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Die Angriffsspitzen der Throgs überrollten wenige Minuten nach Sonnenaufgang den Außenposten der Erkundungsexpedition von der Erde. Der Angriff war lange und gründlich vorbereitet worden. Nur ein Mensch wurde Zeuge dieser gnadenlosen Vernichtungsaktion. Bis jetzt hatte man angenommen, vor den zwei Sonnensysteme weit entfernt lebenden Throgs sicher zu sein. Aber sie hatten eine Lücke im Verteidigungsgürtel gefunden, und nun war der gesamte Planet ihren tödlichen Waffen ausgeliefert. Der Kampf der Menschen gegen die Käferwesen war in ein neues Stadium getreten. Wenn es nicht gelang, sie zurückzuwerfen, würde nicht nur der Verlust des Planeten Warlock das Ergebnis sein.
Ferner von Andre Norton in der Reihe Ullstein 2000: Das Geheimnis des Dschungel-Planeten (3013) Die Sterne gehören uns (3082)
Ullstein Buch Nr. 3097 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: STORM OVER WARLOCK Übersetzung von Walter Ernsting
Umschlagillustration: ACE Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1960 by Andre Norton Übersetzung © 1974 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03097 1
Andre Norton
Sturm über Warlock SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
1 Die Throgs schlugen wenige Minuten nach Sonnenaufgang mit verheerender Wucht zu. Die tödliche Präzision, mit der sie dabei vorgingen, verriet eindeutig, daß sie die genaue Lage der irdischen Außenstation kannten. Auch durfte angenommen werden, daß der Angriff lange und gründlich vorbereitet war. Nicht weit entfernt, dicht auf den Boden gedrückt, kauerte der einzige Zeuge des plötzlichen Überfalls. Er wußte, daß unten im Tal kein Mensch mehr leben würde, wenn der letzte Energiestrahl erlosch. Fest bissen sich seine Zähne in den rauhen Ärmelstoff seiner Uniformjacke, um den Schrei des Entsetzens zu ersticken, der sich auf seine Lippen zu drängen drohte. Bis jetzt hatte er noch niemals einen Throg zu Gesicht bekommen, nur ihre flachen, tellerartigen Schiffe. Und sie würden diese Schiffe auch nicht eher verlassen, als bis sie wußten, daß es keinen Widerstand mehr gab. Wie war es nur möglich gewesen, daß die Throgs ihren Angriff so überraschend und vernichtend durchführen konnten? Den letzten Meldungen nach lag der nächste Stützpunkt der Throgs mindestens zwei Sonnensysteme entfernt. Man hatte damit ge-
rechnet, auf Warlock vorerst sicher zu sein. Außerdem hatte die Forschungsexpedition eine Kette von Patrouillenschiffen um das System Circe kreisen lassen, nachdem der zweite Planet für eine Kolonisation geeignet befunden worden war. Irgendwie mußte es den Käferwesen gelungen sein, eine Lücke in dem Überwachungsnetz zu finden. Es war anzunehmen, daß sie nun mit der üblichen Routine und Schnelligkeit handeln würden, wenn sie die irdischen Streitkräfte vernichtet hatten. Sie würden einfach die Arbeit der terranischen Forschungsabteilung fortsetzen. Nur einen Monat später, vielleicht auch zwei, und es wäre ihnen niemals gelungen. Das Energienetz hätte dann existiert, und jedes Schiff der Throgs, das sich am bernsteinfarbenen Himmel von Warlock gezeigt hätte, wäre augenblicklich und automatisch vernichtet worden. Es hätte einfach aufgehört zu sein. In dem Rennen um den Fortbestand als galaktische Macht hatte Terra einen kleinen Vorteil über alle anderen Intelligenzen des Kosmos. Die Forschungsabteilung der Raumflotte hatte die neu entdeckten Welten nur zu vermessen und das Energienetz zu errichten. Wenn das geschehen war, konnte kein Throg diese Planeten mehr angreifen, ohne selbst vernichtet zu werden. Die kritische Zeitperiode lag also zwischen der
Entdeckung eines solchen für menschliche Kolonisation geeigneten Planeten und dem Aufbau des Netzes. Viele Welten waren bisher während dieser Phase verlorengegangen. So wie jetzt auch Warlock. Throgs und Terraner – seit mehr als einem Jahrhundert bekämpften sie sich nun und fochten ihren weitverzweigten und erbarmungslosen Kampf zwischen den Sternen aus. Die Terraner suchten neue Welten; es war der alte Hunger nach Neuland, der sie einst das Sonnensystem verlassen und die Sterne erobern ließ. Aber jene Welten, auf denen der Mensch ohne Hilfsmittel leben konnte und auf denen es noch keine intelligenten Geschöpfe gab, waren sehr selten. In fünfundzwanzig Jahren wurden vielleicht nur ein halbes Dutzend von ihnen entdeckt, und dann konnte es noch passieren, daß von diesen sechs nur eine so der Erde glich, daß eine Besiedelung möglich war. Warlock war einer dieser seltenen Funde. Die Throgs waren Räuber. Sie lebten von der Beute, die sie anderen einfach abnahmen. Es war den Terranern bisher nicht gelungen, ihre Heimatwelt ausfindig zu machen – wenn sie überhaupt eine besaßen. Vielleicht lebten sie auch ewig an Bord ihrer flachen Schiffe, weil sie keine Heimat mehr hatten. Irgendein Umstand konnte sie zerstört und unbewohnbar gemacht haben. Und so waren sie Nomaden geworden,
ein Volk mordgieriger Piraten, die wehrlose Welten überfielen und alles Leben auslöschten, um die toten Städte auszurauben und neue Stützpunkte für ihre Flotte zu errichten. Überall in der Galaxis gab es diese geheimen Stützpunkte. Sie suchten genauso eifrig nach bewohnbaren Planeten wie die Terraner, denn trotz ihrer Insektenkörper und ihrer völlig fremdartigen Denkungsart waren die Throgs warmblütige Sauerstoffarmer – genau wie der Mensch. Als die ersten terranischen Raumfahrer den Throgs begegneten, hatten sie versucht, Frieden mit ihnen zu schließen. Aber es hatte nicht lange gedauert, bis sie einsehen mußten, daß ein solcher Versuch zum Scheitern verurteilt war. Es gab überhaupt keine Ebene, auf der man hätte verhandeln können. Der Unterschied der Denkprozesse war so gewaltig, daß jeder Verständigungsversuch sofort zu Mißverständnissen führte. Die Terraner erlitten Niederlage auf Niederlage, bis sie endlich das schützende Energienetz erfanden. Von nun an waren die Kolonialplaneten vor dem Zugriff der Throgs sicher, sofern diese nicht in den ersten Wochen der ersten Landung auftauchten. Bei Warlock war das der Fall gewesen. Ein letzter, greller Energieblitz zuckte über die Kuppeldome des terranischen Stützpunktes im Tal. Shann Lantee schloß geblendet die Augen. Das also
war das Ende. Schwer atmend hob er den Kopf. Langsam nur kam ihm zu Bewußtsein, daß er der letzte Mensch auf einer nicht sehr fruchtbaren und nun vom Feind besetzten Welt war – ohne Ausrüstung und ohne Verpflegung. Er kroch zu der schmalen Felsspalte zurück, durch die er gekommen war. Keiner der Männer dort unten war mit ihm besonders befreundet gewesen. Die meisten Menschen hatten ihn einfach ignoriert, wenn sie ihm nicht gerade Befehle erteilten. Einer oder zwei hatten ihn sogar mit Verachtung behandelt – wie zum Beispiel Garth Thorvald. Shann mußte grinsen, als er an sein letztes Erlebnis mit Garth dachte, aber dann verwandelte sich das Grinsen plötzlich in verwundertes Nachdenken. Denn wenn Garth Thorvald nicht versucht hätte, ihm wieder Schwierigkeiten zu machen, lebte auch er jetzt nicht mehr. Wenn Garth nicht die Tür des Käfigs geöffnet hätte, wäre er, Shann, jetzt nicht hier oben in den Bergen, um die entlaufenen Tiere zu suchen. Die Wolfis! Zum erstenmal, seit er die ersten tödlichen Energieschüsse der Throgs erblickt hatte, entsann er sich des Grundes seiner Kletterpartie. Von allen Männern der Forschungsabteilung war er der unbedeutendste gewesen. Die eintönigen Säuberungsarbeiten, Küchendienst, Laufburschentätigkeit – etwas anderes hatte er nie getan. Arbeiten, für
die keine Ausbildung erforderlich war, die hatte man ihm angedreht, nichts anderes. Und niemals hatte er sich gegen diese Benachteiligung aufgelehnt, nur weil er hoffte, später einmal vollwertiges Mitglied der Forschungsabteilung zu werden. Es hatte auch zu seinen Arbeitspflichten gehört, die Ställe der Tiere sauberzuhalten. Diese Arbeit jedoch hatte ihm Freude bereitet, weil er Tiere gern mochte und weil er hier Gelegenheit fand, interessante Dinge zu beobachten. Schon vor langer Zeit hatte die terranische Forschungsabteilung entdeckt, daß mutierte und gut abgerichtete Tiere bei der Erforschung fremder Welten hervorragende Dienste leisten konnten. Aus den biologischen Instituten der Erde kamen somit in Zuchtanstalten geborene Spezialtiere, die den Forschern künftig als ständige Begleiter dienten. Da gab es die Kämpfer, die dem Menschen zur Seite standen und ihn gegen alle Gefahren verteidigten. Andere wiederum besaßen bessere Augen, Ohren oder Nasen, als sie je ein Mensch haben könnte. In den Instituten war man dabei, sogar die Intelligenz dieser mutierten Tiere zu erhöhen. Wolfis – Abkömmlinge der einst so gefürchteten Wölfe – wurden auf Warlock erstmals eingesetzt. Ihre angeborene Vorsicht hatte sie besonders geeignet er-
scheinen lassen, eine völlig unbekannte Welt zu erforschen. Ihre Fähigkeit, einen dreimal so großen Gegner buchstäblich in Stücke zu reißen, machte sie zum besten Begleiter des Menschen in der Wildnis. Weitere Eigenschaften waren ihre große Ausdauer, ihre Kletter- und Schwimmkünste und – vor allen Dingen – ihre Neugier. Shann hatte ersten Kontakt mit ihnen aufgenommen, als er ihre Käfige reinigte. Sie sahen nicht gerade wie Wölfe aus, mehr wie kleine Bären mit langen, buschigen Schwänzen. Für Taggi und Togi war er eine wichtige Persönlichkeit geworden. Ihre scharfen Zähne, mit denen sie einem das Fleisch von den Knochen fetzen konnten, hatten seine Hände sanft und spielerisch umfaßt, zart seinen Arm gepackt und manchmal damit sogar seine Nase berührt, was bei ihrer Rasse höchste Anerkennung bedeutete. Da sie in der Kunst des Ausreißens wahre Meister waren, hatte Shann sie bereits zweimal wieder einfangen müssen, als sie auf eigene Faust Ausflüge in die Bergwildnis unternahmen. Gutwillig waren sie mit ihm in den Käfig zurückgekehrt. Beim zweitenmal jedoch hatte ihn Fadakar, der Chef der Tierabteilung, erwischt, bevor er Taggi und Togi wieder einsperren konnte. Fadakar hatte ihn derart abgekanzelt, daß er jetzt noch rot vor Wut wurde, wenn er daran zurückdachte.
Shanns Erklärungen waren brüsk zurückgewiesen worden; Fadakar hatte ihm einfach ein Ultimatum gestellt. Wenn es den Tieren noch einmal gelänge zu entkommen, würde dafür gesorgt werden, daß Shann mit dem nächsten Schiff zurückgeschickt würde, und zwar ohne Zeugnis oder Arbeitsbestätigung. Das bedeutete, daß es Shann künftig nie mehr möglich sein würde, auch nur den unbedeutendsten Posten in der Forschungsabteilung zu bekleiden. Aus diesem Grund auch war es geschehen, daß Garth Thorvalds Gemeinheit Shann alle Gefahren hatte vergessen lassen. Allein war er in die Wildnis des nächtlichen Planeten vorgedrungen, um die beiden Tiere zu finden, ehe Fadakar seine morgendliche Inspektion durchführen konnte. Garths Versuch, ihn hereinzulegen, hatte ihm das Leben gerettet. Eins der Throgschiffe stieß plötzlich aus dem gelben Himmel herab und blieb in geringer Höhe über dem verwüsteten Lager der Terraner stehen. Die Käfer kamen, sich von ihrem Sieg zu überzeugen und sich den Schaden anzusehen, den sie angerichtet hatten. Im Augenblick war ein Terraner desto sicherer, je weiter er sich von den nun schweigenden Kuppelbauten entfernt aufhielt. Shanns schmaler Körper war ein gewaltiger Vorteil, als er sich durch die enge Spalte zwängte, um auf den Pfad zu gelangen, den er bereits kannte. Auf ih-
ren vorherigen Ausflügen waren die beiden Wolfis hierhergelaufen. Nur wenige Augenblicke, dann befand sich Shann in einer flachen Mulde, in der einige Bäume wuchsen und Deckung boten. Rötlich gefärbtes Laub lag auf dem Boden. Ein leichter Wind strich durch die Wipfel der Bäume. Shann hörte einmal das Rauschen der Lederschwingen eines der Riesenvögel, die in den Felsen nisteten. Eigentlich war das ein gutes Zeichen, denn es bewies, daß die Throgs noch nicht gelandet waren. Shann zögerte. Alles in ihm drängte zwar danach, sich möglichst schnell von dem zerstörten Lager zu entfernen, aber er wollte es auch nicht wagen, die Vögel zu alarmieren, die von den Terranern Klackklack genannt wurden. Vielleicht war es daher besser, vorerst in den Felsen zu bleiben, statt am Abhang Deckung zu suchen, wo Patrouillenschiffe ihn leicht aufspüren konnten. Eine sandige Stelle gab ihm die Gewißheit, daß Taggi und seine Gefährtin Togi bereits hier gewesen waren. Deutlich war der Abdruck einer Wolfi-Pfote zu erkennen. Shann hoffte sehnlichst, daß die beiden Wolfis schlau genug waren, in der Wildnis Deckung zu suchen. Er leckte sich über die spröde gewordenen Lippen. Er hatte das Lager ohne Vorbereitungen verlassen, und so besaß er natürlich auch keine Wasserflasche.
Das brachte ihn auf den Gedanken, seine Ausrüstung zu überprüfen. Die Uniform bestand aus der schweren Arbeitskleidung, einer Hose mit kurzer Jacke, auf deren Brust die Insignien der Forschungsabteilung eingestickt waren. Im Gürtel steckten ein Lähmstrahler und ein Buschmesser. In den Taschen fand er drei Geldmünzen, ein Stück Draht, mit dem er die Halteleinen der beiden Wolfis zu flicken gedachte, wenn sie zerrissen waren, ein Päckchen Bravo-Tabletten, zwei Identitätskarten und eine Kordel. Keine Rationen – außer den Tabletten, kein Ersatzmagazin für den Strahler, nur noch eine kleine Taschenlampe, die von einer Atombatterie gespeist wurde. Der Pfad, dem er bisher gefolgt war, endete abrupt vor einem steil abfallenden Abgrund. Shann rümpfte die Nase, als er den Gestank wahrnahm, der von unten heraufstieg, aber auf der anderen Seite bedeutete der Gestank, daß er unbesorgt hier an dieser Stelle in die Tiefe steigen konnte. Die Klackklack nisteten niemals in der Nähe der sehr häufigen Mineralquellen, deren Abgase die Umgebung verpesteten. Eilig zog Shann die transparente Gesichtsmaske der Kapuze vor den Mund, um nicht zu ersticken. Die giftigen Dämpfe umgaben ihn, aber sie konnten ihn nicht aufhalten. Er kletterte in die Tiefe. Im Tal würde die Luft besser sein.
Das Gras in der Umgebung der Quelle wuchs nur spärlich, aber je weiter er sich von ihr entfernte, desto purpurner und grüner wurde es. Shann gelangte in den Schatten einiger Bäume, deren Äste steil in den Himmel wiesen. Sie verliefen fast parallel an dem rostbraunen Stamm. In dem weichen Moospolster waren keine Spuren mehr zu erkennen, aber Shann war davon überzeugt, das Ziel der Wolfis zu kennen – der See unten in der Talmulde. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu den Geschehnissen der letzten Stunde zurück. Die Throgs hatten das terranische Lager nicht völlig zerstört, sondern in erster Linie nur dafür gesorgt, daß die Insassen getötet wurden. Das bewies, daß sie ein Interesse daran hatten, die Einrichtung zu übernehmen. Warum aber? Im Vergleich zu dem, was sie aus eroberten Städten holen konnten, war die Ausrüstung der terranischen Forschungsstation nicht der Mühe wert. Was also wollten die Throgs wirklich? Wie lange würden sie sich auf Warlock aufhalten? Shann wußte selbst nicht, was seit dem plötzlichen Überfall der Throgs mit ihm geschehen war. Seit frühester Kindheit war er immer auf sich selbst angewiesen gewesen. Aber er besaß eine unwahrscheinlich gute Auffassungsgabe und paßte sich schnell jeder neuen Situation an, wenn es sein mußte.
Jetzt, in dieser verzweifelten Lage, kam ihm diese Eigenschaft der Anpassung zugute. Er war allein auf einer fremden und vielleicht feindlichen Welt. Wasser, Nahrung und ein Unterschlupf waren die hauptsächlichen Probleme. Innerhalb der Forschungsabteilung hatte er niemals seinen freien Willen entfalten können, aber jetzt konnte er das. Vor ihm schimmerte es grünlich durch die Baumzweige – der See. Er zwängte sich durch das Gebüsch und stand am Ufer. Die Wasserfläche dehnte sich weit vor ihm aus. Ein pelziger Kopf tauchte auf und verursachte kräuselnde Wellenringe. Shann pfiff leise. Der Kopf wandte sich ihm zu. Große, schwarze Augen sahen ihn an, dann begannen die kleinen Beine zu arbeiten. Der Wolfi gehorchte dem Kommando und schwamm zum Ufer. Taggi kam aus dem Wasser und schüttelte sich, daß die Tropfen nach allen Seiten spritzten. Mit einigen Sätzen rannte er dann zu Shann. Der Terraner verspürte eine seltsame Rührung, als er sich auf die Knie niederließ, um das Tier zu begrüßen. Er fuhr mit beiden Händen in das nasse Nackenfell und preßte sein Gesicht gegen den Kopf des Wolfi. »Wo ist Togi?« fragte er, als könne das Tier ihm antworten. Taggi hob plötzlich den Kopf und streckte die schwarze Nase nach Norden.
Shann hatte eigentlich niemals darüber nachgedacht, wie intelligent ein Wolfi sein konnte – mit menschlichen Begriffen gemessen, natürlich. Eines aber wußte er mit Sicherheit: Fadakar und die anderen hatten diese beiden Tiere bei weitem unterschätzt; in ihnen steckte mehr, als sie jemals zu glauben bereit gewesen wären. Ihre Gehirnzellen waren künstlich mutiert worden. Das sollte man niemals vergessen. Vielleicht bot sich ihm jetzt endlich die lang ersehnte Gelegenheit, seine eigenen Experimente mit ihnen anzustellen. Bisher war ihm dazu niemals die Zeit geblieben. Er legte Taggi die flache Hand auf den Kopf und dachte konzentriert an den Angriff der Throgs. Noch einmal erlebte er im Geist die plötzliche Vernichtung der irdischen Station und den Tod ihrer Bewohner. Und Taggi reagierte. Zuerst knurrte das Tier nur, dann aber wurde das Knurren zu einem langgezogenen Heulen. Es fletschte wütend die Zähne und schien einen unsichtbaren Angreifer bedrohen zu wollen. Gefahr! dachte Shann intensiv. Und Taggi begriff. Er richtete sich langsam auf und schlich geduckt in nördlicher Richtung davon. Shann folgte langsam. Sie fanden Togi in einer kleinen Bucht, wo angetriebenes Schilf die Wassergrenze des letzten Hochwassers deutlich markierte. Sie beendete gerade ihr Frühstück und war dabei, den Rest der großen Was-
serratte zu vergraben, eine instinktive Handlung, die sie wohl von ihren Urahnen ererbt haben mochte. Sie beendete ihre Tätigkeit und kam zu Shann, um ihn fragend anzublicken. Hier gab es Wasser und Wild. Aber das Tal lag zu nahe am Landeplatz der Throgs. Wenn eines ihrer Erkundungsgleitboote die kleine Gruppe der Flüchtlinge sichtete, waren sie verloren. Sie mußten in erster Linie an ihre Sicherheit denken. Shann trug die Verantwortung für sie alle drei. Er seufzte und warf einen letzten Blick auf die verlockende Landschaft. Nein, sie mußten weiter. Vom Westen her mündete ein Bach in den See. Vielleicht würde man ihm folgen können. Shann kannte die Umgebung des ehemaligen Lagers nicht genügend, um sich ohne Anhaltspunkte weit von ihm entfernen zu können. Oben am Himmel stand bereits die goldene Sonne. Ein Schwarm Wasserenten fiel herab und landete auf der grünen Oberfläche des Sees. Sie waren sehr schmackhaft, aber jetzt blieb keine Zeit, eine von ihnen zu schießen. Togi ging voran und folgte dem Bach, Taggi lief hinterher. Vielleicht hatten sie die Gedanken des Terraners erraten, oder sie waren tatsächlich befähigt, die Energieströme des menschlichen Gehirns wahrzunehmen.
Shanns Aufmerksamkeit wurde durch ein Stück Holz in Anspruch genommen, das im Bach dahintrieb. Er fischte es aus dem Wasser und hielt bald seine erste selbstgefertigte Waffe in der Hand: eine kräftige Keule. Nun folgte er ohne weiteren Aufenthalt den beiden Wolfis. Eine Stunde später hatte er seine erste Jagdbeute gemacht. Zwei Kaninchen, an den Hinterläufen mit Gras zusammengebunden, hingen über seiner Schulter. Sie galten nicht als besonders schmackhaft, aber man konnte Sie essen, und ihr Fleisch sättigte. Die drei – ein Mensch und zwei Wolfis – folgten dem Lauf des Baches und gelangten in das oberhalb des Sees liegende Hochtal. Dort, wo der Bach am Fuß der Felsen entsprang, schlugen sie ihr Lager auf. Im Vertrauen darauf, daß der Morgennebel den Rauch verbergen würde, machte Shann ein kleines Feuer. Es war gar nicht so einfach, die Kaninchen auszuweiden und über den Flammen zu braten, aber schließlich gelang es doch. Mit den Zähnen löste er dann das zarte Fleisch von den Knochen und ließ es sich schmecken. Taggi und Togi lagen in der Nähe und sicherten unaufhörlich. Ihre scharfen Augen waren in die Ferne gerichtet, als erwarteten sie eine Gefahr zu sehen. Plötzlich knurrte Taggi warnend. Es war wie ein tiefes Grollen aus der Kehle. Shann streute eine
Handvoll Sand auf das sterbende Feuer. Ihm blieb kaum noch Zeit, sich auf den Boden zu werfen und unter den nächsten Busch zu rollen. Regungslos blieb er liegen. Ein Schatten huschte über die Felsen. Shann wartete mit angehaltenem Atem auf den zischenden Energiestrahl, der sein Leben auslöschen würde. Er kannte das Geräusch nur zu gut. Die Throgs waren auf der Suche nach ihm ...
2 Der Luftzug war so gering, daß er kaum zu spüren war, aber in Shanns Ohren tobte er wie ein Orkan. Aber dann konnte er sein Glück nicht fassen, als das dünne Pfeifen leiser wurde und die Flugscheibe schließlich unten im Tal verschwand. Mit unendlicher Vorsicht hob er den Kopf. War es wirklich möglich, daß der Throg ihn nicht bemerkt hatte? Vielleicht hatten die Käferwesen nur einen vagen Verdacht, daß ein paar Terraner der Vernichtung entkommen sein könnten, und befanden sich auf einem Routineflug. Wie sollten sie auch schließlich wissen, ob alle Terraner im Lager gewesen waren, als sie es angriffen? Als Shann sich bewegte, rührten sich auch Taggi und Togi. Sie waren seinem Beispiel gefolgt und hatten still gehalten. Wahrscheinlich war ihnen die Gefahr ebenso bewußt geworden wie ihm. Auf Warlock hatten die Terraner bisher nur wenige wilde Tiere entdeckt. Keines von ihnen hatte sich als wahrhaft feindlich erwiesen, wenn man es nicht herausforderte. Das bedeutete natürlich noch lange nicht, daß es in jenen unbekannten Regionen, die Shann als Zufluchtsort gewählt hatte, nicht größere und gefährlichere Raubtiere hausten, mit denen sogar
Taggi und Togi nicht fertig wurden. Und dann gab es noch die »Träume«. Sie waren es, die den Forschern viel Kopfzerbrechen bereitet hatten und deren Ursache man bisher noch nicht geklärt hatte. Shann wischte den Sand von seinen Stiefeln und dachte über diese »Träume« nach. Existierten sie wirklich, oder waren sie nichts als Einbildung? Über den ersten Bericht, der sich mit den Träumen von Warlock befaßte, konnte man geteilter Meinung sein. Das Circe-System, in dem Warlock der zweite von insgesamt drei Planeten war, war vor vier Jahren von einem jener einsam fliegenden Scouts entdeckt worden, die im Auftrag der terranischen Raumflotte die Galaxis durchstreiften. Diese Scouts waren eine eigene Sorte Mensch, sind es immer gewesen. Daher regte man sich auch nicht weiter über den Bericht auf, der das System Circe zum Gegenstand hatte. Witch, der sonnennächste Planet, kam für eine menschliche Besiedlung seiner hohen Temperatur wegen nicht in Betracht. Wizard, der äußerste Planet, war hingegen zu kalt, bestand aus nacktem Felsen und giftiger Atmosphäre. Aber Warlock, der mittlere, schien für eine Besiedlung durch Terra so geeignet, wie ein Planet nur sein konnte. Aber dann hatte der Scout in der Abgeschlossenheit seines kleinen Schiffes zu träumen begonnen. In
diesen Träumen stieg von der so friedlich erscheinenden Oberfläche des neu entdeckten Planeten ein so eisiger Schrecken auf, daß der Scout sein Schiff herumgelenkt hatte und geflohen war, um dem Wahnsinn zu entkommen, der ihn zu befallen drohte. Warlock wurde kurze Zeit darauf erneut angeflogen, denn so leicht gab man nicht auf, wenn es sich um eine Welt handelte, auf der ohne kostspielige Vorbereitungen eine Kolonie gegründet werden konnte. Und diesmal hatte niemand etwas von den »Träumen« gespürt. Man zögerte also nicht länger, sondern entsandte die Forschungsabteilung, um die Kolonisation vorzubereiten und das Energienetz zu errichten. Niemand träumte, wenigstens nicht mehr als sonst auch. Es gab allerdings Anzeichen, die darauf hinwiesen, daß es auf Warlock Jahreszeiten gab. Der erste Scout hatte sich dem Planeten im Sommer genähert, die zweite Expedition im Herbst und Winter. Man konnte sich also kein Urteil bilden, ehe nicht ein volles Jahr vergangen war. Aber die Zentrale hatte gedrängt und keinen Aufschub mehr geduldet. Außerdem stand über allem die Furcht vor einem Angriff der Throgs. Man kümmerte sich also nicht weiter um die angeblichen »Träume« und begann mit der Arbeit. Lediglich Ragnar Thorvald hatte protestiert und war
mit einem Nachschubschiff zur Erde zurückgekehrt, um seine Bedenken gegen eine Kolonisation vorzubringen. Ragnar Thorvald! Shann entsann sich jenes Tages, da er auf einer anderen Welt an Bord des Schiffes gestiegen war. Es war der zweitwichtigste Tag in seinem Leben gewesen; der wichtigste war jener, an dem er der Forschungsabteilung zugeteilt worden war. Garth Thorvald war der jüngere der beiden Brüder. Obwohl er nur Kadett und dies sein erster Auftrag war, trug er eine fast unerträgliche Arroganz zur Schau, die man bei Ragnar niemals bemerken konnte. Vom ersten Augenblick ihres Kennenlernens an hatte er es darauf abgesehen, Shann das Leben schwer zu machen. Jetzt, weit genug vom Lager entfernt und wenigstens vor Garth in Sicherheit, ballte Shann die Fäuste. Er schlug sie gegen den sandigen Boden, wie er sich oft gewünscht hatte, sie in das glatte Gesicht Garths hämmern zu können. Shann lachte, aber es war ein häßliches und hartes Lachen. Seit heute früh hatte sich alles geändert. Die Throgs hatten dafür gesorgt. Und was Garth anging, so würde es nun nicht mehr zur Auseinandersetzung kommen. Auch das war von den Throgs erledigt worden.
Shann fand bald einen Aufstieg zwischen den Felsen und kletterte voran. Die beiden Wolfis folgten ihm, als er sie dazu aufforderte. Oben auf dem Plateau lief der Bach weiter, und da Shann kein bestimmtes Ziel im Auge hatte, beschloß er, ihm auch hier zu folgen. Die Sonne stach heiß vom Himmel. Er zog die schwere Jacke aus und hängte sie über die Schultern. Taggi und Togi eilten voran. Es gelang ihnen, zwei Kaninchen zu fangen, die sie hungrig auffraßen. Plötzlich erhaschte Shann einen flüchtigen Schatten auf den Felsen. Noch ehe er sich in volle Deckung werfen konnte, sah er, daß es nur ein großer Vogel war, der oben auf den höchsten Zinnen seinen Horst haben mochte. Dieses Erlebnis mahnte ihn zur Vorsicht. Genauso gut hätte es eins der fast lautlos fliegenden Beobachtungsschiffe der Throgs sein können. Spät am Nachmittag erreichte er das Ende des Plateaus und stand am Fuß des Felsmassivs, auf dessen Gipfel noch Schnee lag, der jetzt in der Sonne rosig schimmerte. Aufmerksam studierte Shann den Weg, den er einzuschlagen gedachte, und war schließlich davon überzeugt, ihn ohne Kletterausrüstung bewältigen zu können. Er war gezwungen, sich nach Norden oder Süden zu wenden, obwohl er dabei den Bach aus den
Augen verlieren würde. Heute nacht wollte er noch hierbleiben, denn er spürte die Müdigkeit. In der Bergflanke entdeckte er eine kleine Ausbuchtung, die als Lager dienen konnte. Feuer konnte er nicht anmachen, das würde zu gefährlich sein. Also kroch er in die Höhle und war froh, daß die Wolfis begriffen, was er vorhatte. Taggi und Togi drängten sich an ihn und gaben genug Wärme ab, daß er nicht fror. Er schlief unruhig in dieser Nacht. Als es dunkel war, ertönten überall in den Felsen und drüben auf dem Plateau die Schreie der Tiere, die auf Beute ausgingen. Mehr als einmal schreckte er hoch, wenn Taggi oder Togi sich rührten. Aber endlich weckten ihn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Zuerst war er erstaunt, nicht die glatten Plastikwände seines Zimmers in der Station zu sehen, aber dann entsann er sich, wo er war. Er war allein. Erschreckt sprang er auf und rannte ins Freie, denn er fürchtete, die beiden Wolfis hätten ihn verlassen. Aber Taggi und Togi waren nicht weit. Sie gruben im Sand, und Shann wußte, daß sie etwas gefunden hatten. Er blieb auch nicht lange im Ungewissen. Ein Stich im Arm erklärte alles. Die beiden Wolfis gruben ein Nest von Erdwespen aus, um an den Honig zu gelangen. Natürlich wehrten sich die Insekten.
Damit fiel Shann das Problem des eigenen Frühstücks ein. Natürlich hatte er wie alle anderen Injektionen erhalten, die ihn vor fremden Krankheiten schützen sollten, und er hatte nur solches Wild verzehrt, das vom Labor vorher als genießbar bezeichnet worden war. Aber nun fehlte ihm das Labor. Er mußte selbst herausfinden, was genießbar war und was nicht. Er hatte ja auch von dem Wasser des Baches getrunken. Vielleicht gab es sogar Fische in dem Gewässer. Aber im Augenblick vergaß er den Fisch, denn ein gepanzertes Lebewesen kroch soeben über den Strand, schwerfällig und an eine Schildkröte erinnernd. Mit seiner Keule konnte Shann es leicht erschlagen. Taggi und Togi hatten inzwischen das Wespennest aufgegeben. Shann gab ihnen die Eingeweide des Tieres, die sie nach kurzer Prüfung verschlangen. Das genügte ihm. Schnell war ein kleines Feuer angemacht. Er briet das feste Fleisch des kleinen Tieres und verzehrte es dann. Es schmeckte fade, aber wenigstens vertrieb es den Hunger. Dann machten sie sich in südlicher Richtung auf den Weg. Hoffentlich gab es dort ebenfalls genügend Wasser. Wieder wurde es Nachmittag. In der Nähe einer Quelle schlugen die Wolfis eine Art Ziege oder Reh, das friedlich auf einer Wiese äste. Mit dem Messer lö-
ste sich Shann einige Fleischteile aus dem Rücken und überließ den Rest Taggi und Togi, die sich hastig den Bauch vollschlugen und den Rest vergruben. Als Shann sich ein wenig später am Bach niederbeugte, um sich die Hände zu waschen, hörte er den Lärm der Klackklack. Seit er unterwegs war, hatte er diese Vögel weder gesehen noch gehört. Dem Krach nach zu urteilen mußte sich jedoch hier in der Nähe eine ganze Kolonie von ihnen niedergelassen haben. Auf Händen und Füßen kroch er zu den nächsten Büschen und zwischen die Zweige. Er mußte wissen, warum die scheuen Vögel einen solchen Lärm verursachten. Wenn sie schon eine Suchexpedition der Throgs ankündigten, dann wollte er es zumindest früh genug erfahren. Er erreichte die letzten Büsche. Von hier an fiel das Gelände sanft ab und ging in eine Mulde über, die wiederum in eine Grassteppe auslief. Die Klackklack streiften in geringer Höhe über die Mulde dahin und stießen dabei ihr krächzendes Geschrei aus. Vermischt mit dem harten Schlagen ihrer Lederschwingen schien es ganz so, als befänden sie sich alle in größter Gefahr. Und dann sah Shann es. Unten in der Mulde stand eins der kleinen irdischen Erkundungsschiffe. Der Landeplatz war vom Hitzestrahl der Treibdüsen verbrannt, und eine leich-
te Rauchwolke wehte im sanften Wind davon. Aber noch während Shann sich aus seiner Deckung erheben wollte, um mit winkenden Armen zu dem unverhofften Besucher zu eilen, kauerte er sich wieder zusammen. Eine der Teleskopstützen schien plötzlich zu schmelzen. Das kleine Schiff neigte sich zur Seite und stand schräg. In dieser Lage war ein Start völlig unmöglich. Im Westen aber kam über die Hügel der schwarze Schatten eines Throg-Flugbootes. Das Boot näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Shann wartete auf die Abwehrreaktion des Scouts. Aber alles blieb ruhig. Der Throg umkreiste das Scout-Schiff und schien eine Falle zu wittern. Zweimal verschwand der Flieger hinter den Hügeln, und als er zum drittenmal zurückkehrte, war ein zweiter Flieger bei ihm. Shann fühlte Enttäuschung emporsteigen. Nun hatte der terranische Scout alle Vorteile aus der Hand gegeben, denn gegen zwei Gegner gleichzeitig konnte er sich nicht wirkungsvoll wehren. Sie würden ihn mit ihren Energiestrahlen in Stücke schneiden. Am liebsten wäre Shann nun in sein Versteck gekrochen, um die Tragödie nicht mitzuerleben, aber irgend etwas hielt ihn zurück. Er blieb. Die beiden Gleiter der Throgs umkreisten den Scout, während die Klackklack sich kreischend in Si-
cherheit brachten. Der erste grelle Blitzstrahl purer Energie zuckte auf und durchdrang die Hülle des Scout-Schiffes. Wenn noch ein Pilot in dem kleinen Schiff weilte, so war er nun mit einiger Sicherheit tot. Aber die Throgs hatten beschlossen, ganz sicherzugehen. Der zweite Gleiter kam tiefer herab und blieb über dem Scout-Schiff stehen. Sein Energiestrahl fraß sich in den Bug des terranischen Schiffes. Aber was dann geschah, kam so schnell und überraschend, daß der siegesbewußte Throg völlig überrumpelt wurde. Shann schrie auf und verbarg das Gesicht mit den Armen, den kein menschliches Auge konnte das grelle Rotlicht aushalten, das jedes andere Licht erlöschen ließ. Eine Explosion folgte, dann eine betäubende Schockwelle. Shann kauerte sich zusammen, taub und blind. Dann aber rieb er sich die Augen und versuchte sie zu öffnen. Er wollte wissen, was geschehen war. Wie durch einen wässerigen Schleier hindurch entdeckte er den Throg-Gleiter, aber er gehorchte nicht mehr dem Steuer des Piloten, sondern wirbelte wie ein Blatt im Herbstwind über die Hügel dahin. Mehrmals streiften seine Schwingen die Felsen. Metallfetzen fielen herab. Und dann, einen halben Kilometer von Shann entfernt, endete der Flug mit einem donnernden Aufschlag.
Der Pilot des terranischen Scouts mußte einen verzweifelten Trick angewandt haben, um wenigstens einen seiner Gegner mit in die Hölle zu nehmen. Er hatte sein kleines Schiff in eine tödliche Falle verwandelt. Shann konnte nun wieder deutlicher sehen. Der andere Gleiter flog mit Höchstgeschwindigkeit nach Westen. Vielleicht wollte er dem Feuer des Scouts entgehen, aber es sah ganz so aus, als habe auch er einen Treffer erhalten. Der Kurs war alles andere als gerade. Beißender Rauch kam zu Shann heraufgekrochen und drang in seine Lungen. Das Atmen fiel ihm schwer, und er mußte husten. Bestimmt hatte der Pilot des Scout-Schiffes den Angriff nicht überlebt, und es war auch fraglich, ob der Throg den Absturz überstanden hatte. Bald jedoch würden die Käfer kommen, um nach dem Rechten zu sehen. Auf keinen Fall würden sie das versäumen. Shann dachte über den Scout nach. Woher war er gekommen? Hatte er vielleicht bei der Station landen wollen und war durch die Throgs überrascht worden? Hatte er sich hierher retten können, um dann doch sterben zu müssen? Vielleicht war er aber auch schon im Raum angegriffen und zu einer Notlandung gezwungen worden. Immerhin hatte sein Tod die Throgs ein Schiff gekostet – wahrhaftig ein geringer
Preis für den Verlust eines ganzen Planeten und den Tod so vieler Terraner. Die Vernichtung des Gleiters und die überstürzte Flucht des anderen bewirkten, daß Shann die im Unterbewußtsein vertretene Auffassung, die Throgs seien unbesiegbar, aufgab. Sie waren also verwundbar und konnten ausgeschaltet werden, wenn man es klug genug anpackte. Nun, ihm standen nicht die Mittel eines Scouts zur Verfügung, aber er hatte Taggi und Togi – und sein eigenes Gehirn. Wenn er schon den Rest seines Lebens auf Warlock verbringen mußte, dann sollten die Käfer wenigstens dafür büßen. Er leckte sich entschlossen über die trockenen Lippen. Natürlich durfte er nur planmäßig und auf keinen Fall unüberlegt vorgehen. Zuerst einmal mußte er wissen, warum ein Throg ein Throg war und wie und warum sie lebten. Die Geschichten, die er bisher über sie gehört hatte, halfen ihm auch nicht weiter. Er mußte Gewißheit über sie erhalten. Es mußte einfach eine Möglichkeit geben, mit den Käfern fertigzuwerden. Hatte er nicht Zeit genug, einige der Antworten zu finden? Der abgestürzte Gleiter am Fuß der Felsen – vielleicht sollte er dort mit seinen Nachforschungen beginnen, ehe ein Bergungsschiff der Throgs eintraf. Er mußte sich einen dieser Käfer aus der Nähe betrachten.
Kurz entschlossen pfiff er den beiden Wolfis und machte sich auf den Weg zur Absturzstelle.
3 Shann beschrieb einen großen Bogen um den rauchenden Krater, der an Stelle des terranischen ScoutSchiffes entstanden war. Es war ausgeschlossen, daß jemand die Explosion überlebt hatte. Aber es schien genauso unmöglich, daß einer der Käfer noch lebte – der Gedanke kam ihm sofort, als er sich vorsichtig der abgestürzten Flugscheibe der Throgs näherte. Sie war auseinandergeborsten. Ein Teil des Wracks war durch den Aufprall wieder in die Höhe geschleudert und gegen die Felsen geworfen worden. Trotz ihres sagenhaften Panzers mußte der Aufprall alle an Bord befindlichen Throgs getötet haben. Shann rümpfte die Nase. In der Morgenluft lag ein widerlicher Gestank. Die Ausstiegluke des zerstörten Schiffes stand offen; wahrscheinlich infolge des Aufpralls. Noch während er weiterschritt, zischte plötzlich ein greller Energiefinger dicht über seinen Kopf hinweg und traf die Hülle des Wracks. Die Stelle färbte sich sofort rot und begann abzutropfen. Er warf sich zu Boden und zog noch während des Fallens seinen Lähmstrahler. Natürlich wußte er, daß sein Strahler nichts gegen die Energiewaffe des Feindes ausrichten konnte, aber was blieb ihm übrig, als
es zumindest zu versuchen. Ohne sich zu rühren, preßte er sich gegen den Boden und wartete darauf, daß ein zweiter Schuß ihm das Fleisch von den Schultern brennen würde. Also gib es doch einen überlebenden Throg! Aber der zweite Schuß kam nicht. Shann begann, neue Hoffnung zu schöpfen. Der Throg hatte nur einmal geschossen? War der Käfer vielleicht so schwer verwundet, daß er sich nicht mehr von der Vernichtung seines Gegners überzeugen konnte? Die Throgs machten selten Gefangene, und wenn sie welche machten ... Die Lippen des Terraners preßten sich fest zusammen. Er zwängte die linke Hand unter den Bauch und umklammerte den Griff seines Messers. Niemals würde er lebendig in die Hände der Throgs fallen, lieber würde er von eigener Hand sterben. War es nur Einbildung, oder war der lästige Geruch in den letzten Sekunden aufdringlicher geworden? Näherte sich der Throg ihm von hinten? Shann strengte seine Ohren an und lauschte auf ein Geräusch. Aber er hörte nichts. Die Klackklack, die die Explosion überlebt hatten, kreisten mit ohrenbetäubendem Kreischen über der Absturzstelle und vollführen einen Höllenlärm. Shann entschloß sich zum Handeln. Er pfiff den Wolfis. Die beiden Tiere waren ihm
bisher nur widerwillig gefolgt und hatten einen noch größeren Bogen als er um den vernichteten Scout gemacht. Dem Schiff der Throgs aber wollten sie sich unter keinen Umständen nähern. Vielleicht schreckte sie der Gestank ab. Aber wenn sie ihm noch gehorchten, dann mußten sie jetzt erscheinen. Jetzt entstand hinter ihm ein Geräusch. Der widerliche Geruch wurde noch intensiver. Der Throg mußte ganz nahe sein. Shann pfiff noch einmal und dachte dabei voller Haß an den Gegner. Wenn die Wolfis wirklich die Gefühle der Menschen empfangen konnten, dann war jetzt die beste Gelegenheit dazu, es zu beweisen. Shann stemmte sich mit einem schnellen Ruck vom Boden ab, warf sich auf den Rücken und hob den Lähmstrahler. Und er sah den Throg. Der groteske, menschengroße Käfer schwankte auf seinen dünnen Beinen, als er näher kam. In den »Händen« hielt er einen Strahler, und er versuchte, die Waffe auf Shann zu richten. Im gleichen Augenblick erschien Taggi hinter ihm und sprang ihn an. Der verwundete Throg schwankte und ließ sich auf die Beine nieder. Die scharfen Zähne des Wolfi suchten in dem harten Panzer eine weiche Stelle. Dann aber ließ Taggi plötzlich von seinem Gegner ab und zog sich jaulend zurück.
Das war Shanns Chance. Er richtete den Lähmstrahler auf das »Gesicht« des Throgs und drückte den Feuerknopf. Der Schockstrahl hätte einen Elefanten glatt umgeworfen, aber er konnte einen Throg nur in seinen Bewegungen verlangsamen. Shann erfaßte das früh genug, sprang auf und fand hinter dem Wrack eine provisorische Deckung. Er warf sich auf das noch heiße Metall und sah den Energiestrahl aus der Waffe des Käfers, der um einige Sekunden zu spät abgefeuert wurde. Nun saß Shann in der Falle. Aber der Throg mußte sich zeigen, wenn er den Terraner erledigen wollte. Seine Chancen waren geringer geworden. Shann wußte, daß er sich auf die Wolfis nicht verlassen durfte. Der Geruch der Käfer trieb sie zurück. Immerhin hatte Taggis erster und einziger Angriff die Lage etwas verbessert. Der Throg ließ nun alle Vorsicht außer acht und kam um das Wrack gestolpert. Shann besaß nicht die geringste Kenntnis von dem Denkprozeß eines Throg und konnte somit auch nicht die Absichten des Käfers erraten. Jedenfalls bedeutete die gefährliche Waffe in den Klauen des Außerirdischen nichts Gutes. Shann setzte noch einmal den Lähmstrahler in der Hoffnung ein, den Gegner wenigstens für einige Sekunden außer Gefecht zu setzen. Aber er wußte, daß er nun verloren war, wenn
kein Wunder geschah. Sein Rückzug war durch die noch glühenden Trümmer des Schiffes versperrt. Von den Felsen herab kam ein kopfgroßer Stein geflogen und traf den ungeschützten Schädel des Throg mit tödlicher Sicherheit. Der schwere Körper schwankte nur eine Sekunde, dann brach der Käfer mit einem Schlag zusammen. Shann stürzte vor und entriß den zuckenden Klauen den Strahler. Dann sprang er mit klopfendem Herzen zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen den steilen Felsen. Der Stein konnte sich nicht oben am Berg gelöst und den Käfer durch Zufall getroffen haben. Und kein Throg würde einen anderen Käfer töten wollen. Oder doch? Angenommen, es hätte der Befehl bestanden, einen Terraner gefangenzunehmen, und der Throg hätte gegen diesen Befehl gehandelt? Aber dann wäre er nicht mit einem Stein erschlagen worden. Shann duckte sich unter ein hervorragendes Stück Metall, das ihn gegen die Sicht von oben schützte, und wartete auf die nächste Bewegung seines unbekannten Retters. Die Klackklack kamen tiefer. Einer von ihnen setzte sich ungeniert auf den harten Panzer des toten Throg und pickte darauf herum. Den Strahler in der Hand, wartete Shann geduldig. Dann hörte er oben in den Felsen ein schabendes
Geräusch, als streife ein Stiefel über Gestein. Es konnte aber genauso gut ein Käferpanzer sein. Doch dann mußte der andere den Halt verloren haben. Geröll und kleinere Steine rollten den Abhang herab, gefolgt von einer Gestalt, die sich auf alle viere niederließ, um einen Sturz zu vermeiden. Shann hatte sie genau im Visier seiner neuen Waffe, aber die Uniform war unverkennbar. Wie Ragnar Thorvald in diesem Augenblick nach Warlock gekommen war, blieb Shann vorerst ein Rätsel, Tatsache aber war, daß der Mann dort vorn Ragnar Thorvald war. Shann rannte aus seinem Versteck und zu dem Mann. In diesem Augenblick kam ihm so recht zu Bewußtsein, wie einsam und allein er bis jetzt gewesen war. Nun gab es auf Warlock nicht nur einen, sondern zwei Terraner, und ihm war es völlig gleich, wie das hatte geschehen können. Aber Thorvald starrte ihn ohne ein Zeichen des Erkennens an. »Wer bist du?« fragte er kalt. In seiner Stimme glaubte Shann sogar so etwas wie Mißtrauen zu hören. Mit einem Schlag war die Freude verschwunden, die er beim Anblick des anderen Menschen empfunden hatte. Drei Worte nur hatten ihn zu dem degradiert, was er wirklich war: Arbeitspersonal der Forschungsabteilung.
»Lantee. Ich bin vom Lager ...« Thorvalds nächste Frage verriet seine Hoffnungen: »Wer ist noch alles davongekommen? Wo sind die anderen?« Er sah hinüber zu dem bewachsenen Abhang, als erwarte er, dort die übrigen Leute der Station auftauchen zu sehen. »Nur ich und die Wolfis leben noch«, sagte Shann tonlos. Er schob den erbeuteten Strahler in den Gürtel und wandte sich ein wenig ab. »Du – und die Wolfis? Aber – wie denn?« »Die Throgs griffen gestern früh an. Sie erwischten alle, die im Camp waren. Die beiden Wolfis waren aus ihrem Käfig entwischt, und ich wollte sie wieder einfangen ...« Er erzählte die ganze Geschichte. »Bist du ganz sicher, daß es sonst keine Überlebenden gab?« Thorvalds Stimme war kalt wie Stahl. Shann hatte fast den Eindruck, daß er dafür verantwortlich gemacht wurde, weil alle anderen tot waren. »Ich war oben in den Felsen und konnte von dort aus alles beobachten. Sie griffen mit Energiestrahlern an.« Shann fühlte allmählich, wie die Wut in ihm emporstieg. War es vielleicht seine Schuld, wenn er allein am Leben geblieben war? Oder hielt es Thorvald für richtig, wenn er die Käfer mit seinem Lähmstrah-
ler angegriffen und sich ebenfalls geopfert hätte? »Sie landeten erst, als alles vorüber war.« »Als unsere Funksignale nicht beantwortet wurden, wußten wir, daß etwas nicht stimmte«, berichtete Thorvald geistesabwesend. »Ein Throg-Schiff griff uns an, als wir landen wollten. Mein Pilot wurde dabei getötet. Als wir landeten, hatte ich gerade noch Zeit, unser Schiff in eine Todesfalle zu verwandeln, dann flüchtete ich in die Felsen.« »Die Explosion erwischte einen von ihnen«, nickte Shann. »Ich sah es. Aber sie werden bald zurückkehren, um den Fall zu untersuchen.« Shann warf einen Blick auf den toten Throg. »Ich habe Ihnen zu danken, Sir.« Seine Stimme war genauso kalt und unpersönlich wie die des Offiziers. »Ich werde mich nach Süden wenden.« »Süden?« wiederholte Thorvald. »Nun, die Richtung ist genauso gut wie jede andere.« Shann pfiff den Wolfis, die sich nur zögernd näherten, schließlich aber doch gehorchten. Thorvald stieg noch einmal in die Felsen hinauf und kam mit einem Proviantsack zurück. Dann griff er nach Shanns Beutestück, dem Strahler des Throg. »Gib mir das Ding.« »Warum?« Shanns Hand fuhr ebenfalls zur Waffe, die er als sein rechtmäßiges Eigentum betrachtete.
Oder dachte der Offizier vielleicht, sie gehöre ihm, weil er ja schließlich den Throg getötet hatte? »Wir nehmen sie nicht mit«, sagte Thorvald und entriß Shann die fremde Waffe. Zu Shanns großem Erstaunen ging der Offizier dann zu dem toten Throg, bückte sich und drückte die Waffe in die erschlafften Klauen des Käfers. Dann richtete er sich auf und betrachtete sein Werk mit der Miene eines Kommissars, der einen Mordfall untersucht. »Aber – wir brauchen den Strahler doch!« protestierte Shann, der den Sinn der Aktion nicht einsehen konnte. »Hier an dieser Stelle ist er uns viel nützlicher.« Thorvalds Stimme wurde härter und entschlossener, als halte er weitere Erklärungen für unnötig, aber dann gab er sie doch. »Welchen Sinn hätte es, unsere Anwesenheit zu propagieren? Wenn die Throgs den Strahler vermissen, werden sie zu denken beginnen. Sie werden eine Suchaktion starten. Ich möchte aber eine Atempause haben, ehe sie mich zu jagen beginnen.« Shann sah ein, daß ein Fünkchen Wahrheit in diesen Ausführungen verborgen war, aber er bedauerte doch den Verlust einer Waffe, die den ihren so weit überlegen war. Nun war es natürlich auch unmöglich, das abgestürzte Patrouillenschiff der Throgs auszuplündern. Schweigend wandte er sich ab, pfiff
den Wolfis und begann seine Wanderung nach Süden. Er überzeugte sich auch nicht davon, ob Thorvald ihm folgte oder nicht. Weit genug von der Absturzstelle entfernt, liefen Taggi und Togi wieder voran, um zu sichern. Ihre Neugier machte sie zu hervorragenden Spürhunden. Die Nachfolgenden würden von ihnen auf jede Gefahr aufmerksam gemacht, die in dem unbekannten Gelände lauern mochte. Thorvald ging ohne ein weiteres Wort mit. Das Tal wurde breiter und der Baumbestand ein wenig dichter, so daß er genügend Deckung bot. Die Stunden vergingen, und Shann begann, sich nach einem geeigneten Nachtlager umzusehen. »Hier wächst Wasserholz«, brach Thorvald endlich das Schweigen. Shann wußte nur zu gut, daß der andere mehr Erfahrungen als er besaß. Schließlich war es nicht das erste Mal, daß Thorvald auf einem fremden Planeten weilte, außerdem kannte er alle Berichte der Forschungsabteilung und die daraus zu folgernden Ergebnisse. Ohne zu antworten, bückte er sich also und begann, unter den Wurzeln des Baumes zu graben, um an das Wasser zu gelangen. Die Mühe war nicht notwendig, denn die Wolfis fanden einen kleinen See ganz in der Nähe. Die beiden Männer holten sie ein. Wortlos machte sich
Thorvald an die Arbeit, Brennholz zu besorgen, aber zu Shanns Erstaunen benutzte er dazu nicht seine Energieaxt, sondern nahm einen scharfen Stein, um die Rinde von einem Stamm zu schälen. Shann schüttelte den Kopf, zog sein Messer und wollte ihm helfen. Aber der Offizier fuhr ihn an: »Mach's nur wie ich – nimm einen Stein.« Shann sah nicht ein, warum er sich die Arbeit unnötig erschweren sollte. Er zögerte. Wenn Thorvald einen Stein nahm, anstatt die Axt zu benutzen, so war das seine Angelegenheit. Erneut setzte er das Messer an. »Nun hör mal gut zu«, sagte Thorvald. In seiner Stimme war wieder die eisige Schärfe. »Früher oder später werden die Throgs uns suchen und unsere Spuren finden. Wenn ihnen das gelungen ist, dann sollen sie nicht auch feststellen können, daß es Terraner sind, die sie suchen.« »Wer sollte es denn sonst sein? Auf Warlock gibt es keine Eingeborenen.« »Wissen die Throgs das so genau?« Shann begriff mit einem Schlag, worauf der Offizier hinauswollte. Er verstand seine Maßnahmen und auch ihren Sinn. Er stellte also keine Gegenfrage, sondern sagte einfach: »Gut, dann gibt es von nun an Eingeborene auf Warlock!« Thorvald betrachtete ihn mit einem Ausdruck von
Interesse, so als sei ihm erst jetzt zu Bewußtsein gekommen, daß Shann nicht nur ein einfacher Arbeiter der Forschungsabteilung sei, sondern ein gleichwertiger Mensch. »Ja, künftig wird es auf dieser Welt Eingeborene geben«, sagte er und nickte er bestätigend. Shann schob das Messer in den Gürtel zurück und suchte sich einen passenden Stein. Aber er merkte sehr bald, daß Thorvald in der Handhabung des primitiven Werkzeuges geschickter war als er. Der Offizier überließ jedoch das Brennholzmachen bald dem jüngeren Mann und widmete sich einer neuen Aufgabe. Mit einem sehr flachen Stein schälte er große Rindenflächen von den Baumstämmen, steckte starke Äste in den Boden und bedeckte das so entstandene Gerippe mit der Rinde. Es entstand ein primitives Zelt mit einem schmalen Eingang. Die Spitze der Pfähle band er mit dürrem Gras zusammen. Gegen Sicht von oben dienten die Baumwipfel. Shann schüttelte den Kopf und fragte, was das zu bedeuten habe. »Primitive Volksstämme auf der Erde bauten sich so ihre Hütten«, belehrte ihn der Offizier. »Ich wette, die Käfer haben solche Behausungen noch nie in ihrem Leben gesehen.« »Wollen wir denn hier bleiben? Für nur eine Nacht lohnt sich die Arbeit doch wohl kaum.«
Thorvald gab der Hütte einen Stoß, um ihre Festigkeit zu prüfen. Die Rinde zitterte, aber die Pfähle hielten. »Kulissen! Wir bleiben natürlich nicht hier. Aber selbst der dümmste Throg wird nicht annehmen, daß harmlose Eingeborene das Land durchqueren, ohne Spuren zu hinterlassen.« Shann setzte sich nieder und seufzte. Vor seinem geistigen Auge sah er sich mit Thorvald nach Süden ziehen, jeden Abend eine neue Hütte errichtend, die vielleicht niemals von den Throgs gefunden wurde. Aber schon fiel dem Offizier ein neues Problem ein. »Wir benötigen Waffen.« »Haben wir nicht unsere Lähmstrahler, Axt und Messer?« sagte Shann. Am liebsten hätte er noch hinzugefügt: Einen Strahler könnten wir auch noch haben! Aber er schwieg vorsichtshalber. »Ich meine Eingeborenenwaffen!« belehrte ihn Thorvald. Er ging zum Ufer des Sees und suchte zwischen den Steinen. Shann beschloß, inzwischen Feuer zu machen. Er grub mit den Händen eine kleine Kuhle in den Boden und sammelte trockenes Holz. Er verspürte Hunger und warf mehr als einen begehrlichen Blick auf den Proviantbeutel des Offiziers, der soeben mit einem Armvoll Steine zurückkehrte. »Wer hat dir gesagt, daß du so Feuer machen sollst?«
»Das habe ich aus den Vorschriften gelernt«, gab Shann patzig zurück. »Ja, die Vorschriften«, stöhnte Thorvald und warf seine Steine zu Boden. Dann zog er den Beutel zu sich heran und setzte sich. »Heute ist es zu spät zum Jagen. Aber wir müssen mit den Konzentraten vorsichtig umgehen, bis wir Ersatz bekommen.« »Ersatz? Woher?« »Von den Throgs.« »Aber – die Käfer haben doch eine andere Ernährungsweise. Wir können mit ihren Lebensmitteln nichts anfangen.« »Um so mehr Grund für sie, die Lebensmittelvorräte im Lager nicht anzurühren.« »Im Lager?« Zum erstenmal, seit sie sich kannten, lächelte Thorvald. Aber es war kein warmes oder freundliches Lächeln. »Ein Angriff der Eingeborenen auf das Lager – kann es etwas Natürlicheres geben? Wir werden nicht zu lange damit warten dürfen.«
4 Fünf Tage später näherten sie sich dem zerstörten Stützpunkt von einer anderen Seite her. Oberflächlich betrachtet machte das Lager in keiner Hinsicht einen zerstörten Eindruck. Es schien sich nicht viel geändert zu haben. Shann fragte sich, ob die Throgs nun in den Kuppelbauten der Station hausten. Sogar in dem dämmerigen Zwielicht war die ehemalige Funkstation deutlich auszumachen. Die Antenne ragte in den halbdunklen Himmel. Dicht daneben lag das wuchtige Lagerhaus. »Zwei ihrer Flugscheiben stehen auf dem Landefeld«, murmelte Thorvald, der plötzlich neben Shann auftauchte. Die beiden Wolfis bewegten sich unruhig. Sie drängten sich gegen Shann, als suchten sie Schutz. Thorvald glitt in die Dunkelheit und war bald untergetaucht. Shann blieb zurück und wartete auf das Zeichen des anderen, als ein grauenerregender Schrei durch das Tal hallte. Er war so schrecklich und so voller Qual, daß Shann fast das Herz stehenblieb. Kein Mensch hätte einen solchen Schrei ausstoßen können. Konnte es ein Throg? Taggi und Togi begannen zu winseln und ließen sich nicht beruhigen. Aber sie zeigten den Willen, an-
zugreifen. Das war ungewöhnlich. Shann konnte sie nicht halten. Mit einem Aufheulen rannten die beiden Wolfis in die Finsternis hinein, um die Ursache des fürchterlichen Schreis zu ergründen. Rechts glühte ein kleines Licht auf – wie das Ende einer brennenden Zigarette. Thorvald war bereit. Shann fühlte nach den getränkten Moosballen in dem Blättersack. Der ätzende Gestank, der von ihnen ausging, überlagerte selbst den Geruch der Throgs, der von der Station zu ihm herüberwehte. Er nahm einen der Ballen, bestrich ihn kurz mit einer glühenden Lunte und legte ihn in die selbstgebastelte Schleuder. Noch in der gleichen Sekunde flog der so präparierte Ball auf das Lager zu. Erst als das Moos wieder zu fallen begann, schlugen die ersten Flammen aus ihm hervor. Für einen unbefangenen Zuschauer sah es ganz so aus, als materialisiere der Feuerball einfach in der Luft. So gut hatte selbst Shann sich den Effekt nicht vorgestellt. Der zweite Moosball war schon auf der Reise, als der erste dicht neben einem Kuppelbau am Boden aufschlug. Der Aufprall riß das Moos auseinander – und damit auch das Feuer. Mitten im Lager brannte nun ein sich schnell ausbreitender Fleck. Der zweite Ball schlug dicht dahinter auf. Das bisher unbemerkte Schauspiel erhielt Zu-
schauer. Die Körper hin und her eilender Throgs warfen gespenstige Schatten gegen die Hauswände. Sie versuchten, das Feuer zu löschen, aber wieder entstanden neue, und wie es scheinen mußte, entstanden sie lautlos aus dem Nichts. Shann wußte aus Erfahrung, daß die chemische Flüssigkeit, die aus den stinkenden Mineralquellen drang, nicht so leicht löschbar war. Er hatte es vorher oft genug probiert. Aber nun handelte auch Thorvald. Einer der Throgs strauchelte plötzlich und stürzte rücklings in ein Feuer. Seine Beine waren hoffnungslos verstrickt, und er bemühte sich vergeblich, sie von der merkwürdigen Fessel zu befreien, die sich auf einmal um sie gelegt hatte. Die Fessel war Thorvalds Erfindung. Drei Steine waren an geflochtenen Grasstricken befestigt worden. Ein schwerer Mittelpunkt hielt sie beim Wurf im Gleichgewicht. Mit dieser Stein-Strickschleuder hatte Thorvald noch am Vortag eins der scheuen Rehe erlegt, die oben im Gebirge lebten. Und nun hatte die gleiche Waffe einen Throg zu Fall gebracht und zu Boden geschleudert. Shann hatte inzwischen seinen letzten Feuerball verschossen. Er begann zu laufen und bezog eine neue Position östlich vom Lager. Hier machte er sich bereit, eine andere Waffe zu erproben – einen schwe-
ren Holzspeer mit feuergehärteter Spitze. Es war sehr gut möglich, daß sich mit diesem Speer kein Throg umbringen ließ, aber allein die Genugtuung, einen Käfer zu Fall zu bringen, würde die Mühe schon lohnen. Die meisten Wurfgeschosse prallten von dem harten Panzer der Throgs ab. Aber dann hatte Shann Glück. Die Spitze seines Speers mußte eine weiche Stelle gefunden haben, denn der Käfer ging zu Boden und strampelte hilflos mit den Beinen. Das bewies immerhin, daß er eine gefährliche Wunde erhalten hatte. Doch das war noch längst nicht alles. Aus dem Blätterbeutel nahm Shann wieder eine andere Waffe. Tonkugeln mit dem stark riechenden Wasser der Mineralquellen. Beim Aufprall zerbrachen die Kugeln und ließen das Wasser ausfließen. Niemand wußte natürlich, ob der Gestank auf die Lungen der Throgs die gleiche Wirkung hatte wie auf den menschlichen Organismus. Die beiden Männer hofften jedenfalls, daß dieses Bombardement die Verwirrung der Käfer noch erhöhen würde. Die letzten Speere warf Shann mit mehr Sorgfalt. Es war unmöglich gewesen, einen großen Vorrat davon mitzunehmen, obwohl sie in den vergangenen Tagen genügend davon hergestellt hatten. Im Grunde genommen war es natürlich völliger Wahnsinn, eine
so gut bewaffnete Truppe wie die Throgs mit Speeren anzugreifen, aber glücklicherweise war das Moment der Überraschung auf ihrer Seite. Die Käfer hatten auch noch keine Strahlgeschütze in Stellung gebracht. Wozu auch? Sie mußten Warlock für unbewohnt halten. Aber es gab die Handstrahler. Erste Energiefinger schnitten durch die Dunkelheit. In ihrem Schein konnte Shann erkennen, daß die Throgs in Deckung gegangen waren. Sie krochen auf dem Boden zwischen den flackernden Feuern umher und versuchten, ihren Gegner auszumachen. Zwischen dem nächsten Feuer und Shann entstand ein Schatten. Der Terraner hob seinen Speer. Irgendwo in der Nähe jaulte ein Wolfi voller Wut. Die Tiere mußten ihre Abneigung überwunden und sich entschlossen haben, in den Kampf einzugreifen. Shann erkannte deutlich den Throg, der da auf ihn zukam. Aber er war noch zu weit entfernt, um einen sicheren Wurf wagen zu können. Ob es Thorvald in der allgemeinen Verwirrung gelungen war, seinen geplanten Überfall auf das Verpflegungsmagazin durchzuführen? In solchen Augenblicken war es unmöglich, ein genaues Zeitgefühl zu behalten. Shann erkannte das früh genug und begann zu zählen. So hatten sie es auch vereinbart. Bei hundert sollte er mit dem Rückzug beginnen. Bei
zweihundert sollte er zu laufen beginnen, damit er rechtzeitig den Fluß erreichte, der knapp einen Kilometer entfernt am Lager vorbeifloß. Der Fluß würde die Flüchtlinge zur nahen Küste bringen, wo unzählige Fjorde und Buchten genügend Verstecke garantierten. Es kam selten vor, daß die Throgs fremdes Terrain zu Fuß sondierten. Mit Hilfe ihrer Flugscheiben aber würden sie erst recht keinen Erfolg haben, wenn das Gelände entsprechend wild und zerklüftet war. Shann hatte inzwischen bis hundert gezählt. Zweimal zischte ein Energiestrahl dicht über ihn hinweg, aber es war klar zu erkennen, daß der Schütze ohne Ziel feuerte. Er besaß nun nur noch einen Speer, den er sich für eine letzte gute Gelegenheit aufhob. Der Schatten, den er zuvor bemerkt hatte, war näher gekommen. Shann beschloß, den Käfer anzugreifen, wenn er sich noch näher an ihn heranwagte. Er machte sich keine Illusionen wegen seiner Treffsicherheit. Er konnte nur hoffen, daß der andere wenigstens einen heftigen Schmerz verspürte oder gar eine Wunde davontrug. Wenn ein Wunder geschah, brachte er den Käfer vielleicht sogar zum Sturz. Das Kriegsglück wandte sich zu Shanns Gunsten. Gerade im rechten Augenblick hob der Throg den Kopf, so daß der Schein eines noch brennenden Feu-
ers auf seine etwas heller gefärbte Kehle fiel. Sie gehörte zu den empfindlichen Teilen seines Körpers. Der Speer drang tief in den Hals ein. Die Throgs waren so gut wie stumm; bisher wenigstens war noch niemals berichtet worden, daß sie sich mit Hilfe einer Sprache verständigten. Der Getroffene gab jedenfalls keinen Ton von sich, aber er stolperte vorwärts und versuchte verzweifelt, den hölzernen Schaft des Speeres aus seinem Hals zu ziehen. Dabei hielt er den Kopf unnatürlich hochgereckt. Er achtete auch nicht mehr auf seine Gefährten im Lager, sondern begann zu laufen. Er hielt auf Shann zu, als könne er ihn in der Finsternis sehen und habe sich vorgenommen, fürchterliche Rache an ihm zu nehmen. Shann zog es vor, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen. Er drehte sich um und rannte in Richtung des fernen Flusses davon. Der verwundete Throg folgte ihm und versuchte noch immer, sich von dem Speer zu befreien. Shann griff nach seinem Messer und achtete nicht auf die Beschaffenheit des Bodens. Plötzlich gerieten seine Füße in ein Gewirr von Schlingpflanzen, und er verlor den Halt. Sich während des Falls seitwärts drehend, wurde er von den Zweigen eines Busches federnd aufgefangen. Er spürte das scharfe Stechen von Dornen. Verzweifelt versuchte er, wieder freizukommen.
Vom Lager her kam wieder der fürchterliche Schrei, der ihn schon einmal so erschreckt hatte. Er verdoppelte seine Anstrengungen und konnte sich von den Ranken befreien. Er wagte nicht, dem Verfolger den Rücken zuzuwenden. Seitwärts laufend eilte er weiter. Der Käfer war nicht weit hinter ihm. Er konnte ihn nicht sehen, dafür aber umso besser hören, wenn er durch die Büsche brach. Zwei der Throgs im Lager waren auf das Geschehen aufmerksam geworden und folgten dem anderen. Ihr scharfer Geruch drang in Shanns Nase. Es würde das beste sein, zum Fluß zu laufen. Warlocks Vegetation besaß eine sehr merkwürdige Eigenschaft. Verschiedene Gräser, Pflanzen und Bäume phosphoreszierten nachts schwach und gaben einen fahlen Schein von sich. Das Gelände vor Shann war mit Gras bewachsen und in unregelmäßigen Abständen mit schwach leuchtenden Flecken bedeckt. Es war sehr leicht möglich, daß ein Jäger seine Beute entdeckte, wenn diese durch den Lichtschein huschte. Es bestand auch kein Grund zu der Annahme, daß die Throgs schlechter sahen als die Menschen; eher das Gegenteil war der Fall. Kurz entschlossen lief Shann weiter und versuchte, die Lichtflecken zu meiden, so daß er stets im Dunkeln blieb.
Vielleicht einen Kilometer stromabwärts lag das Floß, das die beiden Terraner am Nachmittag zusammengezimmert hatten. Thorvald war fest davon überzeugt, daß es sie sicher zu dem See bringen würde, der etwa hundertzwanzig Kilometer weiter westlich lag. Im Augenblick kam es jedoch darauf an, ob er überhaupt den einen Kilometer bis zum Fluß schaffte. Was war mit den Wolfis? Was mit Thorvald? Die beiden Tiere würden ganz bestimmt den Weg bis zum Floß zurückfinden. Taggi hatte ein Reh erlegt, dessen Kadaver sie auf dem Floß zurückgelassen hatten. Shann hatte den Tieren keine Zeit zum Fressen gelassen, und sie würden sich ihrer Beute bestimmt noch entsinnen. Was Thorvald anbetraf, so würde dieser den Weg ganz sicher finden; selbständig genug war er ja, das hatte er in den vergangenen fünf Tagen bewiesen. Shann hatte sogar das Gefühl, daß der Offizier ihn als lästiges Anhängsel betrachtete und viel lieber allein gewesen wäre. Doch im Augenblick hatte Shann ganz andere Sorgen. Er lief dem Fluß entgegen und hoffte, den Treffpunkt früh genug zu erreichen. Stürmisch klopfte sein Herz gegen die Rippen, aber wohl weniger der physischen Anstrengung wegen. Vielmehr war der Grund in dem erneuten Geheul zu suchen, das hinter ihm durch die Finsternis der Nacht drang. Es war ein
grauenhafter Schrei, wie ihn weder Terraner noch Throgs hervorbringen konnten. Der Fluß lag etwas niedriger als das Wiesengelände. Eine fein schimmernde Linie kennzeichnete das abfallende Ufer. Daran hatte Shann vor dem Unternehmen nicht gedacht. Er warf sich zu Boden und kroch die letzten Meter, um sich jeder Sicht zu entziehen. Das war gar nicht so leicht, denn seine Hände und Füße schmerzten von den Dornenstichen, die er bei seinem Sturz davongetragen hatte. Außerdem wurde das Leuchten so stark, daß er befürchtete, auf große Entfernung hin gesehen zu werden. Nur noch eine kurze Strecke, dann hatte er es geschafft! Fünf Meter noch – da hörte Shann nicht weit hinter sich eine Bewegung. Er blieb reglos liegen und wandte vorsichtig den Kopf. Das Lager war nicht mehr zu sehen, auch war der Feuerschein erloschen. Irgend etwas aber wälzte sich durch das Gras auf ihn zu. War es vielleicht Thorvald, der einen Angriff abwehrte? Oder gar die Wolfis? Shann zog die Beine an den Körper, um jederzeit sprungbereit zu sein, wenn die Situation es erforderte. Er wußte nicht, ob er Lähmstrahler oder Messer vorziehen sollte. Seine Erfahrung mit dem Strahler war nicht gerade gut zu nennen; der Vorfall beim Wrack hatte bewiesen, daß
man einen Throg damit nicht so leicht außer Gefecht setzen konnte. Konnte er aber mit dem Messer, und wenn es noch so scharf war, den harten Panzer eines Käfers durchstoßen? Zweifellos fand dort in dem Gras ein Kampf statt. Zwei Gestalten waren es, die nun eng umklammert über die Lichtflecke rollten. In dem matten Schein schimmerten die Panzer der Käfer – keine Uniform, kein Fell, keine Haut. Zwei Throgs, die miteinander kämpften? Warum? Eine der Figuren stand nun schwerfällig auf, bückte sich ein wenig und zog an etwas. Undeutlich erkannte Shann den Schaft seines Speeres. Die Gestalt auf dem Boden rührte sich nicht mehr. Er schob das Messer in die Scheide zurück und kroch weiter, auf das Ufer zu. Die dunkle Fläche des Flusses war nun nicht mehr weit. Sie bot Sicherheit und Rettung. Im gleichen Augenblick, als er über die Böschung abrutschte, sah er einen dritten Throg herbeieilen. Sie bückten sich und trugen ihren toten Gefährten zurück ins Lager. Bisher hatten die Käfer als unverwundbar gegolten. Mit ein bißchen Glück und einer primitiven Waffe hatte er diesem Märchen ein Ende bereitet. Sein Selbstbewußtsein stieg. Aber er blieb weiterhin vorsichtig, als er geräuschlos die Böschung hinabglitt und endlich das Ufer erreichte. Das Wasser umspülte
seine Stiefel. Sanft zog ihn die Strömung in Richtung des Floßes. Zu dieser Jahreszeit war kein Hochwasser zu befürchten, außerdem war der Fluß an dieser Stelle breit und flach. Lediglich in seiner Mitte war die Strömung stark genug, sie schnell in Sicherheit zu bringen. Er pfiff leise, in der Hoffnung, daß die Wolfis ihn hören würden, nicht aber die Throgs. Atemlos lauschte er dann in die Finsternis hinein und wartete auf Antwort. Aber sie blieb aus. Weder Thorvald noch die Wolfis rührten sich. Was sollte er tun, wenn sie nicht kamen? Nicht weit vorn standen drei Büsche in Form eines Dreiecks. Sie leuchteten schwach in der Finsternis. Shann stieg aus dem Wasser und schlenkerte die Füße. Das Floß war nun nicht mehr weit. Die drei Büsche markierten die Stelle, wo es angebunden war. Er fuhr herum und zog gleichzeitig den Strahler. Das Floß war ein dunkler Fleck auf der Wasseroberfläche. Es schaukelte heftig auf und nieder, viel mehr, als es die schwache Strömung verursachen konnte. Dann vernahm er ein leises Jaulen – und atmete erleichtert auf. Beruhigt schob er die Waffe in den Gürtel zurück. Seine Sorge um die beiden Wolfis war umsonst gewesen. Das erlegte Reh hatte sie angelockt. Sie achteten nicht einmal auf ihn, als er an der An-
kerleine das Floß zu sich heranzog. Vielleicht hatten sie ihn bereits gewittert. Das Wasser ging ihm bis zur Schulter, als er endlich einen Balken zu fassen bekam. Eins der Tiere knurrte plötzlich warnend. Galt das ihm? Regungslos verharrte er. Weiter stromaufwärts war ein verwehendes Plätschern. Es wurde dann schnell lauter, und wer immer dort auf der Flucht war, gab sich nicht die geringste Mühe, es zu verbergen. Shann blieb stehen und lauschte. Er wartete darauf, wie die Wolfis reagierten, aber Taggi und Togi fraßen ungestört weiter. Throgs konnte es also nicht sein, die da den Fluß herabkamen. Ihre Witterung wäre von den Tieren sofort aufgenommen worden. Zwar griffen sie die Throgs nur dann an, wenn dieses fürchterliche Geheul zu hören war, aber zumindest hätten sie jetzt Laut gegeben. Der Ankömmling war also keiner der Käfer. Warum aber war dann Thorvald so laut und kündigte seine Ankunft derart lärmend an? Befand er sich in Gefahr und konnte keine Rücksicht mehr nehmen? Shann zog die Ankerleine stramm und machte sein Messer bereit, um sie jederzeit durchschneiden zu können. Eine schattenhafte Gestalt passierte die Leuchtbüsche und kam zum Floß. »Lantee?« Die Stimme Thorvalds war heiser und drängend.
»Hier.« »Losschneiden! Wir müssen weg – schnell!« Thorvald schwang sich zusammen mit Shann auf das Floß. Gleichzeitig schnellte das durchschnittene Ende der Leine zum Ufer zurück. Die Strömung erfaßte das schwankende Fahrzeug und trug sie davon. Als das Floß sich zu drehen begann, winselten die beiden Wolfis. Aber sie hörten nicht auf, an ihrer Beute zu fressen. Weit hinter ihnen erklang noch einmal der gräßliche Schrei, der das Blut in ihren Adern fast gerinnen ließ. »Ich sah es ...« keuchte Thorvald und rang nach Atem. »Sie haben einen Hund bei sich. Er ist es, der dieses Geheul ausstößt.«
5 Auch wenn das Floß sich ständig um sich selbst drehte, so wurde es doch mit immer größer werdender Geschwindigkeit stromabwärts getrieben. Die Wolfis drängten sich gegen Shann und wärmten ihn, Taggi jaulte leise; vielleicht als Antwort auf das ferne Heulen, das hin und wieder an ihre Ohren drang. »Ein Hund?« fragte Shann. Neben ihm war Thorvald damit beschäftigt, die Bewegung des Floßes mit dem Ruder zu dirigieren. »Was ist mit dem Hund?« wiederholte Shann ungeduldig, als er keine Antwort erhielt. »Ein Spürhund der Throgs!« murmelte der Offizier besorgt und nachdenklich. »Warum haben sie einen mitgebracht? Das kann nur bedeuten, daß sie Gefangene machen wollen.« »Aber sie wissen doch nicht, daß Terraner entkommen sind«, vermutete Shann. »Vielleicht rechnen sie doch damit, daß bei dem Angriff nicht alle getötet wurden. Es kann natürlich genau so gut sein, daß sie Eingeborene auf Warlock vermuten und einen fangen wollen, um ihn zu untersuchen.« »Töten sie nicht jeden Terraner?« Shann sah im Halbdunkel, wie der Offizier den Kopf schüttelte.
»Es kann sein, daß sie sehr dringend einen lebenden Terraner benötigen.« »Warum?« »Um die Funkstation des Lagers zu bedienen.« Shann wußte genug über die Methoden der Forschungsabteilung, um sofort zu begreifen, was Thorvald damit andeuten wollte. »Das Siedlerschiff?« »Ja, genau das! Ohne das Kodesignal würde das Schiff niemals hier landen. Die Throgs kennen es nicht. Wenn sie das Schiff nicht erwischen, sind ihre Tage auf Warlock gezählt.« »Woher wollen sie denn wissen, daß das Siedlerschiff fällig ist? Sogar für uns sind die Funksprüche der Flotte unverständlich, weil man sie verschlüsselt. Die Throgs können doch nicht unseren Kode entziffern.« »Wir nehmen an, daß sie es nicht können. Aber alles, was wir über die Käfer zu wissen glauben, ist bloße Annahme. Immerhin dürften sie inzwischen in etwa wissen, wie wir vorgehen, wenn wir einen neuen Planeten entdecken. Wenn das Siedlerschiff bei seiner Ankunft nicht den vereinbarten Koderuf erhält, benachrichtigt es die nächste Patrouille der Kampfflotte. Damit wäre der Stützpunkt der Throgs erledigt. Gelingt es ihnen jedoch vorher, das Siedlerschiff zu kapern, dann erhalten sie eine Frist von fünf
bis sechs Monaten, um sich hier einzurichten. Wenn wir dann noch Warlock zurückerobern wollen, benötigen wir eine ganze Flotte. Die Throgs besitzen dann einen weiteren Planeten, denn niemand wird eine Flotte opfern wollen. Warlock aber ist wichtig. Er liegt zwischen den beiden Systemen Odin und Kulkulkan. An dieser Stelle ein Stützpunkt der Throgs ...?« »Sie glauben also, daß man uns lebendig fangen will, damit wir die Funkstation bedienen?« »Von unserem Standpunkt aus gesehen wäre das logisch – falls sie überhaupt wissen, daß wir existieren. Sie haben nicht viele dieser Hunde und wagen es nie, sie in Gefahr zu bringen. Auch denke ich, daß wir unserer Spuren gut verwischt haben. Das Lager mußten wir angreifen, schon wegen der Kartentasche hier.« Thorvald zeigte auf die flache Tasche, die an einem Riemen um seinen Hals hing. »Die richtigen Karten und genügend Zeit ...« Er schien mit sich selbst zu sprechen. Hart schlug seine Faust gegen das Ruder. »Ja, das ist es, was wir benötigen.« Das Ufer glitt schnell vorbei. Die Büsche und Gräser leuchteten und gaben genug Licht, daß Shann das Gesicht des Offiziers erkennen konnte. Dessen dunkle Augen suchten die Wasserfläche ab, als erwarte er, daß jeden Augenblick der Kopf eines Throg daraus hervortauchen könnte.
»Wenn dieser Hund uns nun folgt?« fragte Shann schließlich. »Ist es übrigens ein richtiger Hund?« Er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Hund mit einem Throg zusammenarbeiten würde. »Eine sehr bemerkenswerte Kombination zwischen Kröte und Eidechse mit einigen anderen Attributen verschiedener Tiere. Aber die Beschreibung stimmt nicht ganz, denn ihre fernen Vorfahren müssen – wie bei den Throg – Insekten gewesen sein. Wenn das Biest auf unsere Spur gesetzt wird, und ich bin sicher, das geschieht, werden wir uns vorsehen müssen. Immerhin hat die Sache einen ungemeinen Vorteil: so ein Hund läßt sich nicht von einem Flugboot aus lenken, und die Throgs gehen nicht gern zu Fuß. Eine regelrechte Treibjagd haben wir also kaum zu befürchten. Und wenn er in unübersichtlichem Gelände seinen Herren entläuft, haben wir die Ghance, ihn in einen Hinterhalt zu locken und ihn zu erledigen.« Thorvald schwieg für einige Sekunden, ehe er fortfuhr: »Ich habe das Gelände vor uns bereits zweimal selbst überflogen und erkundet. Wenn wir die Küste erreichen, haben wir es so gut wie geschafft. Ich glaube kaum, daß die Throgs uns dort finden werden. Wenn sie nicht mühevolle Märsche unternehmen wollen, bleiben ihnen nur noch zwei Möglichkeiten: sie können von ihren Flugscheiben aus alle Täler durch Energiestrahler bestreichen lassen. Da es je-
doch Hunderte dieser Täler gibt, nimmt das einige Zeit in Anspruch. Die andere Möglichkeit besteht darin, uns mit einem Dumdum fertigzumachen, falls sie diese Waffe schon nach Warlock brachten, was ich jedoch sehr bezweifle.« Shann straffte sich. Er hatte schon viele Geschichten über diese schreckliche Waffe gehört und schauderte zusammen, als er an die geschilderte Wirkung dachte. »Um ein Dumdum hierher zu bringen«, setzte Thorvald seine Betrachtungen fort, als handele es sich nicht um das Grauenhafteste, was jemals in der galaktischen Kolonisationsgeschichte der Menschheit aufgetaucht war, sondern vielmehr um etwas Alltägliches, »benötigen sie ein größeres Schiff. Da sie kein solches Schiff zur Verfügung haben, brauchen wir also nicht damit zu rechnen. Die größte Gefahr droht uns etwa morgen früh, wenn die Strömungsgeschwindigkeit so bleibt wie bisher. Der Fluß durchquert dann eine Wüste. Wenn zufällig ein Flugboot darüber hinwegstreicht, wird es uns entdecken.« »Wäre es da nicht klüger, wir würden jetzt ein gutes Versteck suchen und die gefährliche Strecke während der Nacht zurücklegen?« »Normalerweise würde ich zustimmen, aber leider haben wir zu wenig Zeit. Wenn wir ohne Aufenthalt weitertreiben, können wir in vierzig Stunden die Ber-
ge erreichen. Dort sind wir sicher. Ohne Vorräte hat es auch keinen Sinn, den Landweg zu wählen. Wir kämen nicht weit.« Zwei Tage! Und die Throgs waren hinter ihnen her, hatten einen ihrer Hunde dabei, Flugscheiben ... Shann griff in das Fell seiner Wolfis. Gestern, als sie das Unternehmen und die Flucht geplant hatten, schien alles viel leichter gewesen zu sein. Der Offizier hatte zu diesem Zeitpunkt noch nichts von den vielen Schwierigkeiten erwähnt, die nun plötzlich auftauchten. Gab es noch andere Dinge, die er verschwiegen hatte? Shann hätte ihn am liebsten gefragt, aber dann tat er es doch nicht. Nach einer Weile wurde er müde. Mit dem Kopf auf den Knien döste er ein. Aber dann erwachte er mit einem Ruck – Sekunden oder Stunden später. Er hatte einen Traum gehabt, einen so lebhaften und wirklichkeitsgetreuen Traum, daß er unwillkürlich erschrak, als er zum Ufer blickte. Statt des gleichmäßigen und von Büschen gesäumten Strandes, der langsam vorbeiglitt, erwartete er einen riesigen Felskegel zu sehen, der in seiner Form verblüffend an einen menschlichen Schädel erinnerte. Ja, so hatte er ihn im Traum gesehen. Ein Schädel, aus dessen Augenhöhlen irgendwelche Dinge geflogen kamen und die auch wieder zurückkehrten. Der herabhängede Unterkiefer wurde vom Wasser umspült.
Die Farbe des gigantischen Schädels war rot und rosa gewesen. Shann blinzelte mit den Augen, denn immer noch sah er drüben am Ufer statt der sanften Hänge den Felsen. Oder war es ein Schädel? Er wußte, daß der so wirklichkeitsnahe Traum eine Bedeutung haben mußte. Er mußte den Schädelfelsen finden! Mühsam bewegte er sich. Seine Glieder waren steif geworden. Neben ihm regten sich die Wolfis. Auch Thorvald schlief. Seine Hand hielt immer noch das Steuer des Floßes. Auf den Knien lag die flache Kartenmappe, mit dem Riemen um den Hals befestigt. Thorvalds Gesicht hatte ein wenig von der gesunden braunen Färbung verloren, an die Shann sich noch erinnern konnte. Die Wangen waren eingefallen und ähnelten in gewisser Beziehung dem Schädelfelsen, den Shann im Traum gesehen hatte. Die Uniform war verschmutzt und eingerissen. Nur das schwarze Haar schimmerte wie immer. Shann wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Er war davon überzeugt, selbst auch nicht besser auszusehen. Vorsichtig beugte er sich über die dahinziehende Wasserfläche, aber sie war nicht glatt genug, um als Spiegel zu wirken. Er stand vorsichtig auf. Das Floß schaukelte, aber der Offizier erwachte nicht. Shann war kleiner als Thorvald und auch nicht so breit. Wenn er aber zum
Ufer blickte, konnte er jetzt erkennen, was hinter dem hügeligen Böschungsstreifen lag. Die Graslandschaft war einer sandigen Fläche gewichen, auf der nur hin und wieder spärliche Vegetation zu finden war. Sie war auch nicht mehr grün, sondern blaßgelb. Das verriet ausgetrockneten und unfruchtbaren Boden. Sie trieben also durch die Wüste, von der Thorvald gesprochen hatte. Shann wandte sich nach Westen. Es war nun hell genug geworden, um die schwarzen Berge am Horizont erkennen zu können. Dort also lag ihr Ziel. Der Fuß des Gebirges wurde vom Wasser des Sees umspült. Oder war es ein Meer? Shann wußte es nicht, wie groß die Wasserfläche war, die ihn erwartete. Thorvald hatte einmal »von dem See«, das andere Mal »von der See« gesprochen. Sorgfältig studierte er die Form der Berge. Lag dort der Schädelfelsen? Die Überzeugung, daß der im Traum erblickte Berg wirklich auf Warlock existieren könne, hatte völlig von ihm Besitz ergriffen. Er mußte diesen Berg unter allen Umständen finden, und nicht nur seiner bizarren Form wegen. Warum eigentlich? dachte Shann verwundert. Warum mußte er diesen Schädelfelsen finden? Und dann bemächtigte sich seiner ein merkwürdiges Gefühl, das fast Furcht sein konnte. Thorvald regte sich. Das Floß schaukelte, und die
beiden Wolfis winselten leise. Shann beugte sich hinab und legte seine Hand auf Thorvalds Schulter, um ihn zu beruhigen. Aber kaum verspürte der Offizier den leichten Druck, da schlug er auch schon zu, während er mit der anderen Hand die Kartenmappe fester an sich preßte. Nur mit Mühe konnte Shann dem Schlag ausweichen. »Ich bin's!« Der Offizier öffnete die Augen. Er sah auf, aber es schien Shann, als sähe er ihn nicht. »Die Höhle mit dem Schleier«, murmelte Thorvald. »Utgart ...« Er verstummte und richtete sich auf. Nun sah er Shann richtig an. Das Träumerische war aus seinen Augen verschwunden. »Wir durchqueren die Wüste«, sagte Shann. Thorvald nickte und stand auf. Er sah hinüber zum Ufer und dann nach Westen, wo die dunklen Berge den Horizont säumten. Dann setzte er sich und öffnete den Proviantbeutel. Einige Konzentrate stillten den gröbsten Hunger, aber die beiden Wolfis würden mit Tabletten kaum zufrieden sein. Shann warf einen kurzen Blick zur Wüste und sah sofort, daß dort nicht mit Beute zu rechnen war. Blieb nur der Fluß. »Taggi und Togi müssen gefüttert werden«, sagte er und brach das Schweigen. »Wenn wir es nicht tun,
werden sie zum Ufer schwimmen und sich einfach selbständig machen.« Thorvald hatte inzwischen einige Karten aus seiner Mappe gezogen und studierte sie aufmerksam. Er schien nicht gehört zu haben, was Shann sagte. »Wie? Was meinst du?« Dann erhellte sich sein Gesicht. »Hast du eine Idee?« »Taggi und Togi sind gute Fischer, Sir. Wie wäre es, wenn wir ein wenig auf das Ufer zuhielten, damit die Tiere unter den Steinen nach Fischen suchen können?« Shann wußte, daß Thorvald nicht gern Zeit vergeudete, aber schließlich konnte man mit hungrigen Wolfis kaum diskutieren. Zu seiner Überraschung protestierte der Offizier auch nicht. Gemeinsam manövrierten sie das Floß aus dem Hauptstrom und lenkten es dem südlichen Ufer entgegen, wo loses Geröll und einige Felsen bessere Fangmöglichkeiten versprachen. Shann ließ sich ins seichte Wasser gleiten, von Taggi und Togi gefolgt. Er drehte Steine um und hoffte, darunter einige Bissen für die Tiere zu entdecken. Die Fische mit den plumpen Beinen waren vorhanden. Es fiel den Wolfis leicht, sie mit einem schnellen Schlag ihrer Pranken zu erlegen. Auch ein pelziges Lebewesen, einem Seehund ähnlich, wurde von Taggi und Togi geschlagen und verzehrt, ehe Shann eine Chance hatte, es näher zu betrachten.
Erst einen halben Kilometer weiter flußabwärts war der Hunger der beiden Wolfis gestillt, und sie kehrten willig mit Shann zum Floß zurück. Shann hatte in der Zwischenzeit nicht versäumt, sich die Landschaft anzusehen. Die Vegetation war in der Tat spärlicher geworden, wie es auch von der Flußmitte her den Eindruck gehabt hatte. Das Floß war leer und lag am Ufer verankert. Thorvald stand auf dem Gipfel eines flachen Hügels und schaute hinüber zu den Bergen. Als er bemerkte, daß Shann sich bemühte, Taggi und Togi zur Rückkehr auf das Floß zu bewegen, kam er zum Strand hinab. In seiner Hand hielt er einige Karten. »Unsere Situation ist nicht ganz so rosig, wie ich sie mir vorgestellt hatte«, begann er. »Wir werden unser Floß verlassen müssen, um die Berge zu Fuß zu überqueren.« »Warum denn das?« wunderte sich Shann. »Stromschnellen und hohe Wasserfälle.« Der Offizier hockte sich nieder und breitete die Karte vor sich aus. Mit den Fingerspitzen tippte er auf mehrere Stellen. »Hier müssen wir aussteigen. Eine unwirtliche Gegend, aber auch unübersichtlich. Der Einschnitt hier an dieser Stelle kann ein Paß sein. Die Karte wurde von der Luft aus aufgenommen.« »Ist auf einer der Karten ein Berg«, fragte Shann
plötzlich, scheinbar ohne jeden Zusammenhang, »der wie ein riesiger Schädel aussieht?« Thorvald bewegte das Ruder träge hin und her. »Schädel?« murmelte er geistesabwesend, wie es seine Art war, wenn er an etwas anderes gedacht hatte. »Ja, wie ein Schädel«, bestätigte Shann. Noch einmal sah er das Bild vor sich, als sei er eben erst aus seinem merkwürdigen Traum erwacht. Schon das war seltsam, denn Träume verwischen sich sonst sehr schnell. »Er hatte ein vorstehendes Kinn, das von den Wellen umspült wurde. Der Felsen war rot und rosa ...« »Was?« Thorvald war aufgefahren, als habe ihn eine Natter gestochen. »Wo hast du von diesem Felsen gehört?« »Ich habe niemals davon gehört, sondern ich habe in der vergangenen Nacht davon geträumt. Es war, als stünde ich direkt davor. Vögel – oder andere Tiere, die fliegen können – kamen aus den Augenhöhlen. Sie kehrten auch in sie zurück.« »Und was hast du sonst noch gesehen?« Thorvald lehnte sich vor und sah den anderen an, als wolle er sich nicht die geringste Kleinigkeit entgehen lassen. »Was fiel dir sonst noch auf?« »Nichts sonst – mehr habe ich nicht gesehen. Ich kann mich auch nicht mehr so gut entsinnen. Es war
ja nur ein Traum.« Er verschwieg dem Offizier das fast unbezähmbare Verlangen in seinem Inneren, unter allen Umständen den Schädelfelsen finden zu müssen. »Nichts sonst?« murmelte Thorvald enttäuscht. Er betonte seine Worte sorgfältig, als er fortfuhr: »Wirklich nichts? Keine Höhle mit einem grünen Schleiervorhang ...?« Shann schüttelte den Kopf. »Nein, nur den Felsen, der wie ein Schädel aussah.« Thorvalds Gesichtsausdruck verriet, daß er nicht glauben wollte, was er hörte, aber dann, als er Shann noch einmal ernst anblickte, mußte er überzeugt sein. Er lächelte schwach. »Schade, eine hübsche Theorie geht dabei in die Brüche. Unsere Karten zeigen keinen solchen Felsen – also wird es ihn wahrscheinlich genau so wenig geben wie den grünen Vorhang. Schade, wirklich.« »Was ...?« begann Shann, aber er beendete den Satz nicht. Vom Ufer her kam ein heftiger Windstoß und brachte feinste Sandkörner mit sich. Wie ein dünner Schleier legten sie sich auf die Oberfläche des Wassers, auf das Floß und auf die Haut der beiden Männer.
Es rieselte, als fiele hart gefrorener Schnee. Aber auch das Rieseln konnte den Laut nicht übertönen, der aus der Wüste kam und an ihre Ohren drang. Weit drüben im Land heulte der Hund der Throgs, ein unbekanntes, grauenhaftes Ungeheuer, von dem niemand wußte, wie man es bekämpfen sollte. Thorvald verzog das Gesicht. »Der Hund ist auf der Fährte.« Er griff zu einem der bisher unbenutzten Paddel und versuchte, das Tempo des dahinziehenden Floßes zu beschleunigen.
6 Die Sonne war ein flammender Feuerball, der seine Hitze aus dem Himmel herabsandte. Die glitzernde Wasserfläche des Stroms gab sie genauso zurück wie der glühende Sand der nahen Wüste. In dem kühlen Hochland des Ostens hätte Shann nie geglaubt, daß es auf Warlock so warm sein könnte. Beide Männer hatten bereits ihre Jacken ausgezogen, denn die Arbeit des Ruderns trieb ihnen den Schweiß aus allen Poren. Am liebsten hätten sie sich auch noch der Hemden entledigt, aber sie fürchteten mit Recht einen verheerenden Sonnenbrand. Immer noch brachte der Wind den feinen Wüstensand, der sich wie eine Schicht auf sie niedersenkte. Shann wischte sich den Schweiß aus den Augen und legte eine kurze Verschnaufpause ein. Die schroffen Felsen des einen Ufers glitten gefährlich nahe an ihnen vorbei. Das Flußbett war enger geworden. Nun trat auch auf der anderen Seite die Wüste zurück und machte einem felsigen Ufer Platz. Nur noch in kleinen Buchten waren Spuren von Sand zu bemerken, der sich dort angesammelt hatte. Kahle Felsvorsprünge stießen weit in den Strom vor und bildeten gefährliche Klippen. Nein, er irrte sich nicht. Das Floß trieb nun schon
schneller dahin. Je enger das Flußbett wurde, desto stärker wurde auch die Strömung. Shann machte eine entsprechende Bemerkung. Thorvald nickte. »Wir nähern uns den ersten Stromschnellen.« »Dann werden wir wohl bald das Floß im Stich lassen müssen.« Shann sagte es nicht sehr erfreut. Der Sand biß in seinen Augen. »Bleiben wir am Flußufer?« »Wenn es möglich ist – ja. Wir besitzen keine Flaschen für Trinkwasser.« Das war das Problem. Mit ihren Konzentraten konnten sie unter Umständen lange reichen, aber ohne Wasser würden sie bald verdurstet sein. Wie lange hielt es ein Mann schon aus ohne etwas zu trinken? Ständig lauschten sie flußaufwärts, als erwarteten sie jeden Augenblick, den fürchterlichen Schrei des Throghundes wieder zu vernehmen. Aber es blieb alles still. »Keine Flugscheiben«, bemerkte Shann erleichtert. Er war ein wenig erstaunt darüber, denn er hatte fest angenommen, der Hund hätte den Throgs ihre Fluchtrichtung verraten. »Weiter oben ist es stürmisch.« Ohne das Steuer aus der Hand zu lassen, deutete Thorvald mit dem Kinn nach oben, wo staubige Wolken unter dem Himmel dahinjagten und die Sicht trübten. Der Fluß zwängte sich in eine enge Schlucht. Die
Luft war frisch und ohne Staub. Die beiden Männer füllten ihre Lungen mit dem kühlen und belebenden Element. Die Sonne war hinter den Wolkenschleiern verschwunden, und die Hitze ließ merklich nach. Der Offizier suchte das Ufer zu beiden Seiten mit einer solchen Sorgfalt ab, daß Shann der Verdacht kam, er forsche nach einem ihm bekannten Markierungspunkt. Dann blickte er nach vorn und benutzte sein Paddel als Richtungsweiser. Shann folgte seinem Blick und sah eine felsige Barriere mitten im Flußbett. Es war, als sei hier das Geröll von dem steilen Ufer abgerutscht und habe den Fluß gestaut. Es bildete eine Halbinsel, die das Flußbett nur noch mehr verengte. »Ist dort schon ...?« Shann vollendete den Satz nicht, denn die Antwort lag nur zu klar auf der Hand. Sie hatten nun auch alle Hände voll zu tun, das Floß schräg zu der starken Strömung ans Ufer zu bringen. Die beiden Wolfis sprangen mit einem Riesensatz über das trennende Wasser und landeten auf dem Felsengeröll. Sie schienen die drohende Gefahr gewittert zu haben. Thorvald klemmte die Kartentasche unter den Arm, ehe auch er ans Ufer sprang. Shann folgte mit den Vorräten. Dann stieß der Offizier das Floß mit einem Fußtritt in den reißenden Fluß zurück. Die Strömung erfaßte
es sofort und entführte es. Schon Sekunden später verschwand es über der Kante der nächsten Stromschnelle. »Horch!« Shann hatte es längst gehört. In der Ferne donnerte und dröhnte es unheimlich und hohl. Wie eine gewaltige Trommel drang der gleichmäßige und dumpfe Ton an seine Ohren und ließ das Trommelfell vibrieren. Das war nicht das Summen eines Raumschiffantriebes oder ein anderes technisches Geräusch, von Throgs oder Terranern verursacht. Außerdem kam das Dröhnen von vorn, nicht von hinten. »Stromschnellen – vielleicht auch schon die großen Fälle«, sagte Thorvald ernst. Er sah sich um. »Nun wollen wir mal sehen, wo wir einen passenden Weg finden, damit wir weiterkommen.« Die Halbinsel setzte sich in ihrer Marschrichtung weiter fort, aber nur fünfzig Meter. Dann endete der Weg vor einer glatten und vom Wasser umspülten Wand. Hier also ging es nicht weiter. Sie mußten in die Höhe klettern und dem Fluß auf dem Hochland folgen. Es würde sich schon wieder eine Gelegenheit bieten, Wasser zu trinken, wenn der Durst sich einstellte. Wie auf Kommando bückten sich die beiden Männer und tranken, soviel sie nur konnten. Sie benetzten die Haare und das Gesicht mit dem erfrischenden
Naß und wuschen sich die Hände. Dann erst folgten sie den Wolfis, die bereits vorangelaufen waren. Es war ein beschwerlicher Weg über Geröll und glitschige Pfade, aber es ging ständig aufwärts. Unten auf dem Fluß war es verhältnismäßig windstill gewesen, aber nun verspürte Shann bereits den ersten Luftzug. Sie näherten sich dem Plateau. Shann machte eine Pause. Mit einer letzten Anstrengung legte er dann die letzten Meter zurück. Aber dann, als er sich mit einem letzten Klimmzug in die Höhe ziehen wollte, zog eine harte Faust ihn zurück. Er begriff sofort, was dieser Befehl bedeuten sollte und duckte sich. Erst jetzt bemerkte er, daß Thorvald und er sich in einer kleinen Schlucht aufhielten, die parallel zum Fluß verlief. Bald schloß sich über ihm der Felsen, und das leichte Rieseln des Sandes hörte auf. Seine Schulter berührte soliden Fels. Er rieb sich den Sand aus den Augen und sah sich um: Sie waren nun in einer Art Tasche, die wie ein Schwalbennest an der Felswand klebte. Oben an der Decke war durch einen schmalen Spalt ein Stück des rosigen Himmels zu sehen. In der Höhle selbst herrschte Dämmerung. Die Wolfis waren nicht da. Thorvald schlich sich in südlicher Richtung weiter, und Shann folgte ihm. Aber der Weg endete bereits nach wenigen Metern.
Rechts fiel die Steilwand zum Fluß hinab, links lag der Aufstieg. Und vorn, wie mit einem Messer abgeschnitten, endete die kleine Schlucht. Senkrecht ging es in die Tiefe zu den rauschenden Wasserfällen. Wenn ein großes Schlachtenschiff mit seinen Energiestrahlen die Felsen von Warlock zerschnitten hätte, dann mußte das etwa so aussehen. Eine andere Erklärung fand Shann nicht für das Phänomen. Die Wand war so glatt und ohne Halt, daß der Gedanke an einen Abstieg völlig absurd sein mußte. Also mußten sie entweder zum Flußbett zurückkehren oder einen Weg auf das Plateau finden. Hier jedenfalls führte kein Weg nach Westen. »Nieder!« Thorvald schrie es fast und zog Shann mit einem harten Ruck in den Schutz der Schlucht zurück, deren Felsendach eine gute Deckung gegen Sicht von oben bot. Ein dunkler Schatten glitt über den hellen Himmel. »Weiter zurück!« Der Offizier zerrte Shann mit sich in die Höhle hinein. Er machte auch keine Pause, als Shann sich längst in Sicherheit wähnte. Erst als sie die schmale Spalte erreichten, die nach Süden führte, schien Thorvald zufrieden zu sein. Er gab seinem Gefährten einen Stoß und folgte dann selbst in das finstere Loch. Aber ein noch kräftigerer Stoß erfaßte Sekunden
später Shann und warf ihn mit aller Gewalt gegen die Felswand. Die Luft entwich pfeifend aus seinen Lungen, und ihm war, als hätte er sich sämtliche Rippen gebrochen. Ein greller Blitz zuckte vom Himmel herab und blendete ihn. Entsetzt schloß er die Augen, und er hatte das Gefühl, nie mehr wieder sehen zu können. Und dieser Blitz war auch das letzte, an das er sich erinnern konnte, bevor er das Bewußtsein verlor. Jeder Atemzug schmerzte. Zuerst begriff er nur, daß er Schmerzen verspürte, dann aber erst wurde ihm bewußt, daß er atmete. Die Schmerzen waren also notwendig, wenn er leben wollte. Auf seinen Beinen lag ein unerträgliches Gewicht, gleichzeitig verspürte er den heißen Atem eines Tieres. Seine Hand suchte und fand das dichte Fell eines Wolfi. Eine warme Zunge leckte über seine Finger. Für einige Sekunden lähmte ihn der Schreck, als er feststellen mußte, daß er nichts sah. Um ihn herum war alles schwarz, nur rötliche Streifen flimmerten in dieser Finsternis, und er begann zu ahnen, daß diese Streifen auch nur Einbildung waren – oder Halluzinationen der Netzhaut. Seine Hände griffen wahllos in die Dunkelheit hinein und fanden die haarige Kehle des Tieres, aus der ein jämmerliches Winseln kam. »Taggi?«
Die Reaktion erschien Shann so stark, daß er vermeinte, ein Tonnengewicht presse ihn gegen die Wand. Von der anderen Seite her meldete sich Togi. Was war geschehen? Thorvald hatte ihn zurückgerissen, als der schwarze Schatten über die Schlucht huschte. Ein Schatten? Shann versuchte sich zu erinnern. Natürlich! Ein Schiff der Throgs! Der grelle Blitz konnte nur von seinem Energiegeschütz stammen. Es war einer jener Blitze, mit denen sie die Terraner im Stützpunkt getötet hatten. Er aber lebte noch! »Thorvald!« rief er in die Finsternis hinein, die ihn umgab. Als keine Antwort erfolgte, wiederholte er den Ruf. Wieder nichts. Er stieß Taggi und Togi sanft beiseite und begann, die Höhle mit Händen und Füßen abzutasten. Er sah nichts, aber seine suchenden Finger glitten über feuchte Erde und loses Geröll. Dann fühlten sie Kleidung und warmes Fleisch. Er tastete weiter, bis er den schwachen Herzschlag spüren konnte. Die freudige Erregung hätte ihn fast übermannt. »Was ...?« Nur dieses eine Wort brachte Thorvald über die Lippen, dann verstand Shann nicht mehr, was der andere murmelte. Aber er wußte nun, daß dem Offizier nichts passiert war und daß er lebte.
Shann richtete sich auf und lehnte sich gegen die Wand. Er preßte die Augen in die gebeugten Arme und öffnete sie dann, nachdem er ihnen den Befehl zum Sehen gegeben hatte. Vielleicht war es auch nur der Druck, der ihm Erleichterung brachte. Als er die Augen gewaltsam öffnete, war ihm, als habe die Dunkelheit nachgelassen. Die Welt war nur noch grau, und links schimmerte es ein wenig heller. Die Flugscheibe der Throgs hatte sie beschossen, auf keinen Fall mit voller Energie, denn das hätten die beiden Terraner nicht lebendig überstanden. Das bewies eindeutig Thorvalds Theorie, daß die Käfer Gefangene machen wollten, um ihren Zweck zu erreichen. Sie verringerten also die Intensität ihrer Strahlen, um ihre Opfer zu betäuben. Jetzt blieb nur die Frage, wie lange es dauern würde, bis die Throgs kamen, um die wehrlosen Terraner gefangenzunehmen. In unmittelbarer Nähe gab es mit Sicherheit keinen geeigneten Landeplatz. Sie mußten also am Rand der Wüste niedergehen und den Rest der Strecke zu Fuß zurücklegen. Also blieb den Terranern noch ein wenig Zeit, um sich eventuell auf die Begegnung vorzubereiten oder gar die Flucht zu ergreifen. Flucht? Waren sie nicht bereits Gefangene des Gebirges?
Nach Süden und Westen gab es nur den bodenlosen Abgrund. Im Osten lauerte der Feind. Unten am Fluß war auch keine Hilfe zu erwarten, denn selbst wenn sie es wagen wollten, die Stromschnellen und Fälle zu durchqueren, so fehlte ihnen dazu das Floß. Es blieb also nur der schmale Spalt, in den sie gekrochen waren. Aber bot er Schutz? Wenn die Throgs kamen, konnten sie ihre Opfer mit Hilfe kontrollierter Energiestrahlen lähmen und aus ihrem Versteck ziehen. »Taggi! Togi!« Es fiel Shann plötzlich auf, daß er die Wolfis seit geraumer Zeit nicht mehr gehört hatte. Waren sie weggelaufen? Die gedämpfte Antwort kam aus südlicher Richtung. Hatte die Höhle einen zweiten Ausgang? Und wenn, hatten die Tiere ihn entdeckt? War diese Nische etwa mehr als nur eine Nische? Vielleicht der Beginn eines Ganges, der weiter ins Gebirge hineinführte – oder hinauf auf das Plateau? Von der geringen Hoffnung neu angespornt, beugte sich Shann wieder über Thorvald, den er bereits undeutlich erkennen konnte. Gleichzeitig zog er aus der Tasche seiner Jacke die Taschenlampe und schaltete sie ein. Wie durch einen Schleier nahm er den Lichtschein wahr. Seine Augen begannen zu tränen, aber schon deutlicher sah er hinein in den dunklen Gang, der in
den Berg hineinführte und der vielleicht die Rettung bedeutete. Der Offizier bewegte sich. Mühsam richtete er sich ein wenig auf, hielt aber die Augen weiterhin geschlossen. »Lantee?« »Hier bin ich. Hinter Ihnen führt ein Gang ins Gebirge. Die Wolfis sind schon vorgelaufen.« Zu Shanns Überraschung erschien ein schwaches Lächeln auf Thorvalds dünnen Lippen. »Dann folgen wir ihnen, bevor es zu spät ist.« Er mußte diese Möglichkeit also ebenfalls gekannt haben, ebenso wie die Motive der Throgs. »Übrigens – kannst du etwas sehen, Lantee?« Die Frage klang gleichmütig, aber in ihr schwang ein Ton mit, der ein winziges Stück der Mauer einriß, die seit ihrem ersten Zusammentreffen am Wrack des Throg-Schiffes zwischen ihnen stand. »Schon besser«, erwiderte Shann. »Als ich erwachte, sah ich überhaupt nichts.« Thorvald öffnete die Augen, aber Shann war davon überzeugt, daß er nichts sehen konnte. Er nahm die Hand des Offiziers und legte sie an seinen Gürtel. Er war es also jetzt, der das Kommando zu übernehmen hatte. »Halten Sie sich nur fest. Wir werden kriechen müssen. Ich habe eine Lampe.«
»Schon gut.« Die Finger des Offiziers suchten den Halt und fanden ihn. Shann begann zu kriechen und zog Thorvald hinter sich her. Zum Glück blieb der Gang nicht lange so niedrig, sondern wurde höher und breiter. Die beiden Männer konnten sich aufrichten. Selbst der ziemlich lange Thorvald stieß nicht mehr mit dem Kopf gegen die Decke. Schon Minuten später ließ er Shanns Gürtel los und behauptete, selbst wieder genug sehen zu können. Der Schein der Lampe glitt über die Felswände und blieb plötzlich auf einer blitzenden Anhäufung grün schimmernder Smaragde hängen. Ein unvorstellbarer Schatz, aber weder Shann noch Thorvald verwendeten mehr als einige Sekunden, ihn zu betrachten. Sie gingen weiter. Ab und zu pfiff Shann, und jedesmal kam die knurrende Antwort der Wolfis von vorn. Hoffentlich war dieser Gang keine Falle, aus der sie die Throgs später herausziehen konnten. »Mach für einen Augenblick die Lampe aus«, befahl Thorvald plötzlich. Shann gehorchte. Der grelle Schein erlosch, aber es blieb ein wenig hell. Das Licht kam von vorn und von oben. »Der Ausgang«, sagte Thorvald. »Fragt sich nur, wie wir ihn erreichen.« Der Schein der Lampe zeigte ihnen den Weg. Un-
regelmäßige Felsstufen führten weiter und bogen dann nach links ab. Später überlegte sich Shann oft genug, wie sie es geschafft hatten, diesen unterirdischen Steilhang emporzuklettern. Sie hatten sich gegenseitig helfen müssen, um größere Vorsprünge zu überwinden. Shann war vorn, und ihm gelang es zuerst, sich mit einer letzten Anstrengung hinauf ins Freie zu ziehen. Seine Fingernägel waren abgebrochen und die Haut an den Händen aufgeschunden. Wie zerschlagen sank er zu Boden, unfähig, sich zu rühren. Verwundert sah er sich um. Thorvald meldete sich ungeduldig. Shann half ihm, die letzten Meter zu überwinden, und dann sank der Offizier sprachlos neben Shann zu Boden und blickte sich voller Verwunderung um. Zu allen Seiten stiegen die Felsen steil in die Höhe und ließen nur ein kleines Stück des bernsteinfarbenen Himmels frei. Sie lagen in einer Senke, die einer üppig wuchernden Vegetation beste Lebensbedingungen bot. Zwar waren die Bäume klein und verkrüppelt, aber das Gras wuchs fast so saftig und hoch wie in den Ebenen. Drüben am Abhang tollten die beiden Wolfis umher. »Hier kann man gut lagern.« Aber Thorvald schüttelte den Kopf. »Leider können wir nicht bleiben.«
Ehe Shann antworten konnte, drang aus dem Loch zu ihren Füßen, stark gedämpft und weit entfernt, das unterdrückte Knurren und Keuchen des ThrogHundes. Der Offizier nahm Shann die Lampe aus der Hand und leuchtete noch einmal in die Höhle hinein. »Wenn das Biest erst einmal die noch frische Spur wittert, können die unbeholfenen Käfer es nicht mehr halten. Sie haben es aber auch nicht nötig, denn die Hunde halten sich an ihre Befehle: töten oder fangen! Ich nehme an, dieser hier ist auf das Fangen abgerichtet. Sie werden ihn also laufen lassen, damit er uns einholt.« »Wir werden das Luder also außer Gefecht setzen?« vermutete Shann. »Dazu benötigten wir ein erstklassiges Strahlengewehr. Nein, wir können den Hund nicht töten. Wir werden etwas anderes unternehmen.« Thorvald stand auf und schritt in das Dickicht hinein, wo eine Art wilder Wein wucherte, dessen zähe Ranken sie schon vorher als Stricke verwendet hatten. Thorvald riß einige der Pflanzen aus und warf sie Shann vor die Füße. »Flechte einen starken und langen Strick daraus, Lantee.« Shann machte sich an die Arbeit und fand zu seiner Freude heraus, daß die Schlingpflanzen einen rötlichen Saft absonderten, der seiner zerschundenen
Haut guttat. Thorvald fällte inzwischen zwei mittlere Bäume, befreite sie von den Ästen und schob sie zwischen die Felsen unmittelbar über dem Höhlenausgang. Die Zeit war offensichtlich gegen sie, aber als die Sonne sich bedenklich den westlichen Abhängen näherte, war Thorvalds Hundefalle fertig. »Wir können ihn nicht völlig erledigen, das ist klar. Aber mit Hilfe unserer Lähmstrahler können wir ihn betäuben, daß wenigstens unsere Falle hier funktioniert.« Taggi kam durch das hohe Gras geschlichen und näherte sich vorsichtig der Höhle. Togi folgte ihm auf den Fersen. Sie witterten in das Dunkel hinein und zeigten unmißverständlich Anzeichen äußerster Erregung. Shann entsann sich ihres Verhaltens, als sie das Lager der Throgs überfallen hatten. Sie waren vorgestürmt, als sie das Heulen des Hundes vernahmen. »Sie können die Bestie ablenken«, sagte Thorvald, »aber auf keinen Fall dürfen sie zu nahe an sie herankommen – das wäre ihr Ende.« Unten aus der Erde kam ein Poltern und Rumoren. Taggi knurrte und wich einen Meter zurück. »Fertig!« flüsterte Thorvald und sprang zu dem Netz, das von den Baumstämmen herabhing. Shann entsicherte den Lähmstrahler. Togi und Taggi fletschten die Zähne. Ein schauerli-
ches Geheul drang aus der Tiefe, wurde lauter und kam näher. Dann erschien ein unwahrscheinlicher Kopf in der Öffnung – der Kopf eines Ungeheuers. Shann feuerte, während Thorvald die Falle löste. Die Bestie brüllte auf. Mit wilden Bewegungen verstrickte sie sich in dem Gewirr der Zweige und Strikke. Der mächtige Körper füllte die Höhle fast vollständig aus. Wie ein Korken in der Flasche, so etwa steckte der Throg-Hund in der Falle. Mit Geheul stürzten sich die beiden Wolfis auf ihren Erzfeind ...
7 Erde und Felsbrocken flogen in die Luft, als die Bestie wie wild um sich biß, um die Wolfis abzuschütteln. Shann sprang herbei und versuchte, seine beiden Tiere vor den scharfen Krallen ihres Gegners zu bewahren. Es fiel ihm nicht leicht, Togi am Fell zu packen und einige Meter fortzustoßen. Bevor sie erneut angreifen konnte, war auch Taggi in Sicherheit. Dabei war Shann um Haaresbreite einem Pratzenhieb entgangen. Er rief den Wolfis seine Kommandos zu – und zu seinem Erstaunen gehorchten die Tiere. Oben stand Thorvald und lachte leise. »Ich denke, das hält die Käfer eine Weile auf.« Der monströse Kopf des Hundes war zwischen herabgestürzte Felsbrocken eingezwängt. Hilflos wiegte sich das Haupt hin und her, aber die Felsen gaben nun nicht mehr nach. Es ging weder vor noch zurück. Shann gab seinen Wolfis ein Zeichen, das sie nur zu gut kannten; sie sollten auf die Jagd gehen, sich aber nicht zu weit von ihren Herren entfernen. Thorvald griff nach der Hand seines Gefährten und untersuchte die Abschürfungen, die jetzt wieder zu bluten begannen. Aus der Tasche zog er eine Dose
mit Puder, das er auf die Wunden streute. Fleischfarbene Plasmapflaster vervollständigten den Verband. »So geht es vorerst«, sagte der Offizier. »Aber nun wird es besser sein, wenn wir von hier verschwinden, bevor es dunkel ist.« So schön das Paradies in der Talsenke auch sein mochte, als Versteck war es denkbar ungünstig. Schon des Geheules wegen, das der zwischen den Felsen gefangene Throg-Hund unaufhörlich ausstieß. Die beiden Männer folgten den Wolfis und fanden sie am Ufer eines schnell davonströmenden Baches. Dankbar tranken sie von dem erfrischenden Naß. Sie hielten sich aber nicht lange auf, sondern eilten weiter. Die Dunkelheit brach schnell herein. Hier im freien Gelände durfte die Taschenlampe auf keinen Fall benutzt werden. Die schwach leuchtenden Büsche gaben genügend Licht, um den Weg zu erkennen. Dann aber wurde es völlig finster. Um sie herum war nichts als kahler und nackter Felsen. Den Wolfis war es gelungen, zwei Kaninchen zu fangen. Sie fraßen die kleinen Tiere mit Haut und Haaren auf, ohne davon satt zu werden. Zu Shanns Erleichterung aber liefen sie nicht mehr davon, um weitere Beute zu jagen, sondern blieben in der Nähe, bis der Lagerplatz für die Nacht gefunden war. Ein überhängender Felsen gab Deckung nach oben. Die beiden Männer kauerten sich in die kleine Höhle und
spürten dankbar die Wärme der Tiere, die sich gegen ihre Leiber drängten. Shann wachte immer wieder aus seinem unruhigen Schlaf auf, wenn in der Ferne das grauenhafte Heulen des gefangenen Hundes erklang. Zum Glück kam das Heulen nicht näher. Wenn die Throgs inzwischen ihren Spürhund eingeholt hatten – und das war sicherlich der Fall – so konnten oder wollten sie ihn nicht befreien. Allmählich schlief Shann endgültig ein. Er wurde erst wieder wach, als das morgendliche KlackKlack der in den Gipfeln hausenden Lederschwingenvögel ertönte. Sein erster Blick galt dem heute wolkenverhangenen Himmel, aber nirgendwo konnte er den drohenden Schatten eines Flugbootes erkennen. »Sie werden sich um unseren Freund in der Höhle kümmern«, sagte Thorvald trocken, der den Blick seines Gefährten richtig deutete. »Sie werden eine Weile damit zu tun haben.« Die Klackklack waren Fleischfresser. Der hilflose Hund würde sie mit Sicherheit anziehen. »Dort ist es!« sagte Thorvald plötzlich, richtete sich nahe der abschüssigen Felsen auf und schaute nach Westen. Shann, der an nichts anderes als an die Schiffe der Throgs dachte, warf sich zu Boden. Aber Thorvald schien nicht an Deckung zu denken. Aufrecht blieb er
stehen. Shann stand auf und sah ebenfalls nach Westen. Vor und unter ihnen lagen die Hügel und Täler im wogenden Nebel. Weiter drüben jedoch schimmerte grün die Fläche eines Sees – oder einer Bucht des Meeres. Der Horizont verschwamm im Dunst. Das also war ihr Ziel! Mit Hilfe eines Gleiters wären sie in einer knappen Stunde am Strand gewesen, so aber schlugen sie sich zwei Tage lang durch die felsige Einöde. Mehrmals entkamen sie nur mit knapper Not den Throgs, die mit ihren Flugbooten die zerklüftete Küste absuchten. Wie Tiere verbargen sie sich dann zwischen den Felsen und verloren kostbare Stunden. Wenigstens aber hörten und sahen sie nichts mehr von dem gräßlichen Untier. Vielleicht hatten die Klackklack ihn aufgefressen. Endlich, am dritten Tag ihrer Wanderung, erreichten sie einen der zahlreichen Fjorde, die sich längs der Küste tief in das felsige Festland bohrten. Auf ihrem Weg hierher hatten sie genügend Wild erlegen können, so war es kein Wunder, daß Menschen und Wolfis gut genährt aussahen und keinen Hunger litten. Das Fell der Tiere glänzte, wohingegen die Uniformen der beiden Männer zerrissen und abgetragen waren. »Wohin nun?« fragte Shann.
Würde er nun endlich erfahren, was der Offizier hier an der zerklüfteten Küste suchte? Sicher, sie bot ausreichend Verstecke, aber sicherlich nicht mehr als das felsige Inland. Thorvald drehte sich langsam und wie suchend um sich selbst und sah sich die Gegend genauer an. Hinter ihm stiegen die Uferfelsen steil in den wolkigen Himmel empor, während die Wellen des Fjordes fast seine Stiefelspitzen umspülten. Er zog eine Karte aus seiner Mappe und begann mit äußerster Sorgfalt Vergleiche anzustellen. Schließlich sagte er: »Wir müssen zur richtigen Küste weiter.« Shann lehnte sich gegen einen schräg stehenden Baumstamm und spielte geistesabwesend mit der verwitterten Rinde. Oben in den Bergen war es kalt gewesen, während hier unten ein warmer Wind von der See her wehte. Aus dem Frühling würde allmählich Sommer werden. »Und was sollen wir an der Küste?« fragte er. Thorvald kam mit der Karte zu ihm und zeigte mit seinen schwarzen Fingernägeln auf eine Kette von Inseln, die sich weit vor der Küste und parallel zu ihr erstreckte. »Das ist unser Ziel.« Shann begriff überhaupt nichts mehr. Warum ausgerechnet die Inseln? Auf ihnen konnten sie sich längst nicht so gut verstecken wie auf dem unüber-
sichtlichen Kontinent. Im Gegenteil. Shann entsann sich, daß diese Inseln bereits den ExpeditionsFlugbooten der Forschungsabteilung sehr interessant vorgekommen waren. »Warum?« fragte er. Er hatte sich bisher nicht geweigert, die Führung Thorvalds anzuerkennen, weil dessen Befehle stets einen Sinn gehabt hatten. Aber er war nicht bereit, dem Offizier nur deshalb zu folgen, weil er einen höheren Dienstrang besaß. »Weil es auf den Inseln etwas gibt, das unsere ganze Lage ändern kann. Warlock ist keinesfalls eine völlig unbewohnte Welt.« Shann riß ein Stück Rinde ab und wickelte es um seinen Finger. War Thorvald verrückt geworden? Es war allgemein bekannt, daß der Offizier zu jenen wenigen gehörte, die nicht ihre Unterschrift unter die Meldung an das Hauptquartier gesetzt hatten, wonach Warlock eine unbewohnte Welt war und zur Kolonisation freigegeben werden konnte. Daß aber Thorvald auch jetzt noch an seiner Vorstellung festhielt, ohne den geringsten Beweis dafür zu besitzen, mußte schon als hartnäckige Sturheit bezeichnet werden. Shann bemerkte den ungeduldigen Blick, den der andere ihm zuwarf. Er verspürte nicht das geringste Interesse daran, den Offizier auf seinen künftigen Wegen zu begleiten, wenn dieser ihn von Insel zu In-
sel führen sollte. Es war schon hier auf dem Festland gefährlich genug. Was wollte Thorvald auf den Inseln eigentlich entdecken? Sollte er doch gehen, aber ohne ihn. Er hatte immerhin einen Lähmstrahler, und die Wolfis würden ihm, nicht Thorvald, gehorchen. Vielleicht konnte er es ihm doch noch ausreden ...? Ein Blick in die forschenden grauen Augen belehrte ihn jedoch eines Besseren. Nein, niemand würde Thorvald ausreden können, daß Warlock von Eingeborenen bewohnt war, wenn sie auch noch niemals jemand gesehen hatte. »Du glaubst mir wohl nicht?« fragte der Offizier ungeduldig. »Warum sollte ich nicht?« versuchte Shann Zeit zu gewinnen. »Du hast in diesen Dingen mehr Erfahrung als ich.« Thorvald faltete wortlos seine Karte zusammen und schob sie in die Tasche. Dann griff er in die Innenseite seiner Bluse und zog etwas daraus hervor. Langsam öffnete er dann die Hand, als gebe er einen ungeahnten Schatz frei. Auf der flachen Hand lag ein münzenähnlicher Gegenstand aus einem weißen Material. Es sah wie Knochen aus, besaß jedoch einen merkwürdigen Schimmer, den ein Knochen niemals haben konnte. In die Oberfläche waren Zeichen eingeschnitzt. Shann streckte seine Hand aus, wenn er auch innerlich ein
Widerstreben verspürte, den seltsamen Gegenstand zu berühren. Als er es aber dann doch tat, war ihm, als durchzuckte ihn ein leichter elektrischer Schlag. Gleichzeitig stieg in ihm das unwiderstehliche Verlangen auf, den Gegenstand näher zu untersuchen. Die geschnitzte Inschrift war verschlungen, jedoch unverkennbar von künstlerischer Hand hergestellt worden. Die Symbole blieben unverständlich. Für mehr als zehn Sekunden versuchte er, den verwirrenden Kurven der Inschrift zu folgen, dann war plötzlich etwas in ihm, das ihn dazu zwang, den Blick von dem Medaillon zu nehmen. Innerlich widerstrebend gab er das Ding Thorvald zurück; kaum daß seine Finger sich von dem geheimnisvollen Gegenstand lösen wollten. »Was ist das?« Thorvald schob es in seine Bluse zurück. »Ich dachte, du hättest es mir vielleicht sagen können. Von mir kannst du nur soviel erfahren: in keinem unserer Archive wird dieser oder ein ähnlicher Gegenstand mit einem Wort erwähnt.« Shanns Augen weiteten sich. Fast unbewußt rieb er seine Finger an der Bluse ab. In ihnen war immer noch das Kribbeln, das er verspürt hatte, als er die Münze – wenn es eine Münze war – in der Hand gehalten hatte. Oder bildete er sich das nur ein? »Es handelt sich zweifellos um einen künstlich her-
gestellten Gegenstand«, fuhr Thorvald fort. »Er wurde an der Küste einer jener Inseln gefunden.« »Die Throgs?« fragte Shann, obwohl er die Antwort bereits ahnte. »Nein, niemals! Die Throgs kennen solche Kunstgegenstände nicht.« »Wer dann?« »Entweder besitzt – oder besaß – Warlock eine Zivilisation, der es möglich war, derartige Gegenstände herzustellen, oder aber es waren vor uns und den Throgs bereits andere Besucher aus dem Weltraum hier. Das jedoch ist eine Möglichkeit, an die ich nicht glaube ...« »Und warum nicht?« »Weil dieses Medaillon aus Knochen oder etwas Ähnlichem hergestellt wurde. Es ist uns in den Laboratorien bisher nicht gelungen, das Material zu analysieren, aber wir wissen, daß es organischen Ursprungs ist. Es lag am Strand und war allen Witterungseinflüssen ausgesetzt, aber es trägt keinerlei Anzeichen dieses Einflusses. Sicher, neu ist es nicht, aber man hat es vorsichtig behandelt. Außer den Throgs und uns gibt es keine andere Rasse, die Raumschiffe baut. Nein, ich behaupte nach wie vor, daß auf Warlock eine intelligente Rasse existiert, die dieses Medaillon schuf.« »Aber eine solche Rasse würde doch Städte errich-
tet haben«, protestierte Shann. »Wir sind schon seit Monaten hier und haben den ganzen Kontinent erforscht. Wir hätten bestimmt eine Spur gefunden ...« »Vielleicht handelt es sich um eine alte und aussterbende Rasse, deren Mitgliederzahl so zusammengeschrumpft ist, daß sie sich irgendwo verborgen hält. Es stimmt, wir haben weder Städte noch sonstige Hinweise gefunden, aber wir fanden dieses hier am Strand einer Insel.« Er klopfte auf die Brust seiner Bluse. »Vielleicht suchten wir bisher am falschen Ort.« »Das Meer ...?« flüsterte Shann und betrachtete das grüne Wasser des Fjordes mit neuem Interesse. »Ja, ich meine das Meer. Wir müssen ernsthaft versuchen, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Wenn es uns gelingt, eventuell vorhandene Eingeborene auf unsere Seite zu bringen, ändert sich unsere Situation grundlegend.« »Als du damals gegen die Beschlüsse Fennistons stimmtest, hattest du also stichhaltige Gründe dafür?« Thorvald sah Shann scharf an. »Du hast die Diskussion also gehört, Lantee?« Es war Shann unangenehm, daß er rot wurde. »Ja. Es war an jenem Tag, als du unser Lager verlassen hast. Übrigens glaube ich, daß das halbe Lager dich hören konnte.«
Thorvalds Stirnrunzeln verschwanden. Er lächelte sogar ein wenig. »Ja, ich schätze, wir brüllten uns an jenem Morgen ganz schön an. Die Träume – diese geheimnisvollen Träume – spielten eine wichtige Rolle bei unserem Gespräch. Lorry war ein guter Scout, und er berichtete uns zuerst von diesen Träumen. Nun, ich denke, ich brauche es dir gegenüber mit der Geheimhaltung nicht mehr so genau zu nehmen. Lorrys Schiff war mit einem neuartigen Gerät ausgerüstet, das in der Lage war, jedwede Ausstrahlung zu registrieren. Wir konnten später feststellen, daß es immer dann etwas aufgezeichnet hatte, wenn Lorry gerade träumte. Leider befand sich das neue Gerät noch im Entwicklungsstadium, so daß von einer exakten Auswertung nicht die Rede sein konnte. Nur mit Hilfe von Lorrys Aussagen konnten wir dann ahnen, daß er die Träume nur dann hatte, wenn er sich bei seinem Flug über einem ganz bestimmten Gebiet aufhielt. Es war eine große Bucht hier am Meer. Als Lorrys Flug später mit besserer Ausrüstung wiederholt wurde, wurden keine Ausstrahlungen registriert. Man nahm also an, daß die ersten Aufzeichnungen die Folge eines Fehlers waren. So einen Planeten wie Warlock fand man schließlich nicht alle Tage und war nicht gewillt, ihn eines bloßen Verdachts wegen wieder aufzugeben. Die Erklärung,
man könne ihn besiedeln, kam also ein wenig überstürzt.« Shann entsann sich seines eigenen Traumes – der Schädelfelsen, der aus dem Wasser ragte. Aus dem Wasser des Meeres? Und dann war da noch etwas anderes, das gut zu diesem Bild paßte. »Als ich von dem schädelförmigen Felsen träumte, lag ich auf dem Floß und schlief.« Thorvalds Kopf kam hoch. Er nickte. In seinen Augen war ein merkwürdig forschender Ausdruck. »Ja, du lagst auf dem Floß, als du davon träumtest. Ich war bei dir und träumte von einer Höhle mit einem grünen Vorhang. Wir standen während unserer Träume in fast direkter Verbindung mit dem Wasser. Kann man Wasser als eine Art Leiter bezeichnen? Hm ...« Seine eine Hand fuhr unter die Bluse und zog das Medaillon hervor. Dann bückte er sich, benetzte die Finger der anderen Hand mit dem Wasser zu seinen Füßen und ließ es aus das Medaillon tropfen. »Was hast du vor?« fragte Shann erstaunt. Thorvald gab keine Antwort. Er hatte die Hände so gefaltet, daß das Medaillon zwischen den Handflächen lag. Langsam drehte er sich, bis sein Gesicht in Richtung des Meeres zeigte. »Dort!« sagte er tonlos. Shann starrte in das Gesicht seines Gefährten. Der
forschende Ausdruck war daraus verschwunden und hatte einer gewissen Verträumtheit Platz gemacht. Das war nicht mehr der Mann, den er so gut zu kennen glaubte. Thorvald war ein anderer geworden. Innerlich schaudernd sprang Shann vor und schlug dem Offizier hart auf die Handgelenke. Das Medaillon fiel in den Sand, während Thorvald einige Schritte zur Seite taumelte. Shann war schnell genug, mit einem Satz herbeizuspringen und seine Stiefel auf den merkwürdigen Gegenstand zu setzen. Thorvald wirbelte herum, zog seinen Lähmstrahler und richtete ihn auf den jüngeren. Aber Shann war genauso schnell. Und er sagte: »Das Ding ist gefährlich, Thorvald. Es – es hat etwas mit dir gemacht.« Der Offizier schien plötzlich wieder er selbst zu sein. Verwundert fragte er: »Was habe ich getan, Lantee?« »Es sah ganz so aus, als hätte jemand – oder etwas – Kontrolle über dein Gehirn erhalten.« Thorvald betrachtete Shann mit neuem Interesse. »In der gleichen Sekunde, in der du das Medaillon mit Wasser in Berührung brachtest.« Thorvald schob den Strahler in den Gürtel zurück. »Warum kam ich überhaupt auf den Gedanken, es mit Wasser in Berührung zu bringen? Irgend etwas zwang mich dazu ...« Er strich sich mit der noch nas-
sen Hand über die Stirn, als wolle er etwas verscheuchen. »Und was tat ich sonst noch?« »Du hast hinausgesehen in Richtung des Meeres und gemurmelt: ›Dort!‹« gab Shann zur Antwort. »Und warum hast du mir das Medaillon aus der Hand geschlagen?« Shann zuckte die Achseln. »Als ich das Ding zum erstenmal berührte, fühlte ich eine Art leichten Schock. Auch habe ich schon Menschen gesehen, deren Geist kontrolliert wurde ...« Am liebsten hätte er sich in der gleichen Sekunde die Zunge abgebissen. Was ging es den Offizier an, was er schon alles gesehen hatte. »Hm, das ist ja interessant«, kommentierte Thorvald. »Aber ich möchte dir recht geben. Dieses kleine Medaillon birgt eine Gefahr in sich, von der wir nicht die geringste Ahnung haben. Es ist nicht so unschuldig, wie es aussieht.« Er krempelte einen Ärmel hoch und bückte sich. »Wenn du jetzt so freundlich sein würdest, deinen Fuß zu heben ...« Er wickelte das Medaillon in einen Fetzen Stoff und verstaute es sorgfältig wieder in seinem Versteck, ohne es direkt zu berühren. »Ich weiß nicht, was es ist – ein Schlüssel, mit dem sich Türen zum Unbekannten öffnen lassen – oder eine Falle. Ich kann auch nicht erraten, wie es funktioniert. Aber ich glaube doch, daß wir ganz sicher sein
können, daß es kein gewöhnliches Medaillon ist, und auch keine Münze. Ich sah also aufs Meer hinaus? Nun, den Wink sollten wir beachten. Vielleicht können wir es seinem Eigentümer zurückgeben, nachdem wir herausgefunden haben, wer oder was sein Eigentümer ist.« Shann starrte auf die grüne Wasserfläche. Der Grund lag so tief unter den sich kräuselnden Wellen, daß kein menschliches Auge ihn erblicken konnte. Gab es dort unten Lebewesen? Die Throgs kamen Shann plötzlich wie ganz normale und harmlose Intelligenzen vor, als er daran dachte, was dort in der Tiefe existieren mochte. Ein zweiter Angriff auf das Lager der Käfer war sicherlich ein Kinderspiel gegen das, was Thorvald nun plante. Aber er sagte nichts, als Thorvald noch einmal in jene Richtung schaute, die ihnen die geheimnisvolle Kraft des Medaillons gewiesen hatte.
8 Knapp eine Stunde vor Sonnenuntergang verstärkte sich der Wind aus Westen. Heftiger schlugen die Wellen gegen den Strand, brachen sich an den felsigen Klippen und sprühten Gischt über Thorvald und Shann. Die Kleidung der beiden Männer war bald völlig durchnäßt, die Haare klebten am Kopf, und ein glitschiger Schleim bedeckte ihre Haut. Aber Thorvald dachte noch nicht daran, einen geschützten Platz für die Nacht zu suchen. »Wir kriegen Sturm«, sagte Thorvald. Im Schutz einiger Felsen war er stehengeblieben und sah hinaus auf die wild bewegte See. Die Sonne war ein verwaschener Fleck am dämmerlichtigen Himmel. Sie gab immer noch genügend Licht, um die Kette der Inseln am Horizont erkennen zu können. »Utgart!« »Utgart?« wiederholte Shann das fremdartige Wort, dem er keine Bedeutung abgewann. »Eine Legende meines Volkes.« Thorvald wischte sich die salzigen Tropfen von der Stirn. »Utgart, das sind jene äußersten Inseln, auf denen die Riesen wohnen – die Todfeinde der alten Götter.« Sie schritten weiter am Strand entlang. Utgart! Der
fremdartige Name schien zu den Inseln zu passen. Der Strand war schmaler geworden. Riesige Felsklippen trennten ihn oft von dem wütenden Wasser. Links türmten sich die Uferfelsen. Shann betrachtete sie mit wachsendem Unbehagen. Es würde nicht gerade angenehm sein, ausgerechnet zwischen tobender See und steilen Klippen vom Sturm überrascht zu werden. Vielleicht fanden sie eine Seitenschlucht, die etwas höher lag, damit das Wasser sie nicht erreichen konnte. Wenn es ein solches Versteck hier gab, dann mußten sie es finden, bevor es vollends dunkel geworden war. Es waren die Wolfis, deren Spürsinn das Versteck fand. Taggi lief voran und verschwand zwischen den Felsen, von Togi gefolgt. Die beiden Männer schritten hinterher. Aufwärts führte ein schmaler Spalt in ein kleines Tal, das hoch genug über dem Wasserspiegel lag. Von senkrechten Wänden eingeschlossen, bot es Deckung gegen den rasenden Sturm. Vegetation wuchs ausreichend. Aus Blättern, Ranken, Stämmen und losen Steinen bauten sie eine Wand auf, die sie gegen Wind und Regen schützte. Es war auch nicht zu befürchten, daß bei diesem Wetter die Throgs unterwegs waren, also wagten sie es, ein Feuer anzuzünden. Aber sehr lange war ihnen dieser Friede nicht beschieden. Der Sturm wurde stärker und erreichte
auch das winzige Tal. Oben in den Felsen heulte es, als seien hundert Throg-Hunde auf ihre Spur geraten. Die beiden Terraner hörten nicht nur das Tosen der Brandung in den nahen Klippen, sie spürten sogar die Erschütterung in den Felsen. Schon längst mußte der Strand überflutet sein. Die Wogen versuchten nun, die Barriere der Felsen einzurennen. Es war unmöglich, sich zu unterhalten. Stumm hockten sie Schulter an Schulter und lauschten auf den tobenden Aufruhr der Natur. Als sei plötzlich ein schwarzer Vorhang gefallen, erlosch das letzte Licht am Himmel. Es gab keinen Übergang. Von einer Sekunde zur anderen stürzte dieser Teil des Planeten in die absolute Finsternis. Die Wolfis krochen enger zusammen und wimmerten leise vor sich hin. Shanns Hand glitt durch ihr Fell und versuchte, ihnen ein wenig Zuversicht zu geben, die er selbst nicht besaß. Noch nie in seinem Leben zuvor hatte er auf festem Land eine solche Furcht verspürt. Die Nacht wurde zeitlos. Um sie herum war nichts als Finsternis, das Heulen des Sturmes und der ständige Sprühregen salzigen Meerwassers. Das wärmende Feuer war längst erloschen und spendete keine Wärme mehr. Sie mußten ihre Glieder bewegen, damit sie nicht steif wurden und das Blut in Zirkulation blieb.
Dann, viel später, ließ der Sturm nach. Sie fielen in einen nicht sehr erfrischenden Halbschlaf. Stunden später erst verlangte die Natur ihr Recht. Aus dem Dahindämmern wurde ein Schlaf der Erschöpfung ... Ein Felsen, der wie ein riesiger Schädel aussah. Augenhöhlen, aus denen etwas geflogen kam. Shann stand auf einer unsicheren Grundlage, die genauso schwankte, wie damals das Floß. Immer mehr näherte er sich dem Felsen. Er konnte genau sehen, daß die Wogen des Meeres den Unterkiefer umspülten. Es war, als tränke ein Riese. Die Zähne wurden durch unregelmäßige Felsstümpfe ersetzt. Die Nase sah mehr wie eine Schnauze aus, war aber genauso leer und dunkel wie die Augen. Immer näher trieb Shann an den Schädel heran, und dann, als er nahe genug schien, streckte er die Hände aus, um einen Vorsprung zu finden, an dem er sich auf den Unterkiefer ziehen konnte ... »Lantee!« Eine Hand griff nach ihm – und beendete den Traum. Mühsam öffnete Shann die zusammengeklebten Augen. Es war, als tauche er aus großer Tiefe an die Oberfläche des Meeres empor. Schleier wehten vor seinem Gesicht wie Nebel. Der Sturm hatte nachgelassen, wenn das Vibrieren der Felsen auch noch zu fühlen war. Thorvald hockte neben ihm. Seine Hand lag noch auf der Schulter des jüngeren Mannes.
»Der Sturm ist vorüber.« Shann schauderte zusammen, als er sich aufrichtete. Ihm war, als würde er für alle Ewigkeiten frieren müssen, so kalt war ihm. Schwankend stand er auf und ging zu dem erloschenen Feuer. Die Wolfis waren verschwunden. »Sie sind auf der Jagd«, sagte Thorvald. Er suchte nach trockenem Holz in den Felsnischen. Shann half ihm. Und als dann endlich die wärmenden Flammen prasselten, zogen sie sich aus und trockneten ihre nassen Sachen. Der Nebel stieg langsam auf. Von der Sonne war noch nichts zu sehen. »Hast du geträumt?« fragte Thorvald plötzlich. »Ja.« Shann gab es fast widerwillig zu. »Ich auch. Du hast deinen Schädelfelsen wiedergesehen, nehme ich an.« »Du hast mich gerade geweckt, als ich ihn besteigen wollte.« »Und ich durchschnitt gerade den grünen Vorhang zur Höhle, als Taggi mich aus dem Schlaf riß. Bist du sicher, daß dein Riesenschädel existiert?« »Ja.« »Ich glaube auch, daß meine Höhle irgendwo auf diesem Planeten zu finden ist. Warum?« Thorvald stand vor Shann und starrte ihn an. »Warum träumen wir immer wieder von diesen Dingen?« Shann untersuchte sein Hemd. Es war immer noch
feucht. Er sah keine Veranlassung dazu, seine Träume zu erklären, aber er war sicher, daß er den Schädelfelsen eines Tages entdecken würde. Wenn das geschah, würde er ihn auch besteigen und in das Innere vordringen – nicht etwa, um eine Expedition auszuführen, sondern weil er es einfach tun mußte. Er strich sich über die Brust und fühlte noch den ziehenden Schmerz – eine Nachwirkung des Energieschlages, den die Throgs ihm versetzt hatten. Nachdem sie sich angezogen hatten, krochen sie durch den engen Spalt wieder hinaus ins Freie. Ein Teil des Strandes war verschwunden. Zwischen Felsen und Wasser lag nur noch ein schmaler Streifen Kies, auf dem die Wellen ausliefen. Es war inzwischen hell geworden, aber der Himmel war grauverhangen und voller tiefhängender Wolken. Das Meer jenseits des Fjordes war nicht grün, sondern grau. Der Horizont verschwamm im Nebel. Die Kette der Inseln war kaum von Wasser oder Himmel zu unterscheiden. Die äußeren verschwanden im Dunst, während die inneren wie verzerrte Schatten daraus hervortauchten. Shann hätte fast einen Schrei der Überraschung ausgestoßen. Direkt vor ihm auf einer Klippe lag ein gepanzertes Schalentier mit schreckerregenden Zähnen in einem breiten, weit geöffneten Maul. Ein Schwanz mit ga-
belförmigem Ende stand senkrecht in die Höhe und peitschte wütend die Luft. Eine Klaue hob sich träge, als suche sie nach einem neuen Halt. Auf Warlock hatte Shann noch nie etwas Häßlicheres und Drohenderes gesehen. Fast erinnerte ihn das Wesen an den Hund der Throgs. Schwer atmend senkte das Tier den Schwanz. Shann hatte den Eindruck, daß diese Bewegung bereits alle vorhandenen Kräfte aufzehrte. Der schauderhafte Kopf sank auf die Vorderbeine. An der linken Seite war nun die gräßliche Wunde zu erkennen, aus der ein unaufhörlicher Strom schwarzen Blutes quoll, das von den anspülenden Wogen hinweggeschwemmt wurde. »Was ist das?« »Bisher unbekannt.« Thorvald schüttelte den Kopf. Er betrachtete das Tier aufmerksam. »Der Sturm muß es angespült haben, ein Beweis dafür, daß es noch mehr unbekannte Lebewesen im Meer gibt.« Wieder hob sich der gegabelte Schwanz, und das Tier legte sich ein wenig auf die Seite. Ein leises Stöhnen entrang sich dem gequälten Körper, vom Plätschern der Wellen fast übertönt. Dann, anscheinend wie mit letzter Kraft, richtete es sich noch einmal auf – und die Klauen ließen den Halt am Felsen fahren. Schwer klatschte der gepanzerte Körper in das tiefe Wasser am Fuß der Klippe und versank sofort.
Shann wartete darauf, ob das verendete Tier noch einmal auftauchen würde – und sah plötzlich etwas anderes. »Dort!« Thorvald stieß einen leisen Pfiff aus. Dann verließ er die Deckung der Schlucht und eilte hinaus auf den schmalen Strand, um den vorbeitreibenden Gegenstand näher in Augenschein nehmen zu können. Das Ding war oval, vielleicht zwei Meter lang und einen halben Meter breit. Der Rücken war nach oben gewölbt. Die Farbe schwankte zwischen rot und braun. Shann bemerkte, daß die Oberfläche rauh war. Dank der anrollenden Wellen war sehr leicht festzustellen, daß das Material sehr leicht sein mußte, etwa wie Kork. Thorvald begann, seine Sachen auszuziehen. »Was hast du vor?« fragte Shann erstaunt. »Sehen, was das Ding ist.« Shann sah auf die nur noch wenig bewegte Wasseroberfläche in der Nähe des Felsens. Dort war das merkwürdige Schalentier verschwunden. War der Offizier wirklich verrückt genug, zu glauben, er könne unbeschadet durch den Fjord schwimmen, in dem noch ganz andere Ungeheuer hausen mochten? Es schien in der Tat so, denn der schlanke Körper Thorvalds tauchte nach einem eleganten Kopfsprung tief in die Fluten. Shann wartete gespannt. Er wußte
selbst nicht, ob er dem Kameraden zu Hilfe eilen konnte, wenn er von einem Seeungeheuer angegriffen werden sollte. Ein brauner Arm tauchte auf. Mit kräftigen Stößen schwamm Thorvald auf das merkwürdige Objekt zu, das sich in den Wellen wiegte. Als er es berührte, erwies es sich, daß es noch leichter war, als es zuerst den Anschein gehabt hatte. Thorvald schwamm zum Ufer zurück und stieß das Ding vor sich her. Während er an Land stieg, untersuchte Shann bereits die unverhoffte Beute. Als sie das Ding umdrehten, entdeckten sie, daß es innen hohl war. Sie hatten ein Boot gefunden, das an ein indianisches Kanu erinnerte. Es bestand zweifellos aus organischer Materie. Holz – oder sogar die Schale eines Tieres? Prüfend ließ Shann seine Finger über die rauhe Oberfläche gleiten. Der Offizier zog sich wieder an. »Jetzt haben wir ein Boot«, sagte er heiser. »Nun werden wir damit nach Utgart fahren ...« »Mit diesem zerbrechlichen Ding hinaus aufs Meer?« Aber Shann wagte keinen Widerspruch. Wenn der Offizier das Wagnis vorschlug, würde er es auch ausführen.
9 Schnell trocknete der sandige Strand unter den sengenden Strahlen der Sonne, die so heiß war, wie Shann sie auf Warlock noch nicht kannte. Es schien, als sei der Sommer über Nacht eingetroffen. Halb im Schatten, unter einer vorspringenden Klippe, die nicht nur gegen die sengenden Sonnenstrahlen, sondern auch vor eventuellen Schiffen der Throgs Schutz bot, waren die beiden Terraner mit ihren Vorbereitungen beschäftigt. Unter Thorvalds Anweisungen wurde die Bootshülle – alles wies eindeutig darauf hin, daß es sich um die leere Schale eines Meeresbewohners handelte – mit einem Ausleger versehen. Als sie schließlich ihre Arbeit beendeten, lag ein recht seltsames Wasserfahrzeug vor ihnen. Immerhin bewies eine Probefahrt, daß es dem Paddel und Ruder gehorchte und sich gut in den Wogen manövrieren ließ. Im vollen Sonnenlicht war die Inselkette besser sichtbar geworden – rote und graue Felsen über der grünblauen Oberfläche des Meeres. Es war den beiden Männern bisher nicht gelungen, weitere Seeungeheuer zu entdecken, und die einzige Lebensform, die ihnen unbekannt schien, war eine Abart der
Klackklack, die in den Höhlen der Strandfelsen hauste und sich von den angetriebenen Fischen ernährte. Auch die beiden Wolfis machten sich über das Strandgut her. »Der Kahn wird uns sicher zu den Inseln bringen«, sagte Thorvald und betrachtete das Boot mit sichtlichem Stolz. Shann war nicht so überzeugt. Er hatte tatkräftig beim Bau des kleinen Auslegerbootes mitgeholfen, aber ihm fehlte der innere Drang, die Inseln so schnell wie möglich zu erreichen. Sicher, das Boot war nun fertig. Nichts stand einer Expedition nach Utgart mehr im Wege. Doch Shann fragte sich, warum Thorvald eine solche Hast dabei entwickelte. Er dachte an das gabelschwänzige Ungeheuer und verspürte nicht den Wunsch, mit einem unverwundeten Exemplar dieser Art zusammenzustoßen – schon gar nicht mitten auf dem Meer, wo es schließlich zu Hause war. »Zu welcher Insel wollen wir eigentlich?« fragte er und behielt seine Zweifel für sich. Die äußerste der Inseln war ein verschwimmender Punkt am Horizont. »Zu der größten, auf der die Bäume wachsen.« Shann pfiff den Wolfis. Seit dem Sturm waren die beiden Tiere wieder gehorsamer geworden. Sie schienen sich daran erinnert zu haben, daß Mensch und Tier fremd auf dieser feindlichen Welt waren und zusammenhalten mußten, wenn sie überleben wollten.
Inzwischen hatte Thorvald ihre spärlichen Vorräte bereits an Bord verstaut. Shann lenkte das Boot an den Felsen heran, um die Wolfis einsteigen zu lassen. Taggi zögerte auch nicht lange, aber als er mitten im Boot hockte, sah er aus wie ein Häufchen Unglück. Togi zögerte, und Shann mußte sie in das Fahrzeug heben. Stumm und ohne sich zu bewegen blieb sie neben Taggi sitzen. Das Boot war unter dem Gewicht seiner Passagiere tief eingesunken, aber der Ausleger bewährte sich bereits. Es würde nicht kippen und auch einen mittleren Sturm überstehen. Leicht gehorchte es dem Druck seiner Paddel. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit glitt es in sanfter Kurve aus der Bucht in den Fjord hinein, in Richtung auf die Inselkette und das offene Meer. Von der Luft aus gesehen, war ihr Kurs keineswegs gerade, aber sie mußten die Strömungen und den Windschatten der näheren Inseln ausnutzen. Sie paddelten unverdrossen und erreichten schon nach kurzer Zeit die ersten Inseln, kleine Felsenriffe, bar jeder Vegetation. Lediglich plump gebaute Vögel hockten in langen Reihen auf den Vorsprüngen und lauerten auf Beute, von der es in der umgebenden See genug zu geben schien. Die erste größere Insel, der sie sich näherten, war mit Bäumen bewachsen, aber sie fanden keinen geeigneten Landeplatz. Es sah ganz so aus, als fiele der
Grundfelsen an allen Stellen senkrecht ins Meer bis in unbekannte Tiefen. Aber dann, als sie die Insel umrundeten, fanden sie etwas, das wie eine Bucht aussah. Vorsichtig umschifften sie nadelscharfe Riffe und näherten sich der Einfahrt, die von einer Felsenbarriere blockiert wurde. Dahinter lag eine Lagune, deren ruhiges Wasser gesicherte Ankerplätze versprach. Die Vegetation der Insel, so stellte Shann fest, war nicht gerade üppig zu nennen. Die verkrüppelten Bäume erinnerten an jene des Hochgebirges und der Wüste. Lederbeschwingte Vögel strichen dicht über das Kanu dahin und beäugten in merkwürdig intelligenter Weise die darin hockenden Insassen. Sie fanden den Eingang nicht so schnell, wie sie gehofft hatten. Vorsichtig vermieden sie jede Begegnung mit den scharfen Riffen, die teilweise dicht unter der Oberfläche lauerten und den Boden ihres Bootes glatt aufgerissen hätten. »Eine richtige Einfriedung«, kommentierte Shann. Fast sah es so aus, als sei die Barriere von intelligenten Wesen errichtet worden, um unliebsame Besucher von der Insel fernzuhalten. Heiß brannte die Sonne hernieder und wurde von dem Wasser blitzend reflektiert. Die Wolfis wurden unruhig. Shann wußte nicht, wie lange sie noch so geduldig wie bisher bleiben würden. »Wie wäre es, wenn wir es mit der nächsten Insel
versuchen würden?« fragte Shann, obgleich er genau wußte, daß Thorvald darauf nicht einging. Der Offizier gab auch keine Antwort. Die Bewegungen seines Paddels zeigten nur allzu deutlich, daß er eine Einfahrt in die Lagune suchte. Aufmerksam beobachtete er die Felsenbarriere und hielt nach einer Lücke Ausschau. An der südwestlichen Ecke der Insel fanden sie so etwas wie ein Loch in den Riffen. Voller Zweifel betrachtete Shann die zangengleichen Vorsprünge, die diese Lücke flankierten. Eine verflucht enge Durchfahrt, wenn es eine war. Eine Welle konnte sie gegen die nahen Riffe schleudern und ihr Boot zerschmettern. Thorvald war starrsinnig, aber er war kein Narr. Er wartete ab, bis eine geeignete Woge von der See heranrollte, und ließ sich von ihr in die Lücke tragen. Im Verlauf einiger weniger Sekunden ritten sie durch den Kanal auf dem Rücken dieser Woge – und dann schwammen sie auf dem fast unbeweglichen Wasser der Lagune. Shann atmete erleichtert auf, sagte jedoch nichts. Nun mußten sie wieder paddeln, um das Rundufer der Inneninsel zu erreichen. Aber auch hier, hinter der Einfahrt, gab es noch genügend Riffe, die ihnen das Leben schwer machten. Immer wieder beugte sich Shann über den Rand
des Bootes und versuchte, den Grund der Lagune zu sehen, vielleicht auch einige der Wasserbewohner. Aber es gelang ihm nicht, die grüne Tiefe mit den Blicken zu durchdringen. Hier und da erkannte er die scharfen Spitzen der Riffe, deren Abhänge sich in der Dämmerung verloren. Shanns Rücken brannte. Von der ungewohnten Arbeit des Paddelns taten ihm die Arme weh. Er fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen und sehnte sich nach dem Strand, nach Schatten – und nach Wasser. Warum eigentlich war diese Insel so wichtig, daß Thorvald unbedingt auf ihr landen wollte? Seine Theorie, daß man sich mit den eventuell vorhandenen Eingeborenen gegen die Throgs verbünden solle, war in der Tat schwach. Besonders hier, wo weit und breit nichts von solchen Eingeborenen zu sehen war und wo sogar noch die Gefahr bestand, auf einer unbewohnten Insel zu stranden, die weder Wasser noch Lebensmittel bot. Hm, vielleicht war Thorvald so etwas wie besessen, besessen von einer Idee, die keinerlei Grundlage besaß. Wie sollte er, Shann, wissen, ob die Geschichte mit dem Medaillon kein fauler Trick gewesen war? Auf der anderen Seite sah er keinen Sinn darin, wenn Thorvald ihn auf diese Insel lockte. Endlich fanden sie den Strand. Sie näherten sich ihm mit kräftigen Paddelschlägen, als die Wolfis das
Boot fast zum Kentern brachten. Ihre Unruhe hatte sich gesteigert, als sie das nahe Ufer witterten. Taggi erhob sich und setzte mit einem flachen Sprung über die Bordkante, um klatschend im flachen Wasser zu landen. Nur mit Mühe konnte Shann das Gewicht ausbalancieren, als Togi auch schon folgte. Die beiden Tiere schwammen zum Ufer, während Thorvald saftige Flüche ausstieß und Shann das Gleichgewicht des Bootes wiederherstellte. Taggi und Togi liefen den flachen Strand hinauf, ohne sich die Zeit zu nehmen, ihr Fell auszuschütteln. Vielleicht hatten sie eine interessante Witterung aufgenommen. So leicht das Boot auch sein mochte, die beiden Männer schwitzten doch, als sie es den sandigen Strand hinauftrugen und im Schatten der Bäume verbargen. So konnte man es von der Luft aus nicht erspähen. Die Wolfis versäumten keine Zeit, ihren Hunger zu stillen. Taggis Schnauze war gelb von den aufgespürten Vogeleiern. Togi blieb vorerst verschwunden. Hinter dem Sandstrand begann felsiger Boden, der sich zum Innern der Insel hin merklich anhob. Neugierig machten sich die beiden Männer daran, die Insel zu durchforschen. Sie fanden Wasser. Es war kein erfrischender Bach, wie sie ihn in den Bergen oft gefunden hatten, son-
dern ein von Felsen eingefaßter Tümpel, in dem sich der Regen gesammelt hatte. Es schmeckte auch nicht besonders gut, aber es stillte ihren ersten Durst. Der Außenteil der Insel war in der Tat eine Steilwand, auch von hier aus gesehen. Davor jedoch erstreckte sich längs der Insel eine Art Tal, in der allerlei Vegetation ihr Dasein fristete. Es gab nicht viel zu erforschen, aber beide Männer widmeten sich dieser Aufgabe mit besonderer Hingabe, als gelte es, einen feindlichen Vorposten aufzuspüren. Sie lagerten in dem Tal und aßen gebratene Vogeleier. Sie schmeckten nach Fisch, aber sie sättigten. Und das war schließlich die Hauptsache. Der Himmel über ihnen war sternenklar. Ja, wenn man nach oben blickte, konnte man wahrhaftig wieder die Sterne sehen – aber nicht nur die Sterne. Über dem Festland glitten langsam die Suchscheinwerfer eines ThrogSchiffes dahin. Sie hatten also noch nicht aufgegeben. »Die haben eine große Ausdauer«, stellte Shann fest. »Unser Siedlerschiff!« sagte Thorvald. »Sie brauchen jemand, der ihnen den Kode verrät, sonst müssen sie damit rechnen, daß unsere Flotte sich um Warlock kümmert. Das aber möchten sie unbedingt vermeiden.« Shann lehnte sich zurück, bis sein Rücken gegen den Baumstamm stieß.
»Warum eigentlich ausgerechnet diese Insel?« fragte er laut. »Am Strand dieser Insel wurde das Medaillon gefunden«, gab Thorvald ruhig zurück. »Heute haben wir nichts gefunden ...« »Immerhin ist diese Insel der Ausgangspunkt unserer Expedition.« Welcher Expedition? Wollten sie vielleicht alle Inseln der Kette absuchen? Wäre das nicht zu gefährlich, ganz abgesehen von den Riffen? Ein Schiff der Throgs, das dicht über die See dahinstrich, würde sie sofort entdecken. Schon heute hätte das geschehen können ... Heute jedenfalls waren sie in Sicherheit und konnten an einem kleinen Feuer sitzen. Müde legte sich Shann auf den Blätterhaufen, den er zusammengeschichtet hatte. Es war sehr still. Vom Strand her kam das Plätschern der Wellen, ein Geräusch, das ihn sehr schnell in einen tiefen Schlaf sinken ließ. Heller Sonnenschein weckte ihn. Wohlig streckte sich Shann. Erst als die Erinnerung zurückkehrte, erwachte er vollends. Hastig richtete er sich auf. Neben ihm war die Asche des ausgebrannten Feuers. Das Gras um ihr Lager war festgetreten. Von Thorvald oder den Wolfis war nichts zu sehen. Im ersten Augenblick hatte er das schreckliche Ge-
fühl, der Offizier und die Tiere könnten ihn allein gelassen haben. Er sprang auf die Füße. Ein Gefühl der Unruhe und der Panik schwemmte über ihn hinweg. So schnell ihn seine Füße trugen, eilte er durch das Tal zum Strand der Lagune, wo sie das Boot versteckt hatten. Die Zweige, mit denen sie es gegen Sicht getarnt hatten, waren in aller Hast beiseite geräumt worden. Das Boot war verschwunden. Er hob den Kopf und sah hinaus auf die Lagune. Ja, dort trieb das Boot, ganz nahe an den Riffen der Ausfahrt. Thorvald saß darin und paddelte vorsichtig zwischen den Felsen hindurch. Unten am sandigen Strand liefen die Wolfis aufgeregt hin und her und winselten. »Thorvald ...!« Shann schrie, so laut er konnte. Schaurig hallte das Echo von den Felsen und Riffen wider, aber der Mann in dem Boot wandte nicht einmal den Kopf. Der Schlag der Paddel veränderte sich nicht. Shann vergaß alle Ungeheuer, die in der Tiefe der Lagune lauern mochten. Er stürzte sich ins Wasser und versuchte mit kräftigen Stößen das Boot einzuholen. Shann war nie ein besonders guter Schwimmer gewesen, aber der erste Abstoß vom Ufer gab ihm einen guten Start. Dann jedoch mußte er sich Meter für Meter vorankämpfen, und wenn er nicht schnell ge-
nug war, erreichte der andere vor ihm die Ausfahrt zwischen den Riffen. Er verschwendete keine Kraft mehr, Thorvald zu rufen. Er benötigte jetzt alle seine Energiereserven, um den Flüchtigen einzuholen. Fast hätte er es auch geschafft, denn schon verkrampften sich seine Finger um den Bast, mit dem der Ausleger am Boot befestigt war. Doch als er aufsah, ließ er den Halt schnell wieder fahren und tauchte unter. Das rettete ihm das Leben. Noch unter Wasser prägte sich Shann das Bild dessen, was er gesehen hatte, so tief ein, daß er es niemals mehr würde vergessen können. Thorvald hatte tatsächlich zu paddeln aufgehört. Aber er benutzte das schwere Holzinstrument zu einem anderen Zweck. Wenn Shann nicht untergetaucht wäre, hätte die scharfe Kante des Paddels ihm den Schädel zertrümmert. Nie würde Shann auch das wutverzerrte Gesicht des Offiziers vergessen, als dessen Hände das Paddel herabsausen ließen. Als die Lungen zu schmerzen begannen, tauchte Shann wieder auf. Nun paddelte Thorvald wieder. Er tat ganz so, als habe er seine Aufgabe erfüllt und Shann erschlagen. Shann wiederum wagte es nicht, seinen Versuch zu wiederholen. So gut konnte er nicht schwimmen, um das Boot vielleicht zum Kentern zu bringen. Thorvald war in jeder Beziehung ein überlegener Gegner.
Mit müden Stößen schwamm er zum Ufer zurück, wo die Wolfis ihn erwarteten. Er begriff immer noch nicht, was nun eigentlich geschehen war. Was war mit Thorvald passiert? Was konnte ihn dazu veranlaßt haben, ihn und die Wolfis auf der Insel zurückzulassen, die er als Ausgangspunkt für die Suche nach den Eingeborenen von Warlock bezeichnet hatte. Hatte der Offizier die ganze Geschichte mit den Eingeborenen vielleicht nur erfunden, um Shann auf diese Insel zu locken und da auszusetzen? Aber welchen Sinn könnte das haben? Das Medaillon! Hatte Thorvald nicht gelogen, wenn er behauptete, man habe es am Strand dieser Insel gefunden? Mühsam watete er die letzten Meter und stieg zum Strand hinauf, wo die Wolfis ihn bereits ungeduldig erwarteten. Taggi kam herbei und leckte winselnd seine Hände. Hoch oben in den Felsen schrien die Inselvögel. Shann hustete. Forschend blickte er sich um. Die Lagune war nun leer. Thorvald mußte die Ausfahrt gefunden und die Klippen bereits umrundet haben. Ohne sich die Mühe zu machen, seine Stiefel anzuziehen, kletterte Shann den Abhang hinauf, von wo aus er eine bessere Aussicht hatte. Er erreichte den Gipfel und beschattete seine Augen. Auf den Wellen der See glitzerte der reflektierte Sonnenschein. Doch er konnte das Kanu erkennen. Es
glitt auf das nächste Eiland der langgestreckten Inselkette zu und machte keine Anstalten, zurückzukehren, wie Shann es insgeheim gehofft hatte. Thorvald war auf der Jagd – wonach? Shann setzte sich. Er hatte Hunger, denn sein Schwimmausflug hatte ihm Appetit gemacht. Nun war er der Gefangene dieser Insel, deren Fläche kaum halb so groß wie jenes Tal war, in dem das terranische Lager gelegen hatte. Sein einziger Wasservorrat bestand aus einem brackigen Rest in der Felsenwanne, der bald von der herabstechenden Sonne ausgetrocknet sein würde. Zwischen ihm und dem Festland wogte eine unbekannte See, in der es Ungeheuer geben konnte, von denen er sich keine Vorstellung machte. Thorvald behielt seinen Kurs bei. Shann konnte erkennen, daß sein Ziel nicht etwa die nächste Insel, ein einfacher und nackter Felsen war. Sondern die dahinter gelegene. Es sah so aus, als eile er zu einem vereinbarten Treffpunkt. Zu einem Treffpunkt – mit wem? Shann stand langsam auf. Mit einem letzten Blick auf das offene Meer ging er zurück zur sandigen Bucht der Lagune. Nun konnte er sicher sein, daß Thorvald nicht die Absicht hatte, vorerst zurückzukehren. Er war wieder einmal auf sich selbst angewiesen
und allein. Nur sein eigener Verstand und seine Energie konnten ihn nun am Leben erhalten – und vielleicht auch eines Tages aus seinem Gefängnis befreien, das ringsum von feindlichem und unbekanntem Gewässer umgeben war.
10 Shann Lantee nahm das Stück kreideähnlichen Steins und zog einen anderen Markierungsstrich über den roten Felsen, der weit über der Flutlinie des Meeres lag. Nun waren es bereits drei solcher Striche – drei lange Tage, seit Thorvald ihn auf der Insel zurückgelassen hatte. Er saß auf einem Stein und wußte, daß er hinauf in die Uferfelsen klettern mußte, wenn er Vogeleier haben wollte. Hier unten gab es keine mehr. Die beiden Wolfis und er hatten alle Nester der Seevögel ausgenommen. Als Shann an die Eier dachte, wurde ihm fast schlecht. Seit Thorvald zwischen den benachbarten Inseln im Westen verschwunden war, hatte Shann nichts mehr von ihm gesehen. Seine schwache Hoffnung, daß der Offizier zurückkehren könnte, hatte sich nicht bewahrheitet. Unten am Strand der Lagune lag sein kümmerlicher Versuch, das Problem auf eigene Art zu lösen. Die Energieaxt war mit Thorvald genauso verschwunden wie das Kanu und die geringen Lebensmittelvorräte. So hatte Shann sein Messer genommen, um einige dünnere Bäume zu fällen, aus denen er ein Floß zimmern wollte. Leider fand er keine starken Gräser, aus denen sich
ein Seil flechten ließ. Schwache Äste traten an ihre Stelle. Aber als er dann sein zerbrechliches Floß auf der Lagune ausprobierte, zerfiel es bereits nach wenigen Minuten in seine Bestandteile. Es war völlig unmöglich, mit ihm zum Festland zu gelangen. Lustlos zerrte Shann an den Ästen herum und spürte die heraufziehende Mutlosigkeit. Droben in der Felsenwanne war nur noch wenig Wasser. Es war warm und brackig. In der vergangenen Nacht hatte er in der Mitte des Tales, wo die Vegetation der Insel am dichtesten wuchs, gegraben. Aber die sich sammelnde Feuchtigkeit reichte nicht aus, den Durst der beiden Tiere und den seinen zu stillen. In der Lagune gab es Fische. Vielleicht konnte ihr saftiges Fleisch das fehlende Wasser ersetzen. Aber er besaß weder ein Netz, noch eine Leine oder einen Haken. Wie sollte er da fischen? Gestern allerdings war es ihm gelungen, mit Hilfe seines Lähmstrahlers einen Vogel zu schießen, dessen Fleisch sich jedoch als so zäh und ungenießbar erwiesen hatte, daß selbst die beiden Wolfis sich weigerten, davon zu fressen. Die beiden Tiere waren ebenfalls am Strand und gruben eifrig im Sand, so daß Shann vermutete, sie hätten vielleicht eine gute Beute gefunden. Besonders Togi, das Weibchen, arbeitete so heftig mit den Füßen, daß Sand und kleine Steine nur so in der Gegend herumflogen. Das konnte kein bloßes Spiel mehr sein.
Neugierig kam Shann näher und sah in die kleine Grube hinein, die inzwischen entstanden war. Er sah einen braunen Fleck, der auf dem Grund der Grube lag, von den grabenden Pfoten Togis vom Sand befreit. Shann stieß einen überraschten Ruf aus. Taggi kam herbeigeeilt und fing neben Togi an zu graben. Die Begeisterung der beiden Wolfis war bewundernswert. Shann kniete am Rand des Loches nieder und starrte auf den braunen Hügel, der sich allmählich aus dem Sand zu schälen begann. Er hatte es nicht einmal nötig, mit seinen Händen über die rauhe Oberfläche zu streichen, um die Natur des überraschenden Fundes zu ergründen. Es mußte zweifellos die gleiche Schale eines großen Tieres sein, die sie nach dem Sturm am Ufer des Festlandes gefunden und die sie als Boot benutzt hatten, um zu dieser Insel zu gelangen. So sehr die Tiere sich aber auch anstrengten, es gelang ihnen nicht so schnell, die Schale auszugraben. Wenn Shann genauer hinsah, glaubte er sogar zu bemerken, daß die Schale tiefer sank. Das brachte ihn auf den Gedanken, den Wolfis zu helfen. Schnell eilte er zum Strand und holte einen der dünnen Baumstämme, um ihn als Hebel und Schaufel zu benützen. Nun ging es besser. Es dauerte gar nicht lange, bis es ihnen gelang, die mächtige Muschel – oder was immer es auch war – aus dem Sand zu befreien.
Shann setzte seinen Hebel an und versuchte, sie auf die andere Seite zu rollen. Zu seiner maßlosen Überraschung wurde ihm der Stamm fast aus den Händen gerissen. Er strauchelte und stürzte zu Boden, während das andere Ende des Stammes zwischen unsichtbaren Zähnen oder Klauen knirschend zerbarst. Erst jetzt begriff er, daß sie es nicht mit einer leeren Muschelschale zu tun hatten, sondern mit einem lebendigen Wesen, das sich mit aller Kraft verteidigte und versuchte, die Schale als Haus zu behalten. Nun, der zersplitterte Holzstamm bewies zur Genüge, daß es ohne weiteres dazu befähigt war. Shann rief die Wolfis zurück, aber die beiden Tiere hatten die Beute gewittert und waren nicht mehr zu halten. Er grub weiter, während Taggi wie wild auf der abgerundeten Schale herumsprang und versuchte, einen schwachen Punkt zu finden. Togi umkreiste die Beute vorsichtig, als wüßte sie, daß sie jeden Augenblick von etwas Unbekanntem angegriffen werden könnte. Die Schale war so gut wie freigelegt, aber Shann konnte nicht sehen, welches Tier sich unter oder in ihr verbarg. Sie war ein wenig kleiner als jene, die Thorvald und er in ein Boot verwandelt hatten. Er war davon überzeugt, daß man aus dieser Muschelschale ein Kanu bauen konnte, das ihn und die Wolfis sicher zum Land zu bringen vermochte.
Taggi sprang von der Schale herab und suchte zusammen mit Togi nach einer verwundbaren Stelle des unbekannten Tieres. Hin und wieder streckten sie die Pfoten vor, zogen sie aber schnell wieder zurück. Das konnte noch Stunden so weitergehen, erkannte Shann, ohne daß sie der Lösung des Problems näherrückten. Er setzte sich einige Meter entfernt in den Sand und studierte die Szene in allen Einzelheiten. Die Grube, in der die Muschel lag, befand sich nur wenige Meter vom Strand entfernt und war ein wenig höher als die Wasserlinie. Aufmerksam beobachtete Shann die anspülenden Wellen. Vielleicht konnten sie das schaffen, was er und die beiden Wolfis vergeblich versuchten ... Taggi und Togi ließen in ihren Bemühungen nicht nach und verhinderten so zumindest, daß die Muschel einen Fluchtversuch in die Lagune unternahm. Shann nahm inzwischen ein flaches Stück Holz und begann einen Graben vom Wasser her zu ziehen. Nur eine schmale Wand trennte schließlich das Loch noch von der Lagune. Bevor er sie durchstieß, befestigte er sein Messer am Ende eines langen Stockes. Dann stand er im flachen Wasser der Lagune und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Die Grube füllte sich. Knurrend zogen die Wolfis sich von ihrer Beute zurück. Und dann, als die Mu-
schel sich endlich bewegte, geschah es derart schnell, daß Shann fast davon überrascht worden wäre. Es war, als explodiere die Muschel. Sie sprang regelrecht in die Höhe und bewegte sich dann schnell auf die Lagune zu. Ein Kranz sich schnell bewegender Beine umgab die Schale. Aber die Sandwand des Grabens gab nach, als die Riesenkrabbe – oder war es doch eine Muschel? – ihr Gewicht darauf legte. Sie kippte zur Seite. Hilflos strampelten die Beine. Shann stieß mit seinem improvisierten Speer kräftig zu und fühlte, wie er tief in nachgiebiges Fleisch drang. Er konnte ihn nicht sofort zurückziehen. Noch während er es versuchte, verfehlte ihn ein Klauenschlag des Untieres. Gleichzeitig verlor es durch diesen Schlag sein Gleichgewicht und kippte vollends um. Auf dem Rücken lag es nun im Graben und strampelte mit den Beinen. Der Terraner starrte auf den Bauch der Beute. Hier gab es so gut wie keine Panzerung mehr. Die Beine formten sich wie Rippen und bildeten den eigentlichen Schutz des Leibes. Von einem Kopf war nichts zu bemerken. Er zog seinen Lähmstrahler und richtete ihn ungefähr auf die Mitte des Tieres. Vielleicht hatte er Glück und traf das Nervenzentrum des Lebewesens so gut, daß es für einige Zeit gelähmt war. Er schoß dreimal.
Dann bewegten sich die Beine des Tieres langsamer, als erlahme die Feder eines Uhrwerks, bis sie endlich bewegungslos verharrten. Die Krabbe war sicherlich nicht tot, aber für eine Weile außer Gefecht gesetzt. Darauf schien Taggi nur gewartet zu haben. Mit infernalischem Wolfsgeheul stürzte er sich in die Grube und auf die Beute und schlug seine scharfen Zähne in das weiche Fleisch. Ohne zu zögern, folgte ihm Togi. Es war ein blutiges Geschäft, und es widerte Shann an, der jedoch nichts daran zu ändern vermochte. Er hätte es auch nicht getan, denn er benötigte die Muschel, wenn er jemals diese Insel wieder verlassen wollte. Während die beiden Tiere von dem grünlichen Fleisch fraßen und sich die Bäuche vollschlugen, stieg Shann hinauf in die Felsen und fand zum Glück ein volles Nest. So schlecht die Eier auch schmecken mochten, sie waren immer noch besser als das Fleisch der Riesenkrabbe. Bis zum späten Nachmittag arbeitete er an der Säuberung der Schale. Die Wolfis hatten Reste des Krabbenfleisches vergraben. Draußen in der Lagune wimmelte es von Meeresbewohnern, die gierig nach jedem Fleischfetzen schnappten, den Shann ins Wasser warf. Als die Dämmerung anbrach, zog er die noch blutige Trophäe bis hin zu den Felsen. Er wollte seine Beute auf keinen Fall wieder verlieren.
In dieser Nacht schlief Shann besonders gut. Er hatte gearbeitet und war völlig erschöpft. Als er am anderen Morgen erwachte, war er ausgeruht und voller Zuversicht. So schnell er konnte, eilte er zu dem Wasserloch, fand aber kaum noch Feuchtigkeit darin. Zum Glück entdeckte er feuchtes Moos, das er kaute. Seine geheime Befürchtung, die so mühselig eroberte Schale könne über Nacht verschwunden sein, bewahrheitete sich jedoch nicht. Im Gegenteil, er konnte eine zusätzliche erfreuliche Feststellung treffen. Kleine Käfer und anderes Getier hatten auch die letzten Fleischreste von der rauhen Schale entfernt. Nur einige größere Stücke hafteten noch an der inneren Seite. Er schleifte die Schale durch den Sand zum Wasser hinab und versenkte sie, mit einigen Steinen beschwert. Zu seiner Freude trat genau das ein, was er sich von dieser Maßnahme erhoffte. Hunderte von kleinen Fischen kamen herbei und fielen über die unverhoffte Beute her. In einigen Stunden würde die Schale restlos sauber sein. Nun hatte er Zeit, sich um den Bau des Auslegers zu kümmern. Holz war ja genügend vorhanden, aber ihm fehlte das Bindematerial. Schon befreundete er sich mit dem Gedanken, wenigstens seine Jacke zu opfern, als der Zufall ihm zu Hilfe kam. Es war Taggi, der ein inzwischen wieder ausgegrabenes Bein der ge-
töteten Krabbe herbeischleppte und versuchte, es zu zerbeißen. Es gelang ihm jedoch nicht, und bereits nach wenigen Minuten gab der Wolfi es auf. Mißmutig ließ er das widerspenstige Bein liegen und strolchte ins Innere der Insel, um sich bessere Beute zu suchen. Shann interessierte sich für das Bein. Es hatte nicht etwa die hornige Panzerung, die Taggi davon abgehalten hatte, an das Heisch zu gelangen, sondern eine lederartige Haut. Mit seinem Messer versuchte Shann, einige Streifen der Haut herauszuschneiden. Das war eine schwere Arbeit, aber es gelang schließlich. Versuchsweise band er zwei Holzstücke zusammen, tränkte das Ganze mit Seewasser und legte es dann in die Sonne. Als er die Bindung nach einer Stunde untersuchte, saßen die beiden Hölzer so fest aufeinander, als habe man sie zusammengeleimt. Vor Freude vollführte Shann einen regelrechten Tanz. Er lief hinab zur Lagune und zog die Schale aus dem Wasser. Die Fische hatten ganze Arbeit geleistet. Die Schale war zwar noch rauh, aber sauber. In dieser Nacht träumte Shann wieder ... Er kletterte nicht auf einen Felsen, der wie ein Totenschädel aussah, sondern stand irgendwo an einem Strand und arbeitete schwer, um etwas zu erledigen, das keineswegs in seinem Interesse lag. Er tat es unter einem fremden, unerklärlichen
Zwang. Wie ein Sklave arbeitete er sinnlos und ohne Zweck, geleitet von einem fremden Willen, dessen Urheber er weder erkennen noch ahnen konnte. Und dann, als er am frühen Morgen erwachte, war er schon am Strand. Er wußte nicht, wie er hierhergekommen war. Sein Körper war schweißgebadet, und von einer erfrischenden Wirkung des Schlafes konnte keine Rede sein. Er fühlte sich so, als habe er tatsächlich die ganze Nacht gearbeitet. Als er sah, was zu seinen Füßen vor ihm im Sand lag, zuckte er unwillkürlich zusammen. Der Rohbau des Auslegers, den er am Tage zuvor gebaut hatte, war zertrümmert und vernichtet. Die so mühsam gebastelten Lederriemen waren in kleinste und unbrauchbare Stückchen zerschnitten. Shann wandte sich entsetzt um und rannte zu dem Ort zwischen den Klippen, wo er die Krabbenschale versteckt hatte. Die gewölbte Fläche zeigte die Spuren sinnloser Bearbeitung, aber zum Glück hatte es keinen verhängnisvollen Riß in der rauhen Oberfläche gegeben. Prüfend ließ er seine Hand über die Schale gleiten, ehe er in Gedanken versunken zu den Trümmern des Auslegers zurückkehrte. Eines wußte er mit Bestimmtheit: er selbst hatte versucht, sein Boot in dieser Nacht unbrauchbar zu machen. In seinem Traum hatte er arbeiten müssen, um einen übermächtigen Gegner zufriedenzustellen.
Der Traum gehörte dazu. Nur – wer oder was konnte einem Menschen einen Traum eingeben und ihn gleichzeitig dazu zwingen, etwas gegen seinen Willen zu tun? Wer konnte den Körper und den Geist eines Menschen übernehmen? Es gab eine Teilantwort, wenn man eine weitere Frage stellte: wer oder was hatte Thorvald dazu veranlaßt, ihn auf der Insel zurückzulassen? Zum erstenmal erhielt Shann eine zwar völlig irrsinnige aber trotzdem logische Antwort auf seine Fragen. Thorvald mußte die Wahrheit gesagt haben. Das geheimnisvolle Medaillon war hier am Strand der Insel gefunden worden. Hier irgendwo mußte der Schlüssel des Geheimnisses verborgen liegen. Shann leckte sich über die Lippen. Angenommen, kombinierte er, Thorvald war von demselben starken Willen gezwungen worden, die Insel heimlich zu verlassen, und ihn, Shann, seinem Schicksal zu überlassen. Warum sollte er, Shann, zurückbleiben? Wurde er so dringend hier gewünscht, daß man ihn sogar das Boot nicht fertig bauen ließ, mit dem er die Insel verlassen wollte? Es konnte nur zwei Gründe geben, warum er das Boot zerstörte: man wollte ihn hierbehalten und man wollte ihm beweisen, wie machtlos er in den Händen der Unbekannten war. Machtlos ...?
Der Wille zum Widerstand erwachte in Shann. Nun gut, sie hatten Kräfte, die über seinen Verstand gingen, aber deshalb ergab er sich nicht kampflos in sein aufgezwungenes Schicksal. Sie hatten ihn unterschätzt, genauso wie sie sich verraten hatten. Jetzt wußte er, daß er nicht allein auf der Insel war. Er konnte sich zu wehren versuchen. Er wühlte die Reste des Auslegers mit dem Fuß durcheinander und überlegte. Er mußte so tun, als sei er mutlos geworden, damit ein eventueller Spion getäuscht wurde. Spion ...! Natürlich, das war es! Irgend jemand mußte ihn am Tage zuvor beobachtet haben, sonst wüßten die Unbekannten nicht von dem Boot und dem Ausleger. Und wenn es wirklich einen Spion auf der Insel gab, so mußte er ihn finden und ihm eine Falle stellen. Er hatte jetzt eine Rolle zu spielen, um die anderen zu täuschen. Wenn er schon nach dem Spion suchte und die Insel durchstreifte, mußte er eine andere Tätigkeit vortäuschen, um den Gegner nicht mißtrauisch zu machen. Die Wolfis würden ihm dabei helfen. Shann schritt den Strand hinauf. Die Schultern hingen herab, als sei er von seiner Entdeckung zutiefst enttäuscht. Laut pfiff er den Tieren. Sie kamen und begleiteten ihn auf seinem Ausflug ins Innere der Insel und zum anderen Teil der Lagu-
ne. Offensichtlich war er auf der Suche nach geeigneten Holzstämmen für einen neuen Ausleger. Dabei beobachtete er Taggi und Togi aufmerksam, um aus ihrem Verhalten auf einen verborgenen Feind schließen zu können. Seinen eigenen Strand ließ er unbeachtet, aber ihm schräg gegenüber auf der anderen Seite der Lagune war eine sandige Halbinsel. Sie war mit Geröll übersät, zwischen dem die Wolfis schon früher nach Beute gesucht hatten. Shann näherte sich von der Insel her dieser Landzunge und nahm Taggi beim Fell. Das Tier sträubte sich und knurrte, als sie einen natürlichen Torbogen passierten, der hinab zum Wasser führte. Taggi sträubte sich genau wie damals, als sie das Lager der Throgs angriffen, aber mit keinem Gedanken dachte Shann daran, daß ein Throg für die merkwürdigen Geschehnisse auf der Insel verantwortlich war. Taggi gehorchte, als der Griff des Mannes im Nakkenfell stärker wurde. Zwei längliche Felsen bildeten den Torbogen. Ein Stück Holz lag dicht dabei und lieferte Shann den Grund, sich ihm weiter zu nähern. Während er sich danach bückte, blickte er durch den Bogen. Dahinter war das Wasser der Lagune. Steinstufen führten hinab zum Strand. Shann bückte sich nach dem Holz und hob es auf. Dabei streiften seine Finger
die Steinstufen. Sie waren naß. Sein Besucher mußte also erst kürzlich die Insel betreten haben – und er war aus dem Wasser gekommen. Während er dann weiterstreifte, überlegte er sich, wie er das Portal in eine Falle verwandeln könnte. Es gab verschiedene Arten von Fallen, aber keine schien ihm geeignet, seinen heimlichen Besucher einzufangen. Nun, wenn er auch noch keine Falle besaß, so doch den Köder: seine eigene Arbeit. Und wenn sein Plan gelang, dann würde er diesmal seine Kräfte nicht wieder sinnlos verschwenden. Er kehrte also zu seiner alten Beschäftigung vom Vortage zurück und begann mit dem Bau des Auslegers. Seine Gedanken aber beschäftigten sich immer wieder mit der beabsichtigten Falle, und plötzlich wußte er, wie sie aussehen mußte – und wie sie arbeiten würde. Obwohl Shann seinen Gegner nicht kannte und auch nicht wissen konnte, wie er aussah, ahnte er zwei schwache Punkte, die dem Gegner wohl zum Verhängnis werden konnten. Der Unbekannte war sich seines Erfolges sicher. Niemand, der jemand anderen so kontrollieren konnte, wie es Shann in der vergangenen Nacht passiert war, würde damit rechnen, daß sein Opfer zurückschlagen könnte. Und zweitens würde der Unbekannte es sich kaum
entgehen lassen, den Erfolg seiner Bemühungen selbst zu beobachten. Er würde also in der Nähe sein, wenn Shann – im Traum – hinging, um das Werk des Tages in der Nacht wieder zu zerstören. Vielleicht irrte sich Shann, aber er glaubte es nicht so recht. Er mußte warten, bis es dunkel geworden war, um die Antwort auf seine Fragen zu finden ...
11 Die schwachen Lichtflecke im Tal kennzeichneten die Stellen, an denen die leuchtenden Moose und Büsche wuchsen. In anderen Nächten war Shann der milde Glanz vielleicht sogar willkommen, aber in dieser Nacht nicht. Aufmerksam studierte er die Stellen, an denen sich das Leuchten besonders konzentrierte, während er reglos an einer dunkleren Stelle lag und so tat, als schliefe er. Neben ihm ruhten die beiden Wolfis. Er hoffte stark, daß ihr Schatten seinen eigenen Rückzug dekken würde, wenn die Zeit dazu kam. Mit der einen Hand hielt er ein seltsames Gewirr von feinen Strikken an sich gepreßt, das er im Verlauf des Nachmittags hergestellt hatte. Er hatte zu diesem Zweck die ganze noch verfügbare Haut der erlegten Krabbe geopfert. Als er eine Stunde gelegen hatte, wußte er, welchen Weg er zu nehmen hatte, wenn er die leuchtenden Stellen vermeiden wollte. Beruhigend legte er seine Hand zuerst Taggi und dann Togi auf den Kopf. Das war der Befehl, sich unter keinen Umständen von der Stelle zu bewegen, sondern hier liegenzubleiben und abzuwarten. Langsam setzte er sich aufrecht hin. Nichts im
Dunkel rührte sich. Vorsichtig kroch er dann auf allen vieren zu dem kleinen Hügel empor, wo es einen Punkt gab, an dem sich die Wege kreuzten. Hierher mußte jeder kommen, der von dem Torbogen in der anderen Bucht herbeischlich, um zu beobachten, was hier am Strand geschah. Und es war damit zu rechnen, daß er großen Wert darauf legte, gerade das zu beobachten. Shanns Plan beruhte nur auf Annahme und viel Glück, aber mehr stand ihm nicht zur Verfügung. Sein Herz pochte ungestüm, während er die Schnüre seines ausgelegten Netzes überprüfte. Unaufhörlich lauschte er in die Finsternis hinein, aber kein Laut war zu hören. Die Verknotungen der Verbindungsschnüre saßen. Wellen klatschten gegen die Felsen am Strand. Dann ein Platschen! Ein Fisch, der in die Höhe gesprungen war? Oder vielleicht jener, auf den er wartete? So leise er konnte, kroch Shann wieder an die Stelle zurück, von der er gekommen war. Mit zitternden Gliedern erreichte er sie. Sein Herz raste, als hätte er einen Dauerlauf hinter sich. Die Lippen waren spröde und trocken. Taggi bewegte sich und stieß fragend seine Schnauze in Shanns Armbeuge. Aber der Wolfi gab dabei keinen Laut von sich, so als ahne er die Gefahr, die dort irgendwo im Dunkel der Nacht lauerte. Würde der Unbekannte
den Pfad gehen, auf dem Shann seine Falle gestellt hatte? Oder hatte er sich geirrt? Schlich der Feind etwa von der entgegengesetzten Seite auf ihn zu? Der Griff des Lähmstrahlers lag feucht in seiner Hand. Das Boot! Seine bisherige Arbeit daran war nichts als Pfuscherei gewesen. Es würde besser sein, die Herstellung zu beschleunigen. Natürlich, das war es. Jetzt gleich mußte er es tun. Wie eine Fotografie entstand vor seinem Auge das Bild ... Ein Bild in seinen Gedanken ... Shann erhob sich. Die beiden Wolfis bewegten sich unruhig, blieben jedoch liegen. Ja, ein Bild in seinen Gedanken, aber diesmal schlief er nicht. Er war hellwach! Er träumte keinen Traum, der sein Werk vernichten sollte. Nur stammte die Idee, jetzt aufzustehen, nicht allein von dem Unbekannten, aber das konnte der nicht wissen. Nach außen hin allerdings handelte Shann jetzt unter Zwang – und er mußte diese Rolle weiterspielen, bis er den Unbekannten in die Falle gelockt hatte. Er schob den Strahler in den Gürtel und ging hinab zum Strand, wo das Boot lag. Diesmal gab er sich keine Mühe, sein Tun zu verbergen, sondern ging mitten durch die leuchtenden Flecke der Moose hindurch. Er gab sich alle Mühe, sich so zu benehmen, wie es ein Mann tun würde, der unter Fernhypnose stand.
Der Wille des Fremden wurde wieder stärker. Shann spürte die selbstbewußte Überlegenheit seines unsichtbaren Gegners, der keine Ahnung davon hatte, daß sein Opfer doch nicht ganz so hilflos war, wie er annahm. Unbeirrt ging Shann weiter. Er spürte den immer mehr sich verstärkenden Willensdruck des anderen, der an Einfluß gewann, obwohl er nicht schlief oder träumte. Vergeblich machte er den Versuch, seine Hand auf den Griff des Strahlers zu legen; sie fand nur das Messer. Langsam zog er es aus dem Gürtel. Er hatte den Gegner unterschätzt. Seine Panik ließ ihn seine wohlüberlegten Pläne vergessen. Er mußte sich jetzt sofort von der fremden Kontrolle befreien, oder er war verloren. Das Messer bewegte sich und zerschnitt eine der Schnüre, die das verborgene Netz hielten. Nur seine Hand, nicht aber sein Wille führte das Messer. Ein geräuschloser Ausruf der Enttäuschung war in seinem Gehirn und erschreckte ihn maßlos. Der Druck ließ fast augenblicklich nach. Er war wieder frei. Der Fremde jedoch war es nicht! Shann behielt das Messer in der Hand und lief den Weg zurück, den er gekommen war. Fast automatisch glitt die Taschenlampe in seine andere Hand. Gegen das leichte Phosphoreszieren der Pflanzen erkannte er eine sich windende Gestalt, die vergeblich versuch-
te, sich aus dem Netz zu befreien. Vielleicht gelang ihm das auch, fürchtete Shann, und schaltete die Lampe ein, um sie auf den Gefangenen zu richten. In diesem Augenblick vergaß er sogar die Throgs, die vielleicht gerade jetzt in einem Gleiter lautlos die Insel überflogen. Der Unbekannte schien zu erstarren, als er so unerwartet von dem Licht überflutet wurde. Shann blieb mit einem Ruck stehen. Er hatte sich bisher noch keine Vorstellung darüber gemacht, wie sein Gegner wohl aussehen mochte, aber nun mußte er feststellen, daß dieser in seinen Augen genauso fremdartig aussah wie ein Throg. Das Licht der Lampe wurde von einer schuppigen Haut reflektiert, die in allen Farben schimmerte. Hals, Brust, Arme und Beine – sie schienen wie mit unzähligen Diamanten bedeckt. Abgesehen von einigen Schlaufen in der Gürtelgegend, in der einige unbekannte Gegenstände baumelten, war der Körper unbekleidet. Auf den ersten Blick gesehen war der Körper menschenähnlicher als der eines Throg. Die Arme und Hände ähnelten denen von Shann, wenn auch statt der gewohnten fünf Finger nur deren vier zu entdekken waren. Das Gesicht jedoch war nicht das eines Menschen, sondern mehr das eines Reptils. Die großen Augen besaßen waagerechte und grünlich
schimmernde Pupillen. Die Nase verband sich mit dem Mund zu einer vorgestreckten Schnauze. Der Kopf lief nach oben in einer V-förmigen Flossenspitze aus, die sich zum Rücken hinab verlängerte, wo sie sich in Schulterhöhe in zwei kurze Stummelflügel teilte. Der Gefangene wehrte sich nicht mehr. Reglos hockte er auf dem Boden unter dem Netz und starrte den Terraner an, als bereite es ihm keine Schwierigkeiten, diesen trotz des blendenden Scheins der Taschenlampe zu erkennen. Merkwürdig, dachte Shann. Er empfand vor dem Unbekannten keinerlei Abscheu. Als er zum erstenmal einen Throg gesehen hatte, war es ganz anders gewesen. Instinktiv legte er die Lampe auf einen Stein und schritt so in den Lichtkegel, daß auch er angestrahlt wurde. Stumm stand er dem Wesen aus den Tiefen des Meeres gegenüber. Der Gefangene griff zum Gürtel und berührte einen der Gegenstände. Der Terraner betrachtete das Wesen aufmerksamer, und ihm fiel einiges auf, das er sich noch nicht so recht erklären konnte. Selbst für die fremdartige Körperstruktur schien es ihm außerordentlich schlank und zerbrechlich zu sein. Die Glieder waren zart und dünn. Sein Verdacht verstärkte sich, fand aber keine neue Nahrung. Nicht auf fremden Befehl hin, sondern aus eigenem Verlangen her-
aus näherte er sich und zog sein Messer, um die Verbindungsschnur zum Netz zu zerschneiden. Als das geschehen war, blieb er gebückt stehen und streckte dem Fremden die Hand entgegen. Die Augen des Gefangenen hatten noch nicht ein einziges Mal geblinzelt. Unaufhörlich betrachteten sie Shann, der das Gefühl der Überlegenheit, das der andere besaß, deutlich fühlen konnte. Warum und wie er es fühlte, war ihm nicht klar. Aber er war zu schwören bereit, daß der andere keine Furcht vor ihm empfand. Seltsamerweise ärgerte er sich nicht darüber, sondern war vielmehr erfreut. »Freunde?« fragte Shann in der üblichen Verständigungssprache der Raumflotte, die aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt war, so daß man die Bedeutung eines Wortes schon an der Aussprache teilweise erkennen konnte, auch wenn man es nicht kannte. Der Gefangene gab keine Antwort. Vielleicht war er stumm und konnte überhaupt keinen Laut von sich geben. Shann bückte sich und zog das Netz beiseite, rollte es zusammen und warf es hinter sich in den Schatten. »Freunde?« wiederholte er und zeigte seine nun leeren Hände, mit den Flächen nach oben. Das war eine Geste, die der andere verstehen mußte, wenn er auch das Wort noch nie gehört hatte.
Mit einer fast fließenden Bewegung stand der Unbekannte auf. Shann war nicht besonders groß, aber das Schuppenwesen war noch kleiner. Die Spitze seines Kamms reichte dem Terraner gerade bis zur Schulter. Die Gegenstände in seinem Gürtel mochten Waffen sein, aber bisher hatte er noch keine Anstalten gemacht, danach zu greifen. Dafür hob er nun die vierfingrige Hand und berührte mit den Fingerspitzen leicht das Kinn des Terraners. Dann strichen die Finger über die Lippen hoch zur Stirn, wo sie zwischen den Augenbrauen haften blieben. Was nun folgte, war eine Art Unterhaltung, aber weder in hörbaren Worten noch auf telepathische Weise. Shann spürte einfach, daß zwischen ihnen keine Feindschaft bestand. Neugier war vorhanden, dazu kamen Zweifel und Unsicherheit. Shann, so mußte der Fremde es empfinden, war ganz anders, als man ihn sich vorgestellt hatte. Das Selbstbewußtsein des Fremden hatte ein wenig gelitten. Und weiter begann Shann zu ahnen, wie recht er mit seiner Vermutung gehabt hatte. Er lächelte. Denn er hatte es nicht mit einem Mann, sondern mit einem Mädchen zu tun – mit einem sehr jungen Mädchen, wenn ihn seine Ahnungen und Gefühle nicht trogen. »Freunde?« fragte er ein drittes Mal. Aber sein Gegenüber blieb abwartend. In den Ge-
danken des Mädchens blieb die Unsicherheit. Shann spürte in der »Unterhaltung« des Gefühlsaustausches, daß er sich nicht so benahm, wie er sich als Mann zu benehmen hatte – vom Standpunkt des fremden Mädchens aus gesehen. Er hätte vor Bewunderung in die Knie sinken müssen, nur weil sie ein Mädchen war. Ihrer Meinung nach hatte er zu wenig seine Ergebenheit gezeigt, die er ihr schuldig war – eben weil sie ein Mädchen war. Zuerst spürte Shann so etwas wie Ärger über diese Tatsache, dann Neugier. Aber sie schien keine Antwort auf ihre Frage zu erhalten. Die Fingerspitzen lösten sich von seiner Stirn. Sie trat zurück. Und nun glitt eine Hand auch wieder zum Gürtel hinab, wo die unbekannten Gegenstände hingen. Shann beobachtete die Bewegung sehr aufmerksam. Er traute ihr noch nicht ganz. Leise pfiff er den Wolfis. Ihr Kopf kam hoch. Vielleicht war sie stumm, aber auf keinen Fall konnte sie taub sein. Sie sah in die Dunkelheit hinein, als die Tiere zur Antwort knurrten. Ihr Profil erinnerte Shann an irgend etwas, das er schon einmal gesehen hatte. Was war das nur gewesen? Ihr Gesicht hätte von goldener Farbe sein müssen – mit einem Ornament um Mund und Nase. Natürlich, die kleine Plastik in der Kabine des Offiziers auf dem Schiff. Eine alte irdische Legende, hatte dieser erklärt. Von einem Drachen. Nur hatte jener Dra-
chen – was immer das auch war – den Körper einer Schlange, die Beine einer Eidechse – und dazu Flügel. Shann riß sich zusammen. Seine Erinnerungen begannen ihn abzulenken. Oder hatte sie etwas unternommen, um seine Aufmerksamkeit abzuschwächen? Er sah, daß sie nun einen kleinen Gegenstand in ihren Händen hielt und ihn aus ihren lidlosen Augen anblickte. Die Augen ... ja, die Augen ... Shann hörte plötzlich das warnende Aufjaulen der Wolfis. Er versuchte, seinen Lähmstrahler aus dem Gürtel zu ziehen, aber es war bereits zu spät. Wie ein Schleier senkte es sich auf ihn herab. Die Felsen, das Inseltal mit seinen leuchtenden Moosen, der Nachthimmel und der Schein seiner immer noch brennenden Lampe – alles verschwamm vor seinen Augen. Dann schritt er voran, schwerelos wie in einem Traum und so, als wate er durch dichten Nebel, der sich um seine Füße zu schließen begann. Verzweifelt versuchte Shann, sich wenigstens an seine Identität zu erinnern, um nicht ganz unter die fremde Kontrolle zu geraten. Ich bin Shann Lantee. Terraner, auf Tyr geboren, Forschungsabteilung! Ein Teil seines Ichs wiederholte unaufhörlich diese Feststellungen, während der fremde Wille stärker und stärker wurde, um ihn in ein Werkzeug – oder eine Waffe – der Unbekannten zu verwandeln.
Schweigsam und verbissen kämpfte Shann gegen ein Phantom, das er nicht zu greifen vermochte. »Ich bin Shann!« sagte er lautlos zu sich selbst. »Ich bin ich! Ich habe zwei Arme, zwei Beine ... ich kann denken! Ich bin ein Mann ...!« Kaum dachte er es, als ihn ein mentaler Schlag mit aller Gewalt fast zu Boden stürzen ließ. Aber er spürte, daß dieser Schlag in Verwirrung und heimlicher Besorgnis geführt worden war. »Jawohl, ich bin ein Mann!« wiederholte er, und er tat es mit der gleichen Kraft und Absicht, mit der er seine Speere gegen die ihn verfolgenden Throgs geschleudert hatte. Aber seine Fähigkeiten waren gegen die der schuppigen Hexe wie Speere gegen Energiestrahler. »Ich bin Shann Lantee, Terraner – und ein Mann!« Das waren Tatsachen! Niemand konnte sie abstreiten. Und in der Tat, wieder ließ der Druck für einige Sekunden nach, als sei die Hexe über die Feststellung, daß Shann ein Mann war, äußerst bestürzt. Träume! Diese Warlocker dachten und handelten durch Träume. Das Gegenteil von Träumen sind Tatsachen. Sein Name, seine Abstammung, sein Geschlecht – das waren ebenfalls Tatsachen! Der Boden unter seinen Füßen war eine Tatsache. Das Wasser, von dem die Insel umgeben wurde, war eine andere. Fleisch, Blut, Knochen, – alles Tatsachen, die sich
nicht abstreiten ließen. Er steckte in einem Körper, der Realität war und kein Traum. Mit einem fürchterlichen Schock spürte er plötzlich, wie der ihn umgebende Schleier sich hob. Er schwamm unter Wasser und konnte nicht atmen. Seine Lungen drohten zu bersten. Wie wild schlug er mit den Armen um sich, trat mit den Füßen nach unten. Seine suchende Hand fand einen Halt – einen Felsen. Er griff danach und klammerte sich fest. Mühsam nur gelang es ihm, den Kopf über Wasser zu heben. Hustend und schwer atmend begriff er, wie knapp er dem Tode entronnen war. Für lange Sekunden konnte er nichts anderes tun, als sich an dem rettenden Felsen festklammern, während der Strom des reißenden Gewässers seine Beine fortzuspülen drohte. Es war nicht vollständig dunkel. Über und tief unter ihm war das gleiche grünliche Glühen wie oben auf der Insel, hervorgerufen durch Leuchtpflanzen. Aber über ihm war nicht der Himmel. Als seine Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, erkannte er, daß er sich in einer Art Tunnel befand. In einem Tunnel also, der unter der Meeresoberfläche lag. Panik drohte ihn zu überkommen, als er die Falle ahnte, in die er geraten war. Immer noch zerrte die Strömung an seinen Beinen
und an seinem Körper. Fast eine Minute lang konnte er sich anklammern, dann verließen ihn die Kräfte. Er ließ einfach los und trieb, auf dem Rücken liegend, mit dem Strom davon. Er war jetzt bereit, den Kampf aufzugeben. Glücklicherweise verringerte sich der Abstand zwischen Wasseroberfläche und Tunneldecke nicht, so daß ihm Luft zum Atmen blieb. Aber die ständige Furcht, die Decke könne sich aufs Wasser herabsenken, zerrte unaufhörlich an seinen strapazierten Nerven. Vielleicht bildete er es sich auch nur ein, aber ihm war plötzlich, als verstärke sich die Strömung. Er versuchte seine Geschwindigkeit am Vorbeigleiten der leuchtenden Stellen am Tunneldach abzuschätzen. Vergeblich. Ihm fehlte jeder Vergleich. Mühsam drehte er sich um und begann zu schwimmen. Wieder Lichtflecke – und dann war er draußen. Der Tunnel endete abrupt. Er schwamm in einer riesigen Halle, deren Decke so hoch war, daß sie wie ein Stück künstlichen Himmels wirkte. Die schimmernden Flecke blieben, aber sie waren nun geordnet. Das Muster kam Shann bekannt vor, wenn er sich auch nicht sofort erinnerte, wo er es gesehen hatte. Nicht weit vor sich erkannte er das Ufer. Mit letzter Kraft schwamm er darauf zu und wußte, daß er ertrinken würde, wenn er es nicht bald erreichte.
Irgendwie schaffte er es. Seine suchenden Finger krallten sich in feinen Sand, wie es ihn auf der Insel nicht gab. Als er zusammenbrach, hingen seine Füße noch im Wasser. Schritte waren nicht zu hören, aber er wußte, daß er nicht mehr länger allein war. Mühsam stützte er sich auf die Ellenbogen und richtete sich auf. Dann kniete er, aber zum Aufstehen fehlte ihm die Kraft. Er legte sich ein wenig auf die Seite, daß er sie sehen konnte. Sie – das waren drei von ihnen. Sie beobachteten ihn mit ihren Reptilienaugen, unbewegt und ohne Ausdruck. Hinter ihnen tauchte ein vierter auf. Diesen schlanken Körper kannte er bereits. Shann legte seine Hände auf die Knie, um einen besseren Halt zu bekommen. Er starrte zurück in die Augen der Reptilien. Er würde es ihnen schon zeigen. Innerlich aber wußte er, daß sie stärker waren als er. Seine erste Begegnung mit ihrer Spionin auf der Insel hatte das zur Genüge bewiesen. »Jetzt habt ihr mich also!« sagte er heiser. »Was nun?« Seine Worte hallten von unsichtbaren Wänden und Ecken wider. Hohl brachen sie sich von der stillen Wasseroberfläche. Niemand gab Antwort. Sie standen nur da und beobachteten ihn. Shann straffte sich. Er wollte ihnen Widerstand bie-
ten. Verzweifelt dachte er an seine Identität, an jene Tatsachen, die er ihren Träumen entgegenzusetzen gedachte. Das Mädchen, das ihn fast ertränkt hätte, machte die erste Bewegung. Es ging um die anderen herum und näherte sich Shann, dabei streckte sie die Hand aus und wollte seine Stirn berühren. Im ersten Augenblick fuhr er zurück, aber dann kam ihm der Gedanke, daß sie nur einen Verständigungskontakt herstellen wollte. Als ihre Fingerspitzen seine Haut berührten, rieselte ihm ein kalter Schauer den Rücken hinab. Diesmal spürte er sonst nichts. In seinem Gehirn formte sich lediglich eine Frage, die so klar war, als habe sie jemand laut ausgesprochen: Wer bist du? »Shann«, antwortete er laut, um dann seine nächsten Worte nur zu denken: Shann Lantee, Terraner. Ein Mann! Das waren die gleichen Worte, die er immer wieder zu sich sagte, um nicht völlig in den Bann der unheimlichen Hypnose zu geraten. Name – Shann Lantee ... ja. Ein Mann ... ja. Terraner? Das war eine Frage. Hatten diese Fischmenschen überhaupt eine Ahnung von Raumfahrt? Konnten sie sich eine andere Welt, auf der intelligente Wesen lebten, vorstellen? Ich komme von einer anderen Welt, einem anderen Pla-
neten, dachte Shann und formte in seinem Gehirn das Bild einer frei im Raum schwebenden Welt, von der gerade ein Schiff startete. Sieh dort! Die eine Hand des Mädchens lag noch auf seiner Stirn, aber mit der anderen zeigte sie hinauf zur Kuppel. Shann folgte der Richtung und erblickte wieder die phosphoreszierenden Lichtflecke, die ihm so bekannt erschienen waren. Nun erst sah er, was sie darstellten. Die Kuppel war eine große Sternenkarte. Sie zeigte den nächtlichen Himmel des Planeten Warlock. »Ja, ich komme von den Sternen«, sagte er mit lauter Stimme. Die Fingerspitzen entfernten sich von ihm. Der schuppige Kopf wandte sich den anderen drei Warlockern zu. Es war Shann, als unterhielten sich die vier Wesen nun miteinander, ohne daß er verstehen konnte, was sie lautlos sprachen. Dann wandte sich der Kopf wieder ihm zu. Die Finger legten sich sanft auf seine Haut. Komm mit! Die Hand kam herab und umklammerte mit unvorstellbarer Kraft sein Gelenk. Ein Teil dieser Kraft floß auf ihn über. Er konnte sich erheben und schwankte nicht einmal, als er auf den Füßen stand.
12 Er nahm an, daß er der Gefangene der Warlocker war, aber er war zu müde, sich Gedanken deshalb zu machen. Für ihn war im Augenblick nur wichtig, daß sie ihn allein in dem runden Raum gelassen hatten. Dieser Raum war ein Teil des Gebäudes, in dem er sich zuerst befunden hatte. In der Ecke lag eine flache Matratze, die etwa seiner Körperlänge entsprach. Darauf streckte er sich aus und fühlte eine lange nicht gekannte Wohligkeit. Seitdem die Throgs das terranische Lager überfallen hatten, hatte er nicht mehr so weich und bequem gelegen. Hoch über ihm schimmerte die Sternenkarte. Er sah so lange hinauf, bis die Sterne um ihn herum zu wirbeln begannen – und er endlich einschlief. Er träumte nicht. Als er schließlich erwachte, war ihm, als habe ihn ein sechster Sinn aufgeweckt. Aufmerksam sah er sich um. Der künstliche Himmel über ihm war unverändert. Niemand außer ihm war in dem Raum. Er rollte sich von seinem Bett und stellte fest, daß er keinerlei Schmerzen mehr verspürte. Sein Geist war klar und unbeschwert, also gehorchte ihm der Körper auch wieder. Obwohl er doch nun schon sehr lange hier weilen mußte, verspürte er weder Hunger noch Durst.
Die Luft war immer noch ein wenig feucht, aber seine durchnäßte Kleidung war völlig trocken geworden, während er schlief. Langsam erhob er sich und rückte seine zerschlissene Uniform zurecht. Man hatte ihm nichts abgenommen. Wenn er auch nicht wußte, wohin er sich wenden sollte, konnte er das Verlangen nicht unterdrücken, den Schauplatz des Geschehens zu wechseln. Die Tür, durch welche er gekommen war, blieb verschlossen, so sehr er auch dagegen drückte. Er trat einige Schritte zurück und schätzte die Entfernung und Höhe der Wände des dachlosen Raumes. Sie waren glatt und eben. Irgendwie erinnerten sie ihn an das Innere einer Muschel. Sein wiedererlangtes Selbstvertrauen weigerte sich, die Mauern als bemerkenswertes Hindernis anzuerkennen. Zweimal versuchte er, mit einem Sprung die obere Kante der Wand zu erreichen, aber er streifte sie nur mit den Fingerspitzen. Beim dritten Versuch nahm er seine Kräfte zusammen und schaffte es. Für einen Augenblick hing er schlaff herab, nur von seinen verkrampften Händen gehalten. Dann, mit letzter Anstrengung, zog er sich empor, schwang das eine Bein über die Mauer und saß rittlings auf ihr. In aller Ruhe konnte er von hier aus seine Umgebung betrachten. In seinem Grundriß war dieses Gebäude etwas, das er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Auch die
Informationsfilme der Forschungsabteilung hatten so etwas niemals gezeigt. Die einzelnen Räume waren rund oder oval, durch schmale Gänge miteinander verbunden. In der Mitte lag ein größerer Raum. Er bildete den Zentralpunkt, von dem aus zehn Schnüre nach allen Richtungen ausgingen, an denen in regelmäßigen Abständen Perlen befestigt waren. So wenigstens sah es aus. In allen Zimmern fehlten die Möbel. Von seinem Sitz aus konnte Shann in keinem der Räume Bewegung feststellen. Die Mauer war dick genug, um seinen Füßen Halt zu geben, also richtete er sich auf und schritt vorsichtig auf den Zentralpunkt zu. Auf den Zentralpunkt wovon? Von einem Palast? Einem Wohnhaus? Vielleicht sogar einer Stadt? Jedenfalls war es das einzige Gebäude auf – oder unter? – der Insel. Obwohl er es sich nicht zu erklären vermochte, konnte er die Umrisse der Insel genau erkennen. Sie kamen ihm zwar merkwürdig symmetrisch vor, aber es war die Insel, daran konnte es keine Zweifel geben. In der Höhle gab es weder Tag noch Nacht. Die Helligkeit der künstlichen Beleuchtung blieb gleich. Shann erreichte den nächsten Raum und sah von oben herab in ihn hinein. Er unterschied sich nicht von dem, in dem er geschlafen hatte. Die gleichen
glatten Wände und auch die gleiche Schlafmatte. Nichts wies darauf hin, daß kürzlich jemand in diesem Raum geweilt hatte. Als er den nächstfolgenden Korridor überquerte, nahm er in der Luft einen ihm wohlvertrauten Geruch wahr. Die Wolfis! Das bedeutete, daß er seine Freunde auf dieser fremden Welt nicht verloren hatte. Und dann stand er auf einer Mauer und sah Taggi und Togi unter sich hin und her laufen. Wie gefangene Raubtiere, dachte Shann. Im Augenblick würde er sich kaum auf sie verlassen können. Die Matte war völlig zerfetzt. Etwas Besseres hatten die beiden Wolfis nicht mit ihr anzufangen gewußt. Als Shann weiterschritt, sprang Taggi an der gegenüberliegenden Seite hoch, fiel aber kraftlos wieder in den Raum zurück. Die beiden Tiere waren gefangen. Hier kamen sie ohne Hilfe nicht heraus. Und ihre Laune war kaum gut zu nennen. Wie hatte man sie nur hierhergebracht? Genauso wie ihn durch den Wassertunnel und mit der gleichen Methode der halben Bewußtlosigkeit? Shann war davon überzeugt, daß die Tür fest verschlossen war und die Tiere nicht fliehen konnten. Warum auch? Hier waren sie vorerst sicher und gut aufgehoben. Ihm ging es in erster Linie darum, seine unsichtbaren Wächter zu finden. Er war sicher, daß sie irgendwo in der Nähe des Zentrums waren.
Ohne sich den Tieren zu zeigen, wanderte er weiter über die breite Mauer. Er kreuzte mehrere andere kreisrunde Kammern, ehe er schließlich den Zentralraum erreichte. Er unterschied sich von den anderen durch seine größeren Ausmaße und heller schimmernden Wände. Shann ließ sich auf alle viere nieder und zog den Lähmstrahler, den man ihm unverständlicherweise gelassen hatte. Vielleicht fürchteten sie seine Waffe nicht. Seit wann hast du Flügel? Die Frage formte sich in seinem Gehirn. Sie besaß einen Unterton von Amüsement, wie man etwa zeigte, wenn man die unbeholfenen Schritte eines Kleinkindes beobachtete. Shann kämpfte das Verlangen nieder, die Frage auf seine Art zu beantworten. Es gelang ihm, sich zu beherrschen, und er tat so, als habe er die lautlose Frage nicht vernommen. Um so genauer unterzog er den Zentralraum einer näheren Untersuchung. Die Wände waren hier nicht glatt, sondern in ein Netz kleiner Nischen unterteilt, in denen nichtmenschliche Totenschädel ruhten. Die Umrisse der Schädel wirkten irgendwie vertraut – und dann kam ihm zu Bewußtsein, daß der Schädelfelsen seines Traumes genauso aussah wie diese Totenköpfe. War der Schädelfelsen ein künstliches Gebilde?
Bei näherer Betrachtung erwies es sich, daß die Farbe der nackten Schädel unterschiedlich war. Auch waren sie nicht alle gleich glatt. Fast in der Mitte des Raumes stand ein schwarzer Tisch. Er hatte so kurze Beine, daß er kaum einen halben Meter hoch war. Hinter dem Tisch saßen in einer Reihe drei Warlocker mit gekreuzten Beinen auf einer Matte. Sie erinnerten Shann an Schuhputzer, die auf ihre Kunden warteten. Ihre Hände lagen gefaltet im Schoß. An dem einen Kopfende des Tisches hockte das Mädchen, das ihn gefangengenommen hatte. Niemand hob den Kopf, um ihn anzusehen. Sie wußten, daß er da war. Erneut verspürte Shann den aufsteigenden Ärger über diese Selbstsicherheit. Aber dann siegte seine Geduld. Er sprang mit einem leichten Satz in den Raum hinab und landete direkt vor dem Tisch. Hoch aufgerichtet stand er dann vor den vier Warlockern. Seine Größe gab ihm das Gefühl physischer Überlegenheit zurück. Du bist also gekommen? Das war eine lautlose und doch höfliche Frage, die man ihm stellte. Er antwortete laut: »Ja, ich bin gekommen.« Ohne eine entsprechende Aufforderung abzuwarten, setzte er sich auf den Boden. »Warum habt ihr mich gefangengenommen?« Er zögerte eine einzige Sekunde. Vielleicht sollte er ih-
nen eine Anrede gönnen. Aber welche? Plötzlich wußte er es. »Ihr Weisen!« In ihren Augen konnte Shann keine Veränderung wahrnehmen – vielleicht konnte man das überhaupt nicht. Du bist ein Mensch? »Ja«, nickte er. Eigentlich verwunderlich, daß sie so großen Wert auf diese Feststellung legen. Scheint ihnen merkwürdig vorzukommen. Wenn du ein Mensch bist, wo ist dann dein Gedankenträger? Für einen Moment war Shann über die Frage verblüfft. Dann antwortete er einfach: »Ich bin mein eigener Gedankenträger.« Wieder begegnete er den harten Blicken, aber diesmal konnte er eine leichte Veränderung bemerken. Ein Teil der bisher zur Schau getragenen Selbstzufriedenheit verschwand. Der Sterngeborene spricht die Wahrheit. Diese Feststellung machte das Mädchen. Es scheint so. Das war einer der drei. Und offensichtlich sollte Shann diese Bemerkung »hören«. Dann sagte der mittlere lautlos: Mir scheint damit erwiesen zu sein, Leser der Stäbchen, daß nicht alle Lebensformen des Universums die gleiche Entwicklung wie wir durchmachen. Immerhin erstaunlich:
ein Mensch, der selbst denkt! Ohne Gedankenträger! Vielleicht kann er auch allein und ohne Hilfe träumen. Welch ein merkwürdiges Volk muß das sein! Ich glaube, wir müssen die Alten befragen. Zum erstenmal bewegte sich einer der schuppigen Köpfe. Shanns Blick ging zu den Nischen mit den Totenschädeln. Auf einem blieb er haften. Shann erschrak. Der blanke Schädel bewegte sich und schwebte dann schwerelos durch die Luft bis zum Tisch, wo er sich auf dem leeren Kopfende niederließ. Erst als das geschehen war, wanderte der Blick des mittleren Warlockers zu einem anderen Schädel, der ebenfalls zu schweben begann und auf der anderen Seite des Tisches seinen Platz fand. Schließlich folgte ein dritter, der genau zwischen seinen beiden Vorgängern landete. Das Mädchen stand auf und brachte einen Kübel herbei. Einer der drei Weisen nahm ihn und sah Shann über den Rand hinweg an. Wir werden die Stäbchen fragen, Mensch, der ohne Gedankenträger denkt. Dann werden wir wissen, wie stark deine Träume sind. Stark genug, um uns zu dienen, oder schwach genug, um dich für deine Unverschämtheit zu strafen. Die Weisen ...? Shann erkannte, daß auch sie Frauen waren. Es war wie ein Schock. Die Frau schwenkte den Kübel hin und her. Aus
seinem Innern kam die Antwort in Form eines leisen Raschelns. Eine andere der Weisen streckte plötzlich die Hand aus und griff unter den Topf. Der Inhalt flatterte in die Luft. Es waren Dutzende von zollangen, farbigen Stäbchen, die auf die Tischplatte hinabfielen. Zu seinem maßlosen Erstaunen mußte Shann feststellen, daß die Stäbchen nicht etwa wahllos und ungeordnet auf der Platte zur Ruhe kamen, sondern im Gegenteil ein farbiges, symmetrisches Muster bildeten. Er wunderte sich, wie sie den Trick vollbracht hatten. Alle drei Weisen beugten ihren Kopf über den Tisch, um das Muster zu studieren. Auch das junge Mädchen – Shann nahm an, daß es jung war – interessierte sich für den Ausgang des Tests und wandte ihm seine ganze Aufmerksamkeit zu. Von dieser Sekunde an war es, als habe sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihn und die Warlocker geschoben, denn jede Art der Verständigung brach ab. Eine Hand bewegte sich, sammelte die Stäbchen ein und warf sie in den Kübel zurück. Vier Augenpaare sahen Shann an. Der trennende Vorhang blieb. Das Mädchen nahm den Kübel aus den Händen der Älteren, starrte Shann eine Weile an und kam auf ihn zu. Shann konnte sein Erschrecken nicht verbergen, als sich plötzlich einer der Totenschädel bewegte
und ein oder zwei Worte hervorstieß. Es war das ersten Mal, daß der Terraner hier einen Laut hörte. Gleichzeitig winkte ihm eine der alten Weisen zu. Das war eine unmißverständliche Aufforderung, näher zum Tisch zu treten. Shann folgte der Aufforderung, streifte dabei aber den Totenschädel, der gesprochen hatte, mit einem scheuen Blick. Das Mädchen reichte ihm den Kübel mit den Stäbchen. Er nahm ihn und ahnte, was er zu tun hatte. Die grünliche Materie fühlte sich keineswegs kalt an, sondern war vielmehr warm wie lebendes Fleisch. Der Behälter war zu drei Vierteln mit den farbigen Stäbchen gefüllt, die völlig durcheinander lagen. Shann versuchte sich des Vorganges zu erinnern. Die Weise hatte den Kübel zuerst den Schädeln dargeboten. Gut und schön, aber Shann war kein Verehrer von Totenschädeln. Also hielt er den Kübel fest an sich gepreßt und sah hinauf zu der riesigen Sternenkarte unter dem Dach der Höhle. Dort war Tama, das erkannte er. Etwas links davon stand Tyr, der Stern, um den seine Heimatwelt kreiste. Shann hob den Kübel dem matten Lichtfleck entgegen, der Tyr symbolisierte. Er lächelte verkniffen, als er ihn wieder senkte und dann, wie aus einem Impuls heraus, dem Schädel hinhielt, der die beiden unverständlichen Worte ge-
sprochen hatte. Er spürte, daß seine Handlung ihre elektrisierende Wirkung auf die Warlocker nicht verfehlte. Langsam zuerst, dann schneller werdend, ließ er den Kübel in seinen Händen kreisen und schwingen und hielt ihn dann mit ausgestreckten Händen über dem Tisch an. Eine der Weisen schlug auf den Boden und verursachte einen Regen der farbigen Stäbchen. Zu Shanns Erstaunen regneten sie auf die Platte hinab und formten ebenfalls ein Muster, allerdings ein anderes als das vorherige. Der unsichtbare Vorhang zwischen ihm und den Fremden löste sich auf. Die Verständigung kehrte zurück. So also sei es! sagte eine der Weisen und hielt ihre vierfingerige Hand über die geordneten Stäbchen. Was gelesen ist, ist gelesen. Das war wieder eine Art Formel. Die anderen antworteten im Chor: Was gelesen ist, ist gelesen! Den Träumern der Traum! Der Sinn des Traumes ergibt den Sinn des Lebens. Wenn der Traum der Träumer falsch leitet, ist alles verloren. Wer sollte die Weisheit der Alten anzweifeln können! fragte eine der drei Weisen. Wir sind jene, die ihre Botschaften zu lesen vermögen. Sie geben uns einen merkwürdigen Rat – dir, Mensch, die Straße zum Vorhang der Illusionen zu zeigen. Zum erstenmal wird also ein Mann diesen Weg gehen, ein Mann, der niemals zweckgebunden
träumt und der Lüge nicht von Wahrheit unterscheiden kann – und der nicht den Mut aufbringt, diese Wahrheit der Träume zu erkennen. Nun gut, versuche es – wenn du kannst! Da war eine Spur von Spott in der lautlosen Stimme, kombiniert mit etwas anderem – stärker als Abneigung, aber nicht so konzentriert wie Haß. Jedenfalls war es kein freundliches Empfinden. Sie hielt ihm die offene Hand entgegen, und Shann sah, daß in ihr ein Medaillon lag – ein Medaillon, wie Thorvald eins besaß. Shann zögerte einen Augenblick, dann wurde es schon schwarz um ihn. Es war, als habe man ihn in die dunkelste Nacht getaucht, die er je erlebt hatte. Es wurde heller. Das Licht schimmerte grünlich, als dringe es durch Wasser. Die Nischenwände mit den Schädeln waren nicht mehr vorhanden. Das merkwürdige Rundgebäude war verschwunden. Er machte einige Schritte. Seine Stiefel sanken tief in den losen Sand ein. So war der Sand am Strand der Insel gewesen, aber er war davon überzeugt, nicht mehr auf der Insel zu sein. Auch nicht mehr in dem Gebäude, wenn sich über ihm auch wieder eine hohe Decke spannte. Die Quelle des grünen Lichtes lag links. Innerlich widerstrebend drehte er sich in diese Richtung und
starrte gegen einen grünlichen Vorhang nebelartiger Materie. Strahlen und Nebel? Der Ursprung mußte oben unter der Kuppel liegen. Ein Vorhang, durch den er treten mußte? Seine Sinne sträubten sich dagegen, aber er schritt voran, auf den grünen Vorhang zu. Er mußte ihn durchqueren. Schützend hob er die Hände und legte sie vor das Gesicht. Aber der Nebel oder das Gas hinterließ keine Spur von Feuchtigkeit. Es war warm und ohne Ende. Er schritt weiter. Das einzige Reale schien ihm der Sand unter seinen Füßen zu sein. Als er keiner Gefahr begegnete, wurde er wieder zuversichtlicher. Sein Herz begann langsamer zu schlagen, und er dachte mit keinem Gedanken mehr daran, das Messer oder den Strahler zu ziehen. Wo er war, konnte er nicht ahnen. Auch wußte er nicht, warum er hier war. Aber dieser Ausflug hatte einen ganz bestimmten Sinn – und die Warlocker steckten dahinter. Das war jedenfalls sicher. Er begann zu ahnen, daß ihm eine Art Prüfung bevorstand. Eine Höhle mit einem grünen Vorhang – seine Erinnerung erwachte plötzlich. Thorvalds Traum! Er also erlebte den Traum des Offiziers! Für einen Moment kam ihm der Gedanke, Thorvald klettere nun vielleicht irgendwo auf einem schädelförmigen Felsen herum und versuchte, in die leeren Augenhöhlen einzudringen.
Der grüne Nebel hörte nicht auf. Shann war mitten drin und wußte nicht mehr, wo er sich befand. Schon längst hatte er es aufgegeben, die inzwischen vergangene Zeit abzuschätzen. Durst und Hunger verspürte er nicht, auch fühlte er keinen Kräfteschwund. Im Gegenteil: er hatte sich selten so frisch und stark gefühlt. War alles nur ein Traum? Wenn ja, dann mußte er bald Lüge von Wahrheit unterscheiden. Das war der Test! Was war Lüge, was war Wahrheit? Er wußte ja nicht einmal die Richtung, in der er sich bewegte. Vielleicht lief er im Kreis. Er schritt immer weiter, weil ihm keine andere Wahl blieb. Der Sand zu seinen Füßen machte saugende Geräusche. Wenn er wenigstens einen richtigen Weg fände, der ihm einen Anhaltspunkt gäbe ...! Und dann fingen seine Ohren ein winziges Geräusch auf. Sand rieselte. Er war nicht mehr allein.
13 Der neblige Vorhang war nicht etwa ruhig. Er wallte hin und her und enthüllte schließlich eine schattenhafte Gestalt, die Freund oder auch Feind sein mochte. Shann war stehengeblieben. Aufmerksam beobachtete er den Schatten. War es ein Warlocker? Irgendein anderer Gefangener? Thorvald vielleicht? Der Schatten verschwamm wieder, als sei er nie dagewesen. Shann ließ sich auf die Knie nieder und kroch weiter. Vor ihm war wieder das Geräusch schleichender Schritte. Hatte der andere ihn auch gehört und suchte ihn? Am liebsten hätte Shann gerufen, aber er wagte es dann doch nicht. Er hielt an. Ja, da war es wieder. Das Geräusch war nun lauter geworden. Jemand kam auf ihn zu. Shanns Hand lag auf dem Griff des Strahlers. Am liebsten hätte er das Bündel lähmender Energie einfach in den Nebel vor sich gerichtet und auf einen Zufallstreffer gehofft, aber irgend etwas hielt ihn davon ab. Dann sah er wieder den Schatten, der geradewegs auf ihn zukam. Die Figur wurde deutlicher. Ja, es war ein Terraner. Das konnte Thorvald sein. Er entsann sich, welcher Art ihre Trennung gewesen war, und verhielt sich abwartend. Der Schatten streckte den Arm aus, als wolle er den
wallenden Nebel zerteilen. Dann aber zuckte Shann zusammen, denn die Bewegung des anderen hatte mitten in dem endlosen Vorhang eine Art Lichtung geschaffen. Er stand dem Fremden gegenüber. Es war nicht Thorvald. Eisige Furcht überkam Shann, als er den anderen erkannte, und er begann zu hoffen, daß das Unglaubliche und Unmögliche nicht wahr sein konnte. In der Hand des anderen war eine Peitsche, zum Schlag erhoben. Die breite, halb zerschlagene Nase saß unter kleinen, bösen Augen. Der Streifschuß eines Blasters hatte das eine Ohr verbrannt. Einen Augenblick noch, dann würde die Peitsche einen blutigen Striemen über Shanns Schulter ziehen – und dann würde Logally erbarmungslos lachen, bis ihm die Tränen kamen. Shann schüttelte den Kopf. War er denn wieder in den Höhlenbars von Tyr? Waren die längst vergessenen Zeiten zurückgekehrt? War er denn noch der ängstliche junge Mann, der sich von Logally terrorisieren ließ? Von Logally, der seit fünf Jahren tot war? Shanns Augen waren weit aufgerissen, als Logally zuschlug. Brennender Schmerz zuckte über seine Schulter. Das war der Beweis dafür, daß seine Augen ihn nicht trogen. Logally war Wirklichkeit, stand vor ihm.
Logally trat zurück und holte zum zweiten Schlag aus. Shann stand einem Mann gegenüber, der seit fünf Jahren nicht mehr lebte. Oder stand er etwa nur einem Phantom gegenüber? Logally war das Schreckgespenst seiner Jugend, nun von den Zauberern von Warlock in die Gegenwart zurückgerufen. Lüge und Wahrheit ... Er mußte es entscheiden. Logally war tot, also war dieser Traum eine Lüge – mußte es sein! Shann schritt auf Logally zu. Seine Hände hingen locker herab und bewegten sich nicht mehr in der Nähe des Strahlers. In den Augen seines Feindes sah er das gefährliche Funkeln, das unmißverständlich darauf hindeutete, daß der zweite Schlag mit der Peitsche unmittelbar bevorstand. Der Schlag kam. Die Schnur wand sich um Shanns Körper – und wurde zurückgezogen. Logally holte zum dritten Schlag aus. Shann schritt weiter und hob eine Hand, nicht um den anderen zu schlagen, sondern als wolle er ihn einfach beiseiteschieben. In seinem Gehirn war immer nur der eine Gedanke, und er wiederholte sich ständig: dies ist nicht Logally! Es kann nicht Logally sein, denn Logally ist tot. Es ist Zauberei, Illusion, mehr nicht! Der dritte Schlag kam nicht. Shann war wieder allein. Der Nebel schloß ihn wieder ein. Aber der Schmerz an der Schulter blieb. Shann blieb stehen
und schob die Bluse beiseite. Auf seiner Haut zeichnete sich der blutige Striemen deutlich ab. Die Erkenntnis reifte in ihm. Solange er an Logally geglaubt hatte, war er auch eine Realität gewesen und damit auch der Schlag mit der Peitsche. Aber dann, als er das Phantom als solches erkannt hatte, existierte Logally nicht mehr. Ebenso wenig wie die Peitsche. Shann erschauerte und wagte nicht, daran zu denken, was noch vor ihm liegen mochte. Weitere Visionen und Materie annehmende Alpträume? Er hatte in der Vergangenheit oft von Logally und seinen Grausamkeiten geträumt, aber auch noch von anderen und vielleicht schlimmeren Dingen. Mußte er ihnen allen gegenübertreten? Und warum? Nur um seine weisen Wärter zu amüsieren? Oder wollten sie nur bewiesen sehen, daß er ein Narr war, wenn er ihre Macht herausforderte? Woher wußten sie von seinen Alpträumen? War er es nicht vielleicht selber, der seine heimlichen Ängste in den geheimnisvollen Nebel projizierte und ihnen den Anhaltspunkt gab? Vielleicht war sogar dieser grüne Vorhang ein Traum. Ein Traum innerhalb des Traumes ... Shann legte die Hand vor die Augen, aber tief in seinem Innern fühlte er den Drang, seine Aufgabe zu vollenden, was immer diese Aufgabe auch sein mochte.
Nun war er vorbereitet. Mochte das nächste Phantom Gestalt annehmen ... Langsam schritt er weiter und wartete auf die nächste Begegnung. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Aber dann mußte er erkennen lernen, daß es auch andere Illusionen gab, die nichts mit einer Gefahr zu tun hatten. In der Luft über ihm war ein Flattern, dann ein schriller Schrei, der ihm das Herz zusammenzog. Fast unbewußt streckte er die Hand aus und pfiff zwei Töne. Ein winziger Schatten senkte sich auf seine Hand nieder. Der eine Flügel lahmte; er war niemals geheilt. Dann hockte der kleine, bunte Seraph in seiner Hand und sah ihn aus seinen zwei blanken Augen voller Vertrauen an. »Trav!« rief er aus und kraulte die Federn der winzigen Kreatur zärtlich, deren Krallen auf seiner rauhen Hand nach einem festen Halt suchten. Shann setzte sich in den Sand und wagte kaum zu atmen. Trav war wieder da! Niemals hatte er gehofft, seinen kleinen Liebling wiederzusehen. Wie glücklich durfte er sich schätzen. Aber auch Glück kann schmerzhaft sein, erkannte er. Genauso schmerzhaft wie der Peitschenhieb Logallys. Logally! Shann erschauerte. Wie konnte er sich wünschen,
daß Trav wieder verschwände, weil er nur eine Illusion war? Der kleine Vogel war sein einziger Freund gewesen, und er hatte ihn gehegt und gepflegt, bis er eines Tages in seinen Händen gestorben war. Er bedeckte das Gesicht mit den nun wieder leeren Händen. Eine Vision verschwinden zu sehen, die eine Gefahr bedeutete – das war nicht schwer. Aber einen Traum aufzugeben, der ein Teil der Glückseligkeit war, das bedeutete schon ein schweres Opfer. Langsam richtete er sich auf und setzte taumelnd seinen Weg fort. Hatte denn dieser grüne Nebel kein Ende? Konnte er endlos laufen? Wie lange weilte er nun schon in dieser Höhle der Illusionen? Wieder hörte er Schritte, aber sie wurden von einem anderen Geräusch begleitet, das sich nicht sofort identifizieren ließ. Ja, es war so, als singe jemand. Shann konnte sich nicht entsinnen, jemals jemand so singen gehört zu haben. Das konnte keine Erinnerung aus seiner Vergangenheit sein. Trotzdem war er fest entschlossen, auch mit dieser Vision schnell Schluß zu machen. Die Schritte hörten auf, nicht so der Gesang. Es war schwer, die Worte zu unterscheiden, aber schließlich gelang es Shann, den sich immer wiederholenden Text zu verstehen.
... wo der Wind zwischen den Welten weht und die Sonnen im Dunkel des Raumes schweben, dort hat der Mensch noch seine Macht und sollte sie gebrauchen ... Die Stimme war heiser und gebrochen. Aber der Mann sang den Text immer wieder, von tiefen und hastigen Atemzügen oft daran gehindert. ... wo der Wind zwischen den Welten weht ... Der Gesang endete abrupt. Shann war wieder in eine Lichtung mitten im Nebel getreten und sah einen Mann im Sand sitzen, die Fäuste tief in den losen Kies vergraben. Die rotumrandeten Augen blickten starr vor sich hin. »Thorvald!« Shann kniete vor dem Offizier nieder. Ihre letzte Begegnung war vergessen. Thorvald hörte auf zu singen. Mühsam versuchte er, Shann anzusehen. Dann lachte er leise. »Garth!« Shann zuckte zusammen, aber ihm blieb keine Zeit, den Irrtum des anderen zu korrigieren. Thorvald fuhr fort zu sprechen: »Du hast es also geschafft, mein Junge. Ich habe es ja gewußt. Man muß nur arbeiten, dann klappt es immer. Zugegeben, da sind einige dunkle Punkte in deinen Papieren, aber die lassen sich beseitigen, wenn
man sich entsprechende Mühe gibt. Die Thorvalds sind schon immer in der Forschungsabteilung gewesen und haben nie in einer anderen Truppe gedient. Unser Vater wäre sehr stolz ...« Die Stimme war leiser geworden und das Lächeln von seinem Antlitz verschwunden. In den grauen Augen schimmerte jetzt etwas anderes. Ganz unerwartet zog er die Hände aus dem Sand und stürzte sich auf Shann. Wie Krallen legten sich seine Finger um dessen Kehle. Shann wurde von dem Überfall so überrascht, daß er rücklings zu Boden fiel. Thorvald kniete auf ihm und versuchte, ihn zu erwürgen. Alle alten Tricks hatte Shann noch nicht vergessen. Eine kurze Drehung seines Körpers, ein Ruck – und Thorvald flog in den Sand. Shann nutzte die Gelegenheit und kniete nun seinerseits auf dem Offizier. Er hielt ihm die Arme fest und versuchte, ihn in die Gegenwart zurückzurufen. »Thorvald! Ich bin Lantee, Shann Lantee!« Sein Name wurde von unsichtbaren Wänden zurückgeworfen. Dumpf hallte das Echo wider. »Lantee ...? Nein ... Throg! Lantee – Throg – du hast meinen Bruder ermordet!« Aber Thorvald wehrte sich nun nicht mehr. Er hatte aufgegeben. Shann lockerte seinen Griff und drehte den anderen um. Nun starrte Thorvald ihn an, Sand
in den Haaren und die Lippen verschmutzt. Shann wischte den Sand fort. Die Augen des Offiziers starrten ihn an. »Du lebst?« fragte er ungläubig. »Garth ist tot. Du solltest an seiner Stelle tot sein.« Shann zuckte ein wenig zurück, als er den Haß in den Augen des anderen erkannte. Aber dann erlosch der Haß. Erkennen dämmerte in ihnen. »Lantee!« Der Offizier tat ganz so, als sähe er erst jetzt, was geschehen war. »Wie kommst du denn hierher?« »Auf die gleiche Weise wie du. Ich renne hier durch den Nebel und suche einen Ausweg.« Thorvald setzte sich hin. Mit seinen Händen tastete er nach Shanns Arm. »Sie sind – da!« In seiner Stimme war Freude. »Meister der Illusion, diese Warlocker.« »Meisterinnen!« verbesserte Shann. »Einige recht begabte Zauberinnen veranstalten die Vorstellung.« »Hexen? Du hast sie gesehen? Wo? Wer – was sind sie?« In Thorvalds Stimme war wieder die gewohnte Schärfe. »Es sind Frauen, und sie machen das Unmögliche möglich. Hexen ist vielleicht der richtige Ausdruck. Auf der Insel konnte ich eine von ihnen in eine Falle locken, aber dann transportierte sie mich irgendwie ...«
Kurz schilderte er dem Offizier seine Abenteuer. Thorvald nickte langsam. »Du weißt wenigstens, wie du hierhergekommen bist. Ich habe keine Ahnung, was mit mir geschehen ist. Ich schlief auf der Insel ein und wachte hier wieder auf.« Shann betrachtete ihn und wußte, daß er die Wahrheit sprach. Thorvald wußte also nicht mehr, daß er mit dem Boot auf und davon gefahren war. Er besaß keine Erinnerung mehr an jenen Vorfall, der Shann fast das Leben gekostet hätte, wenn er nicht schnell genug untergetaucht wäre. Er entschloß sich, dem Offizier nichts zu verschweigen. Thorvald machte ein erstauntes Gesicht. »Sie haben mich einfach unter Kontrolle genommen«, stellte er fest. »Aber warum? Was tun wir hier? Ist das ein Gefängnis?« Shann schüttelte den Kopf. »Nein, es ist eine Art von Test. Träume, sonst nichts. Illusionen. Für eine Weile glaubte ich, alles hier bestünde aus einen Traum, aber dann fand ich dich.« »Vielleicht ist sogar unsere Begegnung jetzt nichts als ein Traum. Wie sollen wir das wissen?« Thorvald zögerte mit seiner nächsten Frage. »Bist du noch jemand anderem begegnet?« »Ja«, erwiderte Shann, der keine große Lust verspürte, von seinem Abenteuer zu berichten.
»Menschen aus deiner Vergangenheit?« »Ja.« »Ich auch«, sagte Thorvald und veränderte den Ausdruck seines Gesichtes nicht. Shann begann zu ahnen, daß der andere ebenfalls nicht gern über seine Begegnungen sprechen wollte. »Jedenfalls beweist das, daß wir die Illusionen selber schaffen. Vielleicht gelingt es uns auch, sie künftig auszuschalten.« »Und wie?« fragte Shann. »Wenn die Illusionen aus unserer Erinnerung geboren werden, denn es kann nur zwei oder drei geben, die wir gemeinsam haben. Die Throgs oder der Hund in der Schlucht. Sehen wir sie, dann wissen wir Bescheid und verhalten uns entsprechend. Auf der anderen Seite, wenn wir nun zusammen gehen, und einer von uns sieht etwas, das der andere nicht sehen kann, dann sind wir orientiert.« Die Worte des Offiziers klangen logisch und überzeugend. Aber er hatte noch mehr zu sagen: »Ich scheine für die Hexen ein besseres Versuchsobjekt als du zu sein. Ich wurde von ihnen anfangs völlig überrascht.« »Du hast das Medaillon getragen«, erinnerte ihn Shann. »Es kann sein, daß es wie eine Art Empfänger für die geheimnisvollen Kräfte wirkt, mit denen sie operieren.«
»Könnte sein«, entgegnete Thorvald und zog es aus der Tasche. Aber er machte sich nicht die Mühe, es aus dem Tuch zu wickeln. »Nun, in welcher Richtung gehen wir weiter?« Shann zuckte die Achseln. Ohne richtig zu überlegen, sagte er: »Nimm das Medaillon und wirf es in die Luft. Die Hexen machten etwas Ähnliches mit bunten Stäbchen. Vielleicht weist es uns den Weg.« Thorvald grinste. »Warum nicht? Was haben wir schon zu verlieren?« Er wickelte das Medaillon aus dem Tuch, hielt es einen Augenblick in der Hand, ehe er es senkrecht in die Höhe schleuderte. Es kam nicht wieder zurück. Es blieb in der Luft hängen und drehte sich so schnell um sich selbst, daß es die scheinbare Form einer Kugel annahm. Die weiße Farbe verschwand. Das Medaillon wurde grün. Und dann setzte sich die Miniatursonne in Bewegung, fiel aber nicht in eine Kreisbahn um irgendeinen imaginären Mittelpunkt, sondern strebte in gerader Richtung davon. Thorvald stieß einen gedämpften Ruf aus und folgte dem davoneilenden Medaillon. Shann rannte neben ihm. Es war, als liefen sie durch einen mit grünem Nebel gefüllten Tunnel, und ihr seltsamer Führer war nicht gerade langsam. Sie mußten sich anstrengen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Die Hoffnung, aus dieser Höhle zu gelangen und wieder einem Gegner aus Fleisch und Blut gegenüberzustehen, gab ihnen die Kraft zu der Verfolgungsjagd. Einmal mußte auch die ein Ende haben ...
14 »Dort vorn ist etwas!« Thorvald rief es plötzlich, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Auf keinen Fall wollte er den grünen Feuerball aus den Augen verlieren, der sie hierhergeführt hatte. Die Überzeugung, daß die um ihre eigene Achse wirbelnde Scheibe sie an das Ende des wallenden Nebels bringen würde, hatte sich mit jedem Schritt, den sie zurücklegten, weiter gefestigt. Ein dunkler Schatten lag dort vorn, halb von dem grünen Schleier verdeckt. Die grüne Kugel strebte genau darauf zu. Dann wich der Nebel zur Seite und gab den Blick auf einen schwarzen Block frei, der fast acht Meter hoch war und den Weg versperrte. Die beiden Männer blieben ruckartig stehen, denn auch ihr Führer, das Medaillon, hielt an. Die Scheibe drehte sich auch weiterhin um ihre Achse, wurde in ihren Bewegungen schneller und schneller, bis es ganz so aussah, als würden Tausende winziger Feuerfunken von der Zentrifugalkraft in alle Richtungen davongeschleudert. Jene Funken aber, die auf den schwarzen Felsen zufielen, wurden jäh vom Nichts verschluckt. Dieser Felsen war ganz anders als alle, die sie bisher gesehen hatten. Seine Farbe war nicht rötlich oder
braun, sondern schwarz wie die Nacht. Er hätte eine hohe Steinplatte sein können, glatt poliert und als eine Art Denkmal gedacht, aber nur sorgfältigste Arbeit und große Mühe hätten das bewerkstelligen können. Und dafür sahen die beiden Terraner absolut keinen Grund. »Das ist es!« sagte Thorvald und ging näher. Das wirbelnde Medaillon wies eindeutig darauf hin, daß dieser Felsen das vorläufige Ziel ihrer Wanderung durch den grünen Nebel sein mußte. Wie ein ferngesteuertes Schiff hatte es sie bis hierher geleitet. Der Zweck aber blieb den beiden Männern vorerst noch verborgen. Sie hatten gehofft, einen Ausweg aus dem Labyrinth zu finden, statt dessen standen sie nun vor einer soliden Mauer. So sehr sie auch suchten, sie fanden nichts, und ihre Füße berührten nichts als den feinen Sand. »Was nun?« fragte Shann. Sie beendeten ihren kleinen Rundgang und kehrten zu der Stelle zurück, wo das Medaillon seinen irrsinnigen Funkentanz ausführte. Thorvald zuckte die Achseln. Der Eifer war aus seinen Zügen verschwunden, als er auf den glatten Fels vor sich starrte. Im Augenblick sah er sogar recht verzagt aus. »Man hat uns nicht ohne Grund hierher geführt«, stellte er fest, aber seine Stimme klang nicht mehr so überzeugt wie zuvor.
»Uns bleibt keine andere Möglichkeit, als den gleichen Weg zurückzugehen«, erwiderte Shann und zeigte in den wallenden Nebel, der auf sie zu warten schien. »Wir können höchstens versuchen, draufzusteigen.« Er duckte sich ein wenig, als er die Hände vorstreckte, um sie auf die glattpolierte Oberfläche der Steinplatte zu legen. Das Medaillon wirbelte dicht über seinem Kopf. Und als er den Felsen berührte, machte er eine erstaunliche Entdeckung. Er strich mit der Hand über das schwarze Gestein und fühlte plötzlich eine Vertiefung, die er vorher nicht gesehen hatte. Shann spürte die erwartungsvolle Erregung, als er – einer Vermutung folgend – mit der anderen Hand genau senkrecht über seiner Entdeckung weiterforschte – und eine zweite Vertiefung fand. Er sprang hoch und krallte sich in den Felsen, um den letzten Beweis zu erlangen. Und er fand ihn. Einen halben Meter höher war die dritte Stufe, groß genug, um einem Stiefel Platz zu bieten. »Das ist eine Art Treppe«, berichtete er. Ohne Thorvalds Antwort abzuwarten, zog er sich hinauf und begann an dem glatten Felsen emporzuklettern. Die einzelnen Stufen waren so regelmäßig geformt, daß an ihrem künstlichen Ursprung kein Zweifel bestehen konnte. Sie erfüllten also einen ganz bestimm-
ten Zweck. Und dieser Zweck lag oben auf dem Gipfel des Felsens. Was ihn dort oben allerdings erwartete, das konnte sich Shann beim besten Willen nicht vorstellen. Das Medaillon blieb stehen und stieg nicht mit. Shann kletterte an ihm vorbei und geriet damit in einen Bereich größerer Helligkeit. Die Stufen setzten sich fort. Die Kletterpartie war nicht weiter anstrengend, weil die Vertiefungen in dem Felsen in regelmäßigen Abständen eingehauen waren. Endlich erreichte Shann den Gipfel, sah sich um – und griff erschrocken nach einem Halt. Er hatte damit gerechnet, eine Plattform oder so etwas Ähnliches vorzufinden. In Wirklichkeit war er an einem riesigen Kamin hinaufgeklettert, oder an einer Mauer. Der obere Rand dieser Mauer war kaum einen Meter breit – und dahinter war nichts als ein finsterer, bodenloser Abgrund. Selbst der Schein des grünlichen Nebels, der unter der Decke der großen Höhle wallte, konnte diese Finsternis nicht durchdringen. Für einen Augenblick drohte es Shann übel zu werden. Krampfhaft klammerte er sich fest, um nicht in das schwarze Nichts hinabzustürzen. Warum hatte er die Wand besteigen müssen? War sie eine Falle, die ein unbedachter Gefangener ersteigen und dann in die Tiefe stürzen sollte? Welchen Sinn sollte das ha-
ben? Nun, vielleicht sah er als Mensch keinen Sinn in dieser Mauer, die von fremdartig denkenden Wesen errichtet worden war. Von ihnen aus gesehen hatte vielleicht alles einen sehr gut durchdachten Sinn und Zweck. Wäre das nicht der Fall, gäbe es diese Mauer mit den Stufen überhaupt nicht. »Was ist los?« Thorvalds Stimme klang heiser und erregt. »Der Felsen ist nichts als eine Mauer«, gab Shann zurück und hielt sich fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Auf der anderen Seite geht es hinab – soweit ich erraten kann, bis zum Mittelpunkt des Planeten.« »Geht die Leiter weiter?« Shann ärgerte sich, nicht allein auf den Gedanken gekommen zu sein. Mit der linken Hand hielt er sich fest, während er mit der rechten die andere Seite der Mauer untersuchte. Tatsächlich, da war eine Stufe. Aber es würde nicht gerade leicht sein, den festen Halt aufzugeben, den Fuß in die erste Nische zu heben und dabei zu hoffen, daß sich die Leiter auf der anderen Seite fortsetzte. Aber Shann überwand seine Bedenken und tat es. Rittlings saß er einige Sekunden auf der Mauer und wagte nicht daran zu denken, was sie dort unten in der finsteren Tiefe erwartete. Dann begann er hinabzusteigen. Die Stufen kamen in regelmäßiger Folge, und das
war sein einziger Trost. Trotzdem konnte er nicht vermeiden, daß er bei jedem Schritt befürchtete, die nächste Stufe könnte nicht da sein. Dann hing er zwischen der Höhlendecke und dem Nichts, nicht wissend, ob er genügend Kraft besaß, den ganzen Weg zurückzuklettern. Bisher hatte er sich ganz wohl gefühlt, aber nun spürte er zum erstenmal so etwas wie Ermattung. Wie Blei lag die Müdigkeit auf seinen Schultern und drohte, ihn in die Tiefe zu reißen. Mechanisch suchte er nach dem nächsten Halt, fand ihn, stieg weiter in die Tiefe. Über ihm wurde der grüne Schimmer des Nebels schwächer und schwächer. Immer öfter wurde er durch den nachfolgenden Körper Thorvalds verdeckt. War die Tiefe grundlos? Shann schauderte zusammen, als er daran dachte. Er war fest davon überzeugt, daß er nun schon längst tiefer als der Sandboden vor der schwarzen Mauer war. Dort unten gab es nicht den geringsten Schimmer eines Lichtes. Es war, als sei er erblindet. Aber der Blinde entwickelt mit der Zeit eine Art sechsten Sinn, mit dem er Dinge wahrnimmt, die ein normaler Mensch weder fühlt noch sieht. So ähnlich erging es ihm nun auch. Er begann einfach zu ahnen, daß mit seiner Umgebung eine Veränderung vor sich ging. Mit aller Gewalt klammerte er sich in die Stufen
der Wand, aber er wußte plötzlich, daß es in seinem Rücken keine andere Wand gab. Er stieg in einen großen Raum hinab, in eine Höhle, die fast grenzenlos sein mochte. Je tiefer er kam, desto stärker wurde diese Gewißheit. Hätte er jetzt sehen können, so war er überzeugt, würde er eine riesige Höhle ohne begrenzende Wände erblickt haben. Er mußte sich auf seine Ohren verlassen, wenn er schon nichts sah. Und da war auch ein Geräusch, das plötzlich in sein Bewußtsein vordrang. Ein gleichmäßiges Murmeln. Wasser! Nein, es war nicht die gleichmäßig sich wiederholende Brandung von Meereswellen gegen felsigen Strand, sondern das Murmeln eines schnell dahineilenden Stromes. Das Wasser mußte unter ihm sein. So wie seine Müdigkeit größer geworden war, seit er den grünen Nebel verließ, so stieg auch plötzlich sein Hungergefühl und der Durst. Wasser! Er vergaß, daß es ungenießbares Seewasser sein konnte – wenn es nur Wasser war, mit dem er sich erfrischen konnte! Oben war der letzte grüne Schimmer verschwunden. Auch war es kälter geworden. Seine Glieder wurden steif, und nur mit Mühe gelang es ihm, sich in den Vertiefungen festzuklammern und nicht den Halt zu verlieren. Immer lauter wurde das Wassergeräusch. Weit konnte es bis zu dem unterirdisch dahinströmenden Gewässer nicht mehr sein.
Sein Fuß rutschte plötzlich aus der feuchten Stufenritze, der andere folgte durch den Ruck. Für einen langen und schrecklichen Augenblick hingen Shanns Füße über dem Unbekannten. Nur die verkrampften Finger in der oberen, noch trockenen Stufe hielten seinen schwerer werdenden Körper. Dann verließen ihn die Kräfte. Die Finger rutschten aus dem Halt, und er stürzte ab. Er stieß einen lauten Schrei aus, als er zu fallen begann, aber dann verschloß ihm das eisige Wasser den Mund. Für zwei oder drei Sekunden war er wie gelähmt, aber dann siegte der Wille zum Leben. Mit Armen und Beinen begann er zu rudern, bis er den Kopf aus der Flut recken konnte, um nach Luft zu schnappen. Er schwamm tatsächlich in einem reißenden Strom. Unwillkürlich entsann er sich seines ersten ähnlichen Abenteuers. Damals hatte ihn auch ein unterirdischer Fluß in den runden Kuppelbau der Warlocker getragen. Vielleicht war dies derselbe Fluß, begann er zu hoffen. Dann würde er zum Ausgangspunkt seiner sinnlosen Reise zurückkehren. Er ließ sich einfach vom Strom davontragen und sorgte nur dafür, daß er den Kopf über Wasser hielt. Irgendwo hinter ihm klatschte etwas Schweres ins Wasser. »Thorvald!« rief er, so laut er konnte. »Lantee?« ertönte die Antwort. Thorvald prustete
und machte heftige Schwimmgeräusche, während er den Vorsprung Shanns verringerte und ihn schließlich einholte. Das Wasser war nicht gerade sehr salzig, aber es schmeckte abgestanden und brackig. Trotzdem löschte Shann seinen Durst, indem er einige Schluck davon trank. An der unsichtbaren Decke oder an den Wänden des Flusses gab es keine Leuchtpflanzen, die ein wenig Licht gespendet hätten. Shanns Hoffnungen, auf dem Weg zu der runden Halle zu sein, schwanden immer mehr. Auch wurde die Strömung immer stärker. Es kostete die beiden Männer Mühe, den Kopf über Wasser zu halten. Es kam Shann so vor, als verstärke sich das Rauschen. War es überhaupt noch das gleiche Rauschen wie vorher? Ihm blieb kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn der kochende Gischt warf ihn hin und her. Immer seltener nur hatte er Gelegenheit, die Lungen voll Luft zu pumpen. Und dann schoß er plötzlich mit einem unvorstellbaren Schwung in grellste Helligkeit. Die Wogen spülten ihn auf einen flachen Felsen, wo er kraftlos und mit gestreckten Gliedern liegenblieb. Doch schon Sekunden später kroch er mühsam und halb ertrunken Zentimeter um Zentimeter den Felsen hinauf, möglichst weit weg von dem schäumenden Gischt.
War das noch eine Halluzination, eine Illusion? War es Wirklichkeit? Shann wußte es nicht. Er verspürte im Augenblick auch keine Lust dazu, das Geheimnis zu lüften. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, Finger krallten sich in sein Fleisch. Erschrocken fuhr er herum. Thorvald stand gebeugt über ihm. Er atmete erleichtert auf und setzte sich mit einem Ruck hin. Seine Haare klebten am Schädel. »Alles in Ordnung?« fragte er. Shann richtete sich auf. Er legte die Hände vor die schmerzenden Augen. An allen Teilen seines Körpers spürte er Schrammen und Beulen, aber es schien nichts gebrochen zu sein. »Ich denke schon. Wo sind wir?« Thorvalds Lippen verzogen sich zu einer Grimasse, die sicherlich ein Lächeln sein sollte. »Soweit es unsere Karten betrifft, befinden wir uns auf unerforschtem Gebiet. Sieh dich doch nur um.« Sie waren auf einem kleinen Stück Strand, mehr auf einem Riff. Nur in winzigen Buchten zwischen den Felsen hatte sich Kies angesammelt. Das Gestein hatte eine rötliche Farbe, die an getrocknetes Blut erinnerte. Bizarr geformte Gebilde aus Fels widerstanden der heftigen Brandung vielleicht schon seit Jahrtausenden. Sie hockten auf einem dreieckig geformten Felsen-
eiland. Gegenüber der einen Spitze kam mit ohrenbetäubendem Getöse ein Strom aus den Felsen einer größeren Insel und teilte sich dann, um zu beiden Seiten des Riffs vorbeizutosen. Shann starrte auf den breiten Wasserstrahl, der unter der Insel hervorquoll, und spürte, wie seine nassen Haare im Nacken sich aufrichteten. Neben ihm ertönte ein hartes Lachen. »Ja, mein Junge, da kamen wir heraus! Was hältst du von der Rückreise?« Shann schüttelte entsetzt den Kopf und bereute die heftige Bewegung sofort in der gleichen Sekunde. Ihm wurde schwindlig. Die Ereignisse hatten sich zu sehr überstürzt. Im Augenblick war er nur darüber froh, nicht mehr unter der Erde zu weilen, sondern wieder den Himmel von Warlock sehen und die wärmenden Strahlen der Sonne spüren zu können. Er drehte sich langsam um, denn er wollte wissen, wie es hinter ihnen aussah. Das Wasser zu beiden Seiten ließ die Vermutung stärker werden, daß sie wieder auf einer Insel waren. Warlock, dachte er, scheint für Terraner nichts als eine Kette von Inseln zu sein, von denen es kein Entrinnen mehr gibt. Die steilen Felsen ermutigten nicht gerade dazu, sie zu besteigen. Shann betrachtete sie mit Unwillen. Schroff stiegen sie zum Himmel empor und versperrten die Sicht.
»Da hinaufklettern ...« begann er und stockte. »Entweder klettern – oder schwimmen«, stellte Thorvald nüchtern fest. Aber seine Stimme verriet keine besondere Eile, das eine oder andere zu tun. Es gab keinerlei Vegetation auf dem Riff. Auch von den Klackklack war nichts zu sehen. Sicher, Shanns Durst war verschwunden, dafür hatte sich das Hungergefühl verstärkt. Und der Hunger war es dann auch schließlich, der ihn vorantrieb. Die steilen Felsen versprachen keine Hilfe, aber Shann entsann sich der Wolfis, deren Jagd am Strand niemals erfolglos gewesen war. Langsam richtete er sich auf und taumelte dem schäumenden Gischt entgegen. Vielleicht fand er einen Tümpel, in dem sich eine Krabbe oder etwas Ähnliches aufhielt. So kam es, daß Shann eine Art Pfad entdeckte, der um die Felsen herum zur anderen Seite der Insel führte. Wenn es eine Insel war ... Der Gischt machte den Weg glitschig und unsicher, aber er hatte auch dafür gesorgt, daß es stille Tümpel und wassergefüllte Nischen gab. Auch hatte er Tang gegen die Felsen geworfen. Shann rief Thorvald. Die beiden Männer nahmen sich bei den Händen und fanden so genügend Sicherheit, dem glitschigen Pfad zu folgen. Zweimal entdeckten sie in Tümpeln merkwürdig geformte Lebewesen, die sie fingen, töteten und roh verzehrten.
Das Fleisch war nicht besonders schmackhaft, aber es stillte ihren ersten Hunger. Und dann entdeckte Thorvald in einer Felsennische vier grünlich gefärbte Eier von der doppelten Größe einer Männerfaust. Die Schale bestand aus einer lederartigen Haut, und es kostete die beiden Männer viel Mühe, sie zu durchstoßen. Shann schloß die Augen, als er seinen Anteil hinunterschluckte. Obwohl er sich nicht erbrach, erwartete er doch, daß ihm mit der Zeit schlecht würde. Derart gestärkt, setzten sie ihren Weg fort. Es war kein richtiger Pfad, dem sie folgten, sondern mehr eine willkürliche Passage durch die Felsen. Aber sie entfernten sich ständig vom Wasser. Und endlich erreichten sie das Ende des Weges. Ein Felsen – nicht sehr hoch – versperrte ihn. Shann sah darüber hinweg und duckte sich. »Wir bekommen Gesellschaft«, flüsterte er. Thorvald kam herbei. Zusammen schauten die beiden Männer über die Barriere und erblickten eine Szene, die ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Graublauer Sand, der gleiche Sand, der auch in der Höhle der grünen Schleier lagerte, streckte sich wie ein Teppich aus und ragte weit ins grünblaue Meer hinein. Shann zweifelte keinen Augenblick daran, daß vor ihnen die Küste des Westmeeres lag. Wie von
zwei festgefügten Mauern wurde die sandige Landzunge von schwarzen Felsen eingeschlossen, die bis weit ins Meer hineinragten und aus dem gleichen Material zu bestehen schienen wie der schwarze Block oben in der Höhle. Die Mauern waren viel zu regelmäßig geformt, um natürlichen Ursprungs zu sein. Wie auf einer Bühne rollte vor den Augen der beiden Terraner nun auf der Sandbank ein Schauspiel ab, das nicht seinesgleichen haben konnte. Eine der Hexen von Warlock schritt hochaufgerichtet und mit vor der Brust gefalteten Händen auf den Strand zu. Sie kam aus dem Meer, und das Wasser reichte ihr kaum bis zu den Knien. Nicht weit hinter ihr folgte etwas. Aber das schwimmende Etwas war kein Warlocker. Es war offensichtlich, daß die bunt schimmernde Hexe dieses Etwas in ihren Bann geschlagen hatte und es auf unbekannte Weise dirigierte. Am Strand standen zwei weitere Warlocker und beobachteten ihre Artgenossin mit sichtlichem Interesse. So etwa mochten Schüler dem Beispiel eines Lehrers folgen, der ihnen etwas beizubringen trachtete. »Wie Drachen sehen sie aus!« Shann sah seinen Gefährten fragend an. Thorvald erklärte flüsternd: »Eine alte Legende der Erde. Eigentlich müßten sie
nur statt ihrer Beine einen Schlangenschwanz haben, aber die Köpfe – ja, die Hexen sind Drachen.« Drachen! Shann gefiel das Wort, irgendwie schien ihm die Bezeichnung für die Hexen passend. Besonders für jene, die immer weiter auf den Strand zuschritt, dabei rückwärts gehend und ihren verhexten Gefangenen an unsichtbaren Fäden mit sich ziehend. Und dann konnten die Terraner den Gefangenen erkennen. Es war eines jener Ungeheuer, von denen sie eins nach dem Sturm auf dem Festland hatten sterben sehen. Deutlich zog es den gabelförmig geteilten Schwanz nach sich, als es ins flache Wasser kroch. Das Monster hatte die Augen starr auf die gefalteten Hände seiner Überwinderin gerichtet und kroch weiter dem Land entgegen. Die Hexe blieb stehen, als ihr Opfer oder Gefangener – Shann war sicher, daß das Monster das eine oder andere war – auf dem Sand angelangt war. Mit einer Bewegung, die so schnell war, daß man ihr kaum mit den Augen folgen konnte, ließ sie die Hände sinken. In gleicher Sekunde schien der Gabelschwanz zum Leben zu erwachen. Die scharfen Zähne schlugen aufeinander. Das Ungeheuer richtete sich auf und wurde zur Verkörperung des Bösen. Ihm gegenüber wirkte die zierliche Gestalt der Hexe winzig und zerbrechlich.
Keiner der Warlocker machte eine Bewegung, um dem drohenden Unheil zu entfliehen. Es war reiner Selbstmord, dachte Shann, als die Klauen des Gabelschwanzes den Sand in die Höhe wirbeln ließen. Die Hexe, die aus dem Meer gekommen war, blieb reglos stehen, aber eine der anderen warf blitzschnell ihren Arm hoch. Deutlich war zwischen ihren Fingern eine kleine weiße Scheibe zu sehen. »Das Medaillon!« hauchte Thorvald. »Das gleiche Medaillon, wie ich eins hatte. Ja, so muß es sein!« Sie waren zu weit von den Geschehnissen entfernt, um sicher zu sein, aber mit Bestimmtheit erkannten sie einen kleinen, runden und weißen Gegenstand. Die Hexe schwang den Arm hin und her. Der Gabelschwanz folgte den Bewegungen zuerst nur mit den Augen, bis der ganze Kopf ihnen willig zu folgen begann. Es war, als habe man das Ungeheuer in Hypnose versetzt. Dann aber geschah etwas, das nicht vorgesehen war. Die drei grazilen und menschenähnlichen Drachen zogen sich zurück. Der Gabelschwanz folgte ihnen in immer gleichbleibendem Abstand, von dem Anblick des Medaillons gebannt und zum Gehorsam gezwungen. Da gab der Sand unter den Füßen der einen Hexe nach, sie strauchelte und stürzte. In hohem Bogen entglitt das Medaillon ihren Fingern.
Der Gabelschwanz nutzte die unverhoffte Chance. Mit einem schnellen Satz, den man ihm niemals zugetraut hätte, sprang er vor und schnappte nach dem wirbelnden Medaillon – fing und verschluckte es. Dann richtete er sich vor der gestürzten Drachenhexe auf und streckte die krallenbewehrten Klauen nach ihr aus. Die beiden anderen waren zu weit entfernt, um eingreifen zu können. Warum Shann handelte, vermochte er später niemals zu sagen. Er hatte keinerlei Veranlassung, den Warlockern zu helfen, die ihm so übel mitgespielt hatten. Und doch setzte er mit einem kühnen Sprung über die schützende Felsenbarriere, landete im Sand, raffte sich auf und rannte auf die Gruppe zu. Der Gabelschwanz hielt in seiner Bewegung inne. Er konnte sich allem Anschein nach nicht entscheiden, welches Opfer das lohnendere sei. Shann zog sein Jagdmesser.
15 »Ayee!« Unwillkürlich drängte sich der alte Kampfschrei, mit dem sich die Freunde auf Tyr versammelten, auf Shanns Lippen. Er war eine Herausforderung an das Monster, aber nicht weniger auch an die Hexen, Nixen oder Drachen, wie immer man sie auch nennen wollte. Der Gabelschwanz wollte gerade springen, aber der schrille Schrei ließ ihn zögern. Shann hielt das Messer stoßbereit. Tänzelnd glitt er ein wenig nach rechts. Das Monster war gepanzert, an der Seite genauso wie vorn. In dieser Hinsicht erinnerte es ihn an die Riesenkrabbe, die er mit den Wolfis erlegt hatte. Die Wolfis ...! Ja, hätte er seine beiden Tiere jetzt bei sich, dann würde ihm der Kampf nicht so schwerfallen. Sie waren auch mit dem Throg-Hund fertig geworden. So aber war er allein. Die roten Augen des Monsters waren seinen Bewegungen gefolgt und ließen ihn nicht los. Vielleicht waren sie die verwundbare Stelle des gepanzerten Feindes. Zwischen der Panzerung spannten sich die Mus-
keln zum Sprung. Shann bereitete sich darauf vor, blitzschnell den Standort zu wechseln. Unbewußt zielte sein Messer bereits auf das rote, tückisch blinzelnde Auge. Dann aber sah er in der Ferne etwas, das ihn für Sekunden ablenkte. Ein brauner Schatten huschte durch die Klippen und kam auf ihn zugeeilt. Er wollte seinen eigenen Augen nicht trauen, besonders dann nicht, als dem ersten braunen Schatten ein zweiter folgte, der genauso aussah. Mit einem heiseren Knurren griff Taggi an. Der Gabelschwanz hatte den neuen Gegner längst gesehen und machte Front gegen ihn. Da der Wolfi das Monster zu umkreisen begann, kam dieses nicht mehr zur Ruhe. Togi griff von der anderen Seite an. Noch nie zuvor hatten die beiden Wolfis so gut zusammengearbeitet und sich nach Shanns geheimen Wünschen gerichtet. Es war, als hätten sie diesmal seine Gedanken erraten. Der Gabelschwanz war die gefährlichste Waffe des Tieres. Beine, Muskeln und gepanzertes Fleisch lagen halb vergraben im Sand, als der Schwanz mit einer blitzschnellen Bewegung einen Schauer feinster Körnchen Wolfis und Terraner entgegenschickte. Shann wich zurück, die Hände schützend vor die Augen gelegt. Die Wolfis umkreisten das Monster und versuchten, in seinen Rücken zu gelangen. Viel-
leicht vermuteten sie den schwachen Punkt des Gegners im Genick. Aber der gepanzerte Kopf folgte ihren Bewegungen. Der Gabelschwanz war wachsam. Immer wieder peitschte er den Sand auf, um beim letztenmal Taggi zu erwischen. Aufheulend wurde der Wolfi ein Stück landeinwärts geschleudert. Togi stieß einen halb erstickten Wutschrei aus und raste auf das Monster zu. Ohne an ihre eigene Sicherheit zu denken, sprang sie und landete genau auf dem Schwanz des Ungeheuers und preßte ihn mit ihrem Gewicht tief in den Sand hinein. Shann sah es mit tränenden Augen. Der Sand darin brannte. Aber blitzschnell zuckte die Erkenntnis in ihm hoch, daß der Gabelschwanz im Augenblick vollauf damit beschäftigt sein mußte, seine wertvollste Waffe – den Schwanz – wieder freizubekommen. Togi schlug und biß um sich und versuchte, eine schwache Stelle in der Panzerung zu finden. Shann erkannte die Chance und sprang mit gezücktem Messer vor. Mit der freien Hand griff er in das lederartige Fleisch unterhalb des Kopfes und stieß zugleich mit der anderen das Messer tief in den ungeschützten Hals. Er suchte die Wirbel des Rückgrats. Die Spitze des Messers stieß gegen Knochen, als das Tier den Kopf zurückwarf und die scharfen Zähne zubissen. Shanns Hand und das Messer gerie-
ten für einen Augenblick in eine gefährliche Falle, dann wurde er durch die Wucht des Schlages zur Seite geschleudert. Sein Blut vermischte sich mit dem des Ungeheuers. Nur die Tatsache, daß Togi auf dem Schwanz des Untieres liegenblieb und sich in ihn verbiß, rettete Shann davor, erschlagen zu werden. Er zögerte keine Sekunde, die unverletzte Faust in das Auge seines Gegners zu treiben. Der Gabelschwanz zuckte zusammen und ließ von Shann ab, der sich sofort zurückwarf und sich so in Sicherheit brachte. Das Monster bewegte zuckend den Kopf und versuchte, das tief im Hals steckende Messer loszuwerden. Dabei war ihm die Nackenpanzerung hinderlich. Die Stöße hatten nur zur Ursache, daß das Messer immer tiefer eindrang. Das Monster stieß ein schrilles Heulen aus und warf mit den Klauen Sandwolken in die Luft. Shann zog sich weiter zurück und preßte die blutende Hand schutzsuchend gegen die Brust. Endlich fühlte er den Felsen an seinem Rücken und richtete sich daran auf, um mit brennenden Augen den erlegten Gegner zu betrachten. Jemand kam quer über den Strand gelaufen. Ohne die Warlocker zu beachten, ging Thorvald zu Shann. Er nahm die verwundete Hand und untersuchte die Wunden. »Sieht nicht gut aus.«
Shann hörte die Worte und erfaßte ihren Sinn, aber seine Umgebung begann, vor seinen Augen zu verschwimmen. Er spürte den Schmerz im Arm. Wie rasende Nadelstiche drangen sie bis in den Kopf vor und ließen rötliche Wolken explodieren. Und heraus aus diesem roten Nebel vor Shanns Augen materialisierte eine kleine weiße Scheibe. Shann sah sie. Mit letzter Kraft hob er den gesunden Arm und schlug zu. Er hatte Glück. Er traf die Scheibe, die in hohem Bogen davonflog. Inzwischen konnte er wieder besser sehen. Aber Thorvald benahm sich merkwürdig. Stand er wieder unter dem Einfluß der Hexen von Warlock? Und Shann selbst? Ihm wurde so seltsam zumute. Mit aller Kraft wehrte er sich dagegen, aber es gelang ihm nicht. Ihm schwand das Bewußtsein. Diesmal erwachte Shann nicht halbertrunken in einem unterirdischen Strom. Sein Arm schmerzte. Bevor er die Augen öffnete, strich er mit tastenden Fingern über den Verband an seinem Arm und berührte eine Schlafmatte. War er wieder in dem Rundbau, den er bereits kannte? Zögernd nur öffnete er die Augen. Vor ihm war ein ovales Fenster von der Größe seines eigenen Körpers.
Fast in gleicher Höhe davor lag er lang ausgestreckt auf der Matte. Draußen vor dem Fenster schien die Sonne. Kein grüner Nebel, keine künstlichen Sterne. Er lag in einem kleinen Raum, der ihn an jenen erinnerte, in den er damals zuerst gelangt war. Die Wände waren glatt. Außer der Matte gab es keine Einrichtungsgegenstände. Die Decke bestand aus einer Art geknotetem Netz. Er war nur mit einem dünnen Gewebe bedeckt, das ihm jedoch zu warm schien. Er schob es beiseite. Dann richtete er sich auf, um aus dem Fenster sehen zu können. Der Arm geriet in sein Blickfeld. Bis zum Ellenbogen hinauf war er verbunden. Der Stoff der Binde war fremd und stammte sicherlich nicht aus Thorvalds Verbandspäckchen. Shann sah aus dem Fenster und erblickte nichts als den Himmel. Nur eine zitronengelbe Wolke unterbrach das zarte Rosa. Hatte man ihn etwa in einen hohen Turm gesperrt? Das entsprach nicht den bisherigen Gewohnheiten der Warlocker. »Da wären wir also!« Thorvald war durch die Tür eingetreten. Seine alte Uniform war verschwunden, und er trug nur Breecheshosen aus einem grünlichen Material, dazu seine noch heilen Stiefel, die allerdings nicht mehr ganz neu aussahen.
Shann setzte sich auf. »Wo sind wir?« »Du kannst es als die Hauptstadt der Warlocker betrachten«, gab der Offizier zurück. »Wir befinden uns auf einer Insel, westlich vom Festland und weit im Ozean.« »Und wie kamen wir hierher?« »Durch einen Wunsch«, sagte Thorvald. »Wodurch?« Thorvald nickte und blieb ernst. »Ja, sie wünschten uns einfach hierher. Denk an deinen Kampf mit dem Gabelschwanz, Lantee! Hast du dir da nicht auch die Wolfis herbeigewünscht, um Unterstützung zu erhalten?« Shann konnte sich in der Tat entsinnen, sehr intensiv an die beiden Wolfis gedacht zu haben. Alle anderen Erinnerungen waren so ziemlich verblaßt. »Du meinst, mein Wunsch habe sie realisiert?« Er begann allmählich, auf dieser Welt auch das Unmögliche für möglich zu halten. »Habe ich alles vielleicht nur geträumt?« Immerhin sprach der noch schmerzende Arm dagegen. Auf der anderen Seite – Logallys Peitschenhieb! Er war wirklich genug gewesen. »Nein, du hast nicht geträumt, Lantee. Eins der Medaillons fing deinen Wunsch auf – und erfüllte ihn.« Shann lächelte ungläubig. Immerhin – Logally und
Trav! Gab es dafür eine vernünftige Erklärung? Gab es überhaupt für etwas eine Erklärung, das sich seit jenem Augenblick ereignet hatte, da er von der Insel in den unterirdischen Strom gelangt war? »Wie funktioniert der ganze Zauber?« fragte er. »Das frage ich dich!« lachte Thorvald. »Die Warlocker haben diese weißen Scheiben und vermögen allerhand mit ihnen anzustellen.« »Sind wir eigentlich Gefangene?« »Wie soll ich das wissen? Ich konnte mich frei bewegen, und niemand hinderte mich, zu dir zu gehen. Sie sind nicht feindlich, aber sie ignorieren mich. Zwei Interviews liegen hinter mir. Ob mit der Regierung, den Ältesten oder dem Oberzauberer – wer weiß. Ich habe ihre Fragen beantwortet, so gut ich das konnte. Ich habe versucht, ihnen die Gefahr klarzumachen, die ihnen von den Throgs droht, falls es den Käfern gelingen sollte, den Planeten zu übernehmen. Sie beachteten meine Warnung nicht einmal.« »Übrigens«, fuhr Thorvald fort, »wir sind nicht die einzigen ungebetenen Gäste der Warlocker.« Shann horchte auf. »Ein Throg?« »Jemand, der nicht wie die Drachen aussieht. Mehr konnte ich nicht erfahren. Ich fürchte, wir werden Ärger bekommen.« »Du hast diesen anderen Besucher nicht gesehen?« »Wo sollte ich?« fragte Thorvald und ließ sich mit
untergeschlagenen Beinen auf der Matte nieder. »Mir scheint, der Fremde ist auch nicht hier in der Stadt. Ich konnte einige Gedanken auffangen. Sie stammten von neu hinzugekommenen Warlockern, die erstaunt waren, mich zu sehen. Sie hatten vorher den Fremden erblickt und dachten, ich sähe auch so aus. Das war aber nicht der Fall.« »Ein Scout von Terra?« »Kaum. Für die Warlocker sehen wir Menschen alle gleich aus. Wir können sie ja auch nicht voneinander unterscheiden, wenn wir uns nicht gerade die Zeichnung ihrer Schuppen merken. Ich habe übrigens hinsichtlich der Schuppen noch eine bemerkenswerte Feststellung machen können. Je verworrener die Diamantenmuster verlaufen, desto mehr Macht verraten sie. Aber Macht der Vorfahren, nicht des Trägers! Immerhin verraten also die Schuppenmuster, ob ihre Träger der bevorstehenden Zaubermacht würdig sind. Irgendwie kommt mir das System bekannt vor. Gibt es auch bei uns, allerdings in verwandelter Form.« Das allerdings interessierte Shann im Augenblick nicht besonders. Seine Gedanken galten allein dem geheimnisvollen Fremden, der wie sie ein Gefangener der Warlocker war.
16 »Sieht fast aus wie neu«, sagte Shann und hielt seinen verletzten Arm in die Strahlen der Sonne. Er hatte den Verband abgenommen und die halbverheilte Narbe untersucht. Schmerzen waren so gut wie keine mehr vorhanden. »Was nun?« Die langen Tage im Zimmer hatten seine Sehnsucht nach frischer Luft verstärkt. Wie Thorvald trug auch er nun grüne Hosen und seine alten Stiefel. Aber wenn man ihnen auch alles abgenommen hatte, den Strahler und das Messer hatte man ihnen gelassen. »Keine Ahnung«, erwiderte Thorvald. »Soviel konnte ich jedenfalls erfahren, daß sie großen Wert darauf legen, mit dir zu reden.« Die Stadt der Drachen lag auf und im Innern einer steinigen Insel. Draußen war die Natur nicht verändert worden. In der Stadt herrschte unheimliches Schweigen. Shann wußte nicht, ob sie von tausend oder nur fünf Warlockern bewohnt war. Mehr als fünf waren ihnen jedenfalls bisher auf dem Gang noch nicht begegnet, den sie benutzen durften. Shann erwartete halb, wieder in einen von Schädeln verzierten Raum zu gelangen, in dem farbige Stäbchen in Kübeln geschüttelt wurden, aber er irrte sich. Zusammen mit Thorvald betrat er einen oval geformten
Saal, dessen Wand zum größten Teil aus einem Fenster bestand. Als er sah, was hinter dem Fenster lag, blieb er ruckartig stehen. Er wußte im ersten Augenblick nicht, ob er wieder einer Illusion zum Opfer gefallen war. Der Saal war tiefer als ihr Wohnraum. Er lag nicht sehr hoch über der Meeresoberfläche. Und von der Stelle aus, wo Shann stand, hatte er einen ausgezeichneten Überblick auf dieses Meer. Es war keine breite Stelle, denn das gegenüberliegende Ufer war nahe. Die Wellen bespülten den Fuß des riesigen Felsens, der wie ein Schädel aussah. Aus den leeren Augenhöhlen flogen Klackklack ein und aus. »Mein Traum«, murmelte er. Dein Traum! Thorvald hatte das nicht gesagt. Die Stimme war in Shanns Gehirn gewesen. Er drehte sich um und sah die sie erwartende Warlockerin an, begegnete ihrem starren und nicht freundlichen Blick. Er erkannte das farbige Muster ihrer Schuppen. Sie war es gewesen, die in der Mitte der drei alten Hexen gesessen hatte. Sie hatte ihn in die Höhle der Illusionen geschickt. Neben ihr stand das Drachenmädchen, das ihn auf der Insel überlistet hatte. »Da wären wir also wieder einmal beisammen«, sagte Shann burschikos. »Aus welchem Grund, wenn ich fragen darf?«
Als diesmal die Antwort kam, glich sie einer gesprochenen Antwort. Es kam weder Thorvald noch Shann zu Bewußtsein, daß es nur gedachte Worte waren. Der telepathische Kontakt verlor seinen ungewohnten Akzent. »Zu unserem Nutzen – und zu eurem.« »Zu eurem Nutzen – daran zweifeln wir nicht. Welchen Nutzen aber wir davon haben sollten, ist mir schleierhaft.« In ihrem Gesicht war keine Regung zu lesen. Shann hatte auch nichts Derartiges erwartet, aber er fing einen undeutlichen Gedanken auf, der ihm verriet, daß sie ihn nicht begriff. »Wir meinen es gut mit dir, Sternen-Reisender. Du bist mehr, als wir zuerst annahmen. Du hast falsch geträumt und es bemerkt. Jetzt träumst du die Wahrheit und bemerkst es ebenfalls.« »Und doch stelltet ihr mir Aufgaben, ohne meine Einwilligung abzuwarten.« »Wir haben eine weitere Aufgabe für dich. Sie paßt in das Muster deiner echten Träume. Wir machen diese Muster nicht, Mann von den Sternen. Das kann allein nur die große Macht. Jeder ist ein Teil dieses Musters, vom ersten Erwachen an bis zum letzten Traum. Wir verlangen also nichts von dir, was nicht schon von Beginn an festgelegt worden wäre.« Sie bewegte sich mit geschmeidigem Gang auf ihn
zu und blieb dicht vor ihm stehen. Sie wirkte wie ein Kind neben seiner kräftigen und hohen Gestalt. Langsam streckte sie den Arm aus und hielt ihn neben den seinen. »Wir sind verschieden, Mann von den Sternen«, gab sie ihm zu verstehen, »und doch sind wir beide Träumer. Träume aber bedeuten Macht. Deine Träume brachten dich über die Abgründe, die zwischen den Sternen klafften. Unsere Träume lassen uns noch merkwürdigere Wege gehen. Und doch« – ihr Finger zeigte plötzlich durch das Fenster hinüber zum Schädelfelsen – »sitzt dort drüben jemand, dessen Träume noch stärker sind. Sie werden uns alle vernichten, wenn es uns nicht gelingt, das Muster zu zerstören.« »Und ich soll hingehen, um den Träumer zu suchen?« Seine Vision schien Wirklichkeit werden zu wollen. »Ja, du wirst gehen.« Thorvald rührte sich, aber das Mädchen sah ihn nur an. »Er wird allein gehen, denn es ist sein Traum. Er war es von Anfang an. Jeder hat seine eigenen Träume, niemand kann durch sie hindurchgehen, ohne das Muster zu zerstören. Auch dann nicht, wenn es um ein Leben geht.« Ohne jede Spur von Freude grinste Shann. »Es sieht so aus, als habe man mich freiwillig gemeldet. Und was soll ich mit dem fremden Träumer anfangen?«
»Was dir die Muster deines eigenen Traumes vorschreiben. Aber du darfst ihn nicht erschlagen, wie es angedeutet ist ...« Shann watete durch die Brandung, auf den zerklüfteten Unterkiefer des Schädelfelsens zu. An einem der »Zähne« zog er sich empor und gelangte durch den »Mund« zu jenem Gang, der ihn zu dem Throg führen sollte. Die Klackklack umkreisten ihn mit schrillen Schreien und schienen mit seinem Besuch alles andere als einverstanden zu sein. Sie wurden so aufdringlich, daß Shann schließlich froh war, einen schmalen Spalt zu entdecken, in den er hineinschlüpfen und sich vor den Vögeln in Sicherheit bringen konnte. Von hier aus konnte er die See nicht mehr erblikken. Vergeblich versuchte er, mit Thorvald in telepathische Verbindung zu treten. Seine heimliche Hoffnung erfüllte sich nicht. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt, aber er wußte, daß er weitergehen würde. Aus seiner Tasche zog er den Hilfsgegenstand – einen grünen Kristall. In kleinerer Form spielten sie die Rolle der Sterne an dem künstlichen Himmel des Kuppelbaues. Er befestigte den leuchtenden Kristall an der Vorderseite seines Gürtels, um die Hände frei zu haben. Er atmete noch einmal tief ein und füllte seine Lungen mit fri-
scher Seeluft, ehe er sich bückte und in den engen Gang eindrang, der in das Innere des Schädelfelsens führte. Es wurde sofort dunkel und stickig. Der Gestank der Vögel stieg ihm in die Nase und wurde so unerträglich, daß er Übelkeit verspürte. Unter seinen Stiefeln knacken vermoderte Knochen, aber der Kristall wurde infolge der zunehmenden Finsternis heller. Wenigstens konnte er nun wieder etwas sehen. Der Gang führte waagerecht in den Fels hinein. Vorsichtig drang Shann weiter vor und blieb alle paar Schritte stehen. Dann ging es ein wenig aufwärts, aber nicht viel. Irgendwo rauschte fern die Brandung. Und dann war da ein neuer Geruch in Shanns Nase – der stechende und widerliche Gestank eines Throg. Eine Gangbiegung ließ hinter Shann das letzte Pünktchen Tageslicht erlöschen. Er zog seinen Strahler aus dem Gürtel. Selbst bei größter Intensität konnte er damit keinen Käfer töten, aber wenigstens konnte er seine Bewegungen erheblich stören und verlangsamen. Vor ihm waren plötzlich rot glühende Punkte, die sofort verschwanden, als er sie entdeckte. Augen ...? Vielleicht waren es die Felsenkriecher, von denen die Drachen berichteten. Ja, da waren andere Leuchtpunkte in der Finsternis, weiter vorn. Shann lauschte
angestrengt auf einen Laut. Um ihn herum war es dunkel, nur sein Kristall verbreitete einen schwachen Schimmer, an den sich die Augen noch nicht vollständig gewöhnt hatten. Und doch war hier die Nase zuverlässiger als die Augen. Der Geruch war unverkennbar, das wußte Shann. Er war das Merkmal der Käfer. Der Gang endete vor einer Felsenwand. Und im Schein seines Leuchtkristalls erkannte Shann endlich seinen Gegner. Der Throg stand nicht aufrecht, sondern lag auf dem Boden. Er bewegte sich kaum, als Shann näher trat. Warum nicht? Sah er ihn nicht? Vorsichtig schlich der Terraner näher. Der gepanzerte Kopf drehte sich ein wenig in seine Richtung, die großen, schwarzen Augen sahen ihn an. Nein, der Throg war nicht tot oder blind, aber er machte keine Anstalten, sich zu erheben. Und dann sah Shann plötzlich den Felsbrocken, der auf dem Knie des Käfers lag. In einem Kreis um den Throg herum lagen zerschmettert kleine, pelzige Kriechtiere, die gekommen waren, um die scheinbar hilflose Beute anzufallen. Der Throg hatte sie mit einem Stein erschlagen. Shann schob den Strahler in den Gürtel zurück. Es war offensichtlich, daß der Throg im Augenblick nichts ausrichten konnte. Mit aller Anstrengung präg-
te er sich das Bild vor seinen Augen ein, konzentrierte sich auf das, was er sah – in der Hoffnung, Thorvald könne das Bild vielleicht telepathisch auffangen. Er bekam aber keine Antwort. Da wurde ihm klar, daß er auf sich selbst angewiesen war und mit keiner Unterstützung rechnen durfte. Er versuchte es mit einer Geste der Freundschaft. Beide Hände streckte er dem Throg entgegen, die Flächen nach oben. Auch hier erhielt er keine Antwort. Die oberen Gliedmaßen blieben ruhig, aber die Klauen hielten die Steinbrocken zum sofortigen Wurf bereit. Shann wußte, wie gefährlich diese Steine werden konnten. Die Käfer waren für ihr gutes Zielen bekannt. Ein Wurf – und schon konnte er erledigt sein. Aber sie hatten ihn hierhergeschickt, um den Throg zu befreien und auf den Kontinent zu bringen. Der Gestank war so schlimm, daß Shann husten mußte. Wenn er wenigstens die Wolfis bei sich gehabt hätte, die den Throg ablenken konnten. Aber kein Medaillon war in der Nähe, um seinen Wunsch zu materialisieren. Auch konnte er nicht untätig hier stehenbleiben und den Throg anstarren. Der Käfer zwang ihn schließlich zum Handeln. Eine der Klauen bewegte sich. Shanns Hand fuhr blitzschnell zum Gürtel und zog den Strahler. Das erste Energiebündel traf den Käfer, aber gleichzeitig
traf auch der Stein. Er prallte gegen die Schulter des Terraners und lähmte dessen rechten Arm. Kraftlos sank die Hand herab. Der Strahler fiel auf den Boden der Höhle. Aber die Wirkung der Paralysewellen setzte schon ein. Der zweite Stein des Throg flog nur ungenau gezielt einige Meter weit. Der Käfer bewegte sich wie in Zeitlupe. Shann nutzte die Gelegenheit. Er sprang vor und drückte mit der unverletzten Schulter den Felsbrokken beiseite, der den Throg an den Boden fesselte. Geschickt wich er einem Schlag aus. Dann sprang er schnell zurück und hob gleichzeitig mit der linken Hand seinen Strahler auf. Für lange Sekunden schien der Käfer nicht zu begreifen. Auch seine Gedanken arbeiteten langsamer. Dann erhob er sich mühsam und strich mit den oberen Gliedmaßen über das verletzte Bein. Shann wartete. Er wartete darauf, wieder angegriffen zu werden. Und was würde sein, wenn er nicht angegriffen wurde? In der gleichen Sekunde drängten sich fremde Gedanken in sein Gehirn – aber es waren keine fremden Gedanken. Es war Thorvald. Shann verspürte ein ungeahntes Glücksgefühl, aber das war nicht von langer Dauer. Die Botschaft war eindeutig genug:
Ein Schiff der Throgs – über dem Felsen ...! Der Käfer ließ die Wand los und machte einen Schritt nach vorn. Shann wich zurück und hoffte immer noch, weiteren Kontakt mit Thorvald zu erhalten. Der aber blieb aus. Keine Frage wurde beantwortet. Er war allein in dem Felsen und bewegte sich rückwärts durch den Gang, denn er wagte es nicht, dem nachfolgenden Throg den Rücken zuzuwenden. Sie schienen beide das gleiche Ziel zu haben: die Außenwelt. Ein Throg-Schiff draußen? War es dem verwundeten Käfer gelungen, seine Artgenossen herbeizurufen? Was würde geschehen, wenn Shann zwischen sie und ihn geriet? Von den Drachen erwartete er keine Hilfe. Was konnte Thorvald für ihn tun? Hinter ihm war plötzlich ein Geräusch. Es war kein Klackklack gewesen, aber auch nicht das Rauschen der Brandung. Es war etwas anderes ...
17 Der Gestank war so übermächtig, daß Shann seinen Brechreiz nicht länger zurückhalten konnte. Er wälzte sich auf die Seite und entleerte seinen ohnehin nicht vollen Magen. Er wußte nicht mehr, wie er in das Schiff der Throgs gelangt war. Sein ganzer Körper schmerzte, als sei er mitten hinein in ein konzentriertes Energiebündel gelaufen. Energiebündel ...? Hatten die Throgs ihn mit Hilfe ihrer Elektrogeschütze überwältigt? Er konnte sich nur noch an das plötzliche Geräusch in der Höhle erinnern und an den Throg, der ihm langsam gefolgt war. Er war also Gefangener der Käfer. Die Zelle, in die man ihn gelegt hatte, war dunkel und eng. Aber das Vibrieren des Bodens unter ihm verriet ihm deutlich, daß er sich an Bord eines fliegenden Schiffes befand. Es konnte nur zwei Endstationen für ihn geben: das von den Throgs eroberte Lager der Terraner, oder das Mutterschiff der Käfer. Sollte Thorvalds Vermutung stimmen, daß sie einen Terraner zur Herbeilockung des irdischen Siedlerschiffes benötigten, dann war das Camp als Ziel wahrscheinlicher. Ein Mann, der noch lebt, hat Hoffnung – und er
verliert sie solange nicht, wie er am Leben bleibt. Das Lager, dachte Shann, das könnte die Chance zur Flucht bedeuten. Überall auf Warlocks Oberfläche hatte er diese Fluchtchance, nicht aber an Bord des Mutterschiffes. Thorvald und die Hexen! Konnte er von ihnen Hilfe erwarten? Obwohl es in dem engen Raum völlig dunkel war, schloß Shann die Augen, um sich auf einen telepathischen Kontakt mit Thorvald zu konzentrieren. Vielleicht auch mit dem Mädchen, dem sein Traum mit Trav so gut gefallen hatte. Er sah das farbige Diamantenmuster ihrer Schuppenhaut vor sich, erkannte jede Schleife der Hautlinien und sogar ihre Gesichtszüge, so fremdartig sie auch sein mochte. Er sah sie mit seinem Geist, aber der Kontakt mit ihrem Gehirn blieb aus. Dann eben Thorvald! Shann zwang sich dazu, ein mentales Bild von Thorvald zu entwerfen. Kontakt! Es war wie ein schlecht eingestelltes Fernsehbild. Ein Schatten formte sich, verschwamm mit seiner Umgebung, kehrte zurück, blieb etwas länger ... Thorvald hatte bemerkt, daß er ihn suchte. Noch einmal unternahm Shann das Experiment, diesmal mit der festen Überzeugung, daß die telepathische Verbindung keine Unmöglichkeit war. Wieder entstand vor seinem geistigen Auge das Bild
Thorvalds. Mit allen Geringfügigkeiten, an die sich Shann erinnern konnte – die winzige Narbe am Hals, das gekräuselte Haar im Nacken, die erstaunt hochgezogene Augenbraue. ... wo ...? Es war nur ein Hauch, aber Shann hatte darauf gewartet. Er vergaß nicht, weiter an das Bild des Offiziers zu denken, während er laut sagte: »Schiff der Throgs! Schiff der Throgs!« Er wiederholte den kurzen Satz immer und immer wieder, bis ein einziger Gedankenimpuls ihn unterbrach: ... werde ... Nur das, nicht mehr! Der Kontakt wurde unterbrochen. Gleichzeitig bemerkte Shann, daß sich die Vibration des Schiffes veränderte. Landete man bereits? Und wo? Herrgott, wenn es doch nur das Camp war! Es gab keine Erschütterung. Das Vibrieren hörte einfach auf. Da wußte Shann, daß sie gelandet waren. Nun würde sich bald entscheiden ... Er straffte sich und wartete ab. Über ihm war ein Geräusch. Er sah auf und wurde von einem starken Lichtschein geblendet. Panzerarme mit Klauen an ihren Enden packten ihn, hoben ihn hoch und stellten ihn auf die Füße. Man schleppte ihn durch einen Gang bis zu einer geöffneten Luke. Unter ihm war die Erde Warlocks.
Sie ließen ihn los, und er fiel aus dem Schiff. Es waren nur zwei Meter, aber fast hätte er sich die Knochen gebrochen. Er verspürte den gräßlichen Schmerz, als er auf dem Boden aufschlug, und er blieb liegen, wie er gefallen war. Sein Gesicht war nach oben gerichtet, während seine Augen sich allmählich an das Tageslicht gewöhnten. Einige Throgs hoben sich gegen den Himmel ab. Ungeduldig umstanden sie ihren Gefangenen. Einer von ihnen bewegte seine Kieferzangen und gab ein klickendes und knackendes Geräusch von sich. Gepanzerte Klauen hoben Shann vom Boden hoch und stellten ihn aufrecht hin. Der Throg, der den Befehl dazu gegeben hatte, kam näher. In seinen Klauen hielt er eine Metallplatte, die von einem Drahtgewirr umgeben war. Er hob sie bis dicht vor den Kopf. Dann klickten seine Kieferzangen. Aus der Metallplatte kamen verständliche Worte in galaktischer Universalsprache. »Du bist Fleisch für die Throgs!« Shann überlegte, ob er das wörtlich meinte oder ob die Worte nur eine Redensart waren, die soviel bedeutete wie: du bist unser Gefangener. »Gehorche unseren Befehlen!« Das war deutlich genug, ganz abgesehen davon, daß Shann im Augenblick auch nichts andere übrig blieb. Das konnte ihn natürlich nicht davon abhalten,
sich völlig passiv zu verhalten. Vielleicht erwarteten die Käfer auch keine Antwort von ihm. Er wurde immer noch von starken Klauen aufrecht gehalten, aber der Throg mit der Übersetzerplatte kümmerte sich nicht mehr um ihn. Es gab etwas Interessanteres zu sehen. Aus dem Schiff stiegen einige Throgs. Sie hielten einen der ihren in der Mitte; er war unbewaffnet und schien verwundet zu sein. Obgleich alle Käfer für Shann gleich aussahen und er keine Unterschiede feststellen konnte, war er sicher, daß dieses der Gefangene des Schädelfelsens sein mußte. Es sah ganz so aus, als sei er in Ungnade gefallen. Shann fragte sich vergeblich, warum das so sei. Der Verwundete humpelte allein weiter und blieb vor dem Anführer stehen. Die Wachen blieben etwas zurück. Kieferzangen klickten und leiteten eine Unterhaltung ein, von der Shann natürlich kein einziges Wort verstand. Einmal winkte der Verwundete in Shanns Richtung. Dann aber wurde die Unterhaltung so abrupt und in einer Art beendet, die Shann erschreckte. Zwei der Wachposten ergriffen den Verwundeten beim Arm und zogen ihn einige Meter beiseite, um ihn dann einfach loszulassen. So schnell sie konnten, kehrten sie dann wieder zum Schiff zurück. Der Offizier klickte einen Befehl.
Strahlpistolen wurden gezogen, und dann brach der Throg unter dem Kreuzfeuer der Energiebündel tot zusammen. Shann rang nach Atem. Man konnte wirklich nicht behaupten, daß ihm die Käfer sympathisch waren, aber die kaltblütige Art dieser Exekution übertraf alles, was er sich in dieser Hinsicht hatte vorstellen können. Er verspürte Übelkeit, als er dem davongehenden Offizier nachsah, der in einem Kuppelbau des ehemaligen Camps verschwand. Wie Shann feststellen konnte, gehörte der Bau nicht zu den eigentlichen Unterkünften des alten Lagers der Forschungsabteilung, sondern lag ein wenig abseits. Als man ihn an den Armen packte und hinter dem Offizier herschleppte, erkannte er den Bau plötzlich. Er enthielt die Funkzentrale. Von hier aus konnte man die Verbindung mit der Raumflotte und den Schiffen der benachbarten Sektoren aufnehmen. Also hatte Thorvald doch recht behalten. Die Throgs brauchten einen Terraner, um das Schiff in eine Falle locken zu können. Obwohl Shann früher nur einmal einen kurzen Blick in die Funkstation geworfen hatte, erkannte er doch, daß sich hier einiges geändert hatte. Auf dem Boden stand eine große rechteckige Kiste, die durch viele Kabel mit Sender und Empfänger verbunden
war. Vielleicht eine Übersetzeranlage, dachte Shann, während er in den Raum gestoßen wurde. Mit einem Klicken seiner Kieferzangen sagte der Throg: »Rufe das Schiff!« Mit einem harten Ruck wurde Shann in den Sessel des Funkers gedrückt. Seine Hände waren immer noch auf dem Rücken gebunden, und er mußte sich vorbeugen, um überhaupt sitzen zu können. Der Käfer, der ihn hereingebracht hatte, schob ihm einen Kopfhörer über die Ohren, der mit einem kleinen Mikrofon verbunden war. »Rufe das Schiff!« wiederholte der Offizier. Da blieb nicht viel Zeit. Shann brauchte nicht einmal zu bluffen, als er heftig den Kopf schüttelte und dabei hoffte, daß diese Geste der Verneinung auch den Käfern bekannt war. »Mir ist der Geheimkode unbekannt«, sagte er laut. Die großen Käferaugen starrten auf seine Lippen. Der Offizier hielt ihm die Platte vor den Mund, und Shann mußte seine Worte wiederholen. Die ihm wohlbekannten Laute verwandelten sich in eine Folge von klickenden Geräuschen. Jetzt würde es darauf ankommen, wie der Offizier darauf reagierte. Würde er mit Gewalt versuchen, die Durchführung seines Befehles zu erzwingen, oder würde er einsehen, daß man ein Wissen, das ein anderer nicht besaß, von die-
sem auch nicht erhalten könnte. Es schien so, daß der Offizier der Throgs logisch zu denken vermochte. Er sagte: »Wenn das Schiff ruft – dann antwortest du. Sage etwas von Krankheit und Hilfe, die ihr benötigt. Der Funker ist tot, du hast seinen Platz eingenommen. Ich werde zuhören. Wenn du etwas Falsches sagst, wirst du sterben – und zwar sehr langsam sterben.« Das war deutlich genug. Immerhin hatte Shann ein wenig Zeit gewonnen. Jetzt kam es nur noch darauf an, wann der Funkspruch des Schiffes eintraf. Die Throgs schienen ihn jeden Augenblick zu erwarten. Shann befeuchtete die spröden Lippen. Er war fest davon überzeugt, daß der Offizier es mit seiner Drohung ernst meinte. Es fragte sich nur, ob irgend jemand – Throg oder Mensch – lange genug hier im Lager zu leben hatte, wenn es ihm gelang, seine beabsichtigte Warnung abzusetzen. Das Siedlerschiff würde mit Sicherheit von einem Kreuzer begleitet werden. Besonders in diesem unsicheren Sektor der Milchstraße. Wenn Shann die Siedler warnte, würde der Kreuzer das sofort erfahren. Ein alles vernichtender Feuerüberfall auf das Lager würde die Folge davon sein. Vielleicht hätten die Throgs noch Gelegenheit, ihn für seine kühne Tat zu bestrafen, aber dann, wenn der Kreuzer kam, würden sie alle sterben. Zwei weitere Käfer betraten den Raum. Sie gingen
zum anderen Ende des langen Tisches, der mit Sendegeräten aller Art überladen war. Sie taten ganz so, als hätten sie ihr Leben lang nur mit terranischen Funkeinrichtungen zu tun gehabt. Sorgfältig untersuchten sie Kabelverbindungen und Kontakte, testeten ein Tonband, das mit einem Richtfunkstrahlsender in Verbindung stand, und beobachteten das Ausschlagen verschiedener Zeiger auf den Skalen. Shann ahnte, daß sich mit dieser Einrichtung die Fernkontrolle über das landende Schiff übernehmen ließ. Aber er überlegte sich vergebens, wie sie es anstellen wollten, die Besatzung des Transporters zu überwältigen. Alle Siedlerschiffe waren auf Überraschungen vorbereitet. Selbst dann, wenn die Fernkontrolle der Forschungsabteilung sie landete, war damit noch nicht gesagt, daß alles in Ordnung war. In der Geschichte der irdischen Raumfahrt und der Besiedlung fremder Planeten hatte es genug Fälle gegeben, in denen selbst das Unwahrscheinlichste Realität geworden war. Die Throgs mußten das wissen. Wenn sie also trotzdem den Versuch wagten, mußten sie eine entsprechende Waffe besitzen, die sie in jedem Fall für überlegen hielten. Anders war ihre Zuversicht nicht zu erklären. Es fragte sich nur, ob sie auch mit einem Kreuzer fertig wurden. Die beiden Techniker beendeten ihre Vorbereitun-
gen und sagten etwas zu dem Offizier. Der gab Shanns Wachtposten einen Befehl und folgte ihnen hinaus. Der zurückbleibende Throg warf eine Drahtschlinge über Shanns Kopf, zog sie an und verband sie mit dem Stuhl. Als auch die Beine gefesselt waren und der Terraner sich kaum noch bewegen konnte, ging auch der Posten. Shann war allein in der Funkzentrale. Schon die ersten Versuche zeigten ihm, daß er sich niemals ohne fremde Hilfe befreien konnte. Das brachte ihn auf den Gedanken, wieder einmal den Versuch zu unternehmen, mit Thorvald in Verbindung zu treten. Jetzt war die beste Gelegenheit dazu. Er schloß die Augen und konzentrierte sich. Vielleicht war die Entfernung zwischen hier und den Inseln zu groß. Es konnte aber auch sein, daß die Gegenwart der Throgs den telepathischen Kontakt erschwerte. Glitzernde Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn. Die Anstrengung der Konzentration war so groß, daß seine Bluse bald ganz durchnäßt war. Es war genauso, als hätte er stundenlang in der Sonne gearbeitet. Thorvald ... Thorvald! Das Bild, das vor Shanns geschlossenen Augen entstand, war so klar, als wäre er selbst dabei. Der Offizier stand zwischen den beiden Wolfis, und
hinter ihm spiegelten sich die Sonnenstrahlen auf der schuppigen Haut und den Diamantenmustern einer ganzen Schar von Warlockern. Wo? Die Frage Thorvald war so klar und deutlich, daß Shann für einen Augenblick meinte, das Wort mit den Ohren aufgefangen zu haben. »Im Lager!« flüsterte Shann und hatte nur den einen schrecklichen Gedanken, daß die Verbindung wieder unterbrochen werden könnte. »Sie wollen, daß ich den Siedlertransporter herbeihole.« Wann? »Keine Ahnung. Der Leitstrahl wird schon gesendet. Ich soll sagen, daß eine Seuche ausgebrochen ist. Sie wissen, daß ich den Geheimkode nicht kenne.« Shann sah Thorvalds Gesicht direkt vor sich. In den stahlgrauen Augen blitzte es entschlossen auf. Shann sagte: »Ich werde das Schiff warnen; vielleicht schicken sie den Kreuzer.« Thorvalds Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Halte so lange aus, wie du kannst! Das war kurz genug, Thorvald versprach ihm keine Hilfe und gab ihm auch keine Hoffnung. Immerhin durfte die Tatsache nicht unterschätzt werden, daß der Offizier bereits nicht mehr auf den Inseln weilte. Dichte Vegetation wurde nur auf dem Fest-
land angetroffen. Aber Thorvald war nicht allein; die Hexen waren mit ihm gekommen. Hatte der Offizier sie überreden können, mit ihm zusammen das Lager der Throgs anzugreifen. Kein Hinweis deutete darauf hin, daß es so war – aber Shann war fest davon überzeugt, daß es gar nicht anders sein konnte. Von der Tür her kam ein Geräusch. Shann öffnete die Augen. Die Throgs kamen zurück. Einer von ihnen begab sich zu den Sendegeräten, während die beiden anderen auf ihn zukamen. Schnell schloß er wieder die Augen und machte einen letzten Versuch. Mit aller Konzentration dachte er: Das Schiff ist da! Die Throgs sind bei mir ... Thorvalds Gesicht, schon undeutlicher geworden, versank in plötzlicher Dunkelheit, als ein Schlag unter das Kinn seinen Kopf nach hinten riß. Tränen des Schmerzes drangen in seine Augen, und in den Ohren brauste es wie ein Wasserfall. Wie durch einen Schleier hindurch sah er die Käfer. Einer von ihnen hielt den Übersetzer in der Hand. »Du mußt jetzt sprechen!« Ein mit Chitin gepanzerter Arm griff über seine Schulter. Ein Hebel wurde umgelegt, ein Knopf eingedrückt, im Kopfhörer begann es zu rauschen. Empfänger und Sender arbeiteten. Eine andere Klaue schob das Mikrofon näher an
Shanns Mund. Das Übersetzungsgerät blieb in bedrohlicher Nähe. Unwillkürlich schüttelte Shann den Kopf, denn das Stimmengewirr im Kopfhörer blieb unverständlich. Eine harte Faust legte sich auf seine Schulter, und scharfe Krallen bohrten sich in sein Fleisch. Viel Zeit zum Nachdenken blieb Shann nicht. Die Sekunde der Entscheidung war da! Er würde seine Warnung in das Mikrofon sagen und aller Wahrscheinlichkeit nach Sekunden später von den Throgs getötet werden. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Vielleicht hatte er bei seinen Bemühungen, den Kontakt mit Thorvald herzustellen, zuviel Energie verschwendet. Die ganze Szene schien ihm merkwürdig unwirklich. Im Kopfhörer war eine kurze Pause, laut und deutlich sagte Shann in das Mikrofon, jedes Wort langsam und deutlich aussprechend: »Hier ist Warlock! Große Schwierigkeiten – Seuche! Funkoffizier tot.« Ein neuer, unverständlicher Redefluß in Kode unterbrach ihn. Die Krallen des hinter ihm stehenden Wärters bohrten sich in seine Schulter. »Hier spricht Warlock«, wiederholte er. »Wir benötigen Hilfe ...« »Wer sind Sie?« Die fragende Stimme war klar und deutlich in
Shanns Ohren. Man schien an Bord des Siedlerschiffes begriffen zu haben, daß er den geheimen Kode nicht kannte. Vielleicht war es gut, wenn er ihnen seinen Namen durchgab. Sie würden eine Liste aller Angehörigen der Forschungsabteilung besitzen. »Hier spricht Lantee!« Shann holte tief Luft. Er spürte die Krallen in seiner Schulter und wußte genau, was nun kommen würde. »Heute ist Maitag!« fügte er mit fester Stimme hinzu und hoffte verzweifelt, daß irgend jemand in der Kontrollkabine des in der Landung begriffenen Schiffes die wahre Bedeutung des Wortes kannte. Maitag war die Deckbezeichnung für allergrößtes Unheil. »Maitag – Käfer – Vorsicht!«
18 Er erhielt keine Antwort. Das Summen in den Kopfhörern blieb. Shann antwortete langsam und schwer. Immer noch ruhten die Krallen des Throgs auf seiner Schulter. Er wartete. Und dann, wie abgeschnitten, erlosch das Brummen. Shann triumphierte. Er wußte, daß er es geschafft hatte. Der Kommandant des Siedlerschiffes hatte Verdacht geschöpft. Der Offizier mit dem Übersetzungsgerät gab dem Throg am Leitstrahlsender einen Befehl. Shanns Aufregung wuchs. Der Käfer mußte die plötzliche Unterbrechung des Funkgespräches als völlig normal angesehen haben. Er nahm also an, daß die Falle gestellt war, in die das terranische Schiff gehen sollte. Aber Shanns Erleichterung dauerte nur wenige Sekunden. Der Käfer an dem Leitstrahlgerät überwachte die Skalen und sagte dann etwas zu seinem Vorgesetzten. Der Offizier hörte zu und wandte sich dann mit einem Ruck zu seinem Gefangenen um. Obwohl Shann nicht im Gesicht des Käfers lesen konnte, ahnte er Unheil. Der Throg mußte wissen, daß sein Gefangener ihn betrogen und die Terraner gewarnt hatte. Er würde nun seine Drohung wahrmachen. Die Drähte, mit welchem Shann an den Stuhl ge-
fesselt war wurden gelöst. Er biß die Zähne zusammen, um der Schmerzen Herr zu werden, die von der plötzlich einsetzenden Blutzirkulation verursacht wurden. Sie rissen ihn auf die Füße, schoben ihn quer durch den Funkraum und stießen ihn durch die Tür ins Freie. Es mußte kurz vor Sonnenuntergang sein. Die ersten Schatten der beginnenden Nacht krochen ins Tal und erweckten neue Hoffnungen in Shann. Wenn er sich jetzt noch befreien konnte, bestand immerhin die Möglichkeit, daß er irgendwo in den Bergen untertauchen konnte. Das Lager war verlassen. In keinem der Kuppelbauten würde ein Throg weilen. Außer den Käfern, die mit ihm gingen, war niemand zu sehen. Shann begriff sofort. Sie hatten sich in den umliegenden Felsen versteckt und warteten auf die Landung des großen Siedlerschiffes. Wo sie ihre eigenen Flugboote verborgen hielten, wußte Shann nicht. Vielleicht oben auf dem Plateau. Damit hatten die Throgs sich selbst einer schnellen Rückzugsmöglichkeit beraubt. Wenn sie sich in der Tat so gut verteilt hatten, bestand immerhin die Möglichkeit, daß sie dem ersten Angriff des Kreuzers entgingen – aber sie verurteilten sich auch gleichzeitig dazu, von nachfolgenden Pa-
trouillen gejagt und erledigt zu werden. Vielleicht gelang es ihnen, ihr Leben um einige Stunden oder Tage zu verlängern, aber wenn der Kommandant des Siedlerschiffes Shanns Worte richtig aufgefaßt hatte, waren die Käfer bereits jetzt verloren. Sie stießen ihn vor sich her, dem Ufer des Flusses entgegen, auf dem er mit Thorvald damals entkommen war. Rechts und links erkannte er in der Dämmerung marschierende Einheiten der Throgs, die sich – bewaffnet und alarmbereit – in verschiedene Richtungen begaben. Sie machten nicht den Eindruck, als befänden sie sich auf der Flucht. Von irgendwelchen Flugbooten war nichts zu sehen. Shann machte sich so schwer wie möglich. So gelang es ihm, seine Wärter aufzuhalten. Sollte wirklich einer von ihnen die Geduld verlieren, so war es immer noch besser, durch einen wohlgezielten Schuß ein rasches Ende zu finden, als langsam und unter Qualen zu sterben. Er ließ sich einfach fallen und stürzte in das niedergetrampelte Gras. Jemand trat ihn in die Seite, aber er rührte sich nicht und blieb liegen. Indem er Bewußtlosigkeit vortäuschte, lauschte er auf das ihm unverständlich bleibende Klicken ihrer Unterhaltung. Shann wußte, daß sein Leben an einem Seidenfaden hing. Wenn der Offizier jetzt die Geduld verlor, war er alle Sorgen los; wollte er aber seine
Drohung wahrmachen, mußte er gezwungenermaßen den Gefangenen mitnehmen. Scharfe Krallen griffen nach ihm und stellten ihn auf die Füße. Ein Messer zerschnitt seine Fessel, und dann wurde er über die Schulter eines besonders stark gebauten Käfers gelegt. Es wurde schnell dunkel, und der geisterhafte Schein der Leuchtpflanzen verstärkte das Zwielicht. Es war Shann unmöglich, die ihn umgebenden Throgs zu zählen, aber er war sicher, daß nicht mehr viele in den Flugbooten zurückgeblieben sein konnten. Es hatte sogar den Anschein, als sei Verstärkung eingetroffen. Der Käfer, der ihn trug, wechselte die Richtung und strebte in die Ebene hinaus, die früher den Terranern als Landefeld gedient hatte. Sie passierten zwei zum Flußufer marschierende Abteilungen. Nur undeutlich erkannte Shann in der Dunkelheit einige unförmige Gegenstände, die sie mit sich schleppten und deren Bedeutung ihm nicht klar wurde. Dann wurde er, ehe er es verhindern konnte, zu Boden geworfen. Er blieb einige Sekunden liegen, ehe sie ihn wieder aufhoben und auf ein kreuzförmiges Holzgestell schnallten. Die Fesseln drangen tief in das Fleisch seiner Arme und Beine ein. Der Offizier gab einige Befehle, das Kreuz wurde aufgerichtet und in den Boden gerammt. Als Shann die Augen öffnete,
stand ihm der Throg mit dem Übersetzergerät gegenüber. Es war so weit! Lantee! Der telepathische Ruf stand schmerzhaft deutlich in seinem Gehirn. Obwohl er den Offizier weiterhin ansah, konzentrierte er sich auf die innere Stimme, die ihm fast einen Schock versetzte. Hier! Thorvald? Wo? Die lautlose Stimme des anderen antwortete klar und deutlich: Denke an irgendeinen bestimmten Punkt – nicht zu weit vom Lager entfernt! Schnell! Einen bestimmten Punkt – was meinte Thorvald damit? Ohne zu wissen warum konzentrierte sich Shann auf die Felsen, von denen aus er den ersten Überfall der Throgs beobachtet hatte. Das Bild stand so klar vor seinen Augen, als geschehe alles erst jetzt in diesem Moment. »Thorvald ...« Diesmal sagte er es laut, während er zugleich konzentriert dachte. Aber er erhielt keine Antwort. Es war inzwischen vollständig dunkel geworden, aber die phosphorezierenden Pflanzen gaben genügend Licht, um die Umrisse von Käfern und Landschaft aus der Finsternis hervortreten zu lassen.
Aus einem unbestimmten Gefühl heraus sah Shann hinüber zum Rand des Feldes. Er hätte später nie zu sagen vermocht, warum er gerade von dort eine Rettung erwartete, aber als er die Veränderung bemerkte, glaubte er doch, sich zu täuschen. Die fahl leuchtenden Flecke der Büsche schienen miteinander zu verschmelzen und verwandelten sich in einen weißlich schimmernden Nebel, der wie eine undurchsichtige Wand den Horizont zu verdecken begann. Aus der glühenden Wolke heraus schoben sich träge weiße Nebelzungen und krochen über die Ebene auf das Flußufer zu. So etwa mochte eine Riesenamöbe aussehen, die im Urmeer schwebt und mit ihren riesigen Fangarmen Nahrung sucht. Die weißen Nebel flossen ineinander und verdichteten sich. Es war, als rolle mit unwahrscheinlicher Langsamkeit eine Meereswoge den Strand hinauf, nur mit dem Unterschied, daß sie nicht mehr in ihr Element zurückkehrte. Shann glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Sah er bereits Gespenster? Aber der graue Lichtnebel blieb. Er wurde immer dichter und erhöhte seine Geschwindigkeit. Shann ahnte seine Verwandtschaft mit den grünen Schleiern der Illusionen. Wenn der herankriechende Nebel eine Realität war, dann steckte auch ein Sinn dahinter.
Die Kieferzangen der Throgs klickten unablässig. Dicht neben Shann entlud sich mit zischendem Pfeifen ein Strahler; das gelbe Energiebündel raste mit Lichtgeschwindigkeit in den nächsten Nebelarm und wurde von diesem verschluckt. Von irgendeiner Wirkung war nichts zu erkennen. Nur mit Mühe gelang es Shann, den Kopf zu wenden. Auch von hinten kam der weiße Nebel angekrochen. Von allen Seiten kam er und schloß sie ein. Er umgab sie wie eine undurchdringliche Mauer. Vom Fluß her rannte eine Gruppe der Käfer, so schnell ihre Beine sie trugen, in Richtung auf das Camp zurück. Ihre ganze Haltung verriet, daß sie sich auf der Flucht befanden, auf der Flucht vor etwas Unbegreiflichem und Grauenhaftem. Einer von ihnen strauchelte in unmittelbarer Nähe einer weißen Nebelzunge und stürzte in sie hinein. Shann hörte ihn schreien – es war ein schriller, schreckerfüllter Schrei, den nur grenzenlose Panik hervorbringen konnte. Die Throgs um Shann begannen, auf den herankriechenden Nebel zu schießen. Zuerst sorgfältig und mit gut gezielten Salven, aber dann wild und ohne jede Überlegung, als der Nebel nicht auf die grellen Energiebündel reagierte, sondern sie einfach schluckte. Aus dem Nebel selbst kamen Geräusche – merk-
würdig helle Schreie, die den Throgs sicherlich ebenso unbekannt waren wie Shann. Schatten zeichneten sich ab. Drei dieser Schatten beobachtete Shann, sie verfolgten einen Throg und jagten ihn so lange, bis er erschöpft und vor Angst gelähmt zusammenbrach. Andere Schatten jagten andere Throgs, bis es Shann endlich möglich wurde, das System in dieser Jagd zu erkennen. Von allen Seiten rannten die verzweifelten Käfer vor den unheimlichen Schatten davon, einem Mittelpunkt entgegen. Es blieb nicht aus, daß sich ein regelrechter Knäuel von Throgs bildete, die nicht mehr ein noch aus wußten. Ringsum wallte der Nebel, kroch näher und näher, spie neue Schatten aus, die auch den letzten Throg fanden und herbeitrieben. Shann rechnete damit, daß seine Wärter ihn nun töten würden, ehe sie sich der Aufgabe zuwandten, mit dem Nebel fertig zu werden. Aber sie schienen ihn völlig vergessen zu haben. Die Nebelarme zögerten nun nicht mehr länger, die verbliebenen Throgs anzugreifen und unschädlich zu machen. Es war Shann völlig unmöglich zu beobachten, wie das im einzelnen geschah. Er sah verschwommene Schatten, die sich auf die Käfer stürzten, sie regelrecht in sich aufnahmen und dann wegbrachten. Die Sicht war zu schlecht, um mehr zu sehen.
Bald würde er alles erfahren, wenn nur Thorvald ... Der Nebel machte auch vor ihm nicht halt. Das Kreuz stand in einer kleinen Lichtung, die von allen Seiten eingeschlossen war. Nun aber füllte sich auch diese Lichtung mit dem milchigen Schleier der Ungewißheit und ließ die Gegenstände verschwimmen. Shann spürte, wie etwas Kaltes und Feuchtes seine Haut berührte. Nichts Lebendiges, das wußte er. Dieser Nebel war der Tod selbst. Es war, als zöge ihm jemand alle Energie aus dem ohnehin schon geschwächten Körper. Wäre er nicht an die Holzstämme gebunden, so hätte nichts seinen körperlichen und seelischen Zusammenbruch verhindern können. Die Fesseln hielten ihn. Zwar sackte er ein wenig zusammen, als habe er die Besinnung verloren, aber er stand immer noch auf den Füßen. Sein Kopf sank gegen die Brust und schwankte hin und her. Und dann berührte ihn etwas Warmes. Ja, feucht war es auch. Es preßte sich gegen seine zusammenschaudernde Haut und bewirkte ein wohliges Rieseln. Irgendwie schien ihm dieser feuchte und warme Druck ein Zeichen von Freundschaft zu sein, obwohl er sich das nicht zu erklären vermochte. Shann holte tief Luft und stellte fest, daß sich seine Lungen nicht mehr länger mit der feuchten und tödlichen Nässe des Nebels füllten, sondern mit normaler,
trockener Luft. Mühsam nur gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Nur unter Aufbietung seiner ihm verbliebenen Kraftreserven konnte er den Kopf ein wenig anheben. Ja, der Nebel hatte sich zurückgezogen. Hier und dort lag im zertrampelten Gras eine weggeworfene Waffe, aber weit und breit war kein einziger Throg zu sehen. Es schien, als habe der Boden sie alle verschluckt. Oder war es der Nebel gewesen? Vor ihm standen die beiden Wolfis auf ihren Hinterfüßen und hatten die Vorderpfoten gegen seinen Leib gelegt. Shann wußte plötzlich, daß er gerettet war. Die Erleichterung hätte ihn fast ohnmächtig werden lassen, nachdem er alle Gefahren bei vollem Bewußtsein miterlebt hatte. Die Tiere winselten, konnten ihm aber auch nicht die Fesseln abnehmen. Der Nebel zog sich immer weiter zurück und gab das Gelände frei. Mehrere dunkle Körper lagen reglos im Gras und verdeckten die Leuchtflecke der phosphoreszierenden Büsche. Ihre schattenhafte Umrisse erinnerten an die der Throgs. »Lantee!« Das war ein Ruf in seinem Gehirn, das war eine menschliche Stimme, die laut und deutlich durch das
Zwielicht drang. Die Richtung ließ sich nicht feststellen. Shann brachte die spröden Lippen nur mit Mühe auseinander. Sein Ruf war nur mehr ein halblautes Stöhnen: »Hier – hier!« In den zurückweichenden Nebeln wurde ein Schatten sichtbar. Er bewegte sich auf ihn zu. Shann erkannte Thorvald, der nun den Nebel mit einer letzten Armbewegung teilte und auf die weite Lichtung trat. Thorvald hielt sich nicht lange auf. Er löste die Fesseln und sprang vor, um Shann aufzufangen. Aber es dauerte nur Sekunden, bis Shann das ihn überkommende Schwindelgefühl überwunden hatte. Er straffte sich, versuchte ein Grinsen und stellte gleichzeitig fest, daß auch die letzte Spur des Nebels verschwunden war. Auch schien es wärmer geworden zu sein, das klamme Gefühl wich einer wohligen Wärme. »Was ist geschehen?« wollte er wissen. »Ich würde es etwa mit dem Schleier der Illusionen vergleichen. In jener Höhle der grünen Schleier begegneten wir unseren Erinnerungen, die plötzlich Gestalt annahmen. Dir erging es da nicht anders als mir. Die Macht der Warlocker besteht aus Träumen, die sich materialisieren können. Die Kunst besteht
darin, falsche Träume von echten zu unterscheiden. Nun, die Throgs konnten es jedenfalls nicht.« Er lächelte immer noch. »Sie konnte es nicht?« fragte Shann gespannt, obwohl er den Rest zu ahnen begann. Thorvald nickte grimmig. »Die teuflischen Erinnerungen der Throgs wurden diesen zum Verderben, denn als sie im Nebel plötzlich ihre längst vergessenen und toten Gegner auftauchen sahen, verloren sie einfach den Verstand. Sie mußten töten – und brachten sich dabei zum größten Teil selber gegenseitig um. Allerdings, so kommt es mir vor, hat die Macht der Hexen von Warlock eine noch intensivere Wirkung, wenn ein Terraner sie dirigiert.« »Hast du das getan?« fragte Shann, der sich bereits besser zu fühlen begann. »Eigentlich war es nur ein kleiner und bescheidener Beginn«, sagte der Offizier. »Hinter mir standen die Weisen der Inseln und das, was sie ihre Regierung nennen. Sie halfen mir genauso, wie ich ihnen half, die Macht auf den rechten Fleck zu konzentrieren. Wenn sie allein mit ihrer Macht umgehen, erreichen sie höchstens eine Art Zauberei, aber mit uns zusammen wird schon mehr daraus. Neue Möglichkeiten ergeben sich aus einer freundschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Terranern und Warlockern. Nun, jedenfalls konnten wir die Throgs erledigen.«
»Und die Warlocker hatten Angst vor dem einen, der im Schädelfelsen hockte, wehrlos und verwundet.« »Dafür gab es Gründe. Direkter Kontakt mit einem Throg verursacht bei den Hexen so etwas wie einen mentalen Kurzschluß. Also nahm ich diesen Kontakt auf, während ich vor ihnen ständig Nachschub an neuen Thelepathieenergien erhielt. Damit haben wir für das Problem der Throgs schon mal eine Antwort gefunden – aber leider erst diese eine: wir können sie töten!« Thorvald zeigte auf die reglosen Schatten, die zwischen den leuchtenden Büschen lagen. »Ja, wir haben gelernt, wie man sie töten kann. Vielleicht werden wir eines Tages auch lernen, wie wir mit ihnen leben können.« Für eine Sekunde starrte er gedankenverloren in das Halbdunkel der Steppe, ehe er zur Gegenwart zurückkehrte. »Hast du Verbindung mit dem Siedlerschiff aufgenommen?« »Ja. Ich wartete, bis sie im Klartext sprachen, dann habe ich sie gewarnt. Sie schalteten sofort ihre Geräte ab, so daß ich annehmen konnte, sie hätten mich verstanden.« »Das nehme ich auch an. Dann kann es nicht mehr lange dauern, bis sie landen werden.« Der Kreuzer kam nicht wie ein Raubvogel auf Warlock herab und begann sein Vernichtungswerk, son-
dern er sondierte zuerst. Es gelang Thorvald, erneut Funkverbindung aufzunehmen und den Kommandanten des Kreuzers von der neuen Sachlage zu unterrichten. Eine halbe Stunde später landete das Patrouillenschiff, während der Siedler-Transporter eine Kreisbahn um Warlock einschlug, bis die Entscheidung gefällt war. Die kurze Unterredung zwischen dem Kommandanten und Thorvald resultierte in einer Säuberungsaktion, die das Gelände um das ehemalige Lager betraf. Zwei Throgs wurden gefangen. Sie ließen sich ohne Gegenwehr festnehmen. Das alles wußte Shann nicht, der noch vor der Landung des Kreuzers in einer der Unterkünfte auf ein Bett gesunken und eingeschlafen war. Die Erschöpfung war stärker als alle Erwartung. Wieviel Zeit inzwischen vergangen war, hätte er nicht zu sagen vermocht. Als er erwachte, drehte sich alles vor seinen Augen. Für einige Sekunden wußte er nicht, was geschehen war. Langsam nur setzte die Erinnerung ein und brachte ihm die Ereignisse zurück. Nachdem er sich angezogen hatte, trat er hinaus vor die Unterkunft und erkannte an den aus östlicher Richtung schräg einfallenden Sonnenstrahlen, daß der Tag gerade begonnen hatte. Drüben stand Thorvald mit einigen Leuten des
Kreuzers, der gerade von der Steppe abhob und in den klaren Himmel emporstrebte. Taggi und Togi kamen wild heulend herbeigelaufen und sprangen an ihm herauf, daß er fast zu Boden gestürzt wäre. Die Freude der Tiere kannte fast keine Grenzen. Shann sah, daß Thorvald das Geheul gehört hatte, denn der Offizier drehte sich um und winkte ihm zu. Noch etwas schwankend ging Shann zu der Gruppe. »Warum verläßt uns der Kreuzer wieder?« »Ein Stützpunkt der Throgs befindet sich auf einem Nachbarplaneten. Er wird beseitigt.« »Wir bleiben hier?« Der Offizier zuckte die Achseln. »Wie man es nimmt, Lantee. Eine Siedlung jedenfalls wird es hier nicht geben, dafür wird ein Botschafterposten eingerichtet. Die Raumpatrouille läßt eine Wache zurück. Auf keinen Fall können wir es uns erlauben«, fuhr Thorvald fort, »auf einen Kontakt mit einer Rasse zu verzichten, die zum wertvollen Bundesgenossen werden kann. Richtig betrachtet, kann Warlock zum selbständigen Vorposten terranischer Zivilisation werden. Jedenfalls müssen wir froh sein, so mächtige und fähige Freunde hier gefunden zu haben.«