüsse, »Einflüsse« unterwegs. Aber er schien im ganzen überschaubar wie ein Flußnetz, stetig zurückzuverfolgen bis zu den Ursprüngen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
365
unaufhaltsam in zeitweise ruhigem, manchmal gestautem, dann wieder strudelndem Gefälle gleichsam durch wechselnde Landschaften auf uns zufließend: aus dem Vorderen Orient, dem Zweistrom- und dem Nil-Land in die Mittelmeerländer, erst nach Griechenland mit seinen kleinasiatischen und süditalischen Kolonien, dann nach Rom und in seine Provinzen rings ums Mittelmeer, bis sich der Hauptstrom der Geschichte nach den Strudeln und Wirbeln der »Völkerwanderung« auch über die römischen Reichsgrenzen hinweg in alle europäischen Länder ergoß und von da aus schließlich in die »überseeischen« Länder, die Erde umspannend, die man gern »die Welt« nennt, zur »Weltgeschichte« geworden, als ob er damit ins weite Meer mündete. An manchen Wendepunkten oder Katarakten schien dieser Fluß, durch neue Einflüsse verändert und verstärkt, einen neuen Namen zu verdienen und sich danach gliedern zu lassen, etwa wie der Rhein in den Ober-, Mittel- und Niederrhein: so ähnlich unterschied man das Altertum, das Mittelalter, die Neuzeit voneinander, wenn auch nicht immer ganz einig darüber, wo und wann und warum das eine aufhörte, das andre begann, welche Gestalten, Werke, Ereignisse »noch« ganz antik, »schon« mittelalterlich oder bereits gegenwartsnäher »modern« wirkten auf den Betrachter, der wie vom Ufer aus diesem vorübergleitenden, weitereilenden Strom der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
366
Geschichte glaubte zuschauen zu können, als triebe er nicht selbst in ihm. Bei näherem Zusehen mußte er statt scharfer Epochengrenzen allmähliche Übergänge und »Übergangszeiten« zugestehen, zumal so viel Antikes durch das Mittelalter in die Neuzeit überging oder unterwegs wieder zutage kam, aufgegriffen wurde und weiterwirkte. Ihre »Kontinuität« aber schien die Geschichte, trotz vieler Wandlungen, über alle Epochengrenzen hinweg zu wahren, nie ganz zu unterbrechen oder immer wieder herzustellen. An diesem Gesamtbild der Weltgeschichte, wie es noch Leopold von Ranke (gestorben 1886) in seinem unvollendeten Alterswerk darstellte, ist man seitdem irre geworden. Nicht nur hat sich der Blick geweitet nach rückwärts auf viel ältere Zeiten der »Vorgeschichte«, nach außen auf fremde Kulturen mit eigener Geschichte weit abseits von jenem Flußsystem, in das sie nicht einmündet, ehe es ins Weltmeer der Gegenwart verströmt. Auch den Europäern selbst gilt ihre vermeintliche »Neuzeit« seit der Renaissance und Reformation oder den »Übergangszeiten« vor- oder nachher nicht mehr einhellig als Beginn ihrer eigenen Zeit; sie konnten bereits rückblickend vom »Ende der Neuzeit« sprechen (Romano Guardini), ja »Abschied von der bisherigen Geschichte« nehmen (Alfred Weber), sei sie beendet durch ein »neues Mittelalter« (Nikolai Berdjajew) oder durch eine »neueste Zeit«, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
366
durch die »Zeitgeschichte«, die »histoire contemporaine« nach der »histoire moderne«, durch »die Welt von heute«, wie sie der zehnte Band dieser Propyläen-Weltgeschichte darstellt: ein geschichtlicher Neubeginn, »wie er nur alle fünf- oder zehntausend Jahre vorkommt« »eine der ganz großen Kulturschwellen in der Geschichte der Menschheit« (Hans Freyer). Schrumpfen aus dieser Sicht nicht die Unterschiede zwischen früheren Epochen zusammen? In der hier nunmehr vorliegenden »Universalgeschichte« trägt denn auch kein Band mehr wie bisher in ähnlichen Werken den Titel »Altertum« oder »Mittelalter« oder »Neuzeit«. Nur im fünften Band, der neben dem Islam »Die Entstehung Europas« behandelt, behauptet sich in der Überschrift zweier Beiträge (von F. L. Ganshof und A. Borst) noch das Wort »Hochmittelalter«. Doch welchen Sinn hat es, wenn es nicht mehr zwischen einem Früh- und Spätmittelalter und mit beiden in der Mitte zwischen einem Altertum und einer Neuzeit steht? Statt dessen heißt nun der dritte Band »Griechenland – Die hellenistische Welt«, der vierte »Rom – Die römische Welt«, der letzte »Die Welt von heute«, und in der Einleitung zum fünften Band ist auch von der »mittelalterlichen Welt« und ihrer Andersartigkeit die Rede. Ist uns die »Weltgeschichte« zu einer Abfolge von verschiedenen, eigenartigen »Welten« geworden, die nur nebenDigitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
366
oder nacheinander vergleichend zu beschreiben sind wie getrennte Erdteile, allenfalls durch Landbrücken verbunden wie Nord- und Südamerika oder Afrika und Asien, nur ausnahmsweise ineinander übergehend wie Asien und Europa, schwer genau abzugrenzen und doch unterscheidbar? Schon vor fünfzig Jahren hielt Oswald Spengler das herkömmliche Bild der kontinuierlichen Weltgeschichte für hinfällig und sah statt des einen stetig weiterfließenden Stroms eine Folge von »Kulturen« aus eigenem Keim pflanzenhaft wachsen, blühen, welken, fast beziehungs- und verständnislos untereinander; und für Arnold Toynbee löst sich die überschaubare Geschichte in eine noch größere Zahl von civilizations oder societies auf, die immer wieder vor ähnlichen Aufgaben stehen, sich daran erproben und entfalten und sie doch nicht bewältigen, wenn nicht diese vielgliedrige Kette schließlich gesprengt wird – durch den Glauben. Anderen Betrachtern ist wenigstens das »europazentrische Geschichtsbild« fragwürdig und verdächtig geworden, das alle frühere Geschichte auf Europa zugehen sieht; sie bemühen sich selbstlos um eine Art Vogelschau rings über und um den Erdball, als müßte auch dem Historiker eine nicht perspektivisch vom eigenen Stand- und Zeitpunkt bedingte, gleichmäßige Übersicht möglich sein, wie sie den Geographen seit vierhundert Jahren gelang. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
367
Dem Geographen konnte der Blick sich entgrenzen und unbefangen rings um die ganze Erde gehen, seit sie – von Europa aus! – rund herum entdeckt und bekannt ist; die letzten weißen Flecke auf der Land- und Erdkarte konnten wenigstens vom Flugzeug aus photographiert werden, wie nun auch schon der Mond. Kann aber je auch die Zeit, in der sich menschliche Geschichte auf dieser Erde abspielt, gleicherweise als Ganzes überschaut werden? Selbst wenn die Anfänge menschlicher Frühkultur und Vorgeschichte aus ihren Spuren und Resten so weit erschlossen würden, daß uns der Weg, daß alle Wege, die von da aus in die Folgezeit führten, sichtbar und verständlich wären: wohin sie weiterführen über die Gegenwart hinaus, das kann für historische Forschung nicht erkennbar werden. Das ist auch nicht auszudenken, allenfalls zu vermuten, zu wünschen oder zu fürchten, zu wollen und zu steuern, soweit das menschenmöglich ist. Die Geschichte auf dieser Erde, die »Weltgeschichte«, kann wohl in allen Räumen und Erdteilen, aber nie durch alle Zeiten von Anfang bis Ende beobachtet und dargestellt werden, geschweige denn als Ganzes eingeordnet in einen größeren Zusammenhang der Welt- und Naturgeschichte im weiteren Sinn wie die Erdkugel in das erkennbar, berechenbar gewordene Sonnen- und Sternensystem. So banal selbstverständlich das klingen mag, es Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
367
unterscheidet doch den Historiker in seinen Erkenntnismöglichkeiten und -aufgaben grundlegend vom Geographen und vom Astronomen, das Zeitbild vom Raumbild: Dieses kann auch das Fernste einbeziehen und umfassen, jenes nur das Vergangene, nicht das Künftige, das ungewiß bleibt. Und jede Spanne neuer erlebter Geschichte, die zu erkennbarer Vergangenheit wird, kann den Rückblick auch auf die vorher bekannte Geschichte nicht nur erweitern, ergänzen, bereichern, sondern ändern: Sie sieht im Ganzen anders aus, wenn man von der nächsten Etappe des vorher unbekannten Weges darauf zurückschaut. Doch von einem Endpunkt, vom erreichten Ziel aus werden nie Menschen auf das Ganze der Weltgeschichte zurückblicken können, als wären sie an ihrem Fortgang nicht mehr mitverantwortlich beteiligt oder wüßten über ihn schon Bescheid. Nur sehen und wirken sie vielleicht auch anders in die Ungewisse Zukunft, wenn ihnen die vergangene, bis zur Gegenwart reichende Geschichte nicht unbekannt ist. Die Versuchung ist zwar groß und hat viele verführt, daraus voreilige Folgerungen zu ziehen und den vermeintlich notwendigen, unausweichlichen, folgerichtigen Fortgang der Geschichte zu erschließen. Doch noch stets ist sie anders weitergegangen, als die beteiligten Menschen dachten und wollten; diese Einsicht aus historischer Erkenntnis könnte und sollte heilsam sein gegen die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
367
Anfälligkeit für Prognosen, willkürliches Scheinwissen über die Zukunft und über den vermeintlich gesetzmäßigen Fortgang der Geschichte. Die bloße Kenntnis anderer »Welten« und »Kulturen« der Vergangenheit könnte zwar das tatkräftige Zutrauen in die Lösbarkeit eigener Aufgaben in der Welt von heute beirren und lähmen, wenn sie nicht auch zum Ansporn würde, aus Einsicht in die Eigenart und Bedingtheit aller bisherigen Geschichte über deren Grenzen noch hinauszukommen – nicht nur in den »Weltraum«, auch in eine Zukunft, die zwar ungewiß und nicht im voraus erkennbar, aber für uns und von uns zur weiteren Geschichte zu gestalten ist. Gerade darin nicht zum wenigsten unterschied sich nun aber das Jahrtausend, das man Mittelalter zu nennen pflegt, von den Zeiten vor- und nachher: Es glaubte in einer nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich begrenzten, als Ganzes überschaubaren Welt zu leben und über deren Anfang, Mitte und Ende Bescheid zu wissen. Eine künftige »Neuzeit«, die ihm folgen könnte, war ihm nicht denkbar oder höchstens in ganz anderem Sinne, als sie dann kam. Es hielt sich selbst für die Endzeit aller irdischen Geschichte. Und fast alles, was in diesem Jahrtausend in Europa geschaffen, gedacht, getan, gewollt wurde, war mitbestimmt oder doch umfangen vom Rahmen dieses Zeitbewußtseins. Das ist uns seitdem so fremd geworden, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
368
daß man es sich schwer noch vorstellen und ernst nehmen kann, während der enge Raumhorizont des Mittelalters und seine spätere Entgrenzung uns aus eigener Erfahrung und Anschauung begreiflicher ist. Wie aber konnte dann gerade aus dem, was den Zeitgenossen als Endzeit galt, für Spätere das »Mittelalter« werden? Wie konnte aus der Vorstellung, daß keine neue Zeit folgen könne, die »Neuzeit« hervorwachsen? Dem Mittelalter unbekannte neue Räume und Erdteile, die es auch vorher gab, ließen sich entdecken, »erfahren« im ursprünglichen Sinn dieses Wortes. Dadurch konnte sich das Weltbild weiten, brauchte sich aber nicht im Kern zu ändern, hätte nicht zugleich eine neue, grenzenlose Zeit sich aufgetan, die kein Ende mehr absehen ließ, auf das bislang alles Leben, Denken und Schaffen gerichtet war. Dies aber war keine Entdeckung des Vorhandenen, sondern eine Entgrenzung ins Ungewisse einer weitergehenden Geschichte, deren Wege nicht gebahnt und vorgezeichnet sind, höchstens mitbestimmt durch ihren bisherigen Verlauf und durch menschliches Verhalten an jedem Kreuz- und Scheideweg. Insofern ist von einer eigenen »Welt« des Mittelalters zu sprechen, die nicht mehr die unsre ist. Während aber die antike Mittelmeerwelt nicht einfach als Ganzes in dieses abendländische Mittelalter einmündete und sich in ihm fortsetzte, obgleich es selbst so Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
368
dachte und vieles aus ihr aufnahm, führte es seinerseits dann wider Erwarten durch seine eigne Wandlung in die Folgezeit weiter. Fast unmerklich, nicht datierbar wie Entdeckungsfahrten in neue Räume, ist dabei jenes Endzeitbewußtsein verblaßt und entschwunden, nicht etwa plötzlich erst durch die Wiederentdeckung antiker Überlieferung in der Renaissance abgelöst durch ein andersartiges Zeit- und Weltbild. Vielmehr muß schon im Mittelalter selbst vieles daran mitgewirkt, ja dazu gedrängt haben, daß seine Welt nicht so endgültig blieb, wie es gedacht hatte, sondern die »Neuzeit« aus ihr hervorging. Das kann freilich höchstens dann verständlich werden, wenn man diese mittelalterliche Welt nicht nur in ihrer Eigenart bewundernd, verehrend oder staunend beschreibt, wie es selbst sie sah und darstellte, sondern sie gleichsam durchleuchtet wie in einer Art Röntgenbild, das nicht Haut und Haar, Fleisch und Blut sichtbar macht, aber das tragende Gerüst mit seinen Spannungen und Gelenken, den Voraussetzungen seiner Bewegung und Wandlung. Vieles Anschauliche, Eindrucksvolle, Schöne und Seltsame mag dabei verlorengehen, nicht alles auf den ersten Blick in deutlicher Schärfe zu sehen sein. Aber Einblicke sind so vielleicht zu gewinnen, die der bloßen Schilderung und Nachzeichnung entgehen und uns verständlicher machen können, wie eigenartig diese Zeit nicht nur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
war, sondern fortwirkte, und was daraus wurde.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
369
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
369
Das letzte Zeitalter Im Jahre 397 n. Chr., zwei Jahre nach dem Tod des Kaisers Theodosius des Großen, der zum letztenmal den lateinischen Westen und den griechischen Osten des Römischen Reiches unter seiner Herrschaft verband, schrieb wohl in der reichen, blühenden Provinz Nordafrika, wo damals auch Augustinus als Bischof von Hippo Regius wirkte, ein sonst wenig bekannter Bischof Quintus Julius Hilarianus eine Schrift über den Zeitenlauf (De cursu temporum) oder über die Dauer der Welt (De duratione mundi). Ähnlich wie zur gleichen Zeit in Gallien der gelehrte Sulpicius Severus, Freund und Biograph des heiligen Martin von Tours, in einer Weltchronik und wie schon andere vorher, berechnete Hilarian aus den Zeitangaben des Alten Testaments den Tag der Weltschöpfung auf den 25. März des Jahres 5500 vor Christi Geburt; und gleich anderen Christen seiner Zeit war er überzeugt, daß diese Welt sechs Jahrtausende lang bestehen sollte, wie sie in sechs Tagen geschaffen wurde – denn tausend Jahre sind vor Gott wie ein Tag (Psalm 89, 4; 2. Petr. 3, 8). Demnach erwartete er um das Jahr 500 das Weltende oder den Anbruch einer tausendjährigen Sabbatruhe und Friedenszeit auf Erden, in der der Satan gebunden wäre, wie es die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
369
Johannes-Apokalypse (20, 4) verhieß, vor der letzten Auferstehung zum Weltgericht nach der Wiederkunft Christi. Hilarian verschwieg jedoch nicht, daß manche dagegen einwenden, über Anfang und Ende der Welt könne man überhaupt nichts wissen, während andere behaupten, die Welt bestehe schon über zwanzigtausend Jahre, oder sie habe weder Anfang noch Ende, oder sie habe zwar begonnen, werde aber ewig dauern. Doch sei das die widersprüchliche Weisheit der Welt, Selbsttäuschung durch Philosophenkunst. Gottes Wahrheit aber sei aus seiner Offenbarung, aus der Bibel zu ersehen, und nach deren Angaben sei die Weltdauer genau zu errechnen. Fast neunhundert Jahre später, als das Stauferreich Kaiser Friedrichs II. zerbrochen war und nach dem Interregnum Rudolf von Habsburg als deutscher König sich vergeblich um die Kaiserkrönung bemühte, die ihm die Franzosen beim Papst streitig machten – Albertus Magnus und Thomas von Aquino waren nicht lange vorher gestorben –, schrieb ein Kölner Kleriker namens Alexander von Roes an der päpstlichen Kurie für einen Kardinal im Jahre 1288 eine kleine aktuelle »Weltkunde« (Noticia seculi). Auch er beginnt in knappem Rückblick mit der Erschaffung der Welt und gliedert deren Verlauf nicht nur bis zu seiner Gegenwart, die ihn am meisten beschäftigt und beunruhigt, sondern bis zum Weltende, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
369
das er nach seltsamen, von einem Bamberger Grübler (um 1205) übernommenen Berechnungen an Hand des Alphabets – jeder Buchstabe ein Jahrhundert seit der Gründung Roms – um das Jahr 1500 nach Christi Geburt erwartet, rund sechstausend Jahre nach Erschaffung der Welt. Doch fügt er hinzu: »Manche versuchen freilich mit natürlichen Vernunftgründen zu beweisen, daß die Welt ewig sei oder wenigstens endlos, andere wollen behaupten, sie werde noch mehrere Jahrtausende dauern.« Er läßt das auf sich beruhen. Diese beiden voneinander ganz unabhängigen Zeitbetrachter stehen gleichsam an den Rändern des »Mittelalters« und seines Zeitbildes. Der eine muß seinen christlichen Glauben, daß aus der Bibel die Dauer der Welt zwischen Schöpfung und Endgericht zu wissen sei, noch gegen die heidnisch-antike Zuversicht auf ewigen oder unermeßlichen, jedenfalls langen Bestand dieser Welt verfechten. Der andere weiß schon wieder, daß man darüber anders, weitfristiger denken kann als er selbst und alle Christen der Jahrhunderte vor ihm. Waren doch seit zwei, drei Generationen die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles und anderer heidnischer Philosophen aus dem Griechischen oder Arabischen ins Latein übersetzt und wurden trotz mancher kirchlicher Verbote an der jungen Pariser Universität eifrig studiert, den Theologen der Scholastik ein neues Rüstzeug zur rationalen Klärung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
370
und Begründung ihrer Glaubenslehre, den Philosophen der Artistenfakultät aber, die man nach dem arabischen Aristoteles-Kommentator Averroës (Ibn Ruschd aus Córdoba, gestorben 1198 in Marokko) Averroisten nannte, eine Versuchung oder Ermutigung zum Zweifel an einer Befristung der Welt zwischen Schöpfung und Endgericht wie auch an der von Aristoteles nicht gelehrten Unsterblichkeit der Einzelseele. Ihre Meinung, die Welt sei ewig, die Zeit unbegrenzt nach vor- und rückwärts, wurde mit anderen Irrlehren noch 1277 in Paris als Häresie verdammt. Es hat noch lange gedauert, ehe dahinter die christliche Erwartung oder gar Berechnung des nahen Weltendes zu bloßer Sektiererei verblaßte und ebenso die Annahme, daß die Welt erst fünf- bis sechstausend Jahre vor Christi Geburt geschaffen wurde; die Jahresdatierung der Ostkirche erinnert noch heute daran. Solange man die Bibel auch für die Zeitrechnung beim Wort nahm, galt es als offenbarte, unumstößliche Glaubenswahrheit, daß von Adam bis Christus nicht mehr Zeit verging, als aus dem Alten Testament zusammenzurechnen war, und daß Christus bald wiederkommen werde zum Jüngsten Gericht, wie er verheißen hatte. In dieser Gewißheit hatten die frühen Christen gelebt. Da aber diese irdische Welt und ihre Geschichte wider Erwarten weiterging, mußten die Theologen bald die Ungeduld auf den Anbruch des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
370
Gottesreiches vertrösten, die frommen Gedanken mehr auf das Jenseits als auf die »Zukunft des Herrn« lenken. Die Furcht vor den Schrecken des Endes, wenn der Antichrist der Wiederkehr Christi voranginge und das Gericht folgte, überwog bald die freudige Hoffnung auf das baldige Kommen des Gottesreiches. Wenn aber christliche Chronisten alle ihnen bekannten Ereignisse und Gestalten der heidnischen Geschichte des Orients, Griechenlands und Roms der jeweils gleichzeitigen biblischen Geschichte zuordneten, um deren höheres Alter zu zeigen – Troja und Homer später als Moses! –, so lag es für sie besonders nahe, in diese Zeitrechnung auch die Frage einzubeziehen, wie lange diese Weltzeit noch dauern werde. In der Bibel, vor allem im Daniel-Buch und in der Johannes-Apokalypse, schien es dafür genug Anhaltspunkte zu geben, wenn man sie nur recht zu deuten verstand. Seit dem 3. Jahrhundert häufen sich solche Prognosen, zumeist kurzfristig und bald überholt; wann die sechstausend Weltjahre, die man ziemlich allgemein annahm, zu Ende sein werden, darüber sind die Meinungen geteilt, »doch scheint alle Erwartung nicht über zweihundert Jahre hinauszugehen«, schrieb am Hof Kaiser Konstantins der »christliche Cicero« Lactanz. Erst Augustinus hat solcher Rechnerei entschieden abgesagt, mit der sich überdies oft (wie noch zu seiner Zeit bei Hilarian) chiliastische Hoffnungen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
371
verbanden. Er wies auf Jesu Antwort auf die Frage der Apostel nach der Zeit seiner Wiederkunft hin: »Es ist nicht an euch, die Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater seiner Macht vorbehalten hat« (Apostelgesch. 1, 7). Der Mensch, der Christ solle nach Gottes Willen nicht im voraus wissen, wann das Ende dieser Welt kommt, damit er immer so lebe, als stünde es unmittelbar bevor; er soll mehr an sein eignes Ende denken. Diese Worte Augustins hat noch Thomas von Aquino nachdrücklich wiederholt, wie viele andere Theologen vor und nach ihm. Sie konnten aber nicht verhindern, daß unablässig immer wieder versucht wurde – keineswegs nur von kleinen, verworrenen Geistern –, den Termin des Weltendes zu errechnen oder an den »Zeichen der Zeit« zu erkennen, wie nahe es sei, wie bald als sein Vorbote der Antichrist kommen werde, falls er nicht gar schon geboren sei. Auch Augustin hatte ja nicht gezweifelt, sondern besonders eindringlich betont, daß mit Christus das letzte Weltalter angebrochen sei, wenn es auch bis zur Wiederkunft Christi noch einmal solange dauern könne wie alle fünf früheren Weltalter zusammen. Er hatte dieser Lehre von sechs den Schöpfungstagen entsprechenden Zeitaltern (aetates) der Welt- und Heilsgeschichte, deren letztes mit Christus begann, die bleibende Form gegeben. Indem er damit die Lebensalter des Einzelmenschen verglich, bekam diese christliche Endzeit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
371
das Kennzeichen des Greisenalters der Menschheit, das dem Tod entgegenlebt. Dieses Bewußtsein, Spätlinge zu sein, Letztlinge, wurde seitdem durch ein Jahrtausend immer wieder ausgesprochen. Nicht nur Papst Gregor der Große (gestorben 604) spricht in seinen vielgelesenen Schriften und Briefen (auch an die von ihm bekehrten Angelsachsen, die das aufnahmen und verbreiteten) oft von »dieser alternden Welt«, die dem Ende entgegeneilt; auch noch in Staatsbriefen Kaiser Friedrichs II., den doch Jacob Burckhardt den »ersten modernen Menschen auf dem Thron« nannte, steht die Wendung aus dem 1. Korintherbrief (10, 11): »wir, auf die das Ende der Welt gekommen ist« – vielleicht formelhaft, aber nicht abgestreift als unvereinbar mit einem neuen Zeitbewußtsein. Selbst Petrarca glaubte im letzten Zeitalter geboren zu sein, das mit Christus begann, und in einer alternden Welt zu leben, die sich zum Ende neigt. Erst in der Folgezeit wird dem Fortbestand dieser Welt manchmal mehr Spielraum gegeben. Nikolaus von Cues, der bei aller Denkkraft doch von solchen Berechnungen nicht lassen konnte, erwartete das Weltende erst am Anfang des 18. Jahrhunderts, der französische Reform- und Konzilstheologe Pierre d'Ailly (gestorben 1420) sogar ausgerechnet 1789, der humanistische Philosoph Pico della Mirandola im mediceischen Florenz und Melanchthons Freund Johannes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
371
Carion (gestorben 1537) in seiner Weltchronik noch später um das Jahr 2000, während Luther immer auf den »lieben jüngsten Tag« gefaßt war. Jedenfalls lebten sie alle und die meisten ihrer Zeitgenossen im Glauben an eine zeitlich begrenzte Welt, die in absehbarer, wenn nicht gar berechenbarer Zeit zu Ende gehe. Wenn schon der kalabrische Abt Joachim von Fiore (gestorben 1202) den baldigen Anbruch eines neuen Zeitalters des Heiligen Geistes verhieß, das dem Zeitalter des Gottessohnes und seiner Kirche folgen sollte, wie dieses einst dem Zeitalter Gottvaters und der Synagoge gefolgt war, so dachte er damit wohl über das »Mittelalter« hinaus, das sich als Endzeit begriff. Doch so erregend dieser Gedanke unter franziskanischen Spiritualen des 13. Jahrhunderts und auch späterhin zeitweise wirkte, er erweckte zunächst höchstens bei frommen Schwärmern und bei Ketzern den Glauben, in einer neuen Zeit, einer Geistzeit kurz vor dem Ende zu leben; erst später konnte sich das bei Humanisten mit dem Zutrauen in eine unbegrenzte »Neuzeit« verbinden. Unsere Zeitrechnung nach Jahren seit Christi Geburt entstand aus dem Glauben, daß mit Christus das letzte Zeitalter der Welt begann. Es ist uns schwer noch vorstellbar, wie lange es dauerte und wieviel Mühe es kostete, bis diese »Zeitwende« so errechnet und ins Bewußtsein gerückt wurde, daß man danach Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
372
alle Ereignisse der weiteren Geschichte datieren konnte statt nach griechischen Olympiaden, römischen Konsul- oder Kaiserjahren, nach Jahren seit der Gründung Roms oder seit Erschaffung der Welt. Fast hundert Jahre nach Augustins Tod, im letzten Jahr Theoderichs des Großen, hat 525 n. Chr. der Skythe Dionysius Exiguus in Rom für den Papst den jährlich wechselnden, oft strittigen Ostertermin für längere Zeit im voraus ausgerechnet und dabei auch das Jahr der Geburt Christi so festgelegt, wie man es seitdem beibehielt (obgleich man längst weiß, daß er sich um einige Jahre verrechnet hat). Nochmals zweihundert Jahre später übernahm das der gelehrte angelsächsische Mönch Beda (gestorben 735) in seine Lehrbücher über Zeitrechnung (De temporum ratione; De temporibus), die dem Mittelalter für den Festkalender unentbehrlich wurden. In seiner Angelsächsischen Kirchengeschichte datierte er als erster auch historische Ereignisse nach Jahren seit Christi Geburt. Durch ihn und die angelsächsische Mission bürgerte sich das im karolingischen Frankenreich ein. In die übersichtlichen Ostertafeln würden in vielen Klöstern neben dem Ostertermin jedes Jahres auch dessen bemerkenswerte Ereignisse eingetragen; daraus entstand die typisch mittelalterliche Form historischer Aufzeichnungen in Annalen. Das schwierig zu berechnende Osterfest, nach dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
372
sich andre Kirchenfeste richten, hängt sowohl vom neunzehnjährigen Mondzyklus wie vom achtundzwanzigjährigen Sonnenzyklus ab, da es am ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühjahr (also nach dem 21. März) gefeiert wird. Daher wiederholt sich jeweils erst nach 532 Jahren (19 mal 28, einem »Großjahr«) die gleiche Abfolge von Osterterminen. Vor dem Ablauf des ersten »Großjahres« hatte Dionysius für die Folgezeit gerechnet, bis 1064 richtete man sich nach Bedas Ostertafel; danach begann man vielerorts erneut zu rechnen (wie wiederum vor dem Ablauf des nächsten »Großjahres« Papst Gregor XIII. die Kalenderreform veranlaßte, die seit 1582 bis heute gilt). Denn zur Erkenntnis der von Gott gesetzten Zeitenordnung, des ordo temporum, war Chronologie (»Komputistik«) eine wichtige Wissenschaft der Klosterschulen geworden. Fehler bei Dionysius und Beda hatte sie inzwischen bemerkt, wußte sie freilich auch im 11. Jahrhundert nicht zu berichtigen. Weltchroniken entstanden aus solchen Bemühungen, die alles Geschehen seit der Schöpfung oder wenigstens seit Christus in die rechte Zeitfolge einordnen wollten. Im bedeutendsten Werk dieser Art hat der junge, den Saliern und Staufern verwandte Reichsbischof Otto von Freising (gestorben 1158) unmittelbar anschließend an seine Gegenwart im letzten Buch auch die Endzeit dargestellt: das Kommen des Antichrist, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
373
Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht. Anderes schien auf dieser Welt nicht mehr zu erwarten, das Ganze ihres Verlaufs zwischen Schöpfung und Ende überschaubar. Andere Chronisten folgten ihm darin. Noch die 1493 und öfters gedruckte, auch verdeutschte und dank vielen Holzschnitten weithin beliebte Weltchronik des Nürnberger Stadtarztes Hartmann Schedel »Vom Anbeginn der Welt bis auf unsere Zeit« führt über seine Gegenwart hinaus bis zum Antichrist und Weltgericht. Wie lebten, dachten, wirkten die Menschen rund ein Jahrtausend lang mit und in dieser ihnen gemeinsamen, uns fremd gewordenen Vorstellung einer eng begrenzten Weltdauer, deren Anfang und baldiges Ende sie aus der Bibel zu kennen glaubten? Nur das letzte Stück war gleichsam noch auszufüllen mit ihrer eigenen Geschichte, der letzte Akt eines im Ganzen bekannten Dramas noch zu spielen mit eigenen Taten und Werken. Inwieweit ist deren Eigenart bedingt oder geprägt durch dieses Zeitbild und das ihm zugehörige Weltbild, von dem noch die Rede sein wird? Wie und wodurch hat es sich schließlich doch entgrenzt – nicht nur zur Kenntnis der ganzen Erde als eines um die Sonne kreisenden Sterns im Weltall, sondern erst recht zum Blick in eine unabsehbare Vergangenheit und Zukunft von Ungewisser Dauer? Um die »Welt des Mittelalters« in ihrer geschichtlichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
Eigenart und ihrer Wirkung auf die Folgezeit zu begreifen, wird man solchen Fragen nicht ausweichen dürfen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
373
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
373
Das letzte Weltreich Am spürbarsten und bekanntesten ist die Wirkung dieses Zeitbildes auf das politisch-historische Denken. Das Lukas-Evangelium erinnerte ja in der Weihnachtsgeschichte immer daran, daß Christus unter dem ersten Kaiser Augustus geboren wurde und daß Johannes der Täufer unter dessen Nachfolger Tiberius predigte (Luk. 3, 1), daß also das Evangelium zur gleichen Zeit in die Welt trat wie das Imperium, das römische Kaisertum. Der Gedanke lag schon frühen Christen nahe, daß nach Gottes Willen dieses Imperium dem Evangelium den Weg bahnen, seine Ausbreitung unter alle Völker gewährleisten und daß es dazu bestehen sollte bis zum Anbruch des Gottesreiches. Überdies hatte der Apostel Paulus, selbst römischer Bürger, der ungeduldig auf Christi Wiederkunft wartenden Gemeinde in Thessalonich (Saloniki) angedeutet (2. Thess. 2), daß den Antichrist, der vorher kommen werde zur letzten Prüfung und Bewährung der Gläubigen, noch etwas aufhalte und zuvor zerfallen müsse; von früh an verstand man das so, wie es wohl auch gemeint war: das Römische Reich halte diese irdische Welt noch zusammen, erst bei seinem Zerfall werde der Antichrist mit den Schrecken des Endes kommen. Für den Bestand des Imperiums und für den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
373
noch heidnischen Kaiser beteten deshalb Christen schon zur Zeit Tertullians um 200. Als vollends das Imperium, der Kaiser selbst seit Konstantin christlich wurde, galten Kaisertum und Christentum, Imperium und Evangelium als füreinander bestimmt nach Gottes Vorsehung und aufeinander angewiesen, solange diese Welt noch besteht. Hatte Vergils Aeneas dem Gründer Roms das endlose imperium sine fine verheißen, so bedeutete das für Christen, denen ohnehin Vergils 4. Ecloge als heidnische Prophetie auf den Heiland galt: Das Römische Reich wird bestehen bis zum Weltende. Zudem kannten sie aus dem DanielBuch die Träume Nebukadnezars von den vier Tieren, Daniels von einer Statue aus vier Metallen, die der Prophet auf eine Abfolge von vier Weltreichen gedeutet hatte. Nachdem das Alexander-Reich längst vergangen war, das dabei als viertes und letztes nach den Babyloniern, Medern, Persern gemeint war, mußte jede Daniel-Deutung das Römische Reich für das letzte halten (Meder und Perser als zweites zusammenfassend). Mindestens seit dem Daniel-Kommentar des Vulgata-Übersetzers Hieronymus (gestorben um 420) zweifelte daher ein Jahrtausend lang fast niemand mehr, daß schon der Prophet Daniel weissagte, das Römische Reich werde als letztes der vier Weltreiche bis ans Ende dieser Welt dauern. Für alle Weltchronisten des Mittelalters gehörte demnach zum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
374
letzten, sechsten Zeitalter (aetas) seit Christus zugleich das Römische Reich seit Augustus als letztes, viertes Weltreich nach Daniels Traumdeutung, das bestehen sollte und mußte, bis vor Christi Wiederkunft der Antichrist käme. Nun bestand ja wirklich das römische Kaisertum seit Augustus ununterbrochen fort, auch nachdem Konstantin seine Residenz nach Byzanz verlegt hatte, das man nach ihm Konstantinopel nannte, oft aber auch »Neu-Rom«, wie die byzantinischen Kaiser sich mit Nachdruck als Kaiser der Römer titulierten. Erst 1453 hat die Eroberung Konstantinopels durch die Türken diesem oströmisch-byzantinischen Kaisertum ein Ende gesetzt; vorher war es durch ein auf dem Vierten Kreuzzug errichtetes lateinisches Kaisertum in Byzanz nur zeitweise (1204-1264) nach Nikaia in Kleinasien verdrängt worden. Nach 1453 haben seine Nachfolge noch fast ein halbes Jahrtausend lang die Großfürsten von Moskau als russische »Zaren« (Caesaren) beansprucht. Im lateinisch-katholischen Westen aber, in Alt-Rom, hatte es seit 476 keinen eigenen Kaiser mehr gegeben, bis dort am Weihnachtstag 800 der Frankenkönig Karl der Große vom Papst zum Kaiser gekrönt wurde. Nichts bezeugt, daß ihn und den Papst dazu der Gedanke bestimmt hätte, das römische Imperium müsse fortbestehen oder erneuert werden, wenn nicht der Antichrist und das Weltende Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
374
kommen sollte; für sie gab es ja noch den Kaiser in Byzanz, mit dem sich Karl der Große nach manchen Konflikten vertrug, als könnte ein westliches und ein östliches Imperium gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Theologen und Chronisten der Folgezeit fanden das aber unvereinbar mit aller biblischen Verheißung, nach der es nur das eine römische Imperium als letztes Weltreich bis zum Weltende geben könne, nur einen Kaiser wie eine Kirche und einen Gott. Für den lateinischen Westen konnte das nur der fränkischrömische, vom Papst gekrönte Kaiser sein, als hätte er seit 800 den byzantinischen gleichsam abgelöst, von dem man entweder nicht mehr Notiz nahm oder geringschätzig als »König der Griechen« sprach. Als das karolingische Kaisertum schon hundert Jahre nach Karls Tod wieder erlosch, tauchte unter fränkischen Theologen die Überzeugung auf, das christliche Imperium Romanum werde und dürfe nicht vollends verschwinden, weil sonst der Antichrist komme; es müsse noch einmal von einem Frankenkönig wiederhergestellt werden, bis ein letzter großer Kaiser nach glücklicher Herrschaft über alle Welt nach Jerusalem ziehe und am Ölberg Zepter und Krone niederlege; erst nach dieser Vollendung des christlich-römischen Imperiums könne der Antichrist und das Weltende kommen. Diese seitdem nicht mehr verstummte Verheißung einer Erneuerung und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
375
Fortsetzung des Kaisertums bis zu einem großen Endkaiser wurde zuerst um 950 von einem lothringischen Mönch Adso der Gemahlin des westfränkischen Karolingers Ludwig IV. dargelegt, einer Schwester des ostfränkisch-deutschen Königs Otto I. Beide »Frankenkönige« in West und Ost hätten sich dadurch zur Erneuerung des Kaisertums, zur Fortsetzung des Imperium Romanum, angespornt, ja religiös verpflichtet fühlen können. Ob Otto I. davon wußte, als er sich 962 in Rom zum Kaiser krönen ließ, wie er es zehn Jahre früher schon versucht hatte, ist schwer zu sagen. Jedenfalls mußte der Folgezeit dieses erneuerte Kaisertum nicht nur als eine politische Macht und Würde erscheinen, nicht nur als ein Anspruch aus karolingischer Tradition, sondern als gottgewollte, für den Bestand der Welt bis zu ihrem Ende unentbehrliche Ordnung. Als nach dem Zerfall des Stauferreichs dieses Kaisertum zu erlöschen drohte, da es zwei Menschenalter lang nach dem Tod Friedrichs II., den Papst Innocenz IV. und das Lyoner Konzil 1245 abgesetzt hatten, keinen gekrönten Kaiser mehr gab und dann nach dem kurzen Kaisertum Heinrichs VII., auf das Dante seine Hoffnungen setzte, nur einen vom Papst nicht gekrönten, sondern gebannten Kaiser Ludwig den Bayern, ehe 1355 Kaiser Karl IV. gekrönt wurde, da klammerten sich zumal die Deutschen in Sagen von der Wiederkehr des bergentrückten Kaiser Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
375
Friedrich, in beschwörenden Denkschriften und politischen Traktaten an den Gedanken, das Kaisertum des Imperium Romanum müsse fortbestehen oder wiedererstehen, sonst komme der Antichrist und das Weltende. Noch die meisten deutschen Humanisten um 1500 teilen diese Überzeugung. Und als Luther 1530 während des Augsburger Konfessions-Reichstags, dem er fernbleiben mußte, auf der Feste Coburg das Buch Daniel verdeutschte, bemerkte er zu dessen Traumdeutungen gläubig: Wenn jetzt das römischdeutsche Kaisertum unter Karl V. in neuer, weltweiter Macht zu blühen scheine, sei das wie das letzte Aufflammen einer Kerze vor dem Erlöschen. Vier Weltreiche, das römische als letztes, dessen Kaisertum unter Karl dem Großen auf die Franken, seit Otto I. auf die Deutschen übertragen wurde, gliedern die Weltgeschichte auch noch in der lange wirksamen Chronik Carions, dem Melanchthon dabei half, und in späteren Weltgeschichten, aus denen noch Friedrich der Große und seine Zeitgenossen lernten. Außerhalb Deutschlands, zumal in den Ländern Westeuropas, die nie zum »Römischen Reich Deutscher Nation« gehören und dessen Kaiser als Oberherrn anerkennen wollten, war dieser Gedanke zwar längst verstummt. Doch erst Jean Bodin, der französische Kronanwalt, der in seiner Staatslehre 1576 den Souveränitätsbegriff der modernen Staatenwelt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
375
prägte, wagte in einer Geschichtslehre 1566 die schwer auszurottende Theologen- und ChronistenMeinung über die vier Weltreiche einen »veralteten Irrtum« zu nennen. Was im Buch Daniel steht, könne zwar als biblische Wahrheit, an die auch Bodin glaubt, nicht falsch sein, aber es sei dunkel, rätselhaft, vieldeutig. Wie man bisher Daniels Traumdeutung verstand, das könne jedenfalls nicht richtig sein; denn längst seien neuere Weltmächte wie jetzt die spanische, vollends die türkische größer als einst die römische, und daß gar die Deutschen noch immer deren Fortsetzung beanspruchen, sei absurd und lächerlich. Endlich hatte der unbefangene Blick auf eine veränderte Welt den Bann des mittelalterlichen Denkens über Politik und Geschichte gebrochen, mag es auch bei Schwärmern für die »Reichsidee« noch bis in unsere Tage nachspuken. Solange man aber glaubte, im fränkisch-deutschen Reich setze sich das römische Imperium der Spätantike nach Gottes Willen fort bis ans Ende der Welt, war gleichsam der Horizont versperrt für die Sicht nach vor- wie nach rückwärts. Weder ein Anfang noch ein Ende der eigenen »Welt des Mittelalters« war da erkennbar und denkbar. Die Herrscher der Karolinger-, Ottonen-, Salier- und Stauferzeit wurden in der Reihe der römischen Kaiser fortgezählt wie die Päpste seit Petrus. Für Chronisten war Barbarossa der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
376
einundneunzigste Kaiser seit Augustus; sein Sohn Philipp von Schwaben nannte sich als König Philipp II., weil es schon einmal um die Mitte des 3. Jahrhunderts einen römischen Kaiser Philippus Arabs gegeben hatte, dessen Name noch dazu an den Vater Alexanders des Großen erinnerte. Die gereimte deutsche »Kaiserchronik« erzählte um die Mitte des 12. Jahrhunderts fortlaufend mehr Fabeln als Geschichte von Caesar und Augustus bis zum Staufer Konrad III. Ein politisch-historisches Traditionsbewußtsein reichte damit weit zurück – nur nicht in eine eigene Vergangenheit, sondern in die römisch-griechische Antike und zugleich in die biblische Geschichte. Die politische Wirklichkeit der eigenen Gegenwart sah sich ständig mit dieser Tradition verbunden oder konfrontiert, der sie doch nie entsprach, weil sie nicht aus ihr gewachsen war und nie ganz in sie hineinwuchs. Sie konnte zeitweise dadurch angespornt werden, aber auch in einen Zwiespalt geraten, der dann dieses Weltbild sprengen mußte.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
376
Erdkarte und Weltraum Begrenzt und als Ganzes überschaubar wie die Zeitenordnung und die Abfolge der Weltreiche erschien dem »Mittelalter«, das sich für die Endzeit hielt, auch der wohlgeordnete Raum seiner Welt mit der Erde in der Mitte, umkreist von Sonne, Mond und Sternen. Weltbilder, Himmels- und Erdkarten stellten sie anschaulich dar, zumeist gemalt in Handschriften biblischer Bücher wie der Apokalypse oder des Psalters oder auf Chor- und Altarbildern in Kirchen und Klöstern. Denn sie dienten nicht praktischen Zwecken wie die Land- und Straßenkarten der antiken Römer, etwa die in einer Kopie von 1264 überlieferten »Peutingerschen Tafeln« des frühen 3. Jahrhunderts, oder wie viele »Portolankarten« aus Seemanns-Erfahrungen über Küstenentfernungen seit dem 13. Jahrhundert. Jene Erd- und Weltkarten der Zwischenzeit zeigen die drei aus biblischer und antiker Überlieferung bekannten Erdteile Asien, Afrika, Europa rings umspült vom Ozean, vom Weltmeer, von dem aus die zwölf Winde über die Erde wehen – für Hildegard von Bingen ein Gleichnis für Gottes Verkündigung durch die Predigt –, umfangen und gehalten von Christus, überglänzt vom Heiligen Geist, und darüber thront Gottvater: »Er sitzt über dem Kreis der Erde« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
376
(Jesaja 40, 22). Wie die Erde selbst in der Mitte der Welt, liegt im Mittelpunkt dieser meistens kreisrunden »Radkarten« Jerusalem – nicht nur weil dort die drei Erdteile gleichsam miteinander verwachsen sind, sondern weil diese Welt dort, im irdischen Abbild des himmlischen Jerusalem, der Gottesstadt (civitas Dei) ihre heilsgeschichtliche Achse hat, um die sie sich schon in den fünf Zeitaltern des Alten Testaments, erst recht seit Christus und dem Neuen Testament im sechsten, letzten Zeitalter dreht bis zum Ende, wenn der letzte Kaiser am Ölberg Zepter und Krone niederlegen wird. Nicht Europa, sondern das größere, wenngleich wenig bekannte Asien füllt die obere Hälfte solcher Erdkarten, die also »geostet« sind, nicht genordet. In die untere Hälfte teilen sich links Europa, rechts Afrika, beide durch das Mittelmeer getrennt wie von Asien durch das Schwarze, das Agäische, das Rote Meer. Wie ein T gliedern diese Meere den Erdkreis, so daß man von T-Karten spricht, die schon Augustinus ähnlich beschrieb. Ganz oben, fern im Osten also, wird das Paradies dargestellt mit Adam und Eva, dem Baum der Erkenntnis und der Schlange. Irgendwo in Asien sieht man oft auch die apokalyptischen Völker Gog und Magog eingemauert, die vor dem Weltende über die Christenheit hereinbrechen und dem Antichrist helfen werden. Das sind die Schauplätze des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
377
Anfangs und des Endes der irdisch-vergänglichen Menschenwelt. Wie Ninive und Babylon mit dem Turmbau, wie Sodom und Gomorrha wird aber auch das zerstörte Troja in die Karte eingezeichnet und manchmal die Amazonen in der Nähe des Kaspi-Sees; in Afrika neben den Pyramiden, die den Pharaonen von den verschleppten Kindern Israels gebaut wurden und als Josephs Kornspeicher galten, neben den Stätten der Flucht des Jesuskindes und seiner Eltern nach Ägypten bisweilen auch die Oase Siwa, in der sich Alexander der Große als Gott verehren ließ, und Indien als Ziel seiner Heerzüge: Überlieferungen der Antike neben Schauplätzen der biblischen Geschichte. Weltchronik und Heilsgeschichte vereinen sich da mit dem Erdbild vielschichtig wie im historischen Atlas. Europa liegt auf diesen T- oder Radkarten links unten als kleinster der drei Erdteile, ist aber am dichtesten bebildert und beschriftet mit Städten, Kirchen und Klöstern, Völker- und Ländernamen. Rom tritt hervor als turmreiche Kaiser- und Papststadt, jedoch nicht in der Mitte Europas wie Europa nicht in der Mitte der Erde und damit der Welt. Es blickt vielmehr gleichsam nach Osten – nach oben – auf das heilige Land Palästina hin und weiter über den Ararat mit Noahs Arche auf das ferne, unzugänglich gewordene Paradies. Ob diese Erde als Kugel schwebend oder als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
377
Scheibe auf dem Weltmeer schwimmend gedacht ist, lassen solche Bilder nicht immer erkennen; das bleibt fraglich oder gleichgültig. Rings um sie aber kreisen die Planetensphären und als äußerste Schalen der Fixsternhimmel und der Kristallhimmel aus reinem Äther. Darüber waltet Gottvater, der diese Welt geschaffen hat und lenkt. Wenn oft Christus das runde Welt- und Erdbild umfaßt, mit seinem Haupt überragt, mit seinen Händen hält, auf seinen unter dem Erdenrund sichtbaren Füßen stehend, so ist damit diese Erde als sein Leib dargestellt. Auf Gott und den Menschen, den er nach seinem Bilde schuf, ist dieses ganze Welt- und Erdbild bezogen, auf des Menschen Sündenfall, Heilsweg und Erlösung die ganze Geschichte, die sich darin abspielt und spiegelt. Oft wird das Menschenbild in Beziehung zu diesem Weltbild gesetzt als Mikrokosmos im Makrokosmos. Das ist nicht nur theologisch-philosophische Gelehrsamkeit, die mit antiker Bildung die biblische Offenbarung und die christliche Tradition bereichert, verquickt und bestätigt sehen will; es ist die geglaubte Wirklichkeit, in der diese Menschen leben, wirken und schaffen. Auch eine Visionärin wie die Äbtissin Hildegard von Bingen (gestorben 1179), die sich für ungelehrt hält, glaubt so die Welt und den Menschen in ihr unmittelbar zu schauen, sie in Wort und Bild beziehungsreich zeigen zu können. Noch nach 1335 zeichnet in Pavia Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
378
ein Grübler wie Opicinus de Canistris in die ihm schon bekannten »Portolankarten« der Mittelmeerländer den gekreuzigten Christus ein und Menschengesichter in die Küstenlinien, Tierkreiszeichen in die Himmelssphären wie alle Astrologen. Kurz vorher dichtet Dante (gestorben 1321) in der Divina Commedia seine Jenseitswanderung durch die Hölle über den Läuterungsberg zum Himmel. Auch ihm gilt Jerusalem als Mittelpunkt der bewohnten Erde zwischen Ganges und Ebro. Er stellt sie sich zwar als Kugel vor wie schon manche Gelehrte seiner Zeit, auf der Kehrseite jedoch unbewohnt. Im Innern öffnet sich ihm tief unter Jerusalem der Gang zum Höllentrichter, durch dessen sich weitende Ringe er von Vergil zu den sich steigernden Qualen der Verdammten geführt wird. Auf der anderen Halbkugel kommt er wieder ans Licht, wo sich gleichsam am Gegenpol zu Jerusalem der Läuterungsberg erhebt. Von seiner Höhe führt Beatrice den Dichter aufstrebend durch die um die Erde kreisenden Planetensphären, in denen er den Seligen und Heiligen begegnet und die Engels-Chöre schaut, bis er noch jenseits des Fixsternhimmels vom Empyräum des reinen Äthers aus auf den dreieinigen Gott mit der Jungfrau blicken darf, ehe er zur Erde zurückkehrt. Bei aller dichterischen Phantasie und Gestaltungskraft im einzelnen weicht das doch im ganzen nicht ab Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
378
von dem Weltbild, wie es die Theologie und Wissenschaft seiner Zeit zu erkennen glaubte, wie es etwa auch im deutschen »Buch der Natur« des Regensburger Domherrn Konrad von Megenberg um 1350 bildhaft-naiv dargestellt ist. Und was die Kleriker und Mönche auf Latein lasen und schrieben, wurde den ungelehrten Laien in der Predigt gesagt, in Bildern auf allen Kirchenwänden oder -fenstern gezeigt. Auch da sehen sie die biblische Geschichte mit ihren Bezügen zwischen Altem und Neuem Testament, Verheißung und Erfüllung, Schöpfung und Endgericht, Sündenfall und Erlösung abgebildet inmitten des Weltenraums zwischen Himmel, Erde und Hölle. Das Gotteshaus selbst, »die Kirche« genannt (ecclesia) wie die Gesamtheit der Gläubigen auch, und der Gottesdienst darin weisen mit vielen Symbolen auf die Civitas Dei, die das »himmlische Jerusalem« mit allem, was vom irdischen ausging, vereint: alle einst und jetzt und künftig Gläubigen und Erlösten. Eine naturgegebene, »primäre« Weltsicht des Menschen auf Erden, der täglich am Morgen die Sonne im Osten auf-, abends im Westen untergehen und nachts die Sterne kreisen sieht, steht da im Einklang mit dem Glauben an den Schöpfer, der jenseits von Raum und Zeit über den Sternen thront und sie harmonisch um die Erde bewegt, auf die er seinen Sohn zur Erlösung der sündigen Menschheit sandte: Mensch geworden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
378
und in Jerusalem gekreuzigt, auferstanden und zum Himmel heimgekehrt, wird er am Zeitenende richten zu ewigem Leben oder ewigem Tod. Die natürliche Erfahrung von Tages- und Jahreszeiten und vom begrenzten Lebenslauf des Menschen im engen Horizont seiner Sichtweite ist in diesem Weltbild makroskopisch geweitet durch die nicht erfahrbare, aber offenbarte Kunde vom Zeitenlauf, von der Zeiten- und Weltordnung zwischen Anfang und Ende dieser irdischen Welt. Uns gilt die Entgrenzung dieses mittelalterlichen Weltbildes seit der Entdeckung anderer Erdteile und vollends seit der Erkenntnis, daß die um die eigene Achse rotierende Erde sich um die Sonne bewegt gleich anderen Sternen, als Beginn der Neuzeit und einer neuen Weltsicht. Daß aber nicht nur der Raum, sondern zugleich auch und vielleicht folgenreicher noch die Zeit sich »entgrenzte«, wird uns seltener bewußt, obgleich darin sich die »moderne Welt« weiter von der des »Mittelalters« entfernte (das sie seitdem erst so nennt). Was Astronomen und Physiker seit Kopernikus und Kepler erkannten, wurde eine neue Wissenschaft, deren Folgen und Wirkungen die meisten Menschen nur mittelbar zu spüren bekamen, ohne daß sich ihr Weltbild dadurch wesentlich änderte: Sonne und Sterne drehen sich ihnen noch immer um die Erde wie der Mond, auch wenn sie es in der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
379
Schule anders lernten, und ihre Erde ist ihnen die Mitte ihrer Welt, Schauplatz aller »Weltgeschichte«. Daß aber diese ganze Welt vor wenigen Jahrtausenden so geschaffen wurde und zugleich mit ihr der Mensch und alle Tiere und Pflanzen, daß sie nach des Schöpfers Willen in absehbarer, wenn nicht gar berechenbarer Zeit zu Ende gehen soll – in diesem Glauben leben höchstens noch Sektierer, die allen anderen als Sonderlinge gelten. So »sonderlich« aber dachte jeder Christ im Mittelalter, als es in Europa, im Abendland, kaum NichtChristen gab. Das ist für »moderne Menschen« viel schwerer vorstellbar als die enge räumliche Begrenztheit des mittelalterlichen Weltbildes. So sehr sich der Blick rings um die Erde und über sie hinaus in den Weltraum geweitet hat – seit sie rundum bekannt und nun sogar von außen, vom Stratosphärenflug aus zu sehen ist, stellt sie sich dem Menschen doch wieder als ein begrenztes Ganzes dar: nicht mehr nur drei vom Weltmeer umschlossene Erdteile inmitten der Sternensphären, aber als Erdkugel auf ihrer zuverlässig-pünktlichen Bahn im Sonnensystem, dessen Bewegungen ausgerechnet sind bis zu den kaum noch unheimlichen Kometen. Der Glaube an eine begrenzte, als Ganzes überschaubare oder gar zu berechnende Zeitenordnung ist uns dagegen gänzlich entschwunden, das Zeitbewußtsein radikal verändert. Nicht nur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
379
die Wissenschaft kennt die Spuren menschlichen Daseins auf Erden vor Millionen von Jahren und muß noch viel längere Zeiträume für die Menschwerdung aus tierischen Vorstufen annehmen, mehrere Milliarden von Jahren seit der Entstehung dieser Erde in einem längst oder immer bestehenden Universum. »Wir wissen nicht, wie alt unser Stern ist«, heißt es am Anfang dieser Weltgeschichte (Band I, S. 89). Ein »Weltende« aber ist auch dem naivsten Zeitgenossen höchstens noch als Katastrophe, als frevelhafte Selbstvernichtung dieser Erde durch wahnwitzigen Mißbrauch wissenschaftlicher Errungenschaften denkbar, nicht als geplant-sinnvoller Abschluß einer gottgewollten Zeitenordnung. Den Raum seiner Welt kann der Mensch nun besser kennen als einst, während ihre Dauer ihm unabsehbarer geworden ist, viel Ungewisser als die Dauer des eigenen Lebens, das Augustinus mit dem Menschheits-Schicksal glaubte vergleichen zu können. Für den Einzelnen ist noch immer sein Alter und früher oder später sein Tod gewiß, für die Menschheit und ihre Erdenwelt nicht mehr, falls sie sich nicht selbst vernichtet. Vielen mag diese Ungewißheit gleichgültig sein für ihr Leben und Verhalten in ihren kurzen Erdentagen, in denen sie doch so gern in und um die »Welt« reisen. Den Denkenden aber, den Planenden und über den Tag hinaus Schaffenden und Handelnden drängt sich Sorge und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
380
Verantwortung auf für den Weg in eine Ungewisse, unbegrenzte Zukunft. Wie anders muß der Mensch in dieser seiner Welt, auf dieser Erde gelebt, gedacht, gewirkt haben, als er noch zu wissen glaubte, wann sie geschaffen wurde und wie sie bald enden sollte, nicht in der Furcht, sie könnte von Menschen selbst freventlich vernichtet werden, sondern in dem. Glauben, der Schöpfer werde sein Werk nach seinem den Menschen offenbarten Plan und Willen zu Ende führen. Wie kam es zu diesem in Raum und Zeit begrenzten Weltbild eines Jahrtausends, das wir »Mittelalter« nennen? Wie kam es zu seiner Entgrenzung sowohl im Raum- wie gründlicher noch im Zeitbewußtsein? Wie und wodurch hat sich dieses Mittelalter gewandelt in die Neuzeit, und was verdankt sie ihm? Wurde sie nur so, wie sie ist, weil das Mittelalter anders war? Damit wird nicht nur nach der Eigenart der Welt des Mittelalters gefragt und nach ihrer Entstehung, sondern auch nach ihrer Wirkung bis zu uns hin. Wären Seefahrer und Missionare ziellos aus blindem Tatendrang übers weite Meer gesegelt und hätten nur zufällig eine »neue Welt« entdeckt? Hätten Könige und Kaufleute sie dazu ausgestattet und sich etwas davon versprochen? Sie alle glaubten noch, es müßten sich die altbekannten drei Erdteile auf dem sie umspannenden Ozean umschiffen oder, wenn die Erde Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
380
eine Kugel ist, auf deren Kehrseite auch auf Westfahrt die Ostküsten Asiens erreichen lassen; und sie glaubten, daß am nahen Ende der Zeiten auch die fernsten Heiden noch bekehrt werden sollten. Kolumbus und seine Helfer haben so »mittelalterlich« gedacht, sonst wären sie nicht auf Amerika gestoßen. Als sie nach ihrer langen kühnen Fahrt endlich in »Ostindien« bei den »Indianern« landeten, meinten sie in dasselbe Indien gekommen zu sein wie einst Alexander der Große, das auch Vasco da Gama auf der Fahrt um die Südküste Afrikas suchte. Sie ahnten nicht, daß sie statt dessen einen vierten Kontinent entdeckt, eine neue Welt und Zeit eröffnet hatten. »Zum Gelingen des indischen Unternehmens«, sagte Kolumbus wiederholt, »nützen mir weder Scharfsinn noch Mathematik noch Weltkarten allein, sondern es erfüllte sich, was beim Propheten Jesaias (66, 19) steht: Ich will ihrer etliche... senden zu den Heiden am Meer.... und in die Ferne zu den Inseln, wo man nichts von mir gehört hat,... und sollen meine Herrlichkeit unter den Heiden verkündigen.« Auch Kolumbus war gläubig überzeugt, daß die in sieben Tagen erschaffene Welt nur sieben Jahrtausende lang bestehen, also bald zu Ende gehen werde, vor dem nach biblischer Verheißung noch alle Heidenvölker bekehrt werden sollten. Zugleich hoffte er, auf der Westfahrt nach Indien auch einen neuen Weg zur Erdmitte Jerusalem zu bahnen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
380
nachdem die Türken den alten Ostweg der Kreuzfahrer versperrt hatten. Und noch die Franziskaner, die Cortés seit 1521 als Missionare nach Mexiko holte, fühlten sich berufen zur Bekehrung der fernsten Heiden in den letzten Tagen der Menschheit. Das enge, überschaubare Weltbild des Mittelalters selbst, das man vollends ausfüllen, »erfüllen« wollte, führte in eine neue Welt und Zeit und sprengte seine eigenen Grenzen. Denn es war nicht einfach nur eine Phase oder Stufe in einer natürlichen Entwicklung des Menschen, die von einer primitiven, »primären« Welterfahrung und Weltsicht zu der besser erkennenden und daher wirksamer handelnden, schließlich rundum technisierten Welt der Neuzeit geführt hätte, in der die Wissenschaft eine »sekundäre Weltsicht« gewann, wenigen ganz verständlich, aber für alle nutzbar zu machen. Auch jene Welt des Mittelalters beruhte keineswegs nur auf unmittelbar erlebter Erfahrung und sinnenhafter Anschauung, die erst durch wissenschaftliche Erkenntnisse und Entdeckungen der Neuzeit überbaut, überholt und verändert worden wäre. Die Weltsicht des Mittelalters ist räumlich und zeitlich enger begrenzt, aber durchaus nicht auf das dem Menschen von Natur mit seinen Sinnen Erfaßbare beschränkt. Sie glaubte vieles über alle eigne Erfahrung hinaus zu wissen, was der »moderne« Mensch nicht mehr weiß, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
381
selbst wenn er es gern noch glauben möchte, was aber auch auf ihn und seine Welt nachwirkt und deren Entstehung und Eigenart überhaupt erst ermöglichte, wenn nicht bewirkte. Wie die Neuzeit und unser gegenwärtige Welt geworden ist, wird daher nicht ohne die Vorfragen zu verstehen sein, wie es zur eigenartig anderen Welt des Mittelalters kam, wie sie war und wirkte, warum sie trotz ihrer scheinbar so geschlossenen Weltsicht sich wandelte und hinführte zur Folgezeit in Richtung auf unsere Gegenwart, from the closed world to the infinite universe (Alexander Koyré, 1957).
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
381
Das antike und das patristische Erbteil des Mittelalters Man pflegt fast formelhaft von drei Wurzeln oder Komponenten der mittelalterlichen Kulturwelt zu sprechen: Antike, Christentum, Germanentum. Dreierlei Traditionen verschiedener Herkunft sind in der Tat schon auf den ersten Blick unverkennbar und überall handgreiflich wirksam im ganzen mittelalterlichen Abendland. Auf Latein, das nirgends mehr Muttersprache war, sondern in Schulen aus Büchern der Antike gelernt werden mußte, wird bis ins 12. Jahrhundert fast alles, auch danach noch das meiste geschrieben, was uns von diesem Mittelalter Zeugnis und Kunde gibt. Auf Latein wird auch der christliche Gottesdienst gehalten in allen Ländern Europas, obgleich sie größtenteils von Menschen germanischer Herkunft bewohnt oder wenigstens beherrscht wurden. Auch die Bibel liest man weder in den Volksund Umgangssprachen noch in ihrer hebräischen und griechischen Ursprache, sondern in der lateinischen Übersetzung der Spätantike, der sogenannten Vulgata. Auf Latein werden bis ins 13. Jahrhundert auch alle Urkunden, Gesetze, Rechtsbücher aufgezeichnet, obgleich sie nicht römisches, sondern heimisches Recht enthalten oder schaffen. Mit dieser Sprache Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
381
aller Bücher, Urkunden, Briefe lernt jeder, der überhaupt lesen und schreiben lernt – das sind freilich jahrhundertelang fast nur die Kleriker und Mönche, nicht die Laien –, vieles von der Literatur der römischen Antike kennen, vorchristlich-heidnische Dichter, Denker, Geschichtsschreiber, wie Vergil und Horaz, Cicero und Seneca, Sallust und Sueton und viele andere, neben christlichen Theologen der Spätantike, wie Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und die ganze lateinische Patristik. Mit der Sprache dieser Bücher werden viele Gedanken, Vorbilder, Ausdrucksformen aus der Antike übernommen, vorausgesetzt daß sie mit der christlichen Lehre vereinbar oder gar ihrem Verständnis dienlich schienen. Alle diese antiken und christlichen Traditionen wurden von Völkern übernommen, denen sie erst einige Jahrhunderte nach Christi Geburt zugebracht oder von denen sie vorgefunden wurden in den Provinzen des Römischen Reiches, in die sie nach deren Bekehrung zum Christentum seit Konstantin dem Großen in der sogenannten Völkerwanderung eindrangen. Von ihnen bekamen manche dieser römischen Provinzen neue Namen wie Gallien-Frankreich von den Franken, Burgund von den Burgundern, die Lombardei von den Langobarden, auch Britannien-England mit Wessex, Essex, Sussex von den Angelsachsen, schließlich die Normandie von den Normannen, wahrscheinlich sogar Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
382
Gatalonien von den Goten, Andalusien von den Vandalen. Wie die Ländernamen wandeln sich aber auch die dort vorgefundenen antiken und christlichen Traditionen und Institutionen, als jene Völker anderer Herkunft mit eigener Überlieferung sie aufnahmen. Eben aus dieser Begegnung, Verbindung und Verwandlung entstand »das Mittelalter«. Es wäre freilich eine irreführende Vorstellung, als ob einfach die gesamte Überlieferung der Antike verbunden mit der des Christentums von germanischen Völkern und am Rande auch von keltischen Iren, Schotten, Bretonen, später im Osten von Slawen übernommen worden wäre und mit ihren eigenen Überlieferungen verschmolzen zu einer neuartigen »Welt des Mittelalters«, wie in einem chemischen Prozeß verschiedene Elemente sich zu einem neuen Stoff verbinden oder zu einem Amalgam legieren, durch Analyse wieder zu scheiden oder wenigstens zu unterscheiden. Auch ist nicht der ganze Strom antiker Überlieferung mit der christlichen zusammengeflossen und hat sich, vereint mit germanischen Zuflüssen und anderen »Einflüssen«, ins Mittelalter ergossen, wie sich Werra und Fulda zur Weser vereinigen oder wie die Donau mit dem Inn und der Ilz bei Passau zusammenfließen, eine Strecke weit noch an der Farbe ihrer Wässer unterscheidbar, bis sie sich im Weiterfluß vermischen. So naturhaft vollziehen sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
382
geschichtliche Synthesen nicht, und ihre »Elemente« sind nicht so analytisch zu sondern. Denn erst im Fortgang der Geschichte entscheidet es sich unterwegs immer aufs neue, was daraus wird. Vor allem ist nicht das antike Erbe insgesamt mit dem christlichen Vermächtnis vereint den Völkern Europas allein überantwortet und von ihnen mitsamt ihren eigenen Traditionen bewahrt und verwertet worden. Was man heute von der antiken Kultur- und Geisteswelt weiß und als eine der Grundlagen abendländischer Kultur verehrt, war dem europäischen Mittelalter nur sehr teilweise bekannt, man könnte sagen: höchstens zur Hälfte. Nur die römisch-lateinische Antike konnte unmittelbar ins Mittelalter weiterwirken, die griechische nicht, soweit sie nicht schon in römischer Zeit durch lateinische Übersetzungen zugänglich und dem Westen vermittelt worden war. Andernfalls mußte griechische Dichtung und Geschichtsschreibung, Philosophie und Wissenschaft erst nachträglich für Europa wiederentdeckt werden, gehörte nicht zu seinen von jeher wirksamen Grundlagen und Vorbildern. Homer war dem Abendland bis ins 14. Jahrhundert nur dem Namen nach bekannt, dann erst konnte man die Ilias und die Odyssee auch auf lateinisch lesen oder als Humanist im griechischen Urtext. Petrarca rühmte ihn wohl wie Dante als poeta sovrano und veranlaßte die Übersetzung; aber viel Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
382
vertrauter war beiden noch immer die Aeneis Vergils, an der man sich durch die Jahrhunderte stetig gebildet hatte, wie auch an der Thebais und Achilleis des Statius und an Lucans Pharsalia, die wiederum uns als Bildungstradition kaum noch unentbehrlich und gegenwärtig sind. Die griechischen Tragiker Aischylos, Sophokles, Euripides, auch Aristophanes sind dem Abendland vor der Renaissance unbekannt; es liest Senecas Tragödien und die Komödien des Terenz und Plautus. Statt Hesiod und Herodot, Thukydides und Xenophon, auch Polybios und Plutarch kennt und benutzt es Sallust und Sueton und andere lateinische Historiker als Quellen und Vorbilder seiner Geschichtsschreibung, auch Livius, soweit sein Werk nicht verlorenging, selten nur Tacitus, ehe man seine Annalen und Historien (leider unvollständig) und seine Germania in karolingischen Handschriften deutscher Klöster um 1500 wiederfand. Von Perikles und seinem Athen, von der attischen Demokratie weiß man daher im mittelalterlichen Abendland so gut wie nichts, viel dagegen vom augusteischen und kaiserlichen Rom. Den Trojanischen Krieg sah man mit den Augen Vergils, und wie dessen Römer ließ man dann auch die Franken von den Trojanern abstammen, die daher wichtiger, verwandter erschienen als die Griechen; nur von Alexander dem Großen, der auch im biblischen Makkabäerbuch vorkommt, wurde ebenso Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
383
gern erzählt, gefabelt, gedichtet. Außer Platons früh übersetztem Dialog Timaios mit seiner dem biblischen Schöpfungsmythos vergleichbaren Kosmologie waren seine Werke dem Mittelalter unzugänglich, konnten höchstens indirekt durch neuplatonische Vermittler einwirken, ihm also auch die Gestalt und Bedeutung des Sokrates nur schattenhaft sichtbar machen. Hätte der späte Römer Boethius den ganzen Platon und Aristoteles ins Latein übersetzt, wie er plante, bevor ihn der Ostgotenkönig Theoderich 524 einkerkern und hinrichten ließ, wieviel hätte das dem Mittelalter von Anfang an zu denken geben müssen! So aber dienten ihm nur die von Boethius übersetzten Logik-Schriften des Aristoteles zur frühen, stetigen Denkschulung, während dessen naturwissenschaftlichen und metaphysischen Werke, auch die Ethik, Politik, Ökonomik und Poetik mit vielen anderen Werken griechischer Wissenschaft erst im 12./13. Jahrhundert übersetzt und bekannt wurden, oft zunächst aus dem Arabischen, von islamischen Gelehrten kommentiert – aufregend neue Impulse für die Scholastik, aber nicht geistige Grundlagen des Abendlandes von jeher. In Byzanz dagegen, im griechischen Osten, hatte man alle jene Werke altgriechischer Dichtung, Philosophie, Historiographie und Wissenschaft immer gekannt und stetig benutzt, sorgsam abgeschrieben, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
383
eifrig studiert und kommentiert – sonst wäre das meiste davon überhaupt verlorengegangen, höchstens dürftige Reste in späten Papyrusfunden wieder aufgetaucht oder was die Araber viel früher als die Lateiner in ihre Sprache übertrugen und in ihren Schulen zwischen Bagdad und Toledo behandelten –, mehr griechische Philosophie und Naturwissenschaft als Dichtung und Geschichtsschreibung. Ihnen zuerst verdankt der lateinische Westen diesen späten, erregenden Zustrom zu seiner eigenen einseitigen Tradition aus der römischen Antike. Die literarische und gelehrte Hinterlassenschaft des Altertums hatte sich also gewissermaßen verteilt, verzweigt: Nur das Römisch-Lateinische war unmittelbar – in mehr oder weniger zufälliger Auslese – an das mittelalterliche Abendland gekommen, das griechisch Geschriebene hatte mit dieser Sprache viel kontinuierlicher im byzantinischen Ostreich weitergelebt, war von dort teilweise auch an den Islam vermittelt worden und erst später auf seltsamen Umwegen an den lateinischen Westen. Darf man mit Recht sagen, daß das Mittelalter bei der Antike buchstäblich »in die Schule ging«, so muß man doch hinzufügen und bedenken, daß diese Schule kein »humanistisches Gymnasium« war, in dem man auch Griechisch lernte; das mußte später nachgeholt werden. Auch in Byzanz lebte diese antike Überlieferung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
384
seit der Bekehrung Konstantins, der seine Residenz von Rom dorthin verlegt hatte, gleichsam in Symbiose mit dem Christentum, bei den Arabern mit dem Islam, jeweils bei Völkern ganz verschiedener Herkunft und Tradition. Müßten sich die Folgen und Wirkungen solcher Verbindungen nicht aufschlußreich vergleichen lassen? Auch das Christentum war jedoch schon seit der Spätantike nicht mehr ganz dasselbe im Osten und im Westen. In gewissem Sinn hat es sich gleichfalls verteilt und verzweigt wie das antike Erbe. Das »christliche Abendland« war seitdem immer nur ein Teil der Christenheit, auch wenn es das nicht recht wahrhaben wollte: römisch-katholisches Christentum neben dem griechisch-orthodoxen, das auch die meisten slawischen Länder für sich gewann, seit dem 10. Jahrhundert das weite Rußland. Zu einer endgültigen Scheidung in zwei Kirchen, die einander verfluchten, kam es zwar erst 1054, aber die Entfremdung reicht viel weiter zurück, schon weil auch das römische Reichsgebiet rings um das Mittelmeer nach Theodosius dem Großen (gestorben 395) nie mehr von einem gemeinsamen Kaiser beherrscht war. Dem Kaiser in ByzanzKonstantinopel, der im Osten auch weiterhin als irdisches Oberhaupt der Kirche verehrt wurde, gingen die westlichen Provinzen an germanische Völker und Herrscher verloren, die erst arianische, dann Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
384
katholische Christen wurden; ihr Papst, der Bischof von Rom, wurde andrerseits nie auch im Osten als Oberhaupt der ganzen Christenheit anerkannt. Gemeinsame »ökumenische Konzilien« wie zuerst in Nikaia 325 und noch 681 in Konstantinopel kamen danach trotz mancher Versuche nicht mehr zustande; einem zweiten nikaiischen Konzil 787 setzte Karl der Große sein eigenes Frankfurter Konzil entgegen. In Beschlüssen über Dogma und Kult gingen daher beide Kirchen auseinander; ihr Klerus, im Osten nicht durch eine Kirchenreform wie im Westen streng ans Zölibat gebunden und einer Hierarchie eingefügt, und ihr Mönchtum, dort ohne vergleichbare Ordensreformen, unterschieden sich mehr und mehr voneinander. Die griechische Theologie schon der letzten großen Kirchenväter Gregor von Nazianz (gestorben um 390) und Gregor von Nyssa (gestorben 394), Johannes Chrysostomos (gestorben 407) und Kyrill von Alexandrien (gestorben 444) nahm von der lateinischen Patristik noch weniger Kenntnis als diese von jenen, so vieles auch Hieronymus (gestorben 419) und seine Zeitgenossen noch übersetzten. Schon Augustinus (gestorben 430) verstand wenig Griechisch und las es nicht gern. Ihm schien es auch nicht entscheidend wichtig für die Kirche, ob der Kaiser in Byzanz Christ war – um so besser für ihn! – oder nicht; auch der abtrünnige Kaiser Julian galt ihm doch als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
384
tüchtiger Herrscher. »Was liegt daran, unter wessen Herrschaft der sterbliche Mensch lebt?«, heißt es in Augustins Werk De civitate Dei (Buch V Kap. 17 und 24/25). Sprach- und Staats- und Völkergrenzen hatten die Christenheit im weiten römischen Reichsgebiet rings um das Mittelmeer schon in spätantiker Zeit einander entfremdet und auf verschiedene Wege geführt, im Osten zur byzantinisch-orthodoxen Kirche, im Westen zur römisch-katholischen, die ins Mittelalter einmündete. Alle späteren Begegnungen, Disputationen und Unionsversuche blieben bislang vergeblich. Die Christenheit blieb gespalten, das abendländische Mittelalter war nur ein Teil von ihr und lernte den anderen Teil erst später wieder kennen wie das altgriechische Geisteserbe auch. Schon am Leben der drei lateinischen Kirchenväter um 400, deren Schriften am meisten im Mittelalter gelesen und wirksam wurden, läßt sich drastisch diese Scheidung im antiken Mittelmeerraum beobachten, die die Absonderung des mittelalterlichen Abendlandes zu einer Eigenwelt anbahnte. Augustin war in Numidien als Sohn eines römischen Beamten 354 geboren, nach Studien daheim und in Karthago, in Rom und Mailand Christ geworden; in der nordafrikanischen Hafenstadt Hippo Regius (heute Bône in Algerien) wurde er Priester und Bischof und starb dort Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
385
430, als gerade die Vandalen Geiserichs von Spanien her einbrachen und seine Stadt belagerten, um bald in Karthago in der damals noch kornreichen römischen Provinz Nordafrika ihre eigene, romfeindliche Herrschaft zu errichten. Als Augustin sein großes Werk De civitate Dei begann zur Rechtfertigung des Christentums gegen heidnische Vorwürfe, es habe die alte römische Kraft gelähmt und die Einnahme Roms, der Hauptstadt des Erdkreises, durch Alarichs Westgoten 410 verschuldet, besuchte ihn der spanische Priester Paulus Orosius, der seine Heimat verließ, um vor den hinter den Vandalen nachdrängenden Westgoten auszuweichen, die seitdem dreihundert Jahre lang dort herrschten. Ihn veranlaßte Augustin, eine christlichapologetische Weltgeschichte zu schreiben, Historiae adversus paganos, gleichsam eine irdische Unheilsgeschichte als ergänzendes Gegenstück zur Heilsgeschichte in Augustins De civitate Dei; sie wurde zum historischen wie diese zum theologischen Lehrbuch des Mittelalters. Von Augustin, der selbst nie in die griechischen Ostländer des Römischen Reiches ging und deren Sprache schlecht verstand, reiste Orosius nach Bethlehem zu Hieronymus, dem Sprachkundigen aus Dalmatien, einem Grenzland zwischen griechischem Osten und lateinischem Westen. In beiden Reichsteilen viel gereist, auch lange in Rom tätig und literarisch hochgebildet, wurde Hieronymus zum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
385
wirksamsten Übersetzer und Kommentator der Bibel, auch vieler anderer griechischer Schriften, wie der Weltchronik des Eusebius, der Vita des Mönchsvaters Antonius und anderer. Als er sich nach mancherlei literarischen Fehden in die Klosterstille nach Bethlehem zurückzog, kamen Besucher auch aus westlichen Ländern zu ihm. Orosius traf bei ihm einen Mann, der früher römischer Offizier unter Theodosius gewesen, dann Bürger in Narbonne geworden war und sich dort mit dem Westgotenkönig Ataulf befreundet hatte; vielleicht gehörte er zum Gefolge der Kaisertochter Galla Placidia, die der Gote Ataulf heiratete, um sich mit Rom zu verständigen; ihr Grabmal in Ravenna bestaunt man noch heute als Wunderwerk byzantinischer Mosaikkunst. Von König Ataulf selbst hatte jener Römer den Ausspruch gehört, den er bei Hieronymus in Bethlehem erzählte: er habe früher – wohl als er mit seinem Schwager Alarich gegen Rom zog – das Ziel verfolgt, den Römernamen auszutilgen, das ganze römische Reichsgebiet in ein Gotenreich (imperium Gothorum) zu verwandeln, aus der Romania, wie man im Volksmund sagt, eine Gothia zu machen und darin das zu werden, was einst Caesar Augustus für Rom war. Er habe dann aber aus Erfahrung lernen müssen, daß seine Goten noch zu unbändigzügellos, zu barbarisch seien, um so den Gesetzen zu gehorchen, wie ein Staat es zu seinem Bestand Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
385
erfordert. Deshalb habe er sein Ziel ändern und seinen Ruhm nun darin suchen müssen, mit den Kräften der Goten das Römische Reich wiederherzustellen und zu stärken, um bei der Nachwelt wenigstens als Erneuerer des Römischen Reiches zu gelten, da er sein Verwandler in ein Gotenreich nicht werden konnte. Orosius hörte das bei Hieronymus mit an und erzählt es glaubwürdig am Schluß seines Geschichtswerks (Buch VII Kap. 43). Es klingt wie ein prophetischer Vorklang dessen, was hundert Jahre später der Ostgotenkönig Theoderich der Große von Italien aus versuchte oder was das mittelalterliche Kaisertum mit einer Renovatio Romani Imperii zu verwirklichen glaubte: Erneuerung des spätantiken Römerreichs mit germanischen Kräften. Gerade die Länder aber, in denen Augustin, Hieronymus, Orosius lebten und durch die ganze Weite des Mittelmeers zwischen Südeuropa und Nordafrika, Spanien und Vorderasien zueinander kamen gleich vielen anderen Reisenden und Handelsfahrern, gehörten dann nicht zu jenem mittelalterlichen Reich, nicht zum christlichen Abendland, in dem ihre Schriften weiterwirkten. Hatten Augustin und Orosius noch erlebt, wie Germanenvölker in ihre Heimat eindrangen, war auch Hieronymus zutiefst erschrocken über die Erstürmung Roms durch Alarichs Westgoten, so wollte doch keiner von ihnen wie viele andere Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
386
Christen darin ein Zeichen sehen, daß diese irdische Welt zu Ende gehe und das Himmelreich bald anbräche – geschweige denn ein neues Zeitalter der Geschichte. Diese Welt mochte weiterbestehen in ihren Nöten und Kämpfen wie eh und je, der Christ sollte unberührt davon der Zukunft des Herrn harren. Die antike Mittelmeerwelt dieser Kirchenväter brach vollends auseinander, als zweihundert Jahre nach ihrem Tod der Arabersturm ganz Nordafrika samt Spanien unter die Herrschaft des Islam brachte, für immer vom christlichen Europa trennte. Rom lag seitdem nicht mehr in der Mitte einer alten, sondern am Rande einer neuen Welt, Byzanz in einer ihr fremd gewordenen Eigenwelt. Die antike Welt war zerfallen, zerschnitten, ihre Erbschaft zerteilt. Nur der lateinische Westen bewahrte, verwendete und verwandelte sein römisch-christliches Erbteil in einem eigenen »Mittelalter«, das dann in eine »Neuzeit« weiterführte. Der byzantinische Osten zehrte nur von seinem griechischen Erbe, bis die Türken 1453 Byzanz eroberten. Der längst vorher islamisch gewordene Süden des Mittelmeerraums schied sich ganz von Europa und ging seine eigenen Wege. Manches übernahm zwar auch der Islam aus der antik-griechischen Kultur und vermittelte es später dem Abendland. Aber dessen Gegenstoß in den Kreuzzügen entriß ihm nur für kurze Zeit Palästina und Syrien, richtete sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
386
vergeblich auch gegen Ägypten und Tunis, konnte ihn aus Spanien nur Schritt für Schritt zurückdrängen, völlig erst mit dem Fall von Granada 1492. Diese Zerteilung der antiken, christlich gewordenen Mittelmeerwelt war die Voraussetzung für die Entstehung eines abendländischen Mittelalters, dessen Lebenskreis sich mit jener überschnitt, doch nicht deckte. Es konnte nicht allein, nur teilweise deren Erbschaft antreten und unmittelbar fortführen, dazu aber auch viel Eigenes ganz andersartiger Herkunft einbringen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
387
Scheideweg zum Abendland – Anfänge des Mittelalters Zerfiel das spätantike Mittelmeerreich, weil Germanenvölker über seine Nordgrenzen hereinbrachen? Oder konnten sie nur eindringen, weil jenes Reich einer inneren Krise erlag? Oder zerstörte es vollends erst der Einbruch der Araber und des Islam in seine südlichen Provinzen von Kleinasien über Nordafrika bis Spanien? Begann das Mittelalter, als und weil das Altertum aufhörte, oder umgekehrt? Und wann geschah das? Wurde die Pforte zum Mittelalter von den Germanen aufgestoßen, oder schlugen erst die Araber das Tor zur Antike zu? (wie P. E. Hübinger die Alternative drastisch formulierte). Solche Fragen wurden selten so prägnant gestellt, aber oft sehr verschieden beantwortet. Für das simple Bedürfnis nach deutlichen Epochengrenzen mußten die seltsamsten Ereignisse herhalten. Daß im Jahre 476 ein völlig unbedeutender, minderjähriger Kaiser der westlichen Reichshälfte, den schon die Zeitgenossen spöttisch Romulus Augustulus nannten, von einem germanischen Heerführer in römischen Diensten namens Odoakar (Audwaker) abgesetzt, ja »pensioniert« wurde und keinen Nachfolger in Rom bekam, weil der neue Herr über Italien, den seine zusammengewürfelten Truppen zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
387
dessen König ausriefen, vom oströmischen Kaiser in Byzanz ausreichend und besser zu seiner Herrschaft legitimiert zu werden hoffte – das konnte gewiß keinem Zeitgenossen als eine Zeitenwende erscheinen, nicht einmal als »Ende des Weströmischen Reiches«. Ähnliches hatten sie auch schon früher erlebt. Und als zwölf Jahre später der junge Ostgotenkönig Theoderich (Dietrich), dessen Vater noch 451 mit Attilas Hunnen nach Gallien ziehen und auf den Katalaunischen Feldern gegen Römer und Westgoten hatte kämpfen müssen, vom oströmischen Kaiser ermächtigt, an dessen Hof er aufwuchs, mit seinem Volk aus Pannonien an der mittleren Donau gegen Odoakar nach Italien zog, ihn besiegte und umbrachte, bekannte er sich in langer, friedlicher, auch von vielen Römern als segensreich gepriesener Herrschaft zu demselben Ziel wie hundert Jahre vor ihm der Westgotenkönig Ataulf: mit germanischen Kräften das Römische Reich auch im Westen zu erneuern, in Italien von klugen Römern beraten, mit anderen Germanenkönigen in den westlichen Provinzen und darüber hinaus verbündet und verschwägert, vom Kaiser in Byzanz als Patricius der Römer und König seiner Goten anerkannt, wie er ihn als kaiserlichen Oberherrn anerkannte. Fast drei Jahrzehnte lang (488-526) konnte er diese schwierige Aufgabe meistern, vor der seine schwächeren Nachfolger versagten. Trotz ihres Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
387
Heldenmuts unterlagen sie den Feldherren Kaiser Justinians (527-565), die noch einmal ganz Italien wie auch das anderthalb Jahrhunderte lang von den Vandalen beherrschte Nordafrika unter kaiserliche Verwaltung brachten, bis 568 vom Norden her aus dem Donau-Theiß-Gebiet, vor den Awaren ausweichend, die Langobarden nach Italien bis über Rom hinaus vorstießen; sechzig Jahre später ging auch die nordafrikanische Provinz endgültig dem römisch-christlichen Reich an die islamischen Araber verloren. Das in Byzanz ununterbrochen fortbestehende »römische« Kaisertum herrschte dann nur noch über balkanische und kleinasiatische Länder und einen Rest Süditaliens. Wo und wann läge da in dem Viertel-Jahrtausend zwischen Kaiser Konstantin, der Christ wurde und von Rom nach Konstantinopel ging, und Kaiser Justinian, der Italien und Nordafrika zurückgewann und in Byzanz auf lateinisch das alte römische Recht aufzeichnen ließ, ein entscheidender Einschnitt, eine endgültige Wende von der antiken Mittelmeerwelt zum mittelalterlichen Abendland? Selbst die westlichsten Provinzen Spanien und Gallien blieben unter der Herrschaft der dort eingedrungenen Westgoten und Franken noch lange, in vielfacher Verbindung durch Handel und Kultur mit dem kaiserlichen Osten, nach dem Mittelmeerraum orientiert. Lateinisch wurde da weiterhin geurkundet, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
388
gedichtet, geschrieben, zumeist auf Papyrus, den man nur aus Ägypten beziehen konnte, bis die Araber diesen Handel störten. Kein Westgoten- oder Frankenkönig vor Karl dem Großen wagte selbst Kaiser zu werden oder sich dem Kaiser in Byzanz ganz ranggleichebenbürtig zu fühlen. Der salfränkische Kleinkönig Chlodwig, dessen Vater Childerich noch im Dienst der durch Westgoten und Burgunder von Italien abgeschnürten Restprovinz Nordgallien gekämpft und sich mit römischem Schmuck in Tournai an der Schelde hatte begraben lassen, besiegte zwar 481 den römischen Statthalter und trat eigenmächtig an seine Stelle, warf auch die Westgoten über die Pyrenäen, die Alemannen über den Rhein zurück, um in Gallien und darüber hinaus ein eigenes Frankenreich zu schaffen; aber auch er ließ sich doch vom Kaiser in Byzanz als Ehrenkonsul titulieren und streute römische Münzen unter die Einheimischen, die er für sich gewinnen wollte. Und wenn sein Enkel Theudebert selbstbewußt an Kaiser Justinian schrieb, die fränkische Herrschaft reiche nun schon weit ostwärts bis zur Donau und an die Grenzen Pannoniens, auch nach Norditalien hin, war es doch auch sein Wunsch, den Kaiser zum gnädigen Freund zu haben. Keine Abkehr von antiker Tradition, keine bewußte Wendung in ein neues Zeitalter waren da zu spüren. Überdies drohte das weitgespannte Merowingerreich bald durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
388
Herrschaftsteilung unter Chlodwigs Nachkommen zu zerfallen, seine Moral und Bildung zu verkommen. Wer hätte es im 7. Jahrhundert für zukunftsträchtig halten können? Nur die britischen Inseln gingen ganz eigene Wege, seitdem die römische Besatzung um 400 abzog und heidnische Angelsachsen eindrangen. Sie wurden um 600 als einzige Germanen direkt von Rom aus durch mönchische Missionare Papst Gregors I. zum Christentum bekehrt, nachdem vorher schon irische Wandermönche mit eigenartiger, in Gallien gewonnener Klosterbildung sich um sie bemüht hatten. Die bekehrten Angelsachsen blieben kirchlich und kulturell nach Rom orientiert, politisch selbständig und nie dem Oströmischen oder Fränkischen Reich verbunden, eine eigene Spielart germanisch-christlich-antiker Synthese nicht aus kontinuierlich-unmerklicher Tradition, sondern in bewußter Rezeption. Für das abendländische Mittelalter sollte das von seinem Rande her höchst wirksam werden. Man hat neuerdings manchmal Konstantin den Großen als den »Herrn der Wende« gerühmt (A. Schenk von Stauffenberg) oder als den »großen Brückenbauer« (J. Vogt), dessen kolossalische Figur an der Schwelle des Übergangs von der antiken zur abendländischen Phase in der Geschichte Europas stehe (P. E. Hübinger). Denn der Kaiser, der Christ Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
388
wurde und das Römische Reich mit der christlichen Kirche verband, hat auch als erster ganze Germanenvölker auf römischem Reichsboden sich ansiedeln lassen und germanische Krieger nicht mehr nur in römische Dienste genommen wie längst seine Vorgänger, sondern ihnen auch die höchste Laufbahn bis zum Reichsfeldherrn und Heermeister eröffnet – beides Vorstufen für die Entstehung von Germanenreichen unter eigenen Königen in römischen Provinzen. Auch wurde der Gote Wulfila in Konstantins Reich bald nach dessen Tod zum ersten Bischof eines Germanenvolkes, in dessen Sprache er die Bibel übersetzte. Bahnte sich hier nicht bereits die mittelalterliche Verschmelzung von Antike, Christentum und Germanentum an? Nur ist dagegen zweierlei zu bedenken. Germanenvölker wurden zwar seit Wulfila (gestorben 383) Christen, nicht nur seine Goten, auch die hinter ihnen in den Donauländern jenseits der Reichsgrenzen nachdrängenden Ostgermanen: Vandalen, Burgunder, Langobarden und andere. Sie alle wurden nicht durch römische oder griechische Missionare bekehrt und kamen doch in den folgenden zwei Jahrhunderten nicht mehr als Heiden ins römische Reichsgebiet, sondern bereits als Christen. Doch hatten sie voneinander eine eigenartige Form christlichen Glaubens und Kults übernommen, wie sie Wulfila den Goten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
389
gebracht hatte. Das war in den Jahrzehnten heftiger dogmatischer Auseinandersetzungen innerhalb der christlichen Kirche zwischen dem Presbyter Arius in Alexandria (gestorben 336) und seinem Bischof Athanasius (gestorben 373), zwischen Arianern und Athanasianern. Für diese und ihre Trinitätslehre hatte sich das erste, von Konstantin 325 nach Nikaia berufene Reichskonzil entschieden, aber erst ein zweites, von Kaiser Theodosius 381 nach Konstantinopel berufenes Konzil konnte diese Entscheidung für die ganze Reichskirche endgültig durchsetzen, die Arianer als Häretiker verurteilen. In der Zwischenzeit hatten auch manche Kaiser geschwankt und den Arianismus anerkannt, den eben damals auch Wulfila und seine Goten annahmen und an andere Germanenvölker weitergaben, ohne daß sich beobachten läßt, wie das geschah. Infolgedessen kamen dann diese Germanen zwar nicht als Heiden, aber als arianische Ketzer ins römische Reichsgebiet, mit ihren eigenen Bischöfen, Priestern und Kirchen, mit ihrer gotischen Bibel und Liturgie, in eigenen Gemeinden, getrennt von der athanasianisch-katholischen Reichsbevölkerung, mit der sie sich nicht in kirchlicher Gemeinschaft vereinten. Der Unterschied in ihrem christlichen Glauben und Kult wurde nicht immer zu schroffer Feindschaft wie bei den Vandalen Nordafrikas; man konnte sich auch friedlich vertragen wie die Ostgoten und Römer in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
389
Theoderichs Italien, aber man hielt sich kirchlich und damit auch völkisch voneinander getrennt, ließ auch Eheverbindungen nicht zu. Germanisch-christlich-römisch konnte da noch nicht zu einer neuen dauerhaften Einheit werden. Erst der Frankenkönig Chlodwig entschloß sich zu einem anderen Weg als alle germanischen Herrschaftsgründer auf Reichsboden vor ihm. Obgleich mit dem arianischen Ostgotenkönig Theoderich verschwägert und von ihm umworben, ließ er sich (wohl 498) vom Bischof Remigius von Reims katholisch taufen, verband also seine Franken mit der von ihm beherrschten Provinzialbevölkerung Galliens zu einer kirchlichen Gemeinschaft mit lateinischer Liturgie, gewann auch die Bischöfe Galliens und ihren Klerus samt ihrer Verwaltungserfahrung und Autorität für den Aufbau seiner Machtordnung, behielt sich freilich auch die Einwirkung auf ihre Nachfolge vor und nahm andererseits auch Gallorömer in seine Staatsdienste: aus Romanen und Germanen konnte ein gemeinsames christliches Kirchen- und fränkisches Staats- oder Reichsvolk werden. Unter fränkisch-germanischer Herrschaft konnten dabei viele antike und kirchliche Traditionen in Gallien kontinuierlich gewahrt und dann beim Wachsen des Frankenreiches auch an andere Länder rechts des Rheins über die einstigen römischen Reichsgrenzen hinaus vermittelt werden. Gewiß ein ganz anderer Weg, als ihn Kaiser Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
390
Konstantin angebahnt hatte. Andrerseits hatten dessen Nachfolger in Byzanz zwar manche Germanenvölker, die zumal nach dem großen Hunnenvorstoß 375 unaufhaltsam über die Reichsgrenze an der unteren Donau drängten, vertraglich auf Reichsboden zeitweise angesiedelt, zu Waffenhilfe und Grenzschutz verpflichtet, dafür mit Getreide versorgt. Auf die Dauer aber ließen sie keine Germanenherrschaft in östlichen Provinzen nahe der Hauptstadt entstehen. Mit viel diplomatischer Kunst drängten sie diese selbstbewußt werdenden Heervölker über kurz oder lang nach Westen in die lateinische Reichshälfte ab. Da diese ohnehin nicht mehr unmittelbar vom Ostkaiser in Byzanz beherrscht wurde, mochte sie durch germanische Gast- und Hilfsvölker in Schach gehalten oder ihnen überlassen werden. So wurden Alarichs Westgoten, später Theoderichs Ostgoten aus der griechischen Reichshälfte westwärts abgeschoben. Andere aus den Donauländern nachdrängende Germanenvölker wie Vandalen und Burgunder, schließlich auch die Langobarden wichen selbst vor dem stärkeren Byzanz aus und zogen über die Alpen oder den Rhein in westliche Provinzen oder nach Italien. Im oströmisch-griechischen Reichsgebiet aber, wo sich antike und christliche Traditionen unlösbar miteinander verschmolzen, wurde das Germanentum wieder ausgeschieden und ferngehalten. Der Weg von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
390
Konstantin über Theodosius zu Justinian führte ins byzantinische Reich, nicht ins abendländische Mittelalter. Jacob Burckhardts Schüler Carl Neumann, erst Historiker und Byzantinist, später Kunsthistoriker (gestorben 1934), hat sich in einem Vortrag über »Byzantinische Kultur und Renaissancekultur« 1903 gefragt, warum das stetige Weiterleben der griechischen Antike im christlichen Byzanz nicht schöpferische Kulturleistungen bewirkte wie die römisch-antike Tradition schon im mittelalterlichen Abendland und vollends die Aufnahme griechischen Geisteserbes aus dem von den Türken 1453 eroberten Byzanz in der italienischen Renaissance mit ihren befruchtenden, verwandelnden Wirkungen auf ganz Europa. Er fand keine andere Antwort, als daß nicht dem »antiken Element«, sondern den in Byzanz fehlenden Lebenskräften des Germanentums (er sagte: des Barbarentums) im Abendland die kulturellen Hochleistungen und Neuschöpfungen schon des Mittelalters, erst recht der Renaissance zu verdanken seien, während trotz aller hohen Bildung in Byzanz das geistige, künstlerische, auch politische Leben unfruchtbar erstarrt sei, längst ehe es 1204 von abendländischen Kreuzfahrern, 1453 von den Türken erobert wurde. Ganz so einfach wie in chemischer Analyse werden sich die Unterschiede nicht aus dem Fehlen oder Hinzukommen einzelner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
390
»Elemente« erklären lassen. Das Byzantinische Reich hat immerhin ein Jahrtausend lang das »Ende des Weströmischen Reiches« überdauert. Mindestens bis in die Karolingerzeit war es dem germanisierten Westen kulturell weit überlegen. Noch die Kreuzfahrer, die 1204 Konstantinopel eroberten, haben dort unvergleichliche Kunstwerke und Reliquienschätze bestaunt – und mitgenommen, und im 15. Jahrhundert haben griechische Flüchtlinge vor den Türken vieles ins Abendland gebracht, was man vorher dort nicht kannte. Die Byzantiner haben sich auch nicht nur der Germanen, sondern ohne deren Hilfe unter Kaiser Herakleios (610-641) der gefährlich vordringenden Perser und Awaren erwehrt und die Slawen zurückgedämmt. Sie haben sich hundert Jahre später gegen den Arabersturm, dem das spanische Westgotenreich 711 erlag, genauso behauptet wie das Frankenreich unter der einigenden Führung Karl Martells. Von den Byzantinern konnten dann die Araber sogar griechische Philosophie und Wissenschaft lernen und seit dem 12. Jahrhundert dem Abendland vermitteln. Dessen nur teilweise, nur zeitweilig erfolgreichen Gegenstöße in die an den Islam verlorenen Südländer des Mittelmeerraums haben ihm aber das Byzantinische Reich, dessen Hilferuf den ersten Kreuzzug auslöste, auf die Dauer weniger verbündet als entfremdet und verfeindet, bis Konstantinopel selbst 1204 einem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
391
Kreuzfahrerheer erlag. Von einem dort errichteten lateinischen Kaisertum mußte das byzantinische zwei Menschenalter lang nach Kleinasien ausweichen und hat sich doch dann noch ein Viertel-Jahrtausend lang zu einer Spätblüte erholt. Nicht an Lebenskraft und dauer, nicht an reicher Bildungs-, Kultur- und Kunsttradition griechisch-antiker und christlicher Herkunft hat es dieser byzantinischen Welt im Vergleich zum Abendland gefehlt, wohl aber an Spannungen und Wandlungen, die aus dessen »Mittelalter« weiterdrängten in eine »Neuzeit«. Der Vergleich kann zwar nicht einfach erklären, aber doch den Blick dafür schärfen, was diesem mittelalterlichen Abendland seine Eigenart gab, abweichend vom byzantinischen Osten, und damit seine besondere, weiterführende Rolle in der Weltgeschichte. Wann sie begann, ist schwerlich mit einem bestimmten Ereignis zu datieren – wie der Übergang von der spätantiken zur byzantinischen Geschichte auch – und ist auch weniger wichtig als das Verständnis ihrer Besonderheit. »Geburt des Abendlandes, Untergang der Antike am Mittelmeer und Aufstieg des germanischen Mittelalters« nannte P. E. Hübinger 1941 seine Verdeutschung des Spätwerkes von Henri Pirenne, das 1937, zwei Jahre nach dem Tod des belgischen Historikers, unter dem Titel »Mahomet et Charlemagne« erschienen war. Es wollte zeigen, daß Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
391
nicht schon das Eindringen germanischer Völker ins Römische Reich oder ihre Christianisierung die antike Welt auflöste und zum Mittelalter wandelte, sondern daß erst der Einbruch des Islam in die südlichen Mittelmeerländer die alte seebedingte Wirtschafts- und Kultureinheit zerschnitt, in die sich vorher auch die neuen germanischen Herrschaftsbildungen und noch das merowingische Frankenreich einzufügen versuchten. Als aber die Araber den Handel und Verkehr zwischen den Mittelmeerküsten unterbanden, sei das Frankenreich, überhaupt das Abendland gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen, zur Selbsthilfe genötigt worden mit eigenen bäuerlich-kriegerischen Kräften, statt weiterhin von antiker Stadtkultur und Staatsverwaltung zu zehren. Der Aufstieg der Karolinger im morsch gewordenen Merowingerreich sei die Antwort, die Reaktion auf dessen Ausschluß aus dem alten Wirtschafts- und Kulturraum rings um das Mittelmeer, das abendländische Imperium Karls des Großen eine Folge der Wirkungen Mohammeds. Eine neue, auf Europa mit dem Schwerpunkt nördlich der Alpen beschränkte Einheit konnte und mußte seitdem erst sich herausbilden, ein neues Zeitalter, das »Mittelalter« damit beginnen. An diesem dramatisierten Geschichtsbild wurde seither manches im einzelnen berichtigt, doch wäre vor allem zu fragen, weshalb denn der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
391
griechisch-byzantinische Osten nicht gleicherweise oder ähnlich auf den Schnitt durch die Mittelmeerwelt reagierte, auch warum das päpstliche Rom, vorher ihre Mitte, eben damals in seiner Bedrängnis durch die Langobarden sich vom byzantinischen Kaisertum abkehrte und dem Frankenreich der aufsteigenden Karolinger zuwandte, nachdem es schon seit Gregor I. – noch vor Mohammeds Wirkung! – sich um die fernen Angelsachsen bemüht hatte. Wurden nicht auch dadurch grundlegende, unabdingbare Voraussetzungen für die Absonderung des Abendlandes, für die Eigenart seines Mittelalters geschaffen? Zu seiner Geburt verhalfen ihm weder die Araber allein noch die Germanen allein, weder das päpstliche Rom noch das kaiserliche Byzanz allein. Indem aber nach Konstantin der byzantinische Osten, nach Mohammed der islamische Süden der alten Welt eigene Wege ging, schied sich von ihnen das Abendland mitsamt Rom, das nun an seinem Rande lag, aber seine ideellen, traditionellen, universalen Ansprüche mitbrachte in eine vorwiegend von germanischen Völkern beherrschte neue Welt. So langwierig war ihre Geburt, so vielseitig bedingt. Mit frischen Kräften eine alte, aber zerteilte Erbschaft antretend, wurde sie vielleicht gerade dadurch besonders zukunftsträchtig.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
392
Eigene Überlieferung mittelalterlicher Völker Was die Germanen, auch Kelten und Slawen ins Mittelalter einbrachten, ist schwerer zu erkennen als seine antike und christliche Erbschaft. Von dieser zeugen schon in ihrer Schrift und Sprache alle Bücher, die man weiterhin durch die Jahrhunderte las und abschrieb, dadurch der Folgezeit erhielt, ebenso die Steinbauten und Kunstwerke nach antiken Vorbildern in kirchlicher Verwendung und die Fülle von Lehnwörtern aus dem Latein auch in den nicht ohnehin romanischen Sprachen Europas, von Schrift und Tinte, Mauer und Ziegel, Fenster und Keller bis zu Kaiser und Staat, ganz zu schweigen von griechisch-christlichen Lehnwörtern, wie Kirche, Bischof, Priester, Pfingsten und zahllosen anderen. Die Völker aber, die alles das übernahmen und sich zu eigen machten, waren selbst von Haus aus schriftlos, lernten erst von den Griechen, dann vor allem von den Römern und in deren Sprache lesen und schreiben; sie brauchten lange, ehe sie auch eigene, heimische Überlieferung in eigener Sprache aufzeichnen lernten, sofern sie nicht inzwischen vergessen war. Sie hatten auch noch kaum eine eigene Kunst dauerhaften Steinbaus, nur vergängliche Holzbauten und Grabhügel mit Beigaben an Waffen und Gerät, nicht kunstlos, aber stumm oder Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
392
rätselhaft und spät erst wiederentdeckt. Sie hatten auch keine Göttertempel und -bilder, höchstens deutungsbedürftige Zeichen und Bräuche ihres Glaubens und Kults. Schon dem Römer Tacitus oder seinen Gewährsleuten fiel das auf. Er sagt auch in seiner Germania (c. 2): »Alte Lieder sind die einzige Art ihrer Überlieferung und Geschichtskunde« (memorie et annalium). Noch zu seiner Zeit um 100 n. Chr. wurde der achtzig Jahre früher gestorbene Arminius als Befreier Germaniens besungen. Aber nichts davon blieb erhalten. Dem Mittelalter war selbst der Name des Arminius unbekannt, ja lange Zeit der Name Germanen ungewohnt. Wie hätten ihm so vergängliche Zeugnisse germanische Tradition vermitteln können? Und doch blieb solche mündliche Überlieferung in Liedern und Sagen statt in Schrift und Buch noch jahrhundertelang bis ins Spätmittelalter für die meisten Menschen im Abendland die einzige, neben Brauch und Herkommen wirksamste Form ihrer Tradition. Denn lesen, was geschrieben stand, lernten zumeist nur Kleriker und Mönche, nicht die Laien, weder Adlige noch Bauern. Auch ihr Recht wurde gesprochen, nicht geschrieben, war von den Alten zu erfragen, nicht in Büchern zu lesen. Auch die christliche Lehre mußte den Laien in ihrer Sprache gepredigt werden, allenfalls in ihrer Weise gedichtet und vorgetragen oder in Bildern an Kirchenwänden gemalt und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
393
erläutert, in liturgischer Kulthandlung vorgeführt. Was die Zeitgenossen davon vernahmen, ist für uns verklungen, höchstens aus zumeist lateinischen Zeugnissen zu erschließen, die wiederum jene größtenteils nicht selbst hätten lesen können. Ihnen aber wurde neben christlicher Predigt, Gebet und Gottesdienst, neben der darin aufgehobenen, verwendeten, verwandelten antiken Erbschaft, die schon die lateinische Kirchensprache der Liturgie wahrte, immer auch vieles aus eigener alter Überlieferung hörbar vergegenwärtigt, was noch nirgends aufgeschrieben war, aber gesungen und gesagt wurde auf Adels- und Bauernhöfen oder als Recht gesprochen im Gericht. Unsere fast überwältigend reiche Überlieferung aus dem Mittelalter in Handschriften und Urkunden der Kirchen und Klöster war nicht die einzige und nicht die für alle zugängliche Überlieferung im Mittelalter selbst. Ihr stand kaum weniger wirksam eine uns selten unmittelbar faßbare mündliche Überlieferung zur Seite, wenn nicht sogar entgegen, die mehr Germanisches, Eigenes, Heimisches bewahren und weiterwirken lassen konnte als die lateinisch-christlichen Texte auf Pergament. Das Bild, auch das Weltbild dieses Mittelalters wäre nicht nur unvollständig, sondern unwahr und einseitig verzeichnet, wenn man sich nur an seine schriftlichen Zeugnisse hielte. Schon Bauten und Bilder, Trachten und Schmuck, Waffen und Gerät aller Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
393
Art ergänzen nicht nur, sondern ändern das Bild, wie es den Zeitgenossen sichtbar war. Erst recht ist das ihnen – uns nicht mehr – Hörbare hinzuzufügen, notfalls hinzuzudenken, um der erlebten Wirklichkeit mittelalterlichen Daseins und Denkens nahezukommen. Dann erst kann begreiflich werden, was auch aus dem christlichen und antiken Erbe im Abendland mit der eigenwüchsigen Tradition seiner Völker wurde – anders als in Byzanz. An der Dichtung läßt sich das Weiterwirken mündlicher Überlieferung seit germanischer Frühzeit ins Mittelalter hinein am deutlichsten zeigen. Als um 1200 das Nibelungenlied neu gedichtet und nun erst für Laienleser auch in Handschriften aufgezeichnet wurde, muß bereits seit acht Jahrhunderten die Sage von den Burgunderkönigen am Rhein um Worms, von ihrem grausigen Ende durch den Hunnenkönig EtzelAttila, der ihre Schwester heiratete, ununterbrochen von Mund zu Mund gegangen, in Liedern gesungen und gehört worden sein. Wie anders wäre sonst die Kunde davon dem mit Namen unbekannten Dichter in Österreich zur Babenbergerzeit zugekommen, dem das mittelhochdeutsche Werk zu verdanken ist? In Büchern konnte er sie nicht lesen, selbst wenn er sich überhaupt aufs Lesen verstand. Daß im Jahre 437 ein Burgunderkönig Gundicarius am Mittelrhein mit seinem Volk einem Hunnenvorstoß erlag, erwähnt zwar Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
393
damals beiläufig ein aquitanischer Chronist Prosper Tiro, aber nichts von Siegfried und Hagen, Krimhild und Brunhild, nichts in diesem Zusammenhang von Attila, der danach erst zur Macht kam, geschweige denn von Dietrich-Theoderich, der zwei Jahrzehnte später in Pannonien geboren wurde. Daß tatsächlich Attila – in kirchlicher Überlieferung die »Gottesgeißel« – 453 in der Hochzeitsnacht mit einer blonden Ildico (Hilde) starb, weiß man nur aus dem Bericht eines byzantinischen Gesandten an seinem Hof. Diese denkwürdigen Ereignisse und Gestalten müssen sich jedoch in lebendiger Erinnerung bald zur Nibelungensage verknüpft, verdichtet haben, und sie muß seitdem unablässig weitererzählt und gesungen worden sein, obgleich niemand sie aufschrieb. Nur selten taucht eine Spur davon hie und da im lateinischen Schrifttum auf. Gegen Ende des 10. Jahrhunderts soll Bischof Pilgrim von Passau – an der Nibelungenstraße von Worms donauabwärts zum Hunnenhof! – einen Meister Konrad veranlaßt haben, ein Nibelungenlied, das ein Spielmann Swemmel vortrug, ins Latein umzudichten – wie vorher das Walthari-Lied, in dem ja auch der Burgunderkönig Gunther, auch Hagen und der Hunnenkönig Etzel auftreten, zum lateinischen Waltharius-Epos umgeformt wurde. Jene Nibelungias aber ist nicht erhalten. Was sie erzählte, lasen wenige auf Latein, doch man hörte es durch alle Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
394
Menschenalter in der Muttersprache, nicht überall gleichmäßig, sehr verschieden in der Dichtweise jeder Zeit ausgestaltet, ehe es endlich nach 1200 auch zur Lektüre niedergeschrieben wurde. Nach wie vor galt es nicht nur als fabulierende Erdichtung, sondern als wahre Kunde aus eigener Vergangenheit der Sänger und Hörer, denen lateinische Chroniken und Annalen fremd blieben, kirchliche »Legenden« nur übersetzt »verlesen« werden konnten. Neben deren Heiligen wirkten so Könige und Helden der eigenen Vorzeit, christlich oder nicht, im Gedächtnis der Völker denkwürdig-vorbildhaft fort, auch wenn nichts über sie zu lesen war: Siegfried und Hagen, Krimhild und Brunhild, auch Kudrun und ihre Freier, bei den Angelsachsen Beowulf, bei den irisch-bretonischen Kelten König Artus, bei den Tschechen Libussa und Przemisl, bei den Polen der Bauer Piast, von dem ihre Herzöge und Könige abstammen sollen, bei Franzosen und Deutschen Roland und andere »Paladine« Karls des Großen – denn auch sie müssen neben und unabhängig von allen lateinischen Zeugnissen der Karolingerzeit zu Gestalten volkssprachlicher Sage und Dichtung geworden sein, längst ehe das französische Rolandslied um 1100, die Chansons de geste und deutsche Nachdichtungen in der Folgezeit aufgeschrieben wurden. Oft tauchen Helden der Dichtung erst spät in schriftlichen Zeugnissen auf, und es bleibt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
394
uns zweifelhaft, ob sie »historische« Gestalten oder »nur sagenhaft« sind. Für mittelalterliche Hörer war das gleichgültig wie bei Heiligenlegenden und bei der biblischen Geschichte schließlich auch: Für sie war es glaubwürdige, lebensmächtige Wirklichkeit. Das drastischste Beispiel ist Dietrich von Bern, der Ostgotenkönig Theoderich. Seine eigenen Staatsbriefe, verfaßt und gesammelt von seinem römischen Kanzler Cassiodorus Senator, und zeitgenössische Chronisten in Ravenna und anderwärts hinterließen gut verbürgte Kenntnis von ihm. Doch ganz unabhängig davon, unvereinbar vollends mit der kirchlichen Legende, die ihn als Arianer verketzerte, bildete sich in volkssprachlichen Liedern bis nach Skandinavien hin ein ganzer Sagenkreis um ihn, der ihn als edlen, weisen, vereinsamt-tragischen Recken verklärte, noch im Nibelungenlied am Hunnenhof Etzels (obgleich Attila vor Theoderichs Geburt gestorben war) oder im Kampf mit dem Gotenkönig Ermanarich (der in Wahrheit anderthalb Jahrhunderte früher dem ersten Hunnensturm am Schwarzen Meer erlegen war). Unbekümmert um Chronologie, fügen diese Sagen Gestalten und Ereignisse verschiedener Zeiten zusammen, steigern ihre Helden über alles Menschen- und Zeitmaß hinaus, lassen sie schließlich in wuchernder Weiterbildung auch mit Drachen, Riesen, Zwergen kämpfen und erhielten sie dem Gedächtnis späterer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
395
Geschlechter so gegenwärtig, daß man in Notzeiten Dietrich, »von dem die Bauern singen«, auf schwarzem Roß heil- oder unheilverkündend durchs Land reiten sah (wie an der Mosel 1197 vor dem für das Reich verhängnisvollen Tod Kaiser Heinrichs VI.). Vergeblich hat die Kirche diesen arianischen Ketzerkönig verpönt: auf der Bronzetür von San Zeno in Verona – der Stadt, nach der Dietrich von »Bern« heißt! – reitet er verflucht in den Höllenrachen; Chroniken, Legenden, Predigten stellen ihn bis ins 14. Jahrhundert ähnlich dar. Doch weder von kirchlicher noch von spätantiker Tradition ließ sich das heldische Ideal der Sagen und Lieder von Dietrich verdrängen oder beirren. Es war lebensmächtiger als alle lateinisch-christliche Literatur. Ein ziemlich frühes Glied dieser nie abreißenden Kette, die sich über die norwegische Thidreks-Saga des 13. Jahrhunderts hinaus fortgesetzt, ist zum Glück erhalten, weil Fuldaer Mönche um 800 die althochdeutschen Stabreim-Verse des Hildebrand-Liedes auf leere Vorder- und Rückseiten einer Handschrift voller lateinischer, biblisch-theologischer Texte schrieben (leider nicht ganz vollständig): Dietrichs Heermeister Hildebrand, der ihm vor Odoakars Haß treu zum Hunnenkönig folgte, bei der Rückkehr in tragisch-düsterem Streitgespräch und Kampf mit seinem Sohn Hadubrand, der ihn mißtrauisch nicht als Vater Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
395
erkennt. Karl der Große selbst wollte nach Einhards glaubwürdigem Zeugnis solche uralte Lieder, in denen »Taten und Kämpfe der Könige von einst besungen wurden«, in der Volkssprache aufzeichnen lassen, die nach seinem Willen wie Latein zur Schriftsprache werden sollte. Er brachte auch nach seiner Kaiserkrönung ein Reiterstandbild Theoderichs aus Ravenna nach Aachen und stellte es vor seine Pfalz. Doch wie sein Nachfolger Ludwig der Fromme das von seinen Hoftheologen verfemte Ketzerbild beseitigte, so wollte er auch von »heidnischer Volksdichtung«, die er als Jüngling gelernt hatte, nichts mehr wissen, sie nicht aufschreiben, lesen, vortragen lassen, sondern sie durch christliche Dichtung in der Volkssprache ersetzen wie den altsächsischen Heliand oder das gereimte Evangelienbuch des Mönches Otfrid von Weißenburg. Seitdem wurde unablässig von Klerikern und Mönchen gegen Heldensang und Kampfruhm in volkssprachlicher Dichtung gewettert, wenn auch manche lateinische Chronisten selbst davon Gebrauch machten: Beweis genug, daß diese eigenwüchsige Laien-Überlieferung nicht auszurotten war, sondern allen klerikalen Bedenken zum Trotz weiterwirkte. Der große Kaiser Karl glaubte beides vereinen zu können, germanisches mit christlichem und antikem Erbe, wie er auch Volksrechte lateinisch aufzeichnen ließ, auch Laien im Lesen schulen wollte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
395
(und es selbst mühsam lernte), auch Volkssprache schreibfähig machen. Nach ihm schied sich lange – am wenigsten außerhalb seines Reiches bei den Angelsachsen – der nur Latein schreibende Klerus und Mönch von dem nur hörenden, nicht lesenden Laien, das kirchliche Schrifttum vom Wort und Bild für Laien, deren Herkommen, Brauch und Recht doch in ihrer Sprache und Dichtung stets lebendig wirksam blieb, nur uns selten noch so unmittelbar zugänglich wie die Bücher, die sie nicht lasen. War dann ihr »Mittelalter« nicht noch anders als das der Kirche, das wir aus deren reichem Schrifttum kennen? War es ebenso stark von christlichem Glauben geprägt, mit antiker Bildung durchtränkt, oder zwiespältiger, spannungsreicher, vielleicht eben deshalb auch wandelbarer als die biblisch-patristisch-spätrömische Tradition?
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
396
Recht im Mittelalter Im Volksrecht, Kirchenrecht, römischen Recht scheint wiederum die dreifache Tradition germanischer, christlicher, antiker Herkunft das Mittelalter zu prägen, ohne trotz aller Wechselwirkung ganz miteinander zu verschmelzen. Denn Volksrecht gilt nur für Laien. Kleriker und Mönche sind ihm und den weltlichen Gerichten entzogen, sie unterstehen dem kanonischen Recht im kirchlichen Gericht oder der Regel ihrer Klöster und Orden. Römisches Recht vollends gilt in nachantiker Zeit bis ins Spätmittelalter fast nirgends; es wird nur von gelehrten Juristen an Universitäten studiert, seit man um 1100 das Corpus iuris Kaiser Justinians wiederfand. Und nicht nur im Geltungskreis unterscheiden sich die dreierlei Rechte, sondern erst recht in der Art ihrer Überlieferung und Kenntnis. Römisches Recht ist für das Mittelalter nicht wie für die Antike eine Kodifikation und Interpretation geltenden Rechts, sondern ein inzwischen zeitweise verschollenes Rechtsbuch, das aus Interesse an gelehrter Jurisprudenz studiert und »glossiert« wird. Allenfalls gewinnt es den Nimbus alten Kaiserrechts, auf das sich mittelalterliche Kaiser seit Friedrich Barbarossa gelegentlich berufen, ihm sogar eigene neue Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
396
Gesetze (zuerst für die Rechtsschule in Bologna) anfügend. »Rezipiert« aber, befolgt und angewandt wird es gerade erst in nachmittelalterlicher Zeit. Schriftlich gleich diesem römischen Recht und nach seinem Vorbild kodifiziert war auch das Kirchenrecht, aus Konzilsbeschlüssen und päpstlichen Dekreten der frühen Kirche erwachsen, die man immer wieder sammelte, ordnete und bis ins 14. Jahrhundert hinein ergänzte. Es wurde von gelehrten Kanonisten kommentiert wie das römische Rechtsbuch von den Legisten – nur daß dieses kanonische Recht in der Kirche, für den Klerus immer auch galt, dem geistlichen Gericht als geschriebene Norm seiner Rechtsprechung diente und mit Geboten, Verboten, Dispensen auch tief ins Laienrecht einwirkte vor allem in Ehe- und Erbfragen, nicht zum wenigsten auch auf das Herrschaftsrecht der Könige und des Kaisers einwirken wollte. Das Volksrecht der Laien dagegen stand wie ihre Dichtung in eigner Sprache nicht im Buch. Auch wenn es hie und da aufgezeichnet wurde, sei es auf Latein, sei es angelsächsisch, später deutsch und französisch oder wie sonst, urteilte das Laiengericht kaum je nach dem Rechtsbuch, das auch die meisten Laienrichter ohnehin nicht hätten lesen können (und gelehrte Juristen gab es da im Mittelalter nicht), sondern es fällte den Rechtsspruch nach mündlich überliefertem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
396
Recht, nach Herkommen und Brauch der Väter. Die schriftlosen Völker nördlich der Alpen kannten aus ihrer Frühzeit kein Zwölftafelgesetz wie die Römer, keine solonische Gesetzgebung wie die Griechen, kein mosaisches Gesetz oder die zehn Gebote wie das Volk Israel, keinen Hammurabi-Codex wie schon die Babylonier, dem noch ältere Keilschrift-Gesetztafeln vorausgingen. Recht aber, das von jeher und für immer unveränderlich gelten sollte, von den Vätern auf die Söhne durch alle Geschlechter überliefert, galt jenen schriftlosen Völkern um so unantastbarer als Vermächtnis der Vorfahren, wenn nicht der Götter. Es mochte sich leichter als geschriebenes Recht unmerklich wandeln im Fortgang des Lebens, sich anpassen an veränderte Verhältnisse und Bedürfnisse; es galt doch immer als altes Recht, seit Menschengedenken gültig. Es war nicht willkürlich zu ändern, höchstens zu ergänzen. Auch dann aber war Recht wie die Wahrheit und alles Rechte zu »finden«, als sei es von jeher gültig, nur noch nicht bekannt gewesen, nicht aber zu setzen oder zu beschließen, als könnten Menschen eigenmächtig Recht schaffen. Germanenvölker, die mit dieser Rechtsgewohnheit ins römische Reichsgebiet kamen und dessen Rechtsbücher kennenlernten, versuchten zwar, nach deren Muster auch das für sie geltende Recht aufzuzeichnen – auf Latein, da ihre eigene Sprache trotz Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
397
Wulfilas Bibelübersetzung noch kaum schreibfähig war, auch der von ihnen nun beherrschten Reichsbevölkerung nicht verständlich gewesen wäre, die weiterhin nach römischem Recht lebte, aber das Recht der neuen Herren bei Prozessen mit ihnen kennen oder anerkennen mußte. So wurde Westgotenrecht in Südgallien schon unter König Eurich um 475 kodifiziert und nochmals fast zwei Jahrhunderte später in Spanien, nun auch mit römischem Recht der dort Einheimischen verbunden; Ostgotenrecht unter König Theoderich in Italien, Burgunderrecht um die gleiche Zeit unter König Gundobad, der auch für die römischrechtliche Bevölkerung seines Herrschaftsgebiets an der Rhône ein eigenes Rechtsbuch schuf. Noch die Langobarden in Italien haben ihr Recht im Edikt ihres Königs Rothari 643 lateinisch aufgezeichnet, das spätere Langobardenkönige bis ins 8. Jahrhundert ergänzten; eine Art Rechtsschule in Pavia verglich es auch mit römischem und kanonischem Recht. Und schon der Frankenkönig Chlodwig veranlaßte auch die Aufzeichnung des salfränkischen Rechts in der Lex Salica, die bis in karolingische Zeit benutzt, erweitert, mehrfach auch sprachlich überarbeitet wurde. Inwieweit und wie lange solche Rechtsbücher jeweils wirklich maßgeblich waren für die Rechtsprechung im Volksgericht, ist freilich selten genau festzustellen. Die mündliche Rechtstradition und -praxis in eigener Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
397
Sprache ließ sich schwerlich durch literarisch-lateinische Fixierung nach römischem Vorbild lange bestimmen oder gar ersetzen, mochte man auch gelegentlich darauf zurückgreifen. Sie ging bald darüber hinweg, schon weil die Germanenvölker, deren Recht da kodifiziert wurde, über kurz oder lang in neue Strudel der Geschichte gerieten und ihre Herrschaft nicht behaupteten. Ihr eigenes Recht behielten sie freilich bei, auch wenn sie unter andre Herrschaft kamen. Denn darin unterschied es sich bei aller Angleichung an die schriftliche Rechtsüberlieferung der Römer und der Kirche nach wie vor am auffälligsten von ihr, daß es nur für Menschen des eignen Volkes galt, nicht für das ganze von ihm beherrschte Gebiet und dessen Bevölkerung anderer Herkunft. Es war jedem angeboren mit seiner Volkszugehörigkeit und blieb ihm eigen, wohin er auch kam und wo immer er lebte. Es war personales, nicht territoriales oder institutionelles Recht, ein »Recht, das mit uns geboren«, oder besser: in das jeder geboren war, aber bei aller Verwandtschaft verschieden für den West- oder Ostgoten, Burgunder oder Langobarden, salischen oder ripuarischen Franken, Alemannen oder Baiern, Sachsen oder Thüringer. Ob es je in heidnischer Frühzeit ein gemeinsames, einigermaßen einheitliches Germanenrecht gab wie das römische Recht im Mittelmeerraum der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
398
Kaiserzeit, das Kirchenrecht in der Christenheit ist unerkennbar, mindestens strittig. Im Mittelalter gab es das nie, auch nicht im fränkisch-deutschen Reich des Mittelalters. Als die Frankenkönige seit Chlodwig ihrer Herrschaft ganz Gallien unterwarfen und dann auch rechtsrheinisch-germanische Gebiete, lebten doch in ihrem Reich nur die Franken nach fränkischem Recht; ja den »ripuarischen« Franken am Rhein um Köln, deren eigne, den Merowingern verwandte Könige Chlodwig beseitigte, um an ihre Stelle zu treten, wurde ihr abweichendes Recht eigens in einer Lex Ribuaria aufgezeichnet anders als den Salfranken in der Lex Salica. Die römische Provinzialbevölkerung Galliens, mit den katholisch gewordenen Franken in kirchlicher Gemeinschaft vereint, auch von ihrem Heer, ihren Ämtern und von der Ehe mit ihnen nicht ausgeschlossen (wie in Theoderichs Ostgotenreich), behielten doch ihr römisches Recht bei, die Reste der Westgoten südlich der Loire und die dem Frankenreich eingegliederten Burgunder das ihre. Als die Alemannen und die Baiern unter fränkische Herrschaft kamen, wurden auch deren Rechte (nach dem Vorbild der Lex Salica) lateinisch aufgezeichnet und galten weiter für sie. Noch Karl der Große gab den von ihm nach jahrzehntelangen harten Kämpfen unterworfenen Sachsen zunächst zwar eine Art »Besatzungsstatut« mit Ausnahmerecht, ließ dann aber ihr Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
398
eigenes Recht aufschreiben und gelten wie das der Thüringer und Friesen auch. Einhard rühmt ihn eigens, er habe die Aufzeichnung ungeschriebener Rechte der von ihm beherrschten Völker veranlaßt. Wohl versuchte er mehr als seine Vorgänger diese Rechtsvielfalt in seinem weiten Reich durch überall geltende Königsgesetze (Capitularien) zu überwölben und Unterschiede auszugleichen. Bald nach seinem Tod beklagte Bischof Agobard von Lyon, daß nicht im ganzen Reich gleiches Recht gelte wie in der Kirche, daß manchmal sogar in einem Hause Menschen verschiedenen Rechts lebten und nicht füreinander Zeuge vor Gericht sein könnten. Aber ändern ließ sich das höchstens, wo ein starkes Königtum stetig im Hofgericht oder durch Königsrichter, die durchs Land reisten, Recht sprechen ließ nach gleichmäßigen Normen, die zum common law wurden wie im normannischen England nach Wilhelm dem Eroberer (das daher später keiner Rezeption römischen Rechts bedurfte). Auf ähnlichen Grundlagen konnte im normannischen Süditalien der staufische Normannen-Erbe Friedrich II. ein einheitliches Gesetzbuch schaffen, wenigstens für das Staats- und Verwaltungs-, auch Straf- und Prozeßrecht. Weniger gelang den Kapetinger- und Valois-Königen Frankreichs eine Vereinheitlichung des Rechts, am wenigsten dem unsteten Königtum Deutschlands, so anspruchsvoll da auch von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
398
»Kaiserrecht« gesprochen wurde. Noch als schließlich Kaiser Karl V. eine »Peinliche Gerichtsordnung« für das ganze »Römische Reich Deutscher Nation« schuf, wurde sie von den Reichsständen 1532 nur unter dem Vorbehalt angenommen, daß ihnen dadurch »an ihren alten wohlhergebrachten rechtmäßigen und billigen Gebräuchen nichts benommen« würde. Denn die niederdeutschen Fürsten hatten gegen diese vereinheitlichende Rechtsneuerung protestiert, weil bei ihnen nach wie vor sächsisches Recht gemäß dem Sachsenspiegel gelte. Gerade an diesem Sachsenrecht läßt sich die zähe Eigenart, aber auch die Wandlungsfähigkeit mündlicher Rechtsüberlieferung besonders drastisch beobachten. Das alte Recht der eben erst dem Frankenreich unterworfenen, zum Christentum bekehrten oder genötigten Sachsen hatte Kaiser Karl lateinisch aufzeichnen lassen mit einigen Zusätzen zum Schutz des Königs, des Adels, der Kirche. Schon im nächsten Jahrhundert wählten diese Sachsen gemeinsam mit den rechtsrheinischen Franken ihren eigenen Herzog Heinrich zum ostfränkisch-deutschen König, der als solcher fränkischem Recht folgte. Auch bei den anfangs ihm widerstrebenden Baiern und Schwaben brachte er sich klug und tatkräftig zur Anerkennung. Jeder dieser »Stämme« behielt jedoch nach wie vor eigenes Recht. Als wiederum drei Menschenalter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
399
später Heinrichs letzter männlicher Nachkomme aus dem Zweig, dem Otto I. das Herzogtum Baiern übertrug, zum Nachfolger im Königtum erhoben wurde, mußte dieser Heinrich II. den Sachsen, damit auch sie ihn anerkannten, eigens schwören, daß er ihr Recht wahren und in nichts verderben wolle. Erst recht mußte sein Nachfolger, der fränkische »Salier« Konrad II., nach strittiger Königswahl den Sachsen, ehe sie ihm huldigten, ihr »sehr hartes Recht« ausdrücklich bestätigen (wie sein aus Burgund stammender Biograph Wipo bemerkt) und sein Enkel Heinrich IV. desgleichen. Wie aber dieses Sachsenrecht war, inwieweit es noch der von Karl dem Großen aufgezeichneten Lex Saxonum glich, ist unbekannt. Denn erst nach weiteren zwei Jahrhunderten wurde das für die Sachsen Ostfalens geltende Recht abermals niedergeschrieben, nunmehr auch auf deutsch, von dem anhaltischen Schöffen Eike von Repgow (Reppichau bei Dessau). Vergleicht man dessen kurz vor 1230 verfaßten »Sachsenspiegel« mit der alten Lex Saxonum, die er offenbar gar nicht kannte, so läßt sich ermessen, wie stark sich in diesen vier Jahrhunderten das vermeintlich von jeher geltende, immer erneut als unantastbar bestätigte Recht in mündlicher Überlieferung gewandelt hatte: es ist kaum noch wiederzuerkennen. Dabei war Eike ganz gewiß redlich gewillt und ehrlich überzeugt, nur das alte Recht der Väter zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
399
»spiegeln«. In einer Reimvorrede dichtet er: »Dies Recht hab ich nicht selbst erdacht, es haben von alters an uns gebracht unsere guten Vorfahren.« Und doch nimmt er auch nachweislich junges, damals eben erst entstehendes Recht auf, als habe es von jeher gegolten. Von Kurfürsten, die den deutschen König und künftigen Kaiser zu wählen haben – zwar noch nicht allein, aber als die »Ersten an der Kur«, denen die anderen Reichsfürsten zu folgen haben –, liest man im Sachsenspiegel zum erstenmal. Das Kurfürstenkolleg, das es vor 1200 nicht gab, bildet sich gerade damals seit dem langen staufisch-welfischen Thronstreit nach dem Tod Kaiser Heinrichs VI. erst heraus, wohl nicht ohne Einwirkung des Sachsenspiegels, der erstmals sagt, wer dazu gehört in bestimmter Reihenfolge: die drei rheinischen Erzbischöfe von Mainz, Köln, Trier voran, unter den Laienfürsten nach dem Pfalzgrafen bei Rhein der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg – eben deshalb ist im Sachsenspiegel davon die Rede. Den König von Böhmen will Eike nicht als Kurfürsten gelten lassen, »weil er nicht deutsch ist«, kennt aber offenbar dessen Anspruch, der sich später durchsetzte. Er aber stellt es so dar, als hätten jene Fürsten von jeher ein Erstwahlrecht gehabt. Auch in seiner Ständeordnung nach sieben »Heerschilden« spiegelt sich das deutsche Lehnsrecht, wie es sich erst zu seiner Zeit ausbildete; für ihn aber Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
399
steht das in sinnvoller Beziehung zur Zeitenordnung der sieben Weltalter zu je tausend Jahren, nur das letzte seit Christus von Ungewisser Dauer, wie sich auch ihm das Reich seiner Zeit in die Abfolge der vier Weltreiche einfügt, als deren letztes sich das römische im fränkisch-deutschen Reich seit Kaiser Karl fortsetzt. In diesem auch ihm eigenen christlichen Weltbild mit seinen spätantiken Traditionen hatte aber das Recht der Sachsen, das er spiegelte, trotz aller Wandlungen in seiner mündlichen Überlieferung durch die Jahrhunderte seinen fast archaisch-germanischen Charakter ganz unbeeinflußt vom römischen Recht bewahrt, das doch damals längst eifrig studiert und glossiert wurde; nur auf das kanonische Recht der Kirche weist Eike gelegentlich hin, auf die Bibel oft. Nach seiner Überzeugung war immer Recht, was zu seiner Zeit galt, sei es auch mit der Zeit und ihren Anforderungen gemäß umgebildet und keineswegs für alle Völker und alle Stände gleich. Niemand kann, schreibt Eike, anderes Recht erwerben als ihm angeboren ist, und selbst der Papst kann kein Recht setzen, »womit er unser Landrecht oder Lehnrecht niedern (mindern) würde«. Da haben die waffenfähigen »Herren« noch immer das Recht der Fehde, nur nicht gegen Waffenlose – Kleriker, Frauen, Juden – und nicht an christlichen Festen und den Passionstagen (Freitag bis Sonntag), die durch Gottesfrieden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
400
geschützt sind. Da ist Gottesgericht durch Zweikampf, Gottesurteil durch Feuer- oder Wasserprobe noch immer Rechtens, wenn andere Beweismittel für Schuld oder Unschuld versagen – obgleich das Laterankonzil 1215 dem Klerus die Beteiligung daran verbot und schon Bischof Agobard von Lyon die Rechtsentscheidung durch Zweikampf als unchristlichen Aberglauben verwarf. Persönliche Unfreiheit, Hörigkeit, Leibeigenschaft hält auch Eike von Repgow eigentlich für unvereinbar mit dem Christentum, ja mit der Erschaffung des Menschen nach Gottes Bild; aber da sie, durch Zwang und Gewalt begründet, seit alters in »unrechte Gewohnheit« kam, gelte sie nun als Recht. Eike entschuldigt sich sogar, daß er nicht auch das Recht der Dienstleute behandle, weil es zu mannigfaltig sei, um darüber Bescheid zu wissen und zu geben. Kein Wunder, daß ein Augustinermönch vierzehn »Irrlehren« im Sachsenspiegel entdeckte, die Papst Gregor XI. 1374 in einer Bulle verurteilte. Trotzdem hatte das Rechtsbuch inzwischen mehr Verbreitung und Einfluß gewonnen als irgendein anderes. Obgleich es kein Gesetzbuch mit staatlichem Geltungsanspruch war und wurde, richtete man sich vielfach danach im Gericht, auch in den jungen Städten, die Eike noch nicht beachtet hatte: nach seinem Vorbild begannen sie ihr werdendes Recht aufzuschreiben und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
400
verwendeten dabei den Sachsenspiegel, der vor allem mit dem Magdeburger Recht weithin nach Osten bekannt wurde durch deutsche Siedlung und Stadtgründungen, sogar ins Polnische übersetzt wie aus dem Nieder- ins Hochdeutsche. Nach seinem Muster und unter seinem Einfluß wurde 1274/75 in Augsburg auch ein »Schwabenspiegel« verfaßt, in dem wiederum das alte Alemannenrecht der Karolingerzeit kaum noch erkennbar ist, und andere deutsche Rechtsbücher folgten. Das war Eikes stärkste Wirkung, daß nun vielerorts das geltende, bisher mündlich überlieferte Recht niedergeschrieben wurde, wie ähnlich auch in Frankreich die Coutumes einzelner Rechtskreise und Städte. Einheitlicher wurde dadurch trotz mancher Angleichungen und Übernahmen das Recht nicht, es erstarrte eher in seiner Verschiedenheit durch die schriftliche Fixierung. Wenn deutsche Landesherren in ihren Territorien oder auch der Kaiser im Reich möglichst einheitliches Recht erstrebten, mußten sie gelehrte Juristen mit ihrer Kenntnis des römischen Rechts zu Rate ziehen – einer der wichtigsten Gründe für dessen »Rezeption«, die doch die alten vielfältigen Rechtsbräuche nie ganz verdrängen konnte. Erst im rationalistisch-absolutistischen 18. Jahrhundert wurden ganz neuartige Gesetzbücher von Staats wegen geschaffen: das Allgemeine Preußische Landrecht Friedrichs des Großen, der Code civil Napoleons und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
401
andere. Bis dahin hatte – zumal auf dem Lande, wo man in »Weistümern« Recht fand und sprach, statt es im Gesetzbuch zu lesen – eigenwüchsiger mittelalterlicher Rechtsbrauch vielfältig fortgelebt oder nachgewirkt, sich behauptet neben dem geschriebenen Kirchenrecht der Kleriker, in dem auch erst 1917 ein neuer Codex iuris canonici das mittelalterliche Corpus iuris canonici ablöste, und neben dem römischen Recht der gelehrten Juristen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
401
Adelsherrschaft Daß das Recht, nach dem im europäischen Mittelalter die meisten Menschen lebten, wie auch die Dichtung, die sie in eigener Sprache als eigene Überlieferung neben der biblischen zu hören bekamen, weder christlicher noch römisch-antiker, sondern heimisch-germanischer Herkunft und Eigenart war, kam den Zeitgenossen selten deutlich zum Bewußtsein. Eiferten Kleriker gegen »heidnische« Lieder und Bräuche, so blieb das ziemlich unwirksam. Das althergebrachte Recht, so unterschiedlich es war, galt selbst als Gabe und Gebot des einen Gottes, an den alle glaubten. »Ihm ist Recht lieb«, sagt Eike, denn »Gott ist selber Recht«. Diese Überzeugung genügte, um auch das Recht seiner sächsischen Altvordern wie alles wahre, alte Recht in Gottes Wille und Weltordnung begründet zu finden. Wie hätte vollends die in diesem Recht verwurzelte oder von ihm vorausgesetzte Gesellschaftsordnung, in die jeder hineingeboren wurde, nicht als gottgewollt gelten sollen? Da gab es, so weit man zurückblicken konnte, adlige Herren und Geschlechter als Gebieter über Land und Leute, Burgen und Gefolge. Sie heirateten nur untereinander, oft über Völker- und Ländergrenzen, nie über Standesschranken hinweg. Sie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
401
waren unverkennbar herausgehoben über alle übrigen Menschen, mehr noch durch Geblüt und Familienzugehörigkeit als durch Besitz oder Amt, mehr durch Lebensweise und unbestrittenen Geltungsanspruch als durch persönliche Verdienste und Leistungen. Nur von ihnen und ihren Getreuen, ihren Freund- und Feindschaften untereinander sangen die alten Lieder; andere Leute erscheinen da höchstens am Rande als Nebenfiguren. Fast nur über ihre Taten und Untaten berichten auch die Chronisten. Ihr »Wergeld« als Buße, Sühne, Entschädigung für jedes Vergehen an ihrem Leib und Gut war nach den Volksrechten wesentlich höher, doppelt oder drei- bis sechsfach, als für andere, Freie oder Unfreie, als wären Adlige und das Ihre unter allen Umständen mehr wert: eine andere, höhere Art Menschen als sonstige Sterbliche, wie es bis heute noch nachwirkt im Nimbus jedes Adelsnamens, so besitz- und rechtlos oder untauglich sein Träger auch sein mag. Das alles galt als so selbstverständlich, daß selten auch nur die Frage laut wurde, warum das so sei und seit wann oder gar, ob es so sein müsse. Adel mit seinen Vorrechten erschien wie alles Recht von Gott gewollt und gegeben – obgleich doch in der ganzen Bibel kein Adelsstand zu finden ist, sogar das Wort nobilitas in der Vulgata nur einmal vorkommt im 2. Makkabäerbuch (6,23), und da nicht als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
401
Standesbezeichnung. Ja, der Apostel Paulus hatte im 1. Korintherbrief geschrieben (1,26): »Nicht viele Mächtige, nicht viele Hochgeborene (eugeneis, nobiles) hat Gott erwählt, sondern... das Unedle vor der Welt und das Verachtete«. Trotzdem gilt im »christlichen Mittelalter« der Adel nahezu unbestritten als ein höherer, von Gott bevorzugter »Stand«. Ihm gehört nicht nur der meiste Grundbesitz mit der Gerichtsbarkeit über die darauf schaffenden, von ihm abhängigen Leute, die er schützt, aber oft genug auch schädigt, da er allein Krieg führt untereinander und auswärts. Ihm ist alle politische Gewalt vorbehalten, denn nur aus adligen Geschlechtern werden Könige gewählt (wie schon bei den Germanen des Tacitus: reges ex nobilitate sumunt), nur aus ihnen gehen auch Herzöge und Grafen, Pfalz-, Mark- oder Landgrafen hervor, Reichs-, Land- oder Kirchenvögte, und sie vererben diese Ämter ihren Nachkommen. Ihnen allein sind aber jahrhundertelang auch alle höheren Kirchenämter zugänglich, Bischofssitze und Domkapitel, aus denen meist deren Anwärter kommen, und sogar die von diesem Adel gestifteten Klöster mit ihren aus ihrem Kreis gewählten Äbten. Von »Adelsherrschaft« des »Herrenstandes« kann man daher nicht nur im weltlichen, auch im kirchlichen Bereich und sogar im Mönchtum wenigstens bis ins hohe Mittelalter des 12. Jahrhunderts sprechen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
402
und weit darüber hinaus bis in neueste, revolutionäre Zeiten hat sie der europäischen Gesellschaft in allen Ländern ein besonderes, in vielem gleichartiges Gepräge gegeben, kaum weniger nachhaltig als das gemeinsame Christentum, dessen ursprüngliche Gesinnung doch schwer damit vereinbar war. Als die Grafentochter Hildegard von Bingen (gestorben 1179), die visionäre Äbtissin vom Rupertsberg, einmal gefragt wurde, warum sie nur adlig geborene Frauen in ihr Kloster aufnehme, während doch Jesus arme Fischer zu seinen Jüngern berief, antwortete sie in einem Brief, der erhalten ist: »Man pfercht ja auch nicht Rinder und Esel, Schafe und Böcke in einen Stall zusammen! Da käme alles übel durcheinander, wollte man alles Viehzeug in eine Herde zusammentun. Genauso gäbe es böse Sittenverwilderung und gegenseitigen Haß, wenn der höhere Stand zum niederen herabgewürdigt würde, der niedere zum höheren aufsteigen wollte. Gott achtet bei jedem Menschen darauf, daß sich der niedere Stand nicht wie einst Satan überhebe zum höheren. Er teilte das Volk auf Erden in verschiedene Stände, die er alle liebt, wie die Engel im Himmel hierarchisch geordnet sind, Erzengel über den Engeln, Seraphim und Cherubim über anderen Engelchören«. Die himmlische Hierarchie der Engel-Lehre sanktionierte ihr die irdische StändeOrdnung, in der Adlige von Nicht-Adligen oder gar Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
402
unfreien Knechten geschieden sind wie Tierarten, getrennt zu halten sogar im Kloster. Manche Theologen und Dichter vor wie nach Hildegard wollten in den Ständen die Nachkommen der drei Noah-Söhne sehen, als stammten alle Adligen von deren ältestem ab, dem guten Sem (lauter »Semiten«!), die übrigen Freien von Japhet, die Unfreien vom bösen, deshalb zum Knechtsdienst verfluchten Ham (Gen. 9,1827), – von einander geschieden seit biblischen Urzeiten. Denn daß man zum Adel nur durch Abstammung von uralten Geschlechtern gehören, nur dadurch adlig sein könne von Geburt, nicht adlig-edel werden aus eigener Kraft, Gesinnung und Leistung, das war wenigstens bis ins 12. Jahrhundert keinem zweifelhaft, so schwer es auch christlich-biblisch oder mit antiker Überlieferung zu begründen war. Erst als im Hof- und Kriegsdienst adliger Herren, der Könige, Fürsten und Bischöfe auch Dienstmannen (Ministeriale) selbst unfreier Herkunft als »Ritter« in die adlige Gesellschaft und ihre Lebensform Aufnahme fanden, begann man auch anderes »edel« oder »nobel« oder »herrlich« zu nennen als die Menschen alt-angestammten Herrenadels. Für »edle Herzen« nicht nur adligen Bluts dichtete zuerst der nicht-adlige Gottfried von Straßburg seinen Tristan, in dem er auch von »edlem muot«, Edelmut, spricht wie keiner zuvor. Bald darauf Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
403
(1215) konnte in Aquileia der Domherr Thomasin von Zirkläre aus friaulischem Ministerialengeschlecht in seinem lehrhaften »Welschen Gast« erklären: Als Kinder Gottes sind wir alle edel, doch nur »swer reht tuot z'aller frist, wizzet, daz der edel ist«. Der unstete, 1229 am Kreuzzug Kaiser Friedrichs II. beteiligte Spruchdichter, der sich »Freidank« und sein Werk »Bescheidenheit« nannte, als wisse und gebe er frei denkend Bescheid, mahnte gar: Wer von Geburt nicht edel sei, »der soll sich edel machen mit tugentlichen sachen«, denn »wer Tugend hat, ist wohlgeboren« und bringt sein Geschlecht zu Ehren. Der wenig jüngere Reinmar von Zweter stellte dem Adligen von Geblüt, der ein Narr sein könne, den durch eigne Tugend und Tüchtigkeit Edlen gegenüber, der nicht von hohem Stand zu sein brauche. Hundert Jahre später meint Petrarca, wahrer Adel wird nicht angeboren, sondern selbst erworben. Scheinbar wurde damit völlig umgekehrt, was früher unbestritten galt, sich aber dennoch auch weiterhin behauptete. Der Aufstieg des Rittertums in die höfische Gesellschaft um 1200 konnte wohl zeitweise die Grenze zwischen Adel und Nichtadel verwischen oder auflockern, einen neuen »niederen« Adel entstehen lassen, wenn er auch dem alten nie als ebenbürtig galt und sich selten mit ihm versippen durfte. Das Wort »edel« wurde auch für dessen Gesinnung und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
403
Verhalten verwendbar, so wie man späterhin »ritterlich« nicht nur als Ritter, »höflich« sein kann und will nicht nur bei Hofe, dessen »courtoisie« vorbildlich wurde auch für andere. Aber Gesittung und Gesinnung, Lebens- und Umgangsformen ließen sich leichter nacheifernd aneignen als Standesschranken überwinden, die nicht allein auf Besitzunterschieden und Vorrechten beruhten. Ein Adliger konnte verarmen, mancher auch freiwillig arm ins Kloster gehen, er blieb doch immer adlig dank dem Ansehen seines Geschlechts und Standes. Ein Kaufmann und Bürger konnte reich werden, vermögender als manche Adlige, und gehörte doch nun und nimmer zu ihnen. Er konnte höchstens in seiner Stadt mit seinesgleichen als »Patriziat« einen ähnlichen Vorrang vor anderen Bürgern gewinnen und mit seinem Vermögen vererben wie der Adel auf dem Lande: Ratsgeschlechter, die für sich allein die »Wahl« in den Rat und zu Bürgermeistern beanspruchten, ihre eignen Altäre und Erbbegräbnisse in den Kirchen stifteten, nur untereinander heirateten und von Geburt etwas Besseres zu sein glaubten als andere Bürger oder gar Bauern. Dennoch verblieben sie mit ihnen immer im »dritten Stand«, und nur selten konnte im späteren Mittelalter einer ihrer Söhne durch eine kirchliche Laufbahn oder Ordenszugehörigkeit als Bischof in den ersten und zum Reichsfürsten-Stand aufsteigen. Es war schon viel Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
403
und wurde als besondere Ehrung mit dankbarem Stolz empfunden, vom Chronisten eigens vermerkt, daß Kaiser Karl IV. bei seinem Besuch der führenden Hansestadt Lübeck 1375 auf der Höhe ihrer Macht, fünf Jahre nach dem Stralsunder Frieden, der den siegreichen Hansekrieg mit Dänemark beendete, den patrizischen Lübecker Rat als »Herren« ansprach, wie es sonst nur dem Adel gebührte. Nur in den Städten Nord- und Mittelitaliens, in deren Mauern und Bürgerrecht sich auch viele Adlige ihres Umkreises aufnehmen ließen wie anderwärts selten, konnten seit dem 13. Jahrhundert, als sie kein Kaiser mehr wirksam beherrschte, Patriziergeschlechter sich zu erblicher, fürstengleicher »Signorie« aufschwingen, auch als Reichsvikare anerkannt werden. Schon als Friedrich Barbarossa 1154 zur Kaiserkrönung über die Alpen zog, staunten die Deutschen – so erzählt der Reichsbischof Otto von Freising, sein Oheim und Chronist –, daß in der Lombardei, wo seit fast zwei Jahrzehnten kein Kaiser mehr erschienen war, inzwischen Stadtbürger, den alten Römern gleich, von jährlich gewählten Konsuln regiert wurden und das Land ringsum beherrschten, daß auch Adlige sich ihnen fügten und daß Bürger und Handwerker, anderwärts gering geachtet, hier die Waffen führten und Ämter bekleideten. Diese Städte seien dadurch reicher und mächtiger geworden als andere, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
404
nicht mehr gewillt, sich kaiserlicher Herrschaft zu beugen. Wirklich sind ihrer die Staufer nie mehr ganz Herr geworden. Stadtstaaten entstanden, dem deutschen Adel schwer begreiflich und fremder als der Ständestaat, in den er hineinwuchs. Jener Teil Italiens, wo nur zeitweise arianische Ostgoten, dann Langobarden geherrscht, in der Karolingerzeit fränkische Grafen geboten hatten, entfernte sich dabei am wenigsten von der antiken Stadtkultur, näherte sich ihr am ehesten wieder in der Renaissance. Auch seine kirchliche Ordnung blieb am stetigsten, da jede Stadtgemeinde seit frühchristlicher Zeit ihren Bischof hatte. In Gallien war das ähnlich, wurde nur viel stärker und dauerhafter durch die fränkische Herrschaft, Königsund Adelsherrschaft auch über Kirchen und Klöster verändert. Außerhalb der alten Limesgrenzen an Donau und Rhein, deren römische Standlager zu Städten und Bischofssitzen werden konnten, und auch jenseits des Kanals, da die Römer Britannien räumten, ehe Angelsachsen dorthin kamen, war städteloses Germanenland. Schon dem Römer Tacitus war der »zur Genüge bekannte« Unterschied bemerkenswert, daß Germanen keine Städte bewohnen, nicht eng beisammen leben wollen, sondern jeder für sich (wie ihr Adel bis in jüngste Zeit). Und noch Bonifatius als Missionar in Deutschland mußte mehrfach päpstliche Bedenken Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
404
entkräften, daß Bischofssitze nach kanonischen Bestimmungen nur in Städten sein dürften: die gab es da nicht. Bistümer mußten noch von Karl dem Großen, als er die Sachsen unterwarf und bekehrte, gleichsam auf freiem Felde oder bei Burgen errichtet und weiträumig abgegrenzt werden. Christliche Stadtgemeinden konnten sich dann erst allmählich dort bilden. Vorerst war der Adel für das Christentum zu gewinnen und mußte aus seinem Grundbesitz Kirchen stiften und Klöster gründen. Kein Wunder, daß er seine jüngeren Söhne gern zu Bischöfen, Äbten, Priestern und Mönchen werden ließ, um sie so nicht nur zu »versorgen«, sondern zuvörderst auch für die eigene Sippe beten (sowie lesen und schreiben) zu lassen. Was man »Eigenkirche« und »Eigenkloster« nennt (seit Ulrich Stutz), ist nicht nachträgliche, widerrechtliche Aneignung, sondern grundlegende Eigenart christlicher Anfänge im städtelosen Land, unvermeidlich anders als in der antiken Stadtkultur, wo die Landbewohner am längsten heidnisch blieben (daher pagani = Heiden). Wo dagegen der Adel zuerst christlich wurde und eigene Kirchen und Klöster baute, entstand eine Adelskirche ganz anderer Struktur und Gesinnung. Da verstand man – wie im altsächsischen »Heliand« – Christus selber als »Herrn« im Adelssinn, die Jünger als sein Gefolge, Jerusalem als betürmte Gottes-Burg, der jeder Kirchenbau Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
405
sinnbildhaft gleichen sollte, über alle Menschen-Häuser hinausragend und -weisend. Da fühlte sich der Adel, der sie stiftete, nicht nur diesem Glauben enger als andere verbunden, verpflichtet zu seinem Schutz nach innen und außen, sondern auch bestärkt in seinem ererbten Bewußtsein, bevorzugt zu sein durch Geburt und Geschlecht, Gott näher und dadurch berechtigt zur Herrschaft – auch in der Kirche. Gerade weil sie alle umfassen sollte, weil alle zu ihr gehörten, war sie nicht getrennt-unterscheidbar von der irdischnatürlichen Gemeinschaft und ihren Ständen. Es war nicht Mißbrauch kirchlicher Ämter, nicht »Nepotismus«, wenn oft ganze Bischofs-Reihen aus demselben Adelsgeschlecht kamen, nicht »Standesdünkel«, wenn Mönche im Gebet namentlich ihrer eigenen Sippschaft gedachten, wenn auch in Legenden selten verschwiegen wurde, daß ein Heiliger vornehmer Herkunft, edlen Geschlechts war, und wenn Adelssippen gern einen der Ihren kanonisieren ließen, so daß auch der Himmel sich mit Adligen füllte, von allen verehrt. Es war die eigne Art, in der stadtlose Völker das Christentum aufnahmen, ihr Adel voran, neu verklärt durch den Glauben aller und dadurch nur um so beständiger und wirksamer in seiner Geltung. Kriegeradel mit Herrschaftsvorrechten hatte es gewiß auch anderwärts gegeben, wohl in aller archaischen Kultur. Wo sonst aber dominierte er so Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
405
nachhaltig nicht nur im politischen, auch im religiösen und kulturellen Leben wie im christlichen Abendland, wo trotz aller sozialen und geistigen Wandlungen noch heutzutage jeder Adelsname auch und gerade dem »Volk« nach etwas Höherem, Feinerem klingt? Das muß wohl zutiefst verwurzelt sein in uralter Überlieferung und Gewohnheit, nicht erst durch geschichtlich erkennbare Ereignisse erklärbar, soviel auch über »Entstehung des Adels« geforscht und gestritten wurde. Aus Königsdienst und -gunst allein konnte Adel nicht entstehen, sich höchstens ergänzen; gerade auch wo kein Königtum herrschte, wie rechts des Rheins bis zur Karolingerzeit, war Adel besonders mächtig und blieb es. Aus antiker Tradition kam er nicht. Senatorengeschlechter Galliens konnten zwar in die fränkische Aristokratie eingehen. Römische Dichtung wie die Aeneis konnte dem Ahnenstolz zusagen wie die Helden eigener Lieder, zumal man die Franken für Nachkommen der Trojaner hielt. Aber schon in den frühen Ständekämpfen Roms waren Adelsrechte ins Bürgerrecht eingeebnet worden, das dann auch auswärtigen Gemeinden, den Bundesgenossen und Provinzen verliehen wurde, schließlich (seit der constitutio Antoniniana von 212 n. Chr.) für die gesamte Reichsbevölkerung gleichmäßig galt. Nichts dergleichen im Mittelalter; Bürgerrecht höchstens im engen Raum spätmittelalterlicher Städte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
405
denen schon die Aufnahme von »Pfahlbürgern«, das heißt Scheinbürgern vor den Stadtmauern, in ihr Bürgerrecht von den Fürsten unterbunden, noch in der Goldenen Bulle Karls IV. 1356 untersagt wurde. Nichts auch von der Geringschätzung für Adlige, Vornehme durch den Apostel Paulus, der sich vor kaiserlichen Offizieren auf sein römisches Bürgerrecht berufen hatte. Christentum konnte vollends keinen Geblütsadel begründen. Und doch verklärte, bestärkte es ihn, wo die Kirche selbst zur Adelskirche wurde, weil sie Gemeindekirche noch gar nicht hätte sein können, solange die Stadtgemeinde fehlte, die der ecclesia ursprünglich diesen Namen gab. Für germanische Völker hieß sie (wohl seit Wulfilas Zeit) mit einem griechischen Lehnwort »Kirche«, das bedeutet »Haus des Herrn«, Herrenhaus. Man hat viel von »Germanisierung des Christentums« gesprochen, die mit der Christianisierung der Germanenländer in Wechselwirkung Hand in Hand ging, so wie früher die »Hellenisierung des Christentums« durch griechisches Denken seine theologische Lehre ausgestaltet, dann seine »Romanisierung« die kirchlichen Kult- und Rechtsformen geprägt hatte. Glaubenslehre und liturgischer Kirchenkult kamen zu den nördlichen Völkern, die katholische Christen wurden, schon in fester Tradition, die sie wohl auf eigene Weise aufnehmen, zeitweise auch abwandeln, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
406
doch nicht mehr wesentlich verändern konnten. Unvermeidlich mußte sich aber das Gefüge, die Struktur der Kirche ändern, wenn das Christentum aus den Städten der Mittelmeerwelt an germanische Königs-, Adels- und Bauernhöfe kam und sich in deren andere Welt einfügen sollte, die es nicht plötzlich ändern konnte. Beda (gestorben 735) erzählt in seiner Angelsächsischen Kirchengeschichte (II,13), wie einer vom Adel seinem König die Annahme des Christentums empfahl: Das irdische Leben des Menschen gleiche dem raschen Flug eines Sperlings durch die Halle, in der zur Winterszeit der König mit Edlen und Mannen am Herd beim Mahl sitzt, während draußen Schnee oder Regen stürmt. Ein Sperling fliegt zur Tür herein, bald zur andern wieder hinaus, kurze Zeit vor dem Wintersturm gefeit, dann entschwunden ins Dunkel, aus dem er kam. So das Leben des Menschen: eine kurze Weile hier im Hellen, Warmen, ungewiß was folgen wird, was vorher war. Die neue Lehre sagt es, deshalb folge man ihr. Das ist es, was man von ihr erwartet: nicht zuvörderst eine radikale Verwandlung dieses Daseins auf Erden, in der Helle, sondern Gewißheit, was ihm folgt, für den Einzelnen wie für alle, und was voranging seit Beginn der Welt. Danach will man sich richten können in seinem Verhalten, jeder in seinem Stand, um in den Himmel, nicht in die Hölle Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
406
zu kommen, um auch auf Erden schon Sieg für die Krieger, Frieden und Segen für alle und künftiges Seelenheil erwirken zu können von dem einen gnädigen Gott, der alles schuf und lenkt, statt von den vielen Göttern, die sich allzuoft als schwach und unnütz erwiesen. Vieles von dem, was dem Christentum in dieser vom Adel beherrschten Welt und umgekehrt diesem ein neues Gepräge gab, wird verständlich aus solcher Gesinnung. Sie ließ sich weniger bekehren als belehren, wie dieser Gott zu verehren sei und sein Sohn, den er in diese Welt sandte, noch nicht vor- und dargestellt als leidender Christus am Kreuz, sondern thronend als Weltenherrscher, als König aus Davids Geschlecht. Ihm war zu dienen, für ihn auch zu kämpfen. Zu ihm und seinen Heiligen, die ihn wie adliges Gefolge im Himmel umgaben, war zu beten für eigenes Seelenheil und das der Ahnen vor allem. Dafür waren Kirchen und Klöster zu stiften, war ihnen Land zu schenken zur Versorgung der Priester und Mönche, am besten aus eigenem Geschlecht oder Stand. Die lernten die Lehre in fremder Sprache lesen, in eigener predigen und deuten, auch Bücher und Wände der Kirchen und später deren Fenster kunstvoll zu schmücken mit Bildern aus heiliger Schrift: Lehre für die Laien, die nicht selbst lasen, aber die Predigt hörten – wie sonst die Lieder eigener Überlieferung. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
406
Eine in sich beschlossene Welt der Gewißheit über das, was war, ist und sein wird, für jeden nach seinem Verhalten in seinem Stand. Die Frage war nur, ob Christentum außerhalb dieser Adelswelt anders wirken, ob die biblische Lehre auch anders verstanden werden konnte, und ob die Kirche, die aus einer anderen Welt kam, sich auf die Dauer dieser Adelswelt ganz einfügen, sich von ihr gestalten und beherrschen ließ.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
407
Königtum Erstaunlicher noch als die Vereinbarkeit von Christentum mit Adelsherrschaft auch in der Kirche ist das dem Adel entsprossene, stets auf dessen »Wahl«, Zustimmung, Mitwirkung angewiesene christliche, ja »allerchristlichste« Königtum »von Gottes Gnaden«, das so lange das Mittelalter überdauerte. Keine antike Erbschaft wie das seit Karl dem Großen damit verbundene Kaisertum, das seit der Salierzeit dem deutschen König sogar den Titel »König der Römer« einbrachte. Doch die alten Römer hatten ihr nur noch sagenhaft bekanntes Königtum früh abgeschüttelt und waren stolz darauf. Sie hatten Caesar ermordet, als er König werden wollte, und sich Königen der Barbaren oder des Orients stets überlegen gefühlt. Aber christlich? »Die Könige der Völker herrschen über sie, und ihre Gewalthaber heißt man gnädige Herren; ihr aber nicht also«, hatte Jesus zu den Jüngern gesagt (Luc. 22,25). Und wenn Paulus der jungen Christengemeinde in Rom schrieb: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat«, denn sie ist wie alle Obrigkeit »von Gott verordnet«, ja »Gottes Diener«, so war das von den heidnischen Gewalthabern im Römischen Reich zur Zeit Neros gesagt, längst ehe an »christliche Könige« oder Kaiser zu denken war. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
407
Bischof Gregor von Tours (gestorben 594), der erste Geschichtsschreiber der Franken, selbst aus gallo-römischem Senatorengeschlecht, erzählt, wie der Frankenkönig Chlodwig nach langem Sträuben sich zum Glauben an den Christengott seiner burgundischen Gemahlin erst bekehrte, als ihm im Kampf gegen die Alemannen seine alten Götter nicht halfen, sondern Christus, den er anrief, ihm den Sieg schenkte. Nach wie vor seiner Taufe brachte er zwar grausam-listig andere Frankenkönige um, seine nächsten Verwandten, um allein zu herrschen; dennoch schaltet Bischof Gregor in den unverblümten Bericht darüber (II,40) die biblisch verbrämten Worte ein: »So gab ihm Gott täglich seine Feinde in die Hand und mehrte seine Herrschaft, sein Reich, weil er rechten Herzens vor ihm wandelte und tat, was in seinen Augen wohlgefällig war.« Was Gregor weiterhin über Chlodwigs Nachkommen zu erzählen weiß, findet er selbst großenteils abscheulich, selten christlich gut, und nach ihm wurden sie kaum besser, nur schwächer. Trotzdem bleibt dieses Geschlecht ein Viertel-Jahrtausend auf dem Thron, teilt das mit viel Gewalt und Krieg geeinte, geweitete Reich jeweils unter alle Königssöhne, deren jeder das Königsblut erbt, das ihn zur Herrschaft berechtigt, er müßte denn ganz untauglich sein – und beseitigt werden. Das wirkt noch so heidnisch-vorchristlich wie das wallende, nie geschnittene Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
407
Haar dieser Merowingerkönige als Vorzug und unantastbares Zeichen ihrer Königskraft, wie ihr eponymer Stammvater Merowech, der ihnen als Sohn eines übermenschlichen Meerwesens galt; angelsächsische Könige führten ihren Stammbaum gar auf Wotan zurück, schwedische auf andere Götter. Daß diese Königsgeschlechter mit ihrem Volk, zunächst ihrem Gefolge und Adel Christen wurden, änderte nichts daran, daß nur ihren Blutserben Herrschaftsrecht, Kraft und »Heil« zum Königtum zugetraut wurde; ja dieses mythische »Geblütsrecht« aus heidnisch-germanischer Vorzeit wurde christlich sanktioniert. Als schon nur noch merowingische Schattenkönige auf dem fränkischen Thron saßen, der zeitweise sogar leer stand, weil ihr »Hausmeier« Karl Martell aus einem in diesem Amt und auf eignem Besitz längst mächtigen Adelsgeschlecht im Maas-Moselland das weite Frankenreich tatkräftig regierte, neu einte und gegen die Araber siegreich schützte – vom Papst auch nach Italien gegen die Langobarden, nach Rom gerufen, ohne ihm zu folgen –, wagte er doch nicht, das alte, entkräftete, doch als unantastbar geltende Königshaus zu entthronen. Wohl aber vererbte und verteilte er gleich ihm seine eigne Machtstellung an seine beiden Söhne. Erst als der ältere Karlmann, Förderer des Bonifatius bei der Mission und kirchlichen Reorganisation im östlichen Frankenreich, verzichtete und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
408
ins Kloster ging, entschloß sich der jüngere Pippin, selbst König zu werden. Dazu glaubte er jedoch außer der Zustimmung seiner adligen Standesgenossen, der »Wahl« durch die fränkischen Großen, einer höheren Legitimation zu bedürfen, wie sie noch die ohnmächtigsten Merowinger durch ihr ererbtes Königsblut hatten, er nicht. Der Papst in Rom sollte sie ihm geben, der Nachfolger Petri, des »Himmelspförtners«, den die von Rom aus bekehrten Angelsachsen von jeher besonders verehrten, zu dessen Grab sie eifrig nach Rom pilgerten; und Bonifatius, romverbunden und vom Papst zum Missionsbischof in Deutschland bestellt, hatte diese Verehrung des Apostelfürsten und seiner Nachfolger auch im Frankenreich bestärkt, das in der Merowingerzeit ziemlich romfern geblieben war. An Papst Zacharias richtete Pippin die Frage, ob es gut sei, daß im Frankenreich Könige ohne Königsmacht regierten. Die Antwort war: um der rechten Ordnung willen, die sonst verwirrt werde, sei es besser, daß König heißt, wer die Königsmacht hat, nicht einer, dem sie fehlt; deshalb solle Pippin König werden. Und so wurde dem letzten Merowinger das Königshaar geschoren; tonsuriert mußte er ins Kloster gehen, auf Nachkommen verzichten. An seiner Stelle wurde 751 Pippin nicht nur von den fränkischen Großen zum König »gewählt«, auch von einem Bischof – wohl Bonifaz selbst – gesalbt wie zuerst Saul von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
408
Samuel (obgleich Gott seinem Volk gezürnt hatte, weil es einen andern zum König haben wollte statt Ihn allein! 1. Sam. 8). Und als drei Jahre später Papst Stephan II. über die Alpen kam, um fränkische Hilfe gegen die Rom bedrängenden Langobarden zu erbitten, salbte er nochmals Pippin, nun aber auch dessen Gemahlin und beide Söhne; und die Franken ließ er schwören, nie in aller Zukunft einen anderen König zu wählen als einen aus Pippins Geschlecht. Von allen anderen weittragenden Folgen dieser ersten Begegnung zwischen Papsttum und fränkischem Königtum vorerst abgesehen – Italienzüge, Kirchenstaat, Kaisertum – wurde damit nicht nur Pippins Königtum, sondern ein neues Königsgeschlecht, ja das alte Geblütsrecht christlich sanktioniert. Die Wirkung davon, allem »Staatsinteresse« zuwider, ist zu verfolgen bis zu den fürstlichen Erb- und Landesteilungen des Spätmittelalters, bis ins Habsburgerreich und zu allen »Erbfolgekriegen« Europas, zunächst aber unheilvoll genug bei den Karolingern selbst. Wie die Merowinger teilte Pippin sein Reich unter zwei Söhne, die beide zu Königen gesalbt, sich nicht vertrugen. Erst nach dem Tod des jüngeren Karlmann (771) konnte Karl der Große dessen Söhne verdrängen, um allein zu herrschen. Und doch wollte auch er noch 806, noch als Kaiser, sein Reich unter drei bereits gesalbte Söhne teilen! Nur weil die beiden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
409
älteren vor ihm starben, wurde der Jüngste, Ludwig der Fromme, allein zum Nachfolger im Gesamtreich und im Kaisertum. Er versuchte dann, diese »von Gott gewollte« Einheit in einer Reichsordnung 817 für immer zu erhalten, nicht zum wenigsten aus christlicher Gesinnung um der Kirche willen, zu deren Schutz, für den Frieden alles christlichen Volkes. Doch zwei jüngere Söhne und deren Bluterben glaubte auch er nicht ganz entrechten zu dürfen: Sie sollten als Könige unter dem ältesten Lothar als Kaiser kleinere Teilreiche am Ost- und Westflügel beherrschen, nicht ganz unabhängig, doch kraft des auch ihnen angeborenen Herrschaftsrechts. Dieser wohl allzu ausgeklügelte Versuch, Geblütsrecht aller Königssöhne mit Reichseinheit und Kaisertum dauerhaft zu verbinden, ist nach langen, wechselvollen Kämpfen der Ludwigs-Söhne untereinander gescheitert. Das alte Geblütsrecht aller Königserben setzte sich durch gegen den Einheits- und Kaisergedanken, den mit Lothar I. vornehmlich die Kirche verfocht, weniger der Laienadel. Germanische Tradition wirkte stärker als christliche und römische und hat weiterhin den Gang der europäischen Geschichte entscheidend bestimmt. Im Vertrag von Verdun 843 wurde das Reich so geteilt, daß Lothar I. als ältester zwar die Mitte von Aachen bis Rom mit dem Kaisertum erhielt, Ludwig der Deutsche aber den Osten, Karl der Kahle den Westen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
409
als selbständige Könige, dem Kaiser neben-, nicht untergeordnet. Da überdies alle drei ihre Reichsteile weiterhin unter mehrere Söhne teilten, zerfiel das Karolinger- wie einst das Merowingerreich, nur durch dynastische Zufälle noch einmal kurze Zeit (882-887) in einer schwachen Hand vereint. Nie ist seitdem das Karls-Reich als Ganzes wiederhergestellt worden, das außer England und Irland alle damals christlichen Länder Europas umfaßte, vom Ebro bis zur Elbe, vom Tiber bis zum Kanal, über den viele gelehrte Angelsachsen auf den Kontinent kamen wie früher schon Iren. Nie wieder, auch als es seit Otto I. ein neues Kaisertum gab, wurde das regnum Europae, wie das Frankenreich gelegentlich schon in Karls Frühzeit genannt wurde, so weitgehend politisch, kirchlich, kulturell geeint, wurde auch so planvoll und weitherzig versucht, heimische Überlieferung in Recht und Dichtung mit antiker Bildung in deren norm- und formgebender Sprache und Schrift und mit patristischer Theologie zu vereinen in einer kirchlichen Ordnung mit nach römischer Norm geregeltem Kult. Dabei wußte Karl der Große, daß er keineswegs die ganze Christenheit einte und lenkte. Dem 787 von der byzantinischen Kaiserin nach Nikaia berufenen Konzil, dessen Entscheidung für kirchliche Bilderverehrung ihm zu weit ging, ließ er selbstbewußt durch ein eigenes Konzil in Frankfurt (794) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
409
widersprechen. Er wußte auch als Kaiser, daß neben seinem occidentale imperium, dem »abendländischen Reich«, das ältere in Byzanz fortbestand, mit dem er sich nach manchen Konflikten schließlich über eine Art »Koexistenz« und Abgrenzung verständigte. Auch daß noch heidnische Germanen aus dem Norden abzuwehren – oder zu bekehren waren, bekam er durch Wikinger- und Normannenschiffe an den Küsten seines Reiches zu spüren, deren Raubzüge bis tief ins Binnenland sich bald häuften. »Universal« beanspruchte Karls Imperium nicht zu sein; mit Rücksicht auf die Byzantiner vermied er sogar, sich »Kaiser der Römer« zu nennen wie jene, wenn er auch auf seine Kaiserbulle die antike Devise Renovatio Romani Imperii schrieb. Nach ihm unter Ludwig dem Frommen wurde universale Einheit oft lauter postuliert: »Ein Gott, eine Kirche, ein Reich« und ähnlich; doch der Horizont wurde dabei enger, die Kraft zur Abwehr an den weiten Grenzen immer schwächer, der innere Zwist schlimmer, da jeder Königssohn seinen eigenen Reichsteil beanspruchte, in dem sich um so leichter auch Völker verschiedener Sprache und Eigenart sondern und einander entfremden konnten, nicht mehr von einem fränkischen »Reichsvolk« zusammengehalten. »Nationale« Unterschiede hätten dieses Reich wohl nicht sprengen müssen, sowenig sie die gemeinsame Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
410
Kirche sprengten; aber sie mußten wachsen und bewußter werden, je mehr sich die Reichsteilung unter alle Königssöhne gegen die Reichseinheit durchsetzte. Spürbar wurde das schon 887, als dem ostfränkischen Karl III. durch den Tod fast aller Verwandten nochmals das ganze Karolingerreich samt dem Kaisertum zugefallen war, er aber versagte, erkrankte und gestürzt wurde. »Ohne legitimen Erben«, schrieb der Abt Regino von Prüm, »löste sich das Reich in seine Teile auf, deren jeder einen König aus seinem Innern wählte«. Doch war das in Deutschland noch immer ein illegitimer Karolingersproß aus kirchlich nicht anerkannter Ehe, Markgraf Arnulf von Kärnten, und in Frankreich setzte sich gegen den damals gewählten Grafen Odo von Paris, von dem die Kapetinger abstammen, bald wieder ein Karolinger durch, dessen Nachfahren endgültig erst 987 von den Kapetingern verdrängt und abgelöst wurden. Als aber Arnulfs Sohn und Nachfolger Ludwig 911 als Kind starb, wollte rechts des Rheins niemand den westfränkischen Karolinger als nach allem Herkommen rechtmäßigen König anerkennen. Es war eine entscheidende Wende zu einem eigenen, deutschen Königtum, als statt dessen der Frankenherzog Konrad, nach ihm der Sachsenherzog Heinrich gewählt wurde. War es eine Abkehr vom Geblütsrecht? Konrad I. hinterließ keine Kinder, Heinrich I. aber Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
410
vier Söhne. Sein ostfränkisch-deutsches Reich unter sie zu teilen, hätte zu dessen Zerfall führen können. Hatte doch der Baiernherzog Arnulf selbst schon 918 deutscher König werden wollen, und auch die Schwaben hatten inzwischen ihren eignen Herzog. Nicht mehrere, höchstens einen der Königssöhne konnten diese Herzöge mit ihren Stämmen als gemeinsamen König anerkennen, »wählen«. Heinrich I. vermochte noch vor seinem Tod ihre Wahl für seinen Sohn Otto I. zu sichern und auch dessen kirchliche Salbung und Krönung in der Aachener Thron- und Grabkirche Karls des Großen, die er mit Lothringen für sein ostfränkisch-deutsches Reich gewonnen hatte. Gerade der »ungesalbte König« Heinrich, der nach seiner eigenen Wahl auf kirchliche Weihe verzichtet hatte, um nicht wie sein Vorgänger am Widerstand anderer Herzöge und des Laienadels ihrer Stämme gegen ein Königtum mit kirchlichem Rückhalt zu scheitern, dessen Sachsen überdies am spätesten Christen geworden waren, gerade er rang sich – wie selbst Karl der Große nicht und keiner seiner Nachkommen – wider alles Herkommen zur Beschränkung des Herrschaftserbes auf nur einen seiner Söhne durch, sicherte dadurch für immer die Unteilbarkeit seines ostfränkischdeutschen Reiches und lenkte es andrerseits doch in die Aachener Karls-Tradition zurück. Trotzdem wurde damit das alte »Geblütsrecht« aus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
410
heidnischer Zeit keineswegs unwirksam für die weitere Geschichte Deutschlands und Europas. Otto I. mußte sich anfangs mühsam gegen Thronansprüche und Empörungen seiner Brüder behaupten, gab dann aber auf andere Weise seinen nächsten Blutsverwandten einen Herrschaftsanteil: Nicht neben, aber mit ihm sollten sie im unteilbaren Reich herrschen als Herzöge, mit einer Herzogstochter vermählt, oder auch als Kirchenfürsten wie sein jüngster Bruder Brun, der Erzbischof von Köln und auch Herzog in Lothringen wurde; sogar Ottos vorehelicher Sohn Wilhelm wurde Erzbischof von Mainz. Obgleich sich diese Beteiligung des Königshauses an der Herrschaft nicht immer bewährte, hat sie sich oft wiederholt bis zu den ersten Habsburgern hin, ähnlich auch in Frankreich und England: alle Königssprossen bekamen Anteil an der Herrschaft, nächst dem Thron, wenn nicht auf ihm. Vor allem aber galten noch lange nur sie als thronfähig, ein Königssohn sogar schon als Kleinkind wie Otto III. (983 dreijährig) und Heinrich IV. (1056 sechsjährig), beide in schwieriger Lage des Reichs unter der Regentschaft ausländischer Mütter (der Griechin Theophanu und der bald den Fürsten weichenden Agnes von Poitou). Erst der dreijährige Friedrich II. kam, obgleich wie jene schon »gewählt«, nach dem frühen Tod seines Vaters Heinrich VI. 1197 nur auf den sizilischen, nicht auf den deutschen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
411
Thron, um den langer Streit entbrannte; dann wurde doch er König. Zwist gab es schon früher, wenn ein Königssohn fehlte, wie in Deutschland allzu oft (1002, 1024, 1125, 1137). Dann konnten fürstliche und kirchliche Interessen an »freier Königswahl« ohne Beschränkung auf die Nachkommen früherer Könige aufkommen. Als gar Heinrich IV. von Gregor VII. gebannt und entthront wurde, wählten 1077 seine fürstlichen Widersacher im Beisein eines Legaten den Schwabenherzog Rudolf von Rheinfelden nur unter der Bedingung zum König, daß er die Krone nicht, wie bisher üblich, vererben wolle, sondern seinen Sohn, selbst wenn er dazu besonders tauglich wäre, höchstens durch »freie Wahl« König werden ließe. Und 1125 wurde unter gleichen Einflüssen der Sachsenherzog Lothar von Supplinburg gerade deshalb gewählt, weil er nicht königsverwandt war wie der Schwabenherzog Friedrich von Staufen, der als Enkel Heinrichs IV., Neffe des letzten Saliers, dessen Nachfolge beanspruchte. Solche Versuche, Königserben auszuschalten und »frei« zu wählen, zeigen jedoch nur um so deutlicher, wie stark dennoch der alte Glaube an das angeborene Herrschaftsrecht des Königsblutes weiterwirkte. Denn jedesmal kamen schließlich – sei es nach einer Unterbrechung – die Nachkommen früherer Könige, wenigstens einer Königstochter, doch noch auf den Thron: die Staufer nach Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
411
den Saliern wie diese nach den Ottonen. Ja selbst nachdem Fürsten und Päpste erreicht hatten, daß nach dem Ende der Staufer ein Jahrhundert lang der deutsche König – und geflissentlich nie sein Sohn – von sieben Kurfürsten frei gewählt wurden, wie es die Goldene Bulle Karls IV. 1356 dann als Reichsgesetz für immer verbriefte, wurden dennoch bald nur noch Königserben gewählt, nach den Luxemburgern die ihnen nächstverwandten Habsburger bis ans Ende des alten Reiches. So nachhaltig wirkte trotz aller Einwände und Wandlungen der alte Glaube an den Vorzug des Königsbluts, selbst in Deutschland, das rechtlich zum Wahlreich wurde, erst recht in anderen Ländern Europas. Auch in Frankreich hatte sich im 9. Jahrhundert aus ähnlichen Gründen wie rechts des Rheins die Unteilbarkeit des nun für immer von Deutschland dynastisch getrennten Westfrankenreiches durchgesetzt, nach dem Sturz der letzten Karolinger 987 aber auch das Kronrecht des neuen kapetingischen Königshauses allein, das sogar am längsten auf dem Thron blieb, in seinen verschiedenen Zweigen bis zur Französischen Revolution. Es hatte das Glück, daß zunächst über drei Jahrhunderte lang immer ein Königssohn den Vater überlebte, anfangs von den oft mächtigeren Großen »gewählt«, immer auch kirchlich gesalbt und gekrönt, bis man das so gewohnt wurde, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
412
daß Frankreich schon um 1200 als Erbmonarchie galt, keiner Königswahl bedürftig, ohne daß sie je eigens abgeschafft wurde. Eine diesen »geborenen Königen« zugetraute magische Heilkraft erinnerte noch unmittelbar an heidnische Wurzeln dieses Königsglaubens, der vom Christentum nicht geschaffen, aber auch nicht angefochten, nur geläutert, überglänzt und erhöht wurde. Wie zu herrschen sei, konnten Theologen in Fürstenspiegeln ihren Königen mahnend sagen, nicht aber, wer zu herrschen habe. Erst als ein Kapetinger 1328 keinen Sohn hinterließ, wurde es strittig, ob dann nur ein Nachkomme von Söhnen – oder auch von Töchtern früherer Könige folgen dürfe (wie in Deutschland). Im normannischen England hatte sich dieselbe Frage schon zwei Jahrhunderte früher entschieden: Nach Heinrich I. (1135), dem jüngeren Sohn, zweiten Nachfolger Wilhelms des Eroberers, war zwar nicht dessen Tochter Mathilde, wohl aber dann nach langen Wirren deren Sohn Heinrich II. Plantagenet von Anjou auf den Thron gekommen, den daher später – bis heute – auch Frauen als Erben des Königsblutes besteigen durften. In Frankreich nie, obgleich oder gerade weil dessen Krone seit 1328 die englischen Könige als Nachkommen einer Schwester des letzten Kapetingers nach dem für sie geltenden Thronfolgerecht beanspruchten. Hundert Jahre lang kämpften sie darum gegen die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
412
französischen Valois-Könige, die vom Neffen eines früheren Kapetingers abstammten. Deren »salisches« Erbrecht – so genannt, als sei es urfränkisch – hat sich dabei unter Ausschaltung der Nachkommen von Königstöchtern behauptet. Gewiß ging es dabei zugleich um den englischen Festlandsbesitz; die von früheren normannischen und angiovinischen Königen Englands ererbten französischen Kronlehen zwischen dem Kanal und den Pyrenäen gingen im Hundertjährigen Krieg verloren. Und wie einst in karolingischer Spätzeit wurde durch den langen Thronzwist und Machtkampf auch die »nationale« Sonderung der Völker Westeuropas herausgefordert und bestärkt – Jeanne d'Arc war ihr Herold und Opfer. Primär aber bestimmten nicht die Völker, sondern die Könige und Fürsten mit ihren ererbten, verzweigten, entzweiten Herrschaftsansprüchen die Geschicke Europas im Mittelalter und weit darüber hinaus. Daher Erbfolgekriege auch innerhalb der Länder: Dem Rückschlag der hundertjährigen Kriege um Frankreich folgten in England drei Jahrzehnte der »Rosenkriege« zwischen den Plantagenet-Nachkommen der Häuser Lancaster, York, Tudor – Helden der Königsdramen Shakespeares –, während Spaniens Königreiche, in vier Jahrhunderten des Vordringens gegen den Islam (Reconquista) oft vereint, oft geteilt, sich nun durch Heirat verbanden, nur Portugal getrennt blieb. Nicht viel Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
412
anders die skandinavischen Königreiche, wechselnd verbunden unter gemeinsamen Herrschern oder verteilt unter deren Erben; Polen bald unter viele Piasten zerspalten, dann unter einem geeint, schließlich durch heiratende Königstöchter zeitweise mit Ungarn, endlich mit Litauen verbunden. Ähnlich allerwärts. Dynastien-Geschichte ist nicht mehr beliebt. Sie stellte jedoch im Mittelalter die Weichen der Gleise aller Völker- und Staatengeschichte Europas, in denen auch das wirtschaftliche, kulturelle, geistige Leben verlief und verschieden geprägt wurde. Sie bestimmte weitgehend auch die Unterschiede im Verhalten zum Christentum, zur gemeinsamen Kirche, zum Papsttum wie zum Kaisertum, längst vor der Reformationszeit, in der das vollends offenkundig wurde: cuius regio, eius religio – wer herrscht, bestimmt den Glauben; wer aber zu herrschen habe, entschied die Herkunft, das ererbte Königsblut. Daran hat auch das Christentum und die Kirche mit ihren Bemühungen um »freie Wahl« nichts zu ändern vermocht, solange Königtum besteht.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
413
Das mittelalterliche Kaisertum König ist wie Adel ein germanisches Wort, das ursprünglich bedeutet: Mann von (vornehmem) Geschlecht. Kaiser ist ein Lehnwort lateinischer Herkunft, in dem Caesars Name fortlebt. In Rom wurde der Frankenkönig Karl am Weihnachtstag des Jahres 800 von Römern zu ihrem Kaiser ausgerufen, vom Papst gekrönt. Zeitgenossen rühmten ihn als neuen Konstantin, verglichen ihn also dem ersten christlichen Kaiser, der die Residenz von Rom nach Byzanz verlegte, sprachen gelegentlich auch von Aachen als neuem, anderem Rom. Römisch und christlich, auch am byzantinischen Kaisertum zu messen, mußte demnach dem Frankenkönig und den Seinen die neue Würde erscheinen. Ob er sie selbst erstrebt hatte, ob er nach eignem Wunsch und Willen vom Papst in Rom gekrönt wurde, darüber waren schon die Zeitgenossen und ist die Forschung noch heute nicht einig. Sein Biograph Einhard, der ihn gut kannte, aber sein Leben wohl erst anderthalb Jahrzehnte oder länger nach Karls Tod in veränderter Zeit unter Ludwig dem Frommen darstellte, erzählt bekanntlich, Karl habe nach der römischen Krönung unwillig gesagt: Hätte er gewußt, was der Papst vorhatte, so hätte er an diesem Weihnachtstag trotz des hohen Festes die Peterskirche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
413
nicht betreten. Viel ist über diesen einzigen von Einhard eigens erwähnten Ausspruch des neuen Kaisers gerätselt worden. Jedenfalls bezeugt er, daß Karl nicht so hatte Kaiser werden wollen, wenn überhaupt. Sein Hoftheologe Alkuin hatte zwar schon vorher von Karls christianum imperium gesprochen, andere von seinem imperiale regnum; aber Kaiser hatte ihn keiner genannt. Er selbst äußerte sich noch um 790, als er das Frankfurter Konzil zur Auseinandersetzung mit den Beschlüssen des von der Kaiserin Irene nach Nikaia berufenen Konzils vorbereitete, sehr geringschätzig über die römischen Kaiser alter und neuer Zeit, keineswegs so, als strebte er nach ihrer Würde und Nachfolge. Nur wollte er und sollte sein Reich nicht hinter ihrem Imperium zurückstehen oder gar unter ihm, sondern ihm mindestens gleichrangig sein. Er fühlte sich ihm überlegen, auch ohne Kaiser zu heißen, zumal als in Byzanz eine Frau regierte, die Kaiserwitwe Irene, die 797 ihren eigenen Sohn blenden ließ und entthronte; 803 wurde sie selbst gestürzt. In Rom aber, wo Karl als Patricius, wie es bereits sein Vater war, schon bei früheren Besuchen kaisergleich geehrt wurde, brauchte Papst Leo III. einen Kaiser als Richter über seine Widersacher; und so ließ er den mächtigen christlichen Frankenkönig und Patricius der Römer in allen in Byzanz üblichen Formen zum Kaiser ausrufen und krönte ihn. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
414
Die Frage war seitdem, wie Karl dieses neue, nolens volens angenommene Kaisertum auffaßte und verwendete, was daraus werden sollte. Nie ging er als Kaiser wieder nach Rom und Italien wie vorher mehrmals als König; nie legte er wieder die Kaisertracht an mit langer Tunika und roten Stiefeln, wie in Rom zur Krönung und einmal schon früher auf päpstlichen Wunsch; wieder daheim, kleidete er sich nach wie vor fränkisch und trug Königs-, nicht Kaiserornat. Von Aachen aus, wo er seither zumeist residierte, ließ er zwar nach der Heimkehr in seinem ganzen weiten Reich von allen Erwachsenen den Treueid erneuern, jetzt für den Kaiser wie früher für den König: Alle sollten wissen, daß er nun Kaiser sei, um so mehr Gott verantwortlich für die Ordnung, das Recht, den Glauben aller in seinem Reich. Von Rom war dabei nicht die Rede; vom Kaisertum nicht, als Karl 806 für den Fall seines Todes drei Söhnen ihre künftigen Reichsteile abgrenzte. Als aber nur der Jüngste am Leben blieb, ließ ihn Karl 813 in Aachen ohne Mitwirkung des Papstes als Nachfolger im Kaisertum wie im Gesamtreich von den Franken anerkennen und sich mit eigner Hand krönen. Erst nachträglich und zusätzlich wurde dieser Kaiser Ludwig der Fromme, der in dem Vierteljahrhundert seiner Herrschaft nie nach Italien ging, auch noch vom Papst bei einer Begegnung in Reims 816 gekrönt. Doch ließ auch er schon im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
414
nächsten Jahr seinen ältesten Sohn Lothar wiederum in Aachen von den Franken zum Mitkaiser und Nachfolger »wählen« und krönen, dem sich nach der zugleich beschlossenen Reichsordnung die beiden jüngeren Brüder als Könige mit ihrem kleineren Reichsteil unterzuordnen hätten; und das sollte für immer gelten, das Kaisertum zur Klammer der Reichseinheit werden, der jeweils älteste Kaisersohn in Aachen zum Nachfolger gekrönt, als brauchte man dazu – wie in Byzanz – keinen Papst. Auch der junge Mitkaiser Lothar I. wurde zwar, als er 823 nach Rom kam, vom Papst nochmals gekrönt. Da aber nach langem Brüderzwist der Verdun-Vertrag seine Herrschaft auf das Mittelreich beschränkte, das er dann seinerseits unter drei Söhne teilte, ließ er deren Altesten, der nur das italienische Drittel bekam, 850 in Rom vom Papst zum Kaiser krönen – wo und wie sonst? Dieser Kaiser Ludwig II. konnte also einen Vorrang seines auf Italien beschränkten, aus dem Frankenreich fast schon wieder ausgesonderten Kaisertums nur noch mit der päpstlichen Krönung in Rom legitimieren, auch gegenüber dem byzantinischen Kaiser. Da er keine Söhne hatte, wurde es nach seinem Tod 875 vollends zur päpstlichen Gabe an hilfsbereite oder ehrgeizige Bewerber beiderseits der Alpen, bis es 926 sang- und klanglos erlosch. Verklärende Erinnerung an Kaiser Karls Reich, das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
414
so bald zerfiel, genügte gewiß nicht und konnte kaum dazu ermutigen, es zu erneuern, selbst wenn manche Theologen und Chronisten in ihm nun das letzte Weltreich der Daniel-Visionen nach deren patristischer Deutung sahen, das bis zum Weltende dauern, den Antichrist mit seinen Schrecken vor Christi Wiederkunft aufhalten sollte, die Fortsetzung also des römischen Imperiums, das mit Augustus begann, seit Konstantin auf die Griechen, seit Karl auf die Franken übertragen sei. Das konnte allenfalls zum religiösen Ansporn, zur Rechtfertigung von Ansprüchen auf Erneuerung des Kaisertums auch im Abendland werden, obgleich es ja im byzantinischen Osten immer fortbestand. Vieles mußte zusammenkommen, gelingen und mißlingen, ehe ein ostfränkisch-deutscher König sächsischer Herkunft wiederum nach Rom gerufen und vom Papst zum Kaiser gekrönt wurde – scheinbar den Weg Karls des Großen wiederholend und doch mit ganz anderem Ergebnis. Hätte schon die von Heinrich I. ermöglichte Königswahl und -krönung seines Sohnes Otto I. in Aachen, Kaiser Karls Thronund Grabstätte, ihn auf diesen Weg karolingischer Tradition mit dem Ziel der Erneuerung des Kaisertums gewiesen – warum ließ er sich und später seinen Sohn nicht dort zum Kaiser erheben und krönen, ohne Papst, wie einst Karl seinen Sohn und dieser Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
415
desgleichen? Manche Zeitgenossen nannten ihn nach seinen Siegen über innere und äußere Feinde bereits Kaiser, ehe er in Rom vom Papst gekrönt wurde; und auch danach noch stellte es Widukind von Corvey in seiner Sachsengeschichte so dar, als sei Otto 955 nach der Lechfeldschlacht über die heidnischen Ungarn von seinem siegreichen Heer zum Kaiser und Vater des Vaterlandes ausgerufen worden wie einst römische Imperatoren; die römisch-päpstliche Krönung verschwieg er. Otto I. aber nannte sich nicht Kaiser, ehe er sieben Jahre später nach Rom gerufen und von einem jugendlichen, untauglichen Papst zu Lichtmeß 962 in der Peterskirche gekrönt wurde. Er hatte zwar schon zehn Jahre früher dorthin gehen wollen, als er zuerst nach Italien gezogen, in Pavia König der Langobarden geworden war, deren frühere Königin Adelheid er heiratete. Die Adelsherrschaft über Rom und das Papsttum glaubte jedoch damals keinen Helfer und Kaiser zu brauchen, und auch in der Lombardei behauptete sich der nur zeitweise aus Pavia verdrängte König Berengar, von Otto notgedrungen anerkannt, nur mit einem Treueid verpflichtet, da ihn daheim Aufruhr seiner nächsten Verwandten und neue Ungarneinfälle bedrohten. Erst als er darüber Herr geworden, Rom aber von Berengar bedrängt war, folgte Otto dem Ruf dorthin und ließ sich und seine Gemahlin vom Papst zum Kaiser krönen – gewiß in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
415
ähnlicher Weise wie einst Karl der Große und in vielem nach seinem Vorbild, aber mit ganz anderen Folgerungen. Denn er hielt sich nicht seitdem von Italien fern wie jener, sondern blieb dort mit kurzer Unterbrechung fast neun von seinen elf Kaiserjahren, nicht zum wenigsten durch Auseinandersetzungen mit rasch wechselnden Päpsten festgehalten oder zurückgerufen. Von fünf Päpsten dieser kurzen Zeit ließ er zwei durch Synoden absetzen, auch den, der ihn gekrönt hatte, dessen Vetter dann den Kaisersohn krönte. Denn trotz aller schlimmen Erfahrungen mit diesem Stadtadel auf dem Papststuhl rief der Kaiser seinen gleichnamigen Sohn, der schon vor dem Romzug in Aachen zum König »gewählt« und gekrönt worden war, als Zwölfjährigen nach Rom zur Kaiserkrönung durch den Papst, der dann auch dessen Gemahlin Theophanu zur Kaiserin krönte, als die Anerkennung des neuen Kaisertums durch Byzanz mühsam erreicht und durch diese Ehe besiegelt wurde. So anders als die ersten Karolinger-Kaiser dachte und wünschte sich also Otto I. die Nachfolge in seinem Kaisertum: der Kaisersohn, in Deutschland zum König »gewählt«, in Aachen vom Kölner Erzbischof gekrönt, in Rom noch zu Lebzeiten des Vaters vom Papst zum Kaiser. Das ist jedoch nie wieder gelungen, selbst dem Staufenkaiser Friedrich Barbarossa nicht, der zweihundert Jahre später dasselbe Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
415
versuchte, aber beim Papst nicht erreichte, weil es nicht gleichzeitig zwei gekrönte Kaiser geben dürfe. Denn inzwischen war aus diesem Kaisertum etwas seltsam anderes geworden. Schon Otto II. starb 983 zu früh, als daß er seinen und Theophanus Sohn noch zur Kaiserkrönung hätte bringen können. Nur zum König war der dreijährige Otto III. schon gewählt und wurde er nun trotz manchen Widerspruchs in Aachen gekrönt. Doch es dauerte über zwölf Jahre, ehe er nach Rom ziehen und Kaiser werden konnte, gekrönt von seinem eigenen jungen Vetter, den er selbst wenige Tage zuvor zum Papst wählen ließ. Diesem ersten deutschen Papst Gregor V. folgte der erste französische Silvester II., Gerbert von Aurillac, vorher Erzbischof von Reims, wo er verdrängt wurde, der gelehrte Mentor und Freund des jungen Kaisers, der ihm zum Papststuhl verhalf. Doch auch diese enge Verschränkung von Kaisertum und Papsttum, beide mit weitgreifenden Plänen zur »Erneuerung des römischen Reiches« von Rom aus als gemeinsamer Residenz, blieb Episode, zwar mit manchen dauerhaften Wirkungen, aber ohne bleibenden Bestand. Denn als Otto III. mit 22 Jahren 1002 starb, noch unvermählt, gab es wieder zwölf Jahre lang keinen Kaiser im Abendland, nur in Byzanz, und in Rom bald wieder Päpste aus einheimischem Adel. Daran änderte auch Heinrich II. nichts, als er 1014 zur Kaiserkrönung nach Rom Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
416
kam, ohne lange in Italien zu bleiben. Ähnlich wiederholte sich das seitdem bei jedem deutschen Thronwechsel: Auch wenn er nicht umstritten war, unterbrach er jahre-, oft jahrzehntelang die Kontinuität im Kaisertum, das höchstens potentiell und ideell als Anspruch der deutschen Könige stetig fortbestand. Sie selbst aber unterschieden in der Datierung ihrer Urkunden genau zwischen Königs- und Kaiserjahren und titulierten sich nicht als Kaiser, ehe der Papst sie in Rom krönte. Daß sie nicht ohne weiteres vom Herrschaftsbeginn an auch Kaiser waren, mußte schon dadurch ihnen und den Zeitgenossen immer wieder bewußt werden, am empfindlichsten aber im Vergleich und Verkehr mit Byzanz und dessen permanentem Kaisertum. Es ist höchst bezeichnend für diesen Unterschied, daß der erste Stauferkönig, der nie zum Romzug und zur Kaiserkrönung gelangte, nur in Briefen nach Byzanz sich trotzdem Kaiser nannte und, als die Antwort ihn als König anredete, seinerseits den Byzantiner als »König der Griechen« titulierte wie sich selbst sonst »König der Römer«. Dieser diplomatische Titel-Streit erschwerte, verhinderte fast ein Bündnis beider Herrscher vor dem Zweiten Kreuzzug und zeigt besonders kraß den Unterschied im Kaisertum und dessen Eigenart hier und dort. Denn das Kaiserturn in Byzanz wie schon in der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
416
römischen Kaiserzeit war nie wie im Abendland mit einem Königsgeschlecht verbunden und von dessen Erb- und Thronfolge abhängig, nie auch einer auswärtigen Krönung bedürftig. Daher konnte dort lückenlos ein Kaiser dem andern folgen, freilich nicht immer der Sohn dem Vater. Vielmehr wurden von achtundachtzig oströmisch-byzantinischen Kaisern seit Konstantin dem Großen, von Mit- und Gegenkaisern ganz abgesehen, mindestens dreiundvierzig gewaltsam gestürzt: ermordet, geblendet, verstümmelt oder ins Kloster geschickt. Nicht selten bestieg dann der Kaisermörder den Thron, heiratete die Witwe des Ermordeten oder dessen Geliebte – und wurde trotz so offenkundiger Untaten zum fast gottähnlich verehrten »Allherrscher«, »von Gott gewählt« zu seinem Stellvertreter auf Erden, Beschützer der Kirche, Wahrer des rechten Glaubens, Gründer einer neuen Dynastie, falls es ihm gelang, seinen Nachkommen den Thron zu sichern, gleichgültig, woher er selbst stammte, aus welcher Provinz, aus welchem Stand. Ein Bauernsohn aus Syrien, Makedonien, Armenien konnte im Kriegsdienst zum Feldherrn aufsteigen, sich auf den Thron schwingen und zu einem großen Kaiser werden (so Leo III., gestorben 741; Basileios I., gestorben 886; Romanos I., gestorben 944). Er konnte eine schöne, kluge Tänzerin oder Wirtstochter heiraten und zur Kaiserin machen wie schon Justinian I., selbst Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
417
bäuerlicher Herkunft aus Illyrien, die berüchtigte Theodora, Tochter eines Zirkuswärters – wer ahnt das vor ihrem erhabenen Mosaikbild in Ravenna? Sie hat noch manche Nachfolgerin ihresgleichen. Auf Herkunft kam es in der Großstadt Byzanz und auf ihrem Kaiserthron nicht an. Porphyrogennetos zu sein, das heißt: schon im Purpur, im Kaiserpalast geboren, nicht erst aus eigner Kraft hineingelangt, konnte zwar seit dem 9. Jahrhundert als Vorzug oder Anspruch geltend gemacht werden, aber nie als Voraussetzung kaiserlicher Herrschaft, die Gott dem Erwählten gab, wer immer dessen Vorfahren sein mochten, wie immer sein Aufstieg zum Thron. Unvorstellbar das alles für abendländische Begriffe von Adel, Königtum, Kaisertum, deren eines hier nicht ohne das andre sein konnte, keins ohne Ahnen hoher Geburt, alten Geschlechts. Welche Skrupel schon bei der Heirat Kaiser Ottos II., ob die aus Byzanz geschickte Prinzessin Theophanu wirklich »purpurgeboren« sei (man weiß es noch heute nicht sicher), nicht nur schön und klug, sondern »ebenbürtig«. Es war eine andere Welt. Vieles mochte sie dem älteren, stetigen Kaisertum in Byzanz ablauschen, um nicht dahinter zurückzustehen, es möglichst noch zu überbieten in prunkvoll-sakralen Titulaturen und Herrschaftszeichen, im Zeremoniell und Ornat, in Liturgie und kunstreicher Symbolik, die dort seine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
417
Erhabenheit, seine von Gott gegebene Autorität um so höher steigern mußten, je weniger sie durch Vorfahren begründet war, nur durch Vorgänger in diesem höchsten irdischen Amt. Im Abendland aber blieb dieses Amt, so begehrenswert glanz- und eindrucksvoll seine Schauseite wirken mochte (und noch heute auf viele Betrachter verehrungswürdig wirkt), dennoch allzuoft und lange vakant; denn es kam nur dem angestammten, daheim »gewählten« und gekrönten deutschen König zu, wenn der Papst ihn in Rom zum Kaiser krönte. Es ist eine seltsame, oft nicht zur Genüge beachtete Folge dieses Unterschieds, dieser Verschränkung von deutscher Thronfolge und päpstlicher Kaiserkrönung, daß es während des halben Jahrtausends zwischen Otto I. und der letzten Kaiserkrönung in Rom, als 1452 der Humanistenpapst Nikolaus V. den Habsburger Friedrich III. krönte, insgesamt dreihundert Jahre gab, in denen kein rechtmäßig gekrönter Kaiser im Abendland herrschte wie in Byzanz immer, obgleich jeder deutsche König diese Würde erstrebte, die er doch ohne Romzug und Mitwirkung des Papstes nicht erreichen konnte. Daher auch die Konflikte fast aller dieser »römischen Könige«, wie sie sich seit der Salierzeit ihren Anspruch demonstrierend nannten, mit dem Papsttum, das sie zur Kaiserkrönung brauchten und doch als Haupt der Gesamtkirche nie so ganz in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
417
ihre Herrschaftsordnung einbeziehen konnten wie die Bischöfe ihres Reichs. Heinrich III. hat das zwar versucht, aber gerade dadurch jene polare Spannung noch gesteigert und zur Entladung gebracht. Er wollte das vom römischen Stadtadel beherrschte, ja mißbrauchte Papsttum reformieren, indem er drei rivalisierende Päpste absetzen und viermal nacheinander Reichsbischöfe aus deutschem Adel »wählen« ließ, deren erster ihn (über sieben Jahre nach seinem Herrschaftsbeginn) am Weihnachtstag 1046 zum Kaiser krönte. Doch als er knapp zehn Jahre später nur einen unmündigen, bereits zum deutschen König »gewählten« Sohn hinterließ, war dieses reformierte Papsttum inzwischen selbstbewußt geworden, wirksam in der Gesamtkirche, aus der es ständige Berater ins Kardinalskollegium berief, das künftig auch den Papst wählen und so die Stetigkeit kurialer Reformpolitik sichern, die Wiederkehr von Adels- oder Königsherrschaft über das Papsttum abwehren sollte. Seitdem hatte sich umgekehrt die deutsche Königswahl päpstlicher Einwirkung zu erwehren, weil der dort Gewählte künftig vom Papst zum Kaiser gekrönt werden sollte. Infolgedessen wurde schon Heinrich IV., von Gregor VII. gebannt wie noch kein König vor ihm, in seiner fünfzigjährigen Herrschaft niemals von einem rechtmäßigen Papst zum Kaiser gekrönt, nur von einem Gegenpapst, den er selbst erheben ließ. Von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
418
seinen nächsten neun Nachfolgern – ganz abgesehen von Gegenkönigen – wurden drei überhaupt nicht Kaiser (die Staufer Konrad III., Philipp von Schwaben, Konrad IV.), zwei andre zwar vom Papst gekrönt, aber auch wieder abgesetzt (Otto IV., Friedrich II.); und in nachstaufischer Zeit wurde kaum noch ein Drittel der deutschen Könige bis zu Karl V. in Rom gekrönt, Ludwig der Bayer 1328 wider alles Herkommen zwar von den Römern, aber nicht vom Papst, der ihn gebannt hatte. Erst als Maximilian I. sich 1508 entschloß, nach allen diesen Erfahrungen sich »erwählter römischer Kaiser« zu titulieren, ohne je vom Papst gekrönt zu sein, und die weiteren Habsburger ihm darin folgten – nur Karl V. wurde trotzdem noch 1530 unterwegs von Spanien nach Deutschland in Bologna vom Mediceer Clemens VII. gekrönt –, erst in der Neuzeit also, nicht im Mittelalter, gab es ein stetig-ununterbrochenes Kaisertum im Abendland, nun faktisch erblich mit dem deutschen »Wahl«-Königtum der Habsburger verbunden, um so leichter verträglich mit dem Papsttum. War das alte Reich in seiner Spätzeit nach Hegels Worten »ein Staat in Gedanken und kein Staat in der Wirklichkeit« (Die Verfassung Deutschlands, 1801/ 02), so galt das ähnlich schon für das mittelalterliche Kaisertum: Mehr gedacht als verwirklicht, war es nie, was es sein und scheinen wollte, wie es sich darstellte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
418
und dargestellt wurde. Es war nicht der allein legitime Nachfolger und Fortsetzer römischer Kaiser seit Augustus, sondern rivalisierte darin mit Byzanz. Es galt und wirkte nicht einmal im Abendland »universal« wie das Papsttum. Die Könige Frankreichs, Englands, Spaniens haben dem Kaiser höchstens eine Art Vorrang zugestanden, eine höhere Würde, die sie manchmal selbst begehrten, aber keinerlei Herrschaftsrechte über ihr Land, geschweige denn eine »Weltherrschaft«, von der antikisierende Poeten und Chronisten, Juristen und Theologen reden mochten. Dänemark, Polen, Ungarn wurden zeitweise, Böhmen für immer dem deutschen König lehnspflichtig nicht, weil er Kaiser war; und nicht deshalb war er auch König (Nord-) Italiens und Burgunds geworden. Die Personalunion dieser Königreiche mit dem deutschen wurde wohl zur Machtgrundlage der Kaiser; sie öffnete und sicherte ihnen die Wege nach Rom zur Krönung, zum Eingreifen als Schützer und Vögte der römischen Kirche gemäß karolingischer Tradition und Kaiserpflicht. Auf Deutschland, Italien, Burgund, die man dann zusammenfassend »das Imperium« nannte, blieb jedoch die wirkliche Herrschaft dieser Kaiser beschränkt. Selbst das Königreich Sizilien-Süditalien, das normannische Erbe der Mutter Kaiser Friedrichs II., sollte auch nach dessen Willen nur verbunden, nicht vereint sein mit jenem »Imperium«, so rhetorisch und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
418
bildhaft er auch sein Kaisertum verklären ließ. Sein Vater Heinrich VI., der Barbarossa-Sohn, dessen Kaiserwillen man am stärksten auch außerhalb jener Grenzen zu spüren bekam, hatte zwar kühn versucht, gleich dem sizilisch-normannischen Erbreich seiner Gemahlin Konstanze und zwecks dauernder Vereinigung mit ihm auch die deutsche Königskrone und damit das Kaisertum erblich zu machen in seinem Haus. Vielleicht wollte er dafür sogar eine päpstliche Lehnshoheit, wie sie über das Königreich Sizilien seit normannischer Zeit bestand, auch für das Kaisertum anerkennen, obgleich vierzig Jahre zuvor seinen Vater und die Reichsfürsten schon der Verdacht empört hatte, der Papst habe die Kaiserkrone als sein Lehen (beneficium) bezeichnet. Doch wenn sie erblich würde samt dem deutsch-italienisch-burgundischen Königreich wie Süditalien-Sizilien – warum sollte nicht der Papst jeweils den Staufererben bei der Kaiserkrönung damit belehnen? Solche Pläne, die der europäischen Geschichte eine unabsehbar andere Wendung gegeben hätten, wurden jedoch durch päpstlichen Widerstand und den frühen Tod Heinrichs VI. vereitelt. Statt dessen schrumpfte nach dem Ende der Staufer die Kaisermacht vollends auf das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« – dieser klangvolle, spät aufkommende Name besagt ja in Wahrheit, daß die Herrschaft des »römischen Königs«, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
419
selbst wenn er Kaiser wurde, über die »deutschen Lande« kaum noch hinausreichte. Und auch dort wurde sie, von fürstlichen Landesherren beschränkt, schwächer als in anderen Ländern die Macht ihrer Könige, die längst den Juristen als »Kaiser in ihrem Königreich« galten, ganz unabhängig von einem übergeordneten Kaisertum. Um so besorgter wurde gerade im Spätmittelalter von Deutschen oft die Welt beschworen, ihr Kaisertum müsse nach Gottes offenbartem Willen als Fortsetzung des römischen Imperiums, des letzten der vier Weltreiche, bestehen bis ans Ende der Welt und den Antichrist aufhalten. Nach wie vor verglich man auch Papsttum und Kaisertum mit den beiden von Gott geschaffenen Himmelsleuchten Sonne und Mond (Gen. 1, 16) – doch wie selten schien dieser Mond, öfter war Neu- als Vollmond in sehr unsteten Phasen! – und mit den zwei Schwertern, die nach Jesu Worten (Luk. 22,38) den Jüngern genug sein sollten – aber wie viele Mächte führten neben dem Kaiser ganz unabhängig von ihm das weltliche Schwert! Die biblische Symbolik für dieses Kaisertum stimmte nicht zu seiner Wirklichkeit. Auch die spätrömisch-frühchristlichen, karolingischen und byzantinischen Traditionen des Kaisertums wurden mehr beansprucht und gezeigt als verwirklicht und wahrhaft angeeignet. Wenigstens war etwas ganz anderes daraus geworden als das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
Mittelalter selbst dachte – sei es selbst in Dantes hohem Denken und Dichten. Gilt das aber nicht ähnlich auch für andere vom Mittelalter übernommene Traditionen? Ist es vielleicht gerade deshalb nicht geblieben, was es zu sein dachte: die Endzeit, sondern recht eigentlich zum »Mittelalter« geworden, das in eine verwandelte Zeit und Welt weiterdrängte?
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
419
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
420
Mönchtum, Kirche, Papsttum und deren Reformen Wie das Kaisertum spätantiker Herkunft in das fränkisch-deutsche Königtum einbezogen und dadurch verwandelt wurde, so die Kirche und das Mönchtum des Frühmittelalters in die Adelswelt germanischer Herkunft, ohne doch je gleicherweise darin aufgehen zu können. Denn sie brachten ihre schriftliche Tradition mit, die man zwar verschieden verstehen und verwenden, nach der man sich aber immer auch wieder richten und auf die man sich berufen konnte als Ansporn und Norm für Reformen. Könige und Adel entschieden über die Bekehrung ihrer Völker zum Christentum, stifteten Kirchen und Klöster, gewiß nach dem in Gallien und anderwärts vorgefundenen Vorbild, aber ausgestattet aus ihrem eigenen Grundbesitz, und wen sie damit versorgten, das bestimmten sie gern selbst: zuvörderst ihresgleichen, die auch das unentbehrliche Ansehen mitbrachten. Adlige wurden Bischöfe, Äbte, Mönche, andre Leute höchstens vereinzelt. Schon der Frankenkönig Chlodwig machte nach seiner Taufe den Eintritt in den Klerus, erst recht die Besetzung der Bistümer von der Genehmigung des Königs abhängig, der auch Synoden berief und deren Beschlüsse herbeiführte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
420
oder wenigstens gutheißen mußte. Ähnlich ging es im engeren Bereich adliger Eigenkirchen und -klöster zu. Wie sonst hätte das Christentum zumal im städtelosen Land rechts des Rheins Fuß fassen und wirken sollen? Unendlich viel Mühe und Aufwand, Selbstlosigkeit und Fürsorge für das eigene Seelenheil und das der Nächsten war da erforderlich im Dienste Gottes, an den man glauben lernte und lehrte. Nicht zum wenigsten für den Unterhalt und die Unterkunft seiner Diener war zu sorgen und für würdige Stätten ihres Gottesdienstes. Was alles da gestiftet, geschaffen, gebaut wurde, ist hier nicht zu schildern. Daß es auch mißbraucht werden konnte durch bloße Nutznießer von Kirchenund Klostergut oder aus Ehrgeiz der Stifter, zur Versorgung ihrer Verwandten und Günstlinge oder durch Ausnutzung von Kirchenämtern, wurde früh spürbar und beanstandet. Man las und hörte ja in der Apostelgeschichte (8,20), daß der Magier Simon von Petrus verdammt wurde, weil er den Heiligen Geist, die Gabe Gottes, glaubte kaufen zu können, während Jesus den Jüngern gesagt hatte: »Gebt umsonst, was ihr umsonst empfingt«, und Händler aus dem Tempel jagte. »Simonistische Häresie« wurde daher schon in der Frühkirche verpönt, zumal als sie seit Konstantin Staatskirche war. Das wiederholte sich in Mahnungen oder Klagen fränkischer Synoden, Chronisten, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
420
Legenden. Nur dachte dabei noch niemand an die Vergabung von Kirchenämtern, Bistümern oder Abteien durch Könige und Adlige, die sie stifteten, reichlich ausstatteten und schützten – sofern dabei nicht untaugliche, unwürdige, eigensüchtige Bewerber bedacht wurden. Tüchtige Herrscher verhinderten und »reformierten« das notfalls selbst, da sie auch tüchtige Bischöfe und Geistliche, Äbte und Mönche für ihre eigenen Aufgaben brauchten. Den Karolingern zumal erschien die weltliche und die kirchliche Ordnung nach Gottes Willen untrennbar verbunden und aufeinander angewiesen, der König oder gar Kaiser für beides verantwortlich vor Gott, sein Stellvertreter auf Erden. Wo freilich das Königtum versagte wie im spät- und nachkarolingischen Frankreich, auch im vor- und frühottonischen Italien samt Rom oder in England nach Alfred dem Großen vor der normannischen Eroberung, da konnte der Adel um so eigenmächtiger auch über Kirchen und Klöster verfügen. Sie hatten darunter wohl nicht immer nur zu leiden, am ehesten aber Grund zum Zusammenschluß gegen Willkür, zum gemeinsamen Ruf nach Reform. Die Mönche hatten in ihrer Regel die deutlichste Norm für ihr Leben und Verhalten im Kloster, gleichsam die früheste geschriebene Verfassung für eine Gemeinschaft, auf die sich jeder Eintretende verpflichtete, die ihm regelmäßig verlesen wurde, deren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
421
Übertretung vom Abt zu strafen war. Ihren Abt sollten die Mönche selbst wählen nach Sankt Benedikts Regel, die alle Klöster des Frankenreichs nach dem ordnenden Willen seiner ersten karolingischen Könige gleichmäßig annahmen wie vorher schon die Angelsachsen. Sie regelte freilich nur das Zusammenleben der Mönche jedes einzelnen Klosters unter seinem Abt; einen Ordensverband mit gemeinsamer Leitung hatte Benedikt von Nursia nicht gegründet und geregelt. Seinen Mönchen war jeder Eigenbesitz untersagt, sie waren auf Klosterbesitz angewiesen, und der wurde ihnen nun so reichlich gestiftet, daß sie ihn allein ohne Helfer gar nicht hätten bewirtschaften können neben dem regelgemäßen Chorgebet von früh bis spät, stellvertretend und fürbittend auch für andere. Die Verfügung über diese Klöster und ihre Beter, ihren Grundbesitz und ihre Leitung konnte, mußte zur Verlockung werden für den Laienadel, damit zu einer Gefahr für das Klosterleben nach der Regel. Laienäbte oft mehrerer Klöster zugleich sind keine Seltenheit noch lange nach Karl dem Großen; sogar sein junger Freund und Biograph Einhard gehört zu ihnen, auch als er verheiratet war. Das brauchte, wie das Beispiel zeigt, nicht unwürdig zu sein; nur der Regel entsprach es nicht. Ihr zu folgen konnte aber damals wie später zum Leitziel eifriger Mönche werden. So für den westgotischen Grafensohn Benedikt von Aniane, dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
421
der junge Ludwig der Fromme in Aquitanien Freund wurde und später als Kaiser das Kloster Inden (Kornelimünster bei Aachen) übertrug, damit er als »Generalabt« auch andre, wenn nicht alle Klöster des Frankenreichs reformiere und leite. Noch entstand daraus kein einheitlicher Benediktinerorden, da Benedikt von Aniane schon 821 starb und bald der Zwist der Ludwig-Söhne das Reich spaltete. Sein Werk wurde jedoch nicht ganz vergessen. Es wirkte nach, als Herzog Wilhelm von Aquitanien 910 im burgundischen Cluny ein Kloster stiftete, das ganz der Regel folgen sollte, aller Einwirkung des Adels, auch des Königs und Bischofs entzogen, deshalb dem Papst zu Eigen und Schutz unterstellt (so unselbständig der damals selbst in Rom war). Ihren Abt sollten die Mönche von Cluny selbst wählen, und es war nicht nur Glück, daß seine Äbte ungewöhnlich lange und stetig amtieren konnten – nur sieben in den ersten zwei Jahrhunderten seit der Gründung. Denn immer ließ der Vorgänger noch vor seinem Tod einen jungen, besonders fähigen Nachfolger wählen. Andere Klöster – schließlich waren es über tausend – schlossen sich bald an Cluny und seine Reform an, indem sie unter Verzicht auf eigene Äbte nur unter einem Prior sich dem Abt von Cluny unterstellten, den man um die Jahrtausendwende »König der Mönche« nennen konnte. In Cluny selbst wuchs deren Zahl auf mehrere Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
421
hundert. Seine Kirche mußte jedes Jahrhundert neu, immer größer gebaut werden, um 1100 die größte im Abendland, die erste mit Steinwölbung statt flacher Holzdecke, ein Wunder der Baukunst für die Zeitgenossen, Vorbild für den Kaiserdom in Speyer. Dem feierlich ausgestalteten Chordienst und Heiligenkult der Mönche durften dort auch Laien verehrungsvoll beiwohnen, und schon dadurch wirkte Cluny mit seinen Prioraten weit über die Klostermauern hinaus – die erste große Reformbewegung im Abendland. Aber eine Klosterreform, keine Kirchenreform, auch nicht gegen weltliche Mächte gerichtet, sofern sie nicht das Eigenleben der Klöster beeinträchtigten. Zumal den deutschen Herrschern standen die Äbte von Cluny freundschaftlich nahe: Abt Odilo schrieb einen rühmenden Nachruf auf die Kaiserin Adelheid, die Witwe Ottos I., und beriet deren Enkel Otto III. Dessen Nachfolger Heinrich II. schenkte die Goldkugel mit Kreuz, die ihm der Papst bei der Kaiserkrönung gab, Symbol der christlichen Welt, dem Kloster Cluny. Dessen bedeutendster Abt Hugo wurde sogar Taufpate Heinrichs IV. und sein Fürsprech bei Gregor VII. in Canossa; noch fünfundzwanzig Jahre später erbat Heinrich Rat und Hilfe von ihm und den Mönchen von Cluny, um endlich vom Bann gelöst zu werden. Cluny war nie kaiser- und reichsfeindlich, auch im Investiturstreit kein einseitiger Parteigänger der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
422
Gregorianer, öfter Vermittler in weltlichen und kirchlichen Konflikten, auch früh beteiligt an Bemühungen um den »Gottesfrieden«, der wenigstens zeitweise, an den Passionstagen jeder Woche, Adelsfehden eindämmen und Wehrlose davor schützen sollte: Kleriker, Bauern, Kaufleute, Frauen. Insofern wirkte die Cluniazenser-Reform wohl über die Klöster hinaus auf die Welt, auch auf die Volksfrömmigkeit durch das Vorbild der Mönche. Aber sie hat nicht, wie man früher meinte, unmittelbar zur Kirchenreform geführt und gedrängt. Gregor VII. war kein Cluniazenser, höchstens in jungen Jahren, aus Rom verbannt, zeitweise Gast in Cluny. Erst sein zweiter Nachfolger Urban II. kam von dort, war Mönch und Prior in Cluny, ehe er Kardinal und Papst wurde, ebenso aber ein Menschenalter später auch der »Gegenpapst« Anaklet II., der Pierleoni jüdischer Abstammung, der sich nach der zwiespältigen Papstwahl von 1130 nicht gegen eine Minderheit reformeifriger Kardinäle und ihre Helfer behaupten konnte. Denn inzwischen war Cluny gleichsam überholt durch neue Reformziele auch im Mönchtum. Nicht weil die Cluniazenser zu bald erschlafft und entartet wären; sie hatten auch damals in Petrus Venerabilis (gestorben 1155) einen bedeutenden Abt. Aber gerade was ihnen nach Benedikts Regel als wesentlichste Aufgabe des Mönchtums galt: Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
422
feierlich-liturgische Ausgestaltung des Chorgebets, des Opus Dei als Gottesdienst in kunstreichen Kirchen vor verehrendem Volk, erschien späteren Mönchen als Abirrung vom Geist der Regel, die nicht nur Gebet und Feier, sondern auch eigne Handarbeit und Selbstversorgung verlange in menschenferner Einsamkeit ohne Kirchenprunk und Weltgeltung, oder sogar Vervollkommnung zu härterer, schweigsamer eremitischer Askese. Aus solchen Motiven, immer unter Berufung auf dieselbe Regel Benedikts, lösten sich um 1100 aus dem cluniazensischen Mönchtum neue Orden wie die Zisterzienser, Kartäuser und manche kleinere. Das waren nicht mehr nur Klösterverbände mit gemeinsamem Abt und gleichen Bräuchen, sondern wirkliche Mönchsorden neuer Art mit einer die Regel ergänzenden Verfassung (vorbildlich wurde die Carta caritatis der Zisterzienser), mit eigner Gesetzgebung durch jährliche Generalkapitel aller Äbte der regelmäßig visitierten Klöster, die jeweils als Tochtergründung einem Mutterkloster zugeordnet waren. Diese neuen Impulse zu mönchischem Leben in neuen Formen waren erstaunlich wirksam, nicht zum wenigsten dank Bernhard von Clairvaux, der 1115 in Cîteaux eintrat; bei seinem Tod 1153 gab es bereits fast dreihundertfünfzig Klöster seines Ordens im ganzen Abendland, und ihre Zahl hat sich weiterhin noch mehr als verdoppelt. Infolge solcher Erfolge wurde Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
423
aber auch dieser Orden so angesehen und einflußreich, seine anfangs einfachen, turm- und schmucklosen Kirchen so schön in früher Gotik, seine Rodeund Feldarbeit in abseitigen Waldtälern so ertragreich und auf Hilfskräfte angewiesen, auch seine Marienverehrung und mystische Versenkung so literarisch beliebt, daß wiederum strengere Mönchsgesinnung sich von ihm abkehrte, neue Orden abzweigten und in den Bettelorden eine ganz neue Art von Möchtum entstand, obgleich die älteren Zweige benediktinischen Mönchtums nie abstarben, auch noch manchmal durch Reformen erneuert wurden. Das Mönchtum wurde immer vielfältiger, nicht erst durch neue Aufgaben, die hinzukommen konnten, wie bei den Bettelorden Predigt und Seelsorge zumal in den wachsenden Städten, auch nicht zunächst durch neue soziale Schichten – Cluniazenser wie frühe Zisterzienser, Prämonstratenser, Kartäuser sind noch immer vorwiegend Adlige, die auch in den Bettelorden keineswegs fehlen. Das Mönchtum selbst verzweigte sich in wechselnder Auffassung seiner wahren Aufgabe und Tradition, in immer erneutem Streben, sich ihr nicht entfremden zu lassen. In Deutschland ist keiner dieser neuen Orden entstanden, obgleich manche ihrer Gründer deutscher Herkunft waren wie der Kartäuser Bruno von Köln, Domscholaster in Reims, ehe er Eremit in Chartreuse Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
423
wurde, oder Norbert von Xanten, der als Wanderprediger in Nordfrankreich Prémontré gründete. Auch Cluniazenserklöster gab es in Deutschland nicht, nur verwandte Reformbestrebungen von Lothringen aus (Gorze bei Metz, Brogne bei Namur), dann von Hirsau im Schwarzwald weithin wirksam auf viele Klöster, doch weniger straff geleitet, weniger unabhängig hervortretend. Es bedurfte dessen nicht, wo der König selbst solche Reform förderte, die Klöster unter seinen Schutz stellte, auch die Bistümer selbst besetzte mit Männern seines Vertrauens und beide der Verfügung anderer Laiengewalten, auch der Herzöge in ihrem Stammesgebiet entzog. Otto I. tat noch mehr: er übertrug diesen Bischöfen und Äbten nicht nur reichlich Grundbesitz aus Reichsgut, sondern auch Hoheitsrechte und -pflichten, Gerichtsbarkeit bisweilen in ganzen Grafschaften, Zoll- und Münz- und Marktrechte, also Verwaltungsaufgaben, für die ihnen schreibkundige Kleriker und Mönche zur Hand waren. In der Hofkapelle und Kanzlei ausgebildet und erprobt, konnten sie zuverlässige Helfer des Königtums werden; und die ihnen, ihren Kirchen und Klöstern übereigneten Reichsgüter und -rechte konnten nicht wie vom Laienadel vererbt werden und damit der Reichsgewalt entgleiten – sofern es nur dem König vorbehalten blieb, wer darüber jeweils als Bischof oder Abt zu verfügen hatte, wer mit dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
423
Kirchen- oder Klosteramt zugleich dieses Zubehör bekam, das ihn als Herrn über Land und Leute auch zum Aufgebot für Reichskriege verpflichtete. Eine Anforderung von Truppen, die Otto II. um 983 nach Italien rief, läßt ermessen, wie stark damals schon die Beteiligung dieser geistlichen Reichsfürsten auch am Reichskrieg war: Von über zweitausend Panzerreitern sollten Laienfürsten nur reichlich ein Viertel, fast drei Viertel aber Bischöfe und Äbte stellen, manche auch selbst mitreiten. Kriegstüchtige Erzbischöfe kämpften noch für Barbarossa. Bedenken gegen diese Verquickung von Kirchenund Klosteramt mit weltlich-politischen, auch kriegerischen Aufgaben wurden allerdings früh laut. Der fromme Erzbischof Friedrich von Mainz (gestorben 954) – der auch meinte, im Kloster sollten lieber wenige Mönche makellos als viele lässig leben, was den Abt von Fulda gegen ihn aufbrachte – machte sich Otto I. zum Feind, weil er Waffen- und Königsdienst mit seinem Kirchenamt nicht vereinbar fand. Ihm wurde entgegnet: Dann solle er aber auch alles zurückgeben, was er königlicher Gunst verdanke, da es sonst nur den Königsfeinden zugute komme. Es war wie ein warnender, damals übertönter Vorklang des Investiturstreits. In dessen Spätphase hat der mönchische Papst Paschalis II. sogar mit dem herrischen Heinrich V. auf dessen Romzug 1111 vor der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
424
Kaiserkrönung vereinbart: Wenn die Reichsbischöfe und -Äbte auf ihre »Regalien« verzichteten, auf die von früheren Königen ihnen verliehenen Hoheitsrechte über Städte, Burgen, Märkte, Zölle, Münzstätten, Grafschaften und dergleichen, dann wolle der König sie nicht mehr mit Ring und Stab »investieren«, also in ihr geistliches Amt einsetzen, dann könnten sie ohne weltliche Geschäfte, Hof- und Kriegsdienst sich ganz der Seelsorge widmen, wie der Apostel Paulus mahnte. Doch als das in der Peterskirche verkündet wurde, entfachte es einen Sturm der Entrüstung, nicht nur bei Gregorianern, deren »Programmatiker« Kardinal Humbert schon in seiner Schrift gegen die Simonisten solchen Verzicht schroff abgelehnt hatte, sondern erst recht bei den deutschen Prälaten, die Reichsfürsten bleiben wollten. Sie blieben es – wie der Papst Herrscher im »Kirchenstaat« –, auch als nach weiteren schweren Konflikten und langen Verhandlungen im Wormser Konkordat 1122 der Ausweg im Kompromiß gefunden wurde wie ähnlich vorher schon in Frankreich und England. Der König verzichtete zwar auf die seit Otto I. übliche, nun so lange strittige Investitur der Bischöfe und Reichsäbte mit Ring und Hirtenstab, Symbolen ihres geistlichen Amtes; er hatte ihnen aber – in Deutschland vor der kirchlichen Weihe, ehe sie also gültig amtieren konnten, in Italien und Burgund binnen sechs Monaten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
424
danach – die damit verbundenen Regalien mit einem Zepter als Zeichen weltlicher Herrschaft zu verleihen und durfte deshalb schon bei ihrer »kanonischen« Wahl zugegen sein, bei Wählerzwist sogar den Ausschlag geben. Tatkräftige Herrscher wie Friedrich Barbarossa hatten es danach noch immer in der Hand, wer Bischof oder Reichsabt werden konnte. Erst im staufisch-welfischen Thronstreit nach 1200 wurden diese Königsrechte preisgegeben, während die Regalien den Kirchenfürsten blieben. Sie wurden Landesherren, ja die drei rheinischen Erzbischöfe konnten dann als Kurfürsten oft genug entscheiden, wer deutscher König wurde. Bis ins 12. Jahrhundert war es umgekehrt gewesen. Die Kirchenreform, die zum Investiturstreit führte und solche Folgen manchmal schon ahnen ließ (am deutlichsten bei der Wahl von Gegenkönigen 10771081), hatte freilich zunächst ein anderes Ziel: die Kirche herauszulösen aus der Königs- und Adelsherrschaft, sie autonom auf ihre eigenen »kanonischen« Rechtsgrundlagen zu stellen. Diese »Freiheit der Kirche« wurde weitgehend erreicht, nicht auf einmal, aber zielbewußt in langem Ringen, am frühesten in Rom. Schon als Heinrich III. dort die Adelsherrschaft über den Papststuhl brach, wurden Einwände strenger Reformer laut, selbst von einem Reichsbischof wie Wazo von Lüttich: ein Laie dürfe nicht Päpste Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
424
absetzen lassen, über die niemand zu richten habe. Der Kaiser aber wie seine Vorgänger glaubte kein Laie zu sein, sondern kraft seiner Königsweihe »Gesalbter des Herrn«, ja Stellvertreter Christi und Gottes; und andre Reformer rühmten ihn, zumal er auch allgemein der verpönten Simonie absagte, die man gerade seinem Vater Konrad II., auch vielen Bischöfen und Äbten vorwarf: er wollte und sie sollten ohne Entgelt geben, was zur Religion, zum Dienst Gottes gehört, von dem auch er seine Krone empfing. Die von ihm zu Päpsten erhobenen Reichsbischöfe gingen jedoch viel weiter in der »Reform«. Der ihm nahe verwandte Leo IX., vorher Bischof von Toul, berief ihre kühnsten Verfechter als Kardinäle nach Rom, darunter aus seiner Heimat Lothringen den Mönch Humbert, der als Kardinalbischof von Silva Candida wenige Jahre nach dem Tod Heinrichs III. in einem Buch »Gegen die Simonisten« auch jede Verleihung von Kirchenämtern durch Laien, auch von Bistümern und Abteien durch den König für simonistische Häresie erklärte, alle von ihnen erteilten Weihen und Sakramente daher für ungültig. Das war radikal gedacht, umstürzend. Nahezu alle Bischöfe und die von ihnen geweihten Priester wären dann dazumal und seit Jahrhunderten Simonisten gewesen, die von ihnen gespendeten Sakramente, angefangen von der Taufe, ungültig. Solche rückwirkenden Konsequenzen ließen sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
425
zwar nicht im Ernst ziehen, wohl aber Folgerungen für künftig. Wirklich folgten bald Schlag auf Schlag entsprechende Beschlüsse päpstlicher Synoden, die nun Jahr für Jahr nach Rom oder auch nach Reims oder Mainz berufen wurden: Kein Kleriker, kein Priester darf eine Kirche oder ein kirchliches Amt, kein Abt ein Kloster von Laien empfangen, mit oder ohne Gegengabe: es ist Simonie und Häresie, was vorher in allen adligen Eigenkirchen und -klöstern geschah, was auch die Könige überall für ihr gutes altes Recht hielten. Auch soll niemand Messe hören bei beweibten Priestern – denn der Zölibat war die andere Hauptforderung der Reformer, um den Klerus aus der Verflechtung ins Weltleben herauszulösen, um auch nicht Erbansprüche von Priesterkindern auf Kirchengut zu dulden. Kampf gegen Simonie und Priesterehe hieß vornehmlich, den Klerus, die Kirchen und Klöster der Adelsgesellschaft entziehen, die seit Chlodwigs Zeiten darüber guten Gewissens verfügt hatte. Jetzt wird ihr »kanonisches« Kirchenrecht aus vorgermanischer Zeit dagegengehalten, frühe Konzilsbeschlüsse und Papsterlasse, mit denen die seit Jahrhunderten herrschenden, fast nirgends aber schriftlich und gesetzlich eigens geregelten, verbrieften Zustände unvereinbar waren. Jetzt werden sie als reformbedürftige Mißstände gebrandmarkt, Herkommen und alter Brauch als Mißbrauch, und mit moralischer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
425
Entrüstung wird das Laienvolk aufgerufen, simonistische und beweibte Priester zu meiden, da ihre Sakramente unwirksam, ja sündhaft seien. In Mailand vor allem, Roms alter Rivalin, wo zuerst der offene Kampf ausbrach zwischen dem hohen Klerus, der kaum anders lebte als seine adlige Laienverwandtschaft, und dem Stadtvolk der Pataria, verächtlich nach dem Lumpenmarkt benannt, wurde vom Papst und seinen Legaten der bis zum Straßenkampf erbitterte Widerstand gegen die »Simonisten« geschürt und benutzt, um den vom deutschen König investierten Erzbischof zu verdrängen durch einen, der »kanonisch« gewählt und vom Papst bestätigt wird. Hier und in anderen Städten der Lombardei entzündete sich der schwere, wechselvolle Konflikt zwischen dem Reformpapsttum und dem deutschen Königtum. Er hat sich nicht zum wenigsten deshalb viel länger und härter durch fast fünf Jahrzehnte hingezogen als der Investiturstreit in Frankreich oder England und anderwärts, weil es dabei zugleich um die Beherrschung Norditaliens ging, aus dem das erneuerte Papsttum die nach dem Kaisertum strebende Reichsgewalt zurückdrängen wollte, schon um nicht auch in Rom wieder von ihr beherrscht zu werden. Auch deshalb gehörte zu den ersten und auf die Dauer wirksamsten, folgenreichsten Reformbeschlüssen der Kardinäle ein neues Papstwahlgesetz, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
426
vielmehr das erste überhaupt. Auf der Fastensynode 1059 verkündete es Nikolaus II., vorher Bischof von Florenz. Er stammte wohl aus Burgund, wurde von den Kardinälen in Siena gewählt, weil in Rom wieder ein Adelspapst erhoben wurde, wie gegen den nächsten Kardinalspapst ein »kaiserlicher« Gegenpapst aus der Lombardei. Eben um solche Rückfälle in Adels- oder Königsherrschaft über den Papststuhl zu verhüten und um die auswärtige Wahl der Kardinäle zu rechtfertigen, bedurfte es eines neuen Gesetzes, für das man sich nicht auf altes, »kanonisches« Kirchenrecht berufen konnte. Denn seit alters und bislang galt für jeden Bischof, auch den von Rom, den Papst, daß er von Klerus und Volk einmütig zu wählen sei, wobei die jeweils Mächtigen diese Wahl lenkten. Jetzt aber wurde beschlossen, daß zuvörderst die Kardinäle, voran die Kardinalbischöfe – notfalls außerhalb Roms – über die Papstwahl beraten und beschließen, dann der übrige Klerus und das Volk ihr zustimmen sollen. Noch werden die römischen Laien, auch der deutsche König und künftige Kaiser, soweit ihm eine Mitwirkung dabei zustehe, nicht gänzlich ausgeschaltet. Aber es läßt sich von da aus Schritt für Schritt verfolgen, wie im Laufe eines Jahrhunderts, in dem zweimal (1130 und 1159) die Kardinäle selbst uneinig waren und daher in langem Schisma auswärtige Mächte eingreifen konnten, die Papstwahl Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
426
zunächst auf das Kardinalskolleg allein beschränkt und schließlich dessen Zweidrittelmehrheit für unanfechtbar wahlentscheidend erklärt wurde (vom 3. Laterankonzil 1179 unter Alexander III., dem Juristen bürgerlicher Herkunft aus Siena, der sich fast zwei Jahrzehnte lang gegen kaiserliche Gegenpäpste aus dem Adel behaupten mußte). Eine gerade Linie führt hier vom Beginn der Kirchenreform zum noch heute geltenden Kirchenrecht, aus dem Mittelalter zur Neuzeit und Gegenwart. Und dabei wurde in der Papstwahl allererst die Stimmenzahl allein entscheidend, allerdings eine »qualifizierte« Mehrheit von zwei Dritteln der Kardinäle, als verbürgte sie besser den nicht nur menschlichen, den göttlichen Willen. Viel später erst, durch die Goldene Bulle Karls IV. von 1356, wurde auch für die deutsche Königswahl aus ähnlichen Gründen der Abwehr fremder, zumal päpstlicher Einwirkung, gleichfalls nach den Erfahrungen mehrfachen Wahl- und Thronstreits, allein die Stimmenmehrheit des Kurkollegs unanfechtbar entscheidend. Sonst wurden fast überall noch die Wählerstimmen, wenn sie nicht einmütig waren, nicht nur gezählt, sondern gewogen, auch bei den Bischofswahlen. Zwar forderten die Kirchenreformer von früh an »freie«, kanonische Wahl der Bischöfe, von der die Laien gleichfalls bald ausgeschaltet, die Domkapitel allein wahlberechtigt wurden. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
426
Immer aber konnte und sollte dabei – nur bei der Papstwahl nicht! – eine übergeordnete Instanz noch prüfen und entscheiden, ob eine Wahl, sei es auch der Mehrheit, gut und gültig sei, und in letzter Instanz behielt sich der Papst diese Entscheidung vor, der dann seit dem 13. Jahrhundert immer öfter Bischöfe selbst »providierte«, ernannte statt wählen ließ. Nirgends wird deutlicher sichtbar als an der Papstund Bischofswahl, wie hierarchisch sich die Kirche seit ihrer Reform umbildete: aus Bischofs- und Eigenkirchen, die dem Königtum und Adel eng verbunden waren, zur unabhängigen Papstkirche eigenen Rechts. Es hat an Widerspruch dagegen auch in der Kirche selbst nicht gefehlt. Kurz ehe Gregor VII. noch vor dem Ausbruch seines Konflikts mit Heinrich IV. in einer Aufzeichnung seiner Grundsätze, dem Dictatus papae, schroff formulierte: Nur der Papst, über den niemand zu richten hat, könne Bischöfe (wie auch Kaiser!) absetzen oder versetzen, Bistümer teilen oder vereinen, nur er könne neue Gesetze geben, Untertanen vom Treueid entbinden, Urteile anderer verwerfen, von denen jedermann an ihn appellieren dürfe usw., entrüsteten sich Reichsbischöfe in erregtem Briefwechsel (Anfang 1075): »Dieser gefährliche Mensch will uns befehlen, als wären wir seine Beamten, seine Verwalter«, er will uns ein schweres, unerträgliches Joch auferlegen und der Kirche ein neues Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
427
Recht aufzwingen, das keinesfalls zu billigen ist. Sie standen dann mit ihrer Absage an diesen Papst fast alle hinter Heinrich IV., als er in Worms 1076 dem »falschen Mönch Hildebrand« zurief: »Steige herab!«, weil er sich nur anmaße, Papst zu sein, und freventlich seine Hand erhebe gegen die »Gesalbten des Herrn«, den König und seine Bischöfe, die er mit Füßen zu treten wage. Über kurz oder lang mußten sie sich ihm doch fügen – oder weichen. Manche Zugeständnisse mochten späterhin an den Episkopat einzelner Länder notgedrungen wenigstens zeitweise gemacht werden, Konkordate darüber mit deren Herrschern geschlossen, »gallikanische Freiheiten« der Kirche Frankreichs und eine fast staatskirchliche Sonderstellung Englands geduldet werden und anderes mehr. Doch selbst als das Papsttum nach der Rückkehr aus siebzigjährigem Exil in Avignon unter französischem Druck sich im Großen Schisma spaltete und schwächte, bis schließlich die Bischöfe und ihre Herrscher zur Überwindung dieses Notstands und zu neuer Reform der Kirche Konzilien in Konstanz und Basel zustande brachten, die auch weiterhin als höchste Instanz der Kirche über dem Papst stehen und dessen Rechte eindämmen wollten, setzte sich gegen diese konziliare Idee und Bewegung doch wieder die päpstliche Allgewalt durch. Schon zu den Grundsätzen Gregors VII. gehörte es, daß nur der Papst Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
427
allgemeine Konzilien berufen und leiten könne. Seit dem 1. Laterankonzil von 1123, das nach dem Wormser Konkordat gleichsam die Ernte des Investiturstreits und der Kirchenreform einbrachte, wurde die in der Karolingerzeit unterbrochene Kette »ökumenischer« Konzilien fortgesetzt, nun im Abendstatt im Morgenland, bis sie nach dem Tridentinum, der Entgegnung auf Luthers Reformation, vier Jahrhunderte lang entbehrlich schienen, dann aber das I. Vaticanum die wiederum schon von Gregor VII. beanspruchte Unfehlbarkeit des Papstes als Dogma verkündete. Man hat die Kirchenreform des 11. Jahrhunderts neuerdings als erste europäische Revolution bezeichnet, als »Papstrevolution«, der dann die Reformation des 16. Jahrhunderts als »deutsche Revolution« gefolgt sei (E. Rosenstock-Huessy). Revolutionäre Züge sind unverkennbar: Auflehnung gegen eine seit langem bestehende Ordnung und Gesellschaft, eine Art ancien régime in der Kirche, aufrüttelnde Schlagworte wie »Freiheit der Kirche« und »freie«, kanonische Wahl, »Simonisten« als Schmähwort für alle Gegner, Aufwiegelung des Laienvolkes gegen sie und beweibte Priester. Ein eifernder Heißsporn wie der elsässische Chorherr Manegold von Lautenbach meinte sogar, das christliche Volk müsse schlechte, dem Papst widerstrebende Herrscher absetzen, wie man ungetreue Schweinehirten entläßt und davonjagt. Und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
427
Gregor VII. selbst schrieb einmal im Zorn einem Reichsbischof: »Wer wüßte nicht, daß Könige und Fürsten von denen stammen, die Gott nicht kennend, durch Raub, Trug, Mord, Verbrechen aller Art, vom Teufel angestiftet, in blinder Gier und unerträglicher Anmaßung über Menschen herrschen wollten, über Gleiche?« Andrerseits rief er Fürsten und Ritter zur militia sancti Petri oder militia Christi auf im Dienst seiner Reformziele, und Urban II. vollends lenkte sie, während der deutsche und der französische König gebannt waren, der englische abseits stand, fast wie zu einem »Revolutionskrieg« nach außen gegen die Ungläubigen, auf den Kreuzzug zur Befreiung des Grabes Christi und Jerusalems, der geistig-religiösen Mitte dieses Abendlandes, die sie trotz unerhörter Mühen und Opfer doch nur für wenige Menschenalter gewinnen, nicht behaupten konnten. Aber selbst in diesem »Heiligen Land« entstand alsbald wieder eine feudale Gesellschaft in einem erblichen Königreich Jerusalem und anderen Fürstentümern, eher ein koloniales Zerrbild der alten Adelswelt als ihre Überwindung und Verwandlung. Denn was die Kirchenreform ihrem ursprünglichen Ziel gemäß wirklich erreichte, war trotz revolutionärer Mittel und Töne nicht ein Umsturz der alten Gesellschaftsordnung, aus der sich nur die Kirche unter päpstlicher Führung gleichsam herauslöste. Nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
428
deren Glaube änderte sich dabei, aber ihr Recht, ihre Struktur, ja ihr Begriff. Ecclesia hieß vorher die Gesamtheit der Gläubigen, die man seitdem »die Christenheit« nennen lernte: Klerus, Mönchtum und Laien gemeinsam umfassend, geistliche wie weltliche Gewalten mit ihren Häuptern Papst und Kaiser. Nachher aber schrieb sogar der kaiserverwandte Reichsbischof Otto von Freising, fast ratlos bestürzt über deren Entzweiung, in seiner Chronik (Prolog zu Buch VII): »Ecclesia nenne ich fürder nach dem Sprachgebrauch die Priester Christi und ihresgleichen, die kirchlichen Personen«, den Klerus. Er war seither gesondert aus der Adels- und Laienwelt, einer Hierarchie eigenen Rechts eingefügt, so oft man auch noch um so nachdrücklicher die Notwendigkeit von Eintracht und Zusammenwirken geistlicher und weltlicher Gewalt beteuerte: ihre alte Einheit war gesprengt, Spannungen zwischen ihnen wurden unvermeidlich und lösten auch viele andere Wandlungen aus.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
428
Ketzer, Gelehrte, Denker Beim Ausbruch des Investiturstreits, den eine Flut parteiisch erregter Streitschriften begleitete, schrieb ein kaiserlich gesinnter Mönch in Brabant (Sigebert von Gembloux): »Was sonst schallt nun allerwärts selbst aus den Webstuben der Weiber, den Werkstätten der Handwerker, als Geschrei um die verstörten Rechte aller menschlichen Gemeinschaft?« Und in seiner Chronik: »Laien mißachten die Sakramente und disputieren darüber, Irrlehrer treten in der Kirche auf und entfremden das Volk der Kirchenzucht durch schändliche Neuerungen.« Für ihn waren die Gregorianer gefährliche Neuerer, für diese die »Simonisten« Ketzer. Die aufwühlende Wirkung solcher Polemik reichte weiter, als auch die Kirchenreformer es wollen und dulden konnten. Ob nur der rechtmäßig ohne Simonie Ordinierte wirksam Sakramente spenden, Seelenheil vermitteln könne oder etwa nur, wer wahrhaft christlich lebt, wurde auch für Laien zur Gewissensfrage, die nicht so bald wieder zur Ruhe kam, sich nicht durch kanonisches Kirchenrecht allein beschwichtigen ließ. Seit so vieles strittig wurde, hörten viele mit geschärften Ohren auf Evangelien- und Apostelworte, fühlten sich unmittelbar davon betroffen, machten sich eigene Gedanken darüber und fragten, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
429
wie damit das Verhalten des Klerus, seine Lehre, sein liturgischer Kult vereinbar seien, ob nicht die Lehre Christi und seiner Apostel vielleicht anders gemeint, beim Wort zu nehmen und unmittelbar zu verwirklichen – oder aber »geistig« zu verstehen sei. Eigensinnige oder fremde Deutung biblischer Überlieferung konnte da leicht Gehör finden, auch wenn sie als Häresie verpönt und verfolgt wurde. Einzelne Ketzergruppen waren schon früher im 11. Jahrhundert auch im Abendland entdeckt worden, von Synoden verhört, von Königen, Bischöfen oder fanatischem Volk auf den Scheiterhaufen gebracht oder an den Galgen. Sendboten der auf dem Balkan verbreiteten, vom byzantinischen Kaiser verfolgten Bogomilen-Sekte, mit ihrer dualistischen Weltlehre und Askese den längst verstummten Manichäern verwandt, scheinen im Westen eingewirkt zu haben auf sehr verschiedenartige Kreise: Gelehrte, angesehene Kleriker wurden 1022 in Orléans verurteilt, Handwerker 1025 in Arras, schon vorher ein Bauer der Champagne, bald darauf Adlige in der Burg Monteforte bei Turin, andre Ketzer ohne erkennbaren Sektenzusammenhang in Burgund, Aquitanien, Italien, 1051 auch in Goslar. Die Kloster- und Kirchenreform schien dann solche Sonderwege aufzufangen oder abzuschneiden. Seit dem Investiturstreit aber ziehen zumal in West- und Südfrankreich, auch am Niederrhein und anderwärts Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
429
eifernde Prediger apostelgleich durchs Land und finden viel Anhang, besonders auch weiblichen, nicht für eine gemeinsame Sektenlehre, aber für Auflehnung gegen Kirchen- und Prälatenprunk, gegen Kreuzverehrung, Kindertaufe und anderes, was ihnen nicht als evangelien- und apostelgemäß galt. Es war da nicht immer leicht, übereifrige Reformer von Ketzern zu unterscheiden. Manche solcher Wanderprediger wurden zu Gründern neuer Orden, wenn sie sich kirchlichen Geboten fügten und ihren Anhang in Klöstern mit eigener Regel unterbrachten: Norbert von Xanten mit seinen Prämonstratensern ist nur der bekannteste, erfolgreichste von ihnen. Gerade er oder Reformäbte wie Petrus von Cluny und vor allem Bernhard von Clairvaux glaubten um so wirksamer gegen hartnäckig kirchenfeindliche Agitatoren predigen und schreiben zu können, jedoch ohne nachhaltigen Erfolg. Denn jene hatten den Boden bereitet für das Eindringen der organisierten Katharer-Sekte aus dem Osten mit ihrer dualistischen Bogomilen-Lehre, daß alles Materielle, Irdisch-Leibliche nicht von Gott geschaffen sei wie Seele und Geist, sondern von Anbeginn böse und des Teufels, nicht sakramental zu entsühnen, nur asketisch-rituell zu verneinen – völlig unvereinbar mit dem Kirchenglauben und -Kult. So fremd diese Lehre klang, so eindrucksvoll müssen doch ihre Verkünder gewesen sein, die als »wahre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
429
Christen«, als »gute Menschen«, als »Vollkommene« unter Entbehrungen und Gefahren durchs Land zogen, und nicht wenige »Gläubige« gewannen für ihre Sekte mit eigenen Bischöfen und Ritualen, am meisten in den Städten der Lombardei und Südfrankreichs, wo auch viele Adlige und deren Frauen sie begünstigten. Nicht zum wenigsten dadurch wurde diese Sekte um 1200 zu einer ernstlichen Gefahr für die Kirche, die darüber schließlich nur mit Feuer und Schwert Herr werden konnte: mit »Kreuzzügen« gegen die Albigenser und mit den neuartigen Sondergerichten der Inquisition. Es hat lange gedauert, ehe die Papstkirche sich dazu entschloß, zugleich aber Verständnis gewann und Spielraum gab für religiöse Kräfte, die ohne Entfremdung von der Kirchenlehre apostelgleich predigen, evangeliengemäß leben wollten in freiwilliger Armut. Dem Lyoner Kaufmann Valdes und den Humiliaten lombardischer Städte wurde das 1179 auf dem 3. Laterankonzil unter Alexander III. noch verwehrt; dem sehr ähnlich bekehrten Kaufmannssohn Franz von Assisi und seinen Gefährten wurde es 1215 auf dem 4. Laterankonzil und vorher schon von Innozenz III. erlaubt. Während die Waldenser, da sie sich nicht fügten – denn man solle Gott mehr gehorchen als den Menschen –, zu Ketzern wurden, obgleich sie ihrerseits eifrig auch gegen die Katharer predigten, konnten die Franziskaner zu einem neuartigen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
430
»Bettelorden« ohne Klosterbesitz werden: nach der klerikalen Reform ein neuer Schritt zur Wandlung der Kirche. Die Dominikaner taten es ihnen gleich, weil der adlige spanische Priester Dominikus aus Erfahrungen mit Katharern und Waldensern Südfrankreichs nur darin ein Heilmittel gegen die Irrlehren der Sekten sah: gleich ihnen apostelhaft-besitzlos, evangeliengemäß leben und wirken, aber gegen sie die wahre Kirchenlehre predigen. Diese beiden ersten Bettelorden haben denn auch vornehmlich die Aufgaben der Inquisition übernommen und weitgehend gelöst: Die Katharer und viele kleinere Sekten verstummten nach dem 13. Jahrhundert, nur die weniger aufsässigen Waldenser waren durch alle Verfolgungen nie ganz auszurotten; sie hielten sich als eigensinnig-fromme »Stille im Lande« – bis heute. Diese Ketzer haben die mittelalterliche Welt nicht eigentlich verwandelt, höchstens zeitweise gefährdet, wo sie sich mit politischen Kirchengegnern verbanden wie die Katharer in Südfrankreich, später die Hussiten in Böhmen (und noch Luther hätte sich schwerlich ohne landesherrlichen Rückhalt behaupten können). Nur war die Deutung der christlichen Überlieferung vielstimmiger geworden – denn alle Ketzer glaubten nur das Christentum wahrer, buchstäblicher oder geistiger zu verstehen, ihm besser zu folgen als der Klerus auch nach seiner Reform, die überdies gleich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
430
anfangs (1054) zum völligen Bruch mit der byzantinischen Ostkirche führte, aus der nun auch Ketzerlehren übergriffen. Diese Vielstimmigkeit aber löste Gegenwirkungen aus, die auch das kirchliche Denken und Verhalten im späteren Mittelalter auf neue Wege drängten. »Es muß auch Ketzereien geben«, hatte der Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth geschrieben (1. Cor. 11, 19). Wie schon Augustin verstanden das mittelalterliche Theologen seit karolingischer Zeit immer auch so, daß Ketzerei nach Gottes Willen zum aufrüttelnden Ansporn dienen solle für die Bemühung um besseres, wahres Verständnis der Heiligen Schrift. Dazu kam nun im Investiturstreit die kontroverse Verwendung biblischer, patristischer, kirchenrechtlicher Überlieferung, die doch allen als unanfechtbare Autorität galt. Worauf sonst sollte man sich berufen, wenn das bloße Herkommen nicht mehr respektiert, alter Brauch als Mißbrauch angefochten wurde, »Gewohnheitsrecht« als Unrecht? In der Schrift und den Vätern ließen sich aber Argumente zur Begründung unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Standpunkte finden und polemisch gegeneinander ausspielen; mit Schriftund Väter-Zitaten mußte nun auch die häretische Ausdeutung von Bibelworten entkräftet werden. Mindestens scheinbare Widersprüche in der Tradition selbst wurden sichtbar und drohten deren Geltung überhaupt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
430
in Frage zu stellen, wenn sie nicht durch genaueres Verständnis in Einklang zu bringen waren. Mit bloßer Sammlung und verehrender Rezeption der Autoritäten war da nicht mehr auszukommen wie im wesentlichen seit karolingischer Zeit; man mußte sie sichten, abwägen, ihre jeweilige, auch zeitbedingte Bedeutung, Tragweite und Vereinbarkeit ermessen. Theologische und kanonistische Gelehrsamkeit wurde erforderlich, um Kirchenreform und Ketzerabwehr stichhaltig zu begründen. In der Kanonistik ist es am deutlichsten zu beobachten, wie die Kirchenreformer von früh an neue Sammlungen kirchenrechtlicher Überlieferung anlegten, um durch eine ordnende Auswahl früher Konzilsbeschlüsse, Papstdekrete, Vätersprüche (sententiae) päpstlichhierarchische Ansprüche gegen die seit langem in der Kirche herrschenden Zustände zu verfechten, zu rechtfertigen und durchzusetzen. Die ohnehin schwer nachprüfbare Echtheit solcher Überlieferung war ihnen dabei weniger wichtig als ihre Verwendbarkeit. Die tendenziös verfälschten, auch durch bewußte Erfindung ergänzten Pseudo-Isidorischen Dekretalen der späten Karolingerzeit mitsamt der darin enthaltenen »Konstantinischen Schenkung«, bislang selten beachtet, wurden jetzt guten Glaubens benutzt. Mit biblischen Argumenten und mit manchen Fälschungen versuchte aber auch die Gegenseite die nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
431
verbrieften, doch bisher geltenden Königs- und Adelsrechte in der Kirche zu behaupten. Dem verwirrenden Widerstreit war nur abzuhelfen, wenn geklärt wurde, wie die Autoritäten gemeint waren, in welchem Sinn, in welchem Fall und Bereich sie gelten sollten. Das erfolgreichste Ergebnis solcher vielstimmiger Bemühungen, das um 1140 in Bologna verfaßte Decretum des Kamaldulensermönchs Gratian, nannte sich geradezu Concordia discordantium canonum: Die Diskordanzen, die vermeintlichen Unstimmigkeiten in der kirchenrechtlichen Überlieferung wollte es zur Konkordanz, in Einklang miteinander bringen, nicht mehr durch Polemik, sondern durch Gelehrsamkeit. Es wurde dadurch zum immer wieder kommentierten Lehrbuch aller weiteren Kanonistik als Wissenschaft, ja zum Grundstock des bis 1917 maßgebenden Rechtsbuchs der Kirche, des Corpus iuris canonici. Daß schon zu Gratians Zeit, gewiß lehrreich für ihn, auch das lange unbeachtete römische Recht des Corpus iuris civilis Kaiser Justinians wieder studiert wurde, war zwar nicht ebenso offenkundig ein Erfordernis der Zeitnöte. Immerhin machte schon für die ererbten Herrschaftsrechte Heinrichs IV. gegen päpstliche und fürstliche Anfechtung ein Ravennater Jurist Petrus Crassus auch Rechtssätze aus Justinians Institutionen geltend, und Kaiser Heinrich V. zog auf seinem letzten Italienzug den Magister Irnerius zu Rate, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
431
dem man die Gründung der Bologneser Rechtsschule zuschrieb. Von deren berühmtesten Doktoren ließ sich vierzig Jahre später Barbarossa bei seiner Ronkalischen Gesetzgebung beraten, als könnte altes römisches Kaiserrecht seine Herrschaftsansprüche in der Lombardei sanktionieren, wie er ihm auch die Bezeichnung sacrum imperium für sein Reich entnahm, das neben der sancta ecclesia nicht nur profan sein sollte. Ein Privileg, mit dem er 1158 dankbar die Professoren und Scholaren Bolognas unter seinen Schutz stellte, nennt schon als wahres Motiv ihrer Studien den amor scientiae: Liebe zum Wissen, zur Wissenschaft, die viele von weither unter Entbehrungen und Gefahren zum Studium nach Bologna ziehe. Wirklich entstand hier die erste Universität im Abendland, nicht im Dienst der Kirche oder des Staates, eines Standes oder der Berufsausbildung – war doch das dort gelehrte römische Recht zunächst kaum praktisch verwendbar –, sondern aus unabhängigem Wissensdrang, der Studenten aus allen Völkern und Ständen nach Bologna oder jüngeren Universitäten führte und von früh an auf deren autonome Selbstverwaltung bedacht sein ließ. Im Studium aus Liebe zum Wissen sah der weltkundige Kölner Alexander von Roes um 1280 bereits eine dritte, selbständige Aufgabe der Christenheit neben sacerdotium und regnum, Kirche und Reich, gleicherweise von Gott gewollt und allen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
432
dienlich. Ihm schienen dazu vornehmlich die scharfsinnigen Franzosen mit ihrer Universität Paris begabt und bestimmt wie für das Papsttum die Römer oder Italiener, für das Kaisertum die Deutschen. Denn in Paris führten im Laufe des 12. Jahrhunderts theologisch-philosophische Studien ähnlich zur Entstehung einer Universität, einer autonomen universitas magistrorum et studentium, wie die Rechtsstudien in Bologna. Auch in der Theologie galt es seit Beginn der Kirchenreform mehr als zuvor, zwiespältige Autoritäten auszugleichen, Kontroversen zu schlichten, vor allem aber den Einklang zwischen Denken und Glauben zu suchen, wenn die in jeder Schule aus den Logik-Schriften des Aristoteles gelernten Denkregeln der Dialektik nicht den offenbarten Glaubenslehren widerstreiten sollten. Ob und wie sie deren rechtem Verständnis dienen könnten, wurde strittig, schon als der Domscholaster Berengar von Tours (gestorben 1088), nicht ohne Rückhalt an Reformern um Gregor VII., die Abendmahlwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi vernunft-begreiflich erklären wollte; anderen schien das vermessen, ja häretisch gedacht. Vor »Häretikern der Dialektik« warnte auch Erzbischof Anselm von Canterbury (gestorben 1109), der standhaft die Kirchenreform und das Investiturverbot gegen seinen König Heinrich II. bis zu einem Konkordat durchfocht. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
432
Gerade er aber war zutiefst überzeugt, daß die dem Menschen von Gott gegebene Vernunft auch aus eigener Einsicht, nur ihren Denknormen folgend, dasselbe erkennen müsse, was der fromme Christ glaubt. Das Dasein Gottes und die Menschwerdung seines Sohnes versuchte er als denknotwendig zu erweisen. Statt des aus patristischer Frühzeit überlieferten Credo, quia absurdum – Glaube an das dem Verstand Unbegreifliche – wurde sein Wahlspruch und der aller Scholastik: Credo ut intelligam oder Fides quaerens intellectum: der Glaube selbst sucht, drängt, verlangt nach verstehender Einsicht. Die offenbarten, unanfechtbaren Glaubenswahrheiten blieben dabei Richtmaß aller wahren Erkenntnis, forderten nun aber das rationale Denken geradezu heraus, auf eigenen Wegen zu ergründen, was bislang als Autorität und Tradition gelehrt wurde, mit dem Verstand nicht immer leicht begreiflich und vereinbar. Daß seine Ermächtigung zum Nach-Denken auf einen gefährlich schmalen Grat führen konnte, zeigte sich schon in der nächsten Generation, als scharfsinnigen Gelehrten wie dem Bretonen Abaelard (gestorben 1147) oder dem Bischof von Poitiers, Gilbert de la Porrée (gestorben 1154), denen lerneifrige Schüler von weither zuströmten, wo immer sie lehrten, auf Betreiben besorgter Hüter des rechten Glaubens, voran Bernhards von Clairvaux, der Prozeß gemacht wurde wegen häretischer Irrlehren; und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
432
noch dem bis heute wirksamsten Scholastiker Thomas von Aquino (gestorben 1274) wie dem gelehrtesten Mystiker Meister Eckhart (gestorben 1327) blieb das nicht erspart. Wenn aber Abaelard um 1120 unter dem kühnen Titel »Ja und Nein« (Sic et non) biblische, patristische, kanonistische Autoritäten schroff konfrontierte, die scheinbar gegensätzlich auf gleiche Fragen antworteten, wollte er sie dadurch keineswegs entkräften, sondern im Gegenteil die Notwendigkeit demonstrieren, sie denkend, fragend, klärend als gültig zu erweisen in ihrem wahren Sinn; denn Fragen sei der Schlüssel zur Weisheit, zur Lösung der Widersprüche. Trotz seiner mehrfachen Verurteilung erwuchs daraus jene »scholastische Methode«, die in der systematischen Summa des Dominikaners Thomas gipfelte und auch der Kanonistik vorbildlich wurde: abwägende Erörterung des Für und Wider zu jeder theologischen, philosophischen oder juristischen Frage (quaestio), bis ihre Lösung (solutio) unter Wahrung aller dialektisch gesichteten Tradition gefunden war. Jahrhundertelang hat sich das gelehrte Denken im Abendland an dieser Aufgabe geschult und geschärft, oft fast zum Denksport entartet an den Universitäten, die nach dem Vorbild von Bologna oder Paris die Lehrenden und Lernenden zu autonomen Gemeinschaften vereinten, privilegiert von Päpsten und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
433
Königen, aber selbständig in ihrem Wissensdrang, der sich nicht mehr auf Kloster- und Domschulen beschränkt sah. Schon bei Abaelard zeigte sich freilich auch die Gefahr gelehrter Eitelkeit, Streitsucht, Rivalität und gegenseitiger Verketzerung, und Schulstreit hat weiterhin die Entfaltung der Scholastik begleitet, aber auch belebt und angespornt. Dazu kam die Entdeckung altgriechischer und islamischer, auch jüdischer Philosophie, die man schwerlich seit dem 12. Jahrhundert bei den Arabern Spaniens und Siziliens oder in Byzanz gefunden und ins Latein übersetzt hätte, wenn nicht eigenes Denken jetzt nach allem Wissenswerten gesucht hätte. Aus begreiflichen kirchlichen Bedenken wurde zwar der jungen Pariser Universität 1210 und noch öfter die Benutzung dieser vor- und unchristlichen Philosophen vom Papst und seinen Legaten verboten, doch ließ sich die Lektüre zumal der naturwissenschaftlichen und metaphysischen Schriften des Aristoteles und seiner arabischen Kommentatoren dort nicht unterbinden. Sie wurden auch den Theologen zum philosophischen Rüstzeug, schon um Folgerungen zu begegnen, die in der alle anderen Studien vorbereitenden Artes-Fakultät daraus gezogen wurden, ohne Rücksicht auf Glaubenslehren, oft damit unvereinbar. Der bekannteste dieser Pariser »Artisten« und »Averroisten«, Siger von Brabant, der um 1282 in einem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
433
päpstlichen Gefängnis in Orvieto endete und doch in Dantes Sonnenhimmel neben seinen theologischen Widersachern Thomas, Albertus Magnus und anderen christlichen Gelehrten leuchten darf, sprach besonders prägnant aus, was seit Abaelard die Wissenschaft im Abendland vorantrieb: »Wache, studiere und lies, und wenn dir dabei ein Zweifel bleibt, sporne er dich zu weiterem Studieren und Lesen, denn leben ohne Wissenschaft ist der Tod, ein Begräbnis für den elenden Menschen.« Mochte dieser Ansporn des Zweifels dann zeitweise erlahmen, im Leerlauf spätscholastischen Schulbetriebs erstarren oder als häretisch verdrängt werden, er war doch mitten im Mittelalter aus dessen eigenen Nöten erwacht, gerade durch seine christlichen und antiken Traditionen geweckt, und er hat das Abendland nie wieder ganz zur Ruhe kommen lassen. Dieses fragende, zweifelnde, suchende Denken galt nicht nur der Theologie und Philosophie, Kanonistik und Jurisprudenz oder den ihnen vorausgehenden »Trivialfächern« der Grammatik, Rhetorik und Dialektik (Logik). Nach diesem Trivium wurden ja in den »sieben freien Künsten« (artes) immer auch im Quadrivium wenigstens die Anfangsgründe der Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musiktheorie gelehrt. Wieviel dabei zumal an frühen Universitäten wie Paris und Oxford oder an der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
433
Mediziner-Universität Salerno auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen wurden oder wenigstens gesucht, wird erst neuerdings ebenso eindringlich erforscht wie früher allzu einseitig die theologisch-philosophische, philologisch-literarische und juristisch-kanonistische Bildung und Gelehrsamkeit des Mittelalters. Daß man von »Vorläufern Galileis« mindestens seit dem 14. Jahrhundert sprechen kann (P. Duhem, Anneliese Maier und andere), daß Oxforder Franziskaner des 13. Jahrhunderts mit Apparaten zu experimentieren begannen und optische Studien damals zur segensreichen Erfindung des vergrößernden »Lesesteins«, dann der Brille führten, daß gelegentlich schon an technische Möglichkeiten bis zur Flugmaschine gedacht, auch der menschliche Körper durch Sektion studiert wurde, das alles sind nur einzelne Symptome intensiver Bemühungen um die Erkenntnis der Natur längst vor Leonardo, Vesal, Kopernikus und ihresgleichen, die davon nicht weniger wußten und lernten als von wiederentdeckten antiken Autoren. Manchen Zeitgenossen wurde es seit dem 12. Jahrhundert beängstigend bewußt, wie unaufhaltsam ihre Welt sich wandelte. Klagen über die Veränderlichkeit (mutabilitas) alles irdischen Geschehens sind ein Leitmotiv der Weltchronik Ottos von Freising (gestorben 1158), den auch die frühe Scholastik und die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
434
neuen Mönchsorden – an beidem war er beteiligt –, erst recht die Entzweiung zwischen Kirche und Reich nur in dem Glauben bestärkten, diese hinfällige Welt gehe bald zu Ende – und doch meinte er dann in den Anfängen seines Neffen Friedrich Barbarossa den Anbruch neuer Morgenröte zu erleben. Um die gleiche Zeit versuchte Anselm von Havelberg, AbaelardSchüler, Prämonstratenser und Bischof, zuletzt Erzbischof von Ravenna (gestorben 1158), die Wandelbarkeit und wachsende Vielfältigkeit auch des religiösen und geistigen Lebens zu begreifen als Gottes heilsame Erziehung des Menschengeschlechts durch stufenweise fortschreitende Entfaltung des offenbarten Glaubens, der sonst in uniformer Gewohnheit erlahmen würde. Und wie schon vor ihm der aus Lüttich stammende Benediktiner-Abt Rupert von Deutz (gestorben 1129-30) unablässig grübelnd über das Bibel-Verständnis der Väter hinauszukommen suchte zu einer Schriftdeutung für eine vom Heiligen Geist erleuchtete Spätzeit, wie auch Hildegard von Bingen (gestorben 1179) visionär nach aller Unbill ihrer Gegenwart eine Zukunft friedvoller Gerechtigkeit und ohne Bücher erleuchteter Erkenntnis ankündigte, so erschloß vollends der Zisterzienser-Abt und Ordensgründer Joachim von Fiore (gestorben 1202) aus dem Vergleich biblischer Verheißung mit der Kirchengeschichte, daß bald ein neues, drittes Zeitalter des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
434
Heiligen Geistes anbrechen werde, dessen mönchische Geistkirche gleicherweise die Klerikerkirche nach dem neutestamentlichen Zeitalter des Gottessohnes ablösen werde wie diese einst die Synagoge der alttestamentlichen Gottvater-Zeit. Solche Gedanken, die dann im Franziskanerorden aufgegriffen und aktualisiert, auch späterhin immer wieder wirksam wurden, wandelten den Glauben, die Endzeit der Welt habe mit Christus begonnen und werde bald enden, in die Erwartung einer veränderten, vergeistigten, geläuterten Zukunft. Sie entgrenzten noch nicht, weiteten aber den Horizont des Zeitbewußtseins und ließen nicht mehr das nahe Weltende fürchten, sondern auf den Anbruch einer neuen Zeit größerer Vollkommenheit hoffen. Wie sich auch das Denken über den eigenen Glauben im Verhältnis zu anderen Religionen öffnete seit der Begegnung mit den »Ungläubigen«, auch mit den Byzantinern auf den Kreuzzügen und mit islamischer, altgriechisch-heidnischer und jüdischer Philosophie, sei hier nur in Stichproben angedeutet: Als Abaelard nach seinem zweiten Ketzerprozeß 1140, zum Schweigen verurteilt, im Kloster Cluny eine Zuflucht fand, schrieb er kurz vor seinem Tod ein Gespräch zwischen einem heidnischen Philosophen, einem Christen und einem Juden, noch immer überzeugt, sie alle müßten den wahren, offenbarten Glauben auch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
435
aus Vernunft einsehen. Hundert Jahre später warf Papst Gregor IX. dem verketzerten Kaiser Friedrich II. vor, er habe ungläubig von Moses, Jesus, Mohammed als drei Menschheits-Betrügern gesprochen, was der Staufer empört bestritt; aber der blasphemisch-unheimliche Gedanke, der schon ein Menschenalter zuvor einem Pariser Theologen zu dialektischer Widerlegung diente, war denkbar geworden, wenn auch niemand ihn wahrhaben wollte. Wieder zweihundert Jahre später, als die Türken 1453 Konstantinopel eroberten, schrieb der Kardinal Nikolaus von Cues, der Fischersohn von der Mosel, der Bischof von Brixen, also Reichsfürst wurde und der tiefsinnigste Denker seiner Zeit war, eine Schrift »Vom Glaubensfrieden« (De pace fidei): ein Religionsgespräch im Himmel, wo die in ihren Riten so vielfältig-verschiedenen Religionen einander als irdisch-zeitliche Entfaltung des einen, wahren, ewigen Glaubens gelten lassen und sich versöhnen. Abermals anderthalb Jahrhunderte später, während der Religionskriege in Frankreich, fand sich im Nachlaß des 1596 gestorbenen Staatsdenkers Jean Bodin ein Colloquium Heptaplomeres, ein Gespräch zwischen sieben Bekennern verschiedenen Glaubens, die sich doch zur Toleranz zusammenfinden – fast zweihundert Jahre ehe Lessing Nathans Fabel von den drei Ringen dichtete, deren Echtheit sich nur durch Bewährung erweisen kann. Lessing Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
435
selbst erinnert in seiner »Erziehung des Menschengeschlechts« (1780) an »gewisse Schwärmer des 13. und 14. Jahrhunderts«, deren Erwartung eines neuen ewigen Evangeliums in einem dritten Zeitalter »vielleicht keine so leere Grille« war, nur verfrüht und übereilt, »und eben das machte sie zu Schwärmern«. Er denkt dabei an Joachim von Fiore und die ihm folgten. Er wußte, daß manche Wege seines eigenen Denkens und Suchens im Mittelalter begannen und bis zu ihm hinführten, nicht immer geradlinig-stetig, oft ins noch Ungewisse tastend nach neuen Antworten auf die alten, aus eigener Vergangenheit kommenden Fragen – wie schon jenes Mittelalter selbst, dem dabei manche verfrühte Gewißheit und damit Begrenztheit, ja Beschränktheit unterwegs verlorengegangen war.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
435
Soziale Wandlungen – Kaufleute, Bürger, Städte Weder die Kirchen- und Klosterreform noch der Investiturstreit und die Ketzerei, weder die Entstehung der Universitäten noch der Bettelorden lassen sich allein oder auch nur vorwiegend aus sozialen Motiven erklären, geschweige denn ihre geistigen Wirkungen. Nie hat sich dabei eine aufstrebende Gesellschaftsschicht gegen den herrschenden Adel aufgelehnt oder dessen Rechte beansprucht. Nur herauslösen wollte sich die Kirche und das Mönchtum kraft eigenen Rechts aus der Adelsherrschaft; aber gerade auch Adlige haben sich vielfach an diesen Reformbestrebungen beteiligt, drängten ebenso zu den neuen Studien und Universitäten wie zu den neuen religiösen Orden, sogar zu häretischen Sekten wie den Katharern. Die alte Ständescheidung wurde dadurch nicht aufgehoben, nicht einmal angefochten, nur in manchen Lebensbereichen durchbrochen. In den Bettelorden kamen Adlige und Nichtadlige aller Stände zusammen, konnten auch nach Mehrheitsbeschluß zum Leiter eines Konvents, einer Provinz, ja zum Ordensgeneral gewählt werden; ihre Herkunft spielte dabei keine Rolle wie noch in allen älteren Klöstern und Orden. Nur bevorzugten Adelssöhne vor dem Minoritenorden des Bürgersohns Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
436
Franziskus oft den Predigerorden des adligen Dominikus – Albertus Magnus und Thomas von Aquino sind dafür die berühmtesten, doch keineswegs vereinzelte Beispiele. Daß aber hier wie dort – und mehr als früher auch im hohen Klerus – die Herkunft, die Standes- wie auch die Volkszugehörigkeit fast gleichgültig wurde neben der gemeinsamen Gesinnung, Aufgabe und Lebensform, daß neue Gemeinschaften aus verschiedenen Ständen sich bildeten, das war das Neuartige, hatte aber mehr soziale Wirkungen als Ursachen. Ebenso schlossen sich zum Studium in Paris oder Bologna und anderwärts Magister und Scholaren aus allen Ständen und Ländern zu einer möglichst autonomen Gemeinschaft, einer universitas, zusammen, zu Universitäten, die ihre Rektoren, Dekane, Prokuratoren, manchmal sogar ihre Professoren selbst wählten. Unter den Juristen Bolognas und anderer Rechtsschulen sind zwar mehr Adlige zu finden als in anderen Fakultäten, und auch nichtadlige Doktoren der Rechte konnten sogar in den Adelsstand aufrücken, da ihr Doktordiplom zeitweise einem Adelsbrief gleichgeachtet wurde. Überall aber gab es auch arme Studenten geringer, oft unbekannter Herkunft, denen durch zahlreiche Stipendien, Freitische, Unterkünfte (Bursen) geholfen wurde. Auch studierten keineswegs nur Kleriker, sondern mit ihnen nicht wenige Laien, so daß sich sogar diese kirchliche Ständescheidung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
436
verwischte, clerc auch zur Bezeichnung studierter Laien werden konnte und ein »Gelehrtenstand« sich bildete, wenngleich die meisten Studenten dieser Gemeinschaft nur einige Jahre zugehörten, nicht lebenslang wie dem »Ordensstand«, zu dem übrigens (zumindest bei den Franziskanern) auch Kleriker und Laien – wie Franziskus selbst – gleicherweise gehörten. Nun bildete sich ja um dieselbe Zeit im 12./13. Jahrhundert nicht nur ein zum Adel aufstrebender, sich ihm weitgehend angleichender »Ritterstand«, sondern noch viel folgenreicher begann sich ein »Bürgerstand« in ganz anderen, neuartigen Lebensformen abzusondern, beide zunächst »Berufsstände«, die bald ihrerseits wieder zu erblichen »Geburtsständen« wurden. Seltsam genug wohnten die »Bürger« gerade nicht in Burgen wie der Adel mit seinen ritterlichen Dienstmannen, sondern in Städten. Manche junge städtische Bürgergemeinde wurde selbst als universitas im Sinne einer autonomen Gemeinschaft bezeichnet, und Städte wurden zum Sitz der Universitäten, aber auch zum wichtigsten Wirkungsfeld der Bettelorden mit Predigt und Seelsorge, obgleich das nicht ursprünglich deren Ziel war. Ein Zusammenhang, ein Ineinandergreifen geistig-religiöser und sozialer Wandlungen ist dabei unverkennbar, nur nicht einfach so, als hätte sich von der alten adlig-feudalen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
436
Gesellschaftsordnung, auch in der Kirche und im Mönchtum, eine neu heraufziehende bürgerliche geschieden. Gerade die in den Städten wirkenden Bettelorden wie auch die ihnen schon vorangehenden und noch folgenden religiösen Bewegungen ähnlicher Gesinnung, ob rechtgläubig oder häretisch, sind in ihren Motiven mehr gegen eine neue bürgerliche als gegen die alte adlige Mentalität gerichtet, gegen bereicherndes Gewinnstreben durch Handel, Gewerbe und Geldgeschäfte mehr als gegen ererbten Grundbesitz mit Herrschaftsrechten. Ein reicher Kaufmann Valdes in Lyon gibt plötzlich um 1173, ins Gewissen getroffen von einer altchristlichen Legende und von Bibelworten, alles Geld, das er gewann, den Armen, verläßt seine Frau, schickt seine Töchter ins Kloster und zieht als armer Prediger wie die Apostel durch Stadt und Land; Hunderte folgen seinem Beispiel, auch als die Kirche sie als Ketzer ausstößt. Über dreißig Jahre später, wohl ohne davon zu wissen, hört der junge Franziskus, Sohn eines reichen Tuchhändlers in Assisi, Jesu Worte zu dem reichen Jüngling (Matth. 19,21): »Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib's den Armen... und folge mir nach«; er entsagt allem Wohlstand und seinem jugendlichen Ehrgeiz, rittergleich zu leben; er gebietet auch seinen Gefährten, die sich ihm und seinem Orden bald in aller Welt aus allen Ständen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
437
anschließen, keinesfalls Geld anzunehmen oder Besitz, lieber das tägliche Brot zu erbetteln, wenn sie es nicht durch Handarbeit verdienen können. Verzicht auf »unrecht erworbenes Gut« wird auch anderwärts vielfach zur religiösen Losung dieser Zeit; zu »freiwilliger Armut« bekehren sich zahllose Reiche und zumal ihre Frauen, oft Neureiche in den Städten, aber auch Adlige wie die junge Landgrafen-Witwe Elisabeth von Thüringen, die den ritterlichen Musenhof der Wartburg verläßt. Insofern sind die religiösen Bewegungen dieser Zeit allerdings eine Folge oder Rückwirkung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen: ein Protest des christlichen Gewissens gegen die zunehmend spürbare Geldwirtschaft, gegen alles Gewinnstreben durch Handel und Gewerbe als Geschäft nicht zur Versorgung, sondern zur Bereicherung oder um seiner selbst willen als Lebensinhalt und -ziel. Denn alles dies, was die Städte und ihr Bürgertum erst hochkommen und zu einem neuen selbstbewußten Stand werden ließ, stand in krassem Widerspruch zur christlichen Lehre und Tradition. Jesus hatte gesagt: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon«, er hatte die Händler und Wechsler aus dem Tempel getrieben, und auch sein Weheruf über die Reichen wie sein Wort, es sei leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
437
komme, wurde selten auf reichen Grundbesitz bezogen, immer auf Gelderwerb durch Handelsgeschäft oder gar Zinsnehmen, als könnte Geld selbst ohne Arbeit Früchte tragen. Beides war für Christen als Wucher verpönt, auch dem Adel verächtlich, wurde den Juden überlassen oder syrischen Händlern, wenn man auf teure Luxusgüter und Gewürze des Orients nicht verzichten wollte. Für Christen soll »gerechter Preis« gelten, der keinen Handelsgewinn über die eigenen Kosten abwirft. Das war die Lehre und stete Mahnung aller Theologen. Noch Thomas von Aquino hatte Mühe, wenigstens eine Preisspanne als Entgelt für Handelsrisiko und Verluste zu rechtfertigen – zu einer Zeit, als Levante- und Hansehandel bereits große Vermögen häufte. Wenig später jedoch erzählte man gern vom bürgerfreundlichen König Rudolf von Habsburg, nach seinem Rat habe ein Kaufmann dreifachen Preis erzielt, als er ausnahmsweise einmal Wein in Köln aufkaufte, in Straßburg auf den Markt brachte, Heringe umgekehrt – der König hatte kühn, aber richtig spekuliert. Wie mißtrauisch und geringschätzig sprach dagegen kaum hundert Jahre früher selbst der Schatzmeister König Heinrichs II. von England in seinem Dialog vom. Schatzamt über reich gewordene Bürger und Kaufleute als Geschäftemacher, deren Schätze man nicht sieht wie den adligen Grundbesitz – obwohl damals schon der Londoner Stalhof Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
437
Stapelplatz und Gildehalle der Hansekaufleute war! Es ist wahrhaft erstaunlich, wie in diesem christlichen und adligen Abendland ein Stadtbürgertum hochkommen konnte, das mit Handelsgeschäft und Großgewerbe, mit Wirtschaftsgesinnung und Gewinnstreben schließlich die ganze Welt, nicht nur die des Mittelalters, und die meisten Menschen veränderte. Alle Theorien über eine vermeintlich gesetzmäßig-geradlinige Entwicklung von der Naturalwirtschaft über Geld- und Verkehrs- zur Kreditwirtschaft, von »geschlossener Hauswirtschaft« im Hof und Dorf über die Stadt- zur Volks- und schließlich Weltwirtschaft – oder wie immer man solche »Wirtschaftsstufen« unterscheiden wollte – können nicht ausreichend erklären, was sich da im Abendland vollzog, in seinem Mittelalter anbahnte. Denn nie zuvor und nirgends sonst, auch wo große Städte seit alters die Zentren der Kultur und Politik waren wie in der antiken Mittelmeerwelt, auch im alten Orient, wo immer gehandelt wurde, hat sich je ein ähnlich expansives Wirtschaftsleben und -denken entfaltet, wie es die europäische Stadt seit dem Hochmittelalter kennzeichnet, ja geradezu erst entstehen ließ. Die Bürger Roms oder Athens und Spartas, zu schweigen von Babylon oder den Städten Ägyptens, waren keine Geschäftsleute gleich den mittelalterlichen Patriziern, die alle hätten sagen können, wie zuletzt der erfolgreichste unter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
438
ihnen, Jakob Fugger der Reiche in Augsburg (14591525): Er »wollte gewinnen, dieweil er könne«. Das war kein antikes geschweige denn ein christliches Erbe. Es war den Römern so fremd, daß ihr Wort negotium nur die Negation des erstrebenswerten otium ist, während es in den romanischen Sprachen seit dem Mittelalter zur Bezeichnung des Geschäfts und Handels wird, otium dagegen fast ausstirbt – selten als »Muße« geschätzt, meistens als »Müßiggang« getadelt, zumal von geschäftstüchtigen Bürgern. Städte der Spätantike blieben zwar trotz der Germaneneinfälle in Italien, Spanien, Gallien, am Rhein und an der Donau bewohnt, behielten ihre Bischöfe und Gemeinden, waren Verwaltungssitze auch in fränkischer Zeit. Doch danach erst kam etwas einzigartig Neues hinzu, was auch solchen alten Städten ein ganz anderes, zukunftsträchtiges Gepräge gab und neuartige Städte auch rechts des Rheins bis in die Ostseeländer entstehen ließ. Von den Germanen, wie sie Tacitus kannte, kam es nicht; die mieden Städte, mißachteten Geld. Nur von skandinavischen Nordgermanen sagt er (Germania c. 44.), daß sie Reichtümer schätzten, mit Bernstein handelten und dafür Geld nahmen. Wirklich tauchen dann seit der Karolingerzeit kühne skandinavische Seefahrer, heidnische Normannen, Wikinger, Waräger an allen Küsten Europas auf und unternehmen die Ströme hinauf weit ins Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
438
Binnenland ihre Beute- und Handelsfahrten, schwer unterscheidbar bei diesen Krieger-Kaufleuten, in deren Gräbern sich oft Schwert und Wage beisammen finden. In ihren Stützpunkten und Handelsplätzen, sogenannten »Wiken«, hat man neuerdings Vorstufen oder Frühformen der europäischen Stadt sehen wollen, und wirklich mögen sie zu Nacheiferung und Wettbewerb angespornt haben, zu Handelsfahrten auch christlicher Kaufleute nicht mehr nur für die Bedarfsdeckung im Nahhandel, sondern mit größerem Risiko und Gewinn ins Weite, etwa auf den Spuren christlicher Missionare nach dem Norden und Osten. Deutsche Hansekaufleute aus Westfalen verdrängten noch im 12. Jahrhundert von Lübeck aus, der neu gegründeten, bald erfolgreichen Rivalin des seitdem verfallenden dänischen Haithabu-Schleswig, die Skandinavier aus der Ostsee und gründeten statt deren Wiken ihre Städte längs der Küste bis nach Reval. Andrerseits mußten die Kreuzzüge und schon frühere Pilgerfahrten ins Heilige Land den Orienthandel italienischer Seestädte anspornen, alte Beziehungen zu Byzanz die Venezianer, politische Verbindungen zwischen Deutschland, Burgund und Italien den Fernhandel über die Alpen. Wanderkaufleute lassen sich seit ottonischer Zeit vielfach unter Königsschutz stellen, werden dann auch wie andere Wehrlose in die »Gottesfrieden« einbezogen, Marktfrieden wird ihnen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
439
verbrieft, sie schließen sich zu Gilden zusammen, um einander unterwegs zu helfen. Das alles läßt sich hier in seiner Vielfältigkeit nur andeuten, ist schwer auf einen Nenner zu bringen und der neueren Forschung erst allmählich sichtbar geworden. Denn vieles mußte fast unmerklich zusammenkommen, überall anders, ehe sich beobachten läßt, wie solche unstete Kauffahrer seßhaft wurden bei Bischofssitzen oder Herrenburgen, sich mit dort ansässiger, den Grundherren höriger Bevölkerung in Interessengemeinschaft verbanden und auch überschüssige Kräfte vom Lande anlockten, da Fernhandel nun den Erzeugnissen des Handwerks gesteigerten Absatz und Gewinn versprach, andrerseits mancherlei zur Verarbeitung wie zum Verbrauch zubrachte. So bilden sich bürgerliche Stadtgemeinden, verschwören sich zu gemeinsamer Wahrung ihrer Interessen, und solche »Schwurverbände« oder »Eidgenossenschaften« werden oft wahrhaft zur »Verschwörung« – alles das heißt in lateinischen Quellen coniuratio – gegen bischöfliche oder fürstliche Stadtherren, um sich gegen Bevormundung und Besteuerung zu wehren, wirtschaftliche Unabhängigkeit mit Selbstverwaltung und eigener Gerichtsbarkeit nach Stadtrecht zu erringen. Der Investiturstreit förderte vielfach solche Bestrebungen, sei es daß die Bürger Mailands und anderer lombardischer Städte mit Rückhalt am Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
439
Reformpapsttum sich gegen ihre »simonistischen« Bischöfe auflehnten oder umgekehrt etwa die Bürger von Worms (wie auch anderer rheinischer Städte oder Würzburgs) dem bedrängten Heinrich IV. gegen ihren Bischof und fürstliche Gegner halfen und zum Dank dafür Zollfreiheit vom König verbrieft bekamen für ihren Handel bis nach Dortmund und Goslar hin (1074). Überall sind dabei Kaufleute die treibenden, führenden Kräfte. Sie bilden das wohlhabende Patriziat der jungen Städte, werden ihre Ratsherren und Bürgermeister, verbinden sie zu Städtebünden, wie sie selbst in Gilden und »Hansen« vereint waren, um gemeinsam, wenn nötig gewaltsam den freien Verkehr miteinander zu sichern und die Freiheit in der Stadtgemeinde eigenen Rechts auch für ihre Handwerker und vom Lande zuziehende Neubürger, die sich ihren Grundherren entzogen. »Stadtluft macht frei.« Die Herrschenden mußten sich entschließen, ob sie dieses Autonomiestreben der Städte, um deren wachsenden Geldreichtum auch für sich zu nutzen, dulden sollten, fördern oder unterbinden. Auf seinem ersten Italienzug 1154 wies Friedrich Barbarossa noch mit stolzer Entrüstung die Zumutung der Mailänder zurück, von ihnen Geld zu nehmen, damit er ihre Wahl eigener Konsuln und ihre usurpierten Hoheitsrechte anerkenne. Da sie sich den von ihm eingesetzten Podestàs nicht fügten, hat er die große Stadt jahrelang Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
439
erbittert bekämpft, nach der Eroberung 1162 im Zorn völlig zerstört, die Bewohner in vier Dörfer umgesiedelt. Doch sie bauten im Bunde mit anderen Städten und Papst Alexander III. bald Mailand wieder auf – und zwanzig Jahre später schloß der Kaiser Frieden und Bündnis mit der alten Feindin, ließ sich fünfzehntausend Silbermark als Abfindung für die ihr nun konzedierten Rechte zahlen und hohe Jahrgelder, auch Truppenhilfe für seine Politik in Italien zusagen; er begnügte sich mit Bestätigung der gewählten Konsuln, und der vorher strikt verbotene Bund lombardischer Städte durfte sich auf dreißig Jahre erneuern. Vergeblich versuchte Barbarossas Enkel Friedrich II. diese Städte doch noch zu unterwerfen. Nach seinem Tod wurden sie in kaiserloser Zeit vollends unabhängig. Nur in Nord- und Mittelitalien sind die größten, reichsten Städte, die sich die kleineren in unablässigen Kämpfen gefügig machten, zu ganz selbständigen Stadtstaaten geworden. Es ist jedoch bezeichnend, daß den Römern das nicht gelang, obgleich sie oft ihren päpstlichen Stadtherrn vertrieben, sich schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts stolz auf ihre antike Vergangenheit beriefen und den Senat wiederherstellten; zweihundert Jahre später während des avignonesischen Exils der Päpste erhob sich Cola di Rienzo, mit Petrarca befreundet, zum römischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
440
Volkstribun. Rom aber war keine reiche Handelsstadt, es war immer auf Pilgerzustrom zu den Apostelgräbern und zur päpstlichen Kurie angewiesen. Politische Ambitionen und antike Reminiszenzen genügten nicht zur Selbständigkeit, wo es an eigener Wirtschaftskraft fehlte. Anderwärts waren die Städte stets mehr auf wirtschaftliche Unabhängigkeit bedacht als auf völlige politische Selbständigkeit. In Frankreich fügten sie sich der erstarkenden Monarchie, deren Residenz die größte Stadt Paris wurde; ein Aufgebot von sechzehn Communen half dem König Philipp II. Augustus 1214 in der Entscheidungsschlacht bei Bouvines gegen die mit dem englischen Anjou-König und dem deutschen Welfen-Kaiser verbündeten Lehnsfürsten, und besonders die durch Tuchgewerbe und -handel früh aufblühenden Städte Flanderns hatten ihren Vorteil davon. In England wurden ein Jahr nach diesem Rückschlag seiner Königsmacht auch den Bürgern Londons und anderen Städten neben den Baronen und Prälaten in der Magna Charta ihre Freiheiten verbrieft, Besteuerung von ihrer Zustimmung abhängig gemacht – wenigstens ein erster Keim künftiger Vertretung auch im Parlament. Das sind nur Schlaglichter, doch für die Unterschiede in der politischen Haltung der Städte kennzeichnend, zumal im Vergleich mit Deutschland. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
440
Als das deutsche Königtum nach dem frühen Tod Kaiser Heinrichs VI. strittig und geschwächt wurde, hätte das aufstrebende Bürgertum vielleicht ihm helfen können – verspätete Ansätze dazu im Interregnum und unter Rudolf von Habsburg, noch unter Ludwig dem Bayern sind unverkennbar – oder aber mit fürstlichen Landesherren gegen die Reichsgewalt zusammengehen. Der letzte Staufenkaiser Friedrich II. jedoch, in seinem sizilischen Erbreich an straffe Einordnung der Städte in seinen Beamtenstaat mit eigener Wirtschaftspolitik und Finanzverwaltung gewöhnt, gab die Städte Deutschlands (außer »Reichsstädten«, die auf Königsgut lagen oder gegründet wurden) den Territorialfürsten preis, die er für seine Politik in Italien gewinnen wollte. In seinen Gesetzen zugunsten der Fürsten (1220-32) wurde der Zuzug ihrer Hörigen in die Städte und die Einbeziehung umwohnender »Pfahlbürger« ins Stadtrecht unterbunden; alle Einungen in und zwischen den Städten ohne fürstliche Erlaubnis wurden verboten, ebenso die Wahl von Stadträten und Bürgermeistern in Bischofsstädten. Ein Städtebund am Mittelrhein wurde 1226 aufgelöst. Die Bürger von Worms mußten sogar ihr eigenmächtig erbautes Rathaus wieder abreißen. Lange wirksam waren freilich solche Maßnahmen nicht, da der wirtschaftliche Aufschwung der Städte sich dadurch nicht drosseln ließ. Bald nach dem Tod Friedrichs II. wurde Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
440
ein neuer Rheinischer Städtebund sogar auch politisch aktiv, um nicht nur im Handelsinteresse Sicherheit des Verkehrs, sondern Friede und Recht im ganzen Reich in kaiserloser Zeit zu wahren. Über siebzig Städte zwischen Aachen, Lübeck, Regensburg, Zürich schlossen sich ihm an, auch geistliche und weltliche Fürsten, Grafen und Herren wurden zum Beitritt genötigt, wenn sie nicht als Friedensfeinde gelten wollten. Der Bund verschwor sich, nur einen einmütig gewählten König anzuerkennen, als könnte er im Interregnum das politische Steuer ergreifen, Zwiespalt verhüten und eine Art Reichsreform von unten aus bürgerlicher Initiative anbahnen. Als aber trotzdem die Kurfürsten 1257 zwiespältig wählten – Richard von Cornwall und Alfons von Kastilien –, hat der Rheinische Bund die politische Probe nicht bestanden, sondern wurde gesprengt, weil die Handelsinteressen der Städte überwogen und auseinanderstrebten, im Norden über Lübeck zur Ostsee und über Köln nach England, im Süden zum Mittelmeer. Nie hat sich seitdem wieder ein so umfassender Städtebund in der Reichspolitik versucht. Nur engere Bünde verfochten ihre lokaleren Interessen noch öfters auch kriegerisch gegen Fürsten und Ritter. Die Deutsche Hanse aber, die eben damals aus Vereinigungen norddeutscher Kaufleute im Ausland zusammenwuchs, doch erst hundert Jahre später auch deren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
441
Heimatstädte zu einem Bund unter Lübecks Führung einte, hat ihre Ziele ohne eigentlich politischen Ehrgeiz immer auf gemeinsame Handelsinteressen im Ost- und Nordseeraum beschränkt. Dafür allein führten die Hansestädte ruhmreiche Kriege gegen Dänemark oder England, ohne doch je in die staatliche Ordnung Deutschlands oder anderer Länder einzugreifen. Eben deshalb konnten zur Hanse so viele Städte – zeitweise im 15. Jahrhundert über hundertsechzig – verschiedenster politischer Stellung gehören: Reichsstädte und Landstädte fürstlicher Territorien, Städte im preußischen Ordensland oder auch in Schweden (Stockholm) und Polen (Krakau, Breslau und andere), wenn nur ihre Kaufmannschaft deutsch war, die sie erst zu Städten machte. Über die Reichs- und Ländergrenzen hinweg verband sich da ein neuer Berufsstand – nicht mehr gleichartig-ebenbürtiger Herkunft wie der Adel oder gemeinsamer kirchlicher Aufgaben, Rechte und Bildung wie der Klerus, sondern gleichen, gemeinsamen Gewinnstrebens und gleicher »Zunge«, jedoch mit Kaufleuten anderer Völker, auch anderen Glaubens durch Handel verbunden zu einer »mittelalterlichen Weltwirtschaft« (F. Rörig) bis Nordafrika, zum Orient, nach Indien, ja China hin. Überseeische Entdeckungen konnten diese Welt später ausweiten, andrerseits wurde jene »Weltwirtschaft« durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
441
Staatsinteressen, Glaubens- und Türkenkriege wieder beengt und unterbrochen. Die Mentalität aber, die sie im Mittelalter allen seinen Traditionen zuwider schuf, wurde dessen nachhaltig wirksamste, folgenreichste Erbschaft an die Nachwelt. Jener Jakob Fugger, der »gewinnen wollte, dieweil er könne«, zeigt noch einmal am Ausgang des Mittelalters wie im Hohlspiegel vergrößert ein Bild vom Aufstieg des städtischen Bürgertums. Erst sein Großvater war 1367 aus einem Lechfeld-Dorf nach Augsburg gezogen, vom Bauernsohn zum Weber geworden, der Bürgerrecht erwarb, seine Werkstatt zum Großbetrieb mit Eigenhandel weitete und dadurch wohlhabend wurde, als Schwiegersohn eines Zunftmeisters auch ratsfähig, nachdem die Handwerkerzünfte sich Beteiligung am Stadtregiment errungen hatten. Seine beiden Söhne wechselten von der Weber- zur Kaufmannszunft, gründeten eine Handelsgesellschaft und konnten ins Patriziat einheiraten. Sein jüngster Enkel Jakob, beim Tod seines gleichnamigen Vaters 1469 erst zehnjährig, war zum Kleriker bestimmt, empfing die niederen Weihen und eine kleine Kanonikerpfründe – nicht im Augsburger Domstift, das dem Adel vorbehalten war. Wahrscheinlich wäre der junge Fugger Theologe geworden, wenn nicht acht seiner zehn Geschwister jung gestorben wären; da trat er mit zwanzig ins Familiengeschäft Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
442
ein, um dessen Bestand zu sichern, und wurde – bald als der »rechte Schaffierer« unter seinen Brüdern bezeichnet – in knapp vier Jahrzehnten der reichste Mann, der größte Unternehmer nicht nur seiner Stadt, sondern Deutschlands, ja der Welt: Bankier der Päpste wie vorher die Medici in Florenz, Geldgeber der Kaiser und anderer Fürsten. Maximilian I. erhob ihn zum Dank in den Grafenstand; Karl V., dessen Wahl und dessen Kriege er finanzierte, verpfändete ihm dafür die Silber- und Kupfergruben in Tirol, König Ferdinand die in den ungarischen Karpathen, so daß der Fugger auch zum größten Montanindustriellen wurde. Viel angefeindet von den Zeitgenossen – auch von Luther –, die ihm die Schuld gaben an ihren Wirtschafts- und Geldnöten, schrieb er selbstbewußt und guten Gewissens an einen Reichsfürsten, er sei »reich von Gottes Gnaden, jedermann ohne Schaden«. Der verarmte Reichsritter Ulrich von Hutten aber nannte geringschätzig die Fugger wie die Medici »vornehme Kaufleute, doch nicht adlig von Geburt« (nobiles mercatores, generosi vero non sunt). Gegensätzliche Gesinnungen, doch beide mit dem Anspruch – sei es durch Geblüt, sei es durch Geschäft und Reichtum – »von Gottes Gnaden« zu sein wie ihre gemeinsame Welt des Mittelalters. In ihr war auch das Bürgertum hochgekommen, nicht gegen Adel und Klerus gerichtet – es dauerte noch lange, bis Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
442
es dahin kam –, manchmal in sie hineinstrebend, aber nicht aus ihnen und ihren Traditionen hervorgewachsen, sondern aus eigener Wurzel ganz anderer Art. Ob und wie sich das alles miteinander vertragen und verbinden konnte, war die Frage der weiteren Geschichte, an deren Fortgang dieses Mittelalter selbst nicht hatte glauben wollen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
442
In summa Läßt sich aus allen diesen Beobachtungen, so unvollständig und skizzenhaft sie sind, eine Summe ziehen zur Kennzeichnung der Welt des Mittelalters nicht nur in ihrer Eigenart, sondern auch in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung und Wirkung? Von innen gesehen mit den Augen der Zeitgenossen sah sie gewiß in vielem anders aus, geschlossener, beständiger, einheitlicher, wenigstens überwölbt und umfaßt vom Unvergänglich-Bleibenden über aller menschlichen Wandelbarkeit und Hinfälligkeit. Der in Raum und Zeit begrenzte Horizont ließ die Frage nicht offen, was daraus weiterhin werden könnte und sollte; die Antwort darauf galt im voraus als gewiß: keine irdische Zukunft zu erwarten, nur die himmlische oder höllische, die in Büchern, Bildern und Predigten verkündigt, im Kirchenbau und -kult dargestellt wurde. Jede bewußte, gewollte Neuerung war verpönt. Was man ändern oder bessern wollte, mußte als Re-form erscheinen, als re-novatio oder re-stauratio, mit rückwärts gewandtem Blick auf eine frühere, anfängliche Norm für immer. Das gilt ja ähnlich noch für die Re-formation und die Re-naissance, ja anfangs sogar für den Begriff der Re-volution, der (ähnlich dem Wirtschafts-Begriff Konjunktur) vom stetig sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
443
wiederholenden Umlauf der Gestirne (Kopernikus: De revolutionibus orbium coelestium, 1543) seit Cromwell und Englands Glorious Revolution von 1688 auf die Wiederkehr oder Wiederherstellung einer alten Ordnung übertragen wurde. Danach erst im Jahrhundert der Aufklärung und der Französischen Revolution wird Veränderung zum Neuen bejaht, gewollt, gewagt, wird Reaktion verpönt, Restauration mindestens fragwürdig. Nie ist jedoch die Geschichte auch im Mittelalter oder gar in der Reformation und Renaissance wirklich zum Früheren zurückgekehrt; auch wenn man das dachte und wollte, wurde sie nicht zum wenigsten dadurch weitergetrieben und verwandelt. Schon deshalb war dieses Mittelalter anders, als es selbst zu sein glaubte und sich darstellte. Es war und blieb nicht das letzte, endgültige und bald endende Zeitalter der Welt- und Heilsgeschichte, sondern führte weiter in eine neue andersartige Zeit. Die Welt, unendlich viel älter und größer als geglaubt, bestand viel länger weiter als erwartet, und ihre Geschichte ging ganz andere Wege, als irgend jemand gedacht oder gar gewollt hatte. Das Römische Reich mit seiner vermeintlichen Fortsetzung im fränkisch-deutschen Reich, dessen Kaisertum nie so universal war, wie es beanspruchte, blieb nicht das letzte in dieser Welt, und seinem Ende folgte nicht der Antichrist. Diese Welt war auch nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
443
auf die drei altbekannten, vom Ozean umgürteten Erdteile beschränkt, und die Erde war nicht die Mitte des Weltalls, das nicht um sie kreiste; weder Jerusalem noch Rom war ihr Mittelpunkt, nur Stätten der Verehrung an der Peripherie des Abendlandes, das seinerseits wahrhaft zur ausstrahlenden Mitte einer neuen Zeit für alle Welt wurde. Über all dies aber wurde das europäische Denken nicht von außen her eines Besseren belehrt, sondern durch eigene Erfahrung, Erkenntnis und Einsicht. Begegnungen mit fremden Völkern und Gedanken, mit dem Islam, mit Byzanz und – durch beide vermittelt – mit der altgriechischen Überlieferung haben die eigene Denkweise des Abendlandes gewiß nicht nur bereichert und geweitet, sondern auch verändert; aber auch solche Begegnungen wurden nie von außen aufgedrängt, sondern gesucht von abendländischen Missionaren, Pilgern oder Kreuzfahrern, Gelehrten oder Kaufleuten, und nur ihr eigenes Weltbild, auch wenn sie auf dessen Bestätigung oder Betätigung ausgingen, hat sich dabei gewandelt, kaum das der andern, es sei denn bekehrter Heiden. Diese Welt des abendländischen Mittelalters wurde nicht beendet oder zerteilt durch den Einbruch fremder Völker wie die antike Mittelmeerwelt durch Germanen und Araber, Byzanz durch die Türken, die an Europas Ostgrenzen aufgehalten, schließlich wieder Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
443
zurückgedrängt wurden wie im 13. Jahrhundert schon die mongolischen Tataren. Wenn das Abendland sich in anderer Weise spaltete in Nationen, Staaten, Konfessionen, so war das gerade ein Ergebnis seiner eigenen Entfaltung und Differenzierung, ohne Einwirkung von außen her (die auch für die Ketzersekten des Mittelalters nur bei den Katharern eine bemerkenswerte Rolle spielt). Das gemeinsame mittelalterliche Erbe blieb dabei überall auf eigene Weise wirksam, konnte auch immer wieder zusammenführen und ließ die weiteren geistig-kulturellen, sozial-ökonomischen und politisch-staatlichen Wandlungen trotz aller Unterschiede meistens in einer Art Gleichtakt verlaufen, mit Vorsprung oder Rückstand, doch in paralleler Richtung und in stetem Kontakt miteinander. Der grüblerische Historiker Karl Wilhelm Nitzsch schrieb 1872: »Man kann im Großen und Ganzen das Mittelalter als diejenige Periode der Geschichte bezeichnen, in der die langsame, aber unwiderstehliche Triebkraft nationaler Bildungen auf dem weiten Gebiet occidentaler Cultur am stätigsten und gleichmäßigsten sich entwickelt hat«, obgleich um 1200 »die mächtigen Gegensätze der nationalen Bildungen zu verschwinden und sich in eine allgemeine Gesamtcultur der gebildeten Welt aufzulösen scheinen«. Das war eine ungewöhnliche Sicht in jener Zeit, der nationale Kultur und Nationalstaat zumeist als neuere Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
444
Errungenschaften galten, universale Einheit von Kirche und Reich dagegen als mittelalterlich, allenfalls gerade in der Stauferzeit mit einem Vorklang nationaler Eigenart in der frühen Blüte französischer, deutscher, bald auch italienischer Dichtung. Nach der Katastrophe des Nationalwahns in zwei Weltkriegen wurde andrerseits die »europäische Einheit des christlichen Abendlandes« fast im Übermaß als Vorbild und verpflichtendes Erbe des Mittelalters beschworen, als wäre nationale wie kirchlich-religiöse Sonderung ein Sündenfall erst der Neuzeit, dem Mittelalter noch fremd. Beides aber ist in Wahrheit aus ihm hervorgewachsen, die europäischen Nationen mit ihrem schon damals nicht immer verträglichen Sonderbewußtsein wie auch ihre Gemeinsamkeiten – und wie vieles andere noch: die Dynastien, die zum Teil bis heute regieren, die Universitäten, deren Professoren noch immer gern seine Trachten tragen wie Prälaten und Mönche auch, die Wissenschaft nicht nur der Theologen und Juristen, sondern auch manche Probleme der Naturwissenschaft, wie sich allmählich bei näherem Zusehen zeigt, Adel wie Bürgertum und kaufmännisches Unternehmertum. Überall reichen die Traditionen – erst recht im frommen und ländlichen Brauchtum – weit zurück ins Mittelalter, »das stets zu Ende geht und nie zu Ende ist« (H. Heimpel). Eben deshalb ist seine Grenze zur »Neuzeit« noch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
444
viel schwerer zu bestimmen als die zum »Altertum«. In neueren Betrachtungen schwankt sie zwischen 1300 oder noch früher und 1700 oder noch später. In den Jahrzehnten um 1500 häufen sich allerdings Ereignisse, die schon damals – zumal von Humanisten und Reformatoren – als Zeitwende empfunden wurden und deren Folgen die Welt nachhaltig veränderten: Erfindung des Buchdrucks, Entdeckung Amerikas, Kirchenspaltung, dazu Entstehung eines neuartigen »europäischen Staatensystems« (Ranke), wie auch das Wort »Staat« um diese Zeit erst geläufig wurde, bald auch »Staatsräson«. Das alles steht in keinem unmittelbar ersichtlichen Zusammenhang miteinander, als wäre es aus gemeinsamen geistigen oder sozialen Ursachen zu erklären; aber es hatte, ineinandergreifend, unabsehbare soziale, kulturelle, politische Wirkungen, die noch kein Beteiligter, kein Zeitgenosse ahnen oder so wollen konnte. Mochten Gutenberg, Kolumbus, Luther, auch Kaiser Karl V., selbst Kopernikus gleich anderen Zeitgenossen noch so »mittelalterlich« denken, sie bewirkten doch auf weitere Sicht etwas sehr anderes, als sie gewollt hatten – wie Saul auf der Suche nach seines Vaters Eselinnen ein Königreich fand (und doch schließlich ein schlimmes Ende nahm). Vieles Neue hatte sich im Denken und Glauben, in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schon lange vor ihnen angebahnt, vieles wandelte sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
444
langsam erst nachher für alle spürbar. Nicht so plötzlich wie die Raumgrenze des mittelalterlichen Weltbildes wurde sein eng begrenzter Zeithorizont durchbrochen; erst allmählich mußte es allen zum Bewußtsein kommen, daß sie nicht mehr in jenem »Mittelalter« lebten, das man nun erst so zu nennen begann, oder in einer von manchen seiner Propheten verheißenen mönchisch-vergeistigten Endzeit. Während aber die Erdkugel nun rund herum bekannt wurde und ihre gesetzmäßige Bahn im kosmischen Raum wenigstens den Gelehrten erkennbar, ist die Zeitenordnung, die das Mittelalter zu kennen glaubte, nicht eigentlich widerlegt, nur langsam zerdehnt worden und verblaßt, bis man sie zu ersetzen versuchte durch andere Lehren vom Gesamtverlauf der Weltgeschichte. Ihre dreiteilige Gliederung in Altertum-Mittelalter-Neuzeit statt der biblischen sechs Zeitalter und vier Weltreiche war ein wenig durchdachter Notbehelf, um alle Geschichte vor dem Mittelalter und nach ihm davon abzugrenzen und über diese Zwischenzeit hinweg eine Brücke zu schlagen von der vermeintlich durch Renaissance und Reformation für immer verwandelten neuen Zeit zu ihren Vorbildern im klassischen Altertum und frühen Christentum. Da jedoch die Geschichte wiederum anders weiterging, als Humanisten und Reformatoren erwarteten, da sie andrerseits weit über die antike Welt zurück und auch abseits von ihr erforscht wurde, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
445
hörten neue Bemühungen um ein Gesamtbild vom Verlauf der Weltgeschichte nicht auf. Sie sind von Giambattista Vico (Nuova scienza, 1725) über Hegel und Marx bis zu Spengler und Toynbee noch nicht ans Ziel gelangt, das vielleicht gar nicht endgültig erreichbar ist aus der in und mit der Geschichte gleitenden Perspektive des Menschen, der Anfang und Ende nicht kennt. Soviel aber ist dabei deutlich genug sichtbar geworden: Weder die Endzeit der Welt, wie es selbst dachte, noch eine lange Unterbrechung oder Mittelzeit zwischen der klassischen und christlichen Antike und deren vermeintlichen Erneuerung durch Renaissance und Reformation, war das seither so genannte Mittelalter auch keine in sich geschlossene Welt für sich, die zu Ende ging wie andere Kulturen vor ihm. Es setzte nicht die antike Mittelmeerwelt als Ganzes kontinuierlich fort, die auseinanderbrach; es übernahm nur einen Teil ihrer Traditionen und verband sie mit denen germanischer, keltischer, slawischer Völker, die zum Christentum bekehrt, an römischer Überlieferung in Schrift und Kunst geschult wurden, zu einer neuen, vielfältigen, spannungsreichen Einheit. Doch gerade die schwer vereinbare Verschiedenheit dieser Traditionen im kirchlichen Glauben und Kult, im lateinischen Schrifttum, im adligen und bäuerlichen Rechtsbrauch, heimischer Sprache und Dichtung ließ Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
445
diese Welt des Mittelalters nicht gleichförmig erstarren ähnlich Byzanz oder dem Islam, sondern drängte zu Auseinandersetzungen trotz aller Gemeinsamkeit, zum Geltendmachen, Behaupten und Begründen gegensätzlicher Ansprüche, zum vergleichenden Blick auch auf andere, zum Nachdenken über das Für und Wider und über deren Vereinbarkeit in einer concordia discordantium oder, mit dem Kusaner zu sprechen, in der coincidentia oppositorum. Bis ins einzelne läßt sich beobachten, wie dadurch jeweils in bestimmten Epochen und Krisen die Spannkraft gesteigert, das Denken geschärft, der Blick geweitet wurde. Schwerer ist im ganzen zu sagen oder gar auf eine Formel zu bringen, was die dadurch immer wieder ausgelöste Bewegung der Geister im spannungsreichen Wechselspiel alter und neuer Kräfte vorantrieb, lenkte und über die in Raum und Zeit begrenzte Welt des Mittelalters hinausführte, bis sie schließlich von diesem Abendland aus alle Welt umgriff. Wären es sozial-ökonomische oder kulturmorphologische Gesetzmäßigkeiten oder dergleichen, so hätten sie auch anderwärts in älterer Kultur und Gesellschaft längst ähnlich wirken müssen, in China, Indien, Ägypten, Mexiko, in der antiken, islamischen oder byzantinischen Welt oder sonstwo. Doch so vieles da vergleichbar sein mag, ging doch nur von Europa, dessen Mittelalter auch römisches und christliches Erbe Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
446
vermittelte, alles das aus über die ganze Erde, was ihr nun trotz aller Unterschiede, Spannungen und Gegensätze ein in vielem gleichartiges Gepräge gibt: Weltwirtschaft, forschende Wissenschaft der Universitäten, Technik, die jene beiden zusammen erst ermöglichten, nationale und imperiale Ambitionen miteinander verquickt und noch vielerlei, bis zur Kleidung. Auch wer die Weltgeschichte nun nicht mehr »europazentrisch« sehen und beurteilen will, darf doch nicht verkennen und verschweigen, daß andere Erdteile und Kulturen auf eigenen Wegen nicht zu dem gelangten, was ihnen nun von Europa ausgehend gemeinsam geworden ist, daß auch im Osten wie im Westen dieser zwiespältig-einen Welt Ideen verfochten, Ziele erstrebt werden, die aus Europa kamen. Warum aber allein dieses Europa so wurde, so denken und schaffen lernte, daß es weiter als jede andere Kultur über seine eigene enge Welt hinauswirkte auf die ganze Erde, deren andere »Welten« es sich zugänglich und verständlich machte, dafür kann – wenn überhaupt – eine Erklärung, können die Voraussetzungen nur zu finden sein in seinem »Mittelalter«, das nicht endete, sondern in die Folgezeit mündete und weiterwirkte. Niemand hat das damals gewollt, gedacht, geplant. Doch gilt auch hier das Wort des Philosophen Georg Simmel (gestorben 1918) in seinem nachgelassenen Tagebuch: »Es ist niemals in der Welt so Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
446
gekommen, wie die Propheten und die Führer meinten und wollten; aber ohne die Propheten und Führer wäre es überhaupt nicht ›gekommen‹«.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
Anhang: Abbildungen ¤ Die Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht. Bogenrelief am Christus-Portal des Baptisteriums in Parma, um 1200 ¤ Ein Bild des Makrokosmos. Miniatur in einem in Zisterzienserkloster Aldersbach nach nordfranzösischer Vorlage entstandenen »Lateinischen Physiologus«, um 1300. München, Bayerische Staatsbibliothek ¤ Reise des heiligen Hieronymus nach Palästina zum Studium der hebräischen Sprache, Schriftauslegung und Diktat der Übersetzung sowie das Verteilen und die Ausbreitung der Bibel. Miniatur aus der Heiligen Schrift für Karl II., den Kahlen. Handschrift der Schule von Tours, um 850. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ Lehnrecht. Eine Seite in einer aus dem 14. Jahrhundert stammenden Abschrift des »Sachsenspiegels« von Eike von Repgow. Heidelberg, Universitätsbibliothek
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
401
¤ Adlige Gesellschaft beim Maientanz. Aus einem Wandgemälde im Turniersaal der Burg Runkelstein bei Bozen, um 1400 ¤ Der Palas der staufischen Kaiserpfalz Wimpfen am Berg ¤ Papst Paschalis II. neben Kaiser Heinrich V. zur Zeit des Investiturstreites. Miniatur in einer von Ekkehard von Aura überarbeiteten Weltchronik des Frutolf von Michelsberg, um 1113. Cambridge, Corpus Christi College ¤ Die Anerkennung des Predigerordens der Dominikaner durch Papst Honorius III. Urkunde vom 22. Dezember 1216. Toulouse, Archives Départementales de la Haute Garonne ¤ Der Augustinereremit Heinrich der Deutsche bei einer Vorlesung an der Sorbonne (?). Deckfarbenmalerei von Laurentinius de Valtalina, zweite Hälfte 14. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ Privatgeschäftsbuch des Regensburger Kauf- und Handelshauses W. und M. Runtinger mit Eintragungen über Wareneinkäufe in Mailand, Lucca, Bologna, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
440
Venedig, Brabant, Prag, Breslau und Wien, 13831407. Regensburg, Museum der Stadt ¤ Die Anerkennung der Zollfreiheit in Brabant. Norimbergia bei der Schwert-, Handschuh- und Schlüsselübergabe an Brabantia. Relief in dem (im Zweiten Weltkrieg zerstörten) Saal des Rathauses zu Nürnberg, 1340 ¤ Maurer und Steinmetze beim Bau einer Stadtmauer. Miniatur vom Meister der Gérard-de-RoussillonHandschrift in einer Chronik von Jerusalem, 15. Jahrhundert. Wien, Österreichische Nationalbibliothek
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
Anhang: Facsimiles ¤ Das Lied von Hildebrand und Hadubrand. Die nach dem Zweiten Weltkrieg verschollene erste Seite des Liedfragments aus dem Kloster Fulda. Handschrift aus der Zeit um 800. Kassel, Murhardsche Bibliothek und Landesbibliothek
Die Transkription bietet die Gliederung der stabgereimten Verse und kennzeichnet außerdem die Zeilenenden der Handschrift durch Schrägstrich. Die ersten Buchstaben der stabreimenden Wörter werden durch Fettdruck hervorgehoben. Das vom Schreiber verwendete Runenschriftzeichen P ist seinem Lautwert w entsprechend wiedergegeben. Am Ende der fünftletzten Textzeile (Vers 26) wird die Fassung der Handschrift getreulich übernommen und übersetzt, obwohl viele Forscher bei dieser Stelle eine fälschliche Doppelschreibung vermuten.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
[Transkription] Ik gihorta dat seggen dat sih urhettun ænon muo/tin hiltibraht enti hadubrant untar heriun tuem / sunufatarungo iro saro rihtun garutun se iro / gudhamun gurtun sih iro suert ana helidos / ubar ringa do sie to dero hiltiu ritun hiltibraht / gimahalta heribrantes sunu her uuas heroro / man ferahes frotoro her fragen gistuont fohem / uuortum wer sin fater wari fireo in folche eddo / welihhes cnuosles du sis ibu du mi enan sages ik / mí de ódre uuet chind in chunincriche chud ist / min al irmindeot hadubraht gimahalta hilti/brantes sunu dat sagetun mi usere liuti alte anti / frote dea érhina warun dat hiltibrant hætti / min fater ih heittu hadubrant forn her ostar / gihueit floh her otachres nid hina miti theotrihhe / enti sinero degano filu her furlaet in lante luttila / sitten prut in bure barn unwahsan arbeo laosa / heraet ostar hina Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
392
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
392
det sid detrihhe darba gi/stuontum fatereres mines dat uuas so friunt/laos man her was otachre ummet tirri dega/no dechisto unti deotrichhe darba gistontun / her was eo folches at ente imo wuas eo feheta ti leop / chud was her chonnem mannum ni waniu ih / iu lib habbe wettu irmingot quad Übersetzung Ich hörte das sagen, daß sich als Herausforderer allein begehrt hätten Hildebrand und Hadubrand zwischen zwei Heeren, den zum Sohn und zum Vater zugehörigen. Sie richteten ihre Rüstungen. Sie bereiteten sich ihre Kampfgewänder. Sie gürteten sich ihre Schwerter um, die Helden, über die Panzerringe, als sie zu diesem Kampfe ritten. Hildebrand sprach, Heribrands Sohn, er war der ältere Mann, des Lebens erfahrener. Er begann zu fragen mit wenigen Worten, wer sein Vater wäre von den Menschen im Volk... »... oder welchen Geschlechtes du seist. Wenn du mir einen sagst, weiß ich mir die anderen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
Kind, in dem Königreich. Bekannt ist mir all das Irminvolk.« Hadubrand sprach, Hildebrands Sohn: »Das sagten mir unsere Leute, alte und verständige, die früher waren, daß mein Vater Hildebrand hieß. Ich heiße Hadubrand. Einst zog er nach Osten, er floh den Haß Odoakers, von hier fort mit Dietrich und vielen seiner Degen. Er ließ in dem Land die Kleine sitzen, die Braut zu Hause, ein unerwachsenes Kind, des Erbes beraubt. Er ritt nach Osten. Später entstanden für Dietrich Abwesenheiten meines Vaters. Das war ein so freundloser Mann. Er war dem Odoaker maßlos zornig, der Degen bester, und für Dietrich begannen Entbehrungen. Er war immer an der Spitze des Volkes. Ihm war immer Kampf zu lieb. Bekannt war er... kühnen Männern. Nicht glaube ich euch, daß er noch Leben habe.« »Ich rufe Irmingott zum Zeugen an«, sagte [Hildebrand... ]
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
392
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
408
¤ Machterweiterung des Hauses Habsburg unter König Rudolf I. Lehnsurkunde vom 27. Dezember 1282. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv ¤ [Rückseite]
König Ottokars Unglück und Ende in der Schlacht von Dürnkrut (auf dem Marchfeld) hatte im Sommer 1278 dessen Reichslehen frei werden lassen. Für Rudolf von Habsburg, der bisher nur einige Besitzungen am Oberrhein gehabt hatte, bot sich hier Gelegenheit, durch Schaffung einer Hausmacht sein Königtum zu festigen. Er mußte zwar nach dem Reichsrecht die Herzogtümer an seine Söhne weiterverleihen, doch bekamen die Habsburger hier ein Gebiet in die Hand, das fortan – bis 1918 – das Zentrum ihrer Herrschaft bilden sollte. Unter den Zeugen der Belehnung sind zwei Schwiegersöhne Rudolfs: der wittelsbachische Pfalzgraf, einer der mächtigsten Männer im Reich, sowie Meinhard von Tirol, der als Rudolfs wertvoller Helfer mit Kärnten belehnt wurde. Das Monogramm der Urkunde enthält außer dem Namen RUD/OLP/HUS auch seinen Titel R(ex) R(omanorum) S(emper) A(ugustus). Auf dem Siegel – einer goldenen Bulle, die man mit Seidenfäden an dem Dokument befestigt hat – ist der König in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
408
vollem Ornat auf einer Thronbank sitzend dargestellt. Die Umschrift am Rande stimmt mit dem formelhaften Titel am Anfang der Urkunde überein. Der lateinische Text ist in einer feierlichen Sprache abgefaßt, deren Schönheit sich erst bei lautem Vortrag zeigt. Durch die originale Zeichensetzung kommen – abgesehen von der Hervorhebung der einzelnen Satzteile – auch die rhythmische Struktur, der Reim und die verwendeten rhetorischen Mittel wirkungsvoll zur Geltung. In der folgenden Transkription ist darum neben der heute üblichen Interpunktion auch die ursprüngliche Gliederung durch ein Zeichen ( | ) gesetzt worden. [Transkription] RVDOLFVS | Dei gracia Romanorum rex semper augustus | universis sacri Romani imperii fidelibus | pre/sentes litteras inspecturis | imperpetuum. Romani moderator imperii | ab observancia legis solutus | legum civilium nexibus quia legum conditor non / constringitur, | et tamen legis nature dominium, | quod ubique | et in omnibus principatur | necessario profitetur. Huius enim legis imperiosa potestas | sic | / regnat potenter, | sic | in dominii sui potencia exuberat affluenter, | sic | cunctos artat et stringit, | sic | omnes dominii sui iugo laqueat et involvit, | ut / omnis caro et Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
408
lingua statutis ipsius pareant | et mandatis obediant, | profiteantur dominium | et imperium recognoscant. Ideoque | et nos | licet in excellenti / specula regie dignitatis | et super leges et iura simus positi, | legis tamen nature preceptis | et imperio caput nostrum sincere submittimus, | et eidem fidelita/tis debitum exsolvere cupientes | notum fieri volumus | tam presentis temporis | quam future posteritatis imperii Romani fidelibus, | quod inter multa / liberalitatis inmense beneficia, | quibus a sublimacionis nostre primordio | plerosque fideles imperii prevenimus, | ad instinctum | immo pocius imperium et pre/ceptum eiusdem legis nature | circa magnificenciam status prolis nostre | et sublimacionem ipsius | studia nostra convertimus | ac de libero | et expresso | / consensu imperii principum | ius in electione regis Romani | ex longa consuetudine tenencium | principatus | sive ducatus | Austrie | Stirie | / Carniole | et Marchie | cum universis suis honoribus | iuribus | libertatibus | et pertinenciis, | sicut eos | clare memorie | Livpoldus et Fridericus / duces Austrie et Stirie | tenuerunt | ac possederunt, | et aliis que in terris eisdem | quondam Otacharus rex Boemie | quocumque legitimo titulo / conquisierat, | illustribus | Alberto | et Rvdolfo | filiis nostris karissimis | apud Augustam | sollempniter cum vexillis | et sollempnitate debita concessimus | / in feodum | ac principum imperii numero | consorcio | et collegio aggregantes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
408
eosdem | et ipsis ius principum concedentes | ab eis | pro prin/cipatibus memoratis | fidelitatis et homagii | recepimus iuramentum. Nulli ergo omnino hominum liceat | hanc nostre concessionis graciam infringere | / vel eidem | in aliquo | ausu temerario | contraire. Quod qui facere presumpserit, | gravem nostre maiestatis offensam | se noverit incurrisse. (I)n cuius / rei testimonium | et perpetui roboris firmitatem | presentes litteras | inde conscribi | et bulla aurea | thypario / regie maiestatis inpresso | iussimus communiri. Testes sunt hii: venerabiles: Chunradus Argentinensis, | Hart/ mannus Augustensis, | Heinricus Ratisponensis | et Wernhardus Secouiensis | episcopi; illustres: Ludewicus comes pa/latinus Reni | dux Bawarie, | principes nostri, | Chunradus dux de Tekk, | Hermannus marchio de Baden, | Heinricus / marchio de Burgow | et Heinricus marchio de Hahperch; et spectabiles viri: Albertus et Burchardus fratres / de Hohenberch, | Heinricus, | Fridericus | et Egeno de Vurstenberch, | Eberhardus de Habspurch, | Ludewicus de Oetingen, | /... de Vlugelow, | Meinhardus Tirolensis | et Guntherus de Swartzenburch; comites: item nobilis vir Fridericus / burchgravius de Nurenberch, | Wernhardus de Schowenberch, | Livtoldus de Chvnring, | Fridericus dapifer de Lengebach, | Vlricus de Capella, | / Erchengerus de Landeser, | Hertnidus et Livtoldus fratres de Stadekk et quamplures alii. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
408
Signum domini Rudolfi | regis Romanorum invictissimi. / Datum in Augusta, per manum magistri Gotfridi | prepositi Patauiensis | nostri p(ro)thonotarii, | VI. kalen. ianuarii, | indiccione XI, anno domini | / millesimo ducentesimo | octogesimo secundo, | regni vero nostri | anno decimo. (Federprobe) domine Übersetzung RUDOLF, von Gottes Gnaden Römischer König, allzeit Mehrer des Reiches, allen Getreuen des Heiligen Römischen Reiches, die diese Urkunde sehen werden, für immer und ewig. Der Lenker des Römischen Reiches, von der Befolgung des Gesetzes befreit, wird als Gesetzgeber nicht durch die Bande der bürgerlichen Gesetze gebunden, und dennoch bekennt er sich notwendig zu der Herrschaft des natürlichen Gesetzes, das überall und in allem waltet. Denn die gebieterische Macht dieses Gesetzes – sie herrscht so machtvoll, – sie ist in der Fülle ihrer Gewalt so überreich wirksam, – sie beschränkt und bindet alle so, – sie fesselt jeden und beugt ihn so unter das Joch ihrer Herrschaft, daß alles Fleisch und jede Zunge ihren Satzungen folgt, ihren Befehlen gehorcht, zu ihrer Gewalt sich bekennt und ihre Herrschaft anerkennt. Daher Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
408
beugen auch Wir – wenngleich Wir auf die hohe Warte königlicher Würde und über Recht und Gesetz gestellt worden sind – den Vorschriften und der Herrschaft des natürlichen Gesetzes demütig Unser Haupt; und in dem Streben, ihm die schuldige Treue zu leisten, wünschen Wir, es möge folgendes allen Getreuen des Römischen Reiches jetziger Stunde und künftiger Zeit bekannt sein: Unter den vielen Wohltaten aus unendlicher Freigebigkeit, mit denen Wir vom Beginn Unserer Erhebung an gar vielen Getreuen des Reiches zu Hilfe gekommen sind, haben Wir auf Anregung, vielmehr auf Anordnung und Weisung dieses natürlichen Gesetzes Unseren Eifer auf die Standeserhöhung Unseres Geschlechts und dessen Entfaltung gerichtet und mit freier und ausdrücklicher Zustimmung der Fürsten des Reiches, die nach altem Herkommen die Rechte bei der Wahl des Römischen Königs wahrnehmen, die Fürstentümer oder Herzogtümer Österreich, Steiermark, Krain und (Windische) Mark mit allen ihren Ehren, Rechten, Freiheiten und Zugehörungen, wie sie Leopold und Friedrich, Herzöge von Österreich und Steiermark seligen Angedenkens, innegehabt und besessen haben, sowie mit allem anderen, was in diesen Ländern früher Ottokar, König von Böhmen, mit irgendwelchem Rechtsanspruch erworben hatte, den erlauchten Albrecht und Rudolf, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
408
Unseren hochgeliebten Söhnen, zu Augsburg feierlich mit Fahnen und der gebührenden Feierlichkeit zu Lehen gegeben, und dabei haben Wir sie der Zahl, Gemeinschaft und Körperschaft der Reichsfürsten beigesellt, ihnen die fürstlichen Rechte verliehen und von ihnen für die genannten Herzogtümer den Eid der Treue und der Mannschaft erhalten. Keinem Menschen soll es daher erlaubt sein, diese Gnade Unserer Verleihung zu verletzen oder ihr irgendwie freventlich zu begegnen. Wer sich herausnimmt, das tu tun, der möge wissen, daß er sich einer schweren Beleidigung Unserer Hoheit schuldig gemacht hat. Zum Zeugnis dessen und zur Bestätigung dauernder Rechtskraft haben Wir diese Urkunde daraufhin abfassen und mit der Goldbulle mit dem aufgeprägten Bildnis der königlichen Hoheit versehen lassen. Zeugen sind folgende: die Bischöfe Hochwürden Konrad von Straßburg, Hartmann von Augsburg, Heinrich von Regensburg und Wernhard von Seckau; Unsere Fürsten: Durchlaucht Ludwig Pfalzgraf bei Rhein und Herzog von Bayern, Konrad Herzog von Teck, Hermann Markgraf von Baden, Heinrich Markgraf von Burgau und Heinrich Markgraf von Hachberg; und die angesehenen Herren Grafen: Albrecht und Burkhard Brüder von Hohenberg, Heinrich, Friedrich und Egeno von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Herbert Grundmann: Über die Welt des Mittelalters
408
Fürstenberg, Eberhard von Habsburg, Ludwig von Öttingen, der von Flügelau, Meinhard von Tirol und Günther von Schwarzburg; ferner der Edle Herr Friedrich Burggraf von Nürnberg, Wernhard von Schaumberg, Liutold von Kuenring, Friedrich Truchseß von Lengbach, Ulrich von Kapellen, Erchenger von Landser, Hertnid und Liutold Brüder von Stadeck und recht viele andere. Namenszeichen des Herrn Rudolf, des unbesieglichsten Römischen Königs. Gegeben zu Augsburg, von der Hand Meister Gottfrieds, Propstes von Passau, Unseres Protonotars, am 27. Dezember, in der 11. Indiktion, im Jahre des Herrn 1282, und im 10. Jahre Unserer Herrschaft.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
Janheinz Jahn
Afrika Der neue Partner in der Weltgeschichte
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
447
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
449
I. Der Eintritt neuer Völker in die Weltgeschichte wäre keiner, vollzöge er sich lautlos, unbemerkt. Nur aus bemerkbaren Veränderungen besteht die Geschichte. Treten zu den bisher bestimmenden Kräften neue, müssen vertraute Vorstellungen sich umorientieren. Die Umordnung zeitigt Unordnung und entsteht aus ihr. Eine neue Art Unruhe kommt in die Politik: Die neue Stimme im Konzert der Spannungen ist mißverständlich und wird mißverstanden, aber sie läßt sich nicht mehr zum Schweigen bringen. Handlungen haben nicht die erwarteten Folgen, lassen sich aber auch nicht mehr rückgängig machen. Und schon sind politische Veränderungen bewirkt, die in der Rückschau zu Geschichte werden. Als die Germanen in die Weltgeschichte einbrachen, hörte die Weltgeschichte selber für ein Jahrtausend auf. Das Römerreich zerbrach samt seiner weltweiten Beziehungen bis nach China, und was schon Weltgeschichte gewesen, wurde wieder Kontinental-, ja gar Lokalgeschichte, bis die beginnende Neuzeit abermals Weltbeziehungen fand. Der Auftritt der Afrikaner hingegen fällt in eine andere, buchstäblich kosmo-politische Zeit, die bereit ist, Neulinge einzuordnen, und ihnen gar Entwicklungshilfen spendet, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
449
um durch Angleichung ihres technischen Lebensstandards die Spannungen zu verringern – freilich auch, weil die rivalisierenden älteren Mächte einander jeden neuen Verbündeten gründlich mißgönnen. So ist das Kostüm für die welthistorische Rolle des Neulings bereits geschneidert, ehe er es anprobiert hat. Den Neulingen aber paßt weder das Kostüm noch der vorgesehene Text. Statt im dunkelgrauen Anzug herkömmlicher Internationalität tritt der Vertreter Ghanas, Quaison-Sackey, im bunten Kente seiner Heimat als Präsident vor die Vollversammlung der Vereinten Nationen; die Entwicklungshilfe zeitigt keine Danksagungen, sondern steigert Mißtrauen und Haß. Denn indem man den Neulingen ihre Texte vorspricht, mißachtet man ihre Würde und ihr Recht auf eigenen Ausdruck. Und so schreien sie denn, um zu sagen, daß sie Subjekt sein wollen, nicht weiterhin Objekt. Objekt ist Afrika nämlich jahrhundertelang gewesen. Während der Zeiten des Sklavenhandels und der Kolonialherrschaft konnte es auf den Zugriff der Weltgeschichte nur passiv reagieren, durch Widerstand oder Ergebung. Seine Geschichte blieb Binnengeschichte. Afrikas Eintritt aber in die Weltgeschichte bedeutet, daß es von nun an auch die Geschichte der anderen mitbestimmt, daß es nicht mehr nur reagiert, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
449
sondern agiert, daß seine Binnengeschichte nicht nur als Tummelplatz fremder Rivalitäten, sondern auch als Ausdruck eigenen Handelns für die anderen relevant wird. Unsere Unsicherheit gegenüber dem neuen Partner entspringt der getäuschten Erwartung. Denn seine Handlungen sind nicht nur Reaktionen auf die Aktionen der andern, sondern sind zugleich durch dessen eigene Binnengeschichte und Kultur motiviert. Will man daher seine Motive und Ziele verstehen, so muß man seine Binnengeschichte und seine Kultur kennenlernen. Diese Binnengeschichte, die einst die harten Hände kolonialer Herren zum Stillstand brachten, bricht überall dort mit Vehemenz wieder hervor, wo die fragilen kolonialen Superstrukturen zerreißen. Im Kongo loderten alte Stammesfehden auf, in Nigeria drohten allgemeine Wahlen die so fein ausgewogene Harmonie in das Chaos widerstreitender Interessen der Teilvölker zu stürzen. Die afrikanischen Politiker, welche die künstlichen kolonialen Staatsstrukturen ererbten, können diese nur stärken, wenn sie sie afrikanisieren: die Völkerschaften zu Mitträgern machen, die hohlen Formen mit afrikanischem Leben füllen, afrikanische Symbole und Ziele setzen. Denn solange Verfassungen, Parlamente und Ämter nur als Relikte fremder Herrschaft erscheinen, bleiben sie jeglichen Meuterern Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
450
Anreiz, sie sich zur Beute zu machen, und solange auch wird solche Volkskraft, wie sie in Sambia etwa einer amoklaufenden christlichen Prophetin folgte, sich nicht für die Ziele einer Regierung gewinnen lassen. Freilich erfordert die Afrikanisierung der Strukturen auch einen afrikanischen Stil. Erklärungen, die Beschwörungen waren, rissen Nigerien vom Abgrund zurück in den Kompromiß. Da andererseits fremdes Mißtrauen Lumumba, dem Zauberer, keine Chance gewährte, ist die Kongokrise zur Dauerkrise geworden, die kaum ein Politiker, sondern eher ein Zauberer lösen kann. Mag der Abstand, der zwischen den Ansprüchen der neuen afrikanischen Partner und ihrem Vermögen noch klafft, vorerst nur in poetischer Vorwegnahme einer beschworenen Zukunft zu überbrücken sein – die Leitbilder dieser Zukunft und damit die Motive des Wollens werden zunehmend mitgeprägt von der Binnengeschichte Afrikas und von seiner Kultur. Grund genug für die nichtafrikanischen Partner, sich nicht nur zur Vermeidung psychologischer Fehler damit zu beschäftigen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
450
II. Nicht Mangel an Sonnenlicht, sondern angebliche Geschichtslosigkeit ließ Afrika als »dunklen Erdteil« erscheinen. Die Bezeichnung galt freilich nicht für die ans Mittelmeer anrainenden Küstenländer, die römische Provinz Africa, deren Name man später auf den ganzen Südkontinent übertrug, sondern jene südlich Libyen ins Unbekannte sich dehnende Landmasse, der Ptolemaeus den Namen Agisymba gegeben hatte. Die unbekannte Fremde war jedoch auf den frühen europäischen Weltkarten nicht durch weiße Flecken bezeichnet, die Ansporn zur Entdeckung später einzutragender Realitäten hätten sein können. Man hatte den Rand der Welt, vor allem dies unbekannte Südland, mit Phantasiegebilden bevölkert. Fabelwesen und Mißgeburten haben, sind sie erst einmal erfunden, ein schwer auslöschliches Dasein, besitzen kulturgeschichtliche und historische Wirksamkeit, haben aber selber keine Geschichte. Ihre Urheber sind bekannt: Eratosthenes aus Kyrene (276-159 v. Chr.), Polyhistor und Vorsteher der berühmten Bibliothek von Alexandria, hatte zum erstenmal den Erdumfang bis auf knapp vier Kilometer Differenz richtig berechnet. Doch auf seiner Weltkarte tauchen in unbekannten Weltgegenden bereits Menschen auf, die keinen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
451
Mund, nur ein Stirnauge oder gar so große Ohren haben, daß sie sich darin einhüllen können. Einfallsreicher noch und für ein über tausend Jahre lang gültiges abendländisches Weltbild bestimmender waren die Erfindungen des römischen Modeschriftstellers Gaius Iulius Solinus (um 250 n. Chr.) und des heiligen Isidorus, der 570 bis 636 Erzbischof von Sevilla war. So findet man auf den Weltkarten bis ins 13. Jahrhundert hinein den polymorphen Umriß des Südkontinents illustriert mit des Feuers Unkundigen, mit Zungenlosen, die sich durch Gesten verständigen, mit Engmündigen, die sich vermittels eines Strohhalms ernähren, mit Kopflosen, die das Gesicht auf der Brust tragen, mit Schattenfüßlern, die ihren einen riesigen Fuß als Sonnenschirm über sich halten. Am Nigerfluß, der wegen der dort herrschenden Hitze unentwegt kocht, leben Pygmäen und Hermaphroditen, vieräugige Äthiopier, nasenlose Neger, hakenbeinige Wüstenbewohner, die sich nur kriechend vorwärts bewegen können, und verwandelte Menschen: Werwölfe, Hexen, Schweine und Ohreneulen neben Zwergen und Riesen. Die späteren Entdecker begehrten denn auch vor allem das Außergewöhnliche zu sehen, Ostindienfahrer des 17. Jahrhunderts ließen die Bewohner des Kaps der guten Hoffnung für ein Stück Brot das Schaffell lüpfen, um zu besehen, »wie sie conditionieret sind«, Hottentottenschürze und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
451
Fettsteißigkeit wurden zu bevorzugten Forschungsobjekten der Anthropologen, und Riesen und Zwerge, Watussi und Pygmäen, gehören bis heute zu den Lieblingskindern der Völkerkundler. Wenn auch die Zeiten vorbei sind, in denen man in Europa darüber diskutierte, ob Neger Menschen seien und ob man sie der christlichen Taufe unterziehen dürfe – die Frage, ob die afrikanischen Völker Geschichte haben und wie es mit ihrem Geschichtsbewußtsein bestellt sei, ist noch immer aktuell. Pflanzen und Tiere haben Geschichte nur im Sinne von Entwicklungsgeschichte, von Morphologie, und sogenannte Naturvölker, die man noch in unserem Jahrhundert gelegentlich in zoologischen Gärten zur Schau stellte, sah man gleichfalls nur morphologisch und ihre Kulturentwicklung als Kulturmorphologie, nicht als Geschichte: Noch heute verwenden Völkerkundler bei der Beschreibung afrikanischer Völker mit Vorliebe das Präsens. Theorien, nach denen in afrikanischer Kunst sich pflanzenhaftes oder tierhaftes Dasein ausdrücke, werden noch heute veröffentlicht. Die morphologische Betrachtungsweise sieht menschliche Gruppen als Wieder- und Weiterkäuer von Kultureinflüssen. Die Einheit, die jede Kultur aus geerbten Vorstellungen und äußeren Anregungen formt, interessiert weniger als die Herkunft ihrer konstituierenden Teile. Wie die Gruppe funktioniert, ihre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
451
Bedürfnisse befriedigt, ihr Glück sucht und findet, ist nur insofern bemerkenswert, als sich Motive, Formen, Ideen finden lassen, die man mit fernen Entsprechungen verknüpfen kann. An einem Märchen beachtet man nicht die künstlerische Form, die erzählerische Qualität, die Dichte der Bilder oder die Rhythmik des Vortrags, sondern allein die verschiedenen Motive als Wegmarken des einen oder anderen Verbreitungsgebiets. Dagegen wäre wenig einzuwenden, da wechselseitige Einflüsse sichtbar werden, die unter Umständen helfen, vorgeschichtliche Beziehungen aufzuhellen. Leider aber ist die Methode mit Vorurteilen verknüpft. Die morphologisch betrachteten Kulturen entwickeln sich nicht aus eigener Tatkraft, sondern allein als Folge fremder Einwirkungen und Umstände, die sich wie Jahresringe von Pflanzen in ihnen ablagern. Statt von historisch gegliederter Vergangenheit spricht man von übereinandergelagerten kulturellen Schichten. Die Vergangenheit der Völker erscheint statisch. Daß man es im Unterbewußtsein noch immer mit Fabelwesen zu tun hatte, ist nicht die einzige Ursache. Bevor Dampf und Stahl ihre Wunder zeitigten, sahen Europäer ihre Kultur immer noch als eine unter vielen anderen. Die zwischen 1736 und 1765 veröffentlichte fünfundsechzigbändige »Universalgeschichte« widmete die Hälfte ihrer Bände der nichtabendländischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
452
Welt. Natürlich hielten jene Europäer ihre Kultur für die beste der Welt, aber sie hatten aufgehört, die überseeische Welt zu ignorieren. Vor 1750 war die europäische Expansion in Afrika und Asien vorwiegend kommerziell, die Eroberung der Welt hatte noch nicht eingesetzt. Mit Technik und Industrie und einem plötzlichen, vorher nie dagewesenen wirtschaftlichen Wachstum veränderte sich aber die Vorstellung, die der Okzident von sich hatte. Die eigenen Errungenschaften stiegen im Wert, und wenn man an Fortschritt dachte, bemaß man ihn nach dem raschen Wechsel der eigenen letzten Jahrzehnte. In anderen Gesellschaften erschien der geschichtliche Fortschritt vergleichsweise langsam. Man begann vom »unbeweglichen Osten« zu reden. In Wahrheit war »der Osten« keineswegs unbeweglich, nur die raschen Veränderungen im Europa des 19. Jahrhunderts ließen ihn langsam erscheinen. Die eigene so beschleunigte Geschichte wurde zum Maßstab, das neue geschichtliche Denken begann mit Europa und konzentrierte sich auf die Errungenschaften Europas, und die Geschichte anderer Völker, die man als »Naturvölker«, als »Völker ewiger Urzeit« ansah, war keiner Beachtung mehr wert. »Unmöglich kann man von den Völkern eines ewigen Stillstandes ausgehen, um die innere Bewegung der Weltgeschichte zu begreifen«, meinte Ranke. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
452
Dieses sehr spezielle Kulturverständnis hatte noch einige Nebenwirkungen. Bei der Suche nach der Wurzel der eigenen Zivilisation rückte eine offensichtliche, aber oberflächliche Tatsache in den Vordergrund: Europäer waren weiß, Nichteuropäer waren im großen und ganzen nicht weiß. Außerdem glaubten die Europäer in jener Zeit, daß sie allein zivilisiert seien, andere Völker hingegen als »Wilde« oder »Barbaren« statisch dahinlebten. Addierte man die beiden Behauptungen, so ließ sich offensichtlich folgern, daß hellhäutige Völker dunkelhäutigen überlegen seien. Freilich ist das eine unhistorische Ansicht. Geht man fünf oder sechs Jahrtausende zurück, müßte man mit der gleichen Logik folgern, daß nur sehr dunkelhäutige Völker eine Zivilisation aufbauen könnten und die Ahnen der heutigen Europäer als Barbaren am äußersten Rande der zivilisierten Welt eine minderwertige Rasse seien. Das befriedigende Gefühl, einer »höheren Rasse« anzugehören, fand sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts von scheinbar wissenschaftlichen Argumenten bestärkt. In der anatomischen Forschung wurden die Rassenunterschiede hervorgehoben, ein polemisch verstandener und angewandter Darwinismus ließ die nichtweißen Völker als entwicklungsgeschichtliche Vorstufen des weißen zivilisierten Menschen erscheinen. Den anatomisch unterschiedenen Rassen wurde Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
453
je eine spezifische »Rassenseele«, eine »Rassenmentalität« zugewiesen: der weißen Rasse eine dynamische, der schwarzen eine statische Mentalität. Um 1900 waren diese Anschauungen in der westlichen Welt Allgemeingut, gerade in jener Zeit also, als sie Afrika eroberte und kolonisierte. Afrikanische Geschichte war damals die Geschichte der europäischen Entdeckungen und Eroberungen in Afrika. Als in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts genauere Untersuchungen feststellten, daß Rasse und Kultur voneinander unabhängig sind, daß die Rasse mit dem Ablauf der Geschichte nichts zu tun hat und man keiner Rasse spezifische Neigungen oder Fähigkeiten – oder Unfähigkeiten – zuweisen kann, wurde der pseudowissenschaftliche Rassismus in den Kreisen ernstzunehmender Wissenschaftler aufgegeben. Er lebte nur als ein populärer Mythos weiter, der sich aber in Gesellschaften, denen er politisch nützlich erschien, zu gefährlicher Ideologie verhärten konnte – so ist er noch heute in Südafrika das Hauptargument für den Herrschaftsanspruch der weißen Minderheit über eine nichtweiße Mehrheit. Auch die Völkerkunde hat sich bemüht, allzu offensichtliche Rassenvorurteile abzuwerfen, doch blieben die eingefahrene Methodik, das in der Überzeugung vom ewigen Stillstand zusammengetragene Material und die morphologische Betrachtungsweise ein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
453
schwerer Ballast, vor allem für die historische Forschung. Historiker haben schon seit langem erkannt, daß die afro-eurasiatische Zivilisation auf gegenseitigen Beziehungen und dem Austausch von Ideen beruhe. Das Afrika südlich der Sahara, Agisymba, mag dabei mehr von Norden und Osten empfangen haben, als es zurückgab, doch stellten sich die Historiker der Ära eines übertriebenen Kultur- und Rassebewußtseins den Weg der Kulturverbreitung als Einbahnstraße vor. Da sie die Afrikaner für eine mindere Rasse hielten, suchten sie in jedem irgendwie beachtenswerten Zug afrikanischer Kulturen den fremden Ursprung. Und nicht nur das. Ein fremdes Element konnte nicht etwa durch Übernahme von einem Volk durch ein anderes verbreitet worden sein – eine solche Übernahme hätte ja bei den Empfangenden eigenes Denken und Werten vorausgesetzt –, sondern Angehörige einer fremden Rasse mußten die Empfänger überlagert und ihnen das betreffende Kulturelement aufgezwungen haben. Jeder irgendwie beachtenswerte Zug in schwarzafrikanischen Kulturen galt also nicht nur als notwendigerweise fremdes Element, er galt zugleich als Beweis historischer Eroberung und Überlagerung durch fremdrassige Völker. Noch in einem 1952 erschienenen Standardwerk über afrikanische Geschichte wird behauptet, alle afrikanischen Großstaaten gingen in ihren Ursprüngen durchweg auf ein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
453
Einströmen fremder, den »Negern politisch überlegener Menschen« zurück, und diese Fremden seien vorwiegend aus dem Osten, zum Teil auch aus dem Norden gekommen. »Die Entstehung afrikanischer Reiche«, schreibt Westermann, »läßt sich in einer einfachen, für fast alle gemeinsamen Formel ausdrücken: Fremde Menschen einer anderen Rasse wandern als Hirten, Jäger oder Räuberhorden in ein Negerland ein, bilden hier eine Herrenschicht, machen die Neger zu ihren Untertanen und fassen sie zu einem Staatswesen zusammen. Sie selber werden halb oder ganz ansässig, führen ein Herrenleben, vermischen sich auch mit den Eingesessenen und gehen in ihnen auf. Die Dynastie wird zunehmend negerisch, die Fremdkultur wird von der heimischen aufgesogen, und eine Herrschaft der Neger tritt an die Stelle der fremden.« Nicht einmal das Fehlen Fremdrassiger kann die kühne Hypothese widerlegen, jene sind dann eben »aufgesogen« worden – »vernegert« –, und zudem gilt ja ihre rassische Überlegenheit als so groß, daß schon ein Tröpfchen fremden Blutes ausreicht, um große kulturelle Veränderungen hervorzurufen. Dennoch war die nachweisbare Existenz eines fremdrassigen Kulturträgervolkes, das man für die zivilisatorischen Errungenschaften vor allem jener bald »nord- und süderythräisch«, bald »jungsudanisch« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
454
und »rhodesisch«, bald »orientalisch« genannten Großstaatkulturen verantwortlich machen konnte, höchst wünschenswert. »Da es ein solches nicht gab, wurde es erfunden. So entstand der Hamitenmythos« (Curtin). Seine Ursprünge gehen bereits ins frühe 19. Jahrhundert zurück und spiegeln einige anthropologische und linguistische Irrtümer. Die Völkerkundler glaubten damals, daß die Sprache ein vererbbarer Zug der Rasse sei, etwa wie die Hautfarbe. Ja, einige glaubten sogar, die Hautfarbe könne sich im Verlaufe weniger Generationen verändern, während die Sprache viel beständiger sei. Die Rassen in Afrika wurden daher nicht nach der physischen Erscheinung, sondern nach der Sprache klassifiziert. Da die Bantusprachen eng miteinander verwandt sind, unterschied man eine in Zentral- und Südafrika lebende Banturasse von der in Westafrika wohnenden Rasse der »eigentlichen Neger« oder der »Mischneger« oder »Sudanneger«. In Wahrheit ist »Bantu« überhaupt keine Rasse, es gibt bantusprechende Pygmäen und bantusprechende Völker, die wie Äthiopier aussehen. Zudem sind die Bantusprachen mit den westafrikanischen Sprachen ebenso eng verwandt wie diese untereinander. Zu der falschen Unterscheidung in »Bantu« und »Neger« trat aber noch eine dritte Rasse, die man die hamitische nannte. Ursprünglich hatte man darunter die Äthiopier verstanden, eine Bevölkerung, in der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
454
sich afrikanische und arabische Rassenmerkmale vermischt und stabilisiert hatten. Da ihre Sprachen deutlich mit dem Arabischen und dem Hebräischen – mit »weißen« Sprachen also – verwandt waren, klassifizierte man sie als »Kaukasier« oder als »Europide«. Alle Züge »höherer« Kultur in Afrika wurden nun mit diesen »Hamiten« in Verbindung gebracht, denn sie galten ja als eine »höhere« Rasse. Ihre historische Wirkung in Afrika stellt der Hamiten-Mythos auf folgende Weise dar: Die in sukzessiven Wellen eindringenden Hamiten sind viehzüchtende Europide, besser bewaffnet und geistig aufgeweckter als die dunklen bäuerlichen Neger. Die Hamiten, zumindest ihre Aristokratie, bemühten sich zuerst, ausschließlich Hamitenfrauen zu heiraten. Aber es konnte nicht ausbleiben, daß in Kürze Völkerschaften entstanden, in denen Hamiten- und Negerblut sich mischte. Diese Mischlinge, die wiederum den reinen Negern überlegen waren, wurden jedoch von der nächsten hereinbrechenden Hamitenwelle verachtet und weiter landeinwärts gestoßen, wo sie ihrerseits gegenüber den Negern, die sie dort antrafen, eine Aristokratie bildeten. Und dieser Prozeß wiederholte sich mit geringen Abweichungen immer wieder über einen langen Zeitraum hin, stets behaupten die Viehzüchter ihre Überlegenheit über die Ackerbauern, die ihrerseits zur Viehzucht übergehen oder sie zumindest mit dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
455
Ackerbau verbinden. »Das Endresultat einer Serie solcher Kombinationen sieht man bei den Zulu, den Ganda, oder noch häufiger in solchen Symbiosen wie die der Hima und Iru in Ankole oder der Tussi und Hutu in Ruanda.« (Seligman) Typisch ist, daß den »Hamiten« vier Charakteristika zugeteilt wurden, die an sich nichts miteinander zu tun haben. Physisch, so glaubte man, waren sie Europäer oder Europide, linguistisch gehörten sie zur hamito-semitischen Gruppe, wirtschaftlich waren sie Viehzüchter, und historisch waren sie Eroberer. Fand man nun bei einer Volksgruppe einen oder mehrere dieser Züge, gleich erklärte man sie für Hamiten. Buschmänner und Hottentotten sind zwar keine Eroberer, aber da beider Hautfarbe relativ hell ist und die eine Gruppe Vieh züchtet, sah man in ihnen Hamiten und klassifizierte auch ihre Sprache als hamitisch, bis genauere Forschung die Khoisan-Sprachen als eigene Gruppe erkannte. Die Zulu sind nicht europid und sprechen keine hamitische Sprache, aber da sie Vieh züchten und in einer Epoche ihrer Geschichte als Eroberer auftraten, galten sie als Hamiten. Die Fulani oder Pöl in Westafrika züchten Vieh und haben einige europäisch erscheinende Gesichtszüge, also erklärte man auch ihre Sprache, die in Wahrheit zur westatlantischen Untergruppe der Niger-Kongo-Sprachen gehört, für hamitisch. Die Haussa in Nordnigeria Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
455
sind keine Viehzüchter, haben keine Eroberungen gemacht und gehören auch der Rasse nach wie ihre Nachbarn zu den Negro-Afrikanern, da sie jedoch eine Sprache sprechen, die mit dem Arabischen und Hebräischen von ferne verwandt ist, deklarierte man auch sie zu europiden Hamiten. Wo immer in Afrika Staaten entstanden – und es gab sehr viele –, der Hamitenmythos machte es möglich, jede dieser Gründungen der einen oder anderen Welle europider Eindringlinge zuzuschreiben. Die Formen des Hauses, die Schnitztrommel, das Wurfeisen, die Götter, die Mythen, die Helden, der rituelle Königsmord und die Geheimbünde, die Kunst des Schnitzens, der Gelbguß, die Tierfabeln und die Märchen – kurz alles, worin die Forscher nur irgendeinen kulturellen Wert sahen, wurde auf die eine oder andere europide, sagenhafte oder vermutete oder konstruierte Erobererwelle zurückgeführt, auf Inder, Perser, Indonesier, Judäo-Syrer, Phönizier, Garamanten, Berber, Atlantisbewohner oder Hamiten. Alle diese Kulturbringer sind, so will es der Mythos, Nomaden. Durch ihre Beweglichkeit und eine Lebensweise, die militärische Geschicklichkeit entwickelt, haben Nomaden oft seßhafte Zivilisationen erobert. Seit Jahrhunderten ist es den Historikern bekannt, daß überall, wo halbtrockene Gebiete an bebautes Kulturland grenzen, Nomaden und seßhafte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
455
Völker miteinander in Konflikt geraten. Zuweilen haben die Nomaden neue Dynastien begründet und sich selbst als Herrscher über eine seßhafte Zivilisation aufgeschwungen. Aber nur der intensive seßhafte Ackerbau ist die Mutter der Zivilisation – nicht das Leben in der Steppe. Die Geschichte kennt Tausende von Fällen, in denen Nomaden über eine seßhafte Kultur herfielen, aber keinen einzigen sicher belegten Fall, daß Nomaden eine Kultur begründet hätten, wo zuvor keine war (Curtin). Im westlichen Sudan aber sollen wir glauben, daß die »weißen« Eroberer aus der Wüste, die da die eine oder andere Dynastie begründeten, keine nomadischen Räuber und Plünderer waren, sondern daß sie über die seßhaften »minderwertigen« Neger das Füllhorn ihrer »höheren« Kultur ausgegossen hätten. Die meisten Kulturen der Erde erwuchsen aus ackerbaulicher Grundlage und der sukzessiven Aufnahme und Verarbeitung fremder Anregungen. Einflüsse werden umgedeutet, assimiliert, zu neuen Gestaltungen verarbeitet. Eine Kultur entsteht wie ein Kunstwerk. Ihre Wandlungen darzustellen, ist die Aufgabe des Historikers, ihren Stil zu beschreiben die der Kulturwissenschaft. Soziologie und Sprachwissenschaft haben entsprechende Aufgaben. Die Völkerkunde hätte, die verschiedenen Disziplinen verbindend, sich zur vergleichenden Kulturanthropologie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
456
entwickeln können. Bisher hat sie das nur in Ansätzen versucht. Was Afrika betrifft, so hat sie bisher ihr Arbeitsfeld vorwiegend als einen gewaltigen Steinbruch betrachtet, als eine Kulturmoräne, in der es darauf ankam, jeden Kiesel wieder seiner ursprünglichen Gesteinsschicht zuzuordnen. Daß diese Kiesel inzwischen Teile neuer Bauwerke geworden waren, blieb von untergeordneter Bedeutung. Das Ergebnis dieser Tätigkeit sind einige hartnäckig sich haltende Fehlschlüsse, die jedermann deutlich werden, wenn wir beispielsweise die Werke Shakespeares einer ähnlichen Betrachtungsweise unterziehen. Wir müssen dabei nur annehmen, daß von der britischen Geschichte so gut wie nichts bekannt und schriftliche Dokumentierung erst in jüngster Zeit möglich geworden wäre. Die Untersuchung begänne dann mit dem Zweifel, ob es einen Autor Shakespeare überhaupt gegeben habe, ob man nicht vielmehr annehmen müsse, daß es sich bei den Dramen um eingedrungenes fremdes Kulturgut handle, das, in der Kaste der Krieger oder »Speerschüttler« überliefert, erst spät kompiliert und jenem mythischen, angeblich schreibkundigen britannischen Eingeborenen zugeschrieben worden sei, dessen enthüllenden Namen er selber auf mindestens vier, die Überlieferung gar auf sechzehn verschiedene Weisen buchstabiert haben soll. Zehn Dramen – etwa »Othello«, »Romeo und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
456
Julia«, »Cymbelin«, »Viel Lärm um nichts« – gehören motivlich dem spätitalischen Hochkulturkreis an, acht – so »Julius Caesar«, »Antonius und Kleopatra«, »Sommernachtstraum«, »Pericles« – weisen durch ihre Motive auf einen ägyptisch-frühgriechisch-frühitalischen Kulturkreis. »Hamlet« weist nach Dänemark, »Titus Andronicus« nach Byzanz, »Verlorene Liebesmüh« nach Navarra, »König Lear« ist keltisch. Die Träger dieser Hochkulturen, Altgriechen, Frühitaliker, Byzantiner, Dänen, Navarreser und Spätitaliker, müssen also in sukzessiven Wellen erobernd in Britannien eingedrungen sein und die Eingeborenen überlagert haben, wobei nur unklar bleibt, ob die Spätitaliker ihren Weg über Wien (»Maß für Maß«) oder über Böhmen (»Wintermärchen«) oder über beide Orte genommen haben. Die ursprüngliche Primitivität der Eingeborenen wird an »Macbeth« und den zehn Königsdramen deutlich, deren autochthone blutrünstige Motive sie als mißglückte Imitationsversuche einer minderwertigen Rasse ausweisen. Und mehr wäre dann über Shakespeare nicht zu sagen. Man darf sich daher nicht wundern, daß moderne Afrikaner der üblichen europäischen Darstellung afrikanischer Geschichte nur wenig Glauben entgegenbringen. Einige afrikanische Nationalisten gehen sogar so weit, den Spieß umzudrehen: Die Hamiten, abgeleitet vom hebräischen Wort Ham, das auf das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
456
altägyptische Wort »kemit« in der Bedeutung »schwarz« zurückgehe, seien zunächst die pharaonischen Ägypter gewesen, die Schwarzen, die in der nach dem Exodus entstandenen Heiligen Schrift der Fluch Noahs treffen mußte, weil die zivilisierten Ägypter das israelische Hirtenvolk unterdrückt hatten. Die Hamiten seien keine Europide, sondern Schwarze, Neger, welche eine der großen frühen Hochkulturen, die altägyptische, geschaffen hätten. Da von dieser die kretische, die frühgriechische und die karthagische Kultur abstammen und da die Grimaldirasse Südeuropas negroiden Prognathismus aufweist, kann man schwarze Afrikaner zu den Urvätern und Verbreiter der westlichen Zivilisation, zu den Lehrmeistern Europas erklären. Der phrygische Sklave Äsop lehrte die Griechen die Weisheit Afrikas, und Tyro, ein afrikanischer Sekretär Ciceros, erfand die Stenographie. Doch haben selbst die eifrigsten afrikanischen Nationalapologeten die Umkehrung nicht so weit getrieben, daß sie der Konstruktion dunkelhäutiger europider Kulturträger in Afrika eine Rasse hellhäutiger Negroider in Europa entgegengestellt hätten, der allein dann aller Fortschritt in Kultur und Wissenschaft zuzuschreiben wäre. Die Gegenkonstruktionen haben einen psychologischen Wert, sie helfen afrikanische Minderwertigkeitskomplexe aus den vergangenen Jahrzehnten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
457
überwinden, bleiben jedoch innerhalb der Wertvorstellungen okzidentalen Denkens und bedienen sich der gleichen Argumente. Ihr wissenschaftlicher Wert liegt nur darin, daß sie die Methode, die den Hamitenmythos und ähnliche Konstruktionen hervorgebracht hat, ad absurdum führen. Konstruktion und Gegenkonstruktion heben einander auf. Und nach wie vor bleibt zu erklären, wie das »Nachhinken« Afrikas gegenüber der technischen Entwicklung des Okzidents zustande gekommen ist. Diese Aufgabe ist nicht einfach, zumal dann nicht, wenn man Kulturen miteinander vergleicht. Zunächst wäre festzustellen, worin denn die »Höhe« einer Kultur besteht. Die Irrtümer waren ja gerade dadurch entstanden, daß man das Kulturniveau nach westlichen Wertvorstellungen bemaß. Hier aber muß der Zweifel einsetzen, denn jede Kultur ist nach den ihr inhärenten Wertvorstellungen gestaltet und demnach jeder anderen Kultur, die diese Vorstellungen nicht teilt, überlegen. Und jede Kultur meint, ihre eigenen Vorstellungen dessen, was gut oder böse, schön oder häßlich, hoch oder niedrig sei, müßten auch von Völkern anderer Kulturen geteilt werden. Nach den traditionellen Maßstäben der westlichen Kultur ist die afrikanische minderwertig, und nach den Maßstäben afrikanischer Kulturen – zumindest von einigen ihrer extremen Exponenten – ist die europäische Kultur minderwertig. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
457
Kulturrelative Urteile können weder universal gebilligt noch rational bewiesen werden. Die Ästhetik etwa kann vernünftige Kriterien aufstellen, nach denen sich die relative Qualität zweier Sinfonien innerhalb des okzidentalen musikalischen Stils bemessen läßt. Sie mag sogar solche Kriterien zum Vergleich zweier afrikanischer Musikstücke heranziehen, wobei es aber schon wieder fraglich ist, ob es überhaupt auf die gleichen Qualitäten ankommt. Sosehr man sich aber innerhalb einer bestimmten Stilform auf Qualitätskriterien einigen kann, sowenig ist das außerhalb der Stilformen möglich. Es gibt keine Kriterien, die zweifelsfrei erkennen ließen, was »besser«, »schöner« und »höherstehend« ist: eine europäische Sinfonie oder die Musik eines afrikanischen Trommelorchesters. Selbst die Tonleitern sind in den verschiedenen Kulturen nicht die gleichen, eine jede Kultur empfindet die eigene als schön und richtig, die fremde klingt häßlich und falsch. Zwar werden gewisse ethische Grundvorstellungen von allen Kulturen geteilt. Das unnötige Töten menschlicher Wesen wird weltweit als ein Übel angesehen. Wann aber ist Töten nötig, wann unnötig? In einigen afrikanischen Gesellschaften war das Menschenopfer Teil des religiösen Ritus. Die Europäer verurteilten diese Praxis, denn sie hielten sie für unnötig. In Europa hat man bis in die Neuzeit hinein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
458
Ketzer verbrannt und in modernen Kriegen Millionen von Menschen ins Feuer mechanischer Waffen getrieben. Ein fremder Beobachter mag diese Menschenopfer mit gleichem Recht als unnötig und verwerflich ansehen. Auf rein technischem Gebiet hingegen ist ein rationales Urteil möglich. Definiert man Technik als die Gesamtheit von Kenntnissen und Geschicklichkeiten zur Herstellung von Gütern und Leistungen, dann kann man jede Technik an der Wirksamkeit messen, mit der sie den vorgesetzten Zweck erreicht. Wichtig ist natürlich, daß die zu vergleichenden technischen Instrumente tatsächlich dem gleichen Zweck dienen. Ein Klavier ist als Instrument zur Erzeugung von Tönen der Dundun-Trommel überlegen, denn es kann mehrere Oktaven von Tönen erzeugen. Die DundunTrommel aber kann jene Zwischen- und Gleittöne hervorbringen, die allein es möglich machen, daß die Trommel »spricht«, daß sie Rhythmus und Tonfolge von Sätzen einer Tonsprache verständlich reproduziert. Für diesen Zweck konstruiert, ist sie jedem Klavier technisch überlegen. Wenn man diese sich aus den kulturellen Besonderheiten ergebenden Einschränkungen berücksichtigt, lassen sich landwirtschaftliche und industrielle, selbst politische Techniken – doch nur diese – bezüglich ihrer relativen Fortgeschrittenheit in den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
458
verschiedenen Kulturen miteinander in Beziehung setzen, und es ist dann offensichtlich, daß die afrikanische Kultur technisch hinter der westeuropäischen des 18. und 19. Jahrhunderts zurückgeblieben ist. Wie groß aber ist dieser Abstand, und wie läßt er sich historisch erklären? Für die Südspitze Afrikas ist die Lösung einfach. Geographisch ist sie das Ende eines langen Weges, und jede irgendwo anders gewonnene Erfindung oder Entdeckung mußte erst über einen langen Weg weitergegeben worden sein, bis sie diese Endstation erreichte. Die südafrikanischen Buschmänner blieben aus dem gleichen Grunde rückständig, aus dem auch andere isolierte Völker, die sich allein mit ihren eigenen Erfindungen begnügen mußten, etwa in Australien oder Patagonien, hinter dem technischen Fortschritt einherhinkten. Schwieriger ist die Erklärung für die weiter nördlichen Gebiete, besonders den Südrand der Sahara, das Savannenland, das sich vom Cap Verde bis ans Rote Meer zieht, das die Araber »Sudan«, das »Land der Schwarzen«, genannt haben. Wenn dieses Gebiet zur Frühzeit des Seeverkehrs hinter der Entwicklung Nordafrikas und des Nahen Ostens zurückblieb, dann mußten auch alle weiter südlich liegenden Länder »nachhinken«. Die Beziehungen des Sudan zum übrigen Afro-Eurasien haben daher eine entscheidende Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
458
Bedeutung. Wann wurde im Sudan die Landwirtschaft eingeführt, die in jeder Zivilisation gegenüber dem Sammeln und Jagen einen technischen Fortschritt darstellt? Die meisten Historiker stimmen überein, daß die Landwirtschaft nur selten, vielleicht sogar nur einmal erfunden wurde und daß die früheste landwirtschaftliche Gesellschaft im achten Jahrtausend in Südwestasien bestand. Sie bediente sich verbesserter Steinwerkzeuge, »neolithischer Werkzeuge«. Archäologische Funde lassen darauf schließen, daß sich neolithische Werkzeuge und Landwirtschaft vom alten Vorderen Orient aus verbreitet haben. Um das Jahr 4000 hatten die neolithischen Werkzeuge – möglicherweise auch ohne die Landwirtschaft – bereits die Negervölker südlich der heutigen Sahara erreicht. Das Neolithikum beginnt also im subsaharischen Afrika etwa um die gleiche Zeit wie in Indien oder in China und etwa tausend Jahre früher als in Nordwesteuropa. In jener Zeit war demnach Europa rückständig, während Teile Afrikas zu den fortschrittlichsten Gebieten der Erde zählten. Wie es dann weiterging, sind die Ansichten geteilt. Nach der einen Ansicht hatten die neolithischen Werkzeuge und die Kenntnis, sie herzustellen, den Sudan um 4000 erreicht, jedoch noch nicht der Ackerbau. Zwar sei die Erkenntnis, daß Ackerbau möglich ist, vorhanden gewesen, nicht aber die Möglichkeit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
459
dazu, weil die in der Levante und in Ägypten kultivierten Pflanzen sich zum Anbau in der Savanne nicht eignen. So mußten zwei oder drei Jahrtausende vergehen, bis geeignete im Sudan heimische Wildpflanzen für den Ackerbau in der Savanne hinreichend veredelt waren. Nach dieser Ansicht habe kontinuierlicher Ackerbau südlich der Sahara erst im zweiten Jahrtausend v. Chr. beginnen können, und die zweitausendjährige Rückständigkeit gegenüber Ägypten beziehungsweise die eintausendjährige Rückständigkeit gegenüber Westeuropa wäre auf die klimatischen Bedingungen zurückzuführen. Nach anderer Meinung habe Afrika die Entwicklung zur Landwirtschaft angeführt und sei erst später rückständig geworden. Obwohl die Beweise spärlich seien, müsse man annehmen, daß im Sudan bereits im vierten Jahrtausend oder noch früher Nahrungspflanzen angebaut wurden. Vor allem, weil es wahrscheinlich ist, daß schon um 3000 Baumwolle angebaut wurde und der Anbau von Nahrungspflanzen natürlicherweise dem Anbau einer Textilpflanze vorausgeht. Diese Ansicht stellt auch einige Annahmen über die Kultur Altägyptens in Frage. Es ist bekannt, daß die Kulturen Schwarzafrikas in einer Reihe von Zügen der altägyptischen ähneln. Man hat daher angenommen, daß diese Züge aus Ägypten stammen und nilaufwärts das Savannenland südlich der Sahara Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
459
erreichten. Es gibt aber keinen Beweis, daß Ägypten stets der Gebende, Schwarzafrika stets der Nehmende gewesen wäre. Wenn es sich bestätigt, daß es schon um 5000 im Sudan Landwirtschaft gab, dann war er damals technisch ebensoweit fortgeschritten wie Ägypten, das dann vermutlich nicht nur Anregungen an den Sudan weitergab, sondern auch solche von dort empfing. Gottkönigtum und rituelle Königstötung, Formen von Königskronen, Hofbeamtentum, amtliche Königsmütter und die Verehrung des heiligen Widders – alles in Agisymba weit verbreitete Bräuche und Einrichtungen – gehen dann nicht notwendig auf ägyptische Anregungen zurück, sondern können von Nubien aus nach Ägypten vorgedrungen sein. Die enge Verbindung des Königs mit dem Ackerbau, die in allen Einsetzungsriten zum Ausdruck kommt – er besitzt Kräfte, die dem Boden Fruchtbarkeit verleihen –, müßten dann nicht dadurch erklärt werden, daß die »fremden (hamitischen!) Herren sich dem Gesetz ihrer negerischen Untertanen beugten«, sondern wären die eigenständig entwickelte natürliche Form des negroafrikanischen Königtums. Die Hypothese, daß eine frühe autochthone Ackerbaukultur spezifische rituelle Formen der Königsherrschaft entwickelte, die dann nur teilweise von Ägypten übernommen wurden, ist schließlich wahrscheinlicher als die Annahme, eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
460
ägyptische Anregung, weitergetragen von »Fremden«, habe in den verschiedensten Gebieten Schwarzafrikas immer die gleiche kultische Aufwertung erfahren. Wie dem auch sei, die Rückständigkeit Afrikas entstand nach dieser Theorie zu einer späteren Epoche, nicht durch die Verzögerung in der Einführung der Landwirtschaft, sondern dadurch, daß sich im Gegensatz zu Ägypten und Mesopotamien keine bronzezeitliche Stadtkultur bildete. Der bequeme Verkehr zwischen Ägypten und dem Sudan muß im vierten Jahrtausend plötzlich unterbrochen worden sein. Der Sudan übernahm damals Haustiere, aber der Gebrauch der Bronze und der Schrift, die wenig später in Agypten entwickelt wurden, erreichte den Sudan nicht. Erst kurz vor der Einführung des Eisens und der mit ihm verbundenen Techniken kam auch die Bronze in Schwarzafrika in Gebrauch, also im ersten Jahrtausend v. Chr. Agisymba hat also die Bronzezeit gleichsam übersprungen, wohl deshalb, weil die Verbindung mit Nordafrika vom vierten bis ins erste Jahrtausend unterbrochen war. Diese Periode fällt mit einem Klimawechsel zusammen, der die Austrocknung der Sahara verursachte. Schwarzafrika war hinter der technischen Entwicklung des Vorderen Orients um ein bis zwei Jahrtausende zurück – genau so weit zurück übrigens wie das westliche Europa: Beide hatten Eisen und Ackerbau, aber beide hatten noch keine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
460
Stadtkulturen entwickelt. Die Kombination von fortgeschrittener Landwirtschaft, Metallurgie, Schrift und Stadtkultur war noch auf wenige geographisch begünstigte Zentren beschränkt: Unterägypten, das östliche Mittelmeer, Mesopotamien, das Tal des Indus und die nördlichen Flußtäler Chinas. Soweit sich diese Zentren unabhängig voneinander entwickelt hatten, standen sie doch um das erste Jahrtausend v. Chr. sporadisch miteinander in Verbindung, häufig genug jedenfalls, daß in einem dieser Zentren entwickelte neue Techniken früher oder später von den anderen entlehnt werden konnten. Durch diese Beziehungen beschleunigte sich der Fortschritt, und jedes Zentrum konnte die umliegenden Landstriche beeinflussen. Nach Westen verbreiteten sich die neuen Techniken entlang den Küsten des Mittelmeers, wo mit dem Seehandel Küstenstädte entstanden. Nach Süden schob sich die ägyptische Zivilisation zunächst nach Nubien vor, dessen Goldminen in der Blütezeit jährlich vierzigtausend Kilogramm Gold lieferten – einen Ertrag, den die Weltproduktion erst wieder im 19. Jahrhundert erreichte –, dann über den dritten Nilkatarakt hinaus ins Land Kusch, das zunächst eine ägyptische Kolonie war, dann aber, als Ägypten den Libyern, Assyrern, Persern, Griechen und Römern zur Beute fiel, als unabhängiges Staatswesen fortbestand, die Hauptstadt von Napata nach Meroe ins Land der Schwarzen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
460
verlegte und eine Eisenindustrie aufbaute, deren Schutthalden noch heute an ein zentralafrikanisches Ruhrgebiet denken lassen. Um das Jahr 500 v. Chr. war Kusch ein ebenso ins unterentwickelte Gebiet vorgeschobener Außenposten wie die griechische Stadt Massalia (Marseille) zur gleichen Zeit. Zur Zeitwende hatte in Europa die neue Zivilisation die Gebiete südlich der Alpen etwa durchdrungen, während sich nördlich davon noch »barbarische« Länder erstreckten; im Sudan war der Osten zivilisiert – im Reiche Axum war Meroe ein tödlicher Konkurrent entstanden –, und westlich erstreckte sich das »Barbarenland« noch bis zum Atlantik. Nordwesteuropa und der westliche Sudan standen noch immer auf der gleichen technologischen Stufe. Als dann Rom die verschiedenen Mittelmeerkulturen zu einer neuen Einheit zusammenfügte, konnte es deren Techniken leicht über die Alpen nach Gallien und nach Britannien tragen – der Sudan im Süden aber lag Hunderte von Kilometern jenseits der Wüste, die jeden nachhaltigen Verkehr zum Scheitern brachte. Sogar das Christentum drang erst, nachdem das Weströmische Reich zusammengebrochen war, in Nubien und Axum ein. Die Unruhen der Völkerwanderungszeit machten den bereits gewonnenen technologischen Fortschritt in Westeuropa zunichte und stellten das Gleichgewicht mit dem Sudan wieder her. Doch blieb Westeuropa Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
461
am Rande jener fortgeschrittenen Zivilisation, die in Byzanz und einigen südeuropäischen städtischen Zentren den Sturz überlebt hatte. Das Reich der Merowinger und Karolinger, das etwa gleichzeitig mit dem westafrikanischen Reiche Gana aufblühte, konnte an antike Bildung anknüpfen, während Gana, einen Hunderte Kilometer breiten Wüstengürtel von jenen Zentren getrennt, dennoch vergleichbare Einrichtungen aufbaute. Afrika hatte sich Schritt für Schritt wie Europa, wie andere Weltteile weiterentwickelt. Es war nur die ungewöhnliche technologische Entwicklung Europas, die erst mit der Neuzeit einsetzte und den Entwicklungsgang anderer Kontinente langsam oder gar statisch erscheinen ließ; der gewaltige Aderlaß durch den Sklavenhandel bildete für Agisymba ein besonderes Entwicklungshindernis. Eine eigene technologische Sonderentwicklung war jedoch von Afrika nicht zu erwarten. Seine Philosophie vom Zusammenhang aller Kräfte hatte zu einem Ganzheitsverständnis des Kosmos geführt, in dem alles lebte und aneinander teilhatte, in dem es folglich kein »Ding«, kein »Objekt« gab, das man aus dem Lebenszusammenhang hätte ablösen, abstrahieren und schließlich gar zum Fabrikat hätte machen können, mit dem man nicht mehr »lebt«, sondern das man nur noch handhabt. Selbst das Gold wurde nicht zum Goldstück, zur Münze mit reinem Metallwert – der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
461
abgewogene Goldstaub blieb werdendes Schmuckstück: Symbol und Geschmeide. Und das Geld sogar wurde nie zur reinen Verrechnungseinheit: die Kaurimuscheln, deren kaum zwei an Farbe oder Form je einander gleichen, bewahrten schon in ihrer Gestalt die Erinnerung ihrer lebendigen Herkunft und wurden, auf Lederstreifen gereiht, wieder vollends zu gleichsam lebendigen Gliedern. Ein jedes Werkstück war mit Bedeutung geladen, wurde einzeln für eine bestimmte Person und deren Leben geschaffen und als lebendige Kraft in seine Funktion »ernannt«. An rationelle Nutzung und abstrakte Technik zu denken, wäre Frevel gewesen. Bei aller geographischen Benachteiligung aber hatte Agisymba Anregungen und Fertigkeiten übernommen und selbständig weiterentwickelt. Da gab es, lange bevor Europäer eintrafen, verbesserten Landbau, Stalldüngung und Terrassenkultur und künstliche Bewässerung, wo dergleichen notwendig wurde und möglich war; ein feines Kunsthandwerk verarbeitete Tierhäute zu Säcken und Matten, zu Taschen und Gefäßen, Griff- und Trittwebstühle lieferten Raphia- und Baumwollgewebe, ja die feinsten Plüschstoffe aus Baumrinde. Alles, was die Pflanzenwelt lieferte, wurde mit einfachem Werkzeug bearbeitet und zu nützlichen Gegenständen und Geräten gestaltet, handlich geschnitzt und mit hohem Kunstsinn. Aus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
461
Blättern und Wurzeln wurden Medizinen und Gifte bereitet und Farbstoffe für die Tönung der Häuser und der Gewänder. Man förderte Metalle, Gold, Silber, Kupfer, Eisen und Zinn, Hochöfen schmolzen mit Holzkohle Roheisen aus dem Erz, und die Schmiede, Beherrscher einer alten unheimlichen Kunst, genossen hohes Ansehen oder Mißtrauen. Man stellte Glas her, und der Gelbguß in verlorener Form erreichte in Benin eine solche Vollendung, daß nach dem Urteil von Fachleuten Benvenuto Cellini die Bronzeplatten nicht feiner hätte gießen können. »Sie stehen technisch auf der Höhe des überhaupt Erreichbaren« (v. Luschan). Und man erfand unzählige Musikinstrumente, Harfen und Xylophone, Rasseln und Trommeln. Man nahm die Schrift nicht in Gebrauch – denn zur Nachrichtenübermittlung bediente man sich der Trommel, die, zuweilen derart verfeinert, daß sie die feinsten Stimmodulationen der Tonsprache wiedergibt wie die berühmte sanduhrförmige Sprechtrommel, jede Nachricht schneller und klarer an einen größeren Personenkreis verbreitet als geschriebene Schrift. Man hatte gleichsam eine akustische Schrift, gegen die jene optische sich nicht durchsetzen konnte, zumal im steinarmen feuchtheißen Tropengürtel auch ihre Funktion der Nachrichtenbewahrung fragwürdig bleiben mußte: Da war kein Schreibmaterial, das den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
462
Termiten und der Feuchtigkeit trotzte und den Schreiber zu überdauern versprach. So mußten, um auch jener zweiten Funktion der Schrift, der Nachrichtenbewahrung, gerecht zu werden, für die akustische Überlieferung Sicherungen geschaffen werden, die eine Veränderung des Textes verhindern konnte. Das »Dokument« wurde auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt, der es von Generation zu Generation weiterzugeben hatte, und es wurde unter den Schutz sakraler Unantastbarkeit gestellt: Ein Fehler in der Rezitation mußte schwerste Strafen nach sich ziehen. Strenge Geheimhaltung vor Unbefugten war Pflicht. Als ein Student aus Angola sieben Jahre alt war und gerade schreiben konnte, wurde sein Vater sterbenskrank. Der Mann rief seinen kleinen Sohn, hieß ihn Schulhefte und Schreibzeug nehmen und diktierte ihm die Geschichte des Stammes. Der Sterbende war der alleinige Kenner der Tradition und verpflichtet, sie an seine Nachkommen weiterzugeben. Als der Mann jedoch genas, forderte er die Hefte ein und bewahrt sie noch heute, obwohl er als Flüchtling im Kongo lebt. Erst vor seinem Tode wird er dem Sohn die Hefte wieder aushändigen. Er selbst hatte sein Wissen noch wie seine Väter und Vorväter auswendig gelernt. Manche Überlieferungen durften nur auf einer besonderen rituell geweihten Trommel rezitiert und weitergegeben werden. Die Zerstörung solcher Trommeln Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
462
durch koloniale Eroberer oder Missionare hat dann häufig zum Untergang der Texte geführt, da die Wissenden, Eide und Flüche fürchtend, nicht wagten, die Texte auf Ersatzinstrumenten weiterzugeben. So ist die Rekonstruktion der afrikanischen Geschichte schwierig, jedoch nicht unmöglich. Das schlimmste Hindernis, die Vorstellung, Agisymba habe keine Geschichte, weil es nur mündliche Überlieferung kennt, ist im Schwinden. Der Hofchronist eines orientalischen Satrapen, die Verlautbarungen einer Regierung können ein Ereignis ebenso beschönigend verfälscht haben wie der Hofbarde eines afrikanischen Königs. Schriftliche wie mündliche Texte können gut oder schlecht sein, in beiden Fällen ist Quellenkritik unerläßlich, und was die objektive Wahrheit betrifft, so bleibt die Geschichte eine Wissenschaft von den Wahrscheinlichkeiten. Bei Überlieferungen, die miteinander verbunden sind, ist die Wahrscheinlichkeit geringer als bei Texten, die unabhängig voneinander über das gleiche Ereignis Ähnliches berichten. Freie Texte, die ein Ereignis als Sensation mitteilen, sind anders zu beurteilen als fixierte, absichtlich überlieferte genealogische Listen, Kommentare und Gesetzesmuster, bei denen der Text selbst zwar fast unverfälscht über eine lange Epoche hinweg bewahrt worden sein mag, das mitgeteilte Ereignis aber vielleicht erfunden war, um die Legitimität Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
463
einer Dynastie, die Rechtmäßigkeit eines Anspruchs oder die Gültigkeit bestimmter Rechtsnormen nachzuweisen. Frei überlieferte Texte mögen je nach ihrem Alter unterschiedliche Veränderungen erfahren haben, doch vergleicht man ihrer eine größere Anzahl, die sich unabhängig voneinander auf die gleiche Überlieferung beziehen, so wird der Kern immer wahrscheinlicher. Absichtlich überlieferte Texte zeichnen sich oft durch hohes Alter aus, sind aber in manchen Gebieten selten oder durch sakralen Geheimnisschutz schwer zugänglich, in anderen Gebieten hingegen gibt es alte Texte in Fülle, in Ruanda gar einige Tausende, darunter allein 176 große dynastische Epen, die zum Teil bis ins g. Jahrhundert zurückgehen – die Quellen fließen da reicher als in Europa über die Kelten, die Merowinger oder das späte Rom. Verbindet sich eine zwar mühsame, aber die Mühen lohnende Durchforschung der mündlichen Überlieferungen mit den Ergebnissen der nach sprachlichen Verwandtschaften suchenden Linguistik und der ebenfalls noch ganz jungen afrikanischen Archäologie, die dem früher für leer gehaltenen Boden immer mehr Artefakte und Kunstgegenstände entnimmt, dann wird in absehbarer Zeit sich aus dem Mosaik lokaler Familien-, Dorf-, Königs- und Stammesgeschichten ein immer differenzierteres Bild der afrikanischen Geschichte abzeichnen. Allein die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
463
kunstgeschichtliche Stilforschung hat im letzten Jahrzehnt, ausgehend von individuellen Künstlern und Werkstätten, die Schnitz- und Gelbgußtraditionen der Yoruba auf den Stil von Ife (13. und 14. Jahrhundert) zurückführen können, der seinerseits mit dem Stil der Nok-Kultur (von etwa 500 v. bis 200 n. Chr.) in Beziehung steht, die damals im mittleren Nigeria blühte. Die Linguisten sind sich ziemlich einig, daß die Sprache der Yoruba mehrere tausend Jahre lang als gesondertes Glied der Kwa-Gruppe gesprochen worden ist, und so darf man annehmen, daß die Yoruba schon zur Zeit der Nok-Kultur nicht sonderlich weit von ihren gegenwärtigen Wohnsitzen entfernt lebten. Ihr an der Spitze einer sozialen Pyramide stehender Gottkönig, ihr ausgeprägtes Pantheon mit einer Hierarchie von Göttern und ihre Tendenz zum Urbanismus bilden eine gedankliche Einheit, wie sie nur ein organisches Wachstum hervorbringt (Fagg). Betrachtet man dagegen das Reich Benin, das im 12. oder 13. Jahrhundert eine tiefgreifende Infiltration von Yoruba-Kultur erfuhr und die daraus resultierenden Konflikte noch heute deutlich erkennen läßt, so werden jene Theorien immer fragwürdiger, nach denen die Yoruba-Kultur ein Auffangbecken fremder Einflüsse, eine Endmoräne abgesunkenen altmediterran-syrtischen und erythräisch-jungsudanischen Berber- und Hamitenkulturgutes sein soll. Wie das Beispiel zeigt, wird es immer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
463
wahrscheinlicher, daß die Afrikaner ihre Kulturen selbst aufgebaut haben – was fremde Anregungen natürlich nicht ausschließt –, je mehr sich die historische Forschung allenthalben noch unerschlossener Quellen und Hilfsmittel bedient. So wird man künftig noch weitere Überraschungen erwarten dürfen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
464
III. »Wir sind die Menschen des Tanzes«, schreibt Senghor, ein afrikanischer Dichter und Staatspräsident, in einem seiner Gedichte. Vom Senegal bis zum Osthorn, von der Sahara zum Kap: Afrika tanzt. Auf dem Lande die alten magischen und ekstatischen Tänze, in den Städten, in Bars und Kirchen die neuen symbolischen und ekstatischen Tänze – der Stil ist der gleiche geblieben. In Agisymba ist der Tanz das Leben selbst, Afrikas Herz schlägt im Tanz, der Tanz drückt die Philosophie aus, verkörpert die Götter, die Umwelt, das Dasein, Vergangenheit und Geschichte, Werden und Zukunft. Afrikaner tanzen, wenn sie gehen, verrichten ihre Arbeit als Tanz im Rhythmus der Instrumente. Der Tanz ist der reinste, der deutlichste Ausdruck afrikanischer Kultur und der Schlüssel zu seinem Wesen. Dennoch: wer die ethnologischen Werke durchblättert, wird über die afrikanischen Tänze so gut wie nichts entdecken. Da ist gesagt, man tanze bei Einweihungsriten, bei Tod und Geburt, bei Jagd und Kriegszug, bei Opfer und Fest. Aber wie getanzt wird und was der Tanz ausdrückt, das wird nicht vermerkt und fand bei den auf die materielle Kultur gerichteten Blicken der Beobachter auch keine Beachtung. Wer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
464
unter dem Stichwort »Tanz« in den Standardwerken nachschlägt, stößt gar oft nur auf die Abbildung einer »Tanzbekleidung der Männer«, einer »Tanzmaske«, einer »Tanzkeule«. Es ist nicht anders, als käme in unsere westliche Schriftkultur ein Beobachter von einem anderen Stern, der zwar getreulich vermerkt, daß diese Okzidentalier überall und bei jeder Gelegenheit schreiben, da er jedoch keines der Schriftstücke zu lesen vermag, begnügt er sich mit Illustrationen und Bildtexten wie »dickes Buch«, »Füllfederhalter«, »ein Blatt, zeilenweise beschrieben«. Der Tanz zeigt das Eigenständige, das Gemeinsame schwarzafrikanischer Kultur. Auch in anderen Kulturen, überall auf der Welt gibt es Tänze, doch wo man ohne Tanz nicht leben kann, wo Leben ohne Tanz schlechthin kein Leben mehr wäre, dort ist Agisymba. Und wie der Okzident fruchtbar geworden ist an Geschriebenem, an Objekten, Geräten, Maschinen, so war und ist Afrika fruchtbar an Tänzen. Alle die Völkerkundler und Kulturmorphologen, die in Afrika nach Schichten suchen und nicht nach Geschichte und die fast jedem Stamm je nach der Kombination jener »abgehobenen« kulturellen Schichten einen eigenen Stil, eine eigene Stammeskultur zuweisen möchten, müßten am Tanz die gemeinsame Basis erkennen, wobei die Vielfalt, die unerschöpfliche Erneuerungskraft der Tänze ebenso Ausdruck einer geprägten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
464
geistigen Grundhaltung ist, wie nicht eine Maschine, sondern die Unzahl unterschiedlicher Maschinen die ihren Benutzern gemeinsame technische Einstellung eines Maschinenzeitalters repräsentiert. Auch Europa hat Tänze. Ob Volkstanz, Gesellschaftstanz oder Ballett: Der Körper wird als geschlossene Einheit bewegt, von einem einzigen Bewegungszentrum aus, das im Schwerpunkt des Körpers liegt. Das elastische Rückgrat gibt dem schwingenden, tanzenden Körper den Halt, er ist eine elastische Feder. Die Bewegung ist monozentrisch. Der afrikanische Tänzer hingegen sucht nicht die Schwingung im Raum, »sondern die den ganzen Körper umfassende binnenkörperliche Bewegung. Er will nicht das Erlebnis des Schwungs, sondern er will die Ekstase« (H. Günther). Die einzelnen Glieder werden unabhängig voneinander bewegt nach einer polyzentrischen Technik, und um das zu ermöglichen, ist die Musik auch nicht monometrisch wie die europäische, sondern polymetrisch und polyrhythmisch. So gibt es etwa drei Trommeln verschiedener Tonhöhe, von drei Männern gespielt. Die Schritte der Tänzer richten sich nach der mittleren Trommel, während die Schultern sich nach der tiefen Trommel bewegen. Der Kopf mag dem Pulsschlag einer dritten Trommel gehorchen. So wird das Menschwesen gleichzeitig von verschiedenen Kräften bewegt und in die Ekstase getrieben, die, als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
465
Ziel gewollt und von den Schlagformen jener Trommeln genau kontrolliert, den Menschen spürbar teilhaben läßt am Universum der Kräfte, ihn zum Verkörperer der angerufenen Kräftekombinationen macht, sei diese nun Gottheit, Ahn, Geist, Naturkraft oder eine Wirkkraft des Menschen selbst. Der Grundgedanke im traditionellen afrikanischen Weltbild war der, daß alles Kraft ist, daß die Materie nicht existiert, daß sich ein Universum von lebendigen Kräften in unaufhörlicher Bewegung, in ewigem »Tanz« befindet. Und daß dieses Universum von Kräften, in der jede Kraft von der anderen abhängt, eine kosmische, eine hierarchische Grundordnung hat, die durch das Wirken des Menschen unaufhörlich gestört wird und daher durch das Bemühen des Menschen immer wieder in Harmonie gebracht werden muß. Denn die anthropomorphen Kräfte, ihrerseits hierarchisch geordnet vom lebendigen Menschen über die verstorbenen Menschen, die vergöttlichten Menschen, die Geister, die Gottheiten und die Götter bis hinauf zum Schöpfergott, sind kraft ihres magischen Wortes Herr über alle anderen Kräfte – Tiere und Pflanzen, Gegenstände und Werkzeuge –, derer sie sich bedienen, um zueinander in Beziehung zu treten zu ständiger Wechselwirkung und Austausch – und um aneinander teilzuhaben; und Ausdruck dieser Teilhabe ist, lebendig erlebbar, der Tanz. Im Tanz wird Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
465
der Tänzer zur beschworenen Gottheit, zum durch die Maske zitierten Vorfahren, der dann aus ihm spricht, zum eine Naturkraft repräsentierenden Geist, der ein Opfer verlangt. Im Tanz drückt er seine eigene Lebenskraft aus, vermählt er sich mit der Natur, demonstriert er die Schönheit, die Kraft seines Leibes, wirbt er um die Gunst des andern Geschlechts, erweist er dem Toten die Ehre und sichert ihm, tanzend neue Zeugung darstellend und sie so beschwörend und zur Tätigkeit zwingend, den Fortbestand seines Geschlechts. Im Tanz rächt er sich an den Widersachern, schafft er sich Mut, erschlägt er symbolisch den Feind, bannt er das Wild, lockt er die Fische herbei und rhythmisch die Hacke schwingend, arbeitend-tanzend, beschwichtigt er die Geister des Bodens und befiehlt er der Saat, daß sie aufgehen soll. Im Tanz erlebt er sich als gleichgestimmtes Glied der Gemeinschaft, als Teil einer Altersklasse, Anführer einer Gruppe, Priester einer Gottheit, König einer Stadt, eines Reiches – oder in neuerer Zeit als Zugehöriger eines Clubs, einer arrivierten Gesellschaftsschicht, als Mitglied einer Kirche, in der, an Stelle einer anderen Gottheit, sich nun Jesus in ihm tanzend verkörpert – kurz: im Tanz und nur im Tanz erlebt er sich völlig als Menschwesen in seiner Welt. Nur die Polyzentrik der Bewegung ermöglicht die Ekstase und die nötige Differenziertheit so vieler Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
465
Tänze, und nur die Polymetrie der Rhythmen macht die polyzentrische Bewegung möglich. Die europäische Musik kennt keine Polymetrie, sie ist grundsätzlich monometrisch, in der Sinfonie wie im Volkslied erklingt zu einer bestimmten Zeit nur ein einziges Metrum. Im afrikanischen Trommelorchester hingegen erklingen verschiedene, und zwar gerade und ungerade Metren zur gleichen Zeit, etwa ein Zweier-, ein Dreier-, ein Vierer- und ein Sechsermetrum gleichzeitig über die ganze Dauer des Tanzes hinweg, wobei der Grundschlag des einen Metrums nicht mit dem Grundschlag der andern zusammenfallen muß. Der Tänzer hat gelernt, das, was dem europäischen Ohr als unbehagliche Wirrnis erscheint, zusammen- und auseinanderzuhören und verschiedene Körperteile nach den verschiedenen resultierenden Schlagformeln zu bewegen. Dazu gibt es noch, zuweilen mit der Polymetrie verbunden, die Polyrhythmik, bei der innerhalb eines Metrums dessen Akzente rhythmisch verschoben werden und dadurch rhythmische Gruppen entstehen. Sind diese Gruppen kleiner als die Grundeinheit, spricht man von Binnenrhythmik, sind sie größer als jene, von Überrhythmik (Dauer). Die Polyrhythmik ist durch den echten Jazz auch in Europa bekanntgeworden, die Polymetrie hingegen – der Schlüssel zum afrikanischen Tanz – ist selbst dem Ethnologen noch eine meist nicht erlebbare Welt. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
466
Dabei macht nur sie es möglich, die psychologischen Erlebnisse des ekstatischen Tänzers zu steuern. Sie ist ein raffiniert-einfacher Mechanismus zur Lenkung der kompliziertesten Erlebnisse der menschlichen Seele, so wie auch die vielfältige Leistung eines Elektronengehirns auf dem raffiniert-einfachen Mechanismus der Zahlen Null und Eins beruht. Doch der Rhythmus ist nicht nur ein technisches Instrument, er ist, wie Senghor sagt, »die Architektur des Seins, ist die innerliche Dynamik, die ihm die Form gibt, ist der reine Ausdruck der Lebenskraft. Der Rhythmus ist der Schock, der die Vibration erzeugt, er ist die Kraft, die durch die Sinne hindurch uns an der Wurzel packt.« Er drückt sich stofflich aus durch Linien, Farben, Oberflächen und Formen in der Architektur, der Malerei und vor allem in der Plastik, er drückt sich durch Akzente aus in der Dichtung, durch Bewegung im Tanz. Ein Gedicht ist nur dann vollendet, wenn es zugleich gesungen und getanzt wird. Die Perkussionsinstrumente geben dabei den Grundrhythmus an, den Pulsschlag des Universums, der, da er tonlich gestimmt ist, schon Wort-Sinn in sich trägt, erfüllt mit den Worten der Ahnen, und der Vorsänger improvisiert in rhythmischem Kontrapunkt seine Verse darüber hin, denen das Publikum, das, da es mitwirkt, eigentlich gar nicht Publikum ist, in rhythmischem Wechsel Antwort gibt. Die Grundform Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
466
der Dichtung ist Wechselgesang, wiederum Ausdruck der Verbundenheit aller lebendigen Kräfte, des Kräfte-Alls. Preislieder, Spottlieder, Arbeitslieder, historische Epen, Orakelverse – alle sind auf den Rhythmus gespannt, selbst bei Märchen und Fabeln und Sprichwörtern hat die rhythmische Gestik entscheidende Aussagekraft. Die Grundformen sind wie die Tänze mit den afrikanischen Sklaven in die Neue Welt verpflanzt worden, haben dort eine reiche Folklore entwickelt und von dort aus die westliche Welt beeinflußt. Und das moderne afrikanisch geschriebene Gedicht ist, wenn es afrikanischen Stil bewahrt hat, selbst in französischer oder englischer Sprache auf einen zugrunde liegenden Rhythmus bezogen. Der Text gibt dann gleichsam nur die freie darüberschwebende Stimme des Sängers, und die Form ist an Anfang und Ende offen: Eine Zeitlang begleitet die menschliche Stimme den ewig und kontinuierlich gedachten Pulsschlag des Universums, irgendwann schwingt sie sich in ihn hinein, und irgendwann löst sie sich wieder ab; Anfang und Ende sind nicht deutlich markiert wie in der klassischen europäischen Dichtung und deren typischster Form, dem Sonett. Auch das Trommelorchester hat keinen markierten Beginn oder Abschluß: Eine einzige Trommel beginnt, und dann setzen nacheinander die anderen ein, und am Ende hören die Instrumente einzeln auf. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
467
Polymetrische Musik läßt sich auf andere Art gar nicht spielen, da jedes weitere Instrument seinen »Beat« ja zwischen die Akzente der anderen legen muß. Längere Gedichte lassen sich fast willkürlich unterteilen, bei gelungener Grundform ergibt jeder nicht allzu kurze Ausschnitt wieder ein sozusagen »ganzes« Gedicht, denn auch das vollständige Gedicht ist im Grunde nie »ganz«, ist immer nur Teil, Lautwerdung einer »unendlichen« Rede. Der Rhythmus erst gibt dem Wort die wirksame Fülle, die Heiligung, und macht aus dem Wort das schöpferische, das magische Wort, durch welches die anthropomorphen Kräfte ihre Herrschaft über alle anderen Kräfte aufrichten und sichern. Durch das rhythmische magische Wort macht sich der Mensch zum Herrn über die Natur, befiehlt er den niederen dinglichen Kräften, was sie tun sollen, verkehrt er mit höheren anthropomorphen Kräften, mit Geistern und Göttern, und zwingt ihnen seinen Willen auf. Agisymbas Religiosität ist nicht auf Erlebnisse gestimmt, bei denen der Gläubige einer transzendenten Gottheit sich öffnet und diesem Gott die Entscheidung darüber überläßt, ob er die Gnade gewähren will. Seine Religiosität sucht auch nicht die Verzückung der Mystik, sondern die Ekstase der Magie: die rhythmische Schlagformel der Trommeln, das magische Wort und die magische Geste zwingen in Anruf und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
467
Beschwörung viel nähere, dieseitige Götter und Geister und Ahnen in die Maske und in den Tänzer hinein, der in der Ekstase den Herbeizitierten verkörpert. Das rhythmische magische Wort bestimmt auch die Stellung des Dichters. Er ist nicht »Individuum« wie der europäische Dichter, macht sich nicht zum Außenseiter par excellence, und er besingt nicht seine persönliche Liebe, seine spezifische Empfindung gegenüber der Umwelt, sein Verhältnis zu Gott – er ist Person, eingefügt in die Gemeinschaft, die er tanzend erlebt; da jedes magische Wort ein Wirkwort ist, Folgen hat, ist der Dichter verantwortlich für sein Wort, er ist Zauberer, Dichter, Beschwörer, Anrufer, Lehrer, Sprecher aus der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft, Beispielsetzer, Unheilabwender, Weltbild-Erklärer. Preist er die Gottheit im Lied, wird die Gottheit gestärkt, verspottet er den Frevler, wird der Frevler bestraft: Sein Fluch kann töten. Besingt er die Liebe, erhöht er dadurch die Fruchtbarkeit. Erzählt er ein »Märchen« oder spielt er auf Mythen und Sagen an, macht er die Weisheit der Ahnen und diese selbst lebendig. Seine Fabeln sind nachahmenswerte oder abschreckende Beispiele für das allgemeine Verhalten, und bringt er die Leute zum Lachen, erhöht er ihre Lebenskraft. Er ist kein Außenseiter, sondern wichtiges, mitbestimmendes Glied der Gemeinschaft, und daß so viele moderne afrikanische Dichter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
467
zugleich Politiker sind, beruht nicht auf Extravaganz, sondern fügt sich in eine erweiterte, umgewandelte Tradition. Der Politiker selbst wird nicht selten zum Dichter, Debatten und Wahlreden haben poetischen Stil, denn ein Auditorium auf dem Lande, das zum größeren Teil aus Analphabeten besteht, weiß nicht viel anzufangen mit abstrakten politischen Theorien – um so besser versteht es das zündende, das poetische Bild. Das rhythmische magische Wort macht den Menschen zum Herrscher über die niederen Kräfte, die Ding-Kräfte: Pflanzen und Tiere, Geräte und Steine. Gruppen von hackenschwingenden Tänzern bestellen gemeinsam die Felder; ihr Rhythmus begattet die Erde, ihr Gesang ist die Wort-Saat, die das Samenkorn wachsen macht. Gewiß, auch auf anderen Feldern in anderen Kulturen wird bei der Arbeit gesungen, doch ist da Gesang meist Zutat, emotionelles, psychologisches Mittel, das die Arbeit erleichtert. In altafrikanischer Vorstellung aber wird die Bewirkung, das Wesentliche also, dem magischen rhythmischen Wort zugeschrieben, die manuelle Arbeit ist die Zutat, das Uneigentliche und nur nötig, weil das lebendige Menschwesen auf der Stufenleiter der anthropomorphen Kräfte nicht hoch genug steht, um solche ungeistig-technischen Nachhilfen entbehren zu können. Höhere Menschwesen, Geister, Göttlichkeiten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
468
brauchen nicht durch Handarbeit nachzuhelfen, damit auf Befehl ihrer Worte Bäume und Wälder entstehen, denn nie hat man ein solches Geistwesen Arbeit verrichten sehen. Selbst die vergöttlichten Ahnen, die Stammväter und Städtegründer hatten noch die volle Kraft des magischen Wortes und damit die ganze Herrschaft über die Dinge-Natur. Der eine etwa hatte die Gabe der Ubiquität, welche ihm die Überlegenheit im. Kampfe sicherte, und die Macht, über ein Meer von Flammen zu gebieten, das den Feind täuschen sollte, so daß auf seinen Befehl hin Feuergarben von den Berghängen herabrieselten und das Dorf, ohne es zu berühren, von den Feinden abschirmte. Ein anderer konnte auf jede Entfernung hin töten und der Sonne Befehle erteilen, die in die Hand zu nehmen er sogar die Gewalt hatte. Es gibt unzählige solcher Berichte. Da den Objekt-Kräften in der Hierarchie der Kräfte ein minderer Wert zukommt und sie durch magischen Zugriff manipulierbar sind, kommt es nur darauf an, das richtige Wirkwort zu wissen, und so ist das Wie immer wichtiger als das Was. Das magische Wort ist das wichtigste Heilmittel in der Gewalt des Arztes, des Medizinmannes, wie auch das magische Wort den Patienten krank gemacht hat. Da ja die niederen Kräfte aus sich selber nicht wirken können, muß jede Krankheit von einem Menschwesen – lebendiger Mensch oder Geist oder Gott – Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
468
geschickt worden sein. Aus dem Bereich der Tiere, Pflanzen, Dinge und Substanzen hingegen kann keine Krankheit kommen. Der Arzt muß daher zunächst den Verursacher finden. Hat der Patient die Ahnen gekränkt? Hat er Feinde, über die er sich ärgert und die ihm Lebenskraft rauben? Denkt er schlecht von sich, wenn der Mond aufgeht? Schicken ihm Geister, die er verletzt hat, schlechte Gedanken? Denn als Krankheit gilt nicht nur schmerzhaftes Leiden, sondern auch jede Art von Sorge, Kummer und Leid. Krankheit ist die Unordnung in den Beziehungen zwischen den Kräften, und die Krankheitssymptome sind nur die Kennzeichen, daß in diesen Beziehungen etwas nicht stimmt. Ein Gottkönig, der den Schnupfen hat, steht mit den höheren Kräften nicht mehr im Einklang, kann die Weltordnung nicht mehr repräsentieren und bringt das ganze Volk in Gefahr: Man muß ihn töten und durch einen heileren Repräsentanten ersetzen. Gewöhnlichen Sterblichen aber kann der Arzt helfen, indem er die Beziehungen wieder in Ordnung bringt – exorzierend wird er zum Tänzer – oder indem er dem bösen magischen Wort ein gutes entgegensetzt. Er bereitet eine Gegenmedizin. Doch alle diese Medizinen, Talismane und Zauberhörner, ja selbst die Gifte können nicht wirken ohne das magische Wort, das Nommo, das sie erst auflädt. Wenn sie nicht »besprochen« sind, nützen sie nichts. Erst die Intelligenz des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
468
Wortes löst ihre Kräfte und macht sie wirksam. Alle Substanzen, Mineralien, Säfte, Absude sind nur Gefäße des magischen Wortes, dem die eigentliche Heilkraft zukommt: Weigert sich der Patient, den Arzt nach erfolgter Behandlung zu honorieren, zieht dieser durch Beschwörung die magische Kraft des Nommo aus der Medizin wieder heraus, und der Patient wird wieder krank. Je »stärker« der Medizinmann, um so wirkungsvoller sein Wort und die Medizin, ob man sie nun einnehmen, einreiben – oder an einer Schnur um den Hals tragen muß. Am wirksamsten ist sie dann, wenn ihr zugleich ein Sühnewert zukommt, wenn sie ekelhaft, schmerzhaft oder unbequem ist, so daß die heroische Haltung des Kranken den verletzten Verursacher zusätzlich in versöhnliche Stimmung zwingt. Medizin in Agisymba ist Willenstherapie: Psychotherapie, Psychosomatik. Während in Europa nur zu oft der Patient seinen Leib als Maschine empfindet, als reparierbaren Gegenstand, das Herz als Pumpe, die Nerven als Drähte, Magen und Leber als chemische Laboratorien und den Arzt als Reparateur, als Chemiker, der mit wirkungsvollen Heilgiften und künstlichen Ersatzteilen störende Defekte zu beseitigen hat. Freilich kennt auch der europäische Arzt Zuspruch und Ermutigung und – doch erst in neuester Zeit – wissenschaftliche Psychotherapie. Und auch Agisymba kannte Objekt-Medizin: das Einrichten von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
469
Brüchen, die lebendige Kraft der Kräuter, die Wirkung von Giften, den chirurgischen Eingriff der Schädeltrepanation. Aber die Akzente liegen verschieden, die Kulturen haben sich divergierend spezialisiert. Auch das traditionelle Kunstwerk hat seine Kraft, seine Wirksamkeit, aus dem magischen Wort. Der Zauberer muß es weihen, »ernennen«; aus sich selbst hat das geschnitzte Stück Holz keinerlei Wert. Wie das Gedicht nur seine Kraft offenbart, wenn es gesungen, getanzt wird, ist auch die Maske nur Kunst, solange der Tänzer sie beim Maskentanz trägt. Und wie der Arzt seiner Medizin die magische Kraft wieder zu entziehen vermag, kann das Kunstwerk entthront werden, wenn man es nicht mehr braucht, und dann hat das Stück Holz, wie schön es auch immer geschnitzt sein mag, seinen Wert verloren, wird weggeworfen und durch ein neues ersetzt. Entscheidend an ihm ist der durch das magische Wort hineingelegte Sinn, der formal sich in »Determinatoren« ausdrückt, in Kennzeichen, welche die dargestellte Kraft ihrem ontologischen Rang gemäß verdeutlichen. Dabei herrscht äußere Sparsamkeit. Je kleiner und isolierter die Gruppe ist, der das Kunstwerk etwas bedeuten soll, um so mehr kann sich der Künstler auf Andeutung beschränken: seine Form liefert nur das »Stichwort«, was weiter dazugehört, »sieht« man, weil man es weiß, die Gestaltung ist »idiomatisch« (Glück). Wo größere Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
469
soziale Verbände zusammengefügt sind, wo eine herrscherliche Hofhaltung breite Repräsentation erfordert, das Macht-Wort des Königs weithin verständlich sein soll, da erwächst, von spezialisierten Künstlern aus den gleichen Grundanschauungen geschaffen, eine detailliertere Hofkunst, eine »Aulik«, bei der die rhythmisch gegliederten Determinatoren sich vervielfältigen. Konstant bleibt die »afrikanische Proportion« (Fagg) – die Höhe des Kopfes beträgt ein Drittel bis ein Viertel der Gesamthöhe gegenüber der natürlichen Proportion von einem Sechstel bis zu einem Siebentel –, worin sich die Bedeutung des Kopfes als »Sitz der Lebenskraft« ausdrückt, jener Lebenskraft, die beschworen wird im Gebrauch der Plastik, im Tanz der Maske. So ist die Plastik magisch geladenes VorBild, räumlich dargestellte beispielhafte Aktion, und jene Maske, die das nicht-mehr-menschliche Gesicht höherer Lebenskräfte in die Wirklichkeit reißt, stimulierende Darstellung des ekstatischen Tanzes. Im ekstatischen Tanz werden Verstorbene – auch die Götter sind Kräfte, die einst »gelebt« haben – wieder ins gegenwärtige Dasein gerissen. Auf diese Weise wird der lebendige Mensch Teilhaber ihrer Lebenskraft und verstärkt seine eigene. Denn er hat einerseits Teil am biologischen Leben, andererseits an der magisch-geistigen Welt, die ihn vom Tier unterscheidet. Nach der Geburt ist er noch kein richtiger Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
470
Mensch, erst das magische Wort, der Name, ernennt ihn zum Menschen – daher wird vielfach der vor der Namengebung gestorbene Säugling in der Kinderschar nicht mitgezählt und nicht wie ein Mensch zeremoniell bestattet, sondern wie ein Tier verscharrt. Der Name lädt den Geborenen auf, gibt ihm den ersten Anteil an Mensch-Sein, an geistigem Leben, das sich im Bewußtsein der Lebenskraft, im Glück und im Wohlbefinden äußert. Wir nennen diese Lebenskraft, die man hat, »Magara« und die Lebenskraft, die man ausübt, das magische Wort, »Nommo«. Magar kann man »haben«, erwerben, einbüßen; der Lauf des Lebens zielt darauf ab, sich immer mehr Magara zu verschaffen, und bei jedem deutlichen Erwerb zusätzlichen oder neuen Magaras erwirbt man sich einen neuen oder zusätzlichen Namen oder »Titel« – Magara aber kann man nicht »sein« als lebendiger Mensch: Magara »sein«, geistige Lebenskraft »sein«, heißt als Verstorbener existieren, als Geist-Kraft, die kein geistiges Leben, kein Glück, kein Wohlbefinden mehr »hat«, sondern nur noch geistige Lebenskraft »ist«. Zwischen Magara-Haben und Magara-Sein steht der Tod. Die Lebendigen sind glücklicher als die Verstorbenen, die Verstorbenen sind mächtiger als die Lebendigen. Durch die Lebenskraft, die man ausübt, das »Nommo«, das rhythmische magische Wort im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
470
Gesang, im plastischen Bildnis, im Opfer, im Tanz, tritt der Lebendige mit dem Verstorbenen in Verbindung, tauscht Lebenskraft mit ihm aus, gibt ihm »Macht« und erhält von ihm »Glück«. So steht der Ahn weiterhin mit seiner Nachkommenschaft in Verbindung, der Stammvater mit dem Stamm, die Götter mit allen, die sie verehren. Erst wenn ein Vorfahre keine Nachkommen mehr hat, die ihn mit Nommo »speisen«, ist er gänzlich »tot« und kann auch als Geist-Kraft nicht mehr fortexistieren. Der lebendige Mensch, der keine lebendigen Nachkommen hinterläßt, bringt nicht nur sich um die Weiterexistenz nach dem Tode, sondern auch alle Ahnen, die ihm vorangingen. Keine Nachkommen zu hinterlassen, ist also das schlimmste Übel, die nie wieder rückgängig zu machende Katastrophe, und Unfruchtbarkeit die schrecklichste Krankheit. Und die Gottheit, der keiner mehr Opfer bringt – »Nommo« gibt –, hört auch als Gottheit auf zu existieren. Die Existenz aller höheren Kräfte ist abhängig vom Leben und Gedeihen der Lebendigen. Der Tod war demnach kein Ende, sondern ein Übergang. Nicht vom Diesseits ins Jenseits – denn die Toten leben ebenso in dieser Welt, um die Lebendigen, denen sie Magara, »Lebensfülle«, spenden, sondern vom Reich der Glücklicheren ins Reich der Mächtigeren. So verliert der Tod viel von seinem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
470
Schrecken. Oft kommt er einer Rangerhöhung gleich, einer neuen Einweihung: Schon bei den Initiationsfeiern der Jugend legte man seinen alten Namen ab, begab sich als Toter ins Reich der Verstorbenen, legte weiße »Toten«-Farbe an, erlernte die »Geister«-Sprache und ging nach der Wieder-Geburt mit neuem Namen und dem neuen Rang eines Vollmitglieds der Gemeinschaft wieder daraus hervor. Für den Verbrecher bedeutete der Tod den Wiedereintritt in eine geachtete Existenz, für den sich freiwillig Opfernden den Einzug in ein Dasein, in welchem ihm besondere Verehrung zuteil wird: In Dahome wurde das Privileg, sich mit dem toten König lebendig einmauern lassen zu dürfen, unter den Königinnen durch einen Wettlauf errungen; nur wenigen Siegerinnen wurde die Gunst zuteil, doch alle rannten, so schnell sie nur konnten. Für den Gottkönig ist der Tod die Erlösung aus einem oft nur allzu beschwerlichen Leben und der Gewinn der wirklichen göttlichen und königlichen Macht. Agisymba ist das Land, »wo der Tod schön wie ein Milchzeitvogel auf der Hand liegt« (Césaire). Aus der Lebenskraft-Philosophie, aus diesem in sich so logischen Denkgebäude vom Zusammenhang aller Kräfte und Wesen, das man auch »Dynamismus« genannt hat, erwuchsen ganz natürlich die entsprechenden Formen der Herrschaft. In der erweiterten Familiengemeinschaft, der Sippe, versah der Alteste, der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
471
das höchste Magara, die höchste Lebensfülle und das höchste Wissen in sich vereint, den Dienst an den Ahnen und göttlichen Kräften, verrichtete die nötigen Opfer und erhielt dafür von ihnen das Wissen der magischen Worte, die das Gedeihen der Saat, das Fallen des Regens erzwangen. Sein Wort war mächtig, doch eingeschränkt von dem Bewußtsein, daß falsches Verhalten von Ahnen und Göttern durch Magara-Entzug gerächt wird und dann nicht nur ihn, sondern die gesamte Gemeinschaft trifft. In größeren Gemeinschaften erhöhte sich die Pyramide der Herrschaft, dem Fürsten stand der Ältestenrat zur Seite, der ihn ausgewählt und eingesetzt hatte und auf dessen Reihen sich kultische und kriegerische Führungsfunktionen verteilten. Den Gottkönig, die Spitze eines gewaltigen Reiches, umgab ein ganzer Hofstaat von Würdenträgern, Priestern, Ministern, Beamten, Frauen, Pagen, Leibwächtern, Bildschnitzern, Sängern, Henkern und Hofnarren. Und doch »herrschte« er nicht: er war umgeben von einer Unzahl von Verboten und Meidungen, durfte überhaupt nicht oder nur nachts oder bei besonderen Festen seinen Palastbezirk verlassen, durfte sich nur an bestimmten Tagen des Jahres vom Volke sehen lassen, man durfte ihn nicht essen oder trinken sehen, er durfte nicht krank werden, er durfte die Erde nicht betreten – und was dergleichen Vorschriften mehr waren, die ihn nicht selten fast Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
471
handlungsunfähig machten. Er war zwar ein Gottkönig, aber nicht Gegenstand eines Kultes. In Ägypten erscheint, und zwar von Anfang an, das Königtum als Verkörperung der Gottheit, als »Horus im Palaste«: ein Gottkönigtum, das als Institution fest gefügt ist, den jeweiligen Träger mit göttlicher Macht anfüllt, ihn mit einer aufs gesamte hin orientierten Ideologie umgibt und ihn zum zeitlichen Repräsentanten eines zeitlosen Prinzips macht. In Agisymba aber gibt es keinen »Horus«, keine zentrale Gottheit, die zugleich mit dem Königtum derart verbunden wäre, daß aus ihr im. Laufe der Zeit eine transzendente Gottheit und aus dem Königtum ein für die Gesamtheit der Unterworfenen verbindliches Ordnungsprinzip werden konnte. Die Könige Agisymbas waren zwar göttlich, aber sie repräsentierten nicht einen universalen Gott, sondern die Gottheit des Vorgängers oder des »Gründers«. Im Gottkönig konzentrierten sich magische Kräfte. Er spendete Fruchtbarkeit, vor allem dem Boden, in vielen Fällen mußte er selber die Aussaat beginnen. Sein Gedeihen und richtiges Funktionieren war das Kennzeichen, daß sich die Beziehungen des Volkes zum Universum der Kräfte in Ordnung befanden. Wurde der König krank oder alt, drohte schweres Unheil, und man mußte ihm das Leben nehmen. Sein Blut aber war heilig und durfte nicht vergossen werden – darum wurde der König Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
472
erdrosselt – oder es wurde aufbewahrt und mit Erde vermischt der Saat beigegeben. Bei manchen Völkern durfte er niemals eines natürlichen Todes sterben, bei manchen war seine Regierungszeit konstitutionell auf eine bestimmte Zeitspanne – acht oder sieben Jahre – festgesetzt, danach wurden ihm die Papageieneier geschickt, und er mußte sich selbst entleiben. Oft war genau festgelegt, wer ihn erdrosseln mußte. Seine Nägel und Haare wurden aufbewahrt und vor bösen Mächten geschützt. Seine magischen Kräfte wurden auf den Nachfolger übertragen, der sich eine Zeitlang im Gemach des Vorgängers aufhalten, dessen Gebrauchsgegenstände berühren mußte, ja oft mußte er Hirn, Herz und Leber des Vorgängers essen, während man dessen restliche Leiche mumifizierte. Der König ist also nicht das Gefäß einer Gottheit, sondern die herausgestellte Spitze der magischen Fähigkeiten des ganzen Volkes. Nicht er ist der Herrscher, sondern sein zu einer höheren Gottheit gewordener Vorgänger oder Vorfahr, mit dem er in ständiger Beziehung steht und bei dem er sich Rat holt, indem er ihm einen Boten schickt, einen Diener, der seinen genauen Auftrag auswendig lernt und dann dem verstorbenen Herrscher geopfert wird. Und dann erhält der Orakelpriester die Antwort. Doch die höchste Instanz ist auch der Vorgänger nicht, sondern der »Gründer« und »Stammvater«, aus dessen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
472
Leiblichkeit und magischem Wort sich die gesamte Stammesgemeinschaft hervorgegangen glaubt. So hat sie auch, soweit sie aus freien, dem Ahnherrn entsprossenen Gliedern besteht, einen mittelbaren oder unmittelbaren Anteil an der Herrschaft. Der Staatsrat ist kein Funktionärsapparat aus königlicher Machtfülle, sondern ein Kontrollorgan, das dafür sorgt, daß jede Handlung mit Brauch und Herkommen in Einklang steht. Der Rat der Notabeln setzt sich aus den Oberhäuptern der Sippen, Clane und Kulte zusammen, oft auch aus den Anführern der Altersklassen-, Zunft- und Frauenverbände; manche dieser Ämter sind erblich. Der Rat sucht unter den Prätendenten den neuen König aus – wobei die Wahl möglichst einstimmig sein soll – und ernennt ihn dann unter festgelegten Riten. Der Einfluß des Rats ist bedeutend, da es nirgendwo Primogenitur gibt. Man sucht den Nachfolger unter den Söhnen des Königs – die polygame Hofhaltung sorgt für eine größere Anzahl von Kandidaten – oder bei anderen Völkern unter des König Brüdern, oder – so war es zum Beispiel in AltGana und Aschanti – unter den Söhnen seiner Schwester. Der Einfluß der Frauen ist groß, an der Spitze vieler Kulte stehen Priesterinnen, und das Amt der Königsmutter, die oft nicht die richtige Mutter des Königs, sondern eine ernannte Person ist, steht oft dem Amt des Königs an Bedeutung nicht nach. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
472
Da sich der Kreis von Notabeln auf ähnlich repräsentative Weise von unten ergänzte, kann man bei diesen Reichen viel eher von Staaten reden als in Ägypten. Eine Vielzahl von Institutionen wachen über das Gemeinwohl. Zwischen Meidungen und Vorschriften, unzähligen Wächtern über das Herkommen und dem bei jedem »Fehler« gewissen Tod, ist die Macht eines solchen Königs aufs äußerste eingeschränkt. Das Bild, das europäische Reisende des vorigen Jahrhunderts vom blutrünstigen afrikanischen Despoten zeichneten, ist falsch. Für herrscherliche Willkür war wenig Spielraum; wenn Blut floß, so floß es notwendigerweise, weil bei jedem unvorhergesehenen Ereignis der König von seinem Vorgänger Rat brauchte und ihm einen Boten schicken mußte; weil der oder jener einen Fehler gemacht, der Sänger des Morgengrußes etwa gestottert und dadurch den Tag beleidigt, die Ordnung gestört hatte, die dann nur durch sein Opfer wiederhergestellt werden konnte. Den Betroffenen wurde ihr Opfer durch Rangerhöhung versüßt, nur für Fremdstämmige, Kriegsgefangene war es schlimm, da sie durch ihren Tod einem ewigen Sklavendasein zugeteilt wurden. Wir können von Staaten sprechen, doch gab es eine Art »staatsbürgerliches Bewußtsein« nur im Kern der Herrschaft, bei dem das Königtum tragenden und es durch seine Notabeln kontrollierenden Stamm. Nach Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
473
außen reichte die Herrschaft so weit, wie das Nommo, das magische Wort des Königs Kraft hatte: Das heißt so weit der den Staat tragende Stamm seine Herrschaft über die Nachbarvölker ausdehnen konnte. An eine Grenze war nie gedacht. Zuweilen, etwa in Aschanti, gelang es, die um den Kern herumliegenden Gebiete in föderativer Loyalität anzugliedern, dadurch, daß man deren Oberhäupter in den Staatsrat aufnahm. In den meisten Fällen aber bestand das Staatsgebiet aus dem festen Kern und dem je nach Kriegsglück fluktuierenden hegemonialen Eroberungsraum. In seinem Kerngebiet konnte der Staat viele Jahrhunderte überdauern, sich sogar, wenn er eine Zeitlang von einem anderen abhängig wurde, wieder regenerieren. Die Eroberungsräume konnten jedoch nacheinander von verschiedenen Kernen abhängig werden. Das alte Gana war von den Soninke getragen und bestand über achthundert Jahre lang. Die Reiche Gana, Mali, Segu, Goa, Wagadugu organisierten nacheinander die gleichen oder einander überschneidende Räume, wobei jeweils das den Staat tragende Kernvolk ein anderes war: die Soninke, die Mandingo, die Bambara, die Songhai, die Mossi. Im Innern ist die Struktur dieser Königreiche gut ausgewogen, wenn auch ihr Typus der eines erweiterten Dorfes ist (Bertaux). Das alles läßt es recht unwahrscheinlich erscheinen, daß die Idee des so Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
473
natürlich von unten nach oben gewachsenen Gottkönigtums in Agisymba von Ägypten gekommen sein soll. Eher ist man geneigt, einen umgekehrten Einfluß anzunehmen. Von jedem Einzelnen wurde Wohlverhalten gefordert in einer übersichtlichen Gemeinschaft, in der durch Brauch und Herkommen alles geregelt war. Man fühlte sich verantwortlich, daß auch andere sich ebenso wohlverhielten, dann war fürs geistige wie fürs leibliche Wohl gesorgt. Der Boden gehörte weder dem König noch einem Feudalherrn, nicht einmal dem Stamm, sondern den Ahnen, und jeder erhielt davon für sein zeitliches Dasein, was er zum Auskommen brauchte. Er war als Bürger nicht »frei«, war kein »Individuum«, aber Persönlichkeit, geachtet gemäß den Jahresringen an Namen und Titeln, die er sich durch Reife oder Leistung erworben haben mochte. Zwar durfte er kein Außenseiter sein, die Harmonie nicht in Unordnung bringen, doch blieb er im Rahmen, dann kannte er keine persönliche Not, genoß, was alle genossen, und litt in schlechten Zeiten, wie alle litten – eingebunden in eine Gemeinschaft, die schlechthin die Welt war und die solche Sprichwörter hervorbrachte wie: »Das Essen schmeckt allen nicht, wenn einer nichts hat.« Für den Hausgebrauch war er als Hausvater selber Priester, opferte Hühner, tanzte, verkehrte mit den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
473
Ahnen und stieg bei besonderen Fähigkeiten wie von selbst, von Gelingen zu Gelingen wachsend, Magara und Preisnamen ansetzend, in höhere Funktionen empor, denn keine institutionalisierte Priesterkaste verbaute – wie in Ägypten – den Aufstieg, noch mußte er fürchten, durchs Los in ein Amt gewählt zu werden – wie in Griechenland –, das ihm nicht lag. War er für etwas begabt, würde ihn das Orakel, dem er sich ohnehin anvertraute, nach einer Prüfung, die er gar nicht bemerkte – und die wir heute psychische Analyse nennen würden – einem bestimmten Kult zuweisen, wo er durch Beispiel und ohne Zwang die Kniffe eines spezialisierten Berufes erlernen konnte. Was immer er erlernte, er lernte es gründlich und durfte, ob er dann Schnitzer, Schmied, Sänger, Weber, Medizinmann war, mit gutem Gelingen rechnen: Kein Zweifel quälte ihn, kein Zeitdruck, keine Absatzsorge, er konnte und durfte sich ganz seinem Tun hingeben. Ein Schmied etwa schmiedete eine Hacke, er schmiedete sie so gut und so schön er nur konnte, um sie dem König zu schenken. Doch der König war weit und kam nicht ins Dorf, und so schmiedete er denn eine neue, noch schönere Hacke für den König und gab die vorige seinem Nachbarn. Hacke um Hacke, jede die schönste und beste. Wenn der König gedieh, der Feind nicht einbrach, der Regen nicht ausblieb, die Kinder nicht starben Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
474
und jeder tat, was Brauch und Herkommen erheischten, war die Arbeit ein Fest, das Leben ein Fest, und in Tanz und Ekstase in Einklang mit allen Mächten und Kräften war ein Glück, eine Harmonie und Lebensintensität erreichbar, die Betrachter aus anderen Zonen sich kaum vorstellen und sicher nicht nachempfinden können. Freilich war dieses Glück immer zerbrechlich, immer von außen bedroht – der Feind im Innern hingegen, die Aggressivität in der eigenen Seele, der Unrast, Neid und Ehrgeiz entspringen, war aufgezehrt in der Ekstase des Tanzes, in der man zum Helden, zum Ahn, zum Gott wurde – zu allem, was die Wünsche je eingeben mochten. Das wahre Leben, das eigentliche Leben erfüllte sich im Tanz, und so war das Leben selber von der Geburt bis zum wenig schreckenden Tode im Grunde nichts weiter als ein rhythmisch gegliederter, alles erfüllender festlicher Tanz. Im Tanz wurde auch die Geschichte lebendig, wurden die Mythen, die Sagen, die Königslisten, die Gestalten der Ahnen mit ihren guten und schlimmen Erfahrungen in vergangenen Zeiten, die Überlieferungen alle, da ja so wichtig waren, da sie die Beispiele für die Gegenwart setzten, die einem von Kind auf rhythmisch-bildhaft eingeprägt wurden bei Reifefeiern und Zeremonien und Festen, die aus den Bildern sprachen, aus den Trommeln erklangen und über welche die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
474
Weisen, die Trommler, die Sänger, die Geschichtenerzähler noch viel Genaueres und Geheimeres wußten – im Tanze wurden sie alle unter der Maske lebendige Gegenwart, wurde das Einst zum Heute: Die Zeitkulissen waren dann niedergerissen, man wußte nicht nur, man erlebte, leidenschaftlich beteiligt, wie alles gewesen war; Vermächtnisse wurden zum Auftrag, die Harmonie wiederherzustellen, den Sieg des Menschen über die dinglichen Kräfte, über Raum und Zeit, über Übel und Tod weiter zu festigen und ihn in der bevorstehenden Bedrohung erneut zu erringen. Der Tanz ist der Schlüssel nicht nur zum Wesen, sondern auch zum Geschichtsbewußtsein und zum Geschichtsverständnis der Kultur Agisymbas.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
475
IV. Der Versuch, die Probleme in der Betrachtung afrikanischer Geschichte – wobei ich über weite Strecken Philip D. Curtin gefolgt bin – und das Geschichtsbewußtsein Agisymbas darzustellen, hat mich im ersten Teil zu Ironie und Polemik, im zweiten zu Emotion und Poetik verführt, zu Untugenden also, deren der Wissenschaftler sich schämt. Aber waren da nicht eingefleischte Vorurteile zu attackieren? Und war nicht eine tänzerische Kultur zu zeichnen, die sich von innen her überhaupt nur im Miterleben erschließt? Ich bin mir auch bewußt, den Widerspruch zwischen erstrebter Struktur und geleisteter Realität nicht deutlich hervorgehoben, lokal begrenzte Erfahrungen gröblich verallgemeinert, gesicherte Fakten ignoriert, nach alter Mode frisierte Quellen gegen den Strich gekämmt zu haben und schließlich auch noch den Beweis für meine poetischen Visionen schuldig geblieben zu sein. Zu meiner Entlastung kann ich nur auf meine Vorgänger weisen: Die Mären vom edlen Wilden, vom blutrünstigen Barbaren, vom unfähigen Afrikaner waren auch nur mit realen Fakten belegbare – und belegte – poetische Projektionen Europas. Die vielschichtige Wirklichkeit, in der immer das eine zwar wahr ist, aber beinahe das Gegenteil auch, in der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
475
oft das eine erstrebt und das andere erreicht wird, in der die etwa mit so viel Aufwand errungene Harmonie plötzlich ins grausame Chaos umschlägt, aus dem heraus sie dann wieder noch glühender, noch verzweifelter angestrebt wird – die Wirklichkeit ist nie eindeutig und in keiner Beschreibung zu sichern. So sucht der Beschreibende nach der Struktur, der Historiker nach der Perspektive – doch Muster und Perspektive werden nur deutlich von einem Standpunkt aus. Der Darsteller kann nur hoffen, daß sein Standpunkt dem Stand der Erkenntnis und dem Zustand seiner Zeit gerecht wird. Doch nun soll er noch wagen, Prognosen zu stellen, soll die Sicht des nicht unbeteiligten Beobachters mit der des Propheten vertauschen? Die Betrachtung gänzlich zur spekulativen Vision werden lassen? Nur so viel läßt sich andeuten: Andere Kulturen in anderen geographischen oder zeitlichen Räumen haben in verschiedenen historischen Epochen bereits Ideen, Errungenschaften, Einflüsse auf unsere westliche Kultur ausgestrahlt, manche sind mit ihrem Erbe in sie eingegangen. Agisymba ist lange einen isolierten Weg gegangen und begegnet eigentlich dem okzidentalen Bewußtsein erst in unserer Zeit. In dieser Begegnung wird Agisymba selbst zum erstenmal in seiner Geschichte bis in die Tiefe erschüttert, in Frage gestellt, umgestaltet und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
475
sich seiner selbst konkret bewußt. Dieser Prozeß ist im Gange. Wird seine Assimilationskraft stark genug sein, sich all das Fremde so anzueignen, daß es nicht nur zum Eigenen wird, sondern das Angeeignete auch vom Eigenen geprägt bleibt? Im Vertrauen auf eine in Jahrhunderten ausgebildete Prägekraft, einer trotz aller Brüche ungebrochenen Imagination und der erprobten Fähigkeit, Unverdauliches eruptiv wieder abzustoßen, kann man trotz zuweilen anderen Anscheins damit rechnen, daß Afrika seinen eigenen Stil bewahren wird. Doch es nimmt nicht nur auf. Die Rhythmen seiner geschnitzten Bilder haben zu Beginn dieses Jahrhunderts der europäischen Kunst einen Anstoß zu tieferem, fast schon beschwörendem Sehen ergeben; die Polyrhythmik seiner Musik hat, zwar noch in amerikanischer Verdünnung als Jazz, seit fast der gleichen Zeit angefangen, uns aus dem Unbehagen des Abendlandes zu rütteln. Die echte Begegnung mit der polymetrischen Rhythmik, mit dem ekstatischen Tanz steht jedoch noch aus. Der Okzident hat Agisymba die Unabhängigkeit de jure gewähren wollen, doch ist eine Unabhängigkeit de facto daraus geworden, durch die bei allen Verflechtungen, die eine Partnerschaft im technischen Zeitalter in Politik und Kultur mit sich bringt, der Stil Agisymbas ebenso auf die Partner einwirkt, wie diese Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der
476
ihre Werte, ohne sie selbst zu verlieren, auf Agisymba nachhaltig haben einwirken lassen. Der neue Partner, dem die Konkursmasse fremder Herrschaft wie die eigene technische Rückständigkeit schwere Probleme aufgibt, die wir in gegenseitiger Achtung gemeinsam mit ihm werden lösen müssen, kann auch unseren Nöten vielleicht Hilfe bieten, denn, meint Senghor, »wer sonst sollte die an Maschinen und an Kanonen gestorbene Welt den Rhythmus lehren? Wer sollte denn sonst den Freudenschrei ausstoßen, der Tote und Weise zu neuer Dämmerung weckt? Sagt, wer gäbe denn sonst den Menschen mit der zerfetzten Hoffnung das Lebensgedächtnis wieder?«
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Janheinz Jahn: Afrika. Der neue Partner in der Weltgeschichte
Anhang: Abbildungen ¤ Massai-Hirt mit seiner Schaf- und Ziegenherde im Gebiet des Kilimandscharo ¤ Ekstase durch Musik. Trommler auf einem Tanzfest am Eduard-See in Zentralafrika ¤ Tanzende Watussi im Gebiet des Tanganjika-Sees ¤ Musizierende Nankanni in Navrongo/Goldküste ¤ Altes und junges Afrika. Am Hauptpostamt von Accra/Ghana
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
Golo Mann
Die europäische Moderne
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
477
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
479
Wenn es sinnvoll war, die Geschichte Indiens, die Geschichte Chinas in unserem Band zu resümieren, so wäre es nicht sinnvoll, mit Europas neuerer und neuster Geschichte ein Gleiches zu tun. Europa sind wir selber; uns selber kennen wir am besten, uns selber nehmen wir am wichtigsten. Das Resümee von Europas Geschichte ist dem Leser bekannt. An seine Stelle haben begriffliche Untersuchungen zu treten. Aber die Perspektive ist nicht alles. Europa ist wirklich der historische Kontinent. Der Begriff der Moderne, die Existenzformen der Menschheit in diesem Augenblick sind so von Europa her bestimmt worden, wie von keiner anderen Zivilisation; wer vom modernen Europa handelt, handelt, ob er will oder nicht, von Weltgeschichte; die Grenzen zwischen Europa und Nicht-Europa sind nirgends fest. Die fünf Kontinente haben von Europa ihren Namen bekommen. Die Vereinigten Staaten sind ein Europa-in-Amerika, eine Konzentration der europäischen Moderne jenseits des Atlantik. In Latein-Amerika ist es nicht genauso, weil hier die ursprünglichen, »präkolumbischen« Rassen überlebten und mit den Eroberern eine Verbindung eingehen mußten, zwischen deren Komponenten noch heute allerlei Spannungen bestehen; genüge es zu sagen, daß die kulturellen, sozialen, politischen Schicksale Süd- und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
479
Mittel-Amerikas, so wie sie zum Heute geführt haben, von Europäern geprägt wurden. Das ist in Afrika in viel geringerem Grade der Fall. Die Herrschaft der Europäer in Afrika konnte enden und ist am Ende; in Latein-Amerika nicht. Aber auch die Afrikaner wissen nur von den Europäern, daß sie Afrikaner sind. Ohne die europäischen Forscher, Eroberer und Siedler würden sie ihren Kontinent nicht kennen, würden sie keine Ahnung von der Existenz von Völkern haben, mit denen sie sich heute brüderlich verbunden fühlen. Die Grenzen ihrer Staaten sind beinahe alle von Europäern gezogen worden; ihre Verfassungen, die funktionieren oder nicht, tragen europäischen Stempel. Die Idee der »Einheit Afrikas« ist eine europäische Idee, auch wenn und gerade weil sie sich gegen Europa richtet. Man spricht dort von »Socialisme Africain«; beide Begriffe, beide Worte sind europäisch. – Nicht anders in Indien, das, als Nation, als nationaler Föderativstaat, teils von den Engländern, teils gegen die Engländer gemacht wurde. Diesen Satz kann man wiederholen, indem man statt Indien Indonesien, statt Engländer Holländer sagt. Die chinesische Zivilisation ist alt und reich. Die Herrschaft der Europäer über China hat nicht sehr lange gedauert, etwas über ein halbes Jahrhundert, sie war der Form und der Substanz nach nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
480
vollständig. Aber nie ist China dem europäischen Geist so Untertan gewesen wie heute, da es Europa als eine fremde, feindliche Großmacht gegenübersteht. Die Idee der Revolution, des sich Losreißens von aller Vergangenheit, die Preisgabe aller alten Wertungen, ihrer Ersetzung durch Wissenschaft, industriellen Aufbau, Technologie ist eine europäische Idee par excellence. Kommunismus, Marxismus sind europäische Dogmen. In diesem Moment haben die Chinesen den sonderbaren Ehrgeiz, das englische Produktionsniveau zu erreichen oder zu übertreffen, was wieder eine Nachahmung der europäischen Russen ist, welche das amerikanische Produktionsniveau übertreffen wollen. Dem Kaiserreich Japan ist die erstaunliche Leistung geglückt, seine alten Traditionen zu erhalten, ja künstlich wiederzubeleben, und gleichzeitig dem europäischen Einfluß nicht passiv zu erliegen, sondern die politischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, militärischen Künste Europas spontan und aktiv nachzuahmen. Die alten Traditionen schwinden nun rasch dahin. Übrig bleibt ein moderner, demokratischer Industriestaat, dessen äußeres Gesicht sich von dem Europa-Amerikas nicht mehr wesentlich unterscheidet. Womit wir einen flüchtigen Rundgang um den Planeten beendet hätten. Denken wir Indien fort, so sähe Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
480
er doch ungefähr so aus, wie er heute aussieht. Denken wir Europa fort, so sähe er so aus, wie er vor fünfhundert Jahren aussah. Die »Vereinten Nationen« werden der Zahl nach von Asiaten und Afrikanern beherrscht. Ihr Generalsekretär ist ein Asiat. Aber sein Titel ist europäisch, er bedient sich einer europäischen Sprache, und die Idee, welche der von ihm geleiteten Organisation zugrunde liegt, ist eine europäische. Die Europäer haben das gemacht, was man »Weltwirtschaft« nennt, haben das gemacht, was man »Weltpolitik« nennt. Von Europa ist der Emanzipationsprozeß ausgegangen, der nicht überall auf Erden zu soliden Neugründungen, aber überall auf Erden zu bis zum Grunde wühlenden Entwurzelungen geführt hat. Heute spricht man von einer »Mutation« des Menschen. Die Europäer haben das Verdienst oder die Schuld daran. Darum ist die Geschichte der europäischen Zivilisation nicht die einer Zivilisation unter anderem, wie Oswald Spengler, wie noch Arnold Toynbee es haben sehen wollen. Das war sie wohl einmal. Das war sie noch in ihrem »Mittelalter«, worüber in diesem Band so schön gehandelt wird. Damals noch waren andere Zivilisationen, frühere sowohl wie gleichzeitig blühende, der europäischen in mancher Beziehung ebenbürtig oder überlegen. Die Herrschafts-Strukturen des Mittelalters, die Bewältigungen der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
480
Lebensnotwendigkeiten, der Bau der Städte, Paläste und Tempel, Begriffe und Wirklichkeiten der Kirche, der scholastischen Philosophie, des christlichen Naturrechts, ließen sich mit indischen oder chinesischen Leistungen auf ungefähr dieselbe historische Stufe setzen; auch die »Ketzer, Gelehrten und Denker« bestanden früh noch keine kühneren Denkwagnisse, als damals im fernen Asien bestanden wurden oder in der klassischen Antike bestanden worden waren. Auf einer anderen Seite dieses Bandes hat Herbert Grundmann die Frage gestellt, wie gerade eine so geschlossene, ihrem eigenen Begriff und Willen nach statische Kultur wie jene des europäischen Mittelalters zu einer Dynamik fortschreiten konnte, die schließlich alle Völker der Erde mit sich riß und die sich nun anschickt, die alte Erde zu überschreiten, so wie sie seit dem 15. Jahrhundert die »alte Welt« überschritt. Grundmann vermag diese Frage nicht eindeutig oder erschöpfend zu beantworten; das kann niemand. Aber sehr nachdenkenswert erscheint seine Bemerkung, die ungeheure Bewegung müsse in der erstrebten Ruhe von vornherein angelegt gewesen sein, der Begriff der endlosen Zeit in dem der Endzeit; es kam nicht von außen, und woher hätte es kommen sollen. Wachstum also oder wiederum, wenn man will, »Mutation«; ein aus seinen eigenen Begriffen Herauswachsen. Dies sucht Grundmann durch die Tatsache zu verstehen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
481
daß die Begriffe, welche das mittelalterliche Europa sich von sich selber machte, mit seiner Wirklichkeit nie übereinstimmten. Es war in Bewegung, indem es nach der rechten, dauernden Identität strebte. Es suchte den heiligen Gral und fand etwas ganz anderes. Diese Bewegung, zeigt uns Grundmann, begann niemals, sie war immer. Schon im 12. Jahrhundert wurden die Menschen von einer Mutabilitas der Dinge beunruhigt, die ihrem kosmischen Ordnungssinn widersprach. Und so wie nicht zu zeigen ist, wann das Mittelalter zu enden begann, so ist auch das Ende seines Endens nicht zu zeigen, denn in vielen Beziehungen setzt es sich heute noch fort. Noch mehr: Geistige und politische Mächte, die wir als charakteristische Schöpfungen des Mittelalters ansehen, sind Träger der von ihm fortführenden Bewegung gewesen. Aus dem gebundenen religiösen Denken wurde das loser gebundene, das ut intellegam, das ungebundene, das unreligiöse. Die Kirche selber hat die Expansion Europas oder Europäisierung der Erde in großen Schüben vorantreiben helfen, von den Kreuzzügen über die Entdeckungen und imperialen Gründungen des 15. und 16. Jahrhunderts bis zu den Missionsunternehmungen des 19. Der Streit der Konfessionen hat zum überkonfessionellen Staat geführt, der eine Vorstufe des säkularistischen war. Die Dynastien, durchaus mittelalterlichen Ursprunges, haben ihre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
481
größte Rolle als Begründer der Nationalstaaten gespielt, welche über die dynastische Epoche hinauszuführen bestimmt waren. Fast könnte man sagen: Das nachdynastische Europa hat das Werk der Dynastien fortgesetzt, so wie das nachkoloniale Asien und Afrika das Werk der Kolonisatoren fortsetzen. Auch haben die Dynastien ihre größte Rolle noch in modernen Zeiten gespielt, etwa in jenen der »Erbfolgekriege«. Einzelne Dynasten, die kraft traditionell-uralten Rechtes regierten, uralte Titel trugen, sind fanatische Förderer der Ratio, des Emanzipationsprozesses gewesen, eigentliche Revolutionäre: Peter der Große, Joseph II., in geringerem Maße Friedrich der Große, zahlreicher kleinerer Potentaten Italiens, Deutschlands, der Iberischen Halbinsel nicht zu gedenken. Die Königsmacht, die von Ludwig dem Heiligen stammte, hat den Sieg der amerikanischen Revolution ermöglicht, französischer Adel die große Französische Revolution begonnen, wobei er freilich wiederum fand, was er nicht gesucht hatte. Andere Neuerer haben sich in die alten Kostüme gekleidet, das Revolutionäre und Utopisch-Restaurative verwirrend gemischt; so Napoleon, der sich mit Karl dem Großen identifizierte und dem bürgerlichen, liberalen, industriellen Europa bahnbrechen half. – Dialektisch das alles, oder vieles davon; obgleich nicht dialektisch in der klaren, zuverlässigen Anordnung, welche der am Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
481
tiefsten und kühnsten europäische unter Europas Philosophen, Hegel, der Weltgeschichte gab. Wie weit man nun aber auch die europäische Moderne in die Vergangenheit zurückführen will, wann immer man sie eigentlich beginnen läßt: Die Bewegung, die da begann, besitzt eine Gestaltenfülle, eine Schnelligkeit im Wandel, eine Kraft des Höhenfluges, eine Intensität und Radikalität, die ihresgleichen nirgendwo hat. Unsere »Weltgeschichte« hat allen außereuropäischen Kulturen den Platz gegeben, den sie verdienen. Sie hat, in diesem Sinn, nicht mehr europa-zentrisch sein wollen. Aber wir lassen uns trotzdem nichts vormachen. Die Geschichte Indiens, die Geschichte Chinas, auch die Geschichte von Europas Mutter, der klassischen Antike, hat das nicht, was der Entwicklung der europäischen Politik vom religiösen Absolutismus zu den sozialen Demokratien unseres Tages, was der Entwicklung des europäischen Krieges von den Fehden der Ritterzeit bis zum Zweiten Weltkrieg, was der Entwicklung der europäischen Wissenschaft von Galilei bis Bohr, des europäischen Romans von Cervantes bis Dostojewskij, der europäischen Malerei vom Quattrocento zu Picasso, der europäischen Musik von Palestrina bis Schönberg, der europäischen Philosophie von Cusanus bis Hegel und bis Nietzsche zu vergleichen wäre. Wie könnte es anders sein? Woher käme das Schicksal, zu dem Europa Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
482
dem Planeten geworden ist? Doch nicht nur von einer vorübergehenden technischen Überlegenheit? Woher käme denn die? Warum hallen heute nicht nur die Detonationen der von ihm erfundenen Waffen, auch die Stimmen seiner Philosophie, oft seiner schlechtesten Philosophie, Europa aus allen Himmelsrichtungen entgegen? Sollte Europa selbst einmal an Asiaten und Afrikanern zugrunde gehen, die Sieger würden ihren Sieg noch immer europäischer Wissenschaft verdanken, würden ihn in europäischen Begriffen, nicht mehr in ihren alten, eigenen artikulieren. Toynbee hat das Verhältnis Europas – er sagt des »Westens« – zur nichtokzidentalen Welt mit dem Verhältnis der hellenistisch-römischen Zivilisation zu Asien und Afrika verglichen. Spengler hat ähnliches angespielt. Geistvolle, auch lehrreiche Versuche, ohne Zweifel, aber doch ihre Gegenstände nicht im Ernst deckende. So weit und stark ausstrahlend, so überlegen ist die Kultur des Hellenismus bei weitem nicht gewesen; in China war sie beinahe, in Amerika völlig unbekannt. Schließlich ist sie ja erloschen oder überlagert und zersetzt worden, was man von der europäisch-amerikanischen Kultur bis zum heutigen Tag nicht sagen kann. Sie hat zu Krisen geführt, die in der Nähe siedelnde Völker zu spüren bekamen; nicht zu einer dauernden »Weltkrise« oder »Mutation der Menschheit«. Europa hat das Jetzt des Menschen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
482
geschaffen, seine Geschichte ist in die Weltgeschichte übergegangen, die heute allen Völkern bewußt ist, so wie sie alle die europäische Zeitrechnung übernommen haben. Darum kann man europäische Geschichte nicht so vergleichsweise bequem resümieren wie die indische und kann sie nicht isoliert betrachten.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
482
Staat Die wesentlichste Einrichtung, die aus dem Mittelalter in die europäische Moderne hinübergeht, aber in ihr ungleich schärfer ausgeprägt wurde, ja, deren immer schärfere Ausprägung recht eigentlich den Beginn der Moderne bedeutet, ist der Staat. Europa setzt sich aus Staaten zusammen. Das tat Indien auch, mitunter China; aber die amorphen, hier und da erscheinenden und wieder verschwimmenden Herrschaftsgebiete dieser Kulturen sind etwas anderes als die geordnete Intensität der europäischen Staatenwelt. Diese Staaten haben gedauert, sie dauern heute noch. Wenn ihre Macht gegeneinander und gegenüber nichteuropäischen Völkern seit neuestem stark gesunken, wenn sie zum erstenmal nicht mehr ihr Hauptinteresse ist, so ist ihre Macht über die in ihnen selbst lebenden Bürger oder Untertanen bis zur Mitte unseres Jahrhunderts immer nur gestiegen; seither zeichnet sich auch hier der Anfang einer Minderung ab, die zugunsten gewisser überstaatlicher oder mehreren Staaten gemeinsamer Institutionen geht. Umgekehrt hat gerade das europäische Staatswesen, das im Ursprung völlig anders sein wollte als die alteuropäischen Staaten, das seinen Bürgern nur mit einem Minimum von Macht gegenübertreten wollte, die nordamerikanische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
483
Union, im zweiten Drittel des Jahrhunderts einen immer stärkeren, fast monströs zu nennenden Einfluß auf das Leben und Wirtschaften des Einzelnen gewonnen. Was die europäische Gesellschaft war, das war sie im Rahmen des Staates und, mit Gradunterschieden, durch den Staat; Formen der Produktion und des Handels, Erziehung, Bildung, öffentliche Moral, Pflege der Kultur wurden durch den Staat immer mitbestimmt, mitunter nahezu ausschließlich durch ihn bestimmt. Was Europa als Ganzes und in der nichteuropäischen Welt war, wurde es durch seine Staaten. Ohne sie keine »großen Entdeckungen« keine Reiche in Übersee; was sich schließlich zum »Weltstaatensystem« erweiterte, wurde durch die Machtkonkurrenz der europäischen Staaten geschaffen. Ohne Staaten kein Krieg; ohne Kriege nicht die Expansion Europas und nicht der schließliche Ruin seiner Weltstellung. Das Wort »Status« meinte ursprünglich etwas wie Bedingung oder Zustand; eine Bedeutung, die in dem jährlichen Bericht des amerikanischen Präsidenten über the State of the Nation noch heute vorkommt. Im Italien der Renaissance nahm es zum erstenmal den Sinn an, den es noch heute hat; nicht zufällig erscheint es im ersten Satz von Machiavellis »Fürst«. Bald wurde es mit den Worten Ragione, Raison verbunden, um nun das höchste, das absolute Interesse Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
483
der Staatsmacht gegen innen und außen zu bedeuten; Raison de la République, Raison du Royaume, Reichsraison hätten nicht gut geklungen, weil Königreiche, Republiken und zumal »Das Reich« älter waren als der »Staat« und sich begrifflich mit ihm nicht deckten. Gewisse Schwankungen in der Bedeutung des Wortes Staat in den europäischen Sprachen wird man übrigens feststellen können. Die Staaten Italiens und Deutschlands waren das Territorium, die Bürger und die Herrschaft in einem. Der französische État tritt dem Royaume oder der Republik als das ordnende und herrschende Prinzip gegenüber; so ist das Ludwig dem XIV. in den Mund gelegte L'État c'est moi zu verstehen, und so hat noch General de Gaulle état in seinen Memoiren gebraucht: Land und Bürger hatten auch in den Tagen der Erniedrigung, dann der Unordnung nie aufgehört da zu sein; jetzt galt es ihnen gegenüber den »Staat« wieder durchzusetzen. – Für die Angelsachsen hat das Wort kaum dieselbe appellierende Kraft gehabt. Das rechtliche Verhältnis zwischen Krone, Herren und Bürgern wurde in England früh ein von den Dingen auf dem Kontinent unterschiedenes; nur die Stuarts haben versucht, aus England einen »Staat« zu machen. Der erste nordamerikanische Staat, Massachusetts, zog den Namen Commonwealth vor, der eine Anglisierung von »Republik« darstellt. Daß die dreizehn Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
484
Kolonien während des Unabhängigkeitskrieges dazu übergingen, sich »Staaten« zu nennen, hat den Anspruch auf eben Unabhängigkeit europäischen Stils, auf Souveränität bekräftigen sollen, könnte aber auch in Anlehnung an die niederländischen »Generalstaaten« geschehen sein, welch letztere »Staaten« mehr im Sinn des deutschen »Reichsstandes« waren. Der Ausdruck Reason of state war den Amerikanern immer fremd – was nicht hindert, daß sie im 20. Jahrhundert des öfteren einem Prinzip gefolgt sind, welches diese Benennung wohl verdiente. Zum Staat gehörte die Souveränität. Ein Staat, europäischen Stils, ist souverän oder er ist nicht, wobei Souveränität die Unabhängigkeit von jeder dem Staat übergeordneten Macht, jedem ihm fremden Gesetz oder Befehl bedeutet. Beides, der Staat und seine Souveränität, entstanden im Zeichen der Auflösung oder wesentlichen Schwächung der beiden Mächte, welche noch im Hochmittelalter den Königen Europas hatten befehlen wollen: des Papsttums und des »Römischen Reiches« oder seines Kaisers. Daß der universale, »katholische« Anspruch des Papstes ungleich mehr Wirklichkeit hatte als jener des Kaisers, tut hier nichts zur Sache. Auch das »Reich« war seiner Idee nach universal, ein Ganzes, mindestens eine Vielfalt umschließend. Staat und Souveränität sind gegen eine Universalität entstanden; im Wesen des europäischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
484
Staates lag es, daß es mehrere von ihnen gab, denn eine sich auflösende Universalität mußte sie aus sich entlassen. Ein Staat für sich allein, in Isolierung, hätte des Begriffes der Souveränität nicht bedurft und hätte ihn nie entwickeln können. Souverän sein hieß zuerst: unabhängig sein gegenüber der alten Katholizität. Es hieß dann: unabhängig sein gegenüber anderen Staaten, die sich mit den gleichen Rechten ausstatteten. Da immer mehrere Staaten waren, die sich miteinander und gegeneinander entwickelten, voneinander wußten, einen gemeinsamen Ursprung besaßen, so entstand zwischen ihnen ein geregeltes Treiben und Verkehren, eine »Diplomatie«, die, zuerst von der römischen Kurie, dann von der Republik Venedig, den italienischen Staaten überhaupt, dann den großen Kontinentalstaaten ausgebildet, im 17. Jahrhundert ein vorher so nie dagewesenes Maß von Disziplin und Kunst erreichte. Ihre Verwalter waren zuerst Kleriker, dann Legisten, dann, meist aristokratische, »Berufsdiplomaten«. Wer vertrat die Souveränität, wer hatte sie inne? Der Theorie nach konnte es das ganze Volk sein, ein Gedanke, der schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Frankreich gewagt wurde. Bevor aber, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, der Begriff der Volks-Souveränität, nun eng verbunden mit dem Begriff der Demokratie und der Gefühlsmacht des Nationalismus, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
484
wieder auftauchte, erschien die Staats-Spitze, der Monarch, oder, wo es keinen gab, die regierende Aristokratie als eigentlicher Träger der Souveränität. Bis ins 20. Jahrhundert wurden Europas Könige in ihrer Eigenschaft als Personen »Souveräne« genannt. Begrifflich wie ihrer Wirklichkeit nach war die souveräne Macht gegen außen wie gegen innen gerichtet; hier nicht so sehr gegen das Volk als Ganzes – im Gegenteil, der Souverän wollte das Volk als Ganzes und hat es zu dem gemacht, was es wurde – wie gegen die Teil- und Untermächte der Feudalität, der großen geistlichen Orden, des Klerus, der »Stände« überhaupt. Das berühmte Wort Friedrich Wilhelms des I. von Preußen, er »stabiliere die Souveränität wie einen rocher de bronce« war in diesem Sinn gegen innen, nicht gegen außen gerichtet. In seinem Werk über »Das Alte Regime und die Revolution« hat Tocqueville gezeigt, wie die Könige von Frankreich von alters her vorbereitet und schon sehr weit getrieben hatten, was dann die Revolution vollenden sollte: Die Herrschaft des einen souveränen Staates über eine Masse vereinzelter, nicht mehr ständisch gebundener Individuen. Die revolutionäre Volkssouveränität setzte so die monarchische direkt fort und basierte auf der Arbeit, welche die Könige geleistet hatten. Der Monarch gehörte zum europäischen Staat nicht unbedingt. Venedig, einer der ersten Staaten im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
485
modernen Sinn, hatte keinen, Florenz nicht vor dem Aufstieg der Medici; nicht die Stände der schweizerischen Eidgenossenschaft, deren bedeutendste (Bern) zeitweise eine eigentlich europäische Rolle spielten. Überwiegend ist aber der europäische »personifizierte Flächenstaat« (Carl Schmitt) ohne seine Dynastien nicht zu denken. Philipp der Schöne, Ludwig XI., Heinrich IV., Ludwig XIV. von Frankreich, Philipp II. von Spanien, Heinrich VIII., Elisabeth I., Karl I. von England, die drei ersten Könige von Preußen, Gustav Adolf, Karl X., Karl XII. von Schweden, Peter I. von Rußland und andere waren, wenn nicht die Schöpfer ihrer Staaten – mitunter waren sie es geradezu –, doch die Inkarnationen der Staatsräson, die Pole, um die das Leben des Staates und der Gesellschaft kreiste. Die deutschen Fürsten waren es auch; zugleich weniger und noch mehr. Weniger, weil sie noch immer im Verhältnis einer seit dem 17. Jahrhundert freilich dünn gewordenen Bindung an Kaiser und Reich standen. Mehr, weil ihre Territorialstaaten reine Schöpfungen dynastischen Willens waren; nicht die werdende politische Behausung einer Nation, auch nicht, wie die italienischen Staaten oder die Schweizer Kantone aus alten Stadtrepubliken hervorgegangen. Preußen, seit dem 18. Jahrhundert der bedeutendste von ihnen, unter Friedrich dem Großen in Wirklichkeit ein europäischer Staat und kein deutscher mehr, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
485
ist so zum Staat par excellence geworden. Territorien, Völker fremder Zunge sammelnd, wo er sie finden konnte, die militärische Anstrengung bis zum äußersten Möglichen treibend, ganz sich selber zum Zweck setzender Machtstaat, aber auch erzieherischer Kulturstaat, seit Friedrich dem Großen auch Rechtsstaat und den König selber, der doch sein Zentrum war, in sich einbeziehend. Das Wort Friedrichs, er sei der »Erste Diener seines Staates«, ist im vollen Ernst zu nehmen. Es war dies neue Preußen und das ihm verwandte petrinische Rußland, über das Lord Acton in einer Vorlesung der 1890iger Jahre das Urteil fällte: »Der Staat, so verstanden, ist der intellektuelle Führer der Nation, der Garant ihres Reichtums, der Lehrer ihres Wissens, der Wächter ihrer Moral, die Quelle aller vorwärts und aufwärts treibenden Energien. Das ist die furchtbare, durch Millionen von Bajonetten getragene Macht, die in den Tagen, von denen hier die Rede war, in St. Petersburg entstand und die dann von ungleich fähigeren Geistern weiter entwickelt wurde, hauptsächlich in Berlin...« Die Dynastien waren einander nicht fremd, sowenig wie die Staaten es waren. Der Bundesgenosse von heute konnte der Feind von morgen sein. Die Größten, Bourbonen und Habsburg, haben ein Vierteljahrtausend lang miteinander im Kampf gelegen: eine nationale und eine übernationale Dynastie. Trotzdem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
485
entwickelte sich eine Gemeinsamkeit des Handwerks, der Interessen, der Würden, kraft derer die uralten Rittersitten sich in modernen Zeiten neu belebten. Die Monarchen Europas waren »Brüder« oder, wenn es sich um kleinere Fürsten handelte, »Vettern«, das letztere häufig auch im Sinn der Blutsverwandtschaft. Ihre Kriegsgefangenschaft war eine ritterlich vergoldete, zutiefst unterschieden von dem schmachvollen Schicksal, welches das republikanische Rom besiegten Feinden bereitet hatte, zutiefst unterschieden auch von den Sitten, die im 20., nicht mehr dynastischen Jahrhundert Platz griffen. Die Begegnung Wilhelms I. mit Napoleon III. nach der Schlacht von Sedan erinnert in ihren Formen noch an jene zwischen Karl V. und Franz I. nach der Schlacht von Pavia. Ein halbes Jahrhundert später verlangten die Sieger die Auslieferung Wilhelms II., um über ihn Gericht zu halten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Anführer der besiegten Völker erdrosselt, wie zweitausend Jahre früher im römischen Staatsgefängnis. Im 18. Jahrhundert begann man den Königen vorzuwerfen, daß sie im selbstischen Übermut Kriege entfesselten, von deren Last und Schmerz sie nichts zu spüren bekamen (Kant; Voltaire); Völker, die sich selber regierten, würden den Frieden zu erhalten wissen. Mindestens die erste Behauptung ist nicht ohne Wahrheit. »Kabinettskriege« wurden in der Tat ohne Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
486
jede Rücksicht auf die öffentliche Meinung – insofern eine solche überhaupt vorhanden war – begonnen, und auch die »Staatsraison«, deren Zwecke sie erfüllen sollten, leuchtet den Historikern nicht immer ein. Andererseits war es die Ebenbürtigkeit der Dynastien, welche den schnellen, maßvollen Friedensschluß ermöglichte und die Atmosphäre nach dem Krieg entgiften half. Politik war ein leichteres Handwerk, solange nur Könige und ihre Vertrauten miteinander zu tun hatten. Noch Bismarck hat gern betont, die öffentliche Meinung in Rußland interessiere ihn nicht, über die russische Außenpolitik entscheide allein »Seine Majestät der Kaiser von Rußland«. Das hatte jedoch in den 1880er Jahren in Rußland schon angefangen, nicht mehr wahr zu sein, und war zwei Jahrzehnte später überhaupt nicht mehr wahr. Die Dynastien, einst Schöpfer und Träger der Staaten, hatten gegen Ende ihrer Zeit ihre entscheidende wie ihre mäßigende Macht schon verloren. Sie wurden in den Strom des Nationalismus gerissen und schwammen nun mit ihm, bis sie untergingen. Staat und Nation haben begrifflich verschiedene Ursprünge. Weder die italienischen noch die deutschen Staaten behausten eine Nation. Machiavelli fühlte sich auch, und leidenschaftlich, als Italiener; mit seiner Analyse des Herrscherhandwerks hatte das aber nichts zu tun. Die Schweizer Nation ist aus einer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
486
Genossenschaft kleiner deutscher Republiken, der ein kompliziertes Bündnissystem sich anschloß, erst allmählich hervorgegangen. Auch die amerikanische Nation ist jünger als die amerikanischen Staaten oder deren Vereinigung. In Spanien waren Staaten, dann eine Verbindung von Staaten oder Königreichen, ehe es eine spanische Nation gab. Dem deutschen Philosophen, der das Prinzip des Staates am schärfsten und mit fast vergottender Bewunderung entwickelte, Hegel, fiel es nicht ein, Staat und Nation einander gleichzusetzen. Es ist aber dann doch so gekommen, daß die beiden Begriffe zusammengerieten; nicht überall und immer, aber oft genug, um anderen Lust zu machen, ein Gleiches zu tun. Die Wirklichkeit der europäischen Nationalstaaten in ihrem Werden ist älter als der Gebrauch der Worte »Nation«, »National«, welche sie erst im 19. Jahrhundert bezeichneten. Natio, »Geburt«, »Herkunft«, war den Römern ein wilder »eingeborener« Stamm. Im Mittelalter organisierten sich die Studenten an den – durchweg internationalen – Universitäten nach »Nationen«, die aber nicht etwa die französische, deutsche, italienische, sondern die sächsische, normannische, rheinische waren. Ein deutsches Lexikon noch im 18. Jahrhundert definiert »Nationalismus« als die Zänkereien und Raufereien zwischen Studenten aus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
487
verschiedenen Gegenden Deutschlands (Friedrich Hertz). Als einige Jahrzehnte später Immanuel Kant die »Aufforderung der Gecken zum Nationalstolz« verspottete, meinte er schon etwas anderes damit; eben das, was wir heute unter »Nationalismus« verstehen. Die ersten großen Nationalstaaten entstanden ohne Plan, die Nationen mit ihnen; nicht wie später, als Nationen ihren Staat forderten. England zuerst, das nach der normannischen Eroberung die stärkste Zentralregierung besaß; dann Frankreich, im Kampf gegen England und im Kampf der Könige gegen die großen Feudalherren. Das Ziel von Philip le Bel, Ludwig XI., Franz I., Heinrich IV., Ludwig XIV. war die Stärkung und Expansion der königlichen Macht, die Festigung des Staates, nicht die Sammlung der Nation; was auch hätten Provençalen und Basken mit Normannen, Bretonen, Flamen gemeinsam gehabt? Noch Ludwig XIV. sprach von seinen »Völkern«, nie von der Nation, und hielt es für nichts Befremdendes, deutsche Untertanen zu haben. Das änderte sich im 18. Jahrhundert, mehr gegen die Könige als in ihrem Sinne; es besteht eine geschichtliche Affinität zwischen den Begriffen Nation, Konstitution, Volkssouveränität, Demokratie. Nie aber war man sich einig darüber, was eine Nation denn nun eigentlich sei; das Volk eines Staates oder das Volk eines Staates Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
487
insoweit es dieselbe Sprache spräche, ein Volk auch ohne Staat und über mehrere Staatsgrenzen hinweg, nur die obersten, ständisch vertretenen Schichten eines Volkes, und so fort. Die Verwirrung kann nicht wundernehmen. Man hatte einen vagen politischen Sammelbegriff geschaffen, mit dem man die unterschiedlichsten Wirklichkeiten benannte, den man aber bald zu einer ursprünglichen, ewig gottgewollten, höchsten Sache erhob. Das Zeitalter des Nationalismus wird gemeinhin im späteren 19. Jahrhundert gesucht; aber seine Anfänge sind im 18. zu finden, und die Französische Revolution hat die neue Kraft gewaltig gefördert. Deren kosmopolitische, befreiende Heilsbotschaft, an sich keineswegs ohne Substanz, vermischte sich rasch mit einem Element, das ihr begrifflich fremd war und dennoch nicht ganz fremd; denn ein Volk, das über sich nach innen selbst bestimmen will, will auch über sich nach außen selbst bestimmen, wovon es zu aggressivem Nationalstolz und zur Eroberungslust nicht weit ist, es jedenfalls in der Praxis nicht war. Die »jacobinische Eroberung« (Taine) vollendete nicht nur mit ungeheurer Radikalität die Zentralisierung des französischen Staates; die Jakobiner trieben auch einen Kult mit der Sprachgemeinschaft und suchten den Gebrauch des Deutschen, Bretonischen, Baskischen auf französischem Boden auszurotten. Die militärischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
487
Triumphe Frankreichs, zuerst in wirklicher oder angeblicher Defensive, auch wohl zum Zwecke der Befreiung anderer Völker errungen, endeten im Imperialismus der »befreienden« Nation, die unter Napoleon »die Große« genannt wurde. Die Reaktion der Niederländer, Spanier, Deutschen, im Jahre 1812 selbst der Russen, antwortete dem französischen Anspruch; heimgesucht und ausgebeutet auch da, wo sie durch Frankreich bürgerlich-zeitgemäße Einrichtungen erhielten, begannen sie sich auf ihre nationale Würde und Eigenart zu besinnen, eben weil diese beleidigt worden waren. Das Abenteuer der Revolution und Napoleons hat so im doppelten Sinne die internationale Bewegung des Nationalismus gefördert; es reizte zum Widerstand, aber mit den gleichen Mitteln und dem gleichen Sinn; es gab ein positives Beispiel, das über Italien bis in den türkischen Balkan, über Polen bis nach St. Petersburg und nach Finnland wirkte. Die Mittel, das waren die Rationalisierung, Zentralisierung des Staates und die Entfesselung des bürgerlichen Erwerbsbetriebes. Es waren die ungeheure Erweiterung, die Intensivierung und Brutalisierung des Krieges; dem französischen Vorbild folgend und es überschreitend hat Preußen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und das Monopol des Adels auf Offiziersstellen aufgehoben. Die Demokratisierung oder Nationalisierung des Krieges war früher vollendet als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
488
die Demokratie überhaupt. Die theoretischen Begriffe aus Napoleons kriegerischer Praxis hat Carl von Clausewitz gezogen. Kriege, wollte er zeigen, sind bisher meistens beschränkt gewesen, aber das war ein Widerspruch in sich, wie ihn die Wirklichkeit eine Zeitlang, aber nicht immer duldet. Im Krieg liegt eine Tendenz zum Absoluten – wir würden heute sagen, zum Totalen; wo bisher nur ein Teil der Kräfte des Staates zu Kriegszwecken mobilisiert wurde, da waren es unter Napoleon die gesamten Kräfte des Staates; wo man bisher sich mit Halb-Siegen und Kompromissen zufriedengab, da zielte Napoleon auf das völlige Brechen des gegnerischen Willens – wir würden sagen, auf »bedingungslose Kapitulation«. Von da an ist das Streben nach der Gleichsetzung von Nation und Staat nicht mehr zur Ruhe gekommen. Die alten vor-nationalen Mächte konnten noch Rückzugsgefechte und sterile Siege gewinnen – Rußland 1831, Preußen und Österreich 1848 bis 1849 –, kunstvoll verbogene Kompromisse schließen (Preußen 1871), ein Reich aus vielen Nationen oder Nationssplittern noch einige Jahrzehnte länger aufrechterhalten (die Habsburger Monarchie). Über die Gründung der südamerikanischen Republiken, Griechenlands, Belgiens, Rumäniens, Italiens, des fälschlich sogenannten »Deutschen Reiches«, der Trennung Norwegens von Schweden führt der Weg zur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
488
Proklamierung des »Selbstbestimmungsrechtes der Nationen« im Ersten Weltkrieg, zur Auflösung der Donaumonarchie und des später freilich zum großen Teil wieder zusammengezwungenen Zarenreiches; zur Schöpfung des unerfreulichen Begriffes »nationaler Minderheiten« innerhalb eines angeblichen Nationalstaates; zum mörderischen Gezänk zweier oder mehrerer auf engstem Raum zusammenlebender Nationalitäten, welche die längste Zeit sich leidlich oder auch gut vertragen hatten (Böhmen, Südslawien, Anatolien); zur Gründung eines jüdischen Nationalstaates und ihm gegenüber zur Wiederentdeckung einer »arabischen Nation«; schließlich zur freiwilligen oder unfreiwilligen Preisgabe der europäischen Gebiete in Übersee, immer noch und immer wieder im Zeichen eines Nationalismus, dessen europäische Logik auf die asiatische und afrikanische Wirklichkeit nicht paßt. Gemeinhin wird ein Unterschied gemacht zwischen einem gesunden, maßvollen Nationalgefühl und einem übersteigerten »Nationalismus«. Er mag berechtigt, würde aber doch nur ein Unterschied des Grades sein; ob die Deutschen um 1870, die Tschechen um 1919 national oder nationalistisch dachten, darüber wäre zu streiten müßig. National oder nationalistisch – im 19. und 20. Jahrhundert hat regelmäßig eine Feindschaft dazu gehört, welche dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
488
aufgeregten Kult der eigenen geglaubten Wesenheit entsprach. Der italienische Nationalismus wäre nicht geworden, was er wurde, ohne Österreich; der deutsche nicht ohne Frankreich, später England, später »die Kommunisten«; der polnische nicht ohne Rußland und Deutschland; der tschechische, der balkanische nicht ohne Österreich, Ungarn und, nur zu häufig, die eigenen gleichfalls zu befreienden oder befreiten Nachbarnationen; der arabische von heute nicht ohne Israel; der asiatisch-afrikanische von heute nicht ohne die »Imperialisten« und, wiederum, nicht ohne gewisse nur theoretisch geliebte Nachbarn und Schicksalsbrüder. Mitunter ist der Gegenstand einer zum Nationalismus spornenden Feindschaft im eigenen Land gewesen: Armenier in der Türkei, nichtweiße Bevölkerungen in Südafrika, Neger im Süden der Vereinigten Staaten. Ohne solche Feindschaften und die mit ihnen verbundene Genugtuung hätte der Nationalismus nicht so wirken können, wie er gewirkt hat; eine Beobachtung, die zu seiner Charakteristik beitragen mag. Es ist häufig bemerkt worden, daß die Forderung nach dem Nationalstaat, dann ein übersteigerter Nationalismus die Sache von Minderheiten war. Die Italiener standen der Gründung ihres Königreiches zum großen Teil passiv gleichgültig, ja widerwillig gegenüber. In Deutschland möchte noch in den 1860er Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
489
Jahren eine Volksbefragung über die Gründung eines Deutschen Reiches ein verneinendes Resultat gebracht haben – mindestens dann, wenn alle Befragten eine Stimmabgabe auch nur für der Mühe wert gehalten hätten. Der panslawische und westslawische Nationalismus interessierte vor allem die Gebildeten; Professoren, Lehrer, Schriftsteller, Journalisten, Offiziere. Aber das widerlegt die historische Macht der Bewegung nicht und denunziert sie auch nicht als etwas im Grunde Betrügerisches. Denn schließlich sind alle großen oder sogenannten »großen« Dinge in der Geschichte von Minderheiten gemacht worden; so die europäischen Staaten in ihrem Ursprung durch die Könige und eine kleine Schar von Königsdienern. Auch die amerikanische Unabhängigkeit wurde, gegen die Gleichgültigkeit der Mehrheit, von einer intellektuellen Elite erkämpft, später, im. »Krieg zwischen den Staaten« die Union wieder gegen die Gleichgültigkeit oder Widerwilligkeit eines Teils der Bürger im Norden selbst erhalten. Vollends die russischen Bolschewiken waren 1917/1918 eine notorische Minderheit, welche der Diskussion mit der in der Nationalversammlung erscheinenden Mehrheit wohlweislich aus dem Wege ging. Demgegenüber hat der europäische Nationalismus vergleichsweise eine immerhin breite Basis im Bürgertum, oft auch im Adel gehabt; genügend breit, um auf die Dauer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
489
unwiderstehlich zu sein. Die Prinzipien Staat und Nationalismus haben einander ungeheuer gestärkt. Trotz des von den Anführern der Französischen Revolution gegebenen Versprechens, ein nationaler Staat werde ein Staat im alten Sinn gar nicht mehr sein und darum auch außerhalb seiner Grenzen keine Feinde mehr haben. Dies Versprechen ist von den Kommunisten wiederholt und auch von ihnen bis heute nicht eingelöst worden. Aus dem Heer des Königs wurde das Heer der Nation; verzehnfacht, schließlich verhundertfacht den schieren Zahlen nach und oft, etwa im Deutschen Reich der Hohenzollern, der Stolz der Nation. Die Staatsräson der Fürsten, die man hatte preisgeben wollen, wurde übernommen, wobei es nun nicht mehr um Macht und Prestige des Königs, des Staates – der »Höfe« von Versailles, Schönbrunn, Saint James, Potsdam, St. Petersburg –, sondern um die »heiligsten Güter«, um »Leben und Tod« der Nation gehen sollte. Schon der Fürstenstaat hatte die Erziehung und Bildung der Untertanen sich angelegen sein lassen, aber es war eine religiöse oder humanistische Erziehung, mit nur einem geringen Beisatz »vaterländischer« Sitte und Gesinnung gewesen. Nun, zumal gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wurde die Wissenschaft nationalisiert; das Memorandum des deutschen Theologen Adolf von Harnack, welches zur Gründung der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
490
»Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft« aufforderte, gibt ein klassisches Beispiel dafür. Die Schule, jeden Zweckes und Zweiges bis hinauf zu den Fakultäten der Hochschule, hatte im Dienst der Nation zu stehen, ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Ausstrahlung zu dienen, mit anderen Nationen zu konkurrieren. Was immer nun im Rahmen des Staates geschah und geleistet wurde, vom Wachstum der Bevölkerung bis zum Wachstum der wirtschaftlichen Produktion, von der allgemeinen Volksschulbildung bis zu den verwegensten Erfindungen der Technik, den tiefsten Forschungen der Gelehrten, den sublimsten, besonders aber den weniger sublimen Schöpfungen der Kunst – es stand alles im nationalen Dienst, oder es war tadelnswert, wenn es nicht in ihm zu stehen meinte. Daher der neue, späte europäische Imperialismus nach 1871, der in den neunziger Jahren seinen Höhepunkt erreichte; das hastige, gierige Sammeln eines ephemeren Kolonialbesitzes, nicht, wie man sich einredete, um die Ernährung des eigenen Volkes zu sichern, auch nicht, wie die Schüler von Karl Marx uns einreden wollten, weil der innere Widerspruch des »Kapitalismus« dazu getrieben hätte, sondern aus schierer Freude an der Konkurrenz mit den anderen, aus schierer Lust, möglichst große und viele Flecken der Erdkarte mit den eigenen Nationalfarben bezeichnet zu sehen. Daher die beispiellose Intensität der neuen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
490
Kriegführung, in deren Dienst nun die »nationale Wissenschaft« die »nationale Industrie« sogar die nationale Literatur stehen mußte; zum erstenmal im amerikanischen Bürgerkrieg und im Deutsch-Französischen Krieg von 1870, um fünfundvierzig Jahre später sich in seiner letzten Konsequenz zu erfüllen. Der Krieg von 1914 bis 1918, in Asien als »europäischer Bürgerkrieg« mit Recht gesehen, führte das Prinzip des Nationalstaates ad absurdum oder hätte es sollen. Aber zur Kriegführung dieses Stils gehörte auch, daß man um eine Idee kämpfte oder zu kämpfen sich selber einredete. Westeuropa und dann Amerika schrieben den Kampf für Demokratie und für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen auf ihr Banner. Folglich brachte ihr Sieg einen neuen Höhenflug des erschöpften und tief blamierten Prinzips, die Schaffung von einem halben Dutzend neuer Nationalstaaten und das Versprechen, in der Reife der Zeit noch mehr von ihnen zu schaffen, das nach 1945 wohl oder übel eingelöst werden mußte. Nie waren die Zänkereien zwischen Europas Nationalstaaten und Nationalitäten bösartiger als gerade in den 1920er Jahren. Erst der Zweite Weltkrieg, der dem vorhergehenden noch einmal eine Dimension hinzufügte, ließ erkennen, was der Erste hätte erkennen lassen sollen. In Europa – aber keineswegs in den beiden Gebieten der Erde, in denen man Europa nachahmt – hat der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
490
Nationalismus heute die Kraft nicht mehr, die er hundert bis hundertfünfzig Jahre lang besaß. Im Westen ist man zu übernationalen, die nationale Souveränität tatsächlich einschränkenden Gründungen geschritten; im Osten halten die kommunistischen Parteien den alten Nationalhaß nieder, oder doch in Grenzen, und zwingen West- und Balkanslawen und Magyaren zu einem freundlichen Zusammenleben, wie es seit dem Niedergang der habsburgischen und türkischen Imperien nie bestanden hatte. Der Endgültigkeit dieser Entwicklung können wir jedoch weder im Westen noch im Osten Europas sicher sein. Einstweilen werden dort, wo sie es bisher nie waren, in den Vereinigten Staaten, Erziehung und Wissenschaft im steigenden Maße nationalisiert; sei es, weil private oder einzelstaatliche Mittel zur Finanzierung der neuen Aufgaben nicht mehr ausreichen, sei es, weil die wirkliche oder fiktive Konkurrenz mit Rußland zu Anspannungen zwingt, welche wieder nur zentral geplant werden können. Wie im späten 15. und 16. Jahrhundert die europäischen Mächte im Entdeckungswettlauf lagen, wie sie im späten 19. einander in der Erwerbung von Kolonien zuvorzukommen suchten, so kämpft heute die amerikanische Wissenschaft mit der russischen um den Mond, und dem Vorhaben nach um die Planeten.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
491
Krieg und Frieden In dem berühmten Roman von Sinclair Lewis, »Babbitt«, räumt der amerikanische Geschäftsmann sein Büro, bevor er es verläßt, mit einer Gründlichkeit auf, »als gelte es einen europäischen Krieg vorzubereiten«. Den Amerikanern noch unserer zwanziger Jahre war das europäische Kriegführen ein Gegenstand des Spottes; heute allerdings nicht mehr. Die europäische Gründlichkeit haben sie, in dieser Beziehung, übernehmen müssen. Gibt man dem Krieg die allgemeinste, von Clausewitz vorgeschlagene Definition als einen »Akt der Gewalt, um dem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen«, so ist er so alt wie die Menschheit oder älter; auch Tiere führen Krieg. Wohl aber hat der europäische Krieg im Lauf der Zeit Charakterzüge entwickelt, die nur ihm eigen sind oder waren. Der moderne europäische Staat war Kriegsstaat und ohne die immerwährende Möglichkeit und Vorbereitung des Krieges nicht zu denken; während wir uns die antiken Stadtrepubliken gut ohne Krieg denken können. Das Aufeinander-Bezogensein der europäischen Staaten, ihre Machtkonkurrenz, welche die Kunst der Diplomatie entwickelte, gab auch deren Ultima ratio, dem Krieg, einen in Begriff und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
491
Wirklichkeit so ausgebildeten Charakters, wie er in keiner anderen Zivilisation besaß. Die modernen »Regierungen« sind aus der Verwaltung zweier staatlichen Hauptanliegen hervorgegangen, die wiederum eng zusammenhingen: Finanzen und Krieg. Die Monarchen waren Kriegsherren, die Uniform bis ins 20. Jahrhundert ihre natürliche Gewandung; die »Großen« sind alle Kriegsanführer gewesen, und auch die Unbedeuteren glaubten sich diese Pflicht vor allen anderen schuldig zu sein. Das Heer war ihr besonderer Besitz. Es bedeutete einen entscheidenden Fortschritt in Richtung auf die Demokratie, als das englische Heer im 17. Jahrhundert »Parlamentsheer« wurde. In Deutschland ist dieser Schritt formal erst in der vorletzten Woche des Hohenzollernreiches, Ende Oktober 1918, getan worden. – Für Hegel war ein Gemeinwesen, das nicht unter dem Druck ähnlicher Nachbarn stand, nicht periodisch gezwungen war, Krieg zu führen, überhaupt kein Staat; eben darum meinte er, die nordamerikanische Union sei keiner, oder noch keiner; auch für sie würden kriegerische Zeiten kommen. Einer auf profunden Studien beruhenden Rechnung zufolge hat Europa die Hälfte der Zeit Krieg geführt. Betrachtet man etwa das 17. und 18. Jahrhundert, so wird man in der Tat feststellen, daß die Perioden des Friedens und des ausgewachsenen Krieges sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
492
ungefähr die Waage halten, ferner auch, daß friedliche und kriegerische Zeiten miteinander abwechseln. Bei näherer Prüfung sind freilich auch die friedlichen Epochen (1715-1740, 1815-1854, 1871-1914) nie ganz friedlich gewesen. Trotz der Dichtigkeit der Kriege hat man wenigstens bis ins 17. Jahrhundert dazu geneigt, den Frieden als den normalen Zustand anzusehen, den Krieg als außerhalb der Norm liegend, und verursacht durch einen verbrecherischen Akt, der eine berechtigte Gegenwehr, das bellum iustum erforderte. Im Zeichen der vollendeten staatlichen Souveränität hat diese Auffassung sich gewandelt; der Begriff des bellum iustum verlor seine rechtlich-moralische Bedeutung und nahm eine überwiegend formale an. Krieg durfte jederzeit sein, wenn er nach den Regeln begonnen und geführt würde, die das ius publicum europaeum entwickelt hatte. Trotzdem war es gerade in der Zeit der Kabinettskriege üblich, eine Kriegserklärung mit der Darlegung des eigenen unwiderleglichen Rechtes zu verbinden; eine Gewohnheit, die bis ins 20. Jahrhundert erhalten blieb, in einer Zeit noch, als das europäische Völkerrecht praktisch zusammengebrochen war. Die Heuchelei, heißt es, ist ein Zugeständnis, welches die Sünde der Tugend macht; auch galt es, um die Neutralen zu werben, seit dem 19. Jahrhundert die öffentliche Meinung im eigenen Lande zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
492
beschwichtigen. Der Begriff des Gleichgewichts der Mächte, in Asien unbekannt, in der klassischen Antike nur andeutungsweise entwickelt, ging aus der Vielzahl ebenbürtiger, ähnlich strukturierter, miteinander in enger Verbindung stehender europäischer Staaten hervor. Keiner von ihnen durfte so stark werden, daß er, wenn nicht »Universalmonarchie«, so doch Hegemonie, oder wie der zeitgenössische Ausdruck war, arbitrium rerum erringen konnte. Strebte einer nach diesem Ziel, drohte er ihm nahe zu kommen, so taten die Bedrohten sich gegen ihn zusammen. Im 18. Jahrhundert ist die Erhaltung des Gleichgewichts zur bewußten Kunst entwickelt worden; ihren höchsten Triumph hat sie 1815 gefeiert, noch ein Jahrhundert später bestimmend gewirkt. Den Schutz des Gleichgewichts sollten auch Staaten genießen, und gerade sie, die aus eigener Kraft sich nicht hätten erhalten können. Der Schutz war gut, aber nicht zuverlässig. Machten unter besonders günstigen oder verwilderten Umständen mehrere Großstaaten halbpart, so waren die zwischen ihnen liegenden schwächeren Gemeinwesen trotzdem verloren, wie gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Beispiel Polens, dann Italiens lehrte. Der Friede, den man nach einem Kriege schloß, sollte bis ins 17. Jahrhundert ein endgültiger sein, eben weil der Krieg als etwas Anormales, nur durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
492
Verbrechen oder Mißverständnis Verursachtes galt. Später hatten die Diplomaten und ihre Auftraggeber während der Friedensverhandlungen recht wohl die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines neuen Krieges im Kopf, sei es noch einmal gegen den Feind von gestern, sei es im Bund mit ihm gegen den Alliierten von gestern. Immer aber waren, im Gegensatz zur althellenischen Praxis, Friedensschlüsse unbefristet, ein anderes Zeichen dafür, daß der Friede als das erschien, was immer sein sollte, nicht der Krieg. Die Friedensschlüsse haben sich am besten bewährt, die auf keiner Niederlage beruhten, also frei ausgehandelt wurden, oder wenigstens die Niederlage höflich bemäntelten. In den Verträgen von Utrecht und Rastatt, welche den Spanischen Erbfolgekrieg beendeten, wurde die Beute, um die es gegangen war, das spanische Weltreich, dermaßen aufgeteilt, daß man nicht hätte sagen können, wer nun eigentlich verloren hatte; jeder erhielt etwas. Mitunter mußte der unterlegene Teil sehr viel herausrücken, um wenig oder gar nichts zu erhalten; so Frankreich 1763. Eigentlich »karthagische« Friedensschlüsse hat das europäische Staatensystem vor 1917/18 nicht gekannt; und selbst im Vertrag von Versailles 1919 war es auf eine »Vernichtung« Deutschlands keineswegs abgesehen. Wäre es darauf abgesehen gewesen, so müßte man die dafür gewählten Mittel als höchst ungeschickt bezeichnen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
493
Die Anerkennung des Krieges als eines rational zu gebrauchenden, rechtlich geformten Instruments, die Ebenbürtigkeit der souveränen Staaten, die Kollegialität der Monarchen, hat die Entwicklung des europäischen Völkerrechtes, zumal des Rechtes und der Pflichten der Neutralen, entscheidend gefördert und zur Milderung der Kriegsgreuel beigetragen. Nicht ganz so sehr, übrigens, wie gern behauptet wurde. Fürchterlich waren auch die Kriege des 18. Jahrhunderts, die uns als nachahmenswertes Modell vorgehalten werden; worüber man Voltaires »Candide« nachlesen mag. Das gemeinsame Interesse der Monarchie hätte im Lande des Feindes geschürte Revolution als Mittel der Strategie eigentlich ausschließen sollen. Sie tat es aber nie. Das Frankreich Ludwigs XIV. machte nicht bloß mit den gestürzten Stuarts, auch mit den irischen Rebellen im Kampf gegen England gemeinsame Sache, das Frankreich Ludwig XVI. mit den amerikanischen und holländischen Revolutionären. Im 19. Jahrhundert wurde es zur Gewohnheit, mit dem öffnen der revolutionären Pandorabüchse im Reiche des Gegners wenigstens zu drohen; eine angespielte Möglichkeit, die im Ersten Weltkrieg auf beiden Seiten zur vollen Wirklichkeit wurde. Die Geister, die man in blinder Kriegswut rief, ist man dann nicht wieder losgeworden. Langwierige Kriege haben immer die Tendenz zur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
493
Ausweitung und zur Mobilisierung noch vorhandener Kräfte gehabt; so der Dreißigjährige Krieg, der Spanische Erbfolgekrieg. Im großen und ganzen jedoch kann man, trotz der gesteigerten Wirkung der Feuerwaffen, von einer erhöhten Intensität des Krieges bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts nicht sprechen. Ungefähr waren die Truppenzahlen damals noch, was sie schon im 17. Jahrhundert und was sie in der römischen Antike gewesen waren. Der große Sprung wurde im Zeitalter der Französischen Revolution getan. Seither war es ein dauernder Prozeß. Die Größe der Armeen vor der Französischen Revolution, auf dem Höhepunkt der Napoleonischen Kriege, und im Zweiten Weltkrieg könnte man ungefähr mit eins, zehn und hundert benennen, und dem entsprachen die Verluste, die wissenschaftlichen und die wirtschaftlichen Anstrengungen. Die treibenden Kräfte hinter diesem Steigerungsprozeß waren die nationale Demokratie und die Industrie – zwei ihrerseits eng verbündete, historisch zusammengehörende Kräfte. Sie haben aus dem Krieg gemacht, was er wurde und was 1916/17 zu einer nicht mehr zu heilenden Verwundung, 1940/ 45 zum Zusammenbruch des europäischen Staatensystems und Völkerrechts führte. Die besonders von gewissen deutschen Staatsrechtlern mit geistreichen Sophismen vertretene These, nicht Europa selber, sondern die einem unwirklich-raumlosen, »nihilistischen« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
493
Rechtsbegriff ergebenen Amerikaner seien an dieser Entwicklung schuld, ist nicht haltbar. Staat, Kriegsstaat und Krieg haben auf das Sein und Streben des wirtschaftenden, des denkenden und grübelnden europäischen Menschen einen mit Worten überhaupt nicht ausreichend zu beschreibenden Einfluß gehabt. Der Merkantilismus des 17. und 18. Jahrhunderts, der Neomerkantilismus des späten 19. und 20. sind Staatssache, Kriegssache. Die staatsbejahende, kriegsbejahende europäische Philosophie und Geschichtsschreibung, von Hobbes bis Hegel und bis Oswald Spengler ist es auch. Die kriegsverneinende, den Staat oder doch wenigstens den absoluten Staat verneinende Philosophie von Bayle und Locke bis zu Kant, zu Auguste Comte und Herbert Spencer und Bertrand Russell ist es ganz ebenso. Ohne den Staat, so wie er war, kein Protest gegen ihn, keine pazifistische, kosmopolitische Gesinnung; keine Friedens-Utopie. Waren die europäischen Staaten mitunter Zuchthäuser, so waren sie gleichzeitig Treibhäuser der Wirtschaft wie des Denkens. Hegel meinte, die nordamerikanische Union sei kein Staat, weil sie nicht Krieg führen müsse, nicht unter Druck lebe, ihre Bürger nicht unter Druck setze. Sicher war die amerikanische Philosophie noch im 19. Jahrhundert eine flaue, wenig angetriebene und treibende, verglichen mit der europäischen. Deren große Vermittler, Leibniz, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
494
Voltaire, Kant, stehen bewußt und leidenschaftlich partizipierend im politischen, kriegerischen Gewirr ihrer Zeit; ebenso, noch stärker, ihre persönlich-inkarnierten geistigen Katastrophen: Rousseau, Nietzsche, Dostojewski. Was wäre der große europäische Roman ohne Staat und Krieg? Was die europäische Geschichtsschreibung?
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
494
Emanzipation In dem Kapitel über das europäische Mittelalter wurde gezeigt, wie der Dom, unter dessen Dach man die »Endzeit« zu erleben gedachte, doch nie fertig wurde; wie selbst unter seinen Baumeistern solche waren, die, unwissentlich, nicht nur bauten, sondern auch abtrugen. Auch hier war der Gedanke vom machtpolitischen Kampf nicht zu trennen; die Reformierung der Kirche unter Gregor VII. eine Revolution gegen die Könige; die philosophische Schule der »Nominalisten« im offenen Bund mit den Königen, gegen die römische Kirche. Die Lehre, wonach Universalia, Allgemeinbegriffe, nichts seien als Worte, Stimmgeräusch, und wirklich nur die einzelnen Sachen – welche einreißende Folgerungen waren daraus nicht zu ziehen! Daß Glauben und Wissen aus dem Grunde verschiedene, unversöhnliche Dinge seien, bestritt im 17. Jahrhundert Leibniz; aber im 13. hatte der Doktor angelicus, Thomas von Aquino, es anders gesehen: »Non est possibile, quod sit de eodem fides et scientia.« Selbst im Hochmittelalter waren Religion und Wissenschaft nicht aus dem gleichen Stoff. Das Mittelalter, lasen wir, hat nie geendet. Die Emanzipation von seinen politischen und geistigen Werken hat nie begonnen. Sie war immer. Die Entwicklung der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
494
Städte – die angelsächsische Geschichtsschreibung spricht von einer »städtischen Revolution« – geschah außerhalb des Rahmens der Feudalität und gegen sie. Im Streit zwischen Papst und Kaiser, Papst und Königen kämpften beide Seiten nicht nur um. Herrschaft, sondern auch um Abtrennung, um Freiheit. Die Wege, welche die Erkundung der Natur ging, hatten nichts mit Religion zu tun, die doch alles überwölben sollte, auch nichts mit scholastischer Spekulation. Emanzipation – Immanuel Kant nannte sie mit einem Modewort seiner Zeit »Aufklärung« und definierte sie als das Streben des Menschen, »aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszukommen« Unmündig war, wer nicht selber denken durfte oder es nicht wagte; wer ohne zu prüfen der über ihn gesetzten Autorität gehorchte. Emanzipation konnte im Lager der herrschenden Geistesmächte selber vorwärts getragen werden; in der Hitze des Kampfes; durch Weiterentwicklung und subtile Auslegung der alten Lehre. Hierher gehört selbst der frühe Protestantismus, der nicht einmal subtil sein, der im Gegenteil reformieren, zu den einfachen Grundwahrheiten der Überlieferung zurück wollte, aber eine Bewegung begann, die sehr, sehr weit von ihrem ursprünglichen Wollen fortführen sollte. Emanzipation konnte wesentlich kritisch sein; ein gefährliches, lange Zeit furchtbar gefährdetes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
495
Rebellentum von außen. Oder sie war in ihrem eigenen Bereich positiv und schöpferisch ohne gewollte Kritik an den bestehenden Ordnungen, mit denen sie dennoch in Widerstreit geriet. So Galileis Himmelsmechanik, die weder antikirchlich noch antichristlich sein sollte, aber es wurde, weil die Kirche etwas andres lehrte und Galileis Lehre verbot. Die Befreiung der Ratio von der Autorität, die immer am Werke war, ging dennoch in großen Schüben vor sich: in der Zeit der Spätscholastik, in der Renaissance, im 17. und 18. Jahrhundert. Damals war sie, was die Spitzen, nicht was die Basis betrifft, schon nahezu vollendet; freiere Geister, als Voltaire oder Lessing waren, gibt es heute nicht. Im 19. Jahrhundert ergriff sie die Basis, eroberte sie die Massen, wurde sie siegessicher und ordinär. Nun konnten Platitüden gedruckt werden, wie, daß keine Philosophie die wahre Philosophie sei, oder, daß der Mensch sei, was er esse. Nun war es keine Leistung mehr, Atheist zu sein, sowenig es im Politischen eine war, Demokrat zu sein; es konnte höchstens noch die Beamtenlaufbahn des Freigeistes verderben. Seither war nur noch das schöpferisch, was in ihrem Ursprung durch Emanzipation ermöglicht worden war: freie Wissenschaft. Bloße Kritik an der Tradition wurde öde. Die Emanzipation hat immer wieder Halbwegshäuser gesucht, bei denen sie stehenzubleiben wünschte; Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
495
hat christlichen Glauben und freie Vernunft zu versöhnen gesucht (Descartes, Locke, Leibniz); hat sich selber Gehäuse gebaut, Kirchen im persönlichen Besitz sozusagen, die aus zeitbedingtem Stoff gemacht waren (Spinoza); hat, indem sie alles Wissen um Gott, Freiheit, Unsterblichkeit zu zerstören meinte, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als »Ideen« zu erhalten gesucht (Kant); hat die christliche Wahrheit in die eingebildete Allerkenntnis von Sein und Werden kunstvoll mit hineingenommen (Hegel). Solche Halbwegshäuser hielten für die, die sie bauten; aber regelmäßig blieben andere dort nicht stehen. Rationalismus und Empirizismus, der hier freilich nur fand, was das rationalistische Dogma ihm zu finden vorschrieb, konnten umschlagen in neue Autorität. Einer hatte, im verachtungsvollen Kampf gegen die Tradition, die ganze Wahrheit über Mensch und Welt, Mensch und Geschichte gefunden; wehe dem, der es nicht glaubte. Das ist ein paarmal versucht worden; gelungen ist es nur einmal, und zwar da, wo Philosophie sich völlig in den Dienst des politischen Machtkampfes stellte. Wir meinen den »Marxismus« oder »dialektischen Materialismus« Diese in ihrem Ursprung geistvolle, später unglaublich arme, plumpe Lehre, beherrscht heute einen dritten Teil der Erde und die Seelen, die dort wohnen. Man ist versucht, hier von bestrafter Anmaßung zu sprechen. Die ganz Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
496
frei sein wollten von den Lügengeweben der Vergangenheit, sind nun im Geistigen ganz unfrei. Ihr besseres Wissen müssen sie unterdrücken oder unter Verrenkungen in das Gefüge der herrschenden Lehre einpassen, und die Gefahr der Anklage wegen Ketzerei ist über ihnen, wie sie je über den Gelehrten des 16. Jahrhunderts war. Die große Emanzipation war segensreich, insofern die alte Autorität vielerlei Qual verursacht hatte; Ketzerverfolgungen, Hexenbrände, körperliche und geistige Foltern; Leid derer, die »unten sterben« mußten, »wo die schweren Ruder der Schiffe streifen«; Angst und Enge des Aberglaubens. Sie war segensreich, insofern die alte Autorität den freien Gang der Wissenschaft behindert hatte; von dieser kann man sagen, daß sie seit dem Ende des 17. Jahrhunderts essentiell frei war. Sie war nicht segensreich, insofern die alte Autorität den Menschen eine Geborgenheit im Glauben und in Überlieferungen gegeben hatte, welche die freie Ratio ihnen nehmen, aber nicht ersetzen konnte. Ein wenig Fortschrittsglaube oder »Humanismus« war kein Ersatz und war auch wieder nur ein Halbwegshaus; warum, wenn es keinen Gott gab, wenn der Mensch nur eine ephemere Erscheinung in unendlicher Zeit, in unendlichem Raum, auf einem von Myriaden Planeten war, sollte ihm denn ein besonderer Wert zukommen? Es war kein Verlaß auf die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
496
Ersetzung der Religion durch Naturalismus und wissenschaftlichen Positivismus. Im Geiste des Mannes zum Beispiel, der in den dreißiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts über Deutschland herrschte, schlugen sie um in Verbrechen eines neuen Aberglaubens, wie kein Papst, kein König von Gottes Gnaden sie je begangen hatte. Eine Erfahrung, durch die die Warnung Edmund Burkes aus dem Jahre 1791 bestätigt wurde: »Wir wissen, und setzen unseren Stolz darein zu wissen, daß der Mensch ein zur Religion geschaffenes Wesen ist, daß der Atheismus nicht allein mit unserer Vernunft, sondern mit unseren Instinkten streitet, und daß er nicht lange bestehen kann. Wenn wir also in einem Augenblick des Übermutes... eine Religion von uns stießen, die seither unser Ruhm und unsere Stütze und eine machtvolle Quelle der Kultur bei uns und bei so vielen anderen Nationen war, so würden wir fürchten (denn eine gänzliche Leere würde der Geist nicht ertragen), daß irgendein roher, verderblicher, erniedrigender Aberglaube sich einfände und von ihrer Stelle Besitz nähme.« Dort, wo säkularisierte Freiheit nicht entartete, könnte man wohl zeigen, daß sie häufig gleichwohl gebunden blieb; zumeist durch eine gleichsam evaporierte, aber noch immer wirksame Religiosität, wie dies in Amerika am deutlichsten der Fall ist. Indessen hat es menschengläubigen, dem Menschen Ehre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
496
machenden guten Willen auch in Bewegungen gegeben, deren religiöse Bindung nicht mehr erkennbar ist; zum Beispiel in der europäischen Sozialdemokratie. Was immer nun aber der Segen und der Unsegen des hier in Rede stehenden Emanzipationsprozesses gewesen sein mag: Es hätte keinen Sinn, ihn zu beklagen. Beklagen kann der Historiker nur das Auftreten gewisser Personen, gewisse Entscheidungen, Taten, Ereignisse, gewisse kollektive Verirrungen von kurzer Dauer. Hier kann er sich vorstellen, daß sie hätten anders sein können und sollen; er kann sie wegdenken. Ein Prozeß von der Breite und Tiefe wie der hier ins Auge gefaßte ist nicht wegdenkbar und nicht anders denkbar. Auf ihm beruht nahezu alles, was wir heute sind und tun und haben, Politik und Gesellschaft nicht nur, auch alle Wissenschaft, alle Industrie, alle Literatur und Philosophie und Kunst. Gewiß kann man die Geschichte des Menschen als Ganzes bedauern, oder bedauern, daß er eine Geschichte hat, anders ausgedrückt, daß es ihn gibt. Solche pessimistische Philosophie ist auch in Europa aufgetreten; Einzelgänger haben sie vertreten, und eine extreme Auslegung der christlichen Lehre vom Sündenfall wirkt in ihrem Sinn. Man braucht ihre Bedeutung nicht zu leugnen. Nur ist sie so allumfassend, daß sie nur die menschliche Geschichte als Ganzes, nicht aber eine epochale Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
497
Entwicklung innerhalb der Geschichte treffen könnte. Für seine Person sieht der Schreiber dieser Zeilen nicht, wie man auch von einem religiösen Standpunkt aus bestreiten könnte: Daß der Mensch als ein sich in der Zeit entwickelndes, veränderndes, als historisches Wesen gemeint war, als eines, dem Prüfungen aufgegeben sind, an denen er sich bewährt hat oder nicht, bewähren wird oder nicht. Man gibt vieles zu, wenn man das zugibt. Man kann dann nicht meinen, der europäische Mensch wäre auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung, im 12. Jahrhundert, im 16. oder 18. oder 19. Jahrhundert besser für alle Zeiten stehengeblieben. Man kann dann nicht umhin, den großen, seit dem späten 17. Jahrhundert überdeutlichen, in seinen Ursprüngen viel älteren Emanzipationsprozeß als Ganzes – jedoch nicht in allen seinen ausschweifenden Details – zu bejahen. Er war unaufhaltsam. Immer wieder hat man ihn aufhalten wollen, indem man die Gewalt der Kirche, die Gewalt des Staates gegen seine Förderer aufbot und allzu viele von ihnen zu Märtyrern machte; vergebens. Der römische Index hat, auf lange Dauer, so wenig gewirkt wie der geistige Despotismus Ludwigs XIV., wie die im Grunde zaghafte, kein Dogma aufzwingende, nur formale Mäßigung fordernde Zensur des Fürsten Metternich, wie der Versuch des Zaren Nikolaus I., sein Reich gegen Westeuropa hin Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
497
abzuschließen und mit den Begriffen Zarismus, Russentum, Orthodoxie monolitisch zu zementieren. Rückzugsgefechte das alles nur; oft durch die Jahrhunderte und sehr großartigen Charakters. Unbestreitbar ist das geistige Leben in den Gegenden Europas, in denen die katholische Reformation triumphierte, lange Zeit sehr verschieden gewesen von jenen, in denen sie nicht triumphierte; Italien und Spanien von England; im deutschen Bereich Österreich und Bayern von Sachsen und Preußen. Aber im 19. Jahrhundert haben diese Unterschiede sich sehr schnell verwischt. Lehrreicher: gerade da, wo die alten Geistesmächte den härtesten Widerstand leisteten, hat die Emanzipation auf der Gegenseite die radikalsten Formen angenommen: so in Italien, in Spanien, in Rußland, auch in Frankreich. Auf den ersten Blick mag diese Unwiderstehlichkeit der Sache wiederum durch Europas politische Vielfalt zu erklären sein. »Universalmonarchie« hätte sie vielleicht zum Stillstand bringen können, aber Universalmonarchie gab es niemals. Und so konnte in den Niederlanden oder in England gedruckt werden, was im Frankreich Ludwigs XIV. nicht gedruckt werden durfte; in Zürich, in Paris, in Brüssel, in New York, was in Deutschland die Zensur des Fürsten Metternich verbot. Von außen wirkte herein, was drinnen nicht geschehen durfte. Kein Reich, nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
498
Spanien, nicht Rußland, schließlich nicht Japan vermochte sich vom Strom europäischen Denkens zu isolieren. Übrigens wäre es ihnen politisch übel bekommen; denn mit der Emanzipation des Denkens war die Wissenschaft und mit dieser die wirtschaftliche, die militärische Macht eng verbunden, eine Tatsache, welche heute auch die neoscholastische Autorität der kommunistischen Parteiherrschaft bedroht. Indessen wird man sich mit dieser Erklärung des immerwährenden und schließlich totalen Sieges der Emanzipation nicht begnügen. Die geistige Energie, die hier am Werk war, konnte nie erstickt werden, wie anders man sich auch die politischen Grenzen denkt; der europäische Geist, nachdem er sich einmal auf das Abenteuer eingelassen, gab nicht Ruhe und hätte nie Ruhe gegeben, bis das gefährliche Ziel erreicht war.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
498
Demokratie und Revolution Insofern die europäische Emanzipation wesentlich kritisch war, gegen die alte Autorität, Kirche, Feudalität, Monarchie von Gottes Gnaden, gegen Aberglauben und Glauben sich richtete, insofern sie also unter spezifisch europäischen Bedingungen wirkte, wäre sie die nichteuropäischen Völker so viel nicht angegangen. Was sie in China, Japan, Indien zum Triumph führte, was sie heute in Afrika ihr teils entwurzelndes, teils neu integrierendes Werk treiben läßt, waren ihre positiven Schöpfungen; auf der einen Seite Wissenschaft, Medizin und Hygiene, Technik, offenbare wirtschaftliche und militärische Überlegenheit; Demokratie und Revolution auf der anderen. Was seit den 1860er Jahren die Japaner zu dem staunenswerten Unternehmen ihres zunächst nicht so sehr geistigen wie technischen Nachahmens trieb, was anderthalb Jahrhunderte früher den an der Grenze des damaligen Europa herrschenden russischen Zaren, was heute die chinesischen oder ägyptischen Anführer mit dem Ehrgeiz erfüllt, Europa-Amerika einzuholen oder zu »überholen«, war das Bewußtsein, oft die demütigende Erfahrung, daß man ohne Europas Künste den Europäern hilflos ausgeliefert war. Die Europäer als Kolonialherren, Protektoren, intervenierende und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
498
konkurrierende Mächte taten selber das Ihre, die Unterlegenen die neuen Arcana imperii zu lehren, und tun es, in echtem und unechtem Wohlwollen, auch heute noch. Und dann die politischen Heilslehren der Europäer, Demokratie und Revolution. Beide sind mit dem großen Emanzipationsprozeß eng verbunden. Revolution, das sollte, nach lange wühlender Vorarbeit, Emanzipation mit einem Schlag sein; das plötzliche und ganze In-eine-vernünftige-Ordnung-Bringen dessen, was bisher immer in Unordnung gewesen war. Demokratie, das gleichberechtigte Mitwirken aller an der öffentlichen Sache ergab sich aus der Emanzipation wie von selber: ex negatione; wenn alle ererbten, durch Tradition und Glauben vorgeschriebene Privilegien vor dem Richterstuhl der Vernunft geopfert wurden, was blieb als das gleiche politische Recht jedes Einzelnen? Was blieb, schärfer gefragt, wenn man von der Geschichte weg, aber nach vorwärts wollte, nicht zurück zu einem barbarischen Naturzustande, zum schieren Recht des Stärkeren? Freilich hätte die dürre, negative Logik nicht genügt, um zu einer demokratischen Ordnung zu kommen. Eine lange Kette positiver geistiger Schöpfungen war dafür notwendig. Sie reicht, wie anderwärts gezeigt wurde, tief ins Mittelalter, sie kommt aus dem Mittelalter. Ihm – nicht aber der klassischen Antike – war das Prinzip Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
499
der Repräsentation wohl bekannt, so das Recht des Widerstandes gegen schlechte Könige, ihre Verpflichtung und auch ihre Absetzbarkeit, die auf einer nicht wirklich geschehenen, aber modellartig gedachten Wahl beruhte. Ihm war das nicht von Menschen willkürlich geschaffene, sondern ewig dauernde, gottgewollte Recht bekannt, von dem das dekretierte, kodifizierte nur eine Spiegelung sein sollte. So waren denn auch die ersten modernen Revolutionen Europas, die beiden englischen des 17. Jahrhunderts, nicht als Neuerungen, sondern als Wiederherstellungen ewiger Rechte gedacht, die gleichzeitig historische Rechte der Engländer waren. Dasselbe gilt für die amerikanische Revolution mindestens im Ursprung. Auch die Amerikaner kämpften für ihre historischen Rechte als Engländer; die Bills of Rights, Menschen- und Bürgerrechte, die von einigen Kolonien 1776 verkündet wurden, gingen auf eine lange Tradition englischer Rechte von der Magna Charta bis 1689 zurück. Aber dem Historischen, Lokalisierten wohnte eine Dynamik inne, die es antihistorisch und universal wirken ließ. Das gilt schon für die radikalsten Forderungen, die sich aus dem englischen Bürgerkrieg erhoben. Es gilt für die Glorreiche Revolution von 1688; nicht so, wie die Whig-Anführer es zunächst verstanden, aber so, wie das hohe Lied von der Gewaltenteilung, den Individualrechten, den Parlamentsrechten, von der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
499
»Verfassung« überhaupt, von Locke und von seinen kontinentalen Bewunderern, Montesquieu, Voltaire, auch Kant, verkündet wurde. Es gilt für die amerikanische Revolution in einer späteren Phase; für die um den Erdball schallenden Trompetentöne der »Unabhängigkeitserklärung«, für das menschenfreundlichanmaßende, antihistorische und – weil eben Europa der geschichtliche Kontinent war – antieuropäische Denken Thomas Paines und Thomas Jeffersons. Es gilt schließlich und im allerhöchsten Maße für die Französische Revolution. Auch sie hatte ja zunächst noch keine »Revolution« sein sollen in dem verhängnisvollen Sinn des Wortes, den erst sie ihm gab. Sie hatte ihr Vorspiel in einer Protestbewegung des Adels und der amtsadligen »Parlamente« gegen die Reformversuche der Krone; sie begann mit dem Rückgriff auf eine uralte, nahezu abgestorbene Institution, die drei Stände des Königreiches. Der Geist der Zeit, das amerikanische Beispiel, der provozierende Widerstand der alten Mächte brachten mit unglaublicher Schnelligkeit in der wirklichen Bestrebung sowohl wie im Bewußtsein der an ihr Teilnehmenden den »Durchbruch zum modernen Staat« hervor. Und damit war der Begriff der Revolution geschaffen, wie es ihn vorher, als man nur Umschwünge und Umstürze, Bürgerkriege aller Art, Rebellionen, »Res novae« oder »Reformationen« kannte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
499
nie gegeben hatte; die Revolution, die mit einem gewaltigen Schlag alles recht macht, wo vorher alles unrecht gewesen war. Das Ding war lange in statu nascendi gewesen, auch Engländer und Angloamerikaner hatten vorbereitend an ihm mitgewirkt. So aber, wie es nun plötzlich fertig dastand, war es kontinental-europäisch und in einem Gegensatz zu dem evolutionären, eine lange Vergangenheit bejahenden Denken der Angelsachsen. Theoretisch band sich auch die neue, einzige und unteilbare Souveränität der französischen Nation durch Menschen- und Bürgerrechte, die der Staat nie sollte antasten dürfen. In der Praxis war es zunächst anders; weil das Vaterland in Gefahr war. Solange durfte die regierende Mehrheit als der allgemeine Wille anders gesinnten Minderheiten vorschreiben und antun, was die Not erheischte. Wer in der Hauptstadt an der Macht war, vertrat in jedem Fall die Mehrheit und durch sie das Ganze. Das öffentliche Heil legte ihm die Pflicht auf, mit Menschenrechten und Menschenleben großzügig umzugehen. Solche Notstände, während derer, zum Zwecke der Verteidigung der Revolution, die Volkssouveränität von einer Diktatur getragen wurde und Terror und Enthusiasmus eine früheren Zeiten unbekannte Verbindung eingingen, sind seither mehrfach vorgekommen. Der Begriff der nationalen und demokratischen Revolution, als etwas Gewolltes oder Gefürchtetes, hat Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
500
das 19. Jahrhundert beherrscht. Die Völker Europas hatten sich zu konstituieren, sich eine Verfassung zu geben, so oder so formulierte Menschen- und Bürgerrechte festzusetzen; dort, wo sie einen Staat besaßen, der kein Verfassungsstaat war; erst recht, wo sie keinen Staat besaßen, sondern fremden Herren untertan waren. Die Amerikaner hatten den Arbeitsgang unter den besonderen Bedingungen ihres Inselkontinents erfunden, die Franzosen ihn auf europäischem Boden zuerst, dann noch einmal und wieder noch einmal durchgeführt. Es war ein Drama in mehreren Akten. Der Sturz der alten Gewalten, sei es durch friedlichen Verzicht unter bloßem Druck, sei es nach Straßenschlachten und Barrikadenstürmen in den Hauptstädten; die provisorische, revolutionäre Regierung; die Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Äußeren Krieg schrieb die Logik des Prozesses nicht vor, aber die Macht der Tatsachen führten ihn oft herbei; so schon in Amerika 1776, in Frankreich 1792, in Italien 1848 und 1859. Auch für Deutschland erwarte er »Krieg und Revolution kombiniert«, hat Bismarck einmal geschrieben. Nie wurde man die alte, von den Monarchen begründete Staatsräson los. Sie leistete Widerstand von außen; sie half von außen aus ihr eigenen Gründen; sie lebte selbst in jenen fort, die sie für immer begraben wollten, so daß etwa die Anführer der ersten Französischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
500
Revolution den territorialen Expansionismus der Bourbonen mit nur veränderten Argumenten weitertrieben: Erbrechte und »Reunionen« ehemals, »natürliche Grenzen« jetzt. Das Fortwirken der alten Tradition oder Fortbestehen der alten Mächte führte zu den wunderlichsten Kompromissen, zu Verfassungen, die nicht von Nationalversammlungen beschlossen, sondern von den Königen als Geschenk gegeben wurden; zu Revolutionen, die nicht kämpfen, sondern sich durch Vereinbarung mit den Königen durchsetzen wollten; zu einem neuen Nationalstaat – dem deutschen –, der seiner Form nach ein Bündnis fürstlicher Regierungen sein sollte. Auf die Dauer haben solche Kompromisse selten gehalten. Das nachgerade klassische Prinzip der revolutionären Staatsgründung war lebendig noch im 20. Jahrhundert; ihm gemäß wurde die deutsche Republik von 1919 gegründet und hätte, dem von Lenin vereitelten Plane nach, die russische von 1918 gegründet werden sollen. Ihm gemäß soll heute noch die von der deutschen Bundesrepublik geforderte Wiedervereinigung Deutschlands erfolgen. Dem ursprünglichen Anspruch nach war die Revolution eine und einmalig. War die souveräne Nation nach ihrem eigenen Willen konstituiert, so konnte sie sich nicht mehr mit sich selber verfeinden. Sie mochte neue Gesetze machen, so wenige wie möglich allerdings und in den Grenzen, welche die Menschenrechte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
501
setzten. Sie mochten sogar die Verfassung ändern, nach Methoden, welche die Verfassung selbst vorsah. Ein neuer Sprung, aus dem Unvernünftigen ins Vernünftige, war nicht mehr zu tun. Die Behauptung, daß es in Wirklichkeit ganz anders sei und eine neue Revolution, diesmal die wirklich letzte, erst noch bevorstehe, kam in den 1830er Jahren auf. Im nächsten Jahrzehnt wurde sie von zwei Deutschen, Lorenz Stein und Karl Marx, systematisiert, war aber damals schon nicht mehr originell; die beiden sammelten nur ein, was in der Luft lag. Es war der Gedanke, daß formale Gleichheit vor dem Gesetz, formale Freiheit, formale, indirekte Partizipation an der Staatsmacht nicht genügten, vielmehr, daß sie nur einer einzigen bevorzugten Klasse, nämlich dem besitzenden Bürgertum, genügten. Die Revolutionen der Amerikaner, erst recht der Franzosen, waren im Schein des Gesamtnationalen, des Universalen und Menschlichen tatsächlich Revolutionen einer Klasse gewesen, der Bourgeoisie. Der dritte Stand, das Bürgertum, sei die Nation, hatten sie behauptet, aber er war es sowenig, wie Adel und Klerus es gewesen waren. Der vierte Stand, der Stand der Armen, der »Proletarier«, war die überwältigende Mehrheit der Nation. Ihm war mit formalen Rechten nicht geholfen, solange eine Minderheit, und zwar eine der Zahl nach immer geringer werdende Minderheit, den materiellen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
501
Reichtum der Nation besaß, ihre Produktionsmittel nicht nur, auch ihre staatlichen Machtmittel, Heer, Justiz, Verwaltung in Wahrheit beherrschte. Die Gleichheit vor dem Gesetz war also so zu ergänzen, war überhaupt erst real zu machen durch Gleichheit der materiellen Lebensbedingungen, Gleichheit des Eigentums oder Abschaffung des Eigentums. Diese Revolution würde der vierte Stand, das Proletariat besorgen und dabei zuerst ebenso diktatorisch regieren müssen, wie der dritte auf dem Höhepunkt der französischen »bürgerlichen« Revolution regiert hatte, wieder im Zeichen eines vorübergehenden Notstandes, bis alle inneren und äußeren Widerstände gebrochen wären. Dann und dann erst würde für immer die friedliche und freie Identität der Gesellschaft mit sich selber sein, welche schon der bürgerliche Klassenstaat versprochen hatte, aber nicht schaffen konnte. Marx ging so weit, den anarchischen, den staatlosen Charakter einer solchen befreiten Gesellschaft vorauszusagen. Denn aller Staat war Herrschaft und auf »Ideologien« gründend, welche die herrschende Klasse in ihrem Interesse die Beherrschten lehrte. Entfielen die Klassen und der Klassenkampf, so entfiel der Staat. Aus der einen Revolution, welche den Sprung aus dem Reich des Geschichtlichen, Unvernünftigen in das Reich des Ungeschichtlichen, Vernünftigen vollzogen, wurde eine Kette von Revolutionen, welche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
501
die menschliche Geschichte ausmachte. Praktisch zwar wußte Marx eigentlich nur zwei zu nennen, die bürgerliche und die proletarische. Aber theoretisch waren »Revolutionen« nicht als bloße Palastrevolutionen oder res novae, sondern als soziologisch strukturierte und erkennbare Klassenrevolutionen zu verstehen, als die »Lokomotiven der Weltgeschichte«, und waren es immer gewesen. Sie würden aber nun aufhören es zu sein, und zwar bald. Der bürgerlichen Revolution würde die proletarische auf dem Fuße folgen. Die Herrschaft der bourgeoisen »Kapitalisten« war ephemer, obgleich nützlich im Sinne der großen Absichten der Weltgeschichte. Sie mochte das zentralisierende, nivellierende Werk der Könige noch weitertreiben, die materiellen Produktivkräfte noch weiter entbinden bis zu dem Punkt, an dem sie dem von ihr selbst Begonnenen auf eine gesellschaftlich nicht mehr erträgliche Weise hindernd im Weg stünde; dann würde sie samt allen ihren Einrichtungen und Wertungen hinweggefegt werden. Das Versprechen war von jenem der »bürgerlichen« Revolutionäre des späten 18. Jahrhunderts nicht so sehr in der Form wie inhaltlich verschieden. Auch hier sollte aus der richtig konstituierten Gesellschaft der innere wie der äußere Friede folgen; in einem Falle Friede und Freundschaft zwischen befreiten Nationen, im anderen das »Verwelken« der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
502
Staaten und der nationalen Unterschiede überhaupt. Beide Denkschulen waren antihistorisch; ein gewaltiger Strich sollte gezogen werden zwischen aller dunklen Vergangenheit und der hellen Zukunft. Jedoch ist von den Sozialisten oder Kommunisten zumal Karl Marxscher Observanz zu sagen, daß sie immerhin tauglichere Denkmittel zum Verständnis der Geschichte entwickelten als die Republikaner des 18. Jahrhunderts. Für Immanuel Kant war das Mittelalter eine »unbegreifliche Abirrung des menschlichen Geistes« gewesen. Für Marx war es das nicht, sondern eine nicht zu überspringende Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung ebenso wie der Absolutismus; so hat Marxens geistreichster Schüler, Leo Trotzkij, selbst die historische Leistung Iwans des Schrecklichen oder Peters des Großen zu würdigen vermocht. Beide Revolutionsbegriffe, der national-republikanische und der kommunistische, haben geschichtlich sehr stark gewirkt, nachdem sie einmal ausgeprägt waren. Sie haben nicht immer das gewirkt, was in ihrer Absicht lag, der kommunistische hat das nahezu gar nicht und konnte es nicht, weil er falsch war, das heißt den Sachen, denen er entsprechen sollte, nicht entsprach, so daß, wenn man ihn verwirklichen wollte, etwas ganz anderes dabei herauskommen mußte. Gewirkt hat er trotzdem, weil er jenen, die ihm dienten, Energien des Glaubens und des Siegeswillens Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
502
zuführte, die sie ohne ihn nicht in diesem Grad besessen hätten. – Beide wirken heute noch. Gewirkt haben sie auch auf die andere Seite, auf die traditionellen Mächte, insoweit sie noch herrschten oder teilweise herrschten. Ohne den Revolutionsbegriff hätte es keine konservative Staatsphilosophie gegeben. Mit dem nationalrepublikanischen Revolutionsbegriff haben gewisse alte Mächte schwierige und gewagte Kompromisse geschlossen, welche ihnen für den Moment, obgleich nicht auf lange Dauer, gut bekamen; so die savoyanische Dynastie, so die preußische. (Bismarck: »Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber selber machen als erleiden.«) Mit der kommunistischen Revolution war ein Kompromiß ausgeschlossen; es wäre denn der Versuch gewesen, den Propheten der Revolution durch soziale Reformen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Tatsächlich war unter den Regenten und den Großbesitzenden Europas die Angst vor der kommunistischen Revolution im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts tief, manchmal panikartig. Wir wissen heute, daß sie auf einem Mißverständnis beruhte. Der kommunistische Revolutionsbegriff stammte aus der Frühzeit der Industrie, projizierte die von ihr zunächst geschaffenen Arbeitsund Lebensbedingungen in die Zukunft und wurde von der allmählich zur Reife kommenden Industriegesellschaft widerlegt; ein Umstand, den die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
502
sozialrevolutionären Wortführer lange nicht begriffen und ihre schärfsten Gegner ebensowenig. Einer, der es früh begriff, war der ältere Zeitgenosse von Karl Marx, Alexis de Tocqueville. Er hielt, wie die Klassiker des republikanischen Gedankens, die demokratische Revolution für die letzte, aber richtete sich nicht, wie sie, an der Logik des Gedankens, sondern an der Beobachtung der demokratischen Wirklichkeit, in seinem Fall der amerikanischen aus. In einem historischen Augenblick, in welchem in Europa noch die meisten Demokratie mit Anarchie oder dauernder Revolution gleichsetzten, sah Tocqueville die enge Verwandtschaft demokratischer Gewohnheiten mit dem Geist materieller Produktivität und einem von ihr erzeugten, sich emsig steigernden Wohlstand. Beide zusammen würden im Sinn von dauernder Ordnung wirken, nicht im Sinn von Unordnung; würden ein Nachlassen der revolutionären Energien, des politischen Interesses, der utopischen Hoffnungen verursachen in dem Maß, in dem eine uralte Utopie, ungefähre Gleichheit aller und allgemeiner, mäßiger Wohlstand, verwirklicht würde. Die Menschen würden dann nicht freie, stolz ihr eigenes Leben lebende Persönlichkeiten sein, wie man früher geglaubt hatte; ein gewaltiger Druck sowohl des Staates wie einer gleichgesinnten, dichtverwobenen Gesellschaft würde auf ihnen liegen, so jedoch, daß sie sich seiner nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
503
einmal bewußt sein könnten. Veränderungen im. Bereiche der materiellen Lebensbedingungen würde es dann wohl noch geben, Revolutionen und revolutionäre Hoffnungen aber nicht mehr. Der Begriff der Revolution wäre ein ephemerer gewesen; im 18. Jahrhundert geboren, im 20. schon wieder erloschen. Tocqueville hat nicht sehr genau prophezeit und hat das auch gar nicht gewollt. Er hat die den gesellschaftlichen Prozeß ungeheuer beschleunigende Wirkung des Krieges nicht vorausgesehen; nicht die des amerikanischen Bürgerkrieges, nicht die der beiden europäischen »Weltkriege«. Er sah auch, wenigstens im einzelnen, die hindernde, verlangsamende, verwirrend durchkreuzende Wirkung nicht voraus, welche die traditionellen Mächte durch ihren Widerstand, ihre Rückzugsgefechte, ihre falschen Kompromisse in den gesellschaftlichen Prozeß eingehen ließen. Er ignorierte, als reiner Soziologe, den Kampf der Staaten und Nationen; nahezu den Kampf der Klassen, der in Europa und selbst in Amerika unbestreitbar zeitweise eine Realität war. Wenn man aber die amerikanisch-europäische Gesellschaft betrachtet, so wie sie heute ist, so kann auf die Frage, wer mehr recht behalten habe, Marx oder Tocqueville, die Antwort nicht zweifelhaft sein. Obgleich es mit der Vollendung der formalen Demokratie wie mit der Ausbreitung allgemeinen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
503
Wohlstandes in Europa bis tief ins 20. Jahrhundert hinein langsamer vor sich ging, als Tocqueville geschätzt hatte, war der Begriff der kommunistischen Revolution schon vor 1914 verfault und erledigt; die Haltung der revolutionären sozialistischen Parteien zu Beginn des »Weltkrieges« bewies es, wenn es noch eines Beweises bedurft hätte. Die mitteleuropäischen Revolutionen von 1918 waren eine Folge von Erschöpfung, eines militärischen, wirtschaftlichen und psychischen Zusammenbruchs. Im Gebiet der alten Habsburger Monarchie trugen sie überwiegend nationalen, nicht sozialen Akzent; in Deutschland wäre die Monarchie leicht zu erhalten gewesen, wenn die alten Autoritäten ein klein wenig Klugheit gezeigt hätten. Es ist vom Rande, von Rußland her, daß »die Revolution« wieder nach Europa hereinkam und von wo sie auch in Asien, in Afrika, selbst in Amerika ihren Einzug hielt. Eine in der Mitte des 19. Jahrhunderts und für diese in West-Europa erdachte Sozialdoktrin und Geschichtsdoktrin wurde hier von Menschen übernommen, die unter völlig anderen Bedingungen agierten. Daß sie an die Doktrin glaubten, gab ihnen den Fanatismus, ein in der modernen europäischen Geschichte beispielloses Überlegenheitsgefühl; aber den Inhalt der Doktrin – wie sie denn nun eigentlich verwirklicht werden sollte – bestimmten nun sie, insoweit er ihnen nicht von den Umständen bestimmt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
504
wurde. Marx hatte die revolutionäre Übernahme einer reifen Industrie durch die Gesellschaft vorausgesagt. Hier unternahm eine Gruppe intellektueller Terroristen den forcierten Aufbau einer Industrie, wo sie erst in den Anfängen war. Die »Diktatur des Proletariats« die es ohnehin nie und nirgends hätte geben können, wurde zur Diktatur einer terroristischen Wissenschaft, eines von der Spitze her eisern gelenkten Ordens, mit dem unpassenden Namen »Partei« genannt, der einem zurückgebliebenen, amorphen, in der Folge des Krieges in schierer Auflösung begriffenen Gemeinwesen neue Ordnung gab. Der Staat, der hatte verwelken sollen, erfuhr eine auch unter dem Absolutismus nie gekannte Erweiterung und Straffung seiner Macht. Der Krieg, den es im kommunistischen Zeitalter gar nicht mehr hätte geben sollen, wurde zum wesentlichsten Gegenstand der Arbeit der Gesellschaft, welcher der Staat kommandierte; wobei man zugeben muß, daß lange nur an einen defensiven Krieg gedacht wurde und das russische Reich, sinnloserweise in »Sowjetunion« umbenannt, ohne seine vor allem dem Militärischen dienende forcierte Industrialisierung die Probe des Zweiten Weltkrieges nicht bestanden hätte. Man mag über den ganzen gewaltigen Vorgang denken, wie man will; auch etwa über die Frage, ob die Industrialisierung Rußlands nicht auf dem »normalen«, nämlich freien oder »kapitalistischen«, vor Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
504
1914 schon begonnenen Wege nicht schneller und preiswerter zu haben gewesen wäre, spekulieren, wie man will. Eines ist sicher: Das Werk der russischen Kommunisten hat mit der europäischen sozialen Revolution, so wie sie in den 1840er Jahren konzipiert wurde, nichts zu tun; die Eroberung Chinas durch die Kommunisten chinesischer Spielart ebensowenig; darum auch nicht die Ausstrahlung beider kommunistischen Reiche auf andere Gegenden der Erde. Eine Komödie der Irrungen hat hier gewaltet. Sie glauben, die von der Geschichte längst überholten Ideen eines europäischen Doktors in die Tat umzusetzen; viele Europäer und Amerikaner glauben es auch oder haben es zeitweise geglaubt, als ob ihre so ganz anders definierte Sache in Rußland und China betrieben würde. Freilich aber haben beide Unternehmungen und jene, die direkt oder indirekt in ihrem Banne stehen, mit der europäischen Moderne zu tun. Es ist europäische Wissenschaft und der absolute Glaube an ihren Segen, ohne den Beisatz von Pessimismus und »Kulturkritik«, welche sie in Europa von jeher begleiteten. Es ist die Art und Weise nichteuropäischer Völker, sich von der europäisch-amerikanischen Vormacht zu befreien, sich modern und Europa ebenbürtig zu machen. Ob dies im Zeichen des »Marxismus« geschieht oder im Zeichen eines nationalen Sozialismus, der auf den Namen Marx Verzicht tut, dürfte bald keinen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
504
großen Unterschied mehr bedeuten. Man will, durch »Revolution«, die eigene geschichtliche Individualität wiederherstellen und zu neuen Triumphen führen. Man tut es, indem man sich von der eigenen Vergangenheit trennt und sich kopfüber in die Moderne stürzt, die man nicht geschaffen hat; Fabriken und mehr Fabriken, technologischer Unterricht und immer mehr davon, und so bald wie möglich die Atombombe. Menschen- und Bürgerrechte gelten wenig dabei. Schutz der Minderheiten gegenüber der Mehrheit, genauer gesagt den Machthabern, findet wenig Interesse. Von Rußland wurde das System der einen und einzigen Staatspartei übernommen, auch dort, wo sie nicht »kommunistisch« ist. Militärisch stark zu sein, in den Kämpfen um das Schicksal fremder Völker mit bewaffneter Hand zu intervenieren, das eigene Territorium zu erweitern, das eigene Prestige leuchten zu lassen, gegnerische Staaten zu »vernichten« bleibt eine Politik, die schärfer verfolgt wird, als Ludwig XIV. sie je verfolgte. – Wunderliches Schicksal der im 18. Jahrhundert geborenen europäischen-amerikanischen Revolution! In Europa haben wir in den 1920er und 1930er Jahren Bewegungen gehabt, die zunächst als KonterRevolutionen auftraten, insofern sie gegen die Demokratie, die Sozialdemokratie und die kommunistische Revolution gerichtet waren. Aber besonders der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
505
deutsche »Nationalsozialismus« hat trotzdem revolutionär gewirkt. Er hat, was von der alten Hierarchie noch blieb, gebrochen, die Klassen, im Kriege auch die Völker durcheinandergewirbelt. Mit der Zerstörung der alten Städte, die er heraufbeschwor, sind auch Gesinnungen und Stimmungen verlorengegangen, die noch in ihnen nisteten. Bei allem Irrsinn, zu dem er gewisse abergläubische Doktrinen trieb, ist ihm auch eine Neigung zum Positivismus eigen gewesen; die Ausschüttung der von der Industrie produzierten Güter auf alle Klassen hat er so lange gefördert, bis sein Krieg ihm das Konzept verdarb. Diese Konter-Revolution ist mit revolutionären Elementen vermischt gewesen; tatsächlich hat auch sie in Deutschland und in dem während einiger Jahre von Deutschland unterworfenem Europa den Boden für die sozialen Veränderungen vorbereitet, die seit etwa 1950 deutlich zu werden begannen. Eine ähnliche Wirkung hatte auf die intakt gebliebenen Gegner des nationalsozialistischen Deutschland, auf England und die Vereinigten Staaten, der Krieg selber und die von ihm erzwungene »Vollbeschäftigung«. Seither war in Europa-Amerika keine Revolution mehr im klassischen Sinn und ist der Begriff der Revolution selber in der Wirklichkeit verlorengegangen. Aber Veränderung der Gesellschaft war; so tiefgreifend in knapp zwei Jahrzehnten, wie keine theoretisch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
505
erdachte Revolution sie je hat hervorbringen können. Sie hat den Unterschied der Gesellschaftsklassen nicht eliminiert, aber stumpf gemacht und der Industriearbeiterschaft eine Verhandlungsposition gegeben, die jener der »Kapitalisten« ebenbürtig ist; sie lockt Millionen von Menschen von einem Land Europas ins andere, von anderen Kontinenten nach Europa im Zeichen einer historisch beispiellosen Freizügigkeit; sie läßt in den von ihr erfaßten Regionen die Abschaffung der Armut zum erstenmal als möglich erscheinen und hat sie für die große Mehrzahl zum erstenmal erreicht. Amerika ist nicht den Weg Europas gegangen, wie Marx wollte. Europa ist den Weg Amerikas gegangen, wie Tocqueville vorausgesagt hatte. Die formale Demokratie vollendet sich in der wirklichen Macht aller organisierten Interessengruppen; die Gleichheit vor dem Gesetz sich in der Gleichheit der Konsumgüter und der geistigen Kommunikationsmedien, in der Einebnung und Ausbreitung von Wissen und Bildung. Sozialversicherungen aller Art befreien von Existenzangst in einem Maße, das an uralte Utopien herankommt. Planen im Großen wird unvermeidlicherweise auch von den Regierungen betrieben, die sich gedanklich noch dem Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts verhaftet glauben. Die Wirklichkeit ist mit Schlacken behaftet, welche die Idee nicht kennt, und Tocquevilles Frage, wie in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
506
der vollendeten Demokratie noch persönliche Freiheit erhalten werden könne, bleibt so aktuell wie vor hundertfünfundzwanzig Jahren. Aber eine solche »Revolution« war noch nie; und neben den Schlacken wird man gut daran tun, die Segnungen, welche sie bringt und welche trotz allem dem vor hundert und zweihundert Jahren Erträumten ähneln, nicht zu vergessen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
506
Amerika Das größte politische Werk der europäischen Moderne, der europäischen Emanzipation und Revolution sind die Vereinigten Staaten. Es ist historisch beispiellos. Für andere angelsächsische, französische, holländische Siedlungen in Übersee, für Australien, Südafrika, Quebec könnte man, bei verringerter Dimension, Parallelen in der klassischen Antike finden. Die Doppelung einer kontinentalen Zivilisation auf einem anderen, neuen Kontinent, die Entstehung einer weltbeherrschenden Macht aus den bescheidensten Anfängen binnen zweihundert Jahren, binnen dreihundert aus dem Nichts, ist nur einmal vorgekommen. Von Europas Niedergang ist viel die Rede gewesen. Aber Amerika ist eine Tochter und Spiegelung Europas, eine Konzentration Europas, ein Teil Europas. Und es ist wissenschaftlich, wirtschaftlich und militärisch das stärkste Gemeinwesen der Erde. Die Römer standen im Bann des hellenistischen Kulturkreises, aber sie waren keine Griechen. Die Amerikaner sind Europäer und sonst nichts; europäischer also als die in Europa Gebliebenen. Diese existieren in unterschiedenen Nationalitäten. Aber jeder Brite, jeder Deutsche, Ire, später Italiener, Pole, Russe, der nach Amerika ging, gab seine Sondernationalität auf. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
506
Der essentiell europäische Charakter Amerikas wurde ein Jahrhundert lang verdeckt durch zeitbedingte Gegensätze, durch Mißverständnisse. Der Europäer, der nach Amerika auswanderte, tat es im Protest gegen seine Umwelt: Herrschaftsverhältnisse, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen. Folglich glaubte er wohl, Europa für immer den Rücken zu kehren, antieuropäisch zu sein. In Wirklichkeit war er nur gegen den König oder gegen irgendeine innereuropäische Fremdherrschaft, gegen den Militärdienst, gegen die Armut. Eine auf tausendjähriger Vorgeschichte beruhende, europäische Zivilisation lebte in ihm fort, und er nahm sie mit hinüber. Drüben, bei langem, noch heute, aber zusehends schwächerem Fortwirken der ursprünglichen nationalen Unterschiede, entstand allmählich eine Mischnation, die doch nichts ist als eine europäische unter anderen. Man würde es nie bezweifeln, hätte der Vorgang sich in räumlicher Nähe zu Europa und in engeren Dimensionen abgespielt. Schließlich stellen alle europäischen Völker, so wie sie geworden sind, Mischnationen dar; zum Beispiel die Engländer, zum Beispiel die Sizilianer. Hier war ein anderer Kontinent, dem schieren Raum nach größer als Europa, und sehr weit weg. Seine Besiedler wurden bald mächtig stolz; sie entwickelten einen Nationalismus, der sich nicht, wie der polnische, gegen ein paar europäische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
507
Nationen, sondern gegen Europa als Ganzes zu richten glaubte. In Wirklichkeit fluchten sie nicht dem Mutterkontinent; sie fluchten nur dem alten vorrevolutionären Europa, das ihre eigenen, so ausgezeichneten Einrichtungen noch nicht hatte nachahmen dürfen oder wollen. Und immer blieb ihre Abneigung mit Sympathie, mit verhehlter Bewunderung, mit etwas Heimweh gemischt. Wurden sie wohlhabend, so kehrten sie gern zurück; manchmal für immer – dagegen mußten eigene Gesetze gemacht werden –, öfter zu Besuchen, die gerade dem Alten, Verrotteten, aber Schönen und Gemütlichen galten, dem einen, was man selber nicht besaß. Offiziell glaubte die Union ein Jahrhundert lang, von Europa total getrennt und unterschieden zu sein; verachtungsvoll gleichgültig gegenüber den europäischen Wirren; auf dem eigenen Kontinent Herr in Unabhängigkeit und Sicherheit; durchaus gut, durchaus unschuldig; und so, im Zeichen der »Doktrin des unsterblichen Monroe«, sollte es immer bleiben. Was ein Irrtum war. Nie, auch nicht auf dem Höhepunkt des »Isolationismus« war Amerika so getrennt von Europa, wie man sich einredete, und jeder, der es wissen wollte, konnte es wissen. Ohne den immer wachsenden Strom der Einwanderer hätte der neue Kontinent nicht durchdrungen und zivilisiert, der Mittlere und Ferne Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
507
Westen den östlichen Randstaaten nicht angeschlossen werden können. Starke Sympathien hörten nicht auf, wenn nicht »Europa«, so doch gewissen Sachen in Europa zu gelten: der Sache der Griechen 1820, der Sache der Deutschen und der Ungarn 1848, der Sache der Italiener 1859. Welche geistige Bewegung immer durch Europa ging, durch Amerika ging sie auch; zum Beispiel der Nationalismus. Übrigens gab es die Einwanderung nicht bloß europäischer Armut, sondern auch europäischen Reichtums. Die Union blieb ein Schuldnerstaat bis 1914, und noch ein paar Jahrzehnte früher war die Beherrschung des Landes durch europäisches Kapital ein beliebter Gegenstand nationaler Klage. Das europäische Kapital war im Osten konzentriert und mit der Großfinanz des Ostens verbündet. Die europäisch-amerikanische Dialektik setzte so in einer inneramerikanischen ost-westlichen sich fort. Die isolierte Selbstherrlichkeit beruhte nicht so ganz auf der eigenen Tugend, wie man glaubte, und beruhte auch nicht nur auf räumlichen Bedingungen, so günstig sie lagen. Sie beruhte zu einem guten Teil auf den politischen Verhältnissen in Europa selber; auf dem europäischen Gleichgewicht, welches nun Amerika schützte, wie es ehedem die Republik Genf oder das Herzogtum Savoyen geschützt hatte; auf der seebeherrschenden Stellung Englands, welche die Alte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
507
und die Neue Welt zugleich verband und trennte. Die Amerikaner haben daher große Stücke ihres Kontinents, die ihnen zunächst nicht gehörten, durch Kauf oder Raubkrieg überaus leicht erwerben können, das französische Louisiana, das spanische Florida, das mexikanische Texas und Kalifornien, das russische Alaska; nur das englische Kanada nicht. Mit diesem haben sie sich trotz allem Bramarbasieren arrangiert in Abrüstungsverträgen und in immer erneuten, vernünftigen Grenzfestsetzungen, in dem Maße, in dem beide Gemeinwesen nach Westen vorrückten. Erstarkt durch Menschenzustrom und Kapitalzustrom, durch inneren Krieg und innere Leistung, bewußter, stolzer und gedrängter existierend als zuvor, hat die Union den Einfluß des europäischen Spät-Imperialismus sowenig vermieden wie andere europäische Einflüsse. Daher der Krieg mit Spanien über Kuba; die Erwerbung von »Kolonien« (Hawaii, Puerto Rico, die Philippinen); das Ausgreifen auf Mittelamerika. Daher auch die erste große Wiederbegegnung oder Verschmelzung mit Europa, die freilich nun ihrem geglaubten Zweck nach anti-imperialistisch war, die Intervention von 1917. Uralte amerikanische Missions- und Erlösungsmotive – ihrerseits europäischen Ursprungs – flossen hier mit neuesten, teils der Meinung nach rational-machtpolitischen, teils irrationalen des Stolzes und Geltungswillen zusammen. Ein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
508
Vorspiel zu Späterem. Aber es wurde abgebrochen, so selbstherrlich, wie es begonnen worden war. Der »Völkerbund«, von den Amerikanern gegründet, mußte sich ohne sie behelfen. Nur-amerikanische Tugend und »Ausgenommenheit« triumphierten noch einmal in dem zum Weltgläubiger und wirtschaftlich herrschend gewordenen Lande. Um eine Wiederholung des angeblichen großen Irrtums der Intervention unmöglich zu machen, wurden die wunderlichsten »Neutralitätsgesetze« ausgedacht: Eine Art von Zwangsjacke, die man sich selbst anlegte, für den Fall, daß man wieder mondsüchtig würde. Die Zwangsjacke war aus Spinnweben gemacht. Der im Anfang und Grund isolationistische Präsident, Franklin Roosevelt, wiederholte das außenpolitische Abenteuer seines Lehrers und Vorgängers Wilson mit ganz anderer Energie und Konsequenz. Ein Zeichen dafür, daß die Intervention und Verschmelzung mit Europa kein Irrtum, sondern historische Notwendigkeit gewesen war. Das unreife Gemeinwesen hatte zu selbsterzieherischen Zwecken sich isoliert glauben können. Das zur Volljährigkeit und Vollmacht gekommene mußte um das Schicksal seiner eigenen Zivilisation, der europäischen, die zugleich das stärkste Kräftezentrum auf Erden war, sich aktiv kümmern. Seither sind amerikanische Politik und amerikanisches Schicksal mit europäischer Politik, europäischem Schicksal auf Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
508
Gedeih und Verderb eins geworden. Die Vereinigung der beiden, aus der gleichen Quelle stammenden, aber zeitweise getrennt fließenden Ströme, ist eben in dem Moment erfolgt, in dem alle Völker und Staaten der Erde bewußt miteinander und gegeneinander zu wirken begannen, in dem die Geschichte von Zivilisation zum erstenmal zur eigentlichen Weltgeschichte wurde. Dieser Prozeß ist durch die Vereinigung Amerikas und Europas so sehr gefördert worden, wie umgekehrt sie durch ihn. Damit wurde auf eine ungefähre, überquere und den Erfüllenden selber tief verwirrende Weise ein Versprechen erfüllt, das die Amerikaner der Menschheit früh verkündet hatten. Denn ihrem Wunsch, das verheißene Zion auf eigenem Boden, und nur auf ihm zu errichten und von der Welt allein gelassen zu werden, widersprach schon im 19. Jahrhundert ein anderer: die Welt sich gleich zu machen, ihre Einrichtungen, ihre »Lebensart« erlösend oder mindestens beispielgebend zu verbreiten. Er richtete sich vor allem auf das europäische Mutterland, aber nicht bloß auf es; auch auf Südamerika, zumal dieser Kontinent kraft eines wunderlichen Zufalls den gleichen Namen trug und in der gleichen »Hemisphäre« lag; auch auf China; vage selbst auf Afrika. Revolution und Demokratie in Amerika waren im Geiste und in ihrer Wirklichkeit anders als in Frankreich, aber mit einem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
508
Drang zur Mission waren auch sie verbunden. Schon die in der »Unabhängigkeitserklärung« proklamierten Wahrheiten waren self-evident und mußten also überall gelten; solange sie es nicht taten, war die Welt nicht so, wie sie sein sollte. Es ist nichts weniger als ein Zufall, daß der amerikanische Waffensieg von 1918 die Gründung eines halben Dutzends neuer demokratischer Nationalstaaten im Gefolge hatte, daß damals das Deutsche Reich sich beeilte, sich demokratische Institutionen zu schaffen, um speziell diesem Sieger gefällig zu sein, daß England und Frankreich schon jetzt nicht mehr wagen konnten, die den Deutschen abgenommenen afrikanischen Kolonien sich als direkten Besitz anzueignen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Deutschland demokratische Einrichtungen auf amerikanischen Befehl genau in der Weise, wie es Amerika vorschrieb; daß sie, ungefähr, wohl auch den deutschen Wünschen entsprachen, tut hier nichts zur Sache. Im folgenden Jahrzehnt haben die Vereinigten Staaten die freiwillige Preisgabe, oder, wo man sie nicht zugestehen wollte, den Zusammenbruch der europäischen Imperien in Übersee entscheidend gefördert und beschleunigt. Es war nach ihrem uralten Sinn, daß keine Kolonien mehr sein sollten. Nutzen und Nachteil, Vermeidlichkeit oder Unvermeidlichkeit dieser Revolution sollen hier nicht betrachtet werden. Genüge es Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
509
zu sagen, daß sie dem in Amerika herrschenden Geist entsprach. Jedoch mag ein Mißverständnis immerhin der Rede wert sein. Die Amerikaner waren für Demokratie überall auf Erden, weil sie selber von alters her eine hatten und gut mit ihr gefahren waren. Sie waren gegen Kolonien, weil sie ihr eigenes Gemeinwesen aus einem Freiheitskampf gegen fremde Herrscher hervorgegangen glaubten. Aber »Kolonien« im Sinn des europäischen Kolonialismus in Afrika waren die europäischen Niederlassungen in Nordamerika ja nie gewesen. Sie waren das genaue Gegenteil davon. Und gegen die Opfer dieses Kolonialismus, die eingeborene Bevölkerung Nordamerikas, haben die amerikanischen Europäer sich bekanntlich nicht sehr edelmütig verhalten. Der Widerspruch bedeutet wenig. Es gibt tiefere im Wirken der amerikanischen Demokratie, im Fortwirken der amerikanischen Revolution. Daß Revolutionen, oder ihre Träger, nach der Erreichung ihrer Zwecke dazu neigen, konservativ zu werden, wird durch Erfahrungen auch anderswo erhärtet. Es gilt für die Haltung der französischen Bourgeoisie, der französischen Bauern im 19. Jahrhundert; es mag sogar für die Bolschewisten gelten. Man will das Errungene erhalten, das nun die rechte Ordnung ist und jene, die zur Macht gekommen sind, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
509
begünstigt. Auch die amerikanische Revolution wurde konservativ; in vielen Seelen, in ganzen Klassen der Gesellschaft fror sie ein. Ein berühmtes amerikanisches Gemälde zeigt Mitglieder des hocharistokratischen Vereins, weibliche Nachkommen der Männer, welche die Revolution gemacht hatten: Daughters of the Revolution. Es sind einige zart-verknöcherte, schmuckbehängte, offenbar erzreaktionäre alte Damen, welche Tee trinken; im Hintergrund sieht man General Washington beim Überschreiten des Delaware in einer Wintersturmnacht. Dahin, will der Künstler zeigen, ist es mit der Revolution gekommen. Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 proklamierte des Menschen unverlierbare Rechte, Leben, Freiheit, freies Ringen um das eigene Glück. Die Verfassung der Union begründete ein kunstvoll ausbalanciertes, Macht, die zum Schutz der Ordnung, der Geldwährung, des Handels, der erworbenen Vermögen allerdings sein sollte, streng befristendes, ängstlich beschränkendes Gemeinwesen. Weder die Grundprinzipien noch die Verfassung wußten etwas von den Aufgaben des modernen Staates als des Hüters und Lenkers der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Beide wurden zu nationalen Heiligtümern: Wehe dem, der die Weisheit der »gründenden Väter« antastete, die eine wahre Philosophie (des 18. Jahrhunderts), die älteste geschriebene Verfassung der Welt. Die Prinzipien Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
510
waren die eines radikalen Individualismus: Jeder für sich, Gott für uns alle. Das Leitmotiv der Verfassung war Mißtrauen gegenüber der Macht, selbst der Macht, die man nun organisierte und die auf dem Volke selber, sowohl der gesamten Nation wie den Völkern der Einzelstaaten beruhte. Auch Volksvertreter konnten, nach Rousseau, despotisch werden. Man ließ sie zu, weil man bei den Dimensionen der großen Republik nicht anders konnte, aber man dekretierte die für die dreizehn dünnbesiedelten Kolonien des Ostrandes allenfalls mögliche, für ein Reich von hundertachtzig Millionen Seelen aber bis zum Absurden ungeschickte Neuwahl des Repräsentantenhauses in jedem zweiten Jahr. Sie, ebenso wie die auf vier Jahre befristete Amtszeit des Präsidenten behindern heute den Staat bei der Erfüllung seiner Aufgaben auf das allerlästigste, aber an beiden Einrichtungen wird man nichts ändern. Dem Vorsatz nach wollte man überhaupt nichts ändern, nachdem die Dinge einmal in die gute Ordnung gebracht worden waren. Es gibt keine andere Nation, die so gläubig auf große Gestalten der Vorzeit, die, im Politischen, so auf alte heilige Texte schwört wie die amerikanische. Oder doch: Eine gibt es, die zu ihren heiligen Revolutionstexten sich ähnlich verhält. Dieser überaus starke Sinn für die zeitlose Identität der Nation im Bereich des Staatsrechtes, des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
510
politischen Glaubens, der Philosophie überhaupt, ist um so erstaunlicher, als er von einem Gemeinwesen geprägt wurde, dessen reale Verwandlung in den weniger als zweihundert Jahren seiner Existenz jeder Beschreibung spottet: die Vermehrung seiner Bürger um das Fünfzigfache, der ihnen zur Verfügung stehenden Energien um das Millionenfache oder Milliardenfache. Der gläubige Kult, den die Amerikaner mit ihrer Verfassung trieben, hat diesen Wandel vom Abgleiten ins Chaotische beschützt, dem er mitunter nahe genug kam. Andererseits haben jene, die offiziellen oder heimlich-korrupten Zugang zur Handhabung der Verfassung hatten, wieder und wieder die am dringendsten notwendigen Reformen zu verhindern gewußt. Noch ein großer Teil von Präsident Franklin Roosevelts Sozialprogramm wurde auf diese Weise verboten: Die Verfassung sehe zwar vor, daß die Union »den Handel zwischen den Staaten regele«, aber von wirtschaftlicher Gesetzgebung durch die Union stehe da nichts... Mittel und Wege, dem Staat zu geben, was er brauchte, um die Gesellschaft vor dem Ärgsten zu schützen, sind auf die Dauer doch gefunden worden; nicht so sehr durch formale Verfassungszusätze, wie durch Interpretation und schiere persönliche Staatskunst, die monströsen Anstrengungen einiger großer Präsidenten, die sich im Dienst des Vaterlandes verbrauchten. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
510
Konservativ sein hieß in Europa: die Autorität, die alte oder auch die nicht alte, möglichst stark zu wollen, das Individuum möglichst gebunden, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche möglichst dicht und positiv. In Amerika hieß es das genaue Gegenteil davon. In unseren Tagen haben wir das Auftreten eines Kandidaten für die Präsidentschaft erlebt, der seinen Konservativismus recht eigentlich ins Anarchische trieb: Er forderte die Abschaffung der Einkommensteuer, weil sie einen unerträglichen Eingriff in die Rechte der frei erwerbenden Persönlichkeit darstelle. Kein anderes europäisches Land wird so sehr von einem einzigen öffentlichen Geist beherrscht wie Europa-in-Amerika; aber dies Denken hat verschiedene Ursprünge und hat verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten bewiesen. Der eine Ursprung ist puritanisch, calvinistisch. Es ist eine Tradition der Intoleranz, des Mißtrauens gegenüber dem Bösen im Menschen, des Mißtrauens darum auch gegenüber der Macht, die gleichwohl sein muß, eben weil so viele Menschen böse sind. Eine streng bindende, nun wirklich konservative Religiosität war damit verbunden; noch in unserem Jahrhundert ist die Verbreitung der Lehre Darwins an gewissen amerikanischen Hochschulen verboten gewesen. Der andere Ursprung liegt bei den »Dissenters«, den freien, toleranten, im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
511
Politischen der Demokratie zuneigenden Sekten, welche früh sich gegen die Puritaner wandten, gegen sie sogar zur Gründung von neuen »Kolonien« schritten. Sie bereiteten den Boden für den Geist der Aufklärung, den Geist Voltaires, der im 18. Jahrhundert herüberkam und mit dem sie, nicht wohl der strenge Calvinismus, sich so oder so versöhnen konnten. Hier war nun Glaube an den Menschen, an die Auserwähltheit aller, die auserwählt sein wollten, die Einschätzung des Bösen als Mißverständnisses, zu bannen durch Erziehung und Wissenschaft. Von da ging der Weg zum Glauben an die Auserwähltheit des einen glücklichen und reichen Landes, glücklich und reich, weil es unter den rechten Gesetzen lebte. Die gewaltige Tatsache des neuen Kontinents selber kam dazu; des Landes ohne Grenzen, wo kein Rang und Titel halfen, in dem jeder schaffen mußte, jeder, der das Zeug dazu hatte, es zu Wohlstand bringen konnte, und die wildeste Natur zu zivilisieren war. Die These, daß hier die wahre Erklärung für den Charakter der amerikanischen Demokratie liege, nicht in europäischen Ideen, nicht einmal in den Absichten der »gründenden Väter«, ist von amerikanischen Historikern vertreten worden, und sie ist wahr, wenn man sie als einen Beitrag zur Erklärung versteht; anders nicht. Das Land, die Menschentypen, die das Land anzog und prägte, indem es von ihnen aufgebaut Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
511
wurde, die Ideen, welche die Menschen mitbrachten oder vorfanden, die historische Zeit, in welcher das Land aufgebaut wurde, das 18. und 19. Jahrhundert; es gehört alles zusammen. Es floß zusammen zu dem amerikanischen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts: Keine Revolution mehr, die war nun gewesen, aber »Größeres und Besseres« mit jedem Tag, Verlaß auf die Verfassung, Verlaß auf den Menschen, seinen Hilfstrieb wie seinen Erwerbstrieb, Glauben an die Auserwähltheit dieses Landes, verbunden mit der Hoffnung, die anderen möchten es ihm einmal gleichtun; ein wenig verdünnte, das ganze Leben leicht, aber nicht allzu verbindlich durchdringende Religion mit darein. Sie wurde in der Tat dünn im 20. Jahrhundert, mindestens in ihren zahllosen protestantischen Spielarten. Die ungeheure Ausbreitung der katholischen Kirche in dem Lande, das im Zeichen von No popery gegründet worden war, ist eine andere Sache, hier nicht zu betrachten. Hatte Amerika in unserer Zeit eine Philosophie, die dem Gemeinwesen entsprach und, im Gegensatz zu nur akademischen oder einsamen Bestrebungen, im Betrieb der Erzieher wie der Politiker wirksam war – die »Wirtschaft« kommt ohne Philosophie aus –, so war es der »Pragmatismus«. Er unterscheidet sich vom europäischen »Positivismus« durch das Gewicht, das er auf die Aktion, die menschliche Tätigkeit und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
511
ihren Erfolg legt. Wahrheit ist Erfolg, die Wahrheit dessen, »was wirkt«. Sie soll nicht blind geglaubt, sie darf nicht als ein totes Stück übernommen, sie muß erfahren werden, die Erfahrung hilfreich sein. In diesem Sinn, konzedierte der einflußreiche Meister des Pragmatismus, John Dewey, mag auch Religion wahr sein, wenn nämlich die religiöse Gemeinde nicht autoritär gebunden ist und etwas ihren Mitgliedern Nützliches treibt. Dogma trennt; Wahrheit vereint jene, die im gemeinsamen Forschen – cooperative inquiry – an ihr teilhaben. Es gilt, alle falschen Trennungen, alle Dualismen der Vergangenheit zu überwinden: Regierende und Regierte, Politik und Nicht-Politik, Arbeit und Muße, arm und reich, Kindsein, Erwachsensein, Greissein, Wissenschaft und Leben, Naturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft, humanistische Bildung und praktische Bildung, Geschichte und Gegenwart, Idee und Wirklichkeit, Böse und Gut. Alle solche Gegensätze stammen aus vorwissenschaftlicher Zeit und werden mitgeschleppt von einer Gesellschaft, die sie nicht mehr brauchen kann, für die sie also nicht mehr wahr sind; wie auch ein atavistischer Macht-Trieb noch in Betrieben haust, die ihrem wahren Wesen nach nichts weniger als atavistisch sind, zum Beispiel in der Industrie. Diese, die rationale Anwendung von Wissenschaft für Massenproduktion und Steigerung des Massenwohlstandes hat mit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
512
Klassendünkel, Machtgelüsten, konservativen Ängsten nichts zu tun; keine dogmatische Revolution, keine Enteignung der Kapitalisten ist notwendig, um das, was ihr Wesen ausmacht, zum vollen Triumph zu führen, nur wieder nichts anderes als demokratischfreie Erziehung und Selbsterziehung in allen Sphären, auf allen Stufen des Lebens. John Dewey war des destruktiven Elementes in seinem Denken sich wohl bewußt. »Gestehen wir«, so schreibt er, »dies den Konservativen zu: Haben wir einmal zu denken angefangen, so ist über das Ende nichts gewiß, außer, daß so manche alte Glaubensgegenstände und Werte und Einrichtungen verurteilt sind. Jeder Denker bringt einen Teil der existierenden Ordnung in Gefahr, wie stabil sie auch scheinen möge, und niemand kann mit Bestimmtheit sagen, was an ihre Stelle treten wird.« Jedoch traute Dewey dem guten Genius des Menschen zu, ohne die alten, dualistischen Wert-Überlieferungen mit der Welt und sich selber auszukommen, besser als ehedem; und man muß zugeben, daß zu Letzterem nicht allzuviel gehören würde. Im Zeichen des Pragmatismus steht, trotz einiger kritischer Reaktionen gegen seine Übertreibungen, das amerikanische Leben auch heute noch. In seinem Zeichen schwindet das Studium der alten Sprachen dahin, wird der Geschichtsunterricht ersetzt durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
512
»Sozialwissenschaft«. Universitätsprofessoren treffen sich periodisch zu Kongressen, deren Aufgabe es ist, Wissenschaft, Philosophie und Religion in ihrem Verhältnis zur »demokratischen Lebensart« – way of life – zu kritisieren oder zu integrieren. Das wohl-angepaßte Individuum, seine Selbstverwirklichung und freie Entfaltung in der Gemeinschaft, harmonische Gruppen, Friede zwischen den Gruppen und zwischen den Nationen, Befreiung von Furcht und Aggressivität und Bosheit, gemeinsame Meisterung des modernen Lebens, der Technik, der neuen Kommunikationsinstrumente in Frieden und furchtloser Freude – das ist das Ziel beinahe aller amerikanischer Soziologie. Hier gibt es kein Tabu, hier gilt kein Absolutum – außer Demokratie und freier Wissenschaft. Was soll Wert, was Wahrheit haben, wenn es nicht beiträgt zum reibungslosen Zusammenleben der Individuen und Gruppen, wenn es nicht Energie freilegt und Energie spart? Eine Gesellschaft muß die ihr angemessenen Werte selber entwickeln; Wissenschaft kann ihr nur im Bloßlegen, im Bewußtmachen dieser zeit-entsprechenden Werte behilflich sein. Es ist das alte amerikanische Credo, seines calvinistischen Beisatzes nun völlig verlustig, in den Ausdrucksformen unserer Zeit; das moderne amerikanische Credo. Es war immer modern, der Anlage nach, und seit dem 18. Jahrhundert ist nichts radikal Neues Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
513
dazugekommen. Hätte nicht Voltaire seine Freude daran gehabt? Voltaire, der die ererbten Dogmatismen und Dualismen bekämpfte, die Zänkereien zwischen den Konfessionen und den Königen verspottete, über die unnütze, dogmatisch-spekulative Wissenschaft, die Metaphysico-theologo-cosmolo-nigologie des Dr. Pangloss seinen Hohn ausgoß, ganz wie John Dewey? Voltaire und der ehrwürdigste der »gründenden Väter«, Benjamin Franklin, sich in Paris begrüßend und umarmend – man könnte keine andere Szene nennen, welche den Beginn oder ersten Triumph der europäischen Moderne eindrucksvoll-persönlicher zur Darstellung brächte. Man muß hinzufügen, daß die Amerikaner in unseren Tagen die wissenschaftlich-menschenfreundlichen Ermunterungen des Pragmatismus nicht immer befolgt haben; bei sich zu Hause nicht und noch weniger in ihrer Außenpolitik. Denn Politiker, und die Wähler, um deren Gunst sie werben müssen, sind simplere Leute als die Philosophen, deren Bemühungen, allen atavistischen Haß im Lande und in der Welt aufklärend zu beseitigen, das erhoffte Resultat bisher nicht brachten. Man dürfte nicht sagen: gar keine Resultate brachten. Ein Unternehmen wie der »Marshall-Plan« war Pragmatismus in bestem Stil, von den Politikern beschlossen, von den Wählern wenigstens geduldet und bezahlt. Die »Entwicklungshilfe«, von anderen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
513
Staaten aufgegriffen, aber in Amerika zuerst konzipiert und realisiert, ist es, oder wäre es, wäre ihre Durchführung so wissenschaftlich zweckentsprechend wie der ursprüngliche Gedanke. Wo geschenkte »Entwicklungsgelder« von afrikanischen Diktatoren verschleudert werden, um in Ländern, welche sie nichts angehen, Krieg zu führen oder den Untergang eines Nachbarn vorzubereiten, da wird pragmatischer guter Geist betrogen auf eine Weise, die er sich mit dem von ihm selber entwickelten Kategorien nicht erklären kann. Der Theologe Reinhold Niebuhr hat in solchem Zusammenhang von der »Ironie der amerikanischen Geschichte« gesprochen. Der »Kalte Krieg«, so wie er auf seinem Höhepunkt geführt wurde, entsprach der regierenden amerikanischen Philosophie nicht. Es war nicht Pragmatismus, im eigenen Lande dissentierende Stimmen zu unterdrücken, dem von einem Dogma besessenen Gegner ein anderes Dogma entgegenzusetzen und, ungefähr so wie er, wenn auch mit anderen Mitteln, es überall auf Erden zum Siege führen zu wollen. Pragmatismus hätte gefragt, ob der Gegner, abgesehen davon, daß er von einem falschen Dogma besessen war, nicht in der Praxis für gewisse Völker und Regionen brauchbare Methoden entwickelt habe; ob die Verbindung von Demokratie und Free Enterprise, die in Amerika eine, man muß wohl sagen, dogmatische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
513
Verehrung genoß, überall gleichmäßig taugte. – Solche Fragen sind später wohl auch selbstkritisch gestellt worden, und man hat von den Prinzipien, die man überall verwirklicht sehen wollte, einige Abstriche gemacht. Mittlerweile sind die Vereinigten Staaten seit den Zeiten des Zweiten Weltkriegs, der endgültig ihr und aller Völker letzter Krieg hatte sein sollen, in eine Reihe überaus blutiger Machtkämpfe verwickelt worden. Dabei ging es immer um die Freiheit der Völker von der Herrschaft »kommunistischer Aggressoren« so in Korea, so in Vietnam. Aber jedermann wußte, daß es auch um etwas anderes ging: um die Erhaltung des Mächtegleichgewichts auf Erden; um das Auftrumpfen eigener Macht in gefährlicher Umwelt, um die Erhaltung von Prestige. Man mag dies Hineingerissenwerden eines im Ursprung friedlichen und wohlwollenden Gemeinwesens in schmutzigblutige Händel, die noch immer das sind, was sie in vormoderner Zeit waren, tragisch nennen. Niebuhr nennt es ironisch. Er meint: Die Amerikaner schrieben lange Zeit ihrer Auserwähltheit zu, was nur die Folge einer günstigen, undauerhaften Ausgangsposition war. Sie vertrauten der Expansion der Wirtschaft als Allheilmittel, ohne die Verursachung neuer Widerwärtigkeiten durch eben dies Allheilmittel zu gewärtigen. Sie glaubten an endgültige Erfüllungen, die es auf Erden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
514
nicht gibt. Sie waren auf Enttäuschungen, Kummer, Gefahren nicht vorbereitet. Daher ihre Ungeduld mit dem widerspenstigen Weltlauf, die ihre eigene Lage nur gefährlicher macht; ihr Gebrauch auch der grausamsten Kriegsmittel in der Überzeugung, das Mittel sei unvermeidlich gut, wenn der Gebrauchende es ist. Völker, die sich für unschuldig halten, schreibt Niebuhr, sind unleidlich. Ganz so weit, wie hier christlich erleuchtete amerikanische Selbstkritik geht, kann der Schreiber dieser Zeilen nicht gehen. Die Amerikaner haben ihr revolutionäres Versprechen nicht ganz erfüllt; weder bei sich zu Hause, wo neben leichtem Glück und bequemer Freundlichkeit viel Leid, Haß, Brutalität und gierige Korruption nisten; nicht außerhalb ihrer Grenze, wo ihr Staat – und zwar in »modernen« Dimensionen – Verbrechen beging, wie alle Staaten sie noch immer begingen, die aber hier mit einem besonderen Tugendstolz begangen wurden. Dennoch haben die Amerikaner ihr revolutionäres Versprechen zu einem guten Teil erfüllt, zu einem besseren als die Franzosen von 1791 oder die russischen Kommunisten. Die Entstehung der Weltmacht Amerika selber gehört dazu. Der allgemeine Wohlstand in Amerika gehört dazu; und nun der Wohlstand in Europa, der, sei es durch Nachahmung, sei es kraft einer parallelen Entwicklung, erst dann möglich wurde, als man dort im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
514
Politischen und Sozialen den früher von den Amerikanern eingeschlagenen Weg ging. Der heute von den Amerikanern am stärksten getragene Fortschritt der abendländischen, planetar gewordenen Wissenschaft gehört dazu. Der im 18. Jahrhundert zuerst verkündete, nun auch dem Blödesten offenbar gewordene »Abschied von der bisherigen Geschichte« gehört dazu; die Veränderung des Lebens, die so intensiv und explosiv wurde, daß alle Vergangenheit, aus der wir gleichwohl kommen, uns fremd und blaß erscheint. Der gesicherte Weltfriede gehört nicht dazu, denn ihn haben wir nicht. Solche unleugbar spezifisch amerikanischen Unternehmungen wie der »Kriegs-Ächtungspakt« von 1928, der »Kriegsverbrecherprozeß« von 1946 haben geringe Wirkungskraft. Dem Problem ist ja juristisch nicht beizukommen. Daß aber die Frage von Krieg oder Frieden zu einer Schicksals-, Menschheitsfrage geworden ist, wie sie es bisher nie war, daß der Mensch jetzt endlich und wirklich vor den Alternativen steht, die im Zeitalter der amerikanischen Revolution der preußische Revolutionär Immanuel Kant voraussehend bestimmte, dies gehört dazu, und zu dieser Entwicklung hat das Land, in dem die »Bombe« zuerst gebaut wurde, beschleunigend beigetragen. Beschleunigung, sie überhaupt ist das Gesetz, unter dem Amerika stand und welches Amerika – Europa wohl auch, aber Europa-in-Amerika noch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
515
stärker – der Weltgeschichte aufzwang. Die philosophisch-politische Revolution des 18. Jahrhunderts wurde zur materiellen des zwanzigsten. Europa wurde dem Planeten doppelt zum Schicksal: in seiner europäischen, dann in seiner amerikanischen Gestalt. Amerika wurde nicht so sehr zum Bringer endgültigbraver Lösungen, wie es geglaubt hatte. Aber es wurde nicht von ungefähr zum stärksten Mitverursacher, zum Zentrum, zum Atlas-gleichen Träger einer geschichtlichen Krise, für die man zwischen dem Paläolithikum und dem 20. Jahrhundert vergebens nach Vergleichen sucht.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
515
Geschichte Europa, dessen Zivilisation sich seit dem 16. Jahrhundert schneller und immer schneller veränderte und so die Zeit erfüllte, wie keine andere, dessen Energien zum erstenmal Weltgeschichte geschehen ließen, ist der geschichtliche Kontinent auch im anderen Sinne des deutschen Wortes »Geschichte«: Hier hat man die Geschichtswissenschaft begründet und das Geschichtsbewußtsein schärfer entwickelt als irgendwo sonst. Unvermeidlicherweise. Wer so viel tat und erlebte, brauchte auch das Bewußtsein dessen, was er tat und erlebte, mußte nach dem eigenen Platz in einer zeitlichen Reihenfolge suchen. Umgekehrt hat das Bewußtsein des Prozesses den Prozeß selber intensiviert, beschleunigt, mitunter geradezu verursacht. Das letztere gilt besonders für die großen »Revolutionen« des 19. und 20. Jahrhunderts, die bereits historisch konzipiert waren, bevor sie überhaupt stattgefunden hatten, so daß jene, welche sie ausführten, dann auch ihre Historiker werden konnten; die Bolschewisten sind das schlagendste Beispiel dafür. Auch nicht-revolutionäre Potentaten und Anführer sind in Europa ihre eigenen Historiker mit mehr oder weniger Erfolg gewesen: Richelieu, Ludwig XIV., Friedrich der Große, Napoleon, Churchill, de Gaulle. Das Schreiben von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
515
Memoiren, von den Franzosen begonnen, wurde im 19. und 20. Jahrhundert zu einer fast selbstverständlichen Tätigkeit der Politiker im Ruhestande. Historiker sind offizielle Figuren gewesen, nicht nur die Vorwelt beschreibend, sondern die Mitwelt antreibend oder warnend: Schriftsteller wie Macaulay, Froude, Carlyle, Acton in England, Tocqueville, Michelet, Taine, Jaurès, Aulard in Frankreich, Ranke, Droysen, Treitschke in Deutschland, Bancroft, Adams, Beard in Amerika. Universalgeschichtliche Darstellungen und spekulative Systeme, von Voltaire bis H. G. Wells, von Herder und Hegel bis Spengler und Toynbee haben zuzeiten die Phantasie der Menschen ergriffen, wie eine Religion oder deren Ersatz. Von der Ausmünzbarkeit der Geschichte auf jeder Bildungsstufe zeugt ein unendlicher Schwall von Biographien, Romanen, Filmen. Lange Zeit haben die Europäer das Gefühl gehabt, mit in einer Geschichte zu sein, die vor Gott gespielt wird oder Gott in sich selber hat, oder Gott durch einen ihr immanenten gesamtmenschlichen Sinn ersetzt. Dies Gefühl ist unsicher geworden, aber es ist noch da und sucht nach neuem Inhalt, neuen Formen. Fände es sie nicht, so würde es in Verzweiflung enden. Diese Gefühlslage war anderen Zivilisationen unbekannt; so auch der Mutter Europas, der klassischen Antike. Sie hat den Begriff der Geschichte – Historia, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
515
Forschung, Untersuchung – geprägt und großartige Geschichtsdarsteller hervorgebracht; neugierige und harte Beobachter des menschlichen Treibens in Hellas, heiter wie Herodot, düster wie Thukydides; in Rom bitter moralisierende, psychologisierende Verdammer ihrer eigenen Zeit und Lobpreiser des guten Alten. Einer, Polybios, hat einen sehr großen Zusammenhang, die Entstehung der römischen Weltmacht, von der er eine entscheidende Phase selbst erlebte, in einer gesamten Sicht zu verstehen unternommen – der höchste Flug, den ein antiker Historiker je wagte; ein anderer, Livius, die Geschichte des Vaterlandes ab urbe condita erzählt. Herrliche Leistungen alles das, an denen man den Geist noch heute bilden kann, oder sollte. Was fehlt, vom Standpunkt der europäischen Moderne aus geurteilt? Es fehlt der Sinn für die erfüllte Zeit, für das Neue, welches sie zeitigt und durch das sie erfüllt wird; für das Abgehobensein des Menschlichen von der Natur, die nichts Neues bringt, solange der Mensch sie in Ruhe läßt. Die antiken Geschichtsschreiber, da, wo sie überhaupt spekulativ wurden, dachten zyklisch, nicht linear. Sie nahmen ihre Gleichnisse aus der Natur: Jahreszeiten, Lebenslauf, Umlauf der Sterne. Darum waren sie eigentlich hoffnungslos und der Hoffnung nicht bedürftig. Hoffnungslosigkeit ist die Stimmung, die sich dem Leser des Thukydides am stärksten mitteilt, trotz des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
516
Reichtums an Gestalten und Ereignissen. Sie sind so, wie sie immer waren und immer sein werden; die Erzählung vom großen Krieg der Hellenen soll auf nicht genau dasselbe, aber ähnliches in der Zukunft vorbereiten, denn so sind die Menschen und so ist der Lauf der Welt. Von den Römern hat ein moderner Schriftsteller gemeint, sie hätten den Begriff der Wandlung und ihrer Bemeisterung durch neue Einrichtungen so wenig besessen, daß ihr Reich, ihre Zivilisation an diesem fundamentalen Bewußtseinsmangel zugrunde gegangen sei. Träfe dies zu, so würde es zeigen, wie stark das Bewußtsein von Geschichte, welches man hat oder nicht hat, den Ablauf der wirklichen Geschichte beeinflussen kann. Übrigens trifft es sicher für den sogenannten »Untergang« der Republik zu. Die römischen Republikaner glaubten allen Ernstes, das Weltreich, welches Rom geworden war, auf Grund der Verfassung eines engen Stadtstaates regieren zu können. Daran sind sie gescheitert. Und noch jahrhundertelang mußten ihre Erben, die Cäsaren, ihr Werk restaurativ verkleiden und ein Bündel altrömischer Ämter zu verwalten scheinen, anstatt das Neue und Notwendige mit neuen Namen zu benennen. Oben wurde angedeutet, wie die amerikanische Verfassung gelegentlich eine von ferne vergleichbare hindernde Wirkung ausübte, wie gewisse amerikanische »Republikaner« noch heute glauben, es hätte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
516
sich seit dem Präsidenten McKinley nichts geändert, oder alle Veränderung seither sei illegitim und wieder rückgängig zu machen. Es wurde aber auch daran erinnert, daß der historische Sinn der Amerikaner im Grunde doch stärker war als der Kult des Unveränderlichen. Parteiprogramme unserer Zeit wie New Deal, New Frontier, Great Society sagen es schon durch ihre Namen aus: Es soll eine »große Gesellschaft« gebaut werden, die es bisher noch nicht gab, obgleich sie den uralten amerikanischen Versprechen gemäß sein wird. – Die Engländer haben vom 17. Jahrhundert bis zum heutigen Tag die ungeheuersten Veränderungen ohne katastrophale Abbrüche ihrer Geschichte, ohne Revolution – 1688 war keine – auf das eleganteste gemeistert, eben weil sie eine historisch erzogene, geschichtsbewußte Nation waren. Die in einer Reihe von Schüben langsam und planmäßig vollzogene Demokratisierung ihres inneren Lebens ist ein so eindrucksvolles Beispiel dafür, wie die erzieherisch vorbereitete, in den würdigsten Formen vonstatten gehende Auflösung ihres Imperiums. Es ist oft gezeigt worden, wie die Europäer von den antiken Klassikern wohl das historische Handwerk oder ein Teil davon lernten, wie aber ihr spezifisches Geschichtsbewußtsein einen ersten Ursprung in den heiligen Büchern ihrer Religion hatten. Es war die diesseitige Heilserwartung der Juden, ihr Glaube, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
517
unter dem besonderen Auftrag und Schutz Gottes zu stehen, was ihren Sinn für Erfüllung in der Zeit, für Einheit und Sinn ihrer Geschichte prägte. Später, in der Botschaft der Apokalyptiker, dann Jesu, wurde die Hoffnung auf Erfüllung nach der Zeit, oder in einer Endzeit darauf. Bei Herbert Grundmann lasen wir, wie dieser Begriff der Endzeit noch das mittelalterliche Geschichtsbewußtsein durchdrang. Die Ereignisse in der Zeit, das bloße saeculum verloren dadurch an Gewicht; sicher im Geiste eines radikalen Christen wie Gregor VII. Tatsächlich hat man im Mittelalter nicht so sehr »Geschichte« geschrieben, wie Chroniken, Annalen, »Geschichten«; sei es eben darum, sei es, weil die Möglichkeit zur Erwerbung umfassender Kenntnisse praktisch fehlte. Aber es erhielt sich der Sinn für die Einheit der Zeit, nun zentriert und unterteilt durch die Erscheinung des Herrn: die Zeitstrecke der Vorbereitung zuerst, und dann die zweite, die in der Wiederkunft enden würde. In diesem Sinn, im Sinn eines Ernstmachens mit der christlichen Zeitrechnung, hat noch im späten 17. Jahrhundert Bossuet Weltgeschichte geschrieben, ein Unternehmen, das ihm ohne seinen religiösen Glauben durchaus unmöglich gewesen wäre. Selbst Hegels »Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte«, ungleich kenntnisreicher nun, ungleich reifer, kunstvoller, raffinierter, haben Bossuets Grundgedanken von der christlich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
517
bestimmten Einheit der Weltgeschichte in sich hineinzunehmen vermocht; in schwindelnder Verbindung von Metaphysik und revolutionärer Verweltlichung, aber in ihrer Herkunft noch immer erkennbar. Die erfüllte Zeit wurde zu einer von »Fortschritt« erfüllten unter den Händen derer, denen die Religion, wenigstens in ihrer römischen, überhaupt in ihrer doktrinären, intoleranten und streitbaren Form, der sinngebende Mittelpunkt nicht mehr war. Der »Streit zwischen dem Alten und dem Modernen«, von dem in einem anderen Bande unserer Weltgeschichte die Rede war, kündete den Durchbruch eines nun säkularisierten Geschichtsgefühls an; man verglich sich mit der Zivilisation, die seither als die vollkommene gegolten hatte, und fand, daß man ihr nun überlegen sei, daß man es weiter gebracht habe und noch viel weiter bringen werde. Damit war der Kult des Fortschrittes geboren; im 18. Jahrhundert der einer intellektuellen Elite; im 19. von den breiten Massen der Menschen bewußt oder halb bewußt assimiliert. Ein neues Interesse für die Vergangenheit der eigenen Zivilisation, wie jener anderer Geschichtskreise ging schon im frühen 18. Jahrhundert damit einher; man wollte sich vergleichen, um sich zu erkennen. Große Ereignisse und Entwicklungen, deren Zeuge man selber war, wurden als geschichtlich zu verstehende, nicht mehr bloß chronistisch zu berichtende empfunden: der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
517
Aufstieg des königlichen Frankreich zur führenden europäischen Macht, das Erscheinen Rußlands in der europäischen Politik, die Durchdringung der amerikanischen Welt durch die Europäer, die Entstehung der Parlamentsherrschaft in England, das Sieg-gekrönte Drama Friedrichs des Großen. Die Geschichtsschreibung Voltaires war schon Universalgeschichte der Intensität wie der Extensität nach: Kultur, Wirtschaft mit dem Politischen zusammensehend; sehr gegenwartsstolz; aber auch voller Neugier für fremde Zeiten, fremde Zonen und die anderen Geschichtsgesetze, die dann und dort gewirkt hatten. Glaube an den Fortschritt zum Besseren, zu »Aufklärung«, Freiheit, Humanität lag dem Essay zugrunde, in welchem Kant eine »Geschichte der Menschheit in weltbürgerlicher Absicht« vorschlug, nicht verwirklichte; hundertfünfzig Jahre später hat H. G. Wells sich in seiner »Weltgeschichte« auf die Idee Kants ausdrücklich berufen. Wir finden den gleichen Gedanken in Schillers akademischer Antrittsrede, unangekränkelt durch den Pessimismus, mit dem Kant sein eigenes Schema korrigierte. »Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen, haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt.« In seiner wirklichen Geschichtsschreibung hat Schiller über der Freude am individuellen Leben seinen richtenden Idealismus mitunter vergessen; die Partei des Guten, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
518
den Fortschritt zur Freiheit Fördernden und die des Schlechten, ihn fanatisch und tückisch Behindernden gibt es in seinen beiden Hauptwerken dennoch. Vielleicht wäre er dabei nicht geblieben, wäre er alt geworden und hätte er dem Historikeramt die Treue bewahrt. Die zur Revolution explosiv verdichtete »Aufklärung« wurde geschichtsfeindlich. Alle Vergangenheit war dumm und schlecht im Vergleich mit der erlösten Gegenwart, die allein wert war, gewußt zu werden. So, gegen das historische Europa, dachte der Amerikaner Jefferson, so, gegen das historische Frankreich, der Franzose Sieyès; dem entsprach die Rationalisierung des französischen Staatswesens durch die Jakobiner, nur die Wirkung im Auge, ohne jede Rücksicht auf historische Provinzen und Machtkreise. Es war vom Gedanken her dieselbe Verachtung des Verstaubten, Toten, ohne Nutzen zu Erforschenden, in der sich hundert Jahre später ein Revolutionär der Technik, Henry Ford, gefiel; was hatten Habsburg und Bourbon für den Bau besserer, billigerer Automobile zu lehren? Aber die Wege des Geistes sind verschlungen. Die große Revolution selbst und das sich ihr anschließende Abenteuer Napoleons wurden zum gewaltigsten, anziehendsten Gegenstand historischer Forschung und Darstellung; so viele Bücher sind über Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
518
keine andere Epoche geschrieben worden. Wer für die Revolution war, wollte wissen, wie sie sich vorbereitet hatte; wer dagegen war, auch – mit besonderem Akzent. War die »Aufklärung« gegenwartsstolz und hochmütig gegenüber fremden Zeiten gewesen, so hatte sie in ihrer Wißbegier doch eine edle historische Stoffmasse zusammengebracht; eine tiefe und breite Geistesbewegung, von Hunderten von Schriftstellern vorwärtsgetragen, ist ja nie so einfach, wie sie auf den Seiten eines Textbuches erscheint. Die Reaktion, die sie hervorrief, kam auf ihren Höhepunkt erst seit den 1790er Jahren unter dem Eindruck der Ereignisse in Frankreich; in ihrem Ursprung ist sie älter. Schon die frühen englischen Romantiker, schon der junge Goethe hatten für die Schönheit, Würde und Eigengesetzlichkeit des einmal Gewesenen und Getanen ein Verstehen entwickelt, das entschieden nicht mehr »aufklärerisch« war. Hier ist eine der Wurzeln des sogenannten »Historismus«, der im 19. Jahrhundert zur Reife kam, zumal in Deutschland. Seine »Philosophie«, insofern er sich als solche ausgab, war ungenügend im Logischen wie im Moralischen. Er lehrte die Unerschöpflichkeit des Historischen, Individuellen, für die sich argumentieren läßt, und seine Unvergleichlichkeit, für die sich im Ernst nicht argumentieren läßt, denn das Unvergleichliche wäre auch unverständlich und der Mühe, es zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
519
verstehen, nicht wert. Einzigartig sollte jeder Charakter, jede Institution, jede historische Bestrebung und Entscheidung aus den ihnen eigenen Bedingungen heraus gewürdigt werden, nicht nach dem Platz, den sie in der Geschichte des »Fortschritts« einnahmen. Jede Epoche, meinte Leopold von Ranke, sei »gleich zu Gott«, es sei nicht eine besser als die andere. Der Gedanke, an sich simpel genug, tat seinen Dienst für die Kritik dessen, was die Aufklärung in ihren Extremen gesündigt hatte. Ein verständnisvoll-genüßliches Sich-Einwiegen in fremde Lebensgesetze und Ausdrucksformen war die Kunst dieser Historiker, zumal wenn sie jetzt zur politischen Geschichte die Rechtsgeschichte, dann die »Geistesgeschichte« fügten; dazu kam die Schärfung des Instruments der archivalischen Forschung, die, seit dem 17. Jahrhundert betrieben, erst jetzt zu ihrem vollen Recht kam. Der Schatten des Historismus war seine Erfolgsanbeterei. Hatte die Aufklärung gar zu energisch unterschieden zwischen den Schlechten und den Guten, und diese oft unterliegen sehen, so unterlag jetzt mit Sicherheit der, der zu unterliegen verdiente, eben weil er unterlag. Bei Ranke, einem der Gründer des deutschen Historismus, war das noch ein wenig moralisch getönt, ebenso bei den Amerikanern; erfahrungsgemäß siegte immer die bessere Sache, mit ihr war der Gott der Schlachten. Bei Rankes Erben, die seine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
519
europäische Universalität preisgaben, Bewunderer Machiavellis samt und sonders, wurde das »Bessere« zur bloßen virtù; der Stärkere war besser. Historiker dieser Schule haben sich mit vielerlei befaßt; ihr bevorzugter Gegenstand aber war der Staat, der absolutistische Machtstaat, der schon gewordene oder werdende Nationalstaat, für dessen Vollendung in Deutschland, und zwar unter preußischer Führung, sie sich einsetzten, und der auch Machtstaat sein sollte. Nicht daß sie Kultur, Freiheit, bürgerlich freie Aktivität verachtet hätte. Aber im Rahmen des nationalen Machtstaates sollte das alles sein und blühen können, nur weil er blühte. Die Nationen wurden historisierend voneinander getrennt, so wie sie sich politisch voneinander trennten. In unglaublicher Verkennung von Europas gemeinsamer Geschichte sollten sie von Anbeginn für sich selbst gewesen sein, spröde, einsame »Volksgeister«, die ihre eigene Verwirklichung suchten, nur ihnen eigene Institutionen schufen, voneinander aus dem Grunde verschieden. Der Begriff des Fortschritts, den man als Leitmotiv der Geschichte hatte fallenlassen wollen, kam zur Hintertür wieder herein. Denn es war doch Fortschreiten, ein hocherfreuliches, vom Gott der Geschichte gewolltes, vom Kurfürstentum Brandenburg zum neuen deutschen Kaiserreich; vom Fürstentum Moskau zum Großreich der Zaren, das der Kern eines Reiches aller Slawen zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
519
werden versprach; von den dreizehn amerikanischen Kolonien zur kontinentalen, reichen, glücklichen Republik. Und Fortschreiten sollte weiter sein; kein leichtes, friedliches, wie von selber weitergespieltes zwar, sondern ein hartes, im Kampf der Mächte und durch ihn. Das ist vereinfacht. Die Verherrlicher der Revolution gaben den klassischen Fortschrittsbegriff nie auf. Die angelsächsischen Liberalen auch nicht; obgleich sie ihn in den besonderen historischen Bedingungen des protestantischen England und Amerika – mitunter sogar Preußens – verwirklicht fanden. Gegenüber dem kontinentalen Kult der Macht gab es nach wie vor eine universalistisch-aufklärerische Geschichtsschreibung, welche Staat und Macht und Krieg verachtete. Die ungeheuer erfolgreiche Weltgeschichte von H. G. Wells ist ein Beispiel dafür; ein anderes die Weltgeschichte des indischen Staatsmannes Jawaharlal Nehru – in Briefen an seine Tochter –, eines der europäischsten Bücher, die je geschrieben wurden. Was im 17. Jahrhundert zuerst sich angemeldet hatte, wurde vollendet. Historische Forschung und Kritik bemächtigten sich jedes geschichtsmöglichen Gegenstandes, auch und gerade der Entstehung des Christentums; was Ernest Renan, einem der Meister der Religionsgeschichte, den Ausdruck selbstgefälligen Schuldgefühls entlockte: De quoi vivra-t-on après Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
520
nous? Sowohl die liberal-nationale wie die universalistisch-aufklärerische Geschichtsschreibung waren mit dem Ersten Weltkrieg am. Ende oder hätten es sein müssen. Was hier geschah, widersprach in seiner blutigen Absurdität dem Kult schöpferischen Machtkampfes und dem Fortschrittsglauben in gleicherweise. Tatsächlich machten beide in der zwielichtigen Epoche »zwischen den Kriegen« weiter. Die Nationen, welche das Spiel verloren hatten, hielten den Ausgang für geschichtlich illegitim und undauerhaft; die Gewinnenden fanden ihre Auffassung erfreulich bestätigt. Die Humanisten sprachen von einem »Rückfall in die Barbarei«, der nichts bewies, wie sie denn auch den »Faschismus«, welcher nachfolgte, als bloßes Rückzugsgefecht dunkler Reaktionsmächte interpretierten. Ein solcher unkorrigierter Glaube war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr durchführbar. Nationalistischer und progressistischer Historiker-Wille verzichteten zur selben Zeit; ein Zeichen dafür, daß sie immer mehr verschwistert gewesen waren, als ihren Trägern bewußt gewesen war. Ihr Erbe anzutreten stand 1919 wie 1945 eine neue, in gewissem Sinn zur Antike zurücklenkende, zyklische Geschichtsphilosophie bereit. Wir meinen die Werke von Oswald Spengler und Arnold Toynbee. Der Deutsche, weniger fein, weniger gewissenhaft Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
520
und gutwillig, aber durchschlagskräftiger als der Engländer, warf die Fortschrittsidee wie die nationale zum alten Eisen, obgleich keineswegs die Idee der Macht. Die »Menschheit« gab es nicht und folglich nicht ihre Geschichte. Nationen gab es, aber als Teil eines Ganzen, welches eine »Kultur« oder »Kulturseele« war. Sie entstand; sie durchlief ihre Phasen nach erkennbaren Gesetzen, die für alle Kulturen galten; sie starb schließlich, und es blieben dann nur ihre zerfallenden Gehäuse übrig, in denen geschichtslose »Fellachen« hausten. Die letzte Phase im Leben einer Kultur war die »Zivilisation«; die Zeit stählerner Technik, die Zeit der Industrie, der Riesenstädte, der Massen, der hinter schönrednerischen Lügen der Demokratie verborgenen Bourgeois- und Kapitalistenherrschaft zuerst, der großen Kriege, der harten Kriegsherren und Cäsaren dann. Hatten sie sich oder einander verbraucht, so würde nichts mehr kommen. An der Stelle der historischen Kausalität trat hier der unbewußte Ausdruck, die Erscheinung des Inneren, Wesentlichen. In der Zeit der »Zivilisation« baute man Wolkenkratzer, Stahlwerke, Schnellstraßen, erfand man neue Zerstörungsmittel, führte man Weltkriege nicht zu einem rationalen Zweck, sondern weil es so sein mußte; so wie eine Pflanze ihre Formen entwickelt oder ein Tier seinen Körper aufbaut, um darzustellen, was es ist. Alles war Symptom, und alle Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
520
Symptome gehörten zusammen; zu Wolkenkratzern und Weltkriegen gehörte, daß es keine Religion mehr gab und kaum noch Kunst, so wie ehedem Bürgerhäuser, Burgen und Dome, fromme Malerei und fromme Musik zusammengehört hatten. Geschichtlich Verurteiltes aufrechtzuerhalten, Versunkenes zu beklagen, dem, was kommen mußte, sich in den Weg zu werfen, war Romantik und völlig vergeblich. Der »Untergang des Abendlandes«, der europäisch-amerikanischen Kultur würde »prachtvoll« vor sich gehen wie der Fall Roms, oder häßlich verkrüppelt; allemal war er unvermeidlich. Toynbee verwarf Spenglers Biologismus und Fatalismus, behielt aber die von seinem Vorgänger statuierte, von ihm selber noch vermehrte Vielzahl von Kulturen bei, die unabhängig voneinander und in ähnlichen Rhythmen entstanden, blühten und vergingen. Sie mußten sich nicht selber zerstören, aber sie hatten es bisher noch immer getan durch vermeidbare eigene Schuld; Überspannung ihrer Kräfte, schrankenlose Hingabe an ein einziges Prinzip, Flucht vor dem Aufgegebenen, Abdankung der Freiheit; durch Selbstverrat. Nun war die Frage, ob »der Westen« den gleichen Weg nehmen würde. Beide Geschichtsphilosophen haben auf die allgemeine Stimmung eingewirkt, Spengler einige Jahre lang ungeheuer stark. Er besaß die Gabe der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
521
Anschauung und schönen Beschreibung vergangener Gestalten und auch die Ahnung, welche im erst Begonnenen das zur Reife Gekommene vorwegnehmen läßt. Solche technischen Landschaften, solche gedrängt-entpersönlichten Massen, solche cäsarischen Diktaturen, wie er sie sah, gab es zu Beginn des Jahrhunderts noch gar nicht, wohl aber in dessen zweitem Drittel. Wer den Leuten ihre Erlebnisse voraussagt und erklärt, wird leicht die rechte Erklärung gefunden zu haben scheinen. Mittlerweile ist jedoch die Zeit der zyklischen Geschichtsphilosophie schon wieder vorbei. Sie war kürzer als die Zeit des Fortschrittsglaubens. Dieser konnte so lange dauern, wie die große Emanzipation dauerte. Partiell dauert er wohl heute noch; denn wenn es Fortschritt im Ganzen nicht gibt, so gab es ihn doch in definierten Teilgebieten, und da gibt es ihn heute noch und schnelleren, intensiveren als je zuvor. Das System der getrennten, einander unverständlichen, aber alle von einem Gelehrten verstandenen »Kulturseelen« scheiterte, was die Vergangenheit betrifft, an der Künstlichkeit der Vergleiche und behaupteten »Gleichzeitigkeiten«; in der Gegenwart wird es durch andrängende Erfahrung widerlegt. Kaum hatte Spengler alle Kulturen, mit Ausnahme der europäischen, für längst verwelkt und abgestorben erklärt, so erschienen die totgesagten Völker Asiens mit neuer Energie auf Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
521
der Bildfläche; nicht allzu schöpferisch im Geistigen zwar, aber entschieden gewillt und fähig, wiederum »Geschichte« zu machen. Kaum hatte er den Begriff »Menschheit« verworfen und verhöhnt, so wurde die Wirklichkeit des Begriffes zum erstenmal völlig offenbar: im Erfaßtwerden aller Völker vom gleichen Zivilisationsdrang, in der Begegnung aller Mächte in einem einzigen Machtkampf, in der Registrierung aller weltwirtschaftlichen Vorgänge durch eine einzige wachende und beratende Organisation, in der Bedrohung aller Länder durch dieselben Gefahren. Die Krise, in der wir leben und leben werden, soviel ist nun bekanntgeworden, ist nicht die Krise nur eines Kulturkreises. Es ist weltgeschichtliche Krise, Menschheitskrise. Da in den Büchern der Zykliker von einer solchen Krise nichts steht und nichts stehen konnte, so hatten auch sie die Wahrheit nicht, was immer man im einzelnen auf ihren Seiten Nachdenkenswertes finden mag. Die Historie ist bescheiden geworden. Sie sucht den großen Sinn nicht mehr, geschweige, daß sie ihn gefunden zu haben glaubte. Sie forscht emsig, wie je zuvor, sie erzählt auch gelegentlich noch, jeden Tag bringt sie etwas Tüchtiges auf den Markt. Noch immer will sie verstehen, wie wir wurden, was wir sind; »Zeitgeschichte«, die Geschichte der letzten Jahrzehnte, wurde zu einem ihrer wichtigsten Zweige. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
522
Aber sie bewegt die bloß Zuschauenden, passiv Aufnehmenden nicht mehr wie in den Zeiten der großen Emanzipation, in der Zeit der europäischen Nationalstaaten. Daß alles historisch ist, die Religionen und ihre Entstehung nicht ausgenommen, daran haben wir uns längst gewöhnt; so daß die Frage Renans: »Wovon wird man nach uns leben?« wenig Aktualität mehr hat. Das meiste ist hier getan. Wer das Glück des Glaubens hat und behalten will, den werden Neuentdeckungen über zeitgenössische Einflüsse, welche auf Jesus gewirkt haben mögen, nicht mehr in Verwirrung bringen. Die katholische Kirche selbst hat während des zweiten römischen Konzils eine Geschichtsbewußtheit und zeitliche Wandlungswilligkeit bewiesen wie nie zuvor; es ist dort das merkwürdige Wort gefallen und erhört worden, man dürfe den gegenüber Galilei begangenen Irrtum nicht wiederholen. Das verspätete, schlechte und schmutzige Geschichtsdrama, welches Adolf Hitler aufführte, hat den Europäern die Lust an historischen Heldentaten genommen. Man glaubt nicht mehr an sie. Unter den »befreiten« Völkern Asien – Afrikas glaubt man daran. Aber da es dasselbe alte Lied ist, das in Europa ehedem so kräftig gesungen wurde, das Lied von Gloire und Grandeur, welche die Hungernden nicht satt machen, von Feinden, die vernichtet werden müssen, da die Massen angesichts ihrer Diktatoren die gleichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
522
Dummheiten schreien, wie in Italien und Deutschland in den dreißiger Jahren, so kann es uns kaum erfreulich beeindrucken und erheben. Früher, zu Zeiten, die ein wenig besser dafür paßten, haben wir es gemacht; nun machen sie es uns nach. Viel Neues wird nicht dabei herauskommen; die wahren Aufgaben der Zeit liegen hier nicht.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
522
Zeitkritik und Individualität Eine besondere Ausdrucksform des europäischen Geschichtsbewußtseins war die »Zeitkritik«, das artikulierte Überworfensein der einzelnen Persönlichkeit mit ihrer Gesellschaft, ihrer eigenen Zeit. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Emanzipation des Individuums, das, weder religiös noch ständisch noch politisch-vaterländisch gebunden, sein Sach auf sich selber stellen mußte. Einer legte sich selbstgeschaffene Bindungen auf, aber ohne eine Gesellschaft, die seine Kunst trug und verstand, gegen die Gesellschaft. Ein anderer lebte in Protest, der Sensationserfolge bringen mochte oder zu wirken erst begann, nachdem der Protestierende tot war, oder gar nicht wirkte. Resignation, Trauer, Spott, Ekel, warnendes, feierliches Prophetentum, Pathos der Sektenbildung, Pathos der Alleinheit – es gab keine Farbe, mit der Zeitkritik sich nicht getönt, kein Kunstmittel, Roman, Drama, philosophisches System, Manifest, Lyrik, Satire, das sie nicht gewählt hätte. Sie ist ein negatives Lebenselement der europäischen Moderne. Nur eine überaus energienreiche, gewaltigen Druck ausübende Gesellschaft konnte sie hervorbringen. Sogar wäre denkbar, daß sie selber auf eine nicht beweisbare Art diese Energien vermehrt hat. – Zeitkritik war am Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
523
einsamsten dort, wo die Demokratie früh vollendet, am dichtesten gewoben, am erfolgreichsten und selbstzufriedensten war, in Amerika. Dort war sie sehr einsam; es wäre denn, daß auch sie im Grunde konformistisch dachte und billig-behagliche, noch von den Verspotteten selber gern gelesene Satiren produzierte. Zeitkritik ist nicht bloße Kritik öffentlicher Zustände. Diese mußte es geben, solange es die große Emanzipation gab, von ihrem Anfang an. Die Schriftsteller, die den Absolutismus Ludwigs XIV. bekämpften, fühlten sich nicht einsam, selbst wenn sie gefährdet lebten. Sie fühlten sich von ihrer Zeit getragen, bejahten sie und die Zukunft; im Streit lagen sie mit einem Herrschaftssystem, das hinter der Zeit zurück war. In diesem Sinn wäre Voltaire kein Zeitkritiker. Aber Rousseau ist es; der den Fremdling in seiner eigenen Zeit spielte und mit einem Schlage den Wert, nicht dieser oder jener anachronistisch gewordenen Einrichtung, sondern der ganzen europäischen Zivilisation in Frage stellte. Historisch wurde auch hier gedacht, denn Geschichte hatte Europa zu dem gemacht, was es war, und ein scharfes, leidendes Gefühl für das Jetzt, für diese einmalige, verdorbene Bedingung des Lebens lag Rousseaus Protest zugrunde. Seither ist er nicht wieder verstummt. Daß derselbe Rousseau zum ersten modernen, die innersten Erlebnisse der eigenen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
523
Seele ohne Scham exhibierenden Autobiographen wurde, erhärtet die Beziehung zwischen Zeitkritik und emanzipierter Individualität. Ein Gleiches tat Nietzsches »Ecce Homo« im folgenden Jahrhundert noch einmal. Die romantische Geistesbewegung war zeitkritisch, wenn und insoweit sie sich dem stärksten Antrieb ihrer Zeit, dem rationalistischen entgegenwarf und unwiederbringlich vergangene Ordnungen verherrlichte. Auch dies ging oft, nicht immer, mit einem überentwickelten Interesse an der eigenen Individualität, einem sich Hinwegsetzen über die Sitten und Regeln der Gesellschaft zusammen. Mit strengem Moralismus ebensowohl; Fichte, ein edler und zorniger Zeitkritiker, definierte sein Zeitalter als das der vollendeten Sündhaftigkeit, von welcher er nur die eigene Nation, mindestens ihrer Möglichkeit und Mission nach, ausgenommen meinte. Das 19. Jahrhundert ist recht eigentlich das Jahrhundert der Zeitkritik. Natürlich wurde sie auch von Vertretern breiter, machtvoller Tendenzen und Gruppen geübt; von Konservativen sowohl wie von Demokraten und Sozialisten. Eine Verdammung obwaltender Zustände enthält das »Kommunistische Manifest« von Karl Marx wie die Quanta Cura Enzyklika Pius' IX. Aber beide hatten Macht, der Papst und seine gekrönten Bundesgenossen gegenwärtige, der Sozialist zukünftige. Hier dagegen ist von einem freiwilligen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
523
Sich-Ausschalten, einem Gegen-den-Strom-Schwimmen die Rede; nicht von den Amtsträgern und Gründern also, denen die geheiligte Tradition, das Interesse der Reichen, die Hoffnung der Armen eine breite Wirkungsbasis gab. Sie repräsentierten eine Hauptbestrebung der Zeit gegen die andere; jene stellten das Zeitalter insgesamt und damit auch die lange Vorgeschichte, die zu ihm hingeführt hatte, in Frage. Ebenso: die Vergötzung der Geschichte in einem Jahrhundert, das sich als das historische par excellence, als die Krone der Zeiten fühlte. Kierkegaards philosophischer Feldzug gegen Hegel ist das eindrucksvollste Beispiel dafür: Die einzelne Seele hat ihren Wert nicht durch ihren Platz im Staat, in der Geschichte, der Augenblick den seinen nicht kraft des zeitlichen Nacheinander. Sie sind absolut. »Geschichtlichkeit« wird auch hier gesehen, aber im Sinn der völligen Einmaligkeit, nicht der Verbindung und allgemeinen Verpflichtung, welche der Historismus dem Individuum auferlegte. Gegen ihn hat später Nietzsche sich in seiner Betrachtung über den »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« gewandt: »Wer aber erst gelernt hat, vor der ›Macht der Geschichte ‹ den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein ›Ja‹ zu jeder Macht, sei diese nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
524
Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem Takte, in dem irgendeine Macht den Faden zieht. Enthält jeder Erfolg in sich eine vernünftige Notwendigkeit, ist jedes Ereignis der Sieg des Logischen oder der ›Idee‹ – dann nur hurtig nieder auf die Knie und nun die ganze Stufenleiter der ›Erfolge‹ abgekniet!« Waren Demokratie und »Fortschritt« die Zielscheibe konservativen Hasses und Spottes, so konnten sie auch von Kritikern verworfen werden, die keinem großen Interesse angehörten und den Triumph des Verneinten für unvermeidlich hielten. So von Carlyle, von Flaubert. Carlyle, der englische Historiker-Philosoph, hielt dem Zeitalter, das er zusehends von einer anonymen, geschäftigen, glaubenslosen Masse beherrscht glaubte, den Helden und die Verehrung des Helden entgegen: Cromwell, König Friedrich von Preußen. Wohl ohne zu glauben, daß solche wie er den Lauf ändern könnten: »Da der Hauptzweck des Menschen nun, in diesen verbesserten Zeiten, das Verdienen und Verbrauchen von Geld ist, so hat sich sein Interesse für das Universum seit neuestem erstaunlich vereinfacht... Wenn aber das Universum an seiner göttlichen Brust keine Gemeinschaft von Sterblichen halten will, die kein höheres Ziel kennen,... wenn das unergründliche Universum beschlossen haben sollte, Biber, die sich für Menschen ausgeben, zu verwerfen, und, vielleicht recht bald, ihre Märkte und sie selbst in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
524
greulichen Sumpf-Sintfluten zu vernichten, falls sie sich nicht anders besinnen? Dann wäre es doch wohl besser, sich anders zu besinnen; Demokratien und allgemeine Wahlrechte, so viel kann ich sehen, würden zu einem ganz hübschen Teil revidiert werden müssen.« – Den Franzosen hat der Advokat, der seinen Roman »Madame Bovary« gegen die Anklage der Unsittlichkeit zu verteidigen hatte, als einen »ernsten, von den schweren, den traurigen Dingen angezogenen Charakter« bezeichnet. Leiden an der Zeit und an der Gesellschaft, Trauer, Verachtung der hoffnungslosen Dummheit, die überall herrscht und immer herrschen wird, Hochmut waren Versuchungen in der Seele Flauberts, denen er nachgab, indem er sich in das Reich der Kunst zurückzog. Mitunter zur Gestaltung schöner, phantastischer, exotischer, legendärer Gegenstände; häufiger zu an sich deprimierenden, eigentlich trostlosen modernen, aber so, daß der Trost, der einzige, den es gab, in der mit letztem KünstlerEhrgeiz vollzogenen Beschreibung und Bewältigung lag. Flauberts später Roman »Bouvard et Pécuchet« stellt eine in ihrer Monotonie grauenerregende Verhöhnung der Zivilisation, ihres Forschens und Experimentierens, Bauens und Einreißens dar. Die ahnende Hysterie der großen Kritiker nahm in dem, verglichen mit Späterem, noch Geringfügigem schon das Späte vorweg. Es war dies der Eindruck, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
524
den der Deutsch-Französische Krieg von 1870 auf Flaubert machte: die Entartung der Wissenschaft im Dienste eines entartenden Krieges, die MillionenMassaker des 20. Jahrhunderts waren für ihn schon mit der Perfektion gegeben, mit der General Moltkes Kriegsmaschine gegen Paris drang. »Das ist also der natürliche Mensch! Jetzt denkt euch Theorien aus! Rühmt den Fortschritt, die Aufklärung, den guten Geist der Massen, die Humanität der Franzosen. Hier würde man in Stücke gerissen werden, wenn man noch den Frieden predigte... Vielleicht beginnen die Kriege zwischen den Rassen aufs neue. In hundert Jahren wird man Millionen von Menschen einander in einem Augenblick töten sehen. Der ganze Osten gegen das ganze Europa, die Alte Welt gegen die Neue. Warum nicht? Die großen Kollektiv-Arbeiten wie der Suez-Kanal sind vielleicht schon Andeutungen, Vorbereitungen monströser Schlächtereien, die wir uns noch nicht einmal vorstellen können!« – Ganz ähnlich hat Jacob Burckhardt, der konservative Schweizer Kunstgelehrte und Historiker, den Krieg von 1870 erfahren. Naturwissenschaft, Industrie, Demokratie, Kult der Macht, Herrschaft des Machtstaates sah Burckhardt in einem; wenn er mit den Demokraten seiner Zeit im Streite lag, so nicht darum, weil sie an ihren Sieg glaubten – das tat er auch –, sondern weil sie sich über die Bedeutung ihres Sieges Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
525
täuschten. Die entwurzelten, ihrer alten Lebens- und Glaubensbedingungen beraubten Massen würden sich nicht friedlich wie die Tauben, klug wie die Schlangen selber regieren. Sie würden wieder beherrscht werden, wäre es auch mit Zustimmung der Beherrschten, von der die Plebiszite in Burckhardts Jahrzehnten einen Vorgeschmack gaben. Im 20. Jahrhundert, schrieb er, werde die Macht wieder ihr Antlitz erheben, und es werde ein furchtbares Antlitz sein. – Das Bezeichnende ist, daß solche Prophezeiungen Burckhardts ohne jede Hoffnung getan wurden, sie könnten das Gefürchtete verhindern oder mäßigen. Die am tiefsten geängstigten schrieb er nur in persönlichen Briefen nieder. Der Zeitkritiker des 19. Jahrhunderts wählte die Haltung der Kassandra, und Kassandragleich war oft sein Los: Einsamkeit, Armut, Flucht in die Droge, Verschwinden in den Wildnissen Afrikas, Wahnsinn, Selbstmord. Es war ihr Los besonders dann, wenn Kunst sie nicht schützte; und selbst die schützte sie mitunter nicht genug. Wo schöpferischer Genius mit Vitalität zusammentrafen, da konnte der Zeitkritiker, wie sehr er auch Rebell war, zu einer Art offizieller Figur, zum geistigen Oberhaupt aller Rebellen und Halbrebellen werden. Das gilt für Ibsen, der in seinen Dramen die Macht der gesellschaftlichen Tabus, der öffentlich-korrupten Interessen, der Konventionen, der »Stützen der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
525
Gesellschaft« agieren ließ; es gilt in ungleich stärkerem Maße für Leo Tolstoij. Der epische Gigant, der den Materialismus, die Heuchelei, die Öde, die Sklaverei der adelig-bürgerlichen Gesellschaft geißelte, gegen politische Justiz, den Egoismus der Reichen, die Verfolgung der aufbegehrenden Armen, den großen Krieg, der kommen würde, seine Anklagen erhob, triumphierte; triumphierte so sehr, daß der Zarismus auf dem Höhepunkt der Reaktion unter Alexander III. und Nikolaus II. seine Schriften nicht zu unterdrücken, den Autor nicht anzutasten wagte und sein Sterben, nach der letzten Flucht von Familie, Schloß und Besitz zu einem Ereignis wurde, das Europa tiefer beeindruckte als jede Haupt- und Staatsaktion. Es gab glücklichere zeitkritische Künstler, die nicht eindeutig Warnendes aussagten, die das große Welttheater mit wissender, kühler Heiterkeit an sich vorüberziehen ließen, indem sie ihr kleines daraus schnitten. So einer war Stendhal, so einer Heinrich Heine. Auch ihnen eignete ein überaus empfindliches Geschichts- und Gegenwarts- und Zukunftsbewußtsein. Stendhals größter Roman trägt mit Fug den Untertitel »Chronik des 19. Jahrhunderts«; Heines Essays und Reportagen, wie seine politische Lyrik, sind gefüllt mit Gedankensplittern über diese Zeit, wahrscheinliche und drohende Zukunft. Aber beide sind zu glücklich mit ihren Talenten, um ihrer Welt qualvoll Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
526
entfremdet zu sein. Dafür leben sie zu gerne; ihre Sympathien sind unverbindlich. Sie sind Demokraten; Aristokraten auch. Sie sehen die industrielle Demokratie kommen, in der ihresgleichen nicht mehr gelten wird, und zucken die Achseln. Sie sehen auch die kommunistische Diktatur kommen, Heine sogar einmal im Bündnis mit der katholischen Kirche, und sind von solchen Ansichten weder erbaut noch tief erschüttert. Sie hassen die Reaktion, die Rückzugsgefechte der Dunkelmänner, geben sich aber keine Mühe, ihre Schwäche für kultivierten Adel zu verbergen. Sie sind Volksfreunde und auch nicht, weil sie sich über das »Volk«, wie es wirklich ist, keine Illusionen machen. Sie sind Romantiker; wissen sich als die letzten der Romantiker; verspotten die, die nicht glauben wollen, daß die Romantik am Ende ist; und jene, deren neuer Lebenscharakter die Romantik zerstören muß, die materialistische Bourgeoisie, in gleicherweise. Sie sind wirklich durch ihre Kunst geschützt. Nicht bloß gegen Verzweiflung, zu der sie ohnehin nicht neigen; auch gegen ein gar zu grimmiges Ernstnehmen der Dinge. Die Frage, die Heine den Einwänden gegen eine seiner Schriften entgegenhielt: »Aber ist's nicht schön ausgedrückt?«, könnte als Motto über solcher im letzten nur künstlerisch, nicht geistig verantwortlichen Gedanken-Kunst stehen. Unerschöpflich interessant bleibt sie; über das, was Europa damals war und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
526
zukünftig werden würde und warum, ist von ihr soviel zu lernen, wie von den bitteren, den tieftraurigen Propheten. Ihre höchste Höhe erreichte die europäische Zeitkritik wie die europäische Seelen-Kritik, die Psychologie, in Friedrich Nietzsche. Was danach kam, mußte durch Nietzsche hindurchgegangen sein, und sehr stark von ihm geprägt. Er hielt sich für einen radikal-verantwortlichen Denker, dem das Schicksal Europas auf den Schultern lastete und der es trug, weil einer es tragen mußte. Integer war er, wenn je ein Mensch es war; aber seine Meinungen sind voller innerer Widersprüche, sind doppeldeutig; von der Sprache ließ auch er, der größte Meister deutscher Prosa, sich hinreißen. Nicht zufällig liebte er Heine und Stendhal; in der glühenden Bewunderung Napoleons trafen sich alle drei. Daß Nietzsche mit 44 Jahren zusammenbrach und in Geisteskrankheit endete, mag man für stimmig oder symbolisch halten; er verbrannte sich selber wie Empedokles, der in den Vulkan des Ätna sprang. Nietzsche prophezeite ein Jahrhundert der Weltkriege, der furchtbarsten Konvulsionen; in ihnen würden alle ausgestampft werden, die nicht lebenswert waren, die Schwachen, Frommen, seelisch Verkrüppelten samt ihren Sklavenidealen, Christentum, Mitleid, Sozialismus, und die Starken übrigbleiben. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
526
Leben, schöne Erfüllung des Augenblicks sei Macht und Wille zur Macht. – Die Prophezeiung war doppeldeutig. Er fürchtete, was er enthusiastisch zu bejahen behauptete, und schon das blasse Vorspiel kommender Katastrophen, der Krieg von 1870, erschütterte ihn ungefähr wie Burckhardt und Flaubert. Daß seine Heimat, Deutschland, sich neuerdings dem Kult der Macht verschrieben hatte, zum Machtstaat geworden war, ekelte ihn an; ein Herunterkommen zur Macht, kein Aufstieg, ein Verrat an den besseren deutschen Traditionen. Noch tiefer widerte ihn die »Herzenskrätze« des Nationalismus: Er war Verdummung, Lüge, war übrigens, trotz der »Politiker des kurzen Blickes und der raschen Hand«, die sich seiner bedienten, eine gänzlich ephemere Sache. Das, worauf Europa in Wahrheit hinauswollte, was Napoleon schon vorweggenommen hatte, war Einheit; nicht der »Nationalitätswahnsinn«, der seine Zivilisation anachronistisch zersplitterte. – Nietzsche hat selber gelegentlich nicht eben geschmackvolle antisemitische Bemerkungen niedergeschrieben. Aber die Äußerungen, die seinen tiefen Haß des Antisemitismus, seinen bis zum Physischen gehenden Ekel vor den Antisemiten bezeugen, sind hundertfach an der Zahl; in einem der Briefe, die er in den ersten Tagen nach seinem Zusammenbruch ausgehen ließ, wußte er zu berichten, er habe eben die Erschießung aller Antisemiten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
527
befohlen. – Die Starken, Einfachen, Gewissenlosen wollte er lieben, der selber das zarteste und schärfste Gewissen besaß. Die »Décadence« des späten 19. Jahrhunderts wollte er richten; meinte aber, im »Ecce Homo«, der Schrift, die am Rand des Wahnsinns, aber keineswegs schon in ihm steht, er sei selber ein Décadent, wenn nicht ein Hanswurst. Der große Kunstkritiker, Musikkritiker vor allem, der er war, kannte, durchschaute, liebte, was er als »krank« verurteilte, das Raffinierte, Geschichtsbeladene, Reiche, Überreiche; nie konnte er schöner schreiben als da, wo er über die späten Romantiker, Berlioz, Delacroix, auch Wagner, schrieb. – Dergleichen meinten wir, wenn wir sagten, seine Urteile seien nicht so eindeutig gewesen, wie er dort, wo er Prophet war, glaubte und bei dem ihn bezeichnenden Extremismus wohl glauben mußte. Er verachtete die Massen, das »auf dem Bauch Liegen vor den Massen«, sozialistischer oder nationalistischer Tendenz, das jetzt Mode wurde, und sehnte sich nach neuer Herrschaft, neuen Herren. Aber diese Herren – er wollte es nicht sehen und ahnte es doch – würden ja Massen-Herren sein und nur zuviel von dem haben, was sie beherrschten – ein Widerspruch, der krasser und gefährlicher wurde bei den deutschen und nicht-deutschen Epigonen Nietzsches im 20. Jahrhundert und bei den Massen-Herren, die nun Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
527
erschienen, selbst. Was eine von ihrer Geschichte emanzipierte, glaubenslose Gesellschaft ist oder konsequenterweise werden muß, hat kein anderer gesehen, wie Nietzsche es sah und in seinen Betrachtungen über den »europäischen Nihilismus« formulierte. Auch hier blieb dunkel, ob er bejahte, verneinte oder nur erlebte – wir vermeiden das verbrauchte Wort »erlitt«, obgleich es hier wohl das rechte wäre. Sein zentrales Erlebnis liegt hier. »Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures knüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab...« – Die positiven aristokratischen Lehren, die er bot und die, auch in ihrer Stilisierung, von zeitbedingtem Schwulst nicht ganz frei waren, geben wir heute billig. Leider waren gerade sie es, die auf die Nachwelt am stärksten wirkten und zu allerlei Kreis- und Sektenbildungen dünkelhafter Mittelmäßigkeit anregten. Die Zeitkritik des kranken, sich in Einsamkeit schrill übersteigernden und verzehrenden Genies war das Nonplusultra. Sie war eminent europäischer Art, und Nietzsche wußte es, der sich gern einen »guten Europäer« nannte. Geschichtsbewußt war sie auch, sosehr er den deutschen Historismus seiner Zeit verachtete. Es gibt einen Artikel Nietzsches, in dem er die Jahrhunderte der europäischen Moderne passieren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
528
läßt und jedes so knapp wie meisterlich charakterisiert. Er kannte seine Ahnen. Zeitkritik gab es auch im 20. Jahrhundert noch, von hochpriesterlichen Dichtwerken bis zu bitterem, Witze sprühendem Feuilleton. An Ereignissen und Stimmungen, welche zu ihr anregten – die Stickluft der Jahre vor 1914, der Krieg, die große Wirtschaftskrise –, hat es nicht gefehlt. Im Gegenteil, man könnte sagen, daß die Wirklichkeit es der Kritik nun zu leicht zu machen anfing, daß es nicht mehr das Genie Nietzsches brauchte, um der eigenen Zeit entfremdet zu sein. Faßt man den Begriff der Zeitkritik weiter, so gehören ja auch die meisten Romane höheren Ehrgeizes dazu, die im 20. wie im 19. Jahrhundert erschienen. Ebenso dann die Auflösung der Kunstform, aus der Erkenntnis heraus, daß der Zeit mit den traditionellen Mitteln der Erzählung nicht mehr beizukommen sei; die Auflösung des epischen Helden, des Individuums, in ein Bündel aus dem Unterbewußtsein quellender Assoziationen, wie James Joyce sie in seinen Romanen forcierte; das Erlebnis der Wirklichkeit als Hölle, Gottes als Satan, wie ein allzuviel besprochener böhmischer Autor sie in seinen Erzählungen quälend abwandelte. Der nervöse Reisende wird sich vor dem herannahenden Seesturm mehr fürchten, als wenn er mitten darin ist. Es ist die ahnende Phantasie, welche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
528
ängstigt; zu spüren, was die meisten noch nicht spüren. Das mag ein anderer, verwandter Grund dafür sein, daß Zeitkritik im vorgerückten 20. Jahrhundert nicht mehr die Rolle spielt wie im 19. Um die Gefahren unserer Zeit zu spüren, bedarf es keiner Phantasie mehr; »Entfremdung« ist ein gängiges Wort geworden, das die Soziologen auf das Erleben nicht einzelner Künstler, sondern ganzer Gruppen anwenden. Früher, meinte unlängst ein österreichischer Schriftsteller, hatten die Menschen mehr Phantasie als die Dinge und sahen voraus. Heute haben die Dinge mehr Phantasie als die Menschen; sie sind schon da und mit Händen zu greifen, aber man muß gewaltige Denkanstrengungen machen, um auch nur zu erfassen, was sie bedeuten. Was ein anderer Schriftsteller mit dem Titel seines Buches »Die Zukunft hat schon begonnen« hübsch ausgedrückt hat. Die Zukunft, welche die Zeitkritiker des 19. Jahrhunderts angstvoll voraussahen, ist zur undurchdringlich dichten Masse der Gegenwart geworden. Damit ist die Utopie verloren. Damit sind auch die großen »Ideologien« verloren, welche ehedem sich um den Sieg stritten, Liberalismus, Sozialismus und so fort. Sie reichen noch zu Sonntagsreden. Für die Aufgaben, welche die Wirklichkeit stellt, ist wenig aus ihnen zu gewinnen.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
528
Die Industrie-Gesellschaft Vom Staat, von Revolution und Demokratie, von Geschichtsbewußtsein und Zeitkritik hat Europa nicht leben können; obgleich zwischen dem, wovon es seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr gelebt hat, seiner Industrie einerseits, andererseits Staat, Revolution, Demokratie, Geschichtsbewußtsein, sehr enge Beziehungen bestehen. Die Energie des Staates, des merkantilistischen, des nationalistischen, des Krieg führenden, hat die Entwicklung der Industrie gefördert. Eine völlig »unpolitische« Wirtschaft kennt die europäische Moderne in der Theorie der Freihändler, aber in keiner Praxis. Der Fortschritt der Wissenschaft, dann der Industrie, hat den allgemeinen Fortschrittsbegriff geprägt. Die Industrie ist zuerst klassenbildend, dann klassenauflösend gewesen. Revolution und Demokratie waren politische Ziele erst des industriellen, kommerziellen Bürgertums, dann der Arbeiterschaft. Selten aber waren jene, welche die Dinge machten oder zu ihrem Machen antrieben, zugleich die, welche, enthusiastisch oder kritisch, über sie nachdachten. Rousseau, Tocqueville, Marx, Nietzsche hätten keine Stecknadeln produzieren können, Oswald Spengler, Max Weber kein Automobil; ein Umstand, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
529
über den einer der größten amerikanischen Industriegründer, Henry Ford, sich etwas billig lustig machte: Er wollte ein Dutzend dieser siebengescheiten Professoren hinausnehmen zu einer seiner Fabriken und sie ihnen überlassen, da sollten sie einmal zeigen, was sie könnten. Nun, sie konnten etwas anderes, worin Ford der Stärkste nicht war. Hier herrschte die längste Zeit Arbeitsteilung. Selbst da, wo beide Interessen in einer Person koinzidierten, blieben sie getrennt der Sache nach; etwa in Walther Rathenau, dem deutschen Industriellen, der als Geschäftsmann so lebte und handelte wie andere Geschäftsleute und nebenher seine gedankenreichen, »zeitkritischen« Bücher schrieb. Geistige Bestrebungen blieben, mit den Augen der Arbeitswelt gesehen, parasitär. – Es wurde schon erwähnt, daß zum Beispiel die amerikanischen Pragmatisten, die Überwindung dieses Dualismus forderten; nicht ganz ohne Erfolg oder nicht ohne Intuition des Kommenden. Denn wir sehen heute die Rolle des einsamen Propheten verringert, jene des am öffentlichen Leben aktiv teilnehmenden Adepten der Gesellschafts- wie der Naturwissenschaften gesteigert. In Rußland ist längst die Tendenz deutlich, den Wissenschaftler auch mit politischen Ämtern zu betrauen. In WesteuropaAmerika sucht oder erhält er sie selten. Aber unzählige öffentliche Behörden werden von unzähligen gelehrten Gremien beraten. Das Bewußtsein, daß nun Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
529
der Moment gekommen ist, in dem alle Kenntnisse aller Praxis verfügbar sein müssen, besteht hier wie dort. Lange Zeit hat man die Begriffe »Kapitalismus« und »Industrie« ungefähr gleich gesehen. Dieser schuf jene und wurde groß daran; beide existierten nur zusammen. In den Werken von Marx wie noch von Max Weber dominierte die Frage: Was ist Kapitalismus, wie funktioniert er, wie ist er entstanden, gerade dann und dort und anderswo nicht? Wirtschaftliche Leistung, Wirtschaftsordnung, Geist der Wirtschaftsordnung wurden auf das engste zusammen gesehen. Anders versteht man es in unseren Tagen. »Kapitalismus« ist nur noch das Vehikel, welches die Sache eine Zeitlang vorwärts trug und in einem Teil der Erde auch noch heute trägt, so stark verändert jedoch, daß ein neuer Name auch für das Vehikel nützlich wäre; Kapitalismus ist nicht mehr die Sache selber. Die industrielle Gesellschaft ist die Sache selber. Diese, haben wir gelernt, kann auch aus anderen Motiven heraus, mit anderen Mitteln der Steuerung, im Rahmen einer anderen Eigentumsordnung entwickelt werden; nicht jedoch: mit Hilfe einer anderen Wissenschaft, einer anderen industriellen Hierarchie. Diese sind die Substanz der Sache, die Eigentumsordnungen, die sie treibenden und von ihnen getriebenen Interessen, die Form. Je reifer die industriellen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
530
Gesellschaften werden, desto mehr tritt die Bedeutung der formalen Unterschiede zurück, desto mehr zählen die Resultate, welche denn, im »kommunistischen« Rußland, im »kapitalistischen« Europa-Amerika nach ein paar Jahrzehnten erstaunlich ähnlich sein werden. (Wenn sie es nicht schon sind.) Im Anfang war es anders, mußte es anders sein, solange man die Sache nicht kannte. Die zuerst aus Werkstätten Fabriken machten, die zuerst Kapital bildeten, um ihre Produktion zu erweitern, wußten nicht, wohin sie gingen, wohin das ginge; sie hatten ihren Erwerbstrieb, ihre Freude am persönlichen, schöpferischen Experiment und Abenteuer. Der Staat konnte sie behindern oder ihnen helfen in dem Maß, in dem sie selber Einfluß auf den Staat gewannen. Zu erfinden, was sie erfanden, zu wagen, was sie wagten, lag nicht in seiner Natur. Er konnte, in Europa, die Eisenbahnen erst übernehmen, nachdem sie sich, von privater Hand gebaut und geführt, längst bewährt hatten. Er konnte, in Rußland, »Fünfjahrespläne« zur forcierten Industrialisierung der Gesellschaft erst dann aufstellen, als man das Bild in jahrhundertelanger Arbeit planlos entstandener industrieller Gesellschaften bereits vor sich hatte. Dann und dort konnte er es. Das Prinzip des gesamtindustriellen Aufbauplanes, zuerst eingeführt von dem »kommunistischen« Despoten Joseph Stalin, ist nicht nur von Gemeinwesen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
530
übernommen worden, die sich erst am Beginn einer industriellen Entwicklung befanden, China, Indien, Ägypten; es hat auch auf ältere, reifere Industriegesellschaften, Italien, Frankreich, zurückgewirkt und selbst dort, wo man es in der Theorie verwirft, spotten die Wirkung wirtschaftlicher Gesetzgebung, die wirtschaftliche Macht des Staates als des bei weitem größten Auftraggebers, der Einfluß überwachender, beratender, vor-rechnender Gremien jeder kapitalistisch-freihändlerischen Tradition. – Den Gegensatz zwischen kapitalistischer und kommunistischer Industriegesellschaft gibt es noch, aber er ist längst nicht so tief und so rein, wie er, zur Zeit der Unreife der Wirklichkeit, der Idee nach hätte sein sollen; auch liegt er nicht da, oder nur da, wesentlich da, wo er hätte liegen sollen. Weil er nicht mehr, oder nur noch im veralteten Denken kommunistischer Dogmatiker, herrschend ist, so hat wohl die Frage, wie, wann, warum der »Kapitalismus« entstanden sei, seine frühere Bedeutung nicht mehr. Max Weber, der dieser Frage die ganze Kraft seines forschenden Genius widmete, urteilte selber: Die besondere Ethik, welche ursprünglich das Werden des Kapitalismus beflügelte, spiele in seiner Zeit, im frühen 20. Jahrhundert, in Amerika und England eine noch eben erkennbare, aber verschwimmende Rolle. Die Sache, einmal zur Welt gebracht, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
530
hatte ihre eigene Dynamik und bedurfte ihres Ursprunges nicht mehr. Heute sehen wir, auch in »kapitalistischen« Ländern, die gewaltigsten und kostspieligsten wissenschaftlich-technischen Unternehmungen ohne die Kernprinzipien betrieben, auf die ihre Machbarkeit historisch zurückgeht: In der amerikanischen »Kosmonautik« wird nach Rentabilität sowenig gefragt wie in der russischen (und wird soviel geplant wie in der russischen). Der unmittelbare, bewußte Zweck ist hier ein politischer: Prestige des Staates, der Nation, des konkurrierenden Gesellschaftssystems; vielleicht vermehrte militärische Macht, obgleich die Frage berechtigt ist, ob man vom Mond aus die Erde wirksamer wird bedrohen können, als man es schon von der Erde aus kann. Im Grunde ist es die Freude am großen Abenteuer selber; ein Trieb, der sein Ziel und seine endliche Wirkung sowenig kennt, wie die Entdecker des 15. Jahrhunderts, wie die frühen Industriegründer das Ende ihres Abenteuers kannten. Den Einfluß der calvinistischen Ethik, des Geistes »innerweltlicher Askese« auf das frühe angelsächsische Unternehmertum haben Weber und R. H. Tawney unwiderleglich gezeigt. Man hat dagegen eingewendet, daß eine religiöse Gesinnung wohl mitbedingend wirken mag, zur Basis für eine gewaltige soziale Umwälzung aber an sich nicht ausreichen kann, wenn Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
531
andere Bedingungen fehlen. Auch: daß es Sammler ungeheurer Reichtümer nicht nur zu Zwecken der Lebenslust, der Ostentation, der politischen Macht, sondern im harten Dienst des Unternehmens lange vor Calvin gab, Großunternehmer, denen die Technologie, nicht aber der Geist des Kapitalismus fehlte; zum Beispiel die Fugger in Augsburg. Was alles vorbereitend wirken, was bedingend zusammenfließen mußte, um im England des 18. Jahrhunderts den Beginn einer kapitalistischen Industrie herbeizuführen, Emanzipation von der Kirche, aber nicht von der Religion, Bewegung der Wissenschaft, Auflockerung der Gesellschaft, verbunden mit der Blockierung der begehrtesten öffentlichen Ehren für gewisse Klassen und Typen, schon vollendete Erarbeitung der Formen des Bank- und Kreditwesens, welcher der frühe Kapitalist sich bedienen konnte, neue Länder in Übersee, schließlich billige Arbeitskräfte, das sind historische Fragen, deren Beantwortung zu einer Charakteristik der gegenwärtigen Situation nicht notwendig gehört. Auch dort nicht gehört, wo Gemeinwesen erst heute im Ernst in das Industriezeitalter eintreten. Die Bedingungen sind völlig verschieden bei denen, die spät nachahmen, was andere vor Jahrhunderten begannen. Die ungeheuren Beispiele vor sich, mit Ausbildern und Kapitalgeschenken oder Anleihen zu väterlichen Bedingungen versehen, können sie ganze Epochen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
531
überspringen. Nicht zur Charakteristik der Gegenwart gehörig ist die ganze lange Geschichte des »Kapitalismus«; oder wäre es nicht, hätte nicht in der Frühzeit, ihre Beobachtungen aus der Frühzeit nehmend und in die Zukunft projizierend, eine Theorie, eben die marxistische, sich ausgebildet, die dem Machtanspruch zweier Weltmächte nach noch heute gültig sein soll. Daß am Anfang, daß lange Zeit schlimme »Ausbeutung« der Industriearbeiter war und, rein ökonomisch gesehen, sein mußte, weil anders als durch »Mehrwert« Kapital nicht gebildet, Expansion nicht erreicht werden konnte, kein Wirtschaftshistoriker leugnet es. Im Rußland der ersten Fünfjahrespläne gab es sie auch; mit dem psychologischen Unterschied, daß man hier nicht von privaten Unternehmern »ausgebeutet«, sondern für den Aufbau des Gemeinwesens »an die Arbeitsfront geworfen« oder, zur gerechten Strafe, in Sklavenlagern geschunden wurde. Die brutalen Klassenkämpfe im England und Frankreich der 1830er und 40er Jahre, im Amerika und Deutschland des späten 19. Jahrhunderts, die ungeheuren ökonomisch-politischen Machtzusammenballungen des Kapitals, sein In-denDienst-Nehmen und Korrumpieren des Staates und der Gerichte, der Wettkampf um fremde Märkte in einer Zeit, als der heimische schon der beste, die Kaufkraft der Massen schon zu heben gewesen wäre, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
531
die periodischen Krisen anarchisch-freier Marktwirtschaft, gipfelnd in der großen Krise unserer dreißiger Jahre, deren Ursachen schon überwiegend politisch, nicht mehr markt-mechanischer Art waren – all das ist so wahr, wie es heute nur noch eine Legende aus überwundener Vergangenheit ist. Wo die Gewerkschaften der Arbeitnehmer frei, mächtig, ihren Partnern in wirtschaftlichem Machtspiel ebenbürtig sind; wo die politischen Parteien Volksparteien sein, die Interessen riesiger Wählergruppen, nicht aber geringer Minderheit wahrnehmen müssen; wo daher der Staat als Überwacher und Schiedsrichter intervenieren muß, sobald Gruppen, die zahlenmäßig ins politische Gewicht fallen, in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht oder beeinträchtigt sind; wo der von den Besitzenden verzehrte Kapitalgewinn verschwindend gering geworden ist, verglichen mit der Masse der Arbeitseinkommen und den Investitionen, welche dem Wachstum der Produktivität dienen; wo die Produktivität ein Maß erreicht hat, das den elementaren Bedürfnissen aller nicht nur entspricht, sondern es bei weitem übersteigt; wo die allgemeine Wohlhabenheit so groß geworden ist, daß die am meisten bezeichnende, uralte Erscheinung der Armut, die Bedienung der wenigen durch die vielen, vollständig aufgehört hat und der Millionär sich seine Schuhe selber reinigen muß – da ist die Frage, wem die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
532
Produktionsmittel juristisch gehören, oder welcher Menschentyp als »Manager« über sie verfügt, immer noch von Bedeutung, aber nicht mehr von primärer; die Gesellschaft ist zu reich und zu dicht geworden, als daß »Verstaatlichungen« sie noch entscheidend verändern könnten. Eine Unzahl von Einrichtungen, von der progressiven Einkommensteuer bis zur Altersrente für jedermann, haben den im 19. Jahrhundert erträumten »Sozialismus« verwirklicht, ohne daß die meisten »Kapitalisten« (und die meisten »Sozialisten«) es auch nur gemerkt hätten. Der Streit zwischen Kommunisten und Amerikanern, Moskau und Washington, wird häufig als einer zwischen zwei »wirtschaftlichen Ideologien« verstanden: Volkseigentum versus Privateigentum, Herrschaft der Arbeiterklasse versus Herrschaft der Kapitalisten, Planwirtschaft versus Free Enterprise und so fort. So wollen die Russen die Sache verstanden haben. Das Bedauerliche ist, daß die andere Seite sie häufig auch so versteht, also ihren Gegnern auf den Leim geht und Free Enterprise verteidigt, als sei sie etwas Heiliges. Hierdurch sind die Vereinigten Staaten ein wenig in die Rolle gekommen, welche Metternichs Heilige Allianz im 19. Jahrhundert spielte: Überall auf Erden für ein Prinzip zu sein, dem nach Ansicht vieler, auch nicht-kommunistischer Beobachter, die Zukunft nicht gehört – Free Enterprise – und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
532
überall auf Erden gegen ein Prinzip zu sein, dem nach Ansicht vieler Beobachter die Zukunft gehört – Planwirtschaft. Es ist zu beklagen, daß eine so törichte, dem Gegner so willkommene Vereinfachung der Dinge zugelassen wurde. Ausdrücke wie »Volkseigentum« oder »Herrschaft der Arbeiterklasse« sind barer Unsinn. Begriffe wie Planwirtschaft, Kapitalismus, Free Enterprise decken so viel Unterschiedenes, daß sie ohne reichliche Spezifikationen längst unbrauchbar geworden sind. War die amerikanische Wirtschaft im Jahre 1865 kapitalistisch, so ist sie es im Jahre 1965 nicht mehr, weil das Heute von dem Damals sich unterscheidet wie Tag von Nacht. Anstatt eines Hantierens mit leeren Begriffen gäbe es wohl konkrete Fragen, durch welche die Unterschiede, wie auch die Ähnlichkeiten, zwischen der amerikanischen und der russischen Gesellschaft, zu erfassen wären. Wie wird das Sozialprodukt wirklich verteilt? (Hier würde herauskommen, daß zwar die amerikanischen Spitzeneinkommen noch immer höher sind als die russischen, daß aber der amerikanische Fabrikarbeiter und Angestellte nicht nur absolut, was uninteressant wäre, sondern relativ besser gestellt ist als der russische.) Welche Macht haben die amerikanischen Gewerkschaften, verglichen mit den russischen? (Viel mehr.) Wo überhaupt ist Macht zentriert? (In Rußland fallen politische und ökonomische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
533
Macht beinahe ganz zusammen. In Amerika sind sie verschiedenen Ursprungs und konkurrieren, jedoch gibt es enge Verbindungen zwischen beiden.) Was sind Ziel und Wunschtraum der Gesellschaft? (In Amerika allgemeine Prosperität, Abschaffung der Armut und des Leidens, wissenschaftliche Beherrschung der Natur. In Rußland auch; wobei, lächerlicherweise, das Nahziel ist, die angeblich von inneren Widersprüchen zerrissene, dekadente, agonisierende amerikanische Wirtschaft einzuholen – ein Ziel, das immer wieder in greifbarer Nähe sein soll und immer wieder an den fernen Horizont rückt.) Wie verhält es sich mit der von beiden Gesellschaften behaupteten Gleichheit der Aufstiegsmöglichkeiten? (Der Unterschied dürfte nicht sehr groß sein. In beiden Ländern rekrutieren die Mittelklassen sich überwiegend aus sich selbst; in beiden hat der begabte, ehrgeizige junge Mensch aus dem Arbeiterstand Möglichkeiten aufzusteigen, von denen aber nur relativ wenige Gebrauch machen.) Wer wird von der Gesellschaft am meisten geschätzt? (In Amerika der erfolgreiche Geschäftsmann; der brillante Politiker; der führende Sportler; der Star der Unterhaltungsindustrien; neuerdings der bedeutende Wissenschaftler. In Rußland ist es nicht viel anders.) Was ist die wirtschaftliche Funktion der freien Konkurrenz? (In Rußland theoretisch keine; in Amerika theoretisch eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
533
allbeherrschende, praktisch eine immer noch sehr beträchtliche; aber jedermann weiß, welche Faktoren, angefangen bei jenem Zehntel des Sozialproduktes, welches die nationale Verteidigung verschlingt, ihre Wirkung eingeschränkt haben und aller schönen Reden zum Trotz weiter einschränken werden.) Welchen Einfluß nimmt der Staat auf das Wachstum der Wirtschaft? (In Rußland der Absicht nach einen allentscheidenden; diese Absicht wird durch die Masse natürlicher und menschlicher Widerstände durchkreuzt. In Amerika ist die Theorie ungeklärt; dem Evangelium von Free Enterprise stehen Gesetze gegenüber wie der Full Employment Act von 1946, der dem Bund die Verantwortung dafür zuweist, daß alle Bürger Arbeit finden. Tatsächlich besitzt die Bundesregierung ein ungemein vielfältiges, wissenschaftliches und praktisches Instrumentarium, um die Entwicklung der Wirtschaft zu überwachen, zu fördern oder gegebenenfalls zu verlangsamen, und es ist völlig ausgeschlossen, daß Zustände wie die von 1932 je wieder zugelassen werden könnten.) Welche Ökonomie ist die erfolgreichere? (Die amerikanische noch immer bei weitem, gewisser Gebiete, in denen die russische überlegen ist, ungeachtet.) In welcher Ökonomie sind Verschleiß und Verschwendung schädlicher? (Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Die amerikanische kann verschwenderischer sein und ist es, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
533
weil sie ungleich produktiver ist. Insofern sie durch den Markt, also den Verbrauch, gesteuert wird, müßte sie die rationalere sein, wenn man annimmt, daß der Verbraucher weiß, was er will, und daß er das Rechte will. Dem steht gegenüber, daß die ungeheure Produktivität zur künstlichen Schaffung neuer, mitunter alberner Bedürfnisse zwingt und die Reklame zu einer der kostspieligsten, volkswirtschaftlich gesehen jedoch unproduktiven Industrie geworden ist. – Die Verschwendung in Rußland beruht auf Fehlsteuerung durch die staatlichen Planungsbehörden, unergiebigen Experimenten, verheimlichtem, nicht durch geschäftlichen Zusammenbruch bestraftem Versagen der Leitenden und so fort. Wo dem Verbraucher vorgeschrieben wird, was er kaufen darf, da ist das System gut in dem Maß, in dem die planende Behörde es ist und in dem sie die Menschlichkeit der Ausführenden beherrscht.) Welche Ökonomie ist stärker von volkswirtschaftlich unproduktiven Rüstungsausgaben abhängig? (Zweifellos die amerikanische, und das ist der stärkste Einwand gegen sie. Eine allgemeine Abrüstung würde die russische Wirtschaft bei weitem nicht in dem Maße mit Chaos und Zusammenbruch bedrohen wie die amerikanische; eine Überlegenheit, welche durch die totale Befehlsgewalt des Staates, die mit ihr verbundenen Unfreiheiten und materiellen Beengtheiten erkauft wird. Übrigens könnten auch in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
534
Amerika Staat und Gesellschaft das wirtschaftliche Problem der Abrüstung lösen und würden es gegebenenfalls lösen müssen, wozu es schon heute an vorbereitenden wissenschaftlichen Forschungen nicht fehlt.) – Fragen dieser Art ließen sich viele stellen. Vom Kampf der »Ideologien« würden sie alle fortführen und statt dessen zur Erfassung und Unterscheidung der Wirklichkeit beitragen. Man hätte den Kommunisten die Formulierung des großen Streites in den ihnen eigenen wirtschaftlichen Begriffen nie abnehmen dürfen; als ob diese rein praktische Sphäre der Gegenstand einer Art von Theologie, von heiligen und endgültigen Doktrinen sein könnte und sollte. Es mag sein, daß die amerikanische Ökonomie, trotz ihrer tiefen Veränderungen in den letzten drei Jahrzehnten, noch immer zu anarchisch ist. Der Schreiber dieser Zeilen glaubt, daß sie es ist, daß die hektische, fast hysterische Reklame, die unlängst zugunsten der Angebote der Bomb-Shelter-Industrie getrieben wurde, oder die bekannten Enthüllungen über die »Kosten des Todes« dafür sprechen. Die weitere Eindämmung dieser im Vergleich mit früher schon stark eingedämmten Anarchie ist eine praktische Frage. Jedes Land wird sie anders lösen, jedes Land mag immerhin auch von anderen lernen. Da Frankreich so sehr viel von Amerika gelernt hat, so ist kein Grund, warum in der neuen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
534
Kunst des Planens Amerika nicht auch ein wenig von Frankreich übernehmen sollte. Mit Theologie, mit den letzten Verpflichtungen und Wertungen des Menschen hat das nichts zu tun. Der Streit der Ideen soll nicht geleugnet werden. Aber er geht nicht um Praktiken der Wirtschaft; sucht man ihn dort, so gibt man dem Gegner schon halb recht. Er beruht vielmehr darauf, daß das offizielle Denken der Russen monistisch ist, daß sie das all und eine historische Ziel der Menschheit zu kennen glauben, woraus der grimmige Ernst ihres Lebens und Arbeitens, der Aufbau ihrer gesellschaftlichen Hierarchie, die besondere Art ihres Imperialismus sich ableiten; während das amerikanische Denken pluralistisch und empirisch ist. Der Unterschied zwischen Amerikas politischen Parteien, diesen wunderlichen Interessen-Agglomeraten und wandelbaren Ideen-Gemischen, und der russischen Ein-Partei, die in Wahrheit ein staatstragender Orden ist, drückt den Gegensatz deutlicher aus als der Unterschied zwischen amerikanischer Demokratie und russischem Despotismus (den die meisten Russen nicht empfinden). Beide Systeme, ihrer Wirklichkeit nach in den vierziger Jahren noch weltenweit voneinander entfernt, haben konvergiert und werden weiter konvergieren. Die russische Ökonomie hat eine Reife erreicht, deren Früchte, in der Gestalt allgemeinen, wenigstens Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
534
mäßigen Wohlstandes, den Menschen nicht mehr vorenthalten werden können, selbst wenn der staatstragende Orden es wünschte. Um die Einführung der Prinzipien der Konkurrenz, der Rationalität und Rentabilität bemüht man sich, mit noch unsicherem Erfolg in verschiedenen »kommunistischen« Staaten. Auf der anderen Seite ist, von Präsident Roosevelts New Deal bis zu Präsident Johnsons Great Society, die Zielsetzung der amerikanischen staatlichen Wirtschaftspolitik eine immer ehrgeizigere, immer sozial bewußtere geworden. Es ist die Union, welche für den Schutz der Natur, der Wälder und Gewässer, welche für die Förderung von Erziehung und Wissenschaft, die Auslese von Begabten, die Sicherheit der Arbeitsplätze, die Pflege der kranken und die Versorgung der alten Bürger, die Gesundung und Verschönerung der Städte, kurz, welche für das Glück des Landes und seiner Bewohner sich in einem Maße verantwortlich macht, demgegenüber die Programme und Sonntagsreden der Liberalen alten Stils nicht einmal mehr als ernste Rückzugsgefechte erscheinen. Zwischen dem russischen und dem amerikanischen Pol tragen die Demokratien Europas ihre Nuancen bei; Nuancen des Planens und Kontrollierens, Nuancen der Sozialgesetzgebung, Verbindungen von Staatsbesitz, öffentlichem. Besitz, privatem Besitz. – Die Zeit wird kommen, da der Gegensatz zwischen »Kapitalismus« und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
535
»Kommunismus«, der ein paar Jahrzehnte lang angeblich die Menschheit beherrschte und bedrohte, als das verstanden werden wird, was er im Grunde immer war: als dogmatisches Mißverständnis eigentlich lächerlichen Charakters. Wir werden dann um eine Sorge ärmer sein, und es werden genug andere übrigbleiben; ewig-menschliche, die keine Technologie beseitigen kann, und neue, welche eben diese schafft, indem sie uns von alten befreit.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
535
Kann man das Wesen seines eigenen Zeitalters bestimmen? Der Drang, das eigene Zeitalter in seinem Verhältnis zu anderen Zeiten, zur Zeit überhaupt, zu definieren, ist auch heute nicht verstummt. Man spricht vom »Ende der Neuzeit«, von einer »nachchristlichen«, sogar einer »nachzivilisatorischen« Zeit. Anregende Gedanken zentrieren sich um solche Schlagworte; aber nicht mehr als das. Wenn man der »Neuzeit« gewisse Wertungen, humanistische Bildung, Kult der autonomen Persönlichkeit, als konstituierend unterlegt und andere Bestrebungen wegläßt, so mag man für das »Ende der Neuzeit« sinnvoll argumentieren. Es ist ja aber klar, daß die vier- bis fünfhundert Jahre der Neuzeit nicht von einer einzigen noblen Wertskala beherrscht wurden. Nicht minder fordert der Ausdruck »nachchristliche Ära« zur Kritik heraus. Die christlichen Kirchen sind noch da und so stark da, daß selbst gewisse kommunistische Staaten mit ihnen paktieren müssen. Auch ist die christliche Tradition, zum Beispiel die Idee der menschlichen Gleichheit, zum Beispiel die Idee der Verantwortung für jene, die sich selber nicht helfen können, von nichtchristlichen Gesellschaften aufgenommen worden. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
535
Anregend aber zum Widerspruch ist der Ausdruck »nachzivilisatorisches Zeitalter«. Unsere Zivilisation ist die dichteste, die es je gab, und sie setzt frühere Phasen der Zivilisation fort. Zivilisation ist sowenig am Ende, wie das Neolithikum mit der Erfindung der Bronze oder mit dem Bau der ersten Städte zu Ende ging. Was in neolithischen Zeiten erarbeitet worden war, Ackerbau, Viehzucht, dörfliche Siedlungen, blieb und ist heute nicht verloren. Die These vom »Ende der Zivilisation« wird mit der vom Ende des Krieges verbunden. Krieg sei das Lebenselement der Zivilisation, der Hauptinhalt der Geschichte gewesen; Krieg könne jetzt nicht mehr sein. Wozu zu sagen ist: Krieg oder kriegsähnliche Handlungen gab es schon vor Beginn der Zivilisation, vor Erfindung der Schrift, vor dem Bau der ersten Städte. Allerdings ist der Krieg zivilisationsfördernd gewesen; aber das, was der Krieg förderte, mag so weit getrieben worden sein, daß es nun seinen alten Förderer und Wegbegleiter nicht mehr brauchen kann, ohne deswegen selber sein Dasein zu verlieren. Übrigens ist noch nicht ausgemacht, daß Krieg nicht mehr sein wird oder sein kann. Machtstreben gibt es wie eh und je; für die Vorbereitung des Krieges wird mehr Arbeit, mehr Ingenium gebraucht als je; im Licht aller Erfahrung ist ein zukünftiger großer Krieg wahrscheinlich. Daß wir, die wir nicht im blinden Wirbel Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
536
des Machtkampfes stecken, ihn nicht wollen oder seine drohende Wirklichkeit nicht zu fassen vermögen, ist eine andere Sache. Ob die vernünftige Furcht vor ihm für immer stärker sein wird als das unvernünftige Lüsten nach ihm, muß sich noch zeigen. Wann? In einigen Jahrzehnten. Sieht das 20. Jahrhundert keinen großen Krieg mehr, dann dürfte das 21. auch keinen mehr sehen, denn immer würde man einen riesigen Apparat, der zu nichts nütze ist, nicht aufrechterhalten. Daß es sich erst noch zeigen muß, macht eine Definition der Gegenwart unmöglich. Von der Gegenwart her läßt sich die Vergangenheit bestimmen und ordnen. Das hat Hegel getan; das tut jede »Weltgeschichte«. Die Gegenwart ließe sich, per impossibile, nur von der Zukunft her bestimmen. Zum Beispiel kennen wir die Bedeutung des im Jahre 1957 begonnenen »kosmonautischen« Abenteuers noch nicht. Wir wissen nicht, wohin es führen wird. Vielleicht sehr weit und zu einer radikalen Veränderung der menschlichen Situation; vielleicht zu Grenzen, deren Erreichung die menschliche Situation nicht radikal ändern, oder deren Fruktifizierung nicht viel einbringen wird. Wir sagen nicht, daß das letztere wahrscheinlicher ist als das erste. Bisher hat, was als technisches Spiel und Abenteuer begann, noch meistens zu gewaltigen Veränderungen der Masse des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
536
Lebens geführt; so die großen »Entdeckungen«, so der Bau des ersten Flugzeugs, der erste Flug über den Atlantik. Die Trennung des Menschen von dem Stern, an den er gebunden war, würde in der Tat eine Epoche bedeuten, einschneidender als je eine war. (Nicht notwendigerweise: die bloße Erreichung des Mondes.) Wieder ist unbekannt, wie eine solche Trennung sich auf den Geist des Menschen auswirken würde. Vielleicht im Sinne eines völligen Erlöschens von Religion und religiösem Bedürfnis – die Kommunisten glauben es –, so daß denn Krieg und Religion dann ungefähr gleichzeitig verschwunden wären; vielleicht ganz anders. Einstweilen benützen die Regenten Rußlands die Flüge ihrer Kosmonauten nicht anders, als vor viertausend Jahren die Assyrer-Könige ihre Raubund Mordzüge benutzten: Sie suchen damit die dümmeren unter den Völkern zu beeindrucken und ihre Macht zu propagieren. – Es ist viel Altes im Neuen. Wie die Gegenwart nur von der Zukunft her zu bestimmen wäre, so wäre das Ganze der Menschengeschichte nur von ihrem. Ende her zu bestimmen; wieder per impossibile, denn dann wäre kein Bestimmender mehr da. Darum ist der häufig gebotene Trost, welcher darin liegen soll, daß die Geschichte des Menschen verschwindend kurz ist, verglichen mit der Geschichte des Planeten, oder die Geschichte der Zivilisation verschwindend kurz, verglichen mit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
537
prähistorischen Zeiträumen, kein stichhaltiger. Die Geschichte der Zivilisation, von den Anfängen bis heute, ist weder lang noch kurz, da wir nicht wissen, wie lang sie insgesamt dauern wird, noch auch irgendein Vergleich uns zu Gebote steht. (Es war gerade, um die Hilfe des Vergleichs zu erhalten, daß die oben erwähnten Geschichtsphilosophen zu ihren unhaltbaren zyklischen Theorien ihre Zuflucht nahmen.) Allein durch ihren Inhalt ist Zivilisationsgeschichte zu messen. Und so gemessen ist sie ziemlich lang. Von der Erfindung des Rades zur Konstruktion der Weltraumschiffe, von der Steinkeule zur Wasserstoffbombe, von der Keilschrift zur Television, oder auch: vom ersten priesterlichen Singsang zur Neunten Symphonie – man muß gestehen, daß etwas geschehen ist in diesen sechstausend Jahren. Es hat zu geschehen nie angefangen; die Anfänge verlieren sich im dunkeln; auch das, was ein Durchbruch war, beruhte auf Früherem; die griechische Wissenschaft auf der ägyptischen, der babylonischen, die europäische über Umwegen auf der griechischen. Aber es ist lange Zeit sehr langsam geschehen; lange Zeit, verglichen mit der viel kürzeren, in der die Beschleunigung einsetzte. Das ist oft beobachtet worden: Die Bedingungen des Lebens im Zeitalter Ludwigs XIV. sind jenen des ägyptischen Alten Reiches viel ähnlicher, als das Europa Ludwigs dem Europa Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
537
Bismarcks ist: Aber das Europa Bismarcks ist dem Europa Ludwigs viel ähnlicher als dem Europa von heute, obgleich Bismarck noch keine siebzig Jahre tot ist. Noch ist der Pilot kein Greis, der als erster den Atlantik überflog, und wird vielleicht kein Greis sein, wenn eine der beiden wetteifernden Nationen ihr Hoheitszeichen auf dem Mond aufpflanzt und die andere ein klein wenig später. Dasselbe Gedrängterwerden der Ereignisse und Taten überall. Ein Jahrhundert von der ersten Dampflokomotive zur ersten transkontinentalen Eisenbahn; vom ersten Flugzeug bis zum ersten Transozeanflug nur ein Viertel davon. Ein halbes Jahrtausend zwischen Kolumbus und der Erforschung von Arktis und Antarktis; zwischen dieser und dem Ausbruch in den Weltraum nur ein halbes Jahrhundert. Jahrhunderte vom ersten Spielen mit Elektrizität bis zu ihrem Gebrauch für Kommunikation, Licht, Verkehr; Jahrzehnte vom ersten Erahnen der Nuklearkraft bis zur Atombombe. So das Fortschreiten des Wissens überhaupt; so das Wachsen der Erdbevölkerung: schneller und immer schneller. In einem anderen Bande wurde ein Wort aus dem 17. Jahrhundert zitiert: Il est évident que tout cela n'a point de fin – der Fortschritt des Wissens und Könnens nämlich. Aber Fontenelle meinte ein langsames, stetiges Fortschreiten. Die Beschleunigung, die eigentlich explosiven Charakter annehmen würde, sah man zu seiner Zeit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
537
nicht; und mußte daher nicht fragen, was wohl würde, wenn diese kein Ende nähme? Wie ein Tanz ende, der schneller und schneller wird; wie ein Traum, dessen quälende Intensität sich mehr und mehr steigert? – Von unserer Gegenwart aus erscheint die Anordnung der Vergangenheit, die der Amerikaner W. Rostow speziell für die Wirtschaftsgeschichte vorgeschlagen hat, als die verständigste: traditionsgebundene, überwiegend landwirtschaftliche, überwiegend bedürftige, stabile, in ihren Grundstrukturen ähnliche Gesellschaften bis ins 16. Jahrhundert; dann, langsam, das Einsetzen der europäischen Moderne als eines absolut Einmaligen und Neuen; die Beschleunigung ihres Ganges, das Mithineingerissenwerden aller anderen Kulturkreise bis zum heutigen Tag. Gewisse Schriftsteller haben die Aussicht auf ein Ende dieser Bewegung eröffnet – eine Verneinung von Fontenelles Versprechen. Die Menschheit würde bei dem Errungenen stehenbleiben, sich mit ihm einrichten und dann, vielleicht Millionen Jahre lang, ihre Organisation beibehalten, so wie die Termiten es taten. Wahrscheinlich ist das nicht. Denn die Erhaltung dieses Apparates verlangt Kenntnisse und Charaktere, die sich mit der bloßen Erhaltung nie begnügen werden und stets auch zu etwas anderem zu gebrauchen sind. Zerfallen könnte der Apparat denkbarerweise, etwa nach einer neuen übersteigerten Orgie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
538
menschlicher Selbstzerstörung; so wie der unvergleichlich bescheidenere Zivilisationsapparat des Römischen Reiches, seine Straßen, seine Wasserleitungen, zerfiel. Unmöglich ist Stagnation und zeitlose Erhaltung. Mit Mühe vorstellbar wäre ein Planen des Planens, ein Gesamtplanen, das Fortschritt nicht bloß fördert, sondern mitunter bremst oder verhindert. Dergleichen kommt im einzelnen ja vor. Wir wissen von den Praktiken gewisser monopolartiger Industrien, die mit schon erreichten Verbesserungen hinter dem Berg halten, weil sie ihnen für den Moment geschäftlichen Schaden zufügen würden. Wir haben gelesen, die deutschen Physiker hätten unter der Diktatur Adolf Hitlers die Entwicklung der Nuklearenergie bewußt vernachlässigt, weil sie nicht wünschten, daß Hitler ihr Nutznießer würde. Einige große Nationen versuchen das Wachstum der Bevölkerung einzudämmen. Andere setzen sich wirtschaftliche Rahmenpläne, welche auf Wertungen beruhen: Mehr der verfügbaren zusätzlichen Produktivität für Glück und Gesundheit der Gesellschaft als ganzer, für die Schönheit des Landes, weniger für überflüssigen individuellen Verbrauch. (Hier hat man das warnende amerikanische Beispiel vor Augen.) Ähnlich hat ein russischer Regent einmal erklärt, er wolle nicht, daß jeder Russe sein Automobil besäße, das sei nicht wünschenswert, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
538
Leihwagen, zu jedem guten Zweck verfügbar, täten es auch. – Alle solche einschränkenden, sich gegen die volle Ausnutzung von Möglichkeiten richtenden Beschlüsse beruhen auf Wertungen. Ist es gut, daß jeder Bürger sein Auto hat? Ist es gut, daß eine riesige Bevölkerung sich in wenigen Jahrzehnten noch einmal verdoppelt? Sehr selten werden Entscheidungen auf Grund solcher Fragen getroffen; immer sind sie ihrem Gegenstand und dem Kreis ihrer Wirkungen nach fragmentarisch. Bei weitem überwiegend wird so blindlings gehandelt wie seit alters; der Weg für ein kurzes Stück geplant, aber nicht nach dem Wert des Zieles gefragt. Über das ungeheuer kostspielige wissenschaftlichtechnische Programm, das die Amerikaner zum Mond führen soll, hat nie auch nur eine Debatte im Kongreß stattgefunden. Vage Vorstellungen von nationaler Größe, von Fortschritt, von militärischen Vorteilen genügten, um die Nation alle Kosten schlucken zu lassen. Was erreicht werden kann, muß erreicht werden, und irgendwie wird es auch gut sein. Nun gilt in Wahrheit wohl auch für die Menschheit, oder hat bisher für sie gegolten, was Cromwell von einzelnen Menschen meinte: Der komme am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht. Eben weil sie es nicht wußte, noch wissen konnte, hat die europäische Moderne alles das geleistet und angerichtet. Hätten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
538
Ferdinand und Isabella gewußt, wo die Reise des Kolumbus enden würde, bei den Vereinigten Staaten von Amerika, so würden sie seine Ausfahrt wohl hintertrieben haben. Und so immer. Der einzelne deutsche Industrielle machte um die Jahrhundertwende wohl seine Berechnungen; aber keiner fragte, ob es denn gut sei, daß eine industrielle Agglomeration wie die des Ruhrgebietes entstünde, und keiner konnte es fragen, denn er sah das Ende nicht. Der Traum der Wissenschaft war seit dem späten Mittelalter (Roger Bacon), daß sie den Menschen von der Qual der Arbeit befreien, ihn zum freien Herrn über die Erde und sich selbst machen würde. Einen besonderen Sprung von der Notwendigkeit in die Freiheit versprach Marx durch seine Revolutionswissenschaft: Bisher hatte der Mensch seine Geschichte wohl gemacht, aber unbewußt und leidend; fortan werde er sie bewußt machen, mithin zum erstenmal frei sein. – Man könnte nicht sagen, daß diese Prophezeiung sich bewahrheitet hätte; auch dann nicht, wenn man verzichtet auf billigen Hohn über den Despotismus, der unter Josef Stalin in Rußland herrschte, und über den Polizeistaat, der heute noch dort herrscht. Die Täuschung ging tiefer. Wissenschaft konnte den Menschen nicht frei machen, solange die Dialektik des Machtkampfes herrscht und eine Macht die andere jagt; so wie heute Russen und Amerikaner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
539
einander zum Mond treiben; so wie ein wirtschaftliches Unternehmen das andere treibt. Über die Entwicklung der sogenannten Automation machen Soziologen, Ökonomen, Gewerkschaftler, auch Industrielle sich die ernstesten Sorgen. Niemand hat sie gewollt, nie ist entschieden worden, daß sie sein müsse; niemand denkt daran, sie aufzuhalten. Wissenschaft kann den Menschen nicht frei machen, solange sie nicht ihren Auftrag von ihm selber nimmt im Lichte der Frage, was ihm gut sei. Einstweilen reitet die Wissenschaft den Menschen, nicht umgekehrt. Das mag ein gewaltiges Abenteuer sein, zum Mond und zum Mars führen, vielleicht. Aber es ist so blind, sosehr von Notwendigkeit getrieben, wie es je war. Weswegen es auch einen vom Menschen sich selber blindlings bereiteten Untergang nicht ausschließt. Solange der Mensch nicht fragt, was ihm gut ist, ehe er zum Handeln kommt, ist er nicht frei. Fragt er es im Rahmen eines einzelnen Gemeinwesens, einer einzigen Tätigkeit, so ist das ganz schön, aber völlig ungenügend; andere werden anders entscheiden und ihn zwingen, mitzumachen. Die Erfahrung des Schweizer Kantons, der bis in die zwanziger Jahre in dem schönsten Teil seines Gebietes den Gebrauch von Automobilen untersagte, dann aber nachgeben mußte, ist hier bezeichnend; es kann ein einzelner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
539
Kanton den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Die Frage, was gut ist, müßte im Rahmen einer neuen und ganzen Katholizität gestellt werden, derart, von der die »Vereinten Nationen« eine erbärmliche Karikatur sind. Die Frage kann nur beantwortet, kann nur gestellt werden auf Grund von Wertungen, die alle annehmen, und das wären ipso facto Bindungen, also religiöse Wertungen. Würde von einer neuen und ganzen Katholizität beschlossen, daß man etwas, was man tun könnte, nicht tun wird, weil es nicht gut ist, so wäre das ein Akt der Freiheit, viel freier als der Wettkampf um Mond und Mars. Es wäre gleichzeitig ein Ende der großen Emanzipation, die niemals so gefragt hat. Ein Widerspruch wäre das nicht. Wann hätten Philosophen nicht gewußt, daß Freiheit ohne Bindung nicht bestehen kann? – Unsere Phantasie läuft auf den alten platonischen Satz hinaus, die menschlichen Dinge könnten nicht gut werden, bevor nicht die Könige Philosophen sind oder die Philosophen Könige. Eine Phantasie, einstweilen; obgleich nicht ohne den blassesten Schein beginnender Realität. Wir haben die tastenden Versuche der großen Kirchen und Religionsgemeinschaften, einander näher zu kommen. Wir haben die internationalen Begegnungen, offiziellen wie privaten, spontanen Charakters, bei denen nicht bloß die Politiker, auch die Gelehrten, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
540
Theologen, die Denker im eigenen Auftrag zu Wort kommen und stärkeres Echo finden, als die alte »Zeitkritik« sie je fand. Wir haben die Institute, deren erdumfassende Forschungen das Tatsachenmaterial liefern, auf Grund dessen entschieden werden könnte. Erwartet man viel, so ist all das wenig; erwartet man wenig, so ist es etwas und könnte mehr werden; genügen tut es nicht. Das, was allein genügen würde, wird unser Jahrhundert kaum erleben. Die Vereinten Nationen, wenn sie sich nicht in Nichts auflösen, werden weiter das Theater babylonischer Sprachverwirrung, aufgeblähter nationalistischer Mittelmäßigkeit und Streitsucht sein. Die größten Mächte, durch ihre Verantwortung zur Vorsicht erzogen, werden weiter Mühe haben, die Torheit der Kleinen und Kleinsten in Schach zu halten, doppelte Mühe, weil sie nicht darauf verzichten mögen, die gleiche Torheit für ihre eigenen Zwecke zu benutzen; sie werden, wenn es gut geht, unter sich das Minimum von Abmachungen treffen, das notwendig ist, um den Zusammenbruch ihrer Zivilisationen zu verhüten. Der Krieg wird sich entweder erneuern oder er wird verwelken; er wird nicht »abgeschafft« werden. Vielmehr, er ist juristisch ja schon mehrfach abgeschafft worden, aber niemand nimmt es ernst; und in den letzten Jahrzehnten wurde er durch grausame Kleinkriege ersetzt, über deren jederzeit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
540
mögliche »Steigerung« die Professoren der Strategie mit lustvoll-eingeweihter Sachlichkeit spekulierten. Staatliche Machthaber werden weiterhin schallend fordern, worauf sie kein Recht haben, was sie nicht brauchen und was niemandes Glück vermehren kann. Die Leistungen der Wissenschaft werden weiterhin zu einem größeren Stück an Machtkreise gebannt und zu deren Ruhm sein; nur zu einem kleineren wahrhaft menschheitlich. So auch das große Abenteuer der Kosmonautik. Ob man mehr die schwindelnde Kühnheit und Präzision der Berechnungen, die Tapferkeit der jungen Ritter bewundern will, die hier am Werke sind, mehr sich von dem prahlerischen, blasphemischen Unterton der Sache beunruhigt fühlt, ist Frage des Temperaments. Alles wird unentschieden und der Gefahr geöffnet bleiben, wie es immer schon war, wenngleich in engerer Dimension. Weniger Angst wäre auf Erden, hätte des Menschen moralisches Reifen mit den Taten seines Wagemutes Schritt gehalten.
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Golo Mann: Die europäische Moderne
Anhang: Abbildungen ¤ König Ludwig XIV. Gemälde von Hyacinthe Rigaud, 1701. Paris, Louvre ¤ »... und stabiliere die Suverenitet und sehtze die Krohne ferst wie ein Rocher von Bronse...«. Randbemerkung König Friedrich Wilhelms I. von Preußen zu einem Erlaß vom 25. April 1716 an die Hufenkommission zur Durchführung einer Grundsteuer bei den ostpreußischen Ständen. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Geheimes Staatsarchiv ¤ Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers. Beschluß der Nationalversammlung während ihrer Sitzungsperiode vom 20. bis 26. August 1789 ¤ Barrikadenkampf an der Rue du Petit Pont in Paris im Juni 1848. Lithographie ¤ Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776 in der gedruckten Fassung. San Marino/Cal., The Henry E. Huntington Library and Art Gallery Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 11
Golo Mann: Die europäische Moderne
509
¤ Treffen Voltaires und Franklins in Paris im Jahr 1778. Lithographie nach einer verlorenen Zeichnung. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ Cercle am Hof Kaiser Wilhelms I. Gemälde von Adolph Menzel, 1879. Privatbesitz ¤ »Das europäische Gleichgewicht«. Lithographie von Honoré Daumier in der Zeitschrift Charivari vom 3. April 1867 ¤ Parkende Wagen bei einer Veranstaltung im Berliner Olympiastadion ¤ Unbemannter amerikanischer Raumflugkörper aus dem Jahr 1964 für den Versuch zur Überwindung der Reibungshitze beim Wiedereintritt in die Lufthülle
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte