Das neue Abenteuer 433
Otto Emersleben
Sturmnacht am Großen Steinkap
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute...
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Das neue Abenteuer 433
Otto Emersleben
Sturmnacht am Großen Steinkap
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
Illustrationen von Michael Gundermann © Verlag Neues Leben, Berlin 1982 Lizenz Nr. 303 (305/84/82) LSV 7503 Umschlag: Michael Gundermann Typografie: Walter Leipold Schrift: 9p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 411 1 DDR 0,25 M
Das russische Fort an der Kolyma erwachte zu mittsommerlicher Regsamkeit. Vom Liegeplatz am Fluß scholl das Hämmern der Schiffszimmerleute herauf, und am Tor, vor der Palisade, ordneten Händler ihre Warenstapel - Eisenbeschläge, Seilzeug, Nägel, Äxte -, wuchteten Träger Korn- und Salzsäcke. Unberührt blieben allein die Ballen von Fellen, die auf diesem Markt wie überall im sibirischen Osten als Münze für das Lebensnotwendige dienten. Semjon Deshnjow, Kosak, Anfang Vierzig, stand noch nicht wieder ganz fest auf den Beinen an diesem Morgen. Bis weit nach Mitternacht hatten ihn ein paar Pelzhändler mit Wodka traktiert, abenteuerliche, im Grunde wohl aber doch undurchsichtige Typen, die er vorher hier an der Kolyma noch nicht bemerkt hatte. Ja, seit er von Wtoroj Gawrilow, dem Leiter der Niederlassung an der Kolyma und so gut wie des Zaren Stellvertreter unter diesem verdammt hohen Nordhimmel, zum Befehlshaber der Expedition eingesetzt worden war, suchten sie seine Bekanntschaft und sein Wohlwollen, auch weniger undurchsichtige Typen als die von gestern abend. Für ein paar Atemzüge mußte Deshnjow sich am Pfosten des Tores stützen, mit der freien Hand fuhr er sich durch den Bart. Als ihn einer der Träger grüßte, winkte er, schon im Weiterwanken, leutselig zurück. Ja, er war nicht mehr irgendein namenloser lausiger Kosak, dessen Schicksal allein vom Willen Gottes und den Befehlen von Väterchen Zar im Moskauer Kreml abhing - er war ER, ein Herr über eine Handvoll Schiffe, deren Kurs und die Plätze an Bord. Er, Semejka Deshnjow! Die Zeiten hatten sich gründlich geändert. Nicht, was er bisher getan, sondern was ihm jetzt zu tun bevorstand, würde ihn bekannt ma-
chen. Und, verdammt, es begann ja schon damit. Wie viele andere Kosaken, die davon träumten, Sibiriens Weite wäre ein vollwertiger Ersatz für die freien Steppen der einstigen Heimat im Süden, war er in seiner Jugend in dieses Land gekommen, voller Tatendrang, bald aber schon eingefangen von der abstumpfenden Alltäglichkeit. Und wie sie alle den geliebten Pferden entsagt hatten, weil es auf deren Rücken nicht weiterging durch die Sümpfe, die undurchdringlichen Wälder und steilen Schluchten, mußten sie auch ihre Träume absatteln und abhalftern. Der Dienst für den Zaren war hart, und der einzelne konnte dabei nur dann bestehen, wenn das, was er leistete, für alle sichtbar und weit über den Erfolgen der anderen lag. Im allmählich verfliegenden Rausch spürte Deshnjow, daß seine Zeit nun gekommen war. Und er war entschlossen, sie nicht ungenutzt vergehen zu lassen. Vor der Umfriedung des Forts, das jetzt im Morgenlicht lag, blieb er erneut stehen. Stützte die Hände in die Seiten, strich dann sein weites Tuchkleid glatt und schirmte mit der flachen Linken den Blick gegen die Morgensonne. Die Rechte fuhr abermals durch den Bart, sank schließlich gedankenverloren herab. Sie würden den Fluß hinab und durch die nahe Mündung ins Kalte Meer fahren, und dann immer der Sonne entgegen, nach Osten, so wie sie auch hierher, an die Kolyma, gekommen waren: immer nach Osten. Und irgendwo dort gelangten sie an die Mündung des Flusses Pogitscha, wo es Zobel und Eichhorn und Marder die Fülle gab - sprachen die Tschuktschen nicht dauernd von den sagenhaft pelzreichen Wäldern an diesem sagenhaften Fluß Ir gendwo? Und keiner könnte ihnen zuvorkommen. Damit
sie die Tiere nicht selbst jagen müßten, würden sie auch an der Pogitscha die besten Jäger der Sippen als Geiseln nehmen und den anderen sagen: Bringt uns Zobel und Marder und Eichhorn, dann passiert euren Leuten nichts. So wie sie hier an der Kolyma, aber auch an Jana und Lena den Jassak eintrieben, die Pelzsteuer. Nur hießen die Tschuktschen dort Jakuten, Tungusen oder Jukagiren, aber was tat schon der Name, sie waren genauso schlitzäugig und von ein paar Flinten niederzuhalten, auch gegen Kosakensäbel vermochten ihre Pfeile und Messerchen gar nichts . Tief sog Deshnjow die kühle Luft ein, seine Schritte waren nun weit ausholend und selbstsicher. Vor einer niedrigen Tür in der Palisade hielt er und hämmerte mit dem Stiefel gegen das Holz. Als sich nichts rührte, klopfte er mit der Faust, bis die Knöchel schmerzten, und schließlich, in die Stille hinein, hörte er eine Stimme ärgerlich fragen: "Was soll der Krach? Was denkst du denn, wer du bist?" Da holte er tief Luft und schrie zurück: "Wer ich bin? Das wirst du schon sehen, Kosak. Mach auf!" Das Stechen unter der Kopfhaut war von diesem Augenblick an verschwunden, als hätte es nur dieses Schreis bedurft. Die Tür öffnete sich, einen Spalt zunächst nur, aber Deshnjow hatte sofort den Fuß in der Ritze. Da sagte die Stimme auch schon: "Ach, du bist es, Semejka!", und Deshnjow trat ein. Ja, er war es, Semejka! Sie würden ihn schon noch kennenlernen. In dem engen Hof saßen ein Dutzend Tschuktschen oder waren es mehr? - um ein niedergebranntes Feuer. Einige hielten noch die Teeschale in der Hand. Die Män-
ner schwiegen, und auch die Geräusche des Morgens vom Fluß drangen nicht hierher. Einzig der Klang einer Trommel war zu hören, anschwellend, dann wieder nur von leichten Fingern angeschlagen. Plötzlich ertönte ein Schrei, mit dem das Trommeln abbrach. Die um den Feuerplatz sitzenden Männer drehten sich um zu Deshnjow, und auch er musterte sie schweigend der Reihe nach. Fragte dann den Wachmann, der ihn hereingelassen hatte: "Wer von ihnen ist Memil, stimmt es, daß er Russisch kann?" Er hockte sich zu den Jägern. "Ich bin Memil", sagte einer, ehe noch der Kosak hätte antworten können, und Deshnjow sah ihn an. Das fettige Haar reichte dem Tschuktschen bis auf die Schulter. Er wandte den Kopf, nachdem er gesprochen hatte, wieder in die alte Blickrichtung auf das Feuer zu, und Deshnjow sah, wie gekrümmt sein Rücken war. Trotzdem hütete er sich, Vermutungen über das Alter des Tschuktschen anzustellen, zu sehr ging man in die Irre bei ihren ledrig genarbten Gesichtern. Und er wußte auch, daß man einen Jäger nicht nach den Jahren fragen durfte. "Woher kannst du unsere Sprache?" fragte er also, denn daß der Mann von sich aus geantwortet hatte, machte ihm Mut. Memil wandte sein Gesicht wieder dem Russen zu, stellte die hölzerne Teeschale ab und sagte: "Seit zwei Sommern schon bin ich hier euer Gefangener. Da lernt man mehr als nur ,Bitte!' sagen, obwohl ihr das am liebsten hättet." Den Gesprächsfaden weiterknüpfend wie einen Zügel, mit dem er den Tschuktschen schon zähmen würde, gab Deshnjow zurück: "Warum betrachtest du dich als Gefangenen? Seid ihr nicht auch manchmal jahrelang bei einer
fremden Sippe zu Gast, wenn die Umstände es erfordern?" Da hockte Memil sich auf die Knie und stocherte mit einem Holzstück in der Asche, bis neue Flammen aufschlugen. Der Kosak, durch das Schweigen des Jägers herausgefordert, stand auf und trat hinter ihn. "Wir sind genauso Gefangene eures Landes wie ihr", sagte er. "Oder ,Gäste', wenn du willst. Kaum einer von uns kommt noch einmal dorthin zurück, wo er geboren wurde." "Niemand hat euch hierher gebeten", sagte der Tschuktsche da, und er sprach es so leise vor sich hin, daß Deshnjow sich zu ihm herabbeugte, um auch die nächsten Worte verstehen zu können: "Einem Gast verwehrt man nicht, dann zu gehen, wenn er es für richtig hält. Ihr aber ." Der Kosak richtete sich wieder auf, und wie aus einem Horn, das zum Aufbruch ruft, stieß er die Worte hervor: "Wir sorgen uns so sehr um unsere Gäste, daß wir ihnen sogar den Zeitpunkt vorschlagen, zu dem sie zu gehen haben. Deswegen bin ich zu dir gekommen, Memil." Nun erhob sich auch der Tschuktsche und wandte sich zu dem Kosaken um. Die beiden maßen einander mit ihren Blicken, und immer noch ungläubig, fragte der Jäger schließlich: "Du läßt mich zu meiner Sippe?" Da schüttelte Deshnjow den Kopf. "Aber ich hole dich hier heraus. Und wenn wir zurück sind, gesund und mit reicher Pelzbeute, kannst du auch zu deiner Sippe gehen. Ich brauche einen erfahrenen Jäger, der mich zum Fluß Pogitscha begleitet." Die Nennung des Flußnamens ließ auch die anderen Tschuktschen aufblicken, und Deshnjow schien es einen Augenblick lang, als bemerke er auf ihren Gesichtern das gleiche verhaltene Lächeln wie in den Zügen Memils.
Doch da war der Jäger schon wieder an die Feuerstelle zurückgetreten und hatte sich im Kreis seiner Stammesgenossen niedergehockt. Das Schweigen staute sich in dem engen Hof. Und plötzlich bedrückte es Deshnjow so stark, daß sein Kopf wieder zu schmerzen begann, so daß er dagegen anschreien mußte: "Wenn du nicht willst, find ich einen anderen. Denk doch bloß nicht, daß ich dich bitten werde, wer bist du denn! Aber du wirst dein Leben lang in diesem Stall hocken wie ein Rentier im Gatter, dafür sorge ich ." Kaum mußte der Kosak Luft holen, drehte Memil sich um und sagte mit ruhiger, aber bestimmter Stimme: "Ich gehe nicht so weit fort von hier. Meine Frau wird, ehe der Winter kommt, einen Sohn gebären. Und selbst wenn ich bis zu meinem Tod euer gefangener ,Gast' bleibe, werde ich ihn hier doch zu sehen bekommen. Bis zum Fluß Pogitscha aber ." Jetzt hatte Deshnjow sich gefangen. Es gab jedoch noch eine Möglichkeit, einzulenken und den Jäger für seine Sache zu gewinnen. "Wir werden nicht über eure Pfade schleichen", sagte er, jedes Wort betonend. "Zu unsicher scheint mir der Weg durch die moorige Tundra und über die Berge. Wir werden mit Schiffen fahren - immer am Ufer des Kalten Meeres entlang. Und bis der Winter kommt, sind wir längst zurück." "Das Kalte Meer ist der Fluß, der ins Reich der Toten strömt", sagte Memil mit noch immer ruhiger Stimme, die seine unverändert ablehnende Haltung offen preisgab. "Wer sich dorthin aufmacht, für den gibt es keine Wiederkehr. Ich aber will meinen Sohn ." "Deinen Sohn, deinen Sohn! Und wenn es eine Tochter wird?" Deshnjow sah Memil groß an. "Wann hast du ihn denn überhaupt ge-
macht, deinen Sohn?" Da er wieder die Stimme hob, vermochte er Memils Schweigen nicht abzuwenden, und so steigerte er sich in immer neue Wortwellen, bis er schließlich schrie: "Und wenn wir dich hier verhungern lassen - deinen Balg wirst du niemals zu sehen bekommen!" Da stieß Memil das Holz, mit dem er hantiert hatte, ein letztes Mal in die Glut, ließ es los und stand auf. "Wenn es so ist, komme ich mit dir", sagte er zu Deshnjow. Und nun war es kein abschätzendes Messen mehr, was in seinem Blick lag, sondern offene, unverhohlene Feindschaft.
In Gawrilows Kanzlei im Fort drängten sich schon am frühen Vormittag die Besucher. Seltsam, dachte der Kommandant, sonst kommen die Männer nur, wenn ich sie rufen lasse. Der Teufel soll diese Expedition holen, der Gedanke daran hat sie allesamt närrisch gemacht. "Und was hast du auf dem Herzen?" wandte er sich dem nächst stehenden Kosaken zu. "Willst du auch Mehl aus dem Staatsvorrat?" Er griff nach dem Papier, das der Mann ihm hinhielt, überflog es und fragte: "Hast du denn Säcke für das Korn? Wo soll ich auf einmal die Säcke hernehmen, wenn ihr alle plötzlich zur gleichen Zeit Vorschuß auf eure Löhnung beansprucht?" Da hätte er das Papier auch schon abgehakt, mit seinem Namen versehen und es dem Schreiber weitergereicht. "Der nächste .!" Und wieder der gleiche kurze Blick auf die Bittschrift, nur die Frage, die folgte, war diesmal anders: "Wer hat dir denn das Papierchen aufgesetzt? Weißt du überhaupt, was da drinsteht?" Der Angesprochene nickte, drehte verlegen
die Pelzkappe in seinen Händen. "Na, wer schon? Ich reiß ihm doch nicht den Kopf ab! War es auch der Pope?" Gawrilow schlug sich die Schenkel, gab das Blatt weiter. Und als der Kosak wieder nickte, schallte sein Lachen auf: "Den Gottesmann lob ich mir! Bevor noch einer von euch einen lumpigen Zobel am Gürtel hat von der Pogitscha, ist in seinem Kasten das Wasser aus diesem Zauberfluß längst zu Gold geronnen." Auch die Kosaken lachten jetzt, aber es war eher Beflissenheit als die Einsicht in das, was der Kommandant meinte. "Der nächste ." Kaum hatte er zu lesen begonnen, blickte er schon wieder auf. "Ach, du bist es, Ankudinow! Daß du dich hierher traust ." Der Angeredete verzog keine Miene, machte vielmehr mit der Rechten eine Bewegung in Richtung auf das eben weitergegebene Papier und sagte: "Lies, Kommandant, und dann sag, was es dazu zu sagen gibt." Gawrilow gehorchte. Im Raum machte sich Stille breit. Dann legte er das Blatt bedächtig vor sich auf den Tisch und blickte auf. "Schön und gut, Ankudinow. Willst uns also in Zukunft mit deinen Räubereien verschonen. Oder - willst du sie bloß im großen Stil aufziehen, dort, im Osten, an der Pogitscha?" Wie er diesen Namen aussprach, gedehnt, fast ins Lächerliche gezogen, spürte man, wie wenig er von den Träumen der Männer hielt, die irgendwo dort, im Sommernebel, der bald schon zu eisigem Reif erstarren konnte, ihr Glück suchen wollten. Hier an der Kolyma wußten sie doch, was sie hatten. Gaben die Tundren und Wälder, die zum Einzugsbereich seines Forts gehörten, nicht noch immer genug Pelze her - für den Zaren, die Kaufleute, für jeden einzelnen unter den Kosa-
ken? Zugegeben - in letzter Zeit war es dünner geworden damit. "Dort, im Osten, an der Pogitscha, wie du es nennst", entgegnete Ankudinow, "wird auch dein Deshnjow nichts anderes sein als ein Räuber. Er wird die Tschuktschen zusammentreiben, wird ihnen sagen, was Sache ist, und sie werden ihm Pelze liefern."
"Und du glaubst, ein noch besserer Räuber zu sein, und darum beanspruchst du die Führung des Unternehmens?" "Wenn du es so ausdrücken willst. Auf jeden Fall wird der Anteil an Pelzen für den Zaren dann höher sein als bei dem Schlappschwanz Deshnjow. Er hat kein Recht ." "Und woher nimmst du dir das Recht und beanspruchst den Posten, auf dem Deshnjow längst bestätigt ist?" "Meinen Namen kennt jeder Kosak. Auf mich hören sie. Und die Tschuktschen - die gehorchen, wenn sie bloß von mir reden hören."
"Aber die Kaufleute schnüren die Beutel zu und vergraben sie, wenn du bloß in der Nähe bist!" "Laß doch diese Halsabschneider." Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Tür und, die Leute mit beiden Händen beiseite schiebend, trat ein Mann von vielleicht fünfzig Jahren ein, der trotz des heißen Morgens mit Pelzkragen, Kappe und Fellstiefeln bekleidet war. Gawrilow erhob sich, bot ihm seinen Stuhl an und sagte: "Ich freue mich, Fedot Aleksejew, daß du mich schon so früh am Morgen mit deiner Aufwartung beehrst." Bei der Nennung von Vor- und Vatersnamen zeigte ein Lächeln, wie sehr dieser Besuch ihm schmeichelte. "Es gibt noch ein paar Kleinigkeiten zu regeln, bevor wir aufbrechen", sagte der Ankömmling, nachdem er ganz selbstverständlich den angebotenen Platz eingenommen hatte. "Da wäre ." Er blickte sich plötzlich um, als bemerkte er erst jetzt, daß er mit Gawrilow nicht allein war, und unterbrach sich selbst: "Aber ich will dich nicht stören." "O nein, du störst gar nicht, Fedot Aleksejew. Auch wir haben nur Kleinigkeiten zu regeln mit meinen Leuten. Wenn auch ganz andere, sozusagen noch kleinere, als du sie gewöhnt bist." "So?" Fedot Aleksejew griff nach dem Papier, das noch immer auf dem Tisch lag, und las sich fest. Je weiter er kam, um so gelöster wurde sein strenger Blick, und schließlich zeigte sein Gesicht ein Lächeln. Indem er das Schriftstück wieder beiseite legte, sagte er: "Schöne Kleinigkeiten nenn ich mir das. Streitet euch noch darum, wer das Kommando hat. Dabei scheint mir der Deshnjow ein recht tüchtiger Mann zu sein." Er schüttelte den Kopf, als sei die Angelegenheit für ihn abgetan.
Aber nun hakte Ankudinow nach: "Tüchtige Männer gibt es 'ne Menge hier. Und recht tüchtige noch viel mehr. Was zählt, ist aber doch wohl, ob man seine Versprechen auch einlösen kann. Nicht, ob einer ein tüchtiger Mann zu sein scheint." Der Kaufherr, der den Kosaken bisher nicht beachtet hatte, sah Ankudinow nun an. "Ist wohl von dir, der Schrieb?" Ankudinow nickte. Im Hintergrund lachte einer der Männer. "Er hat dich noch nie um deine Felle erleichtert, was? Oder um dein Silber?" Fedot Aleksejew wandte sich um, sein Blick suchte den Zwischenrufer. Aber er sah nur eine schweigende Wand eisig blickender Gesichter. Da sagte er, fast ein wenig unsicher: "Nein, mich hat noch niemand erleichtert. Und es würde auch niemand wagen. Hinter mir steht das Handelshaus Usow, und dem nimmt niemand ungestraft etwas weg. Weder hier noch zu Hause, in Rußland. Aber nun habt ihr mich fast gespannt gemacht", wandte er sich an Gawrilow, "wie du die Sache entscheidest mit dem Kommando. Wenn du meinst, daß Ankudinow tatsächlich ." Der Kommandant entgegnete scharf: "Ankudinow wird niemals Leiter des Unternehmens. Nicht, solange ich hier an der Kolyma das Sagen habe." "Aber du läßt ihn doch mitreisen. So ein tüchtiger Kosak." Der Kaufmann deutete auf die Bittschrift. "Auch das bleibt zu überlegen. Nachher hast du noch Scherereien mit ihm." "Aber ich bitte dich, Gawrilow. Dort am Schlaraffenfluß Pogitscha gibt es reichlich Beute für alle. Auch für den Schatz des Zaren fällt genug ab dabei."
"Wenn du meinst." "Ja. Und was das Kommando betrifft - das liegt sowieso beim Handelshaus Usow. Ganz gleich, wie der Kommandant heißt." -
Am 20. Juni 1648 fuhren sie endlich los: drei KotschEinmaster, die Fedot Aleksejew im Auftrag seiner Geldgeber ausgerüstet, bemannt und mit Tauschwaren beladen hatte, ein Schiff mit den etwa dreißig Kosaken an Bord, die an der Kolyma als "Ankudinow-Bande" berüchtigt waren, und schließlich der Kotsch, den Semjon Deshnjow befehligte, sozusagen als Flaggschiff der kleinen Flotte. Weit auf das Kalte Meer hinaus ließ der Eisstau sie nicht, der selbst jetzt, da die Sonne zwischen Abend und Morgen nicht unterging, unerbittlich und abweisend war. Deshnjow sah Memil auf dem Vorschiff stehen und ängstlich auf das Wasser und die ersten Eisschollen starren. Er mußte an die Worte des Tschuktschen denken, der
diesen Wasserlauf den Weg in das Reich der Toten genannt hatte. Wie leicht, dachte Deshnjow, könnte er recht behalten. Kaum lag das Inselgewirr des Kolymadeltas hinter ihnen, befahl Deshnjow, östliche Kurse zu steuern. Sie kamen gut voran - mit halbem Wind, der kalt vom Norden her wehte wie eine ständige Mahnung an die Lebensfeindlichkeit der dort lauernden Eisfelder. Ihre Einmaster waren für die Fahrt an dem schollenführenden Küstengewässer hervorragend geeignet. Flach und weitbauchig, dabei mit derben Rumpfplanken geklinkert, bot ein solcher Kotsch nicht nur dem Treibeis keine ernst zu nehmende Angriffsfläche, sondern schob sich auch - falls tatsächlich einmal frisches Eis in die Fahrrinnen kam - auf ausgedehntere Schollen und zerbrach sie dabei. Die Takelung war denkbar einfach, bestand aus Vor- und Großsegel, und doch ließen sich bei einiger Geschicklichkeit der Mannschaft beträchtliche Tagesetappen zurücklegen. Nachts ankerten sie, in Sichtweite der Küste zumeist. War auf einem der Schiffe das Fleisch ausgegangen, so wurde ein Boot an Land geschickt mit einem Jagdkommando. Bei solch einem nächtlichen Unternehmen versuchte Memil, sich auf eigene Faust zu entfernen. Er tat so, als habe er die Spur eines Rentieres aufgenommen, eines großen, einsam ziehenden Bullen, wie er geheimnisvoll flüsterte, und bedeutete den Kosaken, die ihn begleiteten, sorgfältig Deckung zu suchen. Er selbst nahm es jedoch nicht so genau damit, sprang vielmehr, so schnell er konnte, in der von ihm selbst gewiesenen Richtung. Und plötzlich war er den Blicken der Russen entschwunden, so, als hätte die Tundra nur auf ihn gewartet und sofort, da sie ihn als den Ihren erkannte, ein sicheres Ver-
steck für ihn bereitgehalten. "Memil! Memil, so melde dich doch", riefen die Kosaken, und schließlich hasteten sie, weil sie die Sinnlosigkeit ihres Rufens einsahen, zu den Booten zurück und berichteten Deshnjow vom Verschwinden des Tschuktschen. Der Kommandant stieg sofort an Land. "Ihr beide kommt mit", bedeutete er zwei Schützen. "Die anderen halten Augen und Ohren auf." Deshnjow wußte, daß er schnell und entschlossen handeln mußte. Nicht nur der Verlust des eingeborenen Führers auf einem komplizierten Wegabschnitt ihrer Reise mußte verhindert werden. Sein eigener Ruf als Befehlshaber stand auf dem Spiel, ließ er den Tschuktschen entfliehen, von dem jeder wußte, mit welchen Argumenten er ihn für die Teilnahme gewonnen hatte. Und ahnte er denn, ob Gerassini Ankudinow nicht nur einen Augenblick der Schwäche des Kommandanten abwartete, um sich selbst der Befehlsgewalt zu bemächtigen. Zu spärlich waren die Informationen, die Semejka vom Schiff seines Nebenbuhlers erhielt. Er postierte die beiden Büchsenschützen in einiger Entfernung voneinander, befahl ihnen dann mit einem Armsignal gleichzeitig "Feuer!", und in die den Schüssen folgende Stille schrie er, so laut er konnte, nach Memil. Aber auch seine Rufe blieben ohne Echo, wahrscheinlich beobachtete der Jäger ihn und die beiden Männer aus seinem sicheren Versteck, vielleicht unter einem der zahllosen Krüppelbäume oder in einer Senke des flechtenbewachsenen Bodens, und feixte sich eins. Auf den Trick mit der vorgetäuschten Einkreisung fiel er jedenfalls nicht herein. Deshnjow unternahm keinen zweiten gleichartigen Versuch.
Er winkte den Schützen zu, bei den Booten auf ihn zu warten. Allein, inmitten des weiten Landes, erhob er dann noch einmal seine Stimme. Aber diesmal, das wußte er, würden seine Worte wirken. "Memil!" rief Deshnjow, "wir werden dir nichts tun, wenn du wieder zu uns kommst. Hörst du mich?" Der Kosak lauschte den eigenen Worten nach, so, als hätte er sich selbst die Frage gestellt. Aber die Tundra schwieg. Ja, sogar der Wind hatte sich gelegt. "Wir werden dir nichts tun", rief er da noch einmal. "Aber wenn du nicht kommst .", seine Stimme hob sich und blieb drohend über der Tundra hängen, "wenn du nicht kommst, werden wir an deiner Stelle deinen Sohn als Geisel einsperren, sobald er geboren ist. Hast du mich verstanden?" Als die Tundra noch immer schwieg, wiederholte Deshnjow: "Hast du mich verstanden, Memil?" Diesmal brauchte er nicht lange zu warten. Ein Busch tat sich auf, und Memil kroch heraus, richtete sich voll auf und kam dem Russen entgegen. Als sie schweigend vom Ufer ablegten, sahen sie zwei, drei Werst landeinwärts den Rauch eines Feuers in den sonnenhellen nächtlichen Himmel steigen.
Der Juli verging, ohne daß sie eine Flußmündung gefunden hätten auf ihrer Fahrt nach Osten. Auf weitere Lager der Tschuktschen trafen sie nicht, und Memil, so schien es Deshnjow, hatte sich mit seiner Lage abgefunden. Aber der Kosak wagte nicht zu entscheiden, ob dies ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Womöglich dachte der Tschuktsche nur an Rache, wenn er so hartnäckig seine Gleichgültigkeit zur Schau stellte.
Sosehr Deshnjow entschlossen war, keinen neuen Ausbruchsversuch zu dulden, so bemühte er sich doch auch, Memil zu verstehen. Mit wieviel hinterhältiger List und Gewaltandrohung war der Tschuktsche zu dieser Reise gepreßt worden. Man hatte ihn gejagt und erneut bedroht, als er die erste sich bietende Gelegenheit genutzt hatte, um zu entfliehen. Aus welcher Quelle, fragte sich Deshnjow, konnte denn überhaupt ein wohlwollendes Verhalten Memils gespeist werden? Er mußte versuchen, sie zu finden und für diese Absicht zu nutzen. Daher freute er sich über seine Beobachtungen während der nächsten Tage. Memil machte sich an Bord nützlich, so gut es ging, flickte die Segel und lernte mit viel Geschick von den Kosaken das Spleißen. Dafür brachte er ihnen bei, wie man aus Rentierknochen Harpunen schnitzt, und zeigte ihnen die günstigsten Positionen an Bord, um auf Fische zu lauern. Seitdem eine länger und länger werdende Spanne Dunkelheit wieder die Tage teilte, verringerte sich bei Deshnjow - und nicht nur bei ihm - die Hoffnung auf glückliche Rückkehr zur Kolyma noch vor dem Winter. Eines Tages tauchte in seiner Erinnerung jenes Lächeln auf, mit welchem Memil und die anderen Tschuktschen im Fort die Erwähnung der pelzreichen Pogitscha als Reiseziel quittiert hatten. Am Abend, nachdem sie Anker geworfen hatten, fragte Deshnjow den Jäger danach, mußte zunächst jedoch hinnehmen, daß dieser ihm eine klare Antwort verweigerte - aus Angst, sich am heißen Atem der Wahrheit, wie er sich ausdrückte, den Mund zu verbrennen. Erst als Deshnjow ihm die Hand darauf gab, ihm nicht zu zürnen für das, was er sagen würde, begann er:
"Als ihr in unsere Tundren einfielt und unsere Wälder von den Schüssen eurer Büchsen widerzuhallen begannen, glaubten viele meiner Stammesgenossen nicht, daß dies für lange sein würde. Einer unserer klügsten Schamanen aber warnte, wir würden euch nicht einfach dadurch wieder loswerden, daß wir euch den Tod an den Hals wünschten oder ihn wohl auch austeilten mit Bogen und Lanze. Schließlich hatten wir verstanden, warum ihr an unsere Flüsse und Küsten gekommen seid, nämlich um die Tiere zu jagen, die mit ihren Pelzen uns selbst vor der grimmigen Winterkälte schützen sollten. Da war es aber schon zu spät, euch wieder zurückzuschlagen. Der gleiche kluge Schamane kam auf den Gedanken, daß man einen Fremden, den man wieder loswerden will, ja nicht unbedingt zurückschlagen muß in die Richtung, aus der er gekommen ist." Deshnjow stand das Erstaunen auf die Stirn geschrieben. "Und da habt ihr uns . Immer weiter nach Osten?" "Ja. In eurer Unersättlichkeit bei der Pelzjagd hattet ihr sehr bald unsere Bestände an Zobeln und Mardern weit verringert, daß sie für keinen mehr reichten: für unsere Jäger nicht und für die Abgabe an euren Zaren-Schamanen in dem Kreml-Fort, das ihr Moskau nennt, auch nicht. Immer weiter und weiter wolltet ihr, und der Zauberer gab eurem Drängen als erster eine bestimmte Richtung. Er hob seine Hand, wies nach Osten und sagte: Pogitscha. In unserer Sprache gibt es dieses Wort nicht. Die Jäger meinen aber, in seiner Zaubersprache, die wir alle nicht kennen, hieße es Traum oder Umnachtung." "Und es gibt also gar keinen Fluß dieses Namens?" Deshnjow hatte seine Sprachlosigkeit nur mühsam überwunden. Er wies mit der Hand in die Richtung, in welche
sein Segler, den anderen Schiffen voran, Kurs hielt, und stammelte: "Das ist nicht zu glauben . Immer der Sonne entgegen . Wir fahren, und dabei gibt es gar keinen Fluß Pogitscha!" "Warum soll es keinen Fluß geben in dieser Richtung? Er wird anders heißen, aber was tut schon der Name. Und warum sollen nicht genügend Pelztiere an seinen Ufern leben? Marder und Zobel und Biber." Die ruhigen Worte des Tschuktschen brachten Deshnjow zur Besinnung. Er ließ die Hand sinken, blickte Memil an und sagte: "Ja. Warum nicht. Und du hast recht: Was tut schon der Name?" Dann trat er ganz dicht vor den Jäger und fragte leise und nachdrücklich: "Aber dieser Schamane - der hat doch einen Namen, Memil? Oder hast du dir das alles erst hier an Bord ausgedacht, um dich an mir zu rächen, Memil?" Der Tschuktsche wich dem Blick und der Frage nicht aus. "Ja, der Schamane hat einen Namen. Und er muß dir auch schon begegnet sein." "Sag mir, wie er heißt." Deshnjow griff nach Memils Schultern. "Sag mir, wie er heißt!" Der Jäger schüttelte den Kopf. "Nur, wenn du mir versprichst, daß auch ihm nichts geschieht." "Ich verspreche es dir. Und du weißt, daß ich meine Versprechen halte - die drohenden wie die beschwichtigenden." Er ließ den Tschuktschen los, und Memil sagte: "Ich weiß es." "Wie also heißt der Schamane. Und - wo müßte er mir schon begegnet sein?" "Sein Name ist Kano. Aber das sagt dir nicht viel. Er lebt, so wie ich bisher, in eurem Fort an der Kolyma." "Als Gefangener?"
"Als ,Gast', wie du es einmal genannt hast." "Ich kenne ihn nicht." "Hast du ihn nie die Trommel schlagen hören? Ohne Kanos Tröstungen wäre mancher meiner Stammesgenossen in eurem ,Gästehaus' schon verzweifelt." "Ich entsinne mich nicht an sein Trommelschlagen. Aber was du über die Pogitscha erzählt hast - das werd ich wohl nie vergessen. Was soll ich nur tun?" "Wo Wälder sind, sind auch Pelztiere. Der Wald selbst ist der Pelz, in den unsere Erde sich hüllt. Und wir Menschen sind klein und unbedeutend darin wie Läuse." "Ein schwacher Trost. Ich werde mich mit den anderen beraten müssen. Fedot Aleksejew . und auch Ankudinow . Was werden sie sagen?" Memil hielt ihn auf. "Der Jäger rühmt sich nur einer außergewöhnlichen Beute. Bleibt seine Falle leer, so behält er's für sich." "Aber sie erfahren es doch." "Nur von dir oder von mir, Semejka." Groß sah der Tschuktsche ihn an, und für die Dauer eines Augenblicks erschien es Deshnjow, als sei der alte Haß aus seinen Augen verschwunden. Memil wandte sich ab und ließ ihn allein.
Die Kraftprobe mit Gerassim Ankudinow kam, nachdem Deshnjow eine weitere Erkenntnis über den künftigen Fahrtverlauf hatte hinnehmen müssen, eine Entdeckung, die er nicht mehr wie das Verschwinden des alten Zieles Pogitscha geheimhalten konnte. Plötzlich war die Küste nach Süden abgebogen, endgültig und unwiderruflich als wolle sie mit allem Nachdruck zeigen, daß sie sich nicht um die Vorstellungen der Menschen von ihr schere.
Der einzige, der aufgeatmet hatte, als die Fahrt nun plötzlich der Mittags- und nicht mehr der Morgensonne entgegenging, war Memil, denn für ihn brachte diese erzwungene Kursänderung die Gewißheit, daß der Weg über das Meer sie nicht in das Totenreich führen würde. Die anderen Männer an Bord von Deshnjows Kotsch aber und auch die Kosaken und Kaufleute auf den anderen Schiffen ergriff Unruhe: Sollte diese Fahrt zum Fluß Pogitscha ganz anders verlaufen als eine Reise von der Lenamündung zur Indigirka oder von dort zur Kolyma?
Da die Wälder, Sümpfe und Tundren Sibiriens ihrem Vordringen stets ernsthafte Hindernisse gewesen waren, hatte sich an der nördlichen Küste des unendlichen Landes das Vortasten von einer Flußmündung zur nächsten als gangbarster Weg nach Osten erwiesen. Und das sollte plötzlich vorbei sein, nur weil ein eigenwilliges Ufer von der gewohnten Hauptrichtung abbog?
Nachdem sie wenige Tage den neuen Kurs steuerten, setzte ein gewaltiges steinernes Kap ein noch ernsteres Fragezeichen in die Landschaft. Die Flottille vermochte es zwar glücklich zu umschiffen, jedoch tat sich nun ein beunruhigendes Bild auf: Das Gestade verließ endgültig die west-östliche Hauptrichtung, sogar weit über Süd hinaus. Fedot Aleksejew war entschlossen, eine solche Wendung der Dinge nicht hinzunehmen. Hieß doch sein Auftrag, nach Osten vorzudringen und dem Handelshaus Usow neue, günstige Betätigungsfelder zu sichern. Er ließ sechs Flintenschüsse abgeben - das mit Deshnjow vereinbarte Signal, vom Flaggschiff mit einem Boot zum Kotsch Aleksejews überzusetzen. Der Kaufherr empfing den Kosaken mürrisch, denn zu allem Überfluß hatte eine schwere Dünung auch noch das Übersetzen verzögert Stumm begleitete er Deshnjow in sein Kontor auf dem Achterkastell und weidete sich an Semjons Erstaunen, als dieser dort nicht nur weitere Usowleute vorfand, sondern auch Gerassim Ankudinow. "Der Kosak ist nicht für die See geboren", eröffnete Aleksejew die Zusammenkunft. "Als eure Väter und Großväter in den Sümpfen Sibiriens steckenblieben, stiegen sie von den Pferderücken, auf denen sie, wie man hätte meinen können, schon länger saßen als laufen konnten." Fedot Aleksejew genoß die Unsicherheit, die sich im Ergebnis dieses Exkurses auf den Gesichtern der Zuhörer ausbreitete. Mein Gott, nichts blieb ihm erspart, nun mußte er sich auch noch mit diesen kosakischen Dickschädeln herumschlagen, und nur weil einer von ihnen durch Gawrilow zum Kommandanten ernannt und also
sozusagen als Vertreter der Zarenmacht über die Flotte gesetzt worden war. Neben Unzufriedenheit empfand Aleksejew aber auch Stolz darauf, sich nicht mit diesem einen Kosakenhäuptling zufriedengegeben und vor Gawrilow auf der Mitreise Ankudinows bestanden zu haben. Ein Einäugiger, sagte er sich im stillen, sieht mehr als ein Blinder, und zwei von der Sorte erkennen vielleicht fast soviel wie einer, der beide Augen hat. "Ihr seid auf Rindenkanus und Einbäume umgestiegen und wir Handelsleute mit euch, und als die großen, nach Norden fließenden Ströme sich als Wege anboten, kamen die Kotschsegler dazu, um von einer Mündung zur nächsten zu fahren." Und plötzlich hob er die Stimme: "Vom Segeln aber versteht ihr nichts, keiner von euch, Kosaken! Und ich hab euch auch nicht deshalb auf diese Fahrt mitgenommen, damit man mir sagt, wohin ich zu fahren habe. Was ich allein brauche, sind Flinten und die Hände eurer Männer, wenn wir erst einmal am Ziel sind." Er sprach den Namen des Flusses Pogitscha nicht aus, obwohl nicht einmal auf Deshnjows zweifelzerfurchtem Gesicht zu erkennen war, daß es ebendies Ziel nicht mehr gab. Ihn bewegten ganz andere Gedanken. Wie lange, so bangte er, würde Memil in dieser Sache zu ihm halten. "Wir werden unseren Weg nach Osten fortsetzen, so wie wir es uns vorgenommen haben und wie unser Auftrag lautet. Unabhängig vom Küstenverlauf in dieser Gegend wird es auch dort Land geben - Land, das es zu entdekken und der Botmäßigkeit unseres Zaren zu unterstellen gilt." Er sah sich um in der Runde, und damit kein Zweifel aufkam, daß er tatsächlich entschlossen war, auf dem zu Beginn eingeschlagenen Weg weiterzufahren, fügte er noch hinzu: "Derjenige, der mitmacht bei der Erfüllung
dieses Auftrags, ist der für mich einzig geeignete Kommandant des Unternehmens. Sollte es derjenige sein, den Gawrilow an der Kolyma dazu eingesetzt hat - nun gut, ich war es zufrieden. Aber verweigert er sich - auch gut, dann wird sich ein anderer finden, der versteht, worauf es ankommt bei unserem Vorhaben." Das ließ an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig, und der Blick, den Deshnjow Ankudinow zuwarf, als der Kaufherr geendet hatte, bewies, daß diese Deutlichkeit auch dem eigentlichen Adressaten bewußt wurde. Schweigen kam auf, und in das Schweigen hinein sagte schließlich Deshnjow: "Ob weiter im Osten Land ist, weiß niemand. Wir liegen hier mitten im Wasser und reden davon wie ein Biber über die Baumkrone. Da er nicht klettern kann, bekommt er sie nur zu Gesicht, wenn er den Baum fällt." Der Kosak blickte sich um, aber er sah in verschlossene Gesichter. Hier zählten, das wußte er, keine Worte mehr, hier mußte etwas geschehen, was das Traumziel Pogitscha nicht nur zu ersetzen vermochte, sondern was darüber hinaus von solch einprägsamer Überzeugungskraft für jedermann an Bord der Schiffe sein müßte, daß es seine Stellung als Kommandant ein für allemal festigte. "Ob weiter im Osten Land ist, weiß niemand", nahm er seine Rede wieder auf, "auch ein neuer Kommandant kann es nicht hinzaubern. Die Küste, die wir vor Augen haben und deren Verlauf uns so sehr überrascht hat in den letzten Tagen, ist das einzige Zeichen für Land, mit dem wir fest rechnen können. Und da Flüsse nicht mitten im Meer entspringen oder fließen oder münden - verdammt -, ist das Land, das wir mit unseren Augen sehen, auch die einzige Richtung, in der wir den Fluß, zu dem wir von der Kolyma aufgebrochen sind, suchen sollten." Und er,
Semjon Deshnjow, würde sie dorthin führen, Gott weiß es. Die vielen Worte ermüdeten ihn, aber sie stellten ihn nicht zufrieden. Ja, Worte zählten jetzt nicht mehr, nicht einmal seine eigenen. Und den Namen Pogitscha hatte er auch nicht erwähnt. Deshnjow blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, was nun zu tun bliebe, denn ohne daß jemand ihn aufgefordert hätte, nahm Ankudinow das Wort und sagte: "Keine zwei Tage mehr halte ich meine Männer in den Schranken. Sie werten den Verlauf der Reise nach dem, was man ihnen versprochen hat, und wenn du sagst, Semejka, auf dem Meer gibt's keine Flüsse und also auch keine Wälder an ihren Ufern und keine Pelztiere, dann ist das doch nur die halbe Wahrheit, und die nehmen sie mir nicht ab. Auf dem Wasser, so wissen wir, stehen auch keine Wegweiser, und wir müssen schon selbst zusehen, wohin die Küste führt. Oder aber wir sollten nach ganz neuen Ufern suchen, da stimme ich unserem verehrten Fedot Aleksejew zu. Aber Weitervertrösten und Zögern da macht bei mir an Bord niemand mit." Nun waren dies zwar schon sehr direkte Drohungen, aber um sie als solche zu verstehen, bedurfte es eines so geschärften Ohres wie das Deshnjows. Plötzlich wurde die niedrige Tür des Kontors aufgestoßen, und ein Kosak stürzte herein und schrie: "Eine Insel! Der Mann im Auslug hat backbord voraus eine Insel gesichtet!" Das erste Eiland einer ganzen Gruppe, auf die sie gestoßen waren, schien die Ankömmlinge mit starker Brandung und steilen, felsigen Ufern abweisen zu wollen. Erst als sie im Lee der Insel vor Anker gingen, konnten die Boote ins Wasser gelassen werden. Das Landungskommando fand
dann auch bald eine geeignete kleine Bucht, aber das Inselinnere zeigte sich nicht gastfreundlicher als die schroffe Küste. Bewohnt wurde die Insel lediglich von laut kreischenden Albatrossen und anderen Seevögeln, und Memil, den Deshnjow mit an Land genommen hatte, sah sich ein weiteres Mal in der Hoffnung getäuscht, auf Stammesbrüder zu stoßen. Die Lage der Insel verdrängte den Gedanken an eine Flucht von dem Schiff der Kosaken. Und doch hätte er gern ein paar Worte in der Sprache seiner Väter gehört, zum erstenmal seit den Wochen des Fahrtbeginns. Ankudinow hatte sich, gemeinsam mit fünf Getreuen, in das Landungskommando gedrängt, und als dessen Aufgabe nun abgeschlossen schien, weil die Insel als Platz für eine Verproviantierung ebenso nutzlos schien wie als Wegweiser, suchte er am Ende des zweiten Tages auf dem Felseneiland ein Gespräch mit Deshnjow unter vier Augen. "Warum weichst du mir aus, Semejka?" fragte er ihn, "haben wir, als wir beide neu an der Kolyma waren, nicht so manches Mal den Jassak gemeinsam eingetrieben und so manche Tschuktschensiedlung ausgeforscht, die sich der Steuer des Zaren entziehen wollte?" "Ich weiß nicht", reagierte Deshnjow frostig, "was das mit unseren jetzigen Aufgaben zu tun hätte. Ich sehe hier keine Siedlung der Tschuktschen, wo man die Bewohner zur Zahlung des Jassak anhalten müßte ." "Aber wir werden auf solche Siedlungen stoßen, deshalb sind wir doch mitgeschickt, du wie ich. Und glaubst du nicht auch, daß wir so schnell wie möglich aufs Festland zurück müssen, um einen Anhaltspunkt für den weiteren Weg zu finden?" Kaum hatten sie die ersten Sätze gewechselt, reute es
Deshnjow schon, sich auf dieses Gespräch überhaupt eingelassen zu haben, und er antwortete kühl und ausweichend: "Von Pelzen wird niemand satt an Bord. Und Wasser brauchen wir auch schneller als Fuchsschwänze für einen neuen Kragen. Wenn ich nur wüßte, was das nach Süden abgebogene Ufer noch für Überraschungen bereithält ." Da lachte Ankudinow zufrieden. Wer sich so absichert mit Wenn und Aber, dachte er, wird den Pogitschafluß niemals erreichen, selbst wenn er ihn schon rauschen hört, denn: Könnte das Rauschen nicht auch vom Wald stammen oder von der Meeresbrandung? Am nächsten Morgen hatten beide anderes zu tun, als noch einmal ihr Gespräch zu überdenken, die Boote mußten für die Rückkehr zu Wasser gebracht werden, vom Meer her sollte ein letzter Versuch unternommen werden, doch noch eine Bachmündung aufzuspüren, die Trinkwasser hergab. Deshnjow gab gerade Abweisungen für das Verstauen der Gerätschaften und leeren Wasserbehälter, als er plötzlich von der Steilküste herab Memils Stimme vernahm: "Semejka, Semejka! Es kommen Boote, Boote, so viel wie ein Vogelschwarm!" Mit ausgestrecktem Arm wies er in südöstlicher Richtung, dorthin, wo den an Bord beschäftigten Kosaken der Blick durch ein spitzes Nadelkap versperrt wurde. Von der überraschenden Nachricht aufgeschreckt, beeilte sich Deshnjow, seinen Befehlen an die Kosaken mehr Nachdruck zu geben, und rief Memil hinauf: "Behalt sie im Auge! Und sag uns, ob sie hierher oder zu den Schiffen draußen Kurs halten." Das Vertrauen Deshnjows in Memil war in diesem Augenblick grenzenlos, es war ein hoffen-
des, selbstsicheres Vertrauen. "Nach draußen!" gab der Tschuktsche zurück. "Sie halten nach draußen zu, auf die Schiffe. Uns scheinen sie gar nicht entdeckt zu haben." "Dann komm sofort herunter, Memil! Du fährst mit mir zu den Schiffen, wirst dort gebraucht." Ankudinow befahl er, den Ausguck dort auf dem Felsen mit einem seiner Kosaken zu besetzen. Gerassim solle, sobald auf den Schiffen drei Flintenschüsse in schneller Folge zu hören seien, mit seinem Boot und den letzten Leuten von der Insel her nachkommen. "Daraus wird nichts, Semejka", sagte Ankudinow, anscheinend ruhig und doch voll Bestimmtheit. "So einfach wirst du mich und meine Leute nicht los. Euch davonmachen, weil dein Schlitzäugiger ein paar Boote gesichtet hat, und uns dann auf dieser gottverdammten Insel vergessen . Das geht nicht auf, jedenfalls nicht mit mir, Semjon Deshnjow!" Breitbeinig stellte er sich, ohne noch einen einzigen Augenblick zu verlieren, vor seine Leute und kommandierte: "Das Boot zu Wasser. Und alle Mann an die Riemen! Wir sind als erste an unserem Schiff, habt ihr mich verstanden?" Die Kosaken antworteten mit lautem "Hurra!", und Deshnjow, beeindruckt von ihrer Entschlossenheit, wagte nicht, Ankudinow an seine Befehlsgewalt zu erinnern. Vielmehr wartete er nur Memils Rückkehr von der Felshöhe ab, um seinerseits das Kommando zum Wassern und Ablegen zu geben. Es blieb keine Zeit, von der Niederlage, die er hatte einstecken müssen, gekränkt zu sein, und es gab auch keinen Grund, sich um die aufgegebene Inselposition weiter den Kopf zu zerbrechen. Denn kaum waren sie so weit auf das
Wasser hinausgelangt, daß sie die angekündigten Boote ausmachen konnten, erkannte Deshnjow, daß diese Kurs auf die Schiffe dort draußen hielten, ganz so wie auch sie. Und ohne den Streit mit Ankudinow noch einmal in seinen Einzelheiten oder gar in seinen möglichen Auswirkungen zu überdenken, sagte Deshnjow sich, die Insel wäre für die unbekannten Ankömmlinge tatsächlich nur ein Köder gewesen, auf den sie keinerlei Appetit zeigten. Mit lauten Rufen feuerte er die Männer an, aber Ankudinows Boot vermochten sie nicht mehr einzuholen, und als sie endlich die Höhe ihres Schiffes erreicht hatten, waren auch die ersten der kleinen, zerbrechlich aussehenden Eskimokajaks schon dort angelangt. Jeweils ein Mann saß in einem solchen schmalen Gefährt und regierte es mit einer Art Ruder, das er mit beiden Händen gepackt hielt. Auf der glatten Außenhaut der Boote glänzten die Wassertropfen, und es kam den Kosaken vor, als brauche der zu einer Einheit verschmolzene Körper von Mensch und Boot sich nur zu schütteln wie ein Hund, und schon würden die Wassertropfen verschwunden sein. Und tatsächlich - einige der kühnen Bootsfahrer gaben aus zunächst unerklärlichem Grund über Körper, Arme und Ruderschaufel einen scharfen Ruck an ihren schwimmenden Untersatz weiter, daß das Boot zu schwanken und zu zittern anfing. Allerdings geschah das nicht, um Wassertropfen abzuschütteln, sondern um kurz darauf kieloben zu schwimmen und dann sofort in die alte Schwimmlage zurückzukehren - ein Spaß zur Begrüßung, dessen Abschluß die geschickten Ruderer selbst mit vergnügtem Lachen anzeigten. Ihre Gesichter waren breit und hatten schmale listige Augen. Sie trugen enganliegende Kapuzenjacken, die
ebenso glatt und wasserabweisend waren wie die Häute der Kajaks. Und bei einigen waren in Nasen, Ohren oder Unterlippen kunstvoll geschnitzte Pflöcke aus Walroßzahn zu erkennen. Nachdem Deshnjow dem Treiben auf dem Wasser einige Zeit aus nächster Nähe zugeschaut hatte, kletterte er an Bord des Kotsch. Von dort winkte er Memil, gleichfalls heraufzukommen, rief jedoch, seine eilige Geste korrigierend, noch hinterher: "Versuch zunächst herauszubekommen, ob du sie verstehst. Und frag sie, wie viele Tagesreisen es bis zum Festland sind - auch wenn sie nur wissen können, wie lange sie selbst dafür brauchen." Dann stieß er sich von der Reling ab und trat in sein Quartier. So oder so - jetzt würde die Entscheidung fallen über die weitere Fahrt, und da gab es noch manches zu ordnen, zu sichten, zurechtzulegen, denn mit Worten wäre auch Fedot Aleksejew dieses Mal nicht mehr zufriedenzustellen. Sie waren auf Menschen gestoßen, die ihr Leben lang hier zugebracht hatten. Die Krone des Baumes, der sie interessierte, war den Kosaken wie von selbst vor die Füße gefallen. Nun galt es herauszufinden, ob es sich auch noch lohnte, den Stamm zu fällen.
"Tschuktschen sind es nicht", begann Memil seinen Bericht. "Sie selbst nennen sich Inuit. Ich habe einen unter ihnen gefunden, der unsere Sprache versteht." Stolz blickte er auf Deshnjow, dessen Gesichtszüge im Schein der Öllampe angestrengtes Nachdenken verrieten. "Sie sagen, daß es in beiden Richtungen Land gibt: zum Sonnenuntergang und zum Sonnenaufgang hin. Nach Mitternacht aber, so glauben auch sie, führt der Weg in das
Reich der Toten, und nach dem Mittag öffnet sich ein Meer ohne Rand, das sie Warmes Meer nennen." "Und wie weit ist es bis zu den Rändern nach Ost und West - nach Aufgang und Untergang, haben sie das nicht gesagt?" Deshnjows Frage klang drängend, denn gab es hier nichts zu holen - und es sah ganz danach aus -, kam es auf diese Frage allein an. "Sie fahren nur selten dorthin. Es dauert nach beiden Seiten einen ganzen langen Tag, wie sie sagen. Das Ufer, von dem wir selbst kommen, nennen sie Großes Steinkap, und nach Sonnenaufgang zu liegt das Große Land." "Großes Land ." Versonnen lauschte Deshnjow den Worten Memils nach. "Und ihr", fragte er schließlich den Tschuktschen, "habt ihr noch nie von diesem Großen Land etwas gehört?" "Nein", sagte Memil, "wir kennen das Land, in dem wir Tschuktschen wohnen und jagen und Kinder haben und sterben. Es kommt uns groß genug vor - so, als sei es das größte Land unter dem Weltbaum. Doch da kamt auf einmal ihr und erzähltet, wie groß und weit euer eigenes Land ist. Und nun stehe ich selbst zum erstenmal auf einem Fleck Erde, der nicht mehr zum Land der Tschuktschen gehört." Einen Teil dieser Gedanken wiederholte Memil dann noch einmal, als er im Beisein von Aleksejew und Ankudinow erneut durch Deshnjow über seine Gespräche mit den Kajakleuten befragt wurde. Doch als die entscheidende Frage kam, jene nämlich, ob dort auf dem Großen Land auch solche Meermenschen wohnen, solche Inuit wie auf diesen Inseln, wich er zunächst aus: "Ja, gesagt haben sie es. Und - daß es dort noch mehr Fische als hier und ganz viele Walrosse gibt mit schweren, weißglänzenden Hauern ."
Von Aleksejew über den Grund seines Zögerns befragt, auf diese Frage zu antworten, meinte er schließlich: "Ich weiß nicht, ob wir ihnen glauben sollen. Denn ist es nicht möglich, daß sie uns nur von hier fortschicken wollen und daß sie deshalb die Gegend loben, in die, wie sie meinen, unser Weg führen sollte? Möglich wäre es schon." Sein Blick suchte den Semjon Deshnjows, und der Kosak spürte deutlich, daß ihre alte Feindschaft nicht mehr bestand. Er zuckte zusammen wie unter einer plötzlichen Bürde. Hatte sich seine Hoffnung auf die ehrliche Freundschaft des Tschuktschen erfüllt? Konnte sie es überhaupt? Würden sie nach allem, was zwischen ihnen geschehen war, jemals mehr sein können als Komplizen, die gegen die anderen zusammenhielten? Die Zeit mußte es zeigen. Es gab keine Möglichkeit, die Kajakfahrer noch einmal zu befragen, denn sie waren, kaum daß die Sonne nur noch zwei Handbreit über dem Horizont stand, davongestoben über das Wasser.
Fedot Aleksejew entschied, Kurs auf das Große Land im Osten zu nehmen. Aber kaum hatten alle fünf Schiffe die Albatros-Inseln verlassen, braute sich über ihnen ein Wetter zusammen, wie es in diesen Breiten Mitte September eher die Regel als eine seltene Ausnahme ist: Nebel fiel plötzlich herab, und die Wellen der von Süd heranrollenden Dünung bekamen schaumige Kronen. Dann brach ein eisiger Nordost los. Am Morgen des fünften Nebeltages befanden sich die russischen Schiffe in einer Kreuzsee, wie sie schlimmer nicht denkbar ist. Die Gewalt der wie zufällig fallenden kurzen, mächtigen Wellenschläge enthob sie jeder Möglichkeit, die Schiffe mit Segel und Ruder im Kurs zu halten - wenn es zu diesem Zeitpunkt über-
haupt noch einen sinnvoll bewußt gesteuerten Kurs der Kosaken gegeben hätte. Der dichte Nebel hatte sie jeglicher Orientierung beraubt. Auch untereinander waren sie längst außer Sicht, und hatten, solange das neblige Wetter noch ruhig war, regelmäßig abgefeuerte Schüsse den Zusammenhalt der Flotte gesichert, so erstickte der Sturm nicht nur diese Signale, sondern machte auch - wären sie überhaupt auf allen fünf Schiffen zu hören gewesen jede Möglichkeit, sie zu befolgen, illusorisch. In der folgenden Nacht steigerte sich der Nordost zum Orkan, zerfetzte auf Deshnjows Kotsch das Segel und warf das gänzlich manövrierunfähig gewordene Schiff wie ein Büschel Entendaunen auf den Wogenkämmen umher. Die Männer hatten Mühe, unter Deck zu kommen. Wer jetzt draußen bliebe, das wußten sie, den hätte die Gewalt des erstbesten Brechers sofort in die kochende See gespült. Semjon Deshnjow, froh darüber, daß er bisher niemanden verloren hatte, wagte bei Tagesanbruch selbst einen Blick aus der Luke. Und obwohl die hastig ziehenden Wolken ihm nicht erlaubten, den genauen Sonnenstand auszumachen, hätte er doch schwören können, daß sie nach Norden trieben, was sowohl ihrem bisherigen Kurs als auch der Windrichtung widersprochen hätte. Und doch war es so. Am Morgen ließ der Sturm etwas nach, und Semjon tat, was er keinem seiner Männer gestattet hätte: Er stemmte sich aus der Luke hinaus auf Deck. Überall herumgewirbelte Tampen und Enden, Fetzen der Segel, die sich in den Wanten und Stangen verfangen hatten und im Wind schlugen wie die Holzrasseln tungusischer Schamanen - nur unter Mühen konnte Deshnjow sich überhaupt orientieren, wo ihm früher, in den Wochen der Reise, jede Spiere an dem für sie vorge-
sehenen Ort, jeder Block, jeder Tampen wohlvertraut war. Eins aber registrierte er sofort mit sicherem Blick: Der Nebel lichtete sich ringsum. Auch an ihm selbst zerrte der Sturm, und hätte der Kosak nicht mit beiden Armen am Mast Halt gesucht, wäre er wohl, so aufrecht, wie er jetzt stand, an die Reling und darüber hinweg gedrückt worden. Er untersagte sich sogar die gewohnte Geste, mit der Rechten durch den zerzausten Bart zu streichen, und senkte nur den Kopf, um sich die tränenden Augen an den Armen auszuwischen. Als er wieder aufblickte, sah er Land, und zwar steuerbord, schon leicht achterlich. War dies das Große Land der Männer mit dem Walroßzahnschmuck? Er wandte den Blick vom Ufer, das als schmaler Strich in der Ferne lag, denn der Wind, der das Schiff vor sich hertrieb, brachte nicht nur seine Augen zum Tränen, sondern machte ihm in seiner Heftigkeit sogar das Atemholen zur Qual. Deshnjow sah die Sonne vor sich, die bald schon im Mittag stehen würde und der sie - wenn auch nicht nach eigenem Ermessen - entgegenfuhren, so, wie es in den Liedern hieß, die die Kosaken an der Kolyma und an der Lena sangen: Immer, Kosaken, der Sonne entgegen . Da nahm Semjon Deshnjow noch einmal den Blick zurück, in den Sturm. Nach steuerbord zu - natürlich, das Große Land der Kajakfahrer konnte es nicht sein, das lag ja im Osten und das wäre backbord. Auf einmal erkannte er über der Nadelspitze des großen steinernen Kaps den Buckelberg, welcher der Landzunge auflastete, dort, wo sie am weitesten vorsprang ins Meer: Das war es, sein Kap, das Große Steinkap, um das er die Schiffe nach Süden gelenkt hatte, zu den Albatros-Inseln . Alle dort unter Deck, außer Memil, glaubten noch immer
an die Pogitscha als Ziel, zu dem sie aufgebrochen waren. Und wenn sie jetzt um ihr Leben bangten, war es ihnen vor allem leid um all die Schätze, die sie dort hatten heben wollen. Dabei waren sie blind dafür, daß der größte und wertvollste Schatz, den es auf dieser Reise zu erobern galt, längst schon geborgen war, von ihm, Semjon Deshnjow: Die Erkenntnis nämlich, daß es nicht endlos so weiterging wie vom Ob zum Jenissej, von dort zum Olenjok und zur Lena, von der Lena zur Jana, Indigirka, Kolyma, immer weiter nach Osten, von Flußmündung zu Flußmündung. Die Pogitscha hatte ihn in die Irre geführt und ihm dabei doch ein Licht aufgesteckt. Als Deshnjow sich auf die Knie fallen ließ, um zurück zur Luke zu kriechen, bekreuzigte er sich, denn er mußte an Fedot Aleksejew, an Gerassim Ankudinow und all die anderen Männer auf den vier Seglern denken, denen der Sturm nicht weniger übel mitgespielt haben mochte - so Gott wollte, daß sie überhaupt noch schwammen. Ich habe gesündigt, dachte er und bekreuzigte sich noch einmal, ich habe Gott versucht und habe die anderen mitgerissen, als er mich abwies. Was wird aus ihnen geworden sein .? Im Zurückkriechen riß der Wind an ihm, und Deshnjow spürte, wie einsam er war. Nach mehr als einer Woche hilflosen Dahintreibens erstarkte der Sturm noch einmal zu Orkanstärke, brach dem Kotsch den Mast und warf ihn in einer ohrenbetäubenden Brandung auf einen flachen Strand. Allein diesem Umstand hatten es Deshnjow und seine Männer zu danken, daß sie bei dieser unverhofften Landung mit dem Schrekken davonkamen, denn an jedem Felsenkap, auf jedem
Riff, jedem steinigen Ufer hätte die Sturmgewalt das
Schiff zerschmettert und auch ihnen selbst schweren
Schaden oder gar den Tod gebracht.
An eine Instandsetzung des Kotsch und eine spätere Weiterfahrt war aber auch jetzt nicht zu denken, das sahen sie sofort, als sie - halbtot vor Durst und Hunger und überstandener Angst - sich einer nach dem anderen aus der Luke ins flache Uferwasser hinabließen. Wie das Schiff so dalag, auf die Seite gekippt und immer noch unruhig hin und her geworfen, sooft eine besonders hohe Welle die äußeren Sandbänke überrollte, war Mitleid das einzige, was man für dieses ausgediente Plankengerüst noch empfinden konnte, den einstmals schwimmenden Bauch, der sie beim Hereinbrechen der Gefahr geschluckt und bis zu dieser Stelle bei sich behalten hatte, wo er sie nun ausspie, als drückten sie ihn. Gerade für Mitleid aber war es ganz sicher der falsche Augenblick.
Deshnjow versammelte seine wohl dreißig Männer hinter der Düne und schickte dann ein Dutzend von ihnen noch einmal zum Wrack zurück, um zu bergen, was es zu bergen gab, bevor die Flut einsetzte. Memil sandte er mit drei Kosaken aus, um eine Quelle zu suchen, denn Trinkwasser war jetzt wohl das, was sie alle am nötigsten brauchten. Bald war im Schutz eines niedrigen Küstenwäldchens ein erster Lagerplatz notdürftig hergerichtet, und als die erfolgreichen Wassersucher gar mit einem von dem Tschuktschen erlegten Dickhornschaf zurückkehrten, schien die erste Not ihrer erzwungenen Landung vergessen. Semjon ahnte, wieviel für die Zukunft von seinem Verhältnis zu Memil abhing. Auch war ihm klar, daß sie hier nicht bleiben konnten, denn obwohl sie das Schicksal an eine Küste des Warmen Meeres und nicht ins ewige Eis verschlagen hatte, würde auch hier bald der Winter hereinbrechen mit Schnee und eisigen Stürmen - stärker noch, als sie es erlebt hatten bei ihrer leidensvollen Drift. Überwintern konnten sie nur im Landesinnern, geschützt vor den widrigsten Unbilden der Witterung. Sahen die ersten Wochen des Marsches sie noch unausgeruht und hungrig, so besserte dies sich bald nach den einsetzenden Schneefällen. Vor allem Memil war unermüdlich im Verfolgen der frischen Spuren. Bezog sich ihre Jagdlust zunächst noch vor allem auf Eßbares, so waren die Kosaken doch auch zufrieden, Fährten von Fuchs und anderen Pelztieren in dichter und dichter werdenden Netzen die Tundra überspannen zu sehen. Hätten sie erst den Platz für ihr Winterlager gesichert, bliebe auch für die Pelztierjagd noch Zeit.
Doch eines Tages stieß Memil auf ein eben verlassenes Lagerfeuer mit vielen frischen Fußspuren im Schnee ringsum, und daran, daß die Glut mit Asche und zwei gekreuzten Birkenzweigen abgedeckt war, erkannte er, daß diese Jäger Tschuktschen gewesen waren. Er sagte es Deshnjow abends, als sie selbst ihr Lager aufgeschlagen und sich in großer Runde um das Feuer gehockt hatten. Daraufhin blickte er ihn an und sagte: "Dann ist dies wohl schon unsere letzte gemeinsame Rast, Memil?" Aber der Tschuktsche hielt dem Blick des Kosaken stand und entgegnete: "Vergiß nicht, daß ich an die Kolyma zurückwill. Allein schafft das niemand." In Deshnjow zerbrach etwas. Würde ihr Miteinander denn immer nur von Zwecken und Vorteilen bestimmt sein? Am nächsten Tag überwanden sie eine Hügelkette und stießen auf einen Bach, der sich als dunkler Riß durch die Schneelandschaft zog. Sie folgten ihm und sahen, wie er, von anderen Bächen gespeist, anwuchs und zu einem stattlichen Flüßchen wurde. Nach drei Tagesmärschen hatte sein Lauf eine mit Lärchen bestandene Waldsenke erreicht. Über Steine und umgestürzte Bäume floß das Wasser laut rauschend dahin, und die Kosaken brachten die ersten Marderfelle. Ob dies schon der Fluß Pogitscha sei, wollten sie wissen. Deshnjow antwortete ausweichend auf ihre Fragen, sagte etwas von sicheren Anzeichen, die sie bald schon sehen würden, aber auch von notwendiger Geduld. Und fragte sie seinerseits, ob sie nach dem Schiffbruch, den sie erlitten hatten, nicht lieber direkt zur Kolyma marschieren sollten nach dem Winter. Nein, hieß es daraufhin allgemein, die Pogitscha sei nach wie vor das erklärte Ziel, zurück an die Kolyma, in die Enge des Forts,
kämen sie noch allemal rechtzeitig - und dann sei es schon besser, sie seien inzwischen reiche Leute geworden. Ja, so unterschiedliche Wünsche konnte das gleiche Ziel hervorbringen. Memil schwieg zu diesen Gesprächen. Und fragte ihn ein Kosak direkt, wann sie denn nun an diese verdammte Pogitscha kämen, zuckte er mit den Schultern und untersuchte bedeutungsvoll Flechten und Moos an den Bäumen oder den Verlauf und die Höhe von Schneeanwehungen. Trafen sie auf weitere Spuren von Jagdlagern der Tschuktschen, so konnte man meinen, er interessiere sich nur für Hinweise auf Art und Umfang der Beute, die diese Jäger gemacht hatten. Das Wasser - einziger Ausdruck des Lebens in dem winterkahlen Lärchenwald - führte sie in ein weites Tal. Das Flüßchen verästelte sich, bildete Inseln und dort, wo es langsam floß, erstes Eis, Ein Vortrupp, den Deshnjow ausgeschickt hatte, um den kürzesten Weg durch dieses Gewirr zu erkunden, kam armeschwenkend und schreiend zurück: "Ein Fluß! Ein Fluß! Wir haben den Fluß erreicht!" Und einer der Kosaken hatte auch gleich den Namen auf seinen Lippen, den alle im Herzen trugen: "Pogitscha! Die Pogitscha. Wir sind an der Pogitscha endlich!" Der Fluß war breit und floß träge dahin. Auch das andere Ufer war bewaldet, mit Lärchen und einzelnen Birken. Das schräg einfallende Sonnenlicht ließ das Gewirr von Stämmen und nackten Ästen wie ein Geflecht vor dem Schnee erscheinen, als sei es ein Zaun, den niemand je übersteigen würde, obwohl er sah, was dahinterlag. Die Männer hatten ihr Ziel erreicht, sie standen an der Pogitscha, deren ruhiges Dahinfließen sie verstummen
ließ. Kein Gedanke mehr an Schiffbruch, den sie selbst erlitten, kein Gedanke auch an die Kameraden, die sie aus den Augen verloren hatten. Niemand war ihnen zuvorgekommen - daran vielleicht dachten sie. Und an das, was es nun zu tun gab. Sie zogen stromauf. Der Uferwald war dicht und voller Gestrüpp. Als der Abend hereinbrach, fiel jeder vor Müdigkeit um, wo er gerade stand. Nicht einmal Feuer machten sie in dieser Nacht. Am Morgen, noch vor dem Weitermarsch, gab es Alarm: eingeborene Jäger hatten das Lager beschlichen, während die Russen schliefen. Und Wachen einzuteilen hatte Deshnjow nicht gewagt bei der allgemeinen Erschöpfung. Memil schwieg, als die ersten Rufe laut wurden, nun sei es wohl an der Zeit, die verdammten Tschuktschen aufzustöbern und unter ihnen Geiseln zu nehmen, selbst wenn man noch auf dem Marsch sei. Mit dem Einsammeln der Pelzabgabe könne nicht früh genug begonnen werden. Später entsann sich Deshnjow, daß Memils Blick während dieser Worte über Hänge und Kämme des Ufertales geschweift war. Den Wachen, die am nächsten Abend aufgestellt wurden, schärfte er ein, auf jedes Geräusch und jeden Schatten zu schießen - zunächst einmal gelte es, den Feuerwaffen Respekt zu verschaffen. Am nächsten Morgen war Memils Lagerstatt leer. Also doch! Keine der Wachen hatte ihn gesehen, niemand auch nur einen trockenen Zweig knacken gehört. Deshnjow zuckte zunächst nur die Schultern. Warum sollte er dem Tschuktschen nachtrauern. Memil hatte sie an den Fluß gebracht, von dem er gesagt hatte, es gäbe ihn überhaupt nicht. Eigentlich war seine Aufgabe erfüllt, was sollte er ihm jetzt noch. Und: Hatte er, Semejka Deshnjow, diesen
Schritt nicht vorausgesehen? Aber das Schulterzucken war nur für die anderen. Sich selbst gestand er ein, wie sehr ihn der Weggang des Tschuktschen getroffen hatte. Als er erfuhr, Memil habe drei Flinten mit reichlich Schießvorrat weggeschleppt, ließ er das Schulterzucken. Er beruhigte seine Gefährten: Der Tschuktsche sei nie im Waffengebrauch unterwiesen worden, was also wolle er mit den Büchsen bei seinen Stammesleuten? Gegen Mittag marschierten sie weiter. Die Tage waren schon kurz, und so sahen sie ihren aufgegebenen Lagerplatz noch, als sie erneut Rast machen mußten. Am Ende einer weit ausholenden Biegung des Flusses lag er in dem schütteren Wald, mehr erahnt als genau wiedererkannt. Und doch wußte Deshnjow, daß ihr weiterer Weg beschwerlich sein würde. Kaum war der Mond aufgegangen, erfolgte, nach Deshnjows Befehl, die erste Wachablösung. Er hatte angeordnet, auch ihn zu wecken, denn er war gewillt, nun keinerlei Schlamperei oder auch nur die geringste Unregelmäßigkeit mehr zuzulassen. Sie lagerten an der Pogitscha - was wollten sie mehr. All ihre Träume würden sich erfüllen. Nun hieß es, den Brunnen abzuteufen und aus ihm zu trinken wie der Dürstende, nachdem die Stelle mit so viel Mühe ausgemacht worden war. Semjon setzte sich ans Feuer, das fast niedergebrannt war. Die Wachen bezogen Posten, die anderen schliefen. Wieder spürte Deshnjow, wie die Einsamkeit nach ihm griff. Käme er jemals zurück an die Kolyma, würde Gawrilow sein Tun einzig und allein danach beurteilen, wie hoch die mitgebrachte Pelzbeute für den Staatsschatz war. Also mußten die Dinge jetzt ihren normalen Lauf nehmen, ohne weiteren Zeitverlust: Bau des Winterlagers, An-
schaffen von Vorräten, soweit jetzt noch möglich, auf jeden Fall aber sofort Einbeziehung der Tschuktschen in die Pelztierjagd für den Jassak. Und im späten Frühjahr, wenn der schlimmste Hunger vorbei und die Männer wieder gestärkt wären, Aufbruch zur Kolyma . Es blieb keine Zeit, Memil nachzutrauern. Andere Jäger würden sie führen. Deshnjow mußte eingenickt sein, in seine Gedanken schoben sich plötzlich Bilder der Ankunft im Fort, Begrüßung und Belobigung durch den Kommandanten, das Auszahlen der Männer, und auch für ihn selbst, Semjon Deshnjow, fielen Rubel um Rubel in eine Kiste. Die allgemeine Begeisterung über die Rückkehr der Pogitschasucher ließ niemanden aus, es gab Wodka und tungusische Weiber, am Flußufer zog eine Schützenkette auf und schoß übermütig Salut . Da rüttelte ihn ein Kosak an der Schulter: "Semejka, Semejka! Die Tschuktschen haben zwei Posten erschossen." "Und - habt ihr sie gekriegt? Dann hätten wir gleich Geiseln, vor allem Memil - wir müssen Memil fassen!" Deshnjow war sofort hellwach. Er sprang auf und griff nach seiner Waffe. Wie hatte er das Verschwinden Memils nur so leichtnehmen können. Der Überfall hatte fast alle geweckt, die Kosaken bedrängten die überlebenden Wachen, aber keiner konnte genau sagen, aus welcher Richtung die Schüsse gefallen waren. Aus Ratlosigkeit, aber wohl auch aus Angst, feuerten sie in die Dunkelheit, in die Bäume, zum Fluß, bis Deshnjow mit herrischer Stimme verlangte, die sinnlose und dabei für sie selbst so gefährliche Ballerei endlich einzustellen. Er teilte alle Kosaken zur Wache ein, sicherte
auch die Flußuferseite des Lagers. Zog erst der Morgen herauf, würden sie die Verfolgung der Eingeborenen aufnehmen, und dann würde sich bald schon zeigen, wer besser mit den Flinten umzugehen verstand und wer mehr davon hatte, trotz allem. Plötzlich ein einzelner Schuß, aus gar nicht großer Entfernung und doch deutlich außerhalb des Wachringes abgefeuert. Deshnjow blickte auf und sah im ersten Hinsehen sogleich die Stelle, von der aus geschossen worden war: Im hellen Mondlicht stand, abgehoben vom schwarzen Nachthimmel, eine Gestalt auf der Uferböschung und winkte mit erhobenem Gewehr ins Lager hinab. "Ich bin es: Memil", hörte Deshnjow eine Stimme, und sie kam ihm so unwirklich vor, daß er sie zunächst nicht mit der winkenden Gestalt in Verbindung brachte, sondern vielmehr glaubte, erneut zu träumen. Aber da setzte schon das Feuer der Wachen ein, abgehackt und durcheinander, ganz anders als jenes Salutschießen in seinem Traum. "Laßt ihn, er gehört mir!" gebot Deshnjow Einhalt. Er griff den Schaft seiner Waffe fester und hastete hügelan, aber als er verschnaufte und zu der Stelle blickte, an der Memil gestanden hatte, war der Tschuktsche verschwunden. "Hier bin ich!" Träumte er doch? Da war wieder die Stimme, aus einer ganz anderen Richtung diesmal, und als er hinübersah, stand dort tatsächlich wieder der Mann mit der Flinte, hoch aufgerichtet unter einem Baum. Die Entfernung war für einen Schuß bei diesem unsicheren Licht noch zu groß, und so hastete Deshnjow weiter, auf ein neues Ziel zu. Doch er kam auch diesmal nicht zum Schuß, Memil narrte ihn erneut, tauchte an einer ganz anderen Stelle auf, wie ein Irrlicht, das den Reisenden in
den Sumpf lockt, um ihn zu verderben. "Verdammt, so bleib doch stehen, ich tu dir nichts", schrie Deshnjow nun, aber er wußte, diesmal würde der Tschuktsche ihm nicht mehr glauben. Und tatsächlich, statt einer Antwort kam eine Kugel geflogen. Unmittelbar nach dem Abschuß hörte Deshnjow das Blei in einen Baum klatschen, der nur ein paar Schritt von ihm entfernt stand.
"Rühr dich nicht von der Stelle, Semejka!" schleuderte Memil der Kugel noch hinterher. "Ich habe dir lange genug geglaubt, aber jetzt wirst du mich anhören!" Es war, als hielte der nächtliche Wald sein Rauschen zurück, und auch der Fluß verstummte - so drückend war die Stille, die über der Szene lag. Der eingeborene Jäger, dem die fremden Eroberer seiner Heimat an der Kolyma nur deshalb die Freiheit wiedergegeben hatten, weil er ihnen behilflich sein sollte bei der Knechtung seiner Stammesbrüder an diesem neuen, fernen Flußufer - er
hatte ihnen nicht nur den Gehorsam verweigert und sich die Freiheit unwiderruflich wiedergenommen, er gebot nun auch dem, der bisher jeden seiner Schritte genehmigt oder verboten hatte, Was er zu tun und zu lassen hätte. "Wer von euch das Flußtal verläßt, verliert sein Leben. Hörst du, Deshnjow? Ich spaße nicht, auch bin ich nicht mehr allein, wie du weißt. Wir haben gelernt, uns mit euren Waffen zu wehren. Und wenn die Kugeln verbraucht sind, sei getrost, auch unsere Pfeile werden euch treffen. Wir werden euch in Ruhe lassen, solange ihr uns nichts tut und solange ihr am Fluß bleibt. Am Anadyr, Semejka, denn so heißt dieser Fluß in der Sprache meines Volkes sag das auch deinen Kosaken. Den Fluß Pogitscha werdet ihr nie erreichen, weil es ihn nicht gibt." Memil machte eine Pause und wiederholte dann, was er eben gesagt hatte, noch einmal mit Nachdruck, so laut, daß alle Kosaken ihn hören konnten: "Es gibt keinen Fluß Pogitscha, an dem ihr ungestraft die Wälder ausrauben und die Jäger hinter hohen Palisaden einsperren könnt." Wie zur Bekräftigung seiner Worte schoß der Tschuktsche noch einmal - oder gab er sich selbst Feuerschutz? Denn kaum war der Schuß verhallt, sprang er aus der Deckung des Baumes, neben dem er gestanden hatte, in das dichte Gestrüpp auf der Höhe. "Ich gehe zurück an die Kolyma", war von dort noch einmal seine Stimme zu hören, "ich habe dort einen Sohn, hörst du, Semejka? Schneller als ich war diese Nachricht hier am Fluß Anadyr. Und ehe der nächste Winter kommt, wird er sprechen und laufen können. Mein Sohn . Er soll Kano heißen, wie unser Schamane." Dann war Stille. Als sei immer Stille gewesen zwischen den beiden. Deshnjow wollte schießen, besann sich dann
aber darauf, daß die Kugel ein Irrlicht nicht treffen kann. Und daß sie in der langen Zeit ihres Hierseins jeden Schuß Pulver dringend brauchen würden. -
Die Kosaken errichteten ihr Winterlager auf einer Insel am Oberlauf des Anadyr. Als der Fluß gefror, verschärften sie die Wachen. Erst nach zwei Wintern, im April 1650, brachte ein Kosakenzug, der den Anadyr von der Kolyma her über Land erreichte, den Männern um Semjon Deshnjow die ersehnte Verstärkung. Die Expeditionen zum pelzreichen Fluß Pogitscha haben ähnlich wie die Suche nach dem Goldland Eldorado die erstaunlichsten Entdeckungen hervorgebracht, und dabei existieren beide Ziele nur dank der Einbildungskraft der Entdecker. Die östlichen Tschuktschen - die Entdeckten - litten seither unter der russischen Niederlassung am
Anadyr und der gewaltsamen Eintreibung des Pelz-Jassak durch die Kosaken. Semjon Deshnjows Fahrt um das Große Steinkap war lange Zeit vergessen. Erst 1736, sechs Jahre, nachdem Vitus Bering die nach ihm benannte Meeresstraße zwischen Alaska - dem Großen Land der Eskimos - und der Nordostspitze Asiens gleichfalls durchfahren hatte, wurde ein erster Bericht des Kosaken wiederaufgefunden. Die vier anderen Schiffe seiner Expedition blieben für immer verschollen. Sie wurden vom Sturm und den Meeresströmungen möglicherweise bis an die Küste Alaskas verschlagen. Bleibende Spuren auf dem Globus unserer Erdkenntnis haben sie jedoch nicht hinterlassen. Das östlichste Kap der Tschuktschen-Halbinsel trägt heute den Namen seines Entdeckers: Kap Deshnjow.
Heft 434 Omar Saavedra Santis Die Kunst des Kochens
Für den stellungslosen chilenischen Koch Melanio Altolaguirre ist sein Beruf nicht schlechthin eine Tätigkeit, die der profanen Speisenzubereitung dient, sondern eine Kunst. Seine Pute Monteverdi (mit Trüffelsoße) vermag sogar jene zu begeistern, die sie zwar nicht essen können, aber miterleben dürfen, wie der Meister davon schwärmt. Und allmählich, für Melanio fast unmerklich, wird er dadurch für die Machthaber seines Landes zu einem gefährlichen Feind.